Gelb oder Grün?: Kleine Parteiengeschichte der besserverdienenden Mitte in Deutschland [1. Aufl.] 9783839415054

In den letzten Jahren war viel von der Krise der Volksparteien die Rede. Den Nutzen hieraus zogen unzweifelhaft die Part

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
I. Die Liberalen: Umfallen und aufstehen
Krise im Erfolg: Unter Bismarck
Illoyale Krämer und Handwerker: DDP und DVP in der Weimarer Republik
Elitäre Honoratiorenpartei oder nationale Sammlung? Renaissance nach 1945
»Dritte Kraft«?
Gebremster Sozialliberalismus
Erschöpft im bürgerlichen Lager
Westerwelle und die Generation @
Tabubruch als Event
Wählerhausse und Frauendefi zit
Partei ohne Balance
Absturz des winning team
II. Die Grünen: Partei der angepassten Unangepassten
Segen der Erde: Anfänge
Alternativmilieu zwischen Brokdorf und Mutlangen
Aufstieg und Integration
Rot-Grün
Als wäre die Vergangenheit nie vergangen. Symbole und Sentimentalitäten
Neue Bürgerlichkeit
Schwarz-Grün?
Risiken der Wendigkeit
III. Nach den Volksparteien: Chancen und Gefahren
Erben der Volksparteien?
Transformation der Mitte
Prätentiöse Kunden, untreue Wähler
IV. Grüne und Liberale. Konklusion und Ausblick
In getrennten Ecken auf dem Schulhof
Besserverdienende denken nicht gleich
Literatur
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Gelb oder Grün?: Kleine Parteiengeschichte der besserverdienenden Mitte in Deutschland [1. Aufl.]
 9783839415054

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Franz Walter Gelb oder Grün?

Franz Walter

Gelb oder Grün? Kleine Parteiengeschichte der besserverdienenden Mitte in Deutschland

X T E X T E

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Mark-Sebastian Schneider, Bielefeld Korrektorat: Eva Fenn, Bielefeld Druck: Aalexx Buchproduktion GmbH, Großburgwedel ISBN 978-3-8376-1505-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Vorwort | 7 I. Die Liberalen: Umfallen und aufstehen | 9 Krise im Erfolg: Unter Bismarck | 9 Illoyale Krämer und Handwerker: DDP und DVP in der Weimarer Republik | 15 Elitäre Honoratiorenpartei oder nationale Sammlung? Renaissance nach 1945 | 18 »Dritte Kraft«? | 22 Gebremster Sozialliberalismus | 27 Erschöpft im bürgerlichen Lager | 37 Westerwelle und die Generation @ | 42 Tabubruch als Event | 46 Wählerhausse und Frauendefizit | 52 Partei ohne Balance | 60 Absturz des winning team | 63 II. Die Grünen: Partei der angepassten Unangepassten | 71 Segen der Erde: Anfänge | 71 Alternativmilieu zwischen Brokdorf und Mutlangen | 73 Aufstieg und Integration | 77 Rot-Grün | 84 Als wäre die Vergangenheit nie vergangen. Symbole und Sentimentalitäten | 89 Neue Bürgerlichkeit | 91 Schwarz-Grün? | 95 Risiken der Wendigkeit | 110

III. Nach den Volksparteien: Chancen und Gefahren | 115 Erben der Volksparteien? | 115 Transformation der Mitte | 117 Prätentiöse Kunden, untreue Wähler | 119 IV. Grüne und Liberale. Konklusion und Ausblick | 123 In getrennten Ecken auf dem Schulhof | 123 Besserverdienende denken nicht gleich | 125 Literatur | 129

Vorwort

Vor einem Jahr erschien in diesem Verlag das Buch »Im Herbst der Volksparteien? Eine kleine Geschichte von Aufstieg und Rückgang politischer Massenintegration«. In dieser Schrift ging es in erster Linie um die Probleme von CDU/CSU und SPD. Die Publikation knüpfte an Überlegungen an, die in der Göttinger Politikwissenschaft schon seit längerer Zeit über die »Heimatlosigkeit der Politik«, den »Zerfall von Milieus und Lagern«, die zunehmende »Integrationsschwäche« einst bindender und homogenisierender Großorganisationen angestellt worden waren. Zum Schluss dieser Veröffentlichung wurde kurz auch noch die Frage aufgeworfen, welche Alternativen zum Parteienstaat denn überhaupt existierten. Sehr optimistisch fiel die Betrachtung nicht aus.1 In der nun hier vorliegenden Abhandlung sollen daher die Alternativen zu den kriselnden Volksparteien innerhalb des etablierten Parteiensystems dargestellt, analysiert und diskutiert werden, aus Gründen der Vergleichbarkeit allerdings beschränkt auf die Parteien der Mitte: die Freien Demokraten und die Grünen. Auch diesmal verfährt der Verfasser historisch; auch in diesem Fall schließt er an vorangegangene Reflexionen über die klassische Honoratiorenpartei2 und das neue Bürgertum an.3 1 | Vgl. Walter, Franz: »Im Herbst der Volksparteien? Eine kleine Geschichte von Aufstieg und Rückgang politischer Massenintegration«, Bielefeld 2009, S. 107ff.

2 | Vgl. Lösche, Peter/Walter, Franz: »Die FDP. Richtungsstreit und Zukunftszweifel«, Darmstadt 1996.

3 | Vgl. Walter, Franz/Dürr, Tobias: »Die Heimatlosigkeit der Macht. Wie

8 | Gelb oder Grün? Kehrt am Ende im Herbst der Volksparteien der bereits als überholt bewertete Typus der nur schwach organisierten Honoratiorenpartei aus der Frühzeit der Industriegesellschaft im Postindustrialismus des 21. Jahrhunderts zurück? Und wie denkt, was will, wohin geht politisch die gesellschaftliche Mitte zu Beginn dieses Jahrhunderts? Vor allem: Wird die Mitte Scharnier sein, um die Integration sozial zunehmend tribalisierter Gesellschaften zu leisten? Um solche und weitere Fragen dreht sich das Buch. Schreiben konnte ich es nur, weil ich den Rückhalt und die tägliche intellektuelle Anregung im Göttinger »Institut für Demokratieforschung« genießen darf. Imponierend ist für mich immer, mit welcher Präzision Teresa Nentwig unermüdlich an die Texte geht; so auch diesmal wieder. Sehr geholfen haben dabei ebenfalls Felix Butzlaff, Alex Hensel und Stine Harm. Ihre Überlegungen und Recherchen zum Liberalismus haben mir freundlicherweise Jens Gmeiner, Michael Lühmann, Daniela Kallinich, Louisa Opitz, Christian Werwath und Andreas Wagner zur Verfügung gestellt. Viele Anregungen zur Erhellung der grünen Geschichte verdanke ich Christoph Hoeft, Christin Leistner und Katharina Rahlf. Und mit Quellenmaterial versorgen mich seit Jahren so akkurat wie reichlich Peter Munkelt und Astrid Stroh. Sie alle wissen, wie außerordentlich dankbar ich ihnen bin. Göttingen, im Februar 2010

die Politik in Deutschland ihren Boden verlor«, Berlin 2000, S. 23ff.; Walter, Franz: »Träume von Jamaika. Wie Politik funktioniert und was die Gesellschaft verändert«, Köln 2006, S. 48ff.

I.

Die Liberalen: Umfallen und aufstehen

K RISE

IM

E RFOLG : U NTER B ISMARCK

Der deutsche Liberalismus entstand als eine postrevolutionäre Erscheinung. Als er sich formierte, hatte er bereits die Erfahrung der Französischen Revolution, existierte die Erinnerung an die Schrecken des Terreurs, an den Umschlag in die jakobinische Diktatur, was die deutschen Liberalen prägte und sie für lange Jahrzehnte mental fi xierte. Die Revolution scheuten sie, die Reform und die Evolution waren ihr Anliegen. Sie fürchteten sich vor der Herrschaft der Massen, agierten als Gegner der Demokratie und des allgemeinen Wahlrechts. Das Recht und die Kompetenz zur politischen Gestaltung attestierten sie allein sich selbst, den Bürgern. Das Wahlrecht, das sie anstrebten, sollte eng gebunden bleiben an Besitz und Bildung, da nur diejenigen, die darüber verfügten, aus der Perspektive der deutschen Liberalen hinreichend Sachverstand und Verantwortungsgefühl besaßen. Den besitzlosen Massen hingegen entbehrte es an Rationalität und Wissen, was sie anfällig machte für Demagogen und cäsaristische Gestalten. So jedenfalls sahen es die meisten Liberalen im Deutschland des 19. Jahrhunderts, darum: Verfechter der Demokratie waren sie nicht.1 Als Ziel hatten sie sich vielmehr die konstitutionelle Monarchie gesetzt. Warum auch hätten sie sich eine weit radikalere Umwälzung der politisch-rechtlichen Ordnung wünschen sollen? Die liberalen Bürger waren schließlich keine gesellschaftlichen Underdogs, lebten nicht in 1 | Vgl. hierzu allgemein: Langewiesche, Dieter: »Liberalismus in Deutschland«, Frankfurt a.M. 1988.

10 | Gelb oder Grün? Marginalität oder Ausgrenzung. Mindestens in ihrem lokalen Umfeld gehörten sie zum Establishment, zu den Honoratioren, gebildet, kulturell dominant, wohlhabend. Die akademisch gebildete Beamtenschaft insbesondere, die im Zentrum und an der Spitze der frühen liberalen Bewegung zwischen Baden und Königsberg platziert war, empfand auch den Staat, in dessen Dienste sie stand, keineswegs als reformunfähig. Im Gegenteil, den Staat betrachten und nutzen sie seit den antinapoleonischen Befreiungskriegen als Medium der Modernisierung. Zum einen jedenfalls. Zum anderen aber war der Staat in dieser Zeit an der Spitze feudal, was wiederum für Distanz und Kritik der Liberalen sorgte, da Autonomie und Mündigkeit gleichberechtigter bürgerlicher Individuen den Mittelpunkt ihres Wertehimmels bildeten. So begegnete der deutsche Liberalismus dem Staat von Beginn an mit Ambivalenz. Als grundsätzliches Ideal galt die selbstverantwortete bürgerliche Öffentlichkeit, aus welcher sich der Staat unbedingt herauszuhalten habe. Doch zugleich mochten die realen Liberalen im wirklichen politischen Leben die ordnende Hand, den materiellen Schutz, die subventionierende Hilfe des Staates nicht missen.2 In der Praxis des deutschen Liberalismus gingen die radikalliberale Rhetorik und der Ruf nach staatlicher Protektion für den hilferufenden Mittelstand fortan verblüffend konstant zusammen. Seit den späten 1860er Jahren kooperierte die Mehrheit der Liberalen mit Bismarck, vor allem da der Eiserne Kanzler Kriege gewann und so das Deutsche Reich begründete. Die Einheit der Deutschen Nation war den Liberalen Herzenssache, war ihnen wichtiger als alles andere. Die nationale Einheit – das trieb die Liberalen in Deutschland um, nicht die individuelle Freiheit.3 Mit Bismarck verband die Liberalen überdies der Kampf gegen die inneren »Reichsfeinde«: die Sozialdemokraten und die Katholiken. Die deutschen Liberalen waren national, antisozialistisch und antikatholisch, worin ihre Identität wurzelte; unbeugsame Verfechter des Rechts waren sie nicht. Den Ausnahmegesetzen gegen die Katholiken und die Sozialdemokraten stimmten sie mehrheitlich zu. Allerdings spalteten sich die Liberalen in der Frage der Zusammenarbeit mit Bismarck. Ein Dreivierteljahrhundert dauerte das 2 | Vgl. Gall, Lothar: »Liberalismus und ›bürgerliche Gesellschaft‹. Zu Charakter und Entwicklung der liberalen Bewegung in Deutschland«, in: ders. (Hg.): Liberalismus, Königsstein/Taunus 1980, S. 162-186, hier: S. 167f.

3 | Vgl. hierzu auch: Biermann, Harald: »Ideologie statt Realpolitik. Kleindeutsche Liberale und auswärtige Politik vor der Reichsgründung«, Düsseldorf 2006, S. 217ff.

I. Die Liberalen: Umfallen und aufstehen | 11 Schisma des deutschen Liberalismus. Den nationalliberalen Realpolitikern und Bündnisgenossen Bismarcks stand nun der linksliberale Freisinn gegenüber. Viel bewegt hat er nicht. Die Linksliberalen waren doktrinäre Menschen: kompromisslos für den Freihandel und apodiktisch gegen jede staatliche Sozialpolitik, die sie für regierungssozialistisches Teufelszeug hielten. Da waren die nationalliberalen Rivalen volkstümlicher. So blieb das mit dem Linksliberalismus in Deutschland meist auch danach: Er war defensiv, unkreativ, ohne Zukunftsideen, ohne Originalität. Die einen die Büttel Bismarcks, die anderen doktrinäre Individualisten – war also der Liberalismus schon im Kaiserreich gescheitert? So wird es häufig behauptet, vor allem dann, wenn man die Liberalen nicht an ihren eigenen Maßstäben und Zielsetzungen misst, sondern ihnen aus einer geschichtsphilosophischen Konstruktion heraus historische Funktionen und Aufgaben zuteilt. Die Liberalen selbst sahen sich vor allem im Reichsgründungsjahrzehnt als Gewinner. Ihr Lebenstraum, die Einheit Deutschlands, hatte sich erfüllt. Ein ausgefeiltes bürgerliches Rechtssystem war hergestellt. Die kapitalistische Industrie expandierte dynamisch. Bildung, Wissenschaft und Kultur waren Domänen des liberalen Bürgertums und auch außerhalb Deutschlands hoch angesehen. Die Liberalen waren zufrieden. Denn grundsätzlich andere Ziele hatten sie gar nicht angestrebt.4 Allerdings: Gerade da die Liberalen erfolgreich waren, gerieten sie in die Krise. Und es begann für ein Dreivierteljahrhundert der Abstieg des organisierten Liberalismus in Deutschland. Denn jetzt fehlte ihm eine zündende Idee, die auf nachwachsende Generationen hätte ausstrahlen, die diese hätte begeistern können. Die Liberalen, noch eben an der Spitze des Zeitgeists, wurden gewissermaßen konservativ, vergreisten kulturell wie personell. Da die Fragen von Nation, Recht, Individuum, Gewerbeordnung oder Versammlungs- und Pressefreiheit niemanden mehr wirklich mitrissen, wandte sich die Jugend des Bürgertums schon im Kaiserreich gelangweilt von ihnen ab, um sich fortan für etliche Jahrzehnte lieber in völkischen Verbänden zu tummeln. Der Erfolg der Liberalen hatte die Voraussetzungen ihres Bestehens selbst unterminiert. Ganz erfolgreich dürfen Parteien offensichtlich nicht sein. Sie verlieren dadurch, was einmal der Ausgangsstoff für ihre Gründung und ihre historisch begründende Legitimation gewesen war.

4 | Vgl. Nipperdey, Thomas: »Deutsche Geschichte 1866-1918«, Bd. 2: Machtstaat vor der Demokratie, München 1993, S. 314-331 und S. 521-536.

12 | Gelb oder Grün? Beschwer brachte überdies die ökonomische Depression ab 1873.5 Für die Liberalen brachen seither schwierige Zeiten an. Ihr Höhenflug war vorerst beendet, jetzt ging es kursorisch bergab. Der Niedergang des Liberalismus in Deutschland – und in großen Teilen Europas – begann. Pessimismus griff um sich, Zukunftsängste breiteten sich aus; Gegner und Opfer der Moderne meldeten sich zu Wort – und richteten es empört gegen die Liberalen. Ihnen wiesen sie nun die Verantwortung für den wirtschaftlichen Einbruch, für den Kollaps zahlreicher Unternehmen zu. Die wirtschaftliche Krise reaktivierte die alten Vorbehalte vor allem im gewerblichen Mittelstand gegen das liberale Wirtschaftssystem, gegen ungezügelte Märkte, gegen den Freihandel. Ein Teil des Mittelstandes ging dadurch nach rechts, weg von den Liberalen, die sie mit dem unkontrollierten Kapitalismus identifizierten, als deren Opfer sich die Krämer und Handwerksmeister fühlten. Sie schlossen sich den Konservativen an, die staatliche Hilfen versprachen, für Schutzzölle eintraten, sozialen Protektionismus betrieben. Die Mehrheit der Nationalliberalen vollzog das dann nach, rückte ebenfalls nach rechts, warf die Freihandelsprinzipien über Bord, trug Bismarcks Schutzzollpolitik seit den späten 1870er Jahren mit.6 Das war und blieb die Crux der Liberalen in Deutschland. Ihre wichtigste Klientel, der gewerbliche Mittelstand, wandte sich wohl gegen staatliche Sozialleistungen für die Arbeiter, aber Marktwirtschaftler waren sie dadurch nicht. Staatliche Mittelstandspolitik war stets hochwillkommen, wurde in Krisenzeiten aggressiv eingefordert. Gingen die Liberalen dabei nicht im gleichen Tempo mit, dann lief ihnen der Mittelstand von der Fahne, wechselte in das Lager der – oft extremen – Rechten über. In den 1870er Jahren zeigte sich das erstmals und wiederholte sich in den Jahrzehnten danach konstant. Der Übergang vom Liberalismus zum rechten Populismus war im bürgerlichen Deutschland lange fließend. Und das liberale Bekenntnis zur freien Marktwirtschaft war oft nur ein Lippenbekenntnis, verhüllte die harte Interessen- und Subventionspolitik der Liberalen in Regierungen für ihre Klientel. Probleme bereitete dem Liberalismus seit Mitte der 1870er Jahre aber nicht nur der gewerbliche Mittelstand. Auch die Bildungselite siedelte sich nicht mehr selbstverständlich im Lager der Liberalen an, auch sie bewegte sich in Teilen nach rechts. In Preußen orientierten 5 | Vgl. hierzu und zu den Folgen: Wehler, Hans-Ulrich: »Deutsche Gesellschaftsgeschichte«, Bd. 3: Von der »Deutschen Doppelrevolution« bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849-1914, München 1995, S. 552ff.

6 | Vgl. zu Bismarcks Umgang mit den Liberalen: Gall, Lothar: »Bismarck, der weiße Revolutionär«, Frankfurt a.M. 1995, S. 490ff.

I. Die Liberalen: Umfallen und aufstehen | 13 sich die Verwaltungsbeamten nun mehrheitlich an den Konservativen; für Reformen stritten sie nicht mehr. Zahlreiche Professoren gingen den Liberalen ebenfalls verloren. Die Gelehrten zogen sich in die Hörsäle und Bibliotheksräume zurück, rümpften jetzt verächtlich und indigniert die Nase über die Parteien und die Alltagspolitik.7 Zu all dem kam hinzu, dass sich gesellschaftlich etablierte Menschen schwerlich in die Maschinerie straff geführter Parteien oder in weltanschaulich mehr oder weniger streng geschlossene Milieus einordneten.8 Das macht Sinn lediglich für die Geächteten und Ausgegrenzten einer Gesellschaft, die den Schutzraum der Partei benötigen, um Isolation, Randständigkeit, Entrechtung ertragen und lindern, womöglich sogar bekämpfen zu können. Die im klassischen Sinne liberalen Bürger aber drängte es nicht in ein Milieu; nichts trieb sie in die Massenorganisation einer Partei. Sie waren Individualisten, keine Parteifunktionäre, schon weil sie auf die Autonomie des Einzelnen setzten, auf Offenheit, Pluralität und Erkenntnisgewinn durch Debatte und freies Gespräch.9 Doch eben diese sozial und normativ begründete Unfähigkeit, sich in einem straffen Zusammenhang zu sammeln, in der Trutzburg einer organisierten Eigenwelt, machte sie zugleich fragil und kostete sie in schwierigen Zeiten immer wieder Anhänger und Wähler. Die Bindungen waren porös; und so schrumpften die Wähleranteile des Liberalismus in den Kaiserreichsjahren von 46,6 Prozent im Juli 1871 auf 25,9 Prozent im Jahr 1912. Aufgrund des Mangels an eigener Organisationspotenz wurden die Liberalen immer anfälliger für die Einflussnahme der Interessenverbände. Als Honoratiorenpartei fehlten ihnen Organisationen, Mitglieder und Beiträge, um einen modernen Wahlkampf zu führen und sich gegen die besser gerüsteten Sozialdemokraten, Konservativen und die Zentrumspartei behaupten zu können. Die Liberalen waren daher angewiesen auf die materiellen Ressourcen und die organisatorische Infrastruktur der Verbände. Liberal aber waren diese Verbände nicht. 7 | Vgl. Hettling, Manfred: »Politische Bürgerlichkeit. Der Bürger zwischen Individualität und Vergesellschaftung in Deutschland und der Schweiz von 1860 bis 1918«, Göttingen 1999, S. 244f.

8 | Vgl. Wehler, Hans-Ulrich: »Deutsche Gesellschaftsgeschichte«, Bd. 3, S. 868f.

9 | Vgl. Biermann, Harald: »Vom Honoratioren- zum Berufspolitiker? Die Nationalliberalen in der Bismarckzeit«, in: Gall, Lothar (Hg.): Regierung, Parlament und Öffentlichkeit im Zeitalter Bismarcks. Politikstile im Wandel, Paderborn/München/Wien 2003, S. 127-150; Nipperdey, Thomas: »Die Organisation der deutschen Parteien vor 1918«, Düsseldorf 1961, S. 48ff.

14 | Gelb oder Grün? Der »Zentralverband deutscher Industrieller« unterstützte die Freikonservativen so gut wie die Liberalen. Und der »Bund der Landwirte« war überwiegend ein Propagandainstrument der Konservativen, ein Werkzeug der Großgrundbesitzer.10 Aber in Hessen und Hannover orchestrierte er die Nationalliberalen. Dort wanderten die Liberalen dadurch noch weiter nach rechts, wurden noch agrarischer, offen selbst für völkische, deutschnationale, ja antisemitische Stimmungen. Das grub sich tief in den Nationalliberalismus dieser Landschaften ein, hielt sich über Jahrzehnte hinweg, dauerte bis in die späten 1960er Jahre des 20. Jahrhunderts an. Unter dem Druck der Krise erneuerten sich allerdings die Linksliberalen. Sie suchten nun das Bündnis mit der reformistischen Arbeiterbewegung, akzeptierten jetzt die staatliche Sozialpolitik. Die Linksliberalen wurden unter der Flagge des protestantischen Pfarrers Friedrich Naumann am Ende des Kaiserreichs Sozialliberale.11 Auf Naumann bezogen sich auch alle anderen sozialliberalen Renaissancen im Liberalismus. Dabei spielte Naumann auf der großen Bühne der Politik nie einflussreich mit. Auch zu seinen Lebzeiten faszinierte sein Projekt lediglich ein paar Hundert junger Bildungsbürger. Die breiten Mittelschichten blieben auf weitem Abstand. Naumanns Partei, die »Freisinnige Vereinigung«, erreichte 1907 infolgedessen nur 3,2 Prozent der Stimmen. Überdies: Naumann war ein Sozialimperialist. Das Geld, das die teure Sozialgesetzgebung kostete, wollte er aus den Kolonien holen.12 Aktive Weltpolitik sollte das industrielle Wachstum forcieren, das nötig war, um Verteilungsgerechtigkeit herzustellen.

10 | Vgl. Ullmann, Hans-Peter: »Interessenverbände in Deutschland«, Frankfurt a.M. 1988.

11 | Vgl. Krey, Ursula: »Der Naumann-Kreis. Charisma und Emanzipation«, in: Bruch, Rüdiger vom (Hg.): Friedrich Naumann in seiner Zeit, Berlin/New York 2000, S. 115-147.

12 | Vgl. Theiner, Peter: »Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik. Friedrich Naumann im Wilhelminischen Deutschland (1860-1919)«, BadenBaden 1983; Conze, Werner: »Friedrich Naumann. Grundlagen und Ansatz seiner Politik in der nationalsozialen Zeit (1895-1903)«, in: Hubatsch, Walther (Hg.): Schicksalswege deutscher Vergangenheit. Beiträge zur geschichtlichen Deutung der letzten 150 Jahre. Festschrift für Siegfried A. Kaehler, Düsseldorf 1950, S. 355-386.

I. Die Liberalen: Umfallen und aufstehen | 15

I LLOYALE K R ÄMER UND H ANDWERKER : DDP UND DVP IN DER W EIMARER R EPUBLIK Zu Beginn der Weimarer Republik immerhin schlug der Sozialliberalismus die Brücke zwischen dem republikanischen Bürgertum und der demokratischen Arbeiterbewegung. Doch das Bündnis hielt nicht, und deshalb zerbrach auch die Republik. Die Liberalen waren ihren Gegnern nicht nur organisatorisch unterlegen, ihnen fehlte auch die Leuchtkraft des Visionären, einer ganz anderen, besseren Gesellschaft. Die Sozialisten verfügten über solche Bilder, auch die katholische Zentrumspartei, natürlich die Nationalsozialisten; sie alle schickten ihre Anhänger mit einem Heilsversprechen in die politische Kampagne.13 Die freisinnigen Liberalen konnten da nicht mithalten. Treu standen sie auf dem Boden der Verfassung, klug und redlich rechtfertigten sie die Demokratie, lobten den Rechtsstaat, warben für die Eigenverantwortung der Menschen. Doch all das war in der Dauerkrise der Republik so ehrenhaft wie hilflos: Es lockte keine Wähler, es band nicht einmal die eigene Klientel. Verfassungspatriotismus, so zeigte sich, war nicht der Stoff, der die deutschen Mittelschichten zusammenhielt.14 Aber auch der republikfeindliche Nationalismus der Rechtsliberalen konnte, da immer noch zu moderat, das deutsche Bürgertum nicht im liberalen Lager halten.15 Am Ende von Weimar waren beide liberalen Parteien kaum mehr als politische Sekten und brachten zusammen nicht einmal 3 Prozent der Wähler hinter sich. So hatten die Liberalen von allen großen Parteifamilien die wenigsten Integrationsmittel und zugleich die treuloseste Klientel, den selbstständigen Mittelstand, der in Deutschland nie marktradikal, nie leidenschaftlicher Verfechter einer strikten Deregulierung gewesen war. Man zahlte zwar ungern Steuern und schimpfte über hohe Abgaben. In Krisenzeiten aber rief man nach der helfenden Hand des Staates, nach Subventionen und Schutzmaßnahmen – dann wurde der selbstständige Mittelstand illiberal und war stets auf dem Sprung nach

13 | Vgl. Lehnert, Detlef/Megerle, Klaus (Hg.): »Politische Teilkulturen zwischen Integration und Polarisierung«, Opladen 1990.

14 | Vgl. Dürr, Tobias: »›Hochburg der Demokratie‹ zwischen Weimarer Republik und Einheitssozialismus: Liberal-demokratische Milieus in Zittau«, in: Jahrbuch zur Liberalismusforschung 10 (1998), S. 33-54.

15 | Vgl. Albertin, Lothar: »Liberalismus und Demokratie am Anfang der Weimarer Republik. Eine vergleichende Analyse der Deutschen Demokratischen Partei und der Deutschen Volkspartei«, Düsseldorf 1972.

16 | Gelb oder Grün? weit rechts.16 Tatsächlich verhielt sich keine andere gesellschaftliche Gruppe in der deutschen Geschichte politisch so illoyal wie die kleinen Händler, Krämer und Handwerker, die sich immer nur für kurze Zeit an eine Partei banden und in ihren Interessen ausschließlich ökonomisch geleitet waren.17 Wirtschaftliche Sicherheit gab ihnen Halt, Sinn und Ziel, und nie wären sie auf die Idee gekommen, sich über Heilshoffnungen oder diesseitige Erlösungsutopien zu definieren. Sie taten es mittels Eigentum, das sie emsig mehren und ihren Kindern weitergeben wollten, eine Lebensform, die sehr viel gegenwärtiger ausgerichtet und bei Schwierigkeiten sehr viel schneller zu erschüttern war als die in langen Zukunftsperspektiven entwickelten Trost- und Befreiungsvisionen des Sozialismus oder Katholizismus. Gläubige Katholiken und programmfeste Sozialisten konnten vertrauensvoll warten, mussten auch in Krisenzeiten nicht am Erfolg ihrer Mission zweifeln und blieben daher in hohem Grade milieu- und parteitreu. Den Mittelstand hingegen jagten wirtschaftliche Probleme sofort zur nächsten Partei, weshalb die über Jahre wachsende ökonomische Krise der Weimarer Republik die Mittelständler quer durch das rechte Spektrum des Parteiensystems schob. Am Ende waren die meisten bei den Nationalsozialisten angekommen. Vor allem die junge Generation des deutschen Bürgertums verachtete die liberalen Prinzipien, tat sie höhnisch als reaktionäres Geschwätz unverbesserlicher Philister aus dem 19. Jahrhundert ab. Die Jungen waren bündisch, nicht mehr individualistisch. Schließlich verloren die Linksliberalen Ende der 1920er Jahre noch die Unterstützung der prominenten demokratischen Journalisten. Denen gefiel die Kompromisspolitik der Linksliberalen in der Regierung nicht. Sie träumten von einer schwungvollen, libertär-pazifistischen Partei. Anfang der dreißiger Jahre begründete sich eine solche Radikaldemokratische Partei.18 Doch den Linksliberalen blieb auch weiterhin nur die Träumerei. Denn bei den Reichstagswahlen 1932 gaben lediglich 3.793

16 | Vgl. Winkler, Heinrich August: »Mittelstand, Demokratie und Nationalsozialismus. Die politische Entwicklung von Handwerk und Kleinhandel in der Weimarer Republik«, Köln 1972.

17 | Vgl. Wehler, Hans-Ulrich: »Die Geburtsstunde des deutschen Kleinbürgertums«, in: Puhle, Hans-Jürgen (Hg.): Bürger in der Gesellschaft der Neuzeit, Göttingen 1999, S. 199-209.

18 | Vgl. Gutleben, Burkhard: »Linksliberale Splitterparteien im 20. Jahrhundert. Eine Skizze«, in: Jahrbuch zur Liberalismusforschung 4 (1992), S. 217-228.

I. Die Liberalen: Umfallen und aufstehen | 17 Wähler den Radikaldemokraten ihre Stimme. Das deutsche Bürgertum stand weit rechts, hatte für linkslibertäre Ideale nichts übrig. Selbst die Nationalliberalen fielen der Rechtsentwicklung des Bürgertums zum Opfer.19 Ihnen halfen weder die deutschnationale Rhetorik, der sie sich durchweg bedienten, noch die aggressiven Anfeindungen der Republik, auf die sie immer wieder, insbesondere zu Beginn der dreißiger Jahre, verfielen. Und auch das gehörte zur tiefen Krise des Liberalismus in der Weimarer Republik: die Fortdauer, ja Vertiefung seiner inneren Spaltung.20 Die Liberalen standen in den innenpolitischen Konflikten der Weimarer Republik oft auf verschiedenen Seiten der Barrikade zugleich, so dass der einheitsstiftende Zusammenhang eines »Gesamtliberalismus« kaum noch erkennbar blieb. Die Eliten der beiden Parteien verfolgten politisch oft ganz konträre Ziele, hingen gegensätzlichen Grundhaltungen an. Der Sinngehalt des Liberalismus verschwand durch das politische Kontrastverhalten von DDP und DVP, verlor an Schärfe und Unmissverständlichkeit. Denn wenn das eine liberal war, so konnte es das Gegenteil nicht ebenfalls sein. Was aber bedeute dann noch »liberal«? Die DDP stand zur Verfassung; die DVP lehnte sie vielfach ab. Die Linksliberalen zeigten auf ihren Veranstaltungen Schwarz-Rot-Gold; die Rechtsliberalen hissten auch nach 1918 die schwarz-weiß-rote Fahne. Die DDP begrüßte die Republik; die DVP sehnte sich lange nach dem »Kaisertum« zurück. Die Linksliberalen wollten den Brückenschlag zur SPD; die Rechtsliberalen suchten das Bündnis mit der konservativen DNVP.21 Und das alles sollte gleichermaßen liberal sein? So höhlte sich die Substanz des Liberalismus aus. Das Etikett des Liberalismus benannte keinen eindeutigen politischen Inhalt mehr. Es haftete auf zwei politisch nahezu antagonistischen Optionen. Auch das diskreditierte den Liberalismus bei der bürgerlichen Jugend. In den Krisen der Republik drängte es diese Jugend nach klaren Fixpunkten, unmissverständlichen Gewissheiten, geschlossenen Weltanschauungen und widerspruchsfreien Botschaften. Das alles konnte das liberale Lager nicht mehr bieten. 19 | Vgl. Richter, Ludwig: »Die Deutsche Volkspartei 1918-1933«, Düsseldorf 2002.

20 | Vgl. Jones, Larry Eugen: »German Liberalism and the Dissolution of the Weimar Party System 1918-1933«, Chapel Hill 1988.

21 | Vgl. zur DDP: Heß, Jürgen: »›Das ganze Deutschland soll es sein‹. Demokratischer Nationalismus in der Weimarer Republik am Beispiel der Demokratischen Partei«, Stuttgart 1978; Stephan, Werner: »Aufstieg und Verfall des Linksliberalismus 1918-1933. Geschichte der Deutschen Demokratischen Partei«, Göttingen 1973.

18 | Gelb oder Grün?

E LITÄRE H ONOR ATIORENPARTEI R ENAISSANCE NACH 1945

ODER NATIONALE

S AMMLUNG ?

Umso erstaunlicher war es, dass der parteipolitische Liberalismus nach 1945 eine bemerkenswerte Renaissance erlebte. Die Bonner Republik war zutiefst freidemokratisch imprägniert.22 An vielen entscheidenden innen- und außenpolitischen Weichenstellungen war die FDP beteiligt; keine Partei regierte länger als sie, wenn auch nur als der stets schwächere Koalitionspartner. Wie kam es zu dieser Wiedergeburt, zur überraschenden Überlebensfähigkeit des Liberalismus nach dem Niedergang von 1933? Was waren die Quellen für die Reetablierung und lange Bestandssicherung der Freien Demokraten? Die meisten Interpreten tun sich mit der Antwort nicht schwer. Sie glauben, dass die FDP als moderne Funktionspartei reüssierte, als entscheidende koalitionsbildende Kraft, als Zünglein an der Waage oder, in der derben Sprache des schwäbischen Remstal-Liberalismus: als »Waagscheißerl«. Entsprechend sei sie erst dann in Schwierigkeiten geraten, als ihr diese komfortable Rolle aufgrund der Veränderungen des Parteiensystems nicht mehr zur Verfügung gestanden habe. Doch greift diese Deutung zu kurz. Denn eher gefährdete es die FDP, wenn sie als Funktionspartei handelte, wenn sie, zuweilen wenigstens, als »Waagscheißerl« operierte, weil sie eine Partei mit zwei Optionen in der Koalitionsbildung sein wollte. Gerade ihre politische Offenheit nach verschiedenen Seiten entfremdete sie ihren Wählern und führte zu drastischen Verlusten in den Regionen und Kommunen. In den 1990er Jahren verschwand sie aus etlichen Länder- und Gemeindeparlamenten. Dadurch hatte die Funktionspartei in dem Jahrzehnt nicht mehr die Basis, die man braucht, um als Funktionspartei wirken zu können. So zehrte das, was an der FDP Funktionspartei sein wollte, an der Grundlage, auf welcher der Liberalismus nach 1945 wieder entstand und die ihn lange Zeit als selbstständige Kraft im politischen System der Bundesrepublik trug. Diese Grundlage war die Kommune, auch die Region. Als zentralstaatliche Kraft ging der Liberalismus 1932/33 nahezu unter, doch gab es damals Regionen und Städte, in denen besonders die linksliberale Staatspartei bei Wahlen noch über 10 Prozent, ja mitunter sogar über 20 Prozent der Stimmen erzielte – namentlich in den Hansestädten, außerdem in einigen Kommunen Württembergs, Ostsachsens und Thüringens. In diesen liberalen 22 | Vgl. Dittberner, Jürgen: »Die FDP. Geschichte, Personen, Organisationen, Perspektiven. Eine Einführung«, Wiesbaden 2005.

I. Die Liberalen: Umfallen und aufstehen | 19 Hochburgen hatten weder Sozialdemokraten noch Katholiken oder Konservative wirkliche Wurzeln schlagen können, während insbesondere freisinnige Liberale als angesehene Unternehmer oder Akademiker, als Kommunalpolitiker, als Vorsitzende von Schiller- und Goethe-Vereinen oder auch als Chorleiter von Liedertafeln im engen Geflecht honoratiorenhafter Bürgerlichkeit das kulturelle wie auch soziale Bild der Stadt bestimmten.23 Auf solchem Humus wuchs die neue FDP als Nachfolgepartei des alten Freisinns wieder heran. Die Liberalen hatten überall dort überlebt, wo sie Repräsentanten einer von Katholiken und Sozialdemokraten streng unterschiedenen, ganz eigenen Lebenswelt waren. Auf diesem kommunalen Fundament bauten sie nun wieder auf.24 Indessen hatte der Wiederaufstieg der Liberalen nach 1945 noch eine zweite Quelle, und die lag im rechten Spektrum des deutschen Bürgertums.25 Einige junge Freidemokraten nutzten den Umstand, dass sich infolge der strengen Lizenzierungspolitik der Alliierten rechts von der FDP zunächst keine Partei bilden durfte. In ihrem Einflussbereich – in Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen – gingen sie in den frühen fünfziger Jahren auf Stimmenjagd. Die FDP sollte als nationale Rechtspartei jene bürgerlichen Schichten um sich scharen, die sie vor 1933 an die Deutschnationalen und Nationalsozialisten verloren hatte.26 Sie war gleichsam die PDS des Postfaschismus: Sie umwarb die frustrierten, verbitterten Anhänger der vergangenen Diktatur, die ehemaligen Träger von Regime, Partei und Streitkräften. Das war zwar nicht freisinnig und auch nicht libertär, keineswegs radikaldemokratisch und alles andere als sozialliberal – aber es war zunächst durchaus konsistent. Schließlich bildete die nationale Idee im deutschen Liberalismus von Beginn an einen identitätsstiftenden Kern. Die Übergänge vom 23 | Vgl. Hein, Dieter: »Gründung und Entwicklung der liberalen Landesparteien 1945-1948«, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 36 (1985), S. 632ff.

24 | Vgl. Dittberner, Jürgen: »Die FDP«, S. 31ff. 25 | Vgl. Hein, Dieter: »Zwischen liberaler Milieupartei und nationaler Sammlungsbewegung. Gründung, Entwicklung und Struktur der Freien Demokratischen Partei 1945-1959«, Düsseldorf 1985.

26 | Vgl. Marten, Heinz-Georg: »Die unterwanderte FDP. Politischer Liberalismus in Niedersachsen«, Frankfurt a.M./Zürich 1978; Papke, Gerhard: »Liberale Ordnungskraft, nationale Sammlungsbewegung oder Mittelstandspartei? Die FDP-Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen 1946-1966«, Düsseldorf 1998.

20 | Gelb oder Grün? Liberalismus zum Radikalnationalismus waren fl ießend. Kein politisches Lager hatte so viele Anhänger an die NSDAP verloren wie die Liberalen. Die Protagonisten der »nationalen Sammlung« in der FDP wollten diese Wanderungsbewegung wieder rückgängig machen. Marschmusik, Fahnen, Fackeln, Paraden, Großer Zapfenstreich, der Gesang der ersten Strophe des Deutschlandliedes, »Reichskundgebungen« der Jugend – in einem solchen Ambiente fanden noch in den frühen 1950er Jahren die Bundesparteitage der FDP statt.27 Die »Harzburger Front« war wohl Vorbild. Denn die Nationalisten in der FDP wollten sich nicht mit der elitären Honoratiorenexklusivität der Linksliberalen begnügen, welche die Attitüde des »klein – aber fein« kultivierten. Die freidemokratischen Nationalisten wollten Massenpartei werden, nicht das Zünglein an der Waage sein. Erfolge blieben durchaus nicht aus. Große Teile des protestantischen Bürgertums hatten sich mit der noch deutlich katholisch geprägten CDU nicht anfreunden können. Bei ihnen kam das deutschnationale Agitationsvokabular der Freien Demokraten gut an, weshalb sich der parteipolitische Liberalismus als Rechtspartei des nationalen Bürgertums bald ein kräftiges Wählerpotenzial jenseits der CDU erschloss. In Hessen, der Hochburg des rechten FDP-Flügels, übertrafen die Freien Demokraten Anfang der fünfziger Jahre die Christdemokraten mit über 30 Prozent der Stimmen sogar recht deutlich. Doch war die FDP in dieser ganzen Zeit unmissverständlich Teil des bürgerlichen Lagers und fester Partner an der Seite der Union. Insofern lässt sich die Partei in den ersten Jahren der Bundesrepublik keineswegs als Funktions- und Scharnierpartei, als »Zünglein an der Waage« bezeichnen. Sie war vielmehr Lagerpartei, wiedererstarkt in einer Zeit, da eine Allianz mit den Sozialdemokraten in den bürgerlich-nationalen Lebenswelten und ihrer politischen Repräsentanz noch ein unbedingtes Tabu darstellte. Die neue Generation allerdings, die Mitte der fünfziger Jahre in der FDP – aber nicht nur dort – nach vorn preschte, dachte anders. Mit ihr, den Angehörigen der Front- und HJ-Jahrgänge, kam die Moderne in die deutsche Gesellschaft und das deutsche Parteiensystem. Mit den alten Verheißungen, Glaubensbekenntnissen, Riten und sozialmoralischen Verbindlichkeiten der Weimarer Parteimilieus hatte die Generation der Frontkämpfer gebrochen, man war unsentimental, machtbewusst, hart und energisch. So begann die Umwandlung der 27 | Vgl. Kempski, Hans Ulrich: »Die Liberalen haben eine Schlacht verloren«, in: Süddeutsche Zeitung, 24.11.1952; Metlitzky, Heinz: »Der Wahlfriede von Travemünde«, in: Stuttgarter Nachrichten, 30.6.1953.

I. Die Liberalen: Umfallen und aufstehen | 21 FDP in eine Funktionspartei. Man nahm das Spiel mit dem zweiten, dem sozialdemokratischen Joker auf, nicht aus besonderer Sympathie für die SPD, sondern weil man Möglichkeiten, über die eine nationalbürgerliche Lagerpartei nicht verfügte, für sich erschließen wollte. Hier, in diesen Jahren, setzte sie allmählich ein: die »Genscherisierung« der FDP. Die Generation der Genschers, der Scheels und Weyers liebte an der Politik das taktische Manöver und den gelungenen Schachzug. Aus Prinzipien machte sie sich wenig, mit prätentiösen Zukunftsentwürfen gab sie sich nicht ab. Sie dachte und handelte in politischen Optionen, nicht in langfristigen Konzeptionen. Die erste große Stunde der schlitzohrigen Jungtürken schlug 1956, als sie in Nordrhein-Westfalen ein Stück Machtwechsel probten.28 Im Handstreich drängten sie den bisherigen Koalitionspartner aus der Landesregierung und holten sich die Sozialdemokraten ins Kabinett. Das war der Startschuss für jene Politik der Option, welche die Freien Demokraten von nun an im ganzen Land betrieben. Denn als es 1956 in Düsseldorf zum Kabinettswechsel kam, ging es der FDP darum, den Christdemokraten zu bedeuten, dass man nicht auf das Bündnis mit der Union festgelegt war: Eine sozialliberale Idee lag dem Entschluss nicht zugrunde, und tatsächlich besaß das sozialdemokratisch-freidemokratische Kabinett denn auch weder ein gesellschaftliches Fundament noch eine ausgewiesene politische Perspektive. Den freidemokratischen Anhängern alten Stils allerdings hatte man durch die unvermittelte Allianz mit den bis dahin als rotes Schreckgespenst bekämpften Sozialdemokraten einen bösen Schock versetzt, so dass das nationale Bürgertum, das die Partei in den späten vierziger Jahren durch ihre Politik der rechten Sammlung rekrutiert hatte, in Scharen zur CDU überlief, die bei den nachfolgenden Landtagswahlen die absolute Mehrheit erreichte. Verantwortung für den Fall der FDP in jenen Jahren trug aber auch der damalige Partei- und Fraktionsvorsitzende Thomas Dehler.29 Dehler war anfangs, noch als Justizminister im ersten Bundeskabinett, ein treuer Epigone des ersten bundesdeutschen Kanzlers, Konrad Adenauer, gewesen. Doch dann wandelte er sich, mit aller Energie und

28 | Vgl. Papke, Gerhard: »Unser Ziel ist die unabhängige FDP. Die Liberalen und der Machtwechsel in Nordrhein-Westfalen 1956«, Baden-Baden 1992, S. 55ff.; Hüwel, Detlev: »Zwischen Düsseldorf und Bonn. Der Sturz der Regierung Arnold«, in: Geschichte im Westen 1 (1986), H. 1, S. 81-96.

