Gedanken über die Socialwissenschaft der Zukunft: Teil 3 Die sociale Psychophysik [Mitau 1877. Reprint 2020 ed.] 9783112383469, 9783112383452


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Gedanken über die Socialwissenschaft der Zukunft: Teil 3 Die sociale Psychophysik [Mitau 1877. Reprint 2020 ed.]
 9783112383469, 9783112383452

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Gedanken über die

Socialwis der

senschaft

Zukunft von

Paul von Lilienfeld.

III. T h e i l :

Die sociale Psycbophysik.

Mitau 1877. In Commission

bei Georg Reimer.

Berlin 1901.

Die

ocíale

Psychophysi

Von

Paul von Lilienfeld.

Mitau 1877. In Commission bei Georg Reimer. Berlin 1901.

Vorwort.

lNachdem wir im ersten Theile unseres Werkes die realen Analogien zwischen den pflanzlichen und thierischen

Einzelorganismen

und der

menschlichen

Gesellschaft durchgeführt, nachdem wir im

zweiten

Theile den realen Causalzusammenhang der verschiedenen Kraftpotenzirungen in der Natur und im socialen Organismus genetisch verfolgt hatten, hofften wir bereits im dritten Bande zur Ergründung und Beleuchtung der socialen Entwickelungsgesetze in ihren speciellen Kundgebungen, namentlich zuvörderst in der ökonomischen und alsdann in der rechtlichen und politischen Sphäre

schreiten zu können.

Aber wir ge-

langten bald zu der Ueberzeugung, dass zur ständigen

Begründung

Zusammenhanges

und Beleuchtung

zwischen

Natur und

voll-

des realen menschlicher

Gesellschaft noch diejenige wissenschaftliche Disciplin in unsere Betrachtungen hineingezogen werden müsste,

VI

welche auf dem Scheidewege zwischen Physik und Psychologie steht.

Diese Disciplin ißt die Psychophysik,

wie sie von Herbart und Fechner begründet und von Weber, Wundt, Maudsley, Lindner und anderen Forschern weiter entwickelt worden ist. — Die Psychophysik

ist als die neueste aller Wissenschaften zu

betrachten, indem sie ihre Existenz nur nach Jahrzehnten

rechnet.

Dennoch

sind ihre

Fortschritte,

Dank der von ihr eingeschlagenen naturwissenschaftlichen Methode und Dank der Beseitigung aller metaphysischen Phantastereien findigkeiten, Auf

und

dogmatischen

Spitz-

als riesenhaft zu bezeichnen. Grundlage

der

letzten

Errungenschaften

dieser neuesten aller Wissenschaften haben wir nun eine »sociale Psychophysik« aufzubauen versucht, und unterbreiten dem geneigten Leser in diesem Bande die Resultate unserer Forschungen. Der nächste Band wird alsdann unter dem Titel »sociale Physiologie,« welche der Erforschung der ökonomischen Entwickelungsgesetze des socialen Lebens gewidmet werden soll, erscheinen. M i t a u , im März 1877.

Der Verfasser.

Dritter Theil.

Die sociale Psychophysik.

Einleitung.

Das materielle Substrat,

welches den Gegenstand

der

»Psychophysik« bildet, wird durch das thierische und menschliche Nervensystem in allen seinen Theilen,

von den

ein-

fachen Nervenfäden an bis zu den höchstentwickelten Gehirnganglienzellen, repräsentirt.

Die Psychophysik erforscht dabei

das thierische und menschliche Nervensystem sowohl in seinen Functionen, als auch vom morphologischen und einheitlichen Standpunkte aus; sie erforscht es nach allen Richtungen hin, sowohl nach derjenigen der Integrirung, der Differenzirung. nichts anderes,

Die Psychophysik

wie auch nach der ist also im

Grunde

als eine auf naturwissenschaftlicher Methode

begründete Psychologie.

Da es überhaupt keine Regung der

menschlichen Psyche in irgend einer Sphäre, der religiösen, intellectuellen, ethischen oder ästhetischen, geben kann, welcher nicht irgend ein Reiz

oder eine Umgestaltung der Nerven-

elemente, eine Anhäufung oder Entbindung von Kraftenergien entspräche, so ist es klar, dass die Psychophysik die ganze geistige Thätigkeit des Menschen, vom naturwissenschaftlichen Standpunkte

aus betrachtet, umfassen muss.

eine Regung Regionen

lind da,

wenn

oder Umgestaltung sogar nur in den höheren

des Nervensystems

Nervenelemente

stets mehr

vorgeht,

auch

die

niederen

oder weniger in Mitleidenschaft

gezogen werden und beide nicht anders thätig sein können, als

indem

sie

sich auf die chemisch-mechanischen

Kräfte

X

stützen, so erscheinen die psychophysischen Kräfte nur als eine höhere Stufe in der allgemeinen Hierarchie der durch einen unauflöslichen inneren Causalzusammenhang verbundenen Kraftpotenzirungen, durch welche alle Naturerscheinungen bedingt werden. — • Die höhere Stufe der Kraftpotenzirungen, welche den Gegenstand der Psychophysik bilden, steht gerade in der Hierarchie der Wissenschaften am nächsten und unmittelbar vor der Socialwissenschaft. Der sociale Organismus besieht, wie auch der menschliche Einzelorganismus, aus einem Nervensystem und einer Zwischenzellensubstanz, und stellt in seinen, auf dem Wege der directen und indirecten Rellexwirkung zu einer Gesammtlieit verbundenen Nervenelementen ein eben solches materielles Substrat dar, wie das menschliche und thierische Nervensystem. Der ganze Unterschied zwischen diesem und jenem besteht zu Gunsten des socialen Organismus nur in einer noch höheren Potenzirung der Kräfte, in einem deutlicheren Zutagetreten der Zweckmässigkeit, Freiheit und Geistigkeit, in einer gesteigerteren Kapitalisirung und Auslösung von Kraftenergien, in einer höheren Integrirung und DiiFerenzirung der Bewegung, in einer grösseren Mannigfaltigkeit und Vielseitigkeit der Entwickelung. Und da das sociale Nervensystem aus nichts Anderem, als nur aus Individuen besteht, welche den bereits mit den allgemeinen Naturgesetzen in Einklang gebrachten psychophysischen Gesetzen unterliegen, so ist es klar, dass die psychophysischen Entwickelungsgesetze des socialen Organismus auch keine anderen als allgemeine Naturgesetze sein können. Die Bedeutung der socialen Psychophysik für die Socialwissenschaft ist eine unifassende und tiefeingreifende. — Das sociale Nervensystem bildet in Hinsicht auf die ganze Entwickelung der menschlichen Gesellschaft und auf alle socialen

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Lebenserscheinungen das primäre Element, die Zwischenzellensubstanz dagegen, d. h. alle im Schoosse der Gesellschaft circulirenden Tausch- und Gebrauchswerthe, nur den secundaren Factor. Die Pflanzen und niederen Thierindividuen besitzen noch kein wahrnehmbares Nervensystem; sie bestehen aus einfachen Zellen und Zellengeweben und aus der Zwischenzellensubstanz. Die höhere Thierwelt verfügt über ein mehr oder weniger entwickeltes Nervensystem; der grössere Theil des Körperbaues auch der höheren Thiere und des Menschen besteht aber immer noch aus einfachen Zellen und Zellengeweben, in welchen nebst der Zwischenzellensubstanz die einzelnen Nervenfäden und Nervenelemente eingebettet sind. Der sociale Organismus besitzt aber wegen der höheren Entwickelungsstufe, die er einnimmt, keine anderen Zellen, als nur Nervenzellen, und keine anderen Gewebe, als nur Nervengewebe. Die socialen Nervenzellen werden durch die auf verschiedenen Stufen der Entwickelung stehenden Individuen beiderlei Geschlechts, vom rohen, geistig und ethisch unentwickelten bis zum höheren Culturmenschen, repräsentirt. Die socialen Nervengewebe sind die einzelnen socialen Gesammtheiten, Stände, Berufsklassen u. s. w.; die Nervenorgane — die in sich abgeschlossenen Genossenschaften, Corporationen, Institutionen. Endlich repräsentirt jeder Staatskörper einen selbstsländigen socialen Einzelorganismus, sowie die Vereinigung aller Staaten in ihrer Gesammtheit den socialen Gesammtorganismus der Menschheit. Diese Nervenzellen, -gewebe, -organe und -gesammtheiten bilden nun ihrerseits, der socialen Zwischenzellensubstanz gegenüber, wie es auch in den Einzelorganismen in Hinsicht auf die Zellen und Zellengewebe der Fall ist, das primäre Element in allen organischen Lebensäusserungen. Die primäre Bedeutung des socialen Nervensystems muss jedoch nicht dahin aufgefasst werden, als ob dasselbe unabhängig von dem es umgebenden physikalischen Medium

xn entstanden wäre und auch in der Zukunft sich entwickeln könnte. Verfolgt man genetisch die Entstehung des socialen Nervensystems, so wird man auch in dieser Hinsicht, wie hinsichtlich der Entstehung der Zelle überhaupt, schliesslich auf die anorganischen Kräfte als gemeinschaftliche Quelle aller Kraftpotenzirungen in der Erscheinungswelt zurückkommen. Der Mensch ist aber ursprünglich bereits mit einem mehr oder weniger entwickelten Nervensystem in die Gesellschaft eingetreten. Die von ihm bereits im thierischen Urzustände angeerbten und durch Anpassung an das physikalische Medium, sowie durch den Kampf um's Dasein ausgebildeten specifischen Nervenenergien hoben die Gestaltung, den Typus, die Entwickelung der Urgesellschaft bedingt, Auch bei der späteren Bildung neuer socialer Gesammtheiten haben sich letztere immer auf Grundlage der bereits vom Menschen erworbenen oder vererbten specifischen Nervenenergien gestaltet und weiter entwickelt. Nur in diesem Sinne haben wir das sociale Nervensystem als primären Factor in Hinsicht auf die sociale Entwickelung bezeichnet. In der Stufenfolge der Potenzirungen der Naturkräfte muss es dagegen immer als die höchste und daher die letzte Stufe der Vervollkommnung, DifFerenzirung und Integrirung angesehen werden. — Die ganze geistige, ethische, ästhetische und religiöse Entwickelung des Menschen in der Geschichte, die ganze Entwickelung der menschlichen Cultur muss auf die allmälige Entwickelung der höheren Nervenorgane des Menschen und ihrer specifischen Energien zurückgeführt werden und kann daher nur durch Ergründung der socialen psychophysischen Gesetze erklärt werden. Aber auch die einzelnen sowohl hervorragenden, wie auch scheinbar unwichtigen Erscheinungen, Ergebnisse, Begebenheiten, sowohl die plötzlichen Erschütterungen und Bevolutionen, als auch die allmäligen Umge-

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staltungen und Wandelungen im Leben einzelner Völker, Staaten, Nationalitäten, Racen in verschiedenen Epochcn müssen und können nur durch Ergründung der psychophysischen Entwickelungsstadien, durch die Beleuchtung der Action und Reaction, der Integrirung und Di Heren/, innig der individuellen und socialen Nervenelemenle wissenschaftlich erklärt werden. Das Kastensystem der alten Indier und Aegypter, die verschiedenen socialen und politischen Gestaltungen und Formbildungen des alten Griechenland, die welterobernde Politik Rom's, das Feudalsystem und das Ritterwesen im Mittelalter, das Papstthum, die Reformation, die französische Revolution — alles das sind Erscheinungen, die auf psychophysische Factoren zurückgeführt werden müssen. Beruht ja doch auch die ganze politische, sociale und geistige Bewegung der Neuzeit mit ihren Bedürfnissen, Leidenschaften und Strebungen, mit ihrem Parteiwesen, ihrem Hader und ihrer Liebe, ihren gestaltenden und zerstörenden Kräften auf psycho - physischen Strebungen, Hemmungen oder Anregungen. Welche Bedeutung diese Factoren auch im alltäglichen Leben haben, weiss ein Jeder aus persönlicher E r fahrung. Der psychophysische Factor ist auch hier die treibende oder hemmende, belebende oder zerstörende, g e staltende oder zersetzende Kraft. Arbeitsamkeit, Sparsamkeit, Unternehmungsgeist, Sittlichkeit, Wahrheitsliebe, Aufopferungssinn, Müssiggang, Verschwendung, Sittenlosigkeit, Leidenschaftlichkeit, Genuss- und Selbstsucht — alle diese Anlagen und Fähigkeiten, alle, das Wohl und Wehe, die Fortentwickelung oder Rückbildung, den gesunden oder krankhaften Zustand des Individuums oder der Gesammtheit bedingenden Bestrebungen sind verschiedene Ausdrücke und verschiedene Thätigkeitsäusserungen, repräsentiren verschiedene Anhäufungsoder Auslösungswege der psychophysischen, individuellen und socialen, Kraftenergien. In den Ausprägungen aller dieser Kraftenergien ist immer der Wille die treibende Krafi;

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was ist der Wille anderes, als die psychophysische Integrirung des menschlichen Nervensystems in der Richtung des Wollens, d. h. der Thätigkeit nach aussen hin? Die Entwickelungsund Ruckbildungsgesetze dieser Kraftenergien zu ergründen, bedeutet also eben soviel, als die socialen Gesetze überhaupt begründen und feststellen. Das von uns in den beiden ersten Theilen unseres Werkes nach allen Richtungen hin bereits beleuchtete grosse, der ganzen organischen Welt gemeinsame social-embryologische Gesetz, nach welchem ein jedes Individuum im Grossen und Gänsen, nur in unendlich kürzeren Abschnitten, die ganze Geschichte der Menschheit folgerecht durchläuft, ist auch ein vorzugsweise psychophysisclies Gesetz. Dass in diesem Gesetze der ganze Schwerpunkt der menschlichen Gultur liegt, hoffen wir in diesem Theile unseres Werkes noch mehr zu beleuchten und zu beweisen. Von der vergangenen Gultur ist in Hinsicht auf die Menschheit selbst nichts zurückgeblieben, als nur die höhere Entwickelungsfähigkeit der jetzigen Generationen. Ist das ontologische Gesetz der verkürzten psychophysischen Recapitulation, durch das Individuum, der ganzen Culturgeschichte des Menschen kein richtiges, so verliert die ganze Culturgeschichte ihre Redeutung. Das Warum und Wozu liegt gerade in der Iiapitalisirung der Nervenenergien, in der Uebertragung der von den früheren Generationen angehäuften Potenzirungen auf die folgenden Generationen. Ohne dieses grosse Gesetz, durch welches die Solidarität aller Generationen mit jedem einzelnen Individuum, sowie mit der ganzen Menschheit als organische Gesammtheit bedingt wird, wäre eine pessimistische Weltanschauung vollständig berechtigt, indem die Arbeit von allen früheren Generationen zwecklos wäre, indem die Bestrebungen aller grossen Geister, aller Heroen des Gedankens und der That nur als resultatlose Kraftäusserungen, welche in der Zukunft spurlos verschwinden, angesehen werden müssten. Es würden

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ohne diese stete Anhäufung der psychophysischen Kraftenergien und ohne diese Uebertragung derselben in stets lawinenartigem Anwachsen auf die nächsten Generationen höchstens nur Bruchstücke der Zwischenzellensubstanz, in der Form von Denkmälern, Kunstschöpfungen, von der ganzen Arbeit der Menschheit, ihren Leiden, Kämpfen und Strebungen zurückgeblieben sein. Blickt man jedoch mit Berücksichtigung der Vererbung, bei stetem Anwachsen der psychophysischen Energien, in die Zukunft und denkt man sich, welche hohe Stufe der Vervollkommnung die Menschheit bei steter geistiger und ethischer Fortentwickelung nach Hunderttausenden und Millionen von Jahren erlangen kann; zieht man dabei in E r wägung, dass die Entwickelungsbewegung mit fortschreitender Cultur noch stets an Geschwindigkeit in geometrischer Progression gewinnt, so muss die Zukunft der Menschheit einem jeden unbefangenen Blicke als eine hoffnungsvolle und trostreiche erscheinen. Der Pessimist könnte freilich noch die Einwendung machen, dass in Folge gewaltsamer, durch anorganische Kräfte auf der Erdoberfläche verursachter Umwälzungen, in Folge eines Zusammenstosses unseres Planeten mit anderen Himmelskörpern, des Erlöschens der Sonne als Quelle des Lichtes und der Wärme, oder durch andere Kataklysmen, das organische Leben auf der Erde, also auch die menschliche Existenz, gewaltsam oder allmälig zerstört werden kann oder möglicherweise in einer entfernteren Zukunft werden muss, und dass in Folge dessen die Zwecklosigkeit des Lebens und der Cultur sich dennoch schliesslich erweisen wird. Das sind jedoch immer nur Möglichkeiten und Zufälligkeiten, welche einem nothwendigen organischen Gesetz entgegengestellt werden, und haben ebensoviel und ebensowenig Bedeutung als ein unglücklicher Zufall, welcher dem einzelnen Menschen ein gewaltsames Ende macht. Auf der Culturstufe, welche wir bis jetzt erreicht haben, können wir uns überhaupt noch gar keine Vorstellung machen in Hinsicht auf die Mittel, über

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welche die Menschheit bei stets fortschreitender ßntwickelung zur Bewältigung der Naturkräfte nach Millionen von Jahren verfügen wird. Suchen wir auch unsererseits diese Mittel zu vermehren und neue Kraftenergien den zukünftigen Generationen zu hinterlassen, dann haben auch wir unsere Aufgabe erfüllt und müssen es den Nachkommen überlassen, gegen neue Gefahren neue Mittel ausfindig zu machen. Auch auf die Menschheit ist der schöne Spruch des Dichters anzuwenden : Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, Der täglich sie erobern muss.

Die Wallen aber zu diesem Kampfe gegen die Natur und gegen die niederen Factoren unserer Organisation, zu diesem Culturkampf in seiner umfassendsten Bedeutung, die Mittel zur allmäligen Potenzirung der Kraftenergien bietet uns die Wissenschaft durch Ergründung der notwendigen Entwickelungsgesetze. Auf socialem Gebiet ist es die Aufgabe der Socialwissensehaft, und was die höheren Nervenorgane des Individuums und des socialen Nervensystems betrifft, speciell die Aufgabe der socialen Psychophysik. Im Verlaufe unserer Forschungen sind wir mehrere Male darauf zurückgekommen, dass nach Anerkennung der menschlichen Gesellschaft als realen Organismus auch die Naturkunde in eine neue Entwickelungsphase eintreten wird, indem nicht nur die bereits von ihr entdeckten Gesetze an Ausdehnung und Vollständigkeit dadurch gewinnen werden, dass sie aucli zur Begründung der Socialwissenschaft werden dienen können, sondern auch umgekehrt, indem eine ganze Reihe socialer Erscheinungen als hervorragende Instanzen zur Erklärung solcher Naturerscheinungen werden verwandt werden können, die bis jetzt entweder in Folge ihrer Kleinheit, Verdichtung oder aus anderen Ursachen der wissenschaftlichen Forschung und Erklärung nicht zugänglich waren.

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Dass dabei der Horizont aller Zweige der Naturkunde und überhaupt der ganzen modernen Weltanschauung sich e r weitern , vertiefen und klären w i r d , daran wird wohl Niemand zweifeln, dessen Geist noch nicht vollständig durch metaphysische Spitzfindigkeiten, gelehrte Einseitigkeiten und dogmatische Lehrsätze erdrückt und für Alles, was Leben und Wahrheit ist, unempfänglich gemacht worden ist. — Die Anerkennung der menschlichen Gesellschaft als realen Organismus wird aber eine ganz besonders weitgehende und tiefeingreifende Bedeutung für den neuesten Zweig der Naturkunde, die Psychophysik haben, und dieses aus dem einfachen Grunde, weil die Psychophysik von allen Zweigen der Naturkunde der Socialwissenschaft am nächsten steht. Bis jetzt galt die Psychophysik als das ultima Thüle der Naturkunde, wohin sich nur die verwegensten und scheinbar abenteuerlichsten Forscher auf ihren Entdeckungsreisen wagten. An dieses ultima Thüle der Naturkunde grenzt aber noch eine ultimatissima Thüle — die Socialwissenschaft, welche, als Zweig der Naturkunde, dem Forscher einen festen Boden bis an den äussersten Pol menschlichen Wissens g e währt. Die Grenzscheide, an welcher sich die beiden Gebiete der Naturkunde und der Socialwissenschaft berühren, wird einerseits von der Psychophysik der Einzelorganismen und andererseits von der socialen Psychophysik gebildet. Weil nun diese Disciplinen so nahe unter einander verwandt sind, müssen und können sie sich auch am festesten a u f - und gegeneinander stützen, sich gegenseitig am überzeugendsten erklären und einander in grösster Zahl hervorragende Instanzen bieten, um ihre noch unerforschten Gebiete zu b e leuchten und zu begründen. — Das was im individuellen Nervensystem oft in unendlich kleinen R a u m - und Zeitverhältnissen vor sich geht, was dort sich zu einem so dichten Uebereinander von Kraftenergien zusammengedrängt hat, dass die einzelnen Erscheinungen und Kraftäusserungen sich j e g Gedanken über die Socialwissenschaft. III.

b

xvni licher Beobachtung entziehen, das geht im socialen Nervensystem nicht selten als Neben- und Nacheinander in grossen Zeiträumen und ausgedehnten Baumverhältnissen vor sich. Da aber das Nach-, Neben- und Uebereinander stets und nach allen Richtungen hin übereinstimmen, so müssen auf dem Wege der Analogie und des realen Causalzusammenhanges die Vorgänge und Processe, welche im socialen Nervensysteme vor sich gehen, auch die des individuellen Nervensystems erklären helfen. Durch Anwendung derselben real-genetischen Methode, welche uns als sicherer Leitfaden durch alle Verzweigurigen und Verwickelungen des socialen Organismus hindurchgeholfen hat, auch auf die Psychophysik der Individuen, wird für die Psychologie, wie auch für die Socialwissenschaft, eine neue Epoche des Fortschrittes und der Entwickelung eintreten. Schon in der Einleitung zum zweiten Theile unseres Werkes haben wir darauf hingewiesen, dass die meisten Wissenschaften drei Entwickelungsstufen durchlaufen haben, ehe sie zur Erklärung des realen Causalzusammenhanges der Erscheinungen und der Gesetze, welche ihnen zu Grunde liegen, gelangten. Auf der ersten und niedrigsten Stufe bestand das Wissen des Menschen in einer, auf äusserliche und meistenteils zufällige Analogien gegründeten bildlichen Auffassung und Zusammenstellung der Erscheinungen. So z. B. suchte der Mensch früher das Gewitter durch Vergleichung desselben mit einem durch die Lüfte rollenden Wagen, die Bewegung der Sonne durch ein durch die Himmelsräume geschleudertes brennendes Rad zu erklären, u. dergl. — Die zweite Stufe erreicht eine Wissenschaft durch eine, auf vielseitigere und genauere Beobachtungen gegründet? Classification der Erscheinungen gemäss den wesentlichen Eigenschaften der Erscheinungen. Diese Höhe erreichte z. B. die Botanik unter Linpe, die Zoologie unter Cuvier, die

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Philosophie unter Kant; auf dieser Stufe steht noch bis jetzt die ganze Socialwissenschaft. Die Psychologie mit ihren geistigen Kategorien: Instinct, Verstand, Vernunft, Psyche, Seele, Geist, Anschauung, Gefühl, Gedanke, Begriff, Idee u. s. w., die alle noch bis jetzt als durch uniibersteigliche Scheidewände getrennt angesehen werden, verbleibt gleichfalls noch in der classificatorischen Entwickelungsepoche befangen. Aber auf dieser zweiten Stufe darf eine Wissenschaft nicht stehen bleiben. Denn ihr Zweck und ihr Beruf bestehen in der Erklärung des real-genetischen Causalzusammenhanges der Erscheinungen. Um diese Stufe zu erreichen, müssen die Entwickelungsgesetze, welche den Erscheinungen zu Grunde liegen, entdeckt werden. Der Versuch, diese Gesetze auf dem psychologischen Gebiete festzustellen, ist bereits durch die Psychophysik gemacht worden. Die Schwierigkeiten jedoch, mit welchen diese neue Wissenschaft zu kämpfen hat, sind dadurch so gross, dass alle Raumund Zeitverhältnisse in ihrem Gebiete als verschwindend klein erscheinen. Diese Schwierigkeiten kann nun gerade die sociale Psychophysik, in welcher dieselben Erscheinungen, die im Individuum im Uebereinander vor sich gehen, im Nach- und Nebeneinander, d. h. in umfassenderen Zeit- und Raumverhältnissen sich ausprägen, beseitigen. Nur auf diesem Wege wird es möglich sein, den unumstösslichen Beweis zu liefern, dass alle bis jetzt in der Wissenschaft anerkannten und .im alltäglichen Leben angenommenen Kategorien und Eintheilungen der verschiedenen thierischen und menschlichen Seelenvermögen nur verschiedene durch An*passung, Kampf um's Dasein und Vererbung bedingte Potenzirungen, Integrirungen und Differenzirungen einer und derselben psychophysischen Kraft sind, und dass die Entwickelungsgesetze dieser Kraft dieselben sind, wie auch die der Naturkräfte im Allgemeinen. Besonders ist es die sociale b*

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Zwischenzellensubstanz und dereu Wirkung auf die einzelnen socialen Nervenelemente, welche die auffallendsten hervorragenden Instanzen zur Begründung der psychologischen Entwickelungsgesetze auch der Individuen liefern wird, und namentlich aus dem Grunde, weil sich die psychologischen Vorgänge in den einzelnen Gestaltungen der Zwischenzellensubstanz äusserlich, d. h. in Raum- und Zeitverhältnissen, mit grösserer oder geringerer Bestimmtheit und Klarheit ausprägen. Schon Geiger und Schleicher haben die wichtige Wahrheit ausgesprochen, dass die menschliche Vernunft durch die Sprache ausgebildet und entwickelt worden ist und dass man nach Maassgabe der Entwickelung der menschlichen Sprachen auch die der menschlichen Vernunft stufenweise verfolgen kann. Wir unsererseits haben bewiesen, dass sowohl die Laut-, als auch die Zeichen- und Schriftsprache einen Theil der socialen Zwischenzellensubstanz bilden, und namentlich denjenigen Theil, der vorzugsweise dazu bestimmt ist, die indirecten Nervenreflexe im socialen Organismus zu fördern und zu vermitteln. Die Sprache ist aber, wenn auch der hauptsächlichste, dennoch nicht der einzige Vermittler, durch den die geistige Ausbildung des Menschen bedingt wird. Kunst, Industrie, jegliche sociale Wechselwirkung tragen gleichfalls in grösserem oder geringerem Maasse dazu bei. Aber nur indem man den socialen Organismus als einen realen wird aufgefasst haben, wird man einerseits demselben die psychophysischen Gesetze, welche der Entwickelung des individuellen Nervensystems zu Grunde liegen, anpassen können und andererseits auch die Psychologie der Individuen durch die sociale Psychophysik erklären. Die individuellpsychologische Trennung und Vereinigung, Analyse und Synthese, Scheidung und Association, Differenziruug und Integrirung der Anschauungen, Begriffe, Ideen, Gefühle, Principien, welche als Resultat der Wechselwirkung und Spannung der einzelnen Nervenelemente im individuellen Nervensystem

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bereits anerkannt worden sind, werden alsdann ihre realen Analogien in den entsprechenden functionellen, formativen und einheitlichen Vorgängen zwischen den Individuen und Gesammtheiten im socialen Nervensysteme finden. Auf diesem, aber nur auf diesem Wege wird auch die Psychologie von der von ihr jetzt noch eingenommenen zweiten Entwickelungsstufe, der classificatorischen, auf die höchste, der der Erklärung des real-genetischen Zusammenhanges der psychologischen Erscheinungen, sich erheben können. — Und sind einmal die psychophysischen Gesetze, welche der religiösen, intellectuellen, ethischen und ästhetischen Entwicklung des Individuums und der menschlichen Gesellschaft zu Grunde liegen, festgestellt, dann wird ein solches Wissen dem Menschen auch die Macht verleihen, der Entwickelung die entsprechende Richtung und Leitung nach den höheren Zwecken des Menschen und der Menschheit zu geben, sowie die anormalen und krankhaften Zustände mit gehöriger Erkenntniss der Ursachen und Folgen zu beseitigen und zu heilen. Mit anderen Worten: die geistige Erziehung des Menschen und der Menschheit wird alsdann nach allen Richtungen hin nicht mehr von unklaren, instinctmässigen, halb bewussten Strebungen ausgehen, sondern sie wird in einer, auf Erkenntniss des realen Causalzusammenhanges der Erscheinungen begründeten, mit den allgemeinen Naturgesetzen in Einklang gebrachten Führung von Seiten der höher entwickelten, hervorragenderen und erkenntnissvolleren Elementen und Factoren bestehen. Desgleichen wird alsdann auch eine jede Heilung der individuellen und socialen Gebrechen, Schäden und Krankheiten nicht als eine specielle Gabe, Fügung oder Gnade von Oben, unabhängig von der Mitwirkung und der Erkenntniss des Menschen selbst, erwartet und erbeten werden, sondern als eine Frucht der Arbeit, der Forschung und der Entwickelung der physischen und psychischen Kräfte des

•gXTT menschlichen und des socialen Organismus. — Und dieser höhere Standpunkt des Wollens, Wissens und Könnens des Menschen wird deshalb kein antireligiöser sein. Im Gegentheil, es wird nicht blos eine Gemeinschaft zwischen dem Menschen und Gott in Hinblick auf die einzelnen Bedürfnisse, Strebungen und Erscheinungen des Seelenlebens anerkannt werden, sondern der ganze Mensch wird von dieser Gemeinschaft noch mehr durchdrungen werden. Da nun der ganze Mensch auch die ganze Natur im Kleinen darstellt und als Mikrokosmos dem Makrokosmos gegenübersteht, so wird sich diese Gottdurchdrungenheit auch auf die ganze Natur und auf jede einzelne Erscheinung derselben ausdehnen. Sollten jedoch sogar die, in diesem Theile unseres Werkes noch weiter in functioneller, formativer und einheitlicher Hinsicht durchgeführten Analogien zwischen dem individuellen und dem socialen Nervensysteme, sowie auch zwischen ihren Intercellularsubstanzen, den Leser noch nicht Uberzeugen können, dass die menschliche Gesellschaft ein realer Organismus ist, so können wir schliesslich einen solchen Leser nur noch ersuchen, "zum wenigsten den Versuch zu machen, sich selbst darüber Rechenschaft zu geben, wie denn eigentlich die unzähligen Ähnlichkeiten, welche die menschliche Gesellschaft und die Einzelorganismen der Natur unter einander nach allen Richtungen hin bieten, zu erklären sind. Als durch den Zufall herbeigeführt, können diese Aehnlichkeiten nicht betrachtet werden, weil ihre Zahl zu einer solchen Annahme eine zu grosse ist. Wir gehen noch weiter und behaupten, dass es Uberhaupt in der menschlichen Gesellschaft nichts geben kann, dem nicht irgend eine Analogie im Einzelorganismus entsprechen würde. Wir fordern daher den Leser auf, im Fall er irgend eine functionelle, formative oder einheitliche Erscheinung entweder im socialen oder im Einzelorganismus gefunden haben sollte, für die es in dem anderen

yxm keine entsprechende Analogie gäbe, mit seinen Bedenköh und Widerlegungen auf Grundlage solcher aufgefundenen Lücken hervorzutreten; findet sich auch nur eine Erscheinung im socialen oder im Eirizelorganismus, für welche es keine Analogie in dem einen oder anderen gäbe, so halten wir uns für besiegt. Uns ist es bis jetzt nicht gelungen, eine solche Erscheinung auszuspüren; im Gegentheil, je weiter wir in unseren Forschungen vorrückten, desto tiefer, umfassender, deutlicher und bestimmter, sowohl in Hinsicht auf die Einzelheiten als auch in Bezug auf das Ganze, traten die Analogien zwischen den Naturorganismen und der menschlichen Gesellschaft hervor. Setzen wir aber den Fall, dass wir uns in der Erklärung der unzähligen, im Ganzen und in allen Theilbn nach allen Richtungen hin einander entsprechenden Analogien zwischen den Naturorganismen und der menschlichen Gesellchaft geirrt hätten; dass der sociale Organismus kein realer ist; dass, indem wir ihn als einen solchen anerkannt haben, wir uns unter dem Einfluss einer krankhaften Hallucination, welche immer nur crescendo an Intensität gewonnen hat, befanden; nehmen wir endlich an, dass die Aehnlichkeiten zwischen dem socialen und den Einzelorganismen einen anderen, uns unbekannten Grund haben — nun, so bitten wir den Leser, auf irgend eine andere Weise diese Aehnlichkeiten sich selbst wnd ms zu erklären. Denn irgend eine Erklärung für dieselben muss es doch geben. Eine Antwort, die dahin lauten würde, dass die Analogien zwischen den Einzelorganismen und der menschlichen Gesellschaft nur figürlich zu verstehen seien, würde gar kerne Erklärung involviren; denn die menschliche Gesellschaft ist mit allen Kräften, die sie kund thut, mit allen wechselvollen Erscheinungen, die sie in ihrem Schoosse birgt, keine Allegorie, keine rhetorische Figur. Gewisse Ausdrücke und Worte kann man wohl bildlich deuten und auffassen, aber doch nicht Etwas, was in der Wirklichkeit

XXIV

vorhanden ist. Mit demselben Rechte könnte man behaupten, dass die unzähligen Aehnlichkeiten, die verschiedene Einzelorganismen der Natur in Hinsicht auf ihren Zellenbau, ihr Muskel- und Nervensystem u. s. w. an den Tag legen, nur figürlich zu verstehen sind. — Also auf dem realen Boden der positiven Wissenschaft werden wir die Einwendungen und Widerlegungen unserer Gegner erwarten. Gegen rhetorische Windmühlen können wir und wollen wir nicht fechten. — Was heisst nun aber eigentlich wissenschaftlich erklären? Weder die Naturkunde, noch die Socialwissenschaft, noch die Philosophie sind im Stande, irgend welchen Widerspruch, den die Realität ihrem Wesen nach darstellt, endgültig zu lösen. Die Wissenschaft kann nur die Gesetze der Bewegung, der Wechselwirkung der Kräfte und der Entwickelung vom Standpunkt ihres realen Causalzusammenhanges aus erklären und begründen. Indem Newton das Gesetz der Bewegung der Himmelskörper auf die Kraft der Anziehung und Abslossung, auf die Centripetal- und Centrifugalkraft zurückführte, löste er nicht den Widerspruch, der in der Wirkung dieser Kräfte liegt; er erklärte und begründete nur den realen Causalzusammenhang der Bewegung der Himmelskörper. Dasselbe gilt von der Polarisation der elektrischen, magnetischen und galvanischen Kräfte, von Wärme und Kälte, von Licht und Finsterniss u. s. w., u. s. w. So kann auch der Philosopli und Psycholog den Widerspruch zwischen Gutem und Bösem, StoiF und Kraft, Körper und Geist, Materie und Gott nicht lösen, so auch der Sociolog den Widerspruch zwischen Bedürfniss und Befriedigung, zwischen Production und Consumtion, zwischen dem Besitzlichen, Fähigen, Fleissigen und dem Nichtbesitzlichen, Unfähigen, Saumseligen. Die Socialwissenschaft kann nur die Gesetze der Entwickelung dieser Gegensätze erforschen, und die Staatskunst kann auf Grundlage dieser Gesetze nur den Uebergang von einem Gegensalze zum andern zweckmässiger leiten und vermitteln. Sie aufheben

XXV

kann die Staatskunst ebensowenig, wie die Industrie die mechanischen und chemischen Gesetze. Nur stützen kann sie sich auf dieselben, um nützliche Zwecke zu erreichen. — Daher ist der Vorwurf: wir hätten in den ersten Theilen unseres Werkes den Widerspruch zwischen Geist und Materie, zwischen Zweckmässigkeit und Causalität, zwischen Freiheit und N o t wendigkeit nicht gelöst, sondern zwischen Scylla und Charybdis stets lavirt — kein wissenschaftlicher. Er ist von denjenigen ausgegangen, die das von uns aufgestellte System seinem Wesen nach gar nicht verstanden haben. Wir haben die Lösung oder Aufhebung dieser Gegensätze nie als unsere Aufgabe oder als Aufgabe der Wissenschaft überhaupt aufgestellt, und das gerade aus dem einfachen Grunde, weil wir der Wissenschaft im Allgemeinen und speciell der Socialwissenschaft eine reale Grundlage zuerkannt haben. Die Gegensätze im socialen Gebiet existiren ebenso wirklich und real, wie Abstossung und Anziehung in der anorganischen Natur; und wie der Gegensatz zwischen Abstossung und Anziehung von der Mechanik nicht aufgehoben wird, sondern von ihr nur die Gesetze der Wirkung der Anziehungs- und Abstossungskräfte auseinandergesetzt werden, so muss dasselbe auch von Seiten der Socialwissenschaft und der Philosophie in Hinsicht auf die socialen, geistigen und ethischen Kräfte geschehen. Wir glauben in den beiden ersten Theilen unseres Werkes die Gesetze der Entwicklung des Geistes aus der Materie, der Zweckmässigkeit aus der Causalität, der Freiheit aus der Notwendigkeit durch die von uns aufgestellte Thesis erklärt zu haben, dass ein jeder Mensch im Grossen und Ganzen in der Entwickelung seiner höheren Nervenorgane die ganze Geschichte der Menschheit real durchläuft. Hier liegt die Erklärung des Ueberganges und des Causalsusammenhanges der obenangeführten Gegensätze. Worin diese Gegensätze ihrem Wesen nach bestehen, das hat bis jetzt die Wissenschaft nicht erklärt und wird sie auch

XXVI nie erklären können, denn sonst wäre sie im Besitze der absoluten Wahrheit. Alle Versuche, die Gegensätze und Widersprüche des Seins von irgend welchem ausschliesslichen Standpunkte aus, dem rein idealistischen oder materialistischen, aufzuheben oder zu lösen, haben nur zu offenbaren oder latenten Gegensätzen und Widersprüchen in den philosophischen Systemen selbst gefuhrt, welche sich jene Aufgabe gestellt hatten. — Die Wissenschüft, als solche, muss alle, dem Sein immanenten Gegensätze und Widersprüche als real existirende Grössen anerkennen und sich nur zur Aufgabe stellen, durch Ergründung der Entwickelungsgesetze den realen Causalzusammenhang, welcher den Uebergang von einem Gegensatz zum anderen bedingt, festzustellen. Der grösste Triumph der Wissenschaft würde daher nur darin bestehen können, alle Gegensätze und Widersprüche des Seins auf blos zwei einander gegenüberzustellenden Grössen zurückzuführen. Weiter kann keine Wissenschaft gehen, denn über diese äusserste Grenze der menschlichen Erkenntniss hinaus, liegt das Absolute, d. h. das Unerkennbare. — Der Realismus vom höheren Standpunte aus, wie wir ihn verstellen und auf welchen allein die Wissenschaft sich stützen kann, muss sowohl dem Idealisten als auch dem Materialisten Genüge leisten, indem er sich weder mit der idealistischen, noch mit der materialistischen Weltanschauung in directem Widerspruche befindet, sondern beide in sich aufnimmt und sie auf dem wissenschaftlichen Boden v e r einigt und aussöhnt. — So sagt auch Lindwurm in seinen Vorlesungen über die Wirthschaftslehre: »Lassen wir jenen vernünftigen Realismus der edleren Naturforschung walten, welcher sich mit dem Idealismus der Philosophie in den Zielen eins weiss und nur hinsichtlich der Forschunggart von ihm a b weicht. Dieser vernünftige, wissenschaftliche Realismus will die Körper erforschen, um dem Geistigen eine sichere

XXVII

Grundlage zu schaffen, während der vernünftige Idealismus das Geistige erforscht, um die Körperwelt zu heben. Realismus und Idealismus in diesem Sinne gleichen zwei Gruppen von Bauverständigen, welche einen Tunnel von zwei Seiten in Angriff nehmen. Ist die Rechnung richtig, die Arbeit genau, so müssen sie sich in der Mitte des Berges treffen.«

Inhaltsverzeichniss. Seite

Vorwort Einleitung Kapitel I. Sociale Mathematik . „ II. Die sociale Physik in ihrer realen Bedeutung „ Ol. Chemische Analogien „ IV. Sociale Psychophysik „ V. Die psychophysische Elasticität des socialen Nervensystems 3 VI. Die psychophysische Wechselwirkung zwischen dem socialen Nervensystem und der Zwischenzellensubstanz VII. Die psychischen und physischen Bedürfnisse des Menschen VIII. Psychische und physische Güter und Dienste IX. Psychischer und physischer Gebrauchswerth X. Die psychische und physische Consumtion der Güter und Dienste XI. Die real-genetische Socialethik . . . XII. Die psychophysische Socialpathologie . . XIII. Das Gesetz der Uebereinstimmung des Nach-, Neben- und Uebereinander der Bewegung als allgemeine Grundlage der wissenschaftlichen ErkenntniBs

V IX 1 24 62 91 151

176 208 233 253 297 336 399

461

I.

Sociale

Mathematik.

D e r >socialen Physik« ist bis jetzt in der Wissenschaft eine doppelte Bedeutung beigelegt worden. Man hat erstens unter dieser Benennung eine systematische Zusammenstellung und Gruppirung von Zahlen verstehen wollen, durch welche die verschiedenen Verhältnisse, Beziehungen und Thätigkeitsäusserungen der einzelnen Glieder der Gesellschaft oder des ganzen socialen Organismus, zu verschiedenen Zeiten und unter verschiedenen Lebensbedingungen, ausgedrückt und klargelegt werden sollen. Von diesem Standpunkt aus fällt der Begriff der »socialen Physik« mit demjenigen der Statistik zusammen. Eine andere Bedeutung erhält aber dieser Begriff vom Gesichtspunkte der Wirkung der Kräfte der physischen Natur auf den Menschen, und umgekehrt, der Wirkung des Menschen auf die ihn umgebende Natur. Diese Bedeutung haben der »socialen Physik« mehrere Culturhistoriker, wie z. B. Buckle, und einige Philosophen, wie Aug. Comte, Littre und Andere, beigelegt. Sehen wir nun, was in diesen beiden Anschauungen Wahres •und Falsches vom Standpunkte der Socialwissenschaft aus enthalten ist. Unter der Benennung »sociale Physik« werden jetzt meistentheils diejenigen statistischen Zusammenstellungen verstanden, aus welchen bestimmte Durchschnittszahlen abgeleitet werden oder die in gewissen geometrischen Schematen ausgedrückt werden können. So geben statistische Tabellen über die Bewegung der Bevölkerung in den verschiedensten Ländern Europa's, über die Zahl der Ehen, der Geburten, der Sterbefälle, über das Yerhältniss der Geschlechter, des Alters etc., in den verschiedensten Gruppirungen den Grund ab zu dem ersten Theile der Physique Gedanken über die Socialwissenschaft der Zukunft. III.

1

2 sociale von Ad. Quetelet*). Im zweiten Theile desselben Hauptwerkes sucht Quetelet die physischen, geistigen und ethischen Strebungen, Bedürfnisse und Fähigkeiten gleichfalls durch gewisse Durchschnittszahlen und Schemata auszudrücken. Wuchs und Gewicht, Kraftentwickelung der Muskeln, Pulsschlag und Athemzug, Gewicht des Blutes, Fähigkeit zum Springen und Laufen, diese verschiedenen Momente der physischen Entwickelung des menschlichen Körpers werden für die beiden Geschlechter und die verschiedenen Alter in den mannigfachsten Zahlenverhältnissen und in verschiedenen Linien und Kurven veranschaulicht. Dasselbe geschieht in Betreff der geistigen Eigenschaften deB Menschen durch Eintheilung der Bevölkerungen nach den verschiedenen Beschäftigungen und Berufszweigen, durch die Zusammenstellung der Zahl der abgefertigten Briefe, mit und ohne Adresse, durch die Zahl der geschriebenen Bücher, Theaterstücke, Opern, durch die Zahl der Wahnsinnigen etc.; in Hinsicht auf die ethischen Eigenschaften durch kriminalstatistische Zusammenstellungen, durch Feststellung der Selbstmorde etc. Ganz in derselben Weise wird die sociale Physik und die Statistik von der Mehrzahl der Nationalökonomen, Socialtheoretiker und Statistiker aller Länder auch noch jetzt aufgefasst und behandelt. Fragen wir nun zuvörderst: ob die Benennung »sociale Physik« von diesem Standpunkte aus eine berechtigte ist und zu keinen Missverständnissen Anlass geben kann? — Sind sociale und biologische Erscheinungen nur aus dem Grunde, weil sie in Zahlen oder durch Linien ausgedrückt und veranschaulicht werden, zugleich jiuch rein physikalische Erscheinungen in dem Sinne, wie letztere von der Naturwissenschaft verstanden werden? Auf diese Fragen kann man nur verneinend antworten. — Der Physik ist im Gebiete der Naturkunde ein begrenztes und bestimmtes Gebiet angewiesen, und unter physikalischen Gesetzen wird eine andere Gruppirung verstanden, als unter chemischen und biologischen. Erstere werden vorzugsweise durch Zahlen ausgedrückt, während letztere es nur insofern sein können, als sie auf rein physikalische Erscheinungen zurückgeführt werden. Und dieses gilt noch mehr in Betreff der Socialwissenschaft. *) Physique sociale on essai sur le développement des facultés de l'homme par Ad. Quetelet, 1869.

3 — Daher würde, unserer Meinung nach, die Benennung: »sociale Mathematik c eine ungleich passendere fiir alle statistischen Zusammenstellungen, und umgekehrt würde Alles das als zum Gebiete der Statistik gehörend anerkannt werden müssen, was in Betreff der Entwickelung des Menschen und der Gesellschaft in Zahlen ausgedrückt werden kann. Und da ähnliche Zahlenverhältnisse auch für die anderen Gebiete des menschlichen Wissens aufgefunden und zusammengefasst werden können, so muss auch eine jede Wissenschaft ihre Statistik haben. Die hohe Bedeutung der Statistik liegt gerade in ihrer, alle Gebiete des menschlichen Wissens umfassenden und bedingenden Allgemeinheit. An dieser Bedeutung kann jedoch die Statistik nur verlieren, wenn man ihr Eigenschaften zuschreibt, die sie als sociale, zoologische, botanische etc. Mathematik nicht haben kann; dass man ihr Fragen stellt, welche durch Zahlen und Linien nicht beantwortet werden können, oder wenn man in ihren Zahlen und Linien den ganzen Lebensinhalt der socialen Entwickelung aufzufinden, den ganzen Causalzusammenhang des socialen Lebens herauszulesen wähnt. Denn dasselbe müsste ja alsdann auch für die organische Natur überhaupt seine Gültigkeit haben. — Es fragt sich nun aber: ist irgend ein Gesetz in der organischen Natur auf Grundlage statistischer Data entdeckt worden? Hat Darwin das Gesetz der natürlichen Zuchtwahl durch statistische Tabellen über die Bewegung der Bevölkerung des Waldes und des Meeres entdeckt? Eine einzige richtige Beobachtung, ein einziger richtiger Schluss zwischen Ursache und Wirkung kann zu wichtigeren Entdeckungen führen, als Berge von statistischem Material. Letzteres kann freilich zur Widerlegung oder Begründung wissenschaftlicher Hypothesen dienen; für das praktische Leben, für die Volkswirthschaft und die Verwaltung hat es eine hochwichtige Bedeutimg; aber der innere Causalzusammenhang der biologischen und socialen Erscheinungen muss auf einem anderen Wege gesucht werden, und dieser Weg ist, wie wir bereits in den beiden ersten Theilen unseres Werkes bewiesen haben, die real-vergleichende Methode. Sir John Herschel hebt in seiner Einleitung zur »socialen Physik« von Quetelet, »über die Wahrscheinlichkeitstheorie und deren Anwendungen auf die Naturkunde und die Socialwissenschaft< sehr richtig den grossen Unterschied hervor zwischen einem Durchschnittsresultat und einem average. Letzteres kann i«

4 zwischen den verschiedensten, wesentlich nichts Gemeinschaftliches habenden Erscheinungen stattfinden, z. B. zwischen der Höhe der Häuser und derjenigen der Bücher einer Bibliothek. Die Durchschnittszahlen können dagegen als Grundlage für die Wissenschaft dienen*). — Aber Herschel sagt selbst weiter**), dass die Wahrscheinlichkeitstheorie keine Aufklärung über das Causalverhältniss der Erscheinungen liefern kann. Ganz entgegengesetzte Ursachen können im täglichen Leben dieselben Resultate liefern. Nun ist aber der Zweck einer jeden Wissenschaft, das Causalverhältniss der Erscheinungen zu ergründen. Dass der Mensch eine gewisse mittlere Grösse in diesem oder jenem Lande erreicht, dass in einer Gesellschaft Eine Art Verbrechen überwiegend ist, in der anderen eine andere — und die Zahlen mögen auch noch so beständig sein und noch so regelmässig in ihren Schwankungen sich zeigen — der wesentliche Causalzusammenhang wird dadurch noch nicht ergründet. — Es unterliegt aber andererseits auch keinem Zweifel, dass durch richtige Gruppirungen von Zahlen und durch Zusammenstellung von Durchschnittsresultaten die Entdeckung der socialen Gesetze erleichtert und befördert werden kann. Adam Smith, Malthus, Ricardo haben sich alle nur in diesem Sinne auf Zahlen gestützt und aus Zahlen Folgerungen gezogen. So sagt auch Schäffle***): »Das s. g. >>Gesetz der grossen Zahlen« < (zuerst von Poisson so genannt) kann nicht im streng logischen Sinne Gesetz genannt werden. Ein Logiker vom Range Lotze's bestreitet entschieden den Gesetzescharakter der grossen Zahl. Ein Gesetz sei ein hypothetisches Urtheil, das einen Nachsatz als nothwendig giltig ausspreche, wenn der Vordersatz gelte; nun könne die Gesetzmässigkeit, die in der grossen Zahl ausgedrückt sein solle, nur aussagen: »»wenn alle bekannten und unbekannten Bedingungen (physische und moralische) in der nächsten Zeiteinheit wieder so sind, so wird auch die Reihe aller Folgen, die Summe der bewirkten Einheit, die Zahl, wieder so sein.c« Das sei aber kein Gesetz, sondern triviale Tautologie! Wolle aber der grossen Zahl assertorisch, nicht hypothetisch der Sinn unterlegt werden, dass jene *) Physique sociale par Quetelet, Introduction par J. Herschel, S. 06. **) Ebendas. S. 45. ***) Schäffle, Bau und Leben des socialen Körpers, Bd. I, S. 126.

5 Gleichheit aller bekannten und unbekannten Bedingungen immer wieder stattfinden müsse, so würde dies doch nur sehr eingeschränkt, nämlich im Sinne einer grösseren oder geringeren Wahrscheinlichkeit, durch einen im einzelnen Falle begründeten oder unbegründeten Analogieschluss behauptet werden können. Gross wird nun diese Wahrscheinlichkeit nur dann sein, wenn wenige und wenig veränderliche Hauptcoefficienten der Wirkung zu Grunde liegen und die begleitenden Nebenursachen bei den zur grossen Zahl vereinigten Einzelfällen in entgegengesetzter Vertheilung wirken, also innerhalb der grossen Zahl sich wechselseitig aufheben, mit welcher Aufhebung oder Elimination auch die Momente individueller Freiheit mehr oder weniger wegdestillirt sein mögen. In diesem Fälle mag die grosse Zahl zur Entdeckung oder ersten Yermuthung eines Gesetzes führen (was unschätzbar wichtig ist), aber sie selbst ist nicht der Ausdruck eines Gesetzes, sondern der Zahlenausdruck der constanten (natürlichen oder sittlichen) Verhältnisse, unter welchen eine Gruppe individueller Erscheinungen steht.« Ganz dasselbe drückt in anderen Worten G. Rümelin *) aus: »Jener goldene Faden einer gemeinsamen logischen Gliederung und Technik, der alle Wissenschaften zu einem bunten, geschlossenen Kranze verbinden soll, ist noch keineswegs in alle Theile der Statistik eingeflochten. Dieser Mangel tritt an keinem Punkte so deutlich und störend hervor, als an dem Begriffe eines Gesetzes. Die Statistik handhabt diesen Begriff nicht nur, wie mir scheint, in einem von den übrigen Wissenschaften nicht zugelassenen Sinne, sondern sie glaubt sogar eine ihr eigenthümliche Theorie darüber aufstellen zu können. Sie vindicirt sich eine von den übrigen Gesetzen abweichende neue Art von Gesetz und nennt sie das Gesetz der grossen Zahl. Hiernach soll es auch solche Gesetze geben, welche an wenigen Fällen überhaupt nicht erkennbar seien, sondern erst für die Massenbeobachtung, bei einer grossen Zahl von Fällen, hervortreten, und dann in einer numerischen Fassung, als vorherrschende, durchschnittlichprocentuale Erscheinungen auszudrücken seien.« Alsdann bemerkt Rümelin**), dass die grossen Zahlen zunächst lediglich nichts ausdrücken, als eine gesellschaftliche, *) G. Rümelin: Beden nnd Aufsätze, S. 15. **) Ebendaa. S. 17.

