Gebet und Gotteserfahrung bei Gerhard Tersteegen 9783666558085, 3525558082, 9783525558089


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German Pages [360] Year 1986

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Gebet und Gotteserfahrung bei Gerhard Tersteegen
 9783666558085, 3525558082, 9783525558089

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V&R

ARBEITEN ZUR GESCHICHTE DES PIETISMUS IM AUFTRAG DER

HISTORISCHEN KOMMISSION ZUR ERFORSCHUNG DES PIETISMUS

HERAUSGEGEBEN VON

K. ALAND, K. GOTTSCHICK UND E. PESCHKE

BAND 24

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

GEBET UND GOTTESERFAHRUNG BEI GERHARD TERSTEEGEN

VON

HANSGÜNTER LUDEWIG

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

Die ersten 16 Bände dieser Reihe erschienen im LutherVerlag, Bielefeld. Ab Band 17 erscheint die Reihe im Verlag von Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

Meinem väterlichen Freund Olav Hanssen mit herzlichem Dank zu seinem siebzigsten Geburtstag

ClP-Kurztitelaujhahme Ludewig,

der Deutschen

Bibliothek

Hansgünter:

Gebet und Gotteserfahrung bei Gerhard Tersteegen/ von Hansgünter Ludewig. - Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1986 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus; Bd. 24) ISBN 3-525-55808-2 NE: GT © Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1986. Printed in Germany. - Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf photo- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Gesetzt aus Bembo auf Linotron 202 System 3 (Linotype). Satz und Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen. Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen.

Vorwort Die vorliegende Arbeit hat in einer ausfuhrlicheren Fassung der Universität Hamburg im Frühjahr 1982 als Dissertation vorgelegen. Ich bin der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus dankbar, daß sie die Untersuchung in die Reihe Arbeiten zur Geschichte des Pietismus aufgenommen und damit einem größeren Leserkreis zugänglich gemacht hat. Die Stiftung Harmsianum in Kiel, die Nordelbische Landeskirche und die Evangelische Kirche im Rheinland haben mit erheblichen Druckkostenzuschüssen die Veröffentlichung möglich gemacht. An dieser Stelle sei aber auch noch einmal denen gedankt, die mit Rat und Korrektur das Entstehen der Arbeit begleitet haben. Allen voran sei Dr. Olav Hanssen genannt, der als väterlicher Freund die entscheidenden Impulse gab. Prof. Dr. D. R. Röhricht (Wuppertal) und Prof. Dr. P. Cornehl (Hamburg) waren als „Doktorväter" verständnisvolle und helfende Begleiter. Wesentliche Anregungen verdanke ich der engagierten Mitwirkung von Prof. Dr. W. Zeller (Marburg), der wie kaum ein anderer über Tersteegen und seine Zeit Auskunft geben konnte. Besonders habe ich mich auch über die ausfuhrlichen und außerordentlich kundigen Kommentare von P. J . Sudbrack (München) gefreut und über die liebevolle Art, mit der er sein Interesse an dieser Veröffentlichung bekundet hat. Mein Dank gilt ebenso der Universität Hamburg, die durch ein zweijähriges Stipendium mir die Freiheit gewährt hat, mich konzentriert auf dieses Thema einzustellen. Archive und Bibliotheken haben teils mühsame Nachforschungen auf sich genommen und schwer zugängliches Material bereitgestellt. Insbesondere hat mich die Nordelbische Kirchenbibliothek in Hamburg sehr unterstützt. Abschließend darf ich sagen, daß diese Arbeit so nicht möglich gewesen wäre, wenn nicht meine Frau das Anliegen dieser Untersuchung mitgetragen hätte. Ich bin ihr ganz besonders dankbar. Lübeck, 1.10.1985

Hansgünter Ludewig

5

Inhalt Vorwort Einführung

5 11

Geschichte der Tersteegen-Forschung

I. Frühe Schriften über Tersteegen 1. Erste literarische Kritik 2. Berichte der Freunde

19 19 22

II. Biographische und kirchengeschichtliche Arbeiten über Tersteegen im 19. Jahrhundert 1. Gerhard Kerlen 2. Max Goebel

26 27 29

III. Theologische Arbeiten zur Mystik Tersteegens 1. Albrecht Ritsehl 2. Heinrich Forsthoff 3. Erste Reaktionen auf Forsthoff 4. Friedrich Winter 5. Walter Blankenagel u n d j ü r g e n M o l t m a n n

31 32 33 38 40 43

IV. Neuere Arbeiten über Tersteegen 1. Walter N i g g 2. Albert Löschhorn 3. Cornells Pieter van Andel 4. Winfried Zeller 5. R u d o l f M o h r 6. Giovanna della Croce

44 46 47 48 50 51 52

V. Arbeiten zu Tersteegens dichterischem Werk Zusammenfassung

55 56

Gebet und Gotteserfahrung bei Gerhard Tersteegen Das Gewahrwerden der Gegenwart Gottes Der

Ausgangspunkt

I. Der hermeneutische Ausgangspunkt: das Suchen und Finden der Wahrheit 1. Die Bedeutung des Suchens und Findens im Leben Tersteegens . . . .

59 59

7

2. Das Suchen und Finden der Wahrheit im Rahmen der Zeitgeschichte 3. Das Suchen und Finden als Thema der Vorreden Tersteegens a) Die Notwendigkeit des Suchens b) Die Warnung vor falscher Sicherheit c) Die Problematik des Findens

63 66 67 68 69

Zusammenfassung

72

II. Der thematische Ausgangspunkt: die Gegenwart Gottes III. Der traditionsgeschichtliche Ausgangspunkt: der Begriff „Gegenwart Gottes" in seiner geschichtlichen Entwicklung 1. Die Übung der Gegenwart Gottes und ihre Verbreitung in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts 2. Die Übung der Gegenwart Gottes in ihrem Traditionsweg a) Die Gegenwart Gottes in der traditionellen Dogmatik b) Die Gegenwart Gottes als μνήμη Θ ε ο ί bei den Vätern des östlichen Herzensgebetes c) Die Gegenwart Gottes in der mystischen Tradition des Abendlandes α) Gegenwart Gottes bei Bernhard von Clairvaux ß) Gegenwart Gottes bei Meister Eckhart γ) Gegenwart Gottes bei Johannes Tauler und Heinrich Seuse . . . δ) Weitere Belege aus der spanischen Mystik 3. Die Übung der Gegenwart Gottes in den Betrachtungsanleitungen des 16. und 17. Jahrhunderts Zusammenfassung

Die Umschreibung der Gegenwart

77 77 79 80 82 89 89 91 92 94 94 96

Gottes

I. Die Unaussprechlichkeit der Erfahrung 1. Das Lied: Erinnerung der herrlichen und lieblichen Gegenwart Gottes 2. Wechselnde Bilder zur Umschreibung der Gegenwart Gottes 3. Wechselnde Redeform zur Erinnerung an die Gegenwart Gottes . . . . a) „Gott ist gegenwärtig, lasset uns anbeten" b) „Wir entsagen willig allen Eitelkeiten" c) „Möcht'ich wie die Engel immer vor dir stehen" II. Gott als das „Majestätische Wesen" A. Das Gewahrwerden eines personalen Gegenübers 1. D e r H e r r 2. Der Vater 3. Christus B. Das Gefühl der Ehrfurcht 1. Schaudernde Ehrfurcht: ein Niederfallen und Schweigen 2. Kindliche Ehrfurcht: ein Gefühl der Abhängigkeit Zusammenfassung III. Gott als die „Luft, die alles füllet" A. Das Gewahrwerden der Allgegenwärtigkeit Gottes

8

73

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1. Eine „naturhafte" Verbundenheit 2. Dennoch ein Erstaunen B. Das Gefühl der Erhabenheit 1. EinSchweben 2. Ein Freisein IV. Gott als „Meer ohn' Grund und Ende" A. Das Gewahrwerden der Allheit Gottes B. Das Gefühl des eigenen Nichts 1. Eine innere „Vernichtigung" 2. Ein Versunkensein Zusammenfassung V. Gott als das alles durchdringende Licht A. Das Gewahrwerden von Licht und Wärme 1. Ein Entdecktwerden 2. Ein Erleuchtetwerden 3. Ein Anschauen B. Das Gefühl tiefen Wohlseins 1. Ein Ruhen a) Die Ruhe als Willenlosigkeit und Gelassenheit b) Die Ruhe als Willenserfüllung und Glück c) Die Ruhe als transzendente Erfahrung jenseits von Willenlosigkeit und Willenserfüllung 2. Ein Vergnügtsein a) Das Vergnügtsein als äußerste Emotionalität b) Das Vergnügtsein als Emotionslosigkeit c) Das Vergnügtsein als transzendente Empfindung jenseits von natürlicher Emotionalität und Emotionslosigkeit Zusammenfassung VI. Der menschliche Geist als Heiligtum Gottes A. Das Gewahrwerden eines heiligen Grundes 1. Die Gottesnähe als geistige Begegnung a) Die innere Gegenwart Gottes b) Vom Äußeren zum Inneren α) Von der Allgegenwart zur inneren Gegenwart Gottes . . . c) Vom Inneren zum Äußeren α) Von der besonderen Gegenwart Gottes zur Allgegenwart 2. Ein besonderes Raumgefühl a) Der Raum als Mittelpunkt: das neue Herz b) Der Raum als weites Land: das Reich Gottes in uns c) Der Raum als sakrale Mitte: die Wohnung Gottes in uns . . . . α) Ein weiter Palast ß) Ein Kämmerlein γ) Ein Tempel 3. Ein Sich-Öffnen der Herzenstür a) Christus und die Pforte des Paradieses b) Christus und der Zugang zum Allerheiligsten c) Christus und der neue Grund

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Β. Das Gefühl von wesentlicher Bestimmung 1. Ein neues Wertgefühl a) Ein Gefühl göttlichen Ursprungs b) Ein Gefühl höchster Bestimmung 2. Eine neue Zielbestimmung a) Bestimmt zur Einwohnung Gottes α) Die Einwohnung Gottes als beständiges Bleiben Gottes . . ß) Die Einwohnung Gottes als unablässiges Verweilenkönnen des Menschen in Gottes Gegenwart γ) Die Einwohung Gottes als neue und dritte Art der Gegenwart Gottes Zusammenfassung b) Bestimmt zur Teilhabe an der göttlichen Natur α) Die Teilhabe an den göttlichen Eigenschaften Die Kindergestalt Demut Einfalt Sanftmut Zusammenfassung ß) Die Teilhabe als Verwandlung, Vergestaltung und Verklärung der menschlichen Natur γ) Die Teilhabe als Vereinigung, Gottesgemeinschaft und Vermählung c) Bestimmt zu wahrer Volkommenheit α) Die Vollkommenheit als reine Liebe ß) Die Vollkommenheit als Heiligkeit Zusammenfassung 3. Das Gefühl einer inneren Neigung a) Die Neigung zu einem standesgemäßen Wandel b) Die Neigung zu Verleugnung und Gebet Zusammenfassung

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Tersteegens Verständnis v o n Mystik und die Suche nach zeitgemäßer Gebetserfahrung (S. 311) Zeitafel

319

Zeitgenossen Tersteegens

320

Literaturverzeichnis

323

Sachregister

347

Namensregister

356

10

Einführung Es ist die Aufgabe dieser Untersuchung, Tersteegens Gebetserfahrungen aus d e m widerspenstigen Material der Überlieferung herauszuschälen u n d verständlich zu machen. Die Darstellung ist u m Verstehen b e m ü h t . Tersteegen soll möglichst frei von verstellenden Vorurteilen in den Blick k o m m e n . Der folgende Abschnitt aus Gadamers Theorie der hermeneutischen E r f a h rung macht deutlich, welche Vorüberlegungen diesem Versuch zugrunde liegen. Gadamer schreibt in Wahrheit und M e t h o d e über das Verstehenwollen: „Wer einen Text verstehen will, ist. . . bereit, sich von ihm etwas sagen zu lassen. Daher muß ein hermeneutisch geschultes Bewußtsein fur die Andersheit des Textes von vornherein empfänglich sein. Die Geschichte der Tersteegen-Forschung macht es dringlich, einmal unter diesem Vorzeichen zu beginnen, denn die bisherigen Ergebnisse sind geradezu ein Musterbeispiel dafür, wie verhängnisvoll sich eine starre d o g matische Voreingenommenheit i m Verstehen niederschlägt. Was bedeutet in diesem Z u s a m m e n h a n g die von Gadamer geforderte Empfänglichkeit? Allgemein bezeichnet sie die Haltung, die m a n einnehmen muß, u m vor derartiger Verstellung geschützt zu sein. Sie äußert sich als Offenheit für das Andere und Fremde. Aber kann man überhaupt von jeglicher Voreingenommenheit frei sein? Ist damit jedes For-meinen und For-urteilen abgewehrt? Wird die Interessenlosigkeit und Distanz eines neutralen Beobachters damit z u m Ideal erhoben? Von solcher Art ist die hier eingenommene Haltung nicht. Sie wäre ohnehin Fiktion. So unterliegt auch diese Tersteegen-Darstellung einem deutlich spürbaren Vorverständnis. Empfänglichkeit schließt das nicht aus. Sie versucht vielmehr, sich diese Voreingenommenheit b e w u ß t zu machen und sie stets auf ihre Legitimität hin zu überprüfen. So bleibt als einzig mögliche „Objektivität" das Kriterium der B e w ä h rung. Im Vollzug m u ß sich erweisen, ob ein Vorverständnis z u m Verstehen führt, oder o b es Barrieren aufbaut. Welches Vorverständnis liegt hier zugrunde? Die vorliegende Arbeit verdankt ihre Entstehung einem besonderen biographisch bedingten Impuls. In den studentischen U n r u h e n des S o m m e r s 1968, inmitten von politischer Aktivität, drängte sich die Frage auf, ob das, was uns dort anging, wirklich unbedingt anging. Während sich hier Zweifel 1

Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 19652 S. 253.

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meldeten, kamen aus der Begegnung mit mystischen Texten Erfahrungen in den Blick, die ihrerseits mit d e m Anspruch auftraten, Letztgültiges zu vermitteln. In diesen Z u s a m m e n h a n g fällt die erste Begegnung mit Gerhard Tersteegen. Die Fragestellung ist geblieben: Ist das, was Tersteegen als seine Erfahrung der Gegenwart Gottes mitteilt, von der Art, daß sie unbedingt angeht? Dieser Ausgangspunkt gibt der vorliegenden Arbeit ihre M o t i v a tion und Einschränkung: Motivation, sofern es bis in die letzten Verästelungen der Darstellung hinein u m die Frage geht, ob Tersteegens Gebetserfahrungen wirklich Gotteserfahrungen sind, und ob der Weg, den er beschreitet, tatsächlich eine Anweisung ist, die sich im Nachvollzug bewährt. U n d Einschränkung, sofern es hier nicht u m einen historischen oder dogmatischen Beitrag geht, der über Tersteegen handelt, sondern u m den Anschluß an eine Sache, die mit der Tersteegenüberlieferung verbunden ist. Gefragt ist hier allein nach der Möglichkeit und Wirklichkeit von unmittelbarer Gotteserfahrung u n d den Bedingungen, unter denen sie nachvollziehbar wird. Soweit Tersteegen davon handelt, ist er i m Blick. Aber weil er unentwegt davon handelt, k o m m t er auch ganz in den Blick. Hier m u ß sich erweisen, daß Verstehen primär heißt: sich in der Sache verstehen, und erst sekundär: die Meinung des anderen als solche abheben u n d begreifen. Ihre erste B e w ä h r u n g s p r o b e hat dieses Vorverständnis in der Darstellung von Tersteegens eigener Hermeneutik zu bestehen. Wie begegnen sich die vorauslaufenden Intentionen? Verstehen sie sich? Der Darstellung ebenfalls vorausgeschickt ist ein Abschnitt zur Traditionsgeschichte des Terminus Gegenwart Gottes. Welchen Stellenwert hat dieser Exkurs im Rahmen des Ganzen? Geht es hier nicht doch wieder u m Historie, die Tersteegens Gedankenwelt auf seine quietistischen und neuplatonischen, auf seine pietistischen und rationalistischen Anteile hin durchleuchtet? Der Abschnitt enthält zwar manches traditionsgeschichtliche Material, aber primär interessiert dabei nicht der einzelne Beleg, sondern die Bedeutung der Tradition als solche. Warum liegt Tersteegen daran, daß schon „Enoch, Abraham, David, Asaph und unser Heiland selbst" 2 i h m in der Ü b u n g der Gegenwart Gottes vorangegangen seien? Warum schreibt er jahrzehntelang Biographien, die diese Traditionskette bis in die Gegenwart verlängern sollen? Ausschlaggebend ist für ihn offensichtlich nicht der philologisch korrekte Tatbestand. Wichtiger ist ihm der Nachweis, daß sich das, was er als Konsequenz seiner geistlichen Erfahrung betrachtet, nicht erst heute, sondern zu allen Zeiten einen so oder ähnlich gearteten Ausdruck geschaffen hat. Dazu liefert der Exkurs tatsächlich einiges Material. So geht es auch hier noch einmal u m Tersteegens Wahrheitsanspruch. Die nachfolgende Darstellung der tersteegenschen Gotteserfahrung steht 2

12

WW 333 (8, Anh.).

unter zwei besonderen Schwierigkeiten. Davon sei an dieser Stelle kurz berichtet. Die eine ergibt sich aus dem vorliegenden Schrifttum. Nirgendwo hat Tersteegen sich umfassender geäußert. Seine ganze, nicht unerhebliche literarische Produktion besteht aus kleinen traktatähnlichen Schriften, aus Versen und Liedern, Biographien, Übersetzungen und Briefen. Aber nirgendwo findet sich ein zusammenhängender Entwurf. Die einzelnen Literaturgattungen vermitteln darüber hinaus ein recht unterschiedliches Tersteegenbild. Orientiert man sich an den geistlichen Reden, erscheint Tersteegen als ein überaus sprachgewandter Erweckungsprediger. Geht man von seinen vertraulichen holländischen Briefen aus, sieht man in ihm eher einen stillen, verborgenen Beter. Die Verse des Blumengärtleins lassen dagegen auf einen Menschen mit stark poetischer Neigung schließen, während seine Replik auf Friedrichs des Großen „Vermischte Werke" eher an einen humanistisch und philosophisch gebildeten Theologen denken läßt. Es gehört zu Tersteegens Eigenart, sich auf sein jeweiliges Gegenüber flexibel einzustellen. Dadurch kommt es leicht zu Fehleinschätzungen, besonders dann, wenn man sich auf Teilbereiche des Überlieferungsmaterials beschränkt. So besteht eine besondere Aufgabe zunächst einmal darin, aus der Fülle vereinzelter, teils divergierender Äußerungen das größere Ganze zu erstellen, das sie verbindet. Es ist ein wesentliches Anliegen dieser Arbeit, Tersteegens spirituelle Erfahrung in einer Art Zusammenschau der überall verstreuten Aspekte überhaupt erst einmal der Erörterung zugänglich zu machen 3 . Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, in größerem Umfang Zitate und Quellenhinweise in die Darstellung aufzunehmen. Die zweite Schwierigkeit ist eng damit verbunden. Wo ein größerer Zusammenhang nicht einfach abgelesen werden kann, ist das Verstehen wesentlich erschwert, denn verständlich ist nur, was eine Einheit von Sinn darstellt. Weil diese Einheit erst entdeckt und aufgezeigt werden muß, ist an dieser Stelle der „Vorgriff' des Interpreten 4 unvermeidlich und auch in besonderer Weise spürbar. Tersteegens Äußerungen zur Erfahrung der Gegenwart Gottes erscheinen zunächst wirr und widersprüchlich, manchmal wie klischeehafte Traditionsgüter, hier und da zusammengetragen. Immer wieder werden Zusammenhänge durchkreuzt und Vergleiche zerbrochen. Erst die Phänomenologie hat hier die Perspektiven vermittelt, die diesen Sachverhalt verständlich 3

Die Darstellung beschränkt sich auf die veröffentlichten Quellen. Bis auf Tersteegens Ausgabe von Labadies Handbüchlein, die inzwischen unerreichbar scheint, sind auch die Übersetzungen in die Untersuchung einbezogen. Einzelne Nachforschungen, an den noch immer in großer Anzahl vorhandenen, unveröffentlichten Briefen haben ergeben, daß sie, zeitgeschichtlich betrachtet, zwar manche wertvollen Ergänzungen bringen, daß sie allerdings bezüglich der Darstellung tersteegenscher Spiritualität kaum wesentlich neue Aspekte beitragen können. Das macht diese Eingrenzung u. E. zumutbar. 4 Gadamer spricht hier sogar v o n einem prinzipiellen Wahrheit und Methode a.a.O. S. 278.

„Vorgriff der Vollkommenheit" s.

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machen. Sie hat zunächst einmal auf die Besonderheit dieser Erfahrung hingewiesen und darauf aufmerksam gemacht, daß es sich bei ihr nicht um ein Phänomen neben anderen handelt, sondern um eine „Phänomenenletztheit", wie Carl Albrecht sie nennt5. Als solche widersteht sie prinzipiell jeder zurückführenden, ableitenden und vergleichenden Tendenz des Denkens 6 . Daraus ergibt sich für die Art ihrer Deskription, daß unsere Sprache grundsätzlich nicht fassen kann, was es dort zu erfassen gibt. Gottes Gegenwart ist ihrem Wesen nach nur «m-schreibbar. Ihr Eigentliches bleibt ein Arrheton. Hier haben Rudolf Otto mit seiner Umschreibung des Heiligen 7 und Max Scheler mit seiner „Wesensphänomenologie der Religion" 8 wichtige Verständnishilfen gegeben. Sie haben das Wie der Aufweisung durchsichtig gemacht, so daß Tersteegens Lied von der Gegenwart Gottes plötzlich als geradezu klassischer Ausdruck von erlebter Gotteserfahrung hervortreten konnte9. Es zeigte sich nun in seiner Besonderheit, wie es in exemplarischer 5 Carl Albrecht, Das mystische Erkennen, Gnoseologie und philosophische Relevanz der mystischen Relation, Bremen 1958, S. 266ff. 6 Karl Girgensohn hat in seinem großen religionspsychologischen Bericht (Der seelische Aufbau des religiösen Erlebens, Leipzig 1921) die These vertreten, diese Erfahrung der Gegenwart Gottes gehöre nicht zum Grundbestand religiöser Erfahrung. Er verweist auf diesbezügliche Befragungen und Experimente und versteht sie als grundsätzlichen Einwand gegen William James gegenteilige These (The Varieties of Religious Experiments, Übersetzung und Bearbeitung von Wobbermin unter dem Titel: die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit, Materialien und Studien zu einer Psychologie und Pathologie des religiösen Lebens, Leipzig 1907). James hatte anhand von klassischen, mystischen Texten die grundlegende Bedeutung der Gegenwart Gottes fur die psychologische Erfassung der religiösen Erfahrung herausgestellt.

Für unseren Zusammenhang ist die Klärung des Sachverhaltes nicht unwichtig. Wilhelm Poll (Religionspsychologie, Formen der religiösen Kenntnisnahme, München 1965) löst den Gegensatz insofern auf, als er unterscheidet zwischen numinosen Erlebnissen besonderen Grades, zu denen er wohl auch dieses zählen würde, und denen, die eben die „weitaus größere Zahl" von Erlebnissen religiöser Art darstellen. So spricht er einerseit von einem „religiösen Vollerlebnis" (so S. 116) oder auch „Kernerlebnis" (so auch Albert Lang, Wesen und Wahrheit der Religion, München 1957, S. 35) und andererseits von „religiösen Teil-, Klein-, Glied- oder Folgeerlebnissen" (ebd. S. 116). Weiterführender Carl Albrecht in seiner Psychologie des mystischen Erkennens, w o er zu recht die „Präsenzerfassung" als die Grundlage der mystischen Erfahrung schlechthin begreift (Das mystische Erkennen a.a.O. S. 123ff. besonders S. 130). Wesentlich ist für uns in diesem Kontext, daß trotz Girgensohn auch von Seiten der Religionspsychologie Bestätigung ausgeht, bezüglich der Einstufung des hier gemeinten Erlebnisses. 7 Das Heilige, München 196335, S. 6 ff. 8 Vom Ewigen im Menschen, Bern 19544, S. 157 ff. 9 Bei dem Versuch, mit Hilfe ihrer Methodik vorzugehen, haben sich allerdings auch Rückwirkungen ergeben bezüglich der Möglichkeiten und Grenzen ihrer Verwendbarkeit. Hier hat der Rahmen der Arbeit leider enge Grenzen gesetzt, so daß auf Erörterungen und Stellungnahmen zur phänomenologischen Wesensschau weitgehend verzichtet werden mußte. Lediglich zu Tillichs Begriff der „kritischen Phänomenologie" (Systematische Theologie, Bd. I Stuttgart 19563, S. 130) sei vermerkt, daß sich am „Beispiel" Tersteegen die Wahl des Beispiels insofern als unmaßgeblich erwiesen hat, als sich seine Gotteserfahrung sehr wohl in den von Rudolf Otto angezeigten Kategorien darstellen und umschreiben läßt. So in Ansätzen schon durchgeführt bei Walter Blankenagel, Tersteegen als religiöser Erzieher (Ein Beitrag zur M y stik, Psychologie und Pädagogik des Pietismus, Diss. Köln 1934, S. 41-43).

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Dichte den Weg der Umschreibung verdeutlicht, wie es durch herausgehobene Redeformen, durch bildhafte Analogien, durch Entgegensetzung und Abschälung das umkreist, was mit Begriffen nicht begriffen werden kann 1 0 . So ist dieses Lied mit seiner Eigenart zum Grundgerüst der Darstellung geworden. An ihm entlang vollzieht sich die Entfaltung der zentralen Erfahrung in Tersteegens Spiritualität. Dabei haben vor allem die Bilder eine leitende Funktion. Die sinnlichen Empfindungen, die von ihnen naturhaft ausstrahlen, müssen als Analogie herhalten, um den eigentlichen Eindruck zu umschreiben. Bei der Entfaltung der Bilder ist jeweils versucht, zunächst den Eindruck des Numinosen als solchen festzuhalten, während in einem zweiten Teil die Gefühle beschrieben werden, die der Eindruck als Wirkung hinterläßt. Tersteegen selbst hat durch seine Art des Berichtens diese Unterscheidung nahegelegt. Derartige Differenzierungen machen es notwendig, über die Grundbegriffe der Umschreibung Klarheit zu bekommen, sie in ihrem Verwendungsbereich zu bestimmen und gegeneinander abzusetzen. Zu diesen Grundbegriffen gehören „Erfahren", „Gewahren" und „Empfinden" und weiterhin „Eindruck" und „Gefühl". Der Begriff Erfahrung steht bei Tersteegen in der Tradition des mystischen Terminus „experienta" 11 . Der Pietismus verleiht ihm eine besondere Zuspitzung durch den Gegensatz zu Ratio, die sich schon mit Bildern und Begriffen begnügt. So schreibt Gottfried Arnold 1715 seine „Theologia experimentalis" in programmatischer Abgrenzung gegen jegliche Theologia speculativa. Tersteegen übernimmt diese Abgrenzung und bekräftigt, daß sich oft „auf einem einzigen Blättchen der wahren mystischen Schriften" mehr göttliche „Salbung" finden läßt „als manchmal in zehn und mehr

Zur Diskussion um Rudolf Otto und Max Scheler s. vor allem Jörg Splett, Die Rede vom Heiligen, Über ein religions-philosophisches Grundwort, Freiburg - München 1971 und Die Diskussion um das „Heilige" hrsg. v. Carsten Colpe, Darmstadt 1977. 10 Tersteegen hat sein Vorgehen nicht methodisch reflektiert, stellt sich aber bewußt in die Tradition der apophantischen Theologie, die schon immer die Undefinierbarkeit dieser Erfahrung festhielt; s. z. B. BL 546 (3.98.2) oder BR 1395 (141). 11 So schon definiert bei Maximilian Sandaeus; s. R. P. Maximiliani Sandaei e Societ. Jesu Doctoris Theologi Pro Theologia Mystica Clavis Elucidarium. Onomasticon Vocabulorum et loquutionum obscurarum, quibus Doctores Mystici, tum veteres, tum recentiores utuntur ad proprium suae disciplinae sensum paucis manifestum . . . Köln 1640 S. 204f. Tersteegen kannte dieses Nachschlagewerk des Jesuiten; s. WW 254 (6,25 Anm.). Als Überblick über die unübersichtliche Literatur zum Stichwort Erfahrung s. HWPh 2 Sp. 609-620 u. besonders den Artikel „innerer Erfahrung" von G. Krauss in HWPh 2 Sp. 619f. s. ferner den Artikel „Erfahrung, religiöse" in RGG 3 2 Sp. 550-552 von Liselotte Richter und die Erörterungen von Nikolai Hartmann in „Zur Grundlegung der Ontologie" 19483 S. 178-183; s. auch August Langen, Der Wortschatz des deutschen Pietismus, Tübingen 1954 S. 248 und C. Albrecht, Das mystische Erkennen a.a.O S. 51 f.

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Folianten der kraft- und saftlosen Schultheologie" 1 2 . D a r u m gilt auch für ihn grundsätzlich: „Die Erfahrung wickelt die Sachen der Gottseligkeit am besten auseinander." 13 Andererseits fallt auf, daß Tersteegen Erfahren und Erkennen dicht aneinander rückt und bisweilen nahezu gleichbedeutend verwendet 1 4 , wobei das Erkennen jedoch nicht dem Vermögen der Ratio, sondern dem des Intellekts zugeordnet ist. Mit dem Titel Gebetserfahrung ist das gesamte Gefüge religiösen Erkennens, religiösen Erlebens und Erleidens bezeichnet. Erfahren meint vor allem ein Betroffensein durch ein Widerfahrnis und in diesem Sinn ein „Erleidnis" 1 5 und erst in zweiter Linie ein Erkennen dessen, was da widerfährt. D a r u m beinhaltet Erfahren mehr als Erkennen. Wohl ist alle Erkenntnis a posteriori an Erfahrung gebunden, aber nicht alles Erfahren ist Erkennen. Überall da, w o deutlich werden soll, daß das Auftreten eines Wirkgefüges nicht nur in Erkennen, sondern darüber hinaus auch im Erleben und Erleiden aufgenommen wird, sprechen wir von Erfahrung. Wo es darum geht, die Rezeptionsweise zu benennen, die den Eindruck der Gegenwart Gottes aufnimmt, sprechen wir von Gewahren. Es k o m m t als besonderer Terminus bei Tersteegen nicht vor 1 6 . Dennoch hat es sich als nützlich erwiesen, ihn u m der besseren Abgrenzung willen von den mehr subjektbezogenen Erfahrensweisen in die Darstellung einzubringen. Wir verwenden „Gewahren" als Analogie zur Wahrnehmung, die sich auf Sinnhaftes erstreckt. Besonders dann, wenn das Wahrnehmungsartige in der Erfahrung der Gegenwart Gottes betont werden soll, wenn das Ereignis numinoser Unmittelbarkeit und die Zugehörigkeit des Erfahrungsaktes mit seinem Gegenstand zur Sprache k o m m e n soll, sprechen wir von Gewahren und Gewahrwerden 1 7 . Es ist darum in den Untertitel der Arbeit mit aufgen o m m e n . Außerdem begegnet es regelmäßig in den Überschriften, die den objektbezogenen Teil der bildlichen Umschreibung bezeichnen. Eindruck und Gefiihl sind dagegen wieder zentrale Begriffe der tersteegenschen Psychologie. Mit dem Stichwort Eindruck 1 8 übernimmt Tersteegen den in der Mystik weit verbreiteten Terminus impressio 1 9 . Gefühl, sensus, 12

WW 252 (6,24). 13 WW 339 (1. Zug. 1); zum Stichwort Erfahrung bei Tersteegen vgl. weiterhin: hLG (Vorr. 14): „Wenn man nur . . . erst in die Ausübung und Erfahrung der Sachen selbst eingehet; dann wird man schon hernach und immer mehr, auch die Worte verstehen." (Vgl, auch hLG (Vorr. 17); s. ferner WW 91 f. (2,18 u. 19); 141 (3,29); BRI 286 (100); II 387 (131); 432 (148); RE II 46(1) = GR 652; 75 (2) = 482 u.ö. 14 S. besonders BR II 326 (108) und 309 (103). 15 Johannes Hessen, Religionsphilosophie, Bd. 2 Freiburg i. Br. 1948 S. 99. 16 Allerdings begegnen einzelne Belege: s. z. B. WW 342 (9,14). 17 Vgl. hierzu C. Albrecht, Das mystische Erkennen a.a.O. S. 53f. 18 S. A. Langen, Der Wortschatz a.a.O. S. 64f. 19 S. Grete Liiers, Die Sprache der deutschen Mystik des Mittelalters im Werk der Mechthild von Magdeburg, München 1926 S. 201 f.; s. a. M. Sandaeus, Onomastica, a.a.O. S. 240.

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hat dagegen keine profilierte Vorgeschichte 20 . Als religiöser Begriff schlägt er Tersteegen vor allem von Zinzendorf und den Herrnhutern entgegen, was ihn wahrscheinlich mitveranlaßt, im Zusammenhang der Gegenwart Gottes grundsätzlich nicht von Gefühl zu reden. So betont Tersteegen immer wieder, daß er „ohne viel Gefühl" einen „verborgenen Eindruck von Gottes Gegenwart" empfange 21 . Eindruck und Gefühl stehen in Spannung zueinander. Das Gewahrwerden der Gegenwart Gottes geschieht zwar erfahrungsmäßig, aber nicht auf der Ebene von Gefühl und Empfindung, wenigstens nicht in ihrer geläuterten Form. Darum spricht Tersteegen überall da, wo die Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit einer Erfahrung festgehalten 22 , zugleich aber die Emotionalität ausgeschieden werden soll von Eindruck 23 . Gemeint ist ein Zustand von Betroffenheit in äußerster Rezeptivität, der allem eigenen Wirken entgegensteht 24 und darum die Objektivität des Erfahrenen betont. Mit Gefühl bezeichnet Tersteegen dagegen alle subjektive Emotionalität. Die Seele „erfährt" Gott und „fühlt" sich selbst 25 . Gefühl und Empfindung werden als nahezu gleichbedeutend verwandt 2 6 . Tersteegen gebraucht sie beide häufig, aber der Sache nach zumeist kritisch 27 . An dieser Stelle haben wir uns allerdings nicht der tersteegenschen Begriffsbestimmung angeschlossen. Wir folgen statt dessen der modernen Übereinkunft, die zwischen numinosem Gefühl und natürlicher Empfindung unterscheidet. Denn es erwies sich als notwendig, zwischen dem numinos verstandenen Begriff Eindruck und dem psychisch verstandenen 20

S. H W P h 3 Artikel „Gefühl" Sp. 82-99; s. besonders Sp. 82. Demnach ist er erst seit Ende des 17. Jahrhunderts in den Wörterbüchern als Begriff geführt. 21 BR holl 232 (100); vgl. 186(81). 22 S. H W P h 2 Artikel „Eindruck" Sp. 358-360 v. W. H. Müller. 23 S. besonders BR 1221 (80); 201 (76); 185 (72); BR holl 125 (54); s. auch BR 114 (3); 67 (22); 139 (56); BR holl 146 (62) u. 153f. (65); BL 448 (3,58.7); als säkularisierter Begriffs. BR 1203 (76). Über die Bedeutung des Stichwortes „Eindruck" bei Tersteegen vgl. auch F. Weinhandl, Gerhard Tersteegen a.a.O. S. 43ff. 24 S. BR I 151 (60): ,Ja, hast du nicht von Zeit zu Zeit, über all dein Begreifen und Selbstmachen, einen beruhigenden Eindruck der Gewißheit im Grunde, daß dich Gott dahin haben wolle?" 25 S. BR 1175 (68) u. BR holl 186 (81). 26 WennJ. N . Tetens im Jahr 1777 in seinen Philosophischen Versuchen über die menschliche Natur und ihre Entwicklung (1776 und 1777, Neudruck Berlin 1913) schreibt: „Die Wörter Gefühl und fühlen haben jetzo beynahe einen so ausgedehnten U m f a n g erhalten, als die Wörter Empfindung und empfinden." Bd. 1 S. 167f., zit. nach H W P h 3 Sp. 87, dann gilt das auch schon für Tersteegen. Ähnlich Zinzendorf, auch er sieht die Gefahr der Überbetonung von Empfindungen, aber er hält sie „für einen besonderen tropum der Providenzen, mit dem menschlichen Gemüt zu handeln". S. L. von Zinzendorf, Peri heautou 1746-1749 S. 4. O b w o h l nicht Sinn und Zweck der Heiligung, beginnt die Bekehrung mit „kräftiger Empfindung" so in Freiwillige Nachlese 1740, S. 402f., s. R. Piepmeier, Artikel „Empfindung" in H W P h 2 Sp. 461. 27

S. dazu unten S. 182ff.

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Begriff Empfindung einen Erfahrungsbereich näher zu erfassen, der zwar subjektbezogen, aber deshalb noch nicht außerhalb der numinosen Erfahrung liegend gemeint sein muß. Diesen Erfahrungsbereich nennen wir Gefühl im Sinne des sensus numinis, wobei deutlich unterschieden ist zwischen natürlichen und numinosen Gefühlen. Übrigens gibt es schon bei Tersteegen selbst zahlreiche Belege, die deutlich machen, daß er genau diesen Bereich der Gegenwartserfahrung auch mit Gefühl bezeichnet. In der Regel betrachtet er zwar den Stand der Empfindungen und Gefühle als einen der Gegenwartserfahrung vorgelagerten Stand, andererseits zählt er aber die Erfahrung der Nichtigkeit auch zu den „Gefühlen", obgleich sie eindeutig vom Eindruck der Gegenwart Gottes abhängt. Wir haben in der phänomenologischen Beschreibung der Gegenwart Gottes somit die subjektbezogene Seite der bildlichen Umschreibung jeweils als ein „Gefühl" bezeichnet. Die Entfaltung der tersteegenschen Gegenwartserfahrung schließt mit einem Exkurs über seinen Begriff der Mystik und über die Einordnung seiner Sicht in die gegenwärtigen Theorien und Deutungsversuche.

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GESCHICHTE DER TERSTEEGEN-FORSCHUNG

„Ich bin ganz beruhigt in Gott, auch über meine Schriften, so ich euch hinterlasse. Ich fühle darüber gar keine Sorge, noch Bestrafung, als ob etwas Verdächtiges oder Irriges darin enthalten wäre. Ich habe alles, was ich geschrieben, als wichtige Wahrheit an mir selbst erfahren, und kann daher der Ewigkeit getrost entgegengehen." 2 8 Diese Äußerung Tersteegens entstammt einem Abschiedsbrief, den er 1738 schwer erkrankt und ohne Hoffnung auf Genesung einem vertrauten Freund mitteilt. Wort und Tat, Einsicht und Leben sind bei Tersteegen eine unauflösliche Einheit. U m so mehr überrascht es, daß in der Auseinandersetzung mit ihm beides eine so unterschiedliche Bewertung erfahren hat.

I. Frühe Schriften über Tersteegen Am Anfang seiner literarischen Wirkungsgeschichte stehen zwei Werke, die in ihrer Gegensätzlichkeit bereits den Rahmen abstecken, zwischen dem die Bemühung um eine angemessene Tersteegendeutung sich bewegt. Beide sind nicht als wissenschaftliche Arbeiten anzusprechen, aber sie markieren in ihrer Einseitigkeit die Ausgangspunkte, die für die theologische Bewertung Tersteegens symptomatisch erscheinen. In Gerardus Kulenkamps Kritik am Blumengärtlein beginnt noch zu Lebzeiten Tersteegens die Auseinandersetzung mit seinen Lehrmeinungen. Dagegen dokumentiert sich in der sogenannten „alten Lebensbeschreibung" die religiöse Verehrung seiner Freunde, die sich vor allem an seiner Lebensführung erbaut. Í. Erste literarische

Kritik

Gerardus Kulenkamp, D e naakt ontdekte Enthusiastery, Geest-Dryvery, ev bedorvene Mystikery der zo genaamde Herrnhuthers. uit hun Hoogduitsch gezangboek, en andere van hunne Schriften ten klaarste ten toon gesteh, en hunne overeenstemminge met de bedorvene Mystiken en Geest dryvers, in Deutschland en de Bevers in Engeland, op't duidelykste angewesen, 2 Teile Amsterdam 1739 u. 1740.

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B R III LE 37.

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A. Voget, Oorsprong en Voortgang van de valsche mystieke Godtgeleerdheid, zeer onderscheiden van de waare, bij gelegentheid der grove dwaalingen van de sects der Herrnhutters ontdekt en aangewezen, Utrecht 1739.