29 | Vgl. Friedlaender, Ernst: »Die dritte Partei«, in: Hamburger Abendblatt, 5.3.1956.

22 | Gelb oder Grün? Einseitigkeit des Konvertiten, zum erbitterten Feind Adenauers.30 Immer wieder attackierte Dehler die Deutschlandpolitik des Kanzlers der eigenen Koalition, im Ton oft zügellos, überscharf abgrenzend, mitunter gar hasserfüllt.31 In den ersten Monaten nach seiner Wahl hatten die Freien Demokraten sich noch am Temperament, an der Leidenschaft, an der rhetorischen Wucht Dehlers erfreut. Doch schon zwei Jahre später konnte kaum noch ein Liberaler die rednerischen Eskapaden und Ausfälle des FDP-Vorsitzenden ertragen. Sprach Dehler im Bundestag, dann verließen etliche FDP-Abgeordnete den Plenarsaal.32 Dehler trieb die Partei auseinander und unterminierte den Zusammenhalt der Bundesregierung.33 1956 verließen die vier Bundesminister der FDP, darunter der frühere Parteichef Blücher, ihre Partei; mit ihnen zog ein Drittel der Bundestagsfraktion – nicht nur, aber auch wegen Dehler – von dannen. Die FDP landete in der Opposition, 1957 im Bund, 1958 in Düsseldorf.

»D RIT TE K R AFT « ? Politisch kleideten sich die Freien Demokraten jetzt mit dem Etikett der »Dritten Kraft«. Das war die Zauberformel vor allem des Jahres 1957. Sie sollte den Standort beschreiben, den die Freien Demokraten nach dem nordrhein-westfälischen Koalitionswechsel und ihrer Oppositionsrolle daraufhin in Bonn eingenommen hatten: als unabhängige, nach beiden Seiten hin prinzipiell offene Partei der Mitte zwischen SPD und CDU. Als Metapher war die »Dritte Kraft« im Wahlkampf 1957 allgegenwärtig, aber was sich sonst noch dahinter an politischen Positionen oder Zielvorstellungen verbarg, blieb unklar.34 Intellektuell arbeiteten die Liberalen schon damals solche Dinge nicht auf. Die neue freidemokratische Generation, die nach vorne drängte, war eben

30 | Vgl. Wengst, Udo: »Thomas Dehler. Eine politische Biographie«, München 1997.

31 | Vgl. Glatzeder, Sebastian J.: »Die Deutschlandpolitik der FDP in der Ära Adenauer«, Baden-Baden 1980.

32 | Vgl. Henkels, Walter: »Thomas Dehler – der politische Moralist«, in: Norddeutsche Zeitung, 12.3.1955.

33 | Vgl. Nickel, Lutz: »Dehler – Maier – Mende. Parteivorsitzende der FDP: Polarisierer – Präsident – Generaldirektor«, München 2005, S. 59ff.

34 | Vgl. Lietzmann, Sabine: »Die FDP flirtet mit dem kleinen Mann«, in: Die Zeit, 31.1.1957.

I. Die Liberalen: Umfallen und aufstehen | 23 bekennend pragmatisch; ihr war an programmatischen Diskursen nicht gelegen. Vielleicht muss man Wolfgang Döring, den Fraktionschef der Partei im Düsseldorfer Landtag, dabei ein wenig ausnehmen. Döring besaß zumindest einen Sinn für strategische Fragen, er dachte in der Regel einen Schritt weiter als andere.35 Ohne Zweifel: Döring war das größte politische Talent der Freien Demokraten jener Jahre. Die Absicht der früheren Nationalen Sammler, die FDP von einer Honoratiorenpartei zu einer Massenpartei umzugestalten, beeindruckte Döring Zeit seines (kurzen) Lebens. Terraingewinn auch in der sozialdemokratischen Facharbeiterschaft hielt er prinzipiell nicht für unmöglich. Zudem nahm Döring früher als andere die wachsende Bedeutung der neuen Mittelschichten, den expansiven Anstieg der Angestelltenzahlen wahr. Döring arbeitete seit 1957 mit einiger Energie an einem neuen Image der FDP. Aus diesem Grund legte er, als Wahlkampfleiter, den Bundesparteitag der FDP in den Saalbau Schultheiß in der Berliner Hasenheide, einen traditionellen Versammlungsort der Linken.36 Der Parteitag betrieb auf Anweisung von Döring einen regelrechten Kult des »kleinen Mannes«. Die FDP sollte nicht wie eine politische Repräsentanz des Rotary Clubs wirken, sondern sich auch für tüchtige Arbeiter und Angestellte offen zeigen. Wäre es nach Döring gegangen, so hätte sich die FDP bundespolitisch schon 1957 auf die Seite der Sozialdemokraten geschlagen und eine SPD-FDP-Koalition propagiert.37 Aber Döring war Realist genug, um zu erkennen, dass das die Mehrheit seiner Parteibasis und der Anhängerschaft nicht ertragen und mitvollzogen hätte. Im Übrigen erreicht die Adenauer-Union 1957 die absolute Mehrheit; so blieb für die FDP weiterhin lediglich die Opposition. Allerdings schätzte das liberale Bürgertum die Oppositionsrolle nicht, in die sich die FDP nach 1956 hineinmanövriert hatte. Die liberalen Bürger von Besitz und Bildung empfanden sich schließlich gesellschaftlich als leitende, führende, prägende Menschen. Wirtschaftlich und kulturell waren sie Elite; daher mochten sie es nicht, dass sie politisch nur Opposition waren, noch dazu an der Seite der notorisch randständigen und außenseiterischen Sozialdemokraten. 35 | Vgl. Wiedner-Zerwas, Gisela: »Die Entwicklung der FDP in NordrheinWestfalen von 1951 bis 1956 unter besonderer Berücksichtigung der Person Wolfgang Dörings«, Duisburg 1973.

36 | Vgl. Henrich, Hans: »Die FDP nimmt sich Adenauer aufs Korn«, in: Frankfurter Rundschau, 26.1.1957.

37 | Vgl. Papke, Gerhard: »Unser Ziel ist die unabhängige FDP«, S. 226.

24 | Gelb oder Grün? Das liberale Bürgertum wollte zurück an die Regierung, zurück in das große bürgerliche Lager, an die Seite der CDU. Der kongeniale Parteichef dafür war Erich Mende.38 Mit ihm kam ein neuer Typus im Liberalismus nach oben. Mende war viel ehrgeiziger, viel bundespolitischer, auch viel berufspolitischer als die früheren, etwas kommoden Vertreter eines regionalen, honorablen, berufl ich selbstständigen Milieuliberalismus.39 Doch war auch Mende ganz ein Repräsentant des bürgerlichen Deutschlands: ein Mann der lateinischen Zitate, ausgestattet mit tadellosen Umgangsformen, stolz auf seine im Zweiten Weltkrieg erworbenen Tapferkeitsorden. Mit Mende sollte die bürgerliche Einheit in Deutschland politisch wiederhergestellt werden. Indes, auch Mende wusste, dass die FDP im bürgerlichen Bündnis einen eigenständigen, von der CDU abgegrenzten Platz finden musste. Doch durfte der nicht durch rasende, letztlich zerstörerische Konflikte besetzt werden wie noch unter Dehler. Das hielt kein Regierungsbündnis aus. Mende baute daher die FDP als behutsames, berechenbares Korrektiv im bürgerlichen Lager auf.40 Das prägte die Wahlkampfparole, mit der die Oppositionspartei FDP 1961 wieder in die Regierung zurückstrebte: »Mit der CDU/CSU ohne Adenauer«.41 Damit erzielten die Freien Demokraten den bis dahin größten Wahlerfolg ihrer Geschichte. Doch als sie Adenauers Kanzlerschaft nicht verhindern konnten, gleichwohl aber mit ihm zusammen in die Regierung rückten, hatten sie ihr Odium weg, von dem sie sich nie wieder richtig lösen konnten: Sie galten fortan als opportunistische »Umfallerpartei«.42 Viel hatten die meisten Deutschen außerhalb der klassischen Mittelständigkeit 38 | Vgl. Jansen, Hans-Heinrich: »Erich Mende. Skizzen für eine Biographie und eine biographische Skizze«, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 11 (1999), S. 206-216.

39 | Vgl. Appell, Reinhard: »Von Maier zu Mende«, in: Stuttgarter Zeitung, 28.1.1960; Schröder, Dieter: »Mende im Wahlschaufenster der FDP«, in: Süddeutsche Zeitung, 24.11.1960.

40 | Vgl. Becker, Kurt: »Die FDP ist der Opposition müde«, in: Die Welt, 1.2.1960.

41 | Vgl. Kempski, Hans Ulrich: »Die Liberalen polieren die alten Ideale auf«, in: Süddeutsche Zeitung, 27.3.1961.

42 | Der Vorwurf des »Umfallens« rührt allerdings nicht aus den Vorgängen um die Koalitionsbildung von 1961, wie meist angenommen wird. Als »Umfaller« galten die Freien Demokraten schon Mitte der 1950er Jahre, als viele verbalradikale Drohungen Dehlers in der Koalition mit der Union ohne Folgen blieben. Vgl. hierzu etwa: o. A.: »Erneut umgefallen«, in: Telegraf, 10.3.1955.

I. Die Liberalen: Umfallen und aufstehen | 25 sowieso nicht für die Freien Demokraten übrig. Jetzt fühlten sie sich in ihrem negativen Urteil bestätigt: Liberale – das waren wankelmütige Gesellen, hemmungslose Opportunisten, eine machtgierige Bande. Bei Umfragen sanken die Werte für die FDP wenige Monate nach dem glänzenden Wahlerfolg tief in den Keller. Vor allem die jungen und intellektuellen Wähler, die mit der FDP zu Beginn der 1960er Jahre endlich in die Nach-Adenauer-Zeit eintreten wollten, wandten sich enttäuscht und verbittert ab.43 Insbesondere der verantwortliche Parteichef Mende trug schwer an dieser Bürde. Dabei war er in der ersten Hälfte der sechziger Jahre kein schlechter, kein erfolgloser Parteivorsitzender, da er seine oft launische Partei umsichtig, großzügig und mit den nötigen Formelkompromissen moderierte und integrierte. Die großen kulturellen und sozialen Brüche der sechziger Jahre aber gingen an ihm vorbei.44 Er ignorierte den Bedeutungsverlust der alten Mittelschichten, das Wachstum des tertiären Sektors. Er richtete die FDP nicht darauf ein. Ganz unerwartet und unvorbereitet fand er sich und seine Partei Ende 1966 in der Opposition zur Großen Koalition wieder. Schon die Jahre zuvor war die Aussicht auf eine Große Koalition eine Art Menetekel für die Freien Demokraten. Aber sie war ein Resonanzboden für das Lieblingsprojekt von Wolfgang Döring: die große liberale Volkspartei zu schaffen.45 1962 hatte Döring einen dritten Anlauf dafür unternommen, nachdem die »Nationale Sammlung« zu Beginn der 1950er Jahre und die »Dritte Kraft« 1957/58 gescheitert waren, mit denen sich die FDP aus der Enge des mittelständischen Milieus lösen und für breite Arbeitnehmerschichten öff nen sollte. Vor allem sollte die »liberale Volkspartei«, als die sie nun fi rmierte, eben die steten Existenzängste der Freien Demokraten beseitigen, den Druck der beiden Großparteien von ihnen nehmen, die Drohung mit einem Mehrheitswahlrecht ins Leere laufen lassen. Aber auch dieses Mal wurde nicht viel daraus. Denn um dritte Volkspartei der Bundesrepublik zu werden, hätte sich die FDP gründlich umstellen müssen: Sie hätte ihren politisch und sozialen Standort neu bestimmen, die Organisation straffen, die individualistischen Kommunika43 | Vgl. Schollwer, Wolfgang: »FDP im Wandel. Aufzeichnungen 19611966«, München 1994, S. 29 und S. 41.

44 | Vgl. Siekmeier, Mathias: »Restauration oder Reform. Die FDP in den sechziger Jahren«, Köln 1998.

45 | Vgl. Gaus, Günter: »Das traurige Familienfest der Liberalen«, in: Süddeutsche Zeitung, 26.5.1962; Schuster, Hans: »Die FDP und ihre Mitgift«, in: Süddeutsche Zeitung, 1.7.1963.

26 | Gelb oder Grün? tionsbeziehungen abschaffen und durch verbindliche Entscheidungsstrukturen ersetzen müssen. Das alles war den liberalen Bürgern damals ganz fremd und höchst unbehaglich. Ernsthaft dachten sie nicht daran, sich die Arbeiter in die Partei zu holen und irgendeiner Parteidisziplin zu unterwerfen. Die Liberalen pflegten und schätzten viel zu sehr ihren elitären Dünkel, liebten es, feiner und kleiner zu sein als die anderen, fühlten sich in ihrem mittelständischen Juste Milieu überaus behaglich. In ihrer Abneigung gegen die Großpartei zeigten sich bürgerliche Althonoratioren und liberale Reformer mehrheitlich durchaus einig. So erteilte die bayerische Landtagsabgeordnete Hildegard Hamm-Brücher, deren Stern als engagierte Bildungsreformerin gerade am freidemokratischen Himmel aufging, auf dem Münchner Bundesparteitag der FDP 1963 dem Volksparteienprojekt eine leidenschaftliche Absage. Eine Volkspartei, so warnte Hamm-Brücher, wolle allen gefallen, werde daher rasch zur Gefälligkeitspartei. Liberale indes dürften dies nicht anstreben, sondern müssten an Gesinnung und Gesittung festhalten. Das brachte der bayerischen Politikerin den tosenden Applaus der Parteitagsdelegierten aller Richtungen ein.46 Doch wohin sollte es nun und stattdessen gehen, da die Union der FDP seit Ende 1966 die kalte Schulter zeigte?47 Damals bestand das Elektorat zumindest in der bürgerlichen Mitte der Gesellschaft noch keineswegs aus zahlreichen flott-flexiblen Wechselwählern, welche immer wieder, kühl kalku lierend, die Seiten tauschen. Abschied aus einem Lager galt als Verrat an der politischen Heimat, weshalb die FDP solche Schritte am Ende stets teuer bezahlte. Das setzte sich selbst in den jüngeren Jahrzehnten fort, als die Wahlforscher vom unauf hörlichen Anstieg der ungebundenen Wechselwähler, der Rational-Choice-Typen erzählten. Die FDP hätte von einem solchen Trend eigentlich profitieren müssen. Aber so war es nicht. Auch die moderne Gesellschaft nahm Koalitionswechsel übel, schimpfte über »Umfall«, »Verrat«, »Opportunismus«, »Prinzipienlosigkeit« und »Machtgeilheit«. Ihre Koalitionspolitik hatte die FDP im Volk unbeliebt gemacht. Dabei erwies sich die Partei in Bonn letztlich nur zweimal wirklich als »Zünglein an der Waage«, nämlich 1969 und 1982. Und sie sorgte daher für Machtwechsel, wie sie damals von den Bürgern mehrheitlich geschätzt wurden, nicht ruckartig, nicht 46 | Vgl. Meyer, Claus Heinrich: »Erich Mende zeichnet das Bild einer Volkspartei«, in: Stuttgarter Zeitung, 3.7.1963.

47 | Vgl. Koerfer, Daniel: »Die FDP in der Identitätskrise. Die Jahre 19661969 im Spiegel der Zeitschrift ›liberal‹«, Stuttgart 1981.

I. Die Liberalen: Umfallen und aufstehen | 27 zu radikal, sondern als moderate Wandlung, als Erneuerung in der Stabilität. Aber unmittelbar gutgeschrieben hat man das den Freien Demokraten nicht.

G EBREMSTER S OZIALLIBER ALISMUS Insofern brauchte es eine Menge Mut, fast gar die Passion für die verwegene Tat, um den Lagerwechsel zu riskieren. Walter Scheel war so ein Typ. Scheel verfügte über eine gehörige Portion Härte, die sich hinter seinem äußerlichen Frohsinn versteckte.48 Der 1968 neu gewählte FDP-Chef war gewiss einer der freundlichsten, höflichsten Politiker jener Jahre. Aber er war gleichwohl unsentimental, kühl, emotionsfrei – beinhart, wenn es darauf ankam.49 Und er hatte eiserne Nerven. So traf Scheel nahezu im Alleingang, wenige Tage vor der Bundestagswahl 1969, eine Koalitionsaussage zugunsten der Sozialdemokraten. Wohl nur durch diesen Coup rettete er die Freien Demokraten vor dem Fall unter die Fünf-Prozent-Hürde und sicherte ihr weitere 40 Jahre parlamentarischer Existenz. Scheel hatte einen untrüglichen Instinkt für die richtige politische Situation. Wenn er den Eindruck gewann, dass der politisch passende Moment gekommen war, riskierte er den Sprung nach vorn. Dann riss er seine Partei aus alten Stellungen, drängte sie auf neues Gelände. Auch das gehörte zum Charakterbild von Scheel.50 Er hatte zuweilen etwas von einem Abenteurer. Er liebte es zu zocken – und bewies letztendlich fast immer Fortune. Doch den Blick in den Abgrund tat er schon. Denn 1969 lief alles so ab wie 1956. Kaum war Gustav Heinemann zum Bundespräsiden-

48 | Vgl. Kempski, Hans Ulrich: »Dieser Mann hat Ellbogen aus Eisen«, in: Süddeutsche Zeitung, 1.2.1968; Genscher, Hans-Dietrich (Hg.): »Heiterkeit und Härte. Walter Scheel in seinen Reden und im Urteil von Zeitgenossen«, Düsseldorf 1984.

49 | Vgl. Baring, Arnulf/Koerfer, Daniel: »Walter Scheel«, in: Bernecker, Walter L./Dotterweich, Volker (Hg.): Persönlichkeit und Politik in der Bundesrepublik Deutschland. Politische Porträts, Bd. 2, Göttingen 1982, S. 132-146, hier: S. 136f.

50 | Vgl. Thränhardt, Dietrich: »Walter Scheel«, in: Sarkowicz, Hans (Hg.): Sie prägten Deutschland. Eine Geschichte der Bundesrepublik in politischen Portraits, München 1999, S. 184-198; Siekmeier, Mathias: »Walter Scheel«, in: Oppelland, Torsten (Hg.): Deutsche Politiker 1949-1969, Darmstadt, Bd. 2, S. 155-164.

28 | Gelb oder Grün? ten gewählt 51 und die sozialliberale Koalition gebildet, setzte der Exodus nationalliberaler Mitglieder aus der Partei ein. Das kommunale Wurzelwerk des bürgerlich-nationalen Liberalismus war weggerissen, zahlreiche Land- und Stadträte, Bürgermeister und Stadtverordnete gaben ihr Parteibuch ab. Die letzten großen Hochburgen der Liberalen in Nordhessen und Württemberg wurden nun geschleift. Auch im höheren Parteiestablishment waren die Verluste wieder beträchtlich: Rund ein Fünftel der Bundestagsabgeordneten trat zwischen 1969 und 1972 aus, darunter ein früherer Bundesvorsitzender, ein ehemaliger Bundesminister, ein langjähriger Fraktionsvorsitzender und ein ebenfalls langjähriger Geschäftsführer der Bundestagsfraktion.52 Die Lage der FDP also erschien nach Bildung der sozialliberalen Koalition zunächst desaströs.53 Die Spenden der Industrie blieben aus; bei den Landtagswahlen verzeichnete man verheerende Einbrüche; die National- und Sozialliberalen lieferten sich in aller Öffentlichkeit schonungslose Gefechte.54 Schon 1971 aber begann die FDP sich zu erholen, zwischen 1972 und 1976 erlebte sie eine Art Renaissance. Das Konzept der Korrektivpartei ging jetzt auf. Dabei half der FDP die zwischenzeitliche Reideologisierung der Sozialdemokraten in der Ära Brandt. Den Liberalen fiel es nun leicht – leichter als später unter Helmut Schmidt –, sich als Bremser von Wohlfahrtsstaatsreformen in Szene zu setzen, was ihnen in der Folge wieder das Wohlwollen sowie das Geld der Wirtschaft einbrachte.55 Die sozialliberalen Träume platzten schnell. Die FDP blieb in der Regierungspolitik eine sozialkonservative 51 | Vgl. Zundel, Rolf: »Die veränderte FDP«, in: Die Zeit, 7.3.1969; ders.: »Die Signale der Liberalen«, in: Die Zeit, 5.6.1969.

52 | Vgl. Zülch, Rüdiger: »Von der FDP zur F.D.P. – die Dritte Kraft im deutschen Parteiensystem«, Bonn 1972, S. 130.

53 | Vgl. Neumaier, Eduard: »Kleiner Mann, was nun?«, in: Publik, 19.6.1970; Baring, Arnulf: »Machtwechsel. Die Ära Brandt-Scheel«, Stuttgart 1982, S. 295f.

54 | Vgl. Zundel, Rolf: »Die letzte Chance für die Liberalen«, in: Die Zeit, 26.6.1970; Schuster, Hans: »Entschlossenheit zur Flucht nach vorn«, in: Süddeutsche Zeitung, 25.6.1970.

55 | Vgl. Bewerunge, Lothar: »Die Liberalen kämpfen um ihre Leben«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.2.1970; Vorländer, Hans: »Die Freie Demokratische Partei«, in: Mintzel, Alf/Oberreuter, Heinrich (Hg.): Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1992, S. 271-318, hier: S. 282; Dittberner, Jürgen: »Die Freie Demokratische Partei«, in: Stöss, Richard (Hg.): Parteien-Handbuch. Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland 1945-1980, Opladen 1986, Bd. 3, S. 1311-1381, hier: S. 1332.

I. Die Liberalen: Umfallen und aufstehen | 29 Besitzbürgerpartei, handelte als Lobbyistin organisierter ökonomischer Interessen.56 Was als besitzbürgerliches Korrektiv gegen die Sozialdemokraten in der Koalition nicht taugte, wurde über Bord geworfen: die Bildungspolitik etwa, mit der man sich in den 1960er Jahren noch als Avantgardistin unter den deutschen Parteien auszuzeichnen versucht hatte;57 die plebiszitären Forderungen, die im Wahlkampfprogramm von 1960 prominent vertreten waren; die bürgerrechtlichen Postulate, die ab 1967 das Bild der FDP zu verändern halfen. Letztlich war der Sozialliberalismus kaum mehr als eine rhetorische Attitüde, eine kurze Episode in der Geschichte der Partei. Als Höhepunkt galten die Freiburger Thesen von 1971. Schließlich brauchte die Partei für ihren parlamentarischen Ortswechsel so etwas wie eine begründende Legitimation. Und überhaupt gehörte es in jenen Jahren in der Bundesrepublik zum guten Ton, politische Ziele in einen theoretisch-programmatischen Rahmen zu spannen. Gerade die FDP, die nun auf die akademischen Aufsteigerschichten schielte, musste diesem Zeitgeist Tribut zollen. Die Pragmatiker in der Mitte und Führung der Partei, die Scheels, Genschers und Mischnicks, waren für eine solche Aufgabe nicht geschaffen. Das wurde infolgedessen die Stunde der jungen, studierten, wort- und schreibgewandten Linksliberalen und ihres Mentors, Werner Maihofer, dem späteren Bundesinnenminister. Jetzt konnten sie – Günter Verheugen, Helga Schuchardt, Wolfgang Lüder, Heiner Bremer, Friedrich Neunhöffer – glänzen, sich bekannt machen, in der Partei nach oben kommen, indem sie ein neues Ideengebäude des nun »sozialen Liberalismus« zimmerten. Plötzlich zirkulierte gar das Vokabular des studentischen Protests in den Kommissionen der FDP. Von Emanzipation war die Rede, über Fremdbestimmung wurde geklagt, ja: die demokratische Kontrolle über Eigentum und Produktionsmittel postuliert. Für manchen Altliberalen dürfte damals eine Welt zusammengebrochen sein: Ausgerechnet in der FDP, in der das private Eigentum bis dahin kanonisiert, zum Freiheitsrecht schlechthin stilisiert worden war, vagabundierten nun ehrgeizige Modelle zur Mitbestimmung, Vermögensbildung und zum Bodenrecht herum. Dabei: Im Grunde waren es lediglich die vier vorangestellten Kurzthesen, die die Öffentlichkeit wahrnahm, die den Flair und das Missverständnis der später von den Linksliberalen zum Mythos erhobenen »Freiburger Thesen« ausmachten: »Liberalismus nimmt Partei für Menschenwürde durch Selbstbestimmung«, »Libe56 | Vgl. Dittberner, Jürgen: »Die FDP«, S. 54. 57 | Vgl. Peter, Joachim: »Liberale ohne Bildung«, in: Welt am Sonntag, 1.6.2008.

30 | Gelb oder Grün? ralismus nimmt Partei für Fortschritt und Vernunft«, »Liberalismus fordert Demokratisierung der Gesellschaft«, »Liberalismus fordert Reformen des Kapitalismus«.58 Die Freiburger Thesen erschienen sogar in einem Bändchen in der rororo-aktuell-Reihe, gemeinsam mit den damals üblichen APO-Manifestationen und Bekenntnisschriften der diversen Befreiungsbewegungen. Wann hatte man überhaupt jemals erlebt, dass ein Parteiprogramm in hoher Auflage auf den Tischen der Buchhandlungen auslag – und sogar gekauft wurde? Und dennoch: Das Freiburger Programm von 1971 hatte den praktischen Wert des Ahlener Programms der CDU von 1947, nämlich keinen. Natürlich ist die Bedeutung von Parteiprogrammen auch im Allgemeinen nicht zu überschätzen. Programme wirken nicht handlungsanleitend, konstituieren keine Praxis, münden nicht in Strategien von Parteien. Und Gesetzestexte, Regierungshandlungen lassen sich erst recht nicht aus den oft wolkigen Formulierungen der Programmtexte deduzieren. Aber die besseren Programme stiften Grundidentitäten, stabilisieren ein emotionales und normatives Zusammengehörigkeitsgefühl, schaffen einen Konsens von Werten und Einstellungen unter den Parteimitgliedern. Die Programmdiskussionen in der FDP zu Beginn der 1970er Jahre erfüllten diese Funktion allerdings nicht hinreichend. Die Mehrheit der Partei interessierte sich zunächst gar nicht für die Debatten und Diskurse der Theoretiker. Das galt abschätzig als Spielwiese für juvenile Radikaldemokraten und vergeistigte Sozialliberale der Façon Maihofer, das wurde nicht übermäßig ernst genommen.59 Erst als die Programmkommission ihren Entwurf vorlegte, schreckte die Partei, schreckten vor allem die Abgeordneten aus der Bundestagsfraktion auf. Das Gros der freidemokratischen Parlamentarier lehnte das Elaborat der Theoretiker in Bausch und Bogen ab. Die Liberalen, so führten sie argumentativ ins Feld, seien doch in der Vergangenheit stets bestens ohne ausgefeilte Programme ausgekommen. Warum sollte das in Zukunft anders sein? Damit begann eine wundersame Vermehrung der Teilnehmer in der Programmkommission. Am Anfang hatten sich etwa ein Dutzend Liberaler ihre Köpfe über die politische Orientierung des Liberalismus 58 | Vgl. Flach, Karl-Hermann/Maihofer, Werner/Scheel, Walter: »Die Freiburger Thesen der Liberalen«, Reinbek bei Hamburg 1972; Verheugen, Günter (Hg.): »Das Programm der Liberalen. Zehn Jahre Programmarbeit der F.D.P.«, Baden-Baden 1980.

59 | Vgl. Dreher, Klaus Rudolf: »Rettet Flach die FDP über das Hochseil?«, in: Süddeutsche Zeitung, 27.10.1971; Klose, Rainer: »Der FDP-Parteitag außer Rand und Band«, in: Münchner Merkur, 27.10.1971.

I. Die Liberalen: Umfallen und aufstehen | 31 zerbrochen. Zum Schluss wachten mehr als 30 Freidemokraten über die Fragen der Ideologie. Die Bundestagsfraktion hatte etliche Aufpasser entsandt, die verhindern sollten, dass die »sozialliberalen Spinner« allzu viel Unheil anrichten konnten. Die Mission der Emissäre aus dem Bonner Parlament hatte durchaus Erfolg. Im eigentlichen Programmtext waren keine dezidiert sozialliberalen Reformentwürfe mehr vorhanden. Kurz: Eine sozialliberale Auf bruchstimmung gab es in der FDP 1971 nicht, jedenfalls nicht bei der Mehrheit der FDP.60 Verantwortung dafür trugen auch die Sozialliberalen in der FDP selbst. Vor allem die Jungdemokraten, die in den 1960er Jahren noch wichtige Neuerungen angeregt hatten, wurden in den 1970er Jahren zu einem sterilen Imitat der Jungsozialisten. Eben nicht nur der rechte, sondern auch der linke Flügel der FDP hatte verhindert, dass sich die Partei in den siebziger Jahren zu einer modernen Bürgerrechtspartei der neuen Mitte in der Bundesrepublik zu wandeln vermochte. Nur mit einer Tradition des deutschen Liberalismus wurde im kurzen Abschnitt des Sozialliberalismus ziemlich gründlich gebrochen: mit dem Nationalismus.61 Dieser Bruch markierte einen tiefen Einschnitt in der Geschichte des deutschen Liberalismus und blockierte dann in den 1990er Jahren immerhin die Versuche einer Haiderisierung der FDP. Insgesamt aber waren die Links- und Sozialliberalen in der FDP auch in diesem Jahrzehnt wenig kreativ. Wie bereits in früheren Abschnitten operierten sie auch diesmal aus der Defensive, wehrten Angriffe ab, verteidigten Positionen. Auf den Parteitagen ging die Zahl ihrer Delegierten seit 1972/73 zurück. Dann hatten sie zudem noch den Verlust von KarlHermann Flach zu beklagen. Der Generalsekretär der FDP starb im August 1973. Er war einer der wenigen Linksliberalen, die nicht nur in den Schützengräben rechtsstaatlicher Verteidigungslinien kauerten, sondern offensiv ein radikaldemokratisch-bürgerrechtliches Gesellschaftsprojekt verfolgten.62 Die entscheidenden personellen Weichen stellte der Bundesparteitag in Hamburg 1974, als in einer Kampfabstimmung nicht der bekennende Sozialliberale Werner Maihofer zum stellvertretenden Parteivorsitzenden gewählt wurde, sondern sein Kabinettskollege Hans 60 | Vgl. Mundorf, Hans: »In Freiburg hatten die Halbrechten eine Hand mehr«, in: Handelsblatt, 29.10.1971.

61 | Vgl. Zundel, Rolf: »Würden wir die FDP vermissen?«, in: Die Zeit, 15.1.1971.

62 | Vgl. Bretschneider, Joachim/Hofmann, Harald: »Karl-Hermann Flach. Liberaler aus Leidenschaft«, Gütersloh 1974.

32 | Gelb oder Grün? Friderichs.63 Jener war Kandidat der Linken; dieser galt als Mann der Parteirechten. Doch ganz angemessen, zumindest ganz zeitgemäß, war die Zuordnung Friderichs nicht. Schließlich ging die Modernisierung der FDP ab Mitte der 1960er Jahre wesentlich auf seine Initiativen zurück. Er hatte als Bundesgeschäftsführer seiner Partei die alt- und nationalliberalen Traditionen systematisch abgedrängt und den Neuerern den Weg gebahnt. Er hatte die Liberalen von den altmittelständischen Milieus in die modernen Mittelschichten hinüberzubringen versucht. Und er hatte die FDP aus ihrer Abhängigkeit von der CDU herausgelöst, dadurch die Grundlagen für das Regierungsbündnis mit der SPD gelegt. Mit der Politik der alten FDP-Rechten verband Friderichs kaum etwas. Er war nicht nationalliberal; er war wirtschaftsliberal – und das im modernen Sinn. Friderichs folgte auch als Wirtschaftsminister des Jahres 1974 seinen Grundsätzen als Reformer von 1968. Seine Zielgruppe waren weiterhin die gesellschaftlichen Aufsteiger in der neuen bürgerlichen Mitte der Republik. Nur wollte er sie nicht mehr mit linksliberaler Gesellschaftskritik ansprechen, sondern durch radikalliberale Marktwirtschaftlichkeit begeistern. Er hatte die Bessergekleideten im Visier, die den exklusiven Chic bevorzugten, die BMW fuhren oder zumindest gern gefahren hätten, die sich durch teure Statussymbole von der Masse abhoben – und daher potenziell zumindest die FDP lieber wählten als Sozial- und Christdemokraten. So kalkulierte Friderichs, so setzte er den Grundstein für die Partei der Besserverdienenden. Die Geschichte eines solchen Profi ls fing nicht erst mit Werner Hoyer oder Guido Westerwelle an. Diese Geschichte begann 1974, als der FDP-Parteitag Hans Friderichs und nicht Werner Maihofer zum stellvertretenden Parteichef wählte.64 In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre witterten auch die Altliberalen wieder Morgenluft und verließen die innere Emigration, in die sie sich nach 1969 vorübergehend zurückgezogen hatten. Die FDP hatte sich in den Brandt-Scheel-Regierungsjahren eben nicht so radikal verjüngt und personell verändert, wie es zwischenzeitlich erschien. Ein harter Kern altliberaler Lebenswelt und Gesinnungsart hatte an der Basis der FDP die sozialliberale Episode überlebt. Vor Ort waren die Liberalen weiterhin ein gutes Stück honorabel geblieben, gut betucht, eher wieder mittelständisch als unkonventionell libertär. Auch ein 63 | Vgl. Purwin, Hilde: »Maihofer fühlt sich von Friderichs überfahren«, in: NRZ, 27.9.1974.

64 | Vgl. Hertz-Eichenrode, Wilfried: »Die FDP stürzt aus dem sozial-liberalen Himmel«, in: Die Welt, 28.9.1974.

I. Die Liberalen: Umfallen und aufstehen | 33 großer Teil der jungdemokratischen Rebellen aus den späten 1960er Jahren hatte sich inzwischen in dieses altliberale Lebensmilieu brav eingefügt. Die Zeit des studentischen Sturm und Drangs mit allerlei radikaldemokratischen Slogans war vorbei; man hatte nun den mittelständischen Betrieb der Familie übernommen. So verschob sich das Koordinatensystem in der Partei. Das Wirtschaftsliberale erhielt unverhüllt wieder absolute Priorität. Die Zeit des Grafen Lambsdorff brach an. Seit 1973 war er der mächtigste Mann in der Bundestagsfraktion. An ihm und dem Bundeswirtschaftsminister Hans Friderichs prallten alle sozialdemokratischen oder sozialliberalen Transformationsinitiativen brüsk ab. Beide waren die entscheidenden Anlaufstellen in Bonn für potente Unternehmensvertreter. Lambsdorff und Friderichs setzten privatwirtschaftliche Interessen durch und wehrten gewerkschaftliche Forderungen ab. Sie waren dabei unzweifelhaft erfolgreich. Aber sonderlich sympathisch machten sie den Liberalismus als geistige Idee dadurch nicht. Denn sie reduzierten ihn auf eine einzige Funktion, auf die rigide Vertretung privatwirtschaftlicher Interessen. Indessen wurden die Keime für die Wende von 1982 schon 1970 gelegt, eben durch die Politik des sozialstaatsskeptischen Korrektivs und durch Genschers über die gesamten 1970er Jahre immer wieder neu variierte, in kryptische Formeln gehüllte Option prinzipieller Wechselbereitschaft. Vom personellen Aderlass des dann real vollzogenen Wechsels im Jahr 1982, als die FDP mitten in der Mitte der Legislaturperiode mit der CDU/CSU eine neue Koalition bildete, konnten sich die Freien Demokraten lange nicht erholen. Wieder zog ein Viertel der Mitgliedschaft von dannen. Vor allem aber: Bei dieser Wende ging, anders als 1956 und 1969, ein großer Teil der Führungsreserve verloren, die Nachwuchsgeneration. Zurück blieb die alte Parteielite, »die wohltemperierte Bürgerlichkeit«65. Eben das führte zu dem ungeheuren Problem, das sich der FDP seit Mitte der achtziger Jahre stellte und darin bestand, geeignetes Personal zu finden. Am Ende hatte die moderne Funktionspartei unten keine Lebenswelt und oben keine Köpfe mehr. Und wahrscheinlich hing beides ganz eng zusammen. Natürlich, Liberale haben es mit den bürgerlichen Wählern und ihrer Lebenswelt nie einfach gehabt. Ein enger Konnex zwischen Partei und Sozialgruppe, wie es ihn im Katholizismus und im Sozialismus gab, ließ sich hier schlechterdings nicht schmieden: Bürger von Besitz und Bildung waren keine disziplinierten Parteisoldaten, hatten keine lebenslang gültige parteipolitische Fixierung, waren nicht in die Wagenburg einer gegenorganisatorischen Subkultur zu pressen. Und 65 | Zundel, Rolf: »Liberal und schwäbisch«, in: Die Zeit, 4.2.1983.

34 | Gelb oder Grün? es kam noch hinzu, dass die altbürgerliche Welt des selbstständigen Mittelstandes in den sechziger Jahren überall zugrunde ging. Die klassische, wenngleich von jeher labile Grundlage der Liberalen schmolz weg, nicht nur politisch, auch soziologisch. Die Zahl der Bauern, von denen viele traditionell nationalliberal gewählt hatten, sank seit den fünfziger Jahren eklatant, und insgesamt reduzierte sich der Anteil der Selbstständigen und ihrer mithelfenden Familienangehörigen zwischen 1950 und 1985 von 28 auf 12 Prozent.66 Selbst die überlieferten Feindbilder kamen den Liberalen allmählich abhanden. Die CDU wurde weniger katholisch, die Sozialdemokraten seit Godesberg weniger proletarisch. Das raubte den Freidemokraten wichtige Abgrenzungen, die die liberalen Anhänger lange Zeit verklammert hatten. Deshalb erlebte der altmittelständische Honoratiorenliberalismus seit den sechziger Jahren seine Abenddämmerung und schließlich seinen Untergang. Die bundesdeutsche Gesellschaft entkonfessionalisierte und enttraditionalisierte sich. Darin allerdings lagen für die Freien Demokraten nicht zuletzt beträchtliche Chancen: Im Grunde wurde die Gesellschaft dadurch ja aufgeschlossener für liberale Einstellungs- und Verhaltensmuster. Ein Teil des frühliberalen Normenkatalogs aus den ersten, noch vorindustriellen Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts erfuhr jetzt, zu Beginn der postindustriellen Zeit, eine Art Renaissance auf neuer, gesellschaftlich sehr viel breiterer Basis: Autonomie etwa, Bildung, Individualität. Eine neue, nachindustrielle Mittelschicht bildete sich heraus, die all diese Werte transportierte, infolge der Tertiärisierung der Gesellschaft und durch die Bildungsexpansion, die in den sechziger Jahren einsetzten. Dagegen verloren die großen industriegesellschaftlichen Kollektivorganisationen, die den Liberalen seit je Probleme bereitet hatten, nun laufend an Bedeutung. Insbesondere die beiden Bundesgeschäftsführer der FDP in den sechziger Jahren hatten diese Entwicklung nutzen und den Liberalismus auf neue soziale und normative Fundamente stellen wollen, hatten versucht, ihn für stärker linkslibertäre Schichten zu öffnen und in eine eher bürgerrechtlich-radikaldemokratische Richtung zu führen.67 Tatsächlich gab es damals, wohl zum ersten Mal in Deutschland, eine gesellschaftliche Chance für einen erneuerten 66 | Vgl. Zapf, Wolfgang: »Sozialstruktur und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik Deutschland«, in: Weidenfeld, Werner/Zimmermann, Hartmut (Hg.): Deutschland-Handbuch. Eine doppelte Bilanz 1949-1989, München 1989, S. 99-124, hier: S. 109.

67 | Vgl. Flach, Karl-Hermann: »Kein Platz in der Mitte«, in: Frankfurter Rundschau, 25.2.1967.

I. Die Liberalen: Umfallen und aufstehen | 35 linkslibertären Freisinn.68 Aber sie wurden nicht zuletzt von HansDietrich Genscher gestoppt.69 Er glaubte nicht an einen kulturellen Wandel der bürgerlichen Mitte; er hielt das Ganze für eine schnell vergängliche Mode, für eine akademische, jedenfalls unpolitische Phantasterei. So entwickelte sich die FDP nicht zur linksliberalen Bürgerrechtspartei, sondern beschränkte sich weiterhin auf die Rolle der Funktions- und innerkoalitionären Korrektivpartei. In der Koalition gab sie sich als Bremser sozialdemokratischen Reformüberschwangs und hielt sich bald demonstrativ die Option eines neuerlichen Bündnisses mit der CDU offen – eben: Genscherismus pur. Hans-Dietrich Genscher, der Nachfolger von Walter Scheel im Parteivorsitz, hatte die FDP so fest in den Griff bekommen wie kein Vorsitzender vor ihm. Er hatte ihr Mitte der 1970er Jahre mehr Regierungsmacht als jemals zuvor verschaff t. Genscher überragte alles. Und er überdeckte alles: die personelle wie die programmatische Armut der Partei. Denn im Grunde war die Partei programmatisch nicht vorangekommen. Seit Mitte der 1960er Jahre war nach jeder Wahlniederlage regelmäßig der Ruf laut geworden, dass man das eigene programmatische Profi l schärfen solle. Tatsächlich litten die Liberalen darunter, lediglich als Mehrheitsbeschafferin, Korrektivpartei, Notlösung für wankelmütige Wähler zu gelten. Sie sehnten sich danach, von den Wählern auch um ihrer selbst willen gewählt, vielleicht sogar ein wenig geliebt zu werden.70 Aber das gelang ihnen nicht. Der Regierungsalltag fraß die Liberalen auf, ließ sie alle guten programmatischen Absichten schnell vergessen. Die Praktiker, der umtriebige Bundesaußenminister vorne weg, hatten keine Zeit, auch keinen Sinn für tiefschürfende, reflexive Erörterungen. Im Übrigen: Genscher spielte nicht gern offensiv. Er war zwar ungeheuer ehrgeizig, blieb bei all seinen Aktionen aber äußerst vorsichtig.71 Er taktierte, ließ vieles offen, vermied riskante Züge, wollte immer noch eine weitere Karte, eine zusätzliche Option im Spiel behal68 | Vgl. Flach, Karl-Hermann: »Noch eine Chance für die Liberalen. Eine Streitschrift«, Frankfurt a.M. 1971.

69 | Vgl. Duden, Wilhelm: »Die Zukunft der FDP«, in: Handelsblatt, 6.4.1971.

70 | Vgl. Vorländer, Hans: »Die Geschichte der FDP: Eine Funktionspartei oder eine Programmpartei?«, in: Reinhold-Maier-Stiftung (Hg.): Die Zukunft des Liberalismus in der politischen Landschaft Baden-Württembergs, Karlsruhe 1993.