6 historische Thatsache. »Indem man,< sagt er, »dieselbe Durchzählung bei anderen ähnlichen Gruppen und in verschiedenen Zeiten wiederholt, erweitern sich die Thatsachen zu charakteristischen Merkmalen von Gruppen und Zeiten, indem sich die Zählungen über die verschiedenartigsten Lebensverhältnisse all-, mälig ausbreiten, entsteht das reichhaltigste Material vergleichender Combination. Es zeigen sich Aehnüchkeiten, Unterschiede, Regelmässigkeiten jeder Art; zwei Zahlenreihen steigen Und fallen immer mit einander; bei zwei anderen findet das Umgekehrte statt; die eine steigt, wenn die andere fällt; wieder andere zeigen keinerlei Relation zu einander. Es ergeben sich neben Merkmalen, Eigenschaften und coexistirenden Prädikaten auch Causalzusammenhänge, einmalige, wiederkehrende, constante. Es erschliesst sich so das innere Spiel und Getriebe des socialen Lebens; es treten die Massenwirkungen physischer Kräfte hervor, deren Zusammenhänge unter sich selbst, deren actives und passives Verhalten zu physikalischen und somatischen Einflüssen. Man kann und wird auf diesem Wege schliesslich auch zu Gesetzen gelangen; die Methode ist zwar nicht die einzige, aber vielleicht eine der fruchtbarsten; allein das Gesetz, das so gewonnen wird, wird keine statistische Form, keine numerische Fassung mehr haben, es wird ausnahmslos und allgemein sein, wie jedes andere; mit der grossen Zahl hat es lediglich nichts zu schaffen, als dass diese zu den Mitteln seiner Entdeckung gehört hat und zu seiner Beweisführung noch Dienste leisten kann.« Indem wir mit der klaren und geistvollen Kritik Rümelin's in Hinsicht auf die Bedeutung der statistischen Methode und der grossen Zahlen vollständig übereinstimmen, müssen wir unsere abweichende Ansicht nur dahin aussprechen, dass die gross-en Zahlen, nach unserer Meinung, weniger zur Entdeckung als znir Bekräftigung der auf dem Wege der Beobachtung und der realvergleichenden Methode entdeckten Gesetze dienen können, und dass vermittelst solcher Zahlen auch ein mathematischer Ausdruck für die socialen Gesetze möglich und wünschenswerth iist. Gerade durch Auffindung und Feststellung von mathematischen, resp. algebraischen Formeln werden die socialen Gesetze als allgemeine, den Naturgesetzen gleichstehende Gesetze erkannt umd auf einer unerschütterlichen Grundlage befestigt werden. Vor Allem darf man sich jedoch über die Schwierigkeiten, mit welchen die Anwendung der socialen Mathematik als Anis-

7 druck der socialen Entwickelungsgesetze verbunden ist, keine Illusionen machen. Die Statistiker selbst erkennen die Schwierigkeit vollständig an, durch Zahlen die Verhältnisse im ökonomischen Gebiete, sogar in Betreff der Marktpreise, d. h. dort, wo es sich gerade nur um Zahlen handelt, zu bestimmen. »Wie ausgedehnte Forschungen nöthig sind,« sagt Et. Laspeyres*), »um nur die einfachsten factischen Fragen zu beurtheilen, geschweige denn die Erscheinungen auf ihre Ursachen zu analysiren, möge an einem Beispiele gezeigt werden. Irgend eine Waare steige oder sinke an irgend einem Orte in irgend einem Monate, z. B. Januar, besonders stark im Preise. Ist dieses Steigen in der Natur der Dinge liegend oder ist es das Product einer künstlichen Speculation? Um das zu beurtheilen, müssen wir wissen, wie geht die Waarenbewegung zu anderen Zeiten, also wie bewegt sich durchschnittlich die gedachte Waare im selben Monat oder in derselben Woche der anderen Jahre? Ergäbe diese Untersuchung, dass Jahrzehnte hindurch der Januar durch eine Preissteigerung ausgezeichnet ist, so wäre jedenfalls nicht auffallend, dass auch in diesem Monat Januar die Waare gestiegen ist, sondern höchstens das Wieviel. In diesem Falle wäre zu fragen, wie viel ist die diesmalige Preissteigerung grösser als sonst im Durchschnitt? und dieses Plus auf seine Gründe zu analysiren. Zeigte der Januar keine durchschnittliche regelmässige Preissteigerung, so wäre zu fragen, ob die Waare diesmal die Preissteigerung mit der Mehrzahl der Waaren theilt, d. h. die diesjährige Januarbewegung wäre bei möglichst vielen Waaren zu untersuchen. Diese Untersuchung auf das > »Quantum« < der Preissteigerung ausgedehnt, sagte uns, ob diese Waare anderen gegenüber aussergewöhnlich stieg oder ob sie nur mit den anderen Waaren stieg, d. h. Grund für eine allgemeine Preissteigerung vorlag. Der Ueber- oder Unterschuss über oder unter der durchschnittlichen Preisbewegung aller Waaren in diesem Monat Januar ergäbe uns, wie viel in der Preisbewegung dieser Waare auf diesen allgemeinen Grund, wie viel auf Specialursachen zurückzuführen wäre. Je mehr Monate Januar und je mehr Waaren im Monat Januar wir zur Yergleichung heran*) Et. Laspeyres: Die Kathedersocialisten gresse, S. 19.

und

die statistischen Con-

8 ziehen konnten, um so besser wird das Resultat. Um weiter zu forschen, ob die gegen andere Jahre im gleichen Monat Januar ermittelte überdurchschnittliche Preisbewegung, oder ob die Preissteigerung, welche grösser ist, als die durchschnittliche aller anderen Waaren, locale Gründe hat oder Gründe, welche an allen oder an vielen Orten zugleich auftreten, internationale Gründe, muss weiter eine Vergleichung unseres Ortes mit der durchschnittlichen möglichst vieler anderer Orte angestellt werden. Ebenso wären aber auch alle Waaren des einen Ortes mit denselben Waaren an anderen Orten zu vergleichen. Nehmen wir z. B. die 840 Waaren, welche wir augenblicklich für Hamburg untersuchen, in ihrer Bewegung von Monat zu Monat von jetzt auf 10 Jahre zurück, an 20 verschiedenen Orten, was gewiss nicht zu viel wäre, so müssten 840 Waaren in 120 Zeitpunkten und 20 Orten verglichen, also die Ausschreibung (resp. wo nicht vergleichbare Münzen und Maasse vorliegen, Umrechnung) von 2,056,000 Preisangaben vorgenommen werden, ehe man an irgend eine dieser obigen gegenseitigen Vergleichungen herantreten kann. Schon der zehnte Theil der Waaren, 84, dürfte genügen, um mit den dann nur 205,600 Preisangaben zurückzuschrecken, ausser wenn etwa 20 Statistiker an den 20 verschiedenen Orten zuvor nur die locale Bearbeitung übernähmen, um von diesen dann allmälig zur geographischen Vergleichung vorzugehend Wie wird es nun mit noch complicirteren Verhältnissen aus derselben Sphäre hergehen? — Zieht man dabei in Betracht, dass der Preis einer jeden Waare durch die gegenseitige Energie der Anfrage und des Angebotes bestimmt wird, und dass diese Energie ihrerseits von einer grossen Zahl ethischer, politischer und anderer Factoren bedingt ist, so wird man zugeben, dass die Registratur der Marktpreise in mancher Hinsicht eine praktische Bedeutung haben kann, dass sie jedoch zu der Formel eines nothwendigen Gesetzes nicht führen kann. Es wäre dasselbe, wenn man in der Physik die Grösse der verschiedenen Körper nach Länge, Höhe etc. registriren würde und darin ein n o t wendiges Gesetz erblicken oder aufsuchen wollte. — Dass ein jedes Steigen oder Sinken der Preise eine Ursache h a t , also in einem Causalverhältnisse zu anderen ökonomischen und socialen Erscheinungen steht, wird wohl Niemand bezweifeln. Es handelt sich nicht darum, sondern ob durch Anhäufung von Zahlen die Entdeckung eines nothwendigen Gesetzes für die Bewegung der

9 Marktpreise möglich sei. "Wir zweifeln daran, weil bei einer jeden Anfrage und einem jeden Angebot ethische Elemente, d. h. der freie Wille des Menschen, hineingeflochten ist und das Yerhältniss auf unbestimmte und nicht zu bestimmende Weise stören kann. Man wird wohl erwidern, dass dieses auch in Betreff aller anderen socialen Erscheinungen der Fall ist, und man daraus folgern müsste, dass überhaupt eine Gesetzmässigkeit in Betreff der Entwickelung der menschlichen Gesellschaft nicht anerkannt werden dürfte. Allein dem ist nicht so; denn gleichwie das Thier oder der Mensch die Wahl hat, nach dieser oder jener Richtung hin sich zu bewegen, dabei aber immer nach bestimmten mechanischen Gesetzen seine Bewegungen ausführen muss, so kann auch eine sociale Gesammtheit nach dieser oder jener Richtung hin sich entwickeln, immer jedoch nur nach bestimmten nothwendigen Gesetzen. Diese nothwendigen mechanischen Gesetze h a t die menschliche Gesellschaft gemeinsam mit der organischen N a t u r , weil sie selbst ein Organismus ist. Aber auch nnr diese Gesetze sind nothwendige, alle anderen, wie z. B. Zahlenverhältnisse, die nicht auf diese Gesetze sich gründen, sind nur zufällige, obgleich immer im Causalverhältnisse zu den früheren, stehende Erscheinungen. Dass ein Meteorstein uns auf den Kopf f ä l l t , ist eine zufällige Erscheinung, obgleich wir uns, gleichwie der Meteorstein, nach nothwendigen Gesetzen bewegen und obgleich das Erscheinen des Meteorsteins gerade auf dem Punkte der E r d e , auf welchem wir uns zufällig befinden, seine Ursache hat. Das Zusammentreffen dieser beiden Ursachen ist also dem menschlichen Geiste gegenüber ein Zufall und kann auf kein nothwendiges Naturgesetz zurückgeführt werden, und ebenso sind es die meisten statistischen Zahlen Verhältnisse und Durchschnittszahlen. Wenn Engel für die unteren Klassen der Bevölkerung die Normalconsumtion auf circa 1200 Fr. jährlich festsetzt und die Normalconsumtion der einzelnen Ausgabeposten in folgendem Zahlenverhältniss darstellt: Normalconsumtion in Nahrung 758 Fr. oder 62,4 °/0 > » Kleidung 170 > > 14 > > > Wohnung 110 » > 9 > > > Beleuchtung, Heizung 66 > > 5,4 > > > Geräthen 28 > > 2,3 > L a t u s : 1132 Fr. oder 93,1 %

10 Transport: Normalconsumtion in Erziehung » » Sicherheit »

1132 Fr. oder 93,1 % 15 » » 1,2 » 11 » » 0,9 »

» persönlichen Diensten 5 » » 0,4 » Gesammtconsumtion: 1215 Fr. oder 100 c/0, so mag die Feststellung eines solchen Verhältnisses für bestimmte sociale Bedingungen von grosser praktischer Bedeutung sein; auf nothwendige Naturgesetze ist es jedoch nicht gegründet, sondern auf zufällige Bedingungen. Bei den Wilden — und das sogar in den höheren Klassen derselben — schrumpft die Kleidung oft auf Null zusammen, die persönlichen Dienste in der Form der Sclaverei erheben sich dagegen sehr hoch. In einem ungesunden Klima fallt die Normalconsumtion in Gesundheit schwerer in's Gewicht, in zerrütteten politischen oder socialen Verhältnissen dagegen die Normalausgabe in Sicherheit etc. Das von uns in den beiden ersten Theilen unseres Werkes festgestellte Gesetz des socialen Fortschrittes, welches durch Mehrung von Eigenthum, Recht, Macht uud Freiheit ausgedrückt wird, ist dagegen ein nothwendiges Gesetz, weil der sociale Fortschritt nur darin bestehen kann und weil dasselbe Entwickelungsgesetz der ganzen organischen Natur zu Grunde liegt. Ebenso sind Religion, Wissenschaft und Kunst nothwendige Erscheinungen, weil sie die fortschreitende Integrirung und Differenzirung der socialen Kräfte im geistigen Gebiete ausdrücken und weil das Gesetz dieser allmäligen Integrirung und Differenzirung dasselbe ist, welches auch die Entwickelung der Naturkräfte bedingt. Ueberhaujat sind alle socialen Gesetze Bewegungs- und Entioickelungsgesetze, weil die organische und sociale Entwickelung nichts weiter als potenzirte anorganische Bewegung ist. Die Grundlage der socialen Gesetze bilden also die Naturgesetze, ja die socialen Gesetze sind selbst Naturgesetze, weil der sociale Organismus, gleich allen Naturorganismen, ein realer ist. Zahlen und mathematische Formeln haben daher in Hinsicht auf die socialen Gesetze ebensoviel und ebensowenig Bedeutung wie in Hinsicht auf die Naturgesetze. Eine andere Grundlage oder eine andere Bedeutung für Zahlen und mathematische Formeln im Gebiete der Socialwissenschaft zu suchen, war nur so lange möglich, bis der sociale Organismus noch nicht als ein realer anerkannt wurde. Jetzt muss die Methode der Socialwissenschaft auch in Hinsicht

11 auf die angewandte Mathematik als identisch mit derjenigen der Naturkunde anerkannt werden. Und was hier von den socialen Gesetzen überhaupt gesagt worden ist, gilt auch vollkommen in Hinsicht auf die ökonomischen Gesetze. Denn die Gesetze der Ökonomischen Entwickelimg der Gesellschaft sind keine anderen, als die allgemeinen socialen Gesetze in ihrer speziellen Anwendung auf die Ernährung und Fimctionirung des socialen Organismus, tio sind auch die physiologischen Gesetze keine anderen, als die allgemeinen organischen Entwickelungsgesetze der Einzelorganismen in Anwendung auf Ernährung und Functionirung der verschiedenen Organe. Die ökonomischen Gesetze bilden also nichts weiter, als eine Specicdisirung der allgemeinen socialen Gesetze, gleichwie auch die rechtlichen und politischen Gesetze und wie auch die physiologischen, morphologischen und tektologischen Gesetze in Hinsicht auf die Einzelorganismen in der Natur nur Specialisirungen der allgemeinen organischen Entwickelungsgesetze, je nach den verschiedenen Sphären, in welchen sie sich kundthun, darstellen. Die Grundgesetze der Bewegung und Entwickelung der Kräfte sind für alle Sphären dieselben. Fort- und Rückschritt, Anpassung, Vererbung, Kampf um's Dasein, allmälige Differenzirung, Integrirung und Potenzirung, Uebereinstimmung des Nach-, Nebenund Uebereinander — alle diese verschiedenen Ausprägungen der Entwickelung der Kräfte treten sowohl im organischen und anorganischen, als auch im socialen Gebiete in allen drei Sphären: der functionellen, formativen, einheitlichen; der physiologischen, morphologischen, tektologischen; der ökonomischen, rechtlichen, politischen zum Vorschein. In allen Sphären und auf allen Stufen der Entwickelung sind es immer dieselben Gesetze, nur dass sie verschiedenartige Differenzirungen und Potenzirungen darstellen. Die ökonomischen Gesetze sind also auch, wir wiederholen es, Naturgesetze und folglich Bewegungs- und Entwickelungsgesetze. Es giebt für die ökonomische Entwickelung der Gesellschaft keine andere Notwendigkeit, als die Naturnotwendigkeit. Nur wer von dieser tiefen Wahrheit durchdrungen ist, wird auch im socialen Gebiete keine unnützen Fragen stellen und die Lösung dieser Fragen nicht auf anderen Wegen suchen, als denjenigen, welche die Naturgesetze aufweisen. Die Beleuchtung und Begründung der nothwendigen Ökonomischen Bewegungs- und

12 Entivickelungsgesetze der menschlichen Gesellschaft auf dieser unerschütterlichen Basis bildet gerade den Gegenstand dieses dritten Tlieiles unseres Werkes. Die Anerkennung der menschlichen Gesellschaft als realen Organismus ist aber nach 'wie vor die conditio sine qua non dieser Begründung. Wer von dieser grossen Wahrheit nicht durchdrungen ist und diese Ueberzeugung noch nicht gewonnen hat, der wird nicht als treuer Gefährte, sondern als Fremdling uns auf unseren weiteren Forschungen begleiten. Wir werden von ihm nicht verstanden werden und haben von ihm keine Zustimmung und Anerkennung zu erwarten. Nachdem einmal die nothwendigen Naturgesetze der socialen Entwicklung festgestellt sind, kann der Staatsmann, wie ein Jeder, der im socialen Gebiete wirkt, diese Gesetze als Richtschnur seiner Thätigkeit venverthen, ganz wie der Industrielle, der Ackerbauer, der Seemann etc. ihre Zwecke mit Hülfe der von der Naturkunde entdeckten und festgestellten Gesetze zu erreichen suchen. Auch nach dieser Richtung existirt kein Unterschied zwischen Naturkunde und Socialwissenschaft. Wie dort, so hier, sind die Gesetze auf dem realen Causalzusammen hange der Erscheinungen begründet; wie dort, so hier sind daher diese Gesetze auch die einzigen, welche als sicherer Leitfaden zur Erreichung praktischer Lebenszwecke dienen können. Kehren wir nun zu dem Ausspruche Et. Laspeyres' zurück und erwägen wir die von ihm hervorgehobenen Schwierigkeiten, so muss die Frage aufgeworfen werden: kann es bei solchen Schwierigkeiten überhaupt eine sociale Mathematik als Ausdruck der socialen Entwickelungsgesetze geben? Es giebt wohl eine physikalische Mathematik. Man könnte allenfalls noch die für chemische Verbindungen und Aequivalente aufgestellten Formeln als chemische Mathematik bezeichnen. Im Gebiete der biologischen Wissenschaften scheint aber die Anwendung der Mathematik nicht mehr möglich zu sein, es sei denn, dass überhaupt Zahlenangaben und statistische Zusammenstellungen für mathematische Formeln gelten sollen. Um auf die oben aufgeworfene Frage zu antworten, müssen wir uns vor Allem eine klare Rechenschaft geben, was überhaupt unter Mathematik, als angewandte Wissenschaft, verstanden werden muss. Die Mathematik an und für sich (Arithmetik, Geometrie, Algebra) erforscht und bringt zum Ausdruck die Zahlen-(Zeit-)

13 Verhältnisse, sowie auch die Raumverhältnisse in ihrer allgemeinsten, ideellsten Bedeutung. Dass Zahlen überhaupt in Raumverhältnisse umgesetzt werden können und umgekehrt, beweist die Uebereinstimmung des Nach- und Nebeneinander alles Seienden, eine Uebereinstimmung, welche wir, mit dem Uebereinander als drittes Glied in diesem Verhältnisse, bereits im zweiten Theile unseres Werkes als ein grosses, allgemeines, allumfassendes Weltgesetz nachgewiesen haben. Dieses Gesetz ist das allgemeinste von allen anderen Gesetzen, weil alles Seiende nicht anders als in Zeit und Raum existiren kann, daher denn auch alle Erscheinungen ohne Ausnahme, sowohl mechanische, als auch biologische und endlich sociale, in Zahlen- und Raumverhältnissen ausgedrückt werden können und müssen. Dieser Ausdruck der Zahlen- und Raumverhältnisse in den einzelnen Erscheinungsgebieten oder in Hinsicht auf einzelne Data und Facta findet gerade durch die angewandte Mathematik statt. Es könnte daher nur die Richtigkeit dieser oder jener Methode der Anwendung, die Correctheit dieser oder jener Formel in Frage gestellt werden, auf keinen Fall jedoch die Anwendung selbst, indem ein solches Infragestellen die Allgemeinheit der mathematischen Gesetze überhaupt in Zweifel setzen müsste. Es entsteht also aus diesen Erwägungen eine zweite Frage: Welche ist die richtige Methode der Anwendung der Mathematik auf die Socialwissenschaft, und alsdann eine dritte Frage: welches sind die richtigen Formeln, die als Ausdruck der im socialen Gebiete obwaltenden Zeit- und Raumverhältnisse dienen könnten ? Um nun die richtige Methode der Anwendung der Mathematik in irgend einem wissenschaftlichen Gebiete aufzufinden, genügt es nicht, die einzelnen Erscheinungen oder Verhältnisse, welche diesem oder jenem Gebiete der menschlichen Erkenntniss eigen sind, einfach aufzuzählen oder die auf diesem Wege erhaltenen Zahlen- und Raumverhältnisse zusammenzustellen, zu gruppiren oder auseinanderzusetzen. Denn sonst bestände die Astronomie im Zählen der Sterne am Firmament, die Zoologie im Zählen der Thie're im Walde oder auf der Ebene etc. So ist aber, im Grossen und Ganzen, die Statistik im Gebiete der Socialwissenschaft vorgegangen. Das Ungenügende ihrer Methode ist bereits, wie wir oben auseinandergesetzt haben, von vielen hervorragenden Denkern anerkannt worden.

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Welche ist nun aber die Bedingung, die conditio sine qua non der wissenschaftlichen Anwendung der Mathematik auf die Socialwissenschaft und die biologischen Wissenschaften überhaupt? Diese Bedingung besteht darin, dass eine jede mathematische Formel, sie möge auch noch so einfach oder auch noch so complicirt sein, irgend ein Gesetz ausdrücken muss. Ene Zusammenstellung von Zahlen, welche kein Gesetz ausdrückt, mag praktisch eine grosse Bedeutung haben. Wie wichtig ist es z. B. nicht für einen Jeden, zu wissen, wie viel Geld er zu einer bestimmten Zeit in seiner Kasse hat, wie gross und von welcher Qualität seine Wälder, Ländereien etc. sind. Ebenso ist es für den Staat von der grössten praktischen Bedeutung, genau zu wissen, wie gross in einem gegebenen Moment seine Bevölkerung, seine Geldmittel etc. sind. Alle die Zahlen, welche zu diesen praktischen Zwecken dienen, bilden aber noch keine Wissenschaft im strengsten Sinne des Wortes. Denn eine jede Wissenschaft muss auf der Ergründung von nothwendigen Gesetzen fussen. Ein Gesetz setzt ein nothwendiges und beständiges Causalverhältniss zwischen den Erscheinungen voraus und ein Zurückführen dieses Verhältnisses durch alle Potenzirungen der Naturkräfte auf die einfache mechanische Wirkung. Denn nur die mechanische Wirkung nähert sich der absoluten Notwendigkeit in den Verhältnissen der Kräfte. Daher kann auch nur diejenige mathematische Formel, welche auf mechanische Verhältnisse hindeutet, als Ausdruck der Gesetze auch in anderen Gebieten der menschlichen Erkenntniss dienen. Die Statistik thut scheinbar solches auch jetzt, indem sie ihre Zusammenstellungen und Folgerungen auf das Zählen von gewissen Einheiten (Menschen, Industrieunternehmungen, Werthgegenständen etc.) gründet. Ein jedes Zählen besteht in einem mechanischen Act und stützt sich auf die Erkenntniss von bestimmten Einheiten, die in Zeit und Raum existiren. Diese Zusammenstellungen, obgleich sie auf mechanischem Wege geschehen und auf mechanische Verhältnisse reducirt werden können, können aber immer noch nicht als Ausdruck eines Gesetzes gelten. Und dieser zweite Grund liegt darin, dass sie keine nothwendigen, sondern nur zufällige Verhältnisse ausdrücken. Die Formel des Fallgesetzes drückt nothwendige Beziehungen zwischen den verschiedenen Momenten der Geschwindigkeit aus und ist überhaupt nur als beständige Formel möglich, weil diese Beziehungen nothwendige

15 und nicht zufällige sind und auf einem Naturgesetze beruhen. Damit die Formel des Fallgesetzes zu ihrem wahren und reinen Ausdruck kommen könne, ist daher die Beseitigung aller zufälligen Einflüsse auf den Fall der Körper nöthig. Auch letztere wirken auf mechanische Weise und müssten daher auch durch Zahlen ausgedrückt werden können, aber sie beruhen auf zufälligen Wirkungen von Kräften und beruhen daher nicht auf einem Gesetz, welches in einer Formel seinen Ausdruck finden könnte, die auf beständigen Beziehungen und Wirkungen von Kräften beruhen würde. Dasselbe, auf das Gebiet der Socialwissenschaft angewandt, würde etwa so lauten: Die Vermehrung der Bevölkerung in geometrischer Progression beruht auf nothwendigen Beziehungen der organischen Welt und findet daher ihren Ausdruck in einer beständigen mathematischen Formel, welche als Ausdruck eines biologischen Gesetzes dient. Nicht als vermehre sich die Bevölkerung wirklich allerorten in geometrischer Progression. Es hat Zeiten und Länder gegeben, in welchen die Bevölkerung sich nicht nur nicht i,n dieser Progression vermehrt hat, sondern in welchen eine Verminderung, ein Aussterben der Population stattgefunden hat. Letzteres ist aber die Folge zufälliger Ursachen gewesen, welche dem nothwendigen biologischen Gesetze entgegengewirkt, es modificirt oder aufgehoben haben, gleichwie ein Körper, statt gemäss dem Fallgesetze in gerader Linie zur Erde zu fallen, in Folge von zufälligen Stössen und Wirkungen, in unregelmässigem Fluge nach verschiedenen Richtungen hin sich bewegen kann. Aber ferner: Können nun aber auch sociale Beziehungen und Verhältnisse auf nothwendige mechanische Gesetze zurückgeführt werden? Und ist solches möglich, so fragt es sich, auf welchem Wege dieses geschehen kann? Im zweiten Theile unseres Werkes (Kapitel II, S. 70), haben wir gesehen, dass die socialen Kräfte die höchste Potenzirung der Naturkräfte darstellen; wir haben die allmälige Potenzirung dieser Kräfte verfolgt und sind zu der Ueberzeugung gelangt, dass sowohl in der Genesis dieser Hierarchie, als auch in der gegenseitigen Wirkung der bereits potenzirten Kräfte kein Ueberspringen der Instanzen möglich ist, indem eine jede höhere Potenzirung von der niedrigsten Stufe an alle Zwischeninstanzen durchlaufen muss. Diese hochwichtige Wahrheit ist

16 von der grössten Bedeutung auch für die Ergründung der Gesetzmässigkeit der Wirkung der Kräfte in den verschiedenen Potenzirungen. Die Gesetzmässigkeit einer höheren Potenzirung kann nicht direct auf die Gesetzmässigkeit der niedrigsten mechanischen begründet werden mit Ueberspringung der chemischen und biologischen, sondern nur vermittelst der Zwischeninstanzen. Aus diesem Grunde können auch die socialen Gesetze nur auf den biologischen, die biologischen auf den chemischen, die chemischen auf den mechanischen Gesetzen beruhen. So muss auch der rothe Faden des nothwendigen Causalvcrhältnisses der Vermehrung der Population in geometrischer Progression durch die Biologie und Chemie bis zur mechanischen Theilung der anorganischen Körper verfolgt werden. Und dasselbe gilt auch für alle anderen socialen Gesetze, wie wir es im zweiten Theile unseres Werkes dargethan haben. Alle in diesem Theile dargelegten socialen Gesetze haben wir auf biologische begründet, und nur weil die biologischen auf nothwendige Beziehungen und Ausprägungen der Kräfte sich stützten, konnten auch die socialen auf solche zurückgeführt werden. Die mathematische Formel, welche ein sociales Gesetz ausdrücken würde, müsste daher durchaus auch zugleich auf einem biologischen Gesetze fussen, letzteres auf einem chemischen und dieses auf einem mechanischen. Die Formel könnte sich nach Massgabe der Potenzirung der Kräfte höchstens nur vermannigfaltigen und compliciren, weil eine jede höhere Potenzirung zugleich auch durch mannigfaltigere Beziehungen der Wirkungen von Kräften bedingt wird. Nun ist aber die Begründung der socialen Gesetze auf biologische nur möglich, wenn der sociale Organismus als ein realer, gleich den Einzelorganismen der Natur, anerkannt wird. Denn dass das einzelne Glied der Gesellschaft ein reales Wesen ist und den biologischen, chemischen und mechanischen Gesetzen unterliegt, ist nie bezweifelt worden. Die menschliche Gesellschaft, als Gesammtheit, ist aber bis jetzt nur figürlich als Organismus bezeichnet worden, daher auch von Ergründung wirklicher, auf nothwendigen biologischen Beziehungen fussender Gesetze nicht die Rede sein konnte. Das Malthus'sche Bevölkerungsgesetz ist im Grunde kein sociales, sondern ein biologisches, und nur diejenigen Motive, welche dieses Gesetz im Schoosse der menschlichen Gesellschaft modificiren, sind als sociale zu bezeichnen. Diese Motive haben aber Malthus und

17 seine Nachfolger nicht hinreichend gewürdigt und hervorgehoben, daher auch die Folgerungen aus diesem Gesetze einseitig und unvollständig waren. Ein rein sociales, auf nothwendigen biologischen Verhältnissen beruhendes Gesetz ist dagegen das von uns hervorgehobene sociale embryologische Gesetz (Bd. I, Kap. XXII und Bd. II, Kap. IX), sowie das sociale Entwickelungs- und Rückbildungsgesetz überhaupt (Bd. II, Kap. IX bis XUI). Es fragt sich nun: können diese Gesetze, gleich den mechanischen, chemischen und einigen biologischen, ihren Ausdruck in mathematischen Formeln finden? — Sie können es nicht nur, sondern sie müssen es auch. Denn alles Seiende, von den untersten bis zu den höchsten Potenzirungen der Naturkräfte, existirt in Zeit und Raum und kann daher in Zeit- und Raumverhältnissen, also in Zahlen und Grössen, Ausdruck finden. Es würde sich nach Maassgabe der Potenzirungen höchstens nur um die mit einer immer grösseren Mannigfaltigkeit sich steigernde Schwierigkeit der Auffindung und der Zusammenstellung der Formel handeln können. Aber eine Vorbedingung für die Zusammenstellung einer jeden Formel der angewandten Mathematik — und um letztere handelt es sich gerade — ist unumgänglich nothwendig. Zu einer jeden Anwendung der allgemeinen mathematischen Zahlenund Raumbeziehungen ist in allen Gebieten der Wissenschaft ein Maass nothwendig. Die Astronomie rechnet mit Sonnenweiten und Lichtgeschwindigkeiten, mit Erdaxen und Erddichtigkeiten; die Physik mit Theilen des Erdmeridians, mit Kubikwassergewichten, mit Theilen der rotirenden Bewegung unseres Planeten etc.; die Chemie stützt sich in ihren Formeln auf die in der Physik festgestellten Gewichts- und Raumgrössen. In allen diesen wissenschaftlichen Gebieten giebt es aber kein absolut festes Maass, und solches ist überhaupt unmöglich und undenkbar, weil Alles im Weltall sich in steter Bewegung befindet und alle Zeit- und Raumbeziehungen nur vorübergehende sind. Eine jede Wissenschaft kann und muss daher für die zum Ausdruck der Gesetze nothwendigen Formeln nur dasjenige Maass wählen, welches am wenigsten zufälligen Veränderungen und Schwankungen unterworfen ist. Ein solches Maass bieten auch der Volkswirthschaft die edlen Metalle als Wertheinheiten, Uedanken über die Socialwiaaenaahaft der Zukunft. III.

2

18 zu welchen alle übrigen in der Gesellschaft circulirenden Tauschwerthe bezogen werden. Für den Menschen selbst, der doch das primäre Element in der Gesellschaft bildet, ist aber ein solches Maass noch nicht gefunden. Der sogenannte mittlere Mensch, wie ein solcher jetzt aus den grossen Zahlen im Gebiete der Statistik zusammengestellt wird, kann ein solches Maass nicht abgeben, weil die grossen Zahlen selbst nicht auf nothwendigen biologischen Verhältnissen, sondern auf zufälligen Erscheinungen beruhen. Welches ist nun aber dieses Maass, denn irgend ein solches, wenn auch nur ein relativ sicheres und festes, muss es doch geben? Wir haben es im ersten Theile (Kap. XXII) und im zweiten Theile (S. 335) bereits ausgesprochen: dieses Maass, welches als Grundlage der Bestimmung für die Bewegung, d. h. für die Entwickelung der menschlichen Gesellschaft dienen muss, bietet uns der in einer bestimmten Epoche seiner Entwickelung aufgefasste und festgestellte mittlere Mensch vom embryologischen Standpunkte ans. Und warum gerade von diesem Standpunkte aus? Es ist vor Allem klar, dass nur der Mensch als Maass für den Menschen dienen kann, weil man sonst immer nur qualitativ ungleiche Grössen vergleichen würde. Diesen Weg hat auch bis jetzt die Wissenschaft eingeschlagen, indem sie die Menschen untereinander in Hinsicht auf ihre Grösse, ihre Schädelformation, ihre Hautfarbe, ihre Skeletbildung, ihre Haarbildung etc. untereinander vergleicht. Auf Grundlage dieser Analogien werden nun einzelne Seiten der Entwickelung des Menschen untereinander verglichen. Es muss aber der ganze Mensch in seiner ganzen Entwickelung, vom Kinde bis zum Greise und vom Urzustände bis in die entfernteste Zukunft verglichen werden, wenn es überhaupt ein festes Maass und eine auf demselben begründete Formel als Ausdruck des Entwickelungsgesetzes des Menschen in allen Zeiten und in allen Ländern geben soll. Der Mensch, vom embryologischen Standpunkte aus, stellt nun gerade nicht nur den ganzen Menschen, sondern im Kleinen sogar die ganze Menschheit dar, indem das von uns hervorgehobene embryologische Gesetz lautet: »Ein jeder Mensch, von den höchsten Stadien seiner embryonalen Entwickelung an bis zu seiner vollen Reife, durchläuft real alle Epochen der historischen Ent-

19 wickelung der Menschheit ganz ebenso, wie der menschliche Embryo in den niederen Stadien die Entwickelungsperioden niederer organischer Formen durchläuft.« (Th. I , S. 251). Das Nähere über dieses wichtige embryologische Gesetz ist im zweiten Theile (S. 6, 73, 84, 104, 113, 170, 199, 238, 335) auseinandergesetzt. In Folge des allgemeinen Gesetzes der Uebereinstimmung des Nach-, Neben- und Uebereinander muss es also in der Entwickelung eines jeden Menschen Momente und Zustände geben, welche bestimmten Momenten und Zuständen des Nacheinander der Entwickelung der Menschheit in der Geschichte und des Nebeneinander der jetzigen Menschheit entsprechen. Fasst man daher den mittleren Menschen auf einer bestimmten Stufe seiner Entwickelung als eine feste Grösse auf — und eine solche Bestimmung könnte sich am besten auf den jetzt lebenden mittleren Culturmenschen beziehen — so kann er als fester Punkt für die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Entwickelung des Menschen überhaupt dienen, gleichwie unsere Erde mit ihrer gegenwärtigen Bewegung um die Sonne und mit ihrer gegenwärtigen Dichtigkeit als Maass für die Bewegung und die Masse der übrigen Weltkörper dient. Die höheren Nervenorgane des Menschen bilden jedoch ein solches materielles Substrat für seine geistige und ethische Thätigkeit, dessen äussere Formen und Entwickelungsstadien, durch ihre unendliche Feinheit und Unmerklichkeit, sich der Beobachtung der Wissenschaft entzieht. Man hat wohl versucht, die Windungen und Streifen, j a das Gewicht des Gehirns, als Ausgangspunkt für eine Vergleichung der Seelenthätigkeit der verschiedenen Thierspecies und des Menschen zu wählen. Dieses hat aber meistenteils nur dazu geführt, dass man den ungeheuren Unterschied, der zwischen der Seelenthätigkeit des Menschen und der Thiere überhaupt besteht, verkannt und geleugnet hat. Die feineren, höheren, entwickelteren Seiten des menschlichen Nervensystems, welche ein Product der durch die ganze Geschichte der Menschheit, durch Religion, Wissenschaft, Kunst, Sitte, Sittlichkeit, Recht bewirkte höhere Potenzirung sind, hat man ganz übersehen, weil sie sich überhaupt, sogar den bewaffneten Sinnen des Menschen, entziehen. Meistentheils sind es j a auch eher latente Spannungen, als äusserlich ausgebildete Organe, welche die Verschiedenartigkeit und die verschiedene 2*

20 Potenzirung der Seelenthätigkeit sowohl der Thiere, als auch des Menschen bewirken und begründen. Und diese Verschiedenartigkeit und ungleiche Potenzirung ist eine unendliche, dagegen die äusseren Merkmale nur sehr einfach und rol geformt. Daher ist man gezwungen, zur Bestimmung der Stufenfolge und der Mannigfaltigkeit in der Entwickelung des Nervensystems der einzelnen Thierspecies, die einzelnen Thätigkeitsäusserungen ihres Seelenvermögens und ihrer psychischen Anlagen, ihre instinctiven Strebungen, Gewohnheiten, ihre Lebensweise etc. zu verfolgen. Und noch mehr ist man gezwungen dies zu thun dem Menschen gegenüber, in Hinsicht auf sein Fühlen, Wollen und Denken, weil seine psychologische Thätigkeit, als eine höhere, noch weniger durch Beobachtungen der äusseren Formen seiner höheren Nervenorgane möglich ist. Die Thätigkeitsäussernngen des menschlichen Fuhlens, Wollens und Denkens können daher allein, und nicht die äussere Formbildung des Nervensystems oder speciell des Gehirns, als Grundlage und Ausgangspunkt dienen zur Beurtheilung und Beobachtung für die geistige und ethische Entwickelung des Menschen und für die höhere Potenzirung, Differenz iritng und Integrirung seines Nervensystems dem thierischen gegenüber. — Da nun aber zwischen den einzelnen Racen, Völkerschaften und Individuen eine unendliche Mannigfaltigkeit, sowohl in Hinsicht auf Verschiedenartigkeit der psychologischen Befähigung, als auch auf die Stufe der Entwickelung besteht, so kann man einen Vergleich zwischen den Individuen und Racen, vom Urmenschen angefangen, durch die ganze paläontologische Entwickelung der Menschheit in der Geschichte hindurch, bis auf den heutigen Tag nur dann durchführen, wenn man alle Stufen und Seiten der psychologischen Entwickelung auf einen mittleren Menschen bezieht, der als Maassstab und Stützpunkt für diese Vergleiche dienen kann. Dieser Process der Beziehung auf eine mittlere Grösse ist keine neue Erfindung, sondern gründet sich auf einen nothwendigen Gedankengang der menschlichen Erkenntniss überhaupt. So verfährt der Mensch bereits vollständig bewusst in der Naturkunde und so verfährt er bereits unbewusst und halb bewusst im socialen Gebiete. »Alle geistigen Signalements,« sagt Rümelin, »wie sie auch lauten mögen, drücken immer ein Plus oder Minus von einem

21 allgemeinen menschlichen Merkmal aus und denken ein Mittleres als den Nullpunkt hinzu, von dem aus die Stärkegrade nach zwei Seiten hin bestimmt werden. Mögen wir Jemand dumm oder gescheidt, lebhaft oder still, offen oder verschlossen, geizig oder verschwenderisch, muthig oder feig nennen, so denken wir immer einen Durschschnitt als Maassstab mit, und eine Liste aller Abweichungen enthält daher zugleich auch alle psychischen Merkmale des typischen, mittleren Menschen, dessen Seelenleben der Psycholog zunächst im Auge hat.«*) Diesen mittleren Menschen, den sich ein jeder nothwendig denkt, muss die Wissenschaft genauer bestimmen und feststellen. Sie hat es bis jetzt durch Durchschnittsdaten, welche sogenannten statistischen grossen Zahlen entnommen werden, zu erreichen gesucht. Dass auf diesem Wege der für die Wissenschaft als Maassstab für die Entwickelungsbewegung der Menschheit nothwendige mittlere Mensch nicht erlangt werden kann, haben wir bereits bewiesen. — Nur die sociale Embryologie kann uns diesen mittleren Menschen liefern, nur in ihr kann der Maassstab für alle sociale Bewegungs- und Entwickelungssphären gefunden werden und das aus dem Grunde, weil der Mensch, vom embryologischen Standpunkte aus betrachtet, nicht nur die ganze Menschheit im Kleinen repräsentirt, sondern auch die ganze Geschichte der Menschheit in kurzen Abschnitten folgerecht durchläuft. Hier könnte man uns vielleicht den Einwand entgegenstellen, dass, wie der Mensch überhaupt, so auch der moderne Culturmensch, sowohl vom physischen, als auch vom ethischen und geistigen Standpunkte aus, eine so complicirte, mannigfaltige, unstete Einheit darstellt, dass die Schwierigkeiten, einen mittleren Culturmenschen zusammen zu stellen, welcher als Maass der Entwickelung für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dienen könnte, eine fast unüberwindliche scheint. — Dieser Einwand würde ein gegründeter sein, wenn es sich um Feststellung eines absolut unveränderlichen und starren Maasses handeln würde. Es giebt aber sogar in der anorganischen Natur für mechanische Berechnungen kein solches Maass. Denn sogar der in Paris von der zu diesem Zweck eingesetzten internationalen Commission angefertigte Meter wird nicht für *) G. Bümelin: Reden und Aufsätze, S. 130.

22 ewige Zeiten ein absolut richtiger sein, obgleich zu seiner Herstellung die starrsten anorganischen Körper verwandt worden sind. Dasselbe gilt von dem Kubikfuss Wasser als Gewichtseinheit. Es kann sich also nur um ein mehr oder weniger veränderliches Maass handeln. Dass ein auf die biologische Entwickelung gegründetes Maass unmöglich die Starrheit eines anorganischen Maasses für mechanische Zwecke bestimmen, besitzen kann, liegt auf der Hand. Der mittlere Mensch, vom embryologischen Standpunkte aus, ist das allein mögliche Maass, um die Entwickelungsbewegung des Menschen in der Geschichte zu bestimmen, sowohl in fortschreitender als rückschreitender Richtung. Und dieses Maass ist das einzig mögliche, weil es das einzige ist, welches allen Stufen der menschlichen Entwickelung sich anpassen lässt. Um es jedoch anzuwenden, muss man sich vor Allem mit der tiefen Bedeutung der embryologischen Entwickelungsgesetze und mit der Uebereinstimmung des Nach-, Neben- und Uebereinander der Erscheinungen im socialen Gebiete durchdringen. Demjenigen, der zu dieser Erkenntniss gelangt ist, wird die hohe Bedeutung eines Maasses für den Entwickelungsgang der Menschheit nicht nur vollständig klar werden, sondern er wird auch die Methode der Anwendung dieses Maasses leicht fassen können. — Indem nämlich die höheren Nervenorgane eines jeden Menschen embryologisch in kurzen Zeitabschnitten alle Entwickelungsepochen der Menschheit in ihrer geschichtlichen oder paläontologischen Entwickelung durchlaufen, Hesse sich im Grossen und Ganzen bestimmen: 1. Welches Entwickelungsjahr der höheren Nervenorgane des mittleren modernen Culturmenschen der zu bestimmenden Entwickelungsstufe in der geschichtlichen Entwickelung der Menschheit in der Vergangenheit entspricht. 2. Dasselbe könnte auch für die auf den verschiedensten Stufen der Entwickelung in der Gegenwart stehenden Völker und Racen geschehen. 3. Die Entwickelungsstufen der verschiedenen Schichten derselben socialen Gesammtheit könnten durch Bezugnahme auf den mittleren Culturmenschen festgestellt werden. 4. Dasselbe könnte für die Entwickelung der Menschheit in der Zukunft geschehen. —

23

Die weitere Ausfuhrung dieser Thesen, so wie den Versuch durch mathematische Formeln das sociale Entwickelungsgesetz auszudrücken, gedenken wir in einer besonderen Abhandlung vorzunehmen. Nur sei hier im Voraus bemerkt, dass zur Ergründung und Zusammenstellung einer mathematischen Formel für die sociale Entwickelungsbewegung, wie zur Erforschung des socialen Gebietes vor Allem eine Absonderung des socialen Nervensystems von der socialen Zwischenzellensubstanz nothwendig ist. Ersteres wird durch Menschen repräsentirt, letztere besteht aus Sachen. Zum Schluss nur noch eine Bemerkung über die Bedeutung der Zahl der den Organismus bildenden Zellen. Die organische Natur lehrt uns, dass, je höher ein Organismus entwickelt ist, desto mehr Zellen im Vergleich zu den niederen im Grossen und Ganzen er enthält. Dasselbe gilt auch von den einzelnen Organen und Theilen des Organismus. Nach den-Beobachtungen und Untersuchungen der Herren Malassez und Picard steigt nämlich die Zahl der im wässerigen Theile des Blutes enthaltenen Eügelchen bei Säugethieren bis auf 18 Millionen, bei Vögeln dagegen schwankt die Menge der Blutkügelchen zwischen 1,600,000 und 4 Millionen auf ein Kubikmillimeter. Bei Knochenfischen fällt die Zahl auf 2 Millionen bis 700,000, bei Knorpelfischen auf 230,000 bis 140,000. Ueberhaupt je unvollkommener ein Organismus, desto mehr nimmt die Zahl der Blutkügelchen ab. Auch fällt sie bei gewissen Krankheiten und bei Mangel an Nährung oder ungesunder Ernährung.*) — Aber nicht nur die Zahl der Blutkügelchen, sondern die Menge der Zellen überhaupt nimmt im Grossen und Ganzen bei den höher entwickelten Organen und Organismen, caeteris paribus, zu. Das menschliche Gehirn ist auch das zellenreichste aller Organe und die höher begabten Racen und Individuen verfugen über eine grössere Zahl von Gehirnzellen als die niederen. Es versteht sich von selbst, dass dabei auch die Qualität von entscheidender Bedeutung ist. Dasselbe gilt auch von den socialen Organismen. Alle höher entwickelten socialen Organismen waren auch bis jetzt zellenreich oder sind es mit der Zeit durch Ausbreitung, Vermehrung, Eroberung geworden. *) Aualand, 1876, S. 88.

24

II.

Die sociale Physik in ihrer realen Bedeutung. Wenden wir uns jetzt zu der »socialen Physik« in ihrer realen Bedeutung. Von diesem Standpunkte aus muss man unter > socialer Physik« Alles verstehen, was den physischen Organismus betrifft, insofern seine Entwickelung von den social-physischen Verhältnissen und Bedingungen abhängt. Diese Abhängigkeit ist aber eine äusserst grosse, vielseitige und tiefeingreifende. Der Mensch tritt bereits als Säugling in die Gesellschaft und von dem ersten Moment seines Athmens an wird seine ganze Existenz, sein Leben und sein Tod, durch die social-physische Umgebung bedingt. Eine (Nachlässigkeit der Amme kann das Kind zum Krüppel fiir's Leben machen oder ihm das Leben selbst kosten. Gesunde Kost und gute Pflege machen es zum rüstigen Menschen bis in's Greisenalter. Und später, wenn die Leidenschaften, besonders der Geschlechtstrieb, erwachen, wie abhängig ist dann nicht die ganze spätere Entwickelung des Menschen von der Art und Weise, wie er sich seinen Leidenschaften hingiebt. Das Alles sind sociale Factoren, die die physische Entwickelung des Menschen bedingen. Ja, alle Nutzgegenstände, mit denen der Einzelne seine Bedürfnisse, von den einfachsten bis zu den höchstverfeinerten, befriedigt, sind Producte des socialen Lebens; sie gehören zur Zwischenzellensubstanz des social-physischen Organismus. Die .Production, Vertheilung und Consumtion, auf welchen sowohl die geistige, als auch die physische Entwickelung des Individuums und der ganzen Gesellschaft beruhen, sind wiederum vorzugsweise social-physische Momente und Erscheinungen. Die unter dem Einfluss des socialen Lebens vor sich gehende physische Entwickelung oder Rückbildung des einzelnen Menschen oder einer ganzen Race bildet also den Gegenstand der socialen Physik in ihrer realen Bedeutung. Ein wichtiges Gebiet dieses Theiles der Socialwissenschaft wird durch die Kreuzung der Geschlechter, Familien, Racen etc., durch die physische Lebensfähigkeit und die physischen Eigenschaften der Producte verschiedener Kreuzungen bedingt. Es ist

25 klar, dass die Kreuzung selbst vorzugsweise ein social-^h/sisches Moment darstellt und von socialen Lebensverhältnissein bedingt wird. Behufs der klareren und bestimmteren Auffassung der socialen Physik muss man jedoch von den social-physischen Erscheinungen im Allgemeinen, die speciellen social - mechanischen, social - physikalischen und social-biologischen unterscheiden. — Da nämlich der sociale Organismus, gleich allen höher entwickelten Organismen, die niederen Stufen der organischen Entwickelung enthält und durchläuft, so muss er auch rein mechanische Erscheinungen hervorbringen, so müssen auch rein anorganische Kräfte sich in ihm hervorthun und ausprägen. — Und gleichwie ein jeder Einzelorganismus ein durch physikalische Gesetze der Schwere, der mechanischen Bewegung, der Wärme, der Elektricität, des Galvanismus etc. bedingter Körper ist, so ist das nämliche mit dem socialen Organismus der Fall. Die Bewegung und Ortsveränderung der Mitglieder einer Gesellschaft ist eine rein mechanische Erscheinung, wie auch der mechanische Gebrauch von Werkzeugen, Maschinen etc. — Andere Erscheinungen, obgleich nicht rein mechanischer Natur, bekunden gewisse Analogien mit physikalischen Naturerscheinungen. Die Ausbreitung der Ideen und Gedanken hat viel Analogie mit dem Zünden des Feuers, mit der Ausbreitung des Lichtes; das Streben des Menschen, das Absolute, Unendliche, Ewige zu ergründen, ist analog der Fähigkeit des anorganischen Körpers, sich in's Unendliche zu bewegen oder zu streben. — »Das IAcht hat,< sagt M. Perty, >auf der organischen Stufe den Selisinn zum Correlat, in der geistigen das Wahrnehmen, Erkennen und Beivusshcerden. Die einzelnen Farben kann man den verschiedenen Auffassungsweisen vergleichen, die zusammen die vollständige Erkenntniss geben, wie jene das weisse Licht. Die Anziehung hat ihr Analogon in der organischen und geistigen Welt in der Ernährung und dem Begehren. Der Wärme entsprechen Empfindung und Gefühl; wie die Wärme in der materiellen Welt alles Starre und Abgeschlossene löst, so erweitert das Mitgefühl die Herzen, hebt den strengen Unterschied der Formen auf, verähnlicht die Zustände oder macht sie gleich. Wie Wärme und Kälte in der physischen Welt, so theilen sich

26 Freude und Schmerz in der psychischen mit; der Wärmecapacität der Körper entspricht das Temperament.« »Die Elektricität hat in der organischen und geistigen Welt die Nervenreizbarkeit und die Erregbarkeit des Gemüthes zum Gegenbild. Die Körper sind unendlich verschieden nach ihrer elektrischen Spannung, eben so die Geister nach ihrer Erregbarkeit. Wie die Affecte und Leidenschaften, so weichen auch die elektrischen Erscheinungen in ihrer Intensität ungemein ab, vom leisen Anziehen und Abstossen bis zum furchtbaren Strom, der alles Hemmende zerschmettert und vernichtet. Wie die Leidenschaft in der Befriedigung erlischt, so die Elektricität, wenn sie sich mit der entgegengesetzten ausgeglichen hat, welche Analogie bei gewaltigeren Leidenschaften, z. B. Zorn und Liebe, besonders deutlich ist. Wie der gleiche Körper gegen einen zweiten negativ, gegen einen dritten positiv elektrisch sich verhalten kann, so auch das Gemüth nach Umständen anziehend oder abstossend. Gleich dem Affect ist auch die Elektricität ein Wechselndes; ihr Process erlöscht im Funken, wie der Affect im Ausbruch. Die Elektricität wird durch Berührung und Friction erregt, die Leidenschaft durch Beisammensein und Reibung. Aufhebung der Cohäsion materieller Körper, Trennung verbundener Gemüther führt analoge Phänomene herbei.« >Im Sinnensystem entspricht der Elektricität der Geruchssinn, im Erdorganismus die Atmosphäre mit ihrem nie ruhenden elektrischen Process. Die Elektricität der Zitterfische, welche Beute und Feinde durch Schläge tödten, ist ein Verbindungsglied zwischen der unorganischen und der seelischen Natur; hier dient der elementare Process unmittelbar dem ihm analogen Affect.« »Dem Magnetismus scheint in der geistigen Welt der Charakter vergleichbar, der ebenfalls einfach und beharrlich ist. Im Erdkörper ist der Magnetismus vorzüglich an das harte, weit verbreitete, gegen Norden mehr angehäufte Eisen gebunden; auch die Polarlichter sind am Nordpol häufiger und intensiver.« »Die magnetischen Pole fallen fast mit den Polen der Erdaxe, einem der beständigsten astronomischen Elemente zusammen. Bei den nordischen Völkern überwiegt, im Vergleich mit den südlichen, Kraft und Charakter.«*) *) M. Perty, Die Natur im Lichte philosophischer Anschauung, 1869, S. 28. .

27 Das sind jedoch nar entfernte Analogien. J e mehr sociale Erscheinungen auf die Wirkung mechanischer Kräfte zurück geführt werden können, desto grösser wird das Gebiet der wahren >socialen Physik« und nach Maassgabe der Ergründung des Causalzusammenhanges der socialen Erscheinungen muss dieses Gebiet sich beständig und sicher ausdehnen und befestigen. — Wenn jedoch nicht nur ein sehr kleiner Theil der biologischen Erscheinungen in der Natur bis jetzt auf mechanische Wirkungen zurückgeführt worden ist; wenn sogar ganze Zweige der Physik und Chemie noch lange nicht mechanisch begründet werden können, so ist die Hoffnung auf eine baldige Begründung der socialen Erscheinungen auf rein mechanische und physikalische noch um so geringer. Die sociale Physik muss also als das Gebiet anerkannt werden, welchem alle diejenigen socialen Erscheinungen angehören, die nach dem jetzigen Stande der Wissenschaft auf Naturkräfte zurückgeführt werden oder zum wenigsten auf dem Wege der Analogie mit denselben erklärt werden können. Indem wir der socialen Physik diese Bedeutung geben, bleiben wir vollständig auf dem naturwissenschaftlichen Boden, betrachten wir die menschliche Gesellschaft als einen ebenso realen Organismus, wie die Einzelorganismen in der Natur, schreiben ihm keine anderen physikalischen Eigenschaften zu, als solche, die auch ein jeder Einzelorganismus besitzt. Ganz richtig sagt Friedrich von Hellwald, dieser warme Verfechter der Evolutionstheorie im Gebiete der Social Wissenschaft: >die Wahrheit ist nur Eine, und unwahr bleibt Jeder, der davon, sei es um eines Haares Breite, sei es meilenweit, entfernt steht.« Und wie es der Fluch der bösen That ist, dass sie fortdauernd Böses erzeugt, so ist es auch der Fluch der Unwahrheit, dass sie stets weitere Unwahrheiten nach sich zieht. — Giebt man nur zu, dass die sociale Physik etwas wesentlich Anderes sein kann, als die Physik der Thiere und Pflanzen, so ist damit schon eine Unwahrheit begangen und diese Unwahrheit kann sich bei der weiteren Entwickelung der Wissenschaft nur immer steigern; der anfänglich scheinbar unbedeutende Winkel der Abweichung führt immer weiter von dem geraden Wege ab, bis jede Spur und jeder Zusammenhang mit der Wirklichkeit aufhören. Und einerseits die Wissenschaft, andererseits die Wirklichkeit beginnen auch schon, wenn auch noch so unbewusst, gegen die jetzige Auf-

28 fassung der Statistik, als sociale Physik, und dieser als etwas die Gesammtheit aller socialen Erscheinungen Umfassendes, sich zu sträuben. Eine bewusste Gegenwirkung und eine wissenschaftliche Widerlegung ist hier jedoch nur möglich, indem man die menschliche Gesellschaft als einen in jeder Hinsicht ebenso realen Organismus betrachtet, wie es die Einzelorganismen in der Natur sind. — Der einzelne Mensch und die ganze menschliche Gesellschaft entwickeln und bewegen sich auch inmitten der Natur, umgeben von einem physikalischen Medium, welches nach physischen Gesetzen auf den Menschen und die Gesellschaft ununterbrochen einwirkt. An dieser Wirkung nehmen selbstverständlich ausser rein physikalischen, auch chemische, organische, sowohl tellurische als auch kosmische, Kräfte Theil. Alle diese Kräfte werden gewöhnlich in ein gemeinsames wissenschaftliches Gebiet, die physikalische Geographie, in ihrer weitesten Bedeutung zusammengefasst. — Montesquieu, Herder und in neuerer Zeit Buckle, Draper, Radenhausen, Caspari, Hellwald und viele Andere haben mit grossem Scharfsinn namentlich die Bedeutung der geographischen Lage, des Klimas, der Thiere und Pflanzen, der tellurischen und kosmischen Erscheinungen für die physische, geistige und ethische Entwickelung des Menschen hervorgehoben. Es unterliegt wohl keinem Zweifel, dass der Mensch in seinem Urzustände, als er sich kaum über den Vierhänder erhob, nicht nur in soiner physischen, sondern auch in seiner geistigen und ethischen Entwickelung unmittelbarer durch die physische Aussenwelt beeinflusst wurde, als es jetzt der Fall ist. Seine Gefühle und Gemüthsstimmungen waren noch unbewusst, seine Begriffe concret und real ohne höheren geistigen Inhalt. Aber schon auf dieser Stufe der Entwickelung hatte der Halbmenscli bereits eine ganze, Jahrtausende, ja vielleicht Millionen von Jahren dauernde Geschichte von Migrationen, Kämpfen, allmäligen Umwandlungen und plötzlichen Revolutionen klimatischer und geographischer Lebensbedingungen hinter sich. — Das physische Medium, indem es sich veränderte, forderte von dem Menschen jedes Mal neue Anpassungen seiner physischen, geistigen und ethischen Kräfte. Jedes nächste Stadium konnte aber alle früheren nicht aufheben, jede folgende Epoche die früheren aus der Geschichte nicht ausmerzen. Damals noch

29 weniger, als es jetzt der Fall sein könnte, weil je nieädriger die organische Entwickelung, desto unmittelbarer und offenbarer der Causalzusammenhang. Die Wirkung der letzten Epoche-, des letzten Mediums könnte also höchstens nur in einem Zurück- und Zusammendrängen der Aufeinanderfolge der früheren Epochen gewesen sein, etwa wie der letzte Eindruck die früheren Eindrücke zurückdrängt, ohne sie vollständig zu verwischen. — Und wenn es schwer ist, die inneren und äusseren Gestaltungen, die physiologischen, morphologischen und tectologischen Existenzbedingungen sogar des Thieres ausschliesslich aus den physikalischen Verhältnissen des umgebenden Mediums abzuleiten, so steigert sich diese Schwierigkeit mit der höheren Entwickelung des Organismus und wird in Betreif des Menschen zu einer unlösbaren Aufgabe. Denn der Mensch, als solcher, ist weniger ein Product der umgebenden Natur, als der Gesellschaft, und seine Entwickelung hängt daher nicht so viel von den physikalischen Kräften des umgebenden Mediums der Natur, als von dem socialen Medium ab. — Radenhausen in seiner Isis — »Der Mensch und die Welt« — sucht alle religiösen Begriffe auf Naturnotwendigkeiten und Natureindrücke zurückzuführen. Ra-' denhausen bezeichnet die Verehrung der im Thierreiche lebenden! Uebermächte als die erste Stufe der menschlichen Entwickelung zur Ehrfurcht und Bewunderung.*) Als nächste Stufe der religiösen Entwickelung erkennt er den Fetischdienst als Anbetung solcher übernatürlicher Gewalten an, welche keine bestimmte Formen annehmen, sondern in jeglicher Gestalt sich als für den Menschen schädlich erweisen können. >Je nach der Oertlichkeit,« sagt Radenhausen,**) »waren diese Uebermächte verschieden: in der Wüste die wirbelnde Sandwolke, der Wüstensturm; in den angrenzenden Ländern der tödtliche dörrende Wüstenwind; in bewaldeten Gegenden der Waldbrand; in den Küstenländern das Meer; in dürren, heissen Hochländern die brennende Sonne; in Flussniederungen der überschwemmende Strom; im gemässigten Erdgürtel der Regen- und Gewitterhimmel, das Wolkenreich« u. s. w. Aus dem Eindruck, den solche übermächtige Naturerscheinungen auf den Ur- und halbgebildeten Menschen gemacht haben und noch jetzt hervor*) Isis, I, 80. **) Isis, I, 87.

30 bringen, leitet Radenhausen die Anbetung des grimmigen Wüstenherrn Ammon (AMN), auch Tiube (Tüfon) bei den Aegyptern, des Feuerherrn JHOH bei den Israeliten und des Bai bei den Babyloniern, des Wolkenbeherrschers Thor bei den Deutschen u. s. w. — Caspari behauptet dagegen in seiner > Urgeschichte der Menschheit,«*) dass der Mensch ursprünglich kein specifisches religiöses Interesse für irgendwelche Naturobjecte besass, dass weder das Gefährliche noch das Nützliche bei irgend welchen Thieren oder Naturerscheinungen beim Urmenschen religiöse Gefühle erwecken konnten. Als Beweis führt Caspari unter Anderen auch den Umstand an, dass die Anbetung der wildesten Völker sich oft auf vollständig gleichgültige, weder nützliche, noch schädliche Thiere und Naturerscheinungen erstreckt. — Wie erklärt nun aber Caspari die Entstehung religiöser Gefühle und Strebungen im Urmenschen? — »Alles, was uns die Urgeschichte in ihrem Entwicklungsgänge bisher lehrte, — sagt er'**) —, lieferte ja gleichzeitig den Beweis, dass der engere Anschluss der Familienglieder untereinander für den Menschen allein die Grundlage bildete zu dem staatlichen Gemeindeverbande, in welchen wir ihn den Thieren gegenüber übertreten sahen. Es zeigte sich ferner, dass durch das im Menschen im Durchschnitt besser angelegte Gleichgewicht von Selbstgefühl (Ehrgefühl) und Mitgefühl im Charakter, gleichzeitig die innere Anhänglichkeit und Verträglichkeit der Glieder sowie das zugleich hiermit verknüpfte ehrerbietige sittliche Auftreten und Handeln allein gedeihen konnten. Entwickelten aber die Thiere durch Pflege und erziehende familiäre Wechselwirkung untereinander bereits einen Kreis von tieferen Gefühlen guter oder böser Natur, so hier in einem noch viel höheren Grade der Mensch; auch in ihm erzeugte sich durch Wechselwirkung der Familienglieder ein Kreis von innigeren, tieferen Gefühlen, welcher neben manchen sehr böswilligen, doch zugleich die tiefsten Regungen des menschlichen Herzens in sich schloBs. Hier im Kreise des engeren Familienlebens bildet sich unter dem Einflüsse von Pflege und Liebe zu den Kindern jene religiöse Anhänglichkeit und jene Nächstenliebe der Einzelglieder, *) I, 283 nnd ff. **) Die Urgeschichte der Menschheit, I , 285.

