Gedichte und Stücke [Reprint 2021 ed.]
 9783112544983, 9783112544976

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

G. M. SCAEVOLA GEDICHTE UND STÜCKE

TEXTAUSGABEN ZUR FRÜHEN SOZIALISTISCHEN LITERATUR IN DEUTSCHLAND Herausgegeben

vom

Zentralinstitut f ü r Literaturgeschichte d e r Akademie d e r Wissenschaften d e r D D R durch Dr. U R S U L A M Ü N C H O W

BAND

XX

G. M. SCAEVOLA

GEDICHTE UND STÜCKE Herausgegeben

von

GUDRUN und HANS HEINRICH KLATT

AKADEMIE-VERLAG • BERLIN 19 77

Erschienen im Akademie -Verlag, 108 Berlin, Leipziger Str. 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1977 Lizenznummer: 202 • 100/235/77 Gesamtherstellung: IV/2/14 V E B Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 445 Gräfenhainichen/DDR • 4900 Bestellnummer: 753 1829 ( 2 1 1 9 / X X ) . L S V 7109 Printed in G D R DDR 1 5 , - M

INHALT

VII 1 3

EINLEITUNG TEXTE Rotdeutschlands Aufstieg

3

Wahlkampf-Lieder

3

Das große Wecken

6

An mein Volk!

8

Vorwärts, mein Volk, von Sieg zu Sieg!

10

Kampfjahr!

12

Wähl rot!

14

Die Roten an die Toten

17

Prometheus' Volk

19

Zur Wahlschlacht

21

Zur Stichwahlschlacht 1907

23

Unser die Welt, trotzalledem!

25

Völker der Erde, wahret eure heiligsten Güter!

27

Des Volkes Wille — das oberste Gesetz!

29

Aufruf an die Frauen

30

Gebt Raum den Frauen!

32

Welten-Friede

32

Das rote Siegeslied des 20. Jahrhunderts

35

Die französische Revolution Episch-dramatische Dichtung in zwölf lebenden Bildern

50

Melodramatische Dichtung in einem Aufzuge

Völkerfrühling Weltenmai! Der entlarvte Spitzel 73

Komödie in zwei Akten V

141

Zwölf Jahre der Verbannung oder Des Ausgewiesenen Heimkehr Episch-dramatische Dichtung in zwölf lebenden Bildern ANHANG

163

Abkürzungen

163

Anmerkungen zur Einleitung

165

Bemerkungen zu den Texten

EINLEITUNG

Am l . 10. 1892 veranstaltete die Sozialdemokratische Partei Deutschlands in Berlin eine Gedächtnisfeier, deren Anlaß der zweite Jahrestag des Sieges über das Sozialistengesetz war. Die Festrede — Bilanz der bisherigen und zugleich Programm der künftigen Arbeit — hielt der Reichstagsabgeordnete August Bebel. Im Anschluß an diese mit „stürmischem Beifall" 1 aufgenommene Ansprache gelangte ein Festspiel zur Uraufführung. Unter dem auf das Sozialistengesetz anspielenden Titel „Zwölf Jahre der Verbannung oder Des Ausgewiesenen Heimkehr" behandelte es Probleme des illegalen Kampfes, verfolgte das Schicksal der Kämpfenden im Exil, erinnerte an deren Sorgen und Nöte, ließ aber dennoch keinen Zweifel über die — historisch begründete — Zuversicht und Siegesgewißheit der Partei der deutschen Arbeiterklasse, der revolutionären Sozialdemokratie. Autor des Festspiels war G. M. Scaevola. Der Mann, der sich hinter diesem Pseudonym verbarg, ist bis heute unbekannt geblieben. Obwohl die Aufführung des Festspiels während einer überregionalen Parteiveranstaltung auf eine hohe Wertschätzung, die die Parteiführung dem Autor entgegenbrachte, schließen läßt, Scaevola darüber hinaus in den folgenden Jahren im Dienst der Partei wirksam wurde, gibt es nur spärliche Angaben über seine Biographie. Sie gehen auf Brümmers Literaturlexikon zurück. Demzufolge wurde Scaevola am 3.4.1859 geboren, sollte sich „nach Absolvierung des Gymnasiums dem Baufach widmen, wandte sich aber bald dem Berufe des Schriftstellers zu und ist als solcher bisher den Interessen der Sozialdemokratie dienstbargewesen." 2 IX

Da er sich des Kampfnamens Scaevola (Linkshand, Linker — vgl. Anm. 2) bediente, ist anzunehmen, daß er bereits in den Jahren des Sozialistengesetzes illegal gearbeitet hat und nach 1890 mit der Partei zum Parteiarbeiter und Schriftsteller aufstieg. Seine wahrscheinlich letzten größeren Publikationen sind 1907/08 erschienen. Später wurden noch einzelne Gedichte wiederabgedruckt. So publizierte Franz Diederich in seiner Anthologie „Von unten auf" (1911) das „Lied vom 19. und 20. Jahrhundert". Neben der bereits 1972 wiederveröffentlichten epischdramatischen Dichtung „Die französische Revolution" 3 stellt unsere Ausgabe die Lyrikanthologie „Rotdeutschlands Aufstieg" (1907), das Festspiel „Zwölf Jahre der Verbannung oder Des Ausgewiesenen Heimkehr" (1892) und die Komödie „Der entlarvte Spitzel" (1895) erstmalig wieder vor. Damit werden Dokumente zugänglich gemacht, die das Verhältnis von Partei und Literatur, von Politik und Kunst in der Zeit der Jahrhundertwende auf neue Weise beleuchten. Die Wirksamkeit des Genossen, der sich Scaevola nannte, konzentrierte sich auf einen ganz bestimmten, für die organisierte revolutionäre Arbeiterbewegung in Deutschland entscheidenden Zeitraum, nämlich die neunziger Jahre des 19. und die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts. Entscheidend waren diese Jahre in verschiedener Hinsicht: 1890, „als das Sozialistengesetz fiel — fallen mußte, weil es bei jedem vernünftigen Menschen ferner als unmöglich galt, weil sich herausgestellt hatte, daß das Gesetz, statt die Partei zurückzuhalten, sie größer und größer gemacht hatte, so daß sie schließlich die weitaus stärkste Partei im Deutschen Reiche" 4 war, begann für diese Partei der Weg aus der Illegalität und damit der Aufbau und Ausbau einer Kampfpartei unter legalen Bedingungen. Diese veränderte Situation stellte neue Anforderungen an die Parteiarbeit. Einerseits war die revolutionäre Sozialdemokratie auch in diesen Jahren ständig von Repressalien der herrschenden Klasse bedroht. Solche Gesetzentwürfe, wie die „Umsturz-Vorlage" (1894/95), die „Zuchthaus-Vorlage" (1899), die v o r dem Reichstag X

verhandelt wurden, hätten bei ihrer Annahme durch diese Instanz faktisch zu einem neuerlichen Verbot der Partei und ihrer Organisationsformen geführt. Andererseits galt es, in den eigenen Reihen gegen Vorstellungen von einem reformistischen Weg anzukämpfen. Die Tatsache, daß trotz des Sozialistengesetzes der Einfluß der Partei gewachsen war, daß Wahlentscheidungen wesentlich zur Stärkung ihrer Position beigetragen hatten, gab den reformistischen Bestrebungen innerhalb der Sozialdemokratie,- die sich um Eduard Bernstein sammelten, einen gewissen Auftrieb. Angesichts dieser komplizierten Situation ging es darum, das marxistische, auf dem Erfurter Parteitag (1891) angenommene Programm, die langfristige Strategie und Taktik der revolutionären Sozialdemokratie, konsequent durchzusetzen. Insofern bestand kein Zweifel, daß — wie August Bebel betonte — der „schwerste Kampf" 5 noch bevorstehe. Auf der Grundlage eines gut funktionierenden Pressewesens (1899 : 73 Zeitungen mit einer Gesamtauflage von 400000 Exemplaren 6 ) war die massenpolitische Arbeit ein Kernstück der Parteiarbeit. Die Aufgaben von Agitation und Propaganda reichten von der tagtäglichen Aufklärung und Erziehung der Massen, ihrer Mobilisierung bei konkreten politischen Ereignissen, vor allem Wahlen, bis zur Vermittlung eines revolutionären Geschichtsbewußtseins, das die historische Legitimation für den revolutionären Kampf und die historische Mission der Arbeiterklasse wachhielt. Entgegen der Behauptung heutiger linksbürgerlicher Publikationen, die von einer Einengung auf die Tagesagitation sprechen 7 , nahm die Geschichtspropaganda einen zentralen Platz in der ideologischen Arbeit der revolutionären Sozialdemokratie ein. Dabei war es gerade ein Vorzug, daß die Vermittlung von Geschichtsbewußtsein bei den aktuellen Bedürfnissen des Tageskampfes ansetzte und diese in ein historisches Bezugsfeld stellte. So nahm August Bebel seine Reden während der Verhandlungen über die „Umsturz-Vorlage" zum Anlaß, um Entstehung und Kampf der Sozialdemokratie aus den geschichtlichen Gesetzmäßigkeiten der menschlichen GeXI

sellschaft abzuleiten. Auch die Sozialdemokratie, so betonte er, ist ein „Produkt unserer Zeit": „Was die Sozialdemokratie hervorgerufen hat, ist ja wieder nur die Entwicklung der Gesellschaft. Vor 50 Jahren war sie in Deutschland unmöglich, weil die ökonomische Entwicklung der Gesellschaft noch nicht jene Schichten zur vollen Klarheit ihrer Stellung gebracht hatte, aus denen sich heute vorzugsweise die Sozialdemokratie rekrutiert, das moderne Proletariat. Die kapitalistische Wirtschaftsordnung ist der Boden, auf dem die Sozialdemokratie naturgemäß erwachsen mußte, genau so, wie auf einer gewissen Höhe der Entwicklung der feudalen Gesellschaft die bürgerliche Gesellschaft erwuchs, die teils auf ruhigem, gesetzlichem Wege, teils auf gewalttätigem Wege die alte feudale Gesellschaftsordnung untergrub und zerschlug und die heutige bürgerliche Gesellschaftsordnung in allen ihren einzelnen Erscheinungen ins Leben rief. So gut also die heutige bürgerliche Gesellschaft erst das Produkt eines Entwicklungsganges ist, . . . so kommt aus dem weiteren Entwicklungsgang der bürgerlichen Gesellschaft das moderne Proletariat zum Klassenbewußtsein und strebt ebenfalls nach höherer Entwicklung und menschenwürdiger Stellung in der Gesellschaft, nach einer neuen Form der Gesellschaft, die begründet wird, weil sie in der naturgesetzlichen Entwicklung der Gesellschaft unausrottbar liegt. . . . Hinter der bürgerlichen Gesellschaftsordnung steht eine neue, werdende Gesellschaftsordnung, die sozialistische."8 Unter den Bedingungen einer verstärkten politischideologischen Arbeit erschienen, in der Regel aus aktuellem Anlaß, in der lokalen und überregionalen Parteipresse Scaevolas Lieder und Gedichte. Die Ausgaben seiner Stücke wurden vorwiegend im Parteiverlag „Vorwärts" publiziert. Scaevolä gehörte zu jenen, die mit ihren Mitteln, publizistisch-agitatorischen sowie künstlerischen, die politisch-ideologische Erziehungsarbeit der Partei unterstützen wollten. Dieses konkrete Anliegen, Agitator und Propagandist zu sein, nahm Scaevola auf spezifische Weise wahr, die ihn von anderen Lyrikern der frühen sozialistischen Literatur unterXII

scheidet. So widmete Scaevola vor allem in den neunziger Jahren seine Gedichte ganz dem parlamentarischen Kampf der sozialdemokratischen Partei. Daher fehlten bei ihm durchgehend konkrete ökonomische Vorgänge und Fakten, die beispielsweise der Lyriker Heinrich Kämpchen benutzte, um einen empirisch erfahrenen Ausbeutungsmechanismus zu charakterisieren. Kämpchen, selbst Bergarbeiter, verfügte über andere Wirklichkeitserfahrungen, die er in seine Gedichte einbrachte. Aus der Schilderung des Elends und der Ausbeutung entwickelte er den agitatorischen Grundgestus seiner Gedichte. Sie gewannen ihre Überzeugungskraft durch die Konkretheit der Argumentation.9 Scaevola indessen entstammte nicht — das kann als gesichert gelten — der Arbeiterklasse. Seiner sozialen Herkunft nach gehörte er wohl zu den Mittelschichten, deren fortgeschrittenste Vertreter sich der revolutionären Arbeiterbewegung anschlössen. Damit ermangelte es ihm aber auch an Erfahrungen, über die Kämpchen souverän verfügen konnte. Es fällt weiterhin auf, daß Scaevola in seinen Gedichten kaum autobiographisches Erleben reflektiert oder verarbeitet. Hierin unterscheidet er sich besonders deutlich von dem 1870 geborenen Ernst Preczang, bei dem konkretes, individuell angeeignetes gesellschaftliches und Naturerleben zum konstituierenden Element des lyrischen Ichs wird. 10 Preczang hat rückblickend sein poetisches Anliegen formuliert: „Ich bin nie ein rechter Politiker im eigentlichen Sinne gewesen. Zum Redner, Debatter, Agitator fehlte mir so gut wie alles, vor allem die Neigung. Mein Interesse galt hauptsächlich den seelischen Einflüssen der Bewegung und ihrem Anteil an einer neuen geistigen Kultur, die sich aus der Volkstiefe erheben sollte." 11 Im Sinne dieses Programms könnte Scaevola als direkter Gegenpol zu Preczang gefaßt werden. Beschränkungen bzw. Verluste liegen jedoch auf beiden Seiten. Während bei Preczang das Auseinanderfallen von politisch-gesellschaftlicher und individuell-„natürlicher" Sphäre 12 auffällt, fehlt dieser zweite Aspekt bei Scaevola fast völlig. Das heißt nicht, seinen Gedichten ermangele es an Emotionalität; sie erwächst XIII

bei ihm vielmehr aus dem unmittelbar politischen Engagement. Im Unterschied sowohl zu Kämpchen als auch zu Preczang erscheint Scaevolas Lyrik zunächst wesentlich unpersönlicher. Ihr Grundgestus ist erzieherisch-aufklärerisch, agitatorisch. Das lyrische Ich in seiner Individualität tritt bewußt hinter den politischen Auftrag zurück. Diese Besonderheit der Lyrik Scaevolas ergibt sich aus deren politischer Funktion. Die Mehrzahl der in der Sammlung „Rotdeutschlands Aufstieg" vereinigten Gedichte sind im Zusammenhang mit bevorstehenden Wahlen geschrieben worden. Sie waren Wahlagitation, hatten die Aufgabe, über Veranstaltungen der Partei und über die Presse jene Wählermassen zu erreichen, die der Sozialdemokratischen Partei Stimmenzuwachs bringen und damit ihre Position im Klassenkampf festigen sollten. Sie orientieren sich an den Forderungen des Tages, leben von dem konkreten politischen Anlaß, mit dem zugleich ein bestimmter politischer Auftrag an die Adressaten vermittelt wird. So fordert das Gedicht „An mein Volk! Aufruf zum Wahlkampf am Donnerstag, 15. 6. 1893" zur NeinStimme auf, die als Absage an die Politik des Kaiserreichs interpretiert wird. Wenig später, als durch das erreichte Wahlergebnis eine neue Situation entstanden ist, sollte aber gerade dem richtigen Kandidaten, auf den sich die sozialdemokratische Partei geeinigt hatte, die Stimme gegeben werden. Daher heißt es in dem Gedicht „Vorwärts, mein Volk, von Sieg zu Sieg! Aufruf zur Stichwahlschlacht": „Die Feinde, die sich bis zur Stund' / Bekämpften, sind vereint; / Die blasse Furcht schloß feig den Bund, / Du bist nun aller Feind! / Es rückt die ganze Masse / Geschlossen gegen dich: / Greif zu, mein Volk, und fasse / Dein Schwert zum letzten Stich!" Scaevolas Lyrik der neunziger Jahre ist also in hohem Maße den Wechselfällen des parlamentarischen Kampfes ausgeliefert. Um dennoch immer überzeugend zu sein, bedurfte es spezieller Artikulationsmöglichkeiten. Scaevola findet sie, indem er sein ganzes persönliches Engagement, seine revolutionäre Leidenschaft in die Haltung des Aufrufenden bzw. Anrufenden, ja XIV

sogar Beschwörenden verlegt. Zum Hymnischen neigendes Pathos und kraftvoll-anschauliche Bilder sind die Hauptelemente dieses Anruf-Gestus, der durch einen harten, bisweilen marschschrittartigen Rhythmus seinen Mobilisierungscharakter erhält. Obwohl Scaevolas Gedichte gedruckt worden sind, kann man davon ausgehen, daß sie in der Mehrzahl für eine konkrete Sprechsituation auf Wahlveranstaltungen der Partei geschrieben wurden. Nur der unmittelbare und häufig erprobte Kontakt mit dem Zuhörer, eine gleichsam über einen längeren Zeitraum entwickelte Vertrauensbasis, erklärt diese eigenartige Synthese von Aufklärerischem und Emotionalem. Dabei ist für den inneren Aufbau des einzelnen Gedichts der Übergang vom suggestiven Ansprechen zum pathetisch-beschwörenden Aufruf charakteristisch. Das heißt, die innere Struktur des Gedichts evoziert eine wachsende Anteilnahme des Zuhörers, entwickelt eine Aufnahme bereitschaft bei ihm, so daß er am Ende den Aufruf tatsächlich als Auftrag, mit dem er sich identifiziert, annimmt. Scaevolas Art, mit dem Zuhörer in Kontakt zu treten, hat vieles gemeinsam mit der Haltung des Volkstribunen. Das ist keineswegs zufällig und hat verschiedene — objektive wie subjektive—Gründe. Die SPD bekam in jenen Jahren ihren Stimmenzuwachs vor allem durch den Zufluß nichtproletarischer Wählerschichten, die in der Sozialdemokratie eine Alternative zur imperialistischen Politik des Kaiserreichs zu sehen begannen. Um sich dieser Wählerschichten zu versichern, ihren Anteil sogar noch zu erhöhen, mußten in der Agitationsarbeit gerade die gemeinsamen Interessen aller Unterdrückten betont werden. Wenn Scaevola daher in der Anrede den Begriff „Volk" ziemlich undifferenziert gebraucht und ihn selten klassenmäßig konkret faßt, so ist das auch in diesem politischen Zusammenhang zu sehen. Zugleich deutet sich aber noch ein anderes Problem an, das durch Scaevolas Biographie, seine nichtproletarische Herkunft, bedingt ist. Scaevola, der mit der Bindung an die Partei seine Klasse gewechselt hatte, mußte den Kontakt zum Publikum anders herstellen als der Arbeiterschriftsteller. Der Arbeiterdichter wies sich durch die VerXV

mittlung eigener, von Kindheit an erworbener, Klassenkampferfahrungen aus: Die Verbindung zu seinem Publikum war die Bindung an seine Klasse. Scaevola mußte diese Bindung erst schaffen. Er tat das, indem er sich an das „Volk" generell wandte, es aufrief, anrief, es beschwor, ihm zuzuhören, weil er ihm Wichtiges zu sagen hatte. Die Haltung des Volkstribunen bei Scaevola ist aber auch in seinem politisch-philosophischen Verhältnis zur Französischen Revolution begründet. Man ist beim Lesen seiner Gedichte unwillkürlich etwa an die Reden Saint Justs erinnert, mit dem er neben seiner Leidenschaftlichkeit auch den Moralismus gemeinsam hat. Darin liegt eine Stärke, aber zugleich auch eine Schwäche Scaevolas. Sein Moralismus ist es, der ihn weniger zur Analyse politischer bzw. ökonomischer Situationen treibt, denn zur metaphorischen und immer auch emotional aufgeladenen Umschreibung zwingt. Gleich Saint Just, der sich in seinen Reden immer der biblischen und antiken Mythologie bediente, damit konkrete Kampfsituationen kennzeichnete, arbeitet Scaevola mit solchen Bildern. So erscheint bei ihm das Proletariat sowohl in Gestalt des Atlas, der die Erdkugel mit seinen Händen trug, als auch in Gestalt des kranken und ausgemergelten Lazarus. Das Proletariat, das zur revolutionären Tat schreitet, teilt indessen den „Alexanderhieb" aus. Der „Wald von Dunsadal" nach Shakespeares „Macbeth" steht bei ihm als Bild für das Volk, das sich zur Stichwahl richtig entscheidet: „Ein jeder Mann am Schlachtentag I Trag vor sich einen Baum, / Daß dich der Feind betrachten mag / Als grünen Waldessaum. / So mußt du, Volk, umsäumen / Der blinden Feinde Zahl, / Flutend sie überschäumen, / ein Heer von Tannenbäumen, / Ein Wald von Dunsadal!" Für den heutigen Leser mag es komisch wirken, wenn Shakespeares Wald von Dunsinane zu „Dunsadal" wurde, da nur dann der Reim auf „Wahl" und „Zahl" zustande kam. In der konkreten Sprechsituation aber ging es ja primär überhaupt nicht um die Verifizierung des Wortes — ja die Mehrzahl der Zuschauer wird mit dem als „Sage" benannten „Wald von Dunsadal" überhaupt keine konkreten Assoziationen XVI

verbunden haben. Entscheidend war, daß mit diesem Bild — das zudem noch als Antithese zum kahl gebliebenen „Weihnachtsbaum des Volkes" stand — jene Massenbewegung charakterisiert werden konnte, die notwendig war, um den Wahlsieg zu erringen. Scaevola löst daher auch das Bild vom „Wald . . .", nachdem es entwickelt wurde, sofort wieder auf und führt es auf die realen Kampfbedingungen zurück: „Drum, Volk, mit Eisenklammern schließ / Zusammen dich im Bund! / . . ./ Daß mit dem Recht zugleich / Des Elends Ele-mente / Ziehn in die Parlamente / Von Stadt und Land und Reich!" Durch das literarische Bild konnte die politische Agitation vertieft werden, indem sie sich durch Anschaulichkeit und Emotionalität um Intensität in der Wirkung bemühte. Scaevola kamen dabei seine Kenntnisse an humanistischer Bildung zugute, die er teils geschickt, teils grobschlächtig mit seinen politischen Intentionen verband. Gerade das nicht Gelungene, das Gewollte und noch nicht Gekonnte in diesen Gedichten der neunziger Jahre erscheint als methodische Erfahrung von einigem Wert: Scaevola war einer jener Parteiarbeiter, die sich eng an den praktisch-politischen Kampf der Partei banden. Gleichsam als Suchender erprobte er seine künstlerischen Mittel und griff dabei mitunter daneben. Trotz solcher Mißgriffe aber war er praktisch auf ein objektiv neues — und für die künftige Entwicklung sozialistischer Literatur — entscheidendes Problem orientiert, nämlich, in welchem Maße die Integration der künstlerischen Tätigkeiten in die Parteiarbeit zugleich spezifische Mittel und Methoden der Überzeugung freisetzt bzw. schafft, die nur der Kunst zur Verfügung stehen. Konnte sich auch das Leninsche Prinzip der Parteiliteratur in Deutschland erst nach 1917/18 und nach der Entstehung einer Partei neuen Typus durchsetzen, so dürfen doch in den Beziehungen zwischen Parteiarbeit und Scaevolas politischer Lyrik erste Keimformen dieses Prinzips gesehen werden, für dessen weiteren Ausbau damals weder die objektiven noch die subjektiven Bedingungen vorhanden waren. Scaevolas Fähigkeit, aus Erfahrungen zu lernen, wird in jenen Gedichten deutlich, die um die Jahrhundert2

Klatt, Scaevola

XVII

wende entstanden. Je mehr sich die Weltereignisse zuspitzten und die Auswirkungen der imperialistischen Politik sowie die wachsende Kriegsgefahr für die Volksmassen immer spürbarer wurden, nahm der Bildgehalt in Scaevolas Lyrik ab, und Wirklichkeitstatsachen traten an seine Stelle. So heißt es in dem Gedicht „Wähl rot! Aufruf zur Wahlschlacht am 16. Juni 1903": „Die Zukunft liegt in deiner Hand, / Nicht auf dem Ozean./ Zum Bruderbund schreit' Land an Land / Die Völkerfriedensbahn./ Du darbst, und sollst dich brüsten / Mit blutger Kriegesehr? — / Zur Rüste geht das Rüsten! / Genug für Heer und Meer! / Des Volkes Willen mache / Zum obersten Gebot! / Erwache, Volk, erwache! / Ermanne dich! Wähl rot." Ohne die Haltung des Anrufenden und Aufrufenden aufzugeben, gewannen Scaevolas Gedichte im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts zunehmend an Realitätsgehalt. Das blieb nicht ohne Konsequenzen für den inneren Aufbau seiner Gedichte: Der Dichter trägt nicht mehr von außen literarische Bilder in die Gedichte hinein, um Wirklichkeit faßbar zu machen und den Zuhörer zu aktivieren, sondern umgekehrt: Er nimmt jetzt die „Stimme des Volkes", die Sprechchöre und Parolen der Straße, der Massendemonstrationen in seine Gedichte hinein. In dem Wahlkampflied „Zur Wahlschlacht 25. Januar 1907" heißt es: „Blast! Blast! Ihr roten Rotten / Rotdeutschlands Schlachtmusik: / ,Fort mit den Hottentotten. / Fort mit der bankrotten / Weltflotten-Politik'". Hier ist der rhythmisierte Sprechgestus der Straße, des politischen Kampfplatzes, in das Lied eingebracht worden, und er war zugleich wieder auf der Straße brauchbar. Die Erziehungsfunktion realisiert sich dabei auf einer neuen Stufe jener echten Bindung zum Alltag der unterdrückten Massen und deren Wirklichkeitserfahrungen. Daher bleibt es auch nicht mehr beim einfachen Aufruf oder Anruf: Dichter und Volksmassen bilden im gemeinsamen Kampfesruf eine unlösbare Einheit. Auf der Basis dieser Gemeinsamkeit setzt gleichzeitig ein differenziertes Ansprechen verschiedener sozialer Gruppierungen ein. Zwar bleibt der Begriff „Volk" als allgemeine Kennzeichnung der politisch-sozial UnterXVIII

drückten erhalten, aber zugleich wendet sich Scaevola nunmehr an unterschiedliche soziale Schichten wie den Industrieproletarier, das Landvolk, die Frauen und berührt ihre — innerhalb des gemeinsamen Anliegens — spezifischen Probleme. Im selben Maße differenziert sich das Feind-Bild. In dem Gedicht „Zur Stichwahlschlacht 1907. Großes reaktionäres Masseneinigungsterzett aller feindlichen Brüder" erklärt er die unterschiedlichen Interessen der Unterdrücker. E s treten in verteilten Rollen der Junker, der P f a f f e und der liberale Mischmaschmann auf, die alle drei der Meinung sind, daß es so nicht mehr weitergehen kann; sie kommen daher zu dem Schluß: „ E s muß etwas geschehen." Diese Wendung wird dann im zweizeiligen Schlußvers vom Dichter-Ich aufgenommen und an die Unterdrückten gerichtet: „Dann komme, du Riese der .rettenden T a t ' . . . I Es muß etwas geschehen! — " Der Inhalt dieses künftigen Geschehens, die realhistorische Perspektive ist dabei noch sehr abstrakt formuliert. Doch hier liegt nicht allein ein Mangel an Scaevolas eigenem Geschichtsverständnis vor; dieses Problem war innerhalb der Sozialdemokratie überhaupt noch ungelöst. Ein augenfälliger Beweis dafür ist folgendes Manöver der „Vorwärts"-Redaktion: Sie druckte die Einleitung von Friedrich Engels zu Karl Marx' Schrift „Der Bürgerkrieg in Frankreich", änderte aber eine entscheidende Formulierung. Bei Engels hieß es: Der „sozialdemokratische Philister ist neuerdings wieder in heilsamen Schrecken geraten bei dem Wort: Diktatur des Proletariats. Nun gut, ihr Herren, wollt ihr wissen, wie diese Diktatur aussieht? Seht euch die Pariser Kommune an." Die Redaktion nun ersetzte das Attribut „sozialdemokratisch" durch das Wort „deutsch". Engels' Kritik traf somit den „deutschen Philister" ganz allgemein, nicht mehr aber die Sozialdemokratie. 13 Weder das Problem der Diktatur des Proletariats, noch das der demokratischen Republik — die als Aufgabenstellung ja noch nicht mal in das Erfurter Programm aufgenommen werden konnte, weil der Partei dann strafrechtliche Verfolgung seitens der Monarchie gedroht hätte — war damals wirklich geklärt. 2

XIX

Der Zuwachs an Realität bis hin zu konkretem Faktenmaterial, das Scaevola in seine Gedichte nach der Jahrhundertwende einbrachte, barg zugleich differenzierte Lösungen für das Verhältnis von direktem operativem Anlaß und seinen Vermittlungen zur historischen Mission der Arbeiterklasse. In den Gedichten der neunziger Jahre nämlich erschien die jeweils geforderte Wahlentscheidung oftmals als unmittelbare Voraussetzung für den in Kürze zu realisierenden historischen Sieg der Arbeiterklasse. Hier kam es mitunter zu einer Deckungsgleichheit von historischer Aufgabenstellung, die nur langfristig durchzusetzen ist, und dem gegenwärtig Möglichen. Dies wurde noch dadurch forciert, daß der Wahltag in der Regel mit dem Bild des „Gerichts", der endgültigen Abrechnung mit der herrschenden Klasse, in Verbindung gebracht wird. So hat es denn bisweilen den Anschein, als entscheide lediglich die Wahl, nicht aber die Praxis des Kampfes über den Verlauf der Geschichte. So heißt es zum Beispiel in dem der Sammlung „Rotdeutschlands Aufstieg" als Motto vorangestellten Gedicht: „Seht ihr die roten Morgenstrahlen — / Das ist der Tag der nächsten Wahl: / Da werden wir die Zinsen zahlen, / Karl Marx, von deinem Kapital!" In dem Maße, wie nun aber bestimmte Teilziele des Klassenkampfes in die Gedichte aufgenommen wurden — etwa gegen die imperialistische Eroberungspolitik, gegen Polizeiterror, gegen die Expansionsbestrebungen, gegen soziale Unterdrückung — überwand Scaevola die Kurzschlüssigkeit zwischen aktuellen Aufgaben und historischer Perspektive, die für die früheren Gedichte charakteristisch war, und hielt in der Tagesforderung das historisch noch zu Leistende bewußt. Insgesamt läßt sich feststellen: Die Konfrontation mit der imperialistischen Wirklichkeit am Beginn des 20. Jahrhunderts führte bei Scaevola von einem zunächst mehr intellektuellen Verständnis des revolutionären Kampfes der Arbeiterklasse zu einer immer deutlicheren Orientierung auf die Praxis und die Bedürfnisse dieses Kampfes. Das Begreifen der Praxis befähigte ihn, längerfristige strategische Orientierungen der Partei konkret aus der ideologischen Kampfsituation herauszuentXX

wickeln. Dabei akzentuierte er — vermittelt über Wirklichkeitserfahrungen des beginnenden 20. Jahrhunderts — ein für die frühe sozialistische Literatur zentrales Problem: Das ist das internationalistische Anliegen der Arbeiterklasse. Ausgehend von den wissenschaftlichen Überlegungen des Kommunistischen Manifests hatte August Bebel wiederholt betont: „Insbesondere haben wir nie ein Hehl daraus gemacht, daß wir auch die Verbrüderung aller Völker auf dem Wege der Internationalität erstreben, also einen Zustand herbeiführen wollen, der über den Rahmen des heutigen nationalen Staates hinausgeht." 14 Dieses Problem hatte in den Gedichten Scaevolas der neunziger Jahre noch keine Rolle gespielt. Die konkrete Erfahrung jedoch, daß imperialistische Politik nicht nur Unterdrückung der eigenen Nation bedeutet, sondern zugleich mit dem Drang nach Welteroberung und Neuaufteilung der Welt verbunden ist, forderte ihn heraus, jener Internationalisierung der Monopole den Internationalismus der Arbeiterklasse entgegenzustellen. In dem Gedicht „Völker der Erde, wahret eure heiligsten Güter!" heißt es daher: „Grenzpfahl fort für Vaterländer! / Künstlich trenn euch keine K l u f t ! / Proletarier aller Länder, / Fest vereinigt euch und ruft: / Nieder der Militarismus!" Hier wird der Sieg über Imperialismus und Militarismus als gemeinsame Aufgabe der internationalen Arbeiterklasse formuliert und damit die von der bürgerlichen Ideologie nationalistisch beantwortete nationale Frage als Klassenfrage behandelt. Zugleich — und auch das deutet einen weiteren Unterschied zu den früheren Wahlkampfliedern an — zielte die politische Intention des Gedichts nicht mehr allein auf eine ganz bestimmte Wahlentscheidung, sondern sie bekam durch die ideologische Offensive gegen Militarismus und Imperialismus, verbunden mit dem konkret formulierten Kampfziel der Arbeiterklasse, einen neuen Grad von Historizität, der auf das Wesen der Epoche zielte. Scaevolas Bemühen, das historische Kampfziel der Arbeiterklasse im agitatorischen Kampfgedicht faßbar zu machen, befähigte ihn indessen auch, in die kollektive Verständigung des revolutionären Flügels der XXI

sozialdemokratischen Partei über Wesen und Inhalt der proletarischen Revolution einzugreifen. Dabei ist auffallend, wie er versuchte, theoretische Probleme dieser Diskussionen im Gedicht künstlerisch umzusetzen und diesen Problemen damit auch einen höheren Grad von Öffentlichkeit zu verleihen. Ein Kernpunkt der Bestimmung des Wesens der proletarischen Revolution war die Klärung ihres Verhältnisses zur bürgerlichen Revolution. So sprach Bebel davon, „daß die Sozialdemokratie bestrebt ist, große menschheitliche Ideale zu verwirklichen, indem sie die Parole, die vor 100 Jahren die Vorkämpfer des französischen Bürgertums ausgegeben, aber niemals verwirklicht haben, nämlich die Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit für alles, was Menschenangesicht trägt, zu verwirklichen sucht, daß es ideale Bestrebungen sind, die in ihrem inneren Kern sich mit gleichen Idealen des Christentums decken, die auch noch nicht erfüllt wurden, ist eine unbestreitbare Tatsache . . . " 1 5 Scaevola nahm genau diese Argumentation auf, wenn er „Bruderlieb, Gleichheit und / Freiheit" als das „Erdenvölkeralphabet" bezeichnete, das es zu beherzigen gelte. Sein konsequentester Versuch, sich mit dem Problem bürgerliche und proletarische Revolution auseinanderzusetzen, ist das Gedicht „Prometheus' Volk", das als Rezeption und zugleich als Gegenentwurf zu Goethes „Prometheus" angesehen werden kann. Es behält den Grundgestus der Goetheschen Ode bei, arbeitet direkt mit dem Zitat, bezieht aber die Konstellation Prometheus—Götter auf den Klassenwiderspruch Proletariat — bourgeois-junkerliche Herrschaftsschicht. Der historisch neue Widerspruch bildet damit das inhaltliche Zentrum des Gedichts, das sich als radikale Kampfansage versteht. Dabei hatte auch „Prometheus' Volk" einen operativen Anlaß, war gedacht als Antwort auf Reichskanzler Bülows „Silvesterscherz" 16 , doch das Politisch-Aktuelle wird hier nur noch durch den Untertitel bewußt gehalten. E r ist es, der für den Zuhörer bzw. Leser gleichsam als Signal fungiert, ihn auffordert, die Zusammenhänge beim Aufnehmen des Gedichts selbst herzustellen und mitzureflektieren. Der Bezug auf Goethe und damit