71 | Vgl. Leicht, Robert: »Hans-Dietrich Genscher«, in: Sarkowicz (Hg.): Sie prägten Deutschland, S. 239-248.

36 | Gelb oder Grün? ten.72 Und deshalb war Genscher für die FDP in den siebziger Jahren sicher nicht der falsche Mann. Denn in der Partei belauerten sich in diesem Jahrzehnt zwei nahezu gleich starke Flügel, der wirtschaftsliberale und der sozialliberale. Zwischen ihnen musste gemakelt und vermittelt werden. Eben das beherrschte der wendige Taktiker und Kompromissschmied Genscher; die Flügelbalance war gewissermaßen Voraussetzung und Quelle des Genscherismus. Aber eben deshalb kam Genscher in den frühen 1980er Jahren in Schwierigkeiten, als er sich innerparteilich eindeutig auf allein eine Seite – die der Wirtschaftsliberalen – schlug und sodann die »Wende« zurück zur Union einleitete. Auch dabei operierte er zunächst überaus vorsichtig und winkelzügig, keineswegs kraftvoll und zielstrebig. Doch irgendwann gab es in diesem Prozess kein Zurück, keine Auswegsoption mehr. Dem sozialdemokratischen Bundeskanzler bot die überschlaue taktische Attitüde Genschers am Ende noch die Chance, das Finale der Koalition nach eigenem Drehbuch zu gestalten. Den Liberalen wies er den schurkischen Part zu. Sie waren die Verräter, Intriganten und Konspirateure in dem Stück des Helmut Schmidt. Das schadete den Liberalen nicht nur in den Herbstmonaten 1982. Vieles davon blieb auch danach fest an ihnen haften, da sie bereits im Ruf des Opportunismus, der Prinzipienlosigkeit, der Machtversessenheit standen. Gerade die von Genscher so liebevoll gepflegte Pose der listigen Schlitzohrigkeit und politischen Wendigkeit hatte die Liberalen neuerlich in Verruf gebracht. Auch beim Koalitionswechsel hatten sie wieder in erster Linie taktiert, statt ihn politisch selbstbewusst, argumentativ zu begründen. Resonanz hätte man dafür durchaus finden können, zumal eine Mehrheit der Bundesdeutschen die Inkonsistenzen sozialdemokratischer Politik nicht mehr goutierte.

72 | Vgl. Schubert, Dirk: »Zu neuen Ufern«, in: Deutsche Zeitung/Christ und Welt, 16.7.1971; Zundel, Rolf: »FDP – nicht ewig auf die SPD fi xiert«, in: Die Zeit, 7.5.1971.

I. Die Liberalen: Umfallen und aufstehen | 37

E R SCHÖPFT

IM BÜRGERLICHEN

L AGER

So aber verlor die FDP bis auf kümmerliche Reste ihren sozialliberalen Flügel. Sie büßte etliche Mitglieder und ein Gutteil des Führungsnachwuchses ein; die Partei flog aus mehreren Landtagen und Landesregierungen.73 Schließlich schaff te sie 1984 auch nicht mehr den Einzug ins Europaparlament. Die alten liberalen Lebenswelten also waren durch den Koalitionswechsel 1969 verloren, die neuen hatte man bald links liegen gelassen, 1982 dann in größten Teilen eingebüßt. Die Gelegenheit, die die Freien Demokraten auf diese Weise ausschlugen,74 sollten die Grünen nutzen. Sie wurden zu Repräsentanten der neuen, gebildeten, human- und sozialdienstleistenden Mittelschichten, zur Partei des postindustriellen linkslibertären Freisinns. Gleichwohl hatten die Liberalen sich damit noch nicht ihre Zukunftschance komplett verbaut. Die achtziger Jahre nämlich, mit ihrer neureichen Unbekümmertheit und Individualisiertheit, waren im Grunde ein goldenes Jahrzehnt für Liberale verschiedener Schattierungen, für einen neuen Freisinn einerseits, aber auch für einen neuen Wirtschafts- und Rechtsliberalismus andererseits. Die neubürgerliche Mitte war erheblich breiter als die alte; in ihren humandienstleistenden Teilen bot sie Platz für eine linksliberale, postmaterialistische Partei; in ihren säkularisierten gewerblichen und privatdienstleistenden Segmenten schuf sie den Ort für einen eher rechts stehenden Neoliberalismus. Das konnte man in vielen Ländern Mittel- und Westeuropas beobachten, und gegen 1985 bahnte es sich auch in der Bundesrepublik an. Bis 1987 gewannen Freie Demokraten wie Grüne bei Landtagswahlen und Bundestagswahl, wobei beide vor allem in den ökonomisch modernen und prosperierenden Regionen kräftig zulegten. Dagegen schienen die christliche und die sozialdemokratische Großpartei, schwer beladen mit Organisationsapparaten, mit Tradition und Restmilieus, in den modernen und beweglichen Schichten des Landes nicht mehr anzukommen, und manch allzu fi xer Kommentator schrieb damals schon einen Nachruf auf die Ära der Volksparteien. Die Grünen profitierten von den Verlusten der Sozialdemokraten, die Freien Demokraten sammelten die Stimmen der abtrünnigen Christdemokraten ein. In vielen europäischen Ländern setzte eine tiefe Krise 73 | Vgl. Brandes, Ada: »Zankapfel Recht«, in: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 27.11.1983; Kempski, Hans Ulrich: »Der Übervater gerät aus der Balance«, in: Süddeutsche Zeitung, 4.6.1984.

74 | Vgl. Verheugen, Günter: »Der Ausverkauf. Macht und Verfall der FDP«, Reinbek bei Hamburg 1984, S. 13.

38 | Gelb oder Grün? der christdemokratischen und konservativen Parteien ein. Das kam überwiegend den Liberalen zugute. So auch in Deutschland.75 In der Tat deutete einiges auf eine Blütezeit des Liberalismus. Im Bürgertum hatten sich konfessionelle Bindungen mittlerweile weiter reduziert, wodurch Loyalitäten zur CDU noch einmal erheblich lockerer geworden waren,76 während die FDP sich als Auffangbecken säkularisierter, nichtsozialistischer bürgerlicher Schichten geradezu aufdrängte. Die Informationsgesellschaft, von der damals alle sprachen, verlangte Mobilität, Flexibilität und Selbstständigkeit – Eigenschaften, mit denen die beiden Volksparteien ihre Schwierigkeiten, die FDP indessen keine Probleme hatte, da sie gerade diese Tugenden, alles Zauberworte der achtziger Jahre, zu ihrem Programm zu machen suchte – nicht erst seit Guido Westerwelle. Schon seit 1985 beschrieb sich die FDP im Parteienwettbewerb als die Avantgarde der postindustriellen Gesellschaft, als der Vortrupp der Privatinitiative und als Herold des starken, eigenverantwortlichen Individuums. Programmatisch charakterisierte sie sich damit als der einzige verlässliche Anwalt der Leistungsträger, der dynamischen, wirtschaftlich erfolgreichen und nicht zuletzt besserverdienenden Schichten. All das lag durchaus in der allgemeinen Strömung der Zeit und spiegelte einen mächtigen Entwicklungstrend. Auch mit der Botschaft einflussreicher Leitartikler (zumindest in den Wirtschaftsteilen) deckte es sich vorzüglich. Und doch wurde die FDP nicht zur Erfolgspartei der neunziger Jahre: Die Avantgarde blieb damals noch ohne Gefolgschaft, verlor gar noch mehr an Anhang und Stimmen. Aber wieso eigentlich? Nehmen wir Otto Graf Lambsdorff.77 Ihn kürten die Freien Demokraten 1988 zum Bundesvorsitzenden, weil sie sich von ihm wieder mehr Schliff und Kontur für die Partei erhoff ten. Das schien plausibel, denn Lambsdorff war in den siebziger und achtziger Jahren der Matador einer strengen Marktwirtschaft,78 war der harte Polarisierer gegen die Sozial- und Wohlfahrtspolitiker in den Reihen der Union und der Sozialdemokratie. Mit Lambsdorff an der Spitze wurde das Image der 75 | Vgl. Zundel, Rolf: »Die Lust an Ecken und Kanten«, in: Die Zeit, 22.2.1985; ders.: »Man wagt sich wieder auf die Straße«, in: Die Zeit, 1.3.1985.

76 | Vgl. Walter, Franz/Bösch, Frank: »Das Ende des christdemokratischen Zeitalters? Zur Zukunft eines Erfolgsmodells«, in: Dürr, Tobias/Soldt, Rüdiger (Hg.): Die CDU nach Kohl, Frankfurt a.M. 1998, S. 46-58.

77 | Vgl. Andersen, Uwe: »Lambsdorff, Otto Graf«, in: Kempf, Udo/Merz, Hans-Georg (Hg.): Kanzler und Minister 1949-1998, Wiesbaden 2001, S. 404409.

78 | Vgl. Lambsdorff, Otto Graf: »Frische Luft für Bonn«, Stuttgart 1987.

I. Die Liberalen: Umfallen und aufstehen | 39 FDP in der Tat eindeutiger; sie galt jetzt noch mehr denn je als Partei der Wirtschaft. Und doch wurde Lambsdorff nicht zum Glücksfall für die FDP. Den Freien Demokraten taten die Polarisierer und Eindeutigen an der Spitze nie gut. Denn verbale Schärfe und Stringenz brachen sich an den Zweideutigkeiten und Kompromisszwängen einer nahezu ständigen Regierungspartei. Das wirkte diskreditierend, stellte die Freien Demokraten in ein opportunistisches Licht. Rhetorisch trat Lambsdorff als Herold marktwirtschaftlicher Orthodoxie auf; in der Praxis aber sündigte die freidemokratisch getragene Regierung in den frühen neunziger Jahren fortwährend dagegen, da sie Steuern erhöhte, die Pflegeversicherung einführte und im Osten Deutschlands staatsinterventionistische Politik betrieb. Lambsdorff postulierte immer erst laut und musste dann später stets kleinlaut beigeben. Auch Westerwelle stand als Generalsekretär seiner Partei dann in dieser Linie. Er trat regelmäßig mit forschen Unbedingtheiten an die Öffentlichkeit, forderte apodiktisch die Abschaff ung des Solidaritätszuschlags, das verfassungsrechtliche Verbot staatlicher Verschuldung und dergleichen mehr. Nichts davon war unter Koalitionsbedingungen in komplexen Gesellschaften ernsthaft durchzusetzen. »Woher die nach Steuersenkungen ausbleibenden Staatseinnahmen kommen oder welche seiner kostspieligen Leistungen der Staat dann einsparen soll«, merkte bereits 1996 der Parlamentskorrespondent Hans Monath kritisch an, »vermochte Guido Westerwelle den Journalisten gestern allerdings nicht zu erklären.« 79 Das Ergebnis langer Verhandlungen wirkte vor der Folie der verbalen Forderungsradikalität Westerwelles stets fade, kleinlich, gering. Die FDP wurde so die Partei, die regelmäßig als Tiger sprang und stets als Bettvorleger landete – so nahm es die Öffentlichkeit wahr. Zugleich kompromittierte die Methode der Radikalrhetorik das Kabinett der späten Kohl-Jahre insgesamt. Je ungeduldiger die Reformpauke verbal geschlagen wurde, desto stagnierender wirkte die Bundesregierung mit den Ministern der FDP. Überhaupt hatte die FDP auf diese Weise im Laufe der vorangegangenen 30 Jahre ein beträchtliches Glaubwürdigkeitsproblem angesammelt. Die Partei prangerte unverdrossen die hohen Steuersätze an, wetterte über die Fülle der Abgaben, höhnte über den »fetten Staat« und forderte wieder und wieder die Verschlankung der Verwaltung, die Entbürokratisierung des öffentlichen Dienstes und der Sozialsysteme. Das war ein dauerpräsenter liberaler Refrain, und das Publikum hörte ihn in den siebziger Jahren, hörte ihn unverändert in 79 | Monath, Hans: »Weg mit dem überflüssigen Plunder«, in: die tageszeitung, 6.2.1996.

40 | Gelb oder Grün? den achtziger Jahren und auch noch in den neunziger Jahren. Schon 1985 schrieb das Wirtschaftsmagazin »Capital« verärgert, dass in jeder Rede von führenden Freidemokraten die Parolen »mehr Markt, Abbau der Staatsquote, Reduzierung der Staatsverschuldung, Privatisierung, steuerliche Reformen, Subventionsabbau« erscheinen würden – effektive Impulse dazu dann aber von freidemokratischen Ministern nie kämen.80 Ein wenig verblüff t, ja zunehmend düpiert, fragte sich auch die reale Mitte der Wählerschaft mit der Zeit, warum die FDP das, was sie so wortreich forderte, nicht längst gouvernemental verwirklicht hatte. Schließlich stellte sie über ein Vierteljahrhundert den Wirtschaftsminister und war, wenn in Nachkriegsdeutschland regiert wurde, fast immer dabei – über 40 Jahre lang. In Wirklichkeit waren die Liberalen ohne die Ressourcen des rhetorisch verdammten Staats nicht denkbar, weil gerade sie das Personal, die finanziellen Mittel und Einrichtungen der ministeriellen Bürokratien benötigten, um Politik zu machen. Die FDP brauchte mehr als andere Parteien die staatliche Parteienfinanzierung, um überhaupt existieren zu können. Während sie Bürger und Staat zur Sparsamkeit, zum Schuldenabbau mahnte, war doch keine zweite Partei in all den Jahren so stark verschuldet wie sie. Sie redete gern von Selbstverantwortung, ihre Mitglieder aber, die Besserverdienenden der Gesellschaft, waren bei den Beiträgen für die eigene Partei weit knauseriger als Sozialdemokraten, Christdemokraten oder Grüne.81 Auch deshalb reagierten die deutschen Wähler seinerzeit so missmutig auf die liberalen Postulate von Deregulierung, Flexibilität und Mobilität. Dazu war das Führungspersonal der FDP in den neunziger Jahren ein weiteres Problem für die Partei. Immer hatten die Liberalen in erster Linie von ihren Köpfen gelebt, von tüchtigen, wirtschaftlich erfolgreichen, oft auch hochgebildeten Honoratioren. In Sachen Organisation konnten sie mit ihren Konkurrenten nicht mithalten. Insofern war bei ihnen der Faktor Persönlichkeit von jeher entscheidend, und dass sie während der Weimarer Republik neben Gustav Stresemann keine weitere herausragende Persönlichkeit hervorbrachten, dürfte ihren Niedergang in den bürgerlichen Schichten von 1933 zumindest beschleunigt haben. Nach dem Krieg lebte die FDP dann lange ganz gut von der Reputation Theodor Heuss’, vom rechtsstaatlichen Feuer Thomas Dehlers, von der gepflegten Bürgerlichkeit Erich Mendes; sie lebte von unorthodoxen oder intellektuell brillanten Außenseitern wie Ralf Dahrendorf, Werner Maihofer oder Rudolf Augstein, vom außenpolitischen Ansehen 80 | Kolbe, Gerd: »Doppelter Boden«, in: Capital 12 (1985), S. 95. 81 | Vgl. zu den Finanzen der Partei auch Dittberner: »Die FDP«, S. 233ff.

I. Die Liberalen: Umfallen und aufstehen | 41 Walter Scheels oder Hans-Dietrich Genschers, von der unzweifelhaften wirtschaftspolitischen Kompetenz des Grafen Lambsdorff. Aber nach Lambsdorff und Genscher kam zunächst nichts mehr. 1993 schien die Führungsreserve der FDP erschöpft. Es gab in der Partei niemanden mehr, der hinreichend erfahren, strategisch beschlagen und integer genug war, dass er das Zeug zur Führung einer schwierigen, durch innerparteiliche Kabalen waidwunden Partei hatte. In ihrer Not beriefen die Freien Demokraten Klaus Kinkel. Ein Politiker war der langjährige hohe Beamte allerdings nicht. In die FDP war er erst 1991 eingetreten.82 Rhetorischer Glanz war von ihm nicht zu erwarten. Aber er galt als ehrlich, anständig, geradlinig. Und darauf legte die durch Möllemann’sche Rankünen seinerzeit schwer gebeutelte Partei nun Wert. Doch ging es in der Politik auch damals nicht geradlinig und ehrlich, sondern winkelzügig und verzockt zu. Kinkel also bekam Schwierigkeiten, zumal er die verschlungenen Schlachtverläufe der innerparteilichen Grabenkämpfe nicht hinreichend durchschaute und auch mit dem Bandenspiel zwischen Politik und Medien in der Bundeshauptstadt nicht zurechtkam. So nahm das Drama des Klaus Kinkel seinen Lauf: Erst spotteten die Medien über ihn, dann lästerte die eigene Partei; schließlich ging noch Landtagswahl auf Landtagswahl verloren. Die Freien Demokraten demontierten darauf ihren Vorsitzenden, den sie 1993 noch als Lichtgestalt begeistert begrüßt hatten, mit gnadenloser Konsequenz.83 Die Wende von 1982 hatte einige der quirligen, unkonventionellen Talente der sozialliberalen Generation aus der Partei gedrängt. Es blieb der etwas träge und behäbige Typus des Lehrers, des Juristen und mittleren Verbandsfunktionärs. Als Schrittmacher der programmatisch gefeierten Modernisierung und Flexibilisierung der Wissensgesellschaft machte dieses Führungspersonal keine sonderlich überzeugende Figur. Die Freien Demokraten glänzten nicht vor den Kameras der Telegesellschaft. Es mangelte ihnen an jener Aura, die sie gebraucht hätten, um gerade die von ihnen umworbenen flexiblen Wähler zu beeindrucken, und es fehlte ihnen nicht zuletzt an einer Parteispitze, die das vorgelebt hätte, was sie als liberale, innovative, dynamische Marktgesellschaft täglich aufs Neue zu ihrem Programm erhoben. 82 | Vgl. Werwath, Christian: »Klaus Kinkel – ›Ich kann auch auf hören, dann können die sich einen anderen suchen‹« in: Lorenz, Robert/Micus, Matthias (Hg.): Seiteneinsteiger. Unkonventionelle Politiker-Karrieren in der Parteiendemokratie, Wiesbaden 2009, S. 333-347.

83 | Vgl. Prantl, Heribert: »Kinkel – wie von einem anderen Stern«, in: Süddeutsche Zeitung, 12.12 1994.

42 | Gelb oder Grün?

W ESTERWELLE

UND DIE

G ENER ATION @

Bis dann der Stern des Guido Westerwelle aufging. Zum Jagen musste diesen niemand tragen. Westerwelle war höchst ehrgeizig; er brannte darauf, die Freien Demokraten zu neuen Höhen, jenseits der kleinen, feinen Fünf-Prozent-Partei zu führen. Er war ein drahtiger, zuweilen auch aggressiver, jederzeit bissig polemisierender Versammlungsredner, der Parteitage verlässlich emotionalisieren konnte. Westerwelle spitzt zu, liebt es, genussvoll zu polarisieren. Er versprach der siechenden Partei neue Jugend, neue Milieus, ein neues Alleinstellungsmerkmal und natürlich: neue Wähler. Sich selbst sah er als Protagonisten einer neuen, seiner Generation.84 Das alles war in sich stimmig ausgedacht und medial auch höchst professionell kommuniziert. Aber zunächst sammelte der Prophet durchaus keine weiteren Jünger. Gerade in seiner Generation – Westerwelle gehört dem Geburtsjahrgang 1961 an – schnitten (und schneiden) die Freien Demokraten weit überproportional schlecht ab, die Hauptgegner Westerwelles – die Grünen – hingegen exzeptionell gut. Und doch lag Westerwelle mit seiner Wahrnehmung nicht rundum falsch. Die Anführer neuer politischer Generationen stammen in aller historischen Regel niemals aus eben dieser Generation, sondern zumeist aus der vorangegangenen Kohorte. Und so wurde die Westerwelle-Partei 1998 zunächst bundespolitisch in die Opposition geschickt. Und Ende 1999 sah sich die FDP bei den meisten Landtagswahlergebnissen nicht mehr auf den dritten, nicht auf den vierten, sondern oft genug auf den sechsten oder siebten Platz verwiesen. Deutsche Liberale in der Opposition – das war anfangs gewöhnungsbedürftig. Die alte FDP der Mende-Genscher-Ära war zu einer solchen Opposition kaum fähig. Die neue FDP der Marke Westerwelle aber besaß dafür bessere Voraussetzungen. Denn Bürgertum und Freidemokratische Partei hatten sich in den zurückliegenden 15 Jahren strukturell und mental gewandelt. Bis in die sechziger und siebziger Jahre hinein war das mittelständische Bürgertum und die freidemokratische Parteimitgliedschaft honoratiorenhaft und staatstreu. Doch die 68er-Revolte, die sozialdemokratischen Wohlfahrtsreformen und die Expansion der linksökologischen Dienstleister hatten das gewerbliche Kleinbürgertum rechts der Mitte, überall in Europa im Übrigen, auf Distanz zum Staat gebracht. Das war die Einbruchstelle für die neoliberale Offensive seither. Und auch der Mittelbau der FDP war während der 1990er Jahre aus den staatlichen Repräsentanzstruktu84 | Vgl. Kurbjuweit, Dirk: »Generation Guido«, in: Der Spiegel, 30.4.2001.

I. Die Liberalen: Umfallen und aufstehen | 43 ren herausgefallen. In den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren entschieden auf FDP-Parteitagen noch Stadtverordnete, Bürgermeister, Stadtdirektoren, Landräte, Landtagsabgeordnete und Länderminister über den Kurs der Partei. Doch diese Schicht war in der FDP unterdessen nahezu verschwunden. Der neue liberale Delegiertentyp war außerparlamentarisch, steckte in seiner politischen Erfahrungswelt längst schon in der Opposition. Insofern waren die Liberalen 1998, anders als 1956 oder 1966, zumindest mental und konzeptionell auf die Opposition vorbereitet. Sie besaßen bereits das Programm einer Oppositionspartei. Und sie verfügten mit Westerwelle über einen Generalsekretär, der immer dann zu rhetorischen Großtaten auflief, wenn er ganz im Stile eines donnernden Oppositionsführers gegen das System agitieren konnte. Bei den Nachwuchskohorten im neureichen Bürgertum zeigte das mit der Zeit Wirkung. Als Oppositionspartei sammelte die FDP Zug um Zug die Gegner des Steuerstaates. Jedenfalls: Das große Versprechen Westerwelles, die FDP zu neuer und ganz unbekannter Größe zu führen,85 war in der Tat nicht unplausibel. Im Jahr 2000 schien es plötzlich aktuell und einlösbar. Denn nun gerieten auch die deutschen Christdemokraten, beschleunigt durch die Aff äre um Parteispenden, in eine ähnliche Krise wie seit Jahren schon ihre Schwesterparteien überall sonst in Europa. Nun bot sich auch den deutschen Liberalen die Chance, zu den Gewinnern der gesellschaftlichen Säkularisierung, des Zerfalls der christlichen Milieus, der Auflösung konservativer Leitkulturen und Parteibindungen im Bürgertum zu werden. Westerwelle wies jetzt gern auf Holland, wo die Liberalen zur überragenden Mehrheitspartei der bürgerlichen Schichten geworden waren, und wo sie die einst so ungewöhnlich starken Christdemokraten spektakulär dezimiert hatten. Westerwelle hatte unzweifelhaft früh antizipiert, schon als Jugendlicher in den noch eher ökopazifistischen frühen 1980er Jahren, dass sich der kulturelle Wind in der Republik drehen würde. Eben dies geschah in den ersten Jahren der langen Ära Kohl. Der zuvor so prägungsmächtige 68er-Mainstream versiegte allmählich. Vorbei ging es mit Hippielook, Grand-Funk-Railroad-Musik, dem Kult um die Sonnenblume, mit Adorno und Marcuse. Die neuen Kohorten lasen »Tempo« und »Wiener«, statt »Rote Blätter« oder »Den langen Marsch«, kleideten sich mit Blazern statt in Latzhosen. Sie wuchsen auf mit PC und Netz, mit dem Privatfernsehen, dem Mobiltelefon und mit 85 | Vgl. Westerwelle, Guido: »Neuland. Einstieg in einen Politikwechsel«, München 1998.

44 | Gelb oder Grün? Boris Becker. Für die neuen Jahrgänge bürgerten sich im Laufe der 1980er und 1990er Jahre allerhand Kollektivbegriffe ein; man sprach von »Yuppies«, »Generation Golf«, auch von »ICHlingen« oder »Performern«.86 Dergleichen Sprachartistik hat viel Spott hervorgerufen. Die Generationskonstruktionen galten als rein spekulativ, modisch, als Geschöpfe volatiler Feuilletonpassionen. Indes: Selbst die härtesten Empiriker in der Werteforschung diagnostizierten dann mithilfe ihrer seriellen Daten, dass die Formel von »Generation Golf« überraschend viel Realität erfasste.87 Kurzum: Die »Generation Golf« hatte sich in der Tat von den postmaterialistischen Einstellungen und ökoalternativen Habitusformen der älteren Geschwister gelöst. Und sie wählte nicht mehr mehrheitlich rot-grün, sondern »bürgerlich«. Vor allem die Freien Demokraten haben ihren Aufschwung der letzten Jahre unzweifelhaft dieser Post-68er-Kohorte zu verdanken. Insofern durfte sich vor allem Guido Westerwelle nach langen Jahren bitterer Niederlagen, Erosionen und hämischer Reaktionen letztendlich bestätigt sehen. Seit 1983 – seit er damals die »Jungen Liberalen« anführte – hatte er sich unverdrossen als Protagonist einer veränderten Generationsund Einstellungskultur neu herangewachsener leistungsorientierter, optimistischer, fortschrittsbejahender, marktorientierter Individuen präsentiert. Der Liberalismus, den er anstrebte, sollte sich diese Gruppe als Fundament und Avantgarde zugleich nehmen.88 Es ging Westerwelle bei seinem Projekt nicht zuvörderst um das konventionelle bürgerliche Lager, nicht um Old Economy und erst recht nicht um das traditionelle Bildungsbürgertum mit dem überlieferten Tugendkanon von Hochkultur, Innerlichkeit und Askese, von Distinguität und Diskretion. All das war für Westerwelle die bürgerliche Gesellschaft von gestern, war gewissermaßen Wolfgang Gerhardt, verlor einfach an Relevanz, bedeutete politisch daher die ewige Zitterpartie um die Fünf-Prozent-Hürde. Westerwelle zielte vielmehr auf die – expandierenden – neumittigen Lebensgefühle und neuökonomischen Existenzen, die auf Dezenz wenig gaben, da sie die Selbststili86 | Vgl. Illies, Florian: »Generation Golf. Eine Inspektion«, Berlin 2000; Schüle, Christian: »Deutschlandvermessung. Abrechnung eines Mittdreißigers«, München/Zürich 2006, S. 27ff.

87 | Vgl. Klein, Markus: »Gibt es die Generation Golf? Eine empirische Inspektion«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 55 (2003), H. 1, S. 99-115.

88 | Vgl. Walter, Franz: »Westerwelle. Oder: Die Sendung des Alleinunterhalters«, in: Berliner Republik 3 (2001), H. 2, S. 22ff.

I. Die Liberalen: Umfallen und aufstehen | 45 sierung liebten, die Traditionen verachteten, da sie allein im schnellen Wechsel den täglich nötigen Kick bekamen. Westerwelle setzte auf die Selbst-Darsteller und Selbst-Vermarkter, auf die neuen Selbstständigen und Lebenskünstler, auf die Generation @, auf Onliner, Chatter und Surfer im Internet. Das, so hämmerte er seinem Parteivolk ein, seien die Trendsetter der Zukunft; wer sie gewinne, der habe auch bei Wahlen die Nase vorn. Diese Klientel fand sich nicht in Innungen und Handwerkskammern, nicht in Thomas-Mann-Gesellschaften und bei Rilke-Abenden. Dorthin mochte man die Gerhardts, Brüderles und Kinkels schicken. Westerwelle wollte stattdessen die neumittige Generation zur FDP hinüberziehen, durch den gezielten Medienauftritt, durch Eventmanagement, durch campaigning, durch climate setting – wie das eben seinerzeit in der BWL- und PR-Sprache jener Generationenkultur firmierte, die zwar nicht die von Westerwelle war, aber als deren Sprecher er sich emsig andiente, wo ihn doch die eigene Kohorte, die weit mehr grün als freidemokratisch wählte, so schlimm enttäuscht hatte. Nochmals: Unrealistisch war das Vorhaben Westerwelles nicht. Die dänischen Liberalen hatten in den neunziger Jahren vorgemacht, dass so etwas mit einem Medienprofi an der Spitze funktionieren konnte. Sie wurden in der Tat zur Partei der jungen Generation, steigerten ihre Mitglieder- und Wählerzahlen beträchtlich, marginalisierten die einst dominanten Konservativen, bedrängten selbst die Sozialdemokraten. Dabei handelte es sich um einen soziologisch unterfütterten Trend, der für alle nachindustriellen Gesellschaften typisch wurde. Verlierer waren im Bürgertum insbesondere die klassisch christdemokratischen Parteien. Seit Mitte der achtziger Jahre schrumpften deren Wählerpotenziale dramatisch zusammen. Die christlichen Parteien waren die Opfer der Erosion christlicher Milieus, der Individualisierung und Entstrukturierung des Bürgertums.89 Die Gewinner dieses Prozesses konnten vielfach die Liberalen, auch die rechtspopulistischen Bewegungen im europäischen Kleinbürgertum werden, wobei sich beides nun oft mischte und mengte. In Österreich etwa hatte die haiderianische Variante des Liberalismus die christsoziale Volkspartei zu einer bescheidenen Mittelpartei dezimiert.

89 | Vgl. Bösch, Frank/Walter, Franz: »Verlust der Mitte. Die Erosion der christlichen Demokratie«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 43 (1998), H.11, S. 1339 ff.

46 | Gelb oder Grün?

TABUBRUCH

AL S

E VENT

Dergleichen animierte nicht nur Jürgen W. Möllemann. Tatsächlich hatte sich die FDP schleichend, fast unbemerkt verändert. Das Parteimanagement war in den letzten Jahren fundamental verjüngt worden. Die FDP wurde dadurch erheblich weniger altliberal-honoratiorenhaft. Der Typus Gerhardt dünnte nach unten aus; der Typus Möllemann und auch Westerwelle bekam neuen politischen Nachwuchs. So schwand die bürgerliche Lebenswelt – nicht nur in der FDP – zweifelsohne allmählich dahin. An die Stelle des alten Bürgertums war in den europäischen Gesellschaften generell eine quantitativ weit stärkere, kulturell hingegen sehr viel weniger distinguierte »neue Mitte« getreten. Mit der klassischen liberalen Honoratiorenpartei hatte diese neubürgerliche europäische Mitte nichts mehr im Sinn. Aber auch mit dem altbackenen Konservatismus der Christdemokraten konnte sie nicht viel anfangen. Und der altindustriegesellschaftliche Traditionalismus und Solidarismus der Sozialdemokratie war ihr erst recht suspekt. So war aus der Mitte der europäischen Gesellschaften (und oft auch aus herkömmlichen liberalen Parteien) heraus ein neubürgerlicher plebiszitärer Populismus gewachsen, der in seinem Feldzug gegen die alten christdemokratischen/sozialdemokratischen »Herrschafts- und Blockadekartelle« in Gesellschaft und Staat üppige Wähleranteile zusammensammelte: so bei den skandinavischen Fortschrittsparteien, bei der dänischen und der schweizerischen Volkspartei.90 Und nicht ganz wenige in diesem bürgerlichen Spektrum waren beeindruckt, wie der Österreicher aus dem Bärental, Jörg Haider also, seine sieche liberale Kleinpartei zu einer breiten Sammlungsbewegung des Protests aufmöbelte und die Altparteien in immer neuen Kampagnen virtuos vor sich hertrieb, damit die politische Agenda nach Belieben bestimmte. Diese neubürgerlichen Populisten des Protests waren in einigen europäischen Ländern zwischenzeitlich so stark geworden wie die alten sozialdemokratischen bzw. christdemokratischen Volksparteien. 90 | Vgl. Rydgren, Jens: »Explaining the Emergence of radical right-wing Populist Parties. The case of Denmark«, in: West European Politics 3 (2004), S. 474-502; Heidar, Knut: »Norwegian parties and the party system: Steadfast and changing«, in: West European Politics 4 (2005), S. 807-833; Geden, Oliver: »Diskursstrategien im Rechtspopulismus. Freiheitliche Partei Österreichs und Schweizer Volkspartei zwischen Opposition und Regierungsbeteiligung«, Wiesbaden 2006; Spier, Tim: »Populismus und Modernisierung«, in: Decker, Frank (Hg.): Populismus. Nützliches Korrektiv oder Gefahr für die Demokratie?, Wiesbaden, S. 33-58.

I. Die Liberalen: Umfallen und aufstehen | 47 Und einiges davon wurde zum Vorbild des Jürgen W. Möllemann, für sein Projekt »Partei für das ganze Volk«.91 Nur: Eine Volkspartei, wie man sie bislang kannte und schätzte, war dies nicht. Der Typus der klassischen Volkspartei bedeutete vielmehr die parteipolitische Lektion aus den kompromisslos geführten Vernichtungskämpfen zwischen den Interessen- und Weltanschauungsparteien der Zwischenkriegszeit. Die demokratischen Volksparteien nach 1945 sollten daher die verschiedenen Interessen schon in sich bündeln, dadurch mäßigen und pazifizieren. Das war im Ganzen nicht schlecht gelungen. Die neuliberalen Staubsaugerparteien aber waren solche Volksparteien nicht. Sie waren vielmehr Sammelparteien der neumittigen Ungeduld, der hämischen und polarisierenden Gags, vor allem der Affekte. Und sie lebten davon, diese Affekte fortwährend zu aktivieren, statt sie zu dämpfen. So sollte das Anfang des Jahrtausends auch in Deutschland mit dem neuen Möllemann-Projekt gehen. Jürgen W. Möllemann hatte das jedenfalls in einigen Interviews unmissverständlich kundgetan, da er die »Menschen an ihren Wutpunkten abzuholen« gedachte.92 Eins war den neuliberalen Parteien gemeinsam: Sie agierten nicht mehr, wie früher die Altliberalen, als elitärer Interessenverein der »Wohlhabenden«, sondern als Protestvehikel der »einfachen Leute«. Sie waren allesamt Parteien der antiökologischen Gegenreform, Kampftruppe der Autofahrer, der Staatsverdrossenen, der Steuerverweigerer, der Nicht-Postmaterialisten. An ihrer Spitze stand überwiegend der Kraftmeier, der Rambo, der Held all derjenigen, die gern selber stark wären und die in jenen zurückliegenden Jahren so furchtbar litten, als die Grünen noch den Ton angaben, die Frauenquote angesagt war, die Städte mit Fahrradwegen durchpflastert wurden. Da diese neuliberalen Parteien des Protests meist organisationsund mitgliederschwach blieben, mussten sie als Medienparteien agieren. Da sie über gewachsene Loyalitäten nicht verfügten, brauchten sie ständig das mobilisierende Thema, die aggressive Zuspitzung, die medial transportierbare Kampagne. Selbst als Regierungspartei musste dieser Typus des populistischen Neuliberalismus einen ungeheuren Budenzauber veranstalten, sonst war er rasch weg vom Fenster. Insofern waren die Neuliberalen Eventparteien, aber sie ideologisierten

91 | Vgl. Dittberner: »Die FDP«, S. 323. 92 | Lütjen, Torben/Walter, Franz: »Medienkarrieren in der Spaßgesellschaft? Guido Westerwelle und Jürgen W. Möllemann«, in: Alemann, Ulrich von/Marschall, Stefan (Hg.): Parteien in der Mediendemokratie, Wiesbaden 2002, S. 390-419.

48 | Gelb oder Grün? und polarisierten auch scharf, repolitisierten durchaus und immerhin die Parteienkonkurrenz. Europaweit waren diese Parteien damals die Favoriten bei den unter 30-Jährigen. Genauer: bei den Männern unter dreißig. Noch genauer: bei jungen Männern aus den selbstständigen Mittelschichten und der Arbeiterschaft. Soziologisch unterschied sich der Neuliberalismus also markant vom rein bürgerlichen Altliberalismus. Der Neuliberalismus war in seinem Wähleranhang – nicht in seinen Parlamentsvertretungen – proletarischer. Und er agierte politisch plebejischer, härter, militanter. An die Spitze des populistischen Neuliberalismus gelangten im Wesentlichen Medien- und Eventtribune, die sich stets als Männer des Volkes durch gezielte Tabubrüche und Erlebniskampagnen in den Schlagzeilen und Scheinwerferlichtern hielten. Sie waren die Matadore der »politics by entertainment«. Programmatisch waren diese teleplebiszitären Charismatiker immer unscharf geblieben. Sie wussten wohl, wogegen sie jeweils waren; im Übrigen protegierten sie das neureiche Cash-Denken und die traditionsentwurzelte Beschleunigungsmonomanie der neuen Mitte. Dazu rochierten Parteien dieses Typus von einem »Wutpunkt« zum nächsten, von einem mobilen »Event« zum anderen. Ihre Anführer hatten Virtuosen der permanenten Kampagne, der fortwährenden Zuspitzung, der atemlosen Ereignissteigerung zu sein. Man konnte damit Wahlen gewinnen. Man konnte so auch einen Erfolg versprechenden Ausweg aus der langen Krise des Honoratiorenliberalismus, aus dem Niedergang der Welt der Krämer und Gebildeten finden. Man konnte damit auch die neuen Heimatlosen aus den wegschmelzenden sozialdemokratischen und christdemokratischen Milieus einfangen. Und man hatte zweifellos ein zielgruppengerechtes Angebot für die Generation von Internet und New Economy, die nicht in festen Substrukturen, stabilen Wertegemeinschaften und kohärenten Politikorientierungen groß geworden ist. Der Liberalismus dieser Façon verhieß so Zielmarken, die der honorable, verlässliche, integere Altliberalismus nie zu erreichen vermochte. Das eben war das Substrat für die Möllemanie, die zumindest eine Zeit lang gerade bei jüngeren Freien Demokraten herrschte, die bis in den Herbst 2002 das »Projekt 18« im Visier hatte und »Partei für das ganze Volk« sein wollte. Auch Westerwelle, dessen eigenes Projekt von der radikal neoliberalen Partei des neuökonomischen Jungbürgertums 1999 endgültig und ziemlich kläglich gescheitert war, sprang auf den Zug auf, ließ sich zum Kanzlerkandidaten küren. Wie im Rausch folgten er und die Freien Demokraten insgesamt über Monate den verwegenen Aussich-

I. Die Liberalen: Umfallen und aufstehen | 49 ten auf ganz neue Größendimensionen des Wählerzuspruchs. Auch die Politik des Tabubruchs und der Provokation, die Möllemann lustvoll praktizierte, wurde von Westerwelle und dem größten Teil seiner Partei begeistert mitgetragen.93 Doch dieses politische Instrumentarium war hochtückisch und für eine im Kern honoratiorenhafte Partei nur schwer anzuwenden. Denn die Politik der Provokation erforderte Härte, Skrupellosigkeit, eiserne und zynische Konsequenz. Eine Politik des Tabubruchs wirkte schließlich nur, wenn sie sich permanent verschärfte, dynamisierte, weitertrieb. Die jeweils nächste Provokation musste immer noch ein Stück unverschämter, maßloser, hybrider ausfallen, sonst trivialisierte, verpuff te sie.94 Eben das aber entgrenzte Politik, enthemmte und radikalisierte sie, konnte – die ganze Republik erlebte es – tödlich ausgehen. Extremistisch-populistische Parteien mit verwegenen Außenseitern und unbürgerlichen Existenzen halten das aus. Aber Establishmentparteien des arrivierten liberalen Bürgertums sind dazu kaum in der Lage. Dennoch: Erst die mit antisemitischen Ressentiments kalkulierenden Ausfälle Möllemanns und der bescheidene Ausgang der Bundestagswahl 2002 ernüchterten die FDP, schockierten und zügelten den Parteivorsitzenden. Jetzt, als die FDP realisierte, wohin die Maßlosigkeit des populistischen Events führte, rückte sie von der Provokationsund Kampagnenpolitik erschrocken wieder ab. Das freidemokratische Bürgertum, in dem es dann doch noch hinreichend altbürgerliche und besonders gouvernementale Mentalitäten gab, war am Wahlabend 2002 jäh ernüchtert und mochte sich auch nicht der neu hinzugewonnenen Wählerschichten erfreuen. »In gutbürgerlichen Wohngegenden haben wir Stimmen verloren, in Arbeiterhochburgen zugelegt«, klagte besorgt der frühere Generalsekretär Werner Hoyer, »dieser Austausch ist lebensgefährlich.«95 Andererseits musste man konzedieren, dass die Spaß- und Eventkampagnen, der Medienfuror der Westerwelle-Möllemann-Partei seit dem Jahr 2000 elektoral tatsächlich nicht ohne Erfolg war. Seither jedenfalls, seit der Landtagswahl von Nordrhein-Westfalen, war die Wählerschaft der FDP juveniler. Und sie war ebenfalls männerdominiert. Bei den 18- bis 24-jährigen jungen Männern in Ost-Deutsch93 | Vgl. Ross, Jan: »Das liberale Finale. Guido Westerwelle und Jürgen Möllemann im Vergleichstest«, in: Die Zeit, 26.4.2001.

94 | Vgl. Paris, Rainer: »Stachel und Speer. Machtstudien«, Frankfurt a.M. 1998, S. 57ff.

95 | Zit. bei: Schmiese, Wulf: »Rückkehr zur kleinen, aber feinen FDP«, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 29.9.2002.

50 | Gelb oder Grün? land übertraf die FDP bei den Bundestagswahlen 2002 sogar mit 12,4 Prozent der Stimmen die PDS, die lediglich auf 11,8 Prozent kam.96 Mit dem freidemokratischen Populismus der Jahre 2000/01/02 drang die Partei, wie ursprünglich durchaus auch kühl intendiert, in neue, sicher nicht unproblematische Wählerschichten ein. Der Anteil der Arbeiter an den FDP-Wählern stieg von 3,5 Prozent auf 6,5 Prozent; die Quote der Arbeitslosen verdreifachte sich gar. Ein Viertel der neu gewonnenen Wähler hatte zuvor eine extreme Rechtspartei gewählt; im Gegenzug verlor die FDP die meisten Stimmen an die Grünen.97 Vor allem die Selbstständigen, die tragende Säule des Liberalismus seit jeher, waren vom spaßgesellschaftlichen Populismus in ernsten Zeiten eher abgestoßen; hier büßte die FDP bei den Bundestagswahlen 2002, aber auch noch danach einige Prozentpunkte ein. In der postmaterialistischen Generation der 35- bis 44-Jährigen – also ausgerechnet der Generation des Parteivorsitzenden Westerwelle – fand die FDP, anders als die Grünen, wenig Anklang. Noch geringer hingegen war der Zuspruch bei den über 60-Jährigen. Insofern hatte sich die FDP elektoral wirklich gewandelt. Sie war erheblich jünger, auch östlicher, partiell proletarischer, weniger libertär und urban geworden.98 Auf der nationalen Ebene hat sie an Selbstständigkeit gewonnen, da auch ihr Erstwählervolumen über 5 Prozent lag. Mit der Politik der Äquidistanz, die vor allem auf den Parteivorsitzenden Westerwelle zurückging, war es dann allerdings rasch vorbei. Das altbürgerliche Lager, das Westerwelle in den 1990er Jahren zugunsten neuer Optionen auf brechen wollte, stand bald wieder einträchtig und geschlossen zusammen, sichtbar vor allem, als sich Merkel, Westerwelle und Stoiber gemeinsam auf den Bundespräsidentenkandidaten Horst Köhler einigten. Insofern operierte die FDP erst gar nicht strategisch mit den neuproletarischen Schichten. Sie ließ sie gleichsam rechts liegen, fürchtete nun das Feuer der Protestpartei, das ja nicht nur Möllemann, sondern auch Westerwelle zunächst lustvoll entfacht hatte. Die FDP, die sich über drei Jahre als »Protestpartei 96 | Vgl. Jesse, Eckhard: »Junge Frauen wählen lieber SPD«, in: Die Welt, 19.11.2003.