31 aus der tausend sittliche Gefühle und wohlwollende Handlungen 6priessen; hier wird der erste Grund zu jener tiefen religiösen Pietät gelegt und das erste kindliche Verständniss erweckt zu jener erhabenen Furcht in der Liebe und zu jener furchtyollen religiösen Achtung und Abhängigkeit, die wir in so natürlicher Weise gegen den verständigen Greis, gegen den Vater und gegen den allgemein hervorragenden erhabenen Beschützer desjenigen Gesammtkreises empfinden, in dem wir uns staatlich eingeordnet finden. So erwecken diejenigen Gefühle, die wir im allerengsten Kreise fast unbewusst und so zu sagen mit der Muttermilch einsaugen, zugleich ein tieferes Verständniss für die Achtung, welche wir endlich als Menschen auch dem Patriarchen, dem Stammvater, dem Heros und auch dem Fürsten und Herrscher entgegenzutragen gewohnt sind. Mit einem Worte, das engere Familienleben mit seinen tief sittlichen Besiehungen und ersiehenden Wechselwirkungen ist der ursprüngliche Born und die unerschöpfliche Quelle der tiefsten Empfindungen, auf deren Grundlage allein das Verständniss und die Macht aller wahren Religion emporwächst. < Dieser Anschauung Caspari's über den Ursprung der Religion und aller ethischen Gefühle des Menschen können wir nur vollständig beistimmen. Denn wenn die Abhängigkeit vom physischen Medium allein die religiösen Gefühle erwecken könnte, so müssten Thiere dieses Gefühl noch in höherem Grade als der Mensch haben, indem sie von den äusseren Lebensbedingungen noch sehr viel abhängiger sind. — Wir geben dieser Anschauung nur noch eine reale Bedeutung, indem wir die anfänglich nur zwischen Blutsverwandten hervorgehende Wechselwirkung auch auf Völkerschaften und die ganze Menschheit, als einen durch directe und indirecte Reflexe in innerem Zusammenhange stehenden realen Gesammtorganismus ausdehnen. Auch haben bei Entstehen der Religion ebensowohl Liebe, Bewunderung und Mitleid, als Hass, Furcht und Grausamkeit mitgewirkt. — Welche Bedeutung erhalten aber alsdann die Erscheinungen der umgebenden Natur für die religiöse und ethische Entwickelung des Cw&wnnenschen ? — Eine ganz secundäre, ja in den meisten Fällen eine rein zufällige. In der Ueberschwänglichkeit seiner religiösen Gefühle und ethischen Strebungen überschreitet der Mensch die engen Grenzen seiner Familie und seiner Mitmenschen und überträgt diese Gefühle und Strebungen auf verschiedene Objecte und Erscheinungen der

32 ihn umgebenden organischen und anorganischen Natur, wobei möglicherweise die hervorragendsten, die Einbildungskraft des Menschen am stärksten berührenden gewählt werden. Aber eine solche Wahl hat zu dem Object selbst dieselbe Bedeutung, wie die Wahl des Stoffes von Seiten des Künstlers, um den in ihm schon vorhandenen und durch innere Arbeit gross gezogenen Gedanken und Gefühlen Ausdruck zu verschaffen. Hier wie dort ist also das physikalische Element das secundäre, das zufällige und der schon vorhandene innere Trieb das primäre, das wesentliche. Und dieses wesentliche ist nicht das Resultat der unmittelbaren Wirkung von Naturkräften, sondern von socialen Kräften. Daher sind auch alle diejenigen Versuche fehlgeschlagen, welche alle geistigen und ethischen Erscheinungen im Menschen und in der Geschichte unmittelbar aus der umgebenden Natur haben herleiten und erklären wollen. Diese Erscheinungen werden durch directe und indirecte Reflexe im Schoosse der Gesellschaft selbst hervorgebracht und bedingt. Und nur durch Entdeckung des socialen Nervensystems und Anerkennung der menschlichen Gesellschaft als realen Organismus wird es möglich, die höheren religiösen und ethischen Erscheinungen in einen Causalzusammenhang mit den Naturerscheinungen und die socialen Gesetze mit den Naturgesetzen in Einklang zu bringen. Wenn nun aber auch das physische Medium für die Entwickelung der höheren Nervenorgane des Menschen nur eine secundäre Bedeutung hat, so werden doch die niederen Organe des menschlichen Körpers, gleich denen der Thiere und Pflanzen, in ihrer Entwickelung unter dem Einfluss des Gesetzes der Anpassung und Divergenz mittelbar bedingt. Radenhausen sagt, indem er auf die Migrationen, Zusammenstösse und Kämpfe der verschiedenen Völker und Racen, vorzugsweise um das Becken des mittelländischen Meeres, hinweist, Folgendes: »Jede Strömung brachte ihre Verehrungwesen mit sich, welche theils mit einander vermischt, theils ihre Bedeutung änderten nach den Verhältnissen des Landes, die zu anderen Grundvorstellungen Anlass gaben. Die zugeführten Verehruugwesen der heissen Länder wurden kühler, die der gemässigten Länder erwärmt; andere Verehrungwesen, die verwandt waren, aus denselben örtlichen Erscheinungen oder Vorgängen ept-

33 Sprüngen, aber auf verschiedenen Wegen hierher gelangt und deshalb nicht völlig übereinstimmend, blieben nebeneinander stehen in den unterschiedlichen Gestalten, welche sie auf der Wanderung durch örtliche Vorgänge oder fortschreitende Bildung ihrer Träger empfangen hatten. Es äusserte sich dabei auch die Trägheit im Beharren der Menschen bei Verehrungwesen, die, im Stammlande gebildet nach örtlichen Vorgängen, im neuen Lande diese Grundlage nicht vorfanden; sie hafteten nur noch an den mitgeführten Bildern oder Erinnerungen, wurden als solche beibehalten und den örtlich begründeten oder von Fremden (Siegern oder Besiegten) zugebrachten Verehrungwesen hinzugefügt.«*) — Und dieses ist nicht nur in schon zugänglichen historischen Zeiten um das Becken des Mittelmeeres vor sich gegangen, sondern zu allen Zeiten und in allen Ländern, wo Menschen überhaupt gelebt haben und nicht nur in Hinsicht auf Völkerschaften und ganze Racen, sondern im Schoosse jedes Geschlechtes und jeder Familie. Und hier' wie dort waren es immer vorzugsweise directe und indirecte Reflee, welche die höheren Nervenorgane derart spannten und entwickelten, dass sie empfänglich wurden für bestimmte religiöse Anschauungen; wobei selbstverständlich auch die äusseren Naturerscheinungen als wichtiges Moment einwirkten und anregten. Dieses Moment jedoch als das ursprüngliche und ausschliessliche anzuerkennen, würde nur zu Einseitigkeiten und falschen Schlüssen führen. Und das ist nicht nur in Hinsicht auf religiöse Anschauungen, sondern auf die ganze geistige und ethische Entwickelung des Menschen geschehen. Ebensowenig wie die religiösen Bedürfnisse, Strebungen und Gefühle, können die intellectuellen und moralischen Eigenschaften eines Volkes oder einer Race vorzugsweise oder gar ausschliesslich von den localen Erscheinungen der umgebenden Natur abgeleitet werden. Da die unserer Beobachtung zugänglichen localen Erscheinungen doch immer nur die letzten von einer unendlich langen Reihe vorhergegangener und immer nur ein sehr kleiner Theil unendlich mannigfaltiger Einflüsse sein können, so müssten die Versuche, durch einzelne kurze Epochen und eng begrenzte Matureinwirkungen die sociale Entwickelung ganzer Völkerschaften und Racen zu ergründen, etwa dieselbe Bedeutung haben, wie das *) Isis, I, 146. Gedanken über die Socialwissenscbaft der Zukunft.

III.

3

34 Bestreben, durch die von einem Thier oder einer Pflanze während eines einzigen Tages eingenommene Nahrung die Zusammensetzung des Organismus nach allen Richtungen hin zu erklären und festzustellen. Der Gesammtbau eines thierischen oder pflanzlichen Organismus ist nicht nur als Resultat der directen Anpassung an die zuletzt entgegengetretenen physischen Lebensbedingungen, des Kampfes um's Dasein nach aussen hin, sondern vielmehr der indirecten Anpassung der den Organismus bildenden Zellengemeinschaften untereinander, des Kampfes der Zellen im Organismus selbst, zu betrachten. Im Kapitel VIII. des ersten Theiles dieses Werkes ist diese wichtige Frage schon besprochen worden. In Betreff der Entwickelung des socialen Lebens ist die Berücksichtigung dieses Moments noch wichtiger, und gerade weil es ausser Acht gelassen worden ist, sind alle Versuche in dieser Hinsicht bis jetzt fehlgeschlagen. Die »sociale Physik« kann im Gebiete der Socialwissenschaft nichts anderes sein, als die Physik im Gebiete der organischen Katurkunde. Ihr einen grösseren Platz einräumen, hiesse nicht an realem Boden gewinnen, sondern einen Mechanismus ohne festen Grund bauen wollen. — In Ansehung der unter diesem Vorbehalt anzuerkennenden Einwirkung der physikalischen Kräfte auf den Menschen, sowie der Wechselwirkung zwischen diesen und der Thätigkeit des Menschen, treten zunächst folgende Hauptmomente hervor, die in Nachstehendem besonders betrachtet werden sollen: Die Wirkung des physischen Mediums sowohl auf die Race als auch auf das Individuum. Die Rückwirkung der Race und des Individuums auf die sie umgebende Natur. Die Abhängigkeit der physischen und psychischen Entwickelung des Menschen von socialen Verhältnissen und Lebensbedingungen. Die Kreuzung und geschlechtliche Zuchtwahl als physischer Factor der Entwickelung der Race und des Individuums. Hinsichtlich des physischen Mediums, in welchem der Mensch und die menschliche Gesellschaft sich bewegen und entwickelt haben, muss man zwei verschiedene Ausgangspunkte unterscheiden. Verfolgt man die Abhängigkeit des Menschen von der Natur während seiner ganzen Entwickelungsgeschichte, von dem Moment an, wo sich das erste Protoplasma im Urmeere

35 ausbildete, so unterliegt es wohl keinem Zweifel, dass der Mensch ein Product der Natur ist, ganz ebenso wie ein jeder andere Organismus. Nur muss, um den Menschen zu erhalten, zu den am höchsten entwickelten Naturorganismen noch das Plus der höheren Nervenorgane, die sich im Schoosse der menschlichen Gesellschaft im Verlaufe der ganzen Geschichte der Menschheit entwickelt haben, hinzugefügt werden. Dass auch diese unter dem Einflüsse der physischen Kräfte der umgebenden Natur unausgesetzt gestanden haben und noch jetzt sich entwickeln, unterliegt gleichfalls keinem Zweifel. Die Geschichte und die tägliche Erfahrung bezeugen es in unzweideutiger Weise. Dieser Einfluss wird durch das Gesetz der Anpassung des Menschen an die umgebenden Lebensverhältnisse bedingt, wie solches auch mit jedem Naturorganismus der Fall ist. Das Princip der Vererbung beruht gleichfalls wie bei diesem auf der ganzen vorhergehenden Evolution des Organismus. Aber die Anpassung vollzieht der Mensch nicht als selbstständiges Individuum, wie es das Thier oder die Pflanze thut, sondern als Zelle eines Gesammtorganismus, also wie eine das Thier und die Pflanze bildende Zelle. Denn das Thier und die Pflanze, wenn man sogar nur das physiologische Moment betrachtet, hängen ausschliesslich vom äusseren physischen Medium ab; die das Thier und die Pflanze bildende Zelle jedoch vorzugsweise von der Zwischenzellensubstanz, die ein Product der Gesammtarbeit des ganzen Organismus ist und nur indirect auf das äussere Medium zurückgeführt werden kann. — Schon Goethe hat die beiden Bildungstriebe, durch welche die Entwickelung eines jeden Organismus bedingt wird, klar hervorgehoben, indem er sagt: »Eine innere ursprüngliche Gemeinschaft liegt aller Organisation zu Grunde; die Verschiedenheit der Gestalten dagegen entspringt aus den nothwendigen Beziehungsverhältnissen zur Aussenwelt, und man darf daher eine ursprüngliche, gleichzeitige Verschiedenheit und eine unaufhaltsam fortschreitende Umbildung mit Recht annehmen, um die ebenso constanten als abweichenden Erscheinungen begreifen zu können.« Das »Urbild« oder den »Typus,« welcher als »innere ursprüngliche Gemeinschaft« allen organischen Formen zu Grunde liegt, nennt Häckel den »inneren Bildungstrieb,« welcher die ursprüngliche Bildungsrichtung erhält und durch Vererbung fort3*

36 pflanzt. Die »unaufhaltsam fortschreitende Umbildung < dagegen bezeichnet Häckel als äusseren Bildungstrieb, der durch die Anpassung an die äusseren Lebensverhältnisse bedingt wird.*) Goethe bezeichnet den ersten dieser Triebe als Centripetalkraft, den zweiten als Centrifugalkraft. — Als Beispiel, wie durchgreifend äussere Lebensveränderungen die Lebensweise und die Gewohnheiten der Thiere beeinflussen, fuhrt Häckel die gewöhnliche Ringelnatter an. Diese Schlangenart legt vorzugsweise in sandigen Boden Eier, welche bis zu ihrer vollständigen Reife noch dreier Wochen bedürfen. Streut man in den Käfig, in welchem eine solche Schlange gehalten wird, keinen Sand, so behält sie die Eier, ohne sie abzulegen, bis die Jungen in ihrem Leibe sich entwickeln. Und so, fügt Häckel hinzu, wird der Unterschied zwischen lebendig gebärenden Tbieren und solchen, die Eier legen, einfach durch die Veränderung des Bodens, auf welchem das Thier lebt, verwischt.'**) — »Nach Vandiemensland versetzte Schafe werden weiss, nach den Faroer-Inseln fleckig oder braunroth. In Syrien erhalten Katzen und Ziegen langes, weiches Haar, die Schweine in Cubagua lange Klauen, Hunde und Pferde auf Corsica Flecken.«***) In der letzten Zeit erregte grosses Aufsehen die Umwandlung. welcher eine im Pariser Jardin des Plantes befindliche Gattung Kiemenmolche aus Mexiko unterlagen, sobald sie aus dem Wasser an's Land krochen. Solche Kiemenmolche warfen ihre Kiemen ab und näherten sich so einer nordamerikanischen Tritonengattung. dass sie von dieser nicht mehr zu unterscheiden waren. >In diesem letzten höchst merkwürdigen Falle,« sagt Häckel,f) »können wir unmittelbar den grossen Sprung von einem wasserathmenden zu einem luftathmenden Thiere verfolgen, ein Sprung, der allerdings bei der individuellen Entwickelungsgeschichte der Frösche und Salamander in jedem Frühling beobachtet werden kann.« — *) Häckel. Natürliche Schöpfungsgeschichte, S. 81. logie, I, 154, II, 224. **) Natürliche Schöpfungsgeschichte, S. 215. ***) Zeitschrift für Ethnologie, 1869, I. Band, S. 9. t ) Natürliche Schöpfungsgeschichte, S. 215.

Generelle Morpho-

37 Wie verschiedene Resultate andererseits dasselbe physische Medium in Hinsicht auf die Thierwelt geben kann, sieht man aus dem Vergleiche zwischen der früheren und der jetzigen Fauna Nord- und Südamerika's. >Es ist unmögliche sagt Darwin,*) »über den veränderten Zustand des amerikanischen Continents ohne das tiefste Erstaunen nachzudenken. Früher muss er von grossen Ungeheuern gewimmelt haben. Jetzt finden wir blosse Zwerge im Vergleich mit den vorausgegangenen verwandten Racen. Wenn Buffon etwas von dem Riesenfaulthier und den armädilloartigen Tbieren und von den ausgestorbenen Dickhäutern gewusst hätte, so würde er mit einem noch grösseren Schein von Wahrheit eher gesagt haben, dass die schöpferische Thätigkeit in Amerika an Kraft verloren habe, als dass sie niemals grosse Macht besessen hätte. Die grössere Zahl, wenn nicht sämmtliche dieser ausgestorbenen Säugethiere, haben in einer späten Periode gelebt und waren Zeitgenossen der meisten der jetzt lebenden Meermuscheln. Seit der Zeit, wo sie lebten, kann keine sehr grosse Veränderung in der Bildung des Landes stattgefunden haben. Was hat denn nun so viele Species und ganze Gattungen vertilgt ? Zunächst wird man unwiderstehlich zu der Annahme einer grossen Katastrophe getrieben; aber um hierdurch Thiere, und zwar sowohl grosse als kleine, im südlichen Patagonien, in Brasilien, auf der Cordillera, in Peru, in Nordamerika bis hinauf nach der Behringsstrasse zerstören zu lassen, müssten wir das ganze Gerüste der Erde erschüttern. Ueberdies führt eine Untersuchung der Geologie von La Plata und Patagonien zu der Annahme, dass alle Gestaltungen des Landes das Resultat langsamer und allmäliger Umwandlungen sind. Aus der Beschaffenheit der Fossilien in Europa, Asien, Australien und Nord- und Südamerika geht hervor, dass diejenigen Bedingungen, welche das Leben der grösseren Säugethiere begünstigen, sich vor Kurzem über die ganze Erde erstreckten: worin diese Bedingungen bestanden, hat Niemand bis jetzt auch nur zu vermuthen versucht. Es kann kaum eine Veränderung der Temperatur gewesen sein, welche in ungefähr derselben Zeit die Bewohner tropischer, gemässigter und arktischer Breiten auf beiden Seiten der Erd*) Ch. Darwin: Keise eines Naturforschers um die Welt, übers, von V. Carus, S. 199.

38 kugel zerstörte.« — Alle Wahrscheinlichkeit spricht also dafür, dass diese allgemeine Zerstörung, oder, was noch eher zu vermuthen ist, dieses allmälige Aussterben der Riesenthiere nicht direct durch geologische oder klimatische, sondern durch biologische Ursachen hervorgebracht worden ist. Wie biologische Ursachen wirken können und was wir unter diesem Namen verstehen, würde aus folgenden Beispielen klar werden: Darwin erzählt von seinem Aufenthalte auf den FalklandInseln , dass ihm ganz besonders die geringere Zunahme der wilden Pferde im Vergleich zu derjenigen der wilden Rinder aufgefallen war. Da die Inseln keine Raubthiere enthielten und Klima und Bodenbeschaffenheit der Vermehrung ebenso der Pferde, als auch der Rinder gleich günstig sind, so muss es eine besondere Ursache geben, welche die Vermehrung ersterer aufhält. Die Ortsbewohner behaupten, dass die Hengste beständig ihren Aufenthaltsort verändern und die Stuten zwingen, ihnen Gesellschaft zu leisten, obgleich die jungen Füllen noch nicht im Stande seien, dasselbe zu thun oder sich selbständig zu ernähren. Daher soll man auf den Falkland-Inseln viele todte Füllen und fast gar keine todten Kälber finden.*) Was die Wirkung des physischen Mediums auf den Menschen anbetrifft, so ist sie aus folgenden Beispielen zu ersehen: Man hat die Bemerkung gemacht, dass die Eigenthümlichkeiten der Negerrace sich am stärksten in den afrikanischen Tiefländern ausprägen und dass in den höher gelegenen Gegenden eine Abweichung vom Negertypus hervortritt.**) Bei der Schilderung, der Tahitier führt Waitz Folgendes an: »Personen, welche dem Wetter ausgesetzt sind und schlechtere Nahrung haben, sind auch hier viel dunkler, daher die Fischer der dunkelste Theil der Bevölkerung sind. Die Kinder sind hier (wie überall in Polynesien) bei der Geburt weiss und nehmen erst in der Sonne die dunklere Färbung an; bedeckte Körperstellen bleiben heller und weil nun die Weiber reich*) Ch. Darwin: Reise eines Naturforschers um die Welt, übers, von V. Carus, S. 219. **) Waitz: Anthropologie der Naturvölker, II. S. 3,

39 lichere Kleidung tragen, auch mehr im Schatten leben, so sind auch sie oft von so heller Farbe, dass sie rothe Backen haben und ein Erröthen sichtbar wird. Dasselbe gilt von den Fürsten, daher auch sie sich durch weisse Hautfarbe auszeichnen.«*) »In extremen Klimaten, wo zur Compensation die inneren Rumpforgane excessiv angelegt werden müssen, schrumpft deshalb die Gesammtkörperlänge bei entsprechender Verminderung der unteren Gliedmaassen zusammen. In polaren Ländern verlangt die nöthige Wärmeerzeugung, die sich (nach Kaimmes) schon in der heissen Ausdünstung bemerkbar macht, eine starke Entwickelung der Lungen und also des Brustkastens, gleichsam der Ofen des auch durch die Umhüllung mit Fett (des nach dem Verbrennen des Sauerstoffes zurückbleibenden Restes,) geschützten Körpers bildend. In der verdünnten Luft tropischer Plateauländer ist gleichfalls ein weiter Brustkasten, um die dem Athem genügende Quantität Luft aufzunehmen, erforderlich, und so bleibt hier ebenfalls bei vorwiegendem Rumpfe die Statur im Ganzen verkürzt. Unter dem Aequator tritt dann wieder eine diminutive Menschenrace mit ausgeprägtem Bauche auf, da in diesem die zur Ausscheidung des nicht verbrannten Kohlenstoffes stark beanspruchte Leber liegt. Der Ueberschuss wird im Schleimnetz abgelagert und bedingt dort das schwarze Pigment, so dass die schwarze Farbe der kühlen Haut hier sich völlig verschieden zeigt von der (mit zunehmendem Alter mehr und mehr) durch Exponirung in einem rauhen und kalten Klima an der Oberfläche hervorgerufenen Färbung, die auf Sumatra (nach Marsden) Folge des Seeklimas ist, während in Guyana (nach Hartsink) die Bewohner des Waldes heller bleiben, als die der Ebenen. Findet in warmen Ländern keine determinirte Abscheidung des Kohlenstoffes in der Leber statt, so bleibt das Blut mit Gallenpigment tingirt, wie in der "Färbung Gelbsüchtiger, die Strack mit der gelben Race vergleicht. Nach Schotte wird der Schweiss der Europäer am Senegal übelriechend, gelb und färbt die Leinwand saffranartig. Nach Monrad nehmen die Dänen bei der Acclimatisation in Guinea eine gelbe Farbe an, die bei späteren Generationen in Schwarz übergeht, und die Portugiesen am Gambia sind (nach Demaret) zu Negern geworden. Wäre eine kurze Race als für polare und äquatoriale *) Ebendas. VI, S. 13.

40 Gegenden charakteristische anzunehmen, so mag sie gegenwärtig dennoch nur sporadisch vorkommen, da sie überall vor den robusteren Sprösslingen stattgehabter Kreuzungen erliegen musste, wie sich diese in den Eskimos des Westens und der Behringsstrasie, in den Karelen, verglichen mit den Lappen (und Finnen), sowie in den von Norden und Osten in Nieder-Guinea eindringenden Negerstämmen zeigen.«*) Ueber den Einfluss der Nahrung auf die physische und intellectuelle Entwickelung des Menschen führt Waitz Folgendes an: »Man hat behauptet, dass ein Volk bei vorwiegend animalischer Kost kräftiger und kühner, dabei aber auch leidenschaftlicher und unlenksamer werde, dass es sich überhaupt leiblich und geistig besser entwickele als bei Pflanzenkost. In solcher Allgemeinheit ausgesprochen ist diese Ansicht, welche Foissac (Ueber den Einfl. des Klima's, 1840, S. 197) bekämpft hat, ohne Zweifel unrichtig, denn man vergisst dabei, dass die erste Bedingung für leibliches und geistiges Wohlbefinden nicht sowohl die grosse Nahrhaftigkeit der Speisen als vielmehr ihre volle Angemessenheit zu dem besonderen Bedürfniss des Organismus ist, weiches letztere sich vor Allein nach dem Klima und dann nach der Grösse und Art der Leistungen richtet, die ihm zugemuthet werden. Bedarf es zur Erhaltung derselben Kürperkraft im Winter und in kalten Klimateu wegen des stärkeren Verbrauches sehr reichlicher und substantieller, daher durchaus animalischer Kost, so erreicht der Bewohner der heissen Zone dasselbe mit einem kleinen Quantum vegetabilischer Nahrung. Bei dem heutigen Stande der Physiologie lässt es sich nicht mehr bestreiten, dass die Differenzirung, welche der organische Stoff bei seinem Uebergang aus dem Zustande des Nährstoffes in denjenigen des Excretes als intermediäre Wandelstufen zu durchlaufen hat, als das unter Hinzutritt von atmosphärischem Sauerstoffe entstandene Product der specifischen Thätigkeit der verschiedenartigen Zellen angesehen werden muss. Ein Rückblick auf die Entwickelungsgeschichte des Organismus lehrt, dass es ursprünglich nur die Dotterzellen allein sein konnten, welche das neben ihnen vorhandene organische Blastema in der Weise differenzirten, dass sie aus ihm die Bildungsstoffe für die verschiedenen organischen Zellensysteme, welche in ihrer Zusammensetzung die Gewebe der specifischen Organe bilden und ausmachen, aussonderten.« Und so gelangt Richter zu der wichtigen Wahrheit, dass in dem vollendeten Organismus Alles, so wie es ist, seine festen, seine flüssigen Theile, das Product der Thätigkeit der Zellen ist, desgleichen auch die Stoffe, welche in einer gewissen von der Norm abweichenden Menge sich im Blute findend, für die Ursachen von Dyscrasien gehalten werden. Es giebt somit, nach Virchow und Richter, nur Dyscrasien aus der vorgängigen Störung der Functionen der festen Theile, welche aus Zellen bestehen. — Nun fragt es sich: wie kommt es, dass ein von einem erkrankten Organismus auf einen gesunden hinüber getragener contagiöser Stoff in letzterem ganz denselben krankhaften Process hervorruft, wie in dem ersten? Da das Substrat aller Se- und Excretionen das Blut ist, so musste, nach Richter, die Annahme als begründet erscheinen, dass durch Uebertragung des Contagiums eine krankhafte Gährung des Blutes hervorgerufen wird. — Nach Virchow's Entdeckungen im Gebiete der krankhaften Erscheinungen des Zellenlebens genügt aber diese Erklärung nicht mehr. >Die Infection,< sagt Richter,*) »eines bis dahin gesunden Organismus durch ein specifisches Contagium, ist allerdings eine ganz unleugbare Thatsache, aber sie geht nicht dadurch vor sich, dass das Blut des durch Contagium angesteckten Organismus *) Ebendas. S. 157.

85 durch dieses zur Gährung und pathischen Selbstzersetzung gebracht wird, und diese denselben ausserordentlichen Stoff, durch welchen sie selbst veranlasst ist, wieder hervorbringt, und der in dem Organismus, in dem er hervorgebracht wird, durch seine angebliche pathische Qualität die Ursache der auftretenden Krankheitserscheinungen wird, sondern die Ansteckung selbst vollzieht sich nur durch eine Störung im Zellenleben und durch dieselbe bildet sich auch erst die Dyscrasie, der das Contagium entstammt und die dasselbe tvieder hervorbringt.« Dabei hat die neueste Physiologie festgestellt, dass ein jeder krankhafte Zustand des Blutes nicht darin besteht, dass in dem Blute specifisch neue Stoffe auftauchen, sondern dass das normale Verhältniss der verschiedenen Bestandtheile des Blutes in ein anormales übergeht. Bei einem Contagium ist nach Richter die Thätigkeit der einzelnen Zellen dahin gerichtet, das Verhältniss des Blutes in seiner Zusammensetzung krankhaft zu stören. Kommt noch von aussen der krankhafte Stoff hinzu, so übersteigt diese Störung das Plus der Abweichung vom normalen Zustande, welches der Körper ertragen kann. »Die Stoffe,« sagt er,*) »durchkreisen mit dem Blute alle Organe und durchsetzen mit dem Serum alle verschiedenen Zellenarten. Die Kerne der verschiedenen constituirenden Zellenarten anderer Organe haben so lange, als sich diese Stoffe in der gewöhnlichen normalen Menge im Blute finden, keine Empfänglichkeit für die Qualität derselben, sie verhalten sich indifferent gegen dieselben, aber dieses Verhältniss ändert sich, wenn die Quantität dieser Stoffe im Blute ein gewisses, innerhalb der Norm liegendes Maximum überschreitet, denn alsdann werden auch die Zellenkerne dieser andern Organe gegen diese Stoffe different und reagiren gegen dieselben, und zwar in doppelter Weise — je nach der specifischen Beschaffenheit der Zellenarten. Für einige werden sie nämlich ein Thätigkeitsreiz und die Function des Organes, dem diese nunmehr pathisch gereizten Zellen angehören, steigert sich, während sie für die Kernkörperchen anderer Zellenarten lähmende Einflüsse werden und die Thätigkeit des Organes oder Organentheiles, dessen specifische Function diese Zellen leisten, wird durch sie gelähmt und geschwächt. Die hierdurch entstandene Dishar*) Ebendas. S. 161.

86 monie der organischen Functionen ist das charakteristische Bild der entstehenden Krankheiten.« — Also die festen Theile, die Zellen, bilden das primäre Princip jeglicher Krankheit, wenn 6ie in ihren Functionen gestört werden oder sie nicht entsprechend an den Tag legen. — Diese für die Pathologie so wichtige Entdeckung wird noch mehr durch die Analogie mit dem socialen Organismus bestärkt. Hier ist das Verhalten des Individuums, aus welchem das sociale Nervensystem gebildet wird, welches den Urgrund aller regelrechter oder krankhafter Thätigkeit des socialen Organismus abgiebt. — So wie im Einzelorganismus die Zelle, so bildet im socialen Organismus das Individuum als Nervenzelle ¿las primäre Element aller gesunden und hranJchaßen Lebenserscheinungen. Die producirten, vertheilten und consumirten Güter bilden, gleich der Zwischenzellensubstanz in dem Einzelorganismus, nur das secundäre Element. Und wie in dem Einzelorganismus die functionelle Thätigkeit der Zelle durch einen grösseren oder geringeren Reiz bedingt wird, so findet dasselbe auch im socialen Organismus statt, nur dass hier der Reiz die Bedeutung directer und indirecter Nervenreflexe erhält. Die Nervenreflexe, indem sie die Individuen anregen, entwickeln, hemmen, zweckentsprechend reizen oder krankhaft afficiren, bilden das psychologische Element der socialen Lebenserscheinungen. Die geistige und ethische Wechselwirkung im Schoosse der Gesellschaft bildet also das Primäre in der socialen Entivichelung, gleichwie der Reiz der Zellen in der Thätigkeit des Einzelorganismus. Von einem scheinbar rein materiellen Ausgangspunkte gelangen wir somit zu rein ideellen Schlüssen. Zieht man noch in Betracht, dass der Schwerpunkt der ideellen Thätigkeit des Menschen und der menschlichen Gesellschaft in dem geistigen Aether liegt und dass die psychologische Entwickelung der ganzen Menschheit nur ein Reflex der Thätigkeit eines als Integration des geistigen Aethers real existirenden höheren persönlichen Wesens ist, so gelangt man zu den höchsten religiösen Wahrheiten, ohne auch ein Atom von der wissenschaftlichen Wahrheit geopfert zu haben (Siehe Tb. II, Kap. 1). Es ist von diesem Standpunkte aus auch klar, wie eine Idee, ein ethisches Princip oder politische Leidenschaften eine Gährung in der menschlichen Gesellschaft hervorbringen können. Der Boden zu einer solchen Gährung muss bereits in der Gesell-

87 schaft vorbereitet sein in der Spannung einer gewissen Anzahl Nervenelemente nach der Richtung hin, nach welcher die ideelle Tendenz hinweist. Hat diese Spannung eine gewisse Höhe erreicht, so ist oft nur ein geringer Anlass nöthig, um die Spannung als wirkende Kraft auszulösen, und diese nach aussen gekehrte Kraft thut sich immer in directen oder indirecten Reflexen zwischen einzelnen Nervenelementen und ganzen Nervengesammtheiten kund. Unter der Auslösung dergleichen latenten Spannungen muss man vom realen Standpunkte aus alle diejenigen Ausdrücke verstehen, welche bis jetzt nur figürlich gebraucht worden sind, wie z. B.: Ausbruch der öffentlichen Leidenschaft, Hinreissen der Volksmasse von einer Idee etc. etc. Aus dem Gesagten geht auch klar hervor, welche Wichtigkeit die Verbreitung unter den Gliedern einer Gesellschaft sittlicher Principien, geistiger Bestrebungen, religiöser Ueberzeugungen, wissenschaftlicher Wahrheiten haben muss. Da diese Principien die Integrirungspunkte des inneren geistigen und ethischen Lebens der Individuen und Gesammtheiten darstellen, so dienen sie gleichsam als Stützpunkte für die Thätigkeit der einzelnen Nervenelemente und des socialen Nervensystems nach allen Richtungen hin. Sie bilden gleichsam das Lebensprincip des Zellenkernes im socialen Leben. Eine Aenderung in der Richtung, der Energie, der Kraft der einzelnen Zellenkerne muss sofort die ganze Thätigkeit des socialen Organismus anders gestalten. Wenn alle Arbeiter die Ueberzeugung gewinnen sollten, es komme ihnen als unbestreitbares Recht zu, nur 6 Stunden statt 12 zu arbeiten, wie ganz anders würde es mit der ökonomischen Lage eines Landes aussehen im Vergleich zu den anderen Ländern, in welchen solche Ueberzeugung nicht Wurzel gefasst hätte! Ebenso wirkt das Pflichtgefühl überhaupt auf den Staatsangehörigen, Soldaten, Bürger etc. Von diesem Standpunkte aus hat der Ausspruch: »Ideen regieren die Welt,« eine vollständig reale Bedeutung. Aber die ideellen Factoren würden im socialen Organismus in der Luft schweben, wenn sie nicht zu gleicher Zeit auf einem materiellen Substrat beruhen würden. Dieses materielle Substrat besteht in den stofflichen Aenderungen, welche in jedem individuellen Nervensystem, so wie auch in den als Vermittler dienenden Gütern bei directen und indirecten Nervenreflexen vor

88 sich gehen. Die sociale Reflexwirkung umfasst die ganze geistige und ethische Entwickelung des Menschen und des Menschengeschlechtes in sich. Denn alle geistigen und ethischen Anlagen und Fähigkeiten des Menschen sind das Resultat bis in's Unendliche wiederholter und vermannigfaltigter Anregungen von Seiten anderer Menschen im Verlaufe der Erziehung des Individuums und des Menschengeschlechts. Das individuelle Nervensystem hat für das ganze Individuum dieselbe Bedeutung wie der Zellenkern für die Zelle. Wie in diesem, liegt auch in jenem das eigentliche Lebensprincip der Zelle, ihr specifisches Thätigkeitsprincip. Auch ist in der Rückbildung oder der zweckwidrigen Differenzirung der Zellen und Zellenkerne der eigentliche Herd der Krankheiten zu suchen: in dem socialen Organismus — des individuellen Nervenelementes, in dem Einzelorganismus — der Zelle überhaupt, weil in letzterem noch nicht alle Zellen sich zu Nervenzellen erhoben haben. Je niedriger die Stufe der Entwickelung eines Organismus, desto ungünstiger ist das Verhältniss zwischen Zellen überhaupt und zwischen Nervenzellen. Mit jeder Entwickelungsstufe vermehren, potenziren, differenziren und integriren sich letztere auf Kosten der ersteren. Die höher entwickelten Organe des thierischen Körpers, wie z. B. das Gehirn, enthalten fast ausschliesslich Nervenzellen mit einer kleinen Beimischung von Bindegeweben. Der sociale Organismus besteht ausschliesslich aus Nervenzellenindividuen; er kennt keine anderen Zellen. Daher liegt das primäre Lebensprincip des socialen Organismus in der Lebensfähigkeit und Wechselwirkung der Nervenindividuen, gleichwie solches im Einzelorganismus in der einfachen Zelle liegt. Was hier Reiz, ist dort Reflex. Dabei erweist sich aber der Unterschied zwischen der gesunden und krankhaften Thätigkeit der Zellen immer nur als ein relativer und kein specifischer. Es ist eine nicht am rechten Ort und zur rechten Zeit angebrachte Thätigkeit, welche die kranke Zelle von der gesunden kennzeichnet. So geschieht es z. B. bei Entzündungen. >In Folge des Entzündungsreizes,« sagt Richter,*) »wuchern die Zellen nicht blos fort, sondern die jüngsten gehen unter dem Einfluss eines differenten Blastemas in die Bildungstypen anderer Zellenreihen über, wie dies bei der ursprünglichen Entwickelung und Differenzirung der Organe gleichfalls geschah. Es entstehen so*) Ebenda*. 8. 127.

89 mit differente Zellen an einem Orte, wo sie dem Typus des ganzen Organismus gemäss nicht hingehören, sie sind dort, wo sie entstehen, Heteroplasmen, Pseudoplasmen. Im thierischen Organismus können die verschiedenen Gebilde, weil sie auf specifischer Zellenverschiedenheit beruhen, nicht substituirend für einander eintreten, wie dies die Pflanzenzellen können; eine Zellenbildung in einem Organe, welche nicht nach dem Typus ßeiner specifischen Zellen vor sich gegangen ist, stört deshalb die nutritive und functionelle Thätigkeit dieses Organes selbst.« Da nun alle, sowohl gesunde, als auch krankhafte Processe im socialen Organismus in erster Instanz auf die psycho-physische Wechselwirkung der Nervenelemente zurückgeführt werden müssen und da die psychischen Erscheinungen sich dem geistigen Aether gegenüber ebenso verhalten, wie Ansammlung und Ausscheidung von Wärme, Licht, dem Lichtäther gegenüber, so liegt die reale Analogie zwischen Beiden auf der Hand. >Es gährt in diesem oder jenem Lande, Volke, Staate,« hört man oft sagen. — Diese Ausdrücke werden aber immer, wie auch alle anderen in Hinsicht auf die Gesellschaft, nur als figürliche Redensarten betrachtet. — Dem ist aber nicht so. Zwischem dem Gährungsprocess in der menschlichen Gesellschaft und demjenigen, welcher in der Natur vor sich geht, existiren reale Analogien. Um sie aufzufinden, muss man nur im Gebiete der Socialwissenschaft denselben Weg einschlagen, welchen die neuere Physiologie durch die Entdeckungen Virchow's betreten hat, nämlich man muss Alles auf die Thätigkeit der Zellen reduciren. Dann wird sich erweisen, dass eine jede Gährung auf socialem Gebiete in einer Ueberreizung gewisser Zellenelemente, Gewebe oder Organe und in der Wirkung dieser Ueberreizung auf die anderen Theile des Organismus auf dem Wege directer oder indirecter Reflexe besteht. Die Afficirung der socialen Zwischenzellensubstanz ist dabei nur eine secundare Erscheinung. Eine jede sociale Gährung, sei sie nun ökonomischer, rechtlicher oder politischer Natur, ist daher eine psychologische Erscheinung, eine krankhafte Wechselwirkung der einzelnen Theile des socialen Nervensystems, deren Resultate sich materiell in den individuellen Nervensystemen der einzelnen Glieder der Gesellschaft ausprägen. Wenn es in der menschlichen Gesellschaft in irgend welcher Sphäre oder auf irgend welchem Gebiete gährt, so geräth gewöhnlich auch die Zwischenzellensubstanz in denjenigen Theilen,

90 welche in Berührung mit den überreizten Zellenelementen stehen, in zweiter Instanz in eine aussergewöhnliche Bewegung: die Güter werden nicht in normaler Weise producirt, vertheilt oder consumirt, es tritt eine Ueber- oder Unterproduction und -consumtion ein; die Vertheilung geht fieberhaft, unregelmässig, gewaltsam vor sich; Nachfrage und Angebot fallen oder steigen ungewöhnlich und mit ihnen die Preise der betreffenden Werthgegenstände: so während eines Aufstandes, eines Krieges, grosser finanzieller Krisen etc. Aber, wir wiederholen es, diese sich auf die Zwischenzellensubstanz beziehende Gährung ist nur secundärer Natur. Der primäre Grund ist ein psychologischer, d. h. eine anormale Reizung der Nervenelemente. Sobald diese in die gehörigen Schranken tritt, ist die Gährung gehoben, das Fieber tritt zurück; es bleiben höchstens nur die durch den Kampf verursachten Schäden und Ruinen zurück, gleichwie auch im Einzelorganismus das Fieber eine grössere Secretion und Detrition hinterlässt. »Die Entzündung sowohl als das Fieber.< sagt Richter,*) »sind beide der Ausdruck einer beschleunigten und gesteigerten Metamorphose, durch welche der Organismus dort, wo er durch Reize verletzt, in seiner Integrität gestört ist, wieder zur Regeneration zurückgeführt wird. Der Unterschied beider liegt aber darin, dass dieses, das Fieber, zunächst vorwiegend die auflösende, schmelzende Seite des Stofiwechsels, jene aber, die Entzündung, die productive, neubildende Seite desselben repräsentirt, und dass sie, wenn sie nicht zur Heilung führen, jenes den Untergang des Ganzen durch übermässige Schmelzung, diese aber durch übermässige Production herbeiführt.« — Nach dem Obengesagten dürfte die reale Analogie zwischen diesen Vorgängen im Einzelorganismus und der Gährung im socialen Organismus als erwiesen zu betrachten sein. — Und diese Erklärung der socialen Gährung kann ihrerseits wieder so manchen Lichtblick auf die Gährung der Stoffe in der Natur werfen, wodurch also die Socialwissenschaft der Naturkunde als Hilfswissenschaft dienen kann. Wir sind der Ueberzeugung, dass man mit jedem Schritte vorwärts in der Erkenntniss, dass die menschliche Gesellschaft ein realer Organismus ist, jenem Ziele auch immer näher rücken wird. — *) Ebendas. S. 95.

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IT.

Sociale Psychophysik. Die verdienstvollen Arbeiten von Herbart, Allihn, Thilo, Lazarus und Steinthal im Gebiete der Völkerpsychologie haben nicht wenig dazu beigetragen, diesen Theil der Culturgeschichte und der Socialwissenschaft zu fordern und zu beleuchten. Wenn diese eifrigen Forscher sich nur an die beschreibende Methode in Hinsicht auf die geistige und ethische Entwickelung des Menschen und des Menschengeschlechts gehalten haben und nicht bis zur Entdeckung der psychologischen Entwickelungsgesetze im socialen Gebiete durchgedrungen sind, so liegt wiederum die Ursache nur darin, dass sie den socialen Organismus höchstens nur figürlich mit den Einzelorganismen der Natur und mit der Entwickelung des menschlichen Individuums verglichen, bis zur Anerkennung der menschlichen Gesellschaft als vollständig realen Organismus sich aber nicht durchgebrochen haben. Am nächsten ist diesem Standpunkte Plato gekommen, wenn er ihn auch nicht ganz erreichte. — A. Krohn bemerkt*) ganz richtig, dass die den Bau des platonischen Staates bestimmenden Grundprincipien die Correlation der psychischen und politischen Erscheinungen und die specifischen Energien der menschlichen Natur bildet. Auch findet Krohn, dass Plato's Methode im socialen Gebiete eine genetische ist oder zum wenigsten bestrebt ist, eine solche zu sein, indem Plato die Tugenden und Laster an ihren Quellen aufsucht und den Staat als ein Product menschlicher Bedürftigkeit darstellt. »Eine genetische Erklärung des politischen Gemeinlebens aus seinen psychischen Elementarformen schwebte Plato vor. Die Aufstellung des Princips bekundet den schöpferischen Geist. Plato ahnte, was die Wissenschaft hier zu leisten hat; bis auf unsere Zeit sind die Besten nicht über seine Ahnung hinausgekommen.«**) — K. Fr. Hermann bemerkt gleichfalls, dass Plato bestrebt *) A. Krohn: Der Platonische Staat, S. 5. *•) Ebendas. S. 51.

92 war, die Analogie des Staates als eines Menschen im Grossen und des Menschen als eines Staates im Kleinen durchzuführen. * ) Von diesem Standpunkte aus müssen alle völkerpsycholologischen Erscheinungen als social-psychophysische Erscheinungen anerkannt und behandelt werden, gleich den psychophysischen Erscheinungen im thierischen und menschlichen Organismus; daher denn auch die socialpsychologischen Entwickelungsgesetze auf den Gesetzen der Entwickelung des Nervensystems der Thiere und des Menschen begründet werden müssen. Allerdings haben wir im vorhergehenden II. Kapitel die sociale Psychologie als entgegengesetzten Pol der socialen Physik bezeichnet; daraus darf man aber, wie wir es schon dort hervorgehoben haben, nicht schliessen, dass zwischen socialer Physik und socialer Psychologie kein Zusammenhang besteht. So wie der Mensch nicht einerseits einen Leib und andererseits eine von demselben getrennte Seele besitzt, sondern der ganze Mensch Leib-Seele oder Seele-Leib bildet, so durchdringt auch die sociale Psychophysik den ganzen socialen Organismus und gehört die sociale Psychologie nach einer Seite hin zu der socialen Physik, wie letztere mit der anderen Seite zur socialen Psychologie gehört. Von diesem Standpunkte aus werden wir nun die sociale Psychologie oder die Völkerpsychologie betrachten. Fühlen, Denken und Wollen — das ist die bereits allgemein, sowohl im praktischen Leben als auch in der Philosophie vom subjectiven Standpunkte aus anerkannte Dreiheit der psychologischen Thätigkeit der menschlichen Seele. Zergliedert man objectiv und realistisch diese Thätigkeit, so findet man dieselbe Dreiheit in den sensorischen Nerven einerseits, in den motorischen andererseits und in dem menschlichen Gehirn als Uebergangspunkt, Condensator und Reservoir der Reflexe zwischen diesen beiden Nervencomplexen. Tetens (I, 620 f. u. a. St.) erkennt der Seele ein dreifaches Vermögen zu.**) »Zuerst besitzt sie ein Vermögen, sich modificiren zu lassen und diese Veränderungen zu fühlen. Beides *) K. Fr. Hermann: Gesch. und Syst. der Platonischen Philosophie, p. 539. (Ebendas. S. 1). * * ) Zeller: Die Geschichte der deutschen Philosophie seit Leibnitz, S. 263.

93 zusammen macht das Gefühl aus. Dieser Receptivität steht die Activität, die innere thätige Kraft der Seele gegenüber. Sofern sich diese auf die empfundenen Modificationen bezieht und uns ein Bild von ihnen liefert, nennen wir sie die Vorstellungskraft, soferne sie die Vorstellungen wieder bearbeitet, Denkkraft; beides fassen wir unter dem Namen des Verstandes zusammen. Neben dieser Beschäftigung mit ihren früheren Modificationen bewirkt aber die Seele durch ihre thätige Kraft auch neue Veränderungen in ihrem inneren Zustand oder in ihrem Körper oder in beiden zugleich. Das Vermögen dazu kann die Thätigkeitskraft im engeren Sinn oder der Wille genannt werden Die Selbstthätigkeit, durch welche wir Vorstellungen erhalten, äussert sich zunächst in dem Vermögen, zu percipiren, Empfindungsvorstellungen zu bilden; zu einem höheren Grade gesteigert, in der Einbildungskraft oder Phantasie, dem Vermögen, diese Vorstellungen zu reproduciren; auf der höchsten Stufe in der Dichtkraft, der Schöpfung neuer Vorstellungen aus dem Stoffe, den wir in den Empfindungen aufgenommen haben. In dem Erkennen der Verhältnisse und Beziehungen zwischen den Dingen, deren Bild die Vorstellung uns liefert, besteht das Denken.« Locke unterscheidet primäre und secundäre Vorstellungen. Nur die ersten, wie z. B. die Ausdehnung, geben uns ein Bild von der Aussenwelt, wogegen letztere, wie z. B. die Farbe, uns nur als Empfindung in Folge einer bestimmten Wirkung sich kund thut. — »Jacobi bedient sich,< äussert sich Zeller weiter,*) >für dieses unmittelbare Wissen (der Identität) verschiedener Bezeichnungen: er nennt es Glaube, Sinn, Anschauung, Gefühl, Ahnung, Empfindung, auch wohl Eingebung; und er behauptet demgemäss, dass man nie mehr Verstand als Sinn habe, dass uns nicht allein über alle ewige Wahrheiten, über das Dasein Gottes, die Freiheit, die Unsterblichkeit, sondern auch über unseren eigenen Körper und über die Existenz anderer Körper und denkender Wesen ausser uns nur der Glaube unterrichte. In der Folge nahm er die Kantische Unterscheidung des Verstandes und der Vernunft an, welche er in seinen früheren Schriften als gleichbedeutend behandelt hatte, verstand unter der Vernunft das Glaubensvermögen, wiefern es sich auf geistige *) Ebendas. S. 441.

94 und göttliche Dinge bezieht, das Vermögen einer unmittelbaren Erkenntniss des Unbedingten, und machte nun seinerseits Kant den Vorwurf, dass er die Vernunft mit dem Verstände verwechselt habe.« Die menschlichen Seelenvermögen sind so wohl vor als auch nach Locke und Kant aufs verschiedenartigste classificirt und definirt worden, daher wir uns mit den angeführten Andeutungen begnügen: die Haupteintheilung verbleibt aber immer im Fühlen, Wollen und Denken. Dasselbe finden wir in einer anderen Form auch in der menschlichen Gesellschaft, als sociales Nervensystem. In jeder socialen Gesammtheit giebt es Glieder, die vorzugsweise receptiv wirken, andere, die vorzugsweise activ, endlich noch andere, die überwiegend contemplativ, vernunftgemäss handeln und wirken und das ganze sociale Nervensystem beeinflussen. Dieselbe Dreiheit finden wir sogar bereits im Keime in der Familie, welche überhaupt den socialen Organismus im Kleinen darstellt. Denn das Weib repräsentirt vorzugsweise das Fühlen, der Mann das Wollen und beide, jedoch auch vorzugsweise der Mann, das intellectuelle Princip. Diese Theilung findet man auch in allen anderen socialen Gesammtheiten bis zum Staate hinauf. Die mehr receptiv angelegten Individuen, männliche oder weibliche, verhalten sich vorzugsweise passiv bei jeglicher Wechselwirkung des socialen Nervensystems, gleich den sensorischen Nerven, und zwar so wohl einzeln, als auch in geschlossenen Gesammtheiten, wie z. B. in der Kirche, in den Klöstern etc. Die dem Impuls anderer, energischerer und mächtigerer Zellenindividuen folgenden und gehorchenden Einzelzellen oder Zellengewebe stellen die motorischen Nerven dar, so z. B. das Heer, die administrativen Behörden etc. Der Intellect wird in der Gesellschaft in seiner abstractesten Form durch die Wissenschaft, vorzugsweise durch die Philosophie, oder eigentlich durch die als Zellenindividuen sich hervorthuenden Träger der Wissenschaft und Philosophie dargestellt, obgleich das intellectuelle Princip auch inmitten einer vorzugsweise fühlenden oder wollenden Gesammtheit beständig zum Vorschein kommt. Und das aus dem Grunde, weil jeder Mensch mehr oder weniger sich doch immer von vernünftigen Motiven leiten lässt. Je höher die Wehrkraft eines Staates steht,' desto mehr Intelligenz gehört auch zur Leitung und Erhaltung derselben. Aber die Intelligenz

95 selbst hat in dieser Sphäre vorzugsweise das Wollen zum Gegenstand, so wie in der Religion und im Gebiete der Kunst das Fühlen. Alle diejenigen Mittel und Wege, welche als Vermittler zwischen den Einzelindividuen und socialen Gruppen dienen, z. B. Bücher, Kunstgegenstände, Waffen, Werthgegenstände etc. stellen nur die Zwischenzellensubstanz dar und haben daher eine secundare, rein vermittelnde Bedeutung. Indem wir nun die Dreitheilung sowohl des individuellen, als auch des socialen Nervensystems, eines jeden in drei Nervencomplexe oder Gewebe anerkennen, von welchen das eine vorzugsweise dem Fühlen, das andere vorzugsweise dem Wollen und das dritte, als Vermittler zwischen diesen beiden, vorzugsweise dem Denken als materielles Substrat dient, negiren wir nicht im mindesten die Einheitlichkeit der menschlichen Seele oder ihrer Seelenthätigkeit. Denn eine jede Zelle im Nervensystem des Individuums, so wie auch ein jedes Individuum im socialen Nervensystem vereinigt immer alle drei Principien, wenn auch in verschiedenartigem Verhältniss zu einander. Wie es in der Gesellschaft kein absolut nur fühlendes, nur wollendes oder nur denkendes Glied giebt und geben kann, so enthält auch im individuellen Nervensystem eine jede einzelne Zelle, sie möge nun zu den sensorischen, motorischen oder Hirngeweben gehören, immer alle drei Principien, nur in einem mehr oder weniger entwickelteren Zustande. So sagt auch Büchner:*) »Die Unterscheidung von Empfindungs-, Bewegungs- und Vorstellungszellen im Gehirn ist allerdings bis jetzt noch eine mehr oder weniger hypothetische, aber doch sehr wahrscheinliche. Die Bewegungszellen an den centralen Enden rein motorischer Nerven fanden Jakubowitsch und Owsjannikof ähnlich den Bewegungszellen in den Vorderhörnern der grauen Substanz des Rückenmarks, von etwas anderer Gestalt und bedeutend grösser, als die Empfindungszellen an den Enden der höheren Sinnesnerven.« Wie wir die drei Begriffe des Fühlens, Wollens und Denkens auf die Action von aussen, die Reaction von innen und die Umwandlung der Kraft im Nervensystem des Menschen zurückgeführt haben, ein Process, der in jedem organischen, ja sogar *) C. Büchner: Physiologische Bilder, Bd. II, S. 167.

96 in jedem anorganischen Körper vor sich geht, ebenso können alle Erscheinungen des intettedueUen Lebens des Menschen vom Standpunkte des realen Werdens, der real-genetischen Entwickelung der Kräfte erklärt und ergründet werden. — So auch die Auffassung dessen, was unter Begriff und Urtheil verstanden wird. Zeller führt die Anschauung Schleiermacher's über das Wissen überhaupt auf zwei Hauptmomente der geistigen Thätigkeit zurück: auf das Begreifen und Urtheilen. Das Denken nimmt also nach Schleiermacher zwei Formen, die des Begriffs und die des Urtheils an. >Der Begriff,« sagt Zeller in seiner Auseinandersetzung der Philosophie Schleiermacher's,*) »ist Aussonderung einer Einheit des Seins aus der unbestimmten Mannigfaltigkeit; das Urtheil ist Verknüpfung verschiedenartiger Begriffe, also Fortgang von der Einheit zur Vielheit; jener ist dem intellectuellen, dieses dem organischen Factor des Denkens näher verwandt; jener dient überwiegend dem speculativen, dieses dem empirischen Wissen; jener repräsentirt das Beharrliche, dieses den Wechsel. Aber den letzten Grund alles Seins können wir weder unter der einen, noch unter der anderen Form erkennen. Gehen wir in der Begriffsbildung so weit als möglich aufwärts, so erhalten wir die Idee der absoluten Einheit des Seins, in welcher der Gegensatz von Gedanke und Gegenstand aufgehoben ist; aber diese Idee ist kein Begriff mehr, denn sie drückt nichts Bestimmtes aus, sondern nur das unbestimmte Subject unendlich vieler Urtheile, dasjenige, von dem alle Gegensätze zu verneinen sind. Steigen wir in der Begriffsbildung so weit als möglich herab, so kommen wir schliesslich zu der unerschöpflichen Mannigfaltigkeit des Wahrnehmbaren, zu dem Einzelwesen; aber von diesen giebt es gleichfalls keinen vollkommenen Begriff: jedes ist unendlich vieler Modificationen fähig, das Subject zahlloser möglicher Urtheile, aber eben deshalb durch keinen Begriff vollständig zu erschöpfen. Das Gebiet des Begriffs endet mithin nach unten wie nach oben in der Möglichkeit einer unendlichen Mannigfaltigkeit von Urtheilen. Das Gebiet des Urtheils seinerseits ist nach oben begrenzt durch das Setzen eines absoluten Subjects, von dem nichts prädicirt werden kann, nach unten durch das einer Unendlichkeit von Prädicaten, für welche es keine be*) Ed. Zeller: Geschichte der deutschen Philosophie seit Leibnitz, S. 610.