Im Herbst des Jahres 1738 war es zwischen den Brüdern der Brüderunität in Herrendijk und der reformierten Geistlichkeit in Amsterdam zu heftigen Kontroversen gekommen 2 9 . Darauf erschien im folgenden Jahr eine zweiteilige Streitschrift des Amsterdamer Predigers Gerardus Kulenkamp, in der er sich mit den theologischen Auffassungen der Herrnhuter auseinandersetzte. Als Quelle benutzte er das soeben erschienene „Hochdeutsche Gesangbuch" der Herrnhuter. U m nachzuweisen, daß aus diesem Gesangbuch nur „Geestdryvery, en bedorvene Mystikery" 3 0 spricht, verbindet er die Lieder mit Versen aus einem geheimnisvollen Buch, das in seiner Stadt nur „onder de hand uitgedeelf word" 3 1 und „vol geheimen der grouwelykste Enthusiastery" 32 sei. Wir erfahren, daß er „vel werk gehad", ehe er „dit boekje hebbe kommen machtig worden", denn es sei ein „heiligdom" der Herrnhuter 3 3 . Hinter dem so gefährlich erscheinenden Buch verbirgt sich nichts anderes als das „Geistliche Blumengärtlein" Tersteegens. Kulenkamp nennt auch den Autor, hält dieses Buch aber dennoch für „een aller gemeenzaamst handboekje der Herrnhuthers" 3 4 . In diesen Versen sei endlich die „Herrnhuthsche lere naakt worden ontdekt" 3 5 . Darin irrt Kulenkamp zweifellos, statt dessen hat er jedoch mit einiger Treffsicherheit die zentralen Anliegen tersteegenschen Denkens berührt 3 6 . Seine beachtliche Kenntnis mystischer Traditionen hat ihm dabei die Richtung gewiesen. Schriften von Poiret und Barcley sind ihm vertraut. Böhme und Weigel werden häufig zitiert. Er weiß um die Berührungspunkte mit platonischen und stoischen Anschauungsformen und findet schließlich diese 29

S. den „väterlichen Hirten-Brieffan die blühende Reformierte Gemeine in Amsterdam, zur Entdeckung von, und Warnung gegen die gefahrlichen Irrthümer von denen Leuten, welchen unter dem Nahmen der Herrnhuter bekannt sind: Geschrieben durch die Prediger und Aeltesten des Kirchen-Raths von Amsterdamm 1738", in: Büdingische Sammlung Bd. II, Stück IX in Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, Ergänzungsbände zu den Hauptschriften, hrsg. v. E. Beyreutheru. G. Meyer Bd. VIII Hildesheim 1965, S. 289-339. 30 Gerardus Kulenkamp, De naakt ontdekte Enthusiastery, Amsterdam 1739-1740, Titel. 31 Kulenkamp, Enthusiastery a.a.O. S. 48. 32 Ebd. 33 Kulenkamp a.a.O. Vorreden aan den lezer. 34 Ebd. 35 Kulenkamp a.a.O. S. 176. 36 So sind die von Kulenkamp beobachteten Übereinstimmungen zwischen den Auffassungen des Herrnhuter Gesangbuches und Tersteegens Blumengärtlein insofern zutreffend, als einige Lieder der Herrnhuter offensichtlich aus den Bibelkommentaren der Madame Guyon zehren und zwar nach der 1716 von Poiret besorgten Ausgabe: „Christliche und geistliche Diskurse über die Dinge, die sich auf das innere Leben beziehen. " (S. Max Wieser, Peter Poiret, München 1932, S. 109). Dadurch ergeben sich zwischen dem Blumengärtlein und dem Herrnhuter Gesangbüch auffällige Parallelen. Aber der Einfluß quietistischer Anschauungen bleibt fur die Herrnhuter eine vorübergehende Episode, fur Tersteegen dagegen zeitlebens bestimmend.

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Traditionen in Tersteegens Blumengärtlein wieder. Seine Bedenken gegen die Herrnhuter entfaltet er in vier großen Abschnitten: 1. d i e A b w e r t u n g d e s Ä u ß e r e n g e g e n ü b e r d e m I n n e r e n 3 6 3 2. d i e A b h ä n g i g k e i t v o n q u i e t i s t i s c h e n E i n f l ü s s e n 3 6 b 3. d i e in d i e V o l l k o m m e n h e i t m ü n d e n d e H e i l i g u n g 3 6 0 4. als g e f ä h r l i c h s t e K e t z e r e i d e n z u m P a n t h e i s m u s n e i g e n d e n G o t t e s b e g r i f f , d e r die Grenze zwischen S c h ö p f e r und G e s c h ö p f verwischt361*.

Alle diese Verdächtigungen findet er in den Versen des Blumengärtleins bestätigt. Hier werde die Beschäftigung mit dem äußeren, geschriebenen Wort gering geachtet und hier gelte das Ruhen in Gott als das beste Studieren 37 . Und tatsächlich trifft es noch auf Tersteegen am ehesten zu, daß die Einkehr in das Innere, in den Grund der Seele die Mitte des Evangeliums sei 38 . Er vertritt die quietistische Gelassenheit 39 und „Leidentlichkeit" 40 , die „uninteressierte Liebe" 4 1 und das „leidentliche Gebet" 4 2 ; er drängt auf Reinigung, Läuterung und Vernichtigung 43 und strebt schon jetzt die Vollkommenheit an. Schließlich äußert er den Verdacht, Tersteegen habe einen pantheistischen Gottesbegriff 44 , weil er für das Wesen Gottes Begriffe wie Licht und Luft, Geist und Grund, Element und Leben 45 verwende. So wiederholt Kulenkamp den schon von Voget 46 gegen Tersteegen geäußerten Vorwurf, er hänge der Lehre Spinozas an. Insgesamt hat Kulenkamp Tersteegens Begrifflichkeit durchaus erfaßt, sich jedoch mit Schaudern darüber geäußert: „ e n s c h r i k , lezer, d i e v o o r G o d s h o o g h e i t en v o o r z y n w o o r t b e e f t , v o o r z u l k e d i e p t e n s d e s S a t a n s , d i e m e n m e t d e s H e i l . S c h r i f t w i l b e d e k k e n . M y n h a r t is b e r o e r t van zulk Schrift verdraijen."

Tersteegen wußte um die Auseinandersetzung der holländischen Reformierten mit den Herrnhutern. Auch von Kulenkamps Buch hatte er Kenntnis genommen. Daß er dennoch schweigt, resultiert nicht aus Gleichgültig4 0 Ebd. 141 f. K u l e n k a m p a.a.O. S. 34-117. 4 1 Ebd. 162. E b d . 119-171. 3 6 c Ebd. 203-268. 4 2 Ebd. 169 f. 3 6 d E b d . 269-426. 4 3 Ebd. 1 7 7 f „ 1 8 9 f „ 195f. 3 7 K u l e n k a m p a . a . O . S. 68. 4 4 Ebd. 321. 3 8 Ebd. S. 72-76. 4 5 Ebd. 320-328. 3 9 E b d . 156-159. 4 6 Der Utrechter T h e o l o g e Voget hatte ebenso wie Kulenkamp 1739 eine Streitschrift gegen die Herrnhuter herausgebracht. Auch hier lag das neue Herrnhuter Gesangbuch zugrunde, in dem ohne Wissen Tersteegens sein Lied „Gott ist gegenwärtig" abgedruckt war. Dabei unterlief den Herrnhutern in der fünften Strophe jedoch ein sinnentstellender Druckfehler, indem sie „Lufft, die alles fühlet" statt „füllet" gesetzt hatten. Tersteegen beklagt sich noch Jahre später in einem Brief an Matthias Jorissen v o m 19. 11. 1762 über diesen Druckfehler, der „diese Irrthums wegen den Autoren zu einem Spinozisten" gemacht habe. Dieser Brief ist abgedruckt in: Friedrich August Henn, Matthias Jorissen, in Zeugen und Zeugnisse, B d . 9, hrsg. v. W. Braselmann, Neukirchen-Vluyn 1964 2 , S. 26 f. 36a

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keit, denn im Hinblick auf Kulenkamp schreibt er noch 23 Jahre später in einem Brief an seinen Vetter, den Theologen und Psalmdichter Matthias Jorissen: „Christi Geist (läßt) uns nicht gleichgültig in Fundamentallehren und ebenso wenig in praxi." 47

Diese Streitschrift war für ihn jedoch Ausdruck einer Theologenwut, die sich mit dem Geist Jesu nicht mehr vereinen ließ. „wohin geraten wir nicht, wenn wir nicht bei unserem Herrn bleiben, und unter der theuern Regierung des Geistes Jesu." 48

Mit der wider besseres Wissen behaupteten Gleichstellung von Tersteegen und den Herrnhutern hat sich Kulenkamp in den Augen Tersteegens selber disqualifiziert. 2. Berichte der Freunde Lebensbeschreibung des seligen Gerhard Tersteegen, in Geistliche und erbauliche Briefe über das inwendige Leben und wahre Wesen des Christentums, von weiland Gerhard Tersteegen, Bd. II Teil 3, Solingen 1775, S. 3-105 (BR III LE). Als ein kurzer Auszug und Bestätigung dieser Lebensbeschreibung kann folgendes Zeugnis eines Freundes angesehen werden, der beinahe 25 Jahr einen vertraulichen Umgang mit dem Seligen gepflogen; in Geistliche und erbauliche Briefe über das inwendige Leben und wahre Wesen des Christentums, von weiland Gerhard Tersteegen, Bd. II Teil 3, Solingen 1775, S. 106-116.

1775 erschien als Vorspann zum zweiten Band der „Geistlichen und erbaulichen Briefe" eine Biographie Tersteegens. Tersteegen hatte entgegen der Gewohnheit seiner quietistischen Vorbilder und Zeitgenossen keinen eigenen Lebensbericht verfaßt. Als seine Freunde ihn in seinem letzten Lebensjahr diesbezüglich noch einmal sehr bedrängten, übersandte er ihnen statt dessen lediglich eine testamentarische „Erklärung seines Sinnes" 49 und entschuldigte sich in einem Begleitschreiben für seine Weigerung mit folgenden Worten: „Ach, Gott! wie so mager, wie so vermischt, oder wohl gar hie und da anstößig, würde das herauskommen!" 5 0 Sein wahres Leben könne ohnehin erst dann anfangen, wenn er „bei anderen todt genannt werde", und so vertröstete er seine Freunde auf das ewige Leben. „Da werdet ihr, meine Brüder, mein Leben sehen, da werdet 47

F. A. Henn a.a.O. S. 26. Ebd. 49 Tersteegen hatte dieses Testament „schon vor sechzehn oder mehreren Jahren geschrieben" s. Des Seligen Gerhard Tersteegen hinterlaßene Erklärung seines Sinnes, seinem Testament beigelegt; nebst dessen Ermahnung zur Liebe, kurz vor seinem Ende so den 3ten April 1769 erfolget von ihm geschrieben, Elberfeld 1818. 50 Tersteegen, Erklärung a.a.O. S. 8. 48

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ihr mit mir leben, und da wollen wir einer dem andern zum ewigen Lobe Gottes, unsere Lebensbeschreibung erzählen." 51 Daß es dennoch wenige Jahre nach seinem Tode zu einer solchen Biographie kam, entsprach dem Bedürfnis seines Freundeskreises. So wollte man vor allem den auswärtigen Freunden, die Tersteegen selbst von Person nicht kannten, wenigstens einige „Nachricht von seinem Herkommen, Lebensart und Umständen" mitteilen 52 . Der Autor selbst möchte anonym bleiben. Der Vorbericht gibt an, daß sein Bericht aus einem „42-jährigen Umgange mit dem Seligen"53 hervorgegangen ist. Weiterhin erfahren wir, daß er „eine vertraute Freundschaft mit ihm gehalten, und, wo nicht von allem, doch von dem meisten ein Augund Ohrenzeuge gewesen ist" 54 . Danach wäre ein Bericht zu erwarten, der von einer persönlichen Vertrautheit mit Tersteegen zeugt. Die Biographie erweist sich jedoch als eine Zusammenstellung von Nachrichten, die eher auf eifrige Erkundung schließen läßt. Zeugnisse unmittelbarer Begegnungen fehlen. Der Autor ist somit als Sammler des ihm erreichbaren Materials anzusprechen. Seiner Darstellung liegen einmal die persönlichen Berichte von Tersteegens Lebensgefährten Heinrich Sommer zugrunde, „der den meisten Stoff zu dieser Lebensgeschichte hergegeben hat" 55 , zum anderen die sehr persönlichen Briefe, die Tersteegen an Maria d'Orville geschrieben hat und nach ihrem Tode 1755 zurückerhalten hat 56 , weiterhin ein recht langer Brief an den reformierten Prediger Eberhardt in Speyer, der in sechs Auszügen zitiert wird 57 , und schließlich einige wenige Briefe an Freunde und von Freunden. Die gleichzeitig erscheinende Sammlung der „Geistlichen und erbaulichen Briefe"

51

Tersteegen, Erklärung a.a.O. S. 9. BR III LE 4. 53 Ebd. 54 BR 14 (Vorb.). 55 BR III LE 38 Anm. h); diese Bemerkung, die über den Verbleib der Briefe an Maria d'Orville Auskunft geben will, kann sich m. E. nur auf Heinrich Sommer beziehen. Der Vorbericht nennt zwar nicht seinen Namen, statt dessen heißt es aber, daß der Schreiber „einen gewissen Freund, der demselben bei 44 Jahre und bis zum Ende seines Lebens gedient, zu Rate gezogen". BR III LE 4. 56 Ursprünglich sollten diese Briefe im zweiten Band der holländischen Briefe erscheinen. Siehe dazu Gerhard Kerlen, Gerhard Tersteegen, der fromme Liederdichter und thätige Freund der innern Mission. Mülheim a. d. Ruhr 1851 S. 79. Dieser zweite Band ist aber infolge des schlechten Absatzes des ersten Bandes nie erschienen. Die Lebensbeschreibung berichtet, daß diese Briefe nach Tersteegens Tod (wahrscheinlich über Heinrich Sommer) dem Verfasser zur Verfugung gestanden haben. 57 Goebel berichtet, daß der ganze Briefsich unter der N u m m e r 31 in seiner „Sammlung erbaulicher Briefe von verschiedenen Autoren" befindet, die Wilhelm Weck in drei Bänden angelegt habe. s. u. Anm. 66. Max Goebel, Geschichte des christlichen Lebens in der rheinischwestphälischen evangelischen Kirche, Bd. III hrsg. v. Th. Link Coblenz 1860 S. 373f. 52

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bleibt unberücksichtigt, dagegen ist ihm die 1772 in Amsterdam herausgegebene Sammlung der niederdeutschen Briefe bekannt 5 8 . Aus diesen Angaben ergeben sich für die Frage nach dem Verfasser gewisse Anhaltspunkte. Zunächst läßt sich die Vermutung von F. A u g é 5 9 , Heinrich S o m m e r als Autor anzunehmen, ausschließen. Heinrich S o m m e r kennt Tersteegen 44 und nicht 42 Jahre. E b e n s o w e n i g kann J . Engelbert E v e r t s e n 6 0 in Frage k o m m e n . Von Evertsen s t a m m t das oben genannte, an die Biographie angehängte Schreiben. Für ihn gilt, daß er „beinahe 25 Jahr einen vertraulichen U m g a n g mit d e m Seeligen g e p f l o g e n " 6 1 . D a g e g e n scheint mir van Andels Vermutung e r w ä g e n s w e r t 6 2 . Er nennt den in Roisberg bei Solingen beheimateten Wilhelm Weck als möglichen A u t o r 6 3 . A u f ihn könnte es zutreffen, daß er Tersteegen seit 1727 kennt. D i e Lebensbeschreibung berichtet, daß der Kandidat H o f f m a n n vornehmlich in diesem Jahr in das Bergische Land gereist sei, weil er hier reichlich Gelegenheit fand, in Versammlungen aufzutreten. Tersteegen habe ihn auf diesen Reisen begleitet, und auf D r ä n g e n H o f f m a n n s selbst das Wort ergriffen 6 4 . Besagter Wilhelm Weck ist 1703 geboren 6 4 3 und von Kindheit an i m Solinger Konvertikelkreis beheimatet 6 5 . Es ist anzunehmen, daß er Tersteegen 1727 kennengelernt hat und ihn somit 42 Jahre kennt. Für ihn spricht vor allem seine rege literarische Tätigkeit. Er hat zahlreiche, meist handschriftliche Aufzeichnungen hinterlassen: neben der dreibändigen „ S a m m l u n g erbaulicher Briefe von verschiedenen A u t o r e n " 6 6 aus d e m Freundeskreis Tersteegens eine w a h r scheinlich neunbändige B r i e f s a m m l u n g , genannt „Geistliches B l u m e n f e l d " 6 7 . WeiS. BR III LE 100. Friedrich Augé, Gerhard Tersteegen als Seelsorger, Neukirchen 1897 S. 5. 6 0 So J. Roeßle, Leben und Werk des Gerhard Tersteegen, Gießen 1948 S. 12. 6 1 BR III LE Bestätigung 106; so auch Goebel, Geschichte III, S. 401 u. Cornells Pieter van Andel, Gerhard Tersteegen in: Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte Nr. 46, Neukirchen-Vluyn und Düsseldorf 1973 S. 274. 6 2 So v. Andel, Tersteegen, a.a.O. S. 274. 6 3 Zu Wilhelm Weck s. Goebel, Geschichte III a.a.O. S. 388f. und besonders Friedrich Nieper, Die ersten deutschen Auswanderer von Krefeld nach Pennsylvanien, Ein Bild aus der religiösen Ideengeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts, Neukirchen 1940. Goebel irrt jedoch, wenn er meint, daß jener 1688 in Roisberg geboren und von Hochmann von Hohenau in Gräfrath erweckt worden sei. Hier handelt es sich vermutlich um einen gleichnamigen, nahen Verwandten. S. Nieper, Auswanderer a.a.O. S. 226, Anm. 137. 6 4 BR III LE 14. 64a S. „Geistliche Liebesbrocken", wo W. Weck im Bericht über den Tod des Hochmann von Hohenau schreibt: „Ich bin (1771, also 68 Jahre alt) noch allein übrig von dieser Gesellschaft in der Welt." S. M. Goebel, Geschichte II a.a.O. 851. Mir ist unverständlich, warum Nieper das Jahr 1714 als sein Geburtsjahr angibt. (S. Nieper, Auswanderer a.a.O. S. 266). 6 5 Sein Vater Johannes Weck war bis zu seinem Tod 1723 Führer der Solinger Wiedertäufer. S. Nieper, Auswanderer a.a.O. S. 226, Anm. 136. 6 6 Diese Sammlung enthielt etwa 50 Briefe aus der Zeit von 1765-1786, s. dazu Goebel, Geschichte III a.a.O. S. 358, Anm. 2 und S. 388. Goebel fand diese Sammlung im Besitz von W. A. Mühlenbeck in Saarn bei Mülheim, der wohl als der letzte unmittelbare Tersteegianer aus dem Mülheimer Freundeskreis anzusprechen ist. Er starb 1871. S. dazu Heinrich ForsthofF, die Erweckung in Mülheim a. d. Ruhr 1843-46 in MrhKG 13, 1919 S. 5. 6 7 Von dieser Sammlung ist das meiste leider verschollen. Nach H. Renkewitz, Hochmann von Hochenau (in Arbeiten zur Geschichte des Pietismus im Auftrag der historischen Kommis58

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terhin ist eine Biographie H o c h m a n n s v o n H o h e n a u mit einer A u s w a h l aus seinen Briefen, überschrieben „Geistliche Liebesbrocken" 6 8 , überliefert. E b e n s o hatte er eine Abschrift v o m „Leben des Herrn Carles H e c t o r Marquis St. G e o r g e de M a r say" 6 9 angefertigt und mit 53 Briefen u n d einigen Aufsätzen versehen. Schließlich hat er sich auch an Versen versucht u n d einen 96 Strophen langen „Heils- und LebensCalender" verfaßt 7 0 , s o w i e über Tersteegen selber z u m Anlaß seines Todes ein „Kindliches Hallelujah" gedichtet 7 1 . Tersteegens Briefe an ihn lassen eine gegenseitige Vertrautheit erkennen 7 2 . So liegt es nahe, in i h m auch den A u t o r dieser Biographie zu vermuten. Allerdings existiert v o n Weck auch ein m e r k w ü r d i g e r Brief an den Tersteegenfreund Teschenmacher in Elberfeld, in d e m Weck sich g e g e n den V o r w u r f verteidigt, er h e g e g e g e n Tersteegen nicht die schuldige H o c h a c h t u n g 7 3 . D e r Brief ist in Goebels Abdruck leider undatiert. Ein solcher V o r w u r f w ä r e k a u m m ö g l i c h , w e n n Weck die B i o g r a phie bereits verfaßt hätte. Sie m u ß j e d o c h schon z w i s c h e n 1773 u n d 1775 entstanden sein, denn 1773 bei der Herausgabe des ersten Briefbandes liegt sie n o c h nicht v o r 7 4 , aber 1775 w i r d sie dann v o n den Solinger Freunden den Briefen b e i g e f u g t 7 5 . So ergeben sich auch g e g e n Wecks Verfasserschaft E i n w ä n d e .

Die Biographie ist ohne übergreifende Gliederung. Dennoch sind drei Abschnitte erkennbar. Auf den Seiten 5-36 erscheint der eigentliche Lebenssion zur Erforschung des Pietismus, hrsg. v. K. Aland, E. Peschke u. M. Schmidt, Bd. 5) Witten 1969 S. 272, befand sich um 1925 Teil V und VI noch bei Friedrich Augé. Teil IX ist im Archiv der reformierten Gemeinde Barmen-Gemarke vorhanden. V. Andel, G. Tersteegen a.a.O. S. 272 berichtet, daß Teil VII sich im Besitz von Herrn W. Müller in DuisburgMeiderich befindet. 68 Geistliche Liebesbrocken von dem liebevollen Jünger und Streiter Jesu Christi E m s t Christoph Hochmann von Hogenau, 2 Teile 1771, im Besitz von Herrn Friedrich Behmenburg in Duisburg-Meiderich. 69 Das Leben des Herrn Caries Hector Marquis St. George de Marsay, von ihm selber beschrieben. Nebst dem Leben der mit ihm vermählten Fräulein Clara Elisabeth von Callenberg. Eine von W. Weck 1769 angefertigte Abschrift fand Goebel im Provinzialkirchenarchiv in Koblenz, s. Goebel, Geschichte III a.a.O. S. 194. 70 Unpartheyischer geistlicher Heils- und Lebens-Calender oder aufrichtes Glaubens-Bekenntniß eines begnadigten armen Sünders, Roisberg 1782-88 von Wilhelm Weck; nach Nieper, Auswanderer, a.a.O. S. 227 umfaßt es 96 Strophen auf etwa 32 Seiten. Es ist überliefert in handgeschriebenes Büchlein v. Jac. Faust, Köln 1862 nach Manuskripten von Abr. Schaefoder Schaaf. 71 Kindliches Hallelujah, oder Lob- und Aufmunterungs-Lied über das Heilige Leben und Selige Abscheiden des lieben G. T. St. in Mülheim an der Ruhe, so den 3. April 1769 erfolget, worinnen dessen Inn- und äußerer Zustand und Charakter zwar kürzlich und einfältig, aber dabei doch ziemlich vollständig, freimüthig und deutlich abgehandelt wird, zur Verherrlichung Gottes von Einem seiner Freunde aufgestellet, der ihn viele Jahre gekannt und geliebet und seinem Glauben nachzufolgen wünschet; abgedruckt in P. W. Stursberg, Zur Gedächtnißfeier des hundertjährigen Todestages Gerhard Tersteegens am 3. April 1869, Leipzig 1869. 72 S. BR III 23fT. (11); 90ff. (28); 120ff. (41); 140f. (47); 147ff. (49); 251 ff. (79); 281 ff. (90). 73 Der Brief ist bei Goebel veröffentlicht in Geschichte III a.a.O. S. 445-447; zitiert nach „Sammlung erbaulicher Briefe von verschiedenen Autoren" II. 10. 74 Die 1772 in Amsterdam erschienenen holländischen Briefe werden bereits als veröffentlicht genannt. 75 S. Kerlen, Tersteegen a.a.O. S. 18.

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bericht. Dann folgt ein 65 Seiten umfassender, gleichsam hagiographischer Teil, in dem der Leser in den Stand gesetzt werden soll, „Tersteegens sonderbare Gaben, die große ihm geschenkte Gnade, und seine edle Gesinnung von Nahem kennenzulernen" 76 . Schließlich folgt von Seite 101-105 ein Bericht über Tersteegens letzte Krankheit und Tod. Im ersten Abschnitt ist die Abhängigkeit des Biographen von seinem Quellenmaterial besonders offenkundig. So berichtet er bis zu Tersteegens 49. Lebensjahr auf 13 Seiten. Dann erst stehen ihm schriftliche Quellen zur Verfügung. So füllen die folgenden 10 Lebensjahre immerhin 18 Seiten. Auch für den zweiten Abschnitt entnimmt der Autor sein Material vornehmlich den Briefen an Maria d'Orville. Dieser Abschnitt ist als ein erster Versuch anzusprechen, Tersteegens Anliegen mittels einer Darstellung seiner wichtigsten Themen zu entfalten. Für die weitere Arbeit an Tersteegen ist die „Alte Lebensbeschreibung" grundlegend geblieben, jedoch weniger aufgrund der Darstellungsweise als vielmehr infolge ihres hohen Quellen wertes. Das Biographische kann als sicher und vertrauenswürdig gelten 77 . Die wichtigen Briefe an Maria d ' O r ville sind von einigen wenigen abgesehen 78 allein in den 40 Fragmenten der Lebensbeschreibung erhalten. Andererseits bleiben gerade im biographischen Teil einige auffällige Lücken. So wird man Tersteegens literarisches Hauptwerk, die „Auserwählte(n) Lebensbeschreibungen heiliger Seelen" nicht einmal erwähnt finden. Es fehlt jeder Hinweis auf seine Beziehungen zum Quietismus. Schließlich wird man hier vergeblich nach Auskunft suchen über Tersteegens Verbindung zu den Brüdern auf der Otterbeck.

II. Biographische und kirchengeschichtliche Arbeiten über Tersteegen im 19. Jahrhundert Gerhard Kerlen: Gerhard Tersteegen, der fromme Liederdichter und thätige Freund derinnern Mission, Mülheim a. d. Ruhr 1851, 18532. - Gedanken Gerhard Tersteegen's über die Werke des Philosophen von Sanssouci, Mülheim a. d. Ruhr 1853. - Rede des gottgelehrten Duisburger Rektors J. Gerhard Hasenkamp, gehalten Mülheim a. d. Ruhr, den 6. April 1769 über den Tod des frommen Theologen und theosophischen Liederdichters Gerhard Tersteegen, Mülheim a. d. Ruhr 1869. Max Goebel: Geschichte des christlichen Lebens in der rheinisch-westphälischen 76

BR III LE 36. S. dazu v. Andel, Tersteegen a.a.O. S. 272. 78 Von einer Ausnahme abgesehen, dem Brief vom 17. 11. 1750 (G. K. Nr. 48 = BR N S 1 9 7 - 202 [129]), sind diese Briefe verschollen. Darüber hinaus sind nur noch wenige Briefe an sie erhalten: U. 66; U . 97; G. K. 30. 6. 1750; G. K. 29. 9. 1750; s. v. Andel, Tersteegen a.a.O. S. 85 Anm. 50, neuerdings veröffentlicht in BR N S (61), (85), (127), (128), (163). 77

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evangelischen Kirche, Bde. I—III, Göttingen 1849-1860, darunter in Band III §11 Gerhard Tersteegen, S. 289-447. P. W. Stursberg: Das Leben Gerhard Tersteegens, Mülheim a. d. Ruhr 1869, eine Neuausgabe der Biographie Goebels. - Zur Gedächtnißfeier des hundertjährigen Todestages Gerhard Tersteegens am 3. April 1869, Leipzig 1869. Í. Gerhard Kerlen

Vom Erscheinen der „Alten Lebensbeschreibung" bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ist von keiner nennenswerten theologischen Bemühung um Tersteegens Leben und Wirken zu berichten. Seine Schriften werden jedoch immer wieder neu verlegt 79 . Daneben zeugen weitere Veröffentlichungen aus seinem Nachlaß von einem ungebrochenen Interesse an seiner Person80. Schließlich kommt es 1844-45 in Stuttgart zu einer achtbändigen Ausgabe seiner gesammelten Schriften81. Damit steht um die Mitte des 79 S. ζ. B. Die Auflagen des Blumengärtleins: 1. A u s g a b e 1727 vollendet, Vorrede v. 24. A u gust; g e d r u c k t Frankfurt-Leipzig 1729'; 1735 2 ; 1738 3 ; 1745 4 ; Solingen 1751 5 ; 1757 6 ; 1769 7 ; 1778 8 ; 1786 9 ; 1793 10 ; u. Spelldorf 1797; 1808"; 1818 12 ; 1826 13 ; 1841 14 ; Stuttgart 1844; 1855 15 ; Auflagen nach Wilhelm Nelle, Tersteegens Geistliche Lieder, M i t einer Lebensgeschichte des D i c h t e r s u n d seiner D i c h t u n g , Gütersloh 1897; vgl.: Geistliche Brosamen: 1769 1 ; 1772/73 2 ; 1780 3 ; 1798 4 ; 1824 5 ; 1827 6 ; Stuttgart 1844/45; vgl.: Weg der Wahrheit: 1750 1 ; 1768"; Spelldorf 1803 6 ; Essen 1834 7 ; 1865 8 ; 1895 9 ; Stuttgart 1926 u n d 1968; vgl. : Ausgewählte Lebensbeschreibungen: B d . I 1733; Bd. II 1735; B d . III 1753; 1754 2 ; 1784 3 ; vgl.: Geistliche Briefe: Solingen 1773-1775; Spelldorf 1798-1799 2 ; Bd. I Stuttgart 1845. 80 1772: G o d v r u c h t i g e en stigtelijke Brieven, over verscheidene materien, die het i n w e n d i g e leben, of de gedurige oeffenning des C h r i s t e n d o m s betreffen. Eerste Deel, A m s t e r d a m u. H o o m 1772 1773: E r k l ä r u n g ü b e r einige P u n k t e v o n d e m Glauben u n d der Rechtfertigung, d e m geschriebenen Worte Gottes u s w . , T ü b i n g e n 1773, seit 1865 als „ Z u g a b e " in Kerlens Ausgabe v o n W W 1865 s ; s. dazu ν. Andel, Tersteegen a . a . O . S. 57 A n m . 162 1775: Beweis, daß m a n demjenigen, der v o n G o t t in seinem Gewissen zurückgehalten w i r d , mit offenbaren Weltkindern u n d Gottlosen nicht z u m A b e n d m a h l zu gehen, seine Gewissensfreiheit uneingeschränkt lassen müsse. Vorgestellt v. G. T . Steegen 1775; s. dazu Goebel, Geschichte III a . a . O . S. 422f. u. v. Andel, Tersteegen a . a . O . S. 272

1801: Unparteiischer Abriß christlicher G r u n d w a h r h e i t e n , Essen 1801, Essen 1842 2 , Stuttgart 1844 1821: Die w a h r e T h e o l o g i e des Sohnes Gottes, Essen 1821 1836: Gottesfurchtige u n d erbauende Briefe über verschiedene Gegenstände, die das innere Leben o d e r die f o r t w ä h r e n d e A u s ü b u n g des C h r i s t e n t h u m s betreffen v o n Gerhard Tersteegen, aus d e m Holländischen übersetzt, Essen 1836 1841: Ansichten ü b e r das heilige A b e n d m a h l , nach seinen eigenen wörtlichen, größtentheils noch u n g e d r u c k t e n A u s s p r ü c h e n über dasselbe, Essen 1841 1842: Nachgelassene Aufsätze u n d A b h a n d l u n g e n z u m erstenmal d e m D r u c k übergeben, Essen 1842. 81 Diese A u s g a b e besteht in einem schlichten N e u a b d r u c k früherer Veröffentlichungen. Sie enthält das Blumengärtlein (Bd. I), den Unparteiischen Abriß (Bd. II), Geistliche B r o s a m e n Teil I—IV (Bd. III-VI) u n d den ersten Band v o n Geistliche u n d erbauliche Briefe, Teil I—II (Bd. VII u. VIII).

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19. Jahrhunderts ein Quellenmaterial zur Verfugung, das eine umfassendere Darstellung Tersteegens ermöglicht und geboten erscheinen läßt. Etwa gleichzeitig bemühen sich Gerhard Kerlen und Max Goebel um eine vollständige Biographie. 1851 erscheint Kerlens Werk, neun Jahre später veröffentlicht Th. Link Manuskripte des inzwischen verstorbenen Max Goebel, darunter eine außerordentlich kenntnisreiche Biographie zu Gerhard Tersteegen. Beiden steht durch die Verbindung zu Tersteegens Freundeskreis eine beträchtliche Anzahl handschriftlich verfaßter Aufzeichnungen und Briefe zur Verfugung. Kerlen berichtet, er habe allein in 15000 (!) Briefe Tersteegens und seines Freundeskreises Einsicht nehmen können 8 2 . Aber Kerlen stellt seine Quellenkenntnis und seine Vertrautheit mit den lokalgeschichtlichen Gegebenheiten nicht in den Dienst einer differenzierten Deutung Tersteegens. Er will „keine wissenschaftliche Arbeit liefern" 83 , sondern lediglich „ihn und seine Schriften bei mehreren einfuhren" 84 . Darum verknüpft er ihn immer wieder mit Autoritäten und Gedanken des 19. Jahrhunderts, versucht ihn als „thätigen Freund der inneren Mission" darzustellen und verliert sich oft genug in störende Abschweifungen. Einen theologischen Beitrag zur Deutung Tersteegens wird man von diesem Werk nicht erwarten können. Im Gegenteil, Kerlens Darstellung kann eher den Blick für eine angemessene theologische Beurteilung verstellen. Dennoch ist seine Arbeit insofern verdienstvoll, als er hierin eine Vielzahl zunächst nur für sich gesammelter Lebensnachrichten über Tersteegen zur Verfügung stellt. Nicht nur, daß er die in der alten Lebensbeschreibung herausgenommenen Namen mitteilt, er zitiert aus dem großen Schatz unveröffentlichter Briefe 85 und berichtet Anekdotenhaftes aus den Mitteilungen alter Freunde. In vier Abschnitten berichtet er über das Leben Tersteegens. Abschnitt I und II beinhalten seine Kindheit und Jugend, Abschnitt III und IV Mannesalter und Tod. Wichtig für die nachfolgende biographische Arbeit an Tersteegen ist seine Zäsur um das Jahr 1725. Wenn er auch mit diesem Einschnitt keinen Bruch in der Entwicklung Tersteegens zulassen möchte, so sieht er doch mit diesem Jahr eine deutliche Beruhigung in seiner Seelenverfassung eintreten. Den Bericht der alten Lebensbeschreibung von einer fünf Jahre lang andauernden Finsternis datiert er auf die Zeit von 1719-1724, hält aber die Meinung, „daß diese lange Zeit ganz eine trostlose gewesen sei" 86 für eine übertriebene Schlußfolgerung. Kerlen verzichtete leider auf jegliche 82

Kerlen, Tersteegen a.a.O. 1853 2 S. XVI. Kerlen, Tersteegen a.a.O. 1851 S. 16. 84 Kerlen, Tersteegen a.a.O. S. 7. 85 In der 1. Auflage s. S. 27 f. an seinen Neffen Christian Tersteegen; S. 28 ff. an denselben; S. 38f. an Bruder Fischer; S. 39f. an denselben; S. 107 an Chr. Krabb; S. 156f. an Engelbert Evertsen; S. 157ff. an denselben; S. 159f. an denselben. In der 2. Auflage von 1853 einige weitere Briefe, darunter einen höchst aufschlußreichen an den Prediger Wurm aus dem Jahr 1750 S. 120-123. 86 Kerlen, Tersteegen a.a.O. S. 51. 83

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Quellenangaben, ebenso auf Literaturanmerkungen und ein Register. Sein Werk wird dadurch recht unhandlich. Es entspricht dem Eindruck, w e n n Kerlen mitteilt, daß er „ohne eine eigentliche Vorarbeit geschrieben, u n d chronologische O r d n u n g nicht überall berücksichtigen konnte" 8 7 . 2. Max Goebel Anders die Arbeit von M a x Goebel. Hatte er ursprünglich nur eine Darstellung von Samuel Collenbusch beabsichtigt, so w u r d e durch seine umfassende Vorarbeit eine dreibändige „Geschichte des christlichen Lebens in der rheinisch-westphälischen evangelischen Kirche" daraus. Seine Darstellung Tersteegens im dritten Band zeugt von einer besonderen Liebe und außerordentlich intensiven B e m ü h u n g u m das Leben und Wirken des Mülheimers 8 8 . Er ist für ihn „der berühmteste und f r ö m m s t e Mystiker der deutschreformierten Kirche und des achtzehnten Jahrhunderts überhaupt" 8 9 . Seine Lebensbeschreibung bildet die Mitte dieses unvollständig gebliebenen Bandes, der sich mit dem Separatismus in der rheinisch-westfälischen Kirche des achtzehnten Jahrhunderts befaßt. Vor dieser weitgehend unerfreulichen Geschichte des Separatismus erstrahlt das Auftreten Tersteegens in besonderem Glanz. D u r c h seine Haltung in dieser Frage sieht er die Gefahr des Separatismus von innen her ü b e r w u n d e n und abgewehrt. Wenn Tersteegen auch selbst ohne feste Bindung an seine Erbreligion geblieben ist, so bahnt er doch „seinem zahlreichen jüngeren Anhange die Annäherung und die Rückkehr zu der unterdessen neu belebten Kirche" 9 0 . Aus diesem Blickwinkel entwirft Goebel die Darstellung Gerhard Tersteegens. Seine Arbeit ist biographisch angelegt und wiederholt den Aufbau Kerlens: Teil 1 handelt von Tersteegens Jugend und E r w e c k u n g u n d endet wie bei Kerlen mit der Verschreibung v o n 1724 (S. 286-316). D e n 2. Teil bildet Tersteegens öffentliches Leben als Schriftsteller, Leibarzt und Seelenführer und schließt mit d e m Ende seiner öffentlichen Wirksamkeit 1756 (S. 316— 410). D e r 3. Teil berichtet von Tersteegens Alter u n d Tod (S. 410-438). Ü b e r Kerlens Aufriß hinaus gibt der 2. Teil einen umfassenden Bericht über Tersteegens frühe schriftstellerische Tätigkeit und weiterhin einen beinahe 50 Seiten umfassenden Überblick über seinen weitverzweigten Freundeskreis. Innerhalb des 3. Teils, i m R a h m e n einer Darstellung seiner Spätschriften, entwirft Goebel zusammenfassend „die Grundzüge seiner christlichen Lehrauffassung ü b e r h a u p t " 9 1 und referiert seine Äußerungen zu Sepa87 Kerlen, Tersteegen a.a.O. S. 16; hier sei noch vermerkt, daß in Kerlens Exemplar der Geistlichen und erbaulichen Briefe handschriftlich alle Adressaten vermerkt sind, die ihm gesichert erschienen. 88 Goebel, Geschichte I a.a.O. S. X. 89 Goebel, Geschichte III a.a.O. S. 289. 90 91 Goebel, Geschichte III a.a.O. S. 421. Ebd. S. 412.