XXII

auf das ideologisch-künstlerische Erbe der bürgerlichen Aufstiegsphase öffnet diesem Gedicht potentiell eine neue geschichtliche bzw. geschichtsphilosophische Dimension, die einen Epochenvergleich ermöglichen könnte. Um ihn tatsächlich auszuführen, reichte aber weder Scaevolas künstlerisches Talent noch sein geschichtliches Denken aus. Deutlich ist dem Gedicht aber das Bemühen abzulesen, sowohl die Kontinuität von bürgerlicher und proletarischer Revolution als objektiver geschichtlicher Gesetzmäßigkeit herauszuarbeiten, als auch die Unterschiede zwischen beiden anzudeuten. Um diesen zweiten Aspekt weiter zu verfolgen, waren nicht zuletzt auch neue historisch-praktische Erfahrungen nötig, die die internationale Arbeiterklasse erst nach 1917 machte. Das zentrale poetische Motiv von „Prometheus' Volk" beruht auf der gesetzten Identität von Prometheus und Arbeiterklasse. Sie erscheint als rechtmäßiger Erbe alles Revolutionären in der Geschichte und als Fortsetzer in allen bisherigen Kämpfen. Als solche verfügt sie erstmalig über die Chance, die gesellschaftlichen Verhältnisse grundlegend zu ändern. Hiervon ausgehend sieht Scaevola die Goethesche Vorlage neu. Bereits die erste Strophe versucht kenntlich zu machen, daß sich hinter dem menschheitlichen Ansprach der bürgerlichen Aufstiegsphase konkrete bürgerliche Interessen verbargen. Durch den Verweis auf Napoleon (der „Korse", der „Völker köpft'") wird die bürgerliche Revolution nicht nur von ihrer heroischen Aufstiegsphase her diskutiert, sondern gerade die nachthermidorianischen Erfahrungen und Realitäten in die Überlegungen einbezogen. Daher liegt die alles entscheidende Veränderung gegenüber Goethe an diesem Punkt: Bei Goethe heißt es: „Mußt mir meine Erde doch lassen stehn und meine Hütte, die du nicht gebaut". Scaevola nun entfernt den bürgerlichen Anspruch und schreibt: „Mußt mir meine Ziele / Doch lassen stehn / Und meine Zukunft, die du nicht verstehst, / Und meinen Marx, / Von dessen Geist / Du nichts begreifst." Es bleibt jedoch nur bei diesem Ansatz, das historisch Neue der proletarischen Revolution herauszuarbeiten. Am Schluß heißt es: „Hier sitz XXIII

ich, forme Menschen / Nach meinem Bilde, / Ein Geschlecht, das frei, gleich sei, / zu lieben den Bruder". Damit werden die Losungen der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit als solche für die proletarische Revolution verbindlich gemacht; das Proletariat erscheint lediglich als Vollstrecker der Ziele der bürgerlichen Revolution. „Prometheus' Volk", eines der reifsten Gedichte der Sammlung „Rotdeutschlands Aufstieg", bildet einen interessanten Kontrapunkt zu dem die Anthologie abschließenden „Roten Siegeslied des 20. Jahrhunderts". Während „Prometheus' Volk" seine Auseinandersetzung mit dem bürgerlichen Zeitalter auf einer geschichtsphilosophischen Ebene führt, versucht das „Rote Siegeslied" eine historisch vermittelte satirische Abfertigung. Der Reiz besteht in dem das ganze Gedicht konstituierenden Bild der kreißenden Frau X I X , an deren Wochenbett die „Edlen der Nation" versammelt sind und mit Bestürzung und Entsetzen erfahren: „Das Kind kriegt rote Haare". Von der Motivwahl her gesehen ist der Traditionsbezug zur politischen Lyrik des Vormärz deutlich, gewissermaßen eine Fortführung von PrUtz' „Politischer Wochenstube". Da Scaevola aber das Motiv an eine historisch neue Situation binden kann, die Jahrhundertwende gleichsam als zögernden Beginn der Epochenwende interpretiert, bekommt das Gedicht als „heiteres Scheiden von der Vergangenheit" einen im Verlauf der Geschichte begründeten Siegesoptimismus: „Der Knechtung graue Kerkerzeit — / Ihr könnt sie nicht mehr retten; / Der Arbeit Volk, es wirft befreit / Ins Antlitz euch die Ketten! / Dem Wort: ,Mehr Lohn!' spracht ihr nur Hohn, / Der Mensch war euch nur Ware, / Recht billge schon; drum euch zum Lohn / Das Kind kriegt rote Haare!" Als Agitator und Propagandist der Partei war Scaevola vor allem Lyriker. Die Möglichkeiten, aktuelle politische Ereignisse aufzugreifen, auszuwerten und die Zuhörer zu mobilisieren, war mit den Mitteln des politischen Gedichts am unmittelbarsten möglich. Trotzdem ist Scaevola zugleich auch als Dramatiker hervorgetreten. Gedichten und Stücken gemeinsam ist ihr operativer XXIV

Ursprung. Auch seine Stücke verleugnen ihre Herkunft von der tagtäglichen Agitations- und Propagandaarbeit nicht. Im Gegenteil: Scaevola macht gerade diese Elemente zu Grundbausteinen seiner dramatischen Form. Auffallend ist aber auch bei den in unserer Sammlung vorgelegten Stücken das Fehlen der direkten politischökonomischen Klassenkämpfe. Während die Mehrzahl der seit Aufhebung des Sozialistengesetzes bis 1914 entstehenden sozialistischen Dramen Probleme des Streiks 17 behandelten, wird man dieses Sujet bei Scaevola vergeblich suchen. Zugleich sind seine Stücke aber auch nicht so eng wie die Lieder und Gedichte dem parlamentarischen Kampf verpflichtet. Neben aktuellen politischen Aufgaben, wie die Erhöhung revolutionärer Wachsamkeit, rückt die Geschichtspropaganda, das Vermitteln von Geschichtserfahrungen in den Vordergrund der Stücke. Hier liegt ein spezifischer Beitrag Scaevolas, den er bei der Herausbildung der frühen sozialistischen Dramatik geleistet hat. Wenn man sich Scaevolas Stücke ansieht, dann zögert man, sie mit der Bezeichnung „Drama" zu klassifizieren. Auch Scaevola selbst benutzt den Begriff „Drama" nicht; er nennt seine Stücke „Komödie", „episch-dramatische Dichtung" oder „Festspiel". Der Verzicht auf eine eindeutige Gattungsbezeichnung mag zufällig sein; sicher ist aber, daß diese Stücke in den Normen des klassischen Dramas nicht mehr aufgehen. Die alte Struktur wird — sei es bewußt, sei es unbewußt — gesprengt; an ihre Stelle treten andere künstlerische Mittel und Methoden, die zugleich auch neue Funktions- und Wirkungsmöglichkeiten des Theaters testen. Hier gibt es im übrigen enge Korrespondenzen zwischen dem etwa zur gleichen Zeit wirkenden Leipziger Arbeitertheater Friedrich Bosses 18 und Scaevola. Die Stücke wurden aus den Bedürfnissen des proletarischen Laientheaters entwickelt. Das Erproben neuer künstlerischer Mittel für das dramatische Genre ging mit Überlegungen zur Gestaltung der Theaterpraxis, in ihrem Kern das Verhältnis Bühne — Publikum, einher. In den Vorbemerkungen zu seinem Festspiel „Zwölf Jahre der Verbannung oder Des Ausgewiesenen Heimkehr" schreibt Scaevola:

XXV

„Wer die nachstehende Dichtung aufführen, das heißt von einem Deklamator sprechen und die 12 lebenden Bilder dazu stellen lassen will, muß hierzu 250 Textbücher . . . beziehen . . . ebenso hat es sich als notwendig herausgestellt, daß die Zuschauer schon bei Beginn der Aufführung im Besitz eines für 10 Pfg. käuflichen Textbuches sind, damit sie während der Aufführung nachlesen und alles richtig verstehen können." Es ging also um die Erziehungsfunktion, die das Theater wahrnehmen sollte. Sie machte es erforderlich, den Zuschauer als Partner des Bühnengeschehens zu akzeptieren und ihn mit den dafür nötigen Voraussetzungen auszustatten. Das Mitlesen seitens des Zuschauers ermöglichte den engen Kontakt zwischen Bühne und Publikum und wirkte zugleich als rationale Kontrolle des Bühnengeschehens, verhinderte eine völlige emotionale Identifikation mit den dargestellten Figuren und Vorgängen, orientierte ihn statt dessen auf das zu Lernende. Die neuen theaterästhetischen Ansätze befinden sich in deutlichem Widerspruch zum naturalistischen Drama, das in jenen Jahren die Bühnen des bürgerlichen Theaters eroberte. Gleichzeitig nahm Scaevola — wie auch Ernst Preczang und Emil Rosenow 19 — bestimmte Neuerungen auf, die das naturalistische Drama gebracht hat, verwertete sie aber auf völlig andere Weise. Das betrifft vor allem die Arbeit mit dem sozialen Milieu, mit dem sozialen Gegenstand überhaupt. Während Scaevola vom Naturalismus lernte, die alle bewegenden sozialen Gegenstände, den Alltag des Proletariats einzubringen, begann die deutliche Abkehr vom Naturalismus damit, daß das Milieu seinen „Fetischcharakter" verlor, daß das analytische Erfassen sozialer Gegebenheiten als Klassenverhältnisse untrennbar mit der Mobilisierung des Zuschauers zum politisch-praktischen Kampf verbunden wurde. Die Einbeziehung des Dramas in die praktisch-politische Arbeit bedurfte anderer ästhetischer Lösungen, als sie das naturalistische Drama anbieten konnte. Einschränkend wäre allerdings zu sagen, daß im Sozial-Analytischen nicht Scaevolas Stärke lag. In der Arbeit mit dem sozialen Detail, im Herausarbeiten sozial begründeter Verhaltensweisen gehen die Stücke

XXVI

von Preczang und vor allem von Rosenow über Scaevola hinaus. Die Leistung des Dramatikers Scaevola ist eher im Aufbereiten des geschichtlichen Stoffes zu suchen. Interessant ist, wie er bestimmte, in der frühen sozialistischen Dramatik durchaus gebräuchliche Mittel weiterzuentwickeln versucht. Das frühe sozialistische Drama — so etwa auch die von Bosse aufgeführten Stücke — lebte vom Nacheinander und Wechselspiel zwischen Deklamation und Illustration. Diese beiden Elemente sind auch Grundbausteine von Scaevolas Stücken. Auch bei ihm fehlt — die Komödie „Der entlarvte Spitzel" bildet hier eine Ausnahme — die im klassischen Drama übliche, sich zwischen Individuen abspielende Handlung. Scaevola, der politisch-soziale Prozesse zum Zwecke politischer Aufklärung darstellen wollte, konnte mit dem traditionellen Handlungsaufbau wenig anfangen. Er brach die alte Handlungsstruktur auf: An ihre Stelle trat Bericht und Illustration, die mittels „lebender Bilder" geleistet wurde. Auffallend ist nun, daß Scaevola die bisher übliche Deklamation ausweitete und sie zu einer Art episch-balladesken Bericht machte, der größere historische Zusammenhänge erfassen und darstellen konnte. Daher verzichtete Scaevola auch nicht zufällig auf das bei Bosse übliche Heraustreten historischer Figuren aus der Rolle. Die Aktualität des dargestellten Vorgangs hatte der Zuschauer dem Spiel selbst zu entnehmen. In welchem Maße dabei tatsächlich geschichtliche Prozesse, die vom Standpunkt der revolutionären Arbeiterbewegung aus untersucht und dargestellt wurden, ins Drama eingingen, zeigt sich etwa in dem Festspiel „Zwölf Jahre der Verbannung oder Des Ausgewiesenen Heimkehr", in welchem die Deklamation über die Jahre des illegalen Kampfes unter dem Sozialistengesetz berichtete. Noch deutlicher wird es in der episch-dramatischen Dichtung „Die französische Revolution" spürbar. Ihren konkreten Verlauf nachzeichnend, brachte sie dem Publikum geschichtliche Erfahrungen nahe. Kennzeichnend für beide Arbeiten ist der Einsatz von Musik, die im Stück eine mobilisierende Funktion übernimmt. So wird die endliche Heimkehr des AusgewieseXXVII

nen am Schluß des Stücks mit dem Intonieren der „Marseillaise" eingeleitet, und gleichsam als „Fahnenwort" assoziiert der Sprechertext die Französische Revolution. Noch differenzierter arbeitete Scaevola in der episch-dramatischen Dichtung „Die französische Revolution" mit der Musik. Jedem Bild geht hier eine spezielle Musikdarbietung voran, die mit dem Inhalt des Textes auf jeweils unterschiedliche Art korrespondiert. Wenn zum Beispiel vor dem Bericht über die Flucht von Louis XIV. und Marie-Antoinette der „Zug der Frauen" aus Wagners „Lohengrin" erklingt, dann mag diese Zusammenstellung sicher auch für den damaligen Zuschauer als herausfordernder Widerspruch empfundenworden sein. Ähnliches gilt für das Bild „Verhör des Königs in Varennes", das mit einem Lied aus der Oper „Zar und Zimmermann" gekoppelt ist. In dem Moment aber, wo die Aktionen des Volkes .den Berichtstext beherrschen, wie im 8. Bild „Die Einzeichnung der Freiwilligen", kommt es zu einer direkten Übereinstimmung von Text und Musik: Das Lied der Revolution, die „Marseillaise", wird angestimmt. Episch-balladesker Bericht und Deklamation bilden in Scaevolas Stücken eine innere Einheit. Doch ist die Art der Vermittlung zwischen diesen beiden Elementen in den verschiedenen Stücken durchaus sehr unterschiedlich. Die Art ihres Einsatzes hängt vom spezifischen Inhalt des jeweiligen Stückes ab. Das Festspiel „Zwölf Jahre der Verbannung oder Des Ausgewiesenen Heimkehr" verfolgt das Klassenschicksal am exemplarischen Beispiel des Lebens, Denkens und Fühlens eines einzelnen Genossen sowie dessen Familie. Daher sind hier die Beziehungen zum klassischen Handlungsdrama weitaus enger als etwa in dem Stück „Die französische Revolution", obwohl auch in dem Festspiel die alte Handlung in Bericht und Illustration zerlegt ist. Hinzu kommt noch, daß Scaevola in dem Bemühen, die Härte und die Erschwernisse des Kampfes im Exil zu zeigen, bis in ihre Auswirkungen auf die allein zurückgebliebene Familie, eine emotional so aufgeladene Atmosphäre schafft, die den Mustern bürgerlicher Rührstücke sehr stark verpflichtet ist. Deutlich zeigen sich hier das XXVIII

Ringen, aber auch die Schwierigkeiten, Klassenschicksal und Individualschicksal in ihrer realen Dialektik zu meistern. Die episch-dramatische Dichtung „Die französische Revolution" hatte diese Schwierigkeiten nicht. Hier ging es um die Dokumentation eines abgeschlossenen historischen Prozesses von der Vorbereitung der Französischen Revolution im dritten Stand (Ballhausschwur) bis zum neunten Thermidor, der als vorläufiger Endpunkt der bürgerlichen Revolution dargestellt ist und die noch zu lösenden künftigen Aufgaben dem Proletariat bewußt macht. Die weit erwirkenden, das spätere sozialistische Drama konstituierenden Ansätze gehen von diesem zweiten, dokumentarischen Typ der Stücke Scaevolas aus. Allerdings darf man dabei nicht übersehen, daß die Schwierigkeiten und die Schwächen des ersten Typs auf objektiv neue Probleme hindeuten, die im Prozeß der Entfaltung sozialistisch-realistischer Dramatik nach 1917 auf neue Weise bewältigt werden mußten. Scaevola benutzte den dokumentarischen Typ allein bei der Darstellung eines abgeschlossenen historischen Vorgangs. Stücke, die ausschließlich in der unmittelbaren Gegenwart angesiedelt sind, arbeiteten indessen mit Grundstrukturen bürgerlicher Unterhaltungsdramatik, die aber — von ihrer Manipulierungsfunktion befreit — der politischen Aufklärung und Erziehung dienten. So verwertete Scaevola in der Komödie „Der entlarvte Spitzel" Elemente des Verwechslungsspiels, das auf dem bürgerlichen Theater der damaligen Zeit weit verbreitet war. Scaevola nahm dieses Grundmuster — ein Mensch wird für jemand gehalten, der er nicht ist —, um ein äußerst brisantes Problem der Parteiarbeit darzustellen: Es ging um die Erziehung zur politischen Wachsamkeit. Die Unterwanderung der sozialdemokratischen Partei mit Polizeispitzeln hat Bebel im Mai 1895 selbst zum Gegenstand einer Reichstagsrede gemacht und dabei die Praktiken der herrschenden Klasse, Vorwände für eine gerichtliche Verfolgung der Partei zu schaffen, offen gebrandmarkt. Scaevola nun hatte sich nicht an den Reichstag zu wenXXIX

den; er wollte mit seinem Stück jene gutgläubigen Genossen warnen, die solchen Provokationen gleichsam auf den Leim gehen. Durch das politische Anliegen der Komödie beginnt das Rezeptionsschema des Verwechslungsspiels auf andere Weise zu funktionieren. Im bürgerlichen Verwechslungsspiel entsteht die Komik der Situationen aus der Tatsache der Verwechslung; die Richtigstellung beendet das Spiel und ist als solche nicht mehr komisch. Beim „Entlarvten Spitzel" ist das genau umgekehrt: Gerade die Verwechslung — ein Polizeispitzel wird für einen Genossen gehalten — entbehrt jeder Komik. Der Zuschauer wird von vornherein auf die Gefährlichkeit der entstandenen Situation aufmerksam gemacht, da die Charakterisierung der Figur bereits vermuten läßt, daß es sich um einen Spitzel handelt. Komisch ist hier erst der Schluß, die Entlarvung des Spitzels und damit die Beseitigung der Gefahr. Das Lachen ist ein befreiendes Lachen, das zugleich beim Zuschauer einen Impuls auslöst wie etwa: Da sind wir aber klüger, wir werden aufpassen und prüfen. Tatsächlich hat Scaevola hier ein vorgefundenes Rezeptionsmodell „umfunktioniert", also einer neuen Funktion zugeführt. Diese im „Entlarvten Spitzel" praktisch erprobte Technik ist nicht zuletzt auch deswegen bemerkenswert, als das Problem, alte bürgerliche Techniken von ihren Inhalten abzulösen und ihnea im neuen politischen Kontext eine neue Funktion zu erteilen, künftighin bei der Entwicklung der sozialistischen Literatur und Kunst eine zentrale Rolle — sowohl praktisch als auch theoretisch — spielen sollte. Scaevola war einer der ersten, der mit der Komödie vom „Entlarvten Spitzel" die Produktivität und Praktikabilität eines solchen Verfahrens nachgewiesen hat. In vielfacher Hinsicht weisen die aufgeworfenen und häufig nur ansatzweise bewältigten Probleme, aber auch die versuchten ästhetischen Lösungen des Parteiarbeiters Scaevola auf neue Fragestellungen, die von der sozialistischen Literatur nach 1917 weiterentwickelt und bewältigt wurden. Scaevolas im politischen Kampf entstandene und auf ihn orientierte künstlerische Produktion ist in dieser Hinsicht Bestandteil unseres soziaXXX

listischen Literaturerbes. Wenn er in der Vorbemerkung zu seiner Lyrikanthologie „Rotdeutschlands Aufstieg" (1907) schrieb: „Diese roten Wahlschwert-Lieder, die während der letzten 18 Jahre im .Vorwärts' und in der Provinzpresse als Leitgedichte erschienen sind und die die gewaltigen Siegessturmläufe des weltgeschichtlichen Aufstiegs Rotdeutschlands etappenweise rhythmisch begleitet haben, sollen hier zusammengefaßt zunächst der jungen Generation, die nun zum ersten Mal in die Wahlschlacht steigt, zu feurigem Ansporn dienen, damit sie sich der ergrauten alten Garde, die noch unter dem Schandgesetz geblutet, würdig erweise", dann gilt dieses Anliegen, sich historischer Erfahrungen zu versichern, im übertragenen Sinne auch für uns. Möge diese Ausgabe dazu beitragen, Scaevolas Erbe weiterhin zu erforschen und die Spuren dieses „Unbekannten", die sich vorläufig am Anfang des 20. Jahrhunderts verlieren, zu entdecken.

Rotdeutschlands Aufstieg Wahlkampf-Lieder Seht ihr die roten Morgenstrahlen — Das ist der Tag der nächsten Wahl : Da werden wir die Zinsen zahlen, Karl Marx, von deinem Kapital! Diese roten Wahlschwert-Lieder, die während der letzten 18 Jahre im „Vorwärts" und in der Provinzpresse als Leitgedichte erschienen sind und die die gewaltigen Siegessturmläufe des weltgeschichtlichen Aufstiegs Rotdeutschlands etappenweise rhythmisch begleitet haben, sollen hier zusammengefaßt zunächst der jungen Generation, die nun zum erstenmal in die Wahlschlacht steigt, zu feurigem Ansporn dienen, damit sie sich der ergrauten alten Garde, die noch unter dem Schandgesetz geblutet, würdig erweise.

Das große Wecken Jahre kommen —Jahre rasen — Träumend trägt das Volk sein Weh Bis zum „Großen Wecken" blasen Die Posaunen der Idee, Bis die Wahrheit weit zum Lichte Breitet aus der Schwingen Flug, Und es löst die Weltgeschichte Sich in tiefem Atemzug, Der die auf den Höhen thronen Kopflos auf vom Lager schreckt, Der die in den Tiefen wohnen Und in Erdenhöhlen fronen — Der die schlafenden Millionen, Der das Volk — Das Volk Erweckt: 3"

3

Rotdeutschlands Aufstieg Wahlkampf-Lieder Seht ihr die roten Morgenstrahlen — Das ist der Tag der nächsten Wahl : Da werden wir die Zinsen zahlen, Karl Marx, von deinem Kapital! Diese roten Wahlschwert-Lieder, die während der letzten 18 Jahre im „Vorwärts" und in der Provinzpresse als Leitgedichte erschienen sind und die die gewaltigen Siegessturmläufe des weltgeschichtlichen Aufstiegs Rotdeutschlands etappenweise rhythmisch begleitet haben, sollen hier zusammengefaßt zunächst der jungen Generation, die nun zum erstenmal in die Wahlschlacht steigt, zu feurigem Ansporn dienen, damit sie sich der ergrauten alten Garde, die noch unter dem Schandgesetz geblutet, würdig erweise.

Das große Wecken Jahre kommen —Jahre rasen — Träumend trägt das Volk sein Weh Bis zum „Großen Wecken" blasen Die Posaunen der Idee, Bis die Wahrheit weit zum Lichte Breitet aus der Schwingen Flug, Und es löst die Weltgeschichte Sich in tiefem Atemzug, Der die auf den Höhen thronen Kopflos auf vom Lager schreckt, Der die in den Tiefen wohnen Und in Erdenhöhlen fronen — Der die schlafenden Millionen, Der das Volk — Das Volk Erweckt: 3"

3

„Proletarier aller Länder Eint euch — und ihr seid die Macht, Seid der Zukunft Weltenwender, Wenn der Spott euch auch verlacht! Erddurchschürfer, Erdumspanner, Die im Joch ihr knirschend schafft, Schart euch um das rote Banner! Zählt euch! Stählt euch! Ballt die Kraft!" Weckend tönt es in die Tiefen Tiefer dumpfer Geistesnacht — Brüder ihre Brüder riefen, Und es recken sich, die schliefen Und vom Arbeitsschweiß noch triefen, Und das Volk Das Volk Erwacht! Reib dir aus den Augenlidern, Volk, den tausendjährgen Schlaf! Schau, wie Herr und Knecht sich gliedern, Unversöhnbar, Wolf und Schaf. „Bet und arbeit! Schweig und trage!" Heischt der „Ordnung Göttlichkeit"; „Denk und schaffe! Sag und tage!" Ruft der Geist der Menschlichkeit. Heiß im Herzen, hell im Hirne Flammende Erkenntnis reift: Spähend zählt es die Gestirne, Leuchten sieht es rot die Firne, Jauchzend greift es an die Stirne, Und das Volk Das Volk Begreift! Ganz begreife, voll erfasse Deiner Klasse tiefstes Leid, Und mit deinem tiefsten Hasse Haß die Ungerechtigkeit! Doch nicht einsam brüte Rache, Haß gemeinsam deine Not. Daß sich Grimm an Grimm entfache 4

Hochauflodernd, feuerrot! Steigend aus des Zornes Flammen Phönix Bruderlieb erscheint, Freiheit, Gleichheit ihm entstammen Alle Zwietracht zu verdammen, Krampft sich Not mit Not zusammen, Und das Volk Das Volk Sich eint! Einigkeit und Einheit bringen In dem großen Freiheitskrieg, Den die zwei Nationen ringen, Reich und Arm, dir Volk den Sieg! Mag die Welt in Waffen wettern, Vor der Einheit macht sie Halt Nicht Millionen kann zerschmettern Die gepanzerte Gewalt! Durch drakonische Gesetze Ihr der Klassen Kampf nicht dämpft; Lockend stellen Spitzel Netze, Hitziger wird nur die Hetze, Krasser nur die Gegensätze, Und das Volk Das Volk Es kämpft! Kämpf! Erring die Siegeskrone, Festen Fußes, sieggewöhnt, Daß von deiner Bataillone Donnerschritt die Erde dröhnt! Schau nicht rückwärts, nicht zur Seite — Wer auch winkt, es ist dein Feind; Vorwärts, immer vorwärts schreite, Vorwärts, zielbewußt, vereint! Unentwegt im Kampf der Klassen Recht und Wahrheit kommandiert; Zu den Massen strömen Massen, Alle, die den unrechtkrassen Unterbau der „Ordnung" hassen, 5

Und das Volk Das Volk Marschiert! Marsch! Und aus des Joches Fronen Wachs zu ungeheurer Zahl! Wälz Millionen auf Millionen, Roll, Lawine, roll zu Tal! Keine Welt dich hält gewaltsam, Kein Gefängnis, kein Exil — Unerbittlich, unaufhaltsam Vorwärts durch zum letzten Ziel: Sichtbar nah im Frührotglanze Auf der Erd' der Himmel liegt, Hüllt in Purpur jede Pflanze, Rot flaggt auch die letzte Schanze, Und der Arbeit Volk, das ganze Große Volk Das Volk Es siegt!

An mein Volk! Aufruf zum Wahlkampf am Donnerstag, i5. Juni i893

Nun zeige deinen Opfermut, Bring alle Mann an Bord! Und alle Sorg um Gut und Blut Preß in ein einzig Wort! Dies eine Wort, das schlage Ins Land wie Blitzschlag ein! O sag am Schlachtentage Mit Donnerstimme Nein! „Du sollst nicht töten," ist Gebot! Doch tötet dein Gewehr. „Schieß Vater, Mutter, Schwestern tot"; Doch „Vater, Mutter ehr". Dies Knäu'l des Guten — Bösen 6

Fürs Wahlschwert übrig blieb, Den Knoten kann nur lösen Ein Alexanderhieb. Mit Furcht sieht man in deiner Faust Das Schwert der freien Wahl. O schwing's und hau - du schwingst und haust Vielleicht zum letztenmal. Blick keinen Zoll vom Ziele, Mach klar wie zum Gefecht, Es steht ja auf dem Spiele Dein allerhöchstes Recht! Am Donnerstag Gerichtstag ist, Da hört man deine Klag'! Da sag, wie sehr du elend bist, Dein eigen Urteil sag! Nicht schweige feige stille! Nicht deine Pflicht verletz! Nein, zeige, daß dein Wille Das oberste Gesetz! Sieh, Moloch reißt die Nüstern auf, Als ob ein Staatsstreich nah — Er schnuppert schon am Mörserlauf Nach Ratio ultima. Gestrahlt hat ihm am längsten Des goldnen Kalbes Glanz, Nun schwebt in Höllenängsten Das zitternde Byzanz! Vom Menetekel flammt die Wand, Und bleich wird Babylon. Der Würfel fällt - es blickt gespannt Die Welt zum Rubikon. Marsch, marsch, ihr Bataillone, Im roten Sonnenschein! Sprich stolz, mein Volk, vorm Throne Dein souveränes Nein! Des einen Tages kurze Frist Entscheidet dein Geschick! 7

Nun zeige, daß du mündig bist Nur einen Augenblick! Du brauchst ja nur zu sprechen Das eine Wörtchen Nein! Dies Wort wird Ketten brechen, Und dich und mich befrein. Die Arbeit. Vorwärts, mein Volk, von Sieg zu Sieg! Aufruf zur Stichwahlschlacht Nun siehst du staunend, welche Kraft Dir tief im Busen schlief — Wie heiß die heiige Leidenschaft, Die in den Kampf dich rief; Du tratest in die Schranken In deiner roten Pracht, Von einem Blitzgedanken Aus Nacht zum Licht erwacht! Wie zuckte donnernd Blitz auf Blitz, Durchleuchtend Stadt und Land! Auf Zeus' saß und Apollos Sitz Dein Karl, dein Ferdinand, Sie sahn die Feinde wanken Und haben still gelacht. O laß, mein Volk, dir danken: Das hast du brav gemacht! Du könntest feiern, jubeln jetzt Und jauchzen im Triumph; Doch wart, bis du dem Feind versetzt Erst deinen letzten Trumpf! Die Flotte laß erst rasten, Wenn sie im Hafen liegt, Wenn hoch von allen Masten Die rote Fahne fliegt! Noch einmal deine ganze Kraft Mußt du dem Ganzen leihn! 8

Noch einmal alle Leidenschaft Der großen Sache weihn! Noch steht so manche Schanze: Nimm sie im Sturmeslauf! Und siegend oben pflanze Dein heilig Banner auf! Die Feinde, die sich bis zur Stund' Bekämpften, sind vereint; Die blasse Furcht schloß feig den Bund, Du bist nun aller Feind! Es rückt die ganze Masse Geschlossen gegen dich: Greif zu, mein Volk, und fasse Dein Schwert zum letzten Stich! Schwing's wuchtig, daß von seinem Schwung Der Feind zu Boden kracht! Wirf, lodernde Begeisterung, Dein Feuer in die Schlacht! Was halb du hast gewonnen, Mein Volk, gewinne ganz! Ihr roten Sturmkolonnen, Marsch, marsch, nehmt Schanz' auf Schanz'! Schon wankt die Hochburg, schwankt der Turm, Schon klaffet Riß an Riß: Auf! Was nicht fiel beim ersten Sturm, Beim zweiten fällt's gewiß! Wühl, rote Woge, wühle! Braus, roter Sturmwind, braus! Zerbrich und überspüle Des Molochs morsches Haus! Die Urne ist der Totenschrein, Des Molochs offnes Grab: Wirf keck die Hand voll Erd' hinein, Gib kühn dein Veto ab! Schwärm aus, du Volk der Bienen, Wirf auf die Drohnen dich! Dies eine Mal darf dienen Der Stachel dir zum Stich! 9

Dort, wo am ersten Schlachtentag Dein Schwert nicht siegen könnt, Tritt Mann für Mann zum letzten Schlag Noch einmal vor die Front! Laßt dröhnen, Bataillone, Dumpf euren Massentritt: Marsch, marsch! Und bringt die Krone, Die Siegeskrone mit! Die Arbeit.

K a m p f jähr! Aufruf zum Wahlkampf 1903

Nun rolle auf fürs rote Jahr Der roten Banner Pracht, Und Rache nimm fürs tote Jahr Für alle Niedertracht! — Preß deine Faust zusammen Um Wahlschwerts mächtgen Knauf, Es soll den Feind verdammen, Es blitze, schlage Flammen, Bahn deines Schicksals Lauf! Der Leu im Zaume hungernd brüllt, Der Zwinger bebend dröhnt; Die Welt, die satte, lungernd füllt Die Taschen sich und höhnt: „Ist dem Geschlecht der Katzen Auch selbst im Zaum zu traun? Sie brüllen fort und kratzen, Drum muß man schaun, die Tatzen Der Bestie abzuhaun!" O Volk, wo war dein Weihnachtsbaum? Du sahst nur fremde an — Dein Baum war nur ein Weihnachts-Traum, Du träumtest satt dich dran — Du hörtest Singen schallen, Und Glockenturmgeläut 10

Von allen Kirchen hallen: „Den Menschen Wohlgefallen, Auf Erden Fried' und Freud'!" Ins Leere hörtest tönen du Das Friedenslied vom Turm Vom Meere hörtest dröhnen du Des Krieges Donnersturm! — Des Turmes Glockenzüge Fortläuten, wie's auch dröhnt Und kracht im Weltgefüge — O Volk, mit welcher Lüge, Wie wirst du, Volk, verhöhnt! O Volk, du frorst, kein warmes Nest, Und Brot zu essen kaum — O Volk, du grolltest: „Armes Fest, Könnt' schmücken keinen Baum!" O hör, mein Volk, nicht klage! Blieb auch dein Baum noch kahl, Nutz ihn am Schlachtentage Gedenk mein Volk, der Sage Vom Wald von Dunsadal! Ein jeder Mann am Schlachtentag Trag vor sich seinen Baum, Daß dich der Feind betrachten mag Als grünen Waldessaum. So mußt du, Volk, umsäumen Der blinden Feinde Zahl, Flutend sie überschäumen, Ein Heer von Tannenbäumen, Ein Wald von Dunsadal! Drum, Volk, mit Eisenklammern schließ Zusammen dich im Bund! Die Wuchrer aus den Kammern schließ Und künd mit Donnermund Der Wahrheit Sakramente, Daß mit dem Recht zugleich Des Elends Elemente 11

Ziehn in die Parlamente Von Stadt und Land und Reich' So rolle auf fürs rote Jahr Der roten Banner Pracht, Und Rache nimm fürs tote Jahr, Für alle Niedertracht! Preß deine Faust zusammen Um Wahlschwerts mächtgen Knauf, Es soll den Feind verdammen, Es blitze, schlage Flammen, Bahn deines Schicksals Lauf!

W ä h l rot! Aufruf zur Wahlschlacht am 16. Juni 1903

Auf, auf, mein Volk! Der große Tag Des Strafgerichts erscheint: Dein Urteil wirkt wie Wetterschlag, Zerschmettre deinen Feind! Der Arbeit Bataillone Anstürmen unbewehrt — Kein Blitzen der Kanone, In keiner Faust ein Schwert: Doch stark wird selbst der Schwache Im Massenaufgebot! Auf, auf, mein Volk, erwache! Ermanne dich! Wähl rot! Abrechnung halt! Die Quittung gib Für jeden Volksverrat, Daß man ins Hungerjoch dich trieb. Dein Recht mit Füßen trat. Was da in deinem Herzen An heiigem Zorn gebrannt — Die ganze Glut der Schmerzen Schicht auf zu einem Brand: Am Schlachtentag entfache Ihn, daß er leuchtend loht! 12

Erwache, Volk, envache! Ermanne Dich! Wähl rot! Die Menschheit hält den Atem an, Blickt heißen Augs zu dir — Trag, Volk, den Völkern all voran Dein rotes Schlachtpanier! Tritt vor in blitzendem Grimme Zur Heerschau Reih' an Reih': Ein Donner deine Stimme, Ein Dreimillionenschrei! So bahn am Tag der Rache Den Weg dir aus der Not — Erwache, Volk, erwache! Ermanne dich! Wähl rot! Zeig, daß du lieb hast grenzenlos Dein deutsches Vaterland Ob auch der fremden Brüder Los Dich stets als Bruder fand. Zeig, daß der deutschen Männer Gewaltges Arbeitsheer Steifnackige Bekenner Der Überzeugungsehr, Die für die höchste Sache Der Menschheit gehn zum Tod. Drum, deutsches Volk, erwache! Ermanne dich! Wähl rot! Die Zukunft liegt in deiner Hand, Nicht auf dem Ozean. Zum Bruderbund schreit' Land an Land Die Völkerfriedensbahn. Du darbst, und sollst dich brüsten Mit blutger Kriegesehr? — Zur Rüste geht das Rüsten! Genug für Heer und Meer! Des Volkes Willen mache Zum obersten Gebot! Erwache, Volk, erwache! Ermanne dich! Wähl rot! 13

Auch du, mein Landvolk — allen Groll Entlad im Urnenkrug! Warum so hundedemutvoll? Komm, sag; Nun ist's genug! Trägst stumm die schwerste Bürde? Läßt hudeln dich als Knecht? Weißt du, was Menschenwürde? Weißt du, was Menschenrecht? Haust unter deinem Dache Nicht allertiefste Not? Auf, Landvolk, auf! Erwache! Ermanne dich! Wähl rot! Tritt an, mein Volk, am großen Tag Bis auf den letzten Mann! Zeig was dein Opfermut vermag, Was fester Wille kann! Nichts fessle deine Sohle, Stürm jubelnd Burg auf Burg! Vorwärts! sei die Parole, Dein Siegessturmruf: Durch! Führ deine heiige Sache Vorwärts durch Kampf zum Sieg! Erwache, Volk, erwache! Ermann dich, wähle, sieg! Die Roten an die Toten Zur Stichwahl im I. Berliner Reichstagswahlkreis

Die Kugel mitten in der Brust, Die Stirne breit gespalten — So steigt ihr blutig, rauchberußt, Geheiligte Gestalten, Aus eurem Grab um Mitternacht Und hört begeistert melden Den roten Sieg der Junischlacht, Ihr märzgefallnen Helden. Wir legen frischen roten Ruhm Im Kranz auf euer Bette. 14

Wo fänden wir ein Heiligtum Wie diese Schädelstätte, Die eure Wunden bluten sah, Das Blei in dem Gebeine — Bei euch ist unser Golgatha, Im heiigen Friedrichshaine. Zum Rundgang folgt uns durch Berlin, Zerschossene Genossen, Zum Zelt, zum Schloßplatz laßt uns ziehn, Wo euer Blut geflossen, Bedeckt die offnen Wunden euch, Ihr feig verratnen Manen, Hier, nehmt das rote Bannerzeug Von unsern Siegesfahnen! Ihr staunt? Ihr greift euch an die Stirn, Vom Säbel breitgespalten; Euch will's nicht ins durchschossne Hirn, Daß so wir Wort gehalten! Hochauf der Freiheit Märzsaat schwoll Und gab im Juni Samen — Laut „An mein Volk" der Ruf erscholl Und drei Millionen kamen! So war's! Den Jubel in der Brust, Sieg in der Fahne Falten — So haben wir sie zielbewußt Hoch in die Luft gehalten! So zogen wir das Wahlschwert blank, Siegreich auf schweren Pfaden Eroberten die Hauptstadt frank Und ohne Barrikaden! So brach die rote Sonne durch Und schoß mit glühnden Strahlen In Brand „des Freisinns alte Burg". Nur einen Pfad, den schmalen Vom „Großen Stern" zum „Roten Haus", Wo sich Paläste recken. Da sieht's bei Tag noch dunkel aus, Ein langer Sonnenflecken. 15

Seht, „In den Zelten", jenem Ort, Wo eure Herzen lauschten Und an der Redner freiem Wort Aufjauchzend sich berauschten, Wo einst der Freiheit Feuerwein Erhitzt das Blut der Massen, Da klappern jetzt zur „Wacht am Rhein" Des „Freisinns" Kaffeetassen. Vom „Zelt" durchs „Brandenburger Tor" Die „Linden" bis zu Ende; Der „Faulen Grete" blindes Rohr Zielt auf die Zeughauswände. Still ragt der Dom, der Puppenbrück' Zittern die nackten Glieder. Der Schloßplatz fließt, und Stück auf Stück Riß man die Freiheit nieder. Der Schloßplatz fließt - mußt' euer Blut So schnell zu Wasser werden? Krebs-, Krokodil- und Krötenbrut Schielt nach Neptuns Gebärden; Mit krummem Rücken, schiefem G'nick Und lendenlahmen Schenkeln Schaut auf des Knechtsinns Bettelblick Von euren Söhnen, Enkeln! Was jagt euch plötzlich in die Flucht, Zurück in euer Bette? Schämt ihr der Söhne euch und flucht, Ihr fliehenden Skelette? — O, daß ein wäßrig Zwerggeschlecht Blutarmer Renegaten Der hohen Freiheit heilig Recht Verraten könnt, verraten! Ja, wir verstehen euren Fluch! O nehmt, verratne Manen, Nehmt frisches Zeug zum Leichentuch Von unsern roten Fahnen! Wenn wir gesiegt, habt ihr gesiegt, 16

Denn wir sind eure Erben, Und würdgere! — Der „Freisinn" liegt Im Sterben, ach, im Sterben! Ein letzter Sturm, ein letzter Stich — Und er ist ganz geschlagen! O tote Schar, wir rächen dich, Wir, deine Erben, tragen, Wenn unsrer neuen Siege Glanz Ins Land Fanfaren schmettern, Aufs Märzengrab den Junikranz Mit roten Ruhmesblättern.