97 stimmten Subjecte giebt, d. h. einer absoluten Gemeinschaftlichkeit des Seins. Wir kommen mithin durch keine von beiden Erkenntnissarten zum wirklichen Erkennen eines letzten und voraussetzungslosen, weder nach oben, noch nach unten; wir sind genöthigt, einerseits eine absolute Einheit des Seins, andererseits eine absolute Mannigfaltigkeit des Erscheinens zu setzen; aber keine von diesen Setzungen ist ein Denken, sondern beide sind nur >>die transcendentalen Wurzeln alles Denkens. Anderes< bezeichnet wird, so ist sie den dialektischen Erörterungen zufolge mit logischer Notwendigkeit ebensosehr ein Seiendes, als ein Nichtseiendes. Weil Plato diese Schwierigkeit sich nicht verhehlte, musste er sich begnügen, in Gleichnissen und Bildern von einer Voraussetzung zu reden, die er ebensowenig zu entbehren, als begrifflich zu fassen vermochte. Er vermochte ihrer nicht zu entbehren, ohne entweder zu dem Begriffe einer absoluten Schöpfung sich zu erheben oder den Stoff als letzten Ausfluss des absoluten Geistes, als Basis seiner Selbstvermittlung mit sich zu betrachten oder ihn bestimmt für subjectiven Schein zu erklären. So ist das Platonische System ein erfolgloses Ringen gegen den Dualismus.« — Sowohl nach der positiven, als auch nach der negativen Seite hin muss Plato als Vorläufer Hegel's betrachtet werden. Denn auch Hegel hat den misslungenen Versuch gemacht, die Ausprägung der Vernunft in der Wirklichkeit durchzuführen und zu erklären. — Plato hatte aber andererseits auch das ethische Gebiet erweitert, indem er zu demselben auch die Politik und das sociale Leben des Menschen hineinzog. Bei Plato sind bereits alle Zweige der Philosophie des Alterthums, die Erkenntnisslehre oder Dialektik, die Physik und die Ethik vertreten, jedoch sind diese Gebiete bei ihm noch nicht genau abgegrenzt und bestimmt ausgeprägt. Seit Plato tritt aber die Eintheilung der Philosophie in Ethik, Physik (wohin auch die Lehre über die Götter gehörte) und Dialektik, bei den Alten immer klarer und bestimmter hervor. Die anderen Schulen, die von Sokrates ihren Ursprung nahmen, hatten, gleich dem Meister, auch dem ethischen Gebiet vorzugsweise ihre Forschungen gewidmet. Zu denselben gehörten: Antisthenes und die Cyniker, deren Lehre allmälig in diejenige der Stoa überging; Aristipp und die Cyrenaiker, von denen die Lehre Epikurs abgeleitet wird, und Euclides und die Megariker, die den Grund zur späteren Skepsis legten. Alle 8«

116 diese Lehren stellen Differenzirungen und tiefere oder oberflächlichere Integrirungen im ethischen Gebiete dar. Aristoteles war der Universalgeist, welcher die ganze Philosophie, ja die ganze Wissenschaft des Alterthums in ein System zusammenfasste und dasselbe weiter ausarbeitete und differenzirte. — Worin bestellt nun aber die reale Grundlage der ganzen philosophischen Entwickelung der Menschheit? Alle philosophischen Systeme, welche zu verschiedenen Epochen im Nacheinander folgten und noch jetzt im Nebeneinander existiren, rühren von den verschiedenen psychopliysischen Energien her, über welche die Denker, ein jeder zu seiner Zeit, verfügten und noch jetzt verfügen. Dasselbe geht im Wesentlichen in jedem Einzelorganismus vor sich. — »Man kann,« sagt Büchner,*) »die in den Nerven vor sich gehende Leitung am besten vergleichen mit der Leitung in einem Telegraphendraht, welcher ebenfalls, obgleich er stets nur in ein und derselben Weise erregt wird, doch die verschiedensten Wirkungen hervorbringt, je nach der verschiedenartigen Beschaffenheit der Endstationen oder End-Apparate, mit denen er zusammenhängt und auf welche er einwirkt. Mittelst dieser Apparate bewirkt oder besorgt die elektrische Kraft, welche den Draht in stets gleicher Weise durchläuft, bald das Niederschreiben einer Depesche, bald das Anschlagen einer Glocke, bald das Entzünden einer Pulvertonne, bald die Entladung eines elektrischen Blitzes, bald die Bewegung einer elektrischen Uhr u. s. w. — lauter ganz verschiedene Wirkungen derselben Kraft und derselben Leitung, bedingt durch die verschiedene Construction der End-Apparate.« — »Ganz in derselben Weise verhält es sich mit den Nerven, welche ebenfalls mit Hilfe verschieden construirter End-Apparate die verschiedensten Wirkungen erzeugen können und wirklich erzeugen. So vermittelt unter den zuleitenden Nerven der SehNerv die Empfindung von Licht, der Hör-Nerv diejenige von Schall, der Geruchs- oder Geschmacks-Nerv diejenigen von chemischen Einwirkungen, während die Gefühls-Nerven, welche sich in der Haut ausbreiten, nicht blos das Allgemeingefühl, sondern auch die Empfindungen von Druck, Stoss, Temperatur und Schmerz hervorbringen.« — *) Dr. L. Büchner: Physiologische Bilder II, S. 320.

117 "Wenden wir dasselbe auf das sociale Nervensystem an, so erweist sich, dass auch hier dasselbe vor sich geht, nur mit um so mehr Mannigfaltigkeit, je höher entwickelt der Mensch selbst ist. Dieselbe mündliche oder schriftliche Nachricht, dasselbe Buch, dieselbe That können, je nach der Entwickelungsstufe, dem Standpunkte, der Empfänglichkeit, den Neigungen, Bedürfnissen etc. des Einzelnen, ganz verschiedene Erregungen und Thätigkeitsäusseiungen hervorbringen. Hier erregt die Nachricht eines Sieges Hoffnungen, Freude, regt zu neuen Anstrengungen an, dort wirkt sie niederdrückend, entmuthigend. Dasselbe Buch ruft in einem Menschen, in einem Kreise Widerwillen, Entrüstung hervor, in anderen regt es zu neuem Nachdenken an; sowie auch Mirabeau, der Vater, ganz richtig bemerkt, dass wir von einem jeden Buche nur das herauslesen, was in uns schon enthalten ist. — Dabei muss man jedoch immer im Auge behalten, dass die ganze Mannigfaltigkeit der Potenzirungen der höheren Nervenorgane der Individuen, welche ihrerseits die Mannigfaltigkeit der Wirkungen bedingt, immer doch nichts weiter sind als allmälige Anhäufungen von socialen Erregungen, welche sich im Verlaufe der Geschichte der Menschheit oder des Lebens eines Volkes oder des Einzelnen capitalisirt habend Sie verhalten sich also zu den einzelnen Erregungen wie in der Zwischenzellensubstanz das Capital zur Arbeit. Die Mannigfaltigkeit der Erregungen des socialen Nervensystems ist ein Resultat der auf dem Gesetz der Anpassung und Vererbung beruhenden Entwickelung, welche, wie Alles in der Natur und der menschlichen Gesellschaft, mit dem Einfachen begonnen hat. Denn gleichwie, nach Du Bois-Reymond's Untersuchungen, ein jeder Nerv selbst in jedem seiner Theile sogar in scheinbar ruhendem Zustande eine beständige elektrische Strömung erzeugt, und gleichwie die in jedem Theile des Nerven in Bewegung versetzten Moleküle sich im ganzen Nerven zu einem gemeinschaftlichen Gesammtstrom vereinigen, so findet auch dasselbe im socialen Nervensystem statt. Eine Zwischenstufe stellt die aus Nervenzellen und Fiiden bestehende Gehirnsubstanz dar, in welcher die Nervenfäden unter der Wirkung der elektrischen Ströme sich bereits zu Zellen, von welchen eine jede, wie man voraussetzen muss, eine besondere specifische Energie besitzt, und zu besonderen Organen, mit verschiedenen Functionen, sich differenzirt

118 haben. Daher ist auch das Gesetz der elektromotorischen Wirksamkeit im wesentlichen dasselbe nicht nur für alle Nerven und Theile von Nerven, sondern auch für die geistige Thätigkeit des Gehirns und die Wechseltvirkung des socialen Nervensystems. TJnd gleichwie der elektrische Strom im Nerven des thierischen und menschlichen Einzelorganismus um so stärker ist, je dicker und länger der Nerv ist, so steht auch die geistige und sociale Wechselwirkung caeteris paribus in directem Verhältniss zu der Zahl der zur Gesammtheit gehörenden Zellen oder Masse der Zellengewebe. Denn wie diese, sind auch die Nervenfäden im Einzelorganismus nicht nur Leiter, sondern auch Selbsterzeuger der elektromagnetischen, resp. geistigen und socialen Kraft. Daher findet auch das von Pflüger entdeckte Gesetz des lawinenartigen Anschwellen* des Nervenreizes in directem Verhältnisse zu der Länge des Nerven volle Anwendung im geistigen und socialen Gebiete, indem hier die Entwickelung, die Zahl und die Masse der Zellen und Nervengewebe der Länge des Nerven im Einzelorganismus entsprechen. Der Zustand der Nerven kann ein ruhender oder ein nach aussen activer sein. Die Bezeichnung »ruhender oder unthätiger Nerv< ist aber, nach Büchner, eine ungeeignete, indem ein jeder Nerv auch im ruhenden Zustande beständig thätig ist und unaufhaltsam elektrische Ströme producirt. Der thätige oder active Zustand der Nerven unterscheidet sich von dem ersteren nur dadurch, dass die Thätigkeit oder Erregung des Nerven nach aussen sich durch Einwirkung auf Muskeln, Drüsen und andere Organe kund thut. Und »die Quelle dieser von den Nerven entwickelten Kräfte ist einzig und allein in den durch den Stoffwechsel erzeugten chemischen Umsetzungen des Inhalts der einzelnen Nervenröhren zu suchen. Der Nerv ist nur einer jener zahllosen, in der Natur verbreiteten Apparate, welche dazu bestimmt sind, sog. Spann- oder ruhende Kräfte in lebendige Kräfte oder in Bewegung umzusetzen; und er thut dieses, indem er zunächst durch seinen chemischen Process elektrische Kräfte erzeugt oder frei werden lässt. zweifelnd aus.*) Und was den Sprachgebrauch betrifft: »Der Orientale spricht seine Gedanken nicht mit umständlicher, selbstgefälliger Breite aus; seine Rede bewegt sich nicht im Fahrgleis eines ununterbrochenen Gedankenzusammenhanges, wie die unsere. Das, was der Orientale denkt, chiffrirt er nur mit wenigen Worten; man muss dasselbe denken, um die fehlenden Glieder der Gedankenkette ergänzen zu können. Die Worte sind nur Punkte, zwischen denen der Leser erst die Linie der stetigen Gedankenreihe beschreiben muss. Und selbst das Wenige, was der Orientale aus der Fülle seiner Gedanken skizzirt, ist mit wenigen Strichen so lässig, so sorglos, so keck *) Ausland, 1876, S. 417.

128 hingeworfen, mit nicht der geringsten Besorgniss eines möglichen Missverständnisses, dass jedes Buch eines Commentars, und der Commentar wieder eines Commentars bedarf. Die Mischnah und die Gemaren sind Beispiele.«*) — Die Sprache wird ausserdem, wie jeder Organismus, aus Dauer- und Bildungszellen zusammengesetzt. So sagt Whitney: >Mit ganz wenigen Ausnahmen, die es auch nur scheinbar sind, lassen sich alle deutschen Wörter in mehrere, oder wenigstens zwei Bestandtheile zerlegen, von denen der eine den Haupt- oder Grundbegriff des Worts, der andere eine Einschränkung, Verallgemeinerung oder eine Beziehung dieses Begriffs zu andern ausdrückt. Selbst jene kleinen Wörtchen, die scheinbar etwas absolut Einfaches sind, enthalten bei näherer Prüfung entweder, wie ist und solch, noch je ein oder zwei Laute als Ueberreste von jedem ihrer Urbestandtheile, oder es lässt sich nachweisen, dass sie mehr als ein Element enthalten, aber alle bis auf eines verloren haben. So dass also in unserer Muttersprache (und in allen Sprachen, die zu demselben Stamme gehören) Folgendes als der normale Bestand eines Wortes erscheint: es enthält allemal einen wurzel- oder stammhaften und einen formalen Theil, mit anderen Worten: es besteht aus einer Wurzel, die mit einem Präfix oder Suffix oder mit mehreren solchen zusammengesetzt ist. Ganz präcis ausgedrückt, jedes Wort hat eine bestimmte Wortform; die Wörter sind überall nicht blos an sich bedeutungsvolle Zeichen, sondern sie drücken zugleich eine Beziehung aus, sie sind mit einem weiteren Zeichen versehen, welches sie in eine Klasse oder Kategorie mit andern Wörtern bringt.«**) Und weiter: >Es ist eine unzerreissbar feste Kette von Analogieschlüssen, welche für den Sprachforscher die Annahme zwingend und zur festen Ueberzeugung macht, dass seine Wortzerlegungen überall keine blossen Abstractionen sind, sondern wirklich diejenigen Elemente von einander scheiden, durch deren Zusammensetzung einstmals die jetzt bestehenden Wörter gebildet wurden.«***) *) Vorrede zur Ucbersetzung des Talmud von Dr. Pinner, Bd. I , S. 9 (Berlin 1842). **) Whitney's Vorlesungen über Sprachwissenschaft, S. 98. ***) Ebendas. S. 101.

129 Die Zurückfuhrung der Entwickelung der Sprache auf die Naturgesetze findet man, wenn auch in sehr begrenztem Sinne, bei den verschiedensten Forschern angedeutet. »Der Ursprung und das Ende alles getheilten Seins ist Einheit,« sagt Carriere in Uebereinstimmung mit Humboldt, indem er mit den Physiologen anerkennt, dass alles Organische nicht durch Zusammensetzung fertiger Bestandstücke, sondern durch Entfaltung des einfachen Keimes, durch Scheidung und Vereintbleiben wird und wächst.*) »Das alte Wort des Aristoteles,« sagt er weiter, »dass das Ganze früher sei als die Theile, gilt auch hier. Darum ist es aber wichtig, für die Auffassung der Sprache als eines Organismus festzuhalten, dass anfänglich, und stets noch bei dem Kinde, ein Wort den Satz vertritt, und dass es daher weder Substantiv, noch Adjectiv, noch Verbum, sondern noch keines derselben und alle zugleich ist. Ja es werden die ersten Sätze aus mehreren derartigen aneinander gereihten Wörtern bestehen.« Ein erster Schritt zur Sprachentwickelung besteht nach Carriere darin, dass man zwischen Eigenschaften und ihren Trägern, zwischen Gegenständen und ihrem Thun und Leiden unterscheidet und danach auch in der Sprache unterschiedene Wortarten dafür setzt.**) Obgleich nun Whitney die Ausdehnung der Naturgesetze auf das Gebiet der menschlichen Sprache für widersinnig hält, sagt er später doch selbst: »»Alles, was geboren ist, muss sterben,«« dieses unerbittliche Gesetz scheint auf sprachlichem Gebiet ebenso ausnahmslose Geltung zu haben wie für die organische Natur.« Und weiter: »Die erste und wichtigste Erscheinung, die uns hierbei entgegentritt, und die Ursache fast aller Lautveränderungen, die in der Geschichte der Sprachen vorkommen, ist jener Trieb des Menschen, auf den wir schon in der ersten Vorlesung mit Anführung einiger Beispiele kurz hingewiesen haben: das Streben, den Sprachorganen die Sache leicht zu machen, die schwerer *) M. Carriere: Die Knnst im Zusammenhang mit der Cultnrentwickelung, Bd. I , S. 14. •*} Ebendas. Gedanken Uber die Soclalwit8eiucli&ft der Zukunft. I I I .

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130 sprechbaren Laute und Lautverbindungen durch bequemere, weichere zu ersetzen, und allen unnützen Ballast in den Wörtern, deren wir uns bedienen, über Bord zu werfen. Alle articulirten Laute werden mit einer gewissen körperlichen Anstrengung hervorgebracht, indem dabei die Muskelthätigkeit unserer Lunge, unserer Kehle und unseres Mundes in Anspruch genommen wird. Diese, gerade wie jede andere Anstrengung sucht sich der Mensch kraft eines natürlichen Instinctes vom Halse zu schaffen oder doch zu erleichtern, eines Instincts, den man nach Belieben als einen Ausfluss der angeborenen Trägheit oder der Sparsamkeit, d. h. des Selbsterhaltungstriebes, des Menschen betrachten m a g ; er fliesst in der That bald aus der ersteren, bald aus der letzteren Quelle, je nach den Umständen; er ist Trägheit, wenn dadurch mehr verloren als gewonnen wird, weise Sparsamkeit, wenn der Gewinn die Einbusse übersteigt.»*) — Nun gehen aber die aus diesen Quellen verursachten Lautveränderungen nach bestimmten, von der Organisation unserer Sprachorgane abhängigen Gesetzen vor sich. Diese Gesetze sind aber Naturgesetze und somit auch diejenigen der Entwickelung der Sprachen. — »Hier wird vor Allem, < fährt Whitney fort, »schon aus der Untersuchung, die wir über das Lernen und Lehren und über die Lebensbedingungen der Sprache angestellt haben, erhellen, was damit gemeint ist, wenn man ihr eine selbständige oder objective Existenz zuschreibt, wenn man sie als einen Organismus bezeichnet oder von ihrer organischen Structur und von ihren Entwickelungsgesetzen spricht, ihr gewisse Neigungen oder Launen, eine Accomodationsfähigkeit an die Bedürfnisse der Menschen beilegt u. dergl. mehr. Es sind dies lauter figürliche Ausdrucksweisen, in welchen die Dinge mit Tropen und Metaphern, nicht mit ihren einfachen, natürlichen Namen bezeichnet erscheinen; es ist nicht das Mindeste gegen sie einzuwenden, wenn man sie in voller Klarheit über ihr eigentliches Wesen der Kürze oder der grösseren Anschaulichkeit wegen verwendet, nur schädlich können sie dagegen dann wirken, wenn man sich durch sie über die wahre Natur der richtigen Begriffe und Anschauungen blenden lässt, die dabei zu Grunde liegen. Denn in Wirklichkeit *) Whitney's Vorlesungen über Sprachwissenschaft, bearbeitet von Jul. Jolly, S. 105.

131 lebt und existirt die Sprache ja nur auf den Lippen derer, die sie sprechen; sie setzt sich aus einzelnen articulirten Zeichen für Gedanken zusammen, deren jedes durch eine eigene Ideenverbindung an die damit ausgedrückte Vorstellung angeknüpft ist und seinen Werth und seine Giltigkeit nur durch die gegenwärtige Uebereinkunft der Sprecher und Hörer empfängt. Es steht unter ihrer Macht und ist ihrem Willen unterworfen; nur durch ihr einmüthiges Zusammenwirken und auf gar keine andere Weise erhält es sich am Bestehen, oder kann es modificirt und umgestaltet oder ganz aufgegeben werden.«*) — Suchen wir nun das Wahre vom Falschen in diesen Behauptungen zu scheiden, indem wir feststellen, was als der Willkür unterworfen und was in der Bildung und Erhaltung der Sprache als nothwendig anerkannt werden muss. Die Sprachfähigkeit des Menschen ist einer jeden Kraft gleichzustellen. Das Princip der Geistigkeit, Zweckmässigkeit und Freiheit hat ohne Zweifel die Oberhand im Gebiete der Sprache im Vergleich zu den Principien der Materialität, der Causalität und Nothwendigkeit. Die Laute sind aber dennoch immer materielle Ausprägungen. Als solche unterliegen sie den nothwendigen Naturgesetzen. Ihre kurze Dauer ist ein unwesentlicher Umstand. Dass diese Eigenschaft keine wesentliche ist, beweist der Umstand, dass die Schrift, welche auch als Vermittler der durch Zeichen sich kundgebenden geistigen Wechselwirkung unter den Menschen dient, eine sehr lange Dauer besitzt. Daher sind auch alle durch Laut oder Schrift sich kundgebenden geistigen Regungen des Menschen — psycliophysische Erscheinungen, d. h. solche, welche nicht als etwas absolut Geistiges oder etwas absolut Stoffliches betrachtet werden können. Als Reflex des socialen Nervensystems muss unter dieser Bedingung auch die organische Natur der Sprache und die Sprache selbst als Organismus, welcher in seiner Entwickelung nothwendigen organischen Naturgesetzen unterworfen ist, anerkannt werden. Die Sprache ihrerseits, als Organismus, wirkt, wie jegliche Zwischenzellensubstanz, wie .ein jedes Kunstproduct, auf die menschliche Gesellschaft und auf das Individuum zurück. — *) Ebendas. S. 51.

132 Gerade weil das einzelne Individuum nicht ein abgeschlossenes Ganze, sondern blos eine Zelle im Gesammtorganismus der Menschheit bildet, ist es von den Uebrigen abhängig, kann es für sich nicht eine abgeschlossene Welt bilden und so zu sagen auf eigene Hand eine eigene Entwickelung erzielen. Den geistigen Zusammenhang unter den einzelnen Individuen einerseits und zwischen diesen und der menschlichen Gesellschaft als Gesammtorganismus andererseits kann jedoch am vollkommensten und wirksamsten nur die Sprache vermitteln. Hieraus ergiebt sich nun aber, dass die Sprache nicht, wie Whitney behauptet, in Wirklichkeit nur auf den Lippen derer lebt, die sie sprechen, sondern dass sie als ein mächtiges Culturmittel, ja eigentlich als die Trägerin der Cultur anerkannt werden muss. Und gerade weil sie mit der intellectuellen Entwickelung Hand in Hand geht, also von den geistigen Fähigkeiten des Menschen ebenso abhängt, wie sie diese verursacht und bedingt, müssen ihr dieselben Entwickelungsgesetze zu Grunde liegen, von welchen überhaupt alle Entwickelung abhängt. Ueber die Entwickelung der Sprache sagt Whitney: >Man hat nichts gefunden, das dafür spräche, dass die Sprache nicht, in ihren Grundzügen wenigstens, auf dem ganzen Erdkreis ein und dieselbe sei, wohl aber haben sich die stärksten Gründe für die Annahme einer durchgehenden Homogenität ergeben: so starke Gründe, dass sie im Zusammenhalt mit der theoretischen Wahrscheinlichkeit wohl zu dem Schlüsse berechtigen, dass alle die mannigfaltigen und complicirten Sprachformen, von denen jetzt der Erdkreis voll ist, ihre jetzige Gestalt in Folge einer Reihe von ähnlichen Vorgängen angenommen haben; dass alle Bezeichnungsweisen für grammatische Beziehungen etwas allmälig Gewordenes sind; dass die formalen Bestandteile der Sprachen durchgehends aus ursprünglich selbstständigen Wörtern hervorgebildet worden sind; dass die Sprachgeschichte überall von solchen Keimen ausgegangen ist, wie die, welche wir im Indogermanischen wegen ihrer grossen Einfachheit als Wurzeln bezeichnet haben, dass ferner die Wurzeln in der Regel, wenn nicht ausnahmslos, von der doppelten Art gewesen sind, nämlich theils pronominale, theils verbale Wurzeln; und dass auf den frühesten Stufen der Sprachentwickelung die Formen vornehmlich durch die Zusammenfügung von Wurzeln der

133 beiden Arten entstanden sind, wobei die Verbalwurzel den eigentlichen Begriff und die Grundidee des Wortes ausdrückte, die Pronominalwurzel dieselbe modificirte und mit anderen Vorstellungen und Wörtern in Bezug setzte.«*) Und weiter: »Allerdings fehlt es auch gegenwärtig nicht an Beispielen sehr weit gehender Differenzirung, die rasch bis zur Unverständlichkeit führen kann. Bei manchen barbarischen Völkern in verschiedenen Welttheilen — so z. B. bei polynesischen, afrikanischen und amerikanischen Stämmen — finden sich Sprachen, in denen die gewöhnlichen Vorgänge der Sprachveränderung, der Verlust und die Neubildung von Wörtern und Formen sich mit einer so erstaunlichen Geschwindigkeit vollziehen sollen, dass, wie behauptet wird, schon die nächste oder zweitnächste Generation die Sprache ihrer Väter oder Grossväter nicht mehr verstehen kann; mögen nun hierbei auch starke Uebertreibungen mit unterlaufen, binnen eines gewissen Zeitraums kann sich jedenfalls jede deutliche Spur von der gleichen Abstammung solcher Sprachen verloren haben. Natürlich schmälern solche Ausnahmsfälle nicht den Werth der genetischen Forschungsmethode und thun im Allgemeinen der Sicherheit der Ergebnisse keinen Eintrag, zu denen die Classification der Sprachen nach ihrer Abstammung gelangt.«**) Whitney theilt nun die Sprachen ein: I. In a) isolirende oder Wurzelsprachen (Chinesische, Hinterindische) und b) flectirende — alle übrigen II. in a) isolirende, b) agglutinirende und c) flectirende. Professor Max Müller charakterisirt folgendermaassen diese drei Ordnungen von Sprachen: a) die Wurzel behält ihre volle Selbständigkeit; b) von zwei Wurzeln, die ein Wort bilden, verliert die eine ihre Selbständigkeit; c) beide Wurzeln können in der Wortbildung ihre Selbstständigkeit verlieren. *) Whitney: Die Sprachwissenschaft (Vorlesungen), deutsch bearbeitet von Dr. Jul. Jolly, S. 421. **) Ebendas. S. 422.

134 Was die Methoden im Gebiete der Sprachwissenschaft anbetrifft, so hat Schleicher in seinen morphologischen Untersuchungen tind der Einleitung zu seiner »Deutschen Sprache« das algebraische Verfahren zur Erklärung der Sprachenbildung angewandt. Die genealogische (etymologische) Anordnung der Sprachen ist jedoch deswegen vorzuziehen, weil sie uns das Entwickelungsgesetz und den Entwickelungsgang der Sprachen darlegt. Sie entspricht derjenigen Methode in der organischen Naturkunde, welche die Ergründung des realen Causalzusammenhanges, die Ergründung des organischen Entwickelungsgesetzes zum Gegenstande hat. — Denn Whitney bemerkt ganz richtig: »Wenn wir irgend etwas Gewordenes wahrhaft zu verstehen wünschen, so reicht es nicht aus, uns mit seinem jetzigen Zustande bekannt zu machen, sondern wir müssen seiner Entwickelung rückwärts von Stufe zu Stufe folgen, die verschiedenen Phasen, die es durchlaufen hat, und die Ursachen, welche es von der einen zur andern gelangen Hessen, zu erkennen suchen. Das blosse Classificiren, Eintheilen und übersichtliche Anordnen der thatsächlichen Erscheinungen, der Formen und Ausdrucksweisen einer lebenden Sprache ist Sache der Grammatik und Lexicographie, nicht der Sprachwissenschaft; jene geben nur Regeln und Vorschriften, diese sucht Erklärungen zu geben Daher bildet die Etymologie, d. h. das Studium der Wortgeschichte, den Ausgangspunkt und die Grundlage aller Sprachforschung; die durchschlagenden Grundsätze, die weittragenden Consequenzen, die allgemein anwendbaren und hochbedeutsamen Wahrheiten, aus denen das Gebäude der Sprachwissenschaft zusammengefügt ist, ruhen durchgehends auf Stammbäumen von Wörtern.«*) Die Ergründung der Entwickelungsgeschichte der Sprache bildet also die wahre Methode der Sprachwissenschaft. Das ist aber gerade die genetische Methode, die wir auch als die einzig wahre für die Socialwissenschaft und zur Ergründung des realen Causalzusammenhanges der Naturerscheinungen bereits im II. Theile unseres Werkes anerkannt haben. Die Ergründung der Analogien zwischen den Erscheinungen und das auf denselben *) Whitney's Vorlesungen über die Sprachwissenschaft, bearbeitet von Dr. Jul. Jolly, S. 81 und 82.

135 gegründete Classificireu und Anordnen, bildet nur die Vorstufe zu der genetischen Methode, welche die Ergründung des Entstehens der Erscheinungen zum Zweck hat. — »Nimmermehr,« sagt Whitney, »kann eine deutliche und richtige Auffassung in Betreff der Thatsachen der Sprachgeschichte im Einzelnen wie im Ganzen Platz greifen, wenn man das Wesen der Kräfte verkennt, durch welche sie geschaffen worden sind und geschaffen werden. Wenn nun auch die Sprache kein Kunstproduct ist, . . . so ist sie doch auch ebenso entschieden kein Naturproduct, sondern sie ist eine menschliche Einrichtung — das Wort sieht unbeholfen aus, aber es giebt keinen besseren, wahrhaft bezeichnenderen Ausdruck für das, was wir meinen — das Product derer, denen sie zur Befriedigung eines der notliwendigsten geistigen Bedürfnisse dient; ihnen steht zugleich ein uneingeschränktes Verfügungsrecht darüber zu, sie haben es ihren Verhältnissen und Bedürfnissen entsprechend umgemodelt und« nehmen in gleicher Absicht fortwährend noch weitere Aenderungen damit vor; jeder einzelne dazu gehörige Bestandtheil ist in seiner gegenwärtigen Gestalt . . . . das Resultat einer ganzen Kette von Veränderungen, die durch den Willen der Einen, die Zulassung der Anderen bewirkt wurden und sich nach Maassgabe der geschichtlichen und der in der Menschennatur liegenden Bedingungen durch eine Reihenfolge menschlicher Willensacte ausgestaltet haben, die sich der Hauptsache nach deutlich verfolgen lassen und einen angemessenen Stoff für die •wissenschaftliche Forschung bilden.«*) — Auf Grundlage dieser Erwägungen bezeichnet Whitney die Sprachwissenschaft als eine historische oder Geisteswissenschaft. — Ist nun aber der Wille des Menschen nicht auch eine Naturkraft? Und ist die Sprache als Ausprägung dieser Kraft, als Kunstproduct, nicht auch zugleich Naturproduct? Wer dieses leugnet, verfällt sogleich in Widersprüche, und das thut Whitney, indem er weiter sagt: »Denn unfraglich ist die Sprache ein grosses Ganze, das nach einem sehr verwickelten, doch ebenmässigen System zusammengefügt ist, sie lässt sich treffend mit einem organischen Körper vergleichen; allein der Grund dieser organischen Beschaffenheit der Sprache liegt nicht etwa darin, dass der Plan *) Ebendaa. S. 71.

136 zu ihrem Aufbau in irgend einem menschlichen Gehirn entsprungen und kunstvoll ausgearbeitet worden wäre. Nur die Theile sind, jeder für sich genommen, bewusst und absichtlich gebildet-, das Ganze ist instinctiv und natürlich.*.*) Und weiter: »Dieses Mangeln der Reflexion und bewusster Absicht nun ist es, was den Erscheinungen des Sprachlebens das subjective Wesen benimmt, welches ihnen sonst als Erzeugnissen der freien Willensthätigkeit anhaften würde. Der Sprachforscher fühlt, dass er es nicht mit den künstlichen Schöpfungen Einzelner zu thun hat, wenn er die Thatsachen der Sprachgeschichte zergliedert. Gegenüber den Zwecken, die er bei seinen Untersuchungen verfolgt und den Resultaten, die er zu erreichen hofft, erscheinen diese Thatsachen fast ebensowenig als Menschenwerk, als die Schädel- oder Gesichtsbildung oder die Gestalt der Arme und Hände des Menschen von ihm selbst geschaffen ist. < **) Welches sind nun aber die natürlichen Gesetze oder was dasselbe ist, die Naturgesetee, die der Entwickelung der Sprache zu Grunde liegen? Die Ergründung dieser Gesetze ist deswegen so schwer, weil der Organismus der Sprache gerade derjenige ist, wo das Princip der Geistigkeit, Freiheit und Zweckmässigkeit am stärksten und dasjenige der Materialität, Notwendigkeit und Ziellosigkeit am schwächsten vertreten sind. — Um daher die Bedeutung der Sprache als Naturproduct zu verstehen, muss man vor Allem im Auge haben, dass sie einen Theil der Zunschenzellcnsiibstanz bildet. Als solche ist sie zugleich ein Kunstproduct, gleich den anderen Producten menschlicher Thätigkeit. Diese bilden auch in ihrer Gesammtheit einen Organismus, welcher gleichfalls den Gesetzen der Uebereinstimmung des Nach-, Neben- und Uebereinander, der Anpassung und Vererbung, der Differenzirung und Integrirung, der Mehrung von Eigenthum, Macht, Recht und Freiheit, der natürlichen und geschlechtlichen Züchtung und des Migrationsgesetzes, sowie der Wechselwirkung zwischen Dauer und Bildungszellen unterliegt. *) Ebendas. S. 75. **) Ebendas. S. 77.

137 Dieselben Gesetze liegen nun auch der Entwickelung der Sprache, als Natur- und Kunstproduct, zu Grunde, aber — gleich der Zwischenzellensubstanz in ihrer Gesammtheit — nur in zweiter Instanz, nämlich als Reflex der Entwickelung des socialen Nervensystems. Indem man so auf Grundlage der real-vergleichenden Methode und der durch dieselben festgestellten realen Analogien zwischen der psychologischen Entwickelung der menschlichen Gesellschaft und des menschlichen Individuums, den realen Causalzusammenhang zwischen den social-psychologischen und den Naturerscheinungen herstellt, verbindet man die Stufenleiter der Natur- und socialen Kräfte zu einem einheitlichen Ganzen und kann die Potenzirung derselben Schritt vor Schritt verfolgen. Es wird auf diesem Wege, wenn auch kein directer, so doch vermittelst der verschiedenen stufenweise sich erhebenden Potenzirungen ein indirecter Zusammenhang zwischen den socialen und physischen Kräften hergestellt. Aber diese letzteren Kräfte betheiligen sich auch noch unmittelbar an allen social - psychologischen • Thätigkeitsäusserungen, indem für jede Aeusserung sogar geistiger und ethischer Kräfte die Mitwirkung mechanischer, chemischer und biologischer Kräfte erforderlich ist, sei es als Ausprägung derselben in der Zwischenzellensubstanz, sei es in Form von Reflexen etc. Daher sind alle social - psychologischen Erscheinungen zugleich auch social-psychophysische, wie solches auch in Hinsicht auf das individuelle Nervensystem der Fall ist. Daher müssen sich die socialen Entwickelungsgesetze, welche mit den Naturgesetzen zusammenfallen, nicht nur auf die sociale Physik, sondern auch auf die sociale Psychologie beziehen und sowohl im Allgemeinen, als auch speciell im ökonomischen (physiologischen), rechtlichen (morphologischen) und politischen (einheitlichen) Gebiete. Derselbe psychophysische Standpunkt lässt sich auch in Hinsicht auf die Kunst überhaupt feststellen. Baumgarten stellt ganz richtig als Aufgabe der Aesthetik die Vervollkommnung der sinnlichen Erkenntniss auf, und diese Vervollkommnung oder vielmehr ihre Erkenntniss besteht in der Schönheit, — daher auch Baumgarten die Aesthetik die Wissenschaft des Schönen nennt. —

138 Schopenhauer bezeichnet das Schöne als eine Anticipation dessen, was die Natur darzustellen sich bemüht.*) E. du Mont bemerkt seinerseits:**) >Das Ideal menschlicher Schönheit in der bildenden Kunst der Hellenen zeugt, nach unserer Auffassung, von einem so tiefen Blick in die Zukunft, dass seit zwei Jahrtausenden kaum ein Künstler sich fand, welcher tiefer in die Geheimnisse der Natur und in ihr Werden geschaut hätte." Aus diesem Grunde haben viele an dem Fortschritte der Kunst gezweifelt oder gar an deren Verfall geglaubt. In der That mag die Natur noch gar lange zu arbeiten haben, bis sie die menschliche Art dem griechischen Schönheitsideale nachgebildet hat, über welches hinauszugehen deshalb den Epigonen so schwer fällt.« Und du Mont fügt ganz richtig noch hinzu, >dass ein zu sehr in die Ferne der Zeit dringender Blick des Genius Werke hervorzaubern könnte, welche die Menge, unfähig nachzuempfinden, was der Künstler erkannt hat, kalt und theilnahmlos Hessen.« Das Idealisiren in der Kunst hat, nach du Mont, daher seine Grenzen. »Einen Künstler,« sagt er, »der im Stande wäre, die menschliche Figur vorherzuahnen und nachzubilden, wie diese vielleicht nach Verlauf von Jahresmillionen werden wird, könnten seine Prätensionen auf Anerkennung vielleicht in's Tollhaus bringen.«***) — Worin besteht nun aber die Realität des Kunstideals und Begriffes des Schönen? Herbart sagt unter Anderem: »Schönes in der Poesie, Musik, Malerei, kennen und fühlen wir, sowie grün, roth, blau. Der Begriff des Schönen überhaupt aber giebt Nichts zu fühlen, er ist eine völlig leere Abstraction; und kein unglücklicheres Beginnen lässt sich denken, als eine allgemeine Theorie des Schönen, ohne Angabe und Berücksichtigung der Arten, die allein dem Gattungsbegriffe Bedeutung geben.« f ) Dabei fügt Herbart noch ausdrücklich hinzu, dass diejenigen, welche gern in Einem Zuge vom Wahren, Guten und Schönen *) **) Darwin's, *»*) t)

Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, I , 262. Du Mont: Der Fortschritt im Lichte der Lehren Schopenhauer's und S. 82. Ebendas. S. 82. Herbart: Schriften zur Metaphysik, Bd. IV, Th. 2, S. 267 (1851).

139 reden, auf drei gleich leere Abstractionen ihr Streiken zu richten Gefahr laufen, wenn sie den Worten einen Sinn zutrauen, der nicht gänzlich von den Arten des Guten und des Schönen ausginge und ahhinge. — Wir können dieser Anschauung nicht nach allen Richtungen hin beistimmen. Denn nicht nur die Ausprägungen des Wahren, Guten und Schönen, sowohl ausserhalb des Menschen in der Natur oder in den Producten der Kunst, der Wissenschaft und den sittlichen Thätigkeitsäusserungcn, als auch im Menschen selbst, in den specifischen Energien der höheren Nervenorgane sind immer real, sondern auch die Integrirung dieser äusseren und inneren Ausprägungen im Menschen als Begriffe und Gefühle des Wahren, Guten und Schönen sind gleichfalls eine Realität, wie es auch der Wille und die Seele des Menschen als Integrationen des ganzen Menschen sind. Die Integrirungen des socialen Nervensystems haben eine ebenso reale Bedeutung für dessen Entwickelung, Leben und Sterben, wie der Centralschwerpunkt für die anorganischen Körper und die Einheitlichkeit des Lebens für die einfache Zelle. Und besteht die Integrirung auch nur in einer einfachen Spannung, so ist auch diese ebenso real, wie eine jede Kraftenergie, die doch nur latente Spannungen von Kräften darstellt. Leugnen wir die Realität der Begriffe des Wahren, Schönen und Guten als Integrirungsresultate bestimmter specifischer Beziehungen des Menschen nach Aussen und Innen, so müssen wir, wenn wir consequent sein wollen, ebenso die Realität der Seele und des Schwerpunktes der Körper leugnen, die doch auch nur Integrirungsresultate sind, nnr mit dem Unterschiede, dass sie die Integrirung der ganzen menschlichen Psyche und die Anziehungskraft des ganzen Körpers darstellen. In Hinsicht auf die Entwickelung der Kunst überhaupt theilt Noire*) die ganze Kunstgeschichte in vier Zeitalter, so dass das Zeitalter der Hellenen das der Plastik, das Mittelalter das der Baukunst, die Renaissance das der Malerei, die Neuzeit das der Musik sei, entsprechend dem Tastsinn, dem Raumsinn, dem Gesichtssinn und dem Gehörsinn, deren Stufenfolge eine immer feinere Ausbildung des menschlichen Geistes bezeichnet.**) *) Noire: Die Entwickelung der Kunst in der Stufenfolge der einzelnen Künste. **) Magazin für die Literatur des Auslandes, S. 17 (1875).

140 Gehen wir zu den einzelnen Kunstgebieten über, so begegnen wir zuvörderst der Baukunst, die auch ihrerseits eine ganze Reihenfolge von Entwickelungsphasen aufzuweisen hat. »Wenn auch,< sagt Essenwein,*) »jedes Naturproduct in seiner Art vollkommen genannt werden kann, so sprechen wir doch von verschiedenen Naturreichen, die eine verschiedene Höhe der Organisation aller ihnen angehörigen Werke erkennen lassen; wir sprechen im einzelnen Reiche von höher oder niederer organisirten Thieren oder Pflanzen; ebenso können wir die Aufgaben und damit den Formenkreis der Bauwerke mehr oder minder hoch nennen, und der Formenkreis der höheren kann ebensowenig, wenn das Werk schön sein soll, auf niedrigere Aufgaben übertragen werden, als in der Natur ein niedriger organisirtes Geschöpf die Formen eines höher organisirten äusserlich trägt. Nur wo und soweit sie im Zwecke übereinstimmen, können sie auch in der Form übereinstimmen.« Um jedoch die Entstehung und Zwecke der Baukunst klar zu beurtheilen, muss man nicht vergessen, dass die Producte derselben nicht organische Wesen sind, sondern einen Theil der Zwischenzellensubstanz des socialen Organismus bilden und dass sie nur eine höhere Potenzirung der organischen Bildungskraft darstellen, welche auch in jedem Einzelorganismus in Hinsicht auf dessen Zwischenzellensubstanz vorhanden ist. Genetisch verfolgt, kann hier kein Moment aufgewiesen werden, wo zwischen der Bildungskunst der Zelle und der Baukunst des Menschen ein Factor eingetreten ist, der nicht beiden gemeinschaftlich gehörte. Da dabei ein Parallelismus zwischen der Entwickelung der Zellengewebe und der Zwischenzellensubstanz sowohl im Einzel- als auch im socialen Organismus existirt, so vervollkommnet sich auch im Grossen und Ganzen diese nach Maassgabe jener. Die Baukunst der Monere ist einfacher als die der Gehirnzelle; ebenso ist die Baukunst der Aegypter im Vergleiche zu der neueren Architektonik als eine kindliche im realen Sinne des Wortes zu bezeichnen. Der Parallelismus der stufenweisen Vervollkommnung zwischen Baukunst und der materiellen und geistigen Entwickelung des Menschen selbst geht aus Folgendem klar hervor: *) Dr. Essenwein: Einleitung ixaa

Atlas der Architektur, S. 4.

141 »Wie die Massen einen Baum begrenzen,« sagt Essen wein,*) »so begrenzt äusserlich wieder der unendliche Raum die Massen, und die Grenzen, nach denen diese Umschliessung der Massen durch den Raum geschieht, bilden die Formen des Baues. Diese Formen müssen wiederum charakteristisch sprechen, sie müssen im grossen Ganzen aussprechen, welchen Zweck das ganze Bauwerk zu erfüllen hat; sie müssen im Einzelnen aussprechen, welchen Zweck jeder einzelne Theil in der Construction hat, welche Bedeutung er für die geistige Gesammtaufgabe des Baues hat. Diese Formengebung an die einzelnen Theile der Massen, welche in der Construction verbunden sind, nennt man die Gliederung. Diese wird sich bei blossen Nützlicbkeitsbauten auf das Einfachste beschränken; sie wird um so weiter gehen, je höher und idealer die Aufgabe ist, und muss bei idealer Lösung der höchsten Aufgabe so weit gehen, dass die Constructionstheile keine todten, d. h. zur künstlerischen Erscheinung überflüssigen Massen mehr zeigen, sondern ganz in Theile aufgelöst sind, charakteristisch gegliederte.« Und weiter: >Ein formales Grundgesetz der Gliederung, das allenthalben wiederkehrt, ist die Theilung jedes Körpers in drei Theile, von denen der mittlere, der Hauptkörper, die eigentliche Function ausspricht, der untere, der Fuss, die Vermittelung mit der Unterlage bildet, der obere den Uebergang zu dem daraufstehenden oder den Abschluss. So theilt sich nach demselben grammatischen Gesetze in der Formensprache aller Völker jeder Baukörper in Sockel, Mauer und Gesimse, jede Säule in Fuss, Stamm und Knauf, und nur niedere Organisation oder Ausartung lassen einen dieser Theile verschwinden, oder verrücken das richtige gegenseitige Verhältnisse Je höher ein Einzelorganismus auf der organischen Entwickelungsleiter steht, desto gegliederter zeigen sich nicht nur seine Zellengewebe, sondern auch seine Zwischenzellensubstanz. Und dasselbe gilt auch für die Baukunst als Theil der socialen Interzellularsubstanz. Die Pyramiden, diese ältesten architektonischen Denkmäler der ursprünglichen Cultur der Menschheit, sind auch die am wenigsten gegliederten Produkte der Baukunst. Es existirt frei*) Ebendas. S. 5.

142 lieh kein vollständiger Parallelismus zwischen der Dauerhaftigkeit und der Vollkommenheit der Pröducte der Baukunst, ebenso wie auch ein höherer Einzelorganismus kürzere Lebensdauer haben kann, als ein niederer. Dennoch müssen wir die merkwürdige Analogie hervorheben, die zwischen den niederen Thieren und der ursprünglichen Cultur der Menschheit darin besteht, dass, wie die niederen Schalthiere uns ihre Umhüllungen in unverwüstlichen Massen auf der Erdoberfläche hinterlassen haben, eine Arbeit, die noch jetzt von den Korallenthieren fortgesetzt wird, so haben auch die ursprünglichen Culturvölker in ihren grossartigen und ungegliederten Massenbauten unverwüstliche Denkmäler ihrer Existenz hinterlassen. Auch die altasiatischen Culturvölker haben Massenbauten aufgeführt, wie z. B. die Mauern, welche Ninive und Babylon umgaben. Auf der Krone der Mauer um Ninive sollen drei Wagen nebeneinander haben fahren können. Sie Boll mit 1500 Thürmen versehen gewesen sein. Ein ebenso gewaltiger Bau waren die hängenden Gärten in Babylon, die Nebukadnezar für seine Gemahlin zur Erinnerung an die Berge in Medien, dem Geburtsorte derselben, hat errichten lassen. — Da aber alle diese Bauten aus Ziegelbacksteinen und die Paläste der Medier und Perser theilweise aus Holz errichtet worden sind, so ist von denselben nur Weniges, meistentheils nur der Unterbau nachgeblieben. — Aber gerade weil diese Bauten aus leichterem Material als die ägyptischen aufgeführt wurden, waren sie auch mehr gegliedert, wie z. B. der Tempel Salomonis und überhaupt die ganze phönicische Baukunst, welche mit einigen Veränderungen zu den Pelasgern überging und später ihre höchste Blüthe in der griechischen Baukunst erreichte. Die Gliederung der letzteren ist schon eine sehr viel grössere, als die der ägyptischen und altaBiatischen, aber noch eine geringere als die der gothischen Kunst. Es ist hier also, trotz der Schwankungen zwischen verschiedenen Typen, in dieser Hinsicht ein gewisser Fortschritt zu bemerken. Die Gliederung in der Baukunst entspricht somit der Differenzirung der Zwischenzellensubstanz; es fragt sich nun, welches Moment der Integrirung entspricht? — Es ist die Idee, der Zweck, die Vergeistigung eines Baues, die der Integration entsprechen. Der Kölner Dom macht auf den Beschauer einen so mächtigen Eindruck, weil er das in Stein ausgeprägte Streben

143 der menschlichen Seele nach oben, gen Himmel, in den geistigen Aether hinauf, zum Höchsten Wesen ausdrückt. Diese Idee durchdringt nicht nur das Ganze, sondern auch jeden seiner Theile. Von diesem Standpunkte aus stellt der Kölner Dom das schönste aller Bauwerke dar, indem sich die Idee in ihm am höchsten potenzirt, höher als in den schönsten Denkmälern der griechischen Kunst, welche vorzugsweise der Idee und dem Gefühl des Gleichmaasses, der Harmonie geweiht waren. — Dabei muss man aber immer nicht aus dem Auge verlieren, dass auch die schönsten Bauwerke immer nur einen Theil der Zwischenzellensubstanz bilden un4 auch in ihrer höchsten Vergeistigung immer nur den Zweck haben, als Vermittler der Reflexe zwischen den einzelnen Nervenelementen und Generationen von solchen Elementen im Schoosse des socialen Organismus zu dienen. Sie reflectiren nur die Ideen, Strebungen, Begriffe und Gefühle, welche die Individuen und Gesammtheiten in verschiedenen Epochen gehegt und zur Ausprägung gebracht haben, in der Absicht, durch solche Zeichen dieselben Ideen, Strebungen, Begriffe und Gefühle in anderen Individuen und Generationen anzuregen. — Auch in Hinsicht auf die Baukunst muss man, wie auch in Hinsicht auf die verschiedenen Organismen, den Typus von dem Grade der Vervollkommnung unterscheiden. Die ägyptische und indische Architektur stellen verschiedene Typen der Baukunst dar, ebenso die griechische und die gothische Architektur; die einzelnen Epochen jeder dieser Typen stellen aber verschiedene Grade der Vervollkommnung dar. Auch das Gesetz der Anpassung hat volle Giltigkeit auf die Baukunst, wie solches in Hinsicht auf die Zwischenzellensubstanz überhaupt der Fall ist. Ganz richtig sagt daher Essenwein:*) »Das grosse Gesetz der Symmetrie, welches durch die ganze Natur geht, ist auch ein Grundgesetz für die künstlerische Gestaltung. Allein ebensowenig als die Natur dem Gesetze der Symmetrie je das der Zweckmässigkeit geopfert hat, ebensowenig darf der Baumeister dasselbe höher stellen als das wirkliche Bedürfhiss. Hierin zeigt sich die Künstlerschaft des Meisters, dass er zu entscheiden weiss, wie weit er zu gehen hat.< — *) Ebendas. S. 4.

144 »Nicht blos die Rücksicht auf die Zweckmässigkeit des Gebäudes nöthigt den Baumeister oft vom Gesetze der Symmetrie und selbst der Harmonie abzusehen. Es treten, wie in der Natur ein Gesetz durch ein anderes durchkreuzt werden kann, eine Anzahl anderer, oft unüberwindlicher Kräfte und Mächte hindernd ein. Die volle künstlerische Gestaltung verlangt freien Raum, auf dem sich das Kunstwerk ungehindert lediglich nach dem innern Kunstgesetze ausdehnen kann. Soll das Werk ein vollendet künstlerisches werden, so müssen alle Mittel vorhanden sein, welche die künstlerische Gestaltung als wünschenswerth bezeichnet. Allein wie der Baum nicht immer im Boden, auf dem er steht, die genügende Nahrung findet, wie beengter Raum ihn an voller allseitiger Entwickelung hindert, wie die Last des Schnees, der Druck des Sturmes auf einzelne Theile desselben ungleichmässig einwirkt, wie er somit darin gehemmt ist, sich in -streng symmetrischer Weise so absolut gleichmässig auszubilden, wie sein Naturgesetz es ihm vorschreibt, wie einseitige und bis zur Verkrüppelung und Verstümmelung gehende Gebilde in Folge der Durchkreuzung des einfachen Wachsthumsgesetzes durch andere Naturkräfte sich ergeben, so treten auch beim Bauwerke beschränkter Raum, beschränkte Mittel, Rücksichten auf klimatische Verhältnisse u. s. w. hemmend ein; und auch das Kunstwerk kann mitunter nicht ausschliesslich dem künstlerischen Gesetze folgen. Es muss sich beschränken, behelfen und entwickeln, wie es eben die äusseren Verhältnisse gestatten, und wie manches Geschöpf, so kommt auch manches Bauwerk über eine verkümmerte Existenz nicht hinaus. < Da die Architektur von allen Künsten diejenige ist, welche mit dem massenhaftesten, theuersten und den Naturkräften am meisten ausgesetzten Material arbeitet, so unterliegt sie auch am meisten dem Gesetze der Anpassung an die Naturkräfte. Eine Schrift, ein Buch bietet uns das entgegengesetzte Verhältniss d a r , daher auch bei der Verfassung derselben am wenigsten von einer Anpassung an die umgebende Natur vom materiellen Standpunkte aus die Rede sein kann. Die anderen Künste, Plastik, Malerei, Musik, liegen zwischen diesen Extremen. Gehen wir zur Plastik über, so nehmen wir dieselbe allmälige Differenzirung und Integrirung im Verlaufe der genetischen Entwickelung derselben wahr, wie uns solches die Baukunst geboten hat.

145 Bei den alten Aegyptern hat sich die Plastik von der eigentlichen Baukunst noch nicht definitiv abgelöst und die Producte der Plastik stellen noch vorzugsweise ungegliederte Massengebilde dar: >Die Aegypter,< sagt Carriere,*) »lieben das Kolossale in den freien Bildwerken, die indess stets sitzend oder an einem Pfeiler stehend das architektonisch Gebundene nicht verleugnen und nach architektonischen Principien dem Gesetz der Schwere und festen Maassverhältnissen gemäss gebildet werden. Das Knochengerüst der Gestalt tritt bestimmt hervor, die Gestalten erscheinen straff und elastisch in der Muskulatur, schlank und scharf bestimmt in den Formen. Der Schädel ist flach, die Stirn niedrig, die Augen schmal und lang, die Nase den üppigen Lippen nah und leicht gebogen. Die Arbeit ist handwerksmässig vortrefflich. < Und weiter: »Durch die ganze ägyptische Geschichte begleiten uns die Sphinxgestalten; gewöhnlich erhebt sich aus dem Löwenleibe das Menschenhaupt; hier veranschaulicht der Widderkopf die schöpferische Zeugungskraft, während eine Menschengestalt zwischen den Füssen vor der Brust steht. Schon vor den Pyramiden lagert eine Riesensphinx, ganze Alleen von kleinern weisen die Wege zu den Tempeln. Uns symbolisiren sie auf eine nicht gewollte Weise den aus der Herrschaft der Natur eben sich vordrängenden und erhebenden Geist des orientalischen Alterthums.« — Nicht nur die Differenzirung, sondern auch die Vergeistigung, d. h. die Integrirung bleibt also bei den alten Aegyptern noch auf einer sehr niederen Stufe stehen. Einen Schritt weiter macht nach beiden Richtungen hin die Kunst der Assyrier: »Neben das Stilgefühl der Aegypter,< sagt Carriere,**) »stellt sich ein grösserer Naturalismus der Assyrer. Die Ausgrabungen von Ninive haben eine Menge Reliefplatten zu Tage gefördert, welche die Innenwände der Säle und Königspaläste bekleideten. Sie stammen aus den ersten Jahrhunderten des letzten Jahrtausends v. Chr. Da sind es denn vornehmlich die *) Dr. M. Carriere: Einleitung zum Atlas der Plastik und Malerei, S. 3. **) Ebendas. S. 3. Gedanken Uber die Socialwissenschaft der Zukunft. III.

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146 Thaten der Herrscher, Krieg, J a g d , Huldigung vor ihnen und vor den Göttern, was den Stoff der Darstellung bildet. Die Schilderung erfasst das Thatsächliche treu und lebendig. Die Körperformen sind voller, gedrungener als bei den Aegyptern; der semitische Typus tritt in der gebogenen Nase hervor; über den grossen Augen schwingen die Brauen sich in ausdrucksvollem Bogen. Bart und Haar sind zierlich in conventioneilen Löckchen gepflegt. Gestickte Teppiche waren das Muster, das die Plastik im Wandschmuck der Reliefs buntfarbig und mit Rücksicht auf die Zierrathen der Gewänder nachahmte; dies feine Detail der Säume, der Federn muss uns einen Ersatz für den noch mangelnden Faltenwurf geben.« — Die indische Plastik muss der ägyptischen und assyrischen gegenüber als ein besonderer Typus angesehen werden, wobei auch hier nicht zu vergessen ist, dass der Typus und die Vervollkommnung auch in Hinsicht auf die Plastik, wie überhaupt in der organischen Natur, nicht parallel laufen. Carriere bezeichnet die Formen der indischen Plastik als weich, fast wie knochenlos, wobei die bei den Aegyptern und Assyrern fehlende Fetthülle mehr betont wird. Bei der freien Symmetrie malerischer Gruppirung ist, nach Carriere, das Schönheitsgefühl in der Composition bemerkbar. — Eine höhere Vergeistigung stellen die plastischen Denkmäler der Perser dar: »Die Felsengräber der Könige, der grossartige Reichspalast zu Pasargada oder Persepolis zeigen in ihren baulichen Formen theils eine strenge Stilhaltung, die an ägyptische Anschauungen mahnt, theils eine Läuterung der assyrischen Formen in feinerem Geschmack der kleinasiatischen Hellenen; ein ähnlicher Eklekticismus spricht auch aus den plastischen Werken; hier waltet ebenso der klar verständige Sinn des Volkes, dessen Richtung auf das Sittliche und Praktische auch in der einfachen Religionsform, dem Dienste des Guten, des Lichtgeistes, sich so bestimmt von der phantastischen und grüblerischen Weise des Inderthums unterscheidet.«*) — Endlich erreichte die Plastik ihre höchste Blüthe bei den Hellenen: »Den hellenischen Künstlern ist es gelungen, die Götter, wie *j Ebenda«. S. 3.

147 sie im Gemütbe des Volkes lebten und zunächst in der homerischen, dann in der lyrischen und dramatischen Poesie dichterisch gestaltet waren, auch für das leibliche Auge so zu bilden, dass es in ihren Formen das innere Wesen sichtbar erblickte; das Ideal -war verwirklicht.«*) Phidias' Zeus im Tempel von Olympia ist eine Verkörperung folgender Verse Homers: Sprach's, und Gewährung winkte mit dunkeln Brauen Kronion. Und die ambrosischen Locken des Königs walleten vorwärts Vom unsterblichen Haupt; da erbebten die Höhn des Olympos.