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ratismus und Kirche. Als Ziel seiner ersten Literaturübersicht gibt Goebel an, er habe den Leser damit über Tersteegens „innigen Zusammenhang mit den Mystikern und Quietisten der Niederlande und Frankreich" unterrichten wollen 92 , und zur Beurteilung dieser frühen mystischen Schriften heißt es in seiner Stellungnahme zu den Lebensbeschreibungen heiliger Seelen: „das Einseitige und Verkehrte seiner ganzen mystisch-quietistischen Richtung ist in keiner anderen Schrift so sehr wie in dieser hervorgetreten... " 9 3 Worin liegt fur ihn aber nun das Bedeutsame dieses Mülheimers? Tersteegen sei „von diesem Irrthume und Abwege je länger je mehr, wenn auch anfangs gegen seinen Willen, zurückgekommen" 9 4 . So beginnt fur Goebel mit dem Jahr 1725 eine Entwicklung, die Tersteegen allmählich von seinem asketisch-eremitischen Lebensideal fortfuhrt und zu einem „der geplagtesten, gemeinsamsten und arbeitsamsten Christen" werden ließ 95 . Er unterscheidet somit zwischen einer quietistischen Frühzeit und einer reiferen Phase seelsorgerlicher Tätigkeit. Seine Verehrung resultiert aus den Briefen und Reden 96 , in denen Tersteegen als Seelsorger und Erweckungsprediger hervortritt. Seine Liebe gilt vornehmlich dem Seelenführer Tersteegen. Dieser Ausrichtung verdankt die Tersteegenforschung jenen wertvollen Bericht über das Ausmaß seiner Wirksamkeit. Mit der Übersicht über seinen Freundeskreis und ihre fuhrenden Mitglieder erfaßt er zugleich einen Großteil der Adressaten seiner Briefe. Es gelingt ihm, zu den über 600 gedruckten Briefen mit Ausnahme von 37 noch unbekannten Empfängern 9 7 alle Adressaten herausfinden und mitzuteilen. Goebel unterstreicht, daß sich Tersteegens Wirksamkeit in einem U m kreis vollzogen habe, in dem „die Babelstürmerei wider die herrschende orthodoxe Kirche und ihrer Absonderung von ihr und ihrem Gottesdienst für Kennzeichen und Beweis des wahren Christentums galt" 98 . So habe auch Tersteegen anfangs zu den schroffsten Separatisten gehört und sich an Hochmann und Hoffmann orientiert. Seine Frömmigkeit hätte ihn aber bald zu einer Unparteilichkeit gefuhrt, die ihn sowohl den Herrnhutern als auch der Ellerschen Sozietät gegenüber zu kritischer Distanz veranlaßt habe. Durch seinen Einfluß seien die erweckten Kreise am Niederrhein nicht der Kirche entzogen, sondern in ihr „das Salz (geworden), das sie zur Würze wider die Fäulnis bedarf' 9 9 . U m dieses Salz der Kirche zu bewahren, lag Goebel an 92

E b d . S. 336. E b d . S. 334. 94 E b d . S. 337. 95 Ebd. 96 Sein Urteil über Tersteegens Reden: „Hiernach k ö n n e n Tersteegens Reden w o h l m i t Recht als die edelste u n d feinste Frucht christlicher F r ö m m i g k e i t u n d Wirksamkeit bezeichnet w e r d e n u n d ich weiß keinen Zeitgenossen, dessen Predigten nach F o r m oder Inhalt den seinigen vorzuziehen oder auch gleichzustellen w ä r e n . " Goebel, Geschichte III a . a . O . S. 409. 93

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S. 401, A n m . 4 v e r m e r k t die i h m u n b e k a n n t gebliebenen E m p f a n g e r . Goebel, Geschichte III a . a . O . S. 420. E b d . S. 375; vgl. S. 421.

einer entsprechenden Deutung seiner Lehrmeinungen. Tersteegen war ein „reformierter und protestantischer Christ", und wenn auch „kein Prädestinatianer", so doch „in allen evangelischen Fundamentallehren im Wesentlichen durchaus rechtgläubig, namentlich auch in der Versöhnungs- und Rechtfertigungslehre" 1 0 0 . Dies ist der Tenor seiner theologischen Bewertung im 3. Teil 1 0 1 . Mit dieser Deutung schien Tersteegens Platz innerhalb der evangelischen Kirche des Rheinlands nunmehr endgültig gesichert, zumal die Gründlichkeit der Nachforschungen und die Sachlichkeit der Darstellungsweise diese Biographie zu dem grundlegenden Nachschlagewerk über Tersteegen werden ließen.

III. Theologische Arbeiten zur Mystik Tersteegens Albrecht Ritsehl: Geschichte des Pietismus, B d . I: D e r Pietismus in der reformierten Kirche, B o n n 1880, S. 455-494. Heinrich Forsthoff: Tersteegens Mystik, Monatshefte für rheinische Kirchengeschichte ( = M r h K G ) 12, 1918 S. 129-191 und 193-201. - D i e M y s t i k in Tersteegens Liedern, Bonner Diss. Hattingen a. d. Ruhr o. J . , in: M r h K G 12, 1918 S. 202-246. - D i e Haupturkunden der protestantischen M y s t i k als Q u e l l e n der M y s t i k Tersteegens, M r h K G 14, 1920 S. 3-41, 49-85, 113-126. - D e r religiöse Grundcharakter Tersteegens, M r h K G 22, 1928, S. 1-22. - Tersteegen und der Katholizismus, M r h K G 13, 1919, S. 129-149. - Tersteegen in Lehrstreitigkeiten, M r h K G 13, 1919, S. 177-200. - Wilhelm H o f f m a n n , D e r geistliche Vater Tersteegens, M r h K G 11, 1917, S. 9 7 123. - Von Tersteegen z u m M e t h o d i s m u s , M r h K G 10, 1916, S. 321-329. Ebd. S. 413. Hier folgt Goebel einer Auffassung, die sich bereits in der Gestalt des reformierten Predigers Johann Heinrich Wolf ankündigt. Mit ihm gelangt von 1808-1842 wieder der Pietismus auf Mülheims Kanzel und Tersteegen erscheint aus seiner Sicht als der vornehmste der Mülheimer Pietisten (s. Heinrich Forsthoff, Die Erweckung in Mülheim a. d. Ruhr 1843-1846 in MrhKG Nr. 13, 1919 S. 3-32, besonders S. 8f.). War Tersteegens Name vorher außerhalb des engen Kreises der Tersteegenfreunde fast völlig in Vergessenheit geraten, so beginnt nun eine Zeit neuer kirchlicher Tersteegenverehrung allerdings unter Zurückdrängung quietistischer Elemente. Die kirchliche Integration Tersteegens findet ihren Höhepunkt in dem Mülheimer Prediger Stursberg, der von 1858-1881 sein Amt versieht und vornehmlich 1869 zu Tersteegens lOOjährigem Todestag, aber auch sonst sich auf Tersteegens Erbe beruft (s. vor allem seine Wochenschrift „Sabbathklänge"). Dabei deutet er Tersteegens kirchliche Indifferenz nicht als Auswirkung seiner Mystik, sondern als Reaktion auf den damaligen Prediger Wurm, den Stursberg als „Feind der Gläubigen" brandmarkt. (S. dazu Heinrich Forsthoff, Von Tersteegen zum Methodismus MrhKG 10, 1916 S. 335). 100

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Oskar Söhngen: Gerhard Tersteegen und die Gemeindefrömmigkeit, M r h K G 20, 1926, S. 117-137. Friedrich Winter: Die Frömmigkeit Gerhard Tersteegens in ihrem Verhältnis zur französisch-quietistischen Mystik, Sonderdruck aus: Theologische Arbeiten aus dem Rheinischen Wissenschaftlichen Prediger Verein, Heft 23, 1927, S. 3-165. - Zur Frömmigkeit Tersteegens und zum Problem der Mystik, MrhKG 22, 1928, S. 129-142. Walter Blankenagel: Tersteegen als religiöser Erzieher, Ein Beitrag zur Mystik, Psychologie und Pädagogik des Pietismus, Diss. Köln 1934. Jürgen Moltmann: Grundzüge mystischer Theologie bei Gerhard Tersteegen, in: EvTh 16, 1956, S. 205-224. 1. Albrecht

Ritsehl

Zwanzig Jahre nach Goebels grundlegender Biographie erscheint in Albrecht Ritschis Geschichte des Pietismus eine Abhandlung über Tersteegen, die sich mit dem theologischen Fundament seiner Frömmigkeit auseinandersetzt 102 . Unberührt von Tersteegens Wirkungskreis folgt dieser Göttinger Neukantianer lediglich dogmatischen Beurteilungskriterien. Allein sein Vorverständnis zu Pietismus und Mystik entscheidet über die Bewertung Tersteegens 103 . Damit wird aus dem, was bisher nur ein Gegenstand historischer Nachforschung gewesen ist, ein dogmatischer Problemfall. Ritsehl entfaltet sein Vorverständnis in ausführlichen Prolegomena. Einer Bemerkung Goebels folgend sieht er im Pietismus ein Aufleben von Bestrebungen der Wiedertäufer, diese ihrerseits hätten ihre Wurzel in der franziskanischen Reformbewegung. Franziskanische Reform und lutherische Reformation sind für Ritsehl jedoch unversöhnliche Gegensätze. Der Pietismus als solcher und erst recht diese quietistische Variante sind für ihn ein Rückfall in katholisches Denken und ein dem lutherischen Erbe widerstreitendes Unternehmen. Hat Goebel noch eine Entwicklung von einem katholischquietistischen zu einem rechtgläubig-pietistischen Tersteegen zugrundegelegt, so findet diese Konstruktion bei Ritsehl wenig Verständnis. O b Quietismus oder Pietismus, beides sind ihm lediglich Spielarten ein und derselben Sache. Das eine Mal dominiert mehr die voluntaristische Frömmigkeit eines Duns Scotus, das andere Mal die emotionale Frömmigkeit eines Bernhard 102

Seine Darstellung verwendet beinahe ausschließlich Goebels Bericht und bedeutet insofern keine Bereicherung des Materials. 103 Als Vorverständnis brachte er Kants spöttische Äußerung zu den „Mystikern" Swedenborg und Hamann mit (Träume eines Geistersehers erläutert durch Träume der Metaphysik, in Sämtliche Werke V, Die kleineren Schriften zur Logik und Metaphysik, hrsg. v. K. Vorländer 19052, 2. Abtl. Die Schriften von 1766-86 S. III ff.). Kant verwies die Mystik in den Bereich von Aberglauben und Scharlatanerie. Wer sich mit ihr auseinandersetzt, steht in der Gefahr, sich lächerlich zu machen. Zu Ritschis Verständnis der Mystik siehe den Bericht von Fritz-Dieter Maaß, Mystik im Gespräch, Materialien zur Mystik-Diskussion in der katholischen und evangelischen Theologie Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg, Würzburg 1972 S. 169ff.

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von Clairvaux. „War nun schon dieser Absenker katholischer Devotion in der reformierten Kirche wohl gediehen, so war kein Grund dagegen, warum nicht auch die kräftigere Spielart derselben auf jenen Boden übertragen werden sollte.. ," 1 0 4 Damit kommt Ritsehl zu einem vernichtenden Urteil über das Anliegen Tersteegens und zurück bleibt lediglich eine gewisse „Sympathie" für seine „demüthige Gelassenheit"1043. Ritsehl beginnt mit der Lebensgeschichte und kommentiert sie mit einigen wohlmeinenden Ratschlägen105. Danach überprüft er den Unparteiischen Abriß auf seine Rechtgläubigkeit und weist ihm allerlei problematische Differenzen nach 106 , deren Tersteegen sich selbst wohl „nicht bewußt gewesen sein m a g . . ," 107 . Er kommt zu dem Resümee, daß Tersteegen „mehr von den Vorbildern des katholischen Quietismus abhängt, als von der pietistischen Überlieferung . . . " 108 . Dies bestätigt sich für ihn in der Art und Weise seiner Lebensführung, die Tersteegen „als Muster des christlichen Lebens" betrachte 109 , dies erweist sich an seiner Betätigung als Seelenfuhrer 110 und bekundet sich in seiner Gleichgültigkeit gegen alle partikularen Kirchenbildungen, sowohl der etablierten wie auch der separatistischen111. Und schließlich habe ihn diese Orientierung am Quietismus zu der „Gleichsetzung von evangelischem Christentum und Mystik" veranlaßt 112 , durch die er seine katholischen Vorbilder „mit höchstem Recht Evangelische Christen" nennen kann 113 . So kommt er zu dem provozierenden Urteil: Tersteegen „ist eine unregelmäßige Erscheinung; mit seiner in der katholischen Kirche heimatberechtigten Art ist er in die reformierte Kirche verschlagen" 114 . 2. Heinrich

Forsthoff

Zwischen den Jahren 1916-1920 erschien in den Monatsheften zur rheinischen Kirchengeschichte eine Folge von Beiträgen, die auf dem Ergebnis Ritschis aufbaute. Ihr Autor, Heinrich Forsthoff, war reformierter Pfarrer in Mülheim und durch seine Gemeindesituation genötigt, sich mit dem Erbe Tersteegens auseinanderzusetzen. Seine Stellungnahme war eindeutig: „Ter104

Ritsehl, Pietismus a.a.O. S. 473. Ebd. S. 491. 105 So belehrt er den Leser darüber, daß Tersteegen die „Zeit seiner Verdunkelung" sehr einfach dadurch hätte überwinden können, daß er die einsiedlerische Führung seines Lebens aufgegeben und sich den „Reibungen mit der Gesellschaft" und den „Zusammenstößen mit verschieden gearteten Menschen" ausgesetzt hätte, so Ritsehl, Pietismus a.a.O. S. 460. 106 111 Ebd. S. 465. Ebd. S. 483. 107 112 Ebd. Ebd. 488. 108 113 Ebd. S. 467. Ebd. 487. 109 114 Ebd. S. 478. Ebd. 491. 110 Ebd. S. 475. 1041

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steegens Religion ist die heidnische Mystik, nicht die christliche Offenbarung. . ." 1 1 S Von diesem Ausgangspunkt entstand ein Tersteegenbild, das dazu bestimmt schien, die aktuelle und auch historische Bedeutung seines vielgerühmten Mitbürgers in Frage zu stellen115*. Die Vertrautheit mit der Geschichte seiner Mülheimer Gemeinde und mit den Schriften Tersteegens verlieh dabei seinen nicht gerade maßvollen U r teilen einen wissenschaftlichen Anspruch. Seine Aufsatzserie zu Tersteegen beginnt mit einer wertvollen Arbeit über Wilhelm Hoffmann. Alles, was ihm an Nachrichten und Schriften von diesem „geistlichen Vater Tersteegens" erreichbar war, hat er zusammengetragen und referiert. Aber schon hier durchzieht sein Referat eine herabsetzende Beurteilung: „Hoffmann war der Meister und Tersteegen sein Schüler . . ," 1 1 6 Er nennt es eine „Laune des Schicksals", „die Hoffmann für die Nachwelt fast hat verschwinden und Tersteegen, der das bereitete Nest einnahm, die reichen Früchte der Saat Hoffmanns hat ernten lassen.. ." 1 1 7 . Abgesehen von diesem Urteil überzeugt jedoch sein Versuch, die gedankliche und seelsorgerliche Abhängigkeit des jungen Tersteegen von seinem älteren Freund Hoffmann nachzuweisen. U m den „Nimbus der Originalität" 118 vollends abzustreifen, erscheinen darauf zwei Arbeiten zu Tersteegens Mystik. Diesmal heißt es über seine Bedeutung: „Er ist nichts anderes als der Dolmetscher von Jean de Bernières Louvigny" 1 1 9 , „dessen Schriften sind Tersteegens Bibel gewesen" 120 . Verstand Ritsehl Tersteegens Gedankenwelt noch als Geflecht von pietistischen und quietistischen Einflüssen, so gerät er hier ohne eigenes Profil in die Reihe katholischer Quietisten, und über diese ist das Urteil schnell 115

Forsthoff, Tersteegens Mystik a.a.O. S. 165. us» y o n Bedeutung sind in diesem Zusammenhang auch die drei Aufsätze Forsthoffs über die Vorgeschichte des Pietismus und Separatismus in Mülheim: Heinrich Forsthoff, Theodor Under Eyck in Mülheim a. d. Ruhr 1660-1668, in M r h K G 10, 1916 S. 33-76 H. Forsthoff, Theodor Under Eyck, Der Begründer des Pietismus in der reformierten Kirche Westdeutschlands in MrhKG 11, 1917 S. 289-310. Der Under Eyck'sche Pietismus und die Wendung zum Separatismus in Mülheim an der Ruhr, 1671-1716 in MrhKG 10, 1916 S. 289-310. 116 Forsthoff, Wilhelm Hoffmann a.a.O. S. 120; s.a. S. 116. 117 Ebd.; Forsthoff übergeht mit dieser Behauptung völlig das Urteil der Zeitgenossen; vgl. ζ. B. einen Brief aus dem Jahr 1737 von Pastor Forstmann aus Solingen an den Grafen Zinzendorf: „Tersteegens geheiligte Person habe ich seit dem Jahre 1733 gekannt und kann von ihm mit Wahrheit sagen, daß er ein lebendiges Bild des Heilandes ist, das seine Klarheit siehet mit aufgedecktem Angesicht. Er ist diesmal mit seinen Kollegen Hofmann, auch einem Schoßjüngerjesu, am 1. und 2. Pfingsttage an der Otterbeck (. . ,)gewesen . . ." S. Theodor Wotschke, Aus dem Briefwechsel des Pastors Johann Gangolf Wilhelm Forstmann mit dem Grafen Zinzendorfin M r h K G 21, 1927 S. 272. 118 Forsthoff, Mystik in Tersteegens Liedern, a.a.O. S. 203. 119 Ebd.; vgl. Forsthoff, Tersteegens Mystik a.a.O. S. 137. 120 Ebd. 204.

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gefallt: Der Quietismus ist eine Sonderform der Mystik 1 2 1 und „die Mystik ist heidnischen U r s p r u n g s . . . " 1 2 2 . Verfolgt man all die Kanäle, in denen die Mystik durch die Jahrhunderte geströmt ist, so fuhren sie alle zu der einen Quelle zurück, zum Neuplatonismus 1 2 3 . Somit ist die Mystik Tersteegens „nicht nur dem Wesen nach mit dieser neuplatonischen Grundlage aller Mystik eins, sie verrät ihre Abstammung auch in der Ausdrucksweise. " 1 2 4 Und dann folgen die schon von Gerardus Kulenkamp genannten Verketzerungen. Er sei Pantheist, weil seine Gemeinschaft mit Gott eine wirkliche Wesensvereinigung beabsichtige, die den Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf aufhebe 125 . Er habe die Autorität der Schrift seinen mystischen Neigungen geopfert und sich damit auf den Boden der Schwärmerei begeben 126 . Es ist für Forsthoff nicht der biblische Christus, den Tersteegen in seinen Liedern feiert, sondern ein „Gegenstand seiner mystischen Versenkung, dem er die Farben des biblischen Christusbildes verleiht" 127 . So schwebt ihm ein quietistisches Kindheitsideal vor, dessen Züge er lediglich auf das „süße Gotteskind" übertragen habe 128 . Die Sünde sei für ihn nicht mehr die Übertretung der Gebote Gottes, sondern in mystischem Sinn „die Verkettung des Geistes an die Materie, die in der Eigenheit sich kundtut . . ." 1 2 9 . Und schließlich sei Tersteegen in seiner Stellung zur Kirche nur deshalb nicht zum babelstürmerischen Separatisten geworden, weil ein M y stiker sich grundsätzlich gegen jede Religionspartei gleichgültig verhalte 130 . So kann Forsthoff über Tersteegens Denken zusammenfassend sagen: „Tatsächlich befindet er sich in allen entscheidenden Stücken mit der Lehre der reformierten Kirche im Widerspruch; er steht überhaupt außerhalb des Rahmens der reformierten Kirche . . ." 1 3 1

Dies ist das Ergebnis einer theologischen Untersuchung zur Geisteswelt eines protestantischen Mystikers. Das Urteil gründet sich auf eine umfassen121

Forsthoff, Tersteegens Mystik a.a.O. S. 169. Ebd. 161. 123 In den nachfolgenden Untersuchungen über die „Haupturkunden der protestantischen Mystik" bemüht sich Forsthoff um den Nachweis fur diese Behauptung (s. besonders S. 7), aber die Untersuchungen an der Theologia deutsch, an Johann Arndts wahrem Christentum und Gottfried Arnolds Historia theologiae mysticae zeugen nicht gerade von differenziertem Unterscheidungsvermögen. 124 ForsthofF, Tersteegens Mystik a.a.O. S. 163. 125 Ebd. 167; s. dazu auch S. 188: „Es ist nicht der Gott, der christlichen Offenbarung, den Tersteegen predigt, sondern der Gott der Mystik . . . " 126 Ebd. 158. 127 ForsthofF, Mystik in Tersteegens Liedern a.a.O. S. 230. 128 Ebd. 233. 129 Ebd. 241. 130 ForsthofF, Tersteegens Mystik a.a.O. S. 196 u. ForsthofF, Tersteegen in Lehrstreitigkeiten a.a.O. S. 193. 131 Forsthoff, Tersteegen und der Katholizismus a.a.O. S. 147f. 122

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de Belesenheit in der Tersteegenliteratur und dennoch leidet diese Beurteilung unter einem empfindlichen Mangel: Forsthoff verzichtet auf eine Erklärung des Begriffs Mystik. Sein Verständnis von Mystik ist unklar und widersprüchlich 132 und seine Beurteilung vorschnell und pauschal133. Von einer differenzierten Behandlung christlicher Mystik muß sich auch eine abgewogenere Bewertung Tersteegens ergeben. A m Rande seiner systematischen Fragestellung hat Forsthoff zwei beachtenswerte Beiträge zur Quellenlage geliefert. Einmal bestreitet er am Unparteiischen Abriß die Verfasserschaft Tersteegens und hält diesen Katechismus für ein Werk H o f f m a n n s 1 3 4 , z u m anderen bemüht er sich u m eine Klärung der Frage, an w e n das v o n H o f f m a n n und Tersteegen 1727 unterzeichnete „Zeugnis der Wahrheit" gerichtet sein könnte 1 3 5 . Er vermutet hinter den Adressaten eine Gruppe spitzfindiger Spötter der reformierten Gemeinden i m Bergischen, die sich auf ihre Weise gegen „pietistische Engbrüstigkeit" 1 3 6 zur Wehr gesetzt haben. A u f Forsthoffs Kritik am Unparteiischen Abriß ist näher einzugehen, denn sie hat deudiche Spuren hinterlassen. Der Katechismus ist seitdem aus den Tersteegenarbeiten verschwunden und fast völlig unbeachtet geblieben, m. E. zu Unrecht. Was begründet diese Zweifel? D e r Abriß erscheint 1801 mit der Angabe: „Nach seinem (Tersteegens) sei. Hintritt fand sich unter seinen Manuscripten dieser Abriß christlicher Grundwahrheiten, den er schon im Jahr 1724 im 27. Jahre seines Alters entworfen und sich dessen bei dem Unterrichte der Kinder seiner Geschwister bedienet hatte." 1 3 7

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Einerseits ist die Mystik fur Forsthoff heidnischen Ursprungs und ihre Verbindung mit der christlichen Offenbarung grundsätzlich dergestalt, daß die neuplatonische Mystik bleibt, was sie ist, während die geschichtliche Offenbarung ihr Eigentlichstes preisgibt (s. Haupturkunden a.a.O. S. 18). So besteht fur Forsthoff das Hauptverdienst der Reformation darin, daß sie „durch ihre Glaubenspredigt die Mystik aus dem Christentum verwiesen" hat (Haupturkunden a.a.O. S. 5; vgl. dazu auch G. Heinzelmann, Glaube und Mystik, Tübingen 1927, S. 103-129). Andererseits muß Forsthoff eingestehen: keine Religion kann ohne Mystik sein. Soll eine geschichtliche Offenbarung sich überhaupt fortpflanzen, so kann das nur so geschehen, daß sie sich in der inneren Erfahrung ihrer Gläubigen dauernd bezeugt und bestätigt. (Mystik in Tersteegens Liedern a. a. O. S. 206) „Die geschichtliche, objektive Offenbarung muß sich also in der Erfahrung des einzelnen gewissermaßen als subjektive Offenbarung fortsetzen" (ebd.) Mit dem zuletzt angedeuteten Verständnis wäre für Tersteegen ein ganz neuer Zugang zu gewinnen, doch Forsthoff begeht diesen Weg nicht. 133 So auch O. Söhngen, Gerhard Tersteegen und die Gemeindefrömmigkeit a.a.O. S. 124, besonders zu Forsthoffs Äußerungen über Tersteegens Schriftverständnis. Forsthoffläßt die vielfältigen Schriftbelege bei Tersteegen unberücksichtigt, konnte Tersteegen doch weitgehend auf dem aufbauen, was er in der Schrift an mystischen Elementen vorfand. Seine Verflochtenheit mit dem, was die abendländische Christenheit als ihr Erbe ansieht, ist total. Forsthoff scheut sich nicht, einzelne Glieder dieser Traditionskette in gleicher Weise zu verwerfen (so ausdrücklich die Theologia deutsch, Johann Arndt und Gottfried Arnold; s. Haupturkunden a.a.O. S. 11-126. 134 Forsthoff, Tersteegens Mystik a.a.O. S. 132-136 und Forsthoff, Wilhelm Hoffmann a.a.O. S. 118f. 135 Forsthoff, Tersteegen in Lehrstreitigkeiten a.a.O. S. 181-191. 136 Ebd. 187. 137 UA VII (Von·.).

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Gelegentlich ist dieses Manuskript abgeschrieben und schließlich 1801 zum Druck gebracht worden 1 3 8 . Forsthoff nennt als Gründe für seine Zweifel an der Echtheit des Abrisses: 1. Tersteegen habe mit der Unterweisung anderer in der christlichen Lehre „nie zu tun gehabt . . ." 1 3 9 . 2. Der Katechismus deutet auf eine systematische und historische Schulung, die Tersteegen „schwerlich zur Verfügung stand . . ," 1 4 0 . 3. In dem Abschnitt über die zehn Gebote sei der Abriß abhängig von Poiret und 4. sei aufgrund der charakteristischen Wendungen „Hoffmann und kein anderer der Verfasser des .Abrisses'" 141 . E. Seeberg und C. P. van Andel haben sich hierzu geäußert und Forsthoffs Zweifel als unbegründet abgewiesen 142 . Z u m ersten bestehe kein Grund, die Vorrede der Herausgeber wie auch die Bemerkung der alten Lebensbeschreibung zu bezweifeln, daß Tersteegen 1724 die Kinder seines Bruders unterrichtet habe 143 . Z u m zweiten weist v. Andel zu Recht daraufhin, daß gerade Tersteegens Schriften eine besondere theologische und historische Schulung erkennen lassen 144 . Für Tersteegen gilt in der Tat eine erstaunliche Belesenheit. Der mit Tersteegen befreundete Mülheimer Prediger Engels vermerkt in seiner O d e ausdrücklich, daß Tersteegen „erst . . . ziemlich viel" gelesen habe, bevor er ans Bücherschreiben kam 1 4 5 . Die Lebensbeschreibungen heiliger Seelen und seine Aufsätze sind ein Spiegelbild seiner literarischen Kenntnisse, die selbst die lateinischen Klassiker und philosophische Werke einschließt. Darauf haben Goebel, Winter und v. Andel wiederholt hingewiesen 146 . Eine unmittelbare und beinahe wörtliche Abhängigkeit hat sich bisher nur für das 13. Kapitel des I. Teils, w o Tersteegen von den zehn Geboten handelt, nachweisen lassen. Hier haben ihm die Prinzipien Poirets zur religiösen Kindererziehung vorgelegen 147 . Weitere wörtliche Abhängigkeiten haben sich bisher nicht bestätigt 148 .

138 Eine Kopie des Originals befindet sich in der Stadtbücherei Mülheim. Sie hat auch Tersteegens Datierung .Januar 1724" auf der letzten Seite mit abgeschrieben. 139 Forsthoff, Tersteegens Mystik a.a.O. S. 132. 140 Ebd. 133. 141 Ebd. 134. 142 Erich Seeberg, Gottfried Arnold, Die Wissenschaft und Mystik seiner Zeit, Studien zur Historiographie und zur Mystik 1923, Nachdruck Darmstadt 1964 und v. Andel, Tersteegen a.a.O. S. 27. 143 V. Andel, Tersteegen a.a.O. S. 27. 144 V. Andel ebd. 145 Ode auf den Hingang des am 3. April 1769 in Mülheim a. d. Rhur (sie) selig entschlafenen Herrn Gerhard Tersteegen von Herrn P. E. Engels weiland Reformierter Prediger daselbst, 1801 Elberfeld. 146 S. Goebel, Geschichte III a.a.O. bes. S. 317f.; Winter, Frömmigkeit a.a.O. S. 120f. u. v. Andel, Tersteegen a.a.O. S. 27. 147 S. P. Poiret, De liberorum educatione libellus sive principia solida religionis ac vitae christianae; in De eruditione solida specialiora, tribus tractatibus, Amsterdam 1692 S. 45 f. ; vgl. dazu U A 135ff. (I, 13. 11). Forsthoff hat hierauf aufmerksam gemacht. (Tersteegen Mystik a.a.O. S. 134). 148 E. Seebergs Behauptung, in diesem 13. Kapitel handle es sich um eine „Übersetzung" aus Poirets L'oeconomie divine (so in E. Seeberg, Gottfried Arnold a.a.O. S. 547 Anm. 2) ist unzutreffend.

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Allerdings hat schon Goebel vermerkt 149 , daß Tersteegen sich im Duktus des 11.14. Kapitels des I. Teils, wo er über die Haushaltungen Gottes handelt, von Poirets L'oeconomie divine hat leiten lassen. Die Kapitel 15 und 16 im II. Teil, die vom Zustand der Christenheit von der Urgemeinde bis hin zur Reformation berichten, erinnern deutlich an den Aufriß von Gottfried Arnolds Kirchen- und Ketzerhistorie, wie auch der Titel „Unparteiischer Abriß" davon beeinflußt sein dürfte 150 . Aber diese Form der Abhängigkeit besagt nichts über die Echtheit von Tersteegens Verfasserschaft. Schließlich nennt Forsthoff den Kandidaten Hoffmann als eigentlichen Verfasser, aber bezüglich der für ihn angeblich charakteristischen Wendungen bleibt Forsthoff den Nachweis schuldig. Hoffmanns Verfasserschaft ist schon dadurch unwahrscheinlich, daß von ihm bereits ein Katechismus vorliegt, der jedoch keine unmittelbare Beziehung zu diesem Abriß aufweist. Sollte es zutreffen, daß Tersteegen einen Hoffmannschen Katechismus für die Unterrichtung seines kleinen Neffen abgeschrieben hat, so wäre es sicher angemessener gewesen, seine „Kurze Unterweisung für kleine Kinder" zu verwenden 151 . Bezüglich der sprachlichen Abhängigkeit ist zu sagen, daß zwischen dem Unparteiischen Abriß und Tersteegens sonstigem Schrifttum so auffällige Parallelen bestehen, daß auch die inneren Kriterien eindeutig für Tersteegens Verfasserschaft sprechen 1513 . So ist v. Andels und Seebergs Urteil zuzustimmen, daß Forsthoffs Zweifel sich als wenig stichhaltig erweisen. Richtig bleibt sein Ausgangspunkt, daß es sich hier um ein „bedeutsames Werk programmatischen und bekenntnisartigen Charakters" handelt und eine „umfassende und systematische Orientierung" 152 dokumentiert. Der unparteiische Abriß verdient eine stärkere Beachtung.

3. Erste Reaktionen

auf Forsthoff

Forsthoffs Aufsätze über Tersteegen fordern zum Widerspruch heraus. Er berichtet selbst, w i e ihm aus dem Kreis der Tersteegenverehrer helle Entrüstung entgegenschallt 1 5 2 3 . Einige erheben Klage vor dem Presbyterium seiner Mülheimer Gemeinde, andere schließen sich zu besonderen Kreisen zusammen, u m den Nachweis zu erbringen, daß dieser „teure Gottesmann" auf dem B o d e n der heiligen Schrift gestanden habe. Aus diesen Kreisen entsteht als erste literarische Reaktion eine kleine

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Goebel, Geschichte III a.a.O. S. 319. S. E. Seeberg, Gottfried Arnold a.a.O. S. 549f.; M. Goebel verweist dazu auf eine ähnliche Stelle bei Tersteegen und zwar auf die zwei Jahre später entstandene Vorrede zu Bernières (s. WW 248-253 [6,20-24]), s. M. Goebel, Geschichte III a.a.O. S. 319; zum Stichwort „unparteiisch" in der philadelphischen Bewegung s. M. Goebel, Geschichte III S. 72. 151 Zu diesem Katechismus s. Forsthoff, Wilhelm Hoffmann a.a.O. S. 102-109. ist» Vgl. nur den Abschnitt U A 94 (1/8,23) mit dem etwa gleichzeitig entstandenen Vers in BL 48 (1,59). 152 Forsthoff, Tersteegens Mystik a.a.O. S. 133. 1521 S. Forsthoff, Religiöse Grundcharakter a.a.O. S. 1. 150

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Schrift des Pfarrers W. H Ü T Z E N 1 5 2 b , die sich um eine theologische „Ehrenrettung" 1 5 2 c Tersteegens bemüht. Für die Tersteegenforschung bemerkenswerter ist ein Vortrag von OSKAR 1S2d SÖHNGEN aus demjahr 1926, Tersteegen und dieGemeindefrömmigkeit . Hatte Forsthoff behauptet, Tersteegen sei zu sehr Mystiker, um Christ sein zu können, so kommt Söhngen aus seiner Beschäftigung mit Meister Eckehart zu der Gegenthese: „Tersteegen ist zu wenig Mystiker, ist in seiner Mystik nicht konsequent genug, um nach seiner ganzen Frömmigkeit vorbildlich sein zu können!" 1 5 3

Ihm fällt auf, daß Tersteegen über den Stand der Vereinigung wenig zu sagen weiß und mehrfach eingesteht, daß er ihn nicht aus eigener Erfahrung kenne. Seine mystische Erfahrung „ist auf der untersten Stufe der scala mystica stehengeblieben.. ," 154 . Diese Beobachtung ist insofern zutreffend, als Tersteegen ähnlich wie Bruder Lorenz sich nicht an der äußersten Grenze mystischer Erfahrung bewegt, sondern in seinem geistlichen Leben einfach und nachvollziehbar bleibt. Wenn dieser Aufsatz ein besonderes Interesse verdient, dann vor allem deshalb, weil er, anders als Ritsehl, Pietismus und Mystik nicht als Bewegungen gleichen Ursprungs betrachtet, sondern sie als grundverschiedene Bestrebungen in Tersteegen zusammentreffen sieht. Söhngen kann aufzeigen, wie zwischen Tersteegens Bekehrungspredigten und den Briefen an seinen Freundeskreis ein spürbarer Unterschied besteht, der für einen reinen Quietisten in der Tat so nicht möglich ist. Hier trifft Söhngen das Besondere und Eigentümliche an Tersteegens Wirksamkeit. Er ist allerdings zu einseitig an der Dominikanermystik orientiert, u m für die Eigenart tersteegenscher Gebetserfahrung ein richtiges Gespür aufzubringen. Wie sonst läßt sich seine Behauptung verstehen, Tersteegens immerwährendes Herzensgebet sei „noch kein wirklicher Umgang mit Gott, sondern eine Lebensführung unter dem Gedanken Gottes.. ." 15S . Ein Satz wie dieser über Tersteegens Frömmigkeit: „die Gottesempfindung steht ausschließlich in ihrem Mittelpunkt" 1 5 6

ist schlichtweg falsch. i52b ψ Hützen, Die Mystik Tersteegens im Lichte des Schriftzeugnisses, Duisburg-Meiderich 1921. 152c So Forsthoff in Religiöse Grundcharakter a.a.O. S. 2; nicht ohne Spott teilt er auch die Umstände ihrer Entstehung mit. 152d In M r h K G 20, 1926 S. 117-137. 153 Söhngen, Tersteegen a.a.O. S. 121; dazu Winter, Frömmigkeit a.a.O. S. 121 A n m . 10 und v. Andel, Tersteegen a.a.O. S. 123, die diese eigenwillige These mit Recht zurückweisen; vgl. a. Forsthoff, Religiöse Grundcharakter a.a.O. S. 3. 154 Söhngen ebd. 127. 155 156 Ebd. 133. Ebd. 134.

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Schließlich sei noch erwähnt, daß H. E. W E B E R 1928 Tersteegen in einer längeren Anmerkung seines Buches Glaube und Mystik gegen Forsthoffs Vorwurf des Pantheismus verteidigt 157 . Im gleichen Jahr kommt eine Arbeit zum Abschluß, die sich endlich in wohltuender Gründlichkeit den von Forsthoff ausgelösten Fragen widmet.

4. Friedrich

Winter

Aus dem von Forsthoff ausgelösten Streit um Tersteegens Rechtgläubigkeit kommt es schließlich zu jener von Friedrich Winter vorgelegten Bonner Dissertation, die Tersteegens Frömmigkeit nach ihrem reformatorischen Hintergrund befragt. Dabei liegt seinen Beurteilungskriterien eine systematische Reflektion zugrunde, über die er in einem nachfolgenden Aufsatz ausführlich berichtet. Er unterscheidet zwischen einer religionsphilosophischen und einer theologischen Sichtweise. So ist der allgemeine Begriff Mystik für ihn lediglich ein religionsphilosophischer Begriff, eine „bestimmte Form der Religion" 158 , die uns auch von einer Mystik des Paulus undjohannes sprechen läßt 159 . Daneben ist die theologische Beurteilung für Winter „etwas schlechthin Anderes und Neues.. ." 160 . Für sie ist allein wichtig, ob in den unterschiedlichen Religionsformen „die Rechtfertigung und die Gotteswirklichkeit in Christus maßgebend ist" 161 . Nicht die Mystik als solche steht im Gegensatz zum Glauben, sondern innerhalb der mystischen Frömmigkeit ist zu unterscheiden zwischen Glaube und Unglaube. Sein Beiirteilungskriterium liegt damit in der Bewertung der Rechtfertigung, und seine Studie zielt auf den Nachweis, daß Tersteegen in seiner Betonung der Rechtfertigung eine „evangelische Grundhaltung" zu erkennen gibt. Dieser Ausgangspunkt erweist sich als fruchtbar, denn Winter kann zeigen, daß in der für Teerstegen eigentümlichen Verknüpfung des „Christus für uns" mit dem „Christus in uns" „ein Hauptpunkt, wenn nicht der Angelpunkt für die Frömmigkeit Tersteegens" liegt 162 . So entfaltet sich 157

H. E. Weber, Glaube und Mystik, Studien des Apologetischen Seminars, 21. Heft, Gütersloh 1928. Zu Weber s. unten S. 194f. Anm. 19. 158 Winter, Zur Frömmigkeit Tersteegens und zum Problem der Mystik, MrhKG 22, 1928 S. 132. 159 Ebd. 160 Ebd. 133; auf Seite 142 Anm. 7 gibt Winter an, daß er damit eine Betrachtungsweise übernimmt, die ihm H. E. Weber an die Hand gegeben habe. 161 Winter ebd. 133. 162 Ebd. Anm. 156; er versucht sogar, die grundlegende Bedeutung des „Christus für uns" biographisch zu verankern, indem er das Ende der fünfjährigen „Zeit der Finsternis" als den Durchbruch Tersteegens zu einer rein evangelischen Haltung deutet. (Winter, Frömmigkeit a.a.O. S. 8). Dies scheint mir durch Forsthoff mit Recht bestritten (ForsthofF, Religiöse Grundcharakter a.a.O. S. 7f.). Das Ende der Finsternis ist nach Tersteegens eigenen Aussagen mit der Erfahrung der Nähe Gottes verbunden, zu der er durch Anleitung der Madame Guyon und Bernières, sowie durch Bruder Lorenz gefuhrt wird. Zwar bekennt sich Blankenagel noch

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seine Darstellung aus diesem einen Gesichtspunkt. I m ersten Teil b e f r a g t er Tersteegens Aussagen über die G e m e i n s c h a f t m i t G o t t . Entsteht f u r ihn die G e m e i n s c h a f t allein d u r c h ein H a n d e l n Gottes oder zugleich in einem selbstm ä c h t i g e n Wirken des Menschen? „Liegt das Konstituierende i r g e n d w i e i m Subjekt, i m M e n s c h e n oder außer i h m in e i n e m O b j e k t i v e n ? " 1 6 3 Winter k o m m t zu d e m Ergebnis, daß w i r es bei Tersteegen z w a r „ m i t einer Ü b e r t r e i b u n g der subjektiven Seite" 1 6 4 zu t u n haben, daß er sich aber in seinem Verständnis der N a t u r (S. 11 ff.), der Schrift (S. 13ff.), der Kirche (S. 20ff.), der Person Jesu Christi (S. 22ff.) u n d v o r allem der Rechtfertig u n g (S. 32ff.) d u r c h das Festhalten an einer letzten O b j e k t i v i t ä t „ v o n einer ausschließlichen Inwendigkeit u n d reinem Subjektivismus der quietistischen M y s t i k " unterscheidet 1 6 5 . Das b e g r ü n d e n d e M o m e n t i m G o t t e s v e r hältnis liegt f ü r Tersteegen „nicht i m Subjekt des Menschen, s o n d e r n in Gott, d. h. in seinem objektiven Heilswalten in C h r i s t u s " 1 6 6 . I m zweiten Teil fragt Winter nach der inhaltlichen Gestaltung des so b e g r ü n d e t e n Gottesverhältnisses u n d beschreibt diese G e m e i n s c h a f t m i t G o t t als „Einheit in der D i s t a n z . . . " 1 6 7 . D e r M e n s c h k o m m t G o t t nicht so nahe, daß seine Personenhaftigkeit zu e i n e m wesenlosen N i c h t s zerschmilzt (S. 59-97), u n d auch G o t t k o m m t d e m M e n s c h e n nicht so nahe, daß er seine Transzendenz e i n b ü ß t (S. 97-113). Das N a h e k o m m e n des M e n s c h e n k a n n auch in seiner höchsten Vollend u n g als Vereinigung m i t G o t t die Z w e i h e i t v o n G o t t u n d M e n s c h nicht auslöschen 1 6 8 . Z w a r spricht auch er v o n der völligen Ü b e r l a s s u n g an den Willen Gottes (S. 65ff.), v o n Willensaufgabe (S. 71 f.), v o n der A f f e k t l o s i g keit (S. 72ff.) v o n der Preisgabe der V e r n u n f t (S. 74f.) u n d der Geringschätzung des Leibes (S. 76ff.), aber d o c h in einer kennzeichnenden Differenz zur völligen A u f h e b u n g der Person i m Q u i e t i s m u s . Für Tersteegen k a n n der M e n s c h seine E m o t i o n a l i t ä t u n d W i r k s a m k e i t nicht so weit preisgeben, daß einmal zu Winters These, aber ohne neue Argumente. (W. Blankenagel, Tersteegen als religiöser Erzieher, Ein Beitrag zur Mystik, Psychologie und Pädagogik des Pietismus, Diss. Köln 1934, Emsdetten 1934) S. 15. Die Zäsur, die Winter hier feststellt, entspricht dem Ubergang vom Stand des Gesetzes zum Stand der Gnade oder der Gegenwart Gottes, wie Tersteegen ihn mehrfach beschreibt. Versteht man die „zweite Bekehrung" jedoch nicht in Winters Sinn, sondern in einer Weise, wie sie sich bei Blumhardt andeutet, so trifft dies schon eher den bei Tersteegen vorliegenden Sachverhalt. Denn Blumhardt geht davon aus, daß der Mensch sich zunächst einmal zum Christen bekehren müsse und dann noch einmal vom Christen zum Menschen. - Tersteegen würde dies allerdings nicht Bekehrung und schon gar nicht „zweite Bekehrung" nennen. So ist in dieser Frage v. Andel zuzustimmen, wenn er über die Bekehrung bei Tersteegen schreibt: „Viel eher muß von einem langdauernden Bekehrungsprozeß gesprochen werden, der viele Stufen durchlief und zu komplex war, in ein einfaches Schema gedrängt zu werden." (v. Andel, Tersteegen a.a.O. S. 19; s. dazu auch S. 123ff.). 163 Winter, Frömmigkeit a.a.O. S. 11. 164 Ebd. 20. 165 167 Ebd. Ebd. 65. 166 168 Ebd. 59. Ebd. 94.