Prometheus' Volk Eine Antwort auf Bülows Silversterscherz Aus dem Olympischen ins Irdische übertragen

Bedecke deine Erde, Macht, Mit Menschenblut, Und übe, dem Korsen gleich, Der Völker köpft', Und Länder stahl, das Degenziehn, Mußt mir meine Ziele Doch lassen stehn Und meine Zukunft, die du nicht verstehst, Und meinen Marx, Von dessen Geist Du nichts begreifst. Ich kenne nichts Ärmeres Unter der Sonn', als euch, Minister! Ihr stützet jämmerlich Auf Bajonette Und Zitate Eure Majestät! Und stürzet, wären Die Menschen nicht „beschränkte Untertanenköpfe". 4

Klatt, Scaevola

Da ich ein Kind war, Nicht wußte, wo aus noch ein, Kehrt ich mein vertrauend Auge Zur Macht, als wenn dahinter wär' Ein Ohr zu hören meine Klage, Ein Herz, wie meins, Sich der Enterbten zu erbarmen. Wer half mir Wider der Ausbeuter Übermut ? Wer rettete vom Tode mich, Von Sklaverei? Habt ihr nicht alles selbst vollendet, Heilig glühend Herz Und schwielenharte Hand? Betrogen, Rettungsdank Den Niederdrückern droben? Ich dich ehren? Wofür? Hast du das Elend gelindert Je der Entrechteten? Hast du die Ketten gebrochen Je der Geknechteten? Hat nicht drei Millionen geschmiedet Der Hammer der Not? Wird die vierte nicht schmieden Der Tag von Pauli Bekenntnis? Wähntest du etwa, Ich sollte die Heimat hassen, Den Staub abschütteln, Nach Südwest fliehen, Weil dich meine Freiheitsträume schrecken? — Hier sitz ich, forme Menschen Nach meinem Bilde, Ein Geschlecht, das frei, gleich sei, Zu lieben den Bruder, Als Menschen zu freuen sich, Und dein nicht zu achten Wie ich! 18

Zur Wahlschlacht Freitag, 25. Januar 1907

Rotdeutschland in der Schlacht voran! Nun weißt du, was im Spiel, Warum des Reichs Zitatenmann Rührt Bonapartes Degen an, Nun setz dem Dräu'n ein Ziel! Du hast im Opferbringen Gewaltiges gekonnt. Reck dich! — Es muß gelingen Das große, große Ringen. Rotdeutsche vor die Front! Ein Freitag ist's! — Da tage frei, Da stell dich zum Appell, Da schlepp den letzten Mann herbei, Da kling dein Viermillionenschrei, Daß spring manch Trommelfell! Daß all den Mischmaschscharen Hören und Sehn vergeht, Jählings treib sie zu Paaren, Bis rings von Siegsfanfaren Dein rotes Banner weht! O Volk, jetzt sag, was dich bedrückt, Jetzt naht der große Tag, Wo grad du stehst, dem Joch entrückt, Die schwielge Faust das Wahlschwert zückt, Schwing's, daß es saust, o schlag, Daß deiner Feinde Reigen, Der Mammons Kalb umtanzt, Entsetzen packt und Schweigen. Jetzt, Volk, jetzt kannst du zeigen, Jetzt zeige, was du kannst! Volk! - Riesengroß ist deine Macht, Stellst alle Mann du ein, Rollst aller Banner rote Pracht Du auf am Tag der roten Schlacht —

Nichts, nichts kann mächtger sein ! O roter Riese, recke Dich rasselnd hoch empor! Dein Massenstreik erschrecke Den Feind, bring ihn zur Strecke, Den Volksausbeuterchor ! Ein Volksgerichtstag naht heran — Den Tag tu Richterdienst, Da klag die Volksverräter an, Den Junker, Pfaffen, Freisinnsmann, Zahl jedem nach Verdienst ! Bist deines Schicksals Lenker An diesem Tag allein! O denke, Volk der Denker, Du kannst dein eigner Henker, Dein eigner Heiland sein ! Volk, wenn zu denken du beginnst, Hörst du zu dulden auf — Denk, daß du eine Welt gewinnst, Wenn du dich auf dich selbst besinnst, Nimm sie im Sturmeslauf ! Erspäh der Feinde Blöße, Stoß nieder ihre Schar, Zeig durch die Wucht der Stöße In deiner ganzen Größe Dich, Riese Proletari Brotwucher, Fleischnot, Reichskonkurs Der Volksverrat erzeugt. Scharfmacher lachen schon des Schwurs, Zum Staatsstreich äugt der Wasserkurs, Sinnt, wie ers Wahlrecht beugt. Blast ! Blast ! Ihr roten Rotten Rotdeutschlands Schlachtmusik : „Fort mit den Hottentotten, Fort mit der bankrotten Weltflotten-Politik!" Vorwärts die Bahn, die kühne Bahn! Dein Wahlschwert schlage Blitz! 20

Vereint siehst du die Feinde nahn In ihrem öden blöden Wahn Von „Bildung und Besitz". Das Volk nicht mehr als Herde Für Hirten sich zerfetz, Das Volk regier die Erde, Des Volkes Wille werde Das oberste Gesetz!

Zur Stichwahlschlacht 1907 Großes reaktionäres Masseneinigungsterzett aller feindlichen Brüder JUNKER:

„Fast vier Millionen der Proletar! Er liegt mir schwer Im Magen; Mir wollen nicht Austern, nicht Kaviar, Nicht Schaumwein mehr Behagen. Wegküsset mir nachts nicht der Träume Qual Die süßeste Konkubine. Ich sehe behängt den Laternenpfahl, Seh blitzen die Guillotine. Ich kann nicht sterben, nicht leben vor Pein, So kann's nicht weiter gehen — Müßt man rot färben die Elbe, den Rhein, Es muß etwas geschehen!" PFAFFE:

„Ja, aber was? Ich helf bei Nacht, Ich helf dir gern Bei Tage; Doch sag, welch Mittel du erdacht — Das ist der Kern Der Frage. Die Todesangst ist ganz verkehrt; 21

Wir müssen beid uns schützen, Dein Schwert mein Kreuz, mein Kreuz dein Schwert Und Hand in Hand uns nützen. Das Volk durch Hetzer ist verhext, So kann's nicht weiter gehen — Das Volk der Ketzer frißt und wächst; Es muß etwas geschehen!" JUNKER:

„Mit Feuer und Schwert muß zornbeseelt Man der Bestie Brut Sich kaufen! Der Degen hat seinen Beruf verfehlt, Den nicht dampfendes Blut Darf taufen! Noch ist es Zeit, doch die höchste Zeit — Noch schlägt man es weich wie Windel Im fröhlichen Krieg, der uns alle befreit Von dem skrofulösen Gesindel! Was blitzt das Schwert, wenn's bewehrt nicht die Faust? So kann's nicht weiter gehen — Was nützt das Erz, das das Herz nicht durchsaust? Es muß etwas geschehen!" PFAFFE:

„Nicht Schwertgewalt, nicht Schergenmacht, Nur Schlauheit schlug Die Stärke; Gewalt hat mich nur stark gemacht — Drum gehn wir klug Zu Werke: Hat man sein Weib, kriecht sein Gemahl Zu Kreuze vor der Stola, Laß ein die Söhne loyal Vom heiligen Loyola! Wie Kletten leben Mann und Frau . . . So kann's nicht weiter gehen — Zu retten strebe man die Frau. Es muß etwas geschehen!" 22

L I B E R A L E R MISCHMASCHMANN :

„Man tröstet das Volk zu lange schon Mit dem goldenen Vließ Da drüben — Man geb ihm zu Zeiten ein Stückchen zum Lohn Vom Paradies Schon hüben: In Burgunder geschmort den Steiß vom Schwein Und Hummermajonäse, Ein Kistchen aus Kuba, ein Fläschchen Wein Und ein Verschen der Marseillaise. Für jeden werd' — das ergibt sich klar, So kann's nicht weiter gehen — Ein Eden auf Erden, der siebzig Jahr' — Es muß etwas geschehen!" JUNKER:

„Tip Top! Das hast du pfiffig erdacht, Mein Mischmaschfürst Und Meister! Ich führe über die Leiber die Macht, Du Pfaffe führst Die Geister! So könnt man dem Volk das rote Programm Homöopathisch bescheren, Dem Siebzigjährigen z. B. stramm Die freie Liebe gewähren! Doch frommt auch nicht dieser vermittelnde Rat So kann's nicht weiter gehen — Dann komme, du Riese der „rettenden T a t " ; Es muß etwas geschehen! " Unser die Welt, trotzalledem! Vorwärts! Alle Mann an Bord! Deutschland, deine Anker lichte! Donnre dein Kommandowort, Volk, du Blitz der Weltgeschichte! Speit der Feind auf dich auch Spott,

Blick nicht rückwärts, segle weiter! Gibt dir doch der neue Gott Jede Wahlschlacht neue Streiter! Jeder Segler ward verhöhnt Auf der Fahrt zum Paradiese; Doch ob haushoch, schaumgekrönt Wogenbruch und Wolkenbrise, Vorwärts — durch! Dein Wahlschwert zück, Wag dein Neuland, schaffend werde! Vor dir liegt der Menschheit Glück, Vor dir liegt die neue Erde! Ward Columbus nicht verlacht? Nicht des Galilei These? Aber bracht' nicht Edens Pracht Jener große Genuese? Bracht' er goldner Berge Glanz Nicht aus wasserwüster Ferne? Pflückt' er aus dem Sternenkranz Nicht fürs Sternenbanner Sterne? Also soll auch unser Boot Uferloses Meer nicht schrecken! Rief er „Land!" - Wir rufen „Brot!" Wir auch eine Welt entdecken! Griff er kühn ins Sternenzelt, Trug ein Weltmeer seine Tonne, Reißen wir zur Erdenwelt Nieder eines Himmels Sonne! Schwören Treue bis zum Tod Unsern roten Freiheitsfahnen, Die durch uferlose Not Uns den Weg zum Ufer bahnen! Näher, näher strebt der Strand, Höher Herz und Pulse schlagen, Und wir sehn, wir sehn das Land Unsrer Sehnsucht vor uns liegen! Sehn es atemlos vor Lust — Weit aus wir die Arme breiten — 24

Jubelnd bricht es aus der Brust: Neuland! Freiheit! Neue Zeiten! Und das Volk tut, was es nie, Nie getan und nie tut wieder, Jauchzend stürzt es auf die Knie, Neigt zum Erdenkuß sich nieder! Völker der Erde, wahret eure heiligsten Güter! Hand in Hand und Aug' in Auge Bruder blickt den Bruder an, Ob das Herz zum Herzen tauge, Ob im Aug' er lesen kann Der Parole Dreiheit: Fremder Sprachen fremde Laute Fremder Bruder nicht versteht, Doch im Blick liest er das traute Erdenvölkeralphabet: Bruderlieb, Gleichheit und Freiheit! Diese Geistestrikolore Flagge freudig Land um Land! Und ihr schreibt an eure Tore Mit der schwielenharten Hand: Hoch der Sozialismus! Grenzpfahl fort für Vaterländer! Künstlich trenn euch keine Kluft! Proletarier aller Länder, Fest vereinigt euch und ruft: Nieder der Militarismus! Ruht nicht eher bis hinieden Schutz und Lohn ward eurem Tun, Bis der ewge Völkerfrieden — Bis die rohen Schwerter ruhn Von des Krieges Tosen! Bis der blutgen Massenmorde Afterruhm als Schmach erkannt! Brüder seid ihr, keine Horde! Euch gebar ein Mutterland: Erde — ihr Vaterlandslosen! 25

Seilt, wie Windhauch zum Orkane, Schneeflock' zum Lawinenball, Tropfen wird zum Ozeane — Also lenkt zum Meere all Der Genossen Blicke! Tropfen ist als Tropfen nichtig, Schon im Bach vermag er mehr, Und im Strom ist er gewichtig, Doch vereint im Weltenmeer Schmettert er Felsen in Stücke! Drum bei jedem der Beschlüsse Denkt an eurer Heimatflur Quellen, Seen, Bäche, Flüsse, Wie sie alle folgen nur Dem Gesetz der Schwere: Schleusen — Brücken — Drunter! Drüber! Scheide, Glommen, Genfer See, Donau, Tajo, Themse, Tiber, Mississippi, Seine, Spree — Küssen sich alle im Meere! Wie verschieden auch der Welle Richtung, Gangart, Farbenspiel — Westwärts, ostwärts, langsam, schnelle, Alle haben nur ein Ziel: Alle meerwärts wandern! Wie verschieden eure Sprache, Sitte, Tracht in Nord und Süd — Eine heiige große Sache Heiß durch aller Adern zieht: Einer tritt ein für den andern! Stirbt auch mancher hinterm Gitter, Brüder, weint nicht! — Duldet stumm! Seht, durch Tränen im Gewitter Blinkt als Evangelium Schön der Regenbogen. — Ob man euch den Körper töte, Euer Geist geht nicht zur Ruh' — Seht, es stirbt die Morgenröte, Doch die Sonne lacht dazu, Sie, die noch niemals gelogen! — 26

Brust an Brust und Lipp' auf Lippe, Hoch die Hand zum heiigen Eid — So umschiffet ihr die Klippe, Wenn sie droht, Uneinigkeit, Stolz in weitem Bogen! Wenn sich fremde Völker küssen, Dann regiert das Schwert nicht mehr! Völker, küßt euch! Folgt den Flüssen! Fließt zusammen in ein Meer Unüberwindlicher Wogen!

Des Volkes Wille — das oberste Gesetz! Ihr kennt die alte Sage Vom Atlas, dem die Welt Einst Zeus zur ewgen Plage Hat auf das Haupt gestellt: Wie Atlas, dessen Rücken Die Himmelskugel trägt, So mußt du, Volk, dich bücken, So lang der Puls dir schlägt. Wie gleichst du dem Titanen, O Mann der Arbeit, doch! Täglich dieselben Bahnen Keuchst du, bepackt im Joch: O Mann im Arbeitsschweiße Begreife doch dein Los, Und rüttle dich und reiße Dich von dem Joche los! Mußt Du dich ewig plagen Für andre nur? Erwach! Laß hell im Hirn es tagen, Denk über dich nur nach! Wie wenig ist ergötzlich, Was du vom Leben hast! Wie — wenn der Atlas plötzlich Losließ die Himmelslast? — 27

Dann würd' der Himmel fallen Nieder zur jauchzenden Erd', Und allen Menschen, allen, Gerechtigkeit beschert! Zu solchem Sieg der Freiheit, Gleichheit und Menschlichkeit — Zu dieser heiigen Dreiheit Führt nur die Einigkeit! Das Volk kann nur die Bürde Wegwerfen Mann für Mann, Wenn's einig stehen würde, Dem Atlas gleich, ein Mann! — Das Ziel: Erhöhte Löhne, Verkürzte Arbeitszeit Erringt ihr Arbeitssöhne Nur, wenn ihr einig seid! Das Heer der Arbeitslosen Will Arbeit, vollen Lohn! Nicht Bettelgeld, Almosen, Geschenkt mit Spott und Hohn! Nicht stets ins Joch gebunden, Wie Ochsen vor dem Pflug! Nicht achtzehn Arbeitsstunden, Acht Stunden sind genug! Schweig, pfäffisches Gezeter! Schweig, Arbeitgebertrotz! Schweigt, Harmonietrompeter Für Proletar und Protz! Wie Lamm und Löwe meiden Sich Herr und Knecht zumal! Wie Feuer, Wasser scheiden Sich Arbeit, Kapital! Kurz ist des Lebens Spanne Und schnell verblüht der Lenz, Drum mach nicht auch dem Manne Die Frau noch Konkurrenz! Die Tochter dieser Erde 28

Steht gleich der Erde Sohn, Für gleiche Arbeit werde Ihr auch der gleiche Lohn! Ob draußen müßig lungert Der Arbeitslosen Heer Und durstet, friert und hungert, So Leib wie Taschen leer, Für Drei mußt schuften, scharren Du dir die Hände wund, Dir hilft nur ziehn den Karren Als Kampfgenoß der Hund! Dies Leben könnt ihr wenden Zur Wahl am Urnenrand! Es liegt in Euren Händen Wählt rot! Und hebt die Hand, Daß eh'r sich keiner stille Und sorglos niedersetz, Bis daß des Volkes Wille Das oberste Gesetz!

Aufruf an die Frauen Schwestern! Helft! - Sie naht, die Stunde, Wo Gott Mammon liegt erstickt, Und die frohe Todeskunde Froh aus euren Augen blickt. Armut, Not und Elend werden Mammons Leichenträger sein! Senkt, wenn ihr ihn senkt zur Erden, Auch die Träger mit hinein! Nichts gibt's dann mehr auszubeuten, Faulet er im Totenschrein; Seine Totenglocken läuten Euch ein neues Leben ein! Helft, daß bald die Not ein Ende, Und die Knechtschaft unterliegt, 29

Schwestern, schafft und rührt die Hände, Daß die heiige Sache siegt! Frauen, Mädchen aller Länder, Ungesäumt vereinigt euch! Und dann säumt die roten Bänder, Säumt das rote Bannerzeug! Daß die Männer nicht erst warten Müssen auf das Fahnennähn, Wenn mit Stangen und Standarten Sie als Sieger vor euch stehn. Unterstützet die Befreier, Was auch immer kommen mag — Frauen! — Mammons Leichenfeier Wird der Freiheit Feiertag! Gebt Raum den Frauen! Xähn — Tag für Tag, die halben Nächte, Jahraus, jahrein, fortwährend nähn — Wenn das die satte Welt bedächte, Sie würd' die hungrige nicht schmähn! Was hat die Ärmste denn vom Leben? So schön, so einsam und so arm! Ein Zaungast, hockt sie stets daneben, Wenn Lieb' mit Lieb' geht Arm in Arm. — Der Sonntag lacht, die Zweige singen, Die Falter flattern hoch zu zwein — Das Herz will ihr vor Sehnsucht springen: Sie möchte auch mal glücklich sein! Sie geht hinaus in Wald und Wiese; Sie will das Glück nur einmal sehn, Nur einmal ruhn im Paradiese, Geliebt sein, lieben und vergehn. Er grüßt und bietet ihr Geleite, Sie dankt aus tief beklommner Brust; Er aber weicht nicht von der Seite, 30

Er spricht von Schönheit, Glück und Lust. Sie schweigt, doch ihre Ohren saugen Sein süßes Flüstern lechzend ein — Da flammt es auf in ihren Augen: Sie möchte auch mal glücklich sein! Die Sonne sank und beide gingen Heißatmend heim. Rings schlief das All, Nur sinnberauschend ließ erklingen Ihr schmelzend Herz die Nachtigall. — Nun hatte sie das Glück gefunden, Nun hielt sie's küssesaugend fest Zwei süße, seufzende Sekunden Ein priesterloses Hochzeitsfest. Er ging. — Fast brach ihr Herz in Stücke. Nun war sie wieder ganz allein, Allein mit ihrem Mutterglücke — Sie wollte auch mal glücklich sein. Sie kann ihr kleines Glück nun wiegen, Und wiegend näht sie Saum um Saum, Da kommt die satte Welt gestiegen: „Fort! Hier ist nicht für Dirnen Raum!" Leis weinend trägt ihr schreiend Glücke Im Arm sie fort in Nacht und Not. Dort blinket Licht, dort winkt die Brücke, Dort fließt der Fluß, der nasse Tod Ein Wurf und Sprung . . . auf hört ihr Weinen, Ihr sinkend Glück hört auf zu schrein; Die Wellen beide glücklich einen — Sie wollte auch mal glücklich sein! Jetzt, satte Frau'n, jetzt kommt vereinigt Und setzt empört euch zu Gericht! Wie wär's, wenn ihr die Leiche steinigt ? Die Leiche lacht euch ins Gesicht: Ich war im Leben euer Retter, Ihr lieft sonst frierend, nackt und bloß ; Ihr näht für euch die Feigenblätter, Ihr warft mir Spottgeld in den Schoß; Ihr schwelget trunken im Genüsse, 31

Ich wüßt vor Not nicht aus noch ein; Ihr trankt das Glück im Überflüsse, Ich wollte auch mal glücklich sein. Ihr gingt in Samt- und Seidenroben, Ich näht sie nachts bei trocknem Brot; Ihr saht auf mich herab von oben, Ich litt in Not durch euch den Tod. Ihr sagt jetzt ohne viel Besinnen Frech Dirne, Mörderin zu mir. — Ihr lügt! Die wahren Mörderinnen, Die echten Dirnen — das seid ihr! Wie könnt ihr die so schamlos lästern, Die eure Blößen hüllen ein? — Gebt Raum! — Denn meine armen Schwestern Sie wollen auch mal glücklich sein! Welten - Friede Seht, der Pfaffe scheret sacht schmunzelnd seine Schafe, Singt, daß nimmer sie erwacht: Schlafe, Menschheit, schlafe! Weihrauchtrunken kniet der Zug der geschornen Herden, Orgeltrug und Glockenlug tönen: „Fried' auf Erden!" Fried'? - Die Erde starrt und strotzt, blitzt und blinkt in Waffen, Blöd die Herde harrt und glotzt, kann sich satt nicht gaffen, Blökt: O herrlich Kriegesheer! Glanz in jedem Gliede! Aufgespießt auf spitzem Speer seufzt der Friede: „Friede!" Friede nicht vom Himmel fällt! Weckt ihn auf der Erde! Daß auf dieser ganzen Welt Welten-Friede werde. Welten-Friede wird dann all das Gebrest vermindern, Dann gehört der Erdenball allen Erdenkindern! Das rote Siegeslied des 20. Jahrhunderts Frau X I X ächzt und stöhnt und weint Und windet sich in Wehen, Die „Edlen der Nation" vereint 32

Ihr Wochenbett umstehen; Sie sieht nicht weit die Wieg' bereit Fürs Kind, für sich die Bahre, Da reißt ihr Kleid sie auf und schreit: „Das Kind kriegt rote Haare!" Entsetzen packt den Heuchlerbund Der Junker und der Pfaffen; Das Blaublut greift zur Reitpeitsch und — Zu andern „geistgen Waffen", Der pechentstammte Pfaff entflammt Die Schäfchen am Altare: Jetzt seid verdammt ihr allesamt, Das Kind kriegt rote Haare! Umsonst!! — Die Majestät Natur Führt selbst das Volk zum Glücke! Kein Pfaff kann an der Weltenuhr Den Zeiger drehn zurücke — Nicht einen Zoll! - Das Maß war voll Schon viele, viele Jahre! Nun kommt's so toll, wie's kommen soll: Das Kind kriegt rote Haare! Der Knechtung graue Kerkerzeit — Ihr könnt sie nicht mehr retten; Der Arbeit Volk, es wirft befreit Ins Antlitz euch die Ketten! Dem Wort: „Mehr Lohn!" spracht ihr nur Hohn, Der Mensch war euch nur Ware, Recht billge schon; drum euch zum Lohn Das Kind kriegt rote Haare! Sucht ihr in jedem Eichenwald Galläpfel wie besessen, Und preßt draus Tinte mit Gewalt, Und kratzt aus allen Essen Den schwarzen Ruß, aus jedem Fluß Den schmutzgen Schlamm der Jahre Es kommt wie's muß — wie's kommen muß: Das Kind kriegt rote Haare! 5

Klatt, Scaevola

Ja, rot wird's Kind der grauen Frau, Sie selber muß dran sterben; Und ihr? — Kann einer schwarz und grau Die Morgenröte färben? — 0 blöder Tropf! Dein Farbentopf Nützt nichts dir! Gott Bewahre! Prinz XX.s Kopf kriegt roten Schopf, Das Kind kriegt rote Haare! In eure Nacht sinkt unsre Not, Der Tag ist nicht mehr ferne; Auf geht schon unser Morgenrot, Und unter eure Sterne! Schon tönt das Lied, das Frührotlied Der Lerchen und der Staare! Der Junker zieht! Der Pfaffe flieht! Das Kind kriegt rote Haare! Wir frei und gleich geboren sind, Wir kennen keine Knechte! Glück auf! Du Proletarierkind! Du gibst uns gleiche Rechte! Der Bauer - rot! Der Bürger - rot! O Welt, du wandelbare! Die Not ist tot! Das Volk hat Brot! Das Kind hat rote Haare!

34

Die französische Revolution

Episch-dramatische Dichtung in zwölf lebenden Bildern E s wetterleuchtet am Himmel aus dunklem Wolkensitz, Es rollt wie ferner Donner, es zuckt wie greller Blitz. Zwei feindliche Gewalten - zwei Wolkenheeren gleich Ziehn drohend aufeinander, es kämpfen Arm und Reich. Doch, grollen auch die Donner, noch zünden die Blitze nicht, Sie werfen mächtige Schatten, sie werfen bleiches Licht Auf den, der auf dem Throne von Frankreich führt den Blitz. Es sitzt von Gottes Gnaden auf weichgepolstertem Sitz, Auf goldig funkelndem Throne, der sechszehnte Ludewig; E r blicket nicht nach unten, er blickt nicht über sich, E r kann den Hals nicht beugen, so feist ist er, so fett. Es sitzt an seiner Seite Marie Antoinette, Maria Theresias Tochter, die Fremde aus Österreich; Sie herrscht und intrigieret im schönen" Königreich, Wenn jagend ihr Herr König die schöne Zeit totschlägt, An Wild in einem Jahre zehntausend er erlegt. Sie lenkt die Stützen des Thrones, den Adel, die Geistlichkeit; Die auf der Bürger Schultern sich ruhn in Sicherheit. Der dritte Stand alleine, er sieht den Abgrund nahn, E r sieht die Gesellschaft tanzen auf rauchendem Vulkan. In feindliche Provinzen gespalten ist das Land, Des Mittelalters Staatsform noch immer hat Bestand. Doch kommt den neuen Ideen die Zeit schon auf die Spur, Schon wird zu Grabe getragen die Zeit der Pompadour. Die Zeit ist da, die Voltaire, Rousseau, Helvetius In ihrem Geist verkündet, mit frohem Sinnengenuß; Wo man die Menschenrechte zuerst rückt ins Gefecht, 5*

33

Wo Wahrheit gegen Lüge, wo gegen Macht das Recht, Wo Freiheit erst in Worten der Knechtschaft Kette bricht, Die Gleichheit keck dem Vorrecht schlägt in das Angesicht, Wo Brüderlichkeit umschlinget, die Welt mit einem Band Und nennt die ganze Erde der Menschheit Vaterland. So stehn des Thrones Stützen, der Adel, die Geistlichkeit Noch auf dem dritten Stande, dem Träger der neuen Zeit. Wie lange wird er's tragen? Ob nicht der neue Geist Die alten morschen Stützen des Thrones in Trümmer reißt? Wer kommt dort auf dem Schiffe auf schwankem Kommandobrett ? Das ist die Freiheit von Westen, sie kommt mit Lafayette. Ihr Haupt trägt die rote Mütze; was hebt in der Hand sie da? Das ist das Sternenbanner von Nord-Amerika! Scharf wirft der Wind von Westen die Wellen der Seine zu Berg, Es bäumen zu Riesenwellen sich auf die Wellenzwerg'; Es wallen und brausen die Wellen mit weißgekröntem Kamm, Sie wollen überspülen den schützenden Uferdamm. Noch sitzt auf seinem Throne der sechszehnte Ludewig, Und spielt mit Szepter und Krone, doch fühlt er nicht sicher sich; Noch sitzt ihm stolz zur Seite Marie Antoinette, Doch tanzt auf heißem Vulkane graziös sie Menuett. Des Thrones Stützen wanken, es wanket des Königs Thron; Dumpf wogen heran die Wogen - die Wogen der Revolution.

36

Bild* König Ludwig XVI.

und seines Thrones

Stützen

Musik: Introduktion zur Oper „Des Königs Befehl" von Neibig

Wie willst du sie bannen, die Wogen, die Wogen der Revolution? Wie willst den Altar du schützen, o König, und deinen Thron? Wie willst du die Freiheit bekämpfen? Wie schaffst du den Darbenden Brot? Wie willst du das Elend dämpfen, die Armut, den Hunger, die Not? Du rufst die Notabein zusammen, zu retten die alte Welt, Doch nichts sie dir bewillgen, sie geben dir kein Geld. Reichsstände sollen helfen dir in der schweren Not, Doch was sie dir bewillgen — es wär' dein eigner Tod: Damit des Volkes Stimme die Staatsgewalt vernimmt, Hätt' man anstatt nach Ständen, nach Köpfen abgestimmt. Dann fiel' der Kirche, dem Adel das Zepter aus der Hand. Zur National-Versammlung eint sich der dritte Stand. Um diese zu vernichten, schließt man den Ständesaal Und läßt der Volksvertretung nur noch die eine Wahl, Sich selber zu vertagen, damit den Saal man scharrt Und fegt für des Gesalbten, des Königs, Gegenwart. — Doch als dem Deputierten, dem ersten von Paris, Der Hof in nächtlicher Stille die Meldung bringen ließ, Daß bis zur Königs-Sitzung die Volksvertretung ruht, Da ward das Volk erbittert, da fuhr ins Volk die Wut; Der eine rief: Nach Marly! Vors Königliche Schloß! Daß vor den Fenstern des Fürsten zu tagen man schon beschloß. Ein andrer rief: Zum Ballhaus! Das war das richtge Wort! Das pflanzte sich unter dem Volke mit Windeseile fort. Es schlössen die Deputierten zum Zug aneinander sich. Und keiner von der Seite des Gleichgesinnten wich. * Bedeutet, wie auch im folgenden, nicht Szeneneinteilung, sondern Reihenfolge der lebenden Bilder. [Hrsg.]

37

Den Volksvertretern folgte das Volk geschlossen nach, Soldaten dienten dem Zuge der Deputierten als Wach'. Und hier, im leeren Ballhaus, da ward das Herz so voll, Daß von den bebenden Lippen in heiigem Schwur es scholl! Ein Schwur, so hoch und heilig, ein Schwur, so ernst und tief, Daß es aus tausend Kehlen gleich Flammenzungen rief: „Die National-Versammlung fortan sich nicht eh'r trennt, Bis daß man die Verfassung dem Reiche zuerkennt! Bis daß sie ruht auf festem und sicher'm Fundament!" Abnahm den Eidschwur Bailly, der tapfre Präsident. Es leistet die Versammlung den Eid dem Vaterland Mit stürmischer Begeistrung, mit hocherhobner Hand, Sechshundert Deputierte — Ein Eid: Das schwören wir! Da dröhnt der Schwur im Ballhaus nach draußen vor die Tür. Die dichtgedrängten Massen des Volkes hören ihn, Mit tausendstimmigem Echo sie flutend weiterziehn. So brach des Königs Wille am Willen der Nation. So brachen sich die Wogen, die Wogen der Revolution. 2. Bild Der Schwur im Ballhaus Musik: Finale aus „Ariele" von Bach

Und höher gehn die Wogen — die Wogen der Revolution, Sie spülen weg die Stützen von Kirche und von Thron. Vom Ballhaus geht's zur Kirche, verstärkt in kurzer Zeit Durch hundertfünfzig Köpfe der niedern Geistlichkeit. Indeß man so beratschlagt wohl über des Volkes Wohl, Befiehlt der König schleunigst, daß man sich trennen soll. Verjüngen will er das morsche, veraltete Regime. Die Geistlichkeit, der Adel gehorsam folgen ihm, Allein des Volkes Erwählte, sie halten schweigend Stand, Entrüstet auf den Sitzen bleibt fest der dritte Stand. Aus seinen Augen blitzet der Zorn so lichterloh, 38

Da bricht das trotzge Schweigen zuerst Graf Mirabeau, Der Mann von Glut und Feuer, von Mut und Riesenkraft ; Aus seiner Rede flammet geniale Leidenschaft. Im Adelshasse furchtbar von Rachedurst getränkt, Zum Tode'einst verurteilt, im Bilde schon gehängt, Hat er bei Wein und Weibern sein Leben fast verpraßt, Dem Hofe ist sein Name so fürchterlich verhaßt, Daß von ihm weicht der Höfling, denn schrecklich ist sein Ruf, Und seine Augen speien wie Ätna und Vesuv. Er schleudert kühn dem Höfling ins Ohr das Donnerwort : „Wir stehen durch den Willen des Volks an diesem Ort! Nur durch der Bajonette Gewalt man uns entfern', Dies ist des Volkes Wille, dies saget Eurem Herrn!" Der Höfling krümmt sich unter dem Auftrag wie ein Wurm Die National-Versammlung erdröhnt voll Beifallssturm. Der Hof denkt, da der König durch Güte nichts erreich', Ultima ratio regum, auf einen kühnen Streich. Es soll die Antwort geben dem Grafen Mirabeau, Aus Schüssen der Kanonen Marschall von Broglio. Es harren auf dem Marsfeld die Truppen zur Bataille, Es harren zu Sèvres Truppen, und Truppen zu Versailles. Von fünfzigtausend Soldaten ist rings Paris umkreist, Doch ist es schlau umzingelt von Regimentern zumeist, Im Ausland angeworben, da man nicht sicher war, Ob auf das Volk wird schießen die eigne Truppenschar. Ob Sohn, ob Bruder üben den Bruder- und Vatermord, Das Wort: „Du sollst nicht töten", mehr gilt als Königswort. Der König sieht sie wachsen, die Macht vom dritten Stand, Da ruft er neue Minister, und Necker wird verbannt. Das setzt Paris in Aufruhr, Entrüstung überall! Zehntausend Menschen ziehen zum Park des Palais Royal, Sie wälzen in brandenden Wogen die Straße sich entlang, Da öffnet seine Gärten der Herzog von Orleans. Die grünen Kastanienbäume sie glänzen so jugendfrisch. Da wird zur Rednerbühne der erste beste Tisch, Da drängt ihn zu besteigen, da drängt sich durchdie Meng', 39

Da nimmt zu flammender Rede das Wort Camille Desmoulins, Mit hochgehobner Pistole schafft schnell er sich Gehör, Und alles ringsum schweiget und Stille ringsumher. Sonst stottert seine Rede, heut ist sie flüssiges Erz, Er greift und packt mit Worten voll Feuer das Volk ans Herz: „Auf, Bürger, keine Stunde untätig hier verweilt! Greift zu den Waffen alle! Auf, zu den Waffen eilt! Der König hat die Minister getan in Bann und Acht, Dies ist die Sturmglock' zur blutgen Bartholomäusnacht. Nachts brechen die Bataillone, die Deutschen und Schweizer hervor, Uns alle zu erwürgen, drum öffnet Aug' und Ohr: Es bleibt nur eine Rettung, greift zu den Waffen all!" Der flammende Ruf zu den Waffen schlägt brausenden Widerhall, Es stürmen die wogenden Massen des Volkes das Stadthaus schon, Da werfen Waffen die Wogen, die Wogen der Revolution.