In der Vergeistigung ist die christliche Kunst zeitweise noch weiter als die griechische gegangen, aber es fehlt ihr das Unbewusste, kindlich Naive, woher denn auch in Hinsicht auf Ebenmaass und Harmonie der Formen sie nicht den Grad der Vollkommenheit erreicht hat wie die Hellenen. — Dass auch die Gesetze der Uebereinstimmung des Nach-, Neben- und Uebereinander, der Anpassung etc. volle Giltigkeit gleichfalls in Hinsicht auf die Plastik, sowohl in der geistigen als auch der materiellen Sphäre, haben, ist selbstverständlich. . Wenn nun Carriere in Bezug auf die Veden sagt:**) »Wie die Gestalt der Götter noch im Bewusstsein schwankt, noch keine plastische Festigkeit und Bestimmtheit erlangt hat, so verschweben und verschwimmen auch die Umrisse der Bilder. Mehrere getrennt von einander von Verschiedenen gefundene Bilder stellt ein Dritter zusammen: >>Das Auge Mitra's glänzt, die grosse Fahne Surja's ist erhoben, die Sonne ist aufgegangen, hat in verschiedenen Perioden seines Lebens, unter verschiedenen Verhältnissen, vollständig abweichende, bisweilen entgegengesetzte Begriffe von dem, was für angenehm und was für unangenehm zu halten ist. In dem Einen ist die Leidenschaft für Schauspiele, in dem Anderen für Putz, in dem Dritten für's Kartenspiel entwickelt. Das Kind hat seine Freude an Spielsachen, der Erwachsene an Ehre und Geld, der Greis zieht die Ruhe vor. Alle Wünsche des hungrigen Menschen concentriren sich auf Speise; die Befriedigung der nothdürftigsten Bedürfnisse gestattet dagegen dem Menschen, auch nach anderen, höheren Gütern zu streben. Endlich ist das Gefühl der Lust und Unlust auch ein relatives Gefühl. Das Ersetzen des geringeren Wohls durch ein grösseres Wohl und eines grösseren Uebels durch ein geringeres Uebel entspricht gerade ebenso der Befriedigung eines Bedürfnisses, wie das Ersetzen eines positiven Uebels durch ein positives Wohl. Wenn ich aus einer feuchten und kalten Wohnung in eine andere weniger ungesunde ziehe, so erhöhe ich meinen Wohlstand, obschon nur in relativer Weise, gerade ebenso, wie mein Nachbar, der aus einem mit allen Bequemlichkeiten versehenen Hause in ein anderes mit noch grösserem Luxus eingerichtetes hinüberzieht. Der Mensch, als eine Verbindung zweier, allein Sein zu Grunde liegender, im Menschen jedoch am meisten sich in ihrem Gegensatz kundthuender Elemente, des physischen und des geistigen, befindet sich in einer doppelten Abhängigkeit von der Aussenwelt, in einer physischen und geistigen. Gleichwie

213 der Körper, vermag auch die Psyche mit ihrem durch die höheren Nervenorgane repräsentirten materiellen Substrat nicht, sich allein durch sich selbst und unabhängig von der Aussenwelt, zu entwickeln. Sie bedarf ebenso der Speise, der Mitwirkung, der Hilfe von Aussen, und diese Speise, diese Mitwirkung besteht in den Eindrücken, Begriffen, Ideen, welche die Psyche von Aussen, vermittelst der Organe des Körpers, empfängt. Die menschliche Psyche ist endlich, ebenso wie der Körper, dem Gefühl des Behagens und des Missbehagens unterworfen; es ist ihr ebenso eigenthümlich, alles Unangenehme zu meiden und alles Angenehme zu erstreben, und sie empfindet daher, ebenso wie der Körper, Bedürfnisse. Um jedem Missverständnisse vorzubeugen, müssen wir aber von Neuem die Bemerkung den nächstfolgenden Auslassungen vorausschicken, dass der Mensch sowohl Materie als Geist darstellt, dass daher zwischen Körper und Seele, zwischen Physis und Psyche, zwischen physischen und geistigen Bedürfnissen nur ein relativer Unterschied vorhanden ist. Wenn wir jetzt unsere Betrachtungen in Hinsicht auf Körper und Psyche, physische und geistige Bedürfnisse theilen, so geschieht es nicht, weil wir einen absoluten Unterschied zwischen ihnen anerkennen, sondern um die allgemein gebräuchlichen Begriffe zu beleuchten und zu ordnen. — Auf welche Weise sind nun mit diesem Vorbehalt die physischen Bedürfnisse von den geistigen zu unterscheiden? Das Band zwischen Leib und Seele ist so eng, dass es schwierig erscheint, die Grenze zu finden, welche diese beiden Arten der Bedürfnisse genau von einander scheiden würde. Die physischen Bedürfnisse entspringen nicht selten aus dem Gefühl, aus dem Verstände, aus der Einbildung. Der Gastronom strengt alle Kräfte seiner Phantasie an, um neue Speisen zu erfinden, die in angenehmer Weise seinen Gaumen kitzeln könnten; der Stutzer wechselt blos aus Laune beständig seinen Anzug. Andererseits entstehen geistige Bedürfnisse nicht selten aus physischen Empfindungen. Alle äusseren Eindrücke, die irgend welche Wünsche oder Bestrebungen in der Seele erregen, werden ihr durch die Organe des Körpers vermittelt, und folglich beruht in einem jeden derartigen Fall die erste Veranlassung zum Empfinden geistiger Bedürfnisse in dem physischen Organismus. Diese Schwierigkeit, die physischen und geistigen Bedürfnisse von einander zu scheiden, ist vermuthlich der Grund gewesen, woher

214 diese Classification von den Nationalökonomen bis auf den heutigen Tag nicht gehörig berücksichtigt worden ist. Indess schwindet diese Schwierigkeit einigermaassen, wenn man als Basis für die Unterscheidung der Bedürfnisse in physische und geistige nicht ihr Entstehen im Körper oder in dei Psyche, sondern ihre Befriedigung, sei es durch physische, sei efi durch geistige Mittel annimmt. Demzufolge wird man alle diejenigen als geistige Bedürfnisse betrachten müssen, durch derer Befriedigung der Mensch sich ein geistiges Behagen, ein wirkliches oder eingebildetes, ein gegenwärtiges oder zukünftiges geistiget Wohl bereitet, von den höchsten Bedürfnissen an: dem Streber nach dem Wahren, Schönen, Guten, dem Bedürfniss nach Liebe Mitgefühl, Ruhm, bis zu den niedrigsten, durch thierisch< Triebe, Sinnlichkeit etc. erzeugten; von den sittlichen, auf dei Vorschriften der Religion, des Gewissens, der Gesetze basirten bis zu den allerunsittlichsten, durch das Gefühl des Neides, de] Rache, der Selbstsucht etc. erzeugten. Aus demselben Grundi muss man alle diejenigen Bedürfnisse zu den physischen rechnen durch deren Befriedigung der Mensch sich ein wirkliches odei eingebildetes, ein gegenwärtiges oder zukünftiges physische! Wohl bereitet, von den allernothwendigsten Bedürfnissen dei Athmens, der Ernährung, des Schutzes vor den Einflüssen dei Atmosphäre, bis zu den durch Luxus, Verfeinerung, Launei erzeugten Bedürfnissen; von den nützlichen, das physische Wohl befinden des Menschen befördernden, bis zu den verderblichsten durch Leidenschaften, Unmässigkeit, Unvernunft erzeugten. Dei Gastronom befriedigt also, wenn auch das Bedürfniss nach ein© gewissen Speise nur in seiner Phantasie entstanden ist, und ei dabei auch nur ein vorübergehendes physisches Behagen empfin det, ein physisches Bedürfniss; der Mensch, welcher beim An blick einer Gewaltthat, die vor seinen Augen einem andere! zugefügt wird, seine Entrüstung durch Worte ausdrückt un< dadurch seinen erregten Gefühlen Erleichterung schafft, befrie digt daher ein ethisches Bedürfniss, abgesehen davon, dass das selbe durch einen äusseren Eindruck in ihm erregt worden. Es muss überhaupt bemerkt werden, dass man zur klarei und genauen Erkenntniss der Bedürfnisse erst nach ihrer Bö friedigung gelangen kann, dass die Befriedigung sogar häufi) den Bedürfnissen selbst vorhergeht. Die Kaufleute, welch zum ersten Male mit den Wilden in Berührung kamen un
nur das Vorgestellte sich noch nicht von dem Prädicate, das Beifall oder Tadel ausdrückt, sondern lässt.In beiden Fällen macht sich in der That nur der sogenannte Selbsterhaltungstrieb geltend, der aller lebendigen Materie innewohnt — ein Trieb oder Instinct, der, auf was immer für tiefe Geheimnisse in der inneren Zusammensetzung der Körper er hinweisen mag, die wesentliche Bedingung für den Fortbestand aller organischen Elemente ist. Diese Reaction der organischen Elemente ist ebenso naturgemäss und nothwendig, wie die Reactionen verschiedener chemischer Zusammensetzungen, und stellt nur die nothwendige Folge der Eigenthümlichkeiten des Stoffes dar, aus denen der organisirte Körper combinirt ist. » » » sio > > » 3 16 J 10 » > > > .'io > » 4 28 /10 > > > > ,,o > > > S .10 > > » > 45,io > » > Man kann wohl an der Genauigkeit dieser Verhältnisse zweifeln; aber das kann gar keinem Zweifel unterliegen, dass die Kornpreise in weit rascherem Verhältnisse steigen, als das Deficit bei den Ernten. Und diese Steigerung geschieht auf Kosten derjenigen Einkünfte, welche von den Consumenten unter gewöhnlichen Verhältnissen zur Befriedigung anderer Bedürfnisse verwandt wurden. Auf den Preis des Kornes in Nothjahren haben übrigens verschiedene Nebenumstände, welche bisweilen in einander entgegengesetzten Richtungen wirken, Einfluss. Einerseits wird schon allein durch die Furcht, das zum Leben unerlässlich Nothwendige zu entbehren, die Nachfrage nach Getreide über das gewöhnliche Maass hinaus gesteigert; andererseits werden durch die Steigerung des Tauschwertes dieses Gegenstandes oder allein schon durch die Wahrscheinlichkeit einer solchen Steigerung die Kaufleute veranlasst, alle ihre alten Vorräthe zu verkaufen und neue aus kornreichen Gegenden anzuführen; Getreideproducte aber, welche in gewöhnlichen Jahren zum Viehfutter oder zur Bereitung weniger nothwendiger Gegenstände,

261 wie z. B. des Branntweines, benutzt wnrden, werden als Nahrungsmittel für Menschen verwandt, und die Consumenten selbst dabei veranlasst, ihren gewöhnlichen Consum einigermaassen zu beschränken. Solche und noch viele andere Umstände sind geeignet, die Berechnungen, welche lediglich auf einer Vergleichung der Quantität der Ernte in einem beliebigen Jahre mit der zur Ernährung der Bevölkerung im Laufe desselben Zeitraumes erforderlichen Quantität Nahrungsstoffe beruhen, bedeutend zu modificiren. — So viel vom subjectiven, den Gebrauchswerth bestimmenden Factor. Der Schwerpunkt des anderen Factors, den man als den objectiven bezeichnen könnte, liegt in den zur Befriedigung der Bedürfnisse bestimmten Gütern und Diensten. Diese unterliegen, wie auch die Bedürfnisse des Menschen, äusserst mannigfachen Schwankungen und Veränderungen. Diese Veränderungen können entweder in Folge der Thätigkeit des Menschen oder unabhängig von einer solchen Thätigkeit vor sich gehen. Die Thätigkeit des Menschen in Hinsicht auf den Gebrauchswerth der Güter und Dienste kann ihrerseits ebenfalls zweifacher Art sein: sie kann entweder die Erzeugung neuer und die Vermehrung bereits existirender Werthverhältnisse oder die Verminderung und Vernichtung derselben zur Folge haben. Im ersteren Falle besteht die Thätigkeit des Menschen in der Production, im zweiten Falle in der Consumtion der Güter und Dienste. Der Weber, welcher die einzelnen Fäden zu einem festen Gewebe vereinigt, stellt zwischen diesen und dem Bedürfnisse des Menschen, sich vor der Einwirkung der Atmosphäre zu schützen, ein Verhältniss her, dessen Zweck die Befriedigung dieses Bedürfnisses ist; er producirt folglich ein Gut. Wenn aber derselbe Weber seinen eigenen Rock abträgt, so verändert er allmälig das zwischen dem Rock und dem durch denselben befriedigten Bedürfniss bestehende Verhältniss, so dass der Rock zur Befriedigung dieses Bedürfnisses immer weniger tauglich wird. Folglich consumirt er ein Gut. Bisweilen wird der Gebrauchswerth der Güter und Dienste nicht in Folge der Consumtion, sondern durch böswillige Handlungen des Menschen, durch Unvorsichtigkeit oder auch zur Befriedigung psychischer Bedürfnisse zerstört oder vermindert. Der Feind, welcher mit Feuer und Schwert des Feindes Land verwüstet, befriedigt die Gefühle der Rache und des Hasses. Der

262 Bösewicht, welcher eine Brandstiftung begeht, hofft während der allgemeinen Verwirrung sich fremden Eigenthumes zu bemächtigen. Das Kind zerbricht aus Muthwillen oder Neugier Alles, was ihm in die Hände fällt. Güter und Dienste können aber auch, unabhängig von der Thätigkeit des Menschen, in Folge ihres eigenen inneren Gehaltes oder in Folge der Wirkung von Naturkräften ihre Gestalt verändern. In der Natur giebt es nichts absolut Unveränderliches, nichts Unwandelbares; Alles in ihr unterliegt der Bewegung, Alles in ihr verändert sich in grösserem oder geringerem Maasse durch das gegenseitige Aufeinanderwirken verschiedener Kräfte. Die Atmosphäre, die Temperaturveränderungeu, verschiedene Insecten zerstören selbst die widerstandsfähigsten Stoffe, und unterliegen solchen zerstörenden Wirkungen Güter und Dienste, so wird dadurch das Verhältniss ihres Gebrauchswerthes zu den Bedürfnissen des Menschen, unabhängig von der Thätigkeit des Menschen selbst verändert. Der grösste Theil der Lebensmittel verdirbt sehr leicht bei ungünstigen Witterungsverhältnissen. Nicht so leicht unterliegen der Zerstörung die Gewebe, noch weniger Gebäude und einige Luxusgegenstände. Den geringsten Veränderungen unterliegen, sowohl in Folge der Einwirkung äusserer Kräfte, als auch auf Grund ihres inneren Bestandes, die edelen Metalle. Das ist auch eine der Ursachen, weshalb Gold und Silber zu Werthmessern, als vergleichende Einheit für alle übrigen Güter, gewählt worden sind. Wir haben gesehen, dass die Schwankungen in den Bedürfnissen des Menschen und die daraus resultirende Unbeständigkeit der Nachfrage eine Steigerung des Tauschwerthes der Güter und Dienste zur Folge haben. Ganz dieselbe Wirkung bringen die Veränderungen hervor, welche unabhängig von der Einwirkung des Menschen in den Gütern selbst vor sich gehen. In beiden Fällen erzeugt das Schwanken der Werthverhältnisse eine Prämie für das Risico. Daher sind alle Gegenstände, welche durch den Transport, durch die Einwirkung der Atmosphäre, durch Wärme und andere Ursachen leiden und leicht verderben, verhältnissmässig theurer als andere. Frisches Fleisch ist häufig theurer als gepökeltes, und frischer Kaviar ist lediglich aus diesem Grunde theurer als gepresster. Eine jede Erfindung, welche eine bessere Conservirung der Nahrungsmittel zur Folge hat, trägt zur Ermässigung des Preises derselben bei nicht nur des-

263 halb, weil die Anfuhr derselben aus entfernteren Gegenden möglich wird, sondern auch deshalb, weil die Prämie für das Risico, welche in der Leichtigkeit des Verderbens der Lebensmittel ihren Grund hat, sich vermindert. Hinsichtlich der edlen Metalle ist diese Prämie verschwindend klein, sie ist fast gleich Null. J e nach dem Maass der Gefahren, welche die eigentümliche Existenz eines Gegenstandes bedrohen, steigt sie dagegen. Für die Versicherung eines steinernen Hauses gegen Feuersgefahr wird weniger gezahlt, als für die eines hölzernen; für die Versicherung von Waaren auf einem Segelschiffe mehr, als auf einem Dampfschiffe. Ein ältlicher und kränklicher Mensch zahlt bei der Versicherung seines Lebens mehr, als ein junger und gesunder. Die objective Existenz von Werthverliältnissen zwischen dem Menschen und der Ausseiiwelt genügt aber allein noch nicht zu ihrem wirklichen Vorhandensein in Bezug auf die Bedürfnisse des Menschen, zu ihrer Anerkennung von Seiten der Wissenschaft. Hierzu ist noch unerlässlich, dass der Mensch zur Erkenntniss dieser Werthverhältnisse gekommen sei. Die Natur ist voll von Materien und Kräften, deren nützliche Eigenschaften noch von keinem entdeckt worden. Jener an's Schmerzenslager gefesselte Kranke könnte vielleicht geheilt werden durch das wenige Schritte von ihm entfernt wachsende Kraut; aber die heilkräftigen Eigenschaften desselben sind der Medicin noch unbekannt und der Gebrauchswerth desselben ist, obschon er in der That existirt, in Bezug auf den Menschen noch nicht vorhanden. Je mehr Erfahrungen und Kenntnisse der Mensch erwirbt, je weiter die Wissenschaften sich entwickeln, je mehr neue Entdeckungen und Erfindungen gemacht werden, uia so mehr erweitert sich und klärt sich die Erkenntniss des Manschen für die Verhältnisse zwischen seinen Bedürfnissen und den Eigenschaften der Dinge, welche diese Bedürfnisse befriedigen können. Das Abhandenkommen von Entdeckungen, welche dts Geheimniss eines Einzigen oder blos einiger Personen waren, dtr erzwungene oder freiwillige Verlust einer ganzen Bildungsstufe vermindern und verdunkeln dagegen die bereits vorhandene menschliche Erkenntniss der Werthverhältnisse. Die alten Aeg\pter waren in dem Besitze vieler Mittel, welche mit der Weishtit ihrer Priester unwiderbringlich verloren gegangen sind. In Olina ist das Geheimniss der alten Fayance- und Porzellanfabri-

264 cation abhanden gekommen. Wie viele hervorragende Schöpfunpgen des menschlichen Geistes, wie viele werthvolle Kunsterzeugnisse ssind durch die Zeit, durch natürliche oder politische Umwälzunggen, aus Absicht oder aus Unwissenheit der Menschen zerstört ooder verdorben worden. Jeder von Neuem hindurchbrechende Strrahl der Bildung erweitert, jeder erlöschende Strahl verengert die Grenzen der menschlichen Erkenntniss auch in Hinsicht des • Gebrau chswerthes der Dinge. Aus dem Vorstehenden ergiebt sich also, dass die den welche ivesentlich auf einer nutritiven Störung der innern Gewebs-Einrichtung beruht, stellt immer eine Stimme aus den Einzelveränderungen solcher Territorien dar.« Dasselbe gilt auch vollständig in Hinsicht auf den socialen Organismus. Auch hier bildet die Einzelzelle, das Individuum, den Ausgangs- und Endpunkt der nutritiven Thätigkeit, auch hier vereinigen sich die Individuen in ihrer Eigenschaft als Consumenten und Producenten zu Gewebseinheiten, deren nutritive Thätigkeit gewisse Ernährungs-Territorien umfasst. Nur ist im socialen Organismus die Fähigkeit, die Nahrung zu verschmähen und zu wählen, in Folge der grösseren Beweglichkeit und Freiheit der Einzelzellen und der Gewebseinheiten eine ungleich grössere und vielseitigere. — Auch die verschiedenen Theile des Nervensystems der Einzelorganismen legen verschieden specifische Energien in Hinsicht auf die Ernährung an den Tag. »Wir wissen,« sagt Virchow,**) >dass eine Reihe von Substanzen existirt, welche, wenn sie in den Körper gebracht werden, ganz besondere Anziehungen zum Nervenapparate darbieten, ja, dass es innerhalb dieser Reihe wieder Substanzen giebt, welche *) Ebenda«. S. 125. **) Ebendas. S. 159.

279 zu ganz bestimmten Theilen des Nervenapparates nähere Beziehungen haben, einige zum Gehirn, andere zum Rückenmark, zu den sympathischen Ganglien, einzelne wieder zu besonderen Theilen des Gehirns, Rückenmarks u. s. w. Ich erinnere hier an Morphium, Atropin, Worara, Strychnin, Digitalin. Andererseits nehmen wir wahr, dass gewisse Stoffe eine nähere Beziehung haben zu bestimmten Secretionsorganen, dass sie diese Secretionsorgane mit einer gewissen Wahlverwandtschaft durchdringen, dass sie in ihnen abgeschieden werden, und dass bei einer reichlicheren Zufuhr solcher Stoffe ein Zustand der Reizung in diesen Organen stattfindet. < — Dasselbe wird in Hinsicht auf die Consumtion und die Vertheilung der Güter durch die verschiedenen Bedürfnisse der Individuen und Gesammtheiten im socialen Nervensystem hervorgebracht. — In Hinsicht auf das Resultat der Ernährung sagt Dr. Bock: »Pflanzliche Nahrungsmittel können uns deshalb nur dann richtig ernähren, wenn sie die oben genannten Nahrungsstoffe, also besonders eiweissstoffige, fettige und fettbildende (mehlige und zuckerige) Stoffe, in gehöriger Menge enthalten. Die Kartoffeln, die fast nur aus Mehl bestehen, müssen demnach, allein genossen, zur richtigen Ernährung unseres Körpers ganz untauglich sein. Ebenso können aber auch alle Mehlsachen, besonders das Brod, nur dann als nahrhaft gelten, wenn in ihnen ausser dem Mehle auch noch Kleber (d. i. der mit dem Weissen im Eie zu vergleichende Eiweissstoff, der dicht unter der Hülse der Getreidesamen lagert) vorhanden ist.« Und weiter: »Ein grosser Theil der Nahrungsstoffe geht nämlich, wenn diese nicht richtig genossen werden, anstatt in das Blut, mit den Excrementen ganz unbenutzt wieder fort. Um dies nun zu verhindern, merke man sich: Alles Feste, das wir gemessen, ganz besonders aber das Fleisch, muss so zubereitet und im Munde mit den Zähnen so lange verarbeitet (gekaut) werden, dass es im Magen und Darmkanale von den Yerdauungssäften (vorzugsweise vom sauren Magensafte) leicht durchdrungen und aufgelöst werden kann. Je flüssiger und breiiger ein Nahrungsmittel ist, je schneller es im Verdauungsapparate in eine solche Form. verwandelt werden kann und je besser die Verdauungssäfte in dasselbe eindringen können, desto verdaulicher ist das-

280 selbe und desto besser können dessen Nahrungsstoffe ausgezogen und in das Blut geschafft werden.« Also auch für den Einzelorganismus muss man zwischen dem positiven, negativen und neutralen Gebrauchswerth und den entsprechenden Bedüfnissen unterscheiden. Diese Unterscheidung ist noch wichtiger in Hinsicht auf das Nervensystem und die höheren Nervenorgane des Menschen, weil hier die Wahl eine freiere ist. Das Nähere darüber werden wir bei Beleuchtung der pathologischen Erscheinungen besprechen. — Das Grundgesetz der Vertheilung der Güter ist für den socialen Organismus im Wesentlichen dasselbe, wie für alle Einzelorganismen der Natur. Wie in diesen, so erheischen auch in jenem die höher entwickelten Zellen und Zellengewebe eine mannigfaltigere, ergiebigere und höher potenzirte Nahrung, als die roheren, unentwickelteren Zellen und Organe. Im menschlichen Körper ist das Gehirn das am höchsten potenzirte Organ, daher es denn auch der meisten und potenzirtesten Nahrung bedarf. Nun ist aber das Blut diejenige Stoffessenz, welche allen Theilen des menschlichen Körpers den werthvollsten, der organischen Stoffbildung förderlichsten Nahrungsstoff bietet und vermittelst der Blutgefässe allen Geweben und Organen zugeführt wird. Deswegen erhält und erfordert auch das Gehirn die meiste Quantität von Blut, um seine Lebensthätigkeit zu erhalten und weiter zu entwickeln. »Das Gehirn,« sagt Büchner,*) »ist unter allen Organen unseres Körpers dasjenige, welches aus dem Herde des Kreislaufs, dem Herzen, das weitaus meiste Blut zugeführt erhält, und dass, obgleich sein Gewicht nur den dreissigsten Theil des gesammten Körpergewichts beträgt, das Gehirn zur Unterhaltung seiner Ernährung und Thätigkeit doch ein Fünftheil der gesammten Blutmasse des Körpers und somit auch ein Fünftheil der ganzen in denselben aufgenommenen Nahrungsmenge verbraucht. Je stärker die Oxydation im Gehirn vor sich geht, um so geringer ist dem entsprechend die Kraftentwickelung im übrigen Körper, und umgekehrt; und je mehr Blut nach anderen Theilen des Körpers hingezogen und dort angehäuft wird, z. B. durch den Verdauungsprocess im Unterleibe, um so geringer oder langsamer wird die Thätigkeit des Gehirns in Folge gemin*) Dr. L. Büchner: Physiologische Bilder, Bd. II, S. 25.

281 derter Blutcirculation in demselben. Daher ein altes Sprichwort, dessen Wahrheit jeder Einzelne tagtäglich an sich selbst erproben kann, sagt: Plenus venter non stndet libenter — ein voller Bauch studirt nicht gern.« — Zwischen den verschiedenen Theilen des Gehirnes ist ausserdem die Vertheilung und Bewegung der Blutmasse eine verschiedene, je nach der Höhe der Potenzirung und der functionellen Bedeutung der Gehirnnerven. So bildet der sogenannte Hirnmantel, in welchem sich aller Wahrscheinlichkeit nach alle höheren Geistesverrichtungen concentriren, den blutreichsten Theil der Gehirnsubstanz. Der Hirnmantel wird durch ein enggeschlossenes Netz von Haarblutgefässen durchzogen, wahrend die weisse Marksubstanz, welche als Werkzeug für die niederen Seelenthätigkeiten dient, von meist geradlinigen, mit den Fasern parallel laufenden Blutgefässen ernährt wird. Herbert Spencer behauptet, dass in dem Bindengrau des Hirnmantels sogar fünfmal so viel Blut circulirt, als in der weissen oder faserigen.*) — Der sociale Organismus bietet im Gebiete der Vertheilung und der Consumtion der Werth- und Nutzgüter eine vollständige Analogie mit diesem physiologischen Process der Ernährung im Schoosse der Einzelorganismen. In den höheren Schichten der Gesellschaft concentrirt sich im Grossen und Ganzen fast immer auch die geistige Thätigkeit des socialen Organismus. Religion, Wissenschaft, Kunst, das Princip der Einheitlichkeit, sie finden alle ihre Organe in den höheren socialen Zellengeweben in der Form von Kirche, wissenschaftlichen und Kunstakademien und höheren Lehrinstitutionen, Regierungsorganen, Armeen etc., und diese Organe erheischen zu ihrer Existenz und Thätigkeit die ergiebigsten, mannigfaltigsten und höchstpotenzirten Nutzgüter. — Dasselbe gilt auch für die in Thätigkeit begriffenen, functionirenden Organe im Vergleich mit denjenigen Zellen oder Geweben, welche zeitweilig oder in Folge kataplastischer Rückbildung in Unthätigkeit gerathen oder in welchen der Stoffwechsel an Energie und Lebendigkeit verloren hat. »Aus den Untersuchungen des Engländers A. H. Durham an Thieren geht hervor, dass die Blutmenge und Blutcirculation im Gehirn zur Zeit des Wachens steigt, zur Zeit des Schlafes dagegen sehr abnimmt, so dass das schlafende Gehirn blass und •) Etendas. S. 85.

282 blutleer erscheint. Haben sich während des Wachens die Producte der Oxydation in den Geweben und im Blute in genügender Menge angehäuft, so halten sie den Fortgang des Processes von selbst auf, indem sie der Wechselwirkung zwischen Sauerstoff und Substanz hindernd entgegentreten und so Buhe oder Schlaf herbeiführen. Grosse, functionelle Thätigkeit anderer Körperorgane kann daher auch Schlaf herbeiführen, da sie mehr Blut an sich ziehen und das Gehirn blutleerer machen. Hieraus erklärt sich die Schlafneigung nach grossen Mahlzeiten. Der Traum entspricht demjenigen Zustande des Gehirns, wobei sich dieses wieder mit mehr Blut zu füllen beginnt; daher auch die Träume in der Regel nur im halbwachen Zustande vorzukommen pflegen.«*) Wie tritt nun aber dabei die organische Solidarität zum Vorschein ? »Jede Zelle,< sagt Richter,**) »hat eine doppelte Thätigkeit, einmal eine auf sich selbst gerichtete, die eigene Ernährung und Weiterzeugung und damit auch die Organisation beschaffende, und zweitens eine solche, welche auf das Ganze Bezug hat, und sowohl in der molecularen Umsetzung des Stoffes besteht, durch welche die Qualitäten des Nahrungsstoffes derartig abgeändert werden, dass sie zur Aufrechterhaltung des Lebensprocesses des Ganzen verwendbar sind, als auch in jenen Functionen, welche das gesonderte Leben der Zellen und Organe als Ganzes harmonisch einigen und als dynamische Leistungen bezeichnet werden.« Also auch in den Einzelorganismen findet eine Theilung der Ernährungsarbeit zwischen Producenten und Consumenten statt, wobei nicht eine jede Zelle die von ihr selbst umgewandelten Stoffe consumirt, sondern sie, als für andere Zellen bestimmte Wandelstoffe weiter befördert. Diese Wandelstoffe gehen von einer Zelle zur anderen, von einem Gewebe, einem Organe zum anderen, und entsprechen den Tauschwerthen in der Oekonomie der menschlichen Gesellschaft. »Trifft der Reiz,< sagt weiter Richter,***) »ursprünglich ») Ebendas. S. 31. **) C. A. W. Richter: Der Einflnss der Cellularpathologie auf die ärztliche Praxis, S. 187. **») Ebendas. S. 188.

283 die Zellenkerne nach der Richtung ihrer Function, welche 6ich auf das Ganze bezieht und steigert dieselbe, so werden dem Blute von dem Organe aus, dessen wirksame Elemente diese Zellen sind, mehr auf einer bestimmten Stufe der stofflichen Metamorphose befindliche Wandelstoffe zugeführt, als die übrigen Organe ohne Beeinträchtigung ihrer Function verwenden können und diese sich in einseitig vermehrter Quantität im Blute anhäufenden, an sich zwar normalen "Wandelstoffe werden Reize für die durch ihre specifiscbe Zellen bewirkte Thätigkeit anderer Organe, und zwar steigern sie die Thätigkeit einiger und unterdrücken diejenige anderer.« — »Je nachdem die Steigerung oder Behinderung der Function zunächst dieses oder jenes Organ trifft, ist das specielle Krankheitsbild , welches sich aus den nachfolgenden Störungen zusammensetzt, ein verschiedenes.« Dem intelligenten Leser wird es nach Obengesagtem nicht schwer fallen, diese physiologischen Momente auch auf die Oekonomie der menschlichen Gesellschaft anzuwenden und zu verwerthen, indem der die Pflanzen- oder Thierzelle zur Thätigkeit anregende Reiz dem im menschlichen Individuum hervorgerufenen oder erwachten Bedürfnisse entspricht und die Thätigkeit sowohl der Zelle, als auch des Individuums, sich einerseits als Production, andererseits als Consumtion von Nährstoffen sowohl in Hinsicht auf physische als auch psychische Entwickelung kund thut. — Die Physiologie unterscheidet im thierischen und menschlichen Nervensystem drei Arten von Ganglienzellen: die sich vorzugsweise productiv verhaltenden, die vorzugsweise consumirenden und die nach beiden Seiten hin gleichmässig thätigen Zellen. Auch die Zellenindividuen im socialen Nervensystem können in diese drei Kategorien eingetheilt werden, indem eine jede sociale Gesammtheit einerseits vorzugsweise productiv sich verhaltende Nervenelemente, andererseits mehr consumirende Individuen, Stände und Schichten, endlich eine dritte Klasse als Uebergang zwischen den beiden aufweist. Je nach der ökonomischen Gestaltung einer Gesellschaft, nach der Vertheilung des Eigenthums u. s. w. ist das Verhältniss jener Nervenelemente ein sehr verschiedenes. — Und zieht man ausserdem den von Virchow in Hinsicht auf das Nervensystem des Einzelorganismus aufgestellten Satz in

284 Betracht, dass jede besondere Thütigkeit ihre besonderen elementaren zeiligen Organe hat und jede Art der Leitung ihre bestimmt vorgezeichneten Bahnen findet, dass auch im Grossen den functionellen Verschiedenheiten ganz bestimmte Eigentümlichkeiten in der Struktur der einzelnen Gentraltheile entsprechen,*) so muss man hier auch eine Analogie mit dem Functioniren der einzelnen Theile des socialen Nervensystems anerkennen, in welchem auf Grundlage der verschiedenartigen Anlagen, Bedürfnisse und Bestrebungen der Individuen und der einzelnen socialen Schichten besondere specifische Energien sowohl in Hinsicht auf Production als auch auf Consumtion der Güter an den Tag treten. Vermittelst eines neu erfundenen physiologischen Apparates, Volumeter genannt, welcher zum Zweck hat die Volumveränderungen an einzelnen Theilen des lebenden Menschen- und Thierkörpers zu bestimmen, hat man constatirt, dass während des Denkprocesses Blut aus den Extremitäten des Körpers zum Gehirn abgezogen wird und dass dieses Abziehen in geradem Verhältniss mit der Denkthätigkeit des Gehirns steht. Ganz besonders ist dieses Verhältniss beim Schlafe ohne Träume und mit Träumen im Vergleich zum wachen Zustande auffällig. — Da das Blut ausschliesslich die Nahrung der höheren Nervenorgane bildet, so sehen wir hier ein Phänomen, welches im socialen Organismus der Vertheilung der Güter, welche die höheren Bedürfnisse des Menschen befriedigen, entspricht. Je zahlreicher und energischer diese Bedürfnisse, je mehr die höheren Nervenorgane im socialen Organismus arbeiten, desto stärker der Zufluss der psychophysischen Güter zu diesen -Organen. Die Entwickelung der Literatur, der Kunst und Wissenschaft, sowie die Vertheilung der Producte im geistigen und ethischen Gebiete, sind auf diesem Gesetze begründet. Somit geht, dem Wesen nach, in der ökonomischen Sphäre der menschlichen Gesellschaft dasselbe vor sich, was auch die physiologische Thätigkeit eines jeden Einzelorganismus, sei es Thier oder Pflanze, uns darbietet. die

Vom ökonomischen Gesichtspunkt aus betrachtet, erscheint ganze Gesellschaft in ihrer Gesämmtheit als ein in*) R. Virchow: Cellularpathologie, S. 311.

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dustrieller Unternehmer, der seine Einnahme und Ausgabe, seinen Gewinn und Verlust genau berechnet. Auch hinsichtlich der ganzen Gesellschaft muss der Tauschwerth der in die Hände der Consumenten abgesetzten Güter, d. h. der Werth der Güter von unmittelbarem Gebrauchswerth, den Werth aller Güter von mittelbarem Gebrauchswerth einlösen. Der Consument schreibt das Facit nicht nur unter das Soll und Haben des einzelnen Unternehmers, sondern auch in das grosse Contobuch der ganzen Gesellschaft. Der Unterschied besteht nur darin, dass der einzelne Unternehmer nach Ablauf einer gewissen Zeit seine Rechnungen abschliesst, während die Gewerbthätigkeit der gesammten Gesellschaft, welche stets zu neuen Unternehmungen übergeht, niemals ihre Bilance zu ziehen vermag. In der Gesellschaft giebt es stets unbeendigte Unternehmungen, d. h. Werthe von mittelbarem Gebrauchswerth, welche noch nicht unmittelbare Gebrauchswerte geworden sind. Während ein Theil der Güter bereits zu dem Consumenten gelangt ist, befindet sich ein anderer Theil noch auf dem Wege zu ihm, und gleichzeitig entstehen immerfort neue mittelbare Gebrauchswerthe. Die Gewerbthätigkeit der ganzen Gesellschaft ist wie die unendliche archimedische Schraube, die sich in beständiger Bewegung befindet. Deshalb kann, wir wiederholen es, in der Gesellschaft die definitive industrielle Bilance niemals gezogen werden, und eine Vergleichung der consumirten und der producirten Tauschwerthe für verschiedene Perioden ergiebt durchaus nicht die Bilance der Production und Consumtion für die entsprechenden Zeitabschnitte. Nehmen wir z. B. an, dass irgendwo im Jahre 1855 zur Herstellung von 10000 Ellen Tuch ein Kapital von 20000 Thalern verwandt worden ist, und dass dieses Kapital zusammen mit dem Gewinne des Unternehmers durch den Verkauf der ganzen Quantität Tuch im Jahre 1858 eingelöst wird. Auf diese Weise kann man die Jahre 1855 und 1858 wohl hinsichtlich des Tuches allein mit einander vergleichen. Aber im Jahre 1855 ist zugleich auch Korn producirt worden, von welchem ein Theil 1856 als Brod, ein anderer Theil 1857 als Branntwein consumirt worden ist. Ebenso ist 1855 ein Bild gemalt worden, welches vielleicht erst 1865 verkauft wird, u. s. w. Hieraus ergiebt sich, dass wegen der Verschiedenheit der Zeiträume, welche zwischen der Production und der Consumtion der verschiedenen Güter verfliessen, die Vergleichung zweier Perioden

286 niemals dazu fuhren kann, die Bilance zu ziehen zwischen den resp. Tauschwerten von unmittelbarem oder mittelbarem Gebrauchswerthe. Wie dem aber auch sei, ob der Consument anwesend ist oder erst künftig erscheinen soll, er ist immerhin der allendliche Zahler; von ihm hängt es ab, das producirte Gut entgegemzunehmen oder zurückzuweisen; er spricht das allendliche Urtheil über die Nützlichkeit oder Nutzlosigkeit des Erzeugnisses; er giebt den Producenten die Existenzmittel oder verweigert sie ihnen. Der Consument kümmert sich selten um den Producenten, noch seltener sucht er ihn auf; grössten Theils wartet er ruhig das Angebot ab und wählt aus den ihm angebotenen Gütern das, was seinen Bedürfnissen und Wünschen am meisten entspricht. Der Producent dagegen hat, entweder selbst, oder vermittelst des Kaufmannes, beständig den Consumenten im Auge, kommt allen Bedürfnissen desselben entgegen, erräth alle seine Wünsche und Launen und sucht sie zu befriedigen. Der geringste Fehler in der Voraussicht irgend eines Bedürfnisses, die geringste Veränderung in den Wünschen und Bedürfnissen der Consumenten kann die Arbeit vieler Tausenden von Producenten unnütz machen. Und das geschieht um so häufiger und trifft um so empfindlicher die Producenten, als gerade diejenigen Bedürfnisse,- zu deren Befriedigung die grösste Anhäufung von Tauschw e r t e n , die grösste Concentrirung von Arbeit in einem Gut erforderlich ist, wie z. B. bei Luxusgegenständen, die unbeständigsten und am meisten veränderlichen sind. Der Consument kann, mit Ausnahme nur weniger Bedürfnisse, deren Befriedigung keinen Aufschub duldet, das ihm angebotene Gut ablehnen oder die Consumtion desselben für kürzere oder längere Zeit aufschieben. Der Producent dagegen muss in den meisten Fällen dem Consumenten solche Güter anbieten, welche bereits definitiv producirt sind und auf welche eine erhebliche Quantität Arbeit und Kapital schon verwandt worden ist. Wenn der Consument auch nur einen Theil solcher Güter nicht annimmt oder die Consumtion derselben selbst nur aufschiebt, so kann dadurch eine grosse Zahl von Arbeitern ohne Existenzmittel bleiben und eine ganze Reihe industrieller Unternehmungen geschädigt werden. Der Consument muss als ein anspruchsvoller, launenhafter, selbstsüchtiger Herr betrachtet werden, der sich sehr wenig um die Lage und die Bedürfnisse der für ihn arbeitenden Dienerschaft

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kümmert und vorzugsweise nur sein eigenes Wohlbefinden im Auge hat. Der Producent dagegen ist der Diener, und zwar ein sehr abhängiger, ergebener und entgegenkommender. Indem er dem Consumenten Erzeugnisse von besserer Qualität oder zu niedrigeren Preisen, bisweilen zu seinem eigenen Schaden, anbietet, bemüht er sich, die anderen Producenten vom Markte zu verdrängen, ihnen das Vertrauen der Consumenten zu entziehen, ihrem Gewerbe zu schaden. Indem wir bei den Gebrauchswerthen die mittelbaren von den unmittelbaren unterschieden, die Producenten den Consumenten gegenüber stellten, haben wir bis jetzt allein nur von den Tauschgütern gesprochen. Der Mensch aber befriedigt seine Bedürfnisse nicht allein durch Güter, sondern auch durch Gebrauchswerth in der Form von Diensten. Wir haben bereits gesehen, dass in der Gesellschaft nicht blos Güter gegen einander getauscht werden, sondern auch Güter gegen Dienste,- sowie auch nur Dienste gegen einander. Wie die Güter, haben auch gewisse Dienste die unmittelbare Befriedigung der Bedürfnisse zum Zweck, wie z. B. der Rath des Arztes, die Darstellung des Schauspielers, die Arbeit des Barbiers, und sind in solchem Falle mit unmittelbarem Gebrauchswerth ausgestattet. Andere Dienste sind dagegen nicht direct auf die Person gerichtet, sondern befriedigen die Bedürfnisse indirect, vermittelst der Materie, in welcher sie zur Ausprägung kommen, wie z. B. die Arbeit dès Handwerkers, des Fabrikanten, des Kaufmannes. Diese Art Dienste ist, wie das Kapital, mit einem mittelbarem Gebrauchswerthe versehen. Sie machen die auf die Production von Tauschgütern verwandte Arbeit des Menschen aus. Wir haben gesehen, dass die Dienste von unmittelbarem Gebrauchswerthe sich dadurch von den Tauschgütern unterscheiden, dass sie von dem ersten Producenten direct zum Consumenten übergehen, dass sie nach Maassgabe der Production •consumirt werden müssen und dass daher zwischen ihrer Production und Consumtion keinerlei Zwischenerscheinungen, wie Kapitalisirung, Tausch zwischen den Producenten selbst, wie solches mit den Tauschgütern geschieht, vorkommen. Dienste von unmittelbarem Gebrauchswerthe haben aber mit Gütern desselben Gebrauchswerthes das gemeinsam, dass diese sowie jene bei ihrer Consumtion dem Menschen eine Befriedigung gewähren, in ihm physische oder geistige persönliche Güter erzeugen.

288 Ebenso müssen auch die Dienste von mittelbarem Gebraucbhswerthe nach Maassgabe der Production consumirt werden; ebecnso finden auch zwischen ihrer Production und Consumtion keinecrlei Zwischenerscheinungen statt; der Unterschied besteht nur darrin, dass die Dienste von unmittelbarem Gebrauchswerth auf «die Person, in welcher sie persönliche Güter erzeugen, gerichhtet sind, während die Dienste von mittelbarem Gebrauchswerth .-auf die Materie gerichtet sind, welche durch sie in Tauschgüter werwandelt wird. Alle Tauschgüter sind wesentlich nichts anderres, als die in der Materie zur Erscheinung gekommenen Dienaste von mittelbarem Gebrauchswerthe, jedes Kapital nichts anderres, als angesammelte menschliche Arbeit. Die ersten Werkzeuuge zur Herstellung von Speise und zur Verteidigung gegen reissernde Thiere, die ersten Wohnungen, sind, als Repräsentanten Was Du nicht willst, das man Dir thue, das thue Du andern auch nicht; thue Du ihnen aber das, wovon Du wünschest, dass es Dir geschehen möge.« Beide Sätze fassen sich nach Kantischer Formulirung in den kürzeren Ausdruck zusammen: Handle so, dass Du wollen kannst, die Regel Deines Handelns gelte als Maxime und Richtschnur für alle Menschen.«*) — Wenn aber auch Kant den kategorischen Imperativ, d. h. das Sittengesetz auf Freiheit im strengsten, d. i. transcendentalen Sinne begründet, bezeichnet er dennoch, wenn auch nur in entfernten Andeutungen und im idealen Sinne, das Naturgesetz als Typus des Sittengesetzes. »Vermöge jenes Typus,« sagt Erdmann, >lässt sich nun die Freiheit durch das Sittengesetz in ein Naturgesetz verwandeln, d. h. eine Welt hervorbringen, in welcher es so herrscht wie das Naturgesetz in der Welt der Erscheinungen. Diese Welt wird von Kant bald als die moralische Welt (Krit. der p. Vernunft p. 603) bezeichnet, bald auch wieder nur als ein Reich der Zwecke (Grundlehre p. 58), endlich auch als eine Natur, in der die Autonomie der practischen Vernunft allein Gesetz sei.«**) Die practische Vernunft, auf welcher Kant seine Ethik begründet, erscheint nach Schopenhauer bereits bei Kant selbst, *) Sechs Philosophische Vorträge von Dr. Fortlage, Jena, 1872. * * ) Versuch einer wissenschaftlichen Darstellung der Geschichte der neueren Philosophie, von Dr. Erilmann, I. Ahth., III. Bd.. S. 172, S. 21.

342 aber mehr noch bei seinen Nachfolgern, als ein Delphischer Tempel im menschlichen Gemüth, aus dessen finsterem Heiligthum Orakelspriiche, zwar leider nicht was geschehen wird, aber doch was geschehen soll, untrüglich verkündigen. »Diese ein Mal angenommene, oder vielmehr erschlichene und ertrotzte Unmittelbarkeit der practischen Vernunft,« sagt Schopenhauer weiter,*) » wurde später leider auch auf die theoretische übertragen; zumal da Kant selbst oft gesagt hatte, dass beide doch nur Eine und dieselbe Vernunft seien. Denn nachdem einmal zugestanden war, dass es in Hinsicht auf das Practische eine ex tripode dictirende Vernunft gebe, so lag der Schritt sehr nahe, ihrer Schwester, ja eigentlich sogar Consubstantialin, der theoretischen Vernunft, denselben Vorzug einzuräumen, und sie für ebenso reichsunmittelbar wie jene zu erklären, wovon der Vortheil so unermesslich wie augenfällig war. Nun strömten alle Philosophaster und Phantasten . . . . nach diesem ihnen unerwartet aufgegangenen Pförtlein hin, um ihre Sächelchen zu Markte zu bringen, oder um von den alten Erbstücken, welche Kant's Lehre zu zermalmen drohte, wenigstens das Liebste zu retten. Wie im Leben des Einzelnen ein Fehltritt der Jugend oft den ganzen Lebenslauf verdirbt, so hatte jene einzige von Kant gemachte falsche Annahme einer mit völlig transscendenten Creditiven ausgestatteten und, wie die höchsten Appellationshöfe, »ohne Gründe« entscheidenden practischen Vernunft zur Folge, dass aus der strengen, nüchternen kritischen Philosophie die ihr heterogensten Lehren entsprangen.« Leider blieb sich aber Schopenhauer selbst der von ihm eingeschlagenen Richtung nicht treu. Schopenhauer bemerkt in seiner »Grundlage der Moral« ganz richtig, dass, wie am Ende jeder Forschung und jeder Realwissenschaft, man auch auf dem Gebiete der Ethik vor einem Urphänomen steht, welches zwar Alles unter ihm Begriffene und aus ihm Folgende erklärt, selbst aber unerklärt bleibt und als ein Räthsel vorliegt.**) »Auch hier also,« sagt er, »stellt sich die Forderung einer Metaphysik ein, d. h. einer letzten Erklärung der Urphänomene als solcher und, wenn in ihrer Gesammtheit genommen, der Welt.« *) Arthur Schopenhauers sämmtliche Werke, Bd. IV, S. 146. **) Ebendaselbst, Bd. IV, S. 261.

343 Dieser Ausspruch ist vollständig richtig, nur muss er auch auf alle übrigen Gebiete der menschlichen Erkenntniss angewandt werden. Denn das Wesen einer jeden Erscheinung, angefangen vom mechanischen Stosse bis zur religiösen Anschauung, vom anorganischen Stoffe bis zum socialen Organismus, stellt sich uns stets als etwas Metaphysisches dar. Insofern kann es nicht blos eine Metaphysik der Ethik, sondern auch der Mechanik, der Atomenlehre, der Biologie, der Socialwissenschaft geben. So lange diese Gebiete als vollständig von einander abgetrennt betrachtet wurden, gab es scheinbare Urphänomene für jedes besondere Gebiet: für das mechanische die Bewegung, für das biologische das Leben, für das ethische das Gute im Gegensatz zum Bösen, für das ästhetische das Schöne, für die Intelligenz das Wahre u. s. w. Die Aufgabe der realgenetischen Methode besteht gerade darin, alle diese Gebiete als durch einen innern unauflöslichen Causalzusammenhang verbunden zu betrachten. Von diesem Standpunkt aus kann es also kein Urphänomen für jedes specielle Gebiet geben, sondern nur eine einzige metaphysische Grundlage für alle Gebiete, und diese Grundlage, dieses Urphänomen ist Gott, als Schöpfer des Weltalls und höchstes Ziel, zu welchem die ganze Erscheinungswelt hinstrebt. Die Religion allein hat das Recht, sich mit dem metaphysischen Urphänomen zu beschäftigen, weil ihr Gegenstand die Erkenntniss des Verhältnisses des Menschen zu Gott bildet. Das Urphänomen für jedes einzelne Gebiet der Erkenntniss zu suchen, ist unwissenschaftlich. Denn alsdann liegt kein Grund vor, warum man nicht die metaphysische Grundlage für jede einzelne Naturerscheinung suchen sollte. Und so handelt auch der geistig unentwickelte Naturmensch, indem er diese Erscheinungen als göttliche Offenbarung betrachtet. Der sogenannte »Gebildete« betet aber noch jetzt das Gute, als Urphänomen der Ethik, das Schöne als Urphänomen der Aesthetik, das Wahre als Urphänomen der Erkenntnisslehre u. s. w. an. Ja es giebt, trotz der neueren Errungenschaften der Naturkunde, noch jetzt sogenannte »Gebildete«, welche die organische Welt und in dieser die verschiedenen Arten und Species noch als Urphänomene betrachten, d. h. als solche, die nicht in directem Causalzusammenhange mit den anderen Naturerscheinungen stehen, sondern einem besonderen Schöpfungsact ihren Ursprung verdanken. Von der der Wilden unterscheidet sich die Weltan-

344 schauung dieser Gebildeten nur dem Grade nach. Die Methode ist dieselbe. Wie sucht nun Schopenhauer die Ethik auf metaphysischem Wege zu begründen? »Ein Mensch,« sagt er,*) »der, vermöge seines Charakters, den Bestrebungen Anderer nicht gern hinderlich, vielmehr, soweit er füglich kann, günstig und förderlich ist, der also Andere nicht verletzt, vielmehr ihnen, wo er kann, Hilfe und Beistand leistet, wird von ihnen, in eben derselben Rücksicht, ein guter Mensch genannt, mithin der Begriff Gut, von demselben relativen, empirischen und im passiven Subjecte gelegenen Gesichtspunct aus, auf ihn angewandt. Untersuchen wir nun aber den Charakter eines solchen Menschen nicht bloss in Hinsicht auf Andere, sondern an sich selbst; so wissen wir aus dem Vorhergehenden, dass eine ganz unmittelbare Theilnahme am Wohl und Wehe Anderer, als deren Quelle wir das Mitleid erkannt haben, es ist, aus welcher die Tugenden der Gerechtigkeit und Menschenliebe in ihm hervorgehen. Gehen wir aber auf das Wesentliche eines solchen Charakters zurück; so finden wir es unleugbar darin, dass er weniger als die Uekrigen einen Unterschied zwischen sich und Anderen macht. Dieser Unterschied ist in den Augen des boshaften Charakters so gross, dass ihm fremdes Leiden unmittelbar Genuss ist, den er deshalb, ohne weiteren eigenen Vortheil, ja, selbst diesem entgegen, sucht. Derselbe Unterschied ist in den Augen des Egoisten noch gross genug, damit er, um einen kleinen Vortheil für sich zu erlangen, grossen Schaden Anderer als Mittel gebrauche. Diesen Beiden ist also zwischen dem Ich, welches sich auf ihre eigene Person beschränkt, und dem Nicht-Ich, welches die übrige Welt begreift, eine weite Kluft, ein mächtiger Unterschiede Nun fragt Schopenhauer: worauf beruht aber alle Vielheit und numerische Verschiedenheit der Wesen? und antwortet auf diese Frage: auf Raum und Zeit. Raum und Zeit sind aber nur ideale, subjective Erscheinungen und dem Dinge an sich, d. h. dem wahren Wesen der Welt fremd; so ist es nothwendig, nach Schopenhauer, auch die Vielheit. »Folglich, < sagt Schopenhauer, »kann das Ding an sich in den zahllosen Erscheinungen dieser Sinnenwelt doch nur Eines sein, und nur das Eine und *) Ebendas. S. 265.

345 identische Wesen sich in diesen allen manifestiren. Und umgekehrt, was sich als ein Vieles, mithin in Zeit und Raum darstellt, kann nicht Ding an sich, sondern nur Erscheinung sein.« *) Daraus muss man nun folgern, dass das Gute mit dem Ding an sich, das Böse mit der Vielheit identisch ist. Nun kann man aber dergleichen metaphysische Elucubrationen ebenso im Gebiete der Mechanik über Einheit und Vielheit der Kraft und des Stoffes, im Gebiete der Mathematik über die Eins und die Zwei, Drei u. s. w. aufstellen. Die ganze Ethik Schopenhauer's, wie auch anderer Metaphysiker, lässt sich auf zwei Erscheinungen zurückführen, welche auch alle anderen Gebiete darstellen: die Individuation und die Solidarität. Bis jetzt haben aber diese Erscheinungen auf ethischem Gebiete nicht real begründet und in einen realen Causalzusammenhang mit allen übrigen Erscheinungen gebracht werden können, weil der sociale Organismus, in dessen Schoosse die Erscheinungen der Solidarität genetisch emporwachsen und sich nach denselben Gesetzen, wie auch in den Einzelorganismen der Natur, entwickeln oder rückbilden, bis jetzt nicht für einen realen gehalten worden ist. Die Anwendung der realgenetischen und -vergleichenden Methode muss das Gespenst der Metaphysik auch aus deni Gebiete der Ethik, als Wissenschaft, für immer verdrängen. So sagt auch Fr. A. Lange:**) »Die Vorstellung des Sittengesetzes können wir nur als ein Element des erfahrungsmässigen Denkprocesses betrachten, welches mit allen anderen Elementen, mit Trieben, Neigungen, Gewohnheiten, Einflüssen des Augenblickes u. s. w. zu kämpfen hat. Und dieser Kampf mit sammt seinem Resultate — der sittlichen oder unsittlichen Handlung — folgt in seinem ganzen Verlaufe den allgemeinen Naturgesetzen, von denen der Mensch in dieser Beziehung gar keine Ausnahme macht. Die Vorstellung des Unbedingten hat also erfahrungsmässig nur eine bedingte Kraft; aber diese bedingte Kraft ist eben doch um so stärker, je reiner, klarer und stärker der Mensch jene unbedingt befehlende Stimme in sich vernehmen kann. Die Vorstellung der *) Ebendas. S. 267. **) Fr. Alb. Lange: Geschichte des Materialismus, Bd. I I , S. 58.

340 Pflicht, welche uns zurnft: Da sollst, kann aber unmöglich klar und stark bleiben, wenn sie nicht mit der Vorstellung der Ausführbarkeit dieses Verbotes verbunden ist. Eben deshalb müssen wir uns hinsichtlich der Sittlichkeit unseres Handelns ganz und gar in die intelligible Welt versetzen, in welcher allein Freiheit denkbar ist.< Nachdem wir diese verschiedenen Anschauungen und Aussprüche im Gebiete der Ethik vorausgeschickt haben, um den Leser mit dem bis jetzt festgehaltenen Standpunkt bekannt zu machen, suchen wir unsererseits dieses Gebiet zu beleuchten, indem wir den bereits früher errungenen realen Boden behaupten. — Seit dem ersten Bande unseres Werkes haben wir alle E r scheinungen in der Natur und in der menschlichen Psyche auf Bewegung zurückgeführt. Und wir sind nicht die Einzigen, die diesen Standpunkt einnehmen. — So sagt auch Carneri:*) »Die Wissenschaft kennt keine Lebenskraft mehr, aber auch keine todtc Natur; sie kennt nur mehr latente und freigewordene Arbeit, Arbeitsanhäufung und Arbeitsabgabe; und den daraus sich ergebenden Vorgang nennt man in der Mechanik Beilegung, in der Chemie Process, in der organischen Natur bei den Pflanzen Vegetation, bei den Thieren Lehen. Diese nähere Unterscheidung zwischen Arbeit und Arbeit bezieht sich also nicht auf die Sache, sondern auf die Form ihres Auftretens, auf die Entwickelungsstufe, die sie einnimmt. Man setzt beim Unterscheiden auseinander, nicht um zu trennen, sondern um genauer zu sehen. Beim Begreifen kommt das Auseinandergesetzte wieder zusammen, richtiger gesprochen, wir sehen, dass und wie es zusammengehört. Und je mehr wir unterscheiden, desto klarer wird es uns, dass alles sich müsse zurückführen lassen auf eine Einheit, deren unendliche Theilbarkeit identisch ist mit einem Gesetze der Bewegung, demgemäss jene Einheit in Gegensätze sich auseinanderlegt, die oft vielleicht n u r , der Lagerung oder etwas Aehnlichem nach, Gegensätze sind, die aber immer wieder zu einer höheren Einheit sich zusammenschliessen, neue Verbindungen eingehend, um wieder in Gegensätze sich auseinanderzulegen u. s. w.< *) B. Carneri: Gefühl, Bewnsstsein, Wille, S. 3.