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sich sein Ich total auslöscht. So k o m m e n Tersteegens „Aussagen näher an ein Ichumschaffen als Ichvernichten heran" 1 6 9 . Von daher sieht er bei Tersteegen auch eine nüchterne Einstellung zu Beruf, Ehe und Gemeinschaft (S. 81-88) und eine angemessenere Haltung zum Gebet (S. 89-97). Die bleibende Distanz in der Gemeinschaft mit Gott ergibt sich schließlich auch von Tersteegens Gottesverständnis her. Während im Quietismus Gott naturhaft i m Herzen gegenwärtig ist, bleibt er nach Winter fur Tersteegen transzendent, „so daß Gott nicht von vornherein im Herzen ist, sondern anklopft, ruft und auch vorbeigehen k a n n . . ." 1 7 0 . Aus diesem Anklopfen u n d Rufen schließt Winter, daß dieser innig-nahe Gott nicht ein inhaltloser allgemein gegenwärtiger ist, „sondern ein ganz konkretes Gesicht, nämlich ,Christus' h a t . . ." 1 7 1 . Er beschließt seine Darstellung mit d e m Urteil: „Die Frömmigkeit Tersteegens weist damit im Verhältnis zur quietistischen M y stik eine grundsätzliche Verschiedenheit auf: eine evangelische Grundhaltung tritt aufs Ganze und die wesentlichen Z ü g e gesehen, einer konsequent mystischen g e g e n über." 1 7 2

Diese Darstellung hat Forsthoff zu einer Erwiderung provoziert, in der er zur Stützung seiner gegenteiligen Beurteilung auf die Schwächen dieser Tersteegendeutung verweist: Winter befolge zumeist das Schema, daß er zunächst die Ü b e r e i n s t i m m u n g mit der quietistischen Mystik nachweist, u m dann mit einem Aber einzusetzen und die Differenzen aufzuweisen, die Tersteegens Rechtgläubigkeit erweisen sollen 1 7 3 . Dagegen gelte i h m der Quietismus schlechterdings als Heidentum. Forsthoff sieht darin nicht zu Unrecht eine Konstruktion, die einerseits d e m Quietismus nicht gerecht wird 1 7 4 , und es andererseits zu einem Rätsel werden läßt, wie Tersteegen zu dieser heidnischen Mystik eine so enge Beziehung hat aufnehmen können. Ein zweiter, ebenfalls gewichtiger Einwand betrifft die Bedeutung der Rechtfertigung bei Tersteegen. Winters Ausgangspunkt ist aus apologetischem Interesse an Tersteegen herangetragen. D a m i t erfaßt er zwar sein Rechtfertigungsverständnis, kann aber das eigentliche Anliegen Tersteegens auf diese Weise nicht sichtbar machen. Forsthoff hat Recht, w e n n er Winter entgegenhält, daß es Tersteegen nicht darauf a n k o m m t , „den ganzen von ihm vertretenden Quietismus unter die christlichen Generalnenner der Rechtfertigung u n d des Glaubens zu b r i n g e n . . . " 1 7 S . Schließlich wird man mit Forsthoff an dieser Arbeit bemängeln müssen, daß Winter das Verständnis von Heiligung nicht nach Stufen differenziert. Dadurch kann es geschehen, daß er zwischen d e m Quietismus u n d Terstee169 170 171 172

42

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

80. 100. 101. 113.

173 174 175

Forsthoff, Religiöse Grundcharakter a.a.O. S. 7. Ebd. S. 11. Ebd. 12.

gen Gegensätze sieht, die sich oftmals nur als Unterschiede zwischen d e m Stand der Erleuchtung und dem Stand der Vereinigung erweisen 1 7 6 . Dennoch beeindruckt die Genauigkeit, mit der Winter der Rezeption des Quietismus bei Tersteegen nachgegangen ist. Er beobachtet kennzeichnende Abweichungen von den quietistischen Originalen in seiner Übersetzungstätigkeit. Er vergleicht dazu die Art und Weise, in der Poiret und H o f f m a n n diese Quellen verarbeitet haben und ermittelt damit für Tersteegen ein protestantisch-mystisches Denken von ausgeprägter Eigenständigkeit. Z u m anderen ist durch Winters Arbeit die Verwurzelung Tersteegens i m reformierten Protestantismus klar hervorgetreten. D a m i t ist der Weg für eine Bearbeitung Tersteegens frei, die von der Intention seines Denkens ausgeht und nach der Geschlossenheit seiner Anschauungen fragt. 5. Walter Blankenagel undJürgen

Moltmann

Auf zwei weitere Arbeiten z u m T h e m a Tersteegen und Mystik sei kurz verwiesen. WALTER BLANKENAGEL legt 1934 in Köln eine Dissertation z u m T h e m a „Tersteegen als religiöser Erzieher" vor. Diese vorwiegend pädagogisch orientierte Arbeit versucht sich in ihrem ersten Teil an einem Beitrag zu Tersteegens Mystik und Theologie. Sie stützt sich auf Winters Tersteegenbild, ü b e r n i m m t Webers Begriff der Glaubensmystik u n d erfreut uns schließlich mit der Einsicht, daß i m Quietismus der „ M e n s c h . . . selber auf d e m H i m m e l s t h r o n sitzt", während bei Tersteegen „der Vorhang zum Heiligen zerrissen" sei. Der Mensch darf „in seligen M o m e n t e n Gott schauen" 1 7 7 . K u r z u m , diesen Teil der Arbeit wird m a n k a u m als forschungsgeschichtlich relevanten Beitrag ansprechen können. Wenig überzeugend auch der Abschnitt: Die seelische Art Tersteegens 1 7 8 . Eigenständiger ist das Referat der pädagogisch-seelsorgerlichen Tätigkeit Tersteegens 1 7 9 . Hier gibt Blankenagel eine erste Übersicht. Leider differenziert er nicht nach den von Tersteegen i m m e r wieder genannten geistlichen Ständen. Beachtenswert bleibt der Hinweis, daß Tersteegen durch die Aussicht schon hier auf Erden den A n f a n g ewiger Seligkeit zu erfahren, pädagogische „Entfaltungsmöglichkeiten" schafft, „die anderen Geistesrichtungen des Protestantismus verschlossen blieben" 1 8 0 . Die zweite Arbeit gehört zu den kleinen, aber unbedingt lesenswerten Tersteegenaufsätzen. Gemeint sindJÜRGEN MOLTMANNS „Grundzüge mystischer Theologie bei Gerhard Tersteegen". Seine Quellenbasis ist allein das Blumengärtlein. Darin liegt w o h l das H a u p t p r o b l e m dieser Studie, denn die Schlußreime lassen für sich g e n o m m e n mancherlei D e u t u n g zu. M o l t m a n n betrachtet sie mit d e m Raster neuplatonischer Mystik und findet, daß sie sich gut in diese „ D e n k f o r m e n " einfügen 1 8 1 . Das mitzuteilen, ist der Sinn dieser 176 177 178

S. dazu Forsthoff, ebd. 20. Ebd. S. 40. Ebd. S. 47-52.

179 180 181

Ebd. S. 52-87. Ebd. S. 88. In EvTH 16 1956, S. 208.

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kleinen Arbeit, die vorgibt, die Grundzüge in Tersteegens D e n k e n zu erfassen. Es erübrigt sich, seine Sicht i m einzelnen zu widerlegen. Hier nur einige seiner Ergebnisse. Er schreibt: „Ihn selbst interessiert die Volkskirche so w e n i g , daß er sich nicht einmal v o n ihr trennt. " 1 8 2 D a n n heißt es: „Er ist in erster Linie O n t o l o g e " und „ ü b e r n i m m t . . . unbesehen einen verblaßten und vielfältig christlich modifizierten Neuplatonismus" 1 8 3 . U n d schließlich w a g t er das Urteil: „Es ist ein religiös-metaphysisches D e n k e n und Erleben, das er erwecken will, und in das er w i e in einem Mantel die christliche Botschaft einhüllt." 1 8 4 Mit dieser Sicht stellt sich M o l t m a n n ans Ende der v o n Kulenkamp über Ritsehl zu Forsthoff gehenden Linie.

IV. Neuere Arbeiten über Tersteegen Walter Nigg: Große Heilige, Zürich 1946. - Heimliche Weisheit, Mystisches Leben in der evangelischen Christenheit, Zürich 1959, S. 345-368. - Gerhard Tersteegen, Eine Auswahl aus seinen Schriften, Basel 1948, Neuausgabe, leicht gekürzt, Wuppertal 1967. Albert Löschhorn: Ich bete an die Macht der Liebe, Gerhard Tersteegens christliche Mystik, Basel 1948. - Gerhard Tersteegen, Zürich 1946. - Gerhard Tersteegens Auffassung von der Heiligung, Basel 1969. - Gott ist gegenwärtig, Geistliche Übungen für evangelische Christen, Basel Gießen 1959, 19632, 19783. - Christus in uns - eine frohmachende Botschaft, Basel - Gießen 1953, 19632. - Gerhard Tersteegens Schule des Gebets, Basel - Gießen 1972. Cornells Pieter van Andel: Gerhard Tersteegen, Wageningen 1961, Diss. Utrecht; deutsche Ausgabe ergänzt und im Anhang erweitert unter dem Titel: Gerhard Tersteegen, Leben und Werk - Sein Platz in der Kirchengeschichte, übersetzt von Arthur Klein, Neukirchen 1973. - Catherina van Vollenhoven en Gerhard Tersteegen in: Hervormd Utrecht, 20. Jahrgang Nr. 37 1965. - Gerhard Tersteegen, dichter van kerkliederen; in: Hervormd Utrecht, 22. Jahrgang Nr. 141966. - Gerhard Tersteegen und die Reformation, in: Reformierte Kirchenzeitung 110. Jahrgang Nr. 7 u. 81969. - Gerhard Tersteegen en zijn Nederlandse Vrienden, in: Kerkhistorisch Archief, november 1969. Winfried Zeller: Gesangbuch und geistliches Lied bei Gerhard Tersteegen, in Musik und Kirche 39, 1969 Heft 2 S. 60ff.; nochmals abgedruckt in Winfried Zeller, 182 183 184

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Ebd. 206 Ebd. 208 Ebd. 215

Theologie und Frömmigkeit, Gesammelte Aufsätze hrsg. von Bernd Jaspert, Marburg 1971 S. 186-194. - Die Bibel als Quelle der Frömmigkeit bei Gerhard Tersteegen, in: Pietismus und Bibel, Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, hrsg. v. K. Aland, E. Peschke, M. Schmidt, Bd. 9, Witten 1970 S. 170-192. - Gerhard Tersteegens „Kleine Perlenschnur", Von der handschriftlichen Urform zur gedruckten Fassung, in: Winfried Zeller Theologie und Frömmigkeit a.a.O. S. 195-218. - Der Blumengarten des Herrn, Bemerkungen zu einem Lied Gerhard Tersteegens, in: Monatshefte für evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes, 20/21,1971/ 72 S. 245-250. - Die kirchengeschichtliche Sicht des Mönchtums im Protestantismus, insbesondere bei Gerhard Tersteegen, in: Erbe und Auftrag 49, 1973 S. 17-30. RudolfMohr: Gerhard Tersteegens Leben im Lichte seines Werkes, Herrn Professor Dr. Winfried Zeller zum 60. Geburtstag, in Monatshefte für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 20/21, 1971/72 S. 197-244. Giovanna della Croce O C D (Gerda von Brockhusen): Gerhard Tersteegen e il Carmelo. Su una tesi recente di Winfried Zeller, in: Ephemerides Carmeliticae X X I V 1973 S. 375-401. - Gerhard Tersteegen, Neubelebung der Mystik als Ansatz einer kommenden Spiritualität, in: Europäische Hochschulschriften Reihe XXIII Theologie, Bd. 126, Bern, Frankfurt am Main, Las Vegas 1979. Die Debatte u m Tersteegens Mystik gibt einen Einblick in den Stand der Mystikdiskussion jener Zeit. Ihre unterschiedliche Bewertung in der katholischen und protestantischen D o g m a t i k wird zum konfessionellen Gegensatz schlechthin 1 8 5 . D a s Aufbrechen mystischer Bestrebungen i m Geistesleben der zwanziger Jahre verschärft zusätzlich den Ton der Debatte. Glaube und Mystik stehen für die Vertreter der „Lutherrenaissance" und der „dialektischen T h e o l o g i e " entweder i m totalen oder wenigstens i m paradoxen Gegensatz. Eine ernsthafte B e m ü h u n g an mystischen Texten findet von dieser Seite k a u m statt. Ihre polemische Nomenklatur, ihre dogmatischen Konstruktionen verhindern eine wirkliche Berührung. Zitiert wird, was das eigene Vorverständnis bestätigt. Insofern ist Moltmanns Aufsatz ein geradezu klassischer Beitrag. A m Ende steht ein Streit u m Wertungen. Tersteegen selbst k o m m t k a u m zu Gesicht. Erst das theologische Gespräch der Nachkriegszeit schafft neue Voraussetzungen. Die konfessionelle Polemik tritt zurück. Die christliche Mystik findet ein vorurteilsfreies Interesse. Die Auswirkungen auf die Tersteegenforschung sind unmittelbar zu spüren. Tersteegens Leben und Werk rücken wieder in den Mittelpunkt. Die neueren Tersteegenärbeiten schenken zunächst seiner Biographie eine größere Beachtung.

1 8 5 S. Fritz-Dieter Maaß, Mystik im Gespräch, Materialien zur Mystik-Diskussion in der katholischen und evangelischen Theologie Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg, Würzburg 1972 S. 168 ff.

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ì. Walter Nigg Zwar sind N i g g s Darstellungen nicht als gelehrte Beiträge anzusprechen, aber für das Verständnis Tersteegens dennoch von großem Gewicht. Sie enthalten keine eigene Detailkenntnis, das Wissen u m den Mülheimer und seine Zeit wird nicht bereichert, auch finden sich einige biographische Ungenauigkeiten. Es ist allein der Ausgangspunkt, der seine Biographien von allen anderen abhebt. Hier wird Tersteegen einmal nicht als Liederdichter, als pietistischer Erweckungsprediger oder charismatischer Seelsorger dargestellt, sondern zunächst und vor allem als Heiliger. „Er ist der Heilige i m Protestantism u s . . . " 1 8 6 . Tersteegen verkörpert für Nigg „in seltener Reinheit" das Wesen eines heiligen Menschen 1 8 7 . Was versteht N i g g unter einem Heiligen? Mit dem Hinweis auf Rudolf Otto betont er, daß der Heilige nicht als tugendhafter, sondern als religiöser Mensch aufgefaßt werden müsse 1 8 8 . In ihnen tritt das Religiöse in solcher Dichte entgegen, daß es nicht mehr überboten werden kann 1 8 9 . „Heilige sind nicht auch religiöse, sondern nur religiöse Menschen, und dies mit einer Ausschließlichkeit, die gleichsam wie ein Brand alles verzehrt . . ." 190 .

M a g es zunächst problematisch erscheinen, Tersteegen unter die „Großen Heiligen" einzureihen, so erweist sich im Verlauf der Darstellung doch, daß dies für Tersteegen nicht unangemessen ist. Das Leben eines Franz von Assisi, einer Jeanne d'Arc oder eines Nikolaus von der Flüe scheint zwar ungleich bemerkenswerter, aber Nigg kann deutlich machen, daß das U n auffällige und Unheroische dieses Lebens nicht in einer inneren Spannungslosigkeit begründet ist. In der „beinahe vollständigen Lautlosigkeit seines Lebens bekunde sich vielmehr ein konsequenter Heiligungswille, der bewußt darauf verzichtet, von sich reden zu machen. „Das Außerordentliche von Tersteegens Leben liegt gerade im Verzicht auf alles Außerordentliche." 1 9 1 Das Besondere seines Lebens ist für Nigg die Ausschließlichkeit, mit der Tersteegen die Vollkommenheit angestrebt hat. Er wollte als Schriftsteller nicht nur die Vorbilder eines geheiligten Lebens anschaulich anpreisen, sondern mit seinem eigenen Leben zugleich ein Beispiel für die Strahlkraft dieser Bilder geben. Im Nachwort zu N i g g s Terstegen-Auswahl heißt es darum: „bei Tersteegen steht seine Lebensführung an primärer Stelle. Es macht den undefinierbaren Glanz dieses Lebens aus, daß es sich bei ihm immer um Praxis und nie um bloße Theorien handelt.. ," 192 . Walter Nigg, Große Heilige, Zürich 1946 S. 310. 1 9 0 Ebd. Ebd. 1 8 8 Ebd. 15. 1 9 1 Ebd. 354. 1 8 9 Ebd. 1 9 2 Gerhard Tersteegen, Eine Auswahl aus seinen Schriften, Basel 1948, Neuausgabe leicht gekürzt, Wuppertal 1967 hier S. 141. 186

187

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Niggs Darstellung ist von der Überzeugung getragen, daß dies der „einzig richtige Aspekt" ist, um dieser „unregelmäßigen Erscheinung" gerecht zu werden. Diese Sicht erweist zugleich ihre Bewährungsprobe in der Beurteilung der „Auserlesene Lebensbeschreibung heiliger Seelen". Hier kommt erstmalig die Bedeutung dieses Werkes für das Verständnis Tersteegens eindeutig zur Sprache: „Die Stellung zu diesem Buch ist das entscheidende Kriterium, ob man Tersteegen in seinem tiefsten Wesen verstanden hat oder nicht." 1 9 3 Galt bisher Tersteegens Vorliebe für die romanische Mystik als der kritische Punkt, der entweder verschwiegen, verharmlost oder schonungslos verurteilt werden mußte, so begegnet hier endlich eine wohltuende U n v o r eingenommenheit. Gerade Winter mit seinem mühsamen Versuch um eine Ehrenrettung Tersteegens möchte man diesen Satz entgegenhalten: „Wer nicht die innere Freiheit hat, die romanische Mystik als eine der tiefsten Wesensoffenbarungen des christlichen Geistes . . . vorbehaltlos anzuerkennen, der lasse am besten Tersteegen unangetastet." 1 9 4

Niggs Liebe zu diesem Mülheimer Mystiker fällt manchmal etwas überschwänglich aus, aber das bleibende Verdienst seiner Biographien ist die Einsicht, daß Tersteegen unter das von ihm immer wieder neu entfaltete Richtbild des Heiligen zu stellen sei. Tersteegens Lebensaufgabe ist klar erfaßt: „Sein eigenes Problem bildet die Verkörperung des Heiligen inmitten der protestantischen Konfession. " 1 9 s

2. Albert

Löschhorn

Seine Bemühungen um Tersteegen beginnen ebenfalls mit einer Biographie. Zwei Jahre später, 1942, gibt er einen Gesamtentwurf der christlichen Mystik Tersteegens heraus. Dieser ist in unserem Zusammenhang von größerem Interesse. Löschhorn knüpft zwar bei Winters Ergebnissen an, konzentriert sich aber ganz auf Tersteegens Verständnis von Rechtfertigung, Vereinigung und Gemeinschaft mit Gott. Dabei berührt er fast alle für Tersteegen zentralen Begriffe. Die systematische Verknüpfung bleibt jedoch locker und nicht immer durchsichtig, überhaupt hat sein Werk mehr den Charakter einer „Blütenlese", da er zu jedem Stichwort ausführlich aus Tersteegens Schrifttum zitiert und auf eine Verarbeitung weitgehend verzichtet. Das Buch wirbt um Freunde für diese Form des geistlichen Lebens und steht insofern Tersteegens Anliegen besonders nahe. Ähnliches gilt auch von den kleineren Arbeiten über Tersteegen. Einmal gestaltet er aus Tersteegens 193 194 195

Große Heilige ebd. 312. Heimliche Weisheit a.a.O. S. 353. Große Heilige a.a.O. S. 310.

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„Übung der liebreichen Gegenwart Gottes" ein kleines Anleitungsbuch, in dem er zu jedem Aspekt der Übung ein Schriftwort setzt, eine kurze Erläuterung mit Gebet anfugt und dann aus Tersteegen und anderen reichlich zitiert. Ein anderes Mal schreibt er in ähnlicher Form über Tersteegens Auffassung von der Heilung und bereits 1953 über Tersteegens Verständnis der Einwohnung, wobei er diese Zitate mit Belegen aus Luthers und Calvins Werken zusammenstellt. In allen Beiträgen läßt er Tersteegens Hauptanliegen, das Leben in der Gegenwart Gottes klar heraustreten. Leider genügen diese Arbeiten keinem wissenschaftlichen Anspruch. Sie sind für die Tersteegenforschung als Zitatensammlung nützlich und vermitteln Quellenkenntnisse 196 . Allerdings fehlen in den kleinen Arbeiten die Belegstellen, und selbst in seiner größeren Darstellung der Mystik Tersteegens sind die Fundorte ungenau 1 9 7 und unvollständig 198 angegeben. Das schränkt den Wert dieser u m fangreichen Sammlung erheblich ein. 3.

Cornells

Pieter van

Andel

1973 erscheint in deutscher Übersetzung seine 1961 veröffentlichte Dissertation 199 . Damit liegt seit hundert Jahren erstmalig wieder eine auf Quellen beruhende Darstellung des niederrheinischen Mystikers vor. Neben den gedruckten Quellen schließt van Andel vor allem die noch unveröffentlichten Briefe in seine Untersuchung ein und bereichert dadurch die Biographie um zahlreiche Details, besonders über die Zeit des Siebenjährigen Krieges. Die Arbeit berücksichtigt nahezu vollständig die Sekundärliteratur bis 1973. Mit dieser Literaturkenntnis wagt van Andel eine Gesamtdarstellung, die Leben und Lehre gleichermaßen berücksichtigt. Die Biographie des Mülheimers, seine Beziehungen, seine Theologie, seine Persönlichkeit und sein Werk und schließlich sein Platz in der Kirchengeschichte bilden die fünf Hauptteile dieser Geschichte. Allein die Frage nach dem literarischen Rang seiner Dichtung bleibt unberücksichtigt. Ein Anhang orientiert über die Quellensituation und gibt einen wertvollen Überblick über die Fundorte ungedruckter Briefe und Schriften. Weiterhin veröffentlicht er einen Tersteegenbrief aus der Sammlung Goeters und die noch bei Kerlen und Goebel erhalten gebliebenen Adressaten der namenlos veröffentlichten Tersteegen196

Allerdings ist Löschhorn nicht immer sehr genau. So verändert er ζ. B. der besseren Lesbarkeit willen Orthographie und Ausdrucksweise. 197 Als Beleg für die Ungenauigkeit auf einer einzigen Textseite s. ζ. B. Ich bete an a.a.O. S. 149: zum Zitat von Zeile lOff. muß es heißen BR 153 statt 54, zum Zitat von Zeile 25 ff. fehlt die Bandzahl BR IV 37, zur Zeile 37 fF. muß es heißen BR I 33. 198 Zu WW gibt es nur die Seitenzahl nach der 6. Auflage von 1803, zu BR nur die Briefnummer ohne die Seitenzahl, so daß das Auffinden der Zitate oft mit langem Suchen verbunden ist. Das Blumengärtlein findet keine Verwendung. 199 Gerhard Tersteegen a.a.O. S. 10.

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briefe. Damit ist diese Arbeit zweifellos zu dem „grundlegenden Werk über Gerhard Tersteegen" geworden 200 . Seine Biographie bestätigt im wesentlichen die Arbeit von Max Goebel, lediglich in seinen Beziehungen nach Holland finden sich einige wesentliche Korrekturen. In der Darstellung der Theologie Tersteegens sticht das Bemühen um eine distanzierte Sachlichkeit hervor, Etikette wie „heidnische Mystik" werden vermieden. Erst auf den letzten Seiten seiner Arbeit läßt van Andel eine eigene Beurteilung erkennen. In einem kurzen Verweis auf Luther und Calvin behauptet er die Unversöhnlichkeit zwischen dem „mystischen Heilsweg" Tersteegens und dem reformatorischen ,„kurzen' Heilsweg der ,sola fide'" 201 . Er geht von der Voraussetzung aus, daß reformatorisches Christentum und quietistische Mystik sich ihrem Wesen nach nicht ertragen. „Eines von beiden muß in dieser Begegnung beinahe zur Unkenntlichkeit verstümmelt werden." 202 Da Tersteegen als Grenzbewohner zwischen diesen beiden Welten lebte, ist sein Standpunkt als solcher bereits problematisch. Für die abschließende Beurteilung bleibt lediglich zu prüfen, welcher der beiden Seiten er sich am meisten zuneigte. Die Antwort ist eindeutig: „Zweifellos kann Tersteegen als quietistischer Mystiker gelten... " 203 . Allein, daß er nicht zur letzten Konsequenz des Quietismus vorstößt, hat es möglich werden lassen, daß nachfolgende Generationen ihn überhaupt als protestantischen Mystiker ansehen konnten 204 . Diese Beurteilung leitet insgeheim auch die Darstellung. Bei der Entfaltung seiner Theologie beginnt er mit einem Rückblick auf die Entstehung des Subjektivismus und schließt mit der Behauptung, daß in Tersteegens Gedankenwelt der Mensch einen zentralen Platz eingenommen hat 205 . Folglich wählt er als Ausgangspunkt Tersteegens Begriff vom Menschen. In der Überschrift seines ersten Abschnitts hat er diese anthropozentrische Sicht schlagwortartig zugespitzt: „Der Mensch und sein Gott.. ." 206 Im zweiten Abschnitt referiert van Andel Tersteegens „Heilsweg". Leider verzichtet er auf die theologische Erörterung einer stufenweise voranschreitenden Heiligung. Am Ende urteilt er lediglich, daß der lange Heilsweg Tersteegens sich zwischen Gottes Heil und den Empfang desselben einschiebt und dieser Weg somit zu einer „Nebenbedingung neben dem Werk Gottes als erste Vorbedingung wird" 207 . Hier hat van Andel Tersteegens Weg der Heiligung zu schablonenhaft der quietistischen Mystik zugeordnet. Im dritten Abschnitt berichtet er über Tersteegens Verständnis der Schrift, der Kirche und der Sakramente. Mit einigen Äußerungen zur Arbeit, zur 200 201 202 203 204

Vgl. Rezension von W. Zeller in ThLZ 101 1976 Sp. 238f. Ebd. 261. 205 Ebd. 265 . Ebd. 101. 206 Ebd. Ebd. 207 Ebd. Ebd. 263.

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Ehe und zur Obrigkeit im vierten Abschnitt schließt die Darstellung seiner Theologie ab. Kritisch zu prüfen bleibt die Frage nach der zugrunde gelegten Denkform. Hat van Andel recht, wenn er Tersteegens Unterscheidung von innen und außen allein in der Weise auslegt, daß nur die Interiora wesentlich sind, während die Exteriora kraft göttlichen Planes lediglich dazu da sind, vom Menschen beherrscht zu werden 208 ? An dieser Stelle provoziert van Andels Arbeit förmlich eine Neuinterpretation. 4. Winfried

Zeller

Zellers Arbeiten setzen sich deutlich von Forsthoff, Winter und van Andel ab, die allein Tersteegens Rezeptivität und Abhängigkeit vom Quietismus hervorgehoben haben. Hier soll Tersteegens Werk als innere Einheit aus sich selbst heraus entfaltet werden. Im Vorfeld der Bemühungen um eine historisch-kritische Ausgabe der Werke Tersteegens verfaßt Winfried Zeller eine Serie von Studien, die Tersteegens Schriftverständnis, seine Arbeitsweise und seine persönliche, ordensmäßige Lebensform beleuchten wollen. So erwächst aus dem Detail heraus ein farbigeres Bild seines Lebens und Wirkens. Die Reihe seiner Aufsätze beginnt mit einer Abhandlung über das geistliche Lied bei Tersteegen. Zeller entfaltet in dieser kleinen Studie Tersteegens Gedanken zum christlichen Gebrauch der Lieder. Er bezieht sich auf die Vorrede zum „Gott-geheiligten Harfen-Spiel der Kinder Zion", die ihm in ihrer ersten Auflage vorliegt. Weiterhin berichtet er über die bekanntesten Lieder des Blumengärtleins. Es folgt 1970 ein Beitrag zu Tersteegens Schriftverständnis: Die Bibel als Quelle der Frömmigkeit bei Gerhard Tersteegen. Am Anfang dieser Untersuchung steht die Beobachtung, daß Forsthoff, Winter und van Andel sich vorwiegend dafür interessiert haben, ob Tersteegen die Autorität der Schrift in einen mystischen Subjektivismus aufgelöst habe. Zeller distanziert sich von dieser Fragestellung und zeigt statt dessen, wie sich bei Tersteegen „in echt pietistischer Weise" 209 alles auf das geistliche Leben konzentriert. Unter diesem Vorverständnis steht auch sein Schriftgebrauch. Die Bibel stellt in „Exemplarität" vor Augen, was geistliches Leben ist 210 . U m dies zu belegen, gibt Zeller ein ausführliches Referat von tersteegenschen Äußerungen zum Schriftverständnis. Er benutzt dazu in wohltuender Gründlichkeit die ganze Breite der zur Verfügung stehenden Quellen. Dabei bemerkt er eine „Doppelpoligkeit": einmal die „pietistische Forderung der Erweckung", zum anderen den „mystischen Ruf zur Innerlichkeit.. ," 2 1 1 . Zeller sieht 208 209 210

50

Ebd. 149. Die Bibel als Quelle a.a.O. S. 171. Ebd.

211

Ebd. 189.

darin eine gegenseitige Befruchtung, weil es ihn einerseits vor „einem gefühlsbetonten Subjektivismus" und andererseits vor „Äußerlichkeit und Veräußerlichung" schützt 212 . Leider verzichtet Zeller darauf, die Ergebnisse seines Referates zusammenzufassen und auszuwerten. Zellers „Bemerkungen" zu dem Gedicht „Der Blumengarten des Herrn" gewähren einen kleinen Einblick in Tersteegens poetische Produktion. Es handelt sich hier um den günstigen Fall, daß wir nachvollziehen können, wie Tersteegen eine Gelegenheitsdichtung zu einem in weiterem Sinn verwendbaren und zum Singen geeigneten Lied umgestalten kann 213 . Seinen Untersuchungen zu „Gerhard Tersteegens,Kleiner Perlenschnur'" liegt der glückliche Umstand zugrunde, daß sich zu diesem Werk das ursprüngliche Tersteegen-Manuskript im Archiv der reformierten Gemeinde Barmen-Gemarke erhalten hat. Der Autograph ist unvollständig, aber Zeller kann an diesem Vergleich die Arbeitsweise Tersteegens aufzeigen. Es wird deutlich, daß er dem Lehrer Hennemann nicht nur die Korrektur seines Manuskriptes, sondern auch sprachliche und stilistische Verbesserungen anvertraut hat. Seine Untersuchung beginnt mit einer kurzen Übersicht über die schwierige Quellenlage zu diesem Sammelband mystischer Exzerpte. In seiner letzten Studie entfaltet Zeller vor einem benediktinischen Leserkreis die Fortwirkung des monastischen Gedankens im Protestantismus und berichtet schließlich, wie er bei Tersteegen in neuer Gestalt hervortritt. Der Aufsatz verweist dazu auf zwei bemerkenswerte Phänomene. Einmal erzählt er von Tersteegens Vita communis mit Heinrich Sommer und zum anderen von den ordensähnlichen Gründungen in den „Pilgerhütten" an der Otterbeck, in Mülheim und Barmen. Richtungweisend für seine Lebensgemeinschaft sei die Biographie über die Dominikanerin Elisabeth vom Kinde Jesu gewesen. Später habe ihm vor allem die Begegnung mit der geistigen Welt des Karmel „die frömmigkeitsgeschichtliche Bedeutung des Mönchtums" bewußt gemacht 214 . Der Aufsatz schließt mit dem Abdruck der Ordensregel für die Pilgerhütte an der Otterbeck, die er nach einer alten Fassung von 1775 veröffentlicht, wobei er die Abweichungen von der bisherigen Version aus dem zweiten Band der geistlichen und erbaulichen Briefe im Apparat vermerkt. 5. Rudolph

Mohr

Möhrs Beitrag zu Tersteegen bewegt sich auf dem von Zeller und Nigg vorgezeichneten Weg, in dem er einerseits Besonderheiten Tersteegens nachgeht und andererseits Leben und Werk des Mülheimers als innere Ein212 213 214

Ebd. Der Blumengarten des Herrn a.a.O. S. 249. Die kirchengeschichtliche Sicht des Mönchtums im Protestantismus a.a.O. S. 24f.

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heit entfaltet. Mohr beobachtet, daß Tersteegens Leben „einen unverkennbaren Stil" hat 215 , weil er seine Lebensführung bewußt gewählt und einigen Tendenzen des Zeitgeistes „absichtsvoll entgegengesetzt" habe 216 . Die Beobachtung entfaltet er an zwei Auffälligkeiten in Tersteegens Lebenslauf: der Verschreibung und seiner abgeschiedenen Lebensweise. Man wird Mohr zustimmen, daß Tersteegens Verschreibung als eigenständiges Dokument zu werten ist 217 und daß sie zugleich die Motive enthält, die für Tersteegens Ehelosigkeit und Einsamkeit und seine schriftstellerische Tätigkeit maßgeblich geworden sind. Er versteht seine Ehelosigkeit als Konsequenz eines mit der ewigen Weisheit geschlossenen Ehebündnisses 218 . In den Abschnitten zu Tersteegens Einsamkeit und seiner schriftstellerischen Tätigkeit referiert Mohr die Einstellung Tersteegens zur Arbeit, zu seinem U m gang mit Menschen und mit Büchern und vergleicht schließlich die Bedeutung des Wüstenmotivs in seinen Lebensbeschreibungen mit seiner eigenen Lebensführung. Dabei bestätigt sich Niggs Ausgangspunkt, denn Mohr kommt zu der Einsicht, daß Tersteegen bemüht war, „auch sein eigenes Leben nach dem Vorbild der von ihm beschriebenen, heiligen Seelen' einzurichten" 219 . Tersteegen gebe in seiner Lebensweise selbst „das Exempel für jene Frömmigkeit, die zu empfehlen die seelsorgerliche Absicht seiner Schriften war" 2 2 0 . 6. Giovanna della Croce

Angeregt durch Winfried Zeller verfaßt Giovanna della Croce 1973 einen ersten Beitrag über die Beziehungen Tersteegens zur Spiritualität des Karmels. Zeller gelingt es, sie schon bald zu einer umfangreicheren Untersuchung zu bewegen. Sechs Jahre später erscheint die erste katholische Tersteegen-Dissertation, entstanden in einer Zelle des Mailänder Karmels. 215 Gerhard Tersteegens Leben im Licht seines Werkes, in: Monatsheft fur Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes, 20/21 1971/72 S. 199. 216 Ebd. 117 Mohr vergleicht die Verschreibungen Tersteegens und von Rentys. Aber seine Auswertung vermag nicht zu überzeugen. Vor allem bleibt der vermutete Einfluß Seuses zu hypothetisch. Tersteegens Beschäftigung mit Seuse erfolgt offensichtlich erst in späteren Jahren, denn seine Seuse-Biographie erscheint im letzten Band der Auserlesenen Lebensbeschreibungen und damit dreißig Jahre nach seiner Verschreibung. Der entscheidende Terminus „Blutbräutigam" dürfte vielmehr auf Madame Guyon zurückgehen. Ihre Verschreibung läßt Mohr leider unbeachtet. S. La vie de M m e de la Mothe Guyon écerite par elle-même, hrsg. ν. Pierre Poiret, Köln 1720; Deutsche Ausgabe: Das Leben der Frau J. M. B. von la Mothe Guion von ihr selbst beschrieben, übersetzt v. H. von Montenglant, Berlin 1826 Teil 1 S. 248 f. 218 Mohr kann zwar nachweisen, daß Tersteegen an dem Ideengut der Sophienmystik Anteil hat und wahrscheinlich von Seuse, Arnold, Hochmann und evtl. Gichtel beeinflußt ist, übergeht dabei aber die auffällige Sprödigkeit Tersteegens gegen jegliche erotische Hochspannung. 219 Gerhard Tersteegens Leben a.a.O. S. 242. 220 Ebd. 243.

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Giovanna della Croce beginnt ihre Untersuchung sogleich mit einer bemerkenswerten Prämisse: „daß christliche Mystik als gelebte theologische Anthropologie ihrem Wesen nach überkonfessionell' ist" 221 . Sie sagt zwar nicht, daß sie auch „übergeschichtlich" ist, aber sie bezeichnet Tersteegens Spiritualität als eine „Neubelebung der Mystik" und genauso Jahrhunderte überspringend „als Ansatz einer kommenden Spiritualität". Sie gliedert ihre Arbeit in vier Teile. Der erste berichtet in klarer und umsichtiger Zusammenfassung über Leben und Werk Tersteegens. Dieser Teil ist ohne überraschende Perspektiven, aber wohltuend frei von eigenwilligen Akzenten. Der zweite Teil besteht aus einer Sichtung der Auserlesenen Lebensbeschreibungen heiliger Seelen. Hier tritt das spezifische Anliegen der Untersuchung hervor. Die Verf. schreibt: „man müsse das Erfahrungsmoment der Mystiker vom Subjektivismus l ö s e n . . . und es in die theologische Objektivität tragen, um es für das Frömmigkeitsleben der in der Welt lebenden Christen annehmbar und brauchbar zu machen" 2 2 2 . Die Biographien werden dabei zu Exemplaren allgemeiner geistlicher Erfahrung. Das historisch Einmalige tritt zurück. Mitteilenswert ist das jeweils Typische und zeitlos Gültige. Sie zeigt, daß Tersteegen seine Lebensbilder so angelegt hat und folgt ihm darin 223 . Ihr besonderes Interesse gilt dabei dem zweiten Band seiner Biographien. Hier bemerkt sie eine „entscheidende Wendung Tersteegens zur Mystik des Karmels" 224 . An Johannes vom Kreuz habe er ein neues Verständnis der „dunklen Nacht" gewonnen, bei Bruder Lorenz sei ihm die Übung der Gegenwart Gottes als Programm begegnet und schließlich habe Margarete von Beaume ihm die auf Bérulle zurückgehende Verehrung der Kindheit Jesu vermittelt. Gewiß hat Tersteegen die karmelitische Frömmigkeit als ein besonderes Erbe zu schätzen gewußt, aber die Verf. erkennt selbst an, daß Tersteegen die genannten Aspekte zunächst und vor allem durch Madame Guyon und Bernières de Louvigny aufgenommen hat. Im dritten Teil stellt sie sich die Aufgabe, „zum Wesen seiner Mystik" vorzustoßen. Hier fuhrt sie die Auseinandersetzung mit Forsthoffund van Andel. U m Tersteegen vor dem Vorwurf des „schrankenlosesten Subjektivismus" zu schützen, referiert sie zunächst sein Schriftverständnis. Dann folgt ein Abschnitt zu „Tersteegens Auffassung und Deutung der Mystik". Sie hebt seine „experimentelle Mystik" von einer spekulativen Gottessuche ab 225 und stellt fest: „Niemals handelt es sich . . . um ein völliges .Einsinken' in Gott, das (im Eckhartschen Sinn) zum E i n s w e r d e n . . . mit Gott fuhrt. " 2 2 6 Bei Äußerungen dieser Art beruft sie sich wiederholt auf Friedrich Winter. 221 Giovanna della Croce, Gerhard Tersteegen, Neubelebung der Mystik als Ansatz einer kommenden Spiritualität, in Europäische Hochschulschriften Reihe XXIII Theologie, Band/ Vol. 126, Bern, Frankfurt, Las Vegas 1979 S. 6. 222 Ebd. 49. 223 225 S. ebd. S. 50 zu Gregorio Lopez. Ebd. S. 102f. 224 226 Ebd. S. 56. Ebd. S. 105.