3. Bild Camille Desmoulins im Garten des Palais

Royal

Musik: „Das Erwachen des Löwen" von Kontsky Und höher schlagen die Wogen, die Wogen der Revolution, Sie schlagen an das Stadthaus, die Waffenkammer schon; Sie brechen die eisernen Ketten, die Kerker der Abtei, Und die gefangene Garde, das Volk, es macht sie frei. Hier ward die französische Garde von deutschen Dragonern bewacht, Das hat ein französischer König als Patriot gemacht! Doch hat sich tapfer die Garde am König zu rächen gesucht, Sie feuert auf die Dragoner, sie schlägt sie in die Flucht; Sie eilt in klirrendem Sturmschritt auf Ludwig X V . Platz, 40

Vereint mit den Söhnen des Volkes behauptet sie den Platz. Das Volk sucht Waffen, Waffen, wo's Waffen zu finden glaubt, Doch hat es nicht geplündert, doch hat es nicht geraubt. Wild läuft es durch die Straßen, es schreit, es droht, es flucht, Vergebens es nach Waffen, umsonst nach Waffen sucht. Da plötzlich aus den Kellern vom Invalidenhaus Reißt's dreißigtausend Gewehre, Kanonen und Säbel heraus. Die Massen sich bewaffnen, sie harren kampfesfroh. Die Arbeiter der Vorstädt' St. Antoine, Marou Verbinden sich mit der Garde, die treu zum Volke steht. Da tönt es: „Zur Bastille!" - Der Sturm es weiter weht. In tausendstimmigem Echo pflanzt brausend der Ruf sich fort, Und fliegt von Straße zu Straße und zündet an jedem Ort. Das Volk strömt zur Bastille in wütendem Wogenschwall, Zerschlägt mit Äxten die Ketten, die Zugbrück' kommt zu Fall. Das Volk stürmt über die Brücke, es flutet gegen das Tor. Und neue Massen drängen die kämpfenden Massen vor. Sie hören das Kommando: „Gebt Feuer!" von oben schrein, Da donnern die Kanonen, Gewehre knattern drein, Da stürzt das Volk in Massen zu Boden in Blut und Dampf, Vier Stunden tobt und wütet der mörderische Kampf. Da rückt heran die Garde, dem Volke hilfsbereit, Aus ihren Feuerschlünden sie donnernd Kugeln speit. Das kühlt der Bastille Besatzung die glühende Kampfeswut, Sie sieht die Garde stürmen, da senkt sich plötzlich ihr Mut: Da flattert plötzlich im Winde die weiße Fahne vom Turm. Erstürmt ist die Bastille! Beendet ist der Sturm! Doch Ströme Blutes entsprudeln so manchem Volkessohn, Die färben rot die Wogen, die Wogen der Revolution. 41

4. Bild Die Erstürmung der Bastille Musik: Sturmmusik von Wieprecht Und weiter strömen die Wogen, die Wogen der Revolution, Hinein m die Provinzen mit stürmischem Siegeston, Das Staatsgefängnis zertrümmert durch einen Volksaufstand ! Das ist das Nahen der Freiheit! So jubelt das Volk im Land. Indes das Herz von Frankreich in Elend pocht und Not, Umsonst nach Arbeit spähet, vergebens schreit nach Brot. Es schwelgen die Offiziere der Garde du Corps beim Mahl, Beim schäumenden Champagner im prunkenden Schauspielsaal, Im schönen Versailles-Schlosse bei rauschender Ballmusik, Sie trinken bei klirrenden Schwertern auf König Ludwigs Glück, Nicht auf das Wohl des Volkes — was geht das Volk sie an! Verfluchte Bürgerkanaille die Zeche zahlen kann! Austeilet weiße Kokarden Marie Antoinette, Die Trikolore wirft sie verächtlich aufs Parkett. Drauf treten mit Füßen die Schweizer und die Dragoner auch, Der König hält vor Lachen sich seinen dicken Bauch. Der Höllenhunger sehnt sich ins satte Paradies: „Auf! Nach Versailles! Zum König!" So schallt es durch Paris. Die Sturmglock' läutet drohend und hohl vom Louvreturm, Sie läutet das hohle Elend, den drohenden Hunger zum Sturm. Es sammeln sich die Mädchen und Frau'n in ihrer Not Und wirbeln laut die Trommel und schreien laut: „Brot! Brot!" Maillard mit seiner Trommel den Zug der Frauen führt. 42

Er wirbelt mächtig die Trommel, die Trommel er mächtig rührt. Mit blankgezücktem Schwerte auf rollender Kanon' Sitzt herrlich die Amazone der großen Revolution. Dem Zug der Frauen folgen, geschlossen Mann für Mann, Arbeiter aus der Vorstadt St. Antoine und dann Der treu zum Volke stehet, der Garde rasselnder Troß; So wälzen sich die Massen bis ans Versailles-Schloß. Zur Königin, zum König bis auf den Schloßbalkon — Sie steigen hoch, die Wogen, die Wogen der Revolution.

5. B i l d Der Zug der Frauen nach

Versailles

Musik: Zug der Frauen aus „Lohengrin" von Wagner Und höher steigen die Wogen, die Wogen der Revolution, Sie steigen nachts durchs Gitter, zum hohen Schloßbalkon, Ins Schlafgemach sie steigen, zur schlafenden Königin, Daß barfuß sie, im Hemde, muß zu dem König fliehn. Sie färben sich am Blute der Leibgardisten rot, Doch dem französischen Volke — dem bringen sie kein Brot. Statt Brot, da bringen die Wogen den König, die Königin, Die National-Versammlung zurück nach den Tuillerien. Im pochenden Herzen von Frankreich die Freiheit höher wallt. Hier reift sie in schöner Entfaltung zu herrlicher Gestalt. Doch wo die Freiheit redet, da schweigt das Königtum, Und flüchtet aus dem Schlosse, und reicht dem Feind die Hand, Der Vater des Vaterlandes verrät sein Vaterland. Bei Nacht und Nebel schleichen sie aus den Tuilerien, Der König als Diener verkleidet, jedoch die Königin Sinkt nur bis zur Baronin, da fängt der Mensch doch an, Sie staunt, daß ihr Herr König so niedrig sinken kann. Wie schlau bei Nacht und Nebel sie auch die Flucht vollbracht, 43

Das Volk, das lang im Argwohn, hat scharf auf Beide acht. Sie werden nachts ergriffen, verhaftet und verhört, Doch der gekrönte König zehntausend Eide schwört, Er sei gar nicht der König, er zeigt so kecken Mut, Bis man sein Bild ihm zeiget, da endlich er geruht, Als König sich zu zeigen, dann sagt er keinen Ton, Ihn bringen zurück die Wogen, die Wogen der Revolution. 6. Bild Verhör des Königs in Varennes Musik: Lied aus der Oper „ Z a r und Zimmermann" von Lortzing

Es färben sich röter die Wogen, die Wogen der Revolution, Europa schaut die Greuel, doch hat es keinen Ton, Wenn so ein gottgesalbter, ein König erzbewehrt, Dem gottgesalbten Bruder den Bruderkrieg erklärt. Und nicht erst lange anfragt, ob auch das Volk es will, Zu feig, sich selbst zu stellen, wie Ajax und Achill, Wenn er aufs Volk des Bruders das eigene Volk dann hetzt, Und sich auf den Sessel des Thrones gemütlich niedersetzt, Sich höhnen läßt und stülpet aufs Haupt die rote Mütz Und nimmt vom Volk die Flasche auf seinem Königssitz. Verspottet heut vom Volke, im Schloß der Tuilerien, Am 10. August vertrieben muß er den Temple beziehn. 7. Bild Das Volk in den Tuilerien Musik: Serenade von Manns

Und höher schlagen die Wogen, die Wogen der Revolution, Sie schlagen die Schergen des Auslands zurück mit Spott und Hohn, 44

Sie schlagen über die Grenzen, sie schlagen über den Rhein, Das staunende Europa schaut ganz verwundert drein, Es reibt sich aus den Wimpern den Untertanenschlaf, Und manches deutsche Despötchen macht Äuglein wie ein Schaf, Und faßt sich an die Krone und faßt sich an das Haupt, Noch kann es beides fühlen, noch ist ihm nichts geraubt. Doch helfen muß man, helfen dem Bruder Liebden schon, Ihn wieder fester setzen auf seinen wackligen Thron. Despotenhafte Laune und Kriegeslust erläßt Fürs freie Volk von Frankreich ein knechtisch Manifest. Der König ist beteiligt bei diesem Bubenstreich! Ein Wutschrei der Entrüstung durchzittert das ganze Reich, Es bieten viel Tausend Freiwillge dem Vaterland sich dar, Ein Lied vereinigt alle zur Stunde der Gefahr. Ein Lied, so flammenschürend, ein Lied, so wildbewegt, Das Feuer in den Herzen, die Feinde wie Feuer schlägt: Das ist die Marseillaise, das Lied der Revolution, Es zittert so manche Krone, es zittert so mancher Thron. 8. Bild Die Einzeichnung der Freiwilligen Musik: „La Marseillaise" von Rouget de l'Isle

Stell dich mit Bruder Liebden doch selber zum Turnier, Mach doch den besten Menschen nicht selber erst zum Tier. J e mehr er schießt und mordet und Blut vergießt, je mehr Behängst du ihn mit Flitter, mit Orden und mit Ehr'. Doch wenn ein Volk, ein großes, ein Volk, das sich empört, Zum blutigen Richtbeil greifet, sich seiner Despoten erwehrt, Da schaudern die frommen Seelen und schlagen drei Kreuz und mehr, Wenn sie nur hören drei Namen: Marat, Danton, Robespier re. 45

9. Bild Marat, Danton,

Robespiene

Musik: Largo aus „Ariele" von Bach Und höher schnellen die Wogen, die Wogen der Revolution, Dem König an den Kragen, bis an den Hals ihm schon, Dumpf rasseln die Kanonen, die Trommeln schlagen an, Vom Temple bis zum Richtplatz stehn vierzigtausend Mann, Soldaten und Kanonen stehn rechts und links des Wegs, Wohl über eine Stunde ist Ludwig unterwegs. Paris ist ernst und düster, Paris ist still und schweigt Als der entthronte König jetzt aus dem Wagen steigt, Kein Beifall, kein Bedauern, kein Lachen, keine Trän', Es schweigt wie an dem Tage der Rückkehr von Varennes. Er steigt mit schwanken Schritten die Stufen zum Schafott, Nimmt knieend des Priesters Segen und betet zu seinem Gott. Da tönen des Priesters Worte dem König ans lauschende Ohr: „Steig, Sohn des heiligen Ludwig, zum heiligen Himmel empor". Da packen ihn die Henker, mit Widerstreben läßt Er sich die Hände fesseln, die Henker binden fest. Da blickt er zur Guillotine, zur rächenden Nemesis, Er sieht nach oben zum Fallbeil, nach unten zum Volk von Paris, Da spricht zum letzten Male der König zu dem Volk: „Ich sterbe schuldlos, Bürger, und Du, unglücklich Volk . . . " Da hält der König inne und schaudert jäh zurück, Denn aus der Guillotine blitzt eines Weibes Blick, Und eines Weibes Stimme zum zitternden König spricht: „Ich bin der Weltgeschichte gerechtes Weltgericht, Die einen nennen mich Schicksal, die andern nennen mich Gott. 46

Die einen gehen zum Glücke, die andern zum Schafott, Du nennst Dich schuldlos, Ludwig, so hör des Schicksals Wort. Blick hier auf diesen Richtplatz, sag, kennst Du diesen Ort? In wenigen Sekunden, da färbt Dein Blut ihn rot. Vor dreiundzwanzig Jahren, da starben hier den Tod Vielhundert unschuldige Menschen, nicht durch des Fallbeils Schlag, Nein! Totgequetscht, zertreten an Deinem Hochzeitstag. Mit fünfzehnein viertel Jahren stiegst Du ins Ehebett, Der vierzehneinhalb Jahr alten Marie Antoinette. In den Provinzen starben in Elend, Jammer und Not Vieltausend arme Menschen den gräßlichsten Hungertod Indessen hat gekostet Dein ruchloses Hochzeitsgelag Rund zweiundzwanzig Millionen an diesem einen Tag. Beim Hochzeits-Feuerwerke ist Gold wie Heu verraucht, Nur achtzehntausend Rosse die Brautfahrt hat gebraucht. Und als man Dir als König des Landes Not geklagt, Da rittest Du mit Gefolge zur lustigen Hirsehenjagd. Und sollt' die Klagen hören Marie Antoinette, Dann tanzte mit leichten Füßen leichtsinnig sie Menuett So froren die glühenden Flüche, so froren die Tränen heiß Zu funkelndem Rubinen- und Diamanten-Eis Und blieben am Hals Euch haften zu wohlverdientem Lohn Als blitzende Diamanten an Diadem und Krön', Und zogen Euch am Halse und Haupt zum Abgrund hin — Und ist erst der König gefallen, so fällt auch die Königin."

47

10. Bild König Ludwig XVI.

auf dem Gange zum Schafott

Musik; Trauerspiel von Manns E s krönen die blutigen Wogen, die Wogen der Revolution, Als Königin die Tugend, den Schrecken als König schon, Doch oben auf dem Berge, da tobt des Sturmes Wut, Die löscht die kleinen Flämmchen, die Flammen schürt sie in Glut. Wie Weide gleicht dem Eichbaum und Riese gleicht der Zwerg, So gleichen die Girondisten den Männern vom donnernden Berg. Der Starke schickt den Schwachen zu Tod mit Galgenspott, Der Stärkere den Starken ihm nach auf das Schafott, Bis daß der Stärkste einsam sich selbst dem Tod verschwor. Auf Danton folgt der Stärkste am 9. Thermidor.

11. B i l d Der 9.

Thermidor

Musik: Mittelsatz aus der Ouvertüre zu „Robespierre" von G. Litolff Es glätten sich die Wogen, die Wogen der Revolution, Doch ward noch schärfere Knechtschaft dem blutenden Volk als Lohn. E s rollen auf und nieder die Bilder der Revolution Wann rollt herauf das letzte, die Freiheit auf dem Thron ? O Freiheit, heißersehnte, erscheine, es ist Zeit — Doch nicht im Bild erscheine, erschein in Wirklichkeit. Es harrt auf dich die Menschheit sehnsüchtig Jahr für Jahr. 48

Mit erzenen Sandalen, wildwehend Lockenhaar Erscheine nicht! — Erscheine mit friedlichen Melodein, Im Bund mit Recht und Wahrheit! Freiheit! Erschein! Erschein I

12. Bild Die Republik im Triumph der Freiheit Musik: Schlußsatz aus der Ouvertüre zu „Robespierre" von Litolff

6

Klatt, Scaevola

49

Völkerfrühling Weltenmai! Melodramatische Dichtung in einem Aufzuge Wir waren viel zu lange Amboß, Wir wollen endlich Hammer sein !

Personen: Junker von Mene, in mittelalterlicher Stahlrüstung Priester Tekel, in schwarzer Jesuitentracht Bürger Upharsin, in weißer Weste, wohlbeleibt Arbeiter, in blauer Bluse Not, sein Weib Arbeit, sein erstes, von ihm geschiedenes Weib, im Dienste des Bürgers Upharsin gefesselt Die Wahrheit, seine älteste Tochter, im Dienste des Priesters Tekel, in Schleier gehüllt Die Kunst, seine jüngste Tochter, im Dienste des Junkers von Mene, in goldenen Ketten Der Kriegsknecht, sein Sohn, in mittelalterlicher Rüstung Erster Arbeitsloser, I , , XT „ ., ; Sohne der Not Zweiter Arbeitsloser, \ Der Der Der Der Die Die

Das Stück spielt am 1. Mai, während der Feier des Verkaufs der tausendsten Kanone, im Garten des Kanonenkönigs von Mene. 1. Bild Park hinter dem Schloß des Junkers von Mene. Von links kommen unter den Klängen des Folklunger Marsches im Polonaiseschritt der Junker von Mene, der Priester Tekel und der Bürger Upharsin mit je einer Bajadere am Arm und verschwinden wieder links an der Kunst, Wahrheit und Arbeit, die an den Stufen des Palastes stehen, vorübergehend. Der Arbeiter steht mit einer Axt vorn rechts an einem Baumstamm. Später die Arbeitslosen und die Not von rechts. 5o

D E R ARBEITER :

O dieser Hohn am ersten Mai Der Edelsten, Frommen und Reichen! Wo sich der Arbeit Völker frei Die Friedenshände reichen. Mit Kriegeslust der Junker läßt Stolz feiern heut das Stiftungsfest Der tausendsten Kanone! Langsame

Walzer-Musik

Hei, wie die Tafeln sind geschmückt, Wie klar die Kerzen erglommen! Wer singt und lacht und Rosen pflückt, Der ist zum Fest willkommen. Musik erklingt den Saal herauf, Schöne Mädchen warten auf In leichten, losen Gewanden. Schnellere

Polka-Musik

Sie tanzen um das goldene Kalb, Sie fallen ihm gar zu Füßen, Sie rufen: eh' das Laub wird falb, Hilf du die Lust uns büßen ! Überschäumt im Kelch der Wein — Ich drücke mich stumm in den Winkel hinein, Mir schaudert das Herz im Leibe. Mir ist's, durchsichtig wird die Wand, Und draußen dicht und dichter Da drängen sich bei Fackelbrand Viel tausend Hungergesichter: Die beiden Arbeitslosen erscheinen rechts. Aus der Erd' mit hagrem Leib Aufsteigt im Lumpenkleid mein Weib, Sie trägt eine rote Mütze. Die Not von rechts Und sieh, der Boden wird zu Glas, Und drunten seh' ich sitzen Den Tod mit Augen hohl und graß 6»

Und mit der Sense blitzen; Särg' auf Särge rings getürmt Doch drüberhin wie rasend stürmt Der Tanz mit Pfeifen und Geigen. Und was hab ich? — Arbeit und Not, Und knapp so viel zum Leben! Schind mir die Hände blutigrot, Muß alles jenen geben! Der Arbeiter setzt sich und stützt knirschend den Kopf auf die Hand. Kurze

Pause

DIE NOT geht langsam zu ihm und legt ihre Hand rüttelnd auf seine Schulter: „Mann der Arbeit, aufgewacht! Und erkenne deine Macht! Alle Räder stehen still, Wenn dein starker Arm es will." D E R ARBEITER :

Was kann allein der Wille tun, dem. Willen fehlt die Kraft; Sonst ließ ich längst die Arbeit ruhn, die all den Reichtum schafft. Auch ich pflückt' gerne Rosen, auch ich freut' mich des Mai'n; Doch seht die Arbeitslosen, die springen für mich ein. Die würden länger schuften für noch geringem Lohn. Nein! Maienblumen duften nicht für den Arbeitssohn. DIE NOT:

Um die hab keine Sorgen, die Not hat sie bekehrt! Sie sind bei dir geborgen, ich hab sie aufgeklärt! D E R A R B E I T E R ZU den

Arbeitslosen:

O reicht mir eure Hände! Dann herrscht nicht mehr das Geld! Dann naht der Not das Ende, und uns gehört die Welt!

52

Die drei Arbeiter reichen sich die Hände. DIE NOT:

Das Ziel: erhöhte Löhne, verkürzte Arbeitszeit Erringt ihr Arbeitssöhne nur, wenn ihr einig seid! Das Heer der Arbeitslosen will Arbeit, vollen Lohn! Nicht Bettelgeld, Almosen, geschenkt mit Spott und Hohn! Nicht stets ins Joch gebunden, wie Ochsen vor dem Pflug! Nicht sechzehn Arbeitsstunden, acht Stunden sind genug! D E R ARBEITER :

Acht Stunden, das ist Wahrheit! Acht Stunden sind genug! Doch sieh: Verhüllt ist Wahrheit, frei herrscht des Priesters Trug. DIE NOT:

Die Wahrheit trägt den Schleier, Kunst, Arbeit stehn im Joch, Ist heut nicht Maienfeier, zerreiß den Schleier doch! Die Wahrheit ist dir günstig, die Kunst verlangt nach dir, Liebst du die Arbeit brünstig, zerbrich die Ketten ihr! Soll sie noch länger beugen ins fremde Joch den Leib? Du mußt sie überzeugen, daß sie dein rechtes Weib! Warst lang von ihr geschieden, und gingst mit mir, der Not, Mein Mann weilt nicht hienieden, mein rechter Mann ist Tod! D E R ARBEITER :

Wie reiß ich ihr die Eisen, die Ketten von dem Leib? Wie soll ich ihr beweisen, das sie mein rechtes Weib? DIE NOT setzt sich neben die Arbeiter: Du kennst die alte Sage vom Atlas, dem die Welt Einst Zeus zur ewgen Plage hat auf das Haupt gestellt. Wie Atlas, dessen Rücken die Himmelskugel trägt, 53

So tief mußt du dich bücken, so lang der Puls dir schlägt. Wie gleichst du dem Titanen, o Mann der Arbeit, doch! Täglich dieselben Bahnen keuchst du, bepackt im Joch ; O Mann im Arbeitschweiße, begreife doch dein Los Und rüttle dich und reiße dich von dem Joche los! Mußt du dich ewig plagen für andre nur? Erwach! Laß hell im Hirn es tagen, denk über dich nur nach! Wie wenig ist ergötzlich, was du vom Leben hast! Wie — wenn der Atlas plötzlich losließ die Himmelslast? DIE WAHRHEIT reißt den Schleier vom

Gesicht:

Dann würd' der Himmel fallen nieder zur jauchzenden Erd' Und allen Menschen, allen, Gerechtigkeit beschert! Zu solchem Sieg der Freiheit, Gleichheit und Menschlichkeit Zu dieser heiigen Dreiheit führt nur die Einigkeit! Das Volk kann nur die Bürde wegwerfen Mann für Mann, Wenn's einig stehen würde, dem Atlas gleich, ein Mann! — D E R A R B E I T E R zur

Arbeit:

Kurz ist des Lebens Spanne und schnell verblüht der Lenz, Drum mach nicht auch dem Manne die Frau noch Konkurrenz ! Die Tochter dieser Erde steh' gleich der Erde Sohn! Für gleiche Arbeit werde ihr auch der gleiche Lohn! DIE NOT zur

Arbeit:

Heiße Tropfen glitzernd hangen euch an Wangen, Schlaf und Stirn, Muskeln brennen wie die Wangen, blitzend zischt es durch das Hirn, Und die hellen Tropfen rinnen zischend übers Eisen heiß Auf das nasse, weiße Linnen, sind es Tränen oder Schweiß? Tränen sind es — Arbeitstränen, große, wie nur ihr sie weint, Ihr gehört ja auch zu jenen, denen nie die Sonne scheint; 54

Ob ihr näht und wascht und plättet, ob ihr Bolzen bringt in Glut, Ihr habt euer Glück verwettet, ihr bezahlt mit eurem Blut.

D I E WAHRHEIT:

Wohl mit Recht heißt ihr sie Dirne, die den Leib verkauft der Lust; Schwestern! Greift euch an die Stirne, was tut ihr denn unbewußt? Opfert ihr nicht Muskeln, Sehnen, Herz und Lunge auch der Gunst, Trinkt ihr nicht die eignen Tränen in dem Glas- und Kohlendunst? Müßt euch übers Eisen bücken, Hände, Arme, Schultern, Brust Müssen drücken helfen, drücken, und für wen ? Zu wessen Lust? Ist denn das kein Menschenschänden, wenn nach wenig Wochen schon Leder wächst in euren Händen? Und für wen? Für welchen Lohn? Starr wie Stahl wird euer Nacken, eure Lunge Blasebalg, Eure Finger Radeszacken, euer Fett Maschinentalg. Wie die Räder müßt ihr dienen, wie gerädert greift ihr ein, Ihr seid lebende Maschinen, und ihr sollt doch Menschen sein! Wo sind deine Menschenrechte — daß du dich so quälen mußt! Ganze Tage, halbe Nächte! Keine Freude, keine Lust! Nachts beim trüben Lampenscheine dir's vor'm Auge flimmernd flirrt, O du Ärmste, hast du keine Hoffnung, daß es anders wird? Ach, ihr dürft nicht einmal klagen eure Not mit einem Wort, Müßt euch immerwährend plagen, täglich an demselben Ort; 55

Eure Arbeit macht die Habe eures Herrn reich und groß, Euch trägt elend man zu Grabe - Schwestern! Das ist euer Los! Wollt ihr euch des Jochs entledgen, leiht der Wahrheit euer Ohr, Harmonie-Apostel predgen euch nur Lug und Torheit vor Bei der Kräfte freiem Spiele herrschen niemals zwischen euch Und dem Geldsack gleiche Ziele, ihr bleibt arm und er wird reich! D I E NOT :

Hört ihr das leise Hilferufen? Schaut ihr den schönen Frauenleib, Gefesselt an des Thrones Stufen, Prometheus gleich? - Wer bist du, Weib? Was sucht dein Aug', was klagt dein Ton? Was schaust du auf? Du schaust nur Waffen, Schaust zwischen Schergen, zwischen Pfaffen Gott Mammon auf der Menschheit Thron. Einst schwangst du frei die heiige Geißel Mit salzgem Witz, mit süßem Scherz, Einst schlugst die Saiten du, den Meißel, Mit Tönen schlugst du an das Herz; Einst machte deine Allgewalt Mit ihrem Donner, ihrem Blitze Vor keinem hohen Göttersitze, Vor keinem Königsthrone Halt. DIE KUNST:

Vorbei! Gott Mammon will zur Dirne Mich knebeln durch sein geiles Gold, Das Diadem auf meiner Stirne Glänzt Schergen nur und Pfaffen hold. Gold hält geknechtet mich und Gunst, Um Hand und Fuß schließt sich die Kette, Und keiner kommt, daß er errette, Daß er befreie mich, die Kunst.

56

DIE NOT:

Hörst, Mann der Arbeit, du das Klagen? Kocht nicht dein Blut vor Zornesbrunst? Die Kette kannst nur du zerschlagen! Sei Herakles, befrei die Kunst! Stürz Mammon, stoß vom Throne ihn, Wie dem Prometheus lös die Bande, Trag frei die Kunst zum Freiheitsstrande, Wie den Arion der Delphin. DIE

KUNST:

Möcht meinen Schatz, die Sprache, prächtig formen In Reim und Rhythmus paaren, flott zum Tanz, Mit süßem Wohllaut wog sie unter Normen Wie Ros' an Ros' sich reiht zu duftgem Kranz. Denn aus der Sprache fein geschliffnen Formen Blitzt heller des Gedankens Demantglanz. Ein schönes Kind tanzt gern im Sonntagskleide, Weil Schönheit schöner wird in Sammt und Seide. D I E WAHRHEIT :

Der Wahrheit Wort pflanz ohne Schranken, Im Volk die Welterkenntnis fort. Der Forschung knospende Gedanken Zu Blüten küß das freie Wort. Nicht kneble Gold die Kunst zur Dirne, Die Wahrheit nur im freien Bund. Mit Schönheit küß der Kunst den Mund Und küß der Arbeit reine Stirne! Hell leuchtet durch die Nacht Der Blitzstrahl: Recht vor Macht! O Volk, schon bricht die Wolkenschicht Vorwärts! Durch Nacht zum Licht! DIE ARBEIT:

Hier nimm dein Weib! Fort mit den Sorgen! Man schafft und schuftet, keucht und kriecht, Daß selbst dem Himmel jeden Morgen Schamröte steigt ins Angesicht! 57

Wir wolln den Himmel baun auf Erden, Wir wolln die Welt von Not befrein, Wir wolln vernünftge Menschen sein, Und keine holden Engel werden! Wir harrn aufs Morgenrot, Zum Tode geh' die Not! Drum legen wir mit frohem Sinn Heut unsre Arbeit hin! Posawienstöße DER ARBEITER :

Sie haben Augen und sehen's nicht. Sie prassen fort und lachen, Sie hören's nicht, wie zum Gericht Schon Balk' und Säule krachen; Lauter jauchzt der Geige Ton, Ihr Männer, ihr Weiber von Babylon, Mene, Tekel; Upharsin! Donner und Blitz. Musik und Tanz verstummen plötzlich.

2. Bild Zimmer im Schloß des Junkers von Mene. In der Tür steht ein Kriegsknecht. Drei Bajaderen trinken Sekt und scherzen, während Tekel und Upharsin auf Mene einreden, um ihn von dem Befehl abzuhalten. DER JUNKER

von

MENE

zum Kriegsknecht:

Laßt jene bleichen Menschen zu uns kommen, Die an den Toren unseres Schlosses stehn, Sie sehn so finster aus und so beklommen, Nun, ihre Not soll unsre Lust erhöhn! Der Kriegsknecht ab. — Zu Tekel: Warum denn nicht? Sie stehn dort auf den Stufen Und haben unsre Namen frech gerufen. Die Arbeit, Wahrheit, Kunst sind auch dabei, Ich glaub, sie feiern frech den Ersten Mai!

58

Zu Upharsin: Ach was! Die Not paßt nicht zum Überfluß? Gewiß! Erst recht! Das wird ein Hochgenuß! Ich kenn' sonst alle Weiber — ist sie schön? Man hat mir oft den Namen Not genannt, Ich will sie kennen lernen, will sie sehn, Ich hab' im Leben nie die Not gekannt! Der Kriegsknecht führt die bleichen Gäste hinein. Mene zu den Eingetretenen: An meiner Gunst sollt ihr euch heute laben, Heut sollt ihr alle Redefreiheit haben! Doch mich hört erst: Ich sorg für euch, Stets könnt ihr auf mich zählen, Dafür dürft ihr in meinem Reich Auch keinen andern wählen! Was wäre, wenn man mich nicht hätt'? Zwar habt ihr freien Willen, Doch schlag ich die ans schwarze Brett, Die meinen nicht erfüllen! Ob Lehrer oder Lieferant, Ob Säugling in der Windel, Wer selber denkt in meinem Land, Der schnür nur gleich sein Bündel. Ich bin ein Herrscher, mächtig, groß! Deß sind mir tausend Zeugen, In meiner Hand nur ruht ihr Los, Daß sie sich stumm mir beugen. Jawohl, so ist's! So soll es immer bleiben, Bis man ins kühle Grab uns eingesenkt. Ihr habt wohl Lust, uns aus dem Schloß zu treiben? Sprecht frei heraus! Sagt, was ihr sinnt und denkt! DIE ARBEIT:

Hört's! Am Weltfest der Geringsten: Euren Festen nach der Reih', Von dem ältsten bis zum jüngsten, Gehn wir kalt und fremd vorbei: Glaubt getrost an eure Sterne, Himmel, Hölle — einerlei!

59

Alles gönnen wir euch gerne, Aber gebt uns dafür frei Unser Maienfest! D E R ARBEITER :

Die Natur hat uns das beste Aller Feste aufbewahrt: Maienfeier — Fest der Feste! Du bist unsre Himmelfahrt! Denn wir haben andre Sorgen, Wollen heut auf Erden schon, Nicht im Himmel und nicht morgen, Für acht Stunden Arbeitslohn, Sechzehn Ruh und Rast! Gelächter der

Reichen

D E R BÜRGER UPHARSIN :

Wohlan, wer Macht und Mammon achtet, Der schwelg und prass an unserm Tisch, Wenn auch das Volk im Elend schmachtet, Nur immer lustig, immer frisch! „Ein schwerer Notstand!" hört man klagen, „Zahllos die Opfer" — Alles Quatsch! Doch ob der „Große Kladderadatsch" Mög über uns zusammenschlagen: Wir zählen nur das Geld — Der andern Schweiß und Mark, Dem Kurs, dem alten, folgen wir, Den uns geführt Bismarck! DIE ARBEIT:

Die Arbeit frei! Fürs Volk das Wissen Fürs ganze Volk die schöne Kunst! Von Macht und Mammon losgerissen, Befreit von Gold, befreit von Gunst — So sollen schalten frei und walten Die Schwestern Arbeit, Wissenschaft; So sollst du, Volk, aus eigner Kraft Dein Menschheitsideal gestalten. 60

Frei, gleich und brüderlich! Fest, unerschütterlich! 0 Volk, stets sei dein Feldgeschrei Vorwärts! Die Arbeit frei! D E R PRIESTER T E K E L :

Der Feind, den wir am tiefsten hassen, Der uns umlodert hell und licht, Das ist der Freiheitstrieb der Massen, Der frech die alte „Ordnung" bricht. Ist erst dies Bollwerk uns genommen, Dann, Tischlein-deck-dich, gute Nacht! Noch lacht die Welt uns, wenn's auch „kracht", Mag doch „nach uns die Sintflut" kommen! Nicht fühlen wir uns krank, Nicht morsch bis tief ins Mark, Dem Kurs, dem alten, folgen wir, Den uns geführt Bismarck! D I E WAHRHEIT :

Ruft aus, Genossen, daß es zündet, Der Wahrheit Wort, der Flamme gleich, Das Gleichheit aller Welt verkündet: Gleich Hoch und Niedrig, Arm und Reich! Die Herzen stehen hell in Flammen, Wenn fest die Freiheit auf den Grund Der Gleichheit tritt und ihren Bund Mit Brüderlichkeit schließt zusammen! Wir wollen keinen Krieg, Nicht Ruhm durch blutgen Sieg; Drum schwingen Frieden singend wir Der Menschenlieb' Panier! DER JUNKER v o n MENE :

Das freie Wahlrecht der Kanone Hilft uns zum Siege, nun wohlan! Schon dröhnt der Arbeit Bataillone Gewaltiger Massenschritt heran! Die Angst soll uns zusammenscharen, 61

Wir wollen noch mit starker Hand Vor Freiheitsdrang das Vaterland, Das Volk vor Wissensdurst bewahren. Wir zählen nur das Geld — Der Andern Schweiß und Mark, Dem Kurs, dem alten, folgen wir, Den uns geführt Bismarck! DIE

KUNST:

Wir singen nur das Lied vom Hasse Stößt man die Freiheit in die Nacht; Dann heißt's: Der Freiheit eine Gasse! Dann: Mann der Arbeit aufgewacht! Dann stößt durch eiserne Gedichte Den Wutschrei aus Verzweiflungsschmerz! Dann schlägt, geschlagnes Volk, Dein Herz — Dann schlägt der Puls der Weltgeschichte Die Kette, daß sie springt Und klirrend jubelnd singt Dem Weltmai das Geburtstagslied, Das Völkerfrühlingslied! D E R BÜRGER UPHARSIN :

Uns flicht die Nachwelt keine Kränzchen, Drum mim' ums „goldne Kalb", wer kann. Frisch auf, zum letzten Cancan-Tänzchen, Ist auch der „Boden ein Vulkan!" Die Jubelhymne steigt zum Himmel! Je höher rauscht die „Wacht am Rhein", Je mächtiger wir Überschrein Der Armensünderglock' Gebimmel!! Wir zählen nur das Geld — Der andern Schweiß und Mark, Dem Kurs, dem alten, folgen wir, Den uns geführt Bismarck! DIE ARBEIT :

Wir singen auf der Freiheit Schanze Nie was Hurrah-Kanaillen Schrein! Niemals „Heil Dir im blutgen Kranze!" 62

Niemals die blutge „Wacht am Rhein'". Und zwingt man uns solch Lied zu singen Wenn uns der bunte Rock umgibt Wir lassen doch, wenn's uns beliebt, Der Marseillaise Weise klingen: „Wir wolln die Menschheit frei, Leucht uns, o Weltenmai! Herbei! Herbei! Zerbrecht, zerbrecht Den Turm der Tyrannei!" DER JUNKER v o n MENE :

Auf denn zum Tanz, „Hurrah-Kanaillen", „Bereichert euch!" „Flickt Schienen neu!" Doch nicht der Kerker Eisentraillen, Sonst bricht uns aus der Freiheit Leu. Ist auch der Säbelmann gefallen, Der Säbel schneidig blieb zurück, Uns blieb der „alte Kurs" zum Glück, Heiiges Vermächtnis sei er allen! Nicht fühlen wir uns krank, Nicht morsch bis tief ins Mark, Dem Kurs, dem alten, folgen wir, Den uns geführt Bismarck! D E R ARBEITER :

Wie hat das Kapital gewettert! — Wie hat die Macht uns schikaniert! — Wie gerne hätt' man uns zerschmettert! Wir blieben fest organisiert! Und unser Schiff ist nicht gesunken; Wir hielten stark dem Sturme stand, Am Steuerruder ruht die Hand — Im Auge der Begeisterung Funken! Und geht's auch gegen Wind Wir bleiben, was wir sind! Wir legen heut' die Arbeit hin, Fort Eigennutz, Gewinn! Der Arbeiter überreicht dem Junker ein Maifestblatt. Hinter der Szene rechts erhebt sich Tumult. Tekel und 63

Upharsin rechts ab. Musik und Gesang, ähnlich „Wacht am Rhein" ertönen rechts hinter der Szene.

der

DER JUNKER von MENE liest den Anfang des Henkelischen Liedes: „Wir waren lang genug geknechtet, Vom Taumel der Gewalt mißbraucht, Wir waren lang genug entrechtet, In tatenlose Nacht getaucht." Upharsin und Tekel kommen bestürzt herein. DER BÜRGER UPHARSIN voll Angst zu Mene: Herr! Auf schweißbedecktem Rosse Sprengt ein A d j u t a n t herein Und ein Schrei voll Angst und Schrecken, Wälzt sich durch der Straßen Reih'n. W e h ! Die Feinde kommen! Helfet! W e h ! Die Feinde kommen! W e h ! Gestern einen Tagmarsch ferne, Heut in fürchterlicher Näh'. D E R P R I E S T E R T E K E L jammernd

zu

Mene:

Ach, die armen Bürger wimmeln Auf dem Markt, an Tempeln reich, Händeringend, hilfeflehend, Voll Verzweiflung bang und bleich. Herr, D u nahmst uns unsre Freiheit, Du versprachst uns Schutz zumal, Herr, jetzt gieb uns R a t und Hilfe, Geld, Kanonen, Pulver, Stahl! DIE WAHRHEIT zum Arbeiter-. Dem Moloch mußt du Menschenopfer bringen Mit Feuerbrand und blutgem Schwerterhieb, Vor Krone, Kreuz Choräle, Hymnen singen, Erkenn dich selbst und gib dem edlern Trieb, Dem Gott des Wahren, Guten, Schönen Schwingen, Steig auf zur Freiheit, Gleichheit, Menschenlieb, Sei selbst dein Gott! Sprich dein allmächtig Werde! Dein Vaterland ist diese ganze Erde! 64

D E R J U N K E R v o n M E N E ZU den

Arbeitslosen:

Herrlicher Tod, da mutig du fällst im vordersten Gliede, Fällst im Kampf für den Herrn, fällst für den heimischen Herd, Darum mit Feuer hervor, den Herrn und Gebieter zu schützen, Eile mit Freuden, dein Blut für den Gesalbten zu weihn. Mutig, Jünglinge, mutig! in unlöslichen Gliedern, Ohne Gefühle der Furcht, ohne Gedanken an Flucht! Der Kriegsknecht bewaffnet die beiden Arbeitslosen führt sie hinaus zur Schlacht.

und

DIE WAHRHEIT:

Schweigt, schweigt! Ihr blinden wahnbetörten Horden, Schlagt vor die Brust euch, vor die Stirn — denkt nach! W a s Ruhm ihr nennt, ist oft gemeines Morden Und ruft im Menschen nur die Bestie wach. Die Brust mit Band bedeckt und höchsten Orden Ist oft mit Schand befleckt und höchster Schmach. Hier ist der Wahrheit Spiegel! Blickt hinein! Seht! Blutge Tiger, ihr wollt Menschen sein? D E R PRIESTER T E K E L :

Scham und Schande dem Heerbann, wenn an der Spitze der Phalanx K ü h n vor der Jugend voran, sterbend verblutet der Greis, Das ziemt besser dem Jüngling, dem vom Odem des Frühlings Lieblich im lockigen Haar blühet der blumige Kranz, Schön für die Weiber und herrlich den Männern erscheint er im Leben, Doch im Verbluten wie schön, sterbend in tosender Schlacht! DER ARBEITER:

Schande dem Volk, des oberster Ruhm ein herrliches Kriegsheer, Ruhm dem herrlichen Volk, das sich dagegen empört! 7

Klatt,

Scaevola

65

DER JUNKER v o n MENE :

Zur Fanfare ward die Schamade! Waffenstarrend zu blutger Parade Blitzet das herrliche Kriegsheer dort! Nur ein Atem — der Atem wird Wort: Donner aus tausend Mördergeschossen, Und auf schnaubenden, schäumenden Rossen Rasen die Adjutanten fort. D I E WAHRHEIT :

Du hoffst zu Gott auf Sieg, den heiß erflehten, Du glaubst mit Gott, der Feinde Volk wird fliehn. Hörst du sein Volk zu Gottes Altar treten? Siehst du dein Volk zu Gottes Kirche ziehn? Hörst du es drüben knieend brünstig beten? Siehst du es hüben brünstig betend knien: „Gib uns den Sieg!" — „Nein, uns, Herr Zebaoth!" — Was tut da euer lieber, guter Gott! ? DER PRIESTER T E K E L :

Selig will ich jenen preisen! Legt ihm, denn der Ruhm gebeut's Auf die Brust das Kreuz von Eisen: Der Erlöser starb am Kreuz! Auch den lebenden Genossen, die verloren Arm und Bein, Die zu Krüppeln man geschossen, soll das Kreuz zum Lohne sein! DIE ARBEIT:

Seht, der Priester scheret sacht schmunzelnd seine Schafe. Singt, daß nimmer sie erwacht: schlafe, Menschheit, schlafe! Weihrauchtrunken kniet der Zug der geschornen Herden Ordentrug und Glockenlug tönen: Fried' auf Erden! D E R ARBEITER :

Fried'? - Die Erde starrt und strotzt, blitzt und blinkt in Waffen, 66

Blöd die Herde harrt und glotzt, kann sich satt nicht gaffen, Blökt: 0 herrlich Kriegesheer! Glanz in jedem Gliede! Aufgespießt auf spitzem Speer seufzt der Friede: Friede! D I E WAHRHEIT:

Friede nicht vom Himmel fällt - weckt ihn hier auf Erden, Dann wird auf der ganzen Welt Völkerfrühling werden. DIE KUNST:

Weltenmai wird Not und all das Gespenst vermindern, Dann gehört das Erdenall allen Erdenkindern! Der getötete Arbeitslose wird von einem Kameraden hereingetragen. D E R PRIESTER TEKEL

zum Arbeiter:

Mann der Not, komm, kniee nieder, Tränen demutvoll vergieß! Glaube mir! Dann siehst du wieder deinen Sohn im Paradies. Sonst wird Satan dich zertreten, braten dich am Spieß zu Tod; Sieh dein Weib an: Not lehrt beten; lerne beten, Mann der Not! D E R ARBEITER :

Machst du durch deine Litanein des Hungers Wangen rot? Mensch! - Wenn die Not zum Himmel schreit, dann hilft nur irdisch Brot! Und säß ich selbst an Satans Spieß, mein Ruf die Welt durchschölle: Ich danke für dein Paradies und pfeif' auf deine Hölle! D I E WAHRHEIT:

So lang die Arbeit Ketten trägt, trägt auch die Kunst sie noch;

7*

67

Der Wahrheit Recht allein zerschlägt der Kunst und Arbeit Joch! Sind erst der Arbeit Stätten von ehrnen Fesseln frei, Gehn deine goldnen Ketten, o Kunst, von selbst entzwei! DIE KUNST:

Nicht bei den Mächtgen dieser Welt, im Volke ruht mein Heil; Für der Paläste Gunst und Geld ist meine Kunst nicht feil! Sie, die aus Märzenwettern zum Weltenmaifest ruft, Kann frei ihr Lied nur schmettern in Völkerfrühlingsluft! D I E ARBEIT:

Nur das, was groß und wichtig ist, was gut und schön und wahr, Nichts gilt mir Geld, und nichtig ist, was Krön' und Kreuz mir war. PRIESTER :

Mit blauen Weihrauchdünsten ich dich der Welt entrück', Zu jenen hehren Künsten: Zufriedenheit und Glück. D E R ARBEITER :

Schweig,pfäffischesGezeter! Schweig, Arbeitgebertrotz! Schweig, Harmonietrompeter für Proletar und Protz! Wie Lamm und Löwe meiden sich Herr und Knecht zumal! Wie Feuer, Wasser scheiden sich Arbeit, Kapital! Ob draußen blumig duftet die sonnige Natur — Da drinnen schuftet, schuftet das Volk der Arbeit nur! Ob draußen müßig lungert der Arbeitslosen Heer Und durstet, friert und hungert, so Leib wie Taschen leer, Für drei mußt packen, scharren du dir die Hände wund, Dir hilft nur ziehn den Karren als Kampfgenoss' der Hund! Dies Hundeleben wenden könnt ihr nur im Verband! 68

Es liegt in euren Händen! Drum schwört mit schwielger Hand: Daß eh'r sich keiner stille und sorglos niedersetz', Bis daß des Volkes Wille das oberste Gesetz! DER JUNKER v o n MENE :

Wer ist Herr?! — Knecht, schweige still! Bei meines Zornes Wettern! Ich kann, Rebell, dich, wenn ich will, Mit meinem Schwert zerschmettern! D E R ARBEITER :

Stoß zu! Hier ist die nackte Brust! Türm Leichen auf - auf Leichen! Doch was wird deine blutge Lust Durch meinen Tod erreichen? Du kannst bei aller Macht doch nichts, Als bloß mein Blut vergießen, Denn hier: den neuen Gott des Lichts, Den kannst du nicht erschießen! DER JUNKER von MENE zieht sein Schwert: Ich will dir zeigen, was ich kann. D I E NOT :

Zurück! Wie könnt ihr's wagen! Sie wirft sich zwischen den Junker von Mene und den Arbeiter und wird von Ersterem erschlagen. DER ARBEITER:

Was habt ihr, Junker, da getan: Ihr habt die Not erschlagen! DIE ARBEIT:

Gesiegt! Gesiegt! Im Weltmai ward Beim Frühlingsgewitterschauer Die Milch der frommen Denkungsart Im Busen der Knechtschaft sauer; 69

Die Not, die knechtische Amme, Dein Blitzschlag schlug sie tot, Der Freiheit Oriflamme Mir hoch zu Häupten loht. Sie schwingt die rote Fahne. D E R B Ü R G E R und

P R I E S T E R zugleich

:

Holt Ärzte! Ihr sollt Gold und Ehr' Und höchsten Dank erwerben. O eilet! L a u f t ! Holt Ärzte her, Die Not, sie liegt im Sterben. D I E W A H R H E I T , A R B E I T und

K Ü N S T zugleich ?

Wenn hier nicht Ärzte in der Näh', Will ich den Rat euch geben : Bringt sie doch nach der Charité, Vielleicht bleibt sie am Lebe;n ! D E R JUNKER v o n MENE:

Nein, bringt sie nicht zur Charité, Hebt sie in diesen Sessel Tragt sie zu Uhl oder Aimée, Zu Hiller oder Dressel! Die Not wird vom Junker, Priester und Bürger hinausgetragen. DIE ARBEIT:

Du hast gesiegt ! Froh steig' befreit ich nieder, Und siegesfroh besteigst du frei den Thron. Die Not ist tot und tot ist auch dein Sohn, Dafür hast du jetzt Weib und Töchter wieder! DIE KUNST:

Die Lieder all, wie sind sie mir zuwider, Die ich den Mächtgen sang für Brot und Lohn ! Jetzt sing' ich frei von Gold und Kreuz und Krön' Dem Volk der Arbeit meine schönsten Lieder ! 70

Die liebe Not hat mich von Haus getrieben, Und nun sie tot, kehr' ich zu dir zurück. Ich war verkauft. — Dir bin ich treu geblieben! Da nimm mich hin, daß ich dein Herz entzück', Wir wolln fortan die ganze Menschheit lieben! Hoch! Völkerfrühling! Weltenmaienglück! D I E WAHRHEIT:

Du Mann der Arbeit, brachst die Kette, Du gabst der Wahrheit Redemut, Dem freien Wort die freie Stätte, Geschützet vor des Zensors Wut. — Nun konfisziere! Brich den Stab! Verbiet! - Es reiten schnell die Toten: Eh' du das Morgenrot verboten, Scheint schon die Sonne auf dein Grab. DIE KUNST:

Schon blitzen auf die Morgenstrahlen Mit rotem Schein aus schwarzer Schlucht, Schon schlägt goldgierige Vandalen Der Arbeit Volk in wilde Flucht. Seht ihr in blauer Mailuft schon Die frei entrollten Fahnen fliegen, Hört ihr das Lied, mit dem wir siegen In feurig-wildbewegtem Ton? DER ARBEITER:

Auf denn, Gesinnungskameraden, Bekräftigt heut aufs neu' den Bund, Daß nicht die grünen Hoffnungssaaten Gehn vor dem Erntefest zu Grund! Der Arbeiter verteilt Maifestblätter unter die Umstehenden. Der Audorffsche Text zur Marseillaise geht allmählich in den Henkelischen über. ALLE:

Wir haben lang genug in Banden Zwinguri — Mammon hart gefröhnt 71

Hört ihr das Horn, wie's hallt und dröhnt? Habt ihr den Sturmesruf vernommen? Wir wolln die Menschheit frei, Leucht uns, o Weltenmai! Herbei! Herbei! Zerbrecht, zerbrecht Den Turm der Tyrannei! Spiel und Gesang der

Marseillaise.

Der entlarvte Spitzel

Komödie in zwei

Akten

Personen: Max From, Gastwirt „Zum Uetliberg" Bertha, seine Frau Toni, seine Tochter Robert Rassow, Metallarbeiter, Tonis Verlobter Viktor Falke, Bergarbeiter, Vertrauensmann der Arbeiterpartei in Wien Emst Rebler, Schriftsetzer | Vertrauensmänner der l österreichischen Reinhard Grosser, Maler ) Arbeiterpartei in Zürich Franz Kaltenborn, österreichischer Polizei-Inspektor aus Bregenz Emanuel Schmit, österreichischer Geheimpolizist Züricher Arbeiter-Gesangverein „Veritas" Ort der Handlung: Zürich Erster Akt Kleines Privatzimmer im ersten Stock des Fromschen Gasthofes. Links Fenster nach der Straße, davor Tisch mit Stühlen. Weiter nach der Mitte runder Blumentisch mit Gipsfigur (Göttin der Freiheit) und Vasen, daneben, nach hinten zu, dreifacher Treppensatz mit Topfgewächsen (Oleander, Lebens- oder Tannenbäumen). Hinten an der Wand Bilder von Marx und Lassalle. Türen rechts hinten und rechts vorn. Erster

Auftritt

Max und Bertha sitzen rechts beim Morgenkaffee, Zeitung lesend. 73

MAX:

Hast du schon den Leitartikel „Ein Denkmal der Schande" gelesen? — Hör mal den Schluß, der ist gepfeffert! Er liest vor: „Trotzdem die Gewalthaber ihre Macht nicht nur gegen den gewaltsamen Umsturz, sondern gegen jede gesetzlich berechtigte Bestrebung der Arbeiter angewandt; trotzdem man über einen großen Teil des Landes den Ausnahmezustand verhängt; trotzdem alle Vereine der Arbeiter, ihre gesamte Presse der Laune und Willkür der Polizei preisgegeben; trotzdem jede politische Agitation, jede gewerkschaftliche Organisation mit dem Banne der Geheimbündelei belegt; trotzdem die Spitzel und Denunzianten zu unentbehrlichen Stützen der Staatsordnung erklärt; trotzdem die tapfersten und bravsten unserer Genossen zu jahrelangen Kerkerstrafen verurteilt - trotz alledem und alledem, was hat die entfesselte Reaktion erreicht? — Die Zahl und der Einfluß der klassen- und zielbewußten Arbeiter haben sich weit über alle Erwartung vermehrt und werden sich bei den kommenden Wahlen ins Ungeahnte steigern! Wenn die Gewalthaber mit diesem Resultat zufrieden sind, gut, die Arbeiter sind es gewiß!" Er reicht ihr die Zeitung und zündet sich eine Pfeife an. BERTHA :

Wer hat den Artikel geschrieben? MAX zuckt die Achseln und bläst Rauchwolken vor sich hin: Tja — das kann ich dir wirklich nicht sagen. BERTHA

ärgerlich:

Das heißt, du willst es mir nicht sagen! — Höre mal, männliche Ehehälfte, was verstehst du eigentlich unter „Gleichberechtigung der Frauen"? MAX wie oben: In der letzten Vertrauensmännersitzung wurde beschlossen, über alle Parteiangelegenheiten strengstens zu schweigen. 74

BERTHA

beleidigt:

So weit hat es das Spitzeltum also gebracht: Der Mann traut nicht mehr seiner eigenen Frau! MAX beschwichtigend: Kein Gedanke! Aber was ich dir sage, weiß auchunsre Tochter. Und weil der unheimliche Bursche da drüben, dieser Emanuel Schmit, ein Auge auf sie geworfen und täglich mit ihr zusammentrifft — BERTHA :

So könnte Toni oder ich Verrat üben. MAX abwehrend: Ach! — Daß ihr ebenso verschwiegen seid wie ich, daran zweifelt kein Mensch! Aber Toni hat in kritischen Momenten noch nicht die nötige Ruhe. Darum wär' es am besten, wenn du sie veranlassen wolltest, jeden Verkehr mit diesem Patron abzubrechen. BERTHA:

Larifari! Ich denke gar nicht dran! MAX:

So? — Weißt du auch, daß er gestern abend am See sich die Frechheit herausgenommen, ihr die Hand zu küssen? Frag Reinhard, der hat es gesehn! BERTHA :

Wenn sie sich mit dem Menschen einläßt, so wird sie doch keinen Augenblick vergessen, was sie Robert, ihrem Verlobten, und was sie der Partei schuldig ist! MAX überlegen lächelnd: Aha! Dahinaus also? — Ihr beide habt euch nun einmal in den Kopf gesetzt, uns in der Entlarvung dieses Spitzels zuvorzukommen! Ihre Schulter klopfend. Gebt 75

euch keine Mühe! Wenn dieser Spitzel uns Männern nicht in die Falle geht, euch Frauen läuft er sicherlich nicht ins Garn. BERTHA:

Wenn er ein Spitzel ist, warum macht ihr da nicht kurzen Prozeß und werft ihn hinaus? MAX:

Ja — wenn? Beweise das doch! BERTHA:

Also um ihn zu entlarven, gebt ihr ihm acht Monate Gelegenheit zu spionieren, zu provozieren, zu denunzieren — das ist ja recht heiter! — Aber uns „gleichberechtigten Frauen", denen er längst ins Garn gegangen wäre, uns entzieht ihr euer Vertrauen und belügt uns! MAX :

Belügt? Aber Bertha! BERTHA:

Hast du mir nicht gestern gesagt, daß dir der Postbote keine Briefe gebracht hat? — Und doch hast du zwei erhalten: einen mit dem Poststempel Bregenz und den andern aus Innsbruck von Roberts Hand. MAX verlegen: Ich habe aus ganz bestimmten Gründen Roberts Brief für mich behalten. BERTHA:

Und ich hab' Roberts Brief aus ganz bestimmten Gründen gelesen. MAX schlägt mit der Faust auf den Tisch, steht auf und geht, große Rauchwolken blasend, mit schweren Schritten auf und ab: 76

Sakra! Da hört denn doch . . . Auf dem Kuvert stand deutlich Herrn Max From . . . Und dieser „Herr", der bin ich! BERTHA :

Und die „Herrin" dieses „Herrn", die bin ich: Frau Bertha From, „gleichberechtigte" Ehehälfte laut Parteiprogramm. MAX :

Roberts Brief war an mich persönlich gerichtet. Er stampft heftig auf. BERTHA

ruhig:

Ein Brief an dich von Robert, unserm künftigen Schwiegersohn, gehört wohl zuerst unserer Tochter! Vorwurfsvoll. Siehst du denn nicht, wie das arme Kind vor lauter Herzenssehnsucht fiebert? - Sie weiß, in dieser Woche sind seine drei Kerker-Jahre um; aber an welchem Tage er aus Innsbruck hier eintrifft, das weiß sie nicht. Und du bringst es übers Herz, ihr das zu verheimlichen ? MAX ernst: Und du willst ihr Roberts Brief zeigen? Den Brief, in dem er schreibt, daß er vor dem Wiedersehen deiner Tochter Angst hat — daß er fürchtet, Toni werde vor seinem Anblick erschrecken, wie vor einem Gespenst? BERTHA :

Wie schlecht ihr Männer doch die Frauen kennt! Glaubst du, ein Mädchen liebt den Mann mit weniger Inbrunst, dessen Lippen und Wangen durch langjährige unschuldig erlittene Kerkerhaft blaß und bleich geworden? Mit Wärme. Du wurdest nur zu einem Jahr verurteilt; aber als ich damals vor dem Kerkertor auf deine Entlassung wartete und du herauskamst und mich in deine Arme schlössest, da war's mir — sehr bewegt — 77

ich weiß nicht, ob du's gemerkt hast, mir war's, als ob mich ein Fremder küßte . . . ich erkannte dich nicht. MAX erschüttert: Ich hab's gemerkt . . . Treue Seele! Eben weil ich weiß, wie weh das tut, möchte ich den beiden den Schmerz dadurch ersparen, daß Toni auf einige Wochen zu Tante Elise nach Thalweil geht und Robert während ihrer Abwesenheit sich hier etwas erholt. — Er glaubt sie längst dort und denkt an die Hochzeit mit Toni nicht eher, als bis sein damaliger Henker, der Polizeispitzel Emil Speck, im Zuchthaus sitzt. Und da die Schweiz von Spitzeln wimmelt, hofft er ihn hier zu finden. BERTHA

nickt:

Toni erkundigt sich eben auf dem Meldeamt nach Specks Adresse. MAX erstaunt: Du hast Toni Roberts Brief gezeigt? BERTHA :

Selbstverständlich! - Und auch den andern aus Bregenz, vom Polizei-Inspektor Kaltenborn. Sie zieht den Brief aus der Tasche. MAX erregt: Ja, sage mal . . . BERTHA unterbricht ihn lachend: Ja, sage mal, wenn die männliche Ehehälfte das ehrlose Amt eines Nichtgentleman bei der geheimen Polizei ohne Wissen der weiblichen Ehehälfte annimmt, ist das kein Scheidungsgrund? MAX sieht Bertha groß an und lacht: Du glaubst doch nicht. . . 78

BERTHA :

Ich glaube, daß du im Einverständnis mit den Züricher Vertrauensmännern zum Schein auf das Ansinnen dieses Oberspitzels eingegangen bist. Dabei ist mir nur eines nicht klar. Hier in seinem Briefe heißt es — Sie entfaltet den Brief und liest: „Geehrtester Herr From! Zunächst meinen verbindlichsten Dank für die prompte Signalisierung der Postsendungen etc. Wie Sie aus den Zeitungen ersehen, ist alles glücklich von mir abgefangen. Anbei für die geleisteten Dienste 400 Gulden. Ich habe höheren Ortes sehr günstig über Ihre Tätigkeit berichtet und hoffe nächste Woche wieder eine Summe für Sie locker zu machen. Wühlen Sie nur wohlgemut drauf los! — Eben will ich schließen, da erhalte ich einen Brief von unserm früheren Züricher Agenten Emanuel Schmit. Der Mensch verlangt 1000 Fl. für Rücklieferung meiner an ihn gerichteten Briefe etc. Ich treffe deshalb morgen vormittag in Zürich ein, steige inkognito als Postdirektor Hassel in Ihrem Gasthofe ab, wohin ich auch den Schmit bestellt habe. Falls Sie mich vom Bahnhof abholen, bitte als Erkennungszeichen ein Edelweiß im Knopfloch. — Mit der Versicherung meiner besonderen achtungsvollen und freundlichen Gesinnungen grüßt Sie ergebenst Franz Kaltenborn, Kaiserl. Königl. PolizeiInspektor in Bregenz." MAX:

Nun? Was ist dir dabei unklar? BERTHA :

Daß ihr mit diesem unanfechtbaren Beweisstück in der Hand nicht sofort dem Spitzel Schmit auf die Bude rückt und ihm die Briefe abnehmt. MAX:

Woher weißt du, daß er die Spitzelbriefe bei sich hat? — Nein! Hier auf meinem Grund und Boden werden wir heute gegen ihn vorgehen, wenn er seinem Vorgesetzten die Briefe zurückgibt. Er stellt seine Pfeife weg, nimmt 79

Hut und Büchse von der Wand links. Ich muß jetzt einen Genossen aus Wien vom Bahnhof abholen. BERTHA:

Und dazu brauchst du die Büchse? MAX:

Wenn ich die mitnehme, denkt der Spitzel, ich geh' auf die Jagd und verfolgt mich nicht. Er führt Bertha ans Fenster und zeigt hinaus. Siehst du ihn da drüben auf dem Balkon Karten spielen? — Ah! Da kommt ja auch die Toni! Beide nicken und winken freundlich hinab. BERTHA :

So fidel? Na dann weiß sie Specks Aufenthaltsort.

Zweiter

Auftritt

Max und Bertha, Toni, mit einem. Edelweißstrauß am Busen, durch die Mitte. TONI:

Guten Morgen, Väterchen! MAX:

Nun, in aller Herrgottsfrüh schon ausgeflogen? TONI :

Edelweiß ge-kauft! Sie steckt ihm eine Blüte ins Knopfloch. Ja, daran hast du nicht gedacht! Für deine heutige Rolle als Geheimpolizist mußt du doch mit dem allgemeinen Ehrenzeichen bestraft werden. MAX droht lächelnd mit dem Finger: Wenn ihr noch einmal meine Briefe lesen werdet! 80

TONI schelmisch :

Gestern während deines Mittagsschläfchens sah ich, daß an deinem Rock ein Knopf fehlte. Nicht wahr, Mutter? - Und bei dem Annähen fielen die Briefe aus der Brusttasche. Nicht wahr, Mutter? MAX nachahmend : Und deshalb mußtet ihr sie — lesen! Nicht wahr, Mutter? — Was hast du denn auf dem Meldeamt erfahren? TONI traurig".

Der Name Emil Speck ist in den Anmelde-Registern nicht verzeichnet. MAX sie von der Seite forschend anblickend, halb im Ernst: Armes Kind, da kann's noch lange dauern, bis Robert dich heiraten wird. TONI haucht in die Luft : Ph, ph, mir ist es Luft, ob er jetzt will oder nicht! Ich bin nicht so ein Mädel, das nur geheiratet wird! Ich heirate ihn! Damit basta! — Sie blickt auf die Uhr: Hui, es wird Zeit, daß ich nach dem Bahnhof gehe. BERTHA:

Dein Vater will nicht, daß du Robert vom Bahnhof abholst. Reinhard Grosser geht mit. TONI.:

Ich soll nicht mitgehen? — Vater! MAX:

Damit Roberts Ankunft von dieser Spitzelbande gleich in alle Welt telegraphiert wird? — Nein! Reinhard bringt ihn ungesehen hierher. - Oder willst du, daß dich der Spitzel Schmit da drüben wieder verfolgt, wie 8

Klatt, Scaevola

81

gestern? Und dir auch auf die andere Hand einen Schandfleck drückt? Durch die Mitte ab. TONI bestürzt auf ihre Hand blickend: Woher weiß er, daß Schmit . . . Sie geht nach der Mitteltür, im Begriff, ihn zurückzurufen: Wir sollten ihm alles sagen! BERTHA sie

zurückhaltend:

Um keinen Preis! Die Entlarvung Schmits ist unsere Sache! TONI besorgt:

Wenn Vater aber von andern erfährt, daß ich gestern abend auf Schmits Zimmer war? — Ich hab' so ein unheimliches Gefühl, als war' ich zu weit gegangen. BERTHA scharf:

Im Gegenteil! Auf halbem Wege bist du stehn geblieben! Ein Mensch, der so in dich vernarrt ist, wie dieser Schmit, geht blindlings in die Falle. Aber du mußt sie aufstellen, die Arme öffnen, ihm dein Herz zeigen. TONI:

Ich kann ihm doch nicht sagen, daß ich ihn liebe? BERTHA:

Warum nicht? — War' ich gestern an deiner Stelle gewesen, glaube mir, hier in dieser meiner Hand hielt ich die Spitzelbriefe! TONI:

Was hättest du denn getan? BERTHA :

Das Blaue vom Himmel hätt' ich heruntergeredet! 82

TONI:

Aber du hast keine Ahnung, welch ein kalter Abscheu mich überrieselt, wenn ich ihm ins Gesicht sehe: so ein Schreckbild muß der Emil Speck auch gewesen sein, dem Robert seine drei Jahre verdankt. BERTHA

fest:

Derlei sentimentale Regungen mußt du von dir abschütteln und mit kaltblütiger Entschlossenheit diesem Banditen auf den Leib rücken. Bedenke: je länger er sein Wesen treibt, desto mehr Menschen macht er unglücklich! Sie blickt schnell auf die Uhr. Alle Wetter! Jede Minute kann er kommen! TONI

entschlossen:

Mutter, sag, was soll ich tun? BERTHA

führt Toni ans Fenster, fest:

Sobald der Spitzel diese Schwelle betritt, vergewisserst du dich, ob er die Briefe bei sich trägt. Entweder gibt er sie dir freiwillig, oder wir halten ihn so lange auf, bis Vater zurückkommt. Aber ich glaube, er geht in die Schlinge, wenn du ihm im geeigneten Moment diesen Brief Kaltenborns an Vater zeigst. In der ersten Überraschung wird er deinen Vater auch für einen Spitzel halten. TONI

zeigt hinaus:

Schau, Mutter, ist das nicht der Schmit, dort an der Gartentür? BERTHA :

Gewiß, das ist er! Ich laß euch allein. Sie deutet auf die Tür vorn rechts. Dort hinter der Tür kann ich alles hören. Sei tapfer, meine Tochter! Denk, Robert ist's, dann geht er in die Falle. Sie sieht Schmit kommen, dreht ihm den Rücken zu und gibt Toni ein Zeichen, ruhig sitzen zu bleiben. — Toni öffnet verstohlen ihr Medaillon und küßt das Bild darin. — 8«

83

Dritter Auftritt Bertha und Toni sitzen links vorn, durch den Blumentisch gegen Schmit gedeckt. Schmit erscheint, süß lächelnd, in der offenen Mitteltür mit Zylinderhut, einem dicken Bambusstock und einem Bukett roter Rosen, stutzt, bleibt lauschend stehen und läßt das Gespräch mit Entzücken auf sich wirken. BERTHA absichtlich laut: Nun? Hab ich nicht recht? Du wirst sonst eine alte Jungfer! Und Herr Emanuel Schnait ist doch ein ganz netter Mann? Was hast du gegen ihn? TONI:

Ich gestehe, er war mir nicht gleichgültig. Aber seit gestern — einem Manne, der kein Vertrauen zu mir hat, dem kann ich mein Herz nicht schenken. BERTHA übermütig lachend: Ach, geh doch! Du bist ja bis über die Ohren in ihn verliebt! TONI:

Aber Mutter . . . BERTHA:

Die letzte Nacht hast du laut von ihm geträumt ! TONI:

Aber ich bitte dich, Mutter . . . BERTHA :

Gerufen hast du laut im Schlaf: Ema-nuel! Ema-nuel! Lachend rechts vorn ab. TONI:

Du bist abscheulich, Mutter! Sie tritt aufgeregt an den Blumentisch und steckt den Edelweißstrauß in eine Vase. 84

SCHMIT der sich beim Abgange der Mutter etwas zurückgezogen, tritt vor, hustet befangen und, grüßt sehr höflich: Guten Morgen, Fräulein Toni.

die Überraschte spielend:

TONI

Himmel! Herr Schmit! Wie können Sie mich so erschrecken! - Sie haben doch nicht gehorcht? lächelnd:

SCHMIT

Gehorcht? — Ich? — O, wie können Sie so etwas von mir denken! Das wäre ja ganz gegen meine Gewohnheit! TONI:

Sie haben nicht gehört, was meine Mutter eben mit mir gesprochen? SCHMIT:

Mein heiliges Ehrenwort! Kein Sterbenswörtchen! TONI:

Wirklich nicht? Sie bietet ihm einen Stuhl an. SCHMIT :

Aber Fräulein Toni! Der liebe Gott soll mich gleich zum Krüppel schlagen, wenn ich eine Silbe . . . Wovon sprachen Sie denn? Er legt seinen Zylinderhut auf den ersten Stuhl vorn links. TONI:

Hm, vom Wetter, von den Blumen. SCHMIT

die Rosen überreichend:

Gestatten Sie gütigst diesen Blumen, für mich zu sprechen? TONI

abwehrend:

Ich darf sie nicht annehmen — wegen ihrer Bedeutung. 85

SCHMIT geschmeichelt, einfältig lächelnd: Wegen meiner Bedeutung? — Ich weiß nicht TONI:

Was soll es bedeuten? Wenn ein Herr einer Dame rote Rosen schenkt? SCHMIT plötzlich begreifend, sich stolz vor die Brust schlagend: Ah, gewiß! Glühende Liebe! TONI:

Sie lieben mich also wirklich so glühend? SCHMIT

nähertretend:

Bei Gott, dem Allmächtigen! Wie ich Sie liebe, das können Sie gar nicht glauben! TONI lachend:

Das tu ich auch nicht! SCHMIT:

Und dennoch! Ich schwöre Ihnen bei allem, was mir heilig ist . . . TONI

einfallend:

Das ist wohl nicht viel? Zum Beispiel? SCHMIT:

Sie! — Sie sind mir heilig! Wenn ich Sie so anschaue: Ihre schönen Augen! Ihre reine Stirn! Wie die heilige Madonna erscheinen Sie mir! Voll Andacht sinke ich vor Ihnen nieder er kniet nieder. — und bete zu Ihnen! Jede Nacht knie ich vor meinem Bett, schließe Sie in mein Gebet ein und flehe zum lieben Gott, daß er Sie mir geneigt mache! 86

TONI kämpft gewaltsam ihre Entrüstung nieder: O schweigen Sie! Schweigen Sie! SCHMIT :

Nein! Reden will ich, reden, Ihr stolzes Herz erweichen! Ich fühle es, Sie allein können mich von all' meinen Sünden reinwaschen. TONI:

Also eine gründliche Reinigung fehlt Ihnen? — Nun, die kann Ihnen werden. Sie stößt seine Arme, die er flehend emporhebt, zurück. SCHMIT

trunken:

Einen Kuß von Ihren süßen Lippen — und Sie machen mich rein wie einen Engel. TONI zornig:

Genug! — Auch Ihr Wahnwitz muß Grenzen haben! SCHMIT steht auf, glühend: Aber nicht meine grenzenlose Liebe! TONI

verächtlich:

Eine schöne Liebe das! Gestern haben Sie mir gerade genug davon vorgeredet: Mit den rosigsten Farben malen Sie mir eine glückliche Zukunft, sprechen von sofortiger Ehe! Ihre baldige feste Anstellung als Regierungsbeamter — Ihr Briefwechsel mit den hohen Behörden — Ihre Vermögenslage, daß Ihr Onkel, der Postdirektor Hassel, Ihnen heute 1000 Fl. überbringt — kurz, Sie schildern mir alles mit so verführerischen Worten, daß ich schließlich sage: gut, können Sie mir das alles schriftlich, tatsächlich beweisen, so — bin ich die Ihre! Was antworten Sie? „Liebes Fräulein, in meiner Wohnung finden Sie alles, was Sie verlangen." Zornig; Statt Ihnen ins Gesicht zu schlagen, folge ich Ihnen heimlich 87

auf Ihr Zimmer. Sagen Sie, kann ein Mädchen mehr tun? Und kann ein Mann unwürdiger handeln als Sie? Statt mir die Briefe der hohen Behörden an Sie zu zeigen — was tun Sie? Sie machen Ausflüchte, vertrösten mich auf heute? Und heute? Dieselbe Geschichte! Statt der Briefe bringen Sie mir Rosen! Wo haben Sie denn die Briefe? Sie haben sie wohl gar nicht bei sich? S C H M I T schwankend zwischen Vertrauen blickt ihr forschend ins Antlitz:

und

Zweifel,

O doch! Ich habe sie bei mir. TONI

schnell und freudig:

Nun so geben Sie her! SCHMIT

ergreift ihre Hand, zögernd:

Toni! Hätte ich gestern gewußt, daß in Ihrem Herzen ein Fünkchen Liebe für mich glimmte — doch Ihre eisige Kälte stieß mich zurück. wie auf Kohlen , zwingt sich durch Zorn zur Leidenschaft, dabei das Medaillon mit der freien Hand krampfhaft pressend:

TONI

Aber ahntest du denn nicht, was hinter dieser scheinbaren Kälte sich verbarg? Fühltest du nicht, daß ich nur darauf brannte, dein Vertrauen zu erlangen, um dir meine Liebe zu geben? Um dir alles zu opfern, Vater, Mutter, um mit dir zu fliehen, wohin du willst? — Bedenke! Ich betrete nachts dein Zimmer — wer hätte da geglaubt, daß ich so weggehen würde, wie ich gekommen? — Niemand! Leise hauchend: Ich selbst nicht. Sie verbirgt mit beiden Händen ihr Gesicht. SCHMIT

glühend

stammelnd:

Du — du selbst nicht 1 — Er küßt stürmisch ihre Hand. gedämpft, mit erkünstelter Glut fortfahrend, dasselbe Spiel mit dem Medaillon, wie vorher: TONI

88

dabei

Ich war noch ein Kind, kaum 16 Jahre, da entzündete der erste K u ß mein Herz, zwei Jahre träumten wir im Paradies der ersten Liebe. — Wir wurden vertrieben, von keinem Engel mit flammendem Schwert, sondern von einer teuflischen Schlange in Menschengestalt. Sie faßt unbewußt seinen Arm, ihre Blicke treffen sich eine Sekunde. Wir sahen uns nie wieder. Jahre — lange Jahre weinte ich um mein verlorenes Erdenglück — da, plötzlich öffnet sich gestern wieder die Glückespforte, ich höre wieder Worte der Liebe. Ich fasse meine ganze Kraft zusammen, um nicht aufzujauchzen: Ja doch! Ja! Ich liebe dich! Schnelles Spiel SCHMIT

strahlend:

Toni! Du machst mich rasend! TONI:

Ich war es gestern! SCHMIT:

Schwöre mir eins, und du sollst alles wissen! Schwöre mir, daß du heute noch mein sein willst, und sei es im Geheimen! TONI:

Öffentlich, vor aller Welt, will ich heute meine Verlobung feiern, das schwöre ich dir! SCHMIT:

Aber dein Vater — wenn er nicht einwilligt? TONI:

Ich bin meine eigene Herrin, kann tun und lassen, was ich will. SCHMIT neigt seine Lippen an ihr Ohr: So höre! Ich trete morgen in den Dienst der russischen Regierung. 89

TONI

unbefangen:

Nun, was tut das? SCHMIT :

Als geheimer Agent für die dritte Abteilung, die politische Polizei. TONI :

Jedenfalls eine anständige Stellung. SCHMIT:

Eine anständige Bezahlung. Ich fahre schon morgen nach Petersburg. TONI :

Und ich fahre mit? SCHMIT:

Ja, weißt du auch, wie eigentümlich dein Vater über diese Klasse von Beamten denkt? — Er nennt sie „Spitzel" und speit vor ihnen aus. TONI hell

auflachend'.