347 Diese Aufeinanderfolge von Vereinigen und Auseinandersetzen bildet aber gerade das Gesetz der stufenweisen Integrirung und Differenzirung der Bewegung, welches allen Erscheinungen sowohl der anorganischen und organischen Natur, als auch des socialen Lebens zu Grunde liegt. — Und dasselbe hat auch seine volle Giltigkeit in Hinsicht auf alle psychischen Erscheinungen. »Was das Begreifen des Beicusstseins so schwierig macht,« bemerkt richtig Carneri,*) »ist die gewöhnliche Methode, es als etwas Fertiges hinzustellen, und es dann ergründen zu wollen. Erst macht man es zu etwas Uebersinnlichem. und staunt dann über die Unerfasslichkeit seiner Verbindung mit einer sinnlichen Natur. Es musste zu einer Philosophie des Unbewussten kommen, damit die ganze Widersinnigkeit eines solchen Vorganges an den Tag trete. Mit dem Bewusstwerden verhält es sich's wie mit dem Sehen: beides wird leicht zu etwas Blendendem; und wie wir uns durchschnittlich vom Sehen eine übertriebene Vorstellung machen, und es von einem einfachen Fühlen zu einer Thätigkeit hinaufschrauben, die fast nur unter Mitwirkung einer Seele in der engsten Bedeutung des Wortes denkbar ist, so sind wir nur zu geneigt, das Vorhandensein eines für sich bestehenden Bewusstseins vorauszusetzen, um es uns zu erklären, dass wir von einer Empfindung wissen, zum Wissen einer Empfindung gelangen.« Setzen wir nun noch hinzu, dass zwischen dem Bewusstsein und dem Körper dasselbe Verhältniss obwaltet, wie zwischen Stoff und Kraft: der menschliche Körper ist ein höher potenzirter Stoffcomplex, wie das Bewusstsein eine höher potenzirte Kraftäusserung darstellt. Stoff und Kraft, sowie Körper und Bewusstsein lassen sich aber alle, indem man ihr Werden genetisch verfolgt, äuf Bewegung zurückführen, auf Grundlage des allgemeinen Integrirungs- und Differenzirungsgesetzes. **) — Das von Carneri gerügte Verfahren haben die Metaphysiker auch in Hinsicht aller übrigen höher potenzirten psychischen Erscheinungen eingehalten. Im ästhetischen Gebiete gelten bei ihnen die Begrifie der rothen oder blauen Farbe, des Ebenmaasses, der Symmetrie, des tiefen oder hohen musi*) Ebendas. S. 20. **) Siehe: Gedanken etc., Bd. II, Kap. IL

348 kaiischen Tones, der Harmonie der Töne u. s. w. noch für empirische Begriffe, die ihr reales Substrat im menschlichen Nervensystem haben und denen reale Erscheinungen in der Aussenwelt gegenüberstehen. Aber den Begriff und die Idee des Schönen, welche im Grunde doch auch nichts weiter sind, als ein Resultat desselben auf Bewegung begründeten Integrirungsprocesses, nur in einer höheren Potenz, und deren Werden durch Erforschung dieses Processes ebenso genetisch Schritt vor Schritt verfolgt werden kann wie alle Begriffe und Ideen überhaupt, halten die Metaphysiker und Ultra-Idealisten dagegen für etwas ganz Absonderliches, Wunderbares, von oben speciell Eingegebenes. Auf dieser Anschauung beruhen alle noch jetzt gangbaren rein idealistischen und metaphysischen Systeme im Gebiete der Aesthetik, denen jeglicher reale ;und daher wissenschaftliche Boden mangelt. Dieselbe Methode, im Gebiete der Naturkunde angewandt, würde eine Naturphilosophie abgeben, welche nicht auf der Erforschung des realen Causalzusammenhanges der Erscheinungen sich stützen würde, sondern auf den Begriff der absoluten Notwendigkeit oder auf die Idee des Wahren. Die Metaphysik gründet sich auf die Idee der Substanz als etwas Absolutes, Beziehungsloses. Die natura naturans des Spinoza, die Materie des Demokrit, der Aether Spiller's, das Ding an sich bei Kant, der Wille bei Schopenhauer, die höchste Vernunft Hegel's, das Ich bei Fichte, alles das sind >Substanzenalte Adam« unterdrückt werden müssen, damit das Höhere, das Geistige, der neue, verklärte Mensch sich entfalte; da das Niedere nur nach harten Kämpfen sowohl im Ueber-, als auch im Nach- und Nebeneinander in der Natur und im Menschen niedergedrückt werden kann; da ein jeder Mensch gewisse ethische Anlagen bereits ererbt hat und andererseits seine ganze moralische Entwickelung und Erziehung von dem socialen Medium, in welchem er lebt, abhängt — so geht daraus hervor, dass auf ethischem Gebiete dieselben Gesetze der Uebereinstimmung des Nach-, Neben- und Uebereinander, des Kampfes um's Dasein, der geschlechtlichen Zuchtwahl, der Anpassung und Vererbung ihre volle Giltigkeit haben, wie solches in der organischen Welt überhaupt der Fall ist. Dabei muss aber wiederum, und ganz besonders in Hinsicht auf die ethische Sphäre, hervorgehoben werden, dass bei Zugrundelegung dieser Gesetze der einzelne Mensch nicht als vollständig selbständiges Wesen, sondern als Theil, als Zelle, als einzelnes Nervenelement einer Gesammtheit — des socialen Organismus — betrachtet werden muss. Dann erst wird die ethische Solidarität aller Menschen und des ganzen Menschengeschlechts, als eines organischen Ganzen, auch auf wissenschaftlichem Gebiete anerkannt und gewürdigt werden; dann erst wird sich die Idee des Individuell-Guten zu der Idee des AllgemeinGuten wissenschaftlich potenziren und sich diese Idee nicht aus den Beziehungen der Menschen in gewissen begrenzten Zeiten, bei bestimmten Verhältnissen und an begrenzten Orten, sondern aus dem Entwickelungsgange und dem Streben nach Vollkommenheit des ganzen Menschengeschlechts als Gesammtheit integriren lassen. Dann wird es auch wissenschaftlich klar werden, warum das Gute bestrebt ist, das Niedere, Unvollkommenere, Thierische allerorten, nicht nur im Menschen, sondern auch nach aussen hin, nach allen Richtungen und in allen Gebieten zu bekämpfen und zu unterdrücken und die Idee des Guten als eine thätige, lebendige, fruchtbringende reale K r a f t erscheinen, ein mächtiger Gedanken über die S o c i a l w i s s e n s c h a f t der Zukunft.

III.

23

354 Hebel zur ethischen Vervollkommnung des Menschengeschlechts. Nur dann wird es auch auf realem Wege klar werden, welche Bedeutung die Solidarität aller Glieder des Menschengeschlechts unter einander haben, wird die reale Bedeutung eines Erlösers klar werden, welcher, nachdem er die höchste Anregung zur ethischen Vollkommenheit den Menschen gegeben, eine Anregung, welche weder vor noch nach ihm von einem Sterblichen ausgegangen ist, den niederen Instincten seiner Zeitgenossen, mit welchen er in Folge eines nothwendigen Naturgesetzes auf Tod und Leben kämpfen musste, unterlag und für das Wohl des Ganzen den Märtyrertod erleiden musste; dann erst werden auch nach ihrem wirklichen Werthe alle die Opfer gemessen werden, welche grosse Geister unter unsäglichen Kämpfen und Leiden der Menschheit dargebracht haben. Und was wir hier vom Schönen und Guten gesagt haben, gilt auch vom Wahren. Auch die Idee des Wahren ist das Resultat eines realen Integrirungsprocesses der Bewegung, ist das Streben des Menschen nach Erkenntniss. Auch in Hinsicht auf die Idee des Wahren haben dieselben allgemeinen Gesetze der Entwickelung ihre volle Giltigkeit; auch hier entsprechen die Erscheinungen, welche durch Körper und Geist bedingt werden, denjenigen in der Natur, die sich als Stoff und Kraft kund thun. Endlich wie das Fühlen, Denken und Wollen Differenzirungen der menschlichen Seelenthätigkeit sind und das Schöne, Wahre und Gute Integrirungen dieser speciellen Thätigkeitsäusserungen, so bildet der Glaube an Gott als höchste Vollkommenheit, als Gipfelpunkt alles Seins und Werdens, die allgemeine Integrirung des Fühlens, Denkens und Wollens, des Schönen, Wahren und Guten. Dem entsprechend stellt unB auch die Religion das vereinheitlichte Gebiet für Aesthetik, Wissenschaft und Ethik dar. Das Bessere im ethischen, das Schönere im ästhetischen Sinne und das Vernünftigere im Gebiete der Erkenntniss entsprechen also dem Vollkommeneren in der organischen Entwickelung der höheren Nervenorgane vom real - genetischen Standpunkt aus. — Aus demselben Grunde müssen die Begriffe des Schlechten,

355 Hässlichen, Unvernünftigen denjenigen des Unvollkommeneren von demselben Standpunkt aus entsprechen. — Das absolut Gute, Schöne, Wahre oder Böse, Hässliche, Unwahre ist unserer Erkenntniss ebenso unzugänglich, wie die absolute Bewegung, der absolute Stillstand, der absolute Stoff etc. Nur die relativen Begriffe in allen diesen Gebieten sind uns zugänglich. Als relative Begriffe müssen sie daher ein reales Substrat haben. Welches ist nun dieses Substrat? — Für die Begriffe Bewegung, Stoff, Materie etc. sind es die Erscheinungen der Aussenwelt, welche, von unseren Sinnen aufgefasst, sich als subjective Empfindungen, Anschauungen, Begriffe, Ideen integriren. Für die ethischen Begriffe sind es die von unseren höheren Nervenorganen aufgefassten Empfindungen, Anschauungen, Begriffe, Ideen, welche durch unser Verhältniss zu den anderen Gliedern und zu der Gesammtheit des socialen Organismus bestimmt werden. Solches geschieht gleichfalls auf realem Wege durch directe und indirecte Nervenreflexe. In beiden Fällen, d. h. sowohl in unseren Beziehungen zu der physischen Aussenwelt, als auch zum socialen Organismus, wird unser individueller Organismus und speciell unser Nervensystem zu höherer Entwickelung angeregt oder erleidet eine Rückbildung in vollständig realem Sinne und nach den allgemeinen organischen Entwickelungs- oder Rückbildungsgesetzen. — Dasselbe gilt in Hinsicht auf das Schöne und Wahre, indem diese Begriffe gleichfalls nur Verhältnisse des Menschen zur Aussenwelt und zur menschlichen Gesellschaft, von anderen Standpunkten aus betrachtet, ausdrücken: das Wahre vom Standpunkte der Differenzirung und Integrirung derjenigen höheren Nervenorgane, welche als Substrat für das Erkenntnissvermögen dienen; daB Schöne für diejenigen, welche der ästhetischen Spannung und Wechselwirkung der Organe entsprechen. Der Integrirung und Differenzirung des Schönen entspricht vorzugsweise das Empfinden, dessen materielles Substrat vornehmlich die sensorischen Nerven bilden; der Integrirung und Differenzirung des Guten entspricht vorzugsweise das Wollen mit den motorischen Nerven als stoffliches Substrat; dem Wahren — das Denken vorzugsweise mit den Gehirnnerven als materielle Grundlage. Hier wie allerorten in der Natur und im Menschen giebt es aber keine fest abgeschlossenen Grenzen 23*

356 zwischen den einzelnen Erscheinungen, sondern sie sind alle das Product einer stetigen Wechselwirkung der Kräfte. Daher legt auch der Mensch ein gemeinschaftliches Integriren und Differenziren des Fühlens, Wollens und Denkens, des Schönen, Guten und Wahren an den T a g , welches die Gesammtseelenthätigkeit des Individuums und jeder socialen Gesammtheit, ihr Bewusstsein, ihr Selbsthewusstsein, ihre Psyche ausmacht. Sowohl im Individuum, als auch in der menschlichen Gesellschaft sind alle einzelnen Thätigkeitsäusserungen und Gedankenassociationen nur Differenzirungen der psychischen Einheit, sowie auch diese ihrerseits nur eine Integrirung jener darstellt. Denselben Process bietet uns jeder einzelne Naturkörper und das Weltall in ihrer Gesammtheit. Und gleichwie die der ganzen Erscheinungswelt gemeinsamen Gesetze der Uebereinstimmung des Nach-, Nebenund Uebereinander, der Vererbung, Anpassung, des Kampfes um's Dasein, der allmäligen Differenzirung und Integrirung, der Potenzirung, der Action und Reaction der individuellen und socialen Psyche in ihrer Gesammtheit zu Grunde liegen, so bedingen sie auch jedes einzelne Gebiet derselben: im Empfinden, im Wollen und im Denken; in der Aesthetik, der Ethik und der •Logik; in Hinsicht auf das Schöne, das Gute und das Wahre; in Hinsicht auf die sensorischen, die motorischen und die Gehirnnerven. Nach diesen Gesetzen hat sich die ganze Cultur der Menschheit nach allen Richtungen hin entwickelt und nur diese Gesetze können als Grundlage für eine wahre real-genetische Culturgeschichte des Menschengeschlechts dienen. Alle Versuche, die Entwickelung der Cultur ausserhalb dieser Gesetze zu erMären, werden nach wie vor fehlschlagen und nur die Zahl der einseitigen subjectiven Anschauungen und willkürlichen Theorien vermehren. Es erübrigt uns nunmehr noch zu beweisen, dass das Bessere, Schönere, Vernünftigere und ihre Gegensätze wirklich, d. h. real mit einer Vervollkommnung oder Rückbildung der höheren Nervenorgane des Menschen zusammenfallen, d. h. dass die Entwickelungs- und Rückbildungsgesetze jener Begriffe, sowohl vom subjectiven Standpunkt aus betrachtet, als auch in ihrer äusseren Ausprägung dieselben sind wie diejenigen, nach welchen sich die Organismen überhaupt und alle die Einzelorganismen bildenden Zellenelemente entwickeln und rückbilden. —

357 Dass die ethischen Anlagen, gleich den intellectuellen und den ästhetischen, auf derselben realen Grundlage vererbt werden, wie auch die thierischen Instincte und die organischen Anlagen und Triebe überhaupt, ist in der Wissenschaft bereits als Axiom anerkannt worden. Wir verweisen den Leser in dieser Hinsicht auf die Arbeiten von Rigot, Maudsley, Reich und andere. Dasselbe kann man auch von dem Gesetze der Anpassung sagen, nur müssen wir hier als neuen Beweis für die Giltigkeit auch auf ethischem Gebiete der Anpassungsgesetze den Umstand hervorheben, dass auf diesem Gebiete auch die Typentheorie ihre volle Anwendung findet. Bereits bei Besprechung der socialen Entwickelungsgesetze im Allgemeinen haben wir den Unterschied zwischen der Stufe der Vervollkommnung und dem Typus hervorgehoben (Bd. II. S. 208 u. ff., 223 u. ff.). E. v. Baer war der erste, der im Gebiete der Zoologie die Forderung aussprach, dass man die verschiedenen Organisationstypen von den verschiedenen Stufen der Ausbildung stets unterscheiden müsse. Jeder Typus kann, wie es Baer definitiv in der Zoologie festgestellt hat, in höheren und niederen Entwickelungsstufen sich offenbaren; nur der Typus im Verein mit der Entwickelungsstufe determiniren die einzelne Form. Es giebt daher in der organischen Welt verschiedene Entwickelungsstufen für jeden Typus, die bestimmte, wenn auch nicht ununterbrochene und nicht durch alle Stufen gleichmässige, Reihen bilden. Diese Typentheorie hatten wir bereits im zweiten Bände auf Grundlage der real-vergleichenden Methode auf die einzelneu Ausprägungen selbständiger socialer Gemeinschaften, d. h. der Staatskörper angewandt, und waren zum hochwichtigen Schluss gekommen, dass auch in Hinsicht auf die socialen Gesammtheiten das Lagerungsverhältniss der organischen Elemente und der Organe, durch welche der Typus' bedingt wird, von der Stufe der Ausbildung zu unterscheiden ist. Die demokratischen, oligarchischen und aristokratischen socialen Gestaltungen erkannten wir damals als ebensoviel verschiedene Typen der socialen Formbildung an, sowie die republikanischen, monarchischen und despotischen Regierungsformen für verschiedene Typen der Staatenbildung. Diese verschiedenen Typen müssen aber, gleichwie auch die Typen in der Pflanzen- und Thierwelt, von dem Grade der

358 Ausbildung des gesellschaftlichen Organismus unterschieden werden. Ein monarchisch-aristokratischer Staat kann bei gewissen Verhältnissen höher ausgebildet sein, als ein demokratischrepublikanischer , und unter anderen Bedingungen kann der umgekehrte Fall stattfinden, ebenso wie ein bestimmtes Wirbelthier auf einer niederen Entwickelungsstufe stehen kann als ein wirbelloses, und umgekehrt. Die tiefe Bedeutung dieses Gesetzes hat auch Fr. v. Hellwald in der zweiten Auflage seiner »Culturgeschichte« anerkannt.*) Ganz richtig bemerkt Hellwald in seiner Besprechung meines Buches,**) dass dieses Gesetz das bei gewissen tendenziösen Geistern eingewurzelte Vorurtheil, als ob dieser oder jener politische Typus zugleich einen höheren Grad von Ausbildung bedingen würde, vollständig umstösst. — Dieselbe Typentheorie versuchten wir auch an die verschiedenen Racen und die verschiedenen Zweige derselben Bace anzuwenden, indem wir auch in Hinsicht auf sie die Bestimmung der Formbildung zugleich von den beiden Factoren, d. h. von dem typischen Lagerungsverhältnisse der organischen Elemente, welches den physischen Organismus, den Charakter, das Temperament, die geistigen und ethischen Anlagen etc. bedingt, und zweitens von dem Grade der Ausbildung, d. h. von der höheren Differenzirung und Integrirung der organischen Elemente abhängig machten. In diesem dritten Bande haben wir die Anwendung derselben Typentheorie auf die Zwischenzellensubstanz versucht, indem wir im Gebiete der Kunst, namentlich in der Architektur, Plastik, Dichtkunst verschiedene Typen unterschieden (S. 140 u. ff.), welche mit der Stufe der Ausbildung nicht verwechselt werden sollten. Dabei kam aber die Kunst überhaupt, sowie auch der Typus der verschiedenen Kunstproducte nur, so zu sagen, in zweiter Instanz in Betracht, indem die primäre Quelle der Gestaltung der socialen Zwischenzellensubstanz in den typischen Lagerungsverhältnissen und der Stufe der Ausbildung des socialen Nervensystems liege. Dieselbe Typentheorie hat aber auch volle Giltigkeit auf ethischem Gebiete. Es giebt Tugenden und Laster, die durch *) Fr. v. Hellwald: Culturgeschichte in ihrer natürlichen Entwickelung Ms zur Gegenwart, S. 26 n. ff.). *») Ausland, 1875, S. 956.

359 besondere sociale Verhältnisse bedingt sind und daher als besondere ethische Typen anerkannt werden müssen. Die Tugenden und Laster eines Kriegers bilden einen anderen Typus als die eines Gelehrten, eines Landmannes, eines Geistlichen, eines Staatsmannes. Bei dem Eiuen bilden Muth, rascher Entschluss, Todesverachtung die Haupttugenden, bei dem Anderen Bedachtsamkeit, Vorsicht, Geduld. Diese verschiedenen Typen, welche ihr materielles Substrat in den verschiedenen Lagerungsverhältnissen der Nervenelemente der Individuen, sowie in der Art der Wechselwirkung dieser Elemente finden, müssen aber von dem Grade der ethischen Ausbildung und Vervollkommnung unterschieden werden. Ein jeder Typus hat auch auf ethischem Gebiete seine, durch Anpassung und Vererbung bedingte und genetisch sich erhebende Reihe von Entwickelungsstufen, die mit den Entwickelungsstufen der anderen Typen nicht immer parallel laufen. Wie soll man auch bestimmen, ob ein tapferer, todesmuthiger Krieger vom ethischen Standpunkt aus mehr oder weniger werth ist als ein begeisterter, sein ganzes Leben dem Wohle seines Nächsten widmender Priester oder ein für die Entdeckung einer Wahrheit seine Ruhe, seine Gesundheit, seine sociale Stellung opfernder Forscher, der Gehässigkeiten, Verleumdungen und persönlichen Angriffen von Seiten zelotischer Gegner ausgesetzt ist? Durch die Anwendung der Typentheorie auf ethischem Gebiete werden viele Fragen klar, die bis jetzt als vollständig unlösbar erschienen, wie dasselbe auch in Hinsicht auf die Staatenbildungen, die socialen Gestaltungen und die verschiedenen Menschentypen der Fall war. Durch die Typentheorie in Verbindung mit dem Entwickelungsgesetze, diesen zweien Factoren, durch welche die Form der ethischen Ausbildung des Menschen in den verschiedenen Epochen und unter den verschiedenen Himmelsstrichen bedingt wurde, wird die sogenannte Wandelbarheit der Idee über das Sittliche vollständig und auf natürlichem Wege erklärt. — So sagt auch Maudsley: *) »Wie wir von einem Tonus des Rückenmarkes sprechen, dessen Modificationen einen so grossen Einfluss auf die Functionen dieses Organes haben, so können wir füglich auch einen geistigen oder psychischen Tonus annehmen, einen Tonus der obersten *) H. Maudsley: Die Physiologie und Pathologie der Seele, S. 142.

360 Nervencentren, der für den Charakter der Seelenzustände von der grössten Bedeutung ist. Und wie wir bei der Behandlung des Rückenmarkes diesen Tonus als getrennt von der originären Beschaffenheit des Rückenmarkes und von zufälligen Störungsursachen erkannten, wie wir vielmehr sahen, dass derselbe durch die Totalität der auf das Rückenmark einwirkenden Reize und Eindrücke und der darauf erfolgenden Reactionen bestimmt wird, die zusammen als organisirte Fähigkeiten in die Constitution des Organes übergehen, so resultirt im Gebiete der obersten Centren unseres Seelenlebens aus den Residuen vergangener Gedanken, Gefühle und Handlungen, die zu psychischen Fähigkeiten organisirt worden sind, in jedem Individuum ein gewisser psychischer Tonus. Dieser Tonus ist die Grundlage, auf der die Vorstellung des Individuums von seinem eigenen »Ich« beruht. Die Art und Weise, wie dieses Ich afficirt wird, muss uns daher am besten seine wahre Beschaffenheit enthüllen, eine Vorstellung, die jedoch keineswegs, wie dies oft behauptet wird, fix und unveränderlich ist, sondern gradweise Veränderungen durchmacht, die gleichen Schritt halten mit dem Wechsel der Beziehungen des Individuums zur Aussenwelt. Erziehung und Erfahrung, denen jeder Mensch gleich unterworfen ist, modificiren, wenn auch weniger plötzlich, so doch nicht weniger sicher, den Tonus seines Charakters. Durch beständiges Tadeln gewisser Handlungen und beständiges Loben anderer sind die Eltern im Stande, den Charakter ihrer Kinder so zu erziehen, dass diese im späteren Leben, ohne jede Reflexion, bei den ersteren der genannten Handlungen einen gewissen schmerzlichen, bei den letzteren einen freudigen Affect fühlen.« In diesen Veränderungen und Umgestaltungen sowohl der einzelnen höheren Nervenorgane als des ganzen Tonus derselben besteht gerade die social-ethische Anpassung, welche durch Vererbung sich zu speciellen Charaktertypen, Temperamenten, festen sittlichen Anschauungen u. s. w. in ganzen Geschlechtern, Nationalitäten, Racen gestalten kann. Im socialen Organismus ist dabei diese Anpassung nicht eine directe, wie zwischen Individuen und dem physischen Medium, sondern eine indirecte und cumulative, wie zwischen den unter einander in Wechselwirkung stehenden Zellen eines Gesammtorganismus. *) *) Vergl. Bd. n , S. 106 u. ff.

361 Unter dem Einflüsse des Kampfes um's Dasein, der Anpassung an das umgebende physische Medium und die socialen Verhältnisse und unter dem Einflüsse der Vererbung haben sich, gleichwie in der Natur verschiedene organische Typen, in der Gesellschaft verschiedene ethische Typen ausgebildet. Nach aussen hin, in ihren Beziehungen zu den Mitmenschen, zu der Gesammtheit, zu der sie umgebenden organischen und anorganischen Natur haben diese Typen immer sich verschieden verhalten und legen diese Verschiedenheit auch jetzt an den Tag. Darin besteht auch ihre Differenzirung und dadurch wird sie auch noch jetzt bedingt. Aber auch die Integrirung der ethischen Begriffe, d. h. die ethische subjective Anschauung war gleichfalls für einen jeden Typus eine verschiedene und ist es noch jetzt, aus dem einfachen Grunde, weil ein jeder Begriff, eine jede Idee, eine jede subjective Weltanschauung nur das Resultat der Vereinheitlichung der speciellen Beziehungen und Verhältnisse, welche die Existenz des Individuums bedingen oder das Leben seiner Vorfahren bedingt haben, darstellt. Die Wandelbarlceit der Ideen über das Sittliche kann also nicht als Widerlegung gegen die Existenz von Sittengesetzen dienen, ebensowenig wie die Umbildung der Typen in der organischen Welt als Beweis dafür gelten könnte, dass es keine Naturgesetze gebe. Die Wandelbarkeit der ethischen Anschauungen beweist nur, dass Alles sowohl in der ethischen Sphäre, als auch in der Erscheinungswelt Beivegung ist. Die Anwendung der Typentheorie auf ethischem Gebiete beweist aber zugleich, dass die die ethische Entwickelung bedingende Bewegung auf denselben Grundgesetzen beruht wie auch die die organische Entwickelung bedingende Bewegung in der Natur. Dass die ethische Entwickelung des Menschen das Resultat eines inneren und äusseren Kampfes ist — das erfährt ein jeder von uns täglich im Leben, das lehrt uns auch die Religion; dass die ethischen Anlagen und Eigenschaften durch Generationen vererbt werden, ist, besonders in neuerer Zeit, durch unzählige Beobachtungen bewiesen und bestärkt worden; dass das Gesetz der Uebereinstimmung des Nach-, Neben- und Uebereinander auch auf ethischem Gebiete seine volle Giltigkeit hat, kann leicht durch Zusammenstellung der ethischen Anlagen der Urvölker in der Geschichte, der Naturvölker der Gegenwart und der verschiedenen Schichten der jetzigen Culturvölker klargelegt werden; wobei denn auch

362 das so wichtige allgemeine embryologische Gesetz der allmäligen Entwickelung des Individuums vom Niederen zum Höheren und der Parallelismus der ontogenetischen, der paläontologischen und der specifischen Entwickelung auch auf ethischem Gebiete sich bewähren wird. Das allgemeine embryologische Gesetz der Entwickelung der höheren Nervenorgane des Menschen hatten wir nämlich in folgender Thesis zusammengefasst: »Die höheren Nervenorgane des Menschen durchlaufen in kurzen Abschnitten real alle Epochen der historischen Entwickelung der Menschheit ganz ebenso, wie der menschliche Embryo in den niederen Stadien die Entivickelungsperioden niederer organischer Formen durchläuft. wie Baur richtig die Idee Plato's wiedergiebt,« sie dringt, wie überall, so auch hier, in das Innerliche ein, und zieht das Lügenhafte, das kernlos Nichtige, das sich mit dem täuschenden Scheine des Wahren und Schönen zu umkleiden weiss, und dadurch die Hintansetzung und Verkennung des eigentlichen Guten bewirkt, als das wahre Wesen der Sünde an das Licht Die Sünde selbst ist das ohne Gott und von ihm los Sein des creatürlichen Lebens (TO ä&eov). Das Gute ist überall das Uranfängliche und Erste, alle Verschlechterung kommt aus der Abweichung und Entfernung vom Guten. Die Weltgeschichte giebt sich einerseits als Abfallsgeschichte kund, andererseits aber auch als Geschichte der Rückkehr zu Gott und der Wiedervereinigung mit ihm.< Aber auch die christliche Ethik hat mehrere Schwankungen und Entwickelungsstufen durchlaufen, und bietet noch jetzt ein Nebeneinander von mehreren Typen und Entwickelungsstufen dar. Die Ethik der römischen Kirche, welche überhaupt die Tendenz nach Veräusserlichung ihrer Strebungen von dem römischen Volks- und Staatencharakter angeerbt hatte, ist gleichfalls eine mehr äusserliche, nach Werken, Sinnbildern, nach politischer und socialer Autorität strebende; die protestantische dagegen eine mehr nach innen gekehrte, auf den innern Kampf des Menschen gerichtete. Auch im Schoosse des Christenthums ist die ethische Entwickelung stets eine werdende und keine stillstehende, sowie

380 es die mannigfaltigen, immer erneuerten Versuche im Gebiete der Theologie an den Tag legen. Durch die Anwendung der real - genetischen Methode im Gebiete der Ethik werden nicht nur alle ethischen Begriffe, welche bis jetzt auf metaphysischem Wege noch ihrer Beleuchtung harren und zu einer Unzahl von metaphysischen Systemen Anlass gaben, auf die natürlichste Weise erldärt, sondern auch fiir das practische Leben muss die Anwendung dieser Methode eine Bedeutung haben, die nur denjenigen entgehen kann, deren Köpfe und Sinne gerade durch dergleichen Systeme verwirrt und verdunkelt sind. Vor Allem muss hervorgehoben werden, dass durch die Anerkennung des socialen Nervensystems als reale, in Zusammenhang stehende psychophysische Gesammterscheinung, die Solidarität aller Menschen unter einander nicht mehr blos auf einem religiösen Glaubensdogma beruhen, sondern auch auf wissenschaftlichem Wege als nothwendiges Entwickelungsgesetz des Menschengeschlechtes begründet werden wird. Die Pflichten, welche in Folge einer solchen realen Solidarität dem Einzelnen und der Gesammtheit auferlegt werden, werden alsdann nicht blos dogmagtisch und theoretisch aufgefasst werden, so wie auch die Verantwortung des Einzelnen und die Verantwortlichkeit der Gesammtheit in Allem, was Gutes und Böses in der Gesellschaft an den Tag tritt. Diese Verantwortlichkeit wurde bis jetzt nur durch das Christenthum, welches die Erlösung Aller durch den schuldlosen Märtyrertod des Einen lehrt, auf religiösem Gebiete real aufgefässt. Die in dem socialen Nervensystem sich ausprägende reale Solidarität des ganzen Menschengeschlechtes erstreckt sich, wie es das Christenthum seinem Wesen nach lehrt, von der Person des Heilandes auf alle übrigen Glieder des socialen Organismus. Alle Menschen müssen als Jünger Christi auftreten. Ein Jeder, aus welchem irgend eine Anregung, irgend ein Reflex ausgeht, die in seinen Mitmenschen böse Gedanken und Gefühle, unwahre Anschauungen, Aergerniss, Hass, Misstrauen etc. erwecken, ist verantwortlich für alle Folgen solcher von ihm auf Andere übergegangener Reflexe. Und je höher die Entwickelungsstufe des Einzelnen und der Gesammtheit, desto enger die Solidarität, weil auch die Reflexwirkung und die gegenseitige Anregung eine regere und thätigere ist. Aber zu gleicher Zeit steigt auch die persönliche

381 Verantwortlichkeit, weil nach Maassgabe der Entwickelung der Einzelne auch bewusster und selbständiger handeln kann und zu handeln verpflichtet ist. Die Solidarität der Menschen unter einander beschränkt sich aber sowohl auf psychischem, als auch auf physischem Gebiete nicht blos auf die Lebenszeit des Einzelnen oder auf bestimmte Epochen. Das Gesetz der Vererbung schliesst alle Generationen durch eine unlösbare Kette an einander. Das Böse und Gute, welches von dem Einzelnen oder der Gesammtheit ausgeht, bildet das Resultat der Auslösungen von Kraftenergien, welche von der ganzen Reihe der vorhergehenden Generationen aufgehäuft und kapitalisirt worden sind. Die Lehre der Erbsünde, welche in's Christenthum übergegangen ist, stimmt somit mit der heutigen Wissenschaft vollständig überein. — Ueberhaupt hat kein einziges religiöses System in einem so hohen Grade intuitiv und prophetisch der real - genetischen Socialwissenschaft vorgegriffen, als es das Christenthum thut, indem es stets darauf hinweist, dass die Menschheit ein unzertrennliches, in Haupt und Glieder differenzirtes, und dabei doch in allen Theilen solidarisches Ganze bildet. So heisst es ja auch in der ersten Epistel Pauli an die Corinther 12, 12: »Denn gleich wie Ein Leib ist, und hat doch viele Glieder; alle Glieder aber Eines Leibes, wiewohl ihrer viele sind, sind sie doch ein Leib, also auch Christus.« Und weiter V. 26: »Und so Ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit; und so Ein Glied herrlich gehalten, so freuen sich alle Glieder mit.«*) — Die verschiedenen Gestaltungen der christlichen Kirche, wie sie sich uns jetzt darstellen mit ihren mannigfachen Gliederungen und Einheitscentren, bilden ihrerseits das psychopliysische Substrat zu derselben Solidarität in ihrer weiteren Differenzirung. — Mit dem Begriffe der socialen Solidarität sind die Ideen des Bösen und Guten als social-religiöse und social-ethische Erscheinungen eng verknüpft. — Da die Energien in den einzelnen Menschen und in den socialen Gesammtheiten Anhäufungen von Kräften sind, deren Auslösung nur oft eines geringen Anstosses *) Vgl. Böm. 12, 4. 5. Eph. 1, 22. 23. I. Cor. 6, 15. Col. 1, 1—18. 24.

2, 21. 22.

4, 12. 16.

5, 23.

382 bedarf, so iBt es oft einer nur geringen Anregung von aussen nöthig, um viel Gutes und viel Böses zu stiften. Das geschieht auf Grundlage des Gesetzes des lawinenartigen Anschwellens der Reflexe, welches auch von der Psychophysik bereits festgestellt ist. Die (Konsequenzen dièses Gesetzes sind von der grössten Bedeutung auch auf ethischem Gebiete. Ein hingeworfenes Wort, eine anscheinend unbedeutende That haben in der Geschichte oft das Zeichen zu grossartigen Erschütterungen gegeben und wirken auch im gewöhnlichen Leben anregend, erhebend, fördernd oder niederdrückend, hemmend, zerstörend in einem Maasse, welches mit der Ursache selbst in keinem Verhältnisse steht. Und je höher die Entwickelungsstufe des socialen Nervensystems, desto grösser ist nach allen Richtungen, sowohl zum Bösen, als zum Guten, sowohl nach der Seite der Rückbildung, als auch der Vervollkommnung hin, die Elasticität und folglich auch die persönliche Verantwortung derer, welche den Anstoss zu solchen Wirkungen geben. Aber da das ganze Nervensystem eine Kapitalisirung der Kraftenergien ganzer Generationen, Gesammtheiten und des Menschengeschlechtes als socialen Gesammtorganismus darstellt, so ist für jede böse That sowohl des Einzelnen, als auch der Gesammtheit, der ganze Organismus verantwortlich, sowie er auch seinerseits die Früchte der guten Thaten, der höheren Strebungen und Erkenntnisse geniesst und sich aneignet. In diesen psychophysischen Gesetzen wurzeln die Grundlagen sowohl der Ethik, als auch des Christenthums, und aller ethisch - religiösen Lehren. Sie geben auch den sichersten Leitfaden sowohl für die ethisch - philosophischen Anschauungen, als auch für's praktische Leben. Berücksichtigt man das Gesetz des lawinenartigen Anschwellens der Reflexe in der Richtung sowohl des Bösen, als auch des Guten, so wird man sich überzeugen, dass die meisten höher entwickelten Religionen, welche von dem der Menschheit durch eine böse That verursachten Verderben und von der Erlösung Aller durch Einen Heiland lehren, dem Wesen nach keinen naturwissenschaftlichen Unsinn predigen. — Wie sich im Verlaufe der ganzen Geschichte der Menschheit die ethischen Anlagen und Kräfte des Menschen allmälig auf paläontologischem Wege entwickelt haben, so durchläuft auch embryologisch oder ontologisch ein jedes Individuum in kurzen Abschnitten, aber real, auch auf ethischem Gebiete die

383 ganze Geschichte der Menschheit, ganz auf Grundlage derselben Gesetze, welche die paläontologische und individuelle Entwickelung der Organismen überhaupt bedingen. Und •wie die organische Welt überhaupt die verschiedensten Stufen der organischen Vervollkommnung vor Augen führt, so stellt uns gleichfalls die jetzt lebende Menschheit die verschiedensten ethischen Entwicklungsstufen, angefangen vom rohen Urmenschen bis zum höher gebildeten Culturmßnschen, dar. Hier nur ein Paar Beispiele. Den Kamtschadalen gilt als Sünde einzig die Uebertretung einiger abergläubischer Gebräuche, wie z. B. Kohlen mit dem Messer zu spiessen, den Schnee von den Schuhen mit dem Messer abzuschaben u. dergl., während die gröbsten Laster bei ihnen für unverfänglich gelten.*) »Was den Zigeuner vor allem Anderen auszeichnet,« sagt Th. Ribot,**) »ist der Hang, das angeborene Bedürfniss zum Umherschweifen und abenteuerlichen Leben. Die Civilisation erweckt bei ihm Auflehnung wie eine Sklaverei; jede sitzende Lebensweise, jede geordnete Beschäftigung erregt seine Verachtung. Die Ehe ist nur eine Verbindung auf Zeit, die in Gegenwart einiger Stammesglieder eingegangen wird. Meistens leben sie in Körperschaften oder Stämme eingereiht unter der Gewalt eines gewählten Häuptlinges, also in einer sehr ursprünglichen staatlichen Verfasssung. Voll Hass gegen alle gebildeten Völker, üben sie unter dem Namen eines erblichen Cultus gewisse Laster, die sie lieben und wie eine Religion vertheidigen, aus. So besteht ihr grösster Ehrgeiz darin, die Christen zu bestehlen; die Mütter lehren ihren Kindern den Diebstahl ä l'americanie als die grösstmögliche Tugend. Uebrigens sind sie, nach Art der Kinder, weniger gewaltthätig als verschlagen, unfähig aller höheren Vorstellungen, kindisch in ihrem Aberglauben. Borrors hatte das Evangelium Lucä in die Zigeunersprache übersetzt; sie nahmen das Buch, betrachteten es als Talisman und steckten es zu sich, wenn sie auf Diebstahl ausgingen.« — Dixon bezeugt in seinem New-Amerika, gleich so vielen anderen Beobachtern, dass die Bothhäute keinen Begriff von *) Waitz: Anthropologie der Naturvölker, Bd. I , S. 324. **) Th. Eibot: Die Erblichkeit (übers, von Hotzen) S. 137.

384 dem Nutzen und der Macht der Arbeit haben, und dass sogar die Besten unter ihnen nur langsam und mit Widerwillen sich entschliessen, Handel zu treiben. »Sie tragen,« sagt er, »das Gefühl in sich, dass sie stets ein wilder Stamm gewesen sind, eine Race von Jägern und Kriegern, Herren des Bogens und der Keule; und sie sind zu stolz, sich zu schmiegen und zu plagen, und die Arbeit der Frauen und Feiglinge zu verrichten. Wenn sie nicht durch Hunger zur Jagd getrieben wären, so würden sie weiter nichts thun, als trinken und kämpfen. Als Dixon an einen Omaha-Freund, der neben ihm stand, die Frage richtete: »Warum arbeiten diese Burschen nicht selbst, statt sich in den Kram- und Grogläden herumzutreiben, während ihre Frauen den Boden bearbeiten und Holz tragen?« erhielt er zur Antwort: »Siehst Du nicht, dass sie alle Krieger und Gentlemen sind? Sie können sich nicht durch Arbeit erniedrigen.«*) — Ist das nicht eine Anschauung, die auch die Geschichte auf allen niederen Stufen der ethischen Entwickelung der Menschheit an den Tag legt? Auch in dieser Hinsicht entspricht das Neben- und Uebereinander der Gegenwart dem Nacheinander der paläontologischen Entwickelung der ethischen Anschauungen. — Chandless erzählt von seiner Reise auf dem Amazonengebiete, dass auf dem Jurua die an den Ufern dieses Flusses lebenden Araua- Indianer, welche von ihm als Ruderer angenommen, sehr entkräftet waren, weil der eine ein schwangeres Weib, der andere einen Säugling hatte, und ihnen dieses die Pflicht des Fastens auferlegte. Der eine wollte nicht alle Fische mit glatter Haut und gar keine Schuppenfische essen, ebensowenig männliche Schildkröten, der andere überhaupt keine Schildkröten, ja nicht einmal Schildkröteneier.**) Darin bestand die ganze ethische Weltanschauung dieser Wilden. — Entspricht dieses ethische Nebeneinander der jetzt noch lebenden Völkerschaften und niederen Racen nicht derjenigen ethischen Entwickelungsstufe, welche die Kinder der höheren Racen in den ersten Stadien ihrer ethischen Entwickelung durchmachen und auf welcher die ethisch niedriger entwickelten In*) Vergl. E. Morungo: Die Statistik und die Socialwissenschaften, S. 272. **) Aualand. 1870, S. 450.

385 dividuen und gesellschaftlichen Schichten noch jetzt während ihrer ganzen Lehenszeit verbleiben? Auf ethischem Gebiete geht also dasselbe vor sich, wie in der Entwickelung auf socialem Gebiete und in der organischen Welt überhaupt, daher denn auch auf ethischem Gebiete folgende Thesen, die wir in Hinsicht auf die Entwickelung der höheren Nervenorgane des Menschen bereits aufgestellt haben,*) gelten müssen: Die Stadien der ethischen Entwickelung, welche ein jedes Individuum, von seiner Kindheit an bis zur vollen Reife durchläuft, entsprechen im Grossen und Ganzen der progressiven ethischen Entwickelung des ganzen Menschengeschlechtes im Verlaufe der ganzen Geschichte der Menschheit. Schon im ersten Bande hoben wir hervor,**) dass das Geschick verschiedener Volksstämme, Nationen und Racen ein ungleiches war: einzelne entwickelten sich folgerecht, progressiv; andere blieben in ihrer Ausbildung stehen; noch andere gingen, nachdem sie eine bestimmte Höhe erreicht hatten, zurück, unterlagen einer Bückbildung; wobei ausserdem verschiedene Stämme, Nationen, Racen auf Grund des Gesetzes der physischen und socialen, der directen und indirecten Anpassimg, des Kampfes um'8 Dasein und der natürlichen Zuchtwahl in ihrer Entwickelung verschiedene Wege einschlugen und specielle von einander verschiedene Eigenschaften, Strebungen und Bedürfnisse in ihren höheren Nervenorganen auf Grundläge des Divergenzgesetzes und des Gesetzes der Arbeitsteilung ausbildeten. — Daher weist uns auch die gegenwärtig lebende Menschheit Stämme, Nationen, Racen, welche auf verschiedenen Stufen der Entwickelung ihrer höheren Nervenorgane stehen geblieben sind: die einen auf der Stufe des Urmenschen, die anderen auf der des Menschen des Alterthums etc. Da nun aber in psychologischer Hinsicht die Kinder aller Racen, die zu einem und demselben Stammbaume gehören, die ersten Stadien bis zur Theilung des Stammbaumes gemeinschaftlich durchlaufen, was auch auf die ganze Menschheit Anwendung findet, so kommt es auch, dass in psychologischer Beziehung die Kinder aller Nationen und Racen gleich ») VergL Bd. I, S. 247 u. ff. **) Ebendas. S. 253. Qedtnken aber die Social wi>««njcbaft der Zotawft. III.

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396 sind upd d^ss die divergirenden und Roheren Anlagen, abgesehen von der Erziehung, erst allmälig sieb herausstellen. Eine jede sociale Gesammtheit bietet uns in psychologischer Hinsicht eine ähnliche Divergenz und ein ähnliches Uebereinander. Wie in jedem Einzelorganismus einige Zellen, im Laufe der Entwickelung desselben, immer nur ^oneren und Piastiden bleiben, andere sich zu Geweben vereinigen und von diesen wieder einige in den niederen Geweben stehen bleiben, andere jedoch» sich zu den höchsten Functionen des Nervensystems emporschwingen, so bleiben, wie wir es bereits im zweiten Theile unseres Werkes hervorgehoben haben,*) auch in jeder socialen Gesammtheit, sei es in Folge der gesellschaftlichen Stellung, der Erziehung oder der ererbten inneren Anlagen und Fähigkeiten, einige Individuen auf der Stufe der psychologischen Entwickelung stehen, welche dem Urmenschen entspricht; Andere erheben sich eine Stufe höher; Andere stehen auf dem allgemeinen Niveau der modernen Cultur; endlich überholen Einzelne die grosse Masse und gehen in ihrem Streben über das Jahrhundert hinaus. — Nach allem oben Gesagten ist es klar, dass dasselbe auch in Hinsicht auf die ethische Entwickelung des Individuums und des socialen Organismus vorgeht, und dass diese Entwickelung, gleich der psychologischen Entwickelung überhaupt, ihr reales Substrat in den höheren Nervenorganen des individuellen und des socialen Nervensystems findet. — Wie Unrecht hat also Buckle, wenn er in seiner Culturgeschichte behauptet, dass der Mensch und die Menschheit sich nur nach der Richtung der intellectuellen Anlagen und Fähigkeiten und nicht in ethischer Hinsicht in der Geschichte progressiv entwickelt hat und noch fortschreitet. Die real - vergleichende und genetische Methode verscheucht von selbst dergleichen einseitige Auffassungen und Anschauungen. — Dem socialen und individuellen Nervensystem entspricht auch auf ethischem, wie auf allen anderen Gebieten, eine Zwischenzellensubstanz. Zu derselben gehören alle religiösen, philosophischen, wissenschaftlichen, belletristischen Schriften, alle die Denkmäler und Schöpfungen der Kuqst, alle Errungenschaften der Wissenschaft, welche den Einzelnen oder die Ge*) Bd. II, S. 107.

387 Bämmtheit ethisch anregen oder hemmen, entwickeln öder rück>bilden. Wie in allen änderen Sphären tritt auch auf ethischem Gebiete ein Parallelismus zwischen der allmäligen DifFerenzirting •und Integrirung des individuellen und socialen Nervensystems einerseits und der Zwischenzellensubstanz andererseits zum Vorschein, indem die ethische Zwischenzellensubstanz nur ein Product, einen Abglanz der ethischen höheren Nervenorgane eineeiner hervorragender Persönlichkeiten oder der ganzen Volksmasse in verschiedenen Epochen und auf verschiedenen Stufen darstellt, und ihrerseits auf jene zurückwirkt. Daher erscheinen auch die ethischen Motive und Principien in den mündlichen und schriftlichen Ueberlieferungen und Schriften, Fabeln, bildlichen Darstellungen, Dichtungen, Sprüchen etc. des grauen Alterthums so einseitig, roh und kindlich. Daher weist uns auch die ganze Geschichte der ethischen Litteratur bei allen Völkern ein Schwanken in der Fort- und Rückbildung, eine stete Action und Reaction, entsprechend den verschiedenen Entwickelungsphasen der höheren Nervenorgane einzelner Persönlichkeiten, Stände, Berufsklassen, Nationalitäten, Racen. Das alte Testament legt noch einen sehr niedrigen Stand der ethischen Entwickelung der alten Ebräer an den Tag. Das Evangelium bildet auch auf ethischem Gebiete einen Riesenschritt vorwärts. Der Talmud und der Koran legen dagegen eine starke ethische Rückbildung an den Tag. Einige Beispiele werden genügen, um diese Rückbildungstendenz des Talmud und Koran zu illüstriren. — Nach dem Talmud gleicht die Bibel dem Wasser, die Mischna (das wiederholte oder zweite Gesetz) dem Weine, die Gemara (die Auslegungen zur Mischna) dem Wjirzlrein, und die in der Bibel studiren, thun, nach dem Talmud, etwas, was eine Tugend oder auch keine Tugend ist; die in der Mischna studiren, üben eine Tugend und werden dafür belohnt; die aber in der Gemara studiren, die üben die grösste Tugend, weshalb denn auch, nach dem Talmud, die Sünden gegen den Talmud schwerer als gegen die Bibel sind. — Da aber der Talmud ein Ausfluss der Weisheit der Rabbiner ist, so heisst es in ihm weiter: »Du sollst wissen, dass die Worte der Rabbiner lieblicher sind als die Worte der Propheten.« »Der Rabbiner gemeines Gespräch ist dem ganzen Gesetz gleich zu achten.« »Die Worte 26*

388 der Rabbiner sind Worte des lebendigen Gottes.« Und: »Wenn der Rabbiner dir sagt, deine rechte Hand sei die linke und die linke die rechte, so sollst du nicht abweichen von seinem Worte; wie viel mehr, wenn er zu dir spricht, dass die Rechte die Rechte, die Linke die Linke sei.«*) »Die Israeliten,« sagt der Talmud, »sind Gott angenehmer als die Engel. Wer einem Israeliten einen Backenstreich giebt, thut soviel, als ob er der göttlichen Majestät einen Backenstreich gäbe, sagt der Talmud abermals, und die übrigen Rabbiner wiederholen es, wie oben gezeigt, mit den Worten, dass ein Jude von Gottes Substanz ist, wie ein Sohn von dem Wesen seines Vaters. Darum ist ein Goi, der einen Juden schlägt, nach dem Talmud, des Todes schuldig. Wenn die Juden nicht wären, so gäbe es, wie der Talmud sagt, keinen Segen auf Erden, auch nicht Sonnenschein und Regen, weshalb die Völker der Welt nicht bestehen könnten, wenn die Juden nicht wären. Es ist ja ein Unterschied zwischen allen Dingen, Gewächse und Thiere können ohne den pflegenden Menschen nicht sein, und wie die Menschen über den Thieren stehen, so die Juden über allen Völkern der Welt. Ja, sagt der Talmud, Viehsame ist der Same eines Fremden, der kein Jude ist.«**) Und anderswo: »Es ist verboten, sich zu erbarmen über einen Menschen, der unverständig ist.« »Dem Rechtschaffenen steht es nicht an, sich zu erbarmen über die Bösen.« »Es ist nicht Recht, seinen Feinden Barmherzigkeit zu erweisen.« »Es ist erlaubt, gegen den Gottlosen (Nichtjuden) in dieser Welt zu heucheln.« Das Gebot: »Du sollst nicht stehlen,« bedeutet nach dem »Adler« Maimonides, dass man keinen Menschen, nämlich keinen Juden bestehlen solle, und anderswo fügt er bei, dass man einen Nichtjuden bestehlen dürfe. »Einen Goi (Nichtjuden), sagt der Talmud, darfst du betrügen und Wucher von ihm nehmen; wenn du aber deinem Nächsten etwas verkaufest oder von ihm kaufest, so sollst du deinen Bruder nicht betrügen« ***) u. s. w. So die ethische Weltanschauung des Talmud. lichen verliert sie sich in kleinliche Formalitäten. *) Aug. Rohling: Der Talmudjude, S. 18 und 19. **) Ebendas. S. 81. ***) Ebendas. S. 32, 34 u. 35.

Im AlltägSo werden

389 z. B. im. I. Buche des Talmud beim Genüsse von Brodspeisen folgende Segenssprüche vorgeschrieben: »Es sagte Raba: Ueber Rahita (— eine Art Brodspeise, dasselbe was Chabiz —) der Landleute, die viel Mehl hineinthun, sagt man: Der da erschafft die Arten der Speisen. Aus welchem Grunde? Weil Mehl die Hauptsache ist; hingegen über das der Stadtleute, die nicht viel Mehl hineinthun, sagt man: Denn Alles entstand durch sein Wort. Aus welchem Grunde? Weil Honig die Hauptsache ist. Dann sagte Raba: Sowohl über dieses als über jenes (soll man sagen): Der da erschafft die Arten der Speisen. Denn Rab und Schemuel sagten beide: Ueber Alles, worin etwas ist von den fünf Arten, sagt man: Der da erschafft die Arten der Speisen. Es sagte Rab Joseph: Ueber Chabiza, worin Brocken sind wie eine Olive, sagt man am Anfange: Der hervorkommen liess Brod aus der Erde, und am Ende sagt man darüber drei Segenssprüche. Sind nicht darin Brocken wie eine Olive, so sagt man u. s. w.«*) Die schönen bildlichen Gleichnisse der Bibel verzerren sich im Talmud zu Ungeheuerlichkeiten. So soll z. B. König Og, der Widersacher Mosis, nach dem Talmud einen Versuch gemacht haben, das Lager der Israeliten durch einen Steinwurf zu vernichten. Dieser Versuch misslang. Darüber heisst es nun im Berächot: >Der Stein, welchen Og, König zu Baschan, werfen wollte auf Israel. Eine Mittheilung ist mitgetheilt worden: Er sagte: Das Lager der Israeliten, wie gross ist es? Drei Parasah. So will ich gehen und ausreissen einen Berg von drei Parasah und werfen auf sie und sie tödten. Er ging, riss aus einen Berg von drei Parasah und brachte ihn auf seinem Kopfe, da brachte der Heilige, gepriesen sei er! Heuschrecken hinein, welche ihn durchlöcherten, so dass er sank bis an seinen Hals. Als er ihn ausziehen wollte, verlängerten sich seine Zähne von dieser Seite und von jener Seite, und so konnte er ihn nicht ausziehen, und dies ist es, was geschrieben steht (Psalm 3, 8): »Die Zähne der •Frevler hast du zerbrochen.« Und zwar nach R. Schimeon, Sohne Lakisch's. Denn es sagte R. Schimeon, Sohn Lakisch's: Was bedeutet das geschrieben steht: »Die Zähne der Frevler hast du zerbrochen?« Lies nicht: >Du hast zerbrochen,« son*) Babylonischer Talmud Berachot, übers, von Dr. Pinner, S. 37 (2).

390. dern,: Du, hast abwärts vergrössert. Mosch eh, wie gross war er? Zehn Ellen, er nahm eine, Axt- von; zehn Ellen, sprang hoch zehn Ellen und verwundete ihn an dem Knöchel und tödtete ihn.«*) Der Korän bietet unß auf ethischem Gebiete nur wenig Besseres. So heisst es dprt u. A.: »Der Satan droht mit Armuth und befiehlt euch Schändlichkeiten; Gott aber verheisst euch Vergebung und BeicMhum; Gott ist milde und weise. Er giebt "Weisheit wem er will, und wem Weisheit geworden, der hat grosses Gut; nur Weise bedenken das.In krankhaften Zuständen,« sagt er,*) >giebt es lwteröloge Substitidionen, wo ein bestimmtes Gewebe ersetzt wird durch ein Gewebe anderer Art, aber nie durch ein der menschlichen Organisation fremdes Gewebe. Selbst dann, wenn der Ersatz von dem alten Gewebe des Ortes ausgeht, kann die Neubildung mehr oder weniger abweichen von dem ursprünglichen Typus der Matrix. < >Es geschieht also die Substitution entweder durch Ersetzung vermittelst eines Gewebes aus derselben Gruppe (Homologie) oder durch ein Gewebe aus einer anderen Gruppe (Heterologie). Auf letztere muss die ganze Doctrin von den specifischen Elementen der Pathologie zurückgeführt werden, welche in den letzten Decennien eine so grosse Rolle gespielt haben. Denn diese Gewebe sui generis sind nicht insofern specifisch, als sie im natürlichen Entwickelungsgange des Körpers kein Analogon finden, sondern nur insofern, als sie unter gewöhnlichen Umständen nicht zu den constituirenden Theilen derjenigen Organe gehören, in welchen sie unter krankhaften Verhältnissen erzeugt werden. Deshalb erscheinen sie nicht sowohl als Bestandtheile des Organes, welches sie erzeugt, als vielmehr als Bestandtheile der Neubildung (gewissermaassen des pathologischen Organes), welches aus ihnen zusammengesetzt ist, und wir vergessen nur zu leicht, dass auch diese Neubildung, wenngleich kein an sich nothwendiger, doch ein continuirlich zusammenhängender Theil jenes physiologischen Organes, und somit des ganzen Organismus ist.« — Auch der sociale Organismus weist in seinen krankhaften Zuständen heterologe Substitutionen auf, wenn nämlich eine sociale Schicht für die andere zu functioniren beginnt: der Arbeiter in die Sphäre des Kapitalisten, der Bürger in die Sphäre des ^Kriegers etc. hineingreift. — Das Vicariiren der einzelnen Zellen, Gewebe und Organe *) Ebendas. S. 97.