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Nach einem kurzen Einschub über Tersteegens poetische Mystik folgen die entscheidenden Passagen über Quietismus 2 2 7 und Mystizismus 228 . Ihr Quietismusbeitrag beginnt vielversprechend mit einem Bericht über den unterschiedlichen Begriffsgehalt in der protestantischen und katholischen Quietismusforschung. U m s o enttäuschender ist es, daß sie sich auf die protestantische Sicht überhaupt nicht einläßt. Heppes Geschichte des Quietismus taucht nicht einmal im Literaturverzeichnis auf. Demzufolge ist das Ergebnis eindeutig: weil Madame Guyon und Bernières keine quietistischen Mystiker sind, ist auch Tersteegen keiner 229 . Auf diese Weise nimmt man den Konflikten um Madame Guyon den Verstehenshorizont. Der vierte Teil ist im Wesentlichen eine Sammlung von kurzen Referaten zu Tersteegens Geistlichen Reden, seinen Briefen, seinen Liedern und seinen Übersetzungen. Dadurch entsteht ein summarischer Überblick über Tersteegens pastorale Aktivitäten. Dieser Teil lebt von der Sekundärliteratur. Überhaupt scheint das Quellenstudium nicht wesentlich über die Auserlesenen Lebensbeschreibungen heiliger Seelen hinauszugehen. Darin liegt die spürbare Grenze dieser ansonsten so liebenswerten Tersteegendarstellung. Giovanna della Croce beendet ihre Arbeit mit einer kleinen Zusammenfassung, die besondere Beachtung verdient. Sie findet bei Tersteegen entscheidende Ansätze fur eine kommende Spiritualität. Einmal habe er die mystische Überlieferung „in ein neues Sprachbild geworfen", dann habe er eine Lebensform erprobt, in der Menschen „ihr Christentum im profanen Bereich des Alltags verwirklichen" können. Beispielhaft sei weiterhin, wie seine „Spiritualität auf der heiligen Schrift aufbaut" und wie er mit seinem „Christozentrismus" einen Weg anzeigt, der der heute drohenden Beeinflussung durch östliche Transzendenzsysteme wirksam entgegensteht 230 . Diese letzten Seiten bestätigen den Gesamteindruck. Giovanna della Croce findet bei Tersteegen die Grundstrukturen ihrer eigenen Spiritualität. Sie versteht ihn, weil sie ihm folgte, schon ehe sie ihn kannte. Man spürt ihr ab, welche Faszination darin gelegen hat, daß sie in vermeintlich fremdes Land aufgebrochen ist und dort im Grunde nur Heimatliches gefunden hat. So versteht sich, daß sie ähnlich wie Nigg Tersteegen den Ehrenplatz unter den Heiligen zurückgewinnen möchte. In der gelungenen Zusammenschau vorgegebener Aspekte liegt der Wert dieser existentiell nachvollziehenden Untersuchung.

227 228 229 230

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Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

S. S. S. S.

120. 127. 124. 161.

V. Arbeiten zu Tersteegens dichterischem Werk Gerhard Goebel: Tersteegens Kirchenlieder, Reformierte Kirchenzeitung, 20. Jahrgang 1897. Wilhelm Nelle: Tersteegens Geistliche Lieder, Mit einer Lebensgeschichte des Dichters und seiner Dichtung, Gütersloh 1897. Rudolf Zwetz: Die dichterische Persönlichkeit Gerhard Tersteegens, Phil. Diss. Jena 1915. Gertrud Wolter: Gerhard Tersteegens Geistliche Lyrik, Phil. Diss. Marburg 1929. Traugott Stählin: Gottfried Arnolds Einfluß auf die Dichtung Gerhard Tersteegens und Christian Friedrich Richters, J L H 13,1968 S. 171-188. Reinhard Deichgräber: Gott ist genug, Liedmeditationen nach Gerhard Tersteegen, Göttingen Regensburg 1975.

Grundlegend ist noch immer Nelles Werk über „Tersteegens Geistliche Lieder". Er gibt in seiner umfangreichen Untersuchung zunächst eine nach Themen geordnete Zusammenstellung seiner Lieder, berichtet dann über Tersteegens Leben und wendet sich schließlich wieder seiner Dichtung zu. Er analysiert den Aufbau der Verse Tersteegens, berichtet über die Entstehungszeit der Liedsammlungen und einzelner Lieder und unterrichtet über die verschiedenen Auflagen des Blumengärtleins, die er offensichtlich bis zu Tersteegens letzter Ausgabe lückenlos zur Verfugung hat. Schließlich gibt er noch eine Übersicht über die Verbreitung tersteegenscher Lieder in den verschiedenen Kirchengesangbüchern und Liedersammlungen. Dadurch bewahrt sich diese Arbeit eine bleibende Bedeutung. Weniger aufschlußreich ist dagegen die Dissertation von Rudolf Zwetz. Er vergleicht Tersteegens Lieder mit denen von Gottfried Arnold, Johannes Scheffler, Paul Gerhardt und Joachim Neander. Er beobachtet ihnen gegenüber eine Eigenständigkeit bezüglich der Sprache und Metaphorik, räumt ihm darum sogar eine Sonderstellung in der deutschen Lyrik ein, übersieht aber einfach sein quietistisches Erbe. Ansonsten ist die Arbeit von W. Nelle abhängig 231 . 1929 erscheint noch einmal eine Dissertation über Tersteegens Geistliche Lyrik. Gertrud Wolter verfolgt wie Rudolf Zwetz die Stilformen seiner Verse und versucht seinen Individualstil zu umschreiben. Sie verweist auf Georg Ellinger, der in seiner Arbeit über Angelus Silesius auffällige Abhängigkeiten Tersteegens von Scheffler nachweist. Ellinger belegt wörtliche Übereinstimmungen zwischen den Überschrif2 3 1 A n dem Literaturverzeichnis dieser Arbeit fallt auf, daß unter N r . 9 und N r . 19 zwei Übersetzungen Tersteegens erscheinen, die als Quellen sonst nirgendwo genannt sind: einmal das schon von Gottfried Arnold 1701 in deutsch herausgegebene „Kurtzes und sehr leichtes Mittel zu beten" der M m e . Guyon 1730 und „Regel der Kindheit Jesu Genossen" ebenfalls von M m e . G u y o n angeblich in Solingen 1752 bei Schmitz. Z w e t z gibt vor, sie im Kirchturm der Gemeinde Barmen-Gemarke gefunden zu haben. Der Kirchturm ist im Krieg ausgebrannt, diese Übersetzungen sind dort heute nicht mehr vorhanden.

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ten des Cherubinischen Wandersmanns und Tersteegens Schlußreimen im Blumengärtlein. Er verweist ferner auf eine Vorform der Frommen Lotterie in des „Johannis Angeli Silesii geistreiche Lotterei" von 1714, die ursprünglich ebenfalls auf einzelne Pappkärtchen gedruckt wurde 232 . Traugott Stählin veröffentlicht im Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie einen bislang ungedruckten Abschnitt aus seiner Dissertation „Glaube und Mystik bei Gottfried Arnold", wo er u. a. den Einfluß dieses Sophienfreundes auf Tersteegen untersucht. Stählin zeigt, daß Tersteegens Strophen über das „Seufzen eines Gefangenen nach der Erlösung durch Christus" von Arnolds Lied: „Das Seufzen der Gefangenen" unmittelbar abhängig ist. Es „erscheint wie eine Neufassung der Arnold'schen Grundgedanken" 233 . Allerdings beobachtet er an den beiden letzten Strophen des tersteegenschen Liedes auch eine kennzeichnende Differenz, die Tersteegen der quietistischen Tradition „mehr verpflichtet" zeigt 234 . Abschließend sei noch auf eine besondere Literaturgattung hingewiesen. Albrecht Goes gibt in seinem Interpretationsband „Freude am Gedicht" eine beachtenswerte Auslegung von Tersteegens „Andacht bei nächtlichem Wachen". Diese Form der Begegnung mit Tersteegen findet seine Fortsetzung in Reinhard Deichgräbers Meditationen zu den bekanntesten Liedern Tersteegens. Die Interpretationen führen in überzeugender Weise in Tersteegens Gedankenwelt ein. Sie machen deutlich, daß der Reinheit seiner Gedanken eine ebenso klare und geschliffene, wie einprägsame poetische Sprachform entspricht. So wird verständlich, warum diese Lieder über die Jahrhunderte hinweg unverändert ihren Glanz bewahrt haben. Gleichzeitig geben seine Erläuterungen eine ansprechende Einführung in Tersteegens Gedankenwelt. Zusammenfassung

Sieht man einmal von den jüngsten Tersteegenstudien ab, so sind die bisherigen Veröffentlichungen durch eine auffällige Voreingenommenheit gekennzeichnet. Entweder neigen sie zu schwärmerischer Verehrung oder zu dogmatisch argumentierender Polemik. Dabei ist Ritsehl und Forsthoff in der Hinsicht recht zu geben, daß Tersteegens mystische Denkweisen nicht verdrängt werden dürfen. Problematisch bleibt jedoch die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich darüber einigen, daß der Quietismus und alle Berührung damit unbedingt abzulehnen ist. Hat man sich erst einmal auf diese Sichtweise eingelassen, bleiben für die 232

S. Georg Ellinger, Angelus Silesius, ein Lebensbild, Breslau 1927 besonders S. 124. Traugott Stählin, Gottfried Arnolds Einfluß auf die Dichtung Gerhard Tersteegens und Christian Friedrich Richters, in: JLH 13, 1968 S. 171-188, S. 178. 234 Ebd. 179. 233

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Beurteilung nur diese beiden Möglichkeiten. Entweder sieht man Tersteegens Frömmigkeit ganz im Bann der quietistischen Mystik und vermerkt unzulässige Grenzüberschreitungen oder m a n läßt diesen Einfluß unterbelichtet u n d beleuchtet u m s o mehr den pietistischen Einschlag. Diese unfruchtbare Polarität belastet die ältere Tersteegenforschung. Sie setzt sich durch den Einfluß der dialektischen Theologie bis in unser J a h r hundert fort. Barths Polemik gegen den schleiermacherschen Erfahrungsbegriff zeigt Auswirkungen 2 3 5 . Es fehlt die Übereinkunft, daß die christliche Wahrheit nicht nur autoritär gesetzt, sondern auch im Glauben erfahren werden m u ß . Die Beiträge von M o l t m a n n und van Andel stehen noch unter der Priorität des Dogmatischen. Erst mit den Darstellungen von N i g g , Löschhorn, Zeller u n d Giovanna della Croce beginnt eine neue Phase der Tersteegenforschung. Ihre Arbeiten spiegeln eine Tendenzwende. Sie sind von der G r u n d s t i m m u n g getragen, daß das religiöse Leben u n d Erfahren höher zu bewerten ist als alle traditionellen Gedankensysteme des Glaubens 2 3 6 . So betont Zeller die Bedeutung der religiösen Erfahrung bei Luther 2 3 7 u n d referiert Arndts Äußerungen über die Theologie, die nicht nur „eine bloße Wissenschaft und Wortkunst", sondern „eine lebendige Erfahrung und Ü b u n g " sein soll 238 . Auch Tersteegen äußert sich wiederholt in diesem Sinn. Dadurch ergibt sich innerhalb der Forschungsgeschichte erstmalig eine Kongruenz in der leitenden Fragestellung. Die dogmatischen Spannungen sind deshalb nicht ausgeräumt, aber sie blockieren nicht mehr den Z u g a n g . Dieser Neueinsatz zeigt sich vor allem bei der B e w e r t u n g von Mystik und Quietismus. Zellers Z u s a m m e n f a s s u n g am Ende eines Vortrags über Luthertum u n d Mystik artikuliert dies in programmatischer Weise, w e n n er sagt: „Die A u f n a h m e von mystischem Überlieferungsgut b e d e u t e t . . . für das evangelische C h r i stentum keineswegs eine geistige Ü b e r f r e m d u n g . Vielmehr handelt es sich hier u m d i e . . . Fähigkeit zu selbständiger Aneignung und u m die weitherzige Bereitschaft z u m religiösen und geistigen Austausch. " 2 3 9 Die vorliegende Arbeit k n ü p f t in der Weise an den Forschungsstand an, als sie ebenfalls nach Erfahrungen fragt. Das Interesse richtet sich auf das Z e n t r u m der tersteegenschen Erfahrungswelt, auf das G e w a h r w e r d e n der Gegenwart Gottes i m R a h m e n seiner Gebetserfahrungen. Dieser Bereich evangelischer Spiritualität soll der Erörterung zugänglich gemacht werden. Wo i m Bereich der praktischen Theologie die Frage nach zeitgemäßer, 235 S. z. B. die irreführenden Äußerungen über Tersteegen in KD I, 2 S. 277 u. KD II, 2 S. 121. 236 Vgl. Rainer Röhricht, Zum Problem religiöser Erfahrung, in Wissenschaft und Praxis in Kirche und Gesellschaft 63, 1974289-305 S. 296. 237 So Winfried Zeller, Luthertum und Mystik, in Theologie und Frömmigkeit, Bd. 2 hrsg. v. Bernd Jaspert, Marburger theologische Studien. Bd. 15 Marburg 1978, S. 35-54; S. 39. 238 Ebd. 46. 239 Ebd. 54.

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tragfähiger Frömmigkeit immer klarer hervortritt, bekommt die kritische Sichtung der eigenen Tradition einen besonderen Stellenwert. So geht es mit diesem Rückgriff auf Tersteegen nicht zuletzt um ein frömmigkeitsgeschichtliches Kontinuitätsbewußtsein. Z u m anderen gilt für die Zeit Tersteegens wie heute, daß gerade das Interesse an christlicher Gebetserfahrung wesentlich zum Gespräch zwischen den Konfessionen beiträgt.

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G E B E T U N D G O T T E S E R F A H R U N G BEI G E R H A R D TERSTEEGEN D A S G E W A H R W E R D E N DER G E G E N W A R T G O T T E S

DER AUSGANGSPUNKT

„Nicht mein, sondern Dein Wille geschehe!"

I. Der hermeneutische Ausgangspunkt: das Suchen und Finden der Wahrheit 1. Die Bedeutung

des Suchens und Findens im Leben

Tersteegens

In einer bescheidenen Mülheimer Dachkammer vollzieht sich am Gründonnerstag des Jahres 1724 für Gerhard Tersteegen ein wichtiges Ereignis. An diesem Abend übergibt er aufgrund einer Betrachtung des Gebetskampfes Jesu im Garten Gethsemane sein Leben endgültig und uneingeschränkt der Führung Gottes. Eine mit eigenem Blut aufgesetzte Verschreibung gibt Zeugnis von der Bedeutung dieser Stunde: „Von diesem Abend an sey Dir mein Hertz und gantze Liebe auf ewig zum schuldigen Dank ergeben und aufgeopfert! von nun an bis in Ewigkeit nicht mein, sondern Dein Wille geschehe! Befehle, herrsche und regiere in mir! ich gebe Dir Vollmacht über mich, und verspreche, mit deiner Hülfe und Beystand, eher dieses mein Blut, bis auf den letzten Tropfen, vergießen zu laßen, als mit Willen und Wissen, in- oder auswendig, Dir untreu und ungehorsam zu werden . . . " 1

In dieser „Verschreibung" ist erstmalig das Wort genannt, das ihn von nun an unaufhörlich begleiten wird: „Nicht mein, sondern Dein Wille gesche-

1 B R I Vorb. 8; s. a. W. Wienkoop, Der Blutbrief von Gerhard Tersteegen und die Erinnerungsstücke aus seinem Besitz, o.J. (1969). Noch ist unklar, ob es sich bei der von Wienkoop veröffentlichten Fassung um das Original handelt. S. hierzu und zu den Parallelen aus dem Bereich des Quietismus G. v. Andel, Gerhard Tersteegen a.a.O. S. 22f.; vgl. auch R. Mohr, Gerhard Tersteegens Leben a.a.O. S. 199ff.

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h e . . . " Es ist wie eine Überschrift, die Tersteegens Leben seine Eigentümlichkeit gibt. Nach dieser „Verschreibung" beginnt seine schriftstellerische Tätigkeit. Er übersetzt und veröffentlicht Werke, die ihn offensichtlich bis zu diesem Zeitpunkt begleitet haben 2 . Im Frühjahr 1725 entschließt er sich zu einer bruderschaftlichen Lebensgemeinschaft mit einem „gewissen Heinrich Sommer" 3 , dem er bis zu seinem Lebensende treu bleiben wird. Die Jahre seiner selbstgewählten Einsamkeit sind endgültig vorbei. So vollzieht sich in diesem Zeitraum ein entscheidender Wandel. Die „alte Lebensbeschreibung" nennt die Jahre vor seiner Verschreibung eine Zeit der „Dunkelheit, Versuchungen und Proben" 4 , die fünf Jahre gedauert habe. Persönliche Zeugnisse sind leider nur wenige vorhanden 5 . Aber aus dem Wenigen wird sichtbar, daß Tersteegen diesejahre vor allem als eine Zeit des sehnsüchtigen Suchens erlebt hat. In einem Brief von 1721 an einen älteren Freund in Haan schreibt er im Anklang an Psalm 17: „Dies eine, dich so zu finden und zu schauen, bitte ich von Dir mit allen, die sich danach sehnen und hätte ich gerne, daß ich im Hause des Herrn bleiben könne mein Leben lang." 6

Und an den gleichen in einem Brief vom 23. 9. 1721 : „Laßt uns den Mut nicht fallen lassen, es ist ihm ein Geringes uns in einem Augenblick finden zu lassen, was wir vielleicht jahrelang außer uns mit vieler Mühe möchten gesucht haben . . ," 7

Von der Leidenschaftlichkeit seines Wartens gibt auch ein Lied Zeugnis, das in jene Zeit gehören dürfte. Unter der Überschrift „Seufzen eines Gefangenen nach der Erlösung durch Christus" 73 heißt es im sechsten Vers: „Schau, wie ich entblößet bin, Wie mein Geist im Kerker s t öhnet, Elend Wie so inniglich mein Sinn Sich nach deiner Freiheit sehnet, 2 Sein ältestes Werk, der unveröffentlicht gebliebene „Unparteiische Abriß", ist wahrscheinlich schon 1724 entstanden. Seine frühesten Übersetzungen, Labadies Handbüchlein der Gottseligkeit und Bernières verborgenes Leben sind datiert auf das Jahr 1725. 3 BR III LE 13. 4 BR III LE 11. 5 Neben den beiden Briefen an Adolf Weber in Haan in BR I 242 (90) u. BR II 296 (34), vgl. auch die rückblickenden Äußerungen Tersteegens an Dina Beets BR Holl 347 ff. (100) vom 15. 1. 1736 und an Coenraad Bosman s. dazu C. P. van Andel, Gerhard Tersteegen en zijn Nederlandse vrienden, S. 80f.; s. a. BL 449 (3, 58.12) und BL 511 (3, 80,50). 6 B R I 2 4 2 (90). 7 B R Ì I 9 6 (34). 7ί Zur Entstehungsgeschichte dieses Liedes s. T. Stählin; G. Arnolds Einfluß a.a.O. S. 178.

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Ach zerreiß den H i m m e l doch, Ach zerbrich des Treibers J o c h ! " 8

Die Sehnsucht, das leidenschaftliche Suchen nach Freiheit ist ein Grundzug in Tersteegens Frühzeit 9 . Diese Sehnsucht hat ihn in seiner Einsamkeit festgehalten. Sie hat ihn daran gehindert, in seinem Kaufmannsberuf erfolgreich zu sein. Sie hat sich ihm in einer solchen Ausschließlichkeit aufgedrängt, daß er gezwungen ist, unermüdlich nach Erfüllung zu suchen und alles dahinter zurückzustellen. Während dieser Zeit schweigt Tersteegen. Endlich, im Frühjahr 1724 ist ihm begegnet, worauf er jahrelang gewartet hat. Die „alte Lebensbeschreibung" spricht von einer „Mitteilung Gottes in seinem Inwendigen, die er mit Worten nicht ausdrücken k o n n t e . . . " 1 0 . Das letzte Lied des Blumengärtleins in der Ausgabe von 1729 berichtet von diesem Wandel: „ M e i n Geist, der suchte lange, Ihm war so bange, Mein Geist, der suchte lange, N u n ruht er aus . . , " 1 1

Tersteegen hat gefunden, was er über Jahre hin gesucht hat. Diese Glaubenserfahrung wird zum Mittelpunkt seines Wirkens. U m dieses Zentrum herum bewegt sich seine zahlreiche Korrespondenz. Von dieser Mitte zeugen seine schönsten Lieder. In einer Reimbetrachtung über den Stand der Beschauung faßt er diesen Augenblick des Findens in die Worte: „Wie war d e m Geiste doch zumut', D a er sein langgesuchtes Gut S o nah i m Herzen funde! N u n hat er's alles, was er will, U m a r m e t , liebet und ist still Bei seinem Gott im Grunde. O Schönheit, alt und neu genannt, Ach, daß ich dich so spät erkannt, Geliebet und erfahren! Ich suchte draußen hie und da U n d wußte nicht, daß wir so nah Im Geist beisammen waren. " 1 2 8

BL 337 (3,9.6). Vgl. BL 359ff. (3,20); 375ff. (3,27); 389f. (3,34); 390ff. (3,35) die ebenfalls zu diesem Lebensabschnitt gehören dürften. 10 BR III LE 12. 11 BL 377 (3, 28.2); s. a. BL 86 (1, 231): „O selige Stunden, ich hab es gefunden! Ich kann nicht seufzen mehr, ich habe, was ich will, Und was ich fern gesucht, find' ich nun in mir nahe." 12 BL 449f. (3,58.11 u. 12). 9

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Die Strophen erscheinen zunächst als ein intimes Zeugnis seines geistlichen Weges. Aber ein genaueres Zusehen läßt erkennen, daß sie mehr sein wollen. Tersteegen bewegt sich hier in der Sprache Augustins 13 . Er verzichtet bewußt auf eine persönliche Sprachgestalt. Er stellt sein individuelles geistliches Erlebnis vielmehr in den weitgespannten Überlieferungsstrom, der von Suchen und Finden des höchsten Gutes Zeugnis gibt 14 . Wie ungebrochen Tersteegen diese Grundeinstellung antiker und mittelalterlicher Metaphysik teilt, zeigen die folgenden Verse aus dem „Geistlichen Blumengärtlein" : „Suchen und Finden sind zwei Dinge Du mußt dich nicht so sehr an Form und Weisen binden, Man suchet Gott nicht stets, man muß ihn ja auch finden; Wer noch im Suchen ist, der läuft und wirket viel, Wer ihn gefunden hat, genießet und ist still. " l s 13

S. D e T r i n i t a t e L . X I I I c. 5: „ b e a t u s est, q u i h a b e t o m n i a q u a e v u l t " - „ G l ü c k s e l i g ist, w e r alles hat, w a s er w i l l " u n d C o n f e s s i o n e s X c. 27 n . 38: „ S e r o te a m a v i , p u l c h r i t u d o tarn a n t i q u a et tarn n o v a , s e r o te a m a v i ! " - „ S p ä t h a b e ich d i c h g e l i e b t d u S c h ö n h e i t , e w i g alt u n d e w i g n e u , spät h a b e ich d i c h g e l i e b t ! " D i e s e Stelle aus A u g u s t i n s B e k e n n t n i s s e n h a t w i e k a u m eine a n d e r e das g a n z e M i t t e l a l t e r h i n d u r c h u n d n o c h bis in die N e u z e i t h i n e i n n a c h g e k l u n g e n . S. z. B. B r u d e r L o r e n z ü b e r d i e v e r l o r e n e Z e i t seiner J u g e n d : „ O G ü t i g k e i t , die D u b e y d e s alt u n d n e u bist! w i e h a b ich s o s p ä t a n g e f a n g e n D i c h zu l i e b e n " A L II, 9 S. 87 o d e r die b e k a n n t e S t r o p h e v o n J o h a n n S c h e f f l e r „ A c h , d a ß ich d i c h so s p ä t e r k e n n e t , d u h o c h g e l o b t e S c h ö n h e i t d u " in: E K G 254 S t r o p h e 3. 14

D i e s e A n k n ü p f u n g ist n i c h t u n b e r e c h t i g t , d e n n g e r a d e A u g u s t i n u s h a t ü b e r d i e B e d e u t u n g des S u c h e n s u n d F i n d e n s b e i m E r f a s s e n d e r W a h r h e i t a u s f u h r l i c h e r n a c h g e d a c h t . N o c h aus seiner M a i l ä n d e r Z e i t s t a m m t d e r D i a l o g g e g e n die A k a d e m i k e r , d e r e r k e n n e n l ä ß t , d a ß er sich n a c h seiner B e k e h r u n g v o r w i e g e n d m i t dieser F r a g e b e f a ß t h a t . A u s dieser P e r s p e k t i v e v e r a r beitet er seinen K o n f l i k t m i t d e r M a i l ä n d e r A k a d e m i e , w e i l es z u m H a b i t u s seiner e h e m a l i g e n K o l l e g e n g e h ö r t e , j e g l i c h e n A b s o l u t h e i t s a n s p r u c h zu r e l a t i v i e r e n . D a r u m g e r a t e n die b e i d e n K o n t r a h e n t e n seines D i a l o g s in h e f t i g e n Streit ü b e r die F r a g e , o b das G l ü c k des M e n s c h e n s c h o n i m S u c h e n o d e r erst i m F i n d e n d e r W a h r h e i t liege. L i c e n t i u s v e r t r i t t d i e A n s i c h t d e r A k a d e m i ker, d a ß bereits i m F o r s c h e n n a c h W a h r h e i t die B e f r i e d i g u n g g e f u n d e n w e r d e , w ä h r e n d T r y g e t i u s d e r A u f f a s s u n g A u g u s t i n s z u m Sieg v e r h i l f t , d a ß n u r das H a b e n u n d G e n i e ß e n des h ö c h s t e n G u t e s G l ü c k s e l i g k e i t b e d e u t e . A l l e i n das H a b e n d e r W a h r h e i t u n t e r s c h e i d e t d e n C h r i s t e n v o m H e i d e n . S. C o n t r a A c a d é m i c o s I c. 2 η. 5 u . I c. 3 η. 9; v g l . a u c h D e v e r a r e l i g i o n e c. 41 η. 78. T e r s t e e g e n f o l g t A u g u s t i n u s h i e r i n , w e n n er in s e i n e m S t r o p h e n g e d i c h t ü b e r d i e B e s c h a u u n g s c h r e i b t , w i e m a n d u r c h die K o n t e m p l a t i o n die W a h r h e i t finden u n d a n z u s c h a u e n v e r m a g : „Ich f o r s c h t e , d a ß ich d i e W a h r h e i t f a n d , D o c h w a r d mir Wahrheit nie bekannt, Ich b l i e b i m Z w e i f e l s t e c k e n . In dieser S c h u l e s c h a u e t m a n D i e W a h r h e i t als g e f u n d e n an, E i n B l i c k k a n n sie e n t d e c k e n . " ( B L 4 5 5 [3,58.33]) S o m i t ist m a n a u f d e r S t u f e d e r K o n t e m p l a t i o n n i c h t m e h r a u f d e r Suche n a c h d e r W a h r h e i t , m a n hat sie bereits. 15 B L 9 5 (1,275); die S e l b s t v e r s t ä n d l i c h k e i t , m i t d e r diese A u f f a s s u n g bis z u r N e u z e i t h i n i h r e G ü l t i g k e i t b e h a u p t e t , b e g r ü n d e t sich w o h l d a r i n , d a ß n i c h t n u r A u g u s t i n u s , s o n d e r n a u c h A r i s t o t e l e s u n d T h o m a s v. A q u i n diese E i n s t e l l u n g teilen. S. N i k o m a c h i s c h e E t h i k X . 7 , 1 1 7 7

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Der Riickbezug auf die Väter hat hier wie oft im Bereich des mystischen Pietismus etwas Demonstratives. Er verdeckt einen Sachverhalt, der nicht unproblematisch erscheint, aber durch den Hinweis auf die christliche Frühzeit legitimiert werden soll. Es geht um die nicht zu übersehende Differenz zum reformatorischen Glaubens Verständnis. Je deutlicher man Tersteegens Gotteserfahrung und die anschließende Verschreibung als sein religiöses Grunderlebnis erfaßt, um so klarer tritt hervor, wie sehr sie sich von dem unterscheidet, was seit Luther als die reformatorische Glaubenserfahrung gilt. Hier wird nicht nach Wittenberger Manier um die Frage der Heilsgewißheit gerungen, auch hat ihre Genfer Variante, die Frage nach der Erwählung zum Heil für Tersteegen keinen existentiellen Rang. Er lehnt das Trachten nach Heilsgewißheit ausdrücklich ab. Seine religiöse Leidenschaft entzündet sich nicht an der Frage, ob Gott ihm gnädig ist, sondern ob er überhaupt erfahrbar ist. Er steht in einem gesellschaftlichen Kontext, der die Gottesfrage als solche aufwirft. U m dies in seiner grundlegenden Bedeutung sichtbar zu machen, ist es notwendig, den theologiegeschichtlichen Rahmen seiner Fragestellung zu beleuchten. 2. Das Suchen und Finden der Wahrheit im Rahmen der

Zeitgeschichte

Die kopernikanische Wende scheint im 17. Jahrhundert religiös und geistig noch nicht bewältigt. Die natürliche Gotteserkenntnis und die Selbstverständlichkeit, mit der man vormals Gott über das Geschick walten sah, haben ihre Überzeugungskraft verloren. So wie Grotius das Recht unter die Formel des „etsi deus non daretur" stellt und damit ihre metaphysische Verankerung zugunsten eines immanenten Naturrechts aufhebt, so treten auch die Naturwissenschaften aus ihrer theologischen Umklammerung und erleben dank dieser Befreiung ihre größten Erfolge. Als Newton stirbt, steht Tersteegen im Alter von 30 Jahren. Das Aufbrechen von Nihilismus und Pessimismus im Jahrhundert des Barock signalisiert das Ausmaß dieser geistesgeschichtlichen Krise 16 . Gott scheint als wirksames und gegenwärtig herrschendes Wesen nicht mehr greifbar. Zwar wagen erst wenige einen prinzipiellen Atheismus, aber Gott wird zunehmend aus allen Bereichen des Natürlichen ausgeklammert. Noch a. 25-27 und den entsprechenden Abschnitt im Thomaskommentar zur Nikomachischen Ethik In decern libros ethicorum Aristoteles ad Nicomachum expositio, Turin 1890, lect. 10. S. dazu Martin Grabmann, Die Grundgedanken des heiligen Augustinus über Seele und Gott in ihrer Gegenwartsbedeutung, Köln 19292 (Neudruck Darmstadt 1967). 16 S. z. B. Ortega y Gasset, Das Wesen geschichtlicher Krisen, Stuttgart 1955 S. 83ff.: Der Übergang vom Christentum zum Rationalismus; vgl. Hans Blumenberg, die kopernianische Wende, Frankfurt 1965; Wolfgang Philipp, Das Werden der Aufklärung in theologiegeschichtlicher Sicht, Forschungen zur System. Theologie und Religionsphilosophie, Bd. 3 Göttingen 1957 S. 78ff.; Winfried Zeller, Der Protestantismus des 17. Jahrhunderts, Bremen 1962, s. besonders S. XXIX.

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beherrscht die religiöse Konvention das Leben der Stände 1 7 , aber die Sensibleren unter ihnen spüren die Veräußerlichung, die die tatsächliche Religionslosigkeit nur mit Mühe verdeckt 1 8 . Wo der Pietismus zur Geltung kommt, tritt er zwar dem sittlichen Verfall des Spätbarock wirkungsvoll entgegen, aber die tiefere Problematik jener Krisenzeit, der spürbare Verlust der natürlichen Gotteserkenntnis bleibt unbewältigt. In Aufklärung und Deismus einerseits, in Mystik und Separatismus andererseits formieren sich die Kräfte, die auf diese religiöse Befindlichkeit antworten. Aus dem Geist der Aufklärung geht die physikotheologische Bewegung hervor, die bestrebt ist, das leer und weit gewordene All zu beleben und in Sternen und Steinen, in Muscheln und Pflanzen, in Schnee und Donner Spuren einer göttlichen Ordnung aufzuweisen 1 9 . Dagegen beschreitet der mystische Pietismus einen eher regressiven Weg. Er überläßt die Welt des Äußeren weitgehend der Profanisierung und sucht allein im Innern der Seele nach den Spuren Gottes. Diese neuen weltanschaulichen und religiösen Theorien, die das 17. Jahrhundert bereitstellt, finden im nachfolgenden Säkulum gegen den Widerstand der Orthodoxie rasche Verbreitung. Zur Mitte des 18. Jahrhunderts dringt auch der radikale Z u g der französischen und englischen Aufklärung in Deutschland ein und gelangt über die preußischen Hofkreise in die bürgerlichen Schichten 20 . 1 7 S. dazu Friedrich Wilhelm Kantzenbach, Protestantisches Christentum im Zeitalter der Aufklärung, E v . Enzyklopädie hrsg. v. H. Thielicke und H . T h i m m e , B d . 5/6 Gütersloh 1965 S. 21 : Kantzenbach schreibt: „ E s ist eben die Bindung an den traditionellen Bestand bürgerlichchristlicher O r d n u n g s g e f ü g e in Deutschland so stark gewesen, daß Unglaube nicht ein kollektives Phänomen werden konnte, sondern Ausnahme blieb." S . a . S. 43, w o er über einige Atheisten des ausgehenden 17. Jahrhunderts berichtet. 1 8 Wie eine Interpretation wirkt Jean Pauls Vision „Rede des toten Christus" in Werke (Berend) V. 763: „ U n d als ich aufblickte zur unendlichen Welt . . . starrte sie mich mit einer leeren bodenlosen Augenhöhle an und die Ewigkeit lag auf dem Chaos und zernagte es und wiederkäuete sich." ' 1 9 S. W. Philipp, D a s Werden der Aufklärung a . a . O . Dank dieser gründlichen Studie über die „Physikotheologische B e w e g u n g zwischen 1700 und 1800" sind wir über diesen interessanten Zweig der Theologiegeschichte näher unterrichtet. Diese B e w e g u n g erweist sich im nachhinein als die eigentliche Alternative der Orthodoxie zum mystischen Pietismus, u m an ihrer asketischen Gebetsfrömmigkeit vorbei allein durch wissenschaftliche Betrachtung das verlorene Gefühl der Gegenwart Gottes zu erneuern. U n d wahrscheinlich hat diese B e w e g u n g einen wesentlichen Anteil an j e n e m vielbeobachteten S t i m m u n g s u m s c h w u n g v o m barocken Skeptizismus zum aufgeklärten O p t i m i s m u s . N o c h Goethe weiß sich dieser B e w e g u n g verbunden, wenn er feststellt, daß der Kern des physikotheologischen Anliegens durch Kants Vernunftkritik nicht getroffen ist: „ D e n theologischen Beweis v o m Dasein Gottes hat die kritische Vernunft beseitigt; wir lassen es uns gefallen. Was aber nicht als Beweis gilt, soll uns als Gefühl gelten, und wir rufen daher von der Bronchotheologie bis zur Niphotheologie alle dergleichen frommen Bemühungen wieder heran!" So Johann Wolfgang von Goethe in M a x i men und Reflexionen, Werke (Cotta) IV S. 243 f. 20

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S. dazu Ritter v. Z i m m e r m a n n , Ü b e r Friedrich den Großen und meine Unterredungen

Montesquieu und Voltaire, Rousseau und Hume, Friedrich II. und Reimarus sind Tersteegens Zeitgenossen. Daneben stehen religiöse Gestalten wie Dippel, Graf Zinzendorf und Anna und Elias Eller. Dabei zeigen der mystische Separatismus und der aufklärerische Indifferentismus durchaus verwandte Züge, was den Übergang von einem Lager zum anderen möglich macht. Ellers Entwicklung vom Separatisten zum religiös verbrämten Freigeist bleibt hier kein Einzelfall 21 . In diesem problematischen Spannungsfeld steht Tersteegen. Er hat bei aller persönlichen Abgeschiedenheit an diesen Strömungen insofern Anteil, als er aus ihnen die Aufforderung vernimmt, die Bedingungen religiöser Erfahrung neu zu ergründen. Er ist infolgedessen wenig daran interessiert, was den wahren evangelischen von dem falschen gesetzlichen Glauben unterscheidet. Er sieht sich vielmehr vor die Frage gestellt, unter welchen Bedingungen lebendige Gotteserfahrung überhaupt noch möglich ist. Er sucht nach der Gegenwart Gottes inmitten einer religiös entzauberten Welt, und dafür ist ihm grob gesagt jeder Weg recht, selbst ein gesetzlicher 22 . Dies unterscheidet Tersteegens Ausgangspunkt von dem der Reformatoren und macht verständlich, warum er auf das orthodoxe Pochen auf Heilsgewißheit besonders empfindlich reagiert. Es erscheint ihm im Munde seiner Zeitgenossen als leichtfertige Selbstbeschwichtigung, die nur darauf aus ist, ihre Gleichgültigkeit gegenüber der Heiligung zu legitimieren. So schreibt er in einem Brief an den Reichsgrafen von Castell: „Daß es nämlich gefährlicher sey, als man denke, wenn man das Wesen des Glaubens in die ausgewickelte Versicherung von der Vergebung der Sünden setze;"23

U n d in einem späteren Aufsatz über die Rechtfertigung heißt es weiter: „Der rechtfertigende Glaube kann nicht derjenige Glaube sein, da ich glaube, daß ich gerechtfertiget sei, oder die Versicherung, daß mir meine Sünden vergeben seien. Und obgleich Gott manchmal eine gründliche Versicherung davon gibt, so ist es

mit ihm kurz vor seinem Tode, Frankfurt und Leipzig 1789, s. besonders S. 208ff. Zitiert in Kantzenbach, Protestantisches Christentum a.a.O. S. 138f. 21 Über die enge Beziehung zwischen dem radikalen Pietismus und der deutschen Freigeisterei s. Emmanuel Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Gütersloh 1960 Bd. 2 S. 303 ff. Bezüglich Dippel s. bes. Wilhelm Bender, Johann Conrad Dippel, Der Freigeist aus dem Pietismus, Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte der Aufklärung, Bonn 1882. 22 Dieser gegen den Rationalismus gerichtete Ausgangspunkt ermöglicht eine unmittelbare Aktualisierung und berechtigt zu einem besonderen Interesse an dieser protestantischen Tradition. So heißt es in einem Aufsatz der WPKG 65 1976 S. 176: „Viele Menschen verlangen danach, Sinn zu erfahren und zu erleben, statt ihn nur zu glauben. Erfahrung von Sinn aber heißt im letzten Erfahrung der Präsenz Gottes." (W. Bambauer, Theologische Erkenntnis und mystische Erfahrung.) Bambauer verweist dabei zu Recht auf die Erfahrungen der Psychotherapeuten und Ärzte H. Müller-Eckhard, R. D. Laing, B. Staehelin und C. Albrecht. 23 BR 1210 (77).