Komödie! Er ist ja selber solch ein . . . SCHMIT

verblüfft:

Dein Vater? TONI :

Ist Geheimpolizist im Dienst der k.k. österreichischen Regierung, besoldet vom Polizei-Inspektor Kaltenborn in Bregenz. SCHMIT :

Dein Vater? Dieser Ehrenmann? Toni, alles glaub ich dir, nur das nicht! 90

TONI gibt ihm Kaltenborns Brief: Auch jetzt nicht? - Was hat man denn gegen die-e Klasse von Polizeibeamten? Wenn es keine Spitzel gäbe, gäbe es keine „Attentate", keine „Verschwörungen", keine „Geheimbundprozesse". SCHMIT der gelesen und nicht zugehört: Ganz recht! — Aber das ist ja herrlich! Ich hole sofort die Kopien; dein Vater muß mir den Verkauf an die Partei vermitteln. Gelt, Toni, da schlagen wir ein schönes Stück Geld heraus. Kaltenborn zahlt mir 1000 Fl. für die Originale und die Partei wenigstens die Hälfte für die Kopien. TONI hat sich auf den Zylinderhut gesetzt: Solche Briefe haben doch nur im Original Wert. — Nein, weißt du, gib sie mir. Ich habe oben auf meinem Zimmer einen Amateurphotographen. Damit können wir sie beliebig vervielfältigen. Mein Vater hat alle Briefe Kaltenborns photographiert. Während er sich umwendet, um seinen Hut zu suchen, wirft sie denselben aus dem Fenster. Komm mit auf mein Zimmer! SCHMIT:

Wo hab ich nur — na, die paar Schritte geh ich ohne Hut. TONI tritt ihm vor der Mitteltür in den Weg und ruft in ängstlicher Furcht, daß er ihr entschlüpft, mit zitternder Stimme: Emanuel! Bleib! Wohin willst du? SCHMIT zuckt bei Nennung seines Vornamens, wie von einem Wonneschauer, zusammen und bleibt neben ihr stehen: Toni, nur nach drüben in meine Wohnung will ich, die Kopien holen.

91

TONI:

So laß mir die Originale so lange, ich möchte sie doch gern lesen. SCHMIT dreht den Metallknopf von dem hohlen Bambusstock, zieht aus demselben ein Konvolut Briefe, von denen er einen herausgreift und die anderen Toni gibt:'

Aber wenn man dich dabei überrascht? Wenn dein Vater? TONI

rollt die Briefe auseinander:

Der soll sie sogar lesen. Es ist sicherer, wenn er erst hört, ob Kaltenborn dir auch wirklich die 1000 Fl. zahlen will. Aus seinem Briefe an meinen Vater geht das nicht hervor. Am besten ist es, wenn er das Geld nicht direkt an dich, sondern an Vater oder an mich zahlt. Bedenke, wenn er dich wegen Erpressung verhaften ließe! Das wäre ja schrecklich! SCHMIT

zeigt Toni den Brief:

Hierl Kaltenborns letzter Brief an mich! Lies selbst! E r zahlt! Er reibt sich schmunzelnd die Hände. TONI

liest:

„Wertester Herr Schmit! Unsere Sache läßt sich nur mündlich erledigen, und da ich Sie schon lange einmal persönlich wollte kennenlernen, so werde ich Sie morgen Vormittag im Fromschen Gasthofe „Zum Uetliberg" erwarten. Als Erkennungszeichen bitte ein Edelweiß im Knopfloch. Bringen Sie aber meine sämtlichen Briefe mit, dann werde ich Ihnen die verlangte Summe auszahlen. — Übrigens ist es die höchste Zeit, daß Sie die Schweiz verlassen und nach Petersburg abdampfen. Einer Ihrer früheren Freunde, dem Sie zu einer dreijährigen Vergnügungsreise nach Innsbruck verholfen haben, kommt dieser Tage zurück und brennt vor Sehnsucht, Ihren Aufenthaltsort zu ermitteln, um Sie in seine Arme zu schließen. Bei dieser Umarmung dürfte 92

Ihnen die Luft doch etwas knapp werden! Wenn Ihr ehemaliger Freund Rassow — auch noch nicht weiß, daß Sie sich jetzt Emanuel Schmit nennen statt Emil Speck" . . . SCHMIT hat während des Lesens seine Briefe geordnet und wendet sich, da Toni starr vor Schreck innehält, zu ihr: Was starrst du mich so geisterhaft an? TONI schreit, entsetzt zurückprallend, auf und stürzt mit dem Briefe auf die Tür rechts: Ah! Du bist! - Mutter! Halt ihn! Er ist Speck!

Vierter

Auftritt

Toni, Schmit, Bertha von rechts. BERTHA fängt Toni mit den Armen auf: Was haben Sie meinem Kinde getan? SCHMIT fassungslos, die Briefe mit ängstlicher Hast zusammenraffend : Nichts, rein gar nichts! Geben Sie mir meinen Brief! Er versucht Toni den Brief zu entreißen. TONI:

Mutter, da lies den Brief! BERTHA ergreift und durchfliegt den Brief; ruhig und gefaßt sich ihm in den Weg stellend: H m ! — Freilich! Wenn man so etwas erfährt, da soll man nicht erschrecken!? SCHMIT:

Ja, warum schreit sie denn? 93

BERTHA zornig'.

Darüber wundern Sie sich? — Sie müßte ja gar kein Herz haben! — Wenn der schreckliche Mensch, dieser Rassovv, nun plötzlich hier eintritt, Sie umarmt, Ihnen die Lunge aus dem Leibe drückt, Sie in Stücke zerreißt da soll sie sich wohl freuen! Wie? — Da soll sie wohl lachen! Wie? — Liebkosend: Mein armes Kind! E r ist deiner Liebe gar nicht wert! SCHMIT

erleichtert:

So war es nur die Angst, nur die Sorge um mich? BERTHA

verächtlich:

Das fragen Sie noch? Was denn sonst? Sie herzloser Mensch! Wie oben: Mein Liebling, nun zitterst du nicht mehr? Nicht wahr? TONI gefaßt:

Jetzt bin ich wieder ganz ruhig. Aber als ich das las, bekam ich solche Furcht, daß er weglaufen würde . . . BERTHA schnell einfallend: Und dem Zuchthäusler in die Arme! Na, und dann wär's doch aus mit Ihnen? SCHMIT

beruhigt:

Können Sie mir vergeben? TONI fällt schluchzend ihrer Mutter um den Hals, leise: O, wie bin ich glücklich! BERTHA:

Still! - Die Gartentür geht! Sie tritt mit Toni an das Fenster. Da kommt Vater, Reinhard Grosser und der dritte?

94

SCHMIT hinter beiden: Hat er ein Edelweiß im Knopfloch? Dann ist es Kaltenborn. BERTHA ZU Toni:

Ich kann's nicht sehen. Sie kommen! Führ ihn nach oben! — Reinhard darf ihn nicht sehen! TONI öffnet ihm die Tür rechts: Marsch! Gehen Sie, böser Mensch! SCHMIT

entzückt:

Mit Ihnen - um die Welt! TONI

zweideutig:

Nicht um die Welt — in mein Zimmer! SCHMIT selig:

Ins Paradies! Toni und Schmit rechts ab. BERTHA drohend den Arm erhebend, mit zornig geballter Faust: In die Hölle! Warte, Schlange, das sollst du büßen! Fünfler

Auftritt

Bertha, Max, Reinhard,

Viktor.

BERTHA blickt triumphierend in Kaltenborns Bnef, dann stolz vor die Mitteltür sich postierend: Ah! Jetzt kommt Ihr! MAX vorstellend: Viktor Falke, Vertrauensmann aus Wien! - Meine Ehehälfte! Als Genossin etwas übereifrig, aber eine tüchtige Hausfrau. - Was hast du heute zu Mittag? 95

BERTHA:

Für uns Erbsen, für Robert und die Gäste Filet. MAX:

Was ist dir? Du lachst ja übers ganze Gesicht, als ob dir das Glück in den Schoß gelaufen wär' ? BERTHA:

Glück? Schon mehr Schwein! Ein Meerschwein ist in die Falle gegangen. MAX lebhaft, öffnet die Tür hinten rechts, blickt hinein und kehrt schnell um: Denkt euch! Zwei Fallen hab ich gestellt; Gift gestreut und doch wird man die verdammten Mäuse nicht los! Zu Viktor: Da befindet sich nämlich unsere Speisekammer. Zu Bertha: Habt ihr die Maus ersäuft? BERTHA

lachend:

Toni spielt oben mit ihr; sie will sie Robert zur Hochzeit schenken! MAX:

Sie ist wohl närrisch! Wenn sie ihm nichts Besseres schenken kann . . . Er geht nach dem kleinen Möbel, auf dem verschiedene Weingläser und Flaschen stehen, und trägt etliche derselben auf den Tisch links und schenkt ein. BERTHA setzt sich rechts, mit Betonung: Besseres? Für Robert? — Nein!! REINHARD tritt erregt zu Bertha: Versteh' ich Sie recht? BERTHA nickt und macht ihm Zeichen, gegen Max zu schweigen, leise: Schmit und Speck sind eine Person. Sie gibt Reinhard Kaltenborns Brief, den er erstaunend liest. Kommt, seht euch die Spitzmaus an! Ihr werdet staunen! 96

MAX wichtig: Meine liebe Bertha, laß uns mit deinen Spitzmäusen und Meerschweinchen in Ruhe; wir haben jetzt wichtigere Dinge vor: 1. Emanuel Schmits Entlarvung; 2. die Erlangung seiner Briefe; 3. Emil Specks Adresse. Geheimnisvoll: Ich glaub seine Spur zu haben — ganz im Vertrauen gesagt: Speck befindet sich in London! REINHARD sieht Bertha an und bricht mit ihr in helles Gelächter aus: In London? BERTHA:

Hättest du uns Frauen mitratep und mittun lassen, wäre der Spitzel längst entlarvt. MAX stolz: Was sich das schwache Geschlecht für Schwachheiten einbildet! Dazu gehört stärkere Ausdauer, gründlichere Überlegung und geduldigere Vorbereitung. Hier unser Freund Viktor Falke kommt deshalb direkt aus Wien als „Untersuchungsrichter". VIKTOR:

Ja, bei uns sind in letzter Zeit so viel unerklärliche Dinge passiert, Haussuchungen, Beschlagnahmen, Verhaftungen, die alle auf Zürich zurückführen. Unsere Parteigenossen sind überzeugt, daß sich hier in eure Kreise ein Spitzel eingeschlichen hat. Habt ihr denn niemand im Verdacht? MAX bedeutend: Ah, du wirst dich wundern! BERTHA:

Er hat das Wasser in Verdacht, daß es naß ist! MAX:

Ich kann dir sogar schwarz auf weiß beweisen . . . 9

Klatt, Scaevola

97

BERTHA:

Daß feurige Kohlen heiß sind! MAX:

Bertha, mach keine Scherze! Gib mir lieber das österreichische Strafgesetzbuch und das Schweizer auch; ich muß konstatieren, mit welchen Paragraphen wir die Spitzel fassen. Und Tinte, Feder und Papier! Verstanden? BERTHA gibt ihm das Verlangte: Hier! Strafgesetzbuch! Tinte! Feder! Wieviel Ballen Papier brauchst du? MAX:

Nur ein kleines Blättchen! Verstanden? REINHARD :

Genügt das? Er gibt ihm Kaltenborns Brief. MAX:

Vollkommen! Er legt die beschriebene Seite auf den Tisch. REINHARD lachend zu Bertha: Ich dächte auch! MAX ZU Reinhard: Ja, du lachst! Da siehst du aber, wie schwerfällig und umständlich die Frauen oft sind! Zu Viktor geheimnisvoll: So! Jetzt wollen wir den Feldzugsplan entwerfen und beratschlagen . . . Er schlägt heftig in dem dickleibigen Buch umher. BERTHA lachend zu Reinhard: Ist es nicht zum Radschlagen? Sagen Sie, Genosse Falke, machen Sie bei Ihnen zu Hause auch so viel Um98

stände, um einen Spitzel zu entlarven? - Wie geht es Ihnen übrigens in der Hauptstadt unter dem „Ausnahmezustand" ? VIKTOR:

Großartig! Ich komme mir vor, wie ein General! Tag und Nacht steht ein Doppelposten vor meiner Haustür. Geh ich aus, so folgen mir auf Schritt und Tritt zwei Adjutanten. Im vorigen Jahre habe ich bloß 42 Sistierungen und 33 Haussuchungen gehabt! Resultat: Oh, Oh! Unsere Achtgroschenjungen sind von einer geradezu polizeiwidrigen Dummheit! Erst vorgestern sagte so ein Jammerlappen, der atemlos hinter mir herschnaufte, ganz treuherzig zu mir: „Hören Sie, Falke, wenn Sie erst aus der Stadt sind, dann geb' ich ein Achtel Echtes zum Besten; wegen Ihnen hab ich schon die Blasenkrankheit bekommen". BERTHA :

Ja, das macht doch Spaß! Aber so viel Umstände wie mein Mann macht — da hört die Gemütlichkeit auf! REINHARD ZU Bertha:

Ganz meine Meinung! Zu Viktor: Denke dir, der Spitzel wohnt seit acht Monaten da drüben im Gasthofe, und erst gestern haben wir den sichern Beweis erhalten, daß er ein Spitzel ist, und zwar durch einen Brief seines Vorgesetzten an Max From. BERTHA gibt Viktor den Brief: Hier! Vom Polizeiinspektor Kaltenborn aus Bregenz. REINHARD :

Ja, du staunst? Hör weiter! — Dieser Kaltenborn hatte kürzlich die Keckheit, brieflich aus Bregenz an From das Ansinnen zu stellen, der politischen Polizei Dienste zu leisten. Die Züricher Vertrauensmänner traten zusammen und ermächtigten From, mit dem Ober-Spitzel 9*

99

in Verbindung zu treten. Eine Postsendung mit verbotenen Schriften wurde dem Kaltenborn durch Froms „Verrat" in die Hände gespielt: Großer Jubel im Polizeilager, großer Spektakel in der reaktionären Presse! — Kaltenborn schickt vor Freude sofort an From 400 Fl., über die wir öffentlich quittierten: „Von Schnüffel und Langohr 400 Fl." — Du kommst heute gerade zur rechten Zeit, um Zeuge einer doppelten Spitzelentlarvung zu sein: 1. des „Postdirektors Hassel" alias Kaltenborn aus Bregenz und 2. des österreichischen Geheimpolizisten er schlägt Max, der emsig in dem dicken Gesetzbuch blättert, kräftig auf die Schulter — Emanuel Schmit recte Emil Speck! Ja, mein lieber Max, Schmit und Speck sind identisch! BERTHA :

Dein Emil Speck in — London ist oben im Zimmer deiner Tochter, mit der er sich soeben verlobt hat. Verstanden? Sie führt Viktor beiseite, zeigt auf Kaltenborns Brief und steckt ihm ein Edelweiß ins Knopfloch, ihm dabei Instruktionen erteilend, denen er mit lebhafter Freude zustimmt. MAX verdutzt aufblickend: Was sagt ihr? REINHARD seinen Hut nehmend: Ich muß jetzt Robert vom Bahnhof abholen. Blick doch in deinen Feldzugsplan! Verstanden? Durch die Mitte ab. MAX ZU Bertha: Was meint er? BERTHA:

Ich muß jetzt Toni aus — London abholen. Blick doch in deinen Feldzugsplan! Verstanden? Rechts vom ab. VIKTOR lustig:

Ausgezeichnet! 100

MAX ZU Viktor: Was heißt das? VIKTOR

wendet K.s Brief um und zeigt auf die Schrift:

Blick doch in deinen Feldzugsplan! - Ich muß mich jetzt auf meine Rolle als schneidiger k.k. Beamter vorbereiten, äh! — Er reckt und streckt seine Gliedmaßen in bekannter Leutnants-Manier. — äh! die mir eben deine „gleichberechtigte" Ehehälfte zugewiesen hat - das „schwache" Geschlecht! MAX starr vor Überraschung: Das schwache Geschlecht. — Er schlägt mit der flachen Hand auf den Brief. — Das ist stark! Kleinlaut und unsicher zu Viktor: Sag mal, Viktor, wie denkst du darüber — Er steht langsam auf. VIKTOR

sich umwendend:

Worüber? MAX sehr laut und sehr energisch'. Über das allgemeine Stimmrecht der Frauen! VIKTOR:

Ich bin selbstverständlich für das aktive und passive Wahlrecht der Frau. Du etwa nicht? MAX wie oben: Entschieden! Ganz entschieden! VIKTOR:

Ich sage dir, Max, es gibt Frauen und Töchter, die ihre Männer und Brüder in geistiger Beziehung so hoch überragen! Er hält die Hand über Max' Kopf. Meinst du nicht auch? MAX wie oben: Entschieden! Ganz entschieden! 101

VIKTOR:

Und glaube mir, mein lieber Max, es gibt sogar in unseren aufgeklärten Reihen so manchen tüchtigen, braven Genossen, der in der Theorie, in Versammlungen mit wahrem Feuereifer für die völlige Gleichstellung der Frau eintritt, aber in der Praxis, in seinem eigenen Hause den überklugen Vormund, den selbstherrlichen Sultan herauskehrt! Das muß entschieden aufhören! MAX wie oben: Entschieden! Ganz entschieden!

Sechster Auftritt Max, Viktor, Toni. TONI stürzt herein: Väterchen! Schnell den Kassenschlüssel! Umarmt ihn. MAX versucht sich loszumachen: Ich bin's ja nicht! Ich bin's ja nicht. Warte doch! Reinhard bringt ihn dir ja gleich! Aber so laß mich doch los! TONI:

Väterchen, ich brauche Geld, viel, viel Geld! MAX gibt ihr den Schlüssel: Hier — unsern Freund siehst Du wohl gar nicht? Vorstellend: Die Braut des „Verbrechers" — Viktor Falke! Unser Vertrauensmann aus Wien. TONI drückt ihm so kräftig die Hand, daß er aufschreit: Guten Tag, Herr Polizei-Inspektor! MAX jedes Wort scharf betonend: Viktor Falke! Unser Vertrauensmann. 102

TONI:

Im Vertrauen, Herr Polizei-Inspektor! Können Sie mir auf fünf Minuten 1000 Fl. borgen? Sie hat eine Schatulle aus der Kommode gezogen, eine Kasse aufgeschlossen und derselben einige Scheine entnommen. VIKTOR schüttelt den Kopf. TONI:

Na, dann borg ich sie Ihnen. Sie zählt ihm die Scheine vor. Stimmt es? 1000 Fl. Und Sie wissen also, genau wie meine Mutter Ihnen gesagt . . . VIKTOR in eitlem Stolz sich in die Brust werfend: Genau Äh! Ich bin auf 5 Minuten der k.k. österreichische Polizei-Inspektor Franz Kaltenborn aus Bregenz und zahle Ihnen in Gegenwart Ihres Fünfminuten-Bräutigams Emanuel Schmit, der mir „meine" Briefe zurückgibt, 1000 Fl. Äh! TONI:

Ganz recht! Aber als Stütze gegen den Umsturz dürfen Sie nicht wackeln und nicht lachen! Das erschüttert! Ernst! Feierlich! Falten Sie mal die Hände! Himmel! Sie kriegen die Finger nicht ineinander? Weiter! Sittenstrenge Amtsmiene! Ordnungsmäßige Halsbinde! Sie nestelt an seinem Kragen. In jedem Auge für 8 Kreuzer Autorität! Und schimpfen und fluchen müssen Sie! Brausen und wettern, als ob die Öffentlichkeit gar nicht existierte! Himmel-Donnervvetter-Kreuz-Bomben-Element! VIKTOR

nachahmend:

Himmel-Donnerwetter-Kreuz-Bomben-Element! MAX:

Bravo! Bravo! Aber, Mädel, sag mal, wo — was — wie seid ihr dazu gekommen? 103

TONI:

Väterchen, jetzt ist keine Zeit zum Redenhalten! Du hast nichts weiter zu tun, als uns deinen väterlichen Segen zu geben, sagst zu allem Ja und Amen und bist gegen deinen provisorischen Schwiegersohn die Liebenswürdigkeit selbst! Die Hauptabrechnung besorgt ein anderer! Verstanden? — Pst! — Mutter kommt mit ihm. Geräusch von Stimmen hinter der Tür rechts. — Zu Viktor: Sie Ordnungsstütze! Stramm! Schneidig! - Und du, Väterchen, recht freundlich! Sie streichelt ihm die Backen.

Siebenter Auftritt Max, Viktor, Toni. — Schmit mit den Briefen, Bertha. BERTHA :

Da hast du deinen Schwiegersohn! MAX reicht Schmit lachend die Hand: Das haben Sie sauber gemacht! — Aber jetzt muß ich wohl „du" sagen? Hätt' ich dir nicht zugetraut! SCHMIT ihm lachend die Hand schüttelnd: Ich dir auch nicht, Schwiegervater! Jetzt sind wir nicht nur verwandt, jetzt sind wir sogar Kollegen! MAX vorstellend: Und hier unser Herr Chef. Herr Poli-Postdirektor Hassel, der dir da ein hübsches Hochzeitsgeschenk aufzählt. VIKTOR wütend:

Möchte ihm sonst was aufzählen! SCHMIT :

Hihihi! Wird Ihnen wohl schwer, das Geld da für mich . . . 104

VIKTOR scharf ZU Toni: Diese 1000 Fl. gebe ich Ihnen, mein schönes Fräulein, als Brautgeschenk, und Ihnen gebe ich sie gern. Er gibt ihr das Geld. SCHMIT gibt Toni die Briefe, die sie überreicht: Diesmal haben Sie nur nichts davon, Herr Postdirektor; Sie kommen einen Posttag zu spät! Auf Toni zeigend: Das wäre so etwas, he? Sie Don Juan! - Ja, Sie sehen, ich kenne auch Ihre Privatangelegenheiten! VIKTOR zornig:

Meine Privatangelegenheiten gehen Sie gar nichts an! Adieu! Verächtliche Handbewegung: Empfehlen Sie sich! SCHMIT frech:

Mir das? Oho! Nur nicht hochnäsig, Herr Pplizeiinspektor, sonst steig' ich Ihnen aufs Dach! Verstehen Sie mich? Ich war auf der russischen Gesandtschaft: Schwindel, was Sie mir da über die feste Anstellung mit fixem Gehalt geschrieben haben! Gott sei Dank! Ich brauche nicht mehr Ihr Lumpengeld. Ich bin jetzt Restaurateur, frei und unabhängig, nicht wahr, Schwiegervater? — Wenn Sie aber noch frech und unverschämt werden wollen, dann könnte ich denen „höheren Orts" doch ein Lied von Ihnen vorpfeifen, z. B. wie Sie sich zu meiner beabsichtigten Gründung des Attentatsfonds gestellt! — Ja! Jetzt staunen Sie! Ich habe zwar nichts Schriftliches, Sie wollten nur mündlich darüber verhandeln, aber da man Mündliches nicht - verkaufen kann . . . VIKTOR:

Pfui, Sie sind ein ganz gemeiner Lump! SCHMIT lachend:

Das war ich, Herr Kollege, Sie aber sind es noch! „Ich war ein Werkzeug der Gewalt von Gottes Gnaden nur, 105

Ein unentbehrlich Rädchen halt in der Regierangsuhr. Ich war gewiß kein Gentleman, doch Bombenschwadroneur, Jetzt bin ich denn und bleib ich denn, heidi! Restaurateur!" VIKTOR springt auf: Schurke, daß ich dich nicht . . . Himmel-DonnerwetterKreuz-Bomben-Element! Schmit lachend mit Toni vorn rechts ab. BERTHA zeigt erschrocken nach draußen, ernst: Robert k o m m t ! Achter

Auftritt

Max, Viktor, Bertha. — Reinhard, Robert. Kurze Pause. Beim Erscheinen Roberts tiefe feierliche Stille, die mit der burles kenhaften Lustigkeit des vorigen Auftritts scharf kontrastieren muß. Alle blicken gespannt zur Mitteltür, durch die, am Arm Reinhards, Robert langsam hereintritt, erdfahl, hohläugig, kurz geschoren, bartlos und in viel zu kurzen Kleidern. REINHARD:

Hier Robert, ist deine neue Heimat! BERTHA schließt Robert schluchzend in ihre Arme: Mein armer, armer Junge. MAX umarmt ihn innig: Robert . . . vorstellend Genosse Viktor Falke aus Wien. VIKTOR ergreift Roberts Hände, voll heiligen Zornes: Braver, tapferer Genosse! Ich kenne dich nicht, aber ich muß dich küssen! Das gleiche Ziel unserer heiligen Sache macht uns ja alle zu Brüdern 1* Er umarmt und küßt ihn. * Anmerkung für die Regie: Der Regie bleibt es überlassen, an dieser Stelle eine kurze, passende, aus der Stimmung 106

MAX die Hand auf Roberts Schulter legend, sanft: Daß Toni noch nicht hier ist . . . ROBERT drückt Max dankbar lächelnd die Hand: Ist mir lieb, sehr lieb! Wenn sie in 14 Tagen zurückkommt, hab' ich mich hier in der freien Luft so weit erholt, daß sie nicht mehr zu erschrecken braucht. Scheu und beklommen: Ihr schaut mich so seltsam an! Seh ich wirklich so elend aus? MAX verlegen nach Worten suchend: Nur etwas blaß . . . B E R T H A wie

Max:

Du warst früher so auffallend rot und frisch - die drei Jahre haben dich ein wenig angegriffen . . . VIKTOR außer sich, kann sich nicht mehr halten, stürzt auf die Tür rechts, leise: Und dieser Schurke atmet noch die freie Luft! REINHARD hält ihn mit aller Gewalt zurück, leise; Nicht die eine lumpige Person - das ganze System trägt die Schuld! ROBERT setzt sich, den Rücken der Tür rechts hinten zugekehrt, spricht anfangs sehr langsam: Drei Jahre schweren Kerker! Und weshalb? — Wegen politischer Vergehen, die in ein paar Dezennien als Ausflüsse höchster Sittlichkeit vor aller Welt gepriesen werden! Zu Max: Du hast ein Jahr gehabt, hast also eine Ahnung, was es heißt: drei Jahre Abschied nehmen vom Leben, von seinen Genossen, untertauchen unter herausgeborene poetische Deklamation einzuschalten; vielleicht aus Henkells „Buch der Freiheit", Seite 81, Vers 3, von Viktor und darauf Vers 4 von Reinhard gesprochen.

107

die menschliche Gesellschaft, sich peinigen und plagen, sich schlagen und stoßen lassen, schlimmer, weit schlimmer als das Vieh! MAX hat die Gläser gefüllt; alle stoßen an und trinken: Prosit! Und jetzt — ja was willst du essen? Kalbsbraten ?

Filet?

ROBERT schüttelt wehmütig den Kopf: Wenn ich euch um etwas bitten möchte — leise zu Bertha: Erbsenbrei . . . BERTHA fährt erschüttert zusammen: Erbsenbrei? Ist dir das in den drei Jahren nicht über geworden ? ROBERT:

Das schon, kann nur nichts anderes mehr vertragen. Hab's gestern versucht — aber . . . MAX ZU Bertha: Geh, mach ihm, was er haben will — aber der neue Kellner soll's ihm bringen! Zu Robert: Wir haben nämlich deinetwegen, d. h. allein zu deiner persönlichen Bedienung heute einen neuen Kellner engagiert. Prosit! Sie trinken wieder. Und nun erzählst du uns deinen Prozeß, das erleichtert die Brust. Wir haben so gut wie gar nichts davon erfahren; die Verhandlung fand unter Ausschluß der Gerechtigkeit — sich verstellend der Öffentlichkeit statt, und da du uns darüber nichts geschrieben . . . ROBERT heftig protestierend: Nichts geschrieben? Nichts geschrieben? Ihr habt meine Briefe aus dem Kerker nicht erhalten? Er steht auf. MAX : nach kurzer Pause. Keinen einzigen! io8

ROBERT setzt sich: Nun, so hört! Zu Max: Ihr habt meine Mutter gekannt; sie war damals vor drei Jahren schon völlig gelähmt und konnte das Bett nicht mehr verlassen — steif, hilflos, ein Bild des Jammers! Max: Als du als Schlosser aus der Lehre kamst, da lernte ich dich und deine Mutter kennen. — Nun, was wir damals alles erlebt! Ich bekam mein Jahr Gefängnis und ging mit Weib und Kind hierher, nach der Schweiz, und du fuhrst mit deiner Mutter nach Innsbruck — wo man dich zu der exorbitanten Strafe von drei Jahren verdonnerte. Wie war das nur möglich? ROBERT:

Die Genossen gaben mir einen Vertrauensposten, und deshalb drängte sich dieser Speck an mich heran. Man bewachte mich scharf. Max: Das schriebst du uns und daß man trotz all der Haussuchungen nichts fand. ROBERT:

Das Meiste konnte man nicht konfiszieren, das war hier. Auf seine Stirn deutend: Und was hier nicht hineinging, wie Deckadressen, Vertrauensmännerlisten, Parteigelder usw. — das hatte ich zusammengerollt verborgen im hohlen Fuß der Bettstelle, in der meine Mutter lag. VIKTOR:

Außer euch beiden wußte das niemand? ROBERT:

Niemand. Die alte Frau blieb ja Tag und Nacht im Bett, und so kam keiner auf die Vermutung. 109

MAX:

Und doch — trotz alledem hatte dieser Speck Witterung bekommen? ROBERT

nickt:

Eines Tages — Er hält plötzlich inne, die Wut übermannt ihn, er springt auf, in glühenden Zorn ausbrechend. Ah! Wenn ich daran denke! — Meine arme Mutter! Wie sie in ihrer Todesangst noch mit ihrer letzten Kraft für unsere heilige Sache kämpfte und rang! Und wie dieser Schurke, ihr Mörder, sie . . . und ich mußte es mit ansehen, konnte ihr nicht helfen, nicht beistehen! Ob ich auch alle meine Kraft aufbot, — gegen drei Mann! — umsonst! Er wirft sich in den Stuhl zurück. Drei Jahre Kerker! MAX:

Trink, Robert! Und wenigstens etwas essen mußt du! — Mutter, wo bleibt der Kellner mit dem Erbsenbrei? Bertha rechts vorn ab. ROBERT:

Ja, zu drei Jahren Erbsenbrei haben sie mich verurteilt! Zu gemeinen Verbrechern in den Kerker geworfen, meinen Fuß an den Boden geschmiedet, Bart und Haare vom Kopf geschnitten — aber hier drinnen, die unbezwingliche Idee des weltbefreienden Völkerfrühlings konnten sie mir nicht abschneiden, die weltaufbauende Idee vom Umsturz alles Falschen, Morschen und Gemeinen konnten sie nicht an den Boden schmieden — sie spottete Ketten und Kerker! MAX flammend: Und ob ihr von der hohen Stirn, das Wehnde Lockenhaar ihr schort, Und ob ihr zu Genossen ihr den Mörder und den Dieb erkort, Und ob sie Zuchthauskleider trägt, im Schoß den Napf voll Erbsenbrei . . . 110

Während der letzten Worte öffnet Berta die Tür rechts. Schmit, mit beiden Händen die Schüssel mit Erbsen vorsichtig tragend, geht heiter lächelnd hinter Toni und Bertha langsam auf Robert zu, der ihnen den Rücken zugekehrt hat. Bertha legt Teller und Besteck auf den Tisch und Schmit stellt die Schüssel dicht vor Robert hin, ohne von demselben angesehen zu werden.

Neunter

Auftritt

Max, Viktor, Reinhard, Robert. — Bertha, Toni,

Schmit.

BERTHA Max unterbrechend und die Hand auf Roberts Schulter legend, um ihn Schmit zuzuwenden: Und ob sie Werg und Wolle spinnt — TONI begeistert: Doch sag ich kühn euch: sie ist frei! ROBERT schnellt beim Klang von Tonis Stimme und wendet sich blitzschnell um, jauchzend:

empor

Toni! Ja, ist es denn möglich! Toni! Toni!! Lange stumme Umarmung. SCHMIT prallt entsetzt vor dem Anblick Roberts zurück, stürzt dann nach der Mitteltür zu, die ihm Max und Viktor versperren. Er eilt auf die Tür rechts vorn, vor der er von Reinhard einen Stoß erhält, so daß er in die Tür rechts hinten flüchtet: L a ß t mich! L a ß t mich! VIKTOR:

K a n n er da hinaus? MAX schüttelt ruhig den Kopf: Unmöglich! Wenn er nicht aus dem Fenster stürzen und das Genick brechen will. Er dreht den Schlüssel um und reicht ihn Toni. Hier ist der Schlüssel zur Speisekammer; du hast zu den Erbsen den Speck vergessen. 111

ROBERT

strahlend, Toni umarmend:

Den Speck, den ich meine, den habt ihr doch nicht! Den such' ich mir allein, und ich — zornglühend das fühle ich! — ich werde ihn finden! Und dann . . . Er ballt die Fäuste und hebt sie bebend empor. TONI

selig, ihm um den Hals fallend:

Dann machen wir Hochzeit! Zweiter Akt Dieselbe Dekoration wie im ersten Akt Erster

Auftritt

Max, Viktor, Reinhard, Robert, Toni, Bertha. MAX am Fenster: Kinder, macht schnell, daß ihr in den Garten kommt. Polizei-Inspektor Kaltenborn ist eben ins Gastzimmer getreten. Zu Toni: Der im Kaisermantel mit dem Edelweiß im Knopfloch! Du sagst ihm, er werde hier oben erwartet. Weiter nichts! Verstanden? TONI

lachend:

Nein! Mit Robert durch die Mitte ab. MAX ZU Bertha: Du, das Fäßchen Markgräfler ist für unsere Züricher Sangesbrüder bestimmt, die Robert das Ständchen bringen. Verstanden? BERTHA

lachend:

Nein! Mit Viktor durch die Mitte ab. MAX:

Weißt du, Reinhard, ich will hier oben mit Kaltenborn nicht gestört werden. Es soll niemand heraufkommen, 112

bevor ich klingele. Und dann ist es wohl besser, ich stelle den Phonographen hierher. - Er zeigt auf den Treppenabsatz. REINHARD verwundert:

Wie kommst du zu einem Phonographen ? MAX:

Die beiden Engländer, die heute früh die Tour nach dem St. Gotthard antraten, haben ihn mir zur Aufbewahrung übergeben. Er stellt mit Hilfe Reinhards einen mit Tuch bedeckten Kasten auf den Treppenabsatz. REINHARD :

Na, die Sache kann ja gut werden. MAX:

Einen Bombenspaß gibt es! REINHARD auf die Tür rechts hinten zeigend: Wenn nur der Spitzel sich ruhig verhält! Er winkt Max, der die Tür aufschließt.

Zweiter Auftritt Max, Reinhard, Schmit. Schmit stürzt blitzschnell heraus, stößt Max zurück und fliegt auf die Mitteltür zu. REINHARD packt

ihn:

Ausrücken, Bursche? SCHMIT mit gefalteten Händen in die Kniee sinkend: Laßt mich! Was wollt ihr mit mir machen? 10

Klatt, Scaevola

113

REINHARD :

Das wird morgen die Sitzung beschließen, in der du deine Geständnisse zu Protokoll geben wirst. Bist du bis dahin ruhig und gestehst alles —

SCHMIT :

Alles! Nur daß Rassow mich nicht sieht! REINHARD

achselzuckend:

Darauf mach dich nur gefaßt! MAX in der Mitteltür: Marsch, hinein jetzt! Und mäuschenstill! Zu Reinhard: Geh! Toni kommt mit Kaltenborn. Er schiebt Schmit in die Tür hinten rechts hinein und schließt ab. Reinhard durch die Mitte ab.

Dritter Auftritt Max, Toni, Kaltenborn, TONI öffnet die Mitteltür: So, Herr Postdirektor, bitte hier! Ab. KALTENBORN bleibt in der Tür stehen und blickt Toni lüstern nach: Danke, Fräulein, danke! Und mein Zimmer? Nachher? Schön! Schön! MAX ärgerlich, hustet heftig: Herr Postdirektor Hassel? KALTENBORN sich schnell umwendend, Max die Hand reichend: Äh! Herr Schmit? Hab' Sie gar nicht bemerkt! - Ein süßes Geschöpf, was? Der From ist ein Schlaukopf! Das können Sie ihm sagen. 114

MAX:

Er hört es. Ich bin Max From. KALTENBORN ihm beide Hände entgegenstreckend: Äh! Freut mich außerordentlich! Wollte Sie gern vorher sprechen. Sind wir allein? Er setzt sich und blickt auf die leere Weinflasche. Markgräfler? Trinkbar? Na, eine zur Probe! Sagen Sie, lieber From, haben Sie guten Marsala? - Auch Burgunder? - Äh! Famos! Dann bringen Sie uns ein halb Dutzend Flaschen von jeder Marke. Und eine Flasche Kognak! MAX:

Mehr nicht? — Also 14 Flaschen. Und wieviel Gläser? KALTENBORN:

Drei! Ja, mein lieber From, wenn sich die Sache mit Schmit glücklich abwickelt, kaufe ich mir heute einen Spitz! MAX hat die Bestellung auf einen Zettel geschrieben, drückt auf den Knopf der elektrischen Klingel und geht nach der Mitteltür, wo er den Zettel hinausreicht: Wenn der Spitzel nur nicht Sie kauft! KALTENBORN stutzig:

Machen Sie mich nicht unruhig! Sie werden mir doch in dieser fatalen Affäre zur Wiedererlangung meiner Briefe verhelfen, nicht wahr? Darauf wollen wir anstoßen ! MAX hat eine Flasche Markgräfler eingeschenkt'. Die 1000 Fl. wollen Sie ihm nicht zahlen? KALTENBORN:

Da war' ich ja dümmer als die Polizei - Prosit! — erlaubt. Sie trinken. Verhaften laß ich den Halunken wegen Erpressung, wenn er mir meine Briefe nicht ohne weiteres 10*

115

zurückgibt. Aber — schlau lächelnd. — trinkt er erst ein paar Gläser von der Mischung: Marsala, Burgunder und Kognak, dann — Er zeigt auf den Korb voll Flaschen, die From durch die Mitteltür gereicht werden, und von denen derselbe eine entkorkt etc. Ich habe zwar bisher die Wirkung nur an Weibern beobachtet, wo Sprödigkeit in Wachs zerfloß, aber ich hoffe — Prosit! — Sie trinken Burgunder. Ah! Deliziös! Feine Marke! Auf die Markgräfler-Flasche deutend. Brrr! Proletariergesöff! Fort damit! MAX:

Also auf Schmits Trunkenheit spekulieren Sie? Wenn er nun aber zu ihrer Mischung auch sagt: Brrr! Bourgeoisgesöff! Fort damit! achselzuckend: Zahlen kann ich beim besten Willen nicht. Ich habe in letzter Zeit geradezu schauderhaftes Malheur gehabt. Denken Sie, drei Odalisken drohen mir gleichzeitig mit Alimentationsklagen: eine Deutsche, eine Österreicherin und eine Italienerin! Komisch! Was? Der reine Dreibund! KALTENBORN

MAX:

Ihre Börse wird ja wohl auch aus drei verschiedenen Quellen gespeist? KALTENBORN:

Das schon! Aber diese Dulcineen sind von einer Habgier! Die heißblütige Italienerin will mich zu einer flagranten Gesetzesübertretung verleiten, zum Verbrechen der Bigamie! Ich soll sie partout heiraten! Was sagen Sie zu solcher Keckheit! Er trinkt. MAX:

Haben Sie sich ihr denn als ledig vorgestellt? KALTENBORN:

Selbstverständlich! — Aber lediglich zum Scherz, 116

Max: Dann haben Sie ihr auch lediglich zum Scherz die heilige Ehe versprochen? KALTENBORN:

Das tut man doch immer! Anstandshalber Es sind ja auch anständige Mädchen.

schon!