406 Bteht in engem Zusammenhange mit dem Gesetze der histologischen Substitution. (S. 168 u. ff.) »Bei allen Geweben derselben Gruppe,« sagt Virchow,*) »besteht die Möglichkeit, dass sie gegenseitig für einander eintreten. Zu verschiedenen Zeiten des Lebens finden sich an derselben Stelle verschiedene Glieder einer Gewebsgruppe. Bei verschiedenen Thierklassen wird an einem bestimmten Orte des Körpers das eine Gewebe ersetzt durch ein analoges Gewebe derselben Gruppe, mit anderen Worten, durch ein histologisches Aequivalent.< — Auch die pathologischen Erscheinungen im Blute, die sogenannten Dyscrasieen, führt Virchow auf die Wirkung einzelner Organe und Gewebe zurück. Mit den Alten stimmt er darin überein, dass er eine Verunreinigung (Infection) des Blutes durch verschiedene Substanzen (Miasmen) zulässt und dass er einem grossen Theile dieser Substanzen (Schärfen, Acrimonien) eine reizende Einwirkung auf einzelne Gewebe zuschreibt, behauptet aber zugleich, dass für die anhaltende Zufuhr solcher Stoffe die Ursache in der krankhaften Thätigkeit einzelner Gewebe und Zellen zu suchen ist.**) — Die heterogenen Gewebe werden in der menschlichen Gesellschaft durch die verschiedenen Specialitäten in den Gebieten der Religion, Wissenschaft, Kunst, der Gewerke etc. dargestellt, indem ein jedes Individuum, je nach seiner Specialität, eine besonders constituirte Zelle repräsentirt. Mit der verschiedenartigen Constituirung der Zellenindividuen steht die Function derselben in engem Zusammenhange. Sie functioniren verschiedenartig aus demselben Grunde, aus welchem die Zellen und Zellengewebe der Nerven, Muskeln, der Leber, des Gehirnes etc. verschiedenartig functioniren. Da der sociale Organismus vorzugsweise ein Nervengewebe darstellt, welches durch directe und indirecte Nervenreflexe der höheren Nervenorgane zusammengehalten wird, so wird die verschiedene sociale Constitution der Zellen-Individuen und -Gesammtheiten durch die Gestaltung und Function gerade der höheren Nervenorgane bedingt. Das Grund« princip des socialen Organismus ist daher vorzugsweise eil *) E. Virchow: Cellularpathologie, S. 82. **) Ebendas. S. 165.

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psychologisches, und je höher eine Gesellschaft entwickelt ist, desto mehr wiegt dieses in Hinsicht auf die ökonomische, rechtliche und politische Constitution und Functionirung der Individuen und Gesammtheiten vor. Auch sind unter solchen Bedingungen die krankhaften Zustände vorwiegend psychologische, durch Entartung der höheren Nervenorgane bedingte und verursachte. — Daher müssen wir, um die social - pathologischen Erscheinungen zu ergründen, uns auf das social-psychophysische Gebiet begeben und die realen Analogien zwischen den krankhaften Vorgängen, welche dem Nervensystem des thierischen und menschlichen Nervensystems eigen sind, und denjenigen des socialen Nervensystems aufsuchen. — Unter Nervosität versteht Kloepfel, wie auch andere Mediciner, im Allgemeinen diejenige Erkrankung des Gesammtnervensystems, vorzugsweise aber der sensiblen und motorischen Nerven, die sich in einer gesteigerten Erregbarkeit und leichten Erschöpfbarkeit der Nervenkraft kund giebt. Dass diese krankhaften Veränderungen der Nervenmasse stets auch die Centraiorgane betreffen, dass im Allgemeinen von Nervosität ohne eine Alteration des Gehirns und Rückenmarks nicht die Rede sein kann, zeigt, nach Kloepfel, schon der Umstand, dass jene gesteigerte Reizempfänglichkeit erst schmerzlich empfunden werden und zum Bewusstsein kommen muss, um nervös genannt werden zu können. »Die krankhaft gesteigerte Reflexempfindlichkeit,« sagt er,*) »kann zunächst nur bei einem einzelnen Nervenendapparat, z. B. dem Gesichtssinn, dem Gehörssinn, dem Gefühlssinn u. s. w. sich bemerklich machen, und daher erklärt es sich, weshalb dieselben Personen in dem einen Falle sich den anscheinend mächtigsten Eindrücken aussetzen können, in dem anderen den anscheinend leisesten Anstössen gegenüber so empfindlich sind. Es giebt z. B. Kranke (deren Auge aber vom mattesten Tageslicht so erregt wird, als blicke es in die strahlendste Mittagssonne), die sich gegen rauschende Musik ganz normal verhalten — während andere Kranke, deren Muskeln schon erbeben, wenn der Ton einer Tischglocke erklingt, auf Lichteindrücke völlig gesund reagiren. — Andere Leidende wieder hören und sehen wie wir, aber der leiseste Lufthauch weht sie so an, als seien *) Vortrag im Riga'schen Gewerbe verein, gehalten am 9. April 1875.

408 sie im stärksten Sturmwind, und ihre Hautoberfläche nimmt nicht allein wahr, sondern empfindet auf das Schmerzlichste, wenn eine Thür im dritten oder vierten Zimmer geöffnet wird,« >Zum Glück ist die gleichmässige Ausdehnung des Leidens auf alle Nervenapparate nur selten, oder erreicht nur selten den oben geschilderten hohen Grad. In der Mehrzahl der Fälle handelt es sich um nichts Anderes, als um eine nur leicht gesteigerte Reflexerregbarkeit, die sich kundgiebt in plötzlichem Zusammenschrecken bei Vernehmen von Geräuschen, in dem Unvermögen, grelles Licht, grelle Farben oder intensive Geruchsempfindungen zu ertragen, — alles dies begleitet von einer gewissen Summe möglichst zweckentsprechender Bewegungen, die unbewusst so ausgeführt werden, dass die genannten Reize vonv Körper möglichst ferngehalten werden. — Allerdings ist jede allgemeine, lebhaft gesteigerte Erregbarkeit, selbst wenn sie nur geringe Grade innehält, ein immerhin recht unangenehmes Leiden. Erträglicher ist das Beschränktsein des Uebels auf einen bestimmten Nervenendapparat, weil man diesen durch vorsichtiges Vermeiden des betreffenden Reizes schützen kann.« Um besser verständlich zu sein, führt Kloepfel folgende Beispiele aus dem gewöhnlichen Leben an: »Denken wir uns drei Menschen neben einander sitzend in einem Concert. Ein kaum vernehmbares Pianissimo verklingt soeben in dem Saale, und die von der kurz vorhergegangenen rauschenden Orcliestennusik soeben noch heftig erregten Nerven kehren zu angenehmer, behaglicher Ruhe zurück: plötzlich schliesst das Pianissimo mit einem heftigen Paukenschlag, und in demselben Augenblick sehen wir die drei von uns beobachteten Personen ganz verschiedene Bewegungen ausführen. Der Eine hat eine rasche, aber immerhin nur leichte Aufwärtsbewegung des gleichsam in Gedanken sich senkenden Kopfes gemacht; die anderen Beiden sind von ihren Sitzen fast emporgeschnellt, doch so, dass der Eine von ihnen die Hände wie ein Automat blitzschnell nach den Ohren führt, das Gesicht dabei fast schmerzhaft verziehend, der Andere aber dem ersten Emporschnellen eine ganze Reihe rascher Bewegungen seines Oberkörpers folgen lässt.« »Der Erste von den Dreien ist ein normaler, nicht nervöser, aber auch nicht apathischer Mensch; der Ueberganjr vom Pianissimo zum Paukenschlag löst eine einfache Reflexbewegung aus.

409 Die beiden Anderen sind nervös verstimmt, doch Beide in verschiedener Weise. Der Eine leidet an einer gesteigerten Empfindlichkeit des Gehörorgans: der Paukenschlag hat ihm eine intensiv unangenehme Empfindung im Ohr verursacht, und das giebt sich kund durch die rasche Bewegung beider Hände nach den Ohren; — der Andere leidet an einer gesteigerten Erregbarkeit seines Muskelsystems, an Muskelschwäche, — und daher sind die Aeusserungen der refiectorischen Muskelbewegung so intensiv, dass sie selbst einige Zeit nach dem vom Gehörorgan gegebenen Anstoss noch nicht zur Ruhe kommen können.« Nachdem Kloepfel das Gebiet der Nervosität, soweit dasselbe mehr die sensiblen und motorischen Leitungen berührt, vom rein physiologischen Standpunkte aus durchmustert hat, geht er auf die schwerste Form der Nervosität, welche direct vom Centrainervensystem ausgeht, über. — >Es giebt nervöse Empfindungen,« sagt er, »die schwer zu beschreiben oder zu schildern sind, die sich durch keine sichtbaren Zeichen kundgeben und bei ihrer Unsichtbarkeit für den Kranken eine furchtbare Pein sind.« »Die Umgebung des Kranken, des in Wirklichkeit schwer Leidenden kann absolut nicht begreifen, dass ein anscheinend gesunder Mensch, der vielleicht den besten Appetit hat, zeitweise recht heiter ist, so leidend sein soll, wie er vorgiebt, und doch ist dem so! « >So kommt es denn, dass diesen bedauernswerthen Patienten nur selten ein aufrichtiges Mitgefühl zu Theil, und däss ungläubig und scherzend über die Klagen des geängstigten Kranken hinweggegangen wird.« Die subjectiven Empfindungen dieser Form von Nervosität, die sich nach dem Gesagten erklärlicher Weise der objectiven Controle entziehen, beschreibt alsdann Kloepfel nach dem Referat genesener Kranken, — darunter namentlich eines Arztes, der in jeder Hinsicht völlige Glaubwürdigkeit verdient, — folgendermassen: »Am liebsten vergleichen die Kranken die Hauptempfindungen mit dem unterbrochenen elektrischen Strome. Sowie dieser, durchfliesst es den ganzen Körper und bringt alle Nerven in Erschütterung. Man sieht keinen Muskel zucken, und dennoch ist der ganze Körper so durchbebt, dass, wenn das Gefühl sich auf die Muskeln wirklich übertrüge, der Ausdruck dafür etwa

410 ein heftiger Schüttelfrost mit Zähneklappern wäre. Der Kranke ist während dieser Empfindungen, die mit der tiefsten Apathie Hand in Hand gehen, nicht im Stande, nachzudenken, nicht im Stande, die Feder beim Schreiben zu fuhren, wiewohl man die Hand durchaus nicht zittern sieht, — er ist kaum im Stande, sich zu unterhalten. E r hat nur den Wunsch nach vollkommenster Ruhe, — nichts als Ruhe! ohne dass er indesß directe Müdigkeit oder Neigung zum Schlaf empfände. Im Gegentheil: es will der Schlaf sich während solchen Zustandes nicht einstellen.« »Dabei neigt auch in den besseren, relativ freien Zeiten die, psychische Verfassung ernstlich zur depressiven Erkrankung. Es lassen sich objectiv in dieser Hinsicht feststellen: auf der einen Seite gesteigerte psychische Empfindlichkeit, leichtere Neigung zu geistigem Schmerz, ein Zustand, wo jeder Gedanke auch zu einer Gemüthsbewegung wird, — und daher auch ein rascher und leichter Wechsel der Selbstempfindung und der Stimmung, — auf der anderen Seite Schwäche und Inconsequenz des Wollens , Energielosigkeit des ganzen Strebens mit heftigen und wechselnden Begehrungen. t Das Irrsein ist nur der hervorragendste und prägnanteste Ausdruck aller Störungen überhaupt, welchen das Nervensystem in seiner Entwickelung und seiner functionellen Thätigkeit unterliegen kann. Ein jeder Theil des menschlichen Nervensystems, j a eine jede einzelne Zelle desselben, sie möge nun zum cerebrospinalen oder sympathischen System gehören, kann zeitweilig oder auf immer dem Irrsein unterliegen. Wird das Irrsein einer Zelle oder eines Theiles des Nervensystems durch den Einfluss und die Wechselwirkung der anderen Theile wieder in die gehörigen gesetzmässigen Schranken gesetzt, so erfolgt Genesung. Sogar in einer gesunden Organisation geht beständig ein Kampf vor sich zwischen den einzelnen Theilen des Nervensystems, welche sich nicht coordiniren und dem Ganzen subordiniren wollen, und den Bestrebungen des gesunden Theiles des Organismus Widerstand erweisen. Von dem Siege der einen oder der anderen hängt die psychische und oft die physische Gesundheit ab. — »Betrachtet man,« sagt Maudsley,*) »eine Prädisposition zum Irrsein, wie dies überhaupt immer geschehen sollte, von *) H. Maudsley: Die Physiologie und Pathologie der Seele, S. 235.

411 ihrer physischen Seite, so besteht sie in nichts weniger als einem wirklichen Defekt oder Fehler in der Constitution oder Zusammensetzung der Nervenelemente, deren functionelle Aeusserungen die Phänomene des psychischen Lebens sind; es ist eine Unbeständigkeit der organischen Zusammensetzung vorhanden, die die directe Folge gewisser ungünstiger physischer Antecedentien ist. Die retrograde Metamorphose der Seele, die sich in den verschiedenen Formen des Irrseins offenbart und in extremen Fällen von Dementia bis zu ihrem wirklichen Erlöschen führt, ist die weitere physische Consequenz des verborgenen Defektes in der Constitution oder Zusammensetzung der Nervenelemente. < Das Bestreben der einzelnen Theile der verschiedenen Nervencentren zu unabhängiger und krankhafter Thätigkeit nennt Jlaudsley Diathesis spasmodica oder Neurosis spasmodica, und bezeichnet diesen Zustand als eine Unbeständigkeit der nervösen Elemente, »wodurch die Wechselwirkung der Nervenzellen bei den höheren nervösen Functionen nicht gehörig erfolgt und die nöthige Uebereinstimmung oder Coordination der Functionen durch eine unregelmässige, zwecklose unabhängige Reaction nach aussen ersetzt wird: die Nervenzellen haben, so zu sagen, die Kraft der Selbstbeherrschung verloren, sie sind unfähig zu ruhiger, gemessener Thätigkeit, sowohl der subordinirten, als auch der coordinirten, ihre Energie wird in explosiver Thätigkeit verschwendet, die wie das triebartige Handeln des leidenschaftlichen Menschen nur eine reizbare Schwäche bekundet. Hier, wie überall, zeugt Coordination der Functionen von angeborener oder erworbener Kraft und höherer organischer Entwickelung.« *) — Wenden wir uns nun zum socialen Organismus, so müssen wir die Ueberzeugung gewinnen, dass die krankhaften Erscheinungen, welche uns die Geschichte und die Gegenwart in allen Sphären der socialen Entwickelung, in der ökonomischen, rechtlichen, politischen, ästhetischen, ethischen, intellectuellen, religiösen, vor Augen führen, eine reale Analogie mit dem Irrsein der einzelnen Elemente im Nervensystem der Einzelorganismen an den Tag legen, und dass dieses nicht nur bei einem absolut unvernünftigen Handeln von Seiten der einzelnen Individuen, sondern bei unzweckmässigen, disharmonischen, der gesunden **) Ebendas. S. 235 u. 236.

412 Coordination und Subordination widersprechenden Thätigkeitsäusserungen jedes Mal der Fall ist. Daher ist ein jedes unmoralische, rechtswidrige Handeln, ein jedes Vergehen und Verbrechen als ein Irrsein eines oder mehrerer Theile des socialen Nervensystems zu bezeichnen, sowie die angedrohte oder erfolgte Strafe als ein Bestreben der anderen Theile oder des ganzen Organismus, das Irrsein der Theile in ihren Schranken zu halten oder sie in dieselben zurückzuführen, wenn sie überschritten worden sind. Die socialen Gebilde bestehen ausschliesslich, die etwaigen mechanischen Berührungen der Individuen ausgenommen, aus solchen Nervengebilden, deren einzelne Zellen nicht mechanisch an einander schliessen, wie es im Nervensystem der Einzelorganismen der Fall ist, sondern in steter Wechselwirkung vermittelst directer oder indirecter Reflexe sich befinden. Der Zusammenhang einer socialen Gesammtheit ist also, mit Ausnahme des Momentes der Blutsverwandtschaft und der zufälligen mechanischen Berührungen, ein ausschliesslich psychologischer, begründet auf den directen und indirecten Nervenreflexen, welche zwischen den höheren Nervenorganen der Individuen vor sich gehen. Daher müssen auch alle socialen pathologischen Vorgänge, um ihre Analogie mit denjenigen der Einzelorganismen durchzuführen, auf Reflexe zurückgeführt werden. — Dieses werden wir jetzt versuchen. — Wir haben gesehen, dass alle pathologischen Vorgänge nicht nur als von der Zelle ausgehend anerkannt werden müssen, wozu das Individuum als reales Analogon in der menschlichen Gesellschaft dient, sondern dass auch alle krankhaften Vorgänge auf eine aberratio loci oder temporis, einen Mangel an Reiz oder eine Ueberreizung reducirt werden können. Dasselbe findet auch bei allen pathologischen Erscheinungen speciell des Nervensystems der Einzelorganismen statt. Da nun aber der ganze Unterschied zwischen dem socialen Nervensystem und dem der Einzelorganismen in der Umsetzung der directen Reflexe in indirecte und in einer grösseren Selbstthätigkeit und Freiheit der einzelnen Theile besteht, dieser Unterschied also nur ein quantitativer ist, so liegt der Schluss auf der Hand, dass auch die Gesetze der pathologischen Entwickelung für beide im Wesentlichen dieselben sein müssen. — In der ökonomischen Sphäre tritt z. B. das >Irrsein« ein-

413 zelner Individuen, Associationen und ganzer socialer Schichten, — die »reizbare Schwäche«, welche die »coordinirte Kraftentwickelung« aufhebt oder zerstört, — in der Form gewagter, unreeller Unternehmungen hervor, welche bei ungünstigen Verhältnissen zusammenstürzen, d. h. convulsivisch reagiren. Virchow war der erste, der ganz positiv die Anwesenheit einer Bindesubstanz bei allen nervösen Bildungen, sowohl im Gehirn, als auch in den peripherischen Theilen des Nervensystems constatirt hat. Daher ist es, nach Virchow, nothwendig, die pathologischen und physiologischen Zustände des Gehirns und des Rückenmarks auf zwei Elemente zurückzuführen: auf Nervenelemente oder Bindegewebe.*) Obgleich nun im Bindegewebe auch Nervenzellen eingebettet sind, so bildet doch seine Hauptmasse die dasselbe umschliessende Interzellularsubstanz; so dass es sich wiederum hier hauptsächlich um die Wechselwirkung der zwei Hauptelemente des organischen Lebens: um das Nervensystem und die Interzellularsubstanz handelt, — eine Wechselwirkung, welche im socialen Organismus als Gegensatz zum socialen Nervensystem und zu den in demselben circulirenden Gütern an den Tag tritt. — Dass Quantität und Qualität der Zwischenzellensubstanz dabei eine wichtige Rolle spielt, gleichwie auch die Eigenschaft und das Quantum des Blutes, welches das Nervensystem des Einzelorganismus ernährt, ist selbstverständlich. Die Wirkung des Weines, des Opiums und aller berauschenden Mittel entspringt aus der Zwischenzellensubstanz. So giebt es auch in der ökonomischen Sphäre Gebrauchs- und Tauschwerthe, gewisse Actien- und Gründerantheile, welche auf die gesundesten Köpfe berauschend wirken. — Ganz in derselben Weise giebt es auch ein Irrsein in der rechtlichen und der politischen Sphäre. Das alte Faustrecht in Deutschland kann als hervorragende Instanz in jener, die französische Revolution als gleiche Instanz in dieser dienen. — In beiden Fällen waren die in jenen Sphären wirkenden Nervenzellen krankhaft afficirt und zogen auch die gesunden mit sich fort: es war eine Zeit des socialen Irrseins. Sehen wir nun, inwiefern die von Virchow aufgestellte Thesis, dass ein jeder krankhafte Zustand entweder in einer aberratio *) R. Virchow: Cellularpathologie, S. 322.

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loci oder- einer aberratio temporis oder blos in einer quantitativen Abweichung besteht, sich auch auf die pathologischen Erscheinungen des individuellen und socialen Nervensystems anwenden lässt. — Eine jede Thätigkeitsäusserung der Zellen und Zellengewebe zur unrechten Zeit und am unrechten Orte, sowie eine jede Ueberreizung und jeder Mangel an Reiz involviren oder ziehen immer nach sich eine Rückbildung oder zum wenigsten eine Hemmung in der Entwickelung der einzelnen Theile oder der organischen Gesammtheit. Denn sobald irgend eine Zelle oder ein Zellengewebe zur unrechten Zeit thätig ist, werden die anderen Zellen, mit denen sie in Wechselwirkung stelien, gehindert, zur rechten Zeit thätig zu sein, was nothwendig für diese eine Hemmung oder Rückbildung zur Folge haben muss. Dasselbe bietet uns auch der sociale Organismus. Wenn ich in meinem Amte nicht zur rechten Zeit meine Pflicht erfülle, so hemme ich die Thätigkeit aller derer, die mit mir in Berührung stehen und kann dadurch eine Desorganisation verschiedener Unternehmungen und Geschäfte verursachen. Dehnt man den einzelnen Fall auf ganze Thätigkeitsgebiete, Stände, Gesjimmtheiten, Staaten aus, so wird man in Hinsicht auf unzeitgemässes Handeln zu denselben Schlussfolgerungen gelangen. Auch jede Thätigkeitsäusserung der Zellen und Zellengewebe am unrechten Orte involvirt und zieht gleichfalls eine Hemmung oder Rückbildung sowohl im Einzelorganismus, als auch in der menschlichen Gesellschaft nach sich. Ein am unrechten Ort angebrachter Unternehmungsgeist kann sowohl den Unternehmer selbst, als auch alle mit ihm in geschäftlichen Beziehungen Stehenden zu grossen Verlusten führen; ein jeder Verlust entspricht aber einer Hemmung oder Rückbildung in der ökonomischen Sphäre in irgend welcher Form. Dasselbe hat auch seine volle Giltigkeit in Hinsicht auf Ueberreizung und Mangel an Reiz. Letzterer besteht schon an und für sich in einer Hemmung der Zellenthätigkeit; die Ueberreizung einzelner organischer Theile bewirkt dasselbe auf die übrigen Theile, indem sie letztere durch ihre krankhafte Thätigkeit nicht regelrecht functioniren lässt. Wer durch Eigenliebe oder Ehrgeiz sich hinreissen lässt, sucht alle Andern, die hinaufstreben, zu unterdrücken. Müssiggäng ist ansteckend, fordert aber andererseits eine um so höhere Thätigkeit der übrigen Zellen, um den Mangel

415 an Kraftentwickelung der unthätigen Zellen zu ersetzen und zieht daher gleichfalls eine Ueberreizung oder Ueberarbeitung nach sich. In allen diesen Fällen thut sich das Verhältniss zwischen Zellen und Zwischenzellensubstanz sowohl im Einzelorganismus, als auch in der menschlichen Gesellschaft dadurch kund, dass die psychischen und physischen Bedürfnisse der Zellen (Individuen) von positiven in neutrale und negative sich umsetzen, und dass der directe und indirec+e Gebrauchswerth der Güter und Dienste dem entsprechend denselben Charakter annimmt. Unsere im Kapitel VII S. 223 vorgeschlagene Eintheilung der Bedürfnisse und Gebrauchswerthe in positive, negative und neutrale, entspricht also vollständig den pathologischen Gestaltungen und Processen, welche auch im Schoosse der Einzelorganismen an den Tag treten. Sowohl in functioneller, als auch in formativer Hinsicht zieht daher einerseits im Einzelorganismus und in der menschlichen Gesellschaft ein jeder pathologische Zustand, wenn er nicht beseitigt wird, eine Hemmung oder Rückbildung der afjßcirten Theile oder des Ganzen nach sich; andererseits involvirt aber auch eine jede Hemmung oder Rückbildung einen pathologischen Zustand. Und da ein Stillstand in der Natur überhaupt unmöglich und undenkbar ist, so kann der normale Zustand sowohl eines Einzelorganismus, als auch der menschlichen Gesellschaft, nur in einer regelmässigen und harmonischen Fortentwickelung bestehen, bei steter Unterordnung der niederen Elemente und Factoren unter die Hoher potenzierten. Höhere Diöerenzirung und Integrirung der Einzelorganismen, Mehrung von Eigenthum, Recht, Macht und Freiheit, in Hinsicht auf den socialen Organismus, prägen stets eine solche organische Fortentwickelung aus, wogegen eine Minderung derselben Factoren eine Rückbildung und folglich einen pathologischen Zustand aufweisen. — Als entscheidender Beweis dafür, dass in der ethischen Sphäre ein jeder pathologische Zustand auf eine aberratio loci oder temporis, einen Mangel an Reiz oder eine Ueberreizung zurückgeführt werden muss, kann die bereits in der Ethik als Axiom festgesetzte Thesis dienen, dass ein jedes Laster, eine jede Leidenschaft nichts weiter ist, als eine ausserhalb bestimmter Schranken sich kundthuende Tugend. Dieses Schrankenlose in den tugendhaften Handlungen kann seinen Grund in einer zu geringen oder zu grossen Energie

416 des Begehrens, Handelns, Strebens haben. So z. B. ist der Geiz eine bis in's Schrankenlose gehende Sparsamkeit, die doch an sich eine Tugend ist. Nach der entgegengesetzten Seite hin hat die Verschwendung dieselbe Bedeutung. So kann auch die Sorge für die materielle Existenz einerseits in Sorglosigkeit, Fahrlässigkeit, Thatlosigkeit, andererseits aber auch in Ueberschätzung der materiellen Mittel, Habsucht, Schwindel etc. ausarten. Ehrgeiz, Selbstgefühl, alle übrigen Tugenden und Laster können von diesen beiden Gesichtspunkten aus betrachtet werden. Jedes Laster wird, je nach dem Standpunkte, entweder als eine .unter oder über der gewöhnlichen und natürlichen Reiznorm stehende Beizung anerkannt werden müssen. Ed. Hartmann definirt das Laster als Gewohnheit einer bestimmten Art von unsittlichen Handlungen. »Je öfter,< sagt er,*) »der Mensch einem bestimmten Triebe sich hingiebt, desto mehr stärkt er denselben, desto gebieterischer wird das Bedürfniss desselben nach Befriedigung, und desto abgestumpfter wird zugleich das aufnehmende Organ gegen Reize von gleicher Stärke. Das Laster vermehrt also gleichzeitig das Bedürfniss, während es die Fähigkeit zur Befriedigung desselben, die Genussfähigkeit in der fraglichen Richtung herabsetzt: daher verlangt der Trieb nicht nur nach immer neuer Zufuhr von Reizen, sondern auch nach immer gesteigerteren Reizen, bis endlich die Constitution des geniessenden Organs der Häufigkeit und Stärke des Reizes erliegt, beziehungsweise den gesammten Organismus oder bestimmte zum Leben nothwendige Theile desselben (wie das Nervensystem) zerrüttet. < Da nun sowohl bei tugendhaften, als auch bei lasterhaften Handlungen dieselben Theile des Nervensystems thätig sind, so ist es klar, dass die lasterhaften Triebe und Neigungen sich nur durch eine anormale, krankhafte Thätigkeit von den nicht lasterhaften unterscheiden; dass diejenigen erkrankten Nervenelemente und -gewebe, welche als materielles Substrat für solche Neigungen und Triebe dienen, sich von den gesunden nur durch einen Mangel an Reiz oder durch Ueberreizung, in den meisten Fällen aber durch Beides unterscheiden; dass demnach zwischen dem normalen, gesunden, und dem anormalen, krankhaften Functio*) Ed. v. Hartmann: Die sittliche Freiheit, Athenäum (1876), S. 193.

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niren der Nervenelemente und -gewebe im sittlichen Gebiete überhaupt kein absoluter, sondern nur ein gradueller, relativer Unterschied vorhanden ist. — Diese wichtige Wahrheit ist in der Hinsicht eine höchst trostreiche, dass sie einem jeden Individuum, sowie auch einer jeden Gesellschaft die Hoffnung und die Ueberzeugung einflössen muss, dass, so lange die Zellen und Gewebe nicht definitiv zerstört sind, immer eine Genesung möglich ist, und dass der krankhafte Zustand von dem gesunden nicht so weit entfernt liegt und nicht von einem so tiefen Abgrunde geschieden ist, wie man es gewöhnlich fürchtet. In den meisten Fällen handelt es sich nur um eine zweckentsprechendere Regulirung der Reize, um ein Uebertragen derselben an den rechten Ort und zur rechten Zeit. Von den lasterhaften Anlagen und Trieben müssen die Leidenschaften und Affecte unterschieden werden. Die Leidenschaft muss jenen gegenüber als ein beständiges, den Willen beherrschendes, also einseitiges, der normalen Entwickelung des Organismus nicht entsprechendes Verlangen nach bestimmten Reizen bezeichnet werden. Der Affect hat im Grunde dieselbe Bedeutung, nur mit dem Unterschiede, dass er nicht auf einem steten Verlangen, sondern einem plötzlichen Aufwallen, d. h. in einer vorübergehenden Reizbarkeit der Nervenelemente besteht. Affect und Leidenschaft führen, gleich den lasterhaften Neigungen und Trieben, zu unsittlichen Handlungen, ja zu Verbrechen, sobald sie einen höheren Grad erreichen und den Willen vollständig knechten. Sie unterscheiden sich also von den lasterhaften Neigungen und Trieben gleichfalls nur durch den Reizungsgrad, durch die grössere oder geringere Beständigkeit oder das öftere oder seltenere Widerkehren der Reizbedürfnisse. — Durch die Vereinigung und Ansammlung der Laster, Leidenschaften und Affecte der Individuen entstehen die socialen lasterhaften, leidenschaftlichen und verschiedenen Affecten unterworfenen Anlagen und Triebe, nur mit dem Unterschiede, dass der krankhafte Reiz zwischen den socialen Elementen im Gegensatz zu denjenigen des individuellen Nervensystems nicht nur durch directe, sondern auch durch indirecte Reflexe (Reden, Schriften etc.) mitgetheilt wird, dass im socialen Nervensystem überhaupt auch in dieser Hinsicht eine grössere Freiheit und Beweglichkeit zwischen den Elementen sich kund thut und dass, Gedanken aber die Social Wissenschaft der Zaknnft. III.

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418 wenn im socialen Organismus einerseits abnorme Erscheinungen leichter als im Einzelorganismus zum Vorschein kommen, aus demselben Grunde auch andererseits ein Zurückgehen zu gesunden Verhältnissen leichter möglich ist. — Einen wichtigen und höchst beachtenswerthen Wink giebt uns diese Betrachtung in Hinsicht auf die Heilung der krankhaften Zustände, sowohl des individuellen, eis auch des socialen Organismus. Die Kunst sowohl der Aerzte, als auch der Staatsmänner müsste vorzugsweise darauf gerichtet sein, Ueberreizungen zu beschwichtigen, dem Mangel an Reiz abzuhelfen, oder Uebertragungen desselben an den rechten Ort und in die rechte Zeit zu bezwecken. Production und fruchtbringende Thätigkeit schlagen in zerstörende Wirkungen und umgekehrt im Gebiete des thierischen und menschlichen Nervensystems, dessen Thätigkeit sich überhaupt durch Reizbarkeit und Erregung kund thut, fast ausschliesslich aus jenen Ursachen um, aber noch mehr im Gebiete des socialen Nervensystems, dessen ganze Wirkung vorzugsweise in directen und indirecten Reflexen besteht. »Wie vor einigen Jahrzehnten,« sagt Treitschke, »unter den Medicinern die mattherzige Lehre umging, jedes Verbrechen sei die Folge krankhafter natürlicher Anlage, und der Verbrecher gehöre nicht vor das Forum des Strafrichters, sondern vor den Irrenarzt: so schwirrt durch die jüngste social-politische Literatur ein sentimentales Gerede über »»die Mitschuld der Gesellschaft«, das in aller Unschuld darauf ausgeht, dem armen bethörten Volke das Gewissen zu ertödten und unsere ohnehin schwächlichen Strafgesetze durch zaghafte Handhabung noch mehr zu verderben.«*) Einerseits kann man Treitschke nur beistimmen, wenn er die Gefahren, welche der Gesellschaft in Folge der Schwächung und Erschütterung des Gefühls der persönlichen Verantwortlichkeit erwachsen können, hervorhebt. Es frägt sich aber andererseits: trägt denn nur ein jedes einzelne Glied der Gesellschaft und nicht auch diese in ihrer Gesammtheit, für alles Böse, was in der Gesellschaft geschieht, eine doppelte Verantwortlichkeit: vom Standpunkte der Vererbung lasterhafter, verbrecherischer, sündhafter Anlagen, Gewohnheiten etc., sowie auch vom Gesichts*) H. y. Treitschke: Der Socialismus und seine Gönner (PreuBsische Jahrbücher, Bd. 34, Heft I , S. 104).

419 punkte der directen und indirecten Reflexe, wenn nämlich diese, statt die Einzelnen und die Gesammtheit zu fördern und zu heben, sie in ihrer Entwicklung hemmen, den Einzelnen erbittern, Bachsucht und sinnliche Triebe in ihm erwecken etc.? Die jetzige Rechtspflege geht noch stossweise, mit Gewalt vor, die zukünftige wird aber eine organisch-genetische sein müssen. Die Furcht ist noch die Grundlage der jetzigen Straflehre. Die Liebe in ihrer, die Vervollkommnung fördernden, organisch-genetischen Bedeutung wird die der zukünftigen sein, und den Anstoss und Anlass dazu, sowie zu einer erkenntnissreicheren Entwickelung auf dem ethischen Gebiete überhaupt, wird die real-genetische Socialethik geben. Namentlich wird die psychophysische Socialpathologie bei Erreichung dieses Zweckes eine hohe Bedeutung erlangen. Sie wird, auf den letzten Errungenschaften der medicinischen Pathologie fussend, die Wahrheit zur Geltung bringen, dass, sowie im Einzelorganismus, auch im socialen Organismus alle krankhaften Erscheinungen vorzugsweise auf die einzelnen Zellen- und Nervenelemente zurückzuführen sind und dass der pathologische Zustand der Zwischenzellensubstanz hauptsächlich nur als das Resultat der krankhaften Wirkung der Zellen und Zellengewebe angesehen werden muss; dass zwischen den gesunden und krankhaften Thätigkeitsäusserungen keine absoluten, sondern nur quantitative Unterschiede existiren, indem eine jede krankhafte Thätigkeit der Zellen- und Nervenelemente auf eine nicht am rechten Orte oder zur rechten Zeit angebrachte, oder auf eine an Ueberreizung oder Mangel an Reiz leidende Thätigkeit der gesunden Zelle zurückgeführt werden kann. Die Erkenntniss dieser Wahrheit und die Ergründung des realen Causalzusammenhanges der krankhaften Erscheinungen wird denn auch auf socialem Gebiete die richtigen Mittel in die Hand geben und auf die richtigen Wege verweisen, auf welchen die Heilung der Mängel und Zerstörungselemente erfolgen kann. Die Aufgabe der Staatsfowistf wird es sein, die Errungenschaften der Socialwissenschaft auch für das practische Leben fruchtbringend zu machen, sowie es die Aufgabe der Medicin als Kunst ist, die Errungenschaft der Medicin als Wissenschaft anzuwenden und zu verwerthen. — Auf Grundlage der real-genetischen Socialethik und der psychophysischen Socialpathologie wird es sich nicht so viel um Hemmen, Auseinander-

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reissen, Zerstören, wie darum handeln, den ethischen Kräften die gehörige Richtung zu geben, sie zur gehörigen Zeit und am gehörigen Orte wirken zu lassen, die überreizten Nervenelemente zu beschwichtigen oder die am Mangel an Reiz leidenden gehörig anzuregen. — So verfährt jetzt der erfahrene Mediciner, so wird nächstens der erkenntnissvolle Staatsmann verfahren müssen. — Eine Strafe hat immer die Bedeutung von etwas Gewaltsamen, Anorganischen, in der Erziehung dagegen liegt immer eine allmälige, organische Wirkung. Die Strafe war das einzige Erziehungsmittel der Menschheit in ihrem Urzustände, und das erklärt die Grausamkeit der Strafen aller alten Gesetzgeber, eine Grausamkeit, vor der wir jetzt zurückschrecken. Auch gegenwärtig noch bildet das unaufhörliche Strafen das einzige Mittel roher und unentwickelter Pädagogen, die Kinder in Zucht zu erhalten. Sogar bei den höher entwickelten Culturvölkern ist die Anwendung der Strafe schon ihrer Natur nach noch immer mehr oder weniger auf allgemeine, für den speciellen Fall nicht zutreffende Lestimmungen und auf äussere, zufällige, den subjectiven Beweggründen und ethischen Motiven nicht entsprechende Merkmale gegründet. Die Bedeutung der Erziehung nicht nur der Kinder, sondern auch der bereits Erwachsenen, die sich als unmündig oder als mit einer krankhaften ethischen Bildung behaftet erweisen, wie z. B. der Verbrecher und der moralisch verkommenen Subjecte, erhält aber in der modernen Gesellschaft einen immer grösseren Umfang und umfassendere Anwendung. Und nach Maassgabe der geistigen und ethischen Entwickelung der Culturvölker wird das organische Element auch nach dieser Richtung hin immer mehr das anorganische zurückdrängen und besiegen. — Die Entwickelung der menschlichen Psyche ist gleich der der Physis, und noch mehr als diese, von Zufälligkeiten, von den Bedingungen desjenigen Mediums, in welchem die Entwickelung vor sich geht, und von den ererbten Naturanlagen abhängig. Sowie das Kind und der Erwachsene durch Zufall physische, so können sie auch durch Zufall moralische Krüppel werden. Oft muss eine edle Natur für einen einzigen Jugendfehler ihr ganzes Leben hindurch moralisch büssen. Eine jede Schuld wird durch zwei Factoren bedingt: durch die subjectiven Anlagen und Triebe des Menschen und durch äussere Anlässe oder, wie die Religion sie nennt, Versuchungen. Erstere sind meistentheils

421 angeerbt, letztere werden vorzugsweise durch ein zutälliges Zusammentreffen von socialen Lebensverhältnissen bedingt. Die Pflicht einer jeden Gesellschaft besteht darin, dass für ein jedes Glied derselben jene beiden Factoren so günstig wie möglich gestellt werden, damit die normale Entwickelung des Individuums nicht in falsche Bahnen gelenkt,''nicht gehemmt oder gar zerstört werde. Eine vollständige Gleichheit für alle Theile einer socialen Gesammtheit wird freilich auch in dieser Hinsicht wie in anderen Beziehungen wohl nie erreicht werden können, aber dennoch wird der Fortschritt und das ethische Ideal der menschlichen Gesellschaft immer darin bestehen, die zweckmässigste Organisation auch auf ethischem Gebiete zu erlangen durch gegenseitige und gleichmässige Potenzirung der beiden Factoren: der persönlichen Verantwortlichkeit und der Solidarität. Diese beiden Factoren, wie auch die Differenzirungen und Integrirungen auf den anderen Gebieten des socialen Lebens, müssen Hand in Hand gehen, damit eine harmonische Entwickelung und ein Fortschritt möglich sei. Also eine bessere Erziehung aller Elemente der Gesellschaft, damit die Strafen, welche für die roheren Theile der Gesellschaft noch nothwendig sind, immer unnützer werden. Ganz werden auch sie nicht wegbleiben können, weil eine jede, sogar auf hoher Stufe der Entwickelung stehende Gesellschaft immer rohe, ethisch unentwickelte oder kranke Elemente enthält. Der Fortschritt auf ethischem Gebiete kann nur darin bestehen, diese Elemente auf ein möglichstes Minimum zu reduciren. Die Aufgabe einer cultivirten Gesellschaft ist aber nach dieser Richtung hin um so schwieriger, da nach Maassgabe der Verbreitung der Cultur auch die Empfänglichkeit aller Schichten der Gesellschaft für krankhafte Einwirkungen und Gestaltungen in Zunahme begriffen ist: das sociale Nervensystem und seine einzelnen Nervenelemente werden nach allen Richtungen hin reizbarer und daher auch den schädlichen Einflüssen gegenüber empfänglicher. Die Thätigkeit und die Wechselwirkung der Individuen und der Gesammtheit ist eine mannigfaltigere, vielseitigere und höher potenzirte, die Berührungspunkte sind zahlreicher, die Strebungen und Hemmungen intensiver, daher aber auch zugleich eine Wirksamkeit am unrechten Ort und zur unrechten Zeit leichter möglich, als in einer Gesellschaft, welche auf einer niederen Entwickelungsstufe steht. Daher lehrt auch

422 die Geschichte, dass oft höhere Caltor mit Sittenverderbniss, socialer und politischer Rückbildung Hand in Hand gegangen ist, oder letztere nach sich gezogen hat. Die Socialwissenschafb in ihrer realen Bedeutung, und speciell die sociale Psych ophysik, kann in dieser Hinsicht für die Zukunft der menschlichen Gesellschaft dieselbe Bedeutung erlangen, welche die Pathologie und Hygienie für den physischen 'Organismus des Menschen bereits erlangt haben. — Die folgenden Betrachtungen dürften diese Hoffnung noch mehr bekräftigen. Nachdem Richter die Erweisungsvorgänge heteroplastischer Geschwülste als einen physiologischen Musterprocess für die Richtigkeit der principiellen Aufstellung Virchow's hervorgehoben hat, welche alle pathologischen Vorgänge nur für Wiederholungen an- sich dem Organismus völlig normaler, gesetzlicher Lebenserscheinungen an einem unrechten Ort oder zu einer unrechten Zeit hält, fährt er folgendermaassen fort:*) »Hier scheint eine solche specielle Beweisführung der Identität pathologischer und physiologischer Vorgänge aber auch noch den practischen Nutzen zu haben, dass sie die Möglichkeit der Heilung selbst dieser extremsten pathischen Erzeugnisse, woran die rohere anatomisch-pathologische Auffassung nicht nur, sondern auch die clinische Erfahrung zu verzweifeln pflegt, darthut. Es kann nicht oft und eindringlich genug hervorgehoben werden, dass gerade die wahre exacte Forschung und die richtige Induction aus den Resultaten derselben die Schatten wieder völlig zerstreuen, welche die oberflächlichen und oft falschen Ergebnisse roher und einseitiger anatomischer und clinischer Untersuchungen so deprimirend für den practischen Arzt über den Werth der Therapie verbreitet haben, und dass sie zugleich die feste Richtschnur und die sichere Kontrole für die Maassnahmen der Kunst sein werden, und nicht blos, wie jetzt noch die allgemeine Meinung ist, blos wissenschaftlichen Werth haben.« Diese Worte müsste auch der Staatsmann beherzigen und bei Erforschung und Heilung der socialen Krankheiten eingedenk sein, dass es sich immer nur darum handeln kann, an sich selbst normale Lebensprocesse, welche nur am unrechten Ort oder zur unrechten Zeit vor sich gehen, oder in Folge einer Ueberreizung *) C. A. Vf. Richter: Der Einfluss der Cellularpathologie auf die ärztliche Praxis, S. 188.

423 oder eines Mangels an Reiz hervorgerufen werden, in normale Processe umzusetzen. A.uch in Hinsicht auf die pathologischen Verbreitungsgebiete bietet die menschliche Gesellschaft zahlreiche Analogien mit den Einzelorganismen. Da nämlich der sociale Organismus au? einzelnen Nervenelementen besteht, die in steter gegenseitiger Wechselwirkung begriffen sind, so verbreitet sich auch die Ueberreizung oder der Mangel an Reiz, je nach der Energie des Reizes, nach der Empfänglichkeit und den angeerbten oder angeeigneten Anlagen der übrigen Nervenelemente, mit grösserer oder geringerer Macht, in umfangreicheren oder begrenzteren Innervationsgebieten. Daraus geht aber auch klar die Bedeutung der tugendhaften oder lasterhaften specifischen Energien oder Thätigkeitsäusserungen einzelner Nervenelemente oder -gewebe für das ganze sociale Nervensystem hervor. Durch directe oder indirecte Reflexe wirken die tugendhaften oder lasterhaften, latenten oder offenbaren, Dispositionen und Aeusserungen der Individuen, Stände, Corporationen etc. normal anregend oder krankhaft afficirend. Von dem mehr oder weniger gesunden Zustande der übrigen Theile oder des ganzen socialen Nervensystems hängt es nun ab, ob dergleichen anormale Ausschreitungen, sie mögen nun durch Mangel an Reiz oder Ueberreizung entstanden sein, unterdrückt, normal regulirt werden, oder ob diese Zustände stets im Wachsen begriffen, immer weiter um sich greifen und die Desorganisation und Degeneration zuerst einzelner Zellen, Zellengewebe, dann ganzer Organe und endlich des ganzen Organismus nach sich ziehen. Beobachten wir, was in der ökonomischen Sphäre einerseits als Mangel an Arbeitslust und -kraft, als Mangel an Unternehmungsgeist, Sparsamkeit etc., andererseits als Ueberproduction, Schwindel, Habsucht, etc. sich kund thut; in der rechtlichen Sphäre einerseits als Mangel an Rechtsgefühl, Rechtsüberschreitungen, andererseits als unvernünftiges Festhalten an dem todten Buchstaben; in der politischen Sphäre einerseits als Mangel an Patriotismus, Gleichgiltigkeit für das Wohl der Gesammtheit, andererseits als übertriebener Ehrgeiz, Reformsucht, Agitationen etc.; so gelangen wir zu der Ueberzeugung, dass alle diese anormalen Erscheinungen entweder durch Mangel an Reiz oder JJeberreieung entstehen, dass ihr pathologischer Charakter dadurch bedingt wird, dass die Bestrebungen und Thätigkeitsäusserungen nicht am rechten Ort oder zur rechten

424 Zeit stattfinden, und dass die grössere oder geringere, umfangreichere oder eingeschränktere Desorganisation oder Degeneration, welche für die eimeinen Nervenelemente, Gewebe, Organe oder für die Gesammtheit von diesen krankhaften Erscheinungen erfolgen, einerseits von der Energie dieser Erscheinungen selbst, andererseits von der Prädisposition und Empfänglichkeit für anormale Thätigkeiten der übrigen Theile und des ganzen Organismus abhängig sind. Der sociale Organismus ist im Vergleich zu den Einzelorganismen der Natur ein weit vielseitigerer und mannigfaltigerer, woher selbstverständlich auch die pathologischen Erscheinungen complicirter sind. Zugleich ist aber auch der sociale Organismus ein beweglicherer und so zu sagen geschmeidigerer; er besitzt nächst einer grösseren Mannigfaltigkeit der Entwickelung auch eine grössere Anpassungsfähigkeit, daher auch diejenige Eigenschaft, welche man früher die vis medica nannte, und die man heute als Reaction der gesunden, normal entwickelten, zweckmässig functionirenden und sich ernährenden Zellen, Gewebe und Organe gegen die krankhaften, anormalen, unzweckmässigen, nicht am rechten Ort und an der rechten Zeit thätigen Zellen, Gewebe und Organe auffasst, daher auch diese Eigenschaft im socialen Organismus eine sehr viel energischere und vielseitigere ist. Die Energie und Vielseitigkeit dieser Eigenschaft erklärt"? aber auch den hochwichtigen Umstand, woher die socialen Gemeinschaften nur ganz ausnahmsweise durch innere Krankheiten definitiv zersetzt würden, d. h. sterben, mit anderen Worten: woher die socialen Gesammtheiten eine so grosse Lebensfähigkeit besitzen. Die Geschichte lehrt uns in der That, dass die meisten Staaten durch Eroberung, die meisten Völkerschaften, Racen, Stämme durch gewaltsame Ausrottung von dem Erdboden verschwunden sind. Die meisten dieser Katastrophen sind aber vor sich gegangen als die Menschheit noch auf einer sehr niedrigen Stufe der Entwickelung stand. Geschieht es aber noch jetzt, so ist solches meistentheils der Fall, wenn hochcultivirte Gesammtheiten mit niederen Racen und Völkerschaften in Berührung kommen. Es giebt auch in der Natur zahlreiche auf den unteren Stufen der organischen Welt stehende Organismen, die so lange leben, als sie nicht von äusseren zerstörenden Wirkungen den Tod erhalten. Je höher aber eine sociale Gesammtheit entwickelt ist, desto empfänglicher ist sie, gerade in Folge ihrer grösseren und vielseitigeren Anpassungs-

425 iahigkeit, im Ganzen und in den einzelnen Theilen für Einflüsse directer und indirecter Reflexe anderer Gesammtheiten, desto leichter können sie im Sinne des Fort- oder Rückschritts, der normalen oder krankhaften Innervation, der Vervollkommnung oder Degeneration sich entwickeln oder rückbilden. — Wie wichtig die Berücksichtigung dieser Momente ist, brauchen wir dem intelligenten Leser nicht noch besonders anzudeuten. Die ganze Therapeutik und Diagnose der socialen krankhaften Erscheinungen beruht auf dieser Erkenntniss. Auch nach dieser Richtung hin werden wir das Nähere bei Gelegenheit der Besprechung der einzelnen Sphären der socialen Thätigkeit beleuchten. "Wie alle organischen Vorgänge, kann auch die Action und Reaction der Kräfte, deren Bewegung jeglicher organischer Entwickelung zu Grunde liegt, einen pathologischen Charakter annehmen. — So wie Alles in der Natur und speciell in der organischen Welt nach bestimmten, wenn auch nicht immer regelmässigen, auf einander folgenden Rhythmen sich bewegt und entwickelt (Bd. II S. 179 u. ff.), so geht auch der Nahrungsprocess nach bestimmten Grundsätzen vor sich. Paget behauptet, dass fast alle vegetativen Bewegungen, wie z. B. die rhythmische Action des Darmcanals, der Herz- und Pulsschlag, das Athmen etc. als Resultat eines rhythmischen Ernährungsprocesses angesehen werden können und ihrerseits den Ernährungsrhythmus bedingen. Daraus erklärt Maudsley*), woher gerade diese organischen Theile des Körpers niemals ermüden, indem zwischen zwei aufeinanderfolgenden Bewegungen immer ein nutritiver Ersatz erfolgt, und die Zeitdauer einer jeden Bewegung auoh das Maass für die Zeitdauer der Ernährung ist. Die Rückenmarkscentren und das Gehirn erhalten ihren Nahrungsersatz während des Schlafes, daher der Rhythmus zwischen Schlafen und Wachen. Der Ernährungsersatz für die vegetativen Organe ist ein kürzerer, daher auch die kürzeren Perioden der rhythmischen Bewegung. Aus den im zweiten Bande (S. 183 u. ff.) auseinandergesetzten Gründen ist die rhythmische Bewegung in der Wechselwirkung der socialen Kräfte überhaupt eine unregelmässigere — wovon die *) Maudsley: Die Physiologie und Pathologie der Seele, S. 73.

426 grösseren Unregelmässigkeiten nnd Schwankungen in allen Sphären der socialen Entwickelung herrühren. Trotz solcher Schwankungen macht-sich jedoch auch dort ein regelmässiger Rhythmus bemerkbar. So thut sich im ökonomischen Gebiete ein gewisser Rhythmus in der Action und Reaction zwischen Production und Consumtion kund, indem nach bestimmten Zeitabschnitten auf eine Ueberproduction, eine energischere Consumtion und umgekehrt folgen. Eine solche Krisis bot uns 1875 Deutschland dar. Wie einzelne Theile und das ganze Nervensystem des Einzelorganismus sowohl unter Blutmangel, als auch unter Blutüberfluss leiden können und oft die Symptome in beiden Fällen dieselben sind, so kann auch in verschiedenen Theilen und Schichten des socialen Organismus Ueberfluss oder Mangel an Nutz- und Werthgegenständen verschiedene oder dieselben krankhaften Erscheinungen zum Vorschein bringen. Die Geldkrisen oder sogenannte „Krache" sind nur äusserliche Ausprägungen von Nahrungsprocessen, welche in ihrer rhytmischen Bewegung einen krankhaften, convulsivischen Charakter angenommen haben. In solche convulsivische, anormale Bewegungen artet auch jegliche functionelle Thätigkeit der verschiedenen Organe im Einzelorganismus aus, sobald das Gleichgewicht und die Coordination der Kräfte gestört ist. Nur tritt hier wiederum der Umstand ein, dass im socialen Organismus das Bewusstsein und die menschliche Vernunft tiefer und umfassender in die organische Thätigkeit eingreifen, sie leiten und beherrschen. — „Sehr oft", sagt Maudsley*), „werden Kinder mit einer so bedeutenden Unbeständigkeit der nervösen Elemente geboren, dass auf ganz unbedeutende Reize hin die heftigsten Convulsionen erfolgen. Oder das Uebel ist weniger auffallend, und das Individuum besitzt die Bedingungen zu einem ruhigen, normalen Leben; doch fehlt ihm jene Reservkraft, die es nothwendig braucht bei ausserordentlichen Ereignissen und beim Eintritt ungünstiger Verhältnisse. Wenn dann ungewohnte Anforderungen an das schwache Nervensystem gemacht werden, so ist es denselben nicht gewachsen, sondern geht in einer rapiden Degeneration seinem Untergang entgegen." — Sollte man nicht glauben, dass es sich hier um eine Darstellung der Handels- und Geldkrisen handelt, so klar liegt die *) Ebenda». S. 78.

427 Parallele zwischen diesen und den pathologischen Erscheinungen im Einzelorganismus auf der Hand. Es handelt sich hier nur darum, diese Parallele auch als reale Analogie aufzufassen und zu verwerthen. Durch die Embryologie ist bereits mit Sicherheit constatirt worden, dass die verschiedenen, das Ei bildenden Zellen und Gewebe in ihrer Entwickelung nicht gleichen Schritt halten und namentlich sollen diejenigen Bildungszellen, welche den höheren Geweben und Organen angehören oder für dieselben bestimmt sind, schneller die verschiedenen Stadien ihrer Entwickelung durchlaufen, als diejenigen, welche als Anlage für die niederen Gewebe nnd Organe dienen. „In ähnlicher Weise", sagt Virchow *), „sieht man häufig auch bei pathologischen Bildungen Verschiedenheiten in Beziehung auf die Zeitdauer", und fügt die treffliche Bemerkung hinzu, welche zu einem Gesetz erhoben werden könnte: „Jedesmal, wenn die Entwickelung der Elemente schnell erfolgt, muss man eine mehr oder weniger heterologe Entioickelung fürchten. Eine homologe, direct-hyperplastische Bildung setzt immer eine gewisse Langsamkeit der Vorgänge voraus; in der Regel bleiben die Elemente dabei grösser, und die Theilungen schreiten nicht bis zur Entstehung ganz Meiner Formen vor." — Wäre dieses auch für die sociale Entwickelung gültige und wichtige Gesetz nicht von den Ultraliberalen, besonders aber von den heissspornigen Fortschrittsmännern zu beherzigen? — Auch das Gesetz von der ungleichzeitigen Entwickelung der verschiedenen Zellen und Zellengewebe findet volle Anwendung auf den socialen Organismus; auch hier eilen nicht selten die höheren Schichten zu sehr in ihrer Entwickelung voran, so dass zwischen ihnen und der Masse des Volkes, welches die niederen Gewebe darstellt, der organische Zusammenhang nicht selten geschwächt und aufgehoben wird. Die Folge davon ist, dass die höheren oder auch mittleren Stände den untern gegenüber den Charakter von Parasiten annehmen, welche nicht mehr ihrerseits dem übrigen Organismus Nährstoffe zuführen oder dieselben verarbeiten, sondern sich auf Kosten der Gesammtheit oder eines Theils derselben ernähren. Das obenangeführte Gesetz wäre um so mehr zu beherzigen, als es sich bei allen diesen Vorgängen um Processe handelt, die *) Virchow: Celhilarpathologie, S. 493.

428 den normalen Erscheinungen des Wachßthums analog sind. „Wie ein Knorpel", sagt Virchow*), „wenn er nicht verkalkt, z. B. in der Rachitis, endlich so beweglich wird, dass er seine Function als Stützgebilde nicht mehr erfüllen kann, so schwindet überall unter der Entwickelung der Granulation und Eiterung allmälig die Festigkeit des Gewebes. Damit verbindet sich sehr gewöhnlich eine Lockerung des Zusammenhanges, eine Erweichung, endlich eine Schmelzung des Gewebes. So verschieden also scheinbar diese Vorgänge der Destruction von den Vorgängen des Wachsthums sind, so fallen sie doch an einem gewissen Punkte vollständig damit zusammen. Es giebt ein Stadium, too man nicht mit Sicherheit entscheiden kann, ob es sich an einem Theile um einfache Vorgänge des Wachsthums oder um die Entwickelung einer heteroplastischen zerstörenden Form handelt Die ersten Veränderungen , welche wir bei der Eiterung durch Proliferation constatiren, finden sich genau ebenso bei jeder Art von Heteroplasmen bis zu den äussersten malignen Formen hin. Die erste Entwickelung des Sarkoms, des Krebses und Cancroids zeigt dieselben Stadien; man muss nur weit genug in der Entwickelungsgeschichte zurückgehen, dann stösst man auch zuletzt immer auf ein Stadium, wo man in den tieferen und jüngeren Schichten indifferente Zellen antrifft, welche erst durch spätere Differenzirung je nach den Besonderheiten der Reizung den einen oder den anderen Typus annehmen. Man kann daher auch im Grossen die Geschichte der meisten Neubildungen, die ihrem Haupttheile nach aus Zellen bestehen, gleichviel, welches Muttergewebe sie haben, unter einen ganz gleichen Gesichtspunkt bringen." Diese Aehnlichkeit der anormalen, der heteroplastischen Entwickelungsstadien mit den normalen und homoplastischen ist im socialen Organismus in den ersten Phasen noch eine bedeutend grössere; daher denn auch eine grössere Vorsicht zur Vermeidung krankhafter Abweichungen und Erscheinungen als dringend geboten erscheint. Ja man kann sagen, dass die heteroplastisch sich entwickelnden Theile anfänglich meistentheils, gerade weil sie sich im Stadium des Wachsthums und des Ablösens von der Gesammtheit befinden, ein Gefühl des Wohlbehagens spüren. Auf dieses Gefühl bauen gerade alle diejenigen, welche etwas von der *) Ebendas. S. 538.