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doch unrichtig und gefährlich, den Glauben oder die Rechtfertigung darin zu setzen." 2 4

Diese Einstellung zum Problem der Heilsgewißheit veranschaulicht seine Distanz zum Erbe der Reformation. Er betont zwar wiederholt seine Übereinstimmung mit der protestantischen Rechtfertigungslehre, aber es bleibt der Unterschied eines grundsätzlich anderen Ausgangspunktes. So gipfelt sein Anliegen nicht in dem Zeugnis der Vergebung, sondern in dem Bekenntnis, mit dem auch die Physikotheologen enden: „Gott ist!": „Wie so glückselig bin ich, daß ich weiß, daß ,Gott ist!' und daß ich dieses Bekenntnis abstatten kann, daß ,Gott ist!' Höret es ihr Kreaturen alle: ,Gott ist!' Ich gönne dir's, mein Gott, daß du bist; es gefallt mir so wohl, daß du bist. O wie so schön, wie so gut ist es, daß du bist und daß du bist derjenige, der du bist! Ich wollte lieber, daß ich nicht wäre, als daß du nicht sein solltest." 2 5

In seinen Vorreden nimmt Tersteegen den Leser jeweils in diese Fragestellung hinein. Dort spricht er von den Bedingungen, unter denen ein solches Bekenntnis wieder möglich werden kann. 3. Das Suchen und Finden als Thema der Vorreden

Tersteegens

Es gehört zu Tersteegens Gewohnheit, sich bei der Herausgabe seiner Schriften an den Leser persönlich zu wenden, sei es in Form einer kurzen, persönlichen Anrede, wie in der Vorrede zum Verborgenen Leben, die er mit den Worten „Gott suchender, Gott liebender Leser" beginnt 26 , oder in Gestalt einer ausfuhrlichen Zuwendung an den Leser, wie in der Vorrede zu Gerlachs Herzensgesprächen, wo er zu bedenken gibt, wozu wir geschaffen und von Gott in die Welt gesetzt sind, um uns zu der Einsicht zu fuhren: „Du bist eben dazu in dieser Welt, u m diesen deinen Gott . . . wieder zu suchen." 2 7

Was ist der Sinn einer solchen anfänglichen Verständigung? Sie hat eine wichtige hermeneutische Funktion. Sie beschreibt das Vorverständnis, das zum Verstehen seines Anliegens notwendig ist. Tersteegen erwartet vom Leser eine Gleichartigkeit im Suchen, wenn auch nicht mit gleicher Intensität, so doch mit gleicher Intention 28 . Auf solche Übereinstimmung zielen seine Anreden. Sie sind mehr als nur zeitbedingte Gewohnheit 29 . Sie sind 24

WW 402 (l.Zug. 3); vgl. a. 177 (5,17) und 179 (5,20). WW 302 (7,38). 26 VLE Vorrede 9. 27 WW 336 (9,1). 28 Vgl. W. Nigg, Heimliche Weisheit a.a.O. S. 9. 29 Vgl. nur die Vorreden von Gottfried Arnold, etwa zu „Des Hl. Macarius Homilien verdeutscht" Leipzig 1696, wo er neben der üblichen Vorrede noch eine gesonderte „Erinnerung" gibt, die daraufhin wirken will, daß der Leser die rechte innere Haltung einnimmt. Schließlich versieht er seine Übersetzung sogar noch mit einer „Nachrede", in der er den Leser 25

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vielmehr der Schlüssel dafür, welches Maß an vorausgehender Übereinkunft diese Schriften abverlangen. Tersteegen erwartet eine Offenheit im Suchen und Finden der Wahrheit und sieht, daß es eine Haltung gibt, bei der er hoffnungslos gegen den Wind redet. Da ist zunächst die habituelle Gleichgültigkeit der Gedankenlosen; zum anderen die nicht minder problematische Besserwisserei der kirchlichen Theologen und ihrer freikirchlichen Widersacher und schließlich die Konfrontation mit dem überlegenen Gehabe des aufgeklärten Intellektuellen, der nicht weniger selbstherrlich gegen diese orthodoxe Besserwisserei polemisiert. a) Die Notwendigkeit

des Suchens

In der Vorrede zum „Weg der Wahrheit" spricht Tersteegen sein Gegenüber als einen „Wahrheit- und heilsbegierigen Leser" an und fragt ihn dann: „Bist du wirklich ein solcher, wie ich dich hier nenne, dann stehe ein wenig still bei andächtiger Lesung dieses Büchleins, dessen Titel zu versprechen scheinet, daß es dir eine Anweisung gebe zu dem, was du suchest."30

Wenn der Leser sich von dieser Anrede betroffen fühlt, ist die Voraussetzung erfüllt, die das Lesen einer solchen Schrift sinnvoll macht. Andernfalls ist ein Verstehenkönnen für Tersteegen kaum denkbar 3 1 . Seine einseitige religiös orientierte Geistesart braucht Resonanz. Wo sie entsprechende Leser findet, wird sein geistlicher Weg zu einer Verheißung. Wo sie jedoch auf religiöse Indifferenz trifft, ist der Zugang zu Tersteegens Person insgesamt verschlossen. Derartige Gleichgültigkeit läßt ihn allerdings nicht unberührt. Sie kann ihn zu drastischen Bildern provozieren: „Sind sie nicht so sicher, wie die Ochsen, die im Grase gehen, und nicht denken, daß ihr Schlachttag in wenigen Tagen da sey? Eben so sicher wandern diese Menschen dem Tode entgegen, und lassen es alles auf ein Gerathewohl ankommen." 32

Ist der Leser noch kein Pilger zur Ewigkeit, so ist er fur ihn „ein der verderbten Natur noch überlassener Mensch", ein in höchster Gefahr Schlafender, der noch nicht gemerkt hat, daß ihm die Mörder das Messer an die

erneut zur Selbstprüfung auffordert. Mit diesem Verständigungsrahmen tritt Arnold besonders dicht an den Leser heran. S. dazu H. Dörries, Geist und Geschichte bei Gottfried Arnold, in Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, philologisch-historische Klasse, 3. Folge Nr. 51 Görringen 1963 S. 151-159. 30 WW 3 (Vorr.). 31 Vgl. den Anfang des Blumengärtleins. Auch es beginnt mit einer deutlichen Abgrenzung: „Mensch, Gott dein Anfang ist; hast du ihn selbst im Wesen, So hast du schon das End' von dieser Schrift gelesen. Suchst du ihn noch, so lies dies auf der Pilgerbahn! Bist du ein solcher nicht, so geht es dich nicht an." BL 35 (1,1). 32 RE IV 47 (1) = GR 284.

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Kehle gesetzt haben 3 3 . Für diese Gedankenlosigkeit hat Tersteegen kein Verständnis, andererseits zeigen jene auch ihm gegenüber nur Unverständnis. Sie nennen seine Frömmigkeit „ein melancholisches, trauriges und verdrießliches L e b e n . . . , wobei man keine freudige Stunde haben könne, sondern immer mit einem hangenden Kopf g e h e n . . . müsse" 3 4 . b) Die Warnung vor falscher Sicherheit Mehr noch als die Gleichgültigkeit des natürlichen Menschen stellt sich ihm die Unbeweglichkeit jener entgegen, die sich durch den reinen Glauben bereits im Besitz des ewigen Heils wähnen, aber durch die Tat beweisen, daß sie von der Kraft Gottes unberührt geblieben sind: Sie „nennen das Glauben, daß sie nämlich zu einer Religion gehören und etwa in dieser oder jener vermeinten Religion geboren, getauft und unterwiesen worden, und daß sie nach derselben Lehre ihr Bekenntniß abgelegt haben; darum meinen sie, sie stehen im rechten Glauben, oder nennen das einen Glauben, daß sie steif und fest dafür halten, daß Christus fur ihre Sünden sein Blut vergossen, und seinem himmlischen Vater fur die Sünden aller und jeder Menschen genug gethan habe, und wenn man dieses dergestalt fest glaube, daß man ja davon nicht abgehe, man möge einem vorpredigen, was man wolle, so habe man Vergebung der Sünden, und man werde alsdann ganz sicher selig. Sehet, das ist mir ein purer Wahnglaube, eine pure Einbildung und nichts anderes, wobei der heilige Geist nichts zu thun hat. Soll eine Sache darum wahr seyn, weil ichs glaube?"35

Hier ist der Glaube zu einem Besitzanspruch auf ewiges Heil degradiert. Die Ausrichtung des Lebens auf die Ewigkeit ist als erledigt abgetan. Das Leben bewegt sich im Vorfindlichen. Das Herz und die Sinne schweifen frei herum. „Im Essen und Trinken, im Sehen und Hören", in allen Begierden folgt man unverändert „dem Trieb seiner ungestorbenen Natur, so wie es einem nur in den Sinn k o m m t . . ." 3 6 . Das Leben vollzieht sich am Glauben vorbei. Der Glaube ist zwar noch als tröstlicher Hintergrund für eventuelle Notfälle aufbewahrt, aber die Mitte des Lebens bleibt davon unberührt. Gegen dieses orthodox sich äußernde Glaubensverständnis wehrt sich Tersteegen leidenschaftlich. Unermüdlich ruft seine Stimme zur Buße. U n aufhörlich weckt sie aus dem Schlaf der Sicherheit. Sie warnt vor geistlicher Leichtsinnigkeit und zu billiger H o f f n u n g auf Gnade. „Alle reisen durch diese Welt, aber nicht alle reisen von dieser zu jener Welt, dieses tun allein die Auserwählten. Jene reisen als im Spaziergang, als wohnend und nicht reisend, diese reisen als Fremdlinge."37 33 34 35 36 37

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RE IV 70 (2) = GR 598. RE IV 315 f. (7) = GR 235; vgl. RE II 18 (1) = GR 640. RE III 346 (7) = GR 519. B R I 4 2 5 (Zeugnis6). BR II 150 f. (47) ; neben den Predigten tragen vor allem das Zeugnis der Wahrheit von 1727

Tersteegen versteht sich als Pilger auf dem Weg zur Ewigkeit und als Fremdling in dieser Welt. Das innerliche Unterwegssein nach seiner himmlischen Heimat gehört zur Signatur seines geistlichen Lebens. Von diesem Selbstverständnis her läßt sich das Ungewöhnliche seiner Lebensform aufschließen. Seine zeichenhaft gelebte Ausrichtung auf die Ewigkeit findet in seiner „Erbreligion" 38 , der reformierten Kirche wenig Zustimmung. Man bezichtigt ihn und seinen Freundeskreis der Heuchelei, nennt sie „hochmütige Pharisäer" und tituliert sie despektierlich mit „die Feinen" 39 . Die Ablehnung der Zeitgenossen ist sicher in vielfältiger Weise historisch bedingt 40 , aber für eine Spiritualität dieser Art zugleich auch symptomatisch 41 . Die Reaktion der Kirche auf diesen Mülheimer Sonderling ist darum nicht einfach ein Versagen damaliger kirchlicher Instanzen, sondern Ausdruck des Befremdens, das ein derart religiös gelebtes Leben wohl zu allen Zeiten ausgelöst hat 42 . Bis hin zur wissenschaftlichen Tersteegeninterpretation wird sich diese kritische Distanz zu seiner Frömmigkeit wiederholen. Das Verstehen eines dem Gebet verschriebenen Lebens erschließt sich nicht bedingungslos. Das Verstehenkönnen ist an Voraussetzungen gebunden, die nicht jederzeit und überall verfugbar sind. Es erfordert eine geistige Situation, in der das Suchen und Fragen nach unmittelbarer Gotteserfahrung als etwas Dringliches dasteht. c) Die Problematik des Findens

Gerade wenn man Tersteegen in seinem Suchen nach Wahrheit bereitwillig zu folgen beginnt, stößt man alsbald auf eine Verstehensschwierigkeit, die sich noch weit hinderlicher in den Weg stellt. Verwundert steht man vor einem Satz wie diesem: „Jesus und alles Gute muß nicht so sehr gesucht, als nur gefunden werden. " 4 3

Nicht das Suchen, sondern das Gefundenhaben, das Besitzen und Genießen ist für Tersteegen das eigentliche Kennzeichen des Christlichen. Seine (BR 1420-480) und das Warnungsschreiben wider die Leichtsinnigkeit (WW 164-201 [5]) diesen Charakter. Sie sollen mahnen vor religiöser Leichtfertigkeit. 38 BR III LE 53. 39 RE IV 315 (7) = GR 235. 40 In Elberfeld sogar mit dem Zusatz „Schmachtfeine" im Gegensatz zur Ellerschen Sozietät, den sogenannten „Freßfeinen". S. M. Goebel, Geschichte a.a.O. Bd. 3S. 350 Anm. 2und387. 41 Goebels Darstellung über den Separatismus am Niederrhein (Geschichte a.a.O. Bd. 1-3) macht verständlich und begründet in reichem Maße, warum die rheinische reformierte Kirche auf separatistische Strömungen mit großer Empfindlichkeit reagieren mußte. 42 In Tersteegens Lebensbeschreibungen heiliger Seelen findet sich kaum eine Biographie, in der nicht von schwerwiegenden kirchlichen Anfeindungen die Rede ist. Dabei betrifft es fast immer wegen der Konfessionszugehörigkeit dieser Heiligen die katholische Hierarchie. 43 BR III 400 (132) s. a. BL 95 (275).

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Ermunterungen, auf dem Weg zur Ewigkeit zu bleiben, werden immer wieder durchzogen von dem Hinweis, schon hier und jetzt im Besitz des Ewigen zu sein. „Ein Pilger, der sich miid' gereist, Setzt sich ein w e n i g stille nieder; So kehr' ich dann und w a n n i m Geist Z u meiner süßen Ruhe wieder, So reis' ich und kann auch daneben Daheime bei d e m Vater leben." 4 4

Gerade diese Möglichkeit antiker und mittelalterlicher Metaphysik, auf der Pilgerreise durch die Vergänglichkeit plötzlich beim Vater daheim zu sein, also inmitten des Relativen Absolutes erfahren zu können, hat schon zu Tersteegens Zeiten ihre Selbstverständlichkeit eingebüßt. Im Konflikt mit dem Wahrheitsverständnis der Orthodoxie hat die Aufklärung auf ein Haben und Besitzen von ewig Wahrem grundsätzlich verzichtet und damit jeden Absolutheitsanspruch relativiert, der sich auf göttliche Mitteilung beruft. Im Gegenüber zu orthodoxer Unduldsamkeit und Anmaßung formuliert sie ihr Lebensideal als immerwährendes Suchen nach der Wahrheit. In den folgenden Zeilen von Gotthold Ephraim Lessing klingt noch das Heroische nach, mit dem Tersteegens Zeitgenossen das Finden und Erreichen eines Zieles im Wahrheitsstreben prinzipiell preisgeben: „Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzig immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit d e m Zusätze, mich immer und e w i g zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm in D e m u t in seine Linke und sagte: Vater, gib: die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein." 4 5

Seither begegnet dem, der vorgibt, etwas wahrhaft Erstrebenswertes gefunden zu haben, eher Distanz und Skepsis statt Offenheit und Bereitschaft zum Nach Vollzug. Wenn Tersteegen von sich sagen kann: „Ich hab's erlangt, was ich begehr', Mein Beten ist Genießen." 4 6

erscheint dies dem modernen Bewußtsein weniger als Verheißung denn als Zumutung. Wo diese aufklärerische Maxime ungebrochen in Geltung steht, bleibt Tersteegens Gebetserfahrung notgedrungen fremd und unzugänglich und gerade das „Mystische" seiner Frömmigkeit unerschlossen. Wenn es kein angemessenes Reden vom Haben und Besitzen der Wahrheit mehr geben 44

BL 143 (486). Gotthold Ephraim Lessing, in: Eine Dublik, s. Werke Bd. 8, hrsg. v. H. G. Göpfert, Darmstadt 1979 S. 33. 46 BL 454 (3,58.28). 45

70

kann, ist die Bedingung verloren, die das Verstehen einer tieferen religiösen Erfahrung überhaupt möglich macht. Verharrt das Wahre grundsätzlich in unerfahrbarer Transzendenz, so bleibt dem Wahrheitsstreben nur das Eingeständnis bewußter Unwissenheit. Tersteegens Spiritualität verliert unter diesem Vorverständnis ihren Deutungsrahmen und seine Gebetserfahrungen werden zu unverständlichen Phänomenen, zu „Phantasterei und Torheit" 47 . Das erklärt den Nachdruck, mit dem Tersteegen auf diese Infragestellung antwortet. In einer Predigt zu Mt 2, 1-12 heißt es: „Es ist ein großer Betrug und Vorurtheil, welcher in dem menschlichen Herzen mehr Grund und Wurzel gefasset als man glauben kann, daß man meinet, man müßte im Suchen leben, nur immer Christum suchen, aber wir könnten ihn nicht finden: das ist ein großer Betrug liebe Herzen. Wir können, wir sollen, wir mögen Christus auch finden, wenn wir ihn rechtschaffen suchen. " 48

Daß Tersteegen auch hierin Zustimmung erwartet, macht den Zugang zu seiner Spiritualität problematisch. An den Auswirkungen auf die Menschenfuhrung wird das Unzeitgemäße seiner Einstellung offenkundig. Während die Moderne den Menschen zu Offenheit und Toleranz erzieht und dabei um des inneren Friedens willen jeden Absolutheitsanspruch pluralistisch eingrenzt, begegnet uns in Tersteegen jemand, der sich in den Dingen der Wahrheit kundig glaubt und dem Menschen mit dieser Autorität entgegentritt. Nicht, daß er sich diesen Anspruch aufgrund eigener Verstandestätigkeit erworben hat, Tersteegen weiß, daß er allein durch das Gebet „die Wahrheit, als Gottes Gnadengeschenk, von oben herab, vom Vater der Lichter empfangen" hat (Jak. 1,17) und immer wieder neu erfahren kann 4 9 . Tersteegen setzt somit ein Suchen voraus, das nicht gleich enttäuscht das Ziel preisgibt, wenn es in sich selbst und im Vorläufigen nichts Letztgültiges gefunden hat. Wenn der Leser diese Haltung mitbringt, will Tersteegen ihm behilflich sein, daß er es auf eine rechte Weise anfange. „Hast du nun, o Seele, ein aufrichtiges Verlangen in dir, diesen deinen Gott und sein Angesicht wieder zu suchen und zu finden, so siehe zu, daß du es nicht auf eine unrechte Weise anfangest. " 50

47

V. LE XXXIV. RE I 134 (3) = GR 406f. In Anbetracht dieser Textstellen ist es reichlich unverständlich, wenn Blankenagel in seiner Tersteegendissertation S. 99 Anm. 77 schreibt: „Gerhard Tersteegens wenige selbstbiographische Aussagen lassen erkennen, daß es sich nicht um ein .Haben' des als wahr Erkannten, sondern um ein Streben, um ein ,Nachjagen' handelt. Er ist der ewig Werbende, im Gegensatz zu der Mad. Guyon, die in ihrer Selbstbiographie immer wieder das ,Haben', das Sicheinswissen betont." 49 WW 6 f. (Vorr. 5). 50 WW 337 (9,3). 48

71

Zusammenfassung

Der Ausgangspunkt in Tersteegens geistlichem Leben ist nicht die reformatorische Frage nach der Heilsgewißheit, sondern die Frage nach den Bedingungen unmittelbarer Gotteserfahrung in einer zunehmend säkular verstandenen Welt. Tersteegen hat nach persönlicher Gottesbegegnung gesucht und einen neuen Zugang gefunden. Dies hat ihn zu seiner literarischen und seelsorgerlichen Tätigkeit veranlaßt. Dabei haben die Vorreden zu seinen Schriften eine wichtige hermeneutische Funktion. Sie beschreiben die Voraussetzungen, die Tersteegen fur sein Erfahrungswissen geltend macht. Sie erinnern daran, daß es Haltungen gibt, die religiöse Erfahrungen von vornherein verhindern. So verschließt sich seinem Reden und Schreiben grundsätzlich - die Gleichgültigkeit des Gedankenlosen, der sich um alles religiöse Fragen nicht schert - die Selbstsicherheit des orthodox oder pietistisch Frommen, der mit Gott wie mit einem persönlichen Besitz umgeht - das stolze Selbstbewußtsein des Intellektuellen, der souverän jeden Absolutheitsanspruch relativiert und sich damit seine Unabhängigkeit sichert. Jede dieser Haltungen ist in ihrer Weise unfähig, sich für Tersteegens Anliegen zu öffnen. Dabei stellt sich die Frage, ob diese Einstellungen nicht alle aus der gleichen Wurzel hervorgehen. Tersteegen findet als gemeinsamen Untergrund immer ein und dieselbe Triebkraft, die Autonomie oder „Eigenheit", wie er es nennt: - Autonomie in der Weise fragloser Selbstbestimmung und betonter Diesseitigkeit - Autonomie im Gewand kirchlicher Selbstbehauptung und orthodoxer Richtigkeiten - Autonomie in der Betonung des mündigen und unabhängigen Selbstbewußtseins. Überall gilt der gleiche Grundsatz: Nicht dein, sondern mein Wille geschehe. Damit ist das Stichwort gewonnen, um das herum Tersteegens Spiritualität ihr Profil gewinnt, und zugleich das Gegenüber markiert, mit dem sich Tersteegen zeitlebens auseinandergesetzt hat.

72

II. Der thematische Ausgangspunkt: die Gegenwart Gottes Haben wir anfänglich in der Darstellung seiner Grunderfahrung von der subjektiven Seite dieser Erfahrung gesprochen, von Tersteegens leidenschaftlichem Suchen und der Freude des Gefundenhabens, so gilt unsere Frage nunmehr dem Objekt dieser Erfahrung. Was hat diesen plötzlichen Wandel in seinem geistlichen Leben verursacht? Hinsichtlich der Möglichkeit des Findens weiß sich Tersteegen mit der orthodoxen Schultheologie eins: es gibt durch den Glauben ein Haben und Besitzen des höchsten Gutes. Aber hinsichtlich der Wirklichkeit dieses Findens unterscheidet er sich grundsätzlich von seinen rechtgläubigen Zeitgenossen. Wenn sie vorgeben, man könne Gott in Begriffe fassen und das Wissen um ihn in der Schrift und in Lehrbüchern verfugbar haben, so ist für ihn dies Wissen nicht mehr als alter oder neuer „Meinungskram" 5 1 , wobei er die unduldsame Besserwisserei der Separatisten ausdrücklich in dieses Urteil einschließt. Sie haben allenfalls noch die „Worte der Wahrheit, nicht aber die Wahrheit der Worte. . ," 5 2 . Ihre „eingeschränkten Begriffe von Gottes Wahrheiten und Wegen" 5 3 sind von der Wirklichkeit seiner Gebetserfahrung weit entfernt. Aber was ist es dann, was ihn so überschwänglich vom „Finden" und „Ruhen", vom „Vergnügen" und „Genießen" reden läßt? Seine Antwort ist nicht immer eindeutig. Er nennt es „Ewigkeit", „Wahrheit", „Schönheit", aber in besonderem Maße „Gegenwart Gottes". So heißt es in den wenigen persönlichen Zeugnissen, die über das erstmalige Erleben seiner geistlichen Grunderfahrung Auskunft geben: „Spät erkannt' ich diese Lehre, Diesen Adel, diese Ehre, Deiner Gottheit Gegenwart, U n v e r r ü c k t und innig z a r t . " 5 4

und in einem Brief an einen holländischen Freund beschreibt er ausführlicher diesen Wandel: „ N a c h d e m ich in den ersten Jahren meiner U m w a n d l u n g viel K u m m e r , Furcht und A n g s t ausgestanden habe, w u r d e ich auf eine sehr einfache Weise darauf hingeführt, mich bloß in dem Glauben und in der Liebe zu üben . . . N a c h d e m ich ganz abgemattet war von der Arbeit meiner Hände, meines Verstandes und anderer Anstrengungen, gab ich dieses notgedrungen auf, weil ich bemerkte, daß ich eben dürre und elend blieb, und ich lernte glauben an einen Gott, der mir in d e m süßesten N a m e n J e s u s auf das allerinnigste nahe sei, und der aus lauter Barmherzigkeit mein Freund sei, bei mir bleiben und Gemeinschaft mit mir pflegen wollte trotz meiner 51 52

BR 14 1 6 (149). WW 399(1. Zug. 1).

53 54

hLG Vorr. XVII. BL511 (3,80.5).

73

Unwiirdigkeit. Dieses glaubte ich so ganz einfältig, ohne viel Gefühl oder helles Licht zu besitzen: diesen verborgenen Eindruck von Gottes Gegenwart m u ß t e ich so den ganzen Tag über stille bei mit nähren, mich als einen armen Fremdling beschauend, der durch die Wüste dieser Welt wandelt mit seinem Herzensfreund. " s s V o n n u n an w i r d das R e d e n v o n der G e g e n w a r t Gottes zu seiner „Favoritmaterie" 5 6 . S o schreiben seine Freunde in der alten Lebensbeschreibung: „Dessen (Gottes) Gegenwart schien ihm tief ins Herz geprägt zu seyn; sein ganzer Wandel war dadurch mit einer Liebesehrfurcht erfüllt. Er glaubte mit voller Gewißheit, daß Gott auf eine besondere Weise in seinem Herzen gegenwärtig sey . . . Auch anderen pries er die Gegenwart Gottes in der Seele, als eine besondere Gnade an, und erinnerte dabei, daß nicht aus eigenem Wirken, sondern durch diese süße, kräftige und belebende Gegenwart das neue Leben m ü ß t e in uns hervorgebracht werden; welches er auch in allen seinen Schriften, den Seelen aufs kräftigste einzuschärfen gesucht." 5 7 Es m a g b e f r e m d e n , w e n n m a n n o c h den leidenschaftlichen K l a n g seines Suchens i m O h r hat u n d jetzt hört, daß das Ergebnis dieser Jahre nicht m e h r g e w e s e n ist als das n u n m e h r erlangte Wissen u m die G e g e n w a r t Gottes. Schließlich ist d o c h selbst d e m heidnischen Athener b e w u ß t g e w e s e n , daß G o t t nicht fern v o n i h m ist ( A p g . 17,27). A b e r es geht Tersteegen nicht u m ein Wissen v o n der G e g e n w a r t Gottes, sondern u m das, w a s er eine l e b e n d i g e Erfahrung d a v o n nennt. „ U n d so wird es dann in lebendiger Erfahrung wahr befunden, daß Gott nicht ferne sey von einem jeglichen unter uns. . . "58 D i e Erfahrung des Findens ist für Tersteegen nicht das A u f l e u c h t e n einer rationalen Gotteserkenntnis, sondern das Widerfahrnis einer personhaften B e g e g n u n g . D a r u m steht es nicht j e d e r m a n n offen. Tersteegen w e i ß , daß dies i m m e r nur w e n i g e n zuteil wird: „Die Verborgenheit von Gottes Gegenwart wird von wenigen wahrhaft geglaubt. Aber weißt du auch wohl, daß wenn jeder sie wahrhaft glaubte, die ganze Welt alsdann voller Heiligen und die Erde ein wahres Paradies sein würde?" 5 9 D e n n o c h ist fur ihn das G e w a h r w e r d e n der G e g e n w a r t Gottes das G r u n d d a t u m jeder religiösen Erfahrung. Alles andere ist hierauf b e z o g e n . G e f ü h l e v o n Schuld u n d Eigenheit, Eindrücke v o n Ehrfurcht u n d N i c h t i g k e i t , alle 55

BR holl 232 (100). BR IV Zug. 27(1). BR III Le 54f.; s.a. RE IV 3f. (1); BR I 86 (30); II 295 (98); WW 333 (8, Anh.), wo Tersteegen die besondere Bedeutung der Gegenwart Gottes hervorhebt; schon im Unparteiische Abriß von 1724 bezeichnet er es als das „Hauptwerk" eines Christen, „sich mit der Gegenwart seines Gottes . . . beschäftigt zu halten . . .". UA 294 (11,12.9); vgl. BR I 6 (1). ss vLEVorr. XXIIIf.; vgl. WW 244 (6,16). 59 BR holl 153 (65). 60 W. Nigg, Große Heilige a.a.O. S. 350. 56

57

74

Äußerungen religiösen Gewahrens werden von Tersteegen stets in ihrer Beziehung zur Gegenwart Gottes bestimmt und abgeleitet. Von dem Augenblick an, wo er sie erstmalig in stiller Zurückgezogenheit erfahren hat, wird sie zum Mittelpunkt seines Lebens. O b er Besucher empfängt, Briefe schreibt oder Medikamente fertigt, immer bleibt er in dieser geheimnisvollen Gottesbezogenheit. Nigg hat recht, wenn er über die Gegenwart Gottes bei Tersteegen schreibt: „Sie ist in seinem Dasein, was die Nabe eines Rades ist, zu der alle Speichen hinfuhren.. ." 6 0 So durchzieht dies Thema seine Lebensbeschreibungen, seine Briefe und Aufsätze. Noch als Sechzigjähriger schreibt er: „Es wird mir nicht alt, sondern immer wieder neu und wichtig, daß unser Gott, unser höchstes Gut uns in und durch Christus so innigst nahe ist." 6 1

Dieses Reden geschieht in zweifacher Weise: - einmal umschreibt es das Geheimnis der Nähe Gottes in Gleichnissen und Bildern, - zum anderen spricht es von dem Weg, der zu dieser Erfahrung führt und sie immer wieder neu belebt 62 . In beidem ist Tersteegen maßgeblich von Traditionen abhängig. Darum ist es höchst aufschlußreich, dem überlieferungsgeschichtlichen Hintergrund des Begriffes Gegenwart Gottes nachzugehen. Dies Stichwort ist durch jahrhundertelangen Gebrauch so sehr angewachsen, daß es zuTersteegens Zeit zum Zentralbegriff christlicher Spiritualität geworden ist. Die Übersetzungstätigkeit unseres Mystikers führt bereits weit in die Traditionsgeschichte dieses Begriffs hinein. Dabei stellt sich unwillkürlich die Frage, ob Tersteegen bei dieser Abhängigkeit von seinen Quellen überhaupt noch etwas Eigenständiges zu diesem Thema beigetragen hat. Schon Ritsehl bescheinigt ihm einen „Mangel an Originalität" 63 , und Forsthoff äußert nach einem Vergleich von Hoffmanns und Tersteegens Schriften, daß „bei dem letzteren tatsächlich nichts Wesentliches oder Neues zu finden" sei 64 . 61

Brief vom 17. 1. 1758 nach Krefeld. Der Brief ist zweimal abgedruckt, einmal in BR IV 74 (29) und dann in BR IV Zug. 11 (3). 62 In der Originalfassung dieser Arbeit ist Tersteegens Heiligungsweg unter der Überschrift „Der Weg der Wahrheit" ausführlich dargestellt. Er bildete den zweiten Teil der ursprünglichen Dissertation. Aus Platzgründen mußte er leider vollständig wegfallen. 63 A. Ritsehl, Gesch. des Pietismus Bd. 1 a.a.O. S. 475. 64 H. Forsthoff, Wilhelm Hoffmann, der geistliche Vater Tersteegens; in MrhKG 11 1917 S. 119f. Zur Kontroverse um Tersteegens Eigenständigkeit zwischen Forsthoffund Winter s. H. Forsthoff, Der religiöse Grundcharakter Tersteegens, in MrhKG 22 1928 S. 1-22 und F. Winter, Zur Frömmigkeit Tersteegens und zum Problem der Mystik, in MrhKG 22 1928 S. 129-142. Tersteegens Eigenständigkeit ist gewiß geringer als die von Winter immer wieder behauptete Sonderstellung. Oftmals gewinnt Tersteegen nur deshalb ein protestantischeres Profil, weil Winter den katholischen Quietismus in seinen Bestrebungen verzeichnet und Gegensätze

75

Was bedeutet die Frage nach Tersteegens Eigenständigkeit? Er selbst ist weit davon entfernt, sein Thema durch neue Einsichten bereichern zu wollen. Ihm liegt vielmehr daran, im Einklang zu stehen mit dem „Geständnis aller Heiligen.. , " 6 5 . So betont er in der Vorrede zum Lebensbericht von Bruder Lorenz, daß schon die Väter des alten Bundes ihm in der Übung der Gegenwart Gottes vorangegangen seien 66 . Er weiß sich von einer langen Traditionskette bestätigt und getragen. Daß er seine Gebetserfahrungen in einen Deutungsrahmen hineinstellen kann, macht die Begegnung mit ihm überhaupt erst sinnvoll. Im Gegenüber zu einer so genuin protestantischen Gestalt wie etwa dem großen Chinamissionar Hudson Taylor, der vielleicht in ähnlicher Ursprünglichkeit die Nähe Gottes erfahren hat, aber nicht die Worte findet, um sich verständlich auszudrücken 67 , verfugt Tersteegen über Vergleiche und Bilder, um diese Erfahrung mitzuteilen. E r steht inmitten einer Traditionskette, die sich seit Jahrhunderten bemüht, in immer neuen Ausdruckssymbolen das Wesen dieser Mitteilung zu umschreiben. Er kennt als Reformierter wie nur wenige andere die Quellen, die von dieser Mitte Zeugnis geben 6 8 . Das macht die Frage nach dem vorausgehenden Bedeutungsgehalt des Begriffes Gegenwart Gottes unumgänglich. konstruiert, w o Tersteegen selbst keine gesehen hätte. Wir sollten ihm zutrauen, daß er den Quietismus, wie er sich ζ. B . in M a d a m e G u y o n verkörpert, sehr wohl verstanden hat. Wenn er ihn dennoch nicht verwirft, dann w o h l deshalb, weil ihn die Gebetsfrömmigkeit dieser B e w e gung mehr als alles andere beeindruckt, zumal ihm im protestantischen R a u m nichts begegnet, was auch nur annähernd an die Gebetserfahrungen dieser Kreise heranreicht. 65 66

A L II, 9 S. 5; abgedruckt in W W 3 3 3 (8, A n h . ) . Ebd.

6 7 Howald u. Geraldine Taylor, Hudson Taylor, Ein M a n n , der G o t t vertraute, Gießen 1977 2 S. 196-199. 6 8 Tersteegens Auserlesene Lebensbeschreibungen sind ein eindrücklicher B e l e g für seine umfassende Vertrautheit mit diesen Traditionen. E r berichtet selbst in der Vorrede zum dritten Band, mit welch großer M ü h e er die Biographien und Textauszüge gesammelt und z u s a m m e n gestellt hat. J e d e einzelne Darstellung geht auf ein beachtliches Quellenstudium zurück, über das er gewissenhaft Auskunft gibt. Seine Literaturkenntnis im Bereich mystischer F r ö m m i g k e i t ist immens. D i e franziskanische Spiritualität ist ihm durch die Lebensbeschreibung des Franz von Assisi und seiner ersten Genossen ( A L III, 16 u. 17) und durch Angele de Foligni (AL II, 11) ebenso vertraut wie die nachfolgende italienische M y s t i k , vertreten durch Catharina von Siena und Catharina v o n Genua sowie Maria Magdalena von Pazzi ( A L III, 15; II, 10 u. III, 10).

Auch die spanische M y s t i k findet durch die Biographien der großen T h e r e s e und des Johannes v o m Kreuz ( A L 11,7 u. 111,19) Aufnahme in seine Kette der Heiligen. Mit Vorliebe zitiert er aus den Bekenntnissen Augustins. E r veröffentlicht einen unter dem Namen des Albert Magnus umlaufenden Traktat des Johannes von Kastl „ V o m Anhangen an G o t t " ( k P E 5 1 - 9 6 ) . Selbst die visionären B e g a b u n g e n der Benediktinerinnen Hildegard von Bingen und Elisabeth von Schönau A L 111,23 u. 24) sowie der heiligen Gertrud von Sachsen und ihrer Schwester Mechthild v o n Magdeburg ( A L 1,6 u. 111,25) haben ihn beschäftigt. Z u r deutschen D o m i n i k a n e r m y s t i k , vornehmlich zu Tauler, hat er eine besondere Beziehung, aber auch aus Seuses Nachlaß gibt er einen umfangreichen Auszug ( A L 11,14). Der D e v o t i o moderna zeigt er sich durch die Herausgabe der „ N a c h f o l g e Christi" und einer weiteren Schriftensammlung des T h o m a s von K e m p e n verbunden. E r übersetzt die „ H e r -

76

III. Der traditions geschichtliche Ausgangspunkt: der Begriff „Gegenwart Gottes" in seiner geschichtlichen Entwicklung 1. Die Übung der Gegenwart in der zweiten

Gottes und ihre

Hälfte des 17.

Verbreitung

Jahrhunderts

Im ausgehenden 17. Jahrhundert ist es in den Kreisen spiritueller Frömmigkeit des katholischen Frankreich zu einer beliebten Gewohnheit geworden, sich über die „Übung der Gegenwart Gottes" auszutauschen. So schreibt der bretonische Jesuit und Seelenfiihrer François Guilloré im Jahr 1683: „Es gibt nichts, was heutzutage so verbreitet ist wie dies: zu sehen, wie fast alle, die sich zu Gott wenden, sich ohne Unterschied in diese Weise des Betens stürzen."69 Und Pourrat schreibt über diese Zeit: „Nous trouvons cette oraison de simple regard presque universellement pratiquée en France vers 1670.. ." 70 In der Normandie sammelt sich der königliche Rat und Rentmeister Jean de Bernières-Louvigny einen beachtlichen Schülerkreis. In Marseille wirkt bis ins hohe Alter der früh erblindete François Malaval (gest. 1719). Im Bereich der kontemplativen Orden tritt vor allem der Generalvikar der reformierten Prämonstratenser Epiphane Louys, Abt von Etival, hervor, der 1676 in Paris Konferenzen einberuft, um die Übung der Gegenwart Gottes und des einfachen Blicks zu verbreiten71. In der Provinz Gascogne findet diese Übung Verbreitung durch den dortigen Karmeliterprovinzial P. zensgespräche" des Gerlach Petersen und liest und empfiehlt die Werke Ruisbrochs (BR III 92 [28]). Zu den Mystikern des ausgehenden 17. Jahrhunderts hat er schon aufgrund ihrer zeitlichen Nähe eine besondere Verbundenheit. Allen voran sind Mme. Guyon und Bernières de Louvigny zu nennen. Aber auch Jean Labadie, Bruder Lorenz, der Marquis de Renty, die Magd Armelle Nikolas und Elisabeth vom Kinde Jesu haben auf ihn spürbar eingewirkt. Wie erklärt sich diese erstaunliche Quellenkenntnis bei einem Laien? Die Rolle der Vermittlung kommt dem ehemaligen Cartesianer und späteren Quietisten Pierre Poiret zu, der die Verbindung zwischen dem rheinischen Pietismus und dem französischen Quietismus herstellt. Durch ihn ist die quietistische Form mystischer Spiritualität nach Mülheim vermittelt. Hier entsteht daraufhin der erste selbständige Beitrag des Pietismus zur Übung der Gegenwart Gottes, und zwar verfaßt Wilhelm Hoffmann 1720 die Inwendige Glaubens- und Liebesübung einer Seele gegen Gott und dessen Gegenwart, Büdingen 1720. 69 „II n' est rien qui soit aujourd'hui ordinaire, comme de voir presque toutes les personnes qui se jettent indifférement dans cette sorte d'oraison. " So F. Guilloré, Conférences spirituelles pour bien mourir à soimème, Bd. I, 2. Buch, Conf. V: De l'oraison de simple regard, Paris 1683 S. 317ff.; zitiert nach P. Pourrat, La Spiritualité chrétienne, 4 Bde., Paris 1921-1928 Bd. IV, 2 S. 154. 70 Pourrat, Spiritualité a.a.O. IV, 2 S. 154; vgl. dazu den Aufsatz von Gaston de Kerpel, L'exercice de la présence de Dieu chez les écrivains au début de la Réforme thérésienne, in: Ephemerides carmeliticae XXVII1976 S. 144-211. 71 Pourrat, Spiritualité a.a.O. IV, 2 S. 169 u. 178.

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Maur vom Kinde Jesu, und in Paris selbst wirkt P. Bertot, ein Freund des Jean de Bernières, in diesem Sinne. Er wird in Paris zum Führer der Mde. Guyon. Überall im Lande findet dieses Gebet als „Gebet der einfachen Gegenwart Gottes", als „Gebet des Herzens" oder des „einfachen Blicks", der „erworbenen Beschauung" oder der „Einfachheit" eine begeisterte Aufnahme. Eine zahlreiche Literatur widmet sich diesem Gegenstand. U m nur einige der bedeutendsten zu nennen: 1656 erscheint in Paris ein Buch des Kapuziners Jean François de Reims mit dem Titel: „La vrai perfection de cette vie dans l'exercise de la présence de D i e u . . . " Dieses Werk hat insofern große Bedeutung erlangt, als es auf die Übung des Betrachtenden Gebetes in der Schule des Jean Baptist de la Salle maßgeblichen Einfluß genommen hat 72 . Ebenfalls in Paris erscheint 1664 die berühmte wie umstrittene „Practique facile pour élever l'âme à la contemplation" jenes blinden François Malaval, die 1670 bereits in 12. Auflage erscheint und durch ihre Übersetzung ins Italienische um 1680 den Streit um den Quietismus und seine spätere Verfolgung auslöst. 1688 wird diese Schrift als eine der ersten ihrer Art von der römischen Inquisition verurteilt. Eine erstaunliche Verbreitung findet auch der „Chrétien intérieur" des Bernières-Louvigny, ein Auszug aus seinem handschriftlichen Nachlaß der in der tersteegenschen Übersetzung und nochmaligen Auswahl sogar bis zum heutigen Tage erscheint 73 . Auch dieses Werk wird 1689 verurteilt zusammen mit dem berühmten „Moyen court et très facile de faire oraison" der Madame Guyon, das ebenfalls die Übung der Gegenwart Gottes zum Zentrum hat. In Deutschland hat auch die „Mütterliche Anweisung zum christlichen Wandel in der Gegenwart Gottes", die Madame Guyon fur ihre Tochter geschrieben hat, einen großen Absatz gefunden 7 4 . Im Gegensatz zu diesen Schriften erhält die nicht minder quietistische „Theologie de là présence de Dieu" des Karmeliter-Laienbruders „Frère Laurent" aus dem Jahre 1693 eine volle kirchliche Approbation. Selbst der markanteste Gegner des Quietismus, Bischof Bossuet von Meaux, schreibt eine positive Abhandlung über die Übung der Gegenwart Gottes. Zumindest erscheint die „Méthode courte facile pour faire l'oraison en foi et de simple présence de Dieu" unter seinem Namen 7 5 . Aber das Thema „Gegenwart Gottes" beschränkt sich nicht auf solcherart theoretische Schriften. Es begegnet ebenso zahlreich in den erbaulichen Lebensbeschreibungen dieser Zeit. So veranschaulichen die Biographie über

72

S. G. Kardinal Lercaro, Wege zum Betrachtenden Gebet, Freiburg 1959 S. 178. S. J. v. Bernières-Louvigny, Das verborgene Leben mit Christo in Gott, Deutsch von G. Tersteegen, Stuttgart 1965, 27. Auflage; über die Verbreitung dieses Buches s. H. Heppe, Geschichte der quietistischen Mystik in der katholischen Kirche, Berlin 1875 S. 88. 74 S. H. Heppe, quiet. Mystik a.a.O. S. 452. 75 Zum Problem der Echtheit dieser Schrift s. Pourrat, Spiritualité a.a.O. Bd. IV, 2 S. 164. 73

78

Bruder Lorenz 7 6 , aber auch die Berichte über die Magd Armelle Nikolas 7 7 , über die Dominikanerin Elisabeth v o m Kinde Jesu 7 8 und die später in Kanada lebende Klosterschwester Maria Guyard von der Menschwerdung 7 9 , w i e die Ü b u n g der Gegenwart Gottes das Leben verändert und bestimmt. Wenn also Bruder Lorenz 1685 einige Bücher über die Gegenwart Gottes an eine D a m e mit der Bemerkung schickt: „Hierin besteht nach meiner M e y n u n g / das gantze geistliche Leben / und mich deucht / w a n n man selbige außübet / w i e man sol / so wird man in kurtzer Zeit Geistlich" 8 0 ,

so ist eben dies nicht allein seine ganz persönliche geistliche Erfahrung, sondern zugleich Ausdruck dafür, welche Bedeutung zu seiner Zeit dieser Ü b u n g zugemessen wurde. Wie k o m m t es zu der Wertschätzung dieses Begriffs und was verbirgt sich hinter jener Übung?