MAX:

Anständige — unschuldige Mädchen? KALTENBORN wirft sich in die Brust: Natürlich! Hochanständige! — Was denken Sie von mir? Mit anderen laß ich mich überhaupt nicht ein! Ich werd' mich doch nicht wegwerfen! — Frische Knospen! Junges Gemüse! Das ist mein Fall! Prosit! Er trinkt. MAX erstaunt auf die kahle Platte deutend: Wie kommen Sie dazu bei dem haarigen Defizit? KALTENBORN richtet sich stolz auf, eitel: Äh! Erlauben Sie mal! Wenn Plafond behelmt ist? Sollten mich mal in Uniform sehen! Würden Augen machen! Goldgestickte Gala, glitzernde Orden und blitzende Ehrenzeichen auf Brust! Äh! Weiber hin — fallen um wie die Fliegen! Da wäre es bodenlose Gemeinheit, gefühllos zu sein! MAX:

Und diese Nichtgefühllosigkeit hat Sie nie mit Ihren Untergebenen oder Vorgesetzten in Konflikt gebracht? KALTENBORN schüttelt lächelnd den Kopf: Mein oberster Chef, der Herr Minister, ist sehr nobel und nachsichtig, kurz ein Gentleman von Kopf bis Fuß, und ich bin bei ihm persona grata! In acht Tagen hab ich den Charakter als Polizeirat — infolge Ihrer mir ge117

leisteten Dienste, vorausgesetzt, daß die Sache mit Schmit gut abläuft. Offen gestanden, heutzutage gilt nur der als tüchtiger Beamter, der einen Charakter hat! Er steckt sich eine Zigarette an. MAX : leise: Aber keiner ist! Gratuliere, Herr Polizeirat! Sie trinken.

Prosit!

KALTENBORN:

Und was meine Untergebenen betrifft — die wissen, daß sie auch in mir den nobelsten und umsichtigsten Chef haben. Sie kennen meine Passionen, und ich kenne ihre Schwächen, und beides gleichen wir einfach durch gegenseitiges diskretes Vertrauen aus. MAX:

Allerdings sehr einfach! KALTENBORN klappt das Buch, in dem er geblättert, zu: Ich liebe die Einfachheit über alles, besonders in der Legislatur. Sehen Sie hier unser Gesetzbuch, diese Unzahl von Paragraphen! Einer — höchstens zwei genügen! Ich sollte Minister sein! § 1. Kein unzufriedener Arbeiter besitzt das aktive und passive Wahlrecht. § 2. Alle Arbeiter, die sich gegen die heiligen Güter der Nation vergehen, haben den Staub von ihren Schuhen zu schütteln. Basta! Was sagen Sie dazu? Sie sind stumm! — Das sag' ich euch! Drohend, trotz der Trunkenheit sich einen Moment stramm emporrichtend: Euch allen, die ihr diese herrlichen Zustände umwälzen wollt! Ihr Umstürzler! So lange noch der Gigant, unser Heer, fest steht und treu — Er steht auf, schwankt bedenklich - und so lange uns noch der Degen an der Seite blinkt — Er schlägt sich an die linke Hüfte, indigniert. A h ! — Wissen Sie! Immer wenn ich in Zivil ausgehe, komm' ich mir vor wie ein halber Mensch, dessen bessere Hälfte daheim im Kleiderschrank hängt. 118

MAX:

Sie sind zu bescheiden! Doch Ihre schönere Hälfte — ich meine nicht Ihre Uniform, sondern Ihre Gattin — weiß denn die nichts von Ihrer Vorliebe für das weibliche Geschlecht? KALTENBORN:

Meine Frau? Um Gotteswillen! Man zerstört doch nicht leichtsinnig Familie, Ehe und Eigentum? Sie ließe sich sofort von mir scheiden! Und was hätte ich dann von der Erbschaft, die sie nocR von ihren Eltern bekommt? In Genf wartet eine kleine Französin schon seit Wochen auf meinen Besuch. Aber? — Bewegung des Geldzählens. Daran hapert's! Ich muß ihr doch anstandshalber ein anständiges Geschenk mitbringen! Vertraulich. Übrigens — Ihr Zimmermädel, ä la bonheur! Das ist ja eine beautee. - Aber da kommt man Ihnen wohl ins Gehege? — He? MAX zuckt die Achseln: Da müssen Sie sich an Schmit wenden. Er hat sich heut mit ihr verlobt. KALTENBORN schnellt empor: Schmit? - Mein Untergebener? - Dieser Lump? Er hat ja Frau und Kinder in Brünn! MAX:

Und Sie haben Frau und Kinder in Bregenz! KALTENBORN:

Ich will sie auch nicht heiraten! MAX:

Er wird sie jetzt auch nicht heiraten. Denn wenn es mit seiner festen Stellung im russischen Dienst ebenso Essig ist wie mit den 1000 Fl. . . . 119

KALTENBORN:

Natürlich! Essig! Dieser L u m p schnappt mir das herrliche Geschöpf vor der Nase weg. Oh! Wenn Sie wüßten, wie viele Menschen er schon ins Unglück gestürzt h a t ! So ein meineidiger Mordbub! Ja, einen Mord hat er auch auf dem Gewissen! Die Mutter des Metallarbeiters Robert Rassow hat er während der Haussuchung mit einem B e t t f u ß in bestialischer Weise erschlagen. Eigentlich heißt der Halunke Emil Speck. Wenn ich daran denke, daß dieser Mensch in vollen Zügen genießt, wo ich in durstiger Sehnsucht verschmachte — ich könnte rasend werden! W o bleibt er denn? Wie sieht er aus? Vielleicht ist noch nicht alles verloren! Er zieht seinen Taschenspiegel. MAX:

Warum geben Sie sich überhaupt mit solchem Gesindel ab? KALTENBORN:

Man findet nicht alle Tage so vertrauenswürdige Personen wie Sie, auf die man sich unter allen Umständen verlassen kann. MAX:

Sind Sie meiner so sicher? KALTENBORN:

Oh! MAX:

Wenn Sie sich nur nicht täuschen! In anderem Ton. Von heute ab müssen Sie auf meine Dienste verzichten. KALTENBORN starrt Max

an:

Sie scherzen! Wie kommen Sie mit einem Male darauf? — Weil ich dem Schmit die 1000 Fl. nicht zahlen will und 120

mir das Geld jetzt knapp ist? Mein lieber From, das hat auf Sie gar keinen Einfluß! Verlangen Sie, fordern Sie, was Sie wollen. Ich befürworte es höheren Orts, und Sie erhalten jeden Preis für das gewünschte Resultat. MAX:

Für welches gewünschte Resultat? KALTENBORN

ausweichend:

Je wichtiger die Nachrichten, desto höher die Preise! Bringen Sie uns eine hübsche Verscliwörungs-, eine niedliche Attentats-Nachricht und Ihnen winkt eine glänzende Honorierung! Was wollen Sie mehr? Ist das nicht anständig? MAX:

Meine Stellung ist es nicht. KALTENBORN:

Ihre Stellung? Behandle ich Sie nicht wie meinesgleichen? — MAX:

Leider. KALTENBORN:

Leider? — Ich verstehe Sie nicht. Fürchten Sie, Ihrer Person könnte ein Nachteil daraus erwachsen? — Unmöglich! Sie sollen nur wittern! Es handelt sich bloß um die Ergatterung der Sendungen. Sie sind ja ein baumstarker Mann, saufen Sie die Kerle über den Haufen, führen Sie dieselben nach Hause, bleiben Sie in deren Zimmer über Nacht, so bekommen Sie das Nötigste. MAX:

Bekomme? 121

KALTENBORN:

Ja, wie Sie neulich die Adressen und Versandzettel bekommen haben. Bewegung des heimlichen Wegnehmens. MAX schüttelt den

Kopf:

Sich unter der Maske eines Freundes in das Vertrauen ehrlicher Menschen einschleichen, u m sie hinterher schmählich zu verraten . . . KALTENBORN:

Ich verstehe vollkommen, daß Sie noch von Humanitätsrücksichten geplagt werden. Das wird sich schon verlieren. Arbeiten Sie nur fort. MAX:

Ich habe keine Lust, mich länger dem Verdacht auszusetzen, als arbeitete ich mit Schurken vom Schlage Schmit unter einer Decke. KALTENBORN:

Daß die Organe, deren die Beamten höheren Orts sich bedienen, auf den Charakter eines Gentleman in der Regel keinen Anspruch haben, gestehe ich Ihnen ganz offen ein. Wir bezahlen sie, und dafür leihen sie uns ihre Dienste. MAX verächtlich lächelnd'. Ich verstehe nicht, was man höheren Orts in Wien sich dabei denkt, wenn man an diese „bezahlten Werkzeuge der Beobachtung" schreibt: „Wir sind unzufrieden; Ihre Berichte sind nichtssagend; wir müssen mehr haben." Der Agent, der trotz größter Mühe nicht „mehr" berichten kann, wird entweder „mehr" erfinden oder dieses „mehr" selber anstiften, will er nicht entlassen werden. Selbst das „höheren Ortes" bona fide gestellte Verlangen nach „mehr" macht aus dem Spitzel den Lockspitzel! 122

KALTENBORN:

Meine Agenten müssen alle vor Antritt ihrer Stellung schriftlich sich verpflichten, die gesetzliche Linie nicht zu überschreiten. MAX:

In Not geratene Menschen unterschreiben meist alles, was der Wucherer von ihnen verlangt, sofern er ihnen das rettende Geld gibt. — Arme Teufel, die durch Hunger und Elend mürbe gemacht, zu Judasdiensten sich dingen lassen — glauben Sie, die werden erst moralische Bedenken erheben bei leerem Magen? Sie streichen die 30 Silberlinge ein und wissen meist nicht, was sie unterschrieben haben. — Eine Staats- und Gesellschaftsordnung, die auf solchen Stützen ruht, ist wert, daß sie . . . Durch eine Bewegung Kaltenborns stürzen mehrere Flaschen etc. um und fallen mit Gepolter vom Tisch auf den Boden. Verächtlich: Lassen Sie fallen! KALTENBORN trotz der Trunkenheit affektierend:

eine gewisse

Würde

Die hohe Obrigkeit ist leider in die traurige Notwendigkeit versetzt, sich dieser unlauteren Elemente zu bedienen. Ich habe als höherer Polizeibeamter die Pflicht, alles zu tun, um die Ruhe und Ordnung innerhalb des mir anvertrauten Bezirks sicherzustellen, und kann deshalb auf das Recht, mich auch ungewohnter Mittel zu bedienen, unter keinen Umständen verzichten. MAX:

Ohne dieses Spitzelsystem würde also die heutige Ordnung umstürzen? KALTENBORN:

Denken Sie sich eine Verwaltung ohne dieses, wie ich anerkenne, äußerst unerfreuliche Mittel, so bitte ich Sie, sich weiter die Frage vorzulegen, ob die öffentliche Sicherheit auch auf politischem Gebiet noch 24 Stunden

123

aufrecht erhalten werden kann, wenn man solche Mittel nicht sollte gebrauchen dürfen. MAX:

Also die eigentlichen Grundpfeiler der heutigen Gesellschaftsordnung, das sind die Spitzel! KALTENBORN:

Wenn Sie's absolut so nennen wollen — aber es gibt noch andere Stützen des Staats. MAX:

Freilich! Die Lotterien! — Dann die Prostituierten! — Jene ungezählten Millionen bejammernswerter Frauen und Mädchen, die mit oder ohne staatlichen Stempel ihren Leib, ihre weibliche Ehre verkaufen, genau wie die Spitzel ihre männliche Ehre, ihr Gewissen sich bezahlen lassen. Oder glauben Sie, daß diese herrliche „Ordnung" auch nur 24 Stunden bestehen könnte ohne die Prostitution? KALTENBORN:

Aber lieber Freund, werden Sie nicht ungemütlich! So lange wir beide leben, wird ja der „Große Kladderadatsch" nicht kommen! Und wir werden immer zu essen, zu trinken und zu lieben haben. Prosit! Er trällert: „Freut Euch des Lebens, weil noch das Lämpchen glüht, Pflücket die Rose, eh' sie verblüht!" MAX hat nicht angestoßen, steht auf und drückt auf den Knopf rechts; finster: Aber die da unten — die breiten Massen des Volkes, die da hungern und dursten, frieren und - was das Schlimmste ist! — nicht reden dürfen?! Wie steht es mit denen? KALTENBORN:

Die Arbeiter? Die überlassen Sie meinem Herrn, der wird schon mit ihnen fertig werden. 124

MAX:

Der Minister? Weiß er denn sicher, daß er morgen noch Minister ist? Daß nicht vielleicht schon in diesem Augenblick an seine Tür der Kurier mit der Entlassung anklopft? Es klopft. Herein!

Vierter

Auftritt

Max und Kaltenborn, Viktor, eine Zigarre rauchend, Toni, nimmt aus der Kommode rechts Stickereien und ein Kissen. V I K T O R ZU

Max:

Wir wollen Robert das Meerschweinchen im Garten vorführen. MAX:

Damit es uns wegläuft? I bewahre. Er soll mit meiner Frau heraufkommen. Viktor durch die Mitte ab. Zu Kaltenborn: Das ist was für Sie, Herr Postdirektor! Kommen Sie! Sehen Sie sich das Meerschwein mal an. KALTENBORN

hat nur Augen für

Toni:

Nicht mein Fall! MAX schließt die Tür hinten rechts auf und blickt hinein: Solch Prachtexemplar haben Sie noch nicht gesehen! Kommen Sie! Er geht hinein. winkt Max hineinzugehen, während er zu Toni geht und die Stickereien bewundert:

KALTENBORN

Ein Staatsmädel! Äh! Liebes Kind, für wen ist denn dies? — Hübsch! Hm! TONI:

Für meinen Bräutigam! 125

KALTENBORN bitter:

So jung noch und schon so verlobt! - Lieben Sie diesen Schmit wirklich? TONI sich vergessend, aber schnell verbessernd: Wen?! Schmit? - Ach so! Natürlich! KALTENBORN:

Wissen Sie, daß er Frau und Kinder hat? TONI:

Eben deshalb habe ich mich verlobt! — Das begreifen Sie nicht? Sie zuckt die Achseln. Ich eigentlich auch nicht. Aber sehen Sie, er bekommt heute 1000 Fl. und da muß man denn immer jeden gleich heiraten, mit dem man sich verlobt? Oder den man liebt? KALTENBORN anfangs starr, dann lebhaft: Nei-n! — I Gott bewahre! - Keineswegs! Sie brauchen ihn nicht mal zu lieben! Denn wenn er die 1000 Fl. nicht bekommt — TONI lachend:

Dann haben wir mal gespaßt. KALTENBORN:

Famos! Ich spaße auch für mein Leben gern! - Was ist denn das? TONI :

Ein Schlummerkissen. KALTENBORN:

Eigentlich ein bißchen klein für zwei — he? Und was steht da? 126

TONI liest die auf das Kissen gestickten Worte: ,Nur ein Viertelstündchen!' KALTENBORN wiederholt langsam die Worte, Tom mit den Augen fixierend: ,Nur — ein — Viertel — Stündchen!' H m - das ist ja reizend! — Sagen Sie, schönes Kind, sind in der Schweiz alle Mädel so — entgegenkommend, so offen und frei? TONI:

.Auf den Bergen wohnt die Freiheit.' KALTENBORN:

Da schwärmen Sie wohl auch für die freie Liebe? TONI:

Natürlich! KALTENBORN

zudringlich:

Was kostet denn so ein Viertelstündchen? He? Er zieht seine Börse. Bei Ihren natürlichen Anlagen, Ihrer Jugend und Schönheit sollten Sie sich eigentlich einem solideren älteren Herrn anschließen und sich ausbilden lassen. TONI:

Z u m Beispiel von — sie zeigt auf ihn und seine Platte, lachend: Was Sie sich einbilden! Ich sollte am hellen Tage mit dem Mondschein ausgehen? KALTENBORN:

Liebes Kind! Dem Gelde wird nicht das Alter des Gebers aufgeprägt. Er steckt ihr ein Goldstück hinter den Halskragen. Nun kommen Sie, Maus, und zeigen Sie mir mein Zimmer. TONI hat das Goldstück hervorgezogen, blickt auf dasselbe mit Entrüstung und Verachtung: Was soll das? D a s bieten Sie mir an?!

127

KALTENBORN abermals seine Börse ziehend: Aber, Kind, ich kenne ja den Schweizer Tarif nicht. Es kommt mir auf ein paar Goldfüchse nicht an! Er legt ihr noch zwei Goldstücke auf den Tisch. So! — Nur ein Viertelstündchen. Er versucht sie zu küssen. Gleichzeitig erscheinen in der Mitteltür Viktor, Bertha und Robert. TONI

aufschreiend:

A h ! Das ist infam! Sie schlägt ihm eine Ohrfeige und wirft ihm das Geld ms Gesicht. Wie können Sie wagen, Sie gemeiner —

Fünfter

Auftritt

Kaltenborn, Tom, Viktor, Bertha, Robert. Max, aus der Tür hinten rechts, die er wieder verschließt. ROBERT:

Was gibt es hier? TONI :

Für 30 Gulden eine Ohrfeige! ROBERT :

Bloß eine? Er gibt ihm eine zweite auf die andere Backe, dabei stürzt Kaltenborn ein paar Stühle um und wirft das Gesetzbuch zur Erde. Damit diese „Stütze des Staates" nicht schief werde! MAX hebt lachend das Umgeworfene auf: Aber Herr Inspektor, das ist ja der reine Umsturz! Und das Strafgesetzbuch treten Sie mit Füßen? VIKTOR:

Wie kannst du aber auch so grob an dieser Säule für Sitte und Ordnung rütteln! 128

KALTENBORN:

Ihnen rate ich, treiben Sie die Sache nicht auf die oberste Spitze! VIKTOR:

Warum nicht, Herr Oberspitzel? KALTENBORN:

Ich kann Sie sofort wegen Erpressung verhaften lassen! Allgemeines Gelächter. MAX ZU Viktor, auf das Edelweiß zeigend• Er hält dich für Schmit! - Nein, Herr Polizei-Inspektor, Tonis Verlobter steht da! Auf Robert weisend. KALTENBORN

aufbrausend zu Robert:

Sie haben sich an der Person Ihres Vorgesetzten tätlich vergriffen! Sofort folgen Sie mir! Sie sind mein Arrestant ! Wiederholtes Gelächter. MAX:

Machen Sie sich doch nicht zu lächerlich! — Bedenken Sie, Sie stehen auf Schweizer Boden, vor einem Schweizer Bürger - das bin ich jetzt! - , der Ihnen als Ausländer wegen Verleitung zum Diebstahl sofort den Prozeß machen lassen kann! Denn Sie wissen doch, daß Sie mich in Ihren Briefen wiederholt aufgefordert haben, Schriftstücke und Adressen zu stehlen? KALTENBORN:

Das bestreite ich ganz energisch! MAX:

Auch vor Gericht als Zeuge? KALTENBORN:

Wodurch wollen Sie das beweisen? 11

Klatt, Scaevola

129

MAX:

Durch Ihre eigenhändigen Briefe! KALTENBORN:

Die haben Sie mir sämtlich zurückgeschickt. MAX:

Nachdem ich sie sämtlich photographiert hatte. KALTENBORN stotternd:

Pho-toMAX scharf: -gra-phiert! Ebenso wie Ihre soeben gehaltenen Reden über das Spitzelwesen Wort für Wort dort phonographiert sind! Er zeigt Kaltenborn den Phonographen. Ja mein Heber Herr Polizeirat, Sie glauben doch nicht, daß die Arbeiter von — Leuten Ihres Schlages sich überrumpeln lassen? KALTENBORN

fassungslos:

Herr From, welchen Preis verlangen Sie für die Briefe? MAX:

Alle Ihre Briefe an mich und an Schmit — denn die besitzen wir auch, wie Sie sehen Er zeigt ihm die Rolle aus dem Bambusstock — sind Parteieigentum! Und die Partei wird sie wahrscheinlich dem Parlament unterbreiten. KALTENBORN sinkt wie vom Schlage getroffen auf einen Stuhl: Machen Sie mich nicht unglücklich! Denken Sie an meine Frau und Kinder! Ich komme ja aus Amt und Würden! MAX:

Das letztere ist nicht möglich! 130

R O B E R T stülpt

ihm

den Hut

auf".

Setzen Sie sich Ihren Hut auf und verschwinden Sie! K A L T E N B O R N ZU

Max:

Verschaffen Sie wenigstens dem Gastrecht Respekt! MAX zornig: Respektieren Sie das Asylrecht? ROBERT:

Respektieren Sie die Familie? MAX:

Wie können Sie meine Tochter so beleidigen! KALTENBORN:

Ihre Tochter? ROBERT:

Wie können Sie meiner Braut solchen Antrag machen! KALTENBORN ZU Robert bittend: Herr Schmit, ich . . . ROBERT

drohend:

Herr Schmit! ? Wenn Sie mich noch einmal Herr Schmit nennen, dann passen Sie auf, was geschieht! Ich bin ein ehrlicher Arbeiter und kein Spitzel! Aber ein Spitzel war es, der mich auf drei Jahre in den Kerker gebracht hat! — Sagen Sie, Sie verkehren ja mit diesem Lumpengesindel — kennen Sie einen gewissen Emil Speck? — Ich bin Robert Rassow! KALTENBORN blickt mit Verwunderung bald Max, bald Robert an: Sie — sind — 11*

131

MAX gibt Kaltenborn ein Zeichen, daß er schweigen soll; zu Robert: Er glaubt nicht, daß du der Unglückliche bist. Du mußt ihm deine Leidensgeschichte erzählen; das soll seine Strafe sein! Alle setzen sich links, außer Toni, die den Arm auf Roberts Schulter gelehnt, neben ihm stehen bleibt. Vielleicht kommen wir mit seiner Hilfe auf die Spur von Speck. Möglicherweise hält er sich in der Schweiz auf, ja vielleicht ist er hier — ja hiei in Zürich. Das kann doch sein! TONI

ängstlich besorgt:

Lieber Robert, wenn Speck plötzlich vor dir stände — ROBERT

blickt leuchtend zu ihr auf:

Solltet ihr schon eine Spur haben — TONI:

Versteh mich recht — ich meine, wenn er dir ganz unerwartet vor die Augen käme — und ist er hier in Zürich, so wäre das doch wahrscheinlich, ja sicher, nicht wahr? — würde sein plötzlicher Anblick dich nicht zu sehr aufregen, ich meine, daß es deiner Gesundheit schadete? ROBERT

strahlend:

So hoch würde ich springen! Toni! Toni! 1 Wenn das möglich wäre! Der Augenblick, den ich drei Jahre lang täglich mit pochendem Herzen herbeigesehnt, der Augenblick, wo ich Aug in Aug leibhaftig den Menschen vor mir habe, — gesund würde mich's machen! Er sieht nicht, wie Toni heimlich Viktor zuwinkt, Speck vorzuführen. VIKTOR

schließt leise die Tür hinten rechts auf und geht

hinein. MAX:

Und Du könntest ihm seine Schandtaten beweisen? — Wodurch? 132

ROBERT:

Durch sein Geständnis! Sich aufrichtend. Jetzt, wo ich frei bin, wo ich ihn bei der kleinsten Lüge packen kann, da wagt er nicht, mir ins Gesicht zu leugnen! 0 hätt' ich ihn . . .

Sechster Auftritt Kaltenborn, Schmit.

Toni,

Max,

Robert, Bertha.

Viktor

mit

ROBERT:

Das, was mich hier in der Brust so bedrückt, bedrängt und beengt — lösen würde sich's! Frei auf einmal würde ich aufatmen, aufjauchzen, laut, so laut, daß meine tote Mutter im Grabe erwacht: Mutter! Ich hab' ihn, hab' deinen Mörder! SCHMIT fährt schaudernd zusammen und wird von Viktor am Handgelenk festgehalten. Während der folgenden Erzählung, die er mit Ausdrücken von Angst und Schrecken mit anhört, sucht er Deckung hinter Viktor und den Kleidern der Frauen.

MAX:

Du sollst ihn haben! ROBERT :

0 wenn ich ihn mit meinen Fäusten fassen könnte — ich würd' ihn . . . Bewegung des Zerreißens. Ihr starrt mich so entsetzt an? Ihr wißt ja nicht, wie unmenschlich er an meiner armen Mutter gehandelt! BERTHA

schenkt Robert und den andern Wein ein:

Robert, mein Junge, trink erst und dann erzähle. 133

ROBERT Tonis Hand ergreifend: Eines Morgens vor drei Jahren - in acht Tagen sollte unsere Hochzeit sein — da kam dieser Speck in höchster Aufregung zu mir: Robert, von dir hängt das Schicksal so manches braven Familienvaters ab. Durch einen Zufall hör' ich eben, es sollen in diesen Städten — dabei zeigt er mir einen Zettel — unsere Vertrauensmänner behaussucht und verhaftet werden. Gib mir die Adressen! Durch dringende Depeschen kann ich sie noch retten. Ich antworte: Nenne mir die Städte, ich telegraphiere selber. Zuerst stutzt er, dann gibt er mir lächelnd den Zettel und geht. Er ging und — verriet mich. MAX:

Er wollte also nur wissen, ob du die Vertrauensmännerlisten in deiner Wohnung hattest? ROBERT:

Nichts weiter! Fünf Minuten vergehen — ich hatte kaum den Fuß des Bettes wieder eingedreht und meine Mutter wieder hineingelegt, — da klopft's. Ich verbrenne den Zettel und öffne. Drei „Geheime", Haussuchung, Verhaftungsbefehl! Die Tapeten werden abgerissen, die Möbel erbrochen, die Gipsbüsten von Marx und Lassalle zertrümmert. — Man tobt, man flucht, man — findet nichts. „Aber es muß hier sein!" Die Polizisten stecken ihre Köpfe zusammen, und der Kommissar schickt den einen weg, der andere muß mich in die Küche einschließen. Ich protestiere, doch auf Bitten meiner Mutter füg' ich mich. Ich bleibe dicht hinter der Tür stehen - ich kann nichts sehen, die Tür hat Milchscheiben; aber jedes Geräusch, jedes Wort höre ich. Eine Weile ist alles ruhig. Da kommen zwei Personen die Treppe herauf, leise flüsternd; doch aus dem Gezischel der einen Stimme höre ich die Schlange Speck. VIKTOR:

Ist es möglich, daß es solchen Schurken gibt? Er packt Schmit fester.

134

ROBERT:

Plötzlich höre ich, daß das Bett gerückt wird. — Ein herzzerschneidender Hilfeschrei meiner Mutter! „Robert!!" Rasend vor Wut stürze ich gegen die Tür, krachend birst sie auseinander, die klirrenden Glasscheiben reißen mir Gesicht und Hals blutig, halb presse ich mich durch, da werde ich zurückgeschlagen. Doch ich hatte Gräßliches gesehen: Meine arme Mutter auf dem Boden wimmernd . . . Die Erinnerung übermannt ihn, er kann vor Wut nicht weiter sprechen. TONI:

Mein Heber Robert! BERTHA:

Armer Junge! ROBERT:

Und diese Bestie reißt ihr den Bettfuß, den sie mit ihren dürren Fingern krampfhaft umklammert hält, aus der Hand und schlägt ihr damit über den . . . Er umfaßt mit beiden Händen seinen Kopf und schließt schmerzvoll die Augen. Plötzlich springt er auf, die Frauen weichen zur Seite, so daß Schmit nur hinter Viktor sich decken kann. Da packt mich wahnsinnige Wut und gibt mir übermenschliche Kraft. Schäumend vor Zorn schleudere ich mit einem Ruck beide zu Boden, werfe mich auf die Be- Er erblickt Schmit. Bestie! Du bist es! Er packt ihn. Ich hab' dich? SCHMIT

auf dem Boden knieend :

Gnade! Robert, Gnade! Töte mich nicht! ROBERT

rüttelt ihn:

Warum hast du meine Mutter erschlagen! SCHMIT

spricht fieberhaft schnell:

Ich will alles wieder gut machen! 135

ROBERT:

Schweig, Elender! SCHMIT zitternd: Ich will höheren Orts ein gutes Wort für dich einlegen; will meinen ganzen Einfluß aufbieten — ROBERT:

Schweig, Schurke! SCHMIT:

Ich werde deine Begnadigung erwirken. ROBERT:

Ist er verrückt? — Ich glaube, er spielt den Irrsinnigen! Oh! Ich werde dir Vernunft . . . Max und Viktor trennen sie. TONI umarmend: Robert, mir zu lieb: Laß ihn! BERTHA :

Ins Zuchthaus mit ihm! TONI:

Mach dich nicht schmutzig! Laß ihn! SCHMIT:

Gnade! ROBERT läßt Schmit plötzlich los, von einem Gedanken erfaßt, mit unheimlicher Ruhe'. Geht! Geht alle! Laßt mich mit ihm allein. Was ich mit ihm abzumachen habe, braucht keine Zeugen! SCHMIT schreit auf, in Todesangst: Bleibt! Bleibt! Habt Erbarmen! 136

ROBERT

lustig'.

Holla! Bursche! Warum hast du solche Angst? Ich will dir unter vier Augen erzählen, wie ich mich in den drei Jahren amüsiert habe! Er lacht grimmig auf. Finster: Aber nur dir! — Mutterseelenallein! SCHMIT

fährt schaudernd zusammen:

Bleibt! Um Gottes willen! Bleibt! MAX:

Still! - Hört! Er tritt ans Fenster und zeigt hinaus. Von fernher schweben leise abgerissene Klänge des „Proletarierliedes" herein nach der Melodie: „Zu Mantua in Banden". — Gesangverein hinter der Bühne. — Max fällt, mit den Armen den Takt wiegend, mit den andern nach und nach leise in den Gesang ein: „Das sind — die Arbeitsmänner — das Pro-leta-riat!" Der Gesang verstummt zeitweise und tritt nach den einzelnen Pausen stärker auf. BERTHA :

Das sind die Züricher Genossen vom Verein „Veritas". S C H M I T wird von Viktor durch die Tür rechts hinten abgeführt und allein eingeschlossen. KALTENBORN

unruhig, nimmt seinen Hut und tritt zu

Max, bittend'. Herr From, geben Sie mir meine Briefe, oder ich schieße mir eine Kugel durch den Kopf. MAX:

Schade um die Kugel. KALTENBORN

in Verzweiflung'.

Oh! Ich verliere den Verstand! ROBERT :

Renommieren Sie doch nicht! 137

TONI :

Man kann nur verlieren, was man hat. BERTHA

am Fenster'.

Si e kommen! Sie stellt einige Stühle ans Fenster, auf die die Anwesenden steigen, indem, sie hinausrufen und mit de n Tüchern wehen. TONI:

Da ist Reinhard mit Ernst! Ach! Und dahinter — die Massen! MAX:

Ernst! Spitzel sitzt in der Falle! Wir haben den Speck! BERTHA:

In die Räucherkammer mit ihm! VIKTOR:

Gelyncht muß er werden! ROBERT:

Spießruten soll er laufen! MAX wie oben zu Anfang des Gesanges: Ruhe! Man hört Melodie und Text deutlicher und fällt kräftig ein: „Wer treibt allein das Weltenrad Und hat dafür kein Recht im Staat? Das sind die Arbeitsmänner, das Proletariat!" Plötzlich dringt mitten in den Refrain zweimal hintereinander, als käme es aus dem Souterrain, ein klägliches Hilfegeschrei herauf. ROBERT :

Das ist Specks Stimme! 138

MAX:

Der Spitzel wird doch nicht aus dem Fenster gestürzt sein . . . sich das Genick brechen? Er schließt die Tür auf und geht schnell hinein. Siebenter

Auftritt

Kaltenborn, Toni, Robert, Bertha, Reinhard. — Bald darauf Max.

Viktor. — Ernst,

stürzt herein, schwingt eine Depesche, atemlos, die Worte einzeln hervorstoßend:

ERNST

Genossen! —Telegramm — aus der Hauptstadt. — Eine eklatante Genugtuung! — Die stolzeste Stütze — des österreichischen Polizeistaates — der Polizei-Minister — ist soeben — Ihm vergeht der Atem. MAX schnell eintretend: Gestürzt! ERNST

fortfahrend:

Gestürzt! Allgemeine freudige Sensation. ALLE

durcheinander:

Der Spitzelvater! - Der allgemeine Ehrenretter! KALTENBORN hat sich bis zu Ernst durchgedrängt, ergreift die Depesche, blickt hinein, schwankt fassungslos zurück und sucht seinen Hut:

Gestürzt! REINHARD :

Aber so lies doch weiter! Er nimmt die Depesche und tut, als ob er ablese, indem er höhnend weiterspricht: Gestürzt! — Zu seinem Nachfolger ist der Herr PolizeiInspektor Franz Kaltenborn aus Bregenz ernannt! 139

A L L E ZU

Kaltenborn, der hinauseilt:

Exzellenz! Wir gratulieren! - Grüßen Sie Ihre Kollegen! — Alle die herrlichen Stützen des Staates! — Alle Nichtgentlemen! — Alle die Kämpfer gegen den Umsturz! REINHARD :

Doch die Sieger — das sind wir! ALLE:

Doch die Sieger — das sind wir! GESANGVEREIN

hinter der Bühne,

brausend:

„Das sind die Arbeitsmänner, das Proletariat!" Der Vorhang fällt. Ende

Zwölf Jahre der Verbannung oder Des Ausgewiesenen Heimkehr Episch-dramatische Dichtung in zwölf lebenden Bildern Die scheitern schön, die scheiternd Welten suchen. G. E . Lessing.

W i n k e für die A u f f ü h r u n g Wer die nachstehende Dichtung aufführen, d. h. von einem Deklamator sprechen und die 12 lebenden Bilder dazu stellen lassen will, muß hierzu 250 Textbücher zum Preise von Mk. 22,50 und die 12 Illustrationen für Mk. 2,50 von dem unterzeichneten Verlag beziehen. Weitere Kosten verursacht die Aufführung nicht. Im Besitz der 12 Illustrationen ist es jedem Verein leicht gemacht, die 12 lebenden Bilder danach in wirkungsvoller, packender Weise zu stellen; ebenso hat es sich als notwendig herausgestellt, daß die Zuschauer schon bei Beginn der Aufführung im Besitz eines für 10 Pf. käuflichen Textbuches sind, damit sie während der Aufführung nachlesen und alles richtig verstehen können. Zur Aufführung sind unbedingt mindestens die folgenden Personen nötig:

1. Der Vater 2. Die Mutter

}

können außer im 1. und 2. Bilde mit Hilfe der Kunst des Friseurs auch bis zum Schluß als dieselbe Person mitwirken.

müssen im 1. und 2. Bilde durch Tochter kleine Kinder, dagegen vom 3. älteste Sohn Bilde bis zum Schluß durch Erzweite Sohn wachsene (12 Jahre älter) darjüngste Sohn gestellt werden. 7. Der Bräutigam der Tochter. 8. Schutzmann. 9. Zweiter Schutzmann. 10. Erster Schiffer.

3. 4. 5. 6.