97 | Vgl. o. A.: »FDP profitiert deutlich von rechten Wählern«, in: Handelsblatt, 11.10.2002.

98 | Vgl. auch Güllner, Manfred: »Die FDP: Zwischen Renaissance des Liberalen und rechtspopulistischen Anfeindungen«, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 16 (2003), H. 1, S. 93-96, hier: S. 94; vgl. auch Vorländer, Hans: »Die FDP – ein Lehrstück medialen Illusionstheaters«, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 16 (2003), H. 1, S. 89-92.

I. Die Liberalen: Umfallen und aufstehen | 51 der Mitte« inszeniert hatte, fiel gar im Winter 2002/03 gänzlich aus, als aus der Mitte der Gesellschaft eine wirkliche Protestwelle der Empörung über die wiedergewählte rot-grüne Regierung hinwegspülte. Während die Union elektoral daraus ihren politischen Honig sog, blieb die FDP stumm, befand sich nach dem fiebrigen Taumel des populistischen Events im katzenjämmerlichen Zustand der Apathie und Depression. Erst allmählich lösten sich die Liberalen aus ihrer agonalen Erstarrung – und mutierten sodann zur alten, bereits überwunden geglaubten FDP. Alle Metaphern, Losungen und strategischen Zielvorgaben der zuvor neuen FDP, die ihr Parteivorsitzender schon in seiner Zeit als Generalsekretär oft überaus vollmundig ausgegeben hatte, waren nunmehr Makulatur. Schon gewann man den Eindruck, dass sich Westerwelle selbst nicht mehr seiner und seines Projekts sicher war. Gewiss, das war auch Teil eines Rollenspiels, denn Westerwelle hatte zwischenzeitlich registriert, dass ihm das Trompetenhafte, das eifernd Agitatorische seiner rhetorischen Inszenierung mehr Sympathien gekostet als Zustimmung eingebracht hat. Also gab er sich nun nachdenklich, leiser, empfindsamer. Aber er hat natürlich auch für sich bilanziert, dass nicht eine einzige der Kampagnen, die er in seiner Zeit als Parteigeneral medial lancierte, gesellschaftlich wirklich gezündet hat. Es gab keinen freidemokratisch angeführten Aufruhr des deutschen Bürgertums zur radikalen Senkung der Steuern; es gab keine freidemokratisch durchdrungene Volksbewegung für eine liberale Bildungsreform; es gab keine freidemokratisch organisierten Demos vor Schulen oder Hochschulen für die Abschaff ung der Wehrpflicht. Immer war davon nur die Rede gewesen. So standen die Liberalen in dieser Zeit ein wenig konzeptionsarm in der politischen Landschaft der Republik. Viel Farbe und Kraft brachten sie jedenfalls in die sozialen, gesellschaftlichen, gar kulturellen Kontroversen in der zweiten rot-grünen Legislaturperiode nicht ein. Und doch wirkte die FDP sicherer im deutschen Parlamentarismus platziert als noch einige Jahre zuvor. Die Deutschen hatten sich daran gewöhnt, dass die Liberalen dazugehörten.99 Das stabilisierte; und es bot Möglichkeiten. Doch war noch eine ganze Zeit lang verblüffend, wie wenig die FDP ihre Gelegenheiten ausschöpfte. In der 99 | Vgl. Noelle-Neumann, Elisabeth: »Vor der Europa-Wahl«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.5.2004; auch Thomas Schmid: »Die FDP-Liberalen haben noch immer tiefere Wurzeln im Boden dieser Republik und der deutschen Geschichte als die Grünen, diese Günstlinge eines vielleicht einmaligen Moments.« Vgl. Schmid, Thomas: »Grüne Torschlusspanik«, in: Die Welt, 1.7.1999.

52 | Gelb oder Grün? modernen Gesellschaft weitete sich der Raum für kleine, bewegliche, individuellere politische Projekte. Allerdings brauchte man dazu auch einige kreative, originäre und originelle Köpfe. Die Bedingungen für einen selbstbewussten, ja: leitkulturellen Liberalismus waren im Abschied von den großen Lagern, in der Abenddämmerung der katholisch-konservativen und sozialdemokratisch-proletarischen Parteien geradezu ideal. Schließlich hatten CDU/CSU und SPD in den letzten drei Jahrzehnten der Dekonzentration des Parteienwesens nahezu 30 Prozentpunkte verloren; die FDP aber hatte in diesem Prozess nur einige Prozente hinzugewonnen. Auch stellen deutsche Liberale nicht, wie ihre dänischen Parteifreunde, den Regierungschef, sondern verharrten bis 2009 elf Jahre in der Opposition – solange wie nie zuvor in ihrer Geschichte.

W ÄHLERHAUSSE

UND

FR AUENDEFIZIT

Westerwelle pflegte währenddessen ungehalten zu reagieren, wenn er mit solchen Einwürfen konfrontiert wurde. Ganz unverständlich war solcher Unmut nicht. Denn schließlich waren die Freien Demokraten im Jahr 2001, als Westerwelle den Vorsitz übernahm, überhaupt nur in fünf Bundesländern parlamentarisch vertreten; acht Jahre später waren es immerhin 15 Länder, in denen Abgeordnete blau-gelber Couleur mitwirken. Länderminister stellt die FDP in Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Niedersachsen, Hessen und Bayern, zuletzt auch im Saarland, in Sachsen und in Schleswig-Holstein. Ohne Zweifel: Die unbedeutendsten Länder der Republik waren das nicht. Zwischen 1992 und 2000 hatte die Situation noch ungleich trüber, wenn nicht gar aussichtslos ausgesehen. Die Metapher von den Sterbeglöckchen, die dem Liberalismus in Deutschland läuteten, war nahezu allgegenwärtig. Doch die Jahre 2001/02 markierten eine Wende. Allein die FDP verbuchte seinerzeit innerhalb der deutschen Parteienlandschaft Mitgliederzuwächse. Bis heute zählt sie gegenüber dem Hauptrivalen innerhalb des Milieus besserverdienender, gut qualifizierter Bundesbürger – den Grünen also – rund 20.000 Mitglieder mehr. Bei der Bundestagswahl 2002, auch bei zahlreichen Landtagswahlen gelang der FDP der Vorstoß in historisch eher unzugängliche Wählerschichten. Sie wurde insbesondere bei Wählern mit geringer schulischer Bildung erheblich stärker. Einen gewaltigen Sprung nach vorne machte die FDP vor allem bei den jungen Wählern, hier in erster Linie bei der Kohorte der 1967er bis 1979er Geburtsjahrgänge, mit anderen Worten: bei der »Generation Golf«, wie

I. Die Liberalen: Umfallen und aufstehen | 53 sie vor Jahren vom Essayisten Florian Illies ausgerufen und etikettiert worden war. In der Bundestagsfraktion der FDP hatte sich der Generationswechsel zur Mitte des Jahrzehnts ebenfalls weitgehend problemlos vollzogen. In der Mitgliedschaft der Partei insgesamt machten inzwischen junge Liberale im Alter bis zu 29 Jahren einen Anteil von 11,5 Prozent aller organisierten Freidemokraten aus – womit die Liberalen die Werte der Volksparteien um mehr als das Doppelte übertreffen. Seit 2005 ist die leicht proletarische Schlagseite, die anfangs zulasten der traditionellen Bürgerlichkeit ging, im Übrigen wieder korrigiert. Bei den letzten Wahlen reüssierte die FDP vor allen anderen bei den Selbstständigen und formal Hochgebildeten. Bei der Bundestagswahl 2009 wählten 26 Prozent der Selbstständigen die FDP, was ein Plus von 7 Prozentpunkten gegenüber 2005 bedeutete. Ihre beachtliche Resonanz bei den jetzt 25- bis 35-Jährigen ist unvermindert. Es ist schwerlich zu leugnen, dass viel davon das Werk von Guido Westerwelle war. Er war schon damals sicher einer der erfahrensten Parteipolitiker der Republik, in dieser Hinsicht jedenfalls mit einem ordentlichen Vorsprung vor der Bundeskanzlerin oder auch dem heutigen Fraktionsvorsitzenden der Sozialdemokraten im Bundestag ausgestattet. Seitdem er vor genau einem Vierteljahrhundert zum Bundesvorsitzenden der Jungliberalen gewählt wurde, hat er das Projekt einer neuliberalen Identitätspartei, die nicht allein in den Honoratiorenresten des Landes verwurzelt bleiben, sondern zu einer eigenständigen Partei eines neuen Lebensgefühls mit einer konsistenten Programmatik werden sollte, erstaunlich zielstrebig und trotz zunächst etlicher Rückschläge zäh vorangetrieben. Im Grunde war er einer der ersten Spitzenpolitiker, der aus den gefrorenen Lagerkonfigurationen herausdrängen und seine Partei zu einer äquidistanten Haltung gegenüber beiden Volksparteien bewegen wollte. Nicht zuletzt deshalb avancierte er zur Leitfigur jener Generation in der FDP, die dort dem Altliberalismus folgte. Dass Westerwelle allerdings dann durch seine programmatische Verengung die Fixierung auf die CDU in den letzten Jahren – verglichen mit dem notorisch wendigen Hans-Dietrich Genscher – gar noch zementierte, gehört zu den Aporien seiner Biografie. Doch insgesamt war auch das von vielen als vermessen und durchweg als gescheitert bewertete »Projekt 18« keineswegs rundum ein Flop. Die Wählerbasis der FDP ist als Folge der Kampagne breiter geworden, zudem stabiler, da die Partei nun auf Bundesebene auch bei den Erststimmen die Fünf-Prozent-Hürde nimmt. Kurzum: Das prahlerisch verkündete 18-Prozent-Utopia wurde zwar verfehlt, das klassische Menetekel der 4,9 Prozent seither aber nicht zuletzt durch

54 | Gelb oder Grün? die hybriden Ansprüche mit Erfolg auf Distanz gehalten – zumindest auf der Ebene des Bundestages. Fruchtlos also war der trotzig vorgetragene Avantgardismus Westerwelles letztlich nicht. Weit stärker und früher als alle anderen Parteien hat die FDP beispielsweise konzeptionell auf das Internet für die Mitgliederpartizipation und Sympathisantenmobilisierung gesetzt. Für eine kleine Partei, deren Mitglieder sich zu beträchtlichen Teilen durch überdurchschnittliche Alltagsmobilität auszeichnen, bildet dieses Medium in der Tat Möglichkeiten diesseits des stationären und trägen Ortsvereinsprinzips. Auch besitzen die 18- bis 34-jährigen Bundesbürger mit höherer Schulbildung, die sich seit einigen Jahren verstärkt zur FDP hingezogen fühlen, eine hohe Internetaffinität. Und tatsächlich haben Medienanalysen zum Internetgebrauch der Parteianhängerschaften belegt, dass im freidemokratischen Umfeld die interaktiven Dialogangebote im Netz, etwa Foren oder Blogs, am ausgiebigsten genutzt werden. Die FDP war auch mit mehreren Websites im Internet vertreten: my.fdp.de, wirhaltenwort.fdp.de, wiki.fdp.de und einiges mehr.100 Wie sehr eine solch grundsätzliche Disposition in politische Kampagnenfähigkeit übersetzt werden kann, haben die letzten Präsidentschaftswahlen in Frankreich und in den USA eindrucksvoll illustriert. Und dennoch ist ebenso die Diskrepanz zwischen der großspurig verkündeten Fortschrittlichkeit und der weit tristeren Realität auff ällig, was der Reputation der Partei als seriöse politische Repräsentanz nicht sonderlich zuträglich ist. Bezeichnend ist die eklatante Schwäche der Freien Demokraten in sozialen Räumen und Gruppen, die wie modelliert für das liberale Mantra »weltoffen, tolerant, leistungsorientiert« sind: die urbanen Zentren und dort die hochqualifizierten jungen Frauen. Partei der kreativen und urbanen Schichten sind weiterhin in erster Linie die Grünen. In den deutschen Großstädten lagen sie auch bei den Bundestagswahlen 2009 klar vor den Freien Demokraten. Nicht zufällig sind die Grünen nach Jahren der vollständigen Opposition im Bund und in den Ländern in den Stadtstaaten Bremen und Hamburg wieder in die Gouvernementalität zurückgekehrt, erst an der Seite der Sozialdemokraten, dann im Bündnis mit den Christdemokraten, womit sie die Rolle der Funktionspartei von den Freien Demokraten übernommen haben. Für diese gab es in beiden Groß100 | Vgl. Nentwig, Teresa/Werwath, Christian: »Die FDP. Totgesagte leben bekanntlich länger«, in: Butzlaff, Felix/Harm, Stine/Walter, Franz (Hg.): Patt oder Gezeitenwechsel? Deutschland 2009, Wiesbaden 2009, S. 95-127, hier: S. 113-117.

I. Die Liberalen: Umfallen und aufstehen | 55 städten keinen koalitionspolitischen Bedarf; in Hamburg – wo ein weltoffener Liberalismus eigentlich die allerbesten Voraussetzungen vorfinden müsste – gelang den Freien Demokraten nicht einmal der Einzug in die Bürgerschaft. Auch in anderen bedeutenden Metropolen der Republik, wie München, Frankfurt, Berlin, ist die FDP machtpolitisch nicht mit von der Partie. Die Freien Demokraten Westerwelles reden zwar anklagend von der »vergessenen Mitte« in Deutschland. Doch zumindest im urbanen Raum hat der parteipolitische Liberalismus eben diese Mitte selbst folgenreich vernachlässigt.101 Schließlich ist es nicht ohne Grund, dass die FDP gerade in den aktiven Jahrgängen der Urbanität, bei den 35bis 59-Jährigen, besonders schlecht abschneidet, vor allem erhebliche Defizite bei den Frauen dieser Kohorte aufweist. In den Großstädten liegt die Erwerbstätigkeit von Frauen erheblich höher als in Klein- oder Mittelstädten, die – etwa in Rheinland-Pfalz oder Baden-Württemberg – nach wie vor die Domäne der Partei bilden. Mehr als noch vor einigen Jahren ist das Arrangement von beruflichen und familiären Anforderungen für großstädtische Frauen ein den Alltag beherrschendes Thema, da der frühere Trend zur Suburbanisierung junger Familien sich mittlerweile umgekehrt hat. Paare oder Alleinerziehende mit Kindern zieht es nun wieder in die Stadtkerne zurück; auch die besserverdienenden Angestelltenfamilien wohnen dort überwiegend zur Miete. Offenkundig hat dieses Milieu – vielfach weiblich, hochqualifiziert, unter beruflichem wie familiärem Druck, zuweilen im Konflikt mit Vermietern stehend – nicht den Eindruck, dass die FDP Anwältin ihrer Interessen ist. Während der letzten Jahre ist die Mitgliederzahl der FDP gerade in den größeren Städten massiv zurückgegangen, in Bremen und Hamburg seit 1990 um mehr als ein Drittel. In der Hansestadt Bremen gab es am 31.12.2007 lediglich 82 Frauen, die sich durch Mitgliedschaft zum parteipolitischen Liberalismus bekannten. Deutschlandweit liegt der Anteil von Frauen an den Zugehörigen zur FDP bei 22,8 Prozent – niedriger als bei Christdemokraten, Sozialdemokraten, Grünen und Linken. Einzig bei den Freien Demokraten ist der Frauenanteil auf Bundesebene seit Mitte der 1990er Jahre gar konstant gesunken. Sämtliche Landtagsfraktionen der FDP werden von Männern angeführt. Sehr feminin wirkt der parteipolitische Liberalismus in Deutschland des Jahres 2010 jedenfalls nicht.102 101 | Vgl. Nentwig/Werwath: »Die FDP. Totgesagte leben bekanntlich länger«, in: Butzlaff/Harm/Walter: Patt oder Gezeitenwechsel?, hier: S. 108-111.

102 | Vgl. ebd., S. 103.

56 | Gelb oder Grün? Schließlich existiert gerade bei Frauen zwischen 30 und 50 Jahren ein massives Interesse an einer Politik der Balancen, mit der die Anmutungen vielfältiger Rollenrochaden auszuhalten und praktisch zu gestalten sind. Doch dominiert in der FDP ganz die Vorstellung vom Primat der Ökonomie, das die dem klassischen Liberalismus durchaus inhärente Philosophie der versöhnenden Vermittlung nunmehr ersetzt hat. Auch reagieren Frauen, so untermauern es zahlreiche empirische Erhebungen, empfindsamer auf neue kulturelle Fragen und Spannungslinien in der Gesellschaft. Indes ist auch diese kulturelle Seite – die ebenfalls in den traditionellen liberalen Lebenswelten hochentwickelt war – zuletzt in der FDP nachgerade verkümmert. Insofern spart die Westerwelle-FDP nun schon seit einem Vierteljahrhundert das enorme Potenzial für einen originären, intelligenten und weiblichen Liberalismus in der Wissensgesellschaft aus. Eine jüngere Untersuchung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend über Lebensentwürfe und Rollenbilder »20-jähriger Frauen und Männer heute« verdeutlicht, wer das genuine Ferment der gegenwärtig vielzitierten Chancen- und Optionsgesellschaft ist: eben die jungen, besser ausgebildeten jungen Frauen. Ihr Weltbild ist – ganz im Gegensatz zu den gleichaltrigen Männern – durch und durch optimistisch gefärbt.103 Sie äußern sich nachgerade euphorisch darüber, dass nach dem Abitur etwas Neues beginnt. Sie freuen sich auf den Orts- und Wohnungswechsel, auf das Studium, auf die Chance, ins Ausland zu gehen. Und sie sind überwiegend bemerkenswert zuversichtlich, demnächst in einem interessanten, ausfüllenden Beruf arbeiten zu können. Sie vertrauen dabei auf ihre eigene Intelligenz, Durchsetzungsfähigkeit und Disziplin, erwarten keine Hilfen von administrativen Gleichstellungsregelungen, appellieren nicht primär an staatliche Sekundanz. Junge akademische Frauen – so die Resultate der Erhebung – wollen es eben ohne etatistischen Patriarchalismus schaffen. Zugespitzt formuliert: Sie erscheinen nachgerade wie das ideale Subjekt eines kreativen, empathischen Liberalismus. Und so bleibt es verblüffend, wie wenig politischen Nutzen die Freidemokraten aus dieser Gelegenheit ziehen. Leistungsorientierter Individualismus, kulturelle Viel-

103 | Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.): »20-jährige Frauen und Männer heute. Lebensentwürfe, Rollenbilder, Einstellungen zur Gleichstellung«, Berlin 2007, online verfügbar unter www. bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Broschuerenstelle/Pdf-Anlagen/sinus,property =pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf [Stand: 15.2.2010].

I. Die Liberalen: Umfallen und aufstehen | 57 sprachigkeit, ökologische Ernsthaftigkeit und kommunitaristische Compassion – mit einem balancierten Liberalismus dieser Façon wäre der akademische Nachwuchs im weiblichen Deutschland wohl zu gewinnen. Doch ist der FDP-Auftritt offenkundig politisch zu eng, tonal zu uniform, um die Kernträgerinnen der Wissensgesellschaft kognitiv wie emotional zu erreichen. Auf Parteikonferenzen kommen in der Regel ebenfalls etwa sechs Männer auf eine Frau. Auch sonst stellt man als Beobachter von außen verblüff t fest, wie sehr einige der gängigen Klischees über die Freidemokraten, gerade der jüngeren Generation, tatsächlich zutreffen: maßgeschneiderte Anzüge, randlose Brillen, Gelfrisuren, sauber gereinigte Lackschuhe – so präsentiert sich das Gros der (jung-)liberalen Delegierten. Auf den Stühlen im Plenarsaal stehen, bereits vor Parteitagsbeginn akkurat platziert, die Präsenttaschen des Apothekerverbandes. Im Foyer stellen insbesondere Pharmaunternehmen aus. Und der von christdemokratischen Kennern des Koalitionspartners oft verspottete höchst intensive Parfum- und Deogeruch des durchschnittlichen männlichen (Jung-)Liberalen ist in der Tat für Menschen mit sensiblem Geruchssinn auf Dauer nicht ganz einfach auszuhalten. Die gesellschaftliche Zielgruppe des juvenilen Neuliberalismus schlechthin sind die sogenannten männlichen »Jungen Leistungsindividualisten«, wie sie von Milieuforschern etikettiert werden. Die männlichen »Leistungsindividualisten« gehören überwiegend den Geburtsjahrgängen 1967 bis 1979 an. Sie sind die Kinder des Privatfernsehens, des Internets, des Handys und der New Economy, man mag auch sagen: der »Generation Westerwelle«. Bei ihnen ist der Individualismus gewissermaßen rigide auf die Spitze getrieben, ob im Beruf oder in der Freizeit. Hier wie dort wollen junge Leistungsindividualisten bis an die Grenze gehen, die eigenen Potenziale, aber auch Beschränkungen nachgerade brutal erfahren. Das Leben soll in jeder Sekunde intensiv und lustvoll sein. Diese nach-postmaterialistische Gruppe wählt nicht mehr mehrheitlich rot-grün, sondern »bürgerlich«. Vor allem die Freien Demokraten hatten ihren Aufschwung bis 2009 unzweifelhaft dieser PostAlternativ-Kohorte zu verdanken. Aber allzu viel zivilgesellschaftliches Engagement darf man von dieser Gruppe nicht erwarten. Hier fehlt dem Primat der individuellen Selbstverwirklichung das Korrektiv oder die Ergänzung einer gemeinschaftsbezogenen Verpflichtungsethik. In den Worten der Infratest-Sozialforscher, die diese Gruppenzugehörigen intensiv untersucht haben: Sie wollen wenig Verpfl ichtungen eingehen, sich nicht durch moralische Grundsätze einengen lassen;

58 | Gelb oder Grün? sie grenzen sich massiv von solidarischen Werten ab, sind an gesellschaftlichen Aktivitäten kaum interessiert.104 Die männlichen »Leistungsindividualisten« sind dezidierte Befürworter zügig umzusetzender Sozialreformen und schroffe Gegner staatlicher Regelungen. Ihr Haushaltseinkommen ist überdurchschnittlich; man hat – selbstverständlich – privat für das Alter vorgesorgt. Freiheit und Unabhängigkeit ist diesem Personenkreis konstitutiv. Kurzum: Alles präsentiert sich so, wie aus einer Sonntagsrede von Guido Westerwelle oder Dirk Niebel entsprungen. In dieser individualistischen Lebenswelt tummeln sich vielfach geklonte Mustertypen des Liberalismus – mit denen allein eine liberale Demokratie allerdings nicht weit käme. Denn der Gemeinsinn ist in dieser Nachwuchskohorte des Bürgertums im Vergleich zum klassischen Bildungsbürgertum erheblich zurückgegangen. Bei den Traditionsetablierten gehörte das Ehrenamt, nicht zuletzt die Zuwendung nach unten noch zum selbstverständlichen Verantwortungskodex. Doch im Neu-Bürgertum sind soziale und karitative Aktivitäten zuletzt rüde storniert worden, stoßen geradezu auf zynische Verachtung – denn man will um nichts auf der Welt ein »Gutmensch« sein. Andererseits: Inzwischen sind die 1970er Geburtsjahrgänge allmählich in die Familienphase eingetreten, haben seit 2001 auch einige Ernüchterungen, ja materielle und berufliche Rückschläge erlebt. Die Bereitschaft zur Dauermobilität, der Kult der Bindungslosigkeit sind mittlerweile verebbt, ebenso wie der fast unbegrenzte Fortschritts-, Technik-, Wettbewerbs- und Zukunftsenthusiasmus in dieser anfangs hochindividualisierten Lebenswelt. Die Radikalindividualisten von ehedem haben sich – wie vor allem das Heidelberger Sinus-Institut in vielen neuen Expertisen dargelegt hat – auf die Suche nach neuen Verwurzelungen, verlässlichen Ligaturen, sicheren Häfen für Einkehr und Geborgenheiten begeben. Die Zeitgeistforscher pflegen dergleichen in ihrem Jargon als »Regrounding« zu charakterisieren.105 Doch ist dieser Zeitgeist bei den lange als Zeitgeistserver abqualifizierten Freien Demokraten nicht recht angekommen. Ihr derzeit 104 | Vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.): »Gesellschaft im Reformprozess«. Die Friedrich-Ebert-Stiftung untersucht Reformbereitschaft der Deutschen, Bonn 2007, online verfügbar unter www.fes.de/inhalt/Dokumente/061017_ Gesellschaft_im_Reformprozess_komplett.pdf [Stand: 15.2.2010].

105 | Vgl. Wippermann, Carsten: »Das soziokulturelle Umfeld des Deutschen Roten Kreuzes heute und morgen«, in: Rössler, Gabriele/Wildenauer, Christina (Hg.): Menschlichkeit im Sozialmarkt. Die Grundsätze des Roten Kreuzes, Wiesbaden 2007, S. 51-65.

I. Die Liberalen: Umfallen und aufstehen | 59 gültiges Programm, die Wiesbadener Grundsätze, stammen aus dem Jahr 1997, also aus der Ära Kohl, aus dem Boomjahrzehnt eines sorglosen »anything goes« und des ideologischen Glaubens an dauermobile Menschen auf neuen Märkten. Während Sozial- und Christdemokraten wie auch Grüne ihren programmatischen Horizont zu Beginn des 21. Jahrhunderts neu vermessen haben, beharrt der Partei- und Fraktionsvorsitzende der FDP erstaunlich starrsinnig auf die Programmsätze aus einer Zeit, in der Probleme wie Klimawandel, internationaler Terror, soziale Prekaritäten, Crash auf den Finanzmärkten noch nicht ins Visier konzeptionell debattierender Freidemokraten geraten waren. Und so führt auch dieser Weg wieder zu Guido Westerwelle. In der Tat hatte Westerwelle – was als persönliche Leistung keineswegs gering zu veranschlagen ist – die FDP auf sein ureigenes Deutungssystem und seinen originären kulturell-rhetorischen Habitus in einem Ausmaß zugeschnitten, wie dies in der bundesdeutschen Parteiengeschichte sonst allenfalls Kurt Schumacher oder Helmut Kohl in Bezug auf SPD bzw. CDU gelungen war. Und so existiert zwischen Stuttgart und Schwerin kaum eine Führungsbegabung, die angesichts der vielen offenen Flanken des kaum mehr zeitadäquaten Westerwelle-Liberalismus den amtierenden Parteichef alternativ herausfordern könnte. Doch ist der Mangel an Leitfiguren im deutschen Liberalismus merkwürdig chronisch. Schon für die Jahre der Weimarer Republik stellte die damalige preußische Landtagsabgeordnete Hedwig Wachenheim im Rückblick fest: Die Liberalen »fühlten sich als Repräsentanten der Gebildeten und sahen in ihnen die Führer der Nation. Dabei war keine Partei so arm an politischen Führern wie sie.«106 Auch 60 Jahre Bundesrepublik haben an diesem Befund nicht rütteln können. Und so haben die Freien Demokraten dann vielleicht doch einen kongenialen Parteichef für das politisch verantwortungsferne Neu-Bürgertum: einen Mann, der nie Bürgermeister war, nie als Landrat amtierte, nie in einem Länderkabinett vertreten war, den aber dennoch alles, wirklich alles an die Spitze des Auswärtigen Amtes drängte.

106 | Wachenheim, Hedwig: »Vom Großbürgertum zur Sozialdemokratie. Memoiren einer Reformistin«, Berlin 1973, S. 100.

60 | Gelb oder Grün?

P ARTEI

OHNE

B AL ANCE

Insofern mangelt es der FDP auch auf der personellen Ebene der Parteispitze an den Balancen, die für hochkomplexe und fragmentierte Gesellschaften zwingend sind. Dass es keine markanten Repräsentanten eines sozial- oder linksliberalen Flügels mehr gibt, ist häufig festgestellt worden. Aber auch das Tandem Parteivorsitzender und Generalsekretär war in den letzten Jahren problematisch, da diese sich nicht komplementär ergänzten, sondern in ihrem Profi l glichen und dadurch in ihren Einseitigkeiten gar noch verstärkten. Es fehlen infolgedessen die nachdenklichen, reflexiven Köpfe, die in früheren Jahrzehnten zuweilen den besonderen Charme der Freien Demokraten ausgemacht haben, von Wolfgang Schollwer über Ralf Dahrendorf und Karl-Hermann Flach bis hin zu Werner Maihofer. Vor allem ragten die Freidemokraten einst dadurch hervor, dass sie etliche brillante Seiteneinsteiger und Intellektuelle anzogen, ihnen auch im Unterschied zu den trägen und verschlossenen Apparatparteien in kurzer Zeit vorzügliche Wirkungsmöglichkeiten verschafften.107 Seither hatte es sich gar ein wenig eingebürgert, den in Deutschland eher raren Typus des Seiteneinsteigers bevorzugt mit der Partei der Liberalen in Verbindung zu bringen. Indes: Wo gibt es in der FDP heute noch diesen Typus des Seiteneinsteigers? In der FDP des Jahres 2010 dominiert allein der Parteiroutinier an der Spitze. Niemand sonst durfte in seiner eifersüchtig kontrollierten engeren Umgebung wachsen, gar brillieren. Selten sonst in der Geschichte des Parlamentarismus und der Parteien hat sich ein Einzelner seine Partei in einem solchen Ausmaße untertan gemacht, auf sich selbst zu- und ausgerichtet. Mitunter hat es gar etwas Sektenhaftes, wie die FDP gerade auf den Bundesparteitagen ihrem Fahnenträger und Lautsprecher ganz oben zu Füßen liegt und ihm enthusiastisch zujubelt, wenn er ihnen, den Delegierten, mehr als eine Stunde lang im wahrsten Sinne des Wortes im Stakkato entgegenbrüllt. Indes: In der anhaltend bescheidenen bis geringen Beliebtheit Westerwelles dokumentiert sich überdies die Tücke des Typus des Mediencharismatikers.108 Zwar hatte sich Westerwelle über Jahre exakt so verhalten, wie Kommunikationswissenschaftler oder Spindoktoren 107 | Vgl. hierzu mit einigen Beispielen aus der FDP Lorenz, Robert/Micus, Matthias (Hg.): »Seiteneinsteiger. Unkonventionelle Politiker-Karrieren in der Parteiendemokratie«, Wiesbaden 2009.

108 | Vgl. Meyer, Thomas: »Populismus und Medien«, in: Decker (Hg.): Populismus, S. 81-96.

I. Die Liberalen: Umfallen und aufstehen | 61 die Zukunftskompetenz von Politikern in der Mediengesellschaft beschrieben haben. Er war stets auf allen Kanälen präsent, scheute auch Unterhaltungsformate nicht, hat dort nicht durch Überdifferenzierungen gelangweilt, sondern mit pointierten, knappen und polemischprovokativen Formulierungen Zuschauer wie Programmmacher bei Laune gehalten. Westerwelle galt infolgedessen bis in das Frühjahr 2002 als ein Virtuose der Medienpolitik. Aber eben diese Virtuosität hat sich dann gegen ihn gewandt. Die Soundbites verschlissen sich; man wurde der Parolen überdrüssig; man konnte sein Gesicht nicht mehr sehen, die schrille Tonlage seiner Statements kaum mehr ertragen. Medienvirtuosität birgt in sich – je erfolgreicher sie zunächst wirkt – alle Keime des Scheiterns. Diskursiv geht es in der FDP seit einiger Zeit schon nicht mehr zu. Ein liberales Parteimodell, eine liberale Debattenkultur lässt sich in der gegenwärtigen FDP nicht ausmachen. Bis heute fragt man sich, wie eine Partei des Liberalismus, des Bürgertums und der formal höheren Bildung Exzesse wie etwa die der Spaßpartei überhaupt hatte zulassen können. Der große bürgerliche Historiker und Publizist Joachim Fest hielt in seinen Auseinandersetzungen mit den 68ern immer an der Tugend der Skepsis, der Ernsthaftigkeit und des Maßes als Kernbestandteile von Bürgerlichkeit gegen jede Form der Überspanntheit fest.109 Folgt man Fest darin, dann lässt sich die FDP des gegenwärtigen Jahrzehnts schwerlich als bürgerliche Formation begreifen.110 In eine ähnliche Richtung ging die Kritik von Thomas Schmid: »Als die Ökonomie, die man die neue nannte, in ihrer hybriden Blüte stand, haben die Liberalen die Fassung verloren. […] Es war in beiden Fällen eine unreife Phantasie vergleichsweise junger Männer, die im Grunde demselben Fortschrittsoptimismus erlagen, der zuvor ein marxistisches Gewand getragen hatte. Ihr alchimistischer Optimismus, der den Zweifel mit Verbot belegt, hatte etwas Fratzenhaftes und Lächerliches. In dem überschwänglichen Gefühl, ausgerechnet sie seien die neuen Götter, verloren sie, was liberale Kardinaltugend sein muss: das Maß.«111 Nun mag eine eher elitäre Definition von angemessener Bürgerlichkeit für eine politische Partei nicht recht taugen. Westerwelle setzt seit einiger Zeit auch weit mehr auf die besorgte Mittelschicht als auf das klassisch etablierte Bürgertum von ehedem. Und in diesen Mittel109 | Vgl. Fest, Joachim: »Bürgerlichkeit als Lebensform. Späte Essays«, Reinbek bei Hamburg 2007.

110 | Vgl. Ross, Jan: »Die liberale Leere«, in: Die Zeit, 21.10.1999. 111 | Schmid, Thomas: »Wozu Liberale?«, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 3.11.2002.

62 | Gelb oder Grün? schichten ist das Missvergnügen über die Verhältnisse in der Republik erheblich gewachsen. Auf die Frage des Instituts Infratest dimap, ob man meine, dass es in Deutschland eher gerecht oder eher ungerecht zugehe, antwortete die Hälfte der FDP-Anhänger Mitte 2009: »Eher ungerecht«. Die Sympathisanten von CDU/CSU, von SPD und erst recht der gut saturierten Grünen äußerten sich weit zufriedener mit den gesellschaftlichen Umständen in Deutschland.112 Die neue FDP-Klientel hingegen erkannte sich in Büchern wieder wie: »Melkvieh Mittelschicht. Wie die Politik die Bürger plündert«.113 Das war bis zu den Bundestagswahlen 2009 das Elixier Westerwelles: der Unmut in der Mitte, der sich schleichend und leise mehr und mehr aufgeschichtet hatte. Aber darin lag und liegt auch die Labilität der neufreidemokratischen Wählerschaft und jeder Regierungsbildung, erst recht mit Sozialdemokraten und Grünen: Sichere Kantonisten sind die frustrierten Wähler der beunruhigten Mittelschichten nicht. Werden ihre Erwartungen enttäuscht, dann wandern sie weiter. Man konnte in den vergangenen Jahren in den Niederlanden gut beobachten, wohin es gehen könnte. Gewissermaßen: Geert Wilders lässt grüßen.114 Wilders gehörte bis 2004 der holländischen Schwesterpartei der FDP, der Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD), an, vertrat sie im Parlament, war einer ihrer wichtigsten Meinungsführer. Auch die VVD hatte sich in den 1990er Jahren zuweilen als eine Partei der empörten Mitte in Szene gesetzt. Aber sie betrieb diese Politik doch in nicht zu weit gesteckten Grenzen. Wilders hingegen wollte sich mit einer solchen Einzäunung des radikalen Appells nicht abfi nden. Im Jahr 2004 trat er aus der VVD-Fraktion aus. Fortan erlebten die Niederländer die große Ein-Mann-Show des Geert Wilders. Wie die meisten Populisten der »entrüsteten Mitte« versprach auch er, den »Menschen zuzuhören«, statt sich wie das übrige Den Haager Politestablishment immer weiter vom Volk zu entfernen. Wilders, durchaus ein »Meister der Debatte«115, versprach »klaren Wein« und wetterte gegen die »Dekadenz« der Baby-Boom-Generation mit ihren permissi112 | Vgl. Infratest dimap: »ARD-Deutschland TREND Juli 2009«, Berlin 2009, S. 6.

113 | Vgl. Wemoff, Clemens: »Melkvieh Mittelschicht. Wie die Politik die Bürger plündert«, München 2009; vgl. auch Beise, Marc: »Die Ausplünderung der Mittelschicht. Alternativen zur aktuellen Politik«, München 2009.

114 | Vgl. Bartelsman, Mirjam: »Motivaties om op de PVV te stemmen«, in: NPS/NOVA, 27.8.2009, S. 2.

115 | De Bruijn, Hans: »Geert Wilders is een meester in het debat«, in: Trouw, 26.1.2010.

I. Die Liberalen: Umfallen und aufstehen | 63 ven Einstellungen und Verhaltensweisen.116 Schließlich verkündete er auch noch eine neues »post-liberales Weltbild«. Den Liberalismus verabschiedet der vormalige Liberale, weil dieses Ideensystem aus dem 19. Jahrhundert untauglich für die Bewältigung der Probleme des 21. Jahrhunderts sei, da es den modernen Gesellschaften zunehmend an Ordnung, Struktur und Geborgenheit fehlen, erst recht an Wehrhaftigkeit gegen Bedrohungen, insbesondere von Seiten des Islams. Bis zuletzt eilte Wilders, der 2006 die Partij voor de Vrijheid (PVV) gründete, mit dieser Ansprache demoskopisch und elektoral von Erfolg zu Erfolg, da er etliche frühere Wähler der Liberalen aus den Mitte-Quartieren seines Landes einsammeln konnte.117

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DES WINNING TEAM

Anders bisher in Deutschland. Hier wurde zunächst die FDP zum »winning team« im Crash des Finanzkapitalismus und der Bundestagswahlen 2009. Nicht wenige fanden das paradox. Denn: Als der neoliberale Zeitgeist in den 1990er Jahren europaweit Furore machte, drohte den Freien Demokraten seinerzeit der Absturz ins Nichts. Die Wahlergebnisse fielen katastrophal aus; in den meisten Bundesländern gelang der FDP nicht einmal mehr der Einzug ins Parlament. Seit dem Sommer 2008 war der Zauber von Deregulierung, Staatsabbau, Marktreformen im Volk gründlich verflogen. Und was geschah politisch? Die FDP boomte, ausgerechnet sie und ausgerechnet jetzt. Aber ganz so paradox, wie es auf den ersten Blick schien, war der politische Frühling der Freidemokraten nicht. Denn natürlich war die Gruppe derjenigen, die ungern Steuern zahlen, denen sozialstaatliche Transfers contrecœur gehen, nicht kleiner geworden. Und diese Gruppe, die sich über Jahrzehnte der CDU/CSU verbunden fühlte, sah sich jetzt vom neuen Geist der Zeit, da man mit Managern und Bankern wütend grollte und von Enteignung fabulierte, in die Enge getrieben. Und deshalb sammelte sich diese Schicht in der Krise eben hinter den Liberalen, der einzigen rhetorisch vorbehaltlosen Prätorianergarde zum Schutz von Märkten, Eigentum und Selbstständigkeit. Die Union war ihnen da als Volkspartei im Herbst 2009 einfach ein zu unsicherer Kantonist. 116 | Vgl. o. A.: »Wilders als fi losoof«, in: Volkskrant, 28.3.2006. 117 | Vgl. Kranenberg, Annieke: »Wilders heeft een angstige achterban«, in: de Volkskrant 20.2.2009; siehe für die VVD auch: Kanne, Peter/de Beer, Tim: »Nieuwe PVV-aanhang komt van VVD«, in: De Volkskrant, 28.2.2009.

64 | Gelb oder Grün? Politik und Medien parlieren gern darüber, dass »der Wähler« unberechenbar geworden sei, da er heute diese, morgen jene Partei bevorzugen würde. Das Modewort für dergleichen vermutete Wechselhaftigkeiten lautet: Volatilität. Indes: Volatil hatte sich zwar die CDU/ CSU als Partei, nicht aber ihre gegenwärtig abtrünnige Wählerschaft verhalten. Bis in den September 2005 agierten die Christdemokraten schließlich als entschiedene Verfechter von Markt-, Steuer- und Gesundheitsreformen. Seit der Bildung der Großen Koalition war das alles vergessen. Die Merkel-Wähler von früher aber, die am Marktkonzept weiterhin festhielten, verknüpften sich politisch währenddessen mit der FDP, da diese Partei die alten Positionen seit 2005 unverdrossen vertrat. Kurzum: Die christdemokratische Volkspartei änderte ihren Kurs, verhielt sich infolgedessen volatil – und verprellte so einen Teil ihrer programmatisch keineswegs wechselhaften Stammwähler. 2009 durfte die FDP daher einen Zuwachs von über einer Million Wähler aus dem CDU-Lager verbuchen. Insgesamt legte die FDP, die mit 14,6 Prozentpunkten das beste Ergebnis ihrer Geschichte erzielte, bei den Selbstständigen innerhalb eines guten Jahrzehnts um 18 Prozentpunkte zu. Aber auch ihr Arbeiteranteil hatte sich zwischen 1998 und 2009 bei Bundestagswahlen um immerhin 10 Prozentpunkte erhöht. Doch als die Freien Demokraten es im September 2009 tatsächlich in das Bundeskabinett schaff ten, war es rasch vorbei mit der leichten Politik vollmundiger Reformparolen, die Steuern kräftig zu reduzieren und dennoch einen ausgeglichenen Haushalt zu schaffen. Und so kam es zur nächsten Paradoxie: Das »bürgerliche Bündnis« hatte im September reüssiert, weil es nun nicht mehr wie noch 2002 und 2005 als bürgerliche Reform- und Durchregierungsallianz die Bürger erschreckte, sondern sich als Kabinett der Sicherheit und Berechenbarkeit für verängstigte, ordnungssuchende Bürger anbot. Und so ereignete sich nach dem Regierungswechsel 2009, was zuletzt auch bei Rot-Grün zwischen 1999 und 2005 zu beobachten war: Die Protagonisten einer spezifischen, im Falle von Merkel/Westerwelle zunächst neuliberalen Agenda kamen ins Kabinett, als ihre primäre Zielvorgabe – die forcierte Entstaatlichung und radikale Entfesselung der Wettbewerbskräfte – gar nicht mehr in der Zeit lag. Das traf weniger die CDU, die sich schon in den vier Jahren der Großen Koalition Zug um Zug von ihren »Leipziger Beschlüssen« und dem forschen Geist kühner Marktreformen verabschiedet hatten. Die FDP aber traf es voll, da sie sich im Wahlkampf gerade damit exponiert hatte, als einzige politische Kraft in Deutschland ohne Wenn und Aber für eine markante Senkung der Steuern, damit für mehr Netto vom Brutto und demzufolge für die Anerkennung des Leistungsprinzips einzutre-

I. Die Liberalen: Umfallen und aufstehen | 65 ten. Da die FDP unter Westerwelle seit Jahren darauf bedacht war, sich vom lange tradierten Odium der »Umfallerpartei« zu befreien,118 musste sie als Regierungspartei nun liefern, was sie aus der Opposition heraus unentwegt versprochen hatte, was aber in der Gouvernementalität eines hoch verschuldeten Staatswesens seriös kaum zu realisieren war. Was sich im Wahlkampf noch als Schlager für die Partei erwiesen und zum opulenten Wahlergebnis geführt hatte, wurde mit dem Eintritt von fünf Freien Demokraten in das Bundeskabinett zur Last, welche die Liberalen in den folgenden Monaten erheblich niederdrückte. Der Enthusiasmus des Wahlabends am 27. September verflog rasch. Nach einhundert Tagen Merkel-Westerwelle-Regierung war der Anhang der FDP, soweit das demoskopisch redlich zu messen ist, um etwa die Hälfte zusammengeschmolzen. Dafür gab es gewiss auch Gründe, die so ungewöhnlich nicht waren; auch andere Parteien hatten bei früheren Regierungswechseln anfangs ihre liebe Not mit dem Rollentausch von Opposition und Regierungsverantwortung. Nie ganz leicht hatten es zumindest Parteien, deren Vorsitzender vom Oppositionschef zum Bundesaußenminister avancierte. Denn der Außenminister ist international fortwährend auf Touren; er fällt dann als Zuchtmeister und Ideenspender für seine eigene Partei in der Regel aus. Es kann zu einem bis dahin ungewohnten Machtvakuum kommen. Erst wenn die Minister des Auswärtigen allmählich in ihre neuen Aufgaben hineingewachsen sind und eine gewisse Balance mit ihren innerparteilichen Verantwortlichkeiten zuwege bringen, vermag sich das innerparteiliche Machtgefüge wieder zu rekonsolidieren. Schon bei Willy Brandt war dergleichen 1966/67 zu beobachten, erst recht bei Walter Scheel 1969/70 auch bei Hans-Dietrich Genscher 1974/75. Und es wäre überraschend gewesen, wenn Westerwelle den Spagat vom ersten Tag an hätte meistern können. In den ersten hundert Tagen als Außenminister besuchte er 26 Länder.119 An diesen Reisetagen war die FDP gewissermaßen kopflos. Kopflos war die Partei auch deshalb, weil die Parteizentrale gleichsam paralysiert war. Auch das passierte nicht ausnahmslos den Freien Demokraten. Wenn Parteien nach langen Jahren der Opposition wieder Regierungsmacht erlangen, dann streben die besten, jedenfalls ehrgeizigsten Kräfte oft fluchtartig aus den Parteigeschäftsstellen in die weit angeseheneren Ämter der Regierung, in Positionen des Staa118 | Vgl. Kröter, Thomas: »Nie wieder die Umfaller-Partei sein«, in: Frankfurter Rundschau, 9.1.2010.