2. Die Übung der Gegenwart Gottes in ihrem

Traditionsweg

Die Frage nach Ursprung und Werdegang dieser Ü b u n g hat sich bis heute nicht eindeutig klären lassen. Zu groß sind die Lücken in diesem Bereich der Frömmigkeitsgeschichte 8 1 . Es lassen sich jedoch zwei ursprüngliche Stränge klar unterscheiden. Einmal gehört das Stichwort Gegenwart Gottes zu den klassischen Topoi der Dogmatik. Z u m andern ist uns schon aus der Zeit der ägyptischen Wüstenväter eine μνήμη Θ ε ο ΰ , eine „ Ü b u n g der Gegenwart Gottes" überliefert.

76 Erstmalig herausgegeben 1691 in Paris; weitere Veröffentlichungen verzeichnet in AL II, 9 S. 3 = (2,258), dort auch ein erweiterter Abdruck dieser Lebensbeschreibung; neu verlegt unter dem Titel; Bruder Lorenz von der Auferstehung, Allzeit in Gottes Gegenwart, Briefe, Gespräche, Schriften, Metzingen 1984. 77 Tersteegen nennt zwei französische Ausgaben der Biographie, die wahrscheinlich schon bald nach ihrem Tode 1671 veröffentlicht sind. 1704 erscheint in Amsterdam eine Neuausgabe von P. Poiret, auf die Tersteegens Bericht zurückgeht (s. AL I, 2 S. 5f. = [1,98 f.]). 78 Erstmalig erschienen 1680 in Paris; 1702 neu herausgegeben von P. Poiret; ein Auszug aus dieser Biographie 1733 in AL I, 4 = (1,291-371). 79 1677 erscheint in Paris ihre Lebensbeschreibung unter dem Titel: La Vie de la V. Mere Marie de l'Incarnation, die ihr Sohn, der Benediktiner Dom Claude Martin veröffentlicht hat (s. ALI, 5S. 4) = (1,372). 80 AL 11,9 S. 3 6 = (2,278). 81 Untersuchungen über diesen doch immerhin zentralen Begriff liegen, soweit ich sehe, noch nicht vor. In den Lexika RGG, EKL, RE, LThK fehlt überhaupt das Stichwort. Das LThK verweist lediglich auf einen Artikel zur „Allgegenwart Gottes". Das ThW fuhrt einen Artikel zum Stichwort Παρουσία, der aber auf die Gegenwart Gottes nicht gesondert eingeht. Ähnlich das HWPh. Hoffentlich wird das DSp hier demnächst Abhilfe schaffen.

79

a) Die Gegenwart Gottes in der traditionellen Dogmatik Ein Blick in die S u m m a theologica des T h o m a s von Aquin ergibt einen umfassenden dogmatischen Überblick. Das Reden v o n der AZ/gegenwart Gottes hat einen festen Platz innerhalb der scholastischen Gotteslehre. T h o mas von Aquin trifft die auch fur Tersteegen wichtige Unterscheidung zwischen der Gegenwart Gottes in den Dingen und der „besonderen Gegenw a r t Gottes in den Heiligen durch die G n a d e . . ." 8 2 . Während Gott „per essentiam" in den Dingen nur indirekt als Wirkursache gegenwärtig ist, k o m m t er den Heiligen durch ein besonderes „gegenständliches" Innesein nahe. Er ist in ihrer Seele als der Gegenstand ihres Erkennens und Liebens, als das „Erkannte im Erkennenden und das Geliebte im L i e b e n d e n . . . " 8 3 . D a m i t ist der habituelle Charakter göttlicher Präsenz in den Seelen der Heiligen lehrmäßig begründet 8 4 . E t w a gleichzeitig damit verfaßt Bonaventura eine Gebetsanleitung, die das Betrachten der Gegenwart Gottes in der Schöpfung an den Anfang eines kontemplativen Weges stellt. Sein Itinerarium läßt auf seiner zweiten Stufe Gott „in seinen Spuren in dieser sinnenfälligen Welt" betrachten 8 5 . Der Weg zu Gott beginnt bei den äußeren Dingen, damit der Mensch erst einmal einen Begriff v o n Gottes Wesenheit, Macht und Gegenwart b e k o m m t . Dieser Ausgangspunkt ist für Bonaventura die Grundlage für alle weitere Gotteserkenntnis. Die Reformationszeit hat zur A u s f o r m u n g unseres Themas insofern beigetragen, als sie in ihrem Abendmahlsstreit die Gegenwart Christi in verschiedene Weisen zerlegt hat. Während Luther die Realpräsenz Christi in beiderlei N a t u r e n betont 8 6 , unterscheidet Zwingli in eine Präsenz seiner leiblichen und seiner geistlichen N a t u r . Nach seiner leiblichen N a t u r sitzt Christus zur Rechten des Vaters, nach seiner geistlichen N a t u r ist er in den 82

„Deus specialiter est in rationali creatura, quae cognoscit et diligit ipsum actu vel habitu. Et quia hoc habet rationalis creatura per gratiam, ut infra patebit, dicitur esse hoc modo in sanctis per gratiam." Summa Theologica I q. 8 a. 3 resp. Thomas verweist hierzu auf Gregor den Großen, der in einer Glosse zu Hohelied 5,17 bereits in dieser Weise unterschieden haben soll. Vgl. auch Augustinus, De praesentia Dei liber, Epist. 187 cap. 5 η. 16, PL 33, 837, w o er zwischen Allgegenwart und Einwohnung unterscheidet. 83 „Respondo dicendum quod Deus dicitur esse in re aliqua dubliciter. U n o modo, per modum causae agentis: et sie est in rebus omnibus creatis ab ipso. Alio modo, sicut objectum operationis est in operante: quod proprium est in operationibus animae, secundum quod cognitum est in cognoscente, et desideratum in desiderante." Summa Theologica I q. 8 a. 3 resp. 84 Noch klarer k o m m t dieser Habituscharakter in der franziskanischen Schule zum Ausdruck, wenn Bonaventura im Anklang an Augustinus in der Weise unterscheidet, daß die äußeren Geschöpfe wohl eine Spur Gottes darstellen, die Seele des Menschen hingegen das Ebenbild Gottes sei, das durch Christus erneuert, nunmehr von der göttlichen Weisheit gleichsam als Haus bewohnt werden kann. So Itinerarium mentis in Deum IV, 8. 85 So die Überschrift zu dieser zweiten Stufe: „De speculatione Dei in vestigiis suis in hoc sensibili mundo" Itinerarium a.a.O. II S. 72 und 73. 86 So bereits in WA 6, 80.

80

Herzen der Gläubigen gegenwärtig 87 . Luther spricht dagegen von einer Ubiquität Christi gerade auch seiner leiblichen Natur 8 8 . Sein Interesse ist deutlich: Nicht nur der Geist, Christus selbst in seiner ganzen Personeinheit soll uns gegenwärtig sein, und zwar „so nahe, daß er allein in unserm hertzen seyn" 8 9 . Melanchthon hat die besondere Weise, in der Gott im Menschen Jesus gegenwärtig ist, in den Rahmen einer vierfachen Gegenwart Gottes gestellt. Zunächst spricht er von der allgemeinen Gegenwart Gottes in den Dingen, dann von seiner untrennbaren Gegenwart in den Engeln und vollendeten Gläubigen, weiter von der trennbaren Gegenwart in den Wiedergeborenen und schließlich von der einzigartigen persönlichen Gegenwart in der menschlichen Natur Christi 90 . Von hier pflanzt sich der Aufriß der vier Weisen der Gegenwart Gottes in der lutherischen Dogmatik fort 91 . Calvin fuhrt gegen Luthers Ubiquitätslehre noch einmal die alte augustinische Unterscheidung „von der Gegenwart seines Leibes" und der „Gegenwart seiner Majestät" ins Feld 92 und betont wie Zwingli, daß er nach seiner leiblichen Natur allein zur Rechten des Vaters wohne, nennt dann aber eine dritte Form von Gegenwärtigkeit Christi, nach der er nun doch leiblich im Abendmahl gegenwärtig ist 93 . So hat der Begriff Gegenwart Gottes im Ringen um eine angemessene Beschreibung der Präsenz Christi im Abendmahl eine Differenzierung und Prägnanz erfahren, die bis an die Grenze des Sagbaren geht. Im Blick auf Tersteegens Übung der Gegenwart Gottes fällt auf, daß er von diesem Traditionsstrang so gut wie nichts zur Kenntnis nimmt. Ihm dürfte diese orthodoxe Sorgfalt eher verwirrend als hilfreich erschienen sein. Er setzt statt dessen bedenkenlos die Gegenwart Gottes mit der Gegenwart Christi und der des Heiligen Geistes gleich 94 , was daraufhindeutet, daß sein Interes-

S. Werke, hrsg. von Schuler und Schultheß 1828 ff. B d . III S. 535 ff. S. besonders in Sermon von dem Sakrament des Leibes und Blutes Christi wider die Schwarmgeister 1526 W A 19 S. 491 ff.; Daß diese Worte Christi „ D a s ist mein Leib" noch fest stehen wider die Schwärmgeister 1521 W A 23 S. 119ff. und Vom Abendmahl Christi, Bekenntnis 1528 WA 26 S. 241 ff. 8 9 WA 45, 499.13. 9 0 S. Scripta dogmatica II, E x a m e n ordinandorum, in: C o r p u s Reformatorum Philippi Melanchthonis, Opera quae supersunt omnia, hrsg. v. K . G. Bretschneider u. H . E. Bindseil, Braunschweig 1834ff. Bd. 23, Sp. 5 u. 92. 9 1 S. Hans Emil Weber, Reformation. Orthodoxie und Rationalismus B d . II in Beiträge zur Förderung christlicher Theologie, 2. Reihe hrsg. von P. Althaus, 45. Band Gütersloh 1940 S. 115ff.; B e l e g e s . S. 117 A n m . 6. 9 2 S. besonders Institutio Christiane religionis II, 16.14 und IV, 17.26 u. 28; er verweist besonders auf Augustins Vorträge über das Johannisevangelium c. 54.13; 78.1 und 106.2; in PL 35, 1379 ff. 9 3 S. Institutio IV, 17.31 f. 9 4 S. unten S. 116-119. 87

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81

se an der Gegenwart Gottes sich aus einem ganz anderen Überlieferungszweig ableitet. b) Die Gegenwart Gottes als μνήμη Θεού bei den Vätern des östlichen Herzensgebetes95 Wer mit Tersteegens Gebetspraxis und Sprache vertraut ist und dann, v o m Begriff des „immerwährenden Herzensgebeths" 96 geleitet, die Philokalia 97 , das Handbuch der Ostkirche zum mystischen Gebet, aufschlägt, wird nicht ohne Verwunderung feststellen, wie eng Gebetsübung und Sprachgebrauch sich berühren. Allerdings fällt auf, daß überall da, w o die lateinischen Übersetzungen von einer praesentia Dei sprechen, in den griechischen Originalen nicht von einer παρουσία, sondern von einer μνήμη Θεού geredet wird 98 . Die Erörterung der μνήμη Θεού und ihre konkrete Entfaltung im immerwährenden Herzensgebet sind das leitende Thema der Philokalia. Die inhaltliche Übereinstimmung mit Tersteegens Übung der Gegenwart Gottes ist frappierend. Wir greifen aus der Fülle der dort zusammengestellten Väter des „Herzensgebetes" zwei Namen heraus, die an einzelnen Stellen die Parallelität aufzeigen sollen 99 . 95 S. dazu Endré von Ivanka, Plato Christianus, Übernahme und Umgestaltung des Plato•nismus durch die Väter, Einsiedeln 1964. 96 So BR II 250 (83) u. ö. 97 Philokalia ton hieron neptikon . . . hrsg. v. Nikodemus Hagiorites Venedig 1782. Eine Sammlung von Auszügen aus 38 asketischen Schriftstellern in einem Band auf 1207 doppelspaltigen Quartseiten. Neuausgabe: In kirchenslavischer Übersetzung als Dobrotoljubie von Paisij Welitschkowskij, 2 Bände Petersburg 1793 in russischer Übersetzung und erweitert von Episkop Feofan in 5 Bänden Athos 1877 ff. Auswahl in französischer Übersetzung von Jean Gouillard, Petite Philocalie de la Prière du Coeur, in: Documents Spirituels, Nr. 5 Paris 1953. Auswahl in deutscher Übersetzung von Matthias Dietz, Kleine Philokalie, Belehrungen der Mönchsväter der Ostkirche über das Gebet, Einsiedeln - Zürich - Köln 1956, 19762. Hier als Einleitung auch ein Beitrag von Igor Smolitz über „Die Bedeutung der Philokalia für das russische Frömmigkeitsleben" a.a.O. S. 9-21. 98 Vgl. z. B. die Belegstellen für μνήμη Θεοϋ in den κεφάλαια γνωστικά ρ des Diadochus von Photike nach dem Register der Ausgabe von Edouard des Places SJ. Diadoque de Photicé, Oeuvres spirituelles in Sources Chrétiennes, hrsg. ν. Η. de Lubac SJ. u. J. Daniélon SJ. Nr. 5 Paris 1955 mit der lateinischen Ausgabe als Capita centum in PG 65 Sp. 1167-1212. 99 Als Einführung in die Spiritualität des Herzensgebetes sei verwiesen auf Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers, hrsg. v. Reinhold von Walter, Freiburg 1959 = Neuauflage von Ein russisches Pilgerleben, Berlin 1925; Die Meditation des Herzensgebetes, Ein christlicher Weg der Meditation - mit einer Einfuhrung in Methode und Praxis, hrsg. v. Alfons Rosenberg Bern, München 1983 = Neuausgabe der unter dem Titel „Das Herzensgebet" erschienenen Übersetzung der „Centurie der Mönche Kallistus und Ignatius" aus dem Lateinischen von Rose Birchler; Das immerwährende Herzensgebet, Ein Weg geistiger Erfahrung, Russische Originaltexte zusammengestellt und übersetzt von Alla Selawry 1973; weiterhin Georg Wunderle, Zur Psychologie des hesychiastischen Gebets, Würzburg 1947, in: Das

82

V o n Isaak v o n Ninive, einem M ö n c h e n u n d B i s c h o f der syrischen Kirche d e s 7. J a h r h u n d e r t s , ist d e r T r a k t a t „ D e p e r f e c t i o n e r e l i g i o s a "

erhalten100.

D e r E i n s i e d l e r F e o f a n ü b e r n i m m t i h n in seine r u s s i s c h e A u s g a b e der P h i l o kalia101.

In e i n e m A u s z u g der d e u t s c h e n A u s g a b e 1 0 2 ist d i e s e r

Abschnitt

ü b e r s c h r i e b e n als „ Ü b u n g in d e r G e g e n w a r t G o t t e s " . W i r l e s e n d o r t : „ W e r d i e Z e r s t r e u u n g e n v e r a c h t e t , s c h a u t seinen H e r r n in d e r T i e f e seines G e mütes."103 U n d ferner: „ W e r d e n H e r r n s e h e n w i l l , m u ß s e i n e S e e l e r e i n i g e n d u r c h s t ä n d i g e E r i n n e r u n g an Gott.

So

wird

er d e n

Herrn jeden

Augenblick

im

Lichte seines

Verstandes

schauen."104 S c h o n hier steht das v o n Tersteegen gern gebrauchte Bild: „ W i e es d e m F i s c h o h n e W a s s e r e r g e h t , s o d e m V e r s t ä n d e o h n e E r i n n e r u n g an Gott . . . " 1 0 s I m Mittelpunkt dieser Ü b u n g steht der Aufruf: „ O h n e U n t e r l a ß d e n k e t v o r s e i n e m A n t l i t z an ihn, u n d in e u r e m H e r z e n v e r g e ß t ihn n i c h t . " 1 0 6 N o c h deutlicher sind die Parallelen, die sich zu den H u n d e r t

gnostischen

Kapiteln des D i a d o c h u s v o n Photike ergeben. Auch Diadochus,

ein g r i e c h i s c h e r B i s c h o f d e s 5. J a h r h u n d e r t s ,

spricht

v o n der μ ν ή μ η Θ ε ο ύ als v o n e t w a s , d a s m a n ü b e n m u ß , u n d z w a r ,,έν θ ε ρ μ ή μνήμη τοϋ Θεού"107.

östliche Christentum, Ν . F. Heft 2; Irénée Hausherr, La Méthode d'oraison hesychaste, in: Orient alia Christiana Bd. 9 N r . 36 R o m 1927; s . a . B . Schmidt, Das geistige Gebet, Halle a. d. S. 1916 (Diss. Breslau); M . Lot-Borodine, La doctrine de la déification dans l'Eglise grecquejusqu'au XI-e siècle, in Revue de l'Histoire des Religions, tt. 105-107, 1932-1933; M . Viller, K . Rahner, Aszese und Mystik in der Väterzeit, Freiburg i. Br. 1939; Nichifor Crainic, Das Jesusgebet, in Z K G 60 1941 S. 341-353; H. Bacht, D a s „Jesus-Gebet", seine Geschichte und seine Problematik, in Geist und Leben 24, 1951 S. 326-348; A. Recheis, D a s Jesusgebet, in: Una sancta 9, 1954 S. 1-25; weitere Literatur s. Pierre Adnès, Artikel „Jésus (Prière à)" in D S p 7 Sp. 1126-1150. 1 0 0 Syrisch hrsg. v. P. Bedjan, Paris 1909; Übersetzung ins Englische von A. J . Wensinck, Mystic treatises by Isaac o f Nineveh, trans, from Bedjañs Syriac text with an introduction and registers, Amsterdam 1923, in Verhandelingen d. k. Akad. van Wetenschapen te Amsterdam, Afd. Letterkunde, Ν . R. Deel 23, 1; die griechische A u s g a b e in P G 86. 1 0 1 Dobrotoljubie, Athos 1877 ff. 1 0 2 M . Dietz, Kleine Philokalie a . a . O . S. 77. 1 0 3 Ebd. 78. 1 0 4 Ebd. 1 0 5 E b d . vgl. u. S. 131 A n m . 11. 1 0 6 E b d . 77. 1 0 7 Κεφάλαια γνωστικά ρ' c. 32, ed. des Places S. 102 Ζ . 2.

83

„Der echte Trost, man mag wachen oder sich zu schlafen anschicken, entsteht durch die glühende Vergegenwärtigung Gottes, die man aus Liebe zu ihm übt." 1 0 8

Also schon hier der Hinweis auf ein schlafendes Verweilen in der Gegenwart Gottes 109 . Diadochus spricht von der Gegenwart Gottes als von einem Zustand, einer Verfassung des Gemüts: „Wenn die Seele von Zorn erregt ist, kann das Gemüt nicht in der Gegenwart des Herrn Jesus leben . . ," 1 1 0

Er weiß, daß es selten ist, aber es gibt einige, die „ihren Geist nie von der Gegenwart Gottes losreißen lassen" 111 . Diadochus kann ebenfalls zwischen der Gegenwart Gottes und der „Gegenwart des Herrn Jesus" beliebig wechseln 112 . Schon hier begegnet der für Tersteegen so zentrale Begriff des „Seelengrundes" oder „Herzensgrundes". Der „βυθός της ψυχής" gleicht einem Meeresgrund 1 1 3 und die Gebetsübung besteht darin, sich in diesen Grund zu ersenken: „Versenkt euch in das weite Meer des Glaubens . . . Der Abgrund des Glaubens ist wie der Strom des Vergessens, auf dem man seine Sünden vergißt . . ," 1 1 4

Demnach ist selbst Tersteegens so umstrittener Umgang mit der Sünde hier vorgezeichnet. Das folgende Zitat könnte geradezu von Tersteegen selbst stammen: „Wir wollen darum beständig unsere Augen auf den Grund des Herzens (βάθος

της καρδίας) richten und in dauernder Gegenwart Gottes (μετά μνήμης άπαύστου τοϋ Θεοϋ) dieses Leben . . . wie Blinde durchwandern." 1 1 5

Diadochus empfiehlt als ständige Übung, den Namen „Herr Jesus" (Κύριε Ι η σ ο ύ ) anzurufen 1 1 6 und verspricht dafür wie Tersteegen eine „unaussprechliche Süßigkeit" (άνεκλαλήιαγλυκύτης) 1 1 7 . Schließlich stimmen sie auch darin überein, daß unsere Seele „wie in einem Schmelztiegel" der göttlichen Erziehung geläutert werden muß, bis sie in lebendiger Gegenwart

108

Ebd. Z. 1-3. Vgl. BL 431(3,53) u. 569f. (3,106). 110 „. . . ού δύναται, ό νούς εγκρατής γενέσθαι της τοϋ Κυρίου ' Ιησού μνήμης" c. 61 ed. des Places S. 120 Ζ. 17f. 111 οΰδεπώποτε ό νους της μνήμης έξαρπάζεται τοϋ Θεοϋ" c. 27 ed. des Places S. 98 Ζ. 11. 112 S. c. 32 ed. des Places S. 102 Z. 11 u. 12 u. ö. s. Register des Places. 113 C. 26 ed. des Places S. 98 Z. 8. 114 „. . . λήθης γάρ κακών ϋδως öv τό βάθος της Πίστεως . . ." c. 22 ed. des Places S. 95 Ζ. 18f. 115 C. 56 ed. des Places S. 117Z. 16-18. 116 C. 59 ed. des Places S. 119 Z. 4; über die Bedeutung des Jesusnamens bei Tersteegen und seiner Gebetsübung s. BL 382(3,308); 537(3,93.8); u. Br 1108 (41). 117 C. 61 ed. des Places S. 121 Ζ. 15. 109

84

Gottes (έν θερμή μνήμη του Θεοϋ) die Freude erfährt, die ohne Phantasiegebilde ist (χαρά άφαντάστου) 1 1 8 . Ein ähnliches Bild ergibt sich aus den Sentenzen über das Gebet des Evagrius Ponticus 1 1 9 oder den Briefen des Nilus 1 2 0 von Ancyra. Selbst die Homilien des Pseudo-Makarius 1 2 1 sprechen von dem „unablässigen Gebet" und dem Leben in der Gegenwart Gottes, und Johannes Kassianus hat mit seinen Collationes patrum dafür gesorgt, daß die Ü b u n g des immerwährenden Herzensgebets im lateinischen Westen Verbreitung fand 1 2 2 . Wahrscheinlich hat auch Benedikt von Nursia in seiner Höhle von Subjacca das Herzensgebet geübt 1 2 3 . Es würde zumindest gut erklären können, warum in der Regel des heiligen Benedikt der Wandel in der „Gegenwart Gottes" als Leitbild so klar hervortritt 1 2 4 . Ist die weitgehende Übereinstimmung zwischen Tersteegens Herzensgebet und den Gebetsformen der Ostkirche zufällig? Gibt es eine unmittelbare Verbindung zwischen dem Hesychiasmus des Ostens und dem Quietismus des Westens 1 2 5 ? Unter dieser Fragestellung entdeckt man tatsächlich eine Vielzahl von Belegen, die darauf hinweisen, daß er den direkten Anschluß an das spirituelle Erbe der Ostkirche gesucht hat. So finden wir Hinweise auf die Homilien des Makarius 1 2 6 , auch auf die Paradiesesleiter des Johannes Klimakus 1 2 7 , auf die Institute des Johannes Kassianus 1 2 8 und sogar auf Nilus 1 2 9 . Tersteegen verweist wiederholt auf die C . 60 ed. des Places S. 120 Ζ . 14f. Le Traité de Γ oraison d ' E v a g r e le Pontique, hrsg. von Irénée Hausherr, in Revue d'ascétique et de mystique 15 Toulouse 1934 S. 39-93 u. 113-170; Auszüge in deutsch nach der russischen Fassung der Philokalia, Dobrotoljubie, M o s k a u 1884 in kleine Philokalie, hrsg. v. M. Dietz a . a . O . S. 33-45. 1 2 0 S . z . B . über die Anrufung des J e s u s - N a m e n s II, 140 P G 79, 260 a.b. und 261 d. 1 2 1 S. Die 50 geistlichen Homilien des Makarios, hrsg. und erläutert v. H. Dörries, E. Klostermann und M . Kroeger in Patristische Texte und Studien 4, Berlin 1964, dort ζ. B . die Homilie 56 über das Wesen des M ö n c h t u m s p. 44, 1 ff. S. dazu Hermann Dörries, Die Theologie des Makarios/Symeon, in Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, philolog.-histor. Klasse, 3. Folge N r . 103, Göttingen 1978 bes. S. 139. 118

119

S. besonders Collationes 10,10 in C S E L XIII 1886. Emmanuel von Severus bemerkt zu seiner Auswahl und Übersetzung der Collationes, daß diese des heiligen Benedikts „liebstes" Buch waren. A u f sie habe er seine Mönche vornehmlich hingewiesen. So in D a s Glutgebet, zwei Unterredungen aus der sketischen Wüste, Aus dem Lateinischen des Johannes Kassianus ausgewählt, übertragen und kurz erläutert von Emmanuel von Severus, Düsseldorf 1966 S. 15. 1 2 4 S. besonders Kapitel 7 über die D e m u t und Kapitel 19 über das Verhalten beim C h o r g e bet, w o es heißt: „ E r w ä g e n wir also, wie wir uns in der Gegenwart Gottes und seiner Engel verhalten sollen." S. Benedictus, Regula commentata, Opuscula genuina et supposititia, M o numenta S. Benedict! operibus annectanda Paris 1859 P L 66; s. dazu auch Alois Mager, Der Wandel in der Gegenwart Gottes, Eine religionsphilosophische Betrachtung, Augsburg Stuttgart 1921, s. bes. S. 11-14. 122 123

S. z. B . W W 3 8 (1/2,5); 156 (4,8); v L E 262 A n m . ; A L III 23, 477, s. a. B R III 446 (145). S. v L E 262 Anm. 1 2 7 WW 41 (1,2.7). 1 2 8 S. WW 251 (6,23 Anm.); hier allerdings ohne weitere Literaturangabe, so daß die 1 2 9 Ebd. Benutzung einer Blütenlese naheliegt. 125 126

85

Lebensbeschreibungen der Altväter und hier besonders auf Makarius, Ephraem, Nilus, Kassianus und Klimakus 130 . Die Texte der Altväter haben im Quietismus und mystischen Pietismus insgesamt ein reges Interesse gefunden. So hegte Gottfried Arnold nicht nur eine besondere Vorliebe fur die Homilien des Makarius, er berichtet in seiner „Historia et Descriptio Theologiae Mysticae" zum Teil ausfuhrlich über die oben genannten Texte, über Erscheinungsort und Jahr und über die Empfehlungen von verschiedenen Autoritäten131. Ebenso zeigt sich Pierre Poiret mit dieser Literatur vertraut. In seinem „Catalogus Auctorum Mysticorum" nennt er ihre Schriften und vermerkt, w o sie erreichbar sind 132 . Tatsächlich sind die griechischen Väter seit Beginn des siebzehnten Jahrhunderts in großem Umfang bekannt geworden. Ernst Benz spricht von einer „umfassenden Neuentdeckung der Literatur der Mönchsväter und Wüsteneremiten der alten Kirche" im Bereich des mystischen Pietismus 133 . So kann Tersteegen darauf verweisen, daß man nun auch die Schriften des Makarius, Ephraem und Nilus in deutsch haben könne 134 . Aber mehr noch als die bibliographischen Hinweise spiegelt die übermäßige Verehrung der Vitae patrum die allgemeine Vertrautheit mit diesem Traditionsstrang wider. Schon Luther hatte eine Neuausgabe dieser Biographien veranlaßt. Sie erschien 1544 durch Georgium Majorem in Witten-

130

S. WW 251 (6,23 Anm.). S. Gothofredi Arnoldi Historia et Descriptio Theologiae Mysticae Seu Theosophiae Arcana et Reconditae, itemque veterum et novorum Mysticorum, Frankfurt/ M. 1702; über Makarius s. C. 1 4 n . 6 S. 241; über Ephraem ebd.; über Evagrius Ponticus ebd. n. 10 S. 243 ff.; über Markus Eremita ebd. n. 12 S. 246 ff.; über Kassianus C. 15n. 15 S. 249 ff. ; über Isaak von Ninive ebd. n. 19 S. 254; über Diadochus von Photike ebd. n. 20 S. 254 f. Außerdem gibt er in der Wahren Abbildung der ersten Christen eine kurze und sehr aufschlußreiche Beschreibung dessen, was er unter Herzensgebet versteht. Er bezieht sich dort besonders auf das 9. und 10. Kapitel der Collationes des Kassian. S. Die Erste Liebe Der GemeinenJESU Christi, Das ist Wahre Abbildung Der Ersten Christen Nach Ihren Lebendigen Glauben Und Heiligen Leben. Aus der ältesten und bewährtesten Kirchen-Scribenten eigenen Zeugnissen, Exempeln und Reden, Frankfurt 1700 Kap. 1, 11-12 u. 18. S. 151 ff. u. 156. 131

132 Catalogus plurimorum auctorum qui de rebus Mysticis aut Spiritualibus scripserunt, in De Eruditione solida specialeora, tribus Tractatibus, Amsterdam 17072 S. 585-602; zu Nilus verzeichnet er die Neuausgaben 1639 und 1673 (ebd. S. 590), bei Diadochus nennt er die Centurie (s. S. 590), bei Evagrius verweist er auf das 13. Kapitel seiner Epistola, De Auetoribus Mysticis (in ebd. S. 491-584), w o er von dem unvollständigen Abdruck seiner Werke in Coteleris Monumentis berichtet (c. 13 § 76 S. 556), dort sind ebenfalls verzeichnet die Ausgaben der Scala Paradisi des Johannes Klimakus und in § 75 die Collationes des Johannes Kassianus. 133 Ernst Benz, Die protestantische Thebais, Zur Nachwirkung Makarios des Ägypters im Protestantismus des 17. und 18. Jahrhunderts in Europa und Amerika; in AAMz 1963 Nr. 1 Mainz - Wiesbaden 1963 S. 115. Mit dem Titel „Thebais" erinnert Benz an die Heimat des großen Antonius, wogegen sich Makarius mit seinen Schülern in die Sketis zurückgezogen hat. 134 vLE 31 (Vorr. 23).

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berg 135 . H. Rosweyde 136 hatte erstmals 1615 eine hagiographische Sammlung herausgegeben, die sowohl die Historia Lausiaca des Palladius137, eines Schülers von Evagrius Ponticus, beinhaltet, als auch die Apophthegmata patrum in ihrer lateinischen Version, den Verba seniorum 138 . Bei der zweiten Auflage von 1628 erweitert er die Vitae patrum noch um die Historia Monarchorum in Aegypto in ihrer von Rufinus übersetzten lateinischen Fassung139. Für den mystischen Pietismus hat die Ausgabe von Gottfried Arnold, Vitae patrum, Halle 1700 ein besonderes Gewicht. Tersteegen zitiert daraus und weist seine Leser wiederholt daraufhin 140 . In diesen Biographien ist die Spiritualität des Herzensgebetes präsent. Insofern sind die Berührungen des Quietismus mit dem Hesychiasmus der orientalischen Mönchsväter nicht zufällig, sondern traditionsgeschichtlich eindeutig ableitbar. So verwundert es nicht mehr, wenn Ernst Benz in der protestantischen Thebais berichtet, daß der deutschstämmige Eremit Johannes Kelpius in Amerika ein Buch herausgegeben hat, das eine Einfuhrung in das altkirchliche Herzensgebet geben möchte 141 . Die deutsche Fassung dieses Buches mit dem Titel „Eine kurtze und begreifliche Anleitung zum stillen Gebet" ist offenbar verschollen. Erhalten hat sich dagegen eine spätere englische Aus135

Zweite Auflage 1559, dritte Auflage 1578; so vermerkt bei E. Benz, prot. Thebais a.a.O.

S. 16. 136

Her. Rosweyde, Vitae patrum de vita et verbis seniorum seu histor. Eremiticae libri, Antwerpen 1615, 16282. 137 Historia Lausiaca seu Paradisus de vitis Patrum, als gesonderte Ausgabe in griechisch bereits 1610 von Johannes Meursius herausgegeben und dann noch einmal 1624 in Paris von Fronto Ducäus in Auetor. Biblioth. patrum Tom. II und schließlich bei Cotelerius in seiner Monumenta Ecclesiae Graecae Tom. III 117 ff. Paris 1688. 138 S. Berthold Altaner u. Alfred Stuiber, Patrologie, Leben, Schriften und Lehre der Kirchenväter, Freiburg 19667 S. 239. 139 Von Rufinus übers, und herausgegeben als Historia Monarchorum in Aegypto seu de vitis patrum, zahlreiche Neuausgaben im 16. und 17. Jahrhundert, s. z. B. La Barre, Paris 1580. Eine erste deutsche Übersetzung von Sebastian Schwan erscheint 1654. 140 S. BR III 208 (64); 448 (146) u. WW 251 (6,23); Ernst Benz bemerkt, daß schon Justinian von Welz, einer der frühen Vertreter des mystischen Pietismus (1621-1668), daraufgedrängt habe, die Leben der Altväter zu lesen; prot. Thebais a.a.O. S. 67. Die Auswirkung der Vitae Patrum auf die schriftstellerische Tätigkeit jener Zeit zeigt sich in den zahlreich erscheinenden Heiligenbiographien; s. z.B. Gottfried Arnold, Wahre Abbildung Der Ersten Christen nach ihrem Lebendigen Glauben und Heiligen Leben, Aus der ältesten und bewährtesten Kirchenscribenten eigenen Zeugnissen, Exempeln und Reden, nach der Wahrheit der Ersten einigen Christlichen Religion, Allen Liebhabern der historischen Wahrheit, und sonderlich der Antiquität, als einer nützlichen Kirchen-Historie, treulich und unparteyisch entworfen: Worinnen zugleich Des H m . William Cave Erstes Christentum nach Nothdurft erläutert wird. Leipzig 17406. Aber nicht zuletzt stehen auch die großen biographischen Sammlungen von Reitz und Tersteegen in diesem Zusammenhang. Z u Reitz s. Rudolf Mohr, Über die „Historie der Wiedergebohrnen" von Johann Henrich Reitz in Monatshefte für Evangelische Kirchengeschichte im Rheinland 27, 1974 S. 56-104. 141 S. a.a.O. S. 115.

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gäbe „A short Essay and Comprehensive Method of Prayer" von 1763 aus Germantown Pennsylvanien 142 . Trotz dieser vielfältigen Berührungspunkte fehlt bei Tersteegen wie im Quietismus überhaupt das eigentliche Kennzeichen ihres östlichen Vorbildes: die feste Gebetsformel und die Verbindung mit dem Atemrhythmus. Die Gründe ergeben sich aus der Geschichte des Herzensgebetes. Bezüglich der Gebetsformel gibt es offenbar schon seit der Frühzeit zwei verschiedene Grundformen. Pierre Adnès nennt den einen Typ „prière auxiliatrice" und denkt dabei vor allem an das Gebetswort „Eile Herr, mir zu helfen" 143 . Den anderen bezeichnet er als „prière catanyetique" und meint damit den Gebetsruf „Herr erbarme dich" in seinen verschiedenen Variationen, wie es später für den Athos und das russische Herzensgebet typisch ist 144 . Aber bis zu den Vätern des siebten Jahrhunderts werden diese Gebetsworte nicht als feste, stereotype Formeln überliefert, und nur bis dahin reicht die Kenntnis der östlichen Spiritualität im Quietismus. Die Technik der Verknüpfung mit dem Atem- und Herzrhythmus scheint überhaupt nur mündlich weitergegeben zu sein. Das änderte sich erst in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts mit den Anleitungen von Gregor, dem Sinaiten, Nikephor dem Eremiten und Pseudo-Simon 145 , so daß der Quietismus darüber in Unkenntnis bleibt. Somit ergibt sich der. kuriose Tatbestand, daß man im Quietismus eine völlige Übereinstimmung mit dem altkirchlichen Herzensgebet angestrebt hat, doch aus Unkenntnis der eigentlichen Gebetsmethode trotzdem etwas Eigenes entstanden ist. Es liegt für die Wortführer des mystischen Pietismus, für Peter Poiret, Gottfried Arnold und auch Tersteegen eine besondere Bestätigung ihres Weges darin, daß sie für sich die Kontinuität zu den Vätern der alten Kirche geltend machen können. U m zu verdeutlichen, daß es „zu aller Zeit" wenigstens „einige auserlesene teure Seelen" gegeben hat, beziehen sie die italieni-

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Kelpius gilt als erster Anachoret auf amerikanischem Boden. Er wanderte 1694 24jährig nach Pennsylvanien aus und gründete dort eine Einsiedlerkolonie. Er starb bereits 1708. E. Benz berichtet über ihn in prot. Thebais a.a.O. S. 93-101. Benz beruft sich dabei auf die Arbeit von Karl Kurt Klein, Magister Johannes Kelpius Transsylvanus, der Heilige und Dichter vom Wissahickon in Pennsylvanien, in Festschrift Seiner Hochwürden D. Dr. Friedrich Tentsch zu seinem 25jährigen Bischofs-Jubiläum vom Ausschuß des Vereins für siebenbürgische Landeskunde, Hermannstadt 1931. 143 S. Pierre Adnès, Artikel Jésus (Pierrèà) i n D S p 8 Sp. 1126-1150, soz. B. Kassian in seinen Collationes s. Collat. 10,10. 144 S. P. Adnès, Jesus a.a.O. Sp. 1128. 145 Die Anleitungen dieser Athosmönche bilden das Herzstück der Philokalia. Sie haben den Hesychiasmus des Athos und das russische Starzentum tief beeinflußt. So findet das Herzensgebet in dieser Version seine eigentliche Verbreitung. Z u Gregor dem Sinaiten s. Igor Smolitsch, Leben und Lehre der Starzen, Köln 2. Aufl. o.J. S. 43ff. u. 236-238 Anm.

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sehen, deutschen und spanischen Mystiker wie selbstverständlich in diesen Überlieferungsstrom ein. Es ist in der Tat auffällig, welche Parallelen sich auch zwischen Johannes Tauler und Diadochus von Photike ergeben 146 . Aber ist es gelungen, eine direkte Abhängigkeit nachzuweisen 147 ? Eindeutig ist jedoch, daß nicht nur die altkirchlich-orientalische Weise von der Gegenwart Gottes zu reden, sondern auch die mittelalterliche Mystik auf den Quietismus und auf Tersteegen besonders eingewirkt hat. c) Die Gegenwart Gottes in der mystischen Tradition des Abendlandes

Bei Augustinus scheint der Begriff der Praesentia Dei noch keinen Bezug zur mystischen Gotteserfahrung zu haben 148 . Bernhard von Clairvaux benutzt ihn dagegen wieder in eindeutig mystischem Zusammenhang. Er kann seine Gebetserfahrung in diesem einen zusammenfassen, daß ihm der „Bräutigam" gegenwärtig ist 149 . α) Gegenwart Gottes bei Bernhard von Clairvaux Bernhard beschreibt sein mystisches Erleben als ein geheimnisvolles Kommen und Gehen des himmlischen Bräutigams in der Seele. Sein Bericht 146 S. dazu Paul Wyser, O P Taulers Terminologie vom Seelengrund, in Lebendiges Mittelalter, Festgabe fur Wolfgang Stammler, Freiburg/Schweiz 1958 S. 216-242; neu in Wege der Forschung, Bd. XXIII Darmstadt 1964; Altdeutsche und altniederländische Mystik, hrsg. v. K. Ruh S. 324-352; hierzu s. S. 330ff. 147 Zwar läßt sich die Einwirkung des Orients auf das Frankreich des fünften und sechsten Jahrhunderts leicht belegen. Das Felsenkloster Lerin vor der Küste von Cannes hat zu jener Zeit eine kaum zu überschätzende Brückenfunktion. Außerdem haben Rufin und Kassian das südliche Gallien mit dem Leben und Gebet der Väter in Thebais und Sketis reichlich vertraut gemacht. Auch wird dieser Einfluß nicht auf Südgallien und das sechste Jahrhundert begrenzt geblieben sein. So wissen wir ζ. B., daß die Spruchsammlung des Evagrius in der von Rufin besorgten Ubersetzung im Kloster St. Gallen zur Mitte des neunten Jahrhunderts vorhanden ist. So mitgeteilt von Friedrich Prinz, Frühes Mönchtum im Frankenreich, Kultur und Gesellschaft in Gallien, den Rheinlanden und Bayern am Beispiel der monastischen Entwicklung (4. bis 8. Jahrhundert) M ü n c h e n - W i e n 1965 S. 290 Anm. 112. Aber es ist bisher nicht erkennbar, daß etwa Bernhard von Clairvaux oder die deutsche Mystik auf irgendeinem Wege direkt daran angeknüpft hätten. Vgl. dazu E. Ewig, Die Verehrung orientalischer Heiliger im spätrömischen Gallien und im Merowingerreich, in Festschrift für P. E. Schramm, 2 Bde. Wiesbaden 1964 Bd. I S. 385-400; und besonders J. Ebersolt, Orient et Occident, Recherches sur les influences byzantines et orientales en France avant les croisades I Paris 1928. 148 Statt dessen spricht er um so auffälliger von der „memoria" (s. ζ. B. Bekenntnisse 1.10 c. 8-26). Ist dies nur eine Verarbeitung der platonischen Anamnesis oder wirkt auch hier der Begriff Mneme Theou mit ein? Allerdings begegnet uns der Begriff „praesentia Dei" bei Augustinus. In Epistola 187 PL 33 finde ich eine Abhandlung zum Thema „De Praesentia Dei" (Sp. 832-848), dort auch der Begriff (s. Sp. 837 f.). Ansonsten ist dieser Brief rein dogmatischer Natur. Charakteristisch für diese Erörterung die oft wiederholte Wendung „Deus, qui ubique praesens est. " (Sp. 845 u. ö.). 149 S. z. B. Sermo 69, 6 im Hoheliedkommentar; Sancti Bernardi Opera, Romae Editiones Cistercienses 1958, Sermones super Cantica Canticorum Vol. 1 u. 2 S. 206 Z. 1.