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Gesammsheit loslösen wollen, und finden auch immer unter den heteroplastisch treibenden Zellen und Geweben Anklang und Unterstützung. Wird dieser Trieb überwiegend, so erfolgt eine Ablösung von der Gesammtheit oder eine heteroplastische, parasitische Entwickelung8form, und geschieht solches in allen Theilen und nach allen Richtungen, so erfolgt der Zerfall oder der Tod des Organismus. Daher muss man im Gebiete der Socialwissenschaft nur mit äusserster Vorsicht Gefühle als Richtschnur und Norm annehmen, denn das Gefühl, das Streben und die Tendenz des Einzelnen oder des Theiles entspricht nicht immer den Bedürfnissen des Ganzen. Virchow unterscheidet ausserdem in Hinsicht auf die pathologische Thätigkeit der Zellen passive und active Vorgänge. Passive Störungen nennt Virchow diejenigen Veränderungen der Elemente, welche unter dem Einflüsse ungünstiger äusserer Bedingungen entweder bloss irgend welche Einbusse an ihrer Wirkungsfähigkeit erleiden oder vollständig zu Grunde gehen. In beiden Fällen geht eine Degeneration vor sich; nur führt sie im ersten Falle zu der Nekrobiose, im letzten kann dagegen bei eintretenden günstigen Bedingungen eine Regeneration oder eine nutritive Restitution stattfinden.*) Zu den nekrobiotischen Erscheinungen gehören unter andern alle pathologischen Vorgänge, welche als Erweichungen charakterisirt werden, wie z. B. die Fettsucht. Im Gegensatz zu diesen wird eine andere Gruppe von einfach degenerativen Formen als Verhärtungen bezeichnet, von denen die speckige oder wächserne Entartung, desgleichen die Verkalkung und Verknöcherung besondere Beachtung verdienten. Die activen pathologischen Erscheinungen können hauptsächlich in dem Begriffe der Entzündung zusammengefasst werden. Den Begriff der Entzündung führt Virchow seinerseits im Einvernehmen mit Broussais und Andral auf den Begriff des Reizes zurück. Dr. Burdon Sanderson hat auch in Bezug auf die Bewegung der Blätter die Entdeckung gemacht, dass in der Blattscheibe und dem Blattstiel ein normaler elektrischer Strom besteht und dass, wenn die Blätter gereizt werden, der Strom in derselben Weise gestört wird, wie es während der Contraction des Muskels eines Thieres geschieht.**) Die Reizung kann nach *) B. Virchow: Cellularpathologie, S. 401. **) Ch. Darwin: Insektenfressende Pflanzen, S. 288 (Uebers. v. Carus).

430 Virchow entweder eine functionelle, eine nutritive oder eine formative sein. „Will man also", sagt Virchow*), von einem Entzündungsreize sprechen, so kann man sich darunter fuglich nichts Anderes denken, als dass durch irgend eine für den Theil, welcher in Heizung geräth, äussere Veranlassung, entweder direct von aussen, oder vom Blute, oder möglicherweise von einem Nerven her, die Mischung oder Zusammensetzung des Theiles Aenderungen erleidet, welche zugleich seine Beziehungen zur Nachbarschaft ändern und ihn in die Lage setzen, aus dieser Nachbarschaft, sei es ein Blutgefäss oder ein anderer Körpertheil, eine grössere Quantität von Stoffen an sich zu ziehen, aufzusaugen und je nach Umständen umzusetzen. Jede Form von Entzündung, welche wir kennen, findet darin ihre natürliche Erklärung. Jede kommt darauf hinaus, dass sie als Entzündung beginnt von dem Augenblicke an, wo diese vermehrte Aufnahme von Stoffen in das Gewebe erfolgt und die weitere Umsetzung dieser Stoffe eingeleitet wird." — Virchow hebt alsdann die Notwendigkeit hervor, die rein parenchymatöse Entzündung, wo der Process im Innern des Gewebes und zwar mit Veränderung der Gewebselemente selbst verläuft, ohne dass eine frei hervortretende Ausschwitzung wahrzunehmen ist, von der secretorischen oder exsudativen Entzündung, welche mehr den oberflächlichen Organen angehört und bei welcher vom Blute aus ein vermehrtes Austreten von wässrigen (serösen) Flüssigkeiten erfolgt, zu unterscheiden. „Jede parenchymatöse Entzündung hat von vornherein eine Neigung, den histologischen und functionellen Habitus eines Organes zu verändern. Jede Exsudation bringt dem Gewebe eine gewisse Befreiung." **) Daher könnte man nach Virchow auch die parenchymatöse Entzündung als entzündliche Degeneration und die exsudative als entzündliche Secretion bezeichnen. Beide entstehen aus Ueberreizung, nur mit dem Unterschiede, dass in dem ersten Falle eine functionelle oder histologische Entartung, im letzten eine krankhafte Ausscheidung erfolgt. Beide Fälle können auch zu gleicher Zeit eintreten und eine combinirte Störung zur Folge haben. — *) R. Virchow: Cellularpathologie, S. 475. **) Ebendas. S. 480.

431 Den eben geschilderten activen und passiven pathologischen Vorgängen in den Einzelorganismen entsprechen analoge Vorgänge im Schoosse des socialen Organismus und wir glauben, dass es dem intelligenten Leser nicht allzu schwer fällen wird, diese Analogien herauszufinden und weiter durchzuführen. Noch viele andere pathologische Zustände und Processe bieten, wenn man sie auf die Thätigkeit der einzelnen Zellen und Gewebe zurückführt, unbestreitbare Analogien mit den social-pathologischen Gestaltungen und Wechselwirkungen. Suchen wir einige dieser Zustände hier hervorzuheben. Aplasie bedeutet die ursprüngliche Mangelhaftigkeit in der Entwickelung und Gestaltung einzelner organischer Theile. Nekrobiose — ein allmäliges Absterben, welches mit Zerstörung und Detritusbildung begleitet wird, einzelner Zellen, Gewebe und Organe. Atrophie, als Gegensatz zu der Hypertrophie, — eine Rückbildung bereits entwickelter organischer Theile in Folge mangelhafter Erhaltungs- oder Ernährungsfähigkeit, welche die Schwindsucht in der weiteren Bedeutung der Wortes zur Folge haben. Atonie, als Gegensatz zum Tonus und zum Turgor Vitalis, — Erschlaffung der Leistungsfähigkeit einer Zelle, eines Gewebes oder Organs, welche die Kachexie zur Folge haben kann. — Da alle diese Zustände auf die Lebensthätigkeit der Einzelzelle und der einzelnen Gewebe zurückgeführt werden müssen, was bereits auch von Virchow in seiner Cellularpathologie geschehen ist, so kann es nicht schwer fallen, sobald man die menschliche Gesellschaft als realen Organismus auffasst, auch diese krankhaften Thätigkeitsäusserungen der einzelnen Glieder der Gesellschaft und der socialen Gruppen unter die eine oder die andere Hauptgruppe der oben angeführten pathologischen Erscheinungen zu bringen. Sowohl im Einzelorganismus als auch in der menschlichen Gesellschaft spielt dabei die Innervation auch in pathologischer Hinsicht eine wichtige Rolle. Das Gesetz Valentin's, dass der Nachlass der Innervation einen Nachlass der Widerstandsfähigheit der Theile und eine Disposition derselben zu Erkrankungen nach sich zieht, findet auch für den socialen Organismus volle Anwendung. Bei der Steigerung, so wie auch bei der Abnahme der Innervation können Entzündung der betreffenden Organe oder Gewebe stattfinden. Virchow sucht jedoch in seiner Cellularpathologie die Innervation auch in Hinsicht auf die pathologischen Erschei-

432 nungen auf ihr richtiges Maass zurückzufuhren, indem er behauptet, dass alle krankhaften Erscheinungen auch in denjenigen Theilen vor sich gehen können, die durch gar keine Nerven durchflochten werden- Die Entzündung z. B. ist nach ihm gewöhnlich eine sehr complicirte pathologische Erscheinung, da sie von allen möglichen Formen der Reizung begleitet werden kann. »Wir sehen sehr häufige, sagt er,*) >dass, wenn das Organ selbst aus verschiedenen Theilen zusammengesetzt ist, der eine Theil des Gewebes sich functionell oder nutritiv, der andere dagegen sich formativ verändert. Wenn man einen Muskel ins Auge fasst, so wird ein chemischer oder traumatischer Reiz an den Primitivbündeln desselben vielleicht in dem ersten Moment eine funetionelle Reizung setzen: der Muskel zieht sich zusammen; dann aber stellen sich nutritive Störungen (trübe Schwellung) oder formative Veränderungen (Kernvermehrung) ein.« Nun entsprechen aber die Begriffe: Function, Nutrition und Formation vom physiologischen Standpunkte der Einzelorganismen den Begriffen von Production, Consumtion und Gestaltung in der ökonomischen Sphäre des socialen Organismus. Führt man diese Analogie bis in die einzelnen krankhaften Erscheinungen durch und reducirt man letztere auf ihre einfachsten Elemente: die Zellenthätigkeiten, so gelangt man wiederum zu der Ueberzeugung, dass auch auf pathologischem Gebiete eine vollständig reale Analogie zwischen dem Einzelorganismus und der menschlichen Gesellschaft existirt. Das sociale Nervensystem ist, gleich dem Nervensystem eines jeden Einzelorganismus, in steter Action und Reaction begriffen. Der Mechanismus der Action und Reaction ist in beiden der nämliche. „Betrachten wir", sagt Maudsley, **) den nervösen Mechanismus , der die Action und Reaction zwischen Individuen und Aussenwelt vermittelt, so fällt uns die unverhältnissmässig grosse Leistung von Kraft auf, welche oft auf einen einfachen Reiz von aussen von Seite des Organismus erfolgt. Wie können wir diese scheinbare Erzeugung von Kraft mit dem Gesetze der Erhaltung der Kraft in Einklang bringen? Vor Allem ist nun eben eine Ganglienzelle kein einfacher indifferenter Körper, der einen von *) E. Virchow: Cellularpathologie, S. 898. **) H. Maudsley: Die Physiologie und Pathologie der Seele, S. 74.

433 aussen kommenden Bewegungsanstoss einfach reflectirt oder weiterleitet, im Gegentheil, sie ist ein complicirt gebautes, hoch organisirtes Centrum, in welchem auf einen entsprechenden Reiz hin Kraft ausgelöst und entwickelt wird; und die im Rückenmark entstandene Perception entspricht nicht dem auf die Peripherieenden einwirkenden Reiz, sondern dem in den einzelnen centralen Ganglien hervorgebrachten Effect. Ist es nicht vollständig klar, wie diese Kraft oder Leistung aus der Zelle entwickelt, oder, wenn man sagen darf, entbunden wird? Durch eine Störung des Gleichgewichtes eines höchst vitalen Gewebes, durch die chemische Umwandlung der Materie in niederere Stufen, durch eine Art von Degeneration, eine Auflösung ihrer Kräfte in niederere, dem Volumen nach aber grössere Componenten. Wir haben es daher nicht mit einer Neuerzeugung von Kraft zu thun, sondern mit einer Umgestaltung von einer an das Nervenelement gebundenen Kraft höherer Qualität in lebendige Kraft von niederer Qualität aber grösserer Ausdehnung." Dasselbe geht bei jeder Rückbildung auch im socialen Organismus vor sich. Auch hier besteht die Rückbildung in der Auslösung der Kraft höherer Nervenelemente und Umwandlung derselben in niederere, oder in einer derartigen Störung des Gleichgewichtes der Nervenelemente, dass eine gesunde Fortentwickelung gehemmt oder gestört wird. Wenn Opferwilligkeit, gesunder politischer Sinn, richtige moralische Begriffe, wissenschaftliches Streben, eine auf Sparsamkeit und solide Arbeit gegründete ökonomische Entwickelung in revolutionäre Tendenzen, in Sittenlosigkeit, Sophisterei und wirthschaftlichen Humbug ausarten, so gehen derartige Umwandlungen in den einzelnen socialen Nervenelementen und in der Gesammtheit vom Höheren zum Niederen in der ökonomischen, rechtlichen oder politischen Sphäre vor sich. Dabei kann das Volumen und die Zahl der Nervenelemente und der Zwischenzellensubstanz möglicherweise auch an Ausdehnung gewinnen, an Qualität müssen sie auf jeden Fall verlieren und können nur durch neue Kraftanhäufung in ihrer Energie hergestellt werden. So wie die Entwickelung des Einzelorganismus und der menschlichen Gesellschaft vorzugsweise schichtweise vor sich geht (Bd. II S. 319 und ff.), so geschieht dasselbe in Hinsicht auf die Rückbildung. Die socialen Krankheiten haften an besonderen Sphären der Gesellschaft, an den Ständen, Berufsklassen, KorGedanken über die Soeialwissensehaft der Zukunft.

III.

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434 porationen etc., gleichwie die körperlichen Gebrechen an dem Knochen- und Muskelsystem, an der Schleimhaut, den Fettbildungen , dem Bindegewebe etc. hervortreten. Die Ursache dieser Erscheinung liegt "darin, dass zwischen den Theilen und Elementen einer und derselben organischen Schicht mehr Verwandtschaft und Solidarität existirt, als zwischen den Elementen verschiedener Schichten, abgesehen davon, ob sie räumlich einander auch näher stehen mögen. Daher können z. B. in einer und derselben Stadt die unteren Schichten der Bevölkerung demoralisirt sein, die mittleren dagegen sich normal entwickeln. Das Umgekehrte kann zugleich auf dem flachen Lande stattfinden. In dieser socialen Gemeinschaft ist der Clerus der Sittenverderbniss verfallen, die Armee dagegen gesund. In England zeigt sich der höhere Adel seiner Bestimmung vollständig würdig, in Spanien dagegen nicht u. s. w. Die ganze Geschichte der Menschheit hat in einem schichtenweise sich ausbildenden üebereinander bestanden und darin wird auch der Entwickelungsgang der Menschheit in der Zukunft bestehen. Ist aber dieses wahr, so muss auch der Eückbildungsprocess schichtenweise vor sich gegangen sein und in der Zukunft vor sich gehen, wobei nach Massgabe der Entwicklungsstufe auch die Solidarität der socialen Schichten in ihren Theüen und in ihren Beziehungen zum Ganzen immer mehr durch Zweckmässigkeit, Geistigkeit und Freiheit bedingt wird. — Je höher die Entwicklungsstufe, desto leichter die Rückbildung. Dieser Satz gilt ganz besonders für das Nervensystem, als das höchstentwickelte Gewebe im thierischen und menschlichen Organismus. — »Langsam, und gleichsam mit Mühe«, sagt Maudsley,*) »gelangt das organische Element durch allmälige, gradweise Höhergestaltung zu der höchsten Stufe der nervösen Gewebe empor, schnell und leicht giebt das nervöse Element Stoff und Kraft an die Natur zurück, indem es sich bei der Entfaltung seiner Functionen mit rapider Schnelligkeit in seine Factoren zerlegt.« Noch mehr ist dieses der Fall mit dem socialen Nervensystem , da dieses noch eine sehr viel höhere Stufe der Anhäufung von Kraftenergie darstellt, als das Nervensystem der Einzelorganismen. Und einer derartigen rapiden Rückbildung kann *) H. Maudsley: Die Physiologie und Pathologie der Seele, S. 74.

435 das sociale Nervensystem sowohl in der ökonomischen, rechtlichen und politischen, als auch in allen zugleich unterliegen. Suchen wir daher näher die verschiedenen Formbildungea der Nervenkrankheiten zu betrachten. • So wie in Hinsicht auf die pathologischen Formbiidungen und Zustände überhaupt, ist auch in Hinsicht auf die verschiedenen Gestaltungen, speciell der Nervenkrankheiten, eine reale Analogie zwischen den Einzelorganismen und der menschlichen Gesellschaft durchzuführen. — Maudsley unterscheidet folgende Formen des Irrseins: Irrsein im Vorstellen, welches er in allgemeines und partielles, in primäre und secundäre Dementia, Paralyse und Idiotismus «intheilt, und affectives oder moralisches Irrsein. Letzteres theilt er noch in zwei Unterabtheilungen, nämlich in instinctives Irrsein und eigentlich moralisches Irrsein.*) Aber es giebt nach Maudsley noch gewisse leichte Formen von Irrsein oder gewisse Excentricitäten im Denken, Fühlen und Handeln, welche, wenn sie auch nicht als positive Geisteskrankheiten anerkannt werden können, dennoch eine mangelhafte und unbeständige Constitution der Nervenelemente und eine Disposition derselben zu sonderbaren und triebartigen Capricen an den Tag legen. — Unter diesen krankhaften Zuständen unterscheidet Maudsley: das irre Temperament von dem eigentlichen affectiven Irrsein und dem Irrsein im Vorstellen. Alle diese ausgesprochenen oder latenten Formen des Irrseins können auf eine Ueberreizung, einen Mangel an Beiz oder ein Functioniren der Nervenelemente, das nicht zur rechten Zeit und am rechten Ort vor sich geht, zurückgeführt werden. Und in dieser Hinsicht herrscht auch zwischen dem individuellen und dem socialen Irrsein eine vollständige Analogie, indem die krankhafte psychophysische Thätigkeit auch des socialen Nervensystems darin besteht, dass die einzelnen Nervenelemente überreizt sind oder Mangel an Reiz an den Tag legen, oder dass ihre Thätigkeit nicht zur rechten Zeit und am rechten Ort vor sich geht. Maudsley bezeichnet die Gesammtheit der Thätigkeitsäusserungen und Spannungen der motorischen Nerven als Motarium commune, welches in enger Beziehung zu dem Vorstellen * H. Maudsley: Die Physiologie und Pathologie der Seele, S. 308 u. ff.

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436 in der reactiven Sphäre des menschlichen Lebens steht; die Gesammtheit der Thätigkeitsäusserungen und Spannungen der sensorischen Nerven dagegen als sensorium commune, welches zu der receptiven Sphäre gehört.*) Beide Sensorien können krankhaft afficirt werden. — Wie nun oben angedeutet ist, schlägt Maudsley, statt der jetzt üblichen unbestimmten und verwickelten Eintheilung des Irrseins in zahlreiche Kategorien, die Eintheilung der Geisteskrankheiten in zwei grosse Klassen vor, nämlich in solche mit und ohne positive Wahnvorstellungen, mit andern Worten in affectives und in Irrsinn im Vorstellen, und räth diese Hauptklassen alsdann in Unterarten zu theilen.**) — Der Vorstellungswahn besteht nach Maudsley darin, dass, die Constitution der Nervenelemente im Gehirne des Kranken eine solche ist, dass ein absurder Wahn in ihm bestehen kann, ohne durch die im Gehirn aufbewahrten Resultate der vergangenen psychischen Thätigkeit corrigirt zu werden, mögen es nun solche sein, an die der Kranke sich mit Bewusstsein erinnern kann, oder jene ständig vorhandenen Fähigkeiten, die sich in einer unbewussten assimilativen Thätigkeit äussern. >Die wichtige Thatsache und das aus dem einfachen Grunde, weil wir selbst in jedem Moment etwas Anderes sind, weil wir uns stets in fort- oder rückschreitender Entwickelung bewegen. Durch jede zufällige äusserliche Beeinflussung kann die Spannung unseres Nervensystems, durch welche die Ideen des Schönen, Guten und Wahren, der Zweckmässigkeit, Freiheit, Geistigkeit und ihrer Gegensätze auf dem Wege der Integrirung zum Vorschein in unserem Inneren treten, geschwächt oder verstärkt, verfinstert oder beleuchtet, verdrängt, verschoben oder theilweise auch aufgehoben werden. Freude, Schmerz, Abspannung, Aufregung wechseln gegenseitig in uns ab; Schlaf und Wachen, diese periodische Ebbe und Fluth des Lebens unseres Nervensystems, wirken periodisch hemmend oder anregend auf unser Selbstbewusstsein. Daher ist ja auch die Lehre Buckles, als ^teilten die ethischen Begriffe etwas Unbewegliches dar und als entwickele sich die Menschheit nur physisch und intellectuell, grundfalsch. Das menschliche und das sociale Nervensystem sind wie im intellectuellen, so auch im ethischen Gebiete in steter fort- oder rückschreitender Bewegung, in steter sich differenzirender und integrirender Entwickelung begriffen. Es geht ebenso mit den Verhältnissen und Beziehungen vor sich, wie auch mit den Begriffen über dieselben. Mit jedem Moment unserer Existenz haben wir andere Begriffe über Kausalität und Zweckmässigkeit, Nothwendigkeit und Freiheit, Materialität und Geistigkeit, weil diese Verhältnisse sich mit jedem Moment verändern und wir selbst in upserer physischen und geistigen Entwickelung in andere Beziehungen zu der Aussenwelt und zu unserem- eigenen Ich treten. Solches lehrt uns die tägliche Erfahrung, das lehrt uns die Wissenschaft,' das legt die ganze Entwickelungsgeschichte der Menschheit und des menschlichen Geistes an den Tag. Das Wahre, Schöne, Gute existirt auf Erden nur, so lange es Menschen giebt, welche sich dessen bewusst sind, d. h. deren höhere Nervenorgane im Stande sind, diese Begriffe aufzufassen und in sich auszubilden. Im Keime sind sie bereits in der anorganischen Natur vorhanden, aus welcher die organische Natur und der Mensch durch allmälige Potenzirung hervorgegangen sind. Daher sind diese Begriffe vergänglich, insofern Alles in der Natur in Folge eines immerwährenden Umsatzes von Kräften vergänglich

478 ist, und zugleich ewig, weil keine Kraft in der Natur überhaupt verloren gehen kann. Diese Begriffe sind nothwendige Erscheinungen, weil bei höherer Potenzirung der Naturkräfte es nothwendig zu bewussten und selbstbewussten, das Wahre, Gute und Schöne erkennenden Wesen kommen musste, weil diese Begriffe nothwendige Integrirungs - und Differenzirungsprocesse einer höheren Entwickelung involviren, weil höhere Selbsttätigkeit und Selbstbewusstsein nothwendig zum Wahren, Guten und Schönen streben müssen. Indem nun die Philosophie sich auf derartige vermeintlich absolut feste Punkte, wie z. B. die Materie, den Geist, das Ich, das Gute, Schöne, Wahre etc., oder vermeintlich feste Verhältnisse und Beziehungen, wie Kausalität, Zweckmässigkeit, N o t wendigkeit, Freiheit etc. stützte, musste sie alles Andere in und ausser dem Menschen falsch, schief, einseitig auffassen und beurtheilen. Das Negiren der realen Welt, der Materie oder des Geistes, der Kausalität oder Zweckmässigkeit, der Notbwendigkeit oder Freiheit, Kant's Ding an sich, Schopenhauer's Welt als Wille und Vorstellung, das Unbewusste Hartmann's, Alles das sind Ausgeburten von Anschauungen, welche unbewegliche Ausgangspunkte voraussetzen. Auch im ethischen Gebiete stellt Kant's »Kategorisches Soll« etwas Todtes dar. Nur das Streben nach dem Guten ist das Leben. Im Grunde ist alles unserer Erkenntniss Zugängliche zu gleicher Zeit physisch und metaphysisch, begreiflich und unfasslich, ideal und materiell, Alles steht in einem nothwendigen und freien, in einem Kausal- und Zweckmässigkeitsverhältniss, je nach dem Standpunkte, auf welchen man sich stellt. Das Nach-, Neben- und Uebereinander kann nur das Verhältniss der Bewegung erklären, das Wesen der Bewegung, angefangen vom mechanischen Stoss bis zum Gefühl und dem menschlichen Bewusstsein, ist uns gleich unfasslich auf allen Stufen der Potenzirung. Irgend eine Potenzirung als irgend etwas Erklärlicheres oder Unerklärlicheres den anderen gegenüber zu stellen, involvirt immer eine Einseitigkeit. Dass nur durch Bewegungsverhältnisse auch die höchsten Kraftpotenzirungen erklärt werden können, beweist auch das Streben aller Völker, die Regungen des Geistes und alle socialen Erscheinungen durch Hinweise auf Bewegungselemente in der Sprache zu versinnbildlichen. Geistiges Streben, sociale Entmckelung, Betcegung der Gemüther und tausend andere Ausdrücke weisen darauf hin.

479 Die Wissenschaft muss diese unmittelbare und richtige Erkenntniss des Volkes nur systematischer, tiefer und mannigfaltiger beleuchten und begründen. Das ist der feste Boden, auf welchem einzig und allein die Psychologie, die Logik, die Ethik, die Religion und die Socialwissenschaft der Zukunft begründet werden können. — Die logischen, ethischen, religiösen, socialen Gesetze sind Bewegungs- und EntwickelungBgesetze gleich denen der anorganischen und organischen Natur. Ausserhalb dieser Gesetze gibt es keine anderen, und wenn solche aufgestellt werden und worden sind, so Bind es und waren es keine Gesetze, sondern Phantasiebilder. Nachdem wir somit die allgemeinen Begriffe über Zeit, Baum und Erscheinung, Kausalität, Nothwendigkeit und Materialität mit ihren Gegensätzen: Zweckmässigkeit, Freiheit und Geistigkeit, auf das Nach-, Neben- und Uebereinander der Bewegung zurückgeführt haben, wenden wir uns jetzt speciell zu der organischen Welt, um zu sehen, inwiefern die verschiedenen Seiten der organischen Entwickelung gleichfalls durch die Uebereinstimmung des Nach-, Neben- und Uebereinander erklärt werden können. — Der physiologische Process der Einzelorganismen theilt sich in zwei Hauptthätigkeitsäusserongen', in den nutritiven und den functionellen Process. Der nutritive entspricht vollständig real der Consumtion der Werth- und Nutzgegenstände im socialen Organismus und der functionelle Process der Production derselben. Production und Consumtion, Function und Nutrition bestehen aber in einer Reihenfolge von Stoff- und Kraftumsätzen, welche die Entwickelung und Erhaltung des Organismus bezwecken. Sie stellen daher vorzugsweise ein Nacheinander der Bewegung dar. Das Resultat des Nebeneinander der Bewegung ist dagegen die Ausbildung des Organismus in formeller Hinsicht, d. h. die morphologische und rechtliche Entwickelung. Eine jede Form setzt ein Nebeneinander voraus, weil sie sich vorzugsweise im Raum darstellt, gleichwie eine jede physiologische und ökonomische Kraftäusserung sich vorzugsweise in der Zeit, also im Nacheinander geltend macht. — Endlich ist die politische Sphäre, welche der einheitlichen des Einzelorganismus entspricht, vorzugsweise auf dem Ueberein-

_ 480 ander der Bewegung, dem Unterordnen des Niederen unter das Höhere begründet. Wie überhaupt in der Natur und in unserem Geiste, ist das Nach-, Neben- und Uebereinander auch auf dem organischen und socialen Gebiete unauflöslich miteinander verknüpft. Sowie Inhalt, Form und Einheit sich in jedem Molekül und im ganzen Weltall als innig vereinte Ausprägungen der Substanz und Bewegung darthun, so legt auch nicht nur ein jeder Organismus als Ganzes, sondern auch ein jeder Theil desselben und eine jede Zelle physiologische, morphologische und einheitliche Kräfte an den Tag. Desgleichen prägt nicht nur die ganze menschliche Gesellschaft eine ökonomische, rechtliche und politische Seite aus, sondern auch ein jeder Staat, eine jede Korporation, eine jede Familie, ein jedes Individuum. Und diese Seiten sind auch untereinander so unzertrennlich verknüpft, wie die Begriffe: Zeit, Raum und Erscheinung. Wie eine jede Erscheinung uns nur in Zeit und Raum denkbar ist, so ist auch ein jeder Organismus, ein jedes Organ, eine jede Zelle im Einzelorganismus, und ein jeder Staat, eine jede Korporation, eine jede Familie, ein jedes Individuum in der menschlichen Gesellschaft nur als zu gleicher Zeit physiologisch und ökonomisch wirkend, morphologisch und rechtlich abgegrenzt, einheitlich, als Ganzes abgeschlossen, denkbar. Diese verschiedenen Sphären sind also nicht anatomisch von einander abzugrenzen, gleichwie es auch nicht mit Zeit, Raum und Erscheinung geschehen kann. Sie treten Alle zugleich hervor und stellen nur verschiedene Seiten einer und derselben Erscheinung dar. Indem man nun die physiologische Sphäre der Einzelorganismen, welche der mechanisch-chemischen Wechselwirkung in der anorganischen Natur und der ökonomischen Sphäre des socialen Organismus entspricht, als das sociale Nacheinander, als die in der Zeitfolge vor sich gehende sociale Kraftentwickelung anerkennt; indem man die morphologische Sphäre der Einzelorganismen, welche der formativen Abgrenzung der Kräfte in der organischen Natur und der rechtlichen Sphäre des socialen Organismus entspricht, als das sociale Nebeneinander, als die im Raum vor sich gehende sociale Kraftentwickelung anerkennt; endlich indem man die tektologische Sphäre der Einzelorganismen, welche der Einheitlichkeit der anorganischen Körper und der politischen Sphäre der socialen Gesammtheiten entspricht, als das sociale Ueber-

481 einander, als die zugleich in Zeit und Raum hervortretende sociale Erscheinung anerkennt, muss man — wir wiederholen es, — immer auch den Zusammenhang aller dieser Seiten der Erscheinungswelt im Auge haben. Die eine dieser Seiten ist ohne die beiden anderen undenkbar: Zeit nicht ohne Raum, eine jede Erscheinung nur in Zeit und Raum, die mechanisch - chemische und physiologische Kundgebung der Kräfte nicht ohne formative und morphologische Ausprägung und beide nicht ohne irgend welche Einheitlichkeit im Wirken und in der Gestaltung. Ebenso ist es auch nicht möglich, die ökonomische Sphäre des socialen Organismus in der Wirklichkeit von der rechtlichen und politischen, und letztere von der ersteren abzusondern. Alle drei sind einzeln undenkbar und unmöglich, wie überhaupt auch das Nacheinander, Nebeneinander und Uebereinander einzeln undenkbar und unmöglich sind. Diese scheinbar rein theoretische Frage hat eine umfassende praktische Bedeutung und wird uns als sicherer Faden zur Ergründung der Entwickelungsgesetze jener drei Sphären des socialen Lebens dienen. — Aus der engen, unlösbaren Verknüpfung jener drei Sphären geht zuvörderst hervor, dass überhaupt die Entwickelungsgesetze für den ganzen Organismus dieselben sind, wie auch für jede der einzelnen Sphären. Es gibt und kann keine ökonomische Organisation geben, die nicht zugleich irgend eine, wenn auch zeitweilig, wenn auch momentan feste Abgrenzung der Thätigkeitsäusserungen der einzelnen Zellen-Elemente an den Tag legen und welche zugleich nicht irgend welche Einheitlichkeit in der Wirkung und Entwickelung bekunden würde. Ein jedes industrielle Unternehmen bildet einen Staat im Staate, dabei eine juridische Person in der rechtlichen Sphäre der Gesammtheit, und zugleich ein Ernährungsorgan im Organismus. Ein jeder Rechtsanspruch bezweckt seinerseits immer irgend eine ökonomische Thätigkeitsäusserung in Hinsicht auf Aneignung entweder von Diensten oder Gütern (Werthgegenständen), und thut dabei auch irgend welche Concentrirung der organischen Thätigkeit der Gesellschaft kund. Mit anderen Worten: ein jedes Recht bildet gleichfalls oder bezweckt die Bildung nicht nur einer juridischen Person in der rechtlichen Sphäre, sondern auch zugleich eines .Staates im Staate und eines Ernährungsorganes in der ökonomischen Sphäre des socialen Lebens. — G e d a n k e n ü b e r die S o c i a l w i s s e n s c h a f t d e r Z u k u n f t .

III.

31

482 Endlich ist eine jede sociale Gesammtheit als Stfaat unzertrennlich von seiner ökonomischen und rechtlichen Thätigkeit und Ausprägung. Auch vom politischen Standpunkte greifen die drei Sphären so ineinander, dass sie einzeln undenkbar und in der Wirklichkeit unmöglich sind. Aus diesem folgt nun wiederum folgende unumstössliche Thesis: Die ökonomischen, rechtlichen und politischen Entwickelungsgesetze fallen mit den allgemeinen socialen Gesetzen zusammen und bilden nur Differenzirungen derselben nach einer der drei Seiten der Thätigkeitsäusserung der Naturgröße überhaupt, d. h. entweder nach der chemisch-mechanischen (in der anorganischen Natur) und der physiologischen (in der organischen Natur), oder nach der formativen (in der anorganischen Natur) und der morphologischen (in der organischen Natur), oder endlich der einheitlichen Seite (der anorganischen Körper) und der tektologischen (der Organismen). Alle drei Sphären drücken dabei das Nach-, Neben- und Uebereinander, Zeit-, Raum- und Erscheinungsverhältnisse, eine jede besonders und alle zusammen, vereint, aus. Daher kann man nicht nur die ganze Erscheinungswelt, nicht nur einen jeden Körper, sondern auch einen jeden, sogar den kleinsten Theil desselben zu gleicher Zeit vom mechanisch-chemischen und physiologischen, vom formativen und morphologischen, endlich vom einheitlichen Standpunkte aus betrachten, sowie auch den kleinsten Theil und das Ganze von nur einem Standpunkte unter Anerkennung des Zusammenhanges mit den beiden anderen. Dasselbe in seiner (Anwendung auf den socialen Organismus und auf die Socialwissenschaft würde folgendermaassen ausgedrückt werden können: Die ökonomische, rechtliche und politische (einheitliche) Seite sind nicht nur der ganzen menschlichen Gesellschaft und jeder staatlichen Gesammtheit eigen, sondern sie gehören ihrem Wesen nach auch einem jeden einzelnen Theile der Gesellschaft bis zur Familie herunter, und andererseits kann nicht nur ein jeder einzelne Theil, sondern auch das Ganze der menschlichen Gesellschaft von einem dieser drei Standpunkte betrachtet und beleuchtet werden, unter Anerkennung des Zusammenhanges mit den anderen Seiten. Mit anderen Worten: die Socialwissenschaft kann in drei Theile zerfallen: den ökonomischen, juridischen und politischen, wobei die ganze menschliche Gesellschaft, sowie ein jeder Theil derselben, angefangen vom Staate bis zur Familie

483 und das Individuum, von jeder dieser Seiten besonders betrachtet werden kann; oder man kann einen jeden Theil der Gesellschaft, angefangen vom Individuum und der Familie bis zum Staate hinauf, von allen Seiten zugleich betrachten. In beiden Fällen müssten Nationalökonomie (Physiologie), Rechtswissenschaft (Morphologie) und Politik (Tektologie) Hand in Hand gehen und die Gesetze in allen Sphären, sowohl auf jeden einzelnen Theil, als auch auf das Ganze Anwendung finden, indem sie sich aus diesem Grunde, sowohl gegenseitig als auch mit den allgemeinen socialen Gesetzen, decken. — Gleichwie das Individuum, die Familie, die Korporation sich ernähren, indem sie produciren und consumiren, so thut es auch der Staat und die ganze menschliche Gesellschaft als einheitlicher Organismus. Und gleichwie diese Ernährung sich im Umtausch von Nutz- und Werthgegenständen, die producirt, vertheilt und consumirt werden, auf dem Wege der Theilung der Arbeit, der Nachfrage und des Angebots etc. in Hinsicht auf die physischen Bedürfnisse äussert, so ist auch ganz dasselbe der Fall in Hinsicht auf die geistigen und ethischen Bedürfnisse. Die physiologischen oder ökonomischen Gesetze der socialen Entwickelung müssen also alle Erscheinungen des socialen Lebens jedoch nur vorzugsweise vom Gesichtspunkte der physiologischen Wechselwirkung erklären und begründen. — Dieselben Erscheinungen, d. h. gleichfalls die Entwiekeimg des Nervensystems und der Zwischenzellensubstanz des Individuums, der Familie, des Standes, der Nationalität, der ganzen menschlichen Gesellschaft, sowohl in ihren niedrigsten, als auch in den höchsten Stadien, müssen vom morphologischen Standpunkte aus durch die Rechtsgesetze begründet und beleuchtet werden. Nicht nur das Individuum, nicht nur das Privateigenthum und die Thätigkeitsäusserungen des Einzelnen bilden, das Object für Rechtsverhältnisse und -begriffe, sondern dasselbe liefert auch die Familie, die Körperschaft, der Stand, der Staat, die ganze menschliche Gesellschaft. Und ganz dasselbe gilt auch in seiner Anwendung auf das sociale Nervensystem und die sociale Zwischenzellensubstanz, auf das Individuum, die Familie, die Körperschaft, den Stand, die Nationalität, den Staat und die menschliche Gesellschaft vom Standpunkte der Einheitlichkeit, der Unterordnung des Niederen unter das Höhere, d. h. vom politischen Standpunkte aus. 51*

484

Endlich tritt die Uebereinstimmung des Nach-, Neben- und Uebereinander nicht nur in Hinsicht auf die fortschreitende Entwickelung des socialen Organismus, sondern auch in seinen Rückbildungen hervor. Alle social-pathologischen Erscheinungen haben wir auf organische Thätigkeitsäusserungen, welche entweder nicht zur rechten Zeit, oder nicht am rechten Ort vor sich gehen, oder welche eine Ueberreiznng oder einen Mangel an Reiz an den Tag legen, zurückgeführt. Wir haben, mit änderen Worten, bewiesen, dass eine jede Rückbildung entweder durch eine aberratio temporis, oder eine aberratio loci oder eine zu hohe oder niedere Kraftäusserung bedingt wird. Nun entspricht aber eine aberratio temporiB dem Nacheinander, eine aberratio loci dem Nebeneinander, eine zu hohe oder zu niedrige Kraftäusserung dem Uebereinander der organischen Rückbildung. Ein neuer Beweis für die allumfassende Bedeutung des Gesetzes des Parallelismus des Nach-, Neben- und Uebereinander, indem durch dasselbe nicht nur alle normalen, sondern auch alle annormalen Erscheinungen erklärt werden können. — Gäbe es wenn auch nur Eine Erscheinung, auch nur Einen Standpunkt, dem dieser Parallelismus nicht entsprechen würde, so würde das ganze Gesetz keine Gültigkeit haben. Eine Ausnahme von einem n o t wendigen, allgemeinen Gesetz ist unzulässig und undenkbar. —

Alphabetisches

Namen- und Sachregister. A. Begreifen 96 u. ff. Abhängigkeit deB Menschen 208 u. BerthoUet 68, 76. Bewegung, Bew.-Gesetze 10, 11 u. ff, 210, 235 u. ff. ff., 439. Abnormitäten 400 u. ff. Abnutzung und Wiederersatz 277 u. ff. Biologische Gesetze 2. Blumenbach 57. Aether, geistiger, 149. Bock, Dr., 276, 279. Affecte 417. Böses 440« Allihn 91. Büchner 95, 1 1 6 , 1 1 8 - 1 2 1 , 164, 165, Algebra 12. 280, 281, 392. Analogien zwischen organischen, anorganischen und socialen E r - Buckle 1, 28. 386. scheinungen 62—90, 118—150 Buddha, Buddhaistische Moral 375, 367, 390 u. ff. u. ff. Bunsen 391. AnaxLmander 110. Anaximenes 110. C. Anpassung 35 u. ff., 52—58, 147 u. ff., Carrière, Dr. M., 41, 129, 145—147, 172 u. ff., 184 u. ff. 369, 391. Anschwellen, lawinenartiges, 444. Carneri, B., 346, 347. Anziehung 25. Caspari 28, 30. Aplasie 431. Causalzusammenhang, Ergründimg Arbeit 208 u. ff. deus., 3 u. ff., 462 u. ff. Arbeitslohn 330 u. ff. Chandless 384. Arbeitsteilung s. Vertheilung. Chemische Gesetze 2, 75; — Kriftp Arbeitsstunden 87. 62 u. ff. Aristipp 115, 336. Aristoteles 101, 113, 114, 116, 129. Comte, Aug., 1. Confudus 101, 368. Arithmetik 12 u. ff. Consumtion 9 , 24, 208 u. ff., 233— Assimilation 172 u. ff., 219. 252; Begriff 298 u. ff. Atome 431. —, psychische und physische, der Atrophie 431. Güter und Dienste, 297—33$. Aufmerksamkeit 443. Cooke, J . , 156. Average 3 u. ff. Credit 179 u. ff. Christus, Christenthum, 370—382 b, ff. B. Cultur, Entstehung der C., 43 u. ff. Baer, Dr. Karl E . v., 53. Cyniker 115. Bastian, A., 54. Cyrenaiker 115. Bastiat 243. D. Baumgarten 137. Baur, F . Chr. v., 378. 379. Dalai-Lama 375. Bedürfnisse des Menscnen, psychische Dalton 173. und physische, 208—232. Darwin, Charles, 3, 37, 38, 99, 100. —, Befriedigung der B., 214 u. ff., Degeneration 429, 430, 484. 235. Demokrit 111. —, dringende, 259. Denken, Fühlen, Wollen, 92,174 u. £

486 Denkvermögen 169, 468 n. ff. Desassimilation der Nervenzellen 219. Dienste (Dienstleistungen) 208 n. ff. —, psychische und physische, 233— 252. —, psychische und physische Consumtion der D. u. Güter, 297— 336. Dixon 383 Dodge, J. B., 311. Draper 28. Dreiheit der Seelenthätigkeit 92 a. ff. Dualismus 113 u. ff. Da Bois-Reymond 117. Dornas 79. Dnmont 452, 453. Donoyer, Charles, 241. Durchscnnittsresultate s. W a h r scheinlichkeitstheorie 3 u. ff. Durham, A. H., 281, 282. E. Eckard 391. Einzelorganismen; pathalogische Erscheinungen in den E., 401 u. ff. Elasticität, psychische, des socialen Nervensystems, 151—176. Eleatische Schule 112. Elektricität 26. Eliot 126. Embryologie 427. Empedokles 112. Engel 9. Entwickelungsgesetze XII, 10, 11 u. ff., 41 u. ff., 448 u. ff., 474, 482. Entzündung 429, 430, 432. Epikur 115. Erdmann, Dr., 341. Erziehung 421. Essenwein 140, 141, 143. Ethik 336—398, 440 u. ff. Euclides 115. Exsudativ-Erscheinungen 430. F. Fähigkeit, geistige, 100, 468 u. ff. Familie, Familienleben 31, 480 u. ff. Farben 25. Fetischdienst 29. Feuerbach 455. Fonck, Dr., 54. Formeln, mathematische, 6, 10, 17 u. ff, 23, 467. Fortlage 340, 341. Freiheit 465 u. ff. Fühlen, Denken, Wollen, 92, 174 n. ff.

G. Gährung, chemische und sociale, 67 u. ff, 77 u. ff. Gebrauchs- u. Tauschwerth 179 u. ff. Gebrauchswerth, psychischer und physischer, 253—296. Gegensatz des Guten und Bösen 439. Geistesentwickelang und -thätigkeit 4 1 - 4 8 u. ff., 339 u. ff. Geistigkeit 466 u. ff. Geld und Geldeswerth 179 u. ff., 334 u. ff. Geldkrisen 426. Geometrie 12. Gesammtheit, sociale, 9, 479 u. ff. Geschlechtliche Zuchtwahl 195 u. ff. Gesellschaft s. s o c i a l e r O r g a n i s mus. Gesetze, sociale, 4,6,10 u.ff.,479 u. ff. Goethe 35, 148, 395. Güter (Reichthümer) 208 u. ff:, persönliche psychische 221 u. ff., psychische und physische 233— 252; ideelle 239. —, psychische und physische Consumtion der G. und Dienste, 297-336. Gute, das, 440, 477. H. Häckel 36, 52—56, 68, 69, 172, 364. Hartmann, Ed. v., 160, 161, 168, 169, 416. Härtung 101. Hegel 104-110, 115, 150, Hefe, Zellen in der H., 79. Heilung 418. Hellwald, Fr. v., 27. 28, 358. Hemmung 475. Heraklit 112, 339. Herbart VI, 475. Herder 28. Hermann, K. Fr., 91, 92. Herschel, John, 3, 4. Homer 148. Huxley 470. I. Innervation 431, 445. InterzellularsubBtanz s. Z w i s c h e n zellensubstanz. Irrsein 410 u. ff., 435 u. ff. J. Jacobi 93. Jolly, Dr. JuL, 124, 133. Jonuche Schule 111.

487

K. Kampf nm'a Dasein 69 u. ff, 184 a. 81 Kant 337, 338, 340—342, 453. Kapila 391. Kapital 267 u. ff. —, circuürendes, 327. Kauf und Verkauf 274 n. ff. Kälte 25. King 260. Klima 53 n. ff. Klencke 397. Kloepfel, Dr., 407 u. ff. Koppen, 391. Koran 387, 390. Krache 426. Kräfte, mechanische, 27 u. ff., 461 u. ff. Krankheit, deren Entstehung, 86 a. ff. — in den Organismen 899—416 u. ff. Kreislauf des Lebens 69. Kreuzung 24, 34. Krohn, A., 91. Kunst 10, 137—148, 470.

Medium,- physisches, 28 n. Ä , 32 u. ff., 34—58. —, sociales, 29. Mencius 369, 370. Mensch, d., als Maassstab für den Menschen, 18—20 u. ff. — Abhängigkeit des M , 208 n. ff., 210, 335 u. ff. —, der mittlere. 21 u. ff. — die psychischen und physischen Bedürfnisse des M., »38—232. —, d., stellt Materie und Geist dar, 213, 466 u. ff Metaphysik, Begriff, 348 u. ff. Meter 21 u. ff. Methode, real-vergl., s. u. R., M. der Socialwissenschaft 10, 12 u. ff. — der Ethik 336—396. Mill 454. Mirabeau 117. Mih-Tse 370. Missbildungen 400 u. ff. Mohl, Jul., 391. Mont, E. d u , 138. Montesquieu 28. Moral s. E t h i k . Morungo, E., 384. Motorium commune 435. Müller, Max, 124, 125, 181.

Ii. Lange, Fr. A., 345, 346. Langsdorf? 57. Laplace 68. Laspeyres 7. Laster 417, 423. N. Lazarus 91. Lebensweise, deren Ein Anas auf die Nahrung, Einfluss ders., 40, 49 u. ff, Entwickelung, 49—52. Naturgesetze s. s o c i a l e Ges. Leibnitz 454. Naturnotwendigkeit 11. Leidenschaften 211 u. ff., 417. Nekrobiose 431. Licht 25. Nervenorgane des Menschen 19, 32 Liebig, Justus v., 62, 63, 65-68. u. ff. Lindner VI. Nervensystem, sociales, psychophyLindwurm XXVI, 469. Bische Elasticität dess. 151—176. Littre 1. —, Wechselwirkung zwischen dem Locke 93. N. und der Zwischenzellensub* Luft 65. stanz XI, 176-207. Lust 212 u. ff., 452 u. ff. Neumayer 54. Nirwana, Buddhaistische, 390 u. ff. M. Noire 139. Maass für mathematische Formeln Normalconsumtion 9 u. ff, s. auch 17 u. ff. Consumtion. Masnetismus 26. Notwendigkeit 466 u. ff. Mahomed 375. Nutzen 456 u. ff Malthus 4, 241. Marktpreise 7 u. ff. O. Materialität 466 u. ff. Mathematik, sociale, 1—23. Methode Obry 391. Oeconomische Gesetze 11 u. ff., 479 der Anwendung 13 u. ff. u. ff. Mathematische Formeln s. F. Maudsley 217 , 218 , 349 , 350 , 359, Orbigny (d') 173. 410 , 411, 426 . 432 , 434 , 435, Organismus, socialer, 10, 12 u. ff., 25, 55 u. ff, 479 u. ff, 436, 453.

488 Organismus, krankhafte Erscheinungen im social. 0., 399—416 u. ff. Organismen, pathologische Erscheinungen in den 0. 401 n. ff. P. Papillon, F., 77, 80. Pannenides 111, 113. Pathologie, psychophysische, 399 — 416 u. ff, 422, 425 , 427 n. ff., 438, 451. Perty, M., 25, 75—77. Pessimismus XV. Pestalozzi 101. Philosophische Systeme 110 u. ff., 468. Physik, sociale, 1 u. ff., 24—61. Pinner, Dr., 128. Plato 91, 113-115, 336, 337, 379. Poisson 4. Preise 260 u. ff. Production 24 n. ff., 221, 233 — 252. Benriff 299 u. ff. Psychologische Entwickelang 150, 468. Psychoghysik, sociale, IX, 91 — 150, Psychische und physische Bedürfnisse des Menschen 208—232. — Güter und Dienste 233—252. — Gebrauchswerte 253—296. — Consumtion der Güter u. Dienste 297—336. Psychophysische Elasticität des socialen Nervensystems 151—176. — Socialpathologie 399—416 u. ff. Pythagoras 111.

«fc

Quetelet, Ad., 2, 3.

R. Radenhausen 28, 29, 32 u. ff. Raumverhältnisse 12 u. ff., 462 u. ff. Real-vergleichende Methode 3 u. ff., 6 u. ff. Rechtspflege 419. Regeneration 429. Reich, Eduard, 53. Reiohthum, Begriff 233 u. ff, 307 u. ff. Religion 10, 29, 30, 41 u. ff. S. auch Christenthum. Reflexwirkung 61, 88 u. ff. Renan 124. Renten 330 u. ff. Ribot, Th., 196, 383, 384. Ricardo 4, 331. Richter, C. A. W., 8 3 - 8 6 , 88, 90, 282, 283, 422.

Rohling, Aug., 388. Rossi, P., 209. Rückbildung und Verkümmerung 47 u. ff, 433, 434, 438, 440 u. ff., 448 u. ff, 460, 474. Rümelin, G., 5, 6, 20, 21.

S. Say, J. B., 241, 242, 305, 306, 333. Schäffle 4, 178, 179, 220, 456. Schelling 340. Schichten 433 u. ff. Schleicher 181. Schleiermacher 96. Schopenhauer 138,148,341, 342,344, Schriftsprache 124. Schwegler, Dr. Alb., 104, 105, 114, 115, 336, 340. Secretion 430. Seelenvermögen 92 u. ff, 339 u. fff. Seidlitz, Dr., 56. Sensorium commune 436. Seubert, Dr. Moritz, 399, 400. Schädliches 455. Shakespeare 148, 395. Smith, Adam, 4, 241. Sociale Gesetze 4, 6, 10 u. ff, 479 u. ff — Verhältnisse u. mechanische Gesetze 15, 16 u. ff, 34. Socialethik, real - genetische, 336— 398. Sociales Nervensystem 151—207. Socialer Organismus s. O. Socialpathologie, psychophysische, 399-416 u. ff. Socialwissenschaft, Methode der S., s. M. Sokrates 113, 115. Solidarität des Menschengeschlechts 380 u. ff, 421. Sophokles 395. Spencer, H., 71—74, 281. Spinoza 455. Sprachen 76, 122, 137. Stände, Unterschied d. S., 47, 48 u. ff. 69 u. ff. Statistik 1 u. ff, 5 u. ff Steinthal 91. Stirner, Max, 455. Stoff, Unzerstörbarkeit d. S., 156. Stoffwechsel 75, 229 u. ff. Strafe, 420, 459. Strauss, Dr. David, 372. Suso 391. Systeme, philosophische, 110 u. ff., 468.

489 T.

Talmud 387 u. ff. Tauler 391. Tausch- und Gebrau chswerth 179 n. ff., 233—252, 330 u. ff. — der Güter 233 u. ff. Tetens 92. Thaer 57. Thaies 110. Thätjgkeitsäusserungen im Denken, Fühlen und Wollen als Substrat zur Beurtheilung derEntwickelung 20 n. ff. — nicht am rechten Ort und nicht rechtzeitig 88, 414 u. ff., 484. Theilung der Arbeit und Producte s. V e r t h e i l u n g . Thiere, Entwickelangsfähigkeit ders., 42 u. ff. Timiriaseff 80. Treitschke, H. v., 182, 418. Tugend, 423. Twesten, C., 181, 366, 367. Typus, Ausbildung d. T., 53, 54 u. ff.

U.

Uebertragung von Stoffen und Anschauungen -84 u. ff. Unlust und Lust 212 u. ff., 452. Urtheilen 96 u. ff.

V. Vaihinger, Dr. H., 101. Valentin 431. Verantwortlichkeit 418, 421, 444. Verbindungen, chemische u. sociale. 71 u. ff. Verbrennung, chemische, 81 u. ff. Verbreitung richtiger Principien etc. 87 u. ff. Vererbung geistiger Eigenschaften 58, 59 u. ff. Virchow 84, 151, 152, 154, 170, 229, 230, 277 — 279, 284, 401 — 406, 413. 427, 430. 432. Verkauf und Kauf 274 u. ff. Vermehrung der Bevölkerung 15 u. ff. Vertheilung der Arbeit, Güter und Producte 24, 208 u. ff., 280 u. ff. Völkerpsychologie 91.

W. Waarenpreise 7, 8 u. ff. Wahrscheinlichkeitstheorie 3 u. ff.

Waitz 38, 40, 42, 47—49, 53, 57— 60, 172, 173, 180, 181,383,393. Wallace 172. Ward 173. Wärme 25. Wassütschikoff 311. Weber VL Wechselwirkung, geistige u. ethische, 86 u. ff —, physische, 34 u. ff., 55 u. ff —, psychophvsische, zwischen dem socialen Nervensystem und der Zwischenzellensubstanz, 176 — 207. Werth, Tausch- und Gebrauchs-, 179 u. ff, 253—296. Whitney 124—126, 128—136, 181. Wiederersatz und Abnutzung 277 o. ff. Wilde 10. Willen 443. Williamson 173. Wissen 96. Wissenschaften IX u. ff., 10, 470 u. ff. Wolff 98, 101. Wollen, Denken, Fühlen 92, 174 a. ff. Wundt VI, 160, 166, 167, 169, 170. Wuttke 44. Xenophanes 111.

Y. Yang-Tschu 369. Z. Zahl, die grosse, 3, 4 u. ff. Zahlen, deren Bedeutung für dfe Wissenschaften, 3, 4 u. ff., 10, 12, 13 u. ff. ZeitverhältnisBe 12 u. ff., 462 u. ff. Zellen, Z.-Gewebe und Z.-Gesammtheit, 23, 152 u. ff, 277 u. ff., 295 u. ff., 402 u. ff., 414 u. ff. — als primäres Princip jegl. Krankheit 86, 399 u. ff. Zeller 92, 93, 96, 98, 454. Zeno 111. Zinsen 330 u. ff. Zoroaater's Religion 366. Zuchtwahl, geschlechtliche, 195 u. ff. Zweckmässigkeit 463 u. ff Zwischenzellensubstanz X, 122 u. ff., 151 u. ff, 176—207, 394 u. ff

Berichtigungen zun zweiten Bande: Seit* '4, Zeile 19 Y. O. statt quid lies: qaod. „ 74, „ 31 V. o. „ quid „ qaod. Zorn dritten Bande: SeiteXVlI.ZelleU ». o, statt du nltixna 1.: die mltlma. XVII, n 17 T. 0. i, dieses ultima L: diese ultima, 8 T. Q. II den 1.: nicht den. inv, XXVI, i, 16 T. 0. II gegenftberznstellenden 1.: regenSberzustellende. 3, ii 1 V. o. II daher wurde lies: daher wäre, 12. i» 2 T. 0. n dieses dritten 1.: des vierten, 1», II 4 T. n. II angewandte L; angewandter. 22, II 7 y. 0. II Haasses für mechanische Zwecke bestimmen L: förir mechanische Zwecke bestimmten Haasses*. 27, I T. o. II nar L: nur. 33, 18 T. o. Beflee 1.: Beflexe. " ganges 1.: ganzes, 1 T. o. 48, 66, 2 T. 0. 1, letztere L: letzterer. IS T. u. , I Pasargada 1.: Pasargadä. 1«, 244, 18 y. u. II kein 1.. keiner, k&uft 1.: kauft; 246, 5 y. 0. 249, 18 y. u. II einzelne 1.: einzelner. Gflter L: flGtern. 251, 9 y. 0. 267, 6 y. 0. II Eamschadale 1.: Kamtschadale. 267, 10 y. u. TI setzt 1.: setzte. Terknflpt 1.: TerknBpft. 318, 11 y. u. 332, IT. 16 y. o. II Einkommes 1.: Einkommens, vernünftige 1.: vera&nfHgea. o. 338, 8 y. II 341, n 9 y. n. II Freiheit durch 1.: durch du Sittengesetz gestellte Auf-I'gabe anch so aussprechen: man soll.i. 4 y. n. II Ornndlehre 1.: flrnndleg. 341, 347, I- 15 y. o. TI sich's 1.: sieh, 367, M 19 y. u. II determiniren 1.: determinlrt. 383, II 9 y. n. II % l'amgricante 1.: k l'amerlcalne. die 1.: der. 402, 2 y. o. 402, 6 y. 0. II Ansm&rzen L: Ausmerzen, 424, 1, 1« y. n. II würden 1.: werden, 431, 19 y. o. II der Wortes 1.: des Wortes, 442, tl 20 y. o. ii welcher 1.: welche. 19 y. u. n yeryollkommende 1.: Terrollkommnende. 459, 459, II 8 y. o. II Im 1.: in. 462, 16 y. o. I I In der 1.: der. 464, II « y. u. I I Sohopenbauer L: Schopenhauer.



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