119 | Vgl. Kammholz, Karsten: »Wo ist Westerwelle?«, in: Hamburger Abendblatt, 2.2.2010.

66 | Gelb oder Grün? tes. Parteipolitische Liberale sind da – und erst recht – keineswegs anders, auch wenn sie rhetorisch gern ihren Spott über Staat, Bürokratie, öffentliche Verwaltungen ergießen. Im Thomas-Dehler-Haus vollzog sich gewissermaßen ein Braindrain. Aus dem Parteihaus kam in den ersten schwierigen Monaten der neuen Regierung keine kommunikative Schützenhilfe. Es herrschte Stille, wo noch bis in den September 2009 gerade für Journalisten jede Menge Sprachbilder und Pointen zu holen gewesen waren. Aber gerade darin lag eine weitere Oppositionsmalaise, die sich für die Regierungsliberalen nachteilig auswirkte.120 Unter Westerwelle hatte die FDP emsig an polemischen Metaphern gefeilt und damit die Öffentlichkeit überreichlich versorgt. Aber konzeptionell, in Fragen eines Liberalismus für das 21. Jahrhundert hatten die Freien Demokraten die elf Jahre Opposition nahezu ungenutzt verstreichen lassen.121 Selbst führende Freidemokraten in den Ländern, auch Christdemokraten, die an den Koalitionsverhandlungen im Oktober 2009 beteiligt waren, zeigten sich verblüfft, wie wenig die liberalen Spitzenleute an präzisen Vorschlägen oder auch nur Überlegungen für die schwarz-gelbe Allianz zu bieten hatten. Das, was ihnen Kritiker oft vorwarfen, war viel weniger ein Klischee, als es die Gegner der Freien Demokraten vermutlich selbst für möglich gehalten hätten. Die FDP hatte sich im Kern in der Tat auf das Steuersenkungsdogma reduziert, war wirklich thematisch zu einer Art SSP (Steuersenkungspartei) geschrumpft. Diesseits dieses Passepartouts hatte die Partei für das komplexe Verhältnis von entregulierten Finanzmärkten, ökologischen Großgefahren, hoch verschuldeten Staaten, moderner Wohlfahrtsstaatlichkeit und an Raum für ökonomische Kreativität nichts Substanzielles beizusteuern.122 Rainer Hank warf in der FAS der Westerwelle-FDP fast wütend vor, »kein positives Gerechtigkeitskonzept« präsentieren zu können.123 Auch in den Untergliederungen der FDP wurde im Winter 2009/10 enttäuscht geraunt, dass Westerwelle zu solchen Fragen ein Denkverbot errichtet habe124, was er sonst in seinen 120 | Vgl. Käfer, Armin/Sander, Marcus: »Die Liberalen feiern sich selbst«, in: Stuttgarter Zeitung, 7.1.2010.

121 | Vgl. Rinke, Andreas/Sigmund, Thomas: »Die innere Unsicherheit«, in: Handelsblatt, 8.1.2010.

122 | Vgl. Ulrich, Bernd: »Geistig-politische Leere«, in: Die Zeit, 11.2.2010. 123 | Hank, Rainer: »Das Elend der FDP«, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 25.10.2009.

124 | Vgl. Hautkapp, Dirk: »Denkverbot von Westerwelle«, in: Westfälische Rundschau, 12.2.2010.

I. Die Liberalen: Umfallen und aufstehen | 67 Aschermittwoch-Reden stets laut anprangerte und den »Sozialisten« aller Schattierungen unterstellte.125 Mit großem Unbehagen bekamen die christdemokratischen Koalitionspartner im ersten Vierteljahr der neuen Regierung zu spüren, wie schwierig es ist, Politik mit einer monoargumentativen, apodiktisch verengten Partei zu praktizieren.126 Jahrelang hatten die Neu-Liberalen sich selbst als die Pragmatiker und Realisten charakterisiert, eben als die nüchterne Generation dargestellt, die den krausen Utopisten der 68er und Alternativbewegten gefolgt war.127 Nun stellte sich heraus, dass der Kreis der Westerwelle-Kohorte mindestens in Steuerfragen auch noch im Jahr 2010 so ideologisch auftrat, wie in den 1970er Jahren einige ihrer weit links stehenden Kontrahenten. Für diese war damals die Sozialisierung der Produktionsmittel Quell allen gesellschaftlichen Heils; für jene ist der niedrige Steuersatz weiterhin der Schlüssel schlechthin für Wohlstand und Fortschritt. Seit den späten 1990er Jahren haben sich Christdemokraten, Grüne und Sozialdemokraten erheblich geändert. Sie haben in dieser Zeit Positionen revidiert, die lange als unantastbar, als Kernbestandteile des Kanons galten. In allen drei Parteien sind die großen gesellschaftlichen Veränderungen der letzten zwei bis drei Jahrzehnte eben nicht spurlos vorübergegangen; man hat die Reflexionen darüber in oft keineswegs einfachen Lernprozessen in das klassische Deutungssystem hineingearbeitet – sich so allmählich, aber letztlich tiefgreifend verändert. Allein die Freien Demokraten, die Befürworter offener Systeme, die Künder der undogmatischen Flexibilität, die Herolde des empirischen Pragmatismus, allein sie sind alles in allem in den 1990er Jahren stehen geblieben.128 Eine Diskussion über die Ambivalenzen entregulierter Märkte, über die Spannungen von Individualität ohne Ligaturen, von Leistungsgesellschaften ohne Orte des Innehaltens, von Internationalisierungen ohne demokratisch legitimierte Institutionen, von forcierten Lernvorgängen ohne tiefere Bildung, von Eigenverantwortung ohne Solidaritätsbezüge haben die Freien Demokraten gemie125 | Vgl. Molitor, Wolfgang: »In der Steuer-Sackgasse«, in: Stuttgarter Nachrichten, 5.1.2010.

126 | Vgl. Carstens, Peter: »Traumschiff FDP«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.10.2009.

127 | Vgl. Hildebrandt, Tina/Rosenfeld, Dagmar: »Liberallala«, in: Die Zeit, 17.12.2009.

128 | Vgl. Sosolla, Ulrike: »Die Retropartei«, in: Financial Times Deutschland, 11.2.2010; Schmid, Thomas: »Der schwere Stand der FDP«, in: Die Welt, 29.1.2010.

68 | Gelb oder Grün? den und stattdessen stets auf ihre programmatischen Grundsätze von 1997 hingewiesen, dabei fortwährend mit der Attitüde: Ihr Liberalismus galt, gilt und wird auch weiter gelten. Der Liberalismus der FDP ist derzeit das einzige dogmatisch angewandte politische Reglement, während sich die früher weltanschaulich holistischen Systeme, wie die des sozialdemokratischen Sozialismus, der grünen Politischen Ökologie oder des christdemokratisch vereinnahmten Katholizismus, ihrer orthodoxen Kerne entledigt haben. Mit dem Eintritt der Freidemokraten in das Kabinett aber kehrte, so schon Mitte Oktober 2009 die Prognose des Soziologen Wolfgang Engler, »ein doktrinäres Element auf die politische Bühne zurück. Bei ihnen fi ndet man eine seltsame Gesinnungsethik, wonach es bestimmte Positionen gibt, die an sich gut sind: Steuern senken ist an sich gut, Privatisieren öffentlicher Güter und Dienstleistungen ist an sich gut. Diese Haltung wird das Regierungshandeln zunächst bestimmen – im Sinne einer Re-Ideologisierung von Politik.«129 Gerade aber die ideologische Pose diskreditiert sich zwangsläufig vor den ernüchternden Kompromissen und Komplexitäten einer hochdifferenzierten Verhandlungsdemokratie. Die Diskrepanz zwischen maximalen Versprechungen und bescheidenen Ergebnissen lädt förmlich zu höhnischen und hämischen Reaktionen ein. Exakt das passierte den Freien Demokraten im ersten Quartal ihrer neuen Regierungszeit nach elf Jahren Opposition. Sie hatten saubere marktwirtschaftliche Ordnungspolitik versprochen und die Vereinfachung des Steuerrechts in Aussicht gestellt. Es kam die klientelistische Mehrwertsteuerreduzierung für Hoteliers; und bekannt wurde die Millionenspende aus der so bevorzugten Branche. Man sprach nun verächtlich von der »Mövenpick-Partei«. Im Wahlkampf hatten die Freien Demokraten ihr »Liberales Sparbuch« in die Kameras gehalten und vierhundert Einsparmöglichkeiten propagiert. Hernach war wenig davon zu hören. Der Generalsekretär Niebel hatte in Oppositionszeiten die Abschaff ung des Entwicklungshilfeministeriums gefordert; dann stattete er sich mit dem Signum ministerieller Würden an der Spitze eben dieses Ministeriums aus. Woche für Woche gingen in der Folge die Sympathiewerte der Wähler für die Freien Demokraten zurück.130

129 | Gespräch mit Wolfgang Engler, veröffentlicht unter dem Titel »Spannender als Rot-Grün«, in: Die Zeit, 15.10.2009.

130 | Vgl. Hefty, Georg Paul: »Westerwelles fliegende Fahnen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.2.2010.

I. Die Liberalen: Umfallen und aufstehen | 69 In dieser Situation schlüpfte Guido Westerwelle Mitte Februar 2010 wieder zurück in die Rolle, die er am besten beherrschte, die er in seinem politischen Leben bis dahin auch allein ausgefüllt hatte: die des oppositionellen Rhetors und Kampagnenführers.131 Ein wenig wirkte das so, als würde er die Krankheitssymptome seiner Partei, den Absturz in der Demoskopie, mit den Krankheitsursachen bekämpfen wollen, da ja gerade die Großspurigkeit der Oppositionsansprache erheblich zu den nachfolgenden Frustrationen über die Regierungspraxis beigetragen hatte. Und verwunderlich war gewiss ebenfalls, dass Westerwelle erneut die politische Methode der Jahre 2001/2002 benutzte, um der freidemokratischen Baisse zu entrinnen. Im Jahr 2003, nach dem Suizid von Möllemann, hatte man den Eindruck, dass Westerwelle fürderhin ein gebranntes Kind war, dass er fortan die innere Eskalationsdynamik einer politischen Verbalität, die kalt und gezielt den gesellschaftlichen Comment provoziert, scheuen würde. Denn nochmals: Der Provokateur darf nicht stehen bleiben; er muss sich von Runde zu Runde steigern, schärfer werden, seine dichotomischen Polarisierungen – Fleißige versus Faule, guter Markt gegen bösen Staat, leuchtender Liberalismus kontra finsterer Sozialismus – immer schneidender vortragen. Viel wirkliche Liberalität, Pluralität und Weltoffenheit bleibt am Ende dann nicht mehr übrig. Und die von den jüngeren Liberalen vor einiger Zeit noch angestrebte Neumodellierung der FDP als eine Partei mit etwas mehr Wärme, mit einer größeren Neigung zur Fairness und Solidarität dürfte dabei ebenfalls auf der Strecke bleiben.132 Anfang 2010 aber bediente sich der aufgeschreckte Westerwelle aus dem üblichen Instrumentenkasten eines »Extremismus der Mitte«. Er setzte sich als Sprecher der »schweigenden Mehrheit« in Pose, als Mann der »deutlichen Worte«, der sich durch Auflagen einer »political correctness« in seiner Mission nicht aufhalten lässt.133 Er allein wage es, den permanenten Missbrauch der Sozialsysteme durch die Faulen und Dekadenten auf Kosten der Leistungsträger beim Namen zu nennen.134 So pflegten alle 131 | Vgl. Maron, Thomas: »Westerwelle will jetzt klare Kante zeigen«, in: Stuttgarter Zeitung, 12.2.2010.

132 | Vgl. Averesch, Sigrid: »Ganz schnell nach oben«, in: Berliner Zeitung, 14.12.2009.

133 | Brössler, Daniel: »Leiser wird’s nicht«, in: Süddeutsche Zeitung, 17.2.2010.

134 | Ähnlich argumentierte auch schon der unsägliche Franz von Papen, der 1933 als Vizekanzler in einer Philippika gegen den »dekadenten« Weimarer Geist ausführte: »Statt die Energie zum Lebenskampf anzuspornen, wollte man jedem sozusagen einen Teppich vor die Füße legen. Das Leben sollte zu

70 | Gelb oder Grün? »Populisten der Mitte« seit dem 19. Jahrhundert zu lärmen. Neues fügte Westerwelle dem nicht hinzu. Dabei mochte ihn das Beispiel der Schweizer Volkspartei inspiriert und imponiert haben, die als Regierungspartei zugleich den Protest der verunsicherten gesellschaftlichen Mitte nachgerade oppositionell organisierte – und dabei ihre Wähleranteile stetig mehrte.135 Die Schweizer Volkspartei scheute auch aussichtslose Kampagnen nicht, weil sie sich davon gleichwohl einen Glaubwürdigkeitsgewinn versprach. Und die Schweizer Volkspartei wütet regelmäßig gegen die Urteile des Bundesgerichts, gibt sich als Repräsentantin des »gesunden Menschenverstandes« und des »Volkswillens« gegen die elitäre Weltfremdheit des »Richterstaats«. Sehr weit war Westerwelle in den Tagen nach dem Hartz-IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht davon entfernt. Außerhalb Deutschlands haben Parteien der »entrüsteten Mitte« seit den späten 1980er Jahren durchaus Punkte gemacht, sind oft zu den stärksten oder zweitstärksten Formationen im bürgerlichen Lager ihrer Gesellschaften emporgeklettert. In Deutschland lag die Hemmschwelle für die Methode inszenierter Empörung und dichotomisch strukturierter Weltbilder bislang recht hoch. Das muss nicht so bleiben. Das braucht aber auch nicht zwingend anders zu werden. Es kommt darauf an, wie groß die Zahl der Liberalen in der FDP noch ist. Und zumindest in früheren Jahren zauderte Westerwelle dann doch im selbst entfesselten Prozess kumulativer Zuspitzung, wenn ihm die Dinge dabei außer Kontrolle zu geraten schienen. Überhaupt: Als Außenminister kann man die schrille Tonlage schwerlich als Charakteristikum des eigenen Stils mit sich herumführen. Die FDP wird andere Wege finden müssen.

einer bequemen Straße werden, während es in der Bestimmung Gottes ein steiler Pfad ist. Die Nächstenliebe ist verschwunden und räumte den Platz für die gesellschaftlich verordnete Pflege der Schwäche auf Kosten der Kraft.« Zit. in: Sobanski, Antonio Graf: »Nachrichten aus Berlin 1933-36«, Reinbek bei Hamburg 2009, S. 108. Westerwelle ist natürlich nicht von Papen. Aber bei einem deutschen Außenminister des Jahres 2010 kommt es in der Tat auf Sensibilität im Duktus und auf tragfähige historische Kenntnisse an.

135 | Vgl. Geden, Oliver: »Rechtspopulismus. Funktionslogiken – Gelegenheitsstrukturen – Gegenstrategien«, SWP-Studie, Juni 2007, S. 17ff.; ders.: »Alpiner Rechtspopulismus«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.8.2008.

II. Die Grünen : Partei der angepassten Unangepassten S EGEN

DER

E RDE : A NFÄNGE

Mit ihm fing die Geschichte an: Baldur Springmann.1 Am Anfang standen jedenfalls nicht Fischer, nicht Trittin, nicht Künast. Den Beginn setzte der Bio-Bauer aus Schleswig-Holstein. Er verkörperte den Typus deutscher Lebensreform, die seit jeher an der Urbanität litt, die Technisierung ablehnte, der Zivilisation trotzte, das Kosmopolitische verachtete. In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre gehörte Springmann, der schon auf die 70 Jahre zuging, zu den Pionieren grüner Gruppen und Listen. Groß geworden als Sohn eines westfälischen Fabrikanten, hatte er das Abitur abgelegt. Doch er wollte Bauer werden, und er wurde es auch – sein ganzes weiteres Leben lang. Wie etliche andere seiner Generation, Herkunft und Gesinnung engagierte er sich in den Weimarer Jahren in bündischen Organisationen des rechten Nationalismus. Er kämpfte in den illegalen paramilitärischen Einheiten der sogenannten »Schwarzen Reichswehr« gegen die »Feinde Deutschlands«. Nach 1933 sah man ihn als Jugendleiter im Reichsnährstand und als Reiter in den Staffeln der SS. Auf die Frage eines Reporters der Wochenzeitung Die Zeit, ob er denn auch in die NSDAP

1 | Vgl. Walter, Franz: »Charismatiker und Effizienzen. Porträts aus 60 Jahren Bundesrepublik«, Frankfurt a.M. 2009, S. 237-240.

72 | Gelb oder Grün? eingetreten sei, antwortete der grüne Baldur Springmann 1979: »Das weiß ich nicht.«2 Nach 1945 ging es in dieser biografischen Linie weiter. Springmann musste aus der sowjetisch besetzten Zone fl iehen. Sein neues Zuhause wurde der Hof Springe im schleswig-holsteinischen Geschendorf. Dort betrieb er auf rund 30 Hektar Land eine Art Ökolandwirtschaft. Springmann knüpfte weltanschaulich an den jugendbündischen Rechtsaktivismus der Weimarer Jahre an und setzte ihn fort. In Schleswig-Holstein stand er in den sozialliberalen Zeiten der Republik zunächst noch an der Spitze der »Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher« (AUD). Die AUD hatte in der Tat das Umweltthema früh entdeckt und es mit den alten nationalrevolutionären Zielprojektionen eines »Dritten Weges« der Blockfreiheit zwischen Ost und West, zwischen Industriekapitalismus und Kommunismus verwoben.3 Auch in der AUD ließen sich viele von der Sehnsucht nach einer Rückkehr zu vorindustriellen Zuständen leiten. Zu ihnen gehörte eben Baldur Springmann. Heimat bedeute ihm »Geborgenheit in konzentrischen Kreisen. Ganz innen mein Häuschen, dann unsere Felder, das Dorf, die Region, das Vaterland.« In der Musik liebt er Volkslieder, literarisch war sein Favorit Knut Hamsun und dessen Roman »Segen der Erde«. Auf seinem Hof praktizierte Springmann einen biologisch-dynamischen Landanbau. Spritzgifte, Kunstdünger und Saatbeizen waren tabu. Es sollte alles wieder so werden wie in den Zeiten der »Urproduktion«.4 Doch bald lief die Zeit Springmanns bei den Grünen ab. Nun drangen die jungen Linken in der Öko-Partei immer weiter nach vorn und drängten dabei die sich selbst so nennenden »Wertkonservativen« sukzessive zurück. Ihre Marneschlacht erlebten die bürgerlich-konservativen Lebensreformer auf der Dortmunder Bundesversammlung der Grünen Mitte Juni 1980. Nicht einer der ihren, der frühere CDU-Politiker Herbert Gruhl, wurde Bundesvorsitzender, sondern ein Vertreter

2 | Zit. nach: Witter, Ben: »Wir sind keine Knallköpfe«, in: Die Zeit, 8.6.1979.

3 | Vgl. Stöss, Richard: »Vom Nationalismus zum Umweltschutz. Die Deutsche Gemeinschaft/Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher im Parteiensystem der Bundesrepublik«, Opladen 1980.

4 | Vgl. Springmann, Baldur: »Partner Erde. Einsichten eines Ökobauern«, Kiel 1982, S. 78ff.; Stöss, Richard: »Alma oder die Ordnung auf dem Lande«, in: Lüdke, Hans-Werner/Dinné, Olaf (Hg.): Die Grünen. Personen, Projekte, Programme, Stuttgart-Degerloch 1980, S. 146ff.

II. Die Grünen: Partei der angepassten Unangepassten | 73 der Linken.5 Springmann verließ die grüne Partei, landete sodann in den nächsten Jahrzehnten bei allerlei rechten Konventikeln, wie ebenfalls andere aus der Pioniergeneration der organisierten Ökologiebewegung jener Endsiebzigerjahre. Ökologisch – völkisch – alternativ – nationalistisch: Auch ein solcher Entwicklungspfad war im Frühstadium der Grünen in Deutschland angelegt.6

A LTERNATIVMILIEU

Z WISCHEN

B ROKDORF

UND

M UTL ANGEN

Aber das Gros der Partei betrat ihn nicht. Denn konstitutiv für die Grünen war eine neues Milieu.7 Das war erstaunlich genug, denn die Zeit solcher Milieus war eigentlich schon in den 1960er Jahren abgelaufen. In jenem Jahrzehnt ereigneten sich die großen Einbrüche in der katholischen Lebenswelt, verendeten die letzten Reste der sozialistischen Eigenkultur. Von da ab war es weitgehend vorbei mit sozialdemokratischen Volks- und katholischen Kolpinghäusern, mit kommunistischer »Fichte« oder »DJK«, mit Namenstagen und August-Bebel-Feiern. Die wohlfahrtsstaatliche und pluralistische Konkordanzdemokratie ließ keinen Platz mehr für abgeschottete, ideologisch verhärtete Subkulturen; die modernen kommerziellen Massenkulturen spülten die überkommenen Klassenkulturen hinweg. So zumindest lautete der durchaus plausible sozialwissenschaftliche Befund. Doch dann, mitten im Prozess der gesellschaftlichen Entstrukturierung, formierte sich in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre erneut ein Milieu. Zumindest waren einige der charakteristischen Muster der klassischen Milieus aus der Sattelzeit des deutschen Parteiensystems wieder erkennbar. Es gab die sozialräumliche Verdichtung, den Hang zur Utopie, eine eigene Welt der Rituale, eine autonom organisierte Infrastruktur. Es gab die Heimat des selbstgewählten Ghettos. Und es gab die soziale Gruppe, die das alles trug, weil sie sich gesellschaftlich 5 | Vgl. Richter, Saskia: »Führung ohne Macht? Die Sprecher und Vorsitzenden der Grünen«, in: Forkmann, Daniela/Richter, Saskia: Die Parteivorsitzenden der Bundesrepublik Deutschland 1945-2005, Wiesbaden 2005, S. 169-214, hier: S. 175.

6 | Vgl. Warnke, Götz: »Die grüne Ideologie: Heile-Welt-Mythen, Gesellschaftsutopien und Naturromantik als Ausdruck einer angstbestimmten Politik«, Frankfurt a.M. u.a. 1998.

7 | Vgl. Veen, Hans-Joachim: »Die Grünen als Milieupartei«, in: Maier, Hans et al. (Hg.): Politik, Philosophie, Praxis. Festschrift für Wilhelm Hennis zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1988, S. 454-476.

74 | Gelb oder Grün? abgedrängt, desintegriert fühlte: die Alternativbewegung zwischen Brokdorf und Mutlangen, konzentriert in den studentischen Quartieren der Universitätsstädte, mit dem Habitus von Schlabberlook und Zottelhaaren, mit den Gegenorganisationen von roten Buchläden, Kinderhorten, Wohngemeinschaften, selbstverwalteten Handwerksbetrieben, Patienten- und Anwaltskollektiven, Bioläden und Vollkornbäckereien sowie demonstrativ getragenen Protestsymbolen gegen Atomkraft, Raketenstationierung und Berufsverboten.8 Eine vergleichbare infrastrukturelle Intensität hatte sich in den Alternativbewegungen der anderen europäischen Länder nicht herausgebildet. Das erklärte die Wucht der Demonstrationszyklen in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren; das erklärte auch die ungewöhnlich frühen und außergewöhnlich lang anhaltenden Erfolge der deutschen Grünen. Sie standen weit stärker als andere postmaterialistische Parteien auf dem Fundament einer organisatorisch unterfütterten Lebenswelt. Das erleichterte auch die Formierung der Bewegung zur Partei und deren Stabilisierung hernach. Die Ikone schlechthin dieser frühen grünen Partei in den frühen 1980er Jahren war Petra Kelly.9 Sie war 35 Jahre jünger als Baldur Springmann, ein Kind Nachkriegsdeutschlands, ab dem zwölften Lebensjahr für eine gute Dekade in Amerika aufgewachsen, dort zur Schule und Universität gegangen. Springmann war bekennend deutsch, heimatfi xiert, an Hof und Region gebunden; Kelly war auch als Grüne und Friedensbewegte stets dezidiert global, internationalistisch, unablässig in allen Teilen der Welt unterwegs, mehrsprachig und in jeder Hinsicht kosmopolitisch orientiert.10 Wenn von Kelly in den frühen 1980er Jahren die Rede war, dann fiel unweigerlich die Charakterisierung »Jeanne d’Arc der Grünen«.11 Petra Kelly war in jener Zeit das Gesicht der Grünen, fast die Personifi kation dieser neuen »Anti-Parteien-Partei«, wie sich die Grünen 8 | Vgl. Schnieder, Frank: »Von der sozialen Bewegung zur Institution? Die Entstehung der Partei DIE GRÜNEN in den Jahren 1978 bis 1980. Argumente, Entwicklungen und Strategien am Beispiel Bonn, Hannover, Osnabrück«, Münster 1998.

9 | Vgl. Walter: »Charismatiker«, S. 241-248; Parkin, Sara: »The life and death of Petra Kelly«, London 1994.

10 | Vgl. Richter, Saskia: »Polit-Ikone Petra Kelly«, in: Spiegel Online, 30.9 2007; vgl. demnächst auch die Göttinger Dissertation von Saskia Richter zu Kelly bei DVA.

11 | Vgl. Sperr, Monika: »Petra K. Kelly. Politikerin aus Betroffenheit«, Reinbek bei Hamburg 1985, S. 9.

II. Die Grünen: Partei der angepassten Unangepassten | 75 damals gerne selbst nannten. Zumindest außerhalb Deutschlands war Kelly die bekannteste Vertreterin jener neuen Bewegung. Man lud sie – und immer nur sie – von Tokio bis New York ein, um zu erfahren, was die jungen Leute im notorisch romantischen Deutschland eigentlich drängte, dass sie überall Gefahren sahen, Untergangsszenarien entwarfen, die Apokalypse beschworen. Und Kelly nahm alle Termine wahr, hetzte von Auftritt zu Auftritt, redete mit überschlagender Stimme, in sprudelnden, geradezu jagenden Sätzen auf ihre konsternierten Zuhörer ein. Doch erschien sie selbst konservativem Publikum als ehrlich, irgendwie als authentisch. Sie hatte offenkundig eine Mission, einen inneren Auftrag. Sie war – so der Eindruck – überzeugt und wollte überzeugen. Da sprach keine Opportunistin, keine abgeklärte Berufspolitikerin, sondern eine von ihren Zielen und Ideen durchdrungene junge Frau – eine neue Jeanne d’Arc. Es dauerte zwar nicht lange, da schlug diese eher positive Wahrnehmung um. Mehr und mehr empfand man die Sprachsuada von Kelly als hysterisch, ihre dauerappelativen Botschaften als penetrant, die unverlangte Demonstration von Moral als anmaßend und peinlich. Aber zu Beginn der 1980er Jahre, im Herbst des Sozialliberalismus, als Hunderttausende von jungen Leuten ihre Furcht vor Atomraketen wie Atomkraftwerken in Märschen und auf Kundgebungen herausschrien, war Kelly eine Heldin dieser neuen Strömungen und Einstellungen. Und noch lange – selbst als die Ökopartei Kelly und ihre Politikvorstellungen weit, fast zynisch hinter sich gelassen hatte – zehrten die Grünen von der Aura Kellys als unbestechliche Bürgerrechtlerin, der es nie um Posten und Macht gegangen war, sondern allein um die Rettung der Welt, um den selbstlosen Einsatz für die Verfolgten und Gemarterten in Ost und West, um einen anderen, friedlichen Umgang miteinander, sei es im Kleinen wie im Großen. Dieser moralische Mehrwert gehörte noch zum Vorrat der Grünen, als der in den Parlamentarismus eingepassten Partei die moralisierende Attitüde der Frühzeit längst nachgerade peinlich war.12 Doch im Kern rekrutierten sich der alternative Sektor und dann die Grünen aus der Post-68er-Generation, aus den Jahrgängen 1954 bis 1965, aus dem Babyboom der Republik. Das war die Kohorte der Bildungsexpansion. Aber das war auch die Kohorte, die mit den Bildungszertifi katen plötzlich nicht mehr vorankam. Es war eine blockierte Gruppe.13 Zehntausende von ihnen hatten auf Lehramt stu12 | Vgl. Lamla, Jörn: »Grüne Politik zwischen Macht und Moral«, Frankfurt a.M. u.a. 2002.

13 | Vgl. Alber, Jens: »Modernisierung, neue Spannungslinien und die po-

76 | Gelb oder Grün? diert, doch kaum noch einer kam unmittelbar in den Schuldienst. Die Zugänge zu den öffentlichen Diensten waren zunächst verstopft. Die geburtenstarken Jahrgänge, die mit großen Verheißungen auf die Bildungsreise geschickt worden waren, kamen in einem sozialliberalen Land der Massenarbeitslosigkeit an. Es war diese neue, unvorbereitet eingetretene Kluft von Erwartung und Enttäuschung,14 der den spezifischen Radikalismus dieser Kohorte produzierte. Die jungen gebildeten Babyboomer fühlten sich gesellschaftlich ausgegrenzt, politisch durch Extremistenbeschlüsse verfolgt, ökonomisch ohne Perspektive. Die Sozialdemokraten, welche die Hoffnungen geweckt hatten, die nun enttäuscht wurden, konnten nicht das politische Ventil für die Frustrationen sein. So trieb es die jungerwachsenen Kinder der Bildungsexpansion in die alternative Separatkultur, dann in die grüne Partei. Sie hatten genügend Ressourcen dafür: Bildung und Kompetenz, viel Zeit, noch unverbrauchte Energie, das nötige Ausmaß an Frustration, das sich in einem politischen und organisatorischen Aktionismus entladen konnte. Keine andere Kohorte hatte in der Geschichte der Bundesrepublik so viele Kampagnen, Kundgebungen, Demonstrationen durchgeführt wie sie; keine zweite Kohorte hatte sich so sehr in wüsten Fraktionskämpfen und Redeschlachten geübt, aber auch aufgerieben wie diese. Dadurch ist diese Kohorte zu einer wirklichen Erfahrungsgeneration geworden, mit außergewöhnlich stabilen politischen und kulturellen Grundorientierungen. Aus diesem Stabilitätsdepot der 78er-Generation zehrten die deutschen Grünen. Deshalb überstanden sie in den 1980er Jahren alle Flügelstreitigkeiten, Zerwürfnisse und Krisen. Die 78er-Generation ertrug chaotische Parteitage, politische Phantastereien, abenteuerliche Beschlüsse der Grünen. Denn sie waren Partei und politisches Projekt dieses Generationenmilieus. Das gab den Grünen die Konstanz, aber auch ihren besonderen Flair, die Aura der unangepassten, eigenwilligen, exzentrischen Partei. Auch später änderte sich kaum etwas daran, dass die Grünen bei Aktivisten, Parlamentariern und Wählern ihre stärksten Bataillone bei den Jahrgängen 1954 bis 1965 mustern konnten.

litischen Chancen der Grünen«, in: Politische Vierteljahresschrift 26 (1985), H. 3, S. 211-226.

14 | Vgl. Lenski, Gerhard E.: »Power and Privilege. A Theory of Social Stratification«, New York u.a. 1966; Hirschmann, Albert: »Engagement und Enttäuschung. Über das Schwanken der Bürger zwischen Privatwohl und Allgemeinwohl«, Frankfurt a.M. 1984, S. 25.

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A UFSTIEG

UND I NTEGR ATION

Nun ist allerdings von den grünen Milieus gesellschaftlich in der Tat nicht viel übrig geblieben. Insofern unterschied sich das alternativgrüne Milieu der spätsiebziger und frühachtziger Jahre doch elementar von den klassischen sozialmoralischen Milieus des Katholizismus und Sozialismus. Die klassischen Milieus erstreckten ihren Einfluss nicht nur auf einen spezifischen Lebensabschnitt einer Generation, sondern sie prägten die Milieuangehörigen dauerhaft, über das ganze Leben hindurch und über mehrere Generationen hinweg. Die klassischen Milieus reproduzierten sich über Jahrzehnte, sie vererbten sich familiär weiter.15 Darin liegt die entscheidende Ursache für den langen Bestand der christlichen und sozialdemokratischen Parteien. Diese lebenszyklische Weite und Erblichkeit hatte das alternative Milieu nicht. Das alternative Ausgangsmilieu der grünen Partei war begrenzt auf lediglich eine Generation und auch dort nur auf deren postadoleszenten Lebensabschnitt. Als die Zugehörigen des alternativen Milieus, die Aktivisten der Ökologie-, Frauen- und Friedensbewegung in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre auf das 30. Lebensjahr zugingen, da löste sich der Milieuzusammenhang rasch auf. Viele hatten dann doch und nach einigen Umwegen und mehreren befristeten ABM-Verträgen eine Anstellung in den öffentlichen Kultur-, Bildungs- und Sozialdiensten der Republik ergattert.16 Der Protest verbeamtete. Damit begann der Abschied aus der Wohngemeinschaft. Es veränderte sich der Habitus. Die Haare der Männer wurden kürzer, die der Frauen oft länger. Die Kleidung war nun teurer und modischer; die Latzhose verschwand aus den Kleiderschränken, ersetzt durch den Markenblazer italienischer Herkunft. Die Anti-AKW-Plakette landete als Erinnerungsstück an die großen Kämpfe gegen die Energieindustrie und den Bullenstaat in den Schreibtischschubladen. Kurzum: Die zunächst blockierte Generation der Bildungsexpansion war in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre zu großen Teilen in der (linken) Mitte der Gesellschaft angekommen, war materiell nun doch gut versorgt, war politisch mit der Republik und den parlamentarischen Institutionen versöhnt, hatte sich in ironischliebevoller Distanz zu den alten Mythen und Utopien aus der Zeit des vergangenen Alternativmilieus begeben. 15 | Vgl. Tenfelde, Klaus: »Historische Milieus, Erblichkeit und Konkurrenz«, in: Hettling, Manfred/Nolte, Paul (Hg.): Nation und Gesellschaft in Deutschland, München 1996, S. 247-268.

16 | Vgl. Tiefenbach, Paul: »Die Grünen. Verstaatlichung einer Partei«, Köln 1998.

78 | Gelb oder Grün? Für die Grünen war dieser Entwicklungsschub kein Problem. Denn die Grünen änderten sich dadurch zeitgleich mit. Das war der Vorzug einer anfänglichen Generationenpartei. Sie brauchten den Lernprozess einer einzigen, ihrer Generation nur aufzunehmen, abzubilden und politisch auszudrücken. Sie mussten nicht zwischen den oft gegensätzlichen Lernerfahrungen und disparaten politischen Einstellungsmustern verschiedener Generationen vermitteln, wie dies die alten und großen Volksparteien notwendigerweise zu leisten hatten. Dadurch wirkten die Grünen in den 1980er Jahren trotz aller FundiRealo-Konflikte homogener, dynamischer, veränderungsfähiger, während die Großparteien kompromissschwerer, langsamer, heterogener erschienen. Für die Grünen waren die 1980er Jahre infolgedessen ein goldenes Jahrzehnt. Grüne Eliten und grüne Anhänger waren vom Bildungsprofi l, von der Sozialstruktur, von der politisch-kulturellen Orientierung her damals noch weitgehend identisch.17 Das ersparte den Grünen den mühseligen Spagat zwischen verschiedenen Wählersegmenten. Die Grünen konnten politisch mühelos stärker in die linke Mitte gehen, weil dies ihre Anhänger, je älter und arrivierter sie wurden, gesellschaftlich, sozial und kulturell ebenfalls taten. Das Ursprungsmilieu hatte sich in seinen lebensweltlichen Bezügen und Infrastrukturen aufgelöst, aber die sehr emphatischen Generationsprägungen waren geblieben und flossen weiterhin in das grüne Parteienprojekt. Die Grünen waren im letzten Drittel der 1980er Jahre schon auf dem Weg zur bürgerlich-liberalen Honoratiorenpartei, aber sie wurzelten noch stark im Generationenerlebnis des alternativen Milieus der spätsozialliberalen Bewegungszeit.18 In dieser Zeit fand der Aufstieg des Joschka Fischer statt.19 Dabei: Vorprogrammiert war das nicht. Die Wahrscheinlichkeit, dass aus Fischer eine verkrachte Existenz hätte werden können, lag noch an sei17 | Vgl. Raschke, Joachim: »Die Grünen als Partei der unverkürzten Modernisierung«, in: Vorgänge 42 (2003), H. 2, S. 80-88, hier: S. 86.

18 | Vgl. Bürklin, Wilhelm/Dalton, Russel J.: »Das Ergrauen der Grünen«, in: Klingemann, Hans-Dieter/Kaase, Max (Hg.): Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlaß der Bundestagswahl 1990, Opladen 1994, S. 264-302.

19 | Vgl. Schmidt, Christian: »Wir sind die Wahnsinnigen. Joschka Fischer und seine Frankfurter Gang«, München/Düsseldorf 1998; Krause-Burger, Sybille: »Joschka Fischer. Der Marsch durch die Illusionen«, Stuttgart 1999; Schwelien, Michael: »Joschka Fischer. Eine Karriere«, Hamburg 2000; Geis, Matthias/Ulrich, Bernd: »Der Unvollendete. Das Leben des Joschka Fischer«, Reinbek bei Hamburg 2004; Schreiber, Jürgen: »Meine Jahre mit Joschka«, Berlin 2007.

II. Die Grünen: Partei der angepassten Unangepassten | 79 nem 30. Geburtstag recht hoch. Große Perspektiven besaß er nicht. Der Metzgersohn hatte immer alles abgebrochen, was er jeweils anfing: die Schule, die Lehre, jeden Versuch, beruflich Fuß zu fassen, später die Ehen. Der Bruch – das wurde geradezu zum Leitfaden seines Lebenswegs. Zum Ausgang der 1970er Jahre befand sich Fischer in einer desaströsen persönlichen und politischen Lage.20 An die linksradikalen Projektionen seiner Jugend glaubte er nicht mehr. Aber ein neuer Glaube war für ihn nicht recht in Sicht. Von dem, was man Neue Soziale Bewegungen nannte, versprach er sich auch nichts. Auf den grünen Zug in die Politik sprang Fischer erst, als dieser bereits kräftig rollte. Doch exakt das blieb ein vorherrschendes Signum im Leben des Joschka Fischer: Er nahm Entwicklungen keineswegs früh vorweg, er reihte sich ein, wenn die ersten bereits auf brachen – aber dann setzte er sich zielstrebig und hemdsärmelig an die Spitze der Kolonne. Und er stieg – im katholischen Glauben groß geworden – sogleich auf die Kanzeln der Bewegungen, um die neuen Märsche mit dem Pathos von Vorsehung, historischer Notwendigkeit und persönlichem Beispiel zu begründen. In seinem Politikerleben verfasste er gleich mehrere pathetische Drehbücher bußbereiter Einkehr und erschütternder Läuterung. Stets war es ein gravierendes, oft qualvoll empfundenes Damaskus-Erlebnis, das ihn zum Paulus machte. Immer war es ein äußerst schmerzhafter Lernprozess, eine leidvolle Trennung vom Früheren, fast wie aus einer antiken Tragödie entsprungen. Fischer begab sich, wenn er sich häutete, auf den langen, langen, langen Lauf zu sich selbst: eben von ganz dick zu ganz dünn – und umgekehrt. Selbst im gemäßigten Bürgertum war man am Ende mit Fischer versöhnt. Seine Biografie war zu einem weiteren Beweis für die alte bürgerliche Anthropologie geworden: Man mochte als Jugendlicher radikal und links sein, doch das hielt nicht an, wenn man älter wurde, im Beruf Erfolge aufwies, Familien gründete. Letzten Endes würden sie alle vernünftig werden, konservativ, staatstragend, ordentlich gekleidet, das Eigentum achtend. So hatten es die konservativen Väter schon Ende der 1960er Jahre ihren rebellierenden Kindern prophezeit. Sie hatten Recht behalten. Die verlorenen Söhne kehrten zurück. Und so mochten sie ihn zu guter Letzt alle – ihren Joschka. Natürlich: Als Generationenpartei der 1970er-Jugendkultur hätten die Grünen nicht viel Zukunft besessen. Als bloße Generationenpartei wären die Grünen im Laufe der 1990er Jahre allmählich als mittel20 | Vgl. Walter: »Charismatiker«, S. 325-332.

80 | Gelb oder Grün? altrige Trachtengruppe der spätsiebziger Protestkultur zusammengeschmolzen und politisch weit diesseits der Fünf-Prozent-Hürde verendet. Die Grünen hätten dann nicht die anfangs noch erwartete Avantgardepartei der postmaterialistischen und postindustriellen Gesellschaft werden können, sondern lediglich die Kohortengemeinschaft einer spezifischen, längst verblassten, da nicht weiter reproduzierten Kultur der Generation »Zaungäste«, wie der Essayist Reinhard Mohr die Nach-68er-Jahrgänge der Trittins, Künasts, Kuhns und Roths vor Jahren charakterisiert hatte.21 Doch blieben die Grünen in den 1990er Jahren nicht mehr nur Generationenpartei. Sie erschlossen neue Schichten und nachwachsende Jungwählergruppen. Anderenfalls hätten die Grünen seit dem Ende der ökopazifistischen Kampagnen- und Bewegungskultur 1987 systematisch abflachen müssen. Doch gerade in der ersten Hälfte der 1990er Jahre expandierten die Grünen auf kommunaler und regionaler Ebene kräftig. Sie hielten den Kern ihrer Gründergeneration. Aber sie gewannen auch – selbst noch und durchaus im Unterschied zur Union, der SPD und der FDP bei den Bundestagswahlen 1998 – überproportional viele Jungwähler hinzu, die in den Jahren der Friedens- und Anti-AKW-Demonstrationen bestenfalls in den Kindergarten gingen, vielfach aber nicht einmal geboren worden waren. Mitte der 1990er Jahre fanden die Grünen sogar Zuspruch in großbürgerlichen Wohnquartieren mit traditionell ausgesprochen freidemokratischen und christdemokratischen Parteipräferenzen. Insofern waren die Grünen weit mehr als eine Kohortenpartei des grünalternativen Protests. Im Laufe der 1990er Jahre hatte sich die Anhängerschaft der Grünen erweitert, verändert – und dabei in beachtlichen Teilen entpolitisiert. In den 1980er Jahren hatten die Grünen noch die mit Abstand am stärksten politisierten Wähler unter den bundesdeutschen Parteien. In den frühen 1990er Jahren nivellierte sich diese Differenz. Anfang 1997 kamen dann die professionellen Meinungsforscher zu dem einigermaßen verblüffenden Ergebnis, dass sich im Lager der Grünen die größte Anzahl politisch desinteressierter Menschen in Deutschland sammelte. Die neue, gewissermaßen zweite Hausse bei Jungwählern und nun auch den Besserverdienenden und Arrivierten in den Villenvierteln der Republik hatte nichts mit politischer Kampagnenfähigkeit oder gar mit ökologischer Prinzipienfestigkeit zu tun. Die Grünen waren vielmehr Teil eines (zwischenzeitlich) angesagten Lifestyles, galten eine Zeit lang im Vergleich zu den Altparteien irgendwie als 21 | Vgl. Mohr, Reinhard: »Zaungäste. Die Generation, die nach der Revolte kam«, Frankfurt a.M. 1992.