Die Der Der Der

141

11. Zweiter Schiffer. 12. Ein Proletarier in Ketten. 13. Eine Dame als Themis. Ferner noch, weil Bluthunde und Depeschenfälscher nicht in die obige Gesellschaft passen, für die beiden ebenfalls darzustellenden Standbilder in Gips zwei Exemplare des Reichshundes Tyras, am besten mit schwarzer Kohle auf weiße Pappe gemalt, schließlich ebenfalls in zwei Exemplaren der Blutmensch Bismarck mit zwei Gesichtslarven. In Berlin ist die Dichtung bis jetzt unverkürzt, das heißt mit den eingeklammerten Stellen (die in Klammern eingeschlossenen Stellen können bei der Aufführung beliebig fortgelassen werden) aufgeführt worden. Es leuchten drei rote Wolken am Himmel in purpurner Glut, Wie aus drei offnen Wunden fließt rotes Menschenblut; Es fließt vom Himmel zur Erde, wie Tränen fließt's herab Von Witwen und von Waisen und tränkt der Väter Grab, Und bildet Bäche, Ströme, von Düppel — Alsen - bis Sadowa — Königgrätz — bis Sedan — bis nach Paris — Ein blutend' Meer von Tränen, ein weinend' Meer von Blut, Das dampfend raucht zum Himmel in dunkelroter Glut. Es sitzt im Sachsenlande der Zar von Friedrichsruh Und schaut den blutenden Wolken, den weinenden Waisen zu. [Da horch! Aus dunklen Bäumen schlägt eines Vogels Schall, So singt nicht die jubelnde Lerche, so klagt die Nachtigall, Und ihre Totenlieder ergreifen aller Herz, Nur eines Menschen Herz nicht! — Der Mann von Blut und Erz, Der Mensch von Blut und Eisen allein bleibt unbewegt. Ihm schlägt nicht das Gewissen, im Leib kein Herz ihm schlägt, Und nahn ihm die Erschlagnen gespensterhaft und hohl, Greift seine zitternde Hand nach betäubendem Alkohol.] Er fürchtet nicht die Toten, der Toten Heer, es schweigt. Doch vor der Morgenröte, die aus dem Blute steigt, Da fühlt er Angst und Schrecken, er fühlt: sie ist sein Tod; 142

Drum gibt er die Parole: Tod allem Morgenrot! [Er nimmt, um zu begründen fest sein Hausmeiertum, Selbst einem blinden König sein Gottesgnadentum; Er stürzt ihn von dem Throne, wohin sein Gott ihn setzt', Er ist es, der die eignen Gesetze selbst verletzt; Er kauft aus des Gesalbten ererbtem Geld und Gut Die öffentliche Meinung und seiner Spitzel Brut;] Er läßt mit schwarzer Tinte bespritzen das Morgenrot — Umsonst! Er fühlt sein Ende! Das Morgenrot bleibt rot. Er kann sich nicht mehr halten — der Boden unter ihm Wanket — er ruft um Hilfe Teufel und Cherubim. Da horch! Da knallt des Irrsinns Revolver durch die Luft; Der Blutmensch lacht: Das ist ja der Morgenröte Gruft! Er ruft: „Maßregeln gegen das sündge Morgenrot!" Umsonst! Ihn läßt der Reichstag im Stich in seiner Not. Da horch: Zwei Flintenschüsse — und blutig wird das Schrot; Der Blutmensch lacht: Jetzt ist es der Morgenröte Tod. Das widerspenstge Echo lockt er mit mächtgem Schall, Da gibt der Reichstag Antwort: J a ! sagt der Widerhall. Da läßt er los die Meute, der Spitzel lockende Brut, Sie sollen in Stücke zerreißen der Morgenröte Glut. Es steht in Gips gegossen der kettenrasselnde Held, Schweifwedelnd so mancher Tyras zahnfletschend bravo bellt. Mag doch das Volk der Roten, Mann, Weib und Kind vergehn. Die Töchter Dirnen werden, die Söhne Schildwach stehn! Ich werd' nicht eher ruhen, bis es am Boden liegt; Ich schlug drei blutge Kriege, hab' überall gesiegt, Auch diesmal werd' ich siegen, ich brauche nur drei Jahr' Dann liegt zu meinen Füßen der Riese Proletar! Der Blutmensch hat's gesprochen — den Worten folgt die Tat: In hageldichten Schlägen das Ungewitter naht, Und Blitz und Donner schleudern zurück, was sich erhebt, Des Volkes Söhne erzittern, der Arbeit Volk erbebt, Die Edelsten und Besten wirft grausam man hinaus. 143

Aus ihrem Heimatlande, aus ihrem eignen Haus. Es leuchten die Weihnachtskerzen, es strahlt der Weihnachtsbaum. Da tritt das behelmte Verhängnis hinein in den friedlichen Raum.

1. Büd Es leuchten drei rote Laternen am letzten Wagen des Zugs, Der aus dem Land will bringen den Vater eiligen Flugs. [Ein Vater — ausgewiesen, geächtet und verbannt, Von Weib und Kind gerissen — verläßt sein Vaterland! — Was war denn dein Verbrechen, du ausgestoßner Mann? War's Diebstahl, war es Meineid, war's Raub, war's Mord, sag an! Verbrechen? — Weil ich folgte der Bahn, der kühnen, frei, An deren Ziel das Elend, des Volkes Not vorbei; Weil ich aus Überzeugung, mit redlich reinem Sinn — Weil ich mit Leib und Seele ein Sohn des Volkes bin! Drum hat man mich geächtet, drum hat man mich verbannt, Drum hat man ausgewiesen mich aus dem Vaterland; Drum bleiben meine Kinder, mein Weib in Not zurück, Drum will man mir zerbrechen mein ganzes Lebensglück! - ] Die Sprache hat nicht Worte, nicht Töne hat das Lied, Als er zum letzten Male durchs Wagenfenster sieht — Als seiner suchenden Augen Scharfblick den Dampf durchdringt: Da stehen seine Lieben zum letzten Mal er winkt: „Lebt wohl!" - „Leb wohl!" erwidert zum letzten Mal sein Weib, Ihr beben die zitternden Glieder, ihr zittert der bebende Leib. Dann sinkt ins Knie sie nieder und ringt die Hände rot, Drei kleine Knaben schreien in ihrer Herzensnot: „Wann kommt der Vater wieder? Wo fährt er hin? Wie weit?" „Zur Weihnacht kommt er wieder, zur schönen Weihnachtszeit!" 144

So tröstet mit süßer Lüge die Brüder das Schwesterlein, Wie eine Maienblume, so hold, so schön, so rein — Sie zählt erst sechzehn Lenze, und doch schon faßt ihr Herz Der Mutter ganzen Jammer, des Vaters ganzen Schmerz. Sie weint so herzzerreißend, daß alles schluchzt ringsum, Nur die Genossen stehen so trutzig und so stumm; In ihren Augen funkelt nicht das geringste Naß, Nur dunkelrote Funken von glühend heißem Haß. Vor Schmerz die Brust will brechen, sie kann vor Grimm nur nicht, Des Grimms erschütterndes Lachen aus blutender Brust nur bricht, Sie haben keine Träne, sie haben keinen Sch'rei, Sie pfeifen wie die Vögel — sie sind ja vogelfrei: Als Menschen zweiter Klasse, als flüchtig Rotwild jetzt, Von Spitzeln erster Klasse verfolgt, zu Tod gehetzt! Doch trotz der Hetzjagd stehn sie — kein Rücken beugt sich krumm, Steifnackige Genossen, so trutzig und so stumm! Sie ringen nicht die Hände, sie ballen nur die Faust, Als mit dem Kampfgenossen der Zug zur Abfahrt braust; Sie dürfen ja nicht reden — der Spitzel stellt sein Netz, Sie können nur lachen und pfeifen — sie pfeifen aufs Gesetz. Doch hört solch Lachen und Pfeifen von einem einzgen Mann Sich grausger, fürchterlicher, als all der Jammer an. [Wenn Menschen müssen schweigen, da werden Steine schrein. Doch wenn auch Steine schweigen, da muß das Eisen schrein! Die eiserne Maschine hat selber Mitgefühl, Sie fühlt den Schmerz der Massen, das Schluchzen im Gewühl; Sie schleudert rauchende Wolken rotglühend himmelwärts, Sie hat von Stein kein Herze, ein fühlend Herz von Erz — Das ist so voll zum Springen, doch muß sie, erzumreift, Den zornigen Dampf bezwingen, sie kreischt nur auf, sie pfeift! 12

Klatt, Scaevola

145

Sie pfeift so ohrenzerreißend, als pfiff sie aufs Gesetz, Sie fühlt, sie steht ja selbst auf geflicktem Schienennetz. Sie stampft in sprühendem Zorne, sie pfeift in glühender Qual, Als könnt' der Kessel platzen vom pfeifenden Signal. Denn woselbst Steine schweigen, da spricht das tönende Erz, Nur glühendes Eisen gleichet dem brennenden Trennungsschmerz.] Die Sprache hat nicht Worte, nicht Töne hat das Lied, Den Jammer zu beschreiben, als er von dannen zieht.

2. Bild Es leuchten drei glühende Worte dem ausgestoßnen Mann Wohl über dem schweigenden Weltmeer, dem stillen Ozean, [Sie leuchten ihm im Urwald, sie leuchten ihm im Schacht Der glitzernden Silberminen, in Paradiesesnacht, Sie rollen in seinen Adern, sie fluten ihm durchs Herz, Sie helfen mildern, lindern den brennenden Trennungsschmerz :] Die Freiheit und die Gleichheit, die heiige Bruderlieb' — Dies Dreigestirn ihm jenseits des großen Wassers blieb. — So flössen Jahre, Jahre — so floß das zwölfte fast Vorüber bei harter Arbeit, bei wenig Ruh und Rast; Und immer die Empfindung: Von Weib und Kind getrennt — Das kann kein Mensch beschreiben, wie das im Herzen brennt! Die Sprache hat nicht Worte, nicht Töne hat das Lied, Die Trennungszeit zu schildern, die er die Heimat mied. Oft eilt er heim im Traume, wo die Verlassnen sind, Und weinet still im Traume und küsset Weib und Kind. [Die Kinder! — Der Gedanke ihm keine Ruhe gönnt, Wenn er im Traume eilt heimwärts — ach, wenn er fliegen könnt'! Die Kinder! — Wird erkennen ihn seine eigne Brut? Wird wieder er erkennen sein eigen Fleisch und Blut, 146

Wenn er dereinst die Heimat, nach der sein Herz ihn zieht, Wenn ihn die heißgeliebten — wenn er sie wiedersieht? Dereinst?! — Ach, damals waren die Knaben noch so klein, Doch sie, die einzge Tochter, damals im Lenzesschein, Wie eine Maienblume, so hold, so schön, so rein — Sie wird ihn doch erkennen? — Wo mag sie jetzt wohl sein? —] Ihn schaudert, wenn er denket, daß Schand' der Tochter droht, Wenn er sein Weib im Traume in Elend sieht und Not. Erschließt die müden Augen und träumt sich still zurück In seines Lebens Frühling, in seiner Liebe Glück: Wie er zum ersten Male in der Fabrik sie sah — Wie sie auf seine Werbung errötend sagte Ja Wie er dann überglücklich in seine Heimat fuhr Und bei der Rückkehr dann das Empörendste erfuhr: Daß der Fabrikherr selber Gewalt ihr angetan — Wie er vor Wut fast rasend zu ihm sich schaffte Bahn, Wie er die schwere Türe schlug mit den Fäusten ein, Und schlug dann dem Verführer die Knochen kurz und klein, Wie er für diesen Ausbruch gerechten Zornes noch Zwei Jahre mußte sitzen im dumpfen Kerkerloch, Wie Themis dann den Schurken, der seine Braut entehrt, Freisprach von jeder Strafe, weil alles sei verjährt — Wie sie am Tag der Freiheit vor seinem Kerker stand Und unter heißen Tränen ihm reichte ihre Hand, Wie sie dann glücklich wurden — die Bilder zogen ihm Mit ihren Schmerzen, Freuden im Traum durch seinen Sinn. — So flössen Jahre, Jahre — so ging das zwölfte Jahr, Und noch bot keine Hoffnung sich ihm zur Rückkehr dar. Und doch hofft auf den Sieg er in dem Befreiungskrieg, Ihn hält die Hoffnung aufrecht auf der Genossen Sieg. Und jeden Abend schlummert er mit den Worten ein: „Seid einig, einig, einig! Der Sieg muß unser sein!" Und jede Nacht im Traume — da eilt er leis und sacht Wohl über das schweigende Weltmeer — im Traume jede Nacht! Dann eilt er zu den Seinen — er eilt vier Stock hinauf, Da hockt sein Weib im Lehnstuhl, die Söhne springen auf. 12'

147

3.

Büd

Sie fliegen um den Hals ihm, er herzt und küßt sein Weib Und streichelt zärtlich leise den abgezehrten Leib; Auf ihren hohlen Wangen flammt auf die Frucht der Not, Der Proletarierkrankheit verräterisches Rot. — Aufschreien möcht' er, weinen — doch lustig er erscheint, E r scherzt mit seinem Weibe, er hat noch nie geweint; E r lacht, daß er den Söhnen nichts zum Geschenk bringt mit. Da tritt hervor sein Ältster und schenkt als Waffenschmied Ein blitzend Schwert dem Vater als erstes Meisterstück. Der Zweite, der als Künstler des Meißels sucht sein Glück, Zieht eine graue Leinwand von einem Holzgestell, Dahinter steht geknetet der Themis Tonmodell. Sein Jüngster, der als Setzer führt durch Maschinendampf Die schwarzen Bleisoldaten zum geistgen Waffenkampf, Gibt ihm ein doppelseitig bedrucktes Blatt Papier: „Dies ist das Zeichen, Vater, in diesem siegen wir! Sieh hier die Marseillaise, umkränzt von Nelkenschmuck, Und, Vater, sieh! da steht das Programm in rotem Druck; In großen, schönen Lettern aus Korpus steht es da — Warum ich's Petit nicht setzte und auch nicht Bourgeois — * Kannst du das wohl erraten? Weißt du auch meinen Grund?" 4. Bild Der Vater lacht herzinnig und küßt dem Sohn den Mund, Und blickt ihm tief ins Auge - tief durch das Auge schaut Dem Sohn er in die Seele und jubelnd ruft er laut: „Nun fehlt zum vollsten Glücke nur euer Schwesterlein, Die liebe Maienblume, so hold, so schön, so rein —" * Ironisch-polemisch gebraucht statt Borgis. [Hrsg.] 148

Da horch! — Wie seidnes Knistern rauscht's von der Treppe her — „Da kommt sie", sagt die Mutter, „doch bitt' ich dich recht sehr, Daß du sie schonst, die Ärmste, und mäßigst deinen Groll!" — „Was hat sie denn verbrochen, daß ich sie schonen soll!" Die Mutter blickt zur Erde, die Brüder sehn sich an, Es wird so angst und bange ums Herz dem armen Mann — Da öffnet sich die Türe, die Tochter tritt herein, Wie eine Maienblume, so hold, so schön, so „Nein!"

5. Bild „Das ist sie nicht! Unmöglich! Das kann mein Kind nicht sein!" [„O sagt, daß ich mich täusche, o sagt, daß ich mich irr'! Vor meinen Augen schwimmt es, mein Kopf wird wild und wirr. Als dreht' im Schwindelkreise sich rings um mich das All Als spielten tausend Teufel mit meinem Kopfe Ball!" Und nochmals blickt ins Antlitz er scheu dem jungen Weib, Das eng gepreßt in Seide den üppig schönen Leib; Hals, Handgelenke, Busen umflimmert Flitterschein Von gleißendem Geschmeide und glitzerndem Gestein. Vom breitumkrempten Hute die Schwanenfeder winkt, Schwarz sind die Augenbrauen, die Wangen rot geschminkt. Blitzsilberweißer Puder schwebt in dem Stirngelock, Pechschwarzer Schmutz der Straße klebt an dem Spitzenrock, Und eine Moschuswolke wallt süß mit ihr herein. — Das ist sie nicht! Unmöglich! Das kann sein Kind nicht sein!] Der arme Mann es immer noch nicht begreifen kann, Er blickt die Söhne fragend, er blickt die Mutter an: Was ist das für ein Mädchen, das da im Zimmer steht 149

Und langsam, unentschlossen und zögernd näher geht? Als in dem fremden Manne den Vater sie erkennt, Will sie ihn jäh umarmen — doch er streckt vor die Händ' Und blickt ihr tief ins Auge, sein Blick durchs Herz ihr dringt; Sie hält sich fest am Tische, daß sie nicht niedersinkt. „ So ist es wirklich Wahrheit ? O sprecht, ich zweifle noch! O Mutter, liebe Kinder, o redet, redet doch!" Ein tiefes, tiefes Schweigen und tiefe, tiefe Still' — Das pochende Herz im Leibe dem Menschen brechen will. Aus ihren Augen Träne auf Träne niederrollt, Ins dunkle Zimmer leuchtet das Abendsonnengold. — Umsonst harrt er auf Antwort — da zuckt ein Blitz durchs Hirn, Da zuckt sein Herz zusammen, er greift sich an die Stirn; Da hebt er beide Hände hoch auf zum Firmament, Als ob er dort die Sonne herunterreißen könnt': [Als ob er könnt' umspannen den roten Feuerball, Als ob er könnt' zertrümmern damit das ganze All. Mit großen, wilden Blicken irrt er umher im Raum, Ins Aug' ihm Tränen treten, vor seine Lippen Schaum; Anschwillt die blaue Ader, sein Auge schrecklich rollt, Es hebt die Brust sich ächzend, als ob sie bersten wollt — Da endlich bricht sein Innres . . . das ist kein Menschenschrei ! So schreit das Tier des Waldes, durchbohrt von heißem Blei. Die Sprache hat nicht Worte, nicht Töne hat das Lied, Den wilden Schrei zu schildern, der aus der Brust ihm flieht:] „Die einzge Tochter — Dirne!" 0 gräßliches Geschick! 6. Bild Er blickt sie an so finster, unheimlich flammt sein Blick: „Wer war der Schurke? Rede! Er ernte seinen Lohn!" Die Tochter stammelt leise: „Des Fabrikanten Sohn." „0 alle Schmach und Schande aus jenem Hause sind, Mein Weib entehrt der Vater, der Sohn verführt mein Kind!" 150

[„Wo blieb das spitze Eisen, wo blieb das scharfe Erz, Daß ich's dem Buben stoße in das verruchte Herz. Wo ist des Buben Vater, daß ich ihm brech' das G'nick, Er hat ja auch gebrochen mein Weib, mein ganzes Glück." Blitzschnell greift er zum Eisen, schon stürzt er fort damit, Da stürzen seine Söhne ihm nach mit flehender Bitt': „O Vater! Vater! Vater!" Drei Kehlen und ein Schrei! An seine Arme klammern sich jammernd alle Drei. Ob über ihren Köpfen es tödlich blitzend saust — Sie reißen doch das Eisen dem Vater aus der Faust. Er wankt — er stürzt zu Boden, der Boden dumpf erdröhnt, Die Söhne atmen erleichtert, der Vater ächzt und stöhnt:] „Mein Kind ist eine Dirne — die Sinne mir vergehn! Hinaus aus meinen Augen, ich kann dich nicht mehr sehn!" Der Vater hat's gesprochen, die Tochter hat's gehört, Die Brüder flehn um Gnade, die Mutter ihn beschwört. Da naht die Tochter leise, und leise auf die Knie' Fällt die Gefallne nieder und schluchzend stammelt sie: „Du darfst mich nicht verdammen, o Vater, hör mich erst! Wenn damals du so plötzlich nicht ausgewiesen wärst, Dann wäre nicht gekommen die Not so riesengroß, Dann wär' ich nicht gesunken in Schmach, so bodenlos. Als damals man zum Abschied dir nur noch Stunden ließ Und dich von Weib und Kindern aus deiner Heimat stieß Das warf die Mutter nieder, die Brüder waren klein, Und ich mit sechzehn Jahren stand mutterseelenallein. Ich mußt' für alle sorgen, ich nähte Nacht und Tag, Daß oftmals ich in Ohnmacht halbtot zusammenbrach; Doch ob mich auch verlassen schier wollten meine Kräft', Ich macht' die Arbeit fertig und bracht' sie ins Geschäft. Doch als ich sie dort zeigte und bat um meinen Lohn, Da gab man mir zur Antwort nur Lächeln, Spott und Hohn; Die Arbeit sei ganz hübsch zwar, doch hübscher mein Gesicht, Das wollte man bezahlen, die Arbeit aber nicht. Da bin ich dann gelaufen, gerannt von Ort zu Ort, 151

Doch alle schickten wieder mich mit der Arbeit fort. Und hab' ich auch gebeten, geweint, gebettelt schier, Man gab doch immer wieder dieselbe Antwort mir. Als ich dann heimwärts wankte, da kam ich grad' vorbei An jenem großen Hause, der Gips-Kunstgießerei, Wo Vater lange Jahre den Ton geknetet hat. Das war die letzte Hoffnung — ich ging hinein und bat. Ich dacht', daß der Fabrikherr, der durch die lange Frist Von Vaters langer Arbeit so reich geworden ist, Aus Mitleid der Familie, der doch die Not so droht, Ein wenig Geld würd' geben, ein kleines Stückchen Brot. Der gnäd'ge Herr — er lachte und gab mir Spott und Hohn, Ich weint' und eilt' nach Hause, verfolgt von seinem Sohn; Der wollte gern mir helfen, er bot mir rotes Gold, Ich könnt' zu Hause lindern die Not, wenn ich nur wollt'. Er sprach so süß, so schmeichelnd, er sprach so lieb, so gut, Doch in die Wangen stieg mir vor Scham das rote Blut. Ich riß mich los und eilte, so schnell ich könnt' nach Haus, Doch ach, welch Bild des Jammers, wie sah's zu Hause aus! Die Mutter krank zum Sterben, die Brüder schrien nach Brot . . . Da — da — in meiner größten, in meiner tiefsten Not, Da hab' ich voll Verzweiflung das Haar mir ausgerauft, Da hab' ich — halb im Wahnsinn — da hab' ich mich verkauft!" 7. Bild Ein kurzes, heftiges Schluchzen, dann plötzlich alles stumm, Nur leises Zähneknirschen — die Brüder drehn sich um, Sie schreien auf und klatschen die Hände vors Gesicht — Den armen, armen Eltern das arme Herz schier bricht. — Doch langsam fährt die Tochter mit leiser Stimme fort: „Und ist man erst gefallen, dann geht es immerfort Mit Riesenschritten abwärts, mit rasender Gewalt, Da gibt es keine Umkehr und keinen Aufenthalt; 152

Und winken auch die Schwestern der Myrthe: Komm zurück! — Verklungen und zersprungen sind Jugend, Ehre, Glück." [„Von Stufe geht es tiefer zu Stufe jäh bergab, Und mit der Ehre sinkt auch das Schamgefühl ins Grab; Denn hat man erst ein Dutzend, hat man die ganze Stadt Mein Gott, man will doch leben! Man wird doch manchmal satt!] Ihr starret mich mit Augen so groß, so gräßlich an — Was hab' ich denn so furchtbar Entsetzliches getan? Was tausend andre taten, das hab' ich auch gemacht, Verdammt doch jene Schurken, die uns dahin gebracht! Warum wir sinken mußten — das ist es, danach fragt! Verworfne Menschenklasse — das ist sehr leicht gesagt, Verworfener ist jener, der uns verworfen hat. Er lebt von unsrer Arbeit, er ißt und trinkt sich satt; Er predigt uns die Ehre und plündert uns die Ehr', Und ist er übersättigt und braucht er uns nicht mehr, Dann setzt er sich zur Ruhe und setzt uns vor die Tür: Sieh, wo du Arbeit findest, marsch pack dich fort von hier; Und wenn man Wochen, Monde nach Brot vergebens schreit Und schließlich fällt, dann heißt es, sie tat's aus Lüsternheit. Und wer so sprach, wer ist es — wer ist es, der so log? Derselbe, der uns selber um unsre Ehr' betrog; Er nahm uns alle, alle die Rechte der Natur, Ließ uns das Recht auf Schande, das Recht auf Selbstmord nur. Nun hab' ich dir gestanden von meiner Schmach genug, Nun sprich dein Urteil, Vater: Vergebung oder Fluch!" Und wieder tiefes Schweigen und wieder tiefe Still', Der Vater regt die Lippen, als ob er sprechen will — Er kann nicht — doch die Rechte hebt er und zeigt zur Tür „Das ist zu viel!" Aufschreit sie und stürzt hinaus zur Tür. 10 Minuten

Pause

153

8. Bild Ein tiefes, langes Schweigen — dann gehn die Brüder nach; Und lange einsam schluchzen die Eltern im Gemach. — Die Tochter eilt verzweifelt in atemlosen Lauf Die Straßen auf und nieder, die Straßen ab und auf; Sie sucht — da endlich findet sie auch den Weg zur Spree, Die Brüder nach, doch meidet sie ängstlich ihre Näh', — Auf einer hohen Brücke, da macht die Ärmste Halt [Und ruft, daß laut es über das stille Wasser schallt: „Man nahm uns alle, alle die Rechte der Natur, Ließ uns das Recht auf Schande, das Recht auf Selbstmord nur. Man weiß es ja am besten, daß uns nichts übrig bleibt, Daß nur die Not, der Hunger die meisten dazu treibt — Die Not, die blasse, krasse — die krasse, blasse Not! — Man läßt uns nur zwei Wege: die Schande und den Tod. Und geht man dann den ersten, so heißt's: Verworfenheit! Sagt! Ist das Menschenliebe! ? Ist das Gerechtigkeit! ? Und geht man dann den zweiten, macht man sich selber frei, Dann schneidet augendrehend die fromme Heuchelei Uns noch nach unserm Tode „die letzte Ehre" ab — Dann nimmt uns noch der Pfaffe das letzte „Recht aufs Grab". Sie rief es laut — es lauschen die Schiffer in der Näh',] Dann schwingt sie sich hinüber, hinunter in die Spree. Ein Schrei! Aufschlagen die Wasser, die Wasser schlagen zu, Von Hunderttausenden Eine hat nun im Wasser Ruh'. O wüßt' der kalten Menschen, wüßt' der Verführer Brut, Was all der Trähen Saaten, was all der Tropfen Blut Wird einst für Ernte geben! — O wenn der Frucht sie denkt, Die auf dem Boden reifet, der damit wird getränkt! — [Schon wächst sie hoch und höher, schon wogt die rote Saat! Nur vorwärts, vorwärts, vorwärts! Der Tag der Freiheit naht! 154

Schon schickt den roten Morgen als Herold er vorauf, Der pflanzet die purpurne Fahne am Horizonte auf. Schon ächzt in allen Fugen die alte Welt und kracht, Schon winkt der Sarkophag ihr im selbstgegrabnen Schacht, Schon klingt es wie springende Ketten und eiserner Lerchenschlag. Brich an, du neuer Welttag! Brich an, Weltfrühlingstag! O Sonnentag der Wahrheit, des Rechts für Jedermann! O Tag der Freiheit, Gleichheit, der Brüderlichkeit, brich an!] Da öffnet sich die Türe, zwei Schiffer treten ein, Sie tragen sanft die Tochter, so bleich wie Mondenschein, Aus Haar und Röckchen trieft es, naß glitzert das Gewand; Sie legen sie auf den Boden, und stumm und unverwandt Gehn sie hinaus zur Türe und murmeln nur: Vorbei . . .

9. Bild Die Mütter hört's und stürzet mit gellendem Todesschrei Tot auf die Tote nieder, dem Mund es rot entquillt; Die zitternde Hand des Vaters umsonst den Blutsturz stillt, E r hält ihr zu die Lippen, er weiß nicht, was er tut, Durch seine Finger rieselt des lieben Weibes Blut, Er sieht ihn fließen - fließen, den roten Lebenssaft, Er will ihn halten — halten und hat doch nicht die Kraft. Er fühlt an seinen Händen, sein Weib wird starr und kalt, Da packt ihn der Verzweiflung wildrasende Gewalt — E r sieht am Boden liegen das blitzende Meisterstück, Es funkelt des Sohnes Eisen, es funkelt in Vaters Blick; E r kniet aus seinem Herzen die letzte Hoffnung flieht, Als neben Weib und Tochter der Vater niederkniet. Er küßt die tote Tochter, er küßt sein totes Weib, Er greift das Schwert vom Boden, reißt sich den Rock vom Leib, Er faßt mit beiden Fäusten . . . er faßt es fest, das Erz, Und stößt es durch die Rippen sich tief — tief in das Herz. 155

[Er stürzt . . . in breitem Bogen strömt auf des Blutes Well', Und unter sich begräbt er der Themis Tonmodell; Zertrümmert liegt's am Boden, doch flackert hoch empor Das rotbedruckte Blättchen, das Lied im Nelkenflor, Wie eine rote Lerche, dann senkt es sich zum Grund Grad auf die blutge Quelle, grad auf des Vaters Wund'. Draus saugt die Marseillaise den Saft des Lebens ein - ] Da plötzlich geht die Türe, die Söhne treten ein . . . [Die Sprache hat nicht Worte, nicht Töne hat das Lied, Den Schmerzensschrei zu schildern, der ihrer Brust entflieht.] Sie reißen ihrem Vater das Eisen aus der Wund' Und lauschen auf seinen Atem — da horch! Was haucht sein Mund? „Seid einig, einig, einig" — sein letzter Seufzer spricht, Dann bricht sein treues Herze, sein treues Auge bricht. [Die Sprache hat nicht Worte, nicht Töne hat das Lied, Wie krampfhaft sich den Brüdern das Herz zusammenzieht.] Da liegen Vater, Mutter und Schwester — alles tot! . . . Sie haben still gesessen bis an das Morgenrot, Und Toten wacht gehalten die ganze, ganze Nacht; Doch die zwölf Stunden haben weit älter sie gemacht, Zwölf Jahre wurde älter der Brüder Lebenslauf: Drei Knaben knieten nieder — drei Männer standen auf! Sie haben nicht geweinet, sie haben nicht geklagt, Sie haben nichts gesprochen, sie haben nichts gesagt, Sie haben nur die Hände, von Vaters Blut bedeckt, Zum blutigroten Himmel krampfhaft emporgestreckt, Sie haben stumm geschworen den großen, großen Eid Der armen, unterdrückten, gequälten Menschheit . . . Sie haben stumm gefordert die Rechte der Natur, Die unveräußerlichen, im heiigen Rütlischwur: „Seid einig, einig, einig! — Der Sieg muß unser sein!" 10. Bild Seid einig, einig, einig! — Der Sieg muß unser sein? Das sind des Vaters Worte! Das kann kein Irrtum sein! Schlief nicht an jedem Abend der Vater damit ein? — 156

J a ! — Doch bei diesen Worten wacht jetzt der Vater auf, Laut schallt es von der Straße, die Menschen stehn zu Häuf'; Aufschlägt er seine Augen, er fühlt .noch schlägt sein Herz, Noch schlagen seine Pulse, er fühlet keinen Schmerz; Erleichtert holt er Atem, er blickt umher im Raum: Er sieht, daß alles, alles, daß alles nur ein Traum! Sein Kind ist keine Dirne, und krank ist nicht sein Weib, Verwaist sind nicht die Söhne, und nicht durchbohrt sein Leib; Wohl wär' es so gekommen, wie er's im Traume sah, Das Schlimmste zu verhüten, war'n die Genossen da: Sie sammelten und gaben in brüderlichem Sinn, Wenn selbst sie nichts mehr hatten, den letzten Groschen hin. Er eilt, so schnell er eilen kann, auf den Straßendamm, Da zeigen ihm die Freunde ein Kabeltelegramm, Er liest und jauchzt, ausbricht er in hellen Jubelschrei: Gesiegt hat Deutschlands größte und mächtigste Partei! Gesiegt! Und auf dem Boden zertreten und besiegt, Verachtet und verstoßen im Staub der Blutmensch liegt; Es tritt auf seinen Nacken der Riese Proletar, Rund anderthalb Millionen zählt dieses Riesen Schar. In ihren Augen leuchtet der Freiheit Morgenrot, Er wollt' es knebeln, töten — es war sein eigner Tod. Vorbei ist die unmenschlich infame Menschenhetz, Verscharret und begraben das Sozialistengesetz. Und die Verbannten eilen alle der Heimat zu, Auch ihm im fremden Lande — ihm läßt es keine Ruh, Er schleudert Hack' und Spaten, er wirft das Schurzfell fort, Es pfeift der nächste Dampfer — der hat auch ihn an Bord. Die Sprache hat nicht Worte, das Lied hat keinen Ton, Als nun nicht mehr im Traume des Volkes treuster Sohn, Als er nun wahr und wirklich in seine Heimat zieht — Die Sprache hat nicht Worte, nicht Töne hat das Lied... Die Lokomotive durchrast das geflickte Schienennetz, Sie pfeift so schrill, so gellend — auspfeift sie das Gehetz. Sie rast, daß bebt der Boden von Hamburg bis Berlin, 157

Im Sachsenwald die Eulen in ihre Höhlen fliehn. Durch ausgefaulte Ulmen stößt hohl der Wind und ächzt, Die alten Eulen heulen, der alte Uhu krächzt — Durch ausgefaulte Ulmen — da stößt der Wind so hohl, Der Blutmensch führt zum Munde den Becher mit Alkohol, Geschenkte Kibitzeier ißt er und reicht vom Brot Ein Stückchen seinem Hunde — der Hund nimmt nicht das Brot! „Anständge Menschen schreiben für mich ja freilich nicht. Doch daß der eigne Hund aus der eignen Hand mir nicht Ein Stückchen Brot will nehmen, das ist das Höchste wohl!" Verzweifelt trinkt er weiter geschenkten Alkohol. . . Es leuchten die Weihnachtskerzen, es strahlt der Weihnachtsbaum, Vorbei ist der Traum des Schreckens, vorbei der schreckliche Traum! Dem besten Freund der Brüder gefällt die Schwester traut, Des Traumes gefallene Tochter — sie küßt den Genossen als Braut; Sie hört nicht den Bruder kommen beim Kuß vom Bräutigam. Er kommt mit der Göttin Freiheit — er bringt ein Telegramm E r liest sie vor — die Depesche: Ein jauchzender Jubelschrei ! Heimkehret wieder der Vater! — Gesiegt hat die Partei! Es steht in Gips gegossen der Kettenraßler stumm: Könnt' diese Depesche er fälschen — was gäb' er wohl darum! 1 1 . Bild Es leuchten drei helle Laternen dem Dampfroß licht voran, Das bringt den Kindern den Vater, dem Weibe zurück den Mann. 158

Die Lokomotive durchrasselt das zitternde Schienennetz, Auspfeift sie das infame — das Sozialistengesetz. Es ertönt die Marseillaise, leise anschwellend, zum Schluß brausend. Da horch! — Sie hält! — Durchs Pfeifen ein helles Singen schallt, Baldleis wie Liebesstimmen, bald laut wie Sturmesgewalt. Der Mann da in dem Zuge — er lauscht so tief bewegt, Die Augen gehn ihm über, das Herz ihm höher schlägt. O der bekannten Töne berauschend süßer Klang: Das ist die Marseillaise, des Volks Triumphgesang! Das ist das Lied der Lieder, das heiige Flammen schürt, Das auf der Bahn, der kühnen, das Volk zum Siege führt, Ihm klingt es wie Eisenketten zerbrechender Freiheitsgesang, Ihm singen es die Freunde zum festlichen Empfang. E r blickt hindurch durchs Fenster: Die Bahnhofshalle sieht Gefüllt er mit Genossen, geschlossen Glied an Glied. Sie reißen auf die Türe, sie reißen ihn ans Herz, Sie weinen vor Schmerz und Freude, sie lachen vor Freud und Schmerz. Umstürmt steht er, umjubelt, umringt im Freundeskreis, Und Bruderlippen brennen auf Bruderlippen heiß. Sie haben trotz des Vollbarts ihn alle doch erkannt, A m treuen Blick der Augen, am festen Druck der Hand. Nun soll er reden, sprechen — die Kehl' ist ihm zu eng, E r ringt umsonst nach Worten, er drängt sich durch die Meng': Da stehen seine Lieben, da steht sein treues Weib, Ihr zittern vor Freud' die Glieder, vor Freude bebt ihr Leib. Da stehen seine Söhne, da sind sie alle drei, Da steht der Tochter Bräut'gam, da steht die Braut dabei, Wie eine Maienblume, so hold, so schön, so rein — Aus aller Augen leuchtet der Freude Sonnenschein! Zwölf Jahre der Verbannung — o welch ein Wiedersehn! Da müssen dem härtesten Menschen die Augen Übergehn. Die Sprache hat nicht Worte, nicht Töne hat das Lied, Den Jubel zu beschreiben, der durch die Herzen zieht. 12. B i l d

159

Abkürzungen

Arbeitertheater

Frühes deutsches Arbeitertheater. 1847—1918. Eine Dokumentation v. U. Münchow u. F. Kniiii. Berlin 1970. Literaturgeschichte Geschichte der deutschen Literatur. V o m Ausgang des 19. Jahrhunderts bis 1917. Von einem Autorenkollektiv unter Leitung ,v. Hans K a u f m a n n unter Mitarb. v. Silvia Schlenstedt. Bd. 9. Berlin 1974. MEW K a r l Marx/Friedrich Engels: Werke. Hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim Z K der S E D . Bd. 22. Berlin 1963. Umsturz Umsturz und Sozialdemokratie. Verhandlungen des Deutschen Reichstags am 17. Dezember 1894 und 8.—12. Januar 1895 nach dem offiziellen stenographischen Bericht. Berlin 1895.

Anmerkungen zur Einleitung Alle Zitate aus den Arbeiten Scaevolas sind in dieser Ausgabe enthalten. 1 Vorwärts v. 4. 10. 1892 (9. Jg.), 1. Beil. Zit. nach Arbeitertheater, S. 289. 2 Vgl. ebd., S. 286. — Brümmer nennt noch eine ganze Reihe von Werken, die von Scaevola stammen sollen. E r ist aber der einzige, der einen G. M. Scaevola kennt. Andere Nachschlagewerke und Bibliothekskataloge, z. B. Kürschners Literaturlexikon und das Pseudonymenlexikon, verzeichnen nur einen Scaevola, nämlich 3*

163