II. Die Grünen: Partei der angepassten Unangepassten | 81 beweglicher, kreativer, origineller. Die Grünen hatten ihren Joschka, und der galt seinerzeit als cool. So waren die Grünen chic auch für Kohorten und bürgerliche Schichten jenseits des verwesten Alternativmilieus und dezidierter ökologischer Gesinnung. Die Grünen hatten dadurch in das freidemokratische Terrain übergegriffen, was zum zwischenzeitlichen Verfall der FDP und zur Dezimierung des altbürgerlichen Koalitionslagers in jenen letzten Jahren der Ära Kohl erheblich beigetragen hat. Sie hatten damit die Voraussetzungen für rot-grüne Regierungswechsel zuerst in den Kommunen und Ländern, dann im Bund geschaffen. Doch wie es mit Erfolgen eben ist – in ihnen lauern stets die Keime der Niederlagen. 1996/97 schienen die Grünen noch unauf haltsam auf dem Weg zur großen modernen Integrationspartei der postindustriellen Mitte, interessant für zottelbärtige Ökos und gelfrisierte Yuppies, attraktiv für Studienräte und Abiturienten, wählbar für verbeamtete Gleichstellungsbeauftragte und selbstständige Unternehmensgründer. So sah die Wählerkoalition der Grünen vor dem Wahljahr 1998 aus. Nicht wenige in der Partei träumten von Wahlergebnissen zwischen 10 und 20 Prozent. Und genügend Publizisten hielten eben das für gut möglich. Indes fi ngen die Probleme der Grünen jetzt erst an. Sie hatten es jetzt nicht mehr nur mit einer homogenen, belastbaren und verlässlichen Wählergruppe zu tun. Sie mussten nun, ganz wie die übrigen parteipolitischen Konkurrenten, zwischen disparaten Wählersegmenten vermitteln. Vor allem waren die neuen Wählergruppen, die weder durch Generationserlebnis noch durch Milieuzugehörigkeit kohärent verbunden waren, keine treuen Kantonisten. Sie hatten mit der Wahl der Grünen in der Mitte des Jahrzehnts ein wenig kokettiert, hatten den Flair des Nicht-Ganz-Angepassten, die expressive Attitüde eines politischen Exklusivmodells auf dem politischen Massenmarkt goutiert. Sie hatten aber keineswegs die radikale sozialökologische Reform im Blick, als sie in den Wahlkabinen ihr Kreuzchen für die Grünen machten. Das war solange gleichgültig, wie die Grünen in der Opposition waren, wie die Rhetorik der Partei und das Votum für sie an den Wahlsonntagen ohne realpolitische Folgen blieben. Das änderte sich schlagartig, als Anfang 1998 die Aussicht auf eine rot-grüne Bundesregierung realistisch erschien. In dem Moment musste man erst nehmen, was Grüne forderten und beschlossen. Und jäh ergriffen die Kohorten und bürgerlichen Schichten jenseits des grünen Kernmilieus die Flucht, als der Magdeburger Parteitag im Frühjahr 1998 die schrittweise Erhöhung des Benzinpreises auf 5 DM beschloss. Die Grünenpräferenz allein unter den Jungwählern

82 | Gelb oder Grün? halbierte sich.22 Hätten damals alle demoskopischen Daten auf die sichere Fortsetzung der christlich-liberalen Regierung hingewiesen, dann hätte sich wohl niemand über den grünen Maximalismus aufgeregt, dann hätte man ihn wahrscheinlich als couragierte Ausnahme in einer ansonsten kleinmütigen, grauen und opportunistischen Welt der Politik gefeiert. Der Aufstieg der Grünen hätte gut weitergehen können. Aber so fielen die Grünen auf ihre Klientel der 1980er Jahre zurück. Am Ende jedenfalls war es in erster Linie ihrer traditionellen Stammwählerschaft zu verdanken, dass sie 1998 den Einzug in den Bundestag und dann den Eintritt in die Bundesregierung schaff ten. Die Grünen jedenfalls waren 1998 in die gleiche Bredouille geraten, in der die Altparteien schon seit ewigen Zeiten steckten. Sie hatten nun auch mit der Spannung von Kern- und Wechselwählern zu leben, hatten zwischen den heterogenen Ansprüchen unterschiedlicher Wählerpotenziale zu moderieren. Die Grünen, durch die langjährige Homogenität ihrer Klientel verwöhnt, waren auf diese Aufgabe schlecht vorbereitet, und daher missglückte der Integrationsspagat 1998 eher. Die Schwierigkeiten dieses Spagats blieben fortan erhalten. In dem Maße, wie sich die Grünen durch größere Professionalität, Seriosität und Entradikalisierung im Auftreten und Programm um die bürgerlichen Wechselwähler, natürlich auch um den Beweis ihrer Regierungsfähigkeit bemühten, in dem Maße verloren sie ihr früheres Alleinstellungsmerkmal als eigenwillige und eigenständige Vetopartei, in dem Maße demobilisierten sie anfangs einen Teil ihrer Kernanhängerschaft, der bei Wahlen gleichsam demonstrativ zu Hause blieb. Verloren hatten die Grünen zudem seit dem September 1998 den Wettbewerbsvorteil der ersten 18 Jahre, Partei der Unangepassten zu sein, Partei mit oppositionellem Witz und mit kreativen Einfällen. So war die Partei entstanden, so hielt sich lange ihr Ruf. Für die Grünen war es anfangs auch ganz leicht, den politischen Provokateur auf der parlamentarischen Bühne mit authentischer darstellerischer Kraft zu spielen. Ihre Anhänger tolerierten das nicht nur, sie verlangten es von ihnen. In den frühen 1980er Jahren war die grüne Klientel jung, ungebunden, ohne Geld und Stellung. Die politische Provokation gefährdete keine Besitzstände. Im Gegenteil, sie verschaff te der blockierten Generation Gehör und schließlich Einfluss. Ohne die politische Provokation hätte die Generation der Bildungsexpansion nicht ein öffentlich 22 | Vgl. Raschke, Joachim: »Die Zukunft der Grünen«, Frankfurt a.M./New York 2001, S. 307.

II. Die Grünen: Partei der angepassten Unangepassten | 83 bedienstetes Berufsnetz von Gleichstellungsbeauftragten, Umweltreferenten, Sozialarbeitern, Therapeuten knüpfen und weit über die christdemokratisch regierte Republik aufspannen können. Dazu bot die Partei auch selbst innerparteiliche und innerparlamentarische Aufstiegmöglichkeiten, worauf der Soziologe Helmut Wiesenthal hingewiesen hat: »Die Grünen entstanden in einer Ära der Massenarbeitslosigkeit, wie sie Deutschland seit der Weimarer Republik nicht mehr gekannt hat. Dabei ist ihr Aufstieg durch eine wachsende Zahl von Parlamentsmandaten und den Zugang zu relativ ergiebigen Finanzquellen markiert; die Personalausgaben der Gesamtpartei beliefen sich 1998 auf immerhin 15 Millionen DM. Damit wurde die Mitarbeit in den Grünen zu einer annehmbaren Option für Personen, die Arbeit, Einkommen und Lebenssinn suchen. Die Konsolidierung der Partei als politische Kraft manifestierte sich zwangsläufig in einer Vielzahl persönlicher Biographien, in deren Zentrum die Partei und ein spezifisches Verständnis ihrer Aufgaben und Gratifi kationen stehen. Auch das ist eine Besonderheit der Grünen: Der Anteil von Aktiven und Mandatierten, die in und durch die Grünen ihren ersten Kontakt zur Lebenswirklichkeit jenseits von Elternhaus, Schule und Universität gewonnen haben, dürfte höher als anderswo sein.« 23 Doch dämpften beruflicher Aufstieg und allmähliches Altern der früheren Protestkohorte die Lust auf die radikale und kompromisslose Provokation. Der ganze partizipatorische Sturm und Drang ließ nach. Die Dauerrebellion hatte Kraft gekostet. Im Übrigen trat die grüne Klientel in die Familienphase ein. In den 1990er Jahren stand die Kerngruppe der Grünen im mittleren Alter. Viele hatten Kinder und damit Erziehungsaufgaben und Ausbildungskosten zu tragen. Nicht wenige hatten sich zudem noch um pflegebedürftige Eltern zu kümmern. Dazu kam ein harter Berufsalltag. Die Partizipationsgeneration der frühachtziger Jahre war in den 1990er Jahren erheblich gefordert, in Teilen ausgebrannt, zu zeitaufwendigen Aktionen nicht mehr zu bewegen. Die früheren Akteure unzähliger Kampagnen und Demos nahmen in der Zeit, als sich der rot-grüne Regierungswechsel vollzog, eine politische Auszeit.

23 | Wiesenthal, Helmut: »Bündnisgrüne in der Lernkurve. Erblast und Zukunftsoption der Regierungspartei«, in: Kommune 17 (1999), H. 5, S. 35-50, hier: S. 40.

84 | Gelb oder Grün?

R OT -G RÜN Es mag sein, dass eben genau das 1998 überhaupt erst den Regierungswechsel im Bund möglich gemacht hatte. In den Jahren des überspannten grün-alternativen Aktionismus war es den Christdemokraten immer leicht gefallen, große Teile der ängstlichen gesellschaftlichen Mitte von den Gefahren einer rot-grünen Machtübernahme zu überzeugen. Bezeichnenderweise vollzog sich die christlich-liberale Wende und die Inthronisierung Helmut Kohls im Kanzleramt im Jahr der größten Demonstrationszüge in der Geschichte der Bundesrepublik. Die grün-alternative Generation stand mitten im Saft jugendlichen oder jungerwachsenen Tatendrangs. Erst als dieser Tatendrang 15 Jahre später versiegt und erschöpft war, als ein exaltierter Radikalismus grüner Anhängerschaften nicht mehr zu befürchten war, wagte die deutsche Republik den Regierungswechsel, riskierte sie das rotgrüne Experiment. Im Übrigen markieren Regierungskoalitionen – ganz ähnlich wie Parteiprogramme – entgegen ihren Ansprüchen keineswegs den Beginn einer neuen Ära.24 Historiker periodisieren die moderne Geschichte gerne nach den Daten und Zeiträumen von Regierungswechseln. Neue Koalitionen eröff nen in dieser Perspektive jeweils neue gesellschaftliche und politische Ären. Schaut man allerdings genauer hin, so stellt man fest, dass neue Regierungskoalitionen eher vorangegangene gesellschaftliche Entwicklungen abschließen und sich schon bald mit Problemen plagen müssen, für die sie durch ihre zurückliegende politische Sozialisation kaum gerüstet sind. Das galt schon für den Regierungswechsel 1969. Das vielzitierte »moderne Deutschland« begann nicht erst mit dem Einzug Willy Brandts in das Palais Schaumburg. Eine neue liberale Öffentlichkeit bildete sich bereits 1962 im Zuge der Proteste während der Spiegel-Aff äre. 1964/65 diskutierte die Republik mit großer Verve über die Bildungsreform und die Erneuerung der Universitäten. Auch das Ende der Hallstein-Doktrin erfolgte schon 1967. Das war überdies das Jahr einer neuartigen Planungseuphorie, dazu der kühnen keynesianischen Hoff nungen und der ersten bedeutenden liberalen Justizreformen. Alle Kerngedanken der Sozialliberalität waren folglich schon vor 1969 in der Gesellschaft präsent. Das brachte Brandt in sein Amt, das ging nicht von ihm aus. Im Gegenteil, als Brandt Kanzler war, verflog der Zauber der 24 | Vgl. Klatt, Johanna/Walter, Franz: »Politik und Gesellschaft am Ende der zweiten Großen Koalition – und was folgt?«, in: Butzlaff/Harm/Walter (Hg.): Patt oder Gezeitenwechsel?, S. 295-322, hier: S. 304ff.

II. Die Grünen: Partei der angepassten Unangepassten | 85 1960er-Jahre-Begriffe wie Partizipation, Demokratisierung, Reform überaus rasch. 1968 sprach sich beinahe die Hälfte der Deutschen begeistert für grundlegende Reformen aus. 1973 wollte nicht einmal ein Viertel mehr irgendetwas davon wissen. Perioden der anstrengenden Emanzipation werden eben ziemlich konstant von einer Sequenz der Ermüdung, des kollektiven Erholungsbedürfnisses abgelöst. Die Sozialliberalität ging schon neun Jahre vor dem Aus der sozialliberalen Koalition zu Ende.25 Die geistig-moralische Wende von Helmut Kohl erfolgte nicht erst 1982 mit dem Beginn seiner Regierungsübernahme, sondern 1973. Das war das Jahr der sogenannten »Tendenzwende«, als neokonservative Ideen auf kamen, als die klassischen Staatsfunktionen eine Renaissance erfuhren, als man der Stabilität wieder entschieden den Vorrang vor Veränderungen einräumte. Erst wechselte also der Zeitgeist, changierte das gesellschaftliche Klima, bis zuletzt die politische Wende in Bonn lediglich den Schlussakt dieses Prozesses markierte. Doch als Kohl dann Kanzler war, erlebte die Kultur der Republik keineswegs ein restauratives Comeback alter Werte und Tugenden. Die 1980er Jahre wurden vielmehr zum schönsten Jahrzehnt rot-grüner Mentalitäten. In diesem Jahrzehnt legte sich das Land die vielen Fahrradwege zu, feierte noch unbekümmerte multikulturelle Stadtteilfeste, demonstrierte für Frieden, gegen Umweltverschmutzung und staatlich oktroyierte Volksbefragungen. In diesem Jahrzehnt stellten etliche Kommunen und öffentliche Einrichtungen erstmals ganze Legionen von Gleichstellungs- bzw. Frauenbeauftragten ein. Als Rot-Grün dann, zudem noch mit acht Jahren Verspätung, 1998 an die Macht gelangte, hatten sich die gesellschaftlichen Unterströmungen der 1980er Jahre längst schon in alle Poren der Gesellschaft hineindiff undiert und dadurch ihre zuvor noch polarisierenden Eigenschaften verloren. Wie sonst hätte eine geschiedene Frau von einer in ihrer ganzen Tradition hochkonservativen, entschieden patriarchalischen Partei damals zur Parteivorsitzenden, bald dann auch zur Kanzlerkandidatin nominiert werden können? Kurzum: 1998, als Schröder und Fischer die politische Macht errangen, war das Flair dieser rot-grünen Alternativigkeit dann schon weitgehend verblasst. Jedenfalls war es nicht mehr das Lebensgefühl einer Avantgarde, verkörperte keinen radikalen Auf bruch zu neuen Ufern, sondern bildete nun den domestizierten, gleichsam entstachelten Mainstream in der – neuen – Mitte 25 | Vgl. Baring, Arnulf: »Die ›Wende‹: Rückblick und Ausblick«, in: Bleek, Wilhelm/Maull, Hanns (Hg.): Ein ganz normaler Staat? Perspektiven nach 40 Jahren Bundesrepublik, München/Zürich 1989, S. 103-116.

86 | Gelb oder Grün? der Gesellschaft. Eben diese kulturelle Diff usion weit in die Gesellschaft hinein war indes die Voraussetzung, dass sich eine Mehrheit der Deutschen den Machtwechsel traute, der mithin nur noch das politisch bilanzierte und rechtlich sanktionierte, was sich bereits sozialmoralisch im Lande vollzogen hatte. Danach blieb Rot-Grün ohne genuine politische Plattform und Perspektive. Dabei nahm der darauffolgende, zunächst kaum noch erwartete Wahlsieg von Roten und Grünen im September 2002 dem Machtwechsel von 1998 den Anstrich der Zufälligkeit, des historischen Ausnahmefalles. Und so kündigten einige Sozialdemokraten und Grüne im September/Oktober 2002 dann auch eine rot-grüne Epoche an, die sie begründen wollten, eine sozialökologisches Jahrzehnt, das die beiden Regierungsparteien zu prägen beanspruchten.26 Selbst der prosaische Bundeskanzler, der von historischen Übersteigerungen nicht sehr viel hielt und der sich auf langfristige Versprechungen ungern einließ, redete in diesen Wochen von einer strukturellen Mehrheitsfähigkeit der »demokratischen Linken« in Deutschland. Aber dann gelang es Sozialdemokraten und Grüne abermals nicht, ihr Tun auf den Begriff zu bringen, einsichtige Ziele damit zu verbinden, die einzelnen Schritte in einen plausiblen Begründungsbogen zu spannen. Sie konnten nicht das, was sie eigentlich wollten: eine Epoche schreiben, prägen, formen. Dabei hatten die Grünen regierungspolitisch von ihren Kernanliegen weit mehr durchsetzen können als der große Koalitionspartner, angefangen von der Besserstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften bis hin zur Reform des Staatsbürgerschaftsrecht.27 Dennoch: Das rot-grüne Kabinett hatte Ende 2002 zwar einen dicken Koalitionsvertrag, der aber ohne politische Phantasie und Kreativität, gleichsam administrativ zusammenkompiliert war. Ihm fehlte es an Charme, an Aura, an Zauber, vor allem: an politischer Perspektive.28 In dieses geistige Loch fiel dann die geballte Wut des wegen der überraschenden Wahlniederlage zutiefst frustrierten deutschen Bürgertums. Auch die Deutungseliten der Republik nahmen die anfängliche Steuererhöhungspolitik des zweiten Kabinetts Schröder-Fischer mit furioser Polemik unter Feuer. Und so sanken die kraft- und ziellosen rot-grünen Helden der kaum vergangenen Bundestagswahl wi26 | Vgl. Geis, Matthias/Ulrich, Bernd: »Die verspätete Generation«, in: Die Zeit, 28.5.2003.

27 | Vgl. Gaus, Bettina: »Die Blockierer«, in: die tageszeitung, 10.5.2002. 28 | Vgl. Conrad, Annett et al.: »Kanzler im Grauschleier«, in: Der Spiegel, 28.10.2002.

II. Die Grünen: Partei der angepassten Unangepassten | 87 derstandslos danieder. Aus der soeben noch optimistisch in Aussicht gestellten Epoche wurde eine klägliche Episode. Indes läuteten die rotgrünen Regenten rasch die nächste historische Reformperiode ein: das Zeitalter der Agenda 2010. Die Botschaft der neuen Agendapolitik stand im krassen Gegensatz zum Etatismus der Herbstmonate 2002, erst recht zu den Wahlversprechen des vorangegangenen Sommers, auch und vor allem zu allen wahlkämpferischen Losungen rot-grüner Aktivisten während all der langen Jahre in der Opposition unter Helmut Kohl. Reflexiv begründet wurde die jähe Kehrtwende nicht.29 Sie galt herrisch vom ersten Tag an kurz und knapp als »alternativlos«. Doch fehlte auch dem neuen Agendareformismus wie zuvor dem linken Etatismus der kohärente Rahmen, der sinnstiftende Wertekontext, gewissermaßen: die Vorstellung vom »gelobten Land« nach einer offenkundig notwendigen Strecke der Dürre, des Entbehrens, der Einschränkung.30 Das alles zusammen jedenfalls – die jähe Revision früherer, über Jahrzehnte gewachsener Basisidentitäten, das geistige Vakuum im Neuen, das autoritäre Dekret von oben – löste in der Kernklientel von Rot-Grün eine kräftige Erosion aus, die das Machtfundament von Rot-Grün weiter dezimierte. In der Tat: Die Regierungspolitik litt an dem erratischen Richtungswechsel seit 1998.31 Es waren nicht nur triviale handwerkliche Mängel, die zu Koordinationspannen in der Regierungspolitik führten. Es waren die Unsicherheiten in der normativen Begründung und der Zielorientierung, die die gouvernementalen Handlungen sprunghaft, widersprüchlich, inkonsistent aussehen ließen.32 Wahrscheinlich war es das alte Lied: Eine Bewegung, die ankommt, verliert ihre Dynamik, das anspornende Ziel und so: ihren ursprünglichen Charakter. Als die Grünen politisch anfingen, waren sie eine Partei der Habenichtse. 1983 waren die Grünen-Anhänger noch zu zwei Dritteln berufslos. Doch die meisten darunter hatten Abitur, studierten, verfügten über Mobilisierungserfahrung, waren artikulationsmächtig, 29 | Vgl. Glotz, Peter: »Vernachlässigtes Volk«, in: Rheinischer Merkur, 28.11.2002.

30 | Vgl. Egle, Christoph: »In der Regierung erstarrt? Die Entwicklung von Bündnis 90/Die Grünen von 2002 bis 2005«, in: ders./Zohlnhöfer, Reimut (Hg.): Ende des rot-grünen Projekts. Eine Bilanz der Regierung Schröder 2002-2005, Wiesbaden 2007, S. 98-123.

31 | Vgl. Hufnagel, Judith: »Aus dem Blickwinkel der Macht. Die Grünen in der Regierungsverantwortung 1998-2002«, München 2004.

32 | Vgl. Walter, Franz: »Zielloses Missvergnügen. Über das Elend deutscher Politik«, in: Internationale Politik 59 (2004), H. 5, S. 11-24.

88 | Gelb oder Grün? besaßen also die entscheidenden Ressourcen für einen späteren Aufstieg, der allerdings durch die Krise des Wohlfahrtsstaates zunächst im öffentlichen Sektor versperrt schien. Die Grünen waren in dieser Situation keineswegs nur eine idealistische Weltanschauungsgemeinschaft gutmenschelnder Postmaterialisten, sondern auch ein Vehikel, ja eine Pressure-Group für neue Berufsfelder, neue Elitepositionen, neue Karrierewege. Als Oppositionsbewegung einer blockierten Gegenelite traten die Grünen kraftvoll auf. Ihre Kritik an den bestehenden Verhältnissen, die ihnen die Emanzipation zunächst verweigerten, war messerscharf. Ihre Talente, gleichsam von Fischer bis Trittin, drangen mit harter Entschlossenheit nach vorn. Sie waren wuchtige Rhetoriker, oft verwegen, von bedenkenloser Wendigkeit, hatten immer unbeirrt das Ziel einer nicht zuletzt für sie selbst besseren Zukunft vor Augen. All das gab der Linken ihren spezifischen Elan und Eifer, gab ihr die Aura einer stürmischen und leidenschaftlichen Zukunftsbewegung. Aber im Laufe der 1990er Jahre kamen die Grünen genau dort an, wo sie hinwollten. Die grün-alternativen Studenten der frühen 1980er Jahre bekleideten inzwischen komfortable Positionen im öffentlichen Dienst, von den Gehaltsgruppen A 13 und BAT II an aufwärts. Fischer zog an die Spitze des Außenministeriums. Die früheren Habenichtse hatten es geschaff t.33 Rot-Grün bildete ein neues Establishment der deutschen Republik. In diesem Prozess geschah das, was man in der Geschichte der Menschen schon tausendfach hatte erleben können. Die Oppositionellen von ehedem wurden zu Verfechtern der lange attackierten Ordnung und herrschenden Philosophie.34 Denn unter den Bedingungen dieser Ordnung waren sie schließlich nach oben gerückt, hatten sie ihren Aufstieg realisiert. So konvertierten die früheren Verkünder einer neuen, ganz anderen gesellschaftlichen Zukunft zu Apologeten des Jetzt, zu Hohepriestern des Pragmatismus, zu Anwälten der vermeintlich alternativlosen »Wirklichkeit«. Die Angekommenen trennten sich von ihren überkommenen schwärmerischen Ideen, entledigten sich der kühnen Bilder aus dem Arsenal der alten Utopien; man mag sagen: sie wurden projekt- und zukunftslos. Und so war es auch das Ideenvakuum, das bei den herrschenden Rot33 | Vgl. Poguntke, Thomas: »Die Bündnisgrünen nach den Bundestagswahlen 2001. Auf dem Weg zur linken Fusionspartei?«, in: Niedermayer, Oskar (Hg.): Die Parteien nach der Bundestagswahl 2002, Opladen 2003, S. 87-107, hier: S. 91.

34 | Vgl. Volmer, Ludger: »Die Grünen. Von der Protestbewegung zur etablierten Partei – eine Bilanz«, München 2009.

II. Die Grünen: Partei der angepassten Unangepassten | 89 Grünen in ihren Regierungsjahren am stärksten ins Auge fiel. Ihre Begriffe, die sie stattdessen nun verwandten, waren ganz überwiegend vom Gegner geliehen. Den Angekommenen fehlen Spannung und Zukunft. Kraftvolle, vitalistische reformistische Projekte aber brauchen beides: die Spannung zwischen der Empirie und dem Wünschbaren, und die brennende Hoffnung auf eine Zukunft, die Möglichkeiten und Erweiterungen bietet, welche die Gegenwart nicht bereithält. Doch die angekommenen Rot-Grünen besaßen keine Vorstellung mehr von einer Gesellschaft, wie sie künftig sein soll, weil sie die Sehnsucht danach nicht mehr empfanden. Schließlich waren sie ihrer utopischen Vergangenheit entwachsen, wollten um nichts in der Welt mehr mit ihren idealistischen Kinderkrankheiten identifiziert werden. Zurück blieb folglich nur die Rhetorik der depressiven Alternativlosigkeitsagenda. Eine spezielle Ethik jedenfalls, die der rot-grünen Regierungsagenda Richtung und Begründung hätte geben können, war kaum mehr erkennbar.

A L S WÄRE DIE V ERGANGENHEIT NIE S YMBOLE UND S ENTIMENTALITÄTEN

VERGANGEN .

Für symbolischen Eigensinn, der das spirituelle Loch überdecken sollte, sorgte in dieser Zeit aber regelmäßig Jürgen Trittin, dann auch als Bundesminister im Kabinett Schröder.35 In Trittins Auftritt lebte die Erinnerung an das Ausgangselixier der Grünen auf, die rebellische, unangepasste Note. Gerade wenn die Grünen-Anhängerschaft sich an Zumutungen der von Joschka Fischer verlangten Staatspolitik störte, klammerte sie sich umso mehr an Symbole der Ursprünglichkeit und der grünen Provokation. Damit hielten Fischer und Trittin ihren schwierigen Verein zusammen. Führung und Integration im Inneren durch Polarisierung und Zuspitzung nach außen – so ließ sich die Methode Trittin-Fischer zumindest lange Zeit charakterisieren. Trittin war ein Spiegel der ambivalenten, oft nicht ganz ausgeglichenen Seelenlage der Grünen.36 Er war der Tempelhüter des grünen Grundsatzversprechens. Aber er war zugleich ein Paradebeispiel dafür, dass nichts so geblieben war, wie man es in der Ökopartei zunächst durchaus großspurig avisiert hatte. Am Anfang standen noch die Losungen: Basisdemokratie, Abgeordnetenrotation, kompromisslose Öffentlichkeit aller Vorgänge, in der Summe: eben die Nicht-Par35 | Vgl. Raschke: »Die Zukunft der Grünen«, S. 395ff. 36 | Vgl. Walter: »Charismatiker«, S. 333-338.

90 | Gelb oder Grün? teien-Partei. Mit Trittin und seiner Karriere hatten solche Prinzipien nichts zu tun. Er stand weder für den vitalisierenden Wechsel der politischen Eliten noch für die radikale Transparenz von Entscheidungsprozessen und erst recht nicht für die Idee der Nicht-Parteien-Partei. Trittin war Parteipolitiker durch und durch.37 Gleichviel, insgesamt profitierten die Grünen bei der Regierungsübernahme 1998 zwar von der Demobilisierung ihrer früheren Kernmilieus. Doch verloren die Grünen zugleich durch die Passivität und Schwunglosigkeit ihrer einstigen Multiplikatoren an Ausstrahlung. Die Partei wirkte allmählich langweilig, farblos, integriert und etabliert. Das aber missfiel gerade den Wählern der Grünen, auch wenn sie mittlerweile selbst ruhige und gesetzte Zeitgenossen geworden waren, politisch ebenfalls zu bequem geworden waren, um noch an Demonstrationen teilzunehmen. Die grünen Wähler waren seit den 1990er Jahren weniger partizipatorisch, wurden dafür zu gleichsam hybriden Konsumenten der Politik. Sie verlangten nach Exklusivität und strebten nach Distinktion. Deshalb hatten sie mit den nivellierenden Volksparteien nichts am Hut. Gerade von den Grünen erwarteten sie einen Schuss – aber nie zu viel – Unkonventionalität: Ihre präferierte Partei sollte den eigenen neuen pragmatischen Realismus widerspiegeln, aber doch nicht ganz auf jede Transzendenz der früheren Jugendzeit verzichten. Ihre Partei musste professionell sein, durfte aber nicht vollständig des Charmes der Basisdemokratie entbehren. Ihre Partei sollte auf enervierende Flügelauseinandersetzungen verzichten, gleichwohl durch eine offene Diskurskultur die anderen Parteien ausstechen. Und so weiter. Das arrivierte postmaterialistische Bürgertum wünschte sich einen kulturell reizvollen nonkonformistischen Realismus oder besser noch: einen realistischen Nonkonformismus. Dafür brauchten und brauchen die Grünen nun einmal Claudia Roth. Sie wirkt nach außen nicht wie eine routinisierte Berufspolitikerin – die sie selbstredend ist –, sondern als eine unverfälscht gebliebene, vitale Repräsentantin der guten alten »Neuen Sozialen Bewegungen«. Claudia Roth vermochte jedes Mal so aufzutreten, als sei die Vergangenheit nie vergangen, sondern bei den Grünen höchst lebendig erhalten geblieben.38 Sie präsentierte sich als autorisierte Erzählerin der überlieferten Geschichten aus rebellischen Zeiten. Wenn Roth am Mikrofon stand, dann hat man sogleich die Bilder grüner Ursprünglichkeit, die Versammlungen der späten 1970er und frühen 37 | Vgl. Klein, Markus/Falter, Jürgen W.: »Der lange Weg der Grünen«, München 2003, S. 109.

38 | Vgl. Walter: »Charismatiker«, S. 348-352.

II. Die Grünen: Partei der angepassten Unangepassten | 91 1980er Jahre vor Augen. So hatten seinerzeit die meisten Aktivisten das Wort ergriffen: erregt, mit zitternder, vibrierender Stimme, hastig redend, auch laut, aber ehrlich – »authentisch«, wie Claudia Roth für sich gewiss reklamieren würde.39 Je mehr sich die Grünen von ihren Anfängen entfernten, je stärker sie »Kröten schlucken«, »Realitäten akzeptieren« mussten, desto massiver wuchs der Bedarf bei den Anhängern, zumindest an den Sonn- und Feiertagen die alten Lieder zu hören und mitzusingen, vom Gefühl getragen zu werden, sich bei allen Veränderungen im Kern doch treu geblieben zu sein. Niemand vermochte dieses Bedürfnis so kongenial zu befriedigen wie Claudia Roth. Und eben daher stand und steht sie weiterhin an der Spitze der Partei.

N EUE B ÜRGERLICHKEIT Und so ging es den Grünen in den letzten Jahren gar nicht schlecht. In Zeiten der Finanzkrise und Rezession war und ist zwar der mediale Bedarf nach O-Tönen von prominenten Öko-Politikern gering. Dennoch kam die grüne Partei bei den Umfrageinstituten, die ihre Interviewer die Sonntagsfrage stellen lassen, überwiegend auf Werte ordentlich über 10 Prozent. Auf der Länderebene lagen die Grünen in Baden-Württemberg, Berlin und Bremen demoskopisch oft gar bei rund 17 Prozent und mehr der repräsentativ befragten Wähler. Auch die Zeit der kompletten Machtlosigkeit im Bund und in den Ländern nach dem Ende von Rot-Grün zum Ausgang des Jahres 2005 ging vorüber, da man in den beiden Stadtstaaten Hamburg und Bremen Senatoren stellte – hier im Bündnis mit den Sozialdemokraten, dort in der Koalition mit der CDU, was, dann angereichert durch die JamaikaAllianz an der Saar, trefflich die koalitionsbildenden Potenziale nach beiden Seiten des Parteienspektrums hin anzeigte. Im Osten der Republik, den man lange als steinigen Acker für die Politik wohlsaturierter Postmaterialisten betrachtete, kam die grüne Partei bei den letzten beiden Bundestagswahlen ebenfalls über 5 Prozent, 2009 selbst in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern. Bei den Ostdeutschen, die älter als 45 Jahre sind, gelang es ihr zwar konstant nicht, das Quorum zu übersteigen, aber bei den nachfolgenden Jahrgängen verfügt die Umweltpartei über eine ausreichend große Anhängerschaft, die es ihr auch in Zukunft ermöglichen dürfte, 39 | Vgl. Klüver, Reymer: »Nachhaltig beseelt«, in: Süddeutsche Zeitung, 29.9.2004.

92 | Gelb oder Grün? die parlamentarische Existenz zu festigen. Anfang der 1990er Jahre war mit einer solchen Aussicht noch keineswegs zu rechnen. Gesamtdeutsch steht jetzt final fest, dass die anfängliche Charakterisierung der Grünen als eine »Generationspartei« des alternativ-ökologischen Protests der späten 1970er/frühen 1980er Jahre die Parteirealität verfehlt hat.40 Auch bei den Jungwählern des Bundestagswahljahres 2009 schnitt die Partei von Künast und Trittin mit 15 Prozent überproportional gut ab, obwohl die Zugehörigen dieser Erstwählergruppe das Licht der Welt erst erblickt hatten, als die Protestmärsche gegen Atomkraftwerke und Mittelstreckenraketen längst bereits verebbt waren. Die Formel von der »Generationspartei« triff t bestenfalls negativ zu. In der Generation derjenigen, die vor 1945 geboren wurden, hat die Öko-Partei in der Tat niemals eine für den Einzug in das Parlament ausreichende Zustimmung von über 5 Prozent erhalten. Es ist zu vermuten, dass das so bleiben wird, was die Grünen aber nicht beunruhigen muss, da sie bei den für die mittlere Zukunft wichtigeren 18- bis 59-jährigen Bürgern stabil über 10 Prozent Wähler verfügt. Im Westen Deutschlands schneiden die Grünen, seit vielen Jahren bereits, am besten bei den 1960er Geburtsjahrgängen ab, im Osten bei den 1970er Geburtskohorten. Auff ällig ist eine eklatante Geschlechterdifferenz in der Gruppe der Jungwähler, da dort die Grünen im femininen Teil um einiges besser dastehen als bei den gleichaltrigen männlichen Pendants. Die Grünen, bis 1990 bei Wahlen noch eine männerdominierte Partei, haben sich folglich deutlich gemausert. Und sie sind erheblich bürgerlicher geworden. Bei den letzten Bundestags- und Landtagswahlen verzeichnete die Partei Zuwächse von der Union bei gleichzeitig teilweise großen Verlusten an die Linke. Auch die Soziologie der Wählerschaft zielt eindeutig in diese Richtung. Bei den Bundestagswahlen 1987 war die grüne Partei in der Gruppe der Selbstständigen auf nicht einmal 1 Prozent gekommen; seit 2002 aber bilden die Selbstständigen – hinter der Beamtenschaft, wo die Grünen bei den Bundestagswahlen 2009 18 Prozent erhielten – die zweitstärkste Gruppe im Grünen-Elektorat; Werte über 12 Prozent sind dort mittlerweile ganz selbstverständlich; 2009 waren es im Bund 14 Prozent. Auch der allein laienhaft kulturell-ethnologische Blick auf den Habitus der Basisvertreter bei den Bundesdelegiertenkonferenzen unterstreicht das. Der Kleiderlook ist »légèr-intellektuell«, die Sakkos der meisten keineswegs billig. Etliche Delegierte haben einen Laptop vor sich auf dem Tisch stehen, was auf Parteitagen von Union oder SPD 40 | Vgl. Klein/Falter: »Der lange Weg der Grünen«, S. 158.

II. Die Grünen: Partei der angepassten Unangepassten | 93 durchaus nicht im gleichen Maße zu beobachten ist. In der »Cateringund Servicehalle« auf dem Parteitagsareal breiten sich Pharma- und andere Wirtschaftsunternehmen aus. Man reicht neben Werbematerial kostenlose Kekse und Kaffee; die Delegierten lassen sich in der Regel nicht lange bitten, greifen beherzt zu. Das alles ist gewiss nicht einer empörten Rede wert, aber noch in den 1990er Jahren wäre dergleichen als schlimmer Verstoß gegen heilige Prinzipien des Antikapitalismus und der ökologischen Demokratie wütend gebrandmarkt worden. Doch muss man zugeben, dass es auf einigen Landesdelegiertenkonferenzen immer noch sehr prinzipienfest zugeht; so herrscht bei den niedersächsischen Grünen eisern die per Parteitagsbeschluss bindende Maxime »fleischlos glücklich«, weshalb allein vegetarische Kost aus ökologischem Anbau gegen Entgelt ausgegeben wird. Schon in der ersten Hälfte der 1990er Jahre hatte Elisabeth Noelle-Neumann den Einpassungsprozess der Grünen in die Gesellschaft prognostiziert und an Wandlungen in Einstellungsfragen plausibel zu machen versucht. Die frühere Leiterin des Instituts für Demoskopie in Allensbach sollte recht behalten. Die grünen Bevölkerungskreise sind nunmehr in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Mehr noch: Sie sind die Besserverdienenden und Hochgebildeten in der deutschen Republik schlechthin, dabei überwiegend – weil in leitenden Stellen des öffentlichen Dienstes beschäftigt – fest abgesichert. In einer Erhebung, welche die rot-grüne Regierung im Depressionsjahr 2004 in Auftrag gegeben hatte, äußerten sich allein die Postmaterialisten höchst zufrieden mit der Politik des Bundeskabinetts (Studie von Infratest dimap in Zusammenarbeit mit Sinus Sociovision vom 6. bis 24.10.2004). In diesem Milieu fiel die Zustimmung zur Agenda 2010 und damit zu den gewiss nicht sonderlich libertären Hartz-IV-Gesetzen am höchsten aus. Allein die Anhänger der Grünen waren zu über 90 Prozent mit der Leistung der eigenen Partei in diesen tristen Jahren der Republik einverstanden. Im Rest der Gesellschaft wuchs seinerzeit die Missstimmung, grassierten Sorgen, zirkulierten Ängste – einzig die gut situierten Lebenswelten der Grünen, die ein Vierteljahrhundert zuvor aus Protest und Unmut gegen die sozialen, ökonomischen und politischen Entwicklungen überhaupt erst entstanden waren, lebten nun in saturierter Eintracht mit den Herrschenden. Und man genoss das Leben. Die Lebensstilanalysen des Heidelberger Sinus-Instituts der letzten Jahre dokumentieren präzise, dass nur die postmaterialistischen Lebenskreise in Deutschland von den Krisengefühlen nach 2001 nicht elementar affi ziert wurden (Sinus Sociovision, Aktuelle Veränderungen Sinus-Milieus 2006, S. 5). Man setzte ungerührt die genussorientierte, toskanische, edle und distinkte Lebens-

94 | Gelb oder Grün? weise fort. Der Kern der grünen Anhängerschaft hatte privilegierte Positionen erreicht und goutierte sie jetzt. Das Rebellionsmilieu von 1983, als noch zwei Drittel der Grünen-Wähler ohne Erwerb waren, hatte sich im nachfolgenden Vierteljahrzehnt zum Elitenmilieu gewandelt und ist nun zum Statusmilieu des avancierten Bildungsbürgertums der 1950er und 1960er Geburtsjahrgänge geworden. Für das Marketing exklusiver und teurer Konsumwaren bildet es inzwischen ein bevorzugtes Marktsegment, dem man die Bezeichnung LOHAS (»Lifestyle of Health and Sustainability«) zueignet. LOHAS gelten als eine kulturell klimabildende Trendsettergruppe; sie praktizieren einen ökologischen und nachhaltigen Konsumstil, wollen dabei aber nicht asketisch sein, sondern Genuss erleben.41 Gesundheit und Natur sind ihnen wichtig, aber moderne Technik ist ihnen nicht suspekt. Lifestyle und Rettung des Planeten versuchen sie für sich in Harmonie zu bringen. Die neugrünen LOHAS eines »subtilen Urbansnobismus« 42 legen dabei hohen Wert auf Abstand gegenüber den Lebensgewohnheiten der Unterschichten; man ist »Connaisseur«, achtet sorgsam darauf, »entre nous« zu bleiben. Schließlich ist keine Partei in ihrer Wählerschaft so eindeutig durch die Dominanz der formal Hochgebildeten geprägt wie die grüne; würden allein Menschen mit Hauptschulabschluss (oder ohne jeden Abschluss) wählen, dann hätten die Grünen schlechte Chancen, die Fünf-Prozent-Hürde sicher zu nehmen. Gewiss bezeichnend ist, dass gerade Sympathisanten der Grünen und des Postmaterialismus am wenigsten der Auffassung zustimmen können, dass das gesellschaftliche Fortkommen in erster Linie von Herkunft und Besitz abhängt. Arbeiter und Arbeitslose, auch traditionsverwurzelte Kleinbürger stimmen dieser Interpretation mit großer Mehrheit zu; in der Anhängerschaft der Grünen sieht es gut die Hälfte anders.

41 | Vgl. Ray, Paul H./Anderson, Sherry Ruth: »The Cultural Creatives. How 50 million people are changing the world«, New York 2000; Kirig, Anja/Rauch, Christian/Wenzel, Eike: »Zielgruppe LOHAS. Wie der grüne Lifestyle die Märkte erobert«, Kelkheim 2007; Geden, Oliver: »Strategischer Konsum statt nachhaltiger Politik? Ohnmacht und Überschätzung des ›klimabewussten‹ Verbrauchers«, in: Transit – Europäische Revue, H. 36 (Winter 2008/2009), S. 132-141.

42 | Dorfer, Alfred: »Können müssen«, in: Süddeutsche Zeitung, 8.12.2008.

II. Die Grünen: Partei der angepassten Unangepassten | 95

S CHWAR Z -G RÜN ? Insofern wirken politische Bündnisse aus Alt- und Neubürgertum nicht mehr wie Mesalliancen. Lange war das anders. Als die Grünen 1983 in den Bundestag einrückten, da sinnierte man in der Spitze der CDU/CSU sogleich über die Möglichkeit, die Öko-Partei zu verbieten, sie zumindest als potenzielle Feinde der freiheitlich-demokratischen Grundordnung vom Verfassungsschutz streng beobachten zu lassen. So also fing es zunächst nicht gut an, mit Schwarz und Grün. Die erste prominente Figur, die sich die Dinge auch anders vorstellen konnte, war 1984 der grüne Landtagsabgeordnete in Baden-Württemberg Rezzo Schlauch. Er hielt, wie er seinerzeit überraschend kundtat, ein politisches Miteinander von Grünen und Union für prinzipiell denkbar. Bezeichnenderweise kam auch der erste CDU-Ministerpräsident, der die Kontaktsperre gegenüber den Postmaterialisten auf hob, aus diesem Bundesland. Lothar Späth, damals noch Regierungschef im Ländle, gestand 1988 fröhlich ein, dass die Grünen »die Interessantesten für mich sind«.43 Doch mussten noch zwei Jahrzehnte ins Land gehen. Natürlich dürfen Politiker die koalitionspolitischen Wendigkeiten nie zu hurtig betreiben. Das Publikum schätzt es mehrheitlich nicht, wenn vorwiegend taktische Motive die politischen Allianzen schmieden. Und deshalb müssen auch die harten und kühlen Strategen des Partnerwechsels hin und wieder, dabei ganz contrecœur, mit »Werten«, »gemeinsamen Grundüberzeugungen«, »programmatischen Annäherungen« operieren. Eben so lief das von Anfang an auch in allen schwarz-grünen Debatten. Immer wieder war von den Protagonisten einer Kooperation von christlicher Union mit der ökologischen Partei, von den wertkonservativen Schnittstellen zwischen den beiden Lagern die Rede.44 Grünen gehe es ebenso wie Christdemokraten um die Bewahrung der Schöpfung, um Subsidiarität, um Dezentralität, um die Selbstverantwortung des Individuums, um solide Finanzen, eine intakte Heimat, gesunde Umwelt.45 Die SPD dagegen sei vielmehr auf das Kollektiv fi xiert, auf Staat und Bürokratie, auf hybride Eingriffe in die Autonomie und Eigenverantwortlichkeit des einzelnen Men-

43 | O.A.: »Worte der Woche«, in: Die Zeit, 11.3.1988. 44 | Vgl. Leggewie, Claus: »Politik statt Projekt«, in: die tageszeitung, 26.2.2008.

45 | Vgl. Schwägerl, Christian: »Schwarz-Grün gibt es schon längst: in der Biopolitik«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.10.2002.

96 | Gelb oder Grün? schen.46 Diesen Refrain sangen seit Jahren die intellektuellen Stichwortgeber des Schwarz-Grünen.47 Doch eine veritable Schubkraft für reale schwarz-grüne Bündnisse löste der Kanon von erhabenen Grundwerten, Philosophien und Bürgerlichkeitswerten bislang noch nie aus. Der Ausgangsort für schwarzgrüne Annäherungen lag in den letzten eineinhalb Jahren regelmäßig woanders. Auf der einen Seite traten Grüne und CDU überall dort miteinander in Kontakt, wo der Generationenkampf und der Ideologiekonflikt der 1960er und 1970er Jahre nicht ganz so rigide ausgetragen wurden, wo also ein schneidiges deutschnationales Bürgertum ebenso fehlte wie eine militant neomarxistische Jugendsubkultur. Man kann auch sagen: Grüne und Christdemokraten hatten es dort sehr viel leichter miteinander, wo die gemeinsame bürgerliche Lebens- und Erfahrungswelt nicht kulturkämpferisch rigoros zerschnitten war. Ein starker Motor für eine schwarz-grüne Zusammenkunft war auf der anderen Seite besonders in den 1990er Jahren eine über die Jahrzehnte verfestigte Dominanz der SPD in traditionellen Kernlandschaften der altindustriellen Arbeitswelt. In Zechengebieten mit einer starken IG Bergbau und einer monopolartigen kommunalen Hegemonie sozialdemokratischer Stadtregenten wurden Grüne und Christdemokraten durch eine gemeinsame Leidens- und Demutszeit vielfach zusammengeschweißt. »Die SPD hat uns nicht mit dem Arsch angeguckt«, wurde Mitte der 1990er Jahre oft von nordrhein-westfälischen Grünen geklagt.48 Als die vielerorts verfi lzte und in Arroganz erstarrte SPD bei Kommunalwahlen bald darauf in einigen nordrhein-westfälischen Kommunen ihre Mehrheit verlor, traten schwarz-grüne Bündnisse ziemlich problemlos an ihre Stelle. Auch die rot-grüne Landesregierung in Nordrhein-Westfalen seit 1995 war nicht das, was man ein faszinierendes Modell zu nennen pflegt. Doch weichenstellend war die Koalitionsbildung in Düsseldorf schon – wie bereits in früheren und nachfolgenden Fällen. Schließlich ging dem sozialliberalen Koalitionswechsel 1969 drei Jahre zuvor die Bildung der SPD/FDP-Regierung in Düsseldorf voraus.49 Als 1995 So46 | Vgl. Schöppner, Klaus-Peter: »Schwarz-Grün ist die Zukunft«, in: Cicero. Magazin für politische Kultur 7 (2009), S. 55.

47 | Vgl. Herzinger, Richard: »Schwarz-Grün ist die Haselmaus«, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 50 (2003), H. 4, S. 48-51.

48 | Vgl. Sabersky, Annette: »Nur ein Seitensprung«, in: Öko-Test 2 (1996), S. 10-14, hier: S. 10.

49 | Vgl. Rudolph, Karsten: »Düsseldorf und die Bonner Optionen der SPD«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 43 (1998), H. 2, S. 140-145.

II. Die Grünen: Partei der angepassten Unangepassten | 97 zialdemokraten und Grüne in Nordrhein-Westfalen die Landesregierung bildeten, da antizipierten sie damit den Machtwechsel ebenfalls drei Jahre später in Bonn. Und die verheerende Niederlage der SPD im Mai 2005 führte zu Neuwahlen, die wiederum die rot-grüne Ära im Bund beendeten. Doch schon zuvor knirschte es im Gebälk der Düsseldorfer rotgrünen Allianz. Die rot-grüne Landesregierung dort war wichtig für den Bund, aber sie war nie ein glanzvolles, inspirierendes, dynamisches Projekt. Im Grunde taugte dafür schon der Anfang nicht. RotGrün startete in Düsseldorf nicht, wie drei Jahre später in Bonn, als einträchtige Allianz, aus einer vorangegangenen gemeinsamen Opposition heraus, mit immerhin einigen verbindenden Leitvorstellungen und mit einem drängenden, zunächst noch durchaus kraftvollen, unverbrauchten politischen Personal. Rot-Grün kam 1995 in NordrheinWestfalen vielmehr zusammen, weil die Sozialdemokraten nach den Landtagswahlen die Macht nicht mehr hatten halten können.50 Zuvor stellte die SPD schon fast 30 Jahre die Regierung, davon 15 Jahre allein, ohne jeden Partner, auf der Basis eben von absoluten Mehrheiten, die ihnen der weithin beliebte Landesherr Johannes Rau bis dahin verlässlich zuzuführen vermochte. Der Verlust der absoluten Mehrheit war für die Sozialdemokraten ein Schock. Dass sie ausgerechnet mit den bis dahin eher verhöhnten Grünen eine Koalition bilden mussten, empfanden sie nachgerade als demütigend. Insofern war die Konstellation des Beginns denkbar ungünstig. Die Sozialdemokraten waren es nicht gewohnt, die Macht zu teilen. Ihre altindustriellen Kader taten sich mit den jungen postmaterialistisch-akademischen Ökologen schon kulturell und habituell äußerst schwer. Dazu dominierten bei den Grünen gerade zwischen Rhein und Ruhr anfangs noch die fundamentalistisch gesinnten Gruppierungen. Die entscheidende Klammer, der Kitt für das rot-grüne Bündnis in Düsseldorf war – und blieb fortan – allein die Machtorientierung im Bund. Zunächst sollte Rot-Grün in NordrheinWestfalen die Macht von Helmut Kohl brechen; dann – nach 1998 – hatte der Erhalt der rot-grünen Regierung in Nordrhein-Westfalen die Regierung Schröder zu sichern und zu stabilisieren. Ohne diesen Mörtel der bundespolitischen Macht wäre die rot-grüne Koalition in Düsseldorf möglicherweise endogen längst früher als erst 2005 auseinandergefallen und gescheitert. Jedenfalls kann man die Historie von Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen als eine unendliche und freudlose Geschichte chronischer Krisen und Zerwürfnisse lesen – vom Disput über den Braunkohletagebau Garzweiler bis zu den 50 | Vgl. Krupa, Matthias: »Der Roten-Schreck«, in: Die Zeit, 3.7.2003.

98 | Gelb oder Grün? Querelen über die Magnetschwebebahn Metrorapid. Das Muster des Konflikts war immer gleich: Die Sozialdemokraten versuchten die Grünen als Verhinderer und Blockierer einer ökonomisch vernünftigen Industriepolitik anzuprangern.51 Die Grünen wiederum brandmarkten ihre Koalitionsfreunde als Betonköpfe und Subventionsdogmatiker auslaufender Strukturen. Dergleichen Invektiven dienten auch und nicht zuletzt dazu, um die jeweiligen Skeptiker in den eigenen Reihen – die linksökologischen Fundamentalisten hier, die Veteranen der IG Bergbau dort – ruhig zu stellen. Überdies spielte Wolfgang Clement, in seiner Zeit als Ministerpräsident des Landes, gerne die FDP-Karte, zeigte sich mit Jürgen W. Möllemann demonstrativ einvernehmlich in der Öffentlichkeit, drohte in schöner Regelmäßigkeit mit einem Koalitionswechsel. Sein Nachfolger Peer Steinbrück hielt es zunächst nicht anders und brach im Mai/Juni 2003 eine medial schrill verstärkte Koalitionskrise vom Zaun, der jedes Ziel und klug durchdachtes Ende fehlte. Populär jedenfalls wurde Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen dadurch nicht. Die Koalition galt den Bürgern dort als anstrengende, leicht hysterische Veranstaltung, in der pausenlos und oft nicht recht nachvollziehbar gestritten und gezankt wurde. »Es ist ein Bündnis der Lustlosen«, kommentierte seinerzeit Kurt Kister in der Süddeutschen Zeitung, »denen der gegenseitige Überdruss in die Mienen geschrieben steht.«52 Gewiss: Man kann Regierungskoalitionen historisch zu sehr überhöhen. Das produziert zumeist Enttäuschungen. Man kann aber den nüchternen Zweckcharakter von Koalitionen auch zu sehr übertreiben. In der Regel fehlt dann einer solchen politischen Allianz der Fluchtpunkt, der das Tun orientiert, das normative Ethos, das Energien und Elan freizusetzen vermag. Eben darunter litt die Koalition in Nordrhein-Westfalen. Die Hauptakteure von Rot-Grün in Düsseldorf jedenfalls wollten von einem gemeinsamen Projekt nichts wissen. Sie weigerten sich sogar, auch nur von einem Bündnis zu sprechen. Sie sahen sich ganz profan nur als zwei Parteien in einer Koalition. Doch selbst dann hätte man von einem erfahrenen Koalitionspolitiker wie etwa Helmut Kohl lernen können, wie die Partner dort schonungsvoll miteinander umgehen sollten, um zu dauerhaften Erfolgen zu kommen.53 Kohl hatte mit den Freien Demokraten immer nach Ge51 | Vgl. Geis, Matthias: »Ohne Perspektive«, in: Die Zeit, 31.5.2000. 52 | Kister, Kurt: »Bündnis der Lustlosen«, in: Süddeutsche Zeitung, 8.6.2000.

53 | Vgl. Hilgers, Micha: »Szenen einer Ehe«, in: die tageszeitung, 27.5.2000.

II. Die Grünen: Partei der angepassten Unangepassten | 99 meinsamkeiten gesucht, die er herausstellte; er achtete auf eine Vertrauensbasis, die auch in Krisen hielt; er hütete sich, dem Koalitionspartner einen Gesichtsverlust zu bereiten. Die sozialdemokratischen Ministerpräsidenten in Nordrhein-Westfalen dagegen liebten es, ihren grünen Koalitionspartner vorzuführen, ihn zu demütigen – wenn es nur irgendwie ging: politisch zu unterwerfen. Gewiss auch damit hing zusammen, dass in den Gemeinden Nordrhein-Westfalens mit der Zeit mehr schwarz-grüne als rot-grüne Koalitionen zusammenkamen.54 »Und die überraschende Erfahrung«, so das Resümee von Peter Dausend in der Zeit, »dort, wo es schwarzgrüne Bündnisse schon reichlich gibt, in den Kommunen, präsentieren sie sich atmosphärisch oft entspannter als hergebrachte rot-grüne. Auf Augenhöhe begegne man sich da, heißt es, respektvoller gingen Christdemokraten mit den Grünen um als Sozialdemokraten.«55 Für die Bundesebene hat Heribert Prantl Ähnliches konstatiert: »SchwarzGrün – das ist die Rache für die Herablassung, mit der die Grünen von der SPD in der Koalition des Kanzlers Gerhard Schröder behandelt worden sind. Schröder hat sie oft wie Domestiken traktiert; die Union hofiert sie.«56 Nun wird eine solche Quelle schwarz-grüner Zusammenführung gewiss demnächst versiegen. Die altindustrielle Montangesellschaft ist schließlich untergegangen. Dominante Mehrheiten und die autokratische Arroganz der Macht – das ist es derzeit nicht, was den Sozialdemokraten noch gelingen könnte, was sodann die Grünen abschrecken und in die Arme der Christdemokratie treiben mag. Wichtiger geworden ist dagegen die Gemeinsamkeit der bürgerlichen Lebenswelt. Die hochemotionalisierten innerbürgerlichen Auseinandersetzungen der 1970er Jahre, welche die Generationen innerhalb der bundesdeutschen Elite seit den Dutschke-Jahren gespalten hatten, sind weitgehend beigelegt. Seinerzeit lagen die Generationen in den besseren Wohnquartieren zwischen Grunewald und Blankenese konfrontativ über Kreuz. Die Angehörigen der disparaten bürgerlichen Kohorten beschimpften einander, gingen unversöhnlich auseinander und kämpften dann in feindlichen Lagern gegeneinander. Inzwischen aber ist dieser innerbürgerliche Kultur- und Familienkonflikt längst 54 | Vgl. Ober, Katharina: »Schwarz-grüne Koalitionen in nordrhein-westfälischen Kommunen. Erfahrungen und Perspektiven«, Baden-Baden 2008; Grönebaum, Stefan: »Der konkrete Charme von Schwarz-Grün«, in: Berliner Republik 8 (2006), H. 6, S. 9-12.

55 | Dausend, Peter: »Die neueste Mitte«, in: Die Zeit, 22.10.2009. 56 | Prantl, Heribert: »Schwarz-Grün ist die Rache«, in: Süddeutsche Zeitung, 18.4.2008.

100 | Gelb oder Grün? ad acta gelegt. In vielen bürgerlichen Familien mögen die Großeltern und in Teilen die Eltern die CDU oder FDP präferieren, die jungen oder auch mittelalten Erwachsenen mit den Grünen sympathisieren. Aber sie streiten nicht mehr antagonistisch darüber. Die Eltern begreifen die ökologischen Probleme der Klimaveränderung; die Kinder interessieren sich auch für den Dax und sind bei internationalen Fußballturnieren fröhliche Akteure fähnchenschwenkender Deutschlandbegeisterung. Im Bürgertum gibt es mittlerweile mehr gemeinsame Lebensbereiche, Habitusformen, Lebensstile zwischen Grün und Schwarz-Gelb als grüne Erfahrungsbrücken zur Alltagswelt der früheren sozialdemokratischen Kernwählerschaft und heutigen Protestwählerschaft der Linkspartei in den Arbeiter- und Arbeitslosenquartieren bundesdeutscher Großstädte. Rot-Grün war eine Kohortenprägung von SPD- und Grünen-Funktionären aus der Demonstrationskultur der frühen achtziger Jahre. Aber unterhalb dieser Generation und Schicht ist wenig nachgewachsen, was sozial, ökonomisch und habituell unbedingt zusammengehören müsste. Und schließlich: Die unversöhnlich antisozialistischen Frontmänner der alten CDU sind nicht mehr da.57 Bei den Grünen sind aus Studenten der Soziologie, Latzhosenträgern, Bauplatzbesetzern und Häuserkämpfern nunmehr mittelalte Studiendirektoren und Eltern von pubertierenden Kindern geworden, überdies Liebhaber edler Brunellos und teurer Fernreisen – honorige Bildungsbürger mithin, die während der abendlichen Entspannungsstunden auf der Ledercouchgarnitur die Stones und Neil Young ebenso hören wie Górecki und Schubert. Insofern aber unterscheiden sie sich alltagskulturell von gleichaltrigen Christdemokraten kaum noch. Im bürgerlichen Habitus sind sie sich einander vielleicht sogar ähnlicher als Grüne und Sozialdemokraten, da letztere die Stilunsicherheit sozialer Aufsteiger vielfach nicht ablegen können, oft zu derb, zu nassforsch, zu parvenuhaft auftreten. So jedenfalls wird es gerne ein wenig überheblich und naserümpfend von jüngeren Abgeordneten der Grünen souffl iert, denen der Umgang mit der anderen Seite mittlerweile oft leichter fällt. Denn: »Das Großbürgertum ist angenehm wenig borniert.«58 Es gehe höflicher, verlässlicher und sachlicher zu als in der Zusammenarbeit mit Gewerkschaftern und Sozialdemokraten. Und der grüne Oberbürgermeister von Tübingen, Boris Palmer, reklamierte unlängst: »Ich will den Begriff 57 | Vgl. Schütte, Christian: »Die Entdeckung der Ähnlichkeiten«, in: Financial Times Deutschland, 23.12.2003.

58 | Zit. nach: Haarhoff, Heike: »Vieles spricht dafür«, in: die tageszeitung, 15.12.2007.

II. Die Grünen: Partei der angepassten Unangepassten | 101 bürgerlich zurück.«59 Für den stellvertretenden Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung, Kurt Kister, sind die Grünen daher mittlerweile eine Art »FDP mit mitmenschlichen Antlitz«60. Zumindest kann man unterdessen auch in Wertefragen interessante Koinzidenzen zwischen Alt- und Neubürgern wahrnehmen. Studien etwa der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung ergaben, dass Anhänger der Grünen Moral- und Ethikgebote wichtiger nehmen als die der FDP.61 Auch Grüne haben mittlerweile überwiegend ein positives Kirchenbild. Und jeweils zwei Drittel der Sympathisanten von Union und Grünen unterschreiben die Aussage, dass Gott in jedem menschlichen Leben wirksam und erfahrbar ist. In den Wählerlagern der anderen Parteien sind die Distanzen zur Religiosität weit größer.62 Die große Mehrheit der grünen Mitglieder des Jahres 2010 ist nicht in den wilden 1980er Jahren, nicht zu den Zeiten fundamentaloppositioneller Allüren zur Partei gestoßen, sondern erst danach. Jetzt gehört man zum neuen Establishment der Republik. Seit Jahren zeigen etliche Erhebungen, dass die postmaterialistischen Menschen der Republik im Grunde vollauf zufrieden sind mit den Verhältnissen, mit ihren eigenen gegenwärtigen Lebensumständen, den weiten Zukunftsaussichten für sie selbst.63 Das ist ja auch ganz verständlich. Das Einkommen ist ordentlich und nicht selten besser. Die ausgeübten Berufe sind meist interessant und auch selbstbestimmt. Der durchschnittliche grüne Anhänger hat wenig Grund zu klagen. Und er tut es auch nicht mehr. Blickt er zurück, distanziert er sich ein wenig ironisch von den radikalen Flausen der 1980er Jahre, von den eigenen Flegeljahren des fundamentalistischen Protests. Aber er möchte das von anderen, gar Nachgeborenen keineswegs denunziert wissen. Damals, so pflegt er (oder natürlich auch und erst recht sie) dann trotzig 59 | Zit. nach: Gillmann, Barbara: »Die Ober-Bürgermeister«, in: Handelsblatt, 30.6.2009.

60 | Kister, Kurt: »Die Grünen als Milieu-FDP«, in: Süddeutsche Zeitung, 1.9.2009.

61 | Vgl. Meetschen, Stefan: »Die Union und das ›C‹«, in: Die Tagespost, 17.5.2003.

62 | Vgl. Koecke, Johannes Christian/Sachs, Matthias: »Religion – Politik – Gesellschaft. Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage«, Arbeitspapier/ Dokumentation Nr. 110 der Konrad-Adenauer-Stiftung, Sankt Augustin 2003, S. 29, online verfügbar unter www.kas.de/wf/doc/kas_1859-544-1-30.pdf?0404 15180324 [Stand: 16.2.2010].

63 | Vgl. Walter, Franz: »Baustelle Deutschland. Politik ohne Lagerbindung«, Frankfurt a.M. 2008, S. 20f.

102 | Gelb oder Grün? zu sagen, habe man wenigstens noch Ziele verfolgt, Ideale besessen, für eine Vision gekämpft. Jetzt aber – man geht schließlich auf die 50 und weiter zu –, im fortgeschrittenen Alter, mit allerlei Zipperlein, sei man einfach gesetzter und ruhiger geworden. Aber auch vernünftiger. Früher war alles schwarz oder weiß. Jetzt ist es überwiegend grau. Geben sich Demoskopen und Sozialforscher auf Erhebungsreisen in die verschiedenen Lebenswelten der Republik und landen dann bei den Sympathisanten der Grünen, so machen sie stets die immergleiche Erfahrung: Grün-Anhänger entscheiden sich bei der Beantwortung der vorgelegten Fragen nicht gerne für »stimme voll zu« oder »stimme gar nicht zu«.64 Sie lieben mehr als alle anderen Bevölkerungsteile die Antwort »teils-teils«. Der Durchschnittsgrüne möchte es nicht mehr so radikal, so extrem. Er hält es jetzt wie diejenigen Bürger, die er vor 25 Jahren noch verächtlich als Spießer belächelt hat, lieber mit Maß und Mitte. Ganz bösartig ausgedrückt: Der gemeine Grüne ähnelt Helmut Kohl immer mehr. Jedenfalls: Der Durchschnittsgrüne innerhalb der Wählerschaft will keinen radikalen ökologisch-sozialen Wechsel in der deutschen Gesellschaft. Im Jahr 2008 vor die Frage gestellt, ob man im Falle einer Direktwahl für das Kanzleramt die Stimme eher Frau Merkel oder dem Kandidaten der Sozialdemokratie geben würde, entschied sich eine deutliche Majorität des Grünen-Elektorats für die amtierende Regierungschefin der CDU.65 Auch in die Frage des Mindestlohns liegen Anhänger der CDU/CSU und der Grünen auf einem ähnlichen Level – und unterscheiden sich damit von den Einstellungen der Sympathisanten der SPD und Linken. Ähnlich sieht es mit der Haltung zu staatlichen Unternehmensbeteiligungen aus, hier liegen die Wähler von Union und Grüne ebenfalls nahe beieinander – und weit entfernt von Sozialdemokraten/Linken hier, Freidemokraten dort.66 Das Gleiche gilt für die Frage der Erhöhung des Renteneintrittsalters.67 Und: Grüne sind mehrheitlich nicht dafür, den Wohlfahrtsstaat in Zukunft noch zusätzlich auszuweiten.68 Ihr früher kräftiger Impetus in der sozialen Frage ist mittlerweile nur noch dann virulent, wenn es um üppige 64 | Vgl. Walter, Franz: »Vom Milieu zum Parteienstaat. Lebenswelten, Leitfiguren und Politik im historischen Wandel«, Wiesbaden 2010, S. 197f.

65 | Vgl. Infratest dimap: »ARD-Deutschland TREND Januar 2008«, Berlin 2008, S. 11.

66 | Vgl. Infratest dimap: »ARD-Deutschland TREND November 2008«, Berlin 2008, S. 3.

67 | Vgl. »ALLBUS 2006«, eigene Berechnung. 68 | Vgl. »ALLBUS 2004«, eigene Berechnung.

II. Die Grünen: Partei der angepassten Unangepassten | 103 Gehaltserhöhungen im öffentlichen Dienst geht. Hier lassen sich die Staatsbeamten des Postmaterialismus – keine Partei ist so beamtenhaft geprägt wie die der Grünen; von den Staatsdienern bekamen sie bei den letzten Landtagswahlen zwischen 15 und 19 Prozent der Voten – an radikalen Prozentforderungen von niemandem übertreffen, wie mehrere Untersuchungen trefflich erwiesen.69 Grüne Bürger sind also auch keine besseren Menschen als schwarze Bürger. Insofern könnte da einiges zusammengehen. Und europaweit geht auch seit einiger Zeit einiges zusammen zwischen klassischen bürgerlichen Parteien und neubürgerlichen Grünen, in Irland, Finnland, Tschechien, Lettland; in Österreich wie in Deutschland zumindest auf föderaler Ebene. Wo Mitte-Links nicht mehr mehrheitsund daher regierungsfähig ist, orientieren sich Grüne um.70 Auch bei den deutschen Grünen ist das machtpolitische Kalkül am stärksten bei denjenigen zu erkennen, die mit dem Kerngeschäft politischen Machterwerbs zu tun haben: den Vorsitzenden der Landtagsfraktionen.71 Sämtliche Fraktionschefs der Grünen haben im Oktober 2009 manifestiert, dass für sie eine Öffnung zur Union bzw. FDP kein unzüchtiges Begehren mehr darstellt. Mit Norbert Röttgen hat die Bundeskanzlerin auch einen Christdemokraten zum Bundesumweltminister gemacht, der die Kontaktaufnahmen zwischen Schwarzen und Grünen in Berlin erleichtern dürfte. Die klassischen Bündnispartner der Union in den Chefetagen der Wirtschaft werden auch nicht obstruieren. Schon 2008 ergab eine Umfrage unter Topmanagern, dass in der Wirtschaftselite der Bundesrepublik nicht weniger als drei Viertel für eine schwarz-grüne Regierungsallianz plädieren.72 Schließlich erhoffen sich auch die Repräsentanten der Wirtschaft durch den for69 | Vgl. Infratest dimap: »ARD-Deutschland TREND Januar 2008«, Berlin 2008, S. 5.

70 | Vgl. Horaczek, Nina: »Pragmatisch flirten«, in: ZEIT online, 19.2.2008, online verfügbar unter www.zeit.de/online/2008/08/schwarz-gruen-europa ?page=all [Stand: 16.2.2010]; Mappes-Niediek, Norbert: »Schwarz-Grün regiert in Oberrösterreich geradezu geräuschlos«, in: Frankfurter Rundschau, 15.5.2006; Richter, Saskia: »Anschlussfähige politische Kraft in sich wandelnden Systemen. Grüne Parteien in Europa«, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 57 (2010), H. 1/2, S. 38-41, hier: S. 40.

71 | Vgl. Wrusch, Paul: »Auf der Suche nach der Richtung«, in: die tageszeitung, 22.10.2009.

72 | Vgl. o.A.: »Top-Manager liebäugeln mit Schwarz-Grün«, 22.7.2008, online verfügbar unter www.nealine.de/news/Politik/top-manager-liebaeugelnmit-schwarz-gruen-1937772204.html [Stand: 18.2.2010].

104 | Gelb oder Grün? cierten Ausbau von Umwelttechnologien einen neuen Wachstumszyklus und Vorsprung auf den Weltmärkten. Das ökologische Thema gilt nicht mehr, wie noch in den 1970/80er Jahren, als verstiegene Idee von randständigen Sonderlingen, sondern als harter und realer Wettbewerbsvorteil der deutschen Industrie. Der neue Schub für die Ökologie fällt unzweifelhaft bürgerlicher aus als in der primären Erweckungsphase vor ca. 30 Jahren.73 Es kann schon sein, dass in den Zentren des Umweltbusiness Bürgerliche mit Sympathien für die Grünen und Bürgerliche mit Nähe zur CDU/CSU/FDP gemeinsame Klientelinteressen finden – und sie dann auch politisch im Paket zum Ausdruck bringen werden. Und doch müssen beide Seiten derzeit aufpassen.74 Für die Grünen ist eine Allianz mit der Union nach wie vor prekär. Das historische Beispiel der FDP mahnt sie zur Behutsamkeit. Allzu quirlig, wendig und begründungslos dürfen kleine Parteien Koalitionswechsel nicht vollziehen. Sie gelten dann als prinzipienlos, opportunistisch, machtversessen, was nach wie vor in der Wählerschaft stigmatisiert. Der FDP haben die Regierungswechsel infolgedessen schwer zu schaffen gemacht. Sie verlor dabei, wie beschrieben, jedes Mal große Teile ihrer Wählerschaft, ihrer Mitglieder und Funktionäre, 1982 zudem noch den Kern ihrer Nachwuchsgeneration. Nun mag man einwenden, dass die Jahre 1969 und 1982 noch ideologisch geprägt waren, dass die Parteien noch stärker in zementierten politischen Lagern hockten. Schwarz-Grün aber könnte von der Auflösung der klassischen Weltanschauungen und Milieus profitieren, da ein Koalitionswechsel nicht mehr als unverzeihlicher politischer Verrat gelten mag. Doch ganz so sicher ist das nicht. Denn die grüne Partei lebt seit Jahren in ihren Erfolgen von den Wählern aus dem Zwischenbereich zur SPD. Für die, aber auch für etliche der genuinen Kernwähler der Grünen war die Ablehnung der »Konservativen« biografisch konstitutiv, prägend in den Jahren der eigenen politischen Sozialisation. Auch der christlichen Union würden bei weiteren schwarz-grünen Allianzen allmählich ein konstitutiver politischer Gegner verloren gehen. Ganz ohne Kontraste aber kommen politische Gemeinschaften 73 | Vgl. Held, Gerd: »Ökologie ist zur Sache bürgerlichen Unternehmungsgeistes geworden«, in: Die Welt, 4.9.2009.

74 | Vgl. Baus, Ralf Thomas: »Schwarz-Grüne Visionen. Die neuen Werte der Grünen führen zu einer Annäherung an die Union«, in: Civis mit Sonde 4 (2004), S. 51-55; Altmeyer, Martin: »Seelenverwandtschaft von Grünen und CDU? Zur komplementären Sozialpsychologie zweier Parteien«, in: Kommune 18 (2000), H. 4, S. 38-40.

II. Die Grünen: Partei der angepassten Unangepassten | 105 nicht aus. Denn erst der Gegner bildet und schärft die eigene Identität, stiftet im Inneren Zusammenhalt und fördert Mobilisierungsenergie nach außen. Gerade die CDU/CSU weiß seit Adenauers Zeiten bestens um diese Zusammenhänge. Auch ordneten sich Sympathisanten der Grünen in all den Jahren individueller Verbürgerlichung auf der Links-Rechts-Achse weiter eher links, diejenigen der Union hingegen am weitesten rechts ein – und der Abstand zwischen den beiden Lagern hat sich selbst während der großen politischen Anpassungs- und Nivellierungsprozesse zwischen den klassischen Lagern (rechts von der PDS/»Linken«) nach 1998 kaum reduziert.75 Grün-Wähler sind nach wie vor die entschiedensten Befürworter einer Bürgerversicherung, des expliziten Gegenmodells also zur christdemokratischen Gesundheitsprämie. In der Definition der Rolle von jungen Müttern mögen die Unterschiede inzwischen allseits geringer geworden sein, sie sind aber im Falle von Christdemokraten und Grünen immer noch die größten zwischen zwei politischen Formationen im Parteienspektrum überhaupt. Drastisch fallen die gegensätzlichen Bewertungen ebenfalls in der Türkeifrage auf. Allein die Wähler der Grünen votieren mehrheitlich für einen Türkei-Beitritt in die EU, der CDU-Anhang lehnt eben das zu 90 Prozent ab. Frieden und Schutz vor terroristischen Aktionen durch militärische Einsätze zu sichern, stößt im CDU-Umfeld auf die größte Zustimmung, im Unterstützerkreis der Grünen hingegen auf riesige Ablehnung. Dass Einwanderung eine ökonomische und kulturelle Bereicherung für die Nation bedeuten kann, leuchtet etlichen Grünen-Wählern ein, denen der CDU/CSU aber keineswegs.76 Im Übrigen kriselte es zuletzt auch in einigen schwarz-grünen bzw. Jamaika-Koalitionen, so im Hamburger Bezirk Nord und in Wiesbaden.77 Zwar bilden die Grünen unzweifelhaft einen Teil des Bürgertums in Deutschland. Doch noch ist das hauptsächlich eine soziologische Zuordnung, noch ähneln sich etwa Freie Demokraten und Grüne al75 | Vgl. Lorenz, Christian: »Schwarz-Grün auf Bundesebene – Politische Utopie oder realistisches Bündnis?«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (2007), H. 35-36, S. 33-40.

76 | Vgl. ebd.; vgl. auch: Müller-Hilmer, Rita: »Schnittstellen und Bruchstellen zwischen den Lagern«, in: Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): Lagertheorien und Lagerpolitik. Sozialwissenschaftliche Befunde und politische Argumente zur Strategie der Bündnisgrünen, Berlin 2004, S. 14-26.

77 | Vgl. Roloff, Lu Yen/Zauft, Ute: »Jamaika lässt die Grünen blass aussehen«, in: Spiegel Online, 17.9.2009, online verfügbar unter www.spiegel.de/ politik/deutschland/0,1518,649226,00.html [Stand: 16.2.2010].

106 | Gelb oder Grün? lein in den Sozialindikatoren Status, Bildungszertifi kate, Einkommen. Sozialräumlich indes unterscheiden sich die Orte, an denen die Anhänger der Grünen wohnen und leben, beträchtlich von den Hochburgen des altbürgerlichen Lagers. Das altbürgerliche Lager, besonders die Union, hat seine Stammquartiere im ländlichen Bereich, in kirchennahen Schichten, bei Zugehörigen des primären Sektors, in Stadtvierteln mit vielen Eigenheimen und wenigen Ausländern. Die Grünen sind hingegen die urbane Partei schlechthin. Ihre Wähler arbeiten im tertiären Sektor, sind überwiegend entkonfessionalisiert, haben ihre Wohnung in Straßenzügen mit großen Altbauhäusern bei durchaus hohen Ausländeranteilen.78 Das jedenfalls zeigt die sozialtopografische Analyse der Bundestagswahlen. Andererseits wildern so die bürgerlichen Parteien der verschiedenen Façon nicht in gleichen Wählerrevieren.79 Grüne und Schwarze überschneiden sich nicht, sondern ergänzen sich, können durch Komplementarität im besten Fall an Stärke und Breite gewinnen, unterschiedliche Erfahrungen und Kompetenzen in die Allianz einbringen und miteinander verknüpfen. Die Verfechter der Schwarz-Grün-Zusammenarbeit haben auf diesen Mehrwert oft hingewiesen, sprechen von einem Komplementärmodell, anstelle des zuvor stets bemühten Schnittmengenparadigmas.80 Gleichwohl wird ohne ein Mindestmaß von lebensweltlicher und politischer Annäherung ein Ergänzungsverhältnis zwischen politisch-kulturell heterogenen Milieus schwerlich zu realisieren sein. Es hatte ja seinen Grund, dass Schwarz-Grün trotz regelmäßig ermunternder Akklamationen durch einen Teil insbesondere der politischen Wochenmagazine und -zeitungen über ein Vierteljahrhundert mindestens bundespolitisch tabuisiert blieb, bis es über Kommunalkoalitionen in den bundesdeutschen Großstädten sehr allmählich zu einer ernsthaften strategischen Überlegung auch in den nationalen Führungsetagen von Unionsparteien und Grünen avancieren konnte.81 78 | Vgl. Haas, Melanie: »Innovationen mit einer neuen bürgerlichen Partei? Die Grünen nach der Bundestagswahl 2005«, in: Jun, Uwe/Kreikenbom, Henry/Neu, Viola (Hg.): Kleine Parteien im Aufwind? Zur Veränderung der deutschen Parteienlandschaft, Frankfurt a.M. 2006, S. 201-222.

79 | Vgl. Raschke, Joachim: »Offene Parteibeziehung«, in: die tageszeitung, 18.4.2008.

80 | Vgl. Maier, Wilfried: »Komplementärmodell in der Stadtgesellschaft. Schwarz-Grün in Hamburg – und im Bund?«, in: Kommune 26 (2008), H. 5, S. 27-31.

81 | Vgl. Lucke, Albrecht von: »Dann machen wir es eben«, in: die tageszeitung, 23.6.2009.

II. Die Grünen: Partei der angepassten Unangepassten | 107 In den kollektiven Mentalitäten der Basistruppen in der Fläche der Republik diesseits der Metropolen sind schwarz-grüne Zuneigungen dennoch immer noch rar. Es ist fast überraschend, wie wenig sich die Anhängerschaften dieser Parteien auf der unteren Ebene der deutschen Provinz angenähert haben. Die Eliten dieser Parteien mögen die früheren Ressentiments und Fremdheiten während der letzten Jahre peu à peu überwunden haben, im breiten Geflecht ihrer Traditionssphären haben sich die Gegensätze indes mit erstaunlich zäher Konstanz gehalten. Die Union war eben nie einfach eine bürgerliche Interessensagentur des Establishments, sondern weit stärker eine Partei auch kleiner Leute vor allem aus dem nicht-großstädtischen Raum. Deshalb stehen beachtliche Teile ihrer Wählerschaft in der Frage des patriarchalisch sorgenden Staates den Sozialdemokraten näher als den akademisch-libertären Grünen, übrigens auch näher als den besitzbürgerlich-liberalen Freidemokraten. Weite Teile des eher kleinbürgerlichen christdemokratischen Traditionsmilieus beargwöhnen die Grünen als Partei einer Vernissage-Schickeria, die in puritanischer, doch höchst doppelzüngiger Manier Wasser predigt, in ihren schicken Altbauwohnungen währenddessen einen nicht ganz billigen Château Haut-Brion 1er Grand Cru classé schlürft. In Städten wie Hamburg mag es gemeinsame Erfahrungs- und Begegnungsorte des christdemokratischen Stadtestablishments mit der grünen Hautevolee geben, in der deutschen Provinz dagegen – wo die »deutschen DurchschnittsMitte-Menschen wohnen« 82 – herrschen nach wie vor Fremdheit und Argwohn. Es ist kein Zufall, dass bei Wahlen Anhänger der Christdemokraten bzw. Grünen kaum Stimmensplitting für den jeweils anderen praktizieren.83 Überdies sind diejenigen in der Grünen-Partei, die den soziologischen Verbürgerlichungsprozess ihrer Anhängerschaft auch als politisches Programm zum Ausdruck bringen wollten, zuletzt eher weniger als mehr geworden.84 Oswald Metzger hat bekanntlich vor einiger Zeit schon die Partei verlassen. Die Finanzpolitikerin Christine Scheel hat an Einfluss verloren. Rezzo Schlauch und Margareta Wolf haben sich aus der aktiven Politik zurückgezogen. Das gilt ebenso für Matthias Berninger, der vor 15 Jahren noch als Repräsentant einer neuen Generation der Grünen auftrat, die schon im optischen Kontrast zur 82 | Harm, Stine: »Mitten in Deutschland. Eine Annäherung an die von den Parteien stets umworbene Mitte«, in: Butzlaff/Harm/Walter (Hg.): Patt oder Gezeitenwechsel?, S. 211-235, hier: S. 223.

83 | Vgl. Beste, Ralf: »Jung, bürgerlich, links«, in: Der Spiegel, 25.1.2010. 84 | Vgl. Geis, Matthias: »Pas de deux«, in: Die Zeit, 28.2.2008.

108 | Gelb oder Grün? alternativ gekleideten Pioniergruppe der Ökopartei stand und auch Bündnisse mit der Union nicht mehr zum Tabu erklärte. Indes: Mittlerweile hat sich ein Wechsel des Generationswechsels vollzogen. Die gegenwärtige grüne Jugend steht nun wieder erheblich weiter links von der Mutterpartei, ist aktionsorientiert, mobilisiert zu Demonstrationen, die für die Altvorderen mittlerweile schon körperlich viel zu beschwerlich geworden sind. Die Kampagnen gegen den Castor-Transport Anfang November 2008 boten ein Beispiel dafür. Auch die wissenschaftliche Jugendforschung hat während der letzten Zeit Signale für eine neuartige Politisierung in der jungen Bevölkerung konstatiert. In den Studien zu den deutschen Lebenswelten wird von jungen »Experimentalisten« gesprochen, bei denen sich massiv das Gefühl der Chancenlosigkeit, Entfremdung und Frustration breitgemacht hat. Die Kritik am Primat der Ökonomie hat dort bereits seit 2003 rapide zugenommen, auch ein Überdruss am Markenkonsum. Rund ein Viertel dieses jugendlichen Milieus kultiviert nach Jahren der Absenz wieder Ausstiegsszenarien; selbst eine zumindest latente Neigung zur Gewalt ist feststellbar. Es spricht zudem einiges dafür, dass sich selbst aus dem Zentrum der Gesellschaft heraus in der Frage der Ökologie ein Stück Reideologisierung herauskristallisieren könnte. Unverkennbar jedenfalls ist, dass mehr und mehr Bürger der arrivierten Mittelkasse zu Beginn des 21. Jahrhunderts sich um ihre Gesundheit sorgen, den Klimawandel fürchten, an ihrer Ernährung arbeiten. Verbote von oben und Selbstverbote von unten werden allmählich zur selbstverständlich akzeptierten Regel. Wer weiterhin raucht, sich körperlich nicht fit hält, durch Übergewicht Disziplinlosigkeit offenbart, muss mit dem Bannstrahl bildungsbürgerlicher Gesundheitswächter rechnen. Kurzum: Es sind jedenfalls im weiten Sinne ökologische Imperative, die derzeit die Gemüter in neu-bürgerlichen Kreisen bewegen.85 Allerdings ist es nicht so, dass grüne Politiker die aktualisierten Debatten um Umweltfragen inspirationsreich prägen, dass sie mit originären Konzepten an der Spitze neuer Sensibilitäten und Bewegtheiten marschieren. Selbst wenn sie sich – wie Ende 2008 – auf Demonstrationsbesuch in das Wendland begeben, wirken sie »deplatziert, fast fremd und verloren«, wie die Journalistin Monika Dunkel ihre Eindrücke festhielt.86 Doch immerhin hatten sie noch Gespür genug für die 85 | Vgl. Wienges, Henriette: »Grüne Werte – grüne Generationen. Eine Analyse langfristiger Wählerpotentiale von Bündnis 90/Die Grünen«, Berlin 2009.

86 | Dunkel, Monika: »Cem Özdemir, der sanfte Grüne«, in: stern.de,

II. Die Grünen: Partei der angepassten Unangepassten | 109 neue Protestbereitschaft, die sich nicht zuletzt bei den eigenen Kindern der inzwischen ergrauten Alt-Grünen ausbreitet. Grüne Kreisverbände charterten für die Reise nach Gorleben so viele Busse wie seit vielen Jahren nicht mehr. Aus solchen Aktionen könnten Fundamente wiederum für rot-rotgrüne Bündnisse entstehen, denen rund die Hälfte der grünen Sympathisanten und Mitglieder wohlwollend, zumindest nicht ablehnend gegenübersteht. Anfang 2010 mehrten sich dafür auch in organisatorisch-intellektueller Hinsicht einige Anzeichen. Die Cross-over-Diskurse, die bereits in den 1990er Jahren zwischen Vertretern der drei Parteien eher zaghaft versucht wurden, bekamen Auftrieb.87 Zunächst erschien Ende Januar der Aufruf »Das Leben ist bunter«, mit dem sich Politiker – allerdings eher der zweiten und dritten Garnitur – von SPD, Grünen und Linken für weitere strategische Diskussionen darüber stark machten, »wie es zu gesellschaftlichen und perspektivisch auch zu parlamentarischen Mehrheiten jenseits von CDU/CSU kommen kann«.88 Weit mehr Aufsehen als dieser in der Tat recht konventionell ausgefallene Forderungskatalog erregte wenige Tage danach die Bekanntgabe der Gründung einer neuen Denkfabrik unter dem Namen »Institut Solidarische Moderne«, da es mit der hessischen Ex-Kandidatin für das Ministerpräsidentenamt, Andrea Ypsilanti, verbunden wurde. Das Institut definierte sich explizit als rot-rot-grüne Denkmanufaktur, präsentierte in seinem Vorstand bzw. Kuratorium auch prominente Wissenschaftler des linken und ökologischen politischen Denkens, wie Klaus Dörre, Birgit Mahnkopf, Stephan Lessenich. Auch hier war zwar nicht die erste Reihe der drei Parteien vertreten, aber doch – neben Personen, die politisch ihre Karriere weitgehend abgeschlossen hatten wie Ludger Volmer, Anke Martiny und Rudolf Dreßler – solche, die als ambitionierte, zuweilen originelle Zukunftshoff nungen ihrer Formationen zählten, etwa Katja Kipping von der Linken, Sven Giegold und Arvid Bell von den Grünen. Auch die Juso-Chefin Franziska 10.11.2008, online verfügbar unter www.stern.de/politik/deutschland/cemoezdemir-der-sanfte-gruene-645037.html [Stand: 16.2.2010].

87 | Zur Kritik an der Begrifflichkeit Müller, Albrecht: »›Institut solidarische Moderne‹ – eine sehr begrüßenswerte Initiative und ein sehr nachbesserungsbedürftiger Titel und Text«, in: NachDenkSeiten, 5.2.2010, online verfügbar unter www.nachdenkseiten.de/?p=4504 [Stand: 20.2.2010].

88 | O.A.: »Das Leben ist bunter! Aufruf für Rot-Rot-Grün«, in: Faz.net, 23.1.2010, online verfügbar unter www.faz.net/s/Rub594835B672714A1DB1A 121534 F010EE1/Doc~E3A419E6995744CDB9E9C3C8209C4DC83~ATpl~Eco mmon~Scontent.html [Stand: 18.2.2010].

110 | Gelb oder Grün? Drohsel repräsentierte als Vorstandsmitglied das Projekt mit. Aufgefallen war, dass diejenigen, die sich zuletzt für ein Grundeinkommen eingesetzt hatten, in den drei Parteien zwar eine Minderheit bildeten, im Spektrum des rot-rot-grünen Thinktanks aber eine Mehrheit stellten.89 Insofern waren Hoffnungen auf neue Hebel und Philosophien linker Gesellschaftspolitik nicht von vornherein abstrus. Dennoch: Die Parteieliten hielten sich ersichtlich zurück, teils vorsichtig abwartend, teils süffisant polemisierend. Und ein Zufall war es sicher nicht, dass seit 2005 im Bund, 2008/2009 in den Bundesländern Hessen, Hamburg, Thüringen und Saarland keine rot-grünroten Regierungsallianzen entstanden sind, obwohl es arithmetische Mehrheiten dafür gab bzw. (wie in Hessen) zu geben schien. In Hamburg und im Saarland entschieden sich die Grünen bekanntlich für die Partnerschaft mit der CDU und explizit gegen eine Kooperation mit den Linken. In Nordrhein-Westfalen ist mit einem sozialdemokratisch-grünen-linken Regierungsbündnis im Mai 2010 auch nicht zu rechnen. Andere Bundesländer scheinen in den nächsten drei Jahren, von Berlin abgesehen, ebenfalls keine Aufmarschgebiete für Bündnisse von linken Gewerkschaftern, sozialdemokratischen Büroleitern und postmaterialistischen Innenarchitekten zu werden. Insofern spricht zwar einiges für eine zahlenmäßige Mehrheit von Rot-Rot-Grün im Bund nach den Bundestagswahlen 2013, aber die Grundlagen für eine politische Mehrheit dürften in der Fläche der Republik weiterhin fehlen, zumindest fragil sein.

R ISIKEN

DER

W ENDIGKEIT

Die Gefahren für die Grünen sind bei allzu leichthändiger Bündnisbereitschaft in die eine oder andere Richtung folglich nicht unbeträchtlich. Die Partei der Ökologie und der neuen Wertefragen lebte im ersten Vierteljahrhundert ihrer Entstehung am stärksten von ihrer expressiven Aura, von dem Hauch der Unkonventionalität, dem Renommee der Besonderheit. Der Bedarf nach einem solchen politischen Stil dürfte in Zukunft nicht unbedingt geringer werden. Im Gegenteil: Schließlich ist der Typus des »cultural creative« – wie ihn der amerikanische Soziologe Paul H. Ray nennt90 – gesellschaftlich im Anstieg, vor 89 | Vgl. Strohschneider, Tom: »Die neue Farbenlehre«, in: Der Freitag, 4.2.2010.

90 | Vgl. Ray, Paul H./Anderson, Sherry Ruth: »The Cultural Creatives. How 50 million people are changing the world«, New York 2000.

II. Die Grünen: Partei der angepassten Unangepassten | 111 allem bei den jungen und mittelalten akademischen Frauen. Dieser Typus, in wissensbasierten Berufen zu Hause, schätzt die Differenzierung, die Überzeugungskraft der Argumentation, die gelungene Formulierung. Kulturell Kreative sind intensive Leser, sehen weniger fern, setzen sich aktiv mit Kunst auseinander, sind an einer »integralen Kultur« der Verbindung einst fragmentierter Sichtweisen und Traditionen interessiert. Richard Florida hat in seinem Buch »The Rise of the Creative Class«91 die Größe der Kreativklasse in den »transmodernen« Wissensgesellschaften auf nahezu 30 Prozent der Erwerbstätigen geschätzt; Ray geht von rund 25 Prozent aus. Die Hamburger Grünen (GAL) haben 2008 ihren Wahlkampf entsprechend unter das kommunalpolitische Leitmotiv von der »Kreativen Stadt« gestellt. Doch gerade Parteien der »kulturell Kreativen« haben es auf der anderen Seite alles andere als leicht, da sie ihre oft überkritische, politisch-ästhetisch prätentiöse Klientel immer neu überzeugen müssen. Ihr kulturell ambitioniertes Publikum stellt hohe Ansprüche an Parteien und Politik, ist außerordentlich kritisch.92 Aber es bleibt Publikum – eine betrachtende, kommentierende, ja: zuweilen lustvoll nörgelnde, überhebliche Zuschauerschaft mit demonstrativ eingenommener Distanz. Sie zappt sich ungerührt weg, wenn ihr das Programm nicht gefällt, da es zu bieder, zu sehr »mainstreamig« ist. Zusammen: Es kann schon sein, dass die Grünen künftig ein wichtiges Zünglein an der Waage bilden werden, dass sie im Zentrum der Mehrheitsbildung stehen, dass sie als Scharnier für Koalitionen fungieren müssen. Solche Parteien aber sehen sich stets der Gefahr ausgesetzt, als prinzipienlos und machtversessen verschrien zu sein, in diff user Mittigkeit zu verschwimmen und ihre zuvor klaren Konturen zu verwischen. Eben das ist die Ambivalenz, die den Grünen seit einigen Jahren zu schaffen macht, weshalb sie in der Bundestagsopposition seit 2005 auch so blass geblieben sind. Die Grünen stecken im Dilemma aller Mitte-Parteien. Sie müssen sich weit spreizen, den ständigen Spagat praktizieren, im konkreten Fall: feurige Appelle an die neuen Protestkohorten senden, zugleich beruhigende Worte an die nun etablierten, konservativ gewordenen Postmaterialisten von ehedem richten. Die Grünen werden die Abwanderer nach links im Auge behalten müssen und die neuen Zuwanderer von rechts binden wollen. Sie dürfen die Kontakte zu den Sozialdemokraten nicht ver91 | Vgl. Florida, Richard: »The Rise of the Creative Class and how it’s transforming work, leisure, community and everyday life«, New York 2002.

92 | Vgl. Juhnke, Andreas: »Grüne Häutungen in Hamburg«, in: Berliner Zeitung, 19.5.1999.

112 | Gelb oder Grün? nachlässigen, haben aber die Beziehungen zu Christ- und Freidemokraten auszubauen. In einem Bundesland zusammen mit Schwarzen und Gelben, in einem anderen vielleicht gemeinsam mit Sozialdemokraten und Linken – das ist nicht leicht nachvollziehbar zur politischen Synthese zu bringen. Die Mitteposition mag die machtpolitische Option der Grünen vermehren, doch zugleich kann sie dann die programmatische Schärfe mindern, die politische Sprache verdünnen, die kulturelle Eindeutigkeit von ehedem vernebeln – und der Flair von Authentizität und Alternative wäre endgültig perdu. Wenig Mitgefühl mit den Aporien grüner Politik und Klientel zeigt der politische Soziologe der Universität Bath, Ingolfur Blühdorn, der düster wie kaum ein zweiter Sozialwissenschaftler die Zukunft der modernen Gesellschaften deutet. Blühdorn sieht diese Gesellschaften längst in einem kaum mehr zu korrigierenden abgründigen Wandel. Wo andere Interpreten in Bezug auf das politische System von einer »Postdemokratie« sprechen, fügte er komplementär den Begriff der »Postökologie« hinzu. Die ökologisch-partizipatorischen Bewegungen der 1970er Jahre hätten mit ihrem ursprünglichen Anspruch längst gebrochen, da sie – im Zuge einer »silent counter revolution«93 – mittlerweile den Effizienzimperativen und Akkumulationslogiken der Marktgesellschaften folgten. Sie würden zwar im Grunde ahnen, dass nur ein radikal neuer Lebensstil, dass nur ein grundlegend anderes Muster der Produktion, des Handels und des Konsums die postulierte Nachhaltigkeit konstruieren könnten.94 Aber in der realen Politik hätten sie sich resigniert – sie würden es wohl mit dem Euphemismus der »Realpolitik« drapieren – der kapitalistischen Konsumtionsgesellschaft gefügt. Mehr noch: Sie seien zu besonders eifrigen Akteuren eines alternativ inszenierten Konsums geworden, suchten allein durch Performanz und exklusive Erlebniskultur nach vermeintlich authentischer Identität sowie Autonomie, die es in kapitalistischen KonsumentenDemokratien aber nicht geben könne, wobei letztere aber durch den stilisierten Schein des Individualismus noch stabilisiert würden.95 93 | Blühdorn, Ingolfur: »Narratives of Self-Delusion: Towards a Critical Theory of the Politics of Unsustainability«, conference paper presented at the 2009 Annual Meeting of the American Political Science Association Toronto, Canada, 2-6 September 2009, S. 6.

94 | Vgl. Blühdorn, Ingolfur/Welsh, Ian: »Eco-politics beyond the Paradigm of Sustainability«, in: Environmental Politics 16 (2007), H. 2, S. 185-205, hier: S. 186f.

95 | Vgl. Blühdorn, Ingolfur: »Self-Experience in the Theme Park of Radical Action? Social Movements and Political Articulation in the Late-modern Con-

II. Die Grünen: Partei der angepassten Unangepassten | 113 Weit nachsichtiger gehen die beiden Politikwissenschaftlerinnen Christin Leistner und Katharina Rahlf mit den Grünen um: »Egal, wie sich die Grünen verhalten«, so ihr Resümee, »was sie auch tun oder lassen, Kritik wird immer laut. Entweder agieren sie zu visionslos, zu nüchtern-resigniert – oder aber sie verfallen in utopische Ewiggestrigkeit. Und immer zu abgehoben, mit einer Vorliebe für komplexe Formulierungen, die weder eingängig noch auf eine simple, allgemein verständliche Formel zu bringen sind. Vielleicht ist aber genau das der Preis, der für eine überdurchschnittlich gebildete, auch politikinteressierte und kritische Klientel zu zahlen ist?«96

dition«, in: European Journal of Social Theory 9 (2006), H. 1, S. 23-42 hier: S. 36f.

96 | Leistner, Christin/Rahlf, Katharina: »Grün bleibt die Hoffnung? Die Bündnisgrünen zwischen Harmonie und Krise«, in: Butzlaff/Harm/Walter (Hg.): Patt oder Gezeitenwechsel?, S. 129-155, hier: S. 154.

III. Nach den Volksparteien: Chancen und Gefahren E RBEN

DER

V OLK SPARTEIEN ?

Alles in allem waren insbesondere die großkoalitionären Jahre für die liberalen und libertären Parteien der bürgerlichen Mitte angenehme Zeiten. Sie brauchten keinen großartigen Wirbel zu veranstalten. Sie konnten gelassen aus dem Hintergrund betrachten, wie sich die Rivalen der früheren Großparteien mühten und abstrampelten. Werte über 10 Prozent der Wählerstimmen schienen Freidemokraten und Grünen gleichwohl sicher. Die Dinge liefen gleichsam wie von selbst. So neigte man dazu, hinter der Hausse der früheren Kleinparteien des gesellschaftlichen Zentrums einen mächtigen soziologischen Trend zu sehen. Denn: Die Volksparteien waren Geschöpfe der Industriegesellschaft. Und mit Ablauf der Industriegesellschaft starben auch die sozialen und politischen Organisationstypen dieser Ära ab: Gewerkschaften, Großparteien, Funktionäre, straff geführte Zentraleinrichtungen. Die postindustrielle Wissensgesellschaft verlangte vielmehr nach beweglichen Einzelnen, kreativen Kleingruppen, elastischen Netzwerken. Selbstbestimmung und Autonomie lösten die früheren Tugenden von disziplinierter Ein- und Unterordnung ab. Das limitierte Projekt in fragmentierten Lebensabschnitten ersetzte die einstigen holistischen Erlösungsutopien und Glaubensbekenntnisse. Die souveräne Entscheidungsfähigkeit und Optionalität der freien Individuen wurde wichtiger als die bedingungslose Subalternität gefügiger Massen. Kurzum: Wer in diesen nachindustriellen Mustern aufwächst, entbehrt der Neigung, sich politisch den klassischen Volksparteien mit

116 | Gelb oder Grün? ihren Stallgerüchen und Ochsentouren einzuverleiben. Für ihn oder sie sind die kleineren, dadurch weniger verfestigten, veränderungsfreudigeren Parteien der bildungsbürgerlichen bzw. gewerblichen Mitte erheblich interessanter, stehen gewissermaßen im kongenialen Bezug zum eigenen Alltag. So oder ähnlich wurde in der Regel argumentiert, wenn man den Abschwung der Sozial- und auch der Christdemokraten, den Höhenflug der kleinen Parteien zu deuten versuchte.1 Damit lag man gewiss nicht rundum falsch. Aber es war auch nicht in Gänze richtig. Schließlich kannte die klassische Industriegesellschaft zwischen 1850 und 1930 keine Volksparteien, war stattdessen geprägt und durchwirkt von eng zugeschnittenen Milieu- und Weltanschauungsparteien. Die Ära der großen Volksparteien war in der Parlamentsgeschichte knapp bemessen, reichte lediglich von der zweiten Hälfte der 1950er bis in die frühen 1980er Jahre. Vor 1950 zerfiel die deutsche Gesellschaft einfach zu fundamental in deutlich andersgeartete Sonderexistenzen, Alltagserfahrungen und Regionalkulturen. Zwischen einem mecklenburgischen Bauern, einem Magdeburger Industriearbeiter, einem Hamburger Kaufmann, einem Münchner Gastwirt, einem Kölner Hausmädchen, einer ostpreußischen Magd und einem badischen Winzer des Jahres 1910 existierte nicht viel Gemeinsames, was damals bereits in Volksparteien zu einer übergreifenden Identität, einem kollektiven Wollen integrierbar gewesen wäre. Erst das öffentlich-rechtliche Fernsehen konstituierte Gemeinsamkeit, durch welche die früheren Eigenkulturen und ihre lebensweltlichen Besonderheiten sukzessive ausgehöhlt und zurückgedrängt wurden.2 Während der 1960er und 1970er Jahre vereinten und homogenisierten ARD und ZDF die vormals streng separierten Schichten und Traditionen. Die Nation sah die gleichen Sendungen, rieb sich unisono daran, fieberte kollektiv mit, verständigte sich, sei es auch kontrovers, gemeinsam darüber. Das – und nicht die Industriegesellschaft – war Nährboden und Voraussetzung der volksparteilichen Verknüpfung. Und das ging in dem Moment perdu, als private Fernsehanbieter die national kollektivierte Telezuschauerschaft wieder neu aufsplitterten, diese gewissermaßen nach vorne zurück in disparate Schichten, Milieus, Generationen zerlegten und sie fortan mit unterschiedlichen Codes und Zeichen ansprachen. Die Kommunikation tribalisierte sich 1 | Vgl. Walter, Franz: »Im Herbst der Volksparteien? Eine kleine Geschichte von Aufstieg und Rückgang politischer Massenintegration«, Bielefeld 2009.

2 | Vgl. Kleßmann, Christoph: »Zwei Staaten, eine Nation. Deutsche Geschichte 1955-1970«, Göttingen 1988, S. 170f.

III. Nach den Volksparteien: Chancen und Gefahren | 117 abermals. Die Gesellschaft desintegrierte infolgedessen auch dadurch. Die glückliche Zeit der Volksparteien lief sodann ab.

TR ANSFORMATION

DER

M IT TE

Und so öffneten sich neue Gelegenheitspforten für die zuvor sozial oft feinen, aber durchweg sehr kleinen Honoratiorenparteien der bürgerlichen Mitte. Früher als jeder andere hatte bereits in den 1960er Jahren, wie erwähnt, der Journalist und Liberale Karl-Hermann Flach die Chancen jenseits der Volksparteistruktur gewittert. Flach war zu jener Zeit einer der scharfsinnigsten Analytiker und weitsichtigsten Strategen der deutschen Politik; und er war zugleich ein operativ gewiefter Praktiker des Parteienwesens. Schon 1961 hatte er als Bundeswahlkampfleiter die FDP durch kluge Appelle an eine neue Mitte aus Angestellten und Beamten in einem virtuos geführten Wahlkampf auf 12,8 Prozent der Wählerstimmen nach oben und vorn geschoben. Doch zog er sich dann, enttäuscht über die zählebige Biederkeit freidemokratischer Politik, für einige Jahre aus der aktiven Parteiarbeit zurück und machte nun Karriere in der Chefredaktion der Frankfurter Rundschau. Aber auch von diesem Ort aus nahm er mittels zahlreicher, eindringlich verfasster Kommentare Einfluss auf die Partei, der er weiterhin angehörte. Flach war von einem tiefgreifenden Wandel der gesellschaftlichen Mitte überzeugt: Die neuen Zugehörigen im gesellschaftlichen Zentrum würden an Zahl stärker, besser gebildet, libertärer und transnationaler sein als der alte selbstständige, dabei fortschreitend schwindende Mittelstand. Die neue Mitte identifizierte Flach in Fragen der Kultur, der Justiz- und Rechtspolitik, selbst der Bildungsreform links von beiden Volksparteien. Sein Vorbild war die zu Beginn der zweiten Hälfte der 1960er Jahre gerade formierte radikaldemokratische Partei D‘66 in Holland. Einem vergleichbaren Pendant in Deutschland sagte er ein Anhängerpotenzial von bis zu 20 Prozent der Wähler voraus. Zwar stieg Flach 1971 zum Generalsekretär seiner Partei auf, bediente also die Schalthebel der innerorganisatorischen Macht, starb dann aber früh, ohne sein linksliberales Parteienprojekt im Rahmen der FDP hinreichend zu Ende gebracht bzw. abgesichert zu haben. Spätestens mit Hans-Dietrich Genscher war das kurze und letztlich halbherzig begonnene Intermezzo eines radikaldemokratischen Liberalismus zu Ende. Und doch hatte Flach sich zumindest im Grundsätzlichen nicht geirrt. Denn die Grünen vermochten eine Dekade später exakt das auszufüllen, was Flach als neuen sozial-kulturellen Raum politi-

118 | Gelb oder Grün? scher Möglichkeiten vorgedacht hatte. Mit nicht geringem Erfolg, wie wir wissen. Eine Zeit lang schien es, als müsste der Aufstieg der Grünen zwingend mit dem Abstieg der FDP korrelieren. Selbst den parlamentarischen Exitus der Liberalen hielt man in den Anfangsjahren der Ära Kohl für möglich. Im Zwischenraum der beiden Großparteien sei, kolportierten etliche Kommentatoren, nicht genügend Platz für zwei weitere Formationen. Doch dann, zwischen 1985 und 1987, nahm die Interpretation eine gänzlich neue Richtung. In diesen Jahren – vor einem knappen Vierteljahrhundert also – setzten zum einen die Nekrologe auf die Volksparteien ein, zum anderen begannen die Lobgesänge auf die individualisierte Gesellschaft.3 Unplausibel schien das nicht: Damals gewannen bei den Landtags- und Bundestagswahlen Grüne ebenso wie Freie Demokraten kräftig hinzu. Und sie feierten ihre Erfolge insbesondere in den urbanen Zentren der Republik, in ihren prosperierenden, wirtschaftlich modernen Bereichen, während eben dort die Volksparteien erhebliche Verluste erlitten. In dieser Zeit stieß ein trivialsoziologischer Determinismus auf große Resonanz. Es galt als ausgemacht, dass die überlieferten Vergemeinschaftungsformen unweigerlich erodieren müssten, dass in der exzessiv pluralisierten Postmoderne Bindungslosigkeiten prämiert, traditionsgestützte Einstellungen hingegen ihres nährenden Bodens abhanden kommen würden.4 Doch die reale Geschichte vollzieht sich nicht nach solcherlei linearen Fortschrittskonstruktionen. In der empirischen Historie geht es verwirrender, auch ambivalenter zu.5 1987 deutete man die grüne Partei noch als Vorhut eines sich zunehmend ausbreitenden Postmaterialismus. 1990 waren die Grünen zum Nachzügler einer schon als überkommen bewerteten Nationalstaatlichkeit geschrumpft und im Westen Deutschlands an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert. Auch die zweite strukturarme Partei bürgerlicher Autonomie in der pluralisierten Gesellschaft, die FDP also, geriet ein Jahr darauf und gleich für ein ganzes Jahrzehnt in Existenznöte. Die Freien Demokraten brachen in den 1990er Jahren bei etlichen Landtagswah3 | Vgl. Wirsching, Andreas: »Abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1892-1990«, München 2006, S. 107ff.

4 | Vgl. Beck, Ulrich: »Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne«, Frankfurt a.M. 1986; Wehler, Hans-Ulrich: »Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 5: Bundesrepublik und DDR 1949-1990«, München 2008, S. 113ff.

5 | Vgl. schon früh der skeptische Blick von Rudolph, Hermann: »Die FDP – gerettet und gefährdet«, in: Süddeutsche Zeitung, 27.8.1987.

III. Nach den Volksparteien: Chancen und Gefahren | 119 len förmlich ein, schaff ten vielfach den Einzug in die Parlamente nicht mehr, verloren nahezu flächendeckend an gouvernementaler Macht. Es waren freudlose frühneunziger Jahre für Grüne und Liberale. Die soziologische Grundströmung mochte zwar günstig sein für neue Mitte-Parteien. Aber nach wie vor kam es auf politische Führungsfähigkeit, situativen Gefahren- und Chanceninstinkt, zugkräftige Spitzenleute, eigene zündende Ideen an. Besaß man davon zu wenig, nutzte der beste gesellschaftliche Kontext nichts. Für Grüne und Liberale galt das vor allem. Natürlich zogen die beiden Parteien den Nutzen aus dem Zerfall vormals selbstverständlicher Loyalitäten durch Klassen- und Konfessionszugehörigkeiten. Der Verlust an überlieferter Kohäsion hatte die zwei klassischen Volksparteien fragiler gemacht und als Folge davon Potenziale einer neuen Bürgerschaft freigesetzt, die nicht von der Wiege an politisch für ein ganzes Leben lang geprägt und dadurch festgelegt war, sondern sich durch abwägende Reflexionen politisch und kulturell in Bewegung hielt. Das schuf politisch reichlich Möglichkeiten für liberale und libertäre Parteien selbstständiger Existenzen im mittleren Bürgertum.

P R ÄTENTIÖSE K UNDEN ,

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Allerdings: Die neuen Gelegenheiten waren und sind keineswegs leicht dauerhaft zu nutzen. Die sich aus den hermetischen Gehäusen der Volksparteien emanzipierten Bürger bilden eine durchaus schwierige, immer wieder neu zu überzeugende Klientel. Diese Gruppe verhält sich launisch, anspruchsvoll, elastisch; sie steht nicht als jederzeit verlässliche Stammkundschaft zur beliebigen Verfügung. Sagt ihr die politische Speisekarte nicht mehr zu, wechselt sie ungerührt das Lokal, sprich: die bisherige Parteipräferenz. Die potenziellen Wähler von Grünen und Liberalen wünschen eine exquisite Rolle, streben nach Distinktion, nach sichtbaren Abstand zur »Masse«. Die Differenz ist das Charakteristikum der »kreativen Berufsgruppen«, ist ihr Surplus im Wettbewerb. Deshalb haben sie sich von den nivellierenden Volksparteien abgewandt. Daher heischen sie nach Boutiqueausgaben der Politik anstelle gleichförmiger Großmärkte des Politischen. Die prätentiöse Kundschaft von liberalen und libertären Parteien erwartet singularen Flair von ihrer politischen Boutique. Doch das ist – wie jede Aura des Besonderen – nun einmal kaum zu perpetuieren, nicht zu einem dauerhaften Signum zu verstetigen. Der Distinktionstrieb der Besserverdienenden kann so zum schwächenden Infekt für die klein-feinen Parteien avancierter Bürgerlichkeit werden.

120 | Gelb oder Grün? Das haben Liberale und Grüne auch, besonders in den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts, mit Nachdruck zu spüren bekommen, da beide Parteien bei Wahlen seinerzeit nicht an Stimmen wuchsen, sondern von ihrer verwöhnten Klientel erbarmungslos abgestraft wurden: Die Liberalen für die ordnungspolitischen Laxheiten in der zum Schluss ausgebrannten Kohl-Regierung, die Grünen dafür, dass unter dem rot-grünen Kabinett die Auf brüche nicht gar so funkelten, wie sie im vorangegangenen Projektdesign noch illuminiert worden waren.6 Natürlich, der transitorische Liebesentzug trug eine Menge unpolitischer Züge. Gerade das ist ein – schwieriges – Kennzeichen der sozial avancierteren, formal gut gebildeten, artikulationsfreudigen Boutiquenkundschaft von Grünen und Liberalen: Das Wesen des politischen Prozesses ist ihnen häufig fremd, weckt auch nicht ihr genuines Alltagsinteresse. Als die Grünen Mitte der 1990er Jahre über ihr vormaliges Protestmilieu hinaus expandierten und Anhang ebenfalls in den Villenvierteln der Republik fanden, stellten die Meinungsforscher des Allensbach-Instituts – wie oben dargestellt – einigermaßen erstaunt fest, dass sich in der grünen Wählerschaft unterdessen der größte Anteil politisch desinteressierter Menschen angesammelt hatte. Ein flammendes Engagement für radikale sozialökologische Strukturreform verbarg sich hinter dem Votum für die Grünen an Wahlsonntagen mithin keineswegs. Und daher machte sich dieser Teil der zwischenzeitlichen Grünen-Wähler im Frühjahr 1998 auch geradezu panikartig auf und davon, als die Öko-Partei die Erhöhung des Benzinpreises auf 5 DM zur Forderung erhob.7 Weil die Aussichten auf grüne Regierungspartizipation in Bonn für den Herbst des gleichen Jahres nicht ungünstig erschienen, musste man mit einer drastischen Benzinpreiserhöhung ernsthaft rechnen – und jäh empfanden die Wähler des politischen Chics nun als bedrohlich, was zuvor noch spielerisch als gesinnungsstarke Demonstration goutiert und gerne zur Schau gestellt wurde. Der Zuwachs, dessen sich die Freien Demokraten seit 2005 erfreuen durften, war ebenfalls – wenn auch auf andere Weise – nicht sonderlich politisch und daher in seiner Loyalität für die Liberalen recht instabil. Man konnte die Gruppe neu-freidemokratischer Wähler als »un6 | Vgl. Rulff, Dieter: »Erschöpfendes Lamento«, in: die tageszeitung, 12.5.1999; Geis, Matthias: »Die regierende Lebenslüge«, in: Die Zeit, 4.3.1999; Bruns, Tissy: »Jetzt hilft nur noch Otto«, in: Der Tagesspiegel, 9.2.1999.

7 | Vgl. Falter, Jürgen F./Arzheimer, Kai: »Rein in die neue Mitte – oder raus aus der neuen Mitte?«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.8.1999.

III. Nach den Volksparteien: Chancen und Gefahren | 121 geduldige« Bürger bezeichnen; in der niederländischen sozialwissenschaftlichen Diskussion wird das Attribut »zynisch« verwandt, um die oft vorfindbare verächtliche Sichtweise dieses Segments in Bezug auf die politischen Institutionen begriffl ich zu fassen.8 In früheren Jahren hatten die »zynischen« oder »ungeduldigen« Bürger bevorzugt CDU oder CSU gewählt. Spätestens mit der Großen Koalition aber wandten sie sich von den Unionsparteien ab, da sie in Fragen der Wirtschaftsund Gesellschaftspolitik nicht mehr mit der Merkel-Partei konvenierten. So wurden die Freien Demokraten zum Ventil dieser gewerblichbürgerlichen Frustrationen und Zynismen. In früheren Jahrzehnten waren die Väter oder Großväter der ungeduldigen Globalisierungsbürger oft noch lokal in der Gemeindepolitik selbst aktiv, wussten deshalb um die Mühseligkeit, Langwierigkeit und Notwendigkeit politischer Aushandlungs- und Einigungsprozesse. Das neue zornige Bürgertum beteiligt sich kommunalpolitisch hingegen längst nicht mehr, steht den Verfahrensregeln dort ohne Kenntnis und Einsicht gegenüber, zetert vielmehr lauthals und apodiktisch über die zeitfressende Kleinteiligkeit politischer Kompromissbildung. Stammwähler der FDP sind diese sich chronisch unzufrieden äußernden Bürger jedenfalls nicht. Sie haben sich im Herbst 2009 hinter Westerwelle gestellt, weil er als einziger während der vorangegangenen Monate trotzig die Flagge uneingeschränkter Eigentumsrechte, grundsätzlicher Renditeansprüche und prinzipieller Steuerminderungen geschwenkt hatte. An dieser Attitüde, die ein Versprechen birgt, wird ihn das Globalisierungsbürgertum allerdings auch in Zukunft, eben in Regierungszeiten messen. Wie rasch Erwartungen dann in Enttäuschungen und anschließenden Exodus umschlagen können, erlebte die FDP schon einmal in den frühen 1990er Jahren mit dem stramm ordnungspolitischen Propagandisten Otto Graf Lambsdorff.9 Als die Freien Demokraten im Kabinett Kohl Steuererhöhungen nicht verhindern konnten, dazu noch die Pflegeversicherung hinnehmen mussten, zeigte sich das rechtsliberale Bürgertum in Deutschland aufgebracht und schickte die FDP elektoral unnachsichtig fast in den Abgrund der Bedeutungslosigkeit. Kurzum: Auf ein durchgängiges Aufwärts sollten Parteien der besserverdienenden Mitte lieber nicht zuversichtlich setzen. In volks8 | Vgl. Van Praag, Philipp: »De LPF-Kiezer: Rechts, Cynisch of Modaal?«, in: DNPP jaarboek 2001, S. 96-116, hier: S. 111.

9 | Vgl. Hartwig, Gunther: »Der Durchbruch des Grafen sorgt für Irritationen«, in: Stuttgarter Nachrichten, 20.2.1991; Fritz-Vannahme, Joachim: »Der letzte Hoff nungsträger«, in: Die Zeit, 8.1.1993.

122 | Gelb oder Grün? parteiliche Größen und Qualitäten wird es sie schon gar nicht tragen. Denn dann würde sich ihr entscheidendes Lockmittel, nämlich Distinktion und Besonderheit anbieten zu können, verbrauchen bzw. an Glaubwürdigkeit einbüßen. Grüne und liberale Anhänger mögen es schließlich, intim unter ihresgleichen zu bleiben, sorgsam die Distanz zu den Massen zu wahren. Zu großzügig also sollte ihre Partei sich nicht den Wählern öffnen. Die Exklusivität darf keinesfalls gefährdet werden.

IV. Grüne und Liberale. Konklusion und Ausblick IN

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Doch dürften sie, die Freien Demokraten und die Grünen, in den nächsten Jahren Zünglein an der Waage parlamentarischer Mehrheits- und Regierungsbildung werden bzw. bleiben − und das möglicherweise im Paket: sei es in einer Ampel, sei es in den Farben von Jamaika.1 Indes: Beide Parteien zieren sich. Die Großen halten sich für (fast) alles offen. Aber Freie Demokraten und Grüne machen ängstlich die Schotten dicht. Jene sträuben sich gegen die Ampel, diese verweigern sich Schwarz-Gelb-Grün. Grün und Gelb – das scheint sich in der Tat zu beißen. Das kann man paradox, ja: unreif finden. Denn im Grunde geht ein Teil der Ressentiments zurück auf die Pubertät der Hauptakteure in beiden Parteien. Die Jugendkultur vor etwa 30 Jahren war geteilt in – wohl mehrheitliche – »Trittins« und – seinerzeit weniger zahlreiche – »Westerwelles«.2 Die einen gerierten sich sehr links, bekämpften zumindest mit Plaketten und Autoaufklebern die Atomkraft, verbrachten die Kneipenabende auf ziemlich schmuddeligen Sofas, trugen ausgefranste Parkas und lange Haare. Die anderen präferierten für die geselligen Abendstunden die mit teuren Alkoholika gut ausgestatteten Partykeller der Eltern, kleideten sich in gelben Pullis und nicht ganz billigen Cashmere-Schals, legten Wert auf Façon beim 1 | Vgl. Ehrlich, Peter: »Die neue Mitte ist grün-gelb«, in: Financial Times Deutschland, 27.7.2006.

2 | Vgl. Nutt, Harry: »Dieses eklige Erwachsensein«, in: die tageszeitung, 23.2.1999.

124 | Gelb oder Grün? regelmäßigen Haarschnitt und gaben sich betont affirmativ gegenüber dem Staat, der Wirtschaftsordnung, der Leistungsgesellschaft. Das mag klischeehaft klingen, aber es war eine hunderttausendfach geteilte Alltagserfahrung irgendwo in den Jahren 1973 bis 1983. Auf den Schulhöfen standen die beiden Gruppierungen sorgfältig getrennt in verschiedenen Ecken.3 Die beiden Kulturen begegneten sich mit herzlicher Abneigung, ja Verachtung. Es spricht viel dafür, dass sich selbst bei kühlen Machtmenschen wie Trittin und Westerwelle, ob sie noch wollen oder nicht, sofort die eingeübten Reflexe ihrer Sozialisationsjahre einstellen, sobald sie sich nur über den Weg laufen. Vieles an den Gegensätzen damals drückte sich also aus in Habitus, Expressivität und Stilisierung. Doch hat sich diese Divergenz bekanntermaßen abgeschliffen. Der frühere Aktivist des Kommunistischen Bundes, Jürgen Trittin, ist mittlerweile keineswegs schlechter gekleidet als der ehemalige Yuppie aus Bad Honnef, Guido Westerwelle. Man wird überhaupt die größte Mühe haben, auf den Versammlungen von Grünen irgendwelche Exemplare einer demonstrativen Gegenkultur zu finden. Schmuddelkinder sind die in die Jahre gekommenen Ökos, wie zu sehen war, längst nicht mehr. Sie haben vielmehr – vergleicht man es mit der langen und mühseligen Dauer des Integrationsprozesses der sozialistisch orientierten Arbeiterbewegung – in erstaunlich kurzer Zeit ihren Aufstiegs- und Anpassungsprozess hinter sich gebracht. Grob soziologisch betrachtet, stehen die Grünen in der gesellschaftlichen Hierarchie da, wo sich zuvor schon seit dem 19. Jahrhundert die Liberalen sicher platziert hatten: in der arrivierten Mitte der besser Gebildeten und besser Verdienenden. Schaut man noch ein Stückchen differenzierter hin, dann wird man gar konstatieren müssen, dass die Grünen mittlerweile die freidemokratischen Bürger hinter sich gelassen haben, da die grüne Wählerschaft beim Erwerb von hochangesiedelten Bildungszertifikaten weit bessere Ergebnisse erzielen konnte als die Zugehörigen im liberalen Gegenüber. Die GrünenWählerschaft zwischen Rostock und Leipzig, also in den »neuen Bundesländern«, hat die Bildungsbürgerlichkeit der Öko-Partei während der letzten Dekade noch ein beträchtliches Stück ausgebaut. Zwischen den Grünen und der Schicht der Arbeiter ist die Fremdheit hingegen so ausgeprägt wie nirgendwo sonst. Demgegenüber ist der Arbeiteranteil am FDP-Elektorat seit Möllemanns Zeit stattlich gewachsen, vor allem im Osten der deutschen Republik. 3 | Vgl. Stenglein, Frank: »Westerwelle und die Grünen – es passt einfach nicht«, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 16.5.2009.

IV. Grüne und Liberale. Konklusion und Ausblick | 125 Im Protest zu dieser Gesellschaft stehen die Grünen natürlich nicht. Im Gegenteil, sie haben sich seit den späten 1990er Jahren zur Republikpartei schlechthin gewandelt. Eine Umfrage im Jahr 2009 ergab, dass niemand Deutschland als so gerecht verfasst empfindet wie die Sympathisanten dieser Partei. Und dass die deutsche Sicherheit am Hindukusch verteidigt wird, bezweifelten viele Bürger, lange am wenigsten aber diejenigen, welche sich zu den Grünen bekennen und die entschiedener als alle anderen für den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr plädierten. Gemeinsam ist Grünen und Gelben, dass sie die Erwerbstätigenparteien schlechthin in der Republik sind. Fast vier Fünftel ihrer Wähler stehen aktiv im Beruf, während die Hälfte des Elektorats der beiden Volksparteien von Transfers lebt.

B ESSERVERDIENENDE

DENKEN NICHT GLEICH

Dennoch können sich Grüne und Freie Demokraten auch im Jahr 2010 partout nicht ausstehen. Und natürlich geht das nicht allein auf frühere gymnasiale Fehden und pubertär überhitzte Abneigungen zurück. Es gibt nach wie vor tatsächliche Differenzen. Die grobe soziologische Betrachtung reicht nicht. »Das Sein bestimmt bei den Grünen-Wählern eben nicht weitgehend das Bewusstsein«, kommentierte Anfang 2010 das Parteiratsmitglied der Grünen Arvid Bell das Ergebnis einer neuen TNS-Infratest-Studie über Einstellungen grüner Sympathisanten, die in den meisten Fragen weiterhin links von der Mitte angesiedelt waren.4 Grüne und Freie Demokraten teilen zwar den gutbürgerlichen Status, aber sie begründen gleichwohl zwei verschiedenartige Lebenswelten im Milieu der Besserverdienenden. Zwischen diesen Welten gibt es bemerkenswert wenig soziale Kontakte und normative Berührungspunkte. Selbst CDU-Wähler stehen den Grünen nachweislich nicht so misstrauisch-ablehnend gegenüber wie die Anhänger von Westerwelle. Auch die Analysen der Wanderungsbewegungen zwischen den Parteien bei Wahlen ergeben, dass sich zwischen FDP und Grünen faktisch nichts tut. Wer der FDP abtrünnig wird, geht nicht zu den Grünen; wer sich von den Grünen enttäuscht fortbewegt, strebt nicht ins Lager der Freien Demokraten. Bei der FDP geben in den letzten Jahren wieder kleinere und mittlere Selbstständige politisch den Takt an. Bei den Grünen sind das die Beamten des höheren öffentlichen Dienstes. In der neuen FDP-Kernanhängerschaft dominiert der Typus des jungen Mannes, der laut damit hadert, dass nicht genug Netto vom 4 | Zit. nach: Beste, Ralf: »Jung, bürgerlich, links«, in: Der Spiegel, 25.1.2010.

126 | Gelb oder Grün? Brutto bleibt. Im Spektrum der Öko-Partei überwiegen akademische Frauen mittleren Alters, denen eine ordentliche sozialstaatliche Infrastruktur und öffentliche Institutionen zur Unterstützung ausbalancierter Lebensmodelle wichtiger sind als kräftige Steuersenkungen für den Einzelnen. Ein stattlicher Anteil der FDP-Wähler beurteilt soziale Unterschiede als durchaus gerecht; bei den Grünen ist diese Weltsicht nur wenig vertreten. Die taz-Journalistin Ulrike Winkelmann urteilt daher: »Es ist eben ausgerechnet der klassische bürgerliche Idealismus, der den linken Kern der Partei ausmacht. Grüne haben Geld und Bildung. Dennoch machen sie das Abgeben zum Programm: in der Gemeinschaftsschule, in der Bürgerversicherung, beim Klimaschutz. Die Uneigennützigkeit ist der lebendige Funke der Grünen, er macht sie auch in den Augen Andersdenkender erst besonders. Links daran ist, die Interessen der Bessergestellten gesetzlich zur Disposition zu stellen – auch wenn es tatsächlich etwas kostet, also Umverteilung bedeutet. Die Bürgerversicherung würde die Gutverdiener in ein Sozialsystem mit dem Rest der Gesellschaft zwingen. Klimaschutz würde das Recht auf Ressourcenverschwendung gerechter verteilen. Die Gemeinschaftsschule würde Arbeiter- und Migrantenkindern faire Chancen geben.«5 Eben das macht das Problem einer Zusammenarbeit zwischen den beiden Scharnierparteien der Mitte wirklich aus: Sie sind sich sozial nah, aber differieren im Ethos, in den Alltagsphilosophien, in ihren orientierenden Deutungsmustern nach wie vor erheblich. Sie unterscheiden sich vor allem dort, wo es ums Eingemachte geht, um die primäre politische Identität. Keine Formation wettert stärker über die vermeintliche Steuerlast in Deutschland als die der Liberalen.6 Niemand hält demgegenüber die steuerliche Beanspruchung der Bürger für so angemessen wie das grüne Pendant. Fast alle Grün-Wähler hätten gern sämtliche Atommeiler abgeschaltet; nahezu drei Viertel der FDP-Wähler setzen dagegen eindringlich auf die Atomtechnologie. Grüne Anhänger sind in erheblicher Zahl ehrenamtlich aktiv, in den letzten Jahren zunehmend im kirchlichen Bereich. Die jungen Truppen der FDP hingegen kündigen vermehrt – nicht zuletzt wegen der Kirchensteuern – ihre Mitgliedschaft im institutionellen Christentum auf und zeigen wenig Sinn für bürgergesellschaftliches Engagement gleich welcher Art. Es sind also nicht nur Phantomdifferenzen, welche die beiden 5 | Winkelmann, Ulrike: »Grüne sind immer noch links«, in: die tageszeitung, 24.4.2008.

6 | Vgl. Infratest dimap: »ARD-Deutschland TREND Juli 2009«, Berlin 2009.

IV. Grüne und Liberale. Konklusion und Ausblick | 127 Parteiführungen beschwören. In der wohlhabenden Mitte der Gesellschaft haben sich zwei eigene und konträre Lebenswelten entwickelt, nicht in materieller Hinsicht, aber in Hinsicht von Prinzipien, von Einstellungen, in der Sichtweise von dem, was man für wichtig hält, wie man die Zukunftsentwicklungen interpretiert, welchen Umgang man mit anderen Schichten erstrebt. Dahinter verbergen sich keine fundamentalistisch entgegengesetzten Ideologien. Aber Unterschiede in der normativ unterlegten Perspektive, was eine gute Gesellschaft ausmacht, lassen sich durchaus erkennen. Und manchmal wünscht man sich, dass solche realen Differenzen der Gesellschaft auch in der Politik stärker zugespitzt und in einen ernsthaft ausgetragenen Streit überführt werden. Nicht alles sollte eingeebnet, planiert, entkernt, nivelliert werden. Die Differenz ist schließlich ein Motor für Produktivität. So gesehen, muss man tatsächlich nicht zwingend darauf drängen, dass Grüne und Freie Demokraten demnächst den koalitionären Schulterschluss vollziehen.

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