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a t m e t d i e F r i s c h e e i n e s g a n z u r s p r ü n g l i c h e n E r l e b n i s s e s . E s ist d i e G e g e n w a r t v o n e t w a s G ö t t l i c h e m , w a s s e i n e S e e l e fühlt: „ O b w o h l es öfter bei mir einkehrte, merkte ich einige Male nicht, w a n n es eintrat. Ich fühlte w o h l seine Gegenwart, ich erinnere mich, daß es zugegen war, zuweilen konnte ich seine Ankunft auch vorausahnen; allein seinen Eintritt wie seinen W e g gang merkte ich nie." 1 5 0 D a n n w e n d e t s i c h B e r n h a r d der F r a g e z u , a u f w e l c h e W e i s e d a s e w i g e Wort zu i h m k o m m t : „Durch das A u g e trat es g e w i ß nicht ein, . . . auch nicht durch das Ohr, . . . auch nicht durch die Nase . . . " K e i n e r d e r S i n n e hat i h m d e n W e g g e b a h n t . E r f r a g t w e i t e r : „Trat es am Ende überhaupt nicht ein, weil es nicht v o n draußen kam? Es istja kein D i n g der Außenwelt. Es kam auch nicht aus meinem Inneren zu mir; weil es gut ist, während in mir, w i e ich weiß, nichts Gutes ist . . . " l s l S e i n e G e g e n w ä r t i g k e i t w i r d i h m s o recht z u m Rätsel: „Wenn ich nach außen schaute, so erfuhr ich, daß es noch außerhalb allem war, was außer mir ist, schaute ich aber nach innen, so war es noch innerlicher." 1 5 2 D i e Realität d e r G e g e n w a r t ist d a n k der E r l e b n i s g e w a l t d e u t l i c h s p ü r b a r . D e n n o c h m u ß Bernhard die Unerforschlichkeit dieses Zustandes feststellen: „ D u fragst, woran ich seine Gegenwart erkenne? . . . Alsbald nach seiner Einkehr in mein Inneres weckt es meine schlummernde Seele auf. Es bewegte, erweichte und verwundete mein Herz; denn dies war hart und steinern." 1 5 3 D i e s e r A b s c h n i t t s c h l i e ß t m i t der A u s k u n f t :

150 Sermo 74, 5 s. Opera a.a.O. S. 242 Z. 17-20: „Cumque saepius intraverit ad me, non sensi aliquoties cum intravit. Adesse sensi, affuisse recordor; interdum et praesentire potui introitum eius, sentire numquam, sed ne exitum quidem." Die obige Übersetzung nach der Ausgabe: Bernhard von Clairvaux, Das Hohelied, 86 Ansprachen über die beiden ersten Kapitel des Hohenliedes Salomons, in Die Schriften des Honigfließenden Lehrers Bernhard von Clairvaux nach der Übertragung von M. Agnes Wolters S. O. Cist. hrsg. v. Eberhard Friedrich S. O. Cist. Wittlich 1938 2. Buch S. 228 f. 151 Ebd. S. 242 Z. 2 4 - S . 243 Z. 2: „Sane per oculos non intravit . . . An forte nec introivit quidem, quia non deforis venit? Neque enim est unum aliquid ex his quae foris sunt. Porro nec deintra me venit, quoniam bonum est, et scio quoniam non est in me bonum . . ."; vgl. Augustinus, Bekenntnisse 1.10 c. 10,17. 152 Ebd. S. 243 Z. 4-6: „Si foras aspex, extra omne exterius meum comperi illud esse; si intus, et ipsum interius erat. " 153 Ebd. S. 243 Z. 9-12; Sermo 74,6: „Quaeris igitur . . . unde adesse novim? . . . moxque ut intus venit, expergefecit dormitantem animam meam; movit et emollivit, et vulneravit cor meum, quoniam durum lapideumque erat, et male sanum."

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„Einzig aus der Bewegtheit meines Herzens erkannte ich, wie ich sagte, seine göttliche G e g e n w a r t . " 1 5 4

Bernhards Erfahrung der Gegenwart Gottes ist dem Pietismus vor allem durch Johann Arndt vermittelt 1 5 5 . ß) Gegenwart Gottes bei Meister Eckhart Während sich die Gegenwart des Heiligen bei Bernhard vornehmlich im Gefühl mitteilt, ist sie für Meister Eckhart eine geistige Erfahrung, die sich durch einen Erkenntnisakt im Grunde der Seele kundgibt. Er beschreibt seine Erfahrung mit der Vorstellung einer Geburt Gottes im Innersten der Seele. Hier fällt auf, in welchem Maße die wesentlichen Aspekte des späteren Bedeutungsumfanges bereits wieder vorliegen: Die Mitteilung der Gegenwart Gottes ist fur Meister Eckhart ein Widerfahrnis im Innern: „Hier (im Grunde der Seele) nur ist Raum und Wohnung für jene Geburt . . ., daß Gott der Vater dort sein Wort spricht. Denn diese Stätte ist ihrer Natur nach für nichts empfänglich als allein für das göttliche Wesen, ohne alle Vermittlung. . . . Niemand vermag an den Grund der Seele zu rühren als allein G o t t . " 1 5 6

Die Mitteilung der Gegenwart Gottes geschieht unvermittelt ohne Bilder und Gedanken: „Gott bedarf keines Bildes, noch hat er ein Bild: Gott wirkt in der Seele ohnejedes Mittel, Bild oder Gleichnis, j a in dem Grund wirkt er, in den nie ein Bild gelangte, sondern nur er selbst mit seinem eigenen Wesen. Keine Kreatur vermag d a s ! " 1 5 7

Diese Gotteserfahrung ist an eine vorausgehende Reinigung gebunden: „Dieses Reden und Wirken widerfährt nur guten und vollkommenen Menschen, die aller Tugend Wesen so an sich genommen und eingesogen haben, daß sie aus ihrem ganzen Wesen, ohne ihr Zutun, von ihnen ausströmt; und vor allen Dingen muß das würdige Leben und die edle Lehre unseres Herrn Jesus Christus in ihnen leben." 1 5 8 1 5 4 Ebd. S. 243 Z . 19f. Sermo 74, 6: „tantum ex motu cordis, sicut praefatus sum, intellexi praesentiam eius . . . " 1 5 5 In seinen Büchern v o m Wahren Christentum zitiert er wiederholt aus Bernhards Erklärungen zum Hohelied. So als Zitat kenntlich z. B . im dritten Buch, Vorr. 6 (in der A u s g a b e Halle 1830' 3 S. 506f.) und sonst oft dem Inhalt nach wie z. B . im fünften Buch, 2. Teil, c. 7 und besonders oft im Paradies-Gärtlein; s. dazu Wilhelm K o e p p , Johann Arndt, Berlin 1912. 1 5 6 S. Franz Pfeiffer, Meister Eckhart, Deutsche Mystiker des vierzehnten Jahrhunderts, Bd. 2 Aalen 1962 (Neudruck der A u s g a b e Leipzig 1857) Predigt N r . 1 S. 4 Z . 4 0 - S . 5 Z. 5: „hie ist alleine rouwe und ein wonunge zuo dirre gebürte unde zuo disem werke, daz got der vater aldâ sprichet sin wort, wan diz ist von nâtûre nihtes enpfenclich denne alleine des götlichen wesens ân allez mitel . . . N i e m a n tuot den grünt rüeren in der sêle in dem gründe. " 1 5 7 F. Pfeiffer Meister Eckart, a . a . O . Predigt N r . 1 S. 6 Z . 1-4: „Aber got bedarf keins bildes noch er hat kein Bilde: got wirket in der sêle âne allez mitel, bilde oder gelîchnisse, j a in dem gründe, da nie bilde lu kam deme er selber mit sînem eigem wesenne. Daz enmac dekein crêatûre getuon. " 1 5 8 Ebd. S. 6 Z . 3 9 - S . 7 Z . 3:

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E s e r f o r d e r t Ü b u n g , u m G o t t allezeit g e g e n w ä r t i g z u h a b e n : „ D e r M e n s c h soll G o t t in allen D i n g e n ergreifen u n d soll sein G e m ü t daran g e w ö h n e n , G o t t allezeit g e g e n w ä r t i g zu h a b e n i m G e m ü t u n d i m Streben u n d in der Liebe."159 „Vergleichsweise so w i e einer, der schreiben lernen will. F ü r w a h r , soll er die K u n s t b e h e r r s c h e n , so m u ß er sich viel u n d o f t in dieser Tätigkeit ü b e n , w i e sauer u n d s c h w e r es i h m auch w e r d e u n d w i e u n m ö g l i c h es i h n d ü n k e . . . " 1 6 0 Z i e l der Ü b u n g ist, d a ß G o t t d e n M e n s c h e n i n allen W i r k s a m k e i t e n , s o w o h l b e i m B e t e n w i e b e i m Arbeiten in gleicher Weise g e g e n w ä r t i g bleibt, und zwar ohne jede Anstrengung: „ D e n n w a h r l i c h , w e r glaubt, G o t t m e h r zu erlangen in Innerlichkeit, in A n d a c h t u n d süßer V e r z ü c k u n g als bei d e m H e r d f e u e r o d e r in d e m Stalle, der t u t w i e einer, der seinen G o t t n ä h m e , i h m einen M a n t e l u m das H a u p t w ä n d e u n d ihn d a n n u n t e r eine B a n k schöbe. " 1 6 1 „So auch soll der M e n s c h v o n göttlicher G e g e n w a r t d u r c h d r u n g e n u n d m i t der F o r m seines geliebten Gottes d u r c h f o r m t u n d in ihn v e r w e s e n t l i c h t sein, so daß i h m sein G e g e n w ä r t i g s e i n o h n e alle A n s t r e n g u n g leuchte . . , " 1 6 2 γ) G e g e n w a r t G o t t e s b e i J o h a n n e s T a u l e r u n d H e i n r i c h S e u s e Ein ähnliches Bild ergibt sich bei Eckharts Kölner Schülern, bei J o h a n n e s Tauler u n d H e i n r i c h S e u s e . D e r B e g r i f f G e g e n w a r t G o t t e s hat z w a r k e i n e n h e r a u s g e h o b e n e n t e r m i n o l o g i s c h e n S t e l l e n w e r t , aber i m m e r d a n n ,

wenn

v o n der G e g e n w a r t G o t t e s g e r e d e t w i r d , k o m m t das Z e n t r u m d e r e i g e n e n religiösen Erfahrung zur Sprache163. „disiu rede und sisiu were gehoerent alleine guoten unde vollekomenen menschen zuo, die dà an sich und in sich gezogen hânt alle tugende wesen, also daz die tugende wesentliche ûu infliezent âne iz zuotuon, unde vor allen dingen, daz daz wirdig leben und diu edele 1ère unsers herren Jêsû Krisñ in in lebe. " 159 Josef Quint, Meister Eckhart Traktate, in Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, hrsg. im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Bd. 5 Stuttgart 1963, S. 203, Z. 1-3: „Der mensche sol got nemen in allen dingen und sol sin gemüete wenen, daz er alle zit got habe in gegenwerticheit in dem gemüete und in der meinunge und in der minne. " Obige Übersetzung nachj. Quint, Meister Eckhart a.a.O. Bd. 5 S. 509. 160 Ebd. Traktat 2, Die rede der underscheidunge S. 207Z. 9 - 2 0 8 Z. 2: „glicher wis als einer, der dà wil schoben lernen; truiwen, soll er die kunst künnen, er muoz sich vil und dicke an den werken üeben, swie sûr und swaere ez im doch werde und swie unmügelichen ez in diinket . . . " Obige Übersetzung nach Quint ebd. S. 510. 161 Nach Josef Quint in Meister Eckhart, Deutsche Predigten und Traktate, München 1955 S. 180. 162 J.Quint, Meister Eckhart a.a.O. Bd. 5 Traktat 2 S. 208 Ζ. 1 1 - S . 209 Ζ. 1: „Also sol der mensche mit gütlicher gegenwerticheit durchgangen sin und mit der forme sînes geminneten gotes durchformet sin und in im gewesent sin, daz im sin gegenwerticheit liuhte âne alle arbeit . . . " Obige Übersetzung nach Quint ebd. S. 511. 163 So z.B. Johannes Tauler in einer Predigt zu Johannes 7 V. 6; (= Predigt Nr. 12 in 92

Es ist wahrscheinlich auf Taulers Wirksamkeit zurückzuführen, daß das Stichwort Seelengrund von nun an zum Zentralbegriff des inneren Menschen wird 164 . Seuses Äußerungen zur Gegenwart Gottes sind von der Erfahrung immer wiederkehrender Gottverlassenheit geprägt 165 . Stets endet das beglückende Gefühl seiner Nähe in um so tieferer Einsamkeit: „Ach, Herr, wer verleiht mir (dieses Zustandes) Dauer? Denn gewiß in einem Augenblick ist es vorbei, und ich stehe da, bloß und verlassen, zuweilen beinahe so, als ob ich jenes Glück nie erlebt hätte, bis es dann nach schwerer Herzensnot sich wieder einstellt. Ach, Herr, bist du das oder bin ich es, oder was ist es sonst?"166

Seuse findet als Antwort, daß es die Liebe ist, die ihn auf diese Weise zu immerwährender Gelassenheit führen möchte. Darin nimmt er ein wesentliches Kennzeichen quietistischer Heiligungserfahrung voraus: „Die höchste Stufe der Gelassenheit ist Gottergebenheit in Verlassenheit."167

Ferdinand Vetter, Die Predigten Taulers aus der Engelberger und der Freiburger Handschrift sowie aus Schmidts Abschriften der ehem. Straßburger Handschriften, in Deutsche Texte des Mittelalters, hrsg. v. der Kgl. Preuß. Akademie der Wissenschaften Bd. XI Berlin 1910); s. auch das folgende Zitat aus der 43. Predigt nach der Ausgabe von Georg Hofmann, Johannes Tauler Predigten, vollständige Ausgabe, Freiburg - Basel - Wien 1961 S. 332 (nach Vetters Ausgabe die 40. Predigt): „Die erste Kehr besteht in einem form- und weiselosen inneren Gefühl der Gegenwart . . . Könnte der Mensch zeitlebens eine solche Kehr erleben, ihm wäre wohl geschehen." Vgl. auch Tersteegens Veröffentlichung „Einige übrige Stücke aus Taulero . . . " Zur Frage, wieweit es sich bei diesen Auszügen um gesichertes Taulermaterial handelt, s. Winfried Zeller, Gerhard Tersteegens „Kleine Perlenschnur" a.a.O. S. 196 Anm. 7; s. für unseren Zusammenhang vor allem kPE S. 105-113, wo vom Unterschied zwischen der Allgegenwart Gottes und seiner besonderen Nähe im Herzensgrund gehandelt wird. 164 S. P. Wyser, Der Seelengrund a.a.O. S. 216ff. 165 Zur Gegenwart Gottes bei Seuse s. besonders das neunte Kapitel im „Büchlein der Ewigen Weisheit", überschrieben: „war umbe er sich sinen vrúnden dik nah herz luste enzúhet und wa bi man sin waren gegenwúrtkeit erkennet"; s. Heinrich Seuse, Deutsche Schriften, im Auftrag der Württembergischen Kommission für Landesgeschichte, hrsg. v. Karl Bihlmeyer, Stuttgart 1907, Nachdruck Frankfurt 1961 S. 230-235. 166 S. K. Bihlmeyer, Heinrich Seuse a.a.O. S. 234 Z. 5-9: „Ach her, wer git mir, daz es nüwan lang werti! Wan geswind in eime ogenblike wirt es verzucket, und bin denn bloz und gelazen, et wenn gnú nah, als ob ich es nie hetti gewunnen, unz daz es aber nach herzklichemjamer wider kumt. Ach herr, bist du daz, oder bin ich es, oder waz ist es?" Übertragung nach Georg Hofmann, Heinrich Seuse, Deutsche mystische Schriften, übertr. und hrsg. v. G. Hofmann, Darmstadt 1966 S. 242. 167 S. K. Bihlmeyer, Heinrich Seuse a.a.O. S. 232 Z. 16f.: „Ein gelazenheit ob aller gelazenheit ist gelazen sin in gelazenheit. " Obige Übertragung nach G. Hofmann, Heinrich Seuse a.a.O. S. 240.

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δ) Weitere Belege aus der spanischen Mystik Von nun an begegnet das Stichwort Gegenwart Gottes in mystischen Texten immer wieder 1 6 8 . Die Heiligkeit eines Menschen findet ihren sprachlichen Ausdruck darin, daß es ein Leben des „beharrlichen Gebetes und Wandels in der Gegenwart Gottes" gewesen sei 169 . In der Selbstbiographie der Theresa von Avila ist die Gegenwart Gottes gleichsam der rote Faden, der ihr geistliches Leben durchzieht. Es beginnt mit den ersten noch mühsamen Übungen der Vergegenwärtigung Gottes und endet beim geheimnisvollen Offenbarwerden der Gegenwart des Dreieinigen in der innersten Kammer ihrer Seele 170 . Aber selbst dies betonte Reden von der Gegenwart Gottes beinhaltet noch nicht die ganze Breite des Traditionsstromes, der zur „Übung der Gegenwart Gottes" geführt hat.

3. Die Übung der Gegenwart Gottes in den Betrachtungsanleitungen des 16. und 17. Jahrhunderts Die Frage nach der Übung der Gegenwart Gottes fuhrt auf einen neuen Traditionsstrang. Der Ursprung dieser Übung ist in den methodischen Betrachtungsanleitungen des 16. Jahrhunderts zu suchen 171 . So findet man in den „Übungen zum geistlichen Leben" des Garcia Ximénez de Cisneros und in dem davon abhängigen Exerzitienbuch des Ignatius von Loyola die Vorschrift, sich zu Anfang der Betrachtung in die Gegenwart Gottes zu versetzen 172 . Ausfuhrlicher sind diese Anweisungen in den nicht minder 168 S. ζ. B. Catharina von Siena in Tersteegens Bericht und Quellensammlung in AL III 132; s. a. Johannes vom Kreuz in der Auslegung der elften Strophe des Geistlichen Gesangs, in Des Heiligen Johannes vom Kreuz sämtliche Werke in fünf Bänden, München 19573 Bd. IV S. 84ff.; vgl. a. Bd. V S. 55 u. 97f. 169 So P. Elisäus von den Märtyrern über Johannes vom Kreuz, in Johannes v. Kreuz, Werke a.a.O. Bd. V S . 121. 170 S. Das Leben der heiligen Theresia von Jesu, in Sämtliche Schriften der hl. Theresia von Jesu Bd. I, Leben von ihr selbst beschrieben, München I960 3 ; s. die Kette des Berichtes: Kapitel 9, 3 und 12, 1: über die Vergegenwärtigung Jesu; Kapitel 10, 1: über das Gefühl der Gegenwart Gottes; Kapitel 18, 13: die Gegenwart Gottes in der Seele (vgl. dazu auch Weg der Vollkommenheit, Bd. IV Kap. 28f.) Kapitel 27, 5f.: Visionen der Gegenwart Gottes (vgl. dazu auch Seelenburg, Bd. V 6. Wohnung, Kap. 9); Weitere Stufen: Die Gegenwart der Dreifaltigkeit im Innern der Seele (Vision) s. Bericht 5 in Bd. IS. 454—463 und Gunstbezeigungen Gottes Nr. 12, Nr. 4 9 u . 5 1 , i n B d . IS. 474u.498f.; Die Gegenwart Gottes im Stand mystischer Vermählung, s. Seelenburg, Bd. V 7. Wohnung, Kap. 1. 171 Zur Entstehung des methodischen Gebetes s. Pourrai, Spiritualité a.a.O. Bd. III, 1 S. 6— 34; s. a. G. Lercaro, Wege a.a.O. S. 30-62. 172 S. Garcia Ximénez de Cisneros, Ejercitatorio de la Vida espiritual, Monserrat 1500, Teil I Kap. 12; vgl. Exercitia spiritualia sancti Ignatii de Loyola et eorum Directoría, in: Monumenta Histórica Societatis Jesu, Bd. II/I Madrid 1919 n. 75;s.a.n. 131, 114u. 239. Ignatius beschreibt die Übung der Vergegenwärtigung so, daß der Betrachtende entweder sich mittels der Vorstel-

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einflußreichen Gebetsanleitungen des Dominikaners Ludwig von Granada 1 7 3 und des Minoriten Petrus von Alcantara 174 . Die monastischen Reformbewegungen des 16. Jahrhunderts haben sich dieser Gebetsanleitungen bedient und das allmorgendliche Betrachtende Gebet zur Grundlage ihres Gebetslebens gemacht. Alle Anleitungen schreiben als unmittelbare Vorbereitung zur Betrachtung einen Akt der Vergegenwärtigung Gottes vor. In dem Maße, wie die Form der Betrachtung sich über den romanischen Raum ausbreitet, gewinnt diese Übung an Bedeutung. Mit dem Wirken des Franz von Sales und des Vincenz von Paul geht das Betrachtende Gebet auch auf die katholische Laienwelt über und bestimmt seitdem ihre Gebetspraxis. Dabei werden die Anleitungen detaillierter, und auch die Anweisungen zur Übung der Gegenwart Gottes gewinnen zunehmend an Breite. Franz von Sales gibt vier Weisen an, mit denen man sich Gott vergegenwärtigen kann. Da fast alle auf ihn folgenden Betrachtungsbücher sich hierauf beziehen, wird man diese vier Vergegenwärtigungsweisen geradezu als „klassisch" bezeichnen können 1 7 5 . „Die erste besteht darin, daß du dir der Tatsache der Allgegenwart Gottes recht lebhaft und eindringlich bewußt wirst." „Das zweite Mittel, sich in die heilige Gegenwart Gottes zu versetzen, ist der Gedanke, daß Gott nicht nur bei dir ist, sondern daß er auch in dir ist, daß er nicht nur an d e m Orte ist, an d e m du dich gerade aufhältst, sondern daß er auf eine ganz besondere Weise mitten in deinem Herzen, zutiefst in deinem Geiste ist." „Das dritte Mittel ist die Erwägung, daß unser Erlöser v o m H i m m e l aus in seiner menschlichen Gestalt auf alle Menschen auf der Erde herniederschaut, besonders auf die Christen, die ja seine Kinder sind, und wiederum auf alle diejenigen, die gerade beten. " „Das vierte Mittel besteht in einer einfachen Vorstellung. Wir denken uns, der Heiland sei ganz nahe bei uns. Wir stellen ihn uns vor, w i e wir uns häufig die Gegenwart eines lieben Menschen vorstellen, w e n n wir z. B. sagen: Es k o m m t mir so vor, w i e w e n n er vor mir stehen würde, ich sehe ihn leibhaftig vor mir, w i e er gerade das oder jenes tut." 1 7 6

Während hier die Übung der Gegenwart Gottes lediglich zur Vorbereitung dienen soll, entwickelt sie sich von nun an zu einem eigenständigen Betrachtungsgegenstand. lungskraft in eine Begebenheit des irdischen Jesus hineinversetzt oder bei abstrakteren Themen „für die Dauer eines Vaterunsers" bedenkt, „wie Gott unser Herr uns anschaut . . .". 173 Libro de la Oración y Meditación, Salamanca 1554, Teil I, Kap. 4 (deutsch: Gebet und Betrachtung, 1912 2 Bde.). 174 Tratado de la Oración y Meditación, Lissabon zw. 1556 u. 1560 (deutsch: Des heiligen Petrus von Alcantara goldenes Büchlein über das innere Gebet oder die Betrachtung, Münster 1840); über die Bedeutung dieser beiden Schriften s. G. Lercaro, Wege a.a.O. S. 51 f. u. 221 ff.; s.a. H. Heppe Quietismus a.a.O. S. 7f. 175 SoG. Lercaro, Wege a.a.O. S. 104. 176 S. François de Sales, Introduction à la vie dévote / Philotée, in: Oeuvres complètes, Annecy 1892ff. (dt. übers, u. hrsg. ν. O. Karrer, München 1925) Teil II K. 2.

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Das Gebetsformular des Jean Baptist de La Salle, eines Zeitgenossen der Madame Guyon, gliedert die Übung in sechs verschiedene Betrachtungsweisen und neun unterschiedliche Akte 177 . Nunmehr gilt es als angemessen, ein oder zwei Jahre lang nichts anderes im Gebet zu tun als sich mit dieser Vorübung zu beschäftigen 178 . Wie dieser Gebetsteil allmählich an die Stelle des bisherigen Hauptteils der Betrachtung tritt, veranschaulicht eine von Tersteegen veröffentlichte Gebetsanleitung des Jakobus Buven 1 7 9 . Dort steht hinsichtlich der Betrachtung die Empfehlung: „Auch brauchst du nicht so gar subtil das Leben Christi zu betrachten, sondern nachdem du bisweilen so allgemein ein besonderes Stück seines Lebens erwogen hast, so steige alsobald wieder auf zu seiner Gottheit, wie er, als Gott, der Ursprung und die Fülle aller seiner Kreaturen sei . . ," 1 8 0

Und er beschließt diese Empfehlung mit dem Rat, jederzeit am meisten und hauptsächlich die Augen der Seele hineinzukehren zu Gott, der in unserer Seele gegenwärtig ist 181 . Damit hat die Übung der Gegenwart Gottes in sich aufgenommen, was die älteren Gebetsanleitungen als die „Einkehr" in das Inwendigste der Seele bezeichnen 182 . Zusammenfassung Tersteegens Erfahrung der Gegenwart Gottes steht in einem traditionsgeschichtlichen Zusammenhang mit dem altkirchlichen Herzensgebet und ihrer „μνήμη Θεοϋ". Die scholastische Unterscheidung zwischen der Allgegenwart Gottes und der besonderen Präsenz Gottes in der Seele der Gläubigen ist das Fundament der späteren Übung der Gegenwart Gottes. Seine Gegenwärtigkeit in den Dingen und seine Gegenwart im Grunde der Seele werden zum Gegenstand kontemplativer Aneignung. Für das betende Betrachten der Schöpfiing ist vor allem Bonaventura der Lehrmeister gewesen. Von ihm stammt die Anweisung, auf dem Pilgerweg 177

So Explication de la méthode d'Oraison, Paris 1739 S. 4 f. Ebd. S. 49 Anm. 1. 179 kPE 224-236. 180 kPE 229. 181 kPE 230. 182 An dieser Stelle sei ihrer Bedeutung wegen noch auf die Evangelische Perle hingewiesen. Eine brabantische Adlige, die ungenannt bleiben wollte, hat sie zur Zeit Luthers verfaßt. Vor allem ihr zuliebe ist Tersteegen in den letzten Lebensjahren noch einmal literarisch tätig geworden und hat davon einen Auszug verfaßt (s. kPE 1-50). Hier fand er das „Hineinsinken in das Meer der Gottheit" (ebd. 15) geradezu programmatisch formuliert. Tersteegen kannte die Wirkungsgeschichte dieser Zeugnisse. Er war durch die Lebensbeschreibungen französischer Heiliger wiederholt darauf aufmerksam gemacht worden. Er will ihre Spiritualität auch seinem Freundeskreis weitergeben. Allerdings fällt auf, daß bei aller inhaltlichen Übereinstimmung von einer „Übung der Gegenwart Gottes" hier noch nicht die Rede ist. 178

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der Seele zu Gott bei den Dingen zu beginnen, u m in ihnen Wesen, Kraft und Gegenwart Gottes zu erfassen. Wo das Gebetsleben sich hauptsächlich auf die innere Welt der Seele konzentriert, erscheint der Begriff Gegenwart Gottes zur Umschreibung jener rätselvollen Gottesbezogenheit im Grunde unseres Seins. Hier schließt das Reden von der Gegenwart Gottes die tiefsten geistlichen Erfahrungen ein. Mit dem Entstehen geistlicher Exerzitien k o m m t es schließlich zur Ausf o r m u n g einer speziellen Übung der Gegenwart Gottes. Sie gewinnt zunehmend an Bedeutung und wird gegen Ende des 17. Jahrhunderts zur vorherrschenden Ü b u n g unter allen Gebetsweisen. Damit sind die einzelnen Traditionsstränge aufgezeigt. Aber noch immer bleibt die Frage offen, w a r u m diese Ü b u n g eine derartige Beliebtheit finden konnte. Die komplexe Vielfalt solcher Beweggründe läßt hier nur einige Vermutungen zu. 1. Die einzelnen Traditionselemente verbinden sich zu einem Gesamtkomplex: Bereits in der Anleitung des Petrus von Alcantara und besonders in den Berichten der Therese von Avila ergibt sich ein gradliniger Weg von den ersten Anfängen willentlicher Vergegenwärtigung über das „Gebet der Ruhe" oder der „einfachen Gegenwart Gottes" bis zu den höchsten Stufen mystischer Vereinigung, w o das Beten ganz und gar eingenommen ist von dem Schauen der Nähe Gottes. Das Gebetsleben beginnt mit der Vergegenwärtigung des Herrn und endet auch auf seiner höchsten Stufe mit nichts anderem als einem Schauen der Gegenwart Gottes. Das Fortschreiten im Gebet ist nunmehr gleichbedeutend mit dem Wachsen im Gewahrwerden der Nähe Gottes. Dagegen wird bei Franz von Sales sichtbar, in welcher Weise die Allgegenwart Gottes in die Ü b u n g der Gegenwart Gottes mit einbezogen ist. Der platonische Weg, mit der Schönheit der natürlichen Dinge zu beginnen, u m in ihrer Transparenz Göttliches zu erkennen, wird zu einer der vier Vergegenwärtigungsweisen. Damit bleibt die Natur als religiöser Betrachtungsgegenstand erhalten. Auch Tersteegens Naturverständnis zeugt von dieser Betrachtungsweise. 2. Ein erheblicher Anstoß zur Verbreitung dieser Ü b u n g geht von dem neu erweckten Leitbild der Altväter aus. So, wie sie unablässig zu beten versuchen, wollen auch die Anachoreten des 17. und 18. Jahrhunderts ständig im Gewahren der Gegenwart Gottes leben. D a r u m suchen sie nach Übungen, die sie nicht an feste Gebetszeiten binden, sondern ihnen gestatten, auch bei der Arbeit in einer inneren Gebetshaltung zu bleiben. Vorwiegend wohl aus diesem Grunde löst sich die Ü b u n g der Gegenwart Gottes aus ihrer Verknüpfung mit der allmorgendlichen Betrachtung. Sie wird zu einem selbständigen Akt geistlicher „Sammlung". Franz von Sales erinnert seine „Philothea" daran, daß gerade mit dieser Ü b u n g ein großer geistlicher Fortschritt geschehen kann: 97

„Sie (die Sammlung) besteht darin, daß wir im Laufe des Tages sooft wir können, uns an die Gegenwart Gottes erinnern, daß wir uns vergegenwärtigen, was Gott für uns tut und was wir tun, daß wir uns darauf besinnen, daß er uns immer sieht und uns mit unvergleichlicher Liebe nahe ist. " 183

Wo immer das Bestreben auftritt, ohne Unterlaß zu beten, empfiehlt sich die Übung der Gegenwart Gottes als Weg zu diesem Ziel. 3. Im 17. Jahrhundert hat das Bedürfnis nach vertiefter Spiritualität den Rahmen etablierter Kirchlichkeit übersprungen. In Frankreich entstehen die Zirkel der „Stillen im Lande", die bewußt auf die Möglichkeit klösterlicher Abgeschiedenheit verzichten. Das Bedürfnis nach einer einfachen, jedermann und jederzeit möglichen Gebetsübung ist groß. Das ignatianische Betrachtutigsschema erweist sich für viele als zu kompliziert. U m so mehr bietet sich dieses „Gebet der Einfachheit" und des „einfachen Blicks" an. Es weckt die Hoffnung, auch außerhalb der Klostermauern und ohne geistliche Weihegrade am Glück der Kontemplation teilzuhaben und von den höchsten und schönsten Gütern geistlichen Lebens nicht länger ausgeschlossen zu sein. Vor diesem Hintergrund bewegt sich Tersteegens Reden von der Gegenwart Gottes. Was beinhaltet diese Erfahrung für ihn? Wie stellt sie sich ihm dar?

183

S. 43.

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Franz von Sales, Philotheaa.a.O.; übers, und hrsg. v. O. Karrer, Ausgabe München 1961

D I E U M S C H R E I B U N G DER GEGENWART GOTTES

,Ein begreiflicher Gott ist nicht Gott." 1

I. Die Unaussprechlichkeit der Erfahrung I m J a h r 1 7 3 0 e r s c h i e n in B e r l e b u r g , d e m P h i l a d e l p h i a d e r a l t e n Welt, e i n e mystisch-separatistische Zeitschrift mit d e m Titel „Geistliche F a m a " 2 . Tersteegen schreibt an den H e r a u s g e b e r D r . C a r l u n d äußert sich bei dieser Gelegenheit über einen Artikel v o n J o h a n n C o n r a d D i p p e l , der den U n t e r schied z w i s c h e n Tersteegens geistlicher E r f a h r u n g u n d der literarischen T ä t i g k e i t j e n e s C h r i s t i a n u s D e m o c r i t u s s c h a r f h e r a u s s t e l l t . D o r t heißt es: „ D e r Herr D.(ippel) wie auch ich und alle Adamskinder stehen in der Zeit, und können das E w i g e und Unendliche mit unserer endlichen Vernunft nicht fassen noch beurtheilen. Wir sehen Gott, so zu reden, stückweise an, bald von dieser, bald v o n jener Seite; und was wir nicht reimen, oder miteinander vereinigen können, wollen wir trennen und in Gott nicht glauben; bilden uns demnach Gott nach unserem Begriff, machen G e f o l g e und Schlüsse daraus und was damit nicht übereinkommt, muß widersprochen werden . . . " 3 1 So als Anmerkung zu dem Vers: „Dir ziemt die Unbegreiflichkeit, O heil'ge, süße Dunkelheit" (BL 547 [3, 98.2]) Es scheint als hätte Tersteegen hier ein Zitat vor Augen, vielleicht dieses von Meister Eckhart: „Hätte ich einen Gott, den ich zu begreifen vermöchte, so wollte ich ihn niemals, als meinen Gott erkennen. " Zitiert nach Meister Eckhart, Deutsche Predigten und Traktate, hrsg. u. übers, v. J. Quint, München 19785 S. 353; oder das Augustinuswort: „Könntest du Gott begreifen, so wäre er nicht Gott . . . " 2 Benannt nach der damals weit verbreiteten politischen Zeitschrift „Europäische Fama". Zur geistlichen Fama s. Goebel, Geschichte III a.a.O. S. 106ff. und besonders Winfried Zeller, Geschichtsverständnis und Zeitbewußtsein - Die „Geistliche Fama" als pietistische Zeitschrift, in: Pietismus und Neuzeit Jahrbuch 1975, Zur Geschichte des neueren Protestantismus, hrsg. v. Andreas Lindt und Klaus Deppermann (Jahrbücher zur Geschichte des Pietismus Bd. 2 Im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus, hrsg. v. K. Aland, E. Peschkeu. M. Schmidt) Bielefeld 1975 S. 89-99. 3 B R I 3 3 5 (116).

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Für Tersteegen ist dagegen das Eigentliche der Religion nicht etwas, das positiv ausgesagt und begrifflich entfaltet werden könnte. Was die Erfahrung der Gegenwart Gottes bedeutet, kann letztlich nur nacherlebt werden. Tersteegen hat auf seinem geistlichen Weg eine Mitteilung des Ewigen erfahren. Aber diese Mitteilung hat für ihn nicht den Charakter des vorweisbaren Wissens angenommen. Ihr Gegenstand ist nicht objektivierbar, er teilt sich nicht wie ein Ding mit. So ist das Haben und Besitzen dieses Gutes nicht ein Inbesitznehmen von einsehbaren Erkenntnissen, sondern ein Hineingenommenwerden, ein Teilhaben, das den Teilhabenden im kognitiven Sinn gerade als Nichthabenden zurückläßt. Die Erfahrung der Gegenwart Gottes ist im strengen Sinne nicht lehrbar: „. . . schwer, ja gar unmöglich ist's, einen geziemenden Begriff da von demjenigen beizubringen, der die Gottseligkeit selbst nicht besitzt. Es sind Dinge, die des Geistes Gottes sind (1. Kor. 2,14), welche kein natürlicher Mensch verstehen kann. " 4

Die Sprache ermöglicht bestenfalls eine Umschreibung dieser Erfahrung, aber der Gegenstand selbst ist in den Bildern und Begriffen noch nicht mit erkannt. Er bleibt als etwas Unsagbares hinter ihnen verborgen 5 . Bisweilen beschreibt er das, was er meint, in reinen Abstrakta: „Ein Etwas ist mir innig nah, Ein unbekanntes Gut ist da, Das meinen Geist erfüllet" 6 „Dies Gut, das mich genommen ein, Muß groß und allgenugsam sein, Man kann's nicht deutlich nennen;" 7

Zumeist bleibt er jedoch in einer bildlichen Ausdrucksweise, sagt aber dazu, daß man sich „von Bildern . . . zum Wesen" wenden müsse 8 , weil man Gott nur „von Bildern bloß" schauen kann 9 . So bezeichnet er die Schlußreime des Blumengärtleins insgesamt als Bilder, um dann den Leser in dem abschließenden Vers aufzufordern: „Ich lass' die Bilder da und mich ins Wesen wende, Mein Leser, tu es auch! Dies ist des Lesens Ende. " 1 0 4 WW 130 (3,15); dieses Zitat bezieht sich zwar zunächst auf das Stichwort „Gottseligkeit", meint aber nichts anderes als die Erfahrung der Gegenwart Gottes, denn dieser Stand ist dadurch bestimmt, daß der Heilige Geist der Seele „die Wahrheit, Herrlichkeit und Liebenswürdigkeit des allgegenwärtigen Wesens Gottes inwendig zu erfahren gibt". WW 131 (3,17). 5 Die Eigenart seiner Gotteserfahrung steht somit in der Tradition der apophantischen Mystik, die ihm besonders durch Bernières de Louvigny und M a d a m e Guyon vermittelt ist; s. dazu Winter, D i e Frömmigkeit a . a . O . S. 97ff. 6 B L 4 4 8 (3,58.5). 7 Ebd. V. 6. 8 , B L 619 (FL 142). 9 B L 645 (FL 272). 1 0 Vgl. dazu auch den Beschluß des zweiten Teiles im Blumengärtlein B L 264 (2,120); s. a. 603 (FL 63); 615 (FL 119); 619 (FL 142) u. 653 (FL 329).

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Darum redet Tersteegen nicht belehrend. Seine Predigten lassen ein bloßes Hinnehmen von Lehre und Verkündigung nicht zu, sie zielen auf eine innere Zustimmung. So umkreist er seinen Gegenstand und hofft, daß er im Hörer oder Leser selbst zu reden beginnt. Denn solange er von der Gegenwart Gottes redet, rührt er an etwas, das die Seele eigentlich weiß, wenn auch nur in suchender Ahnung, und das sie schon längst kennt, wenn auch verdunkelt unter unzulänglichen Ausdruckssymbolen. Tersteegens Lied „Gott ist gegenwärtig" will eine Erinnerung sein an das, was der Glaubende eigentlich immer schon weiß. Es will eine Wirklichkeitssicht ins Gedächtnis rufen, die uns im Grunde vielleicht vertraut, aber dennoch entfallen ist. In acht Strophen umkreist es das Geheimnis der Gottesnähe, ohne jedoch über den Gegenstand selbst etwas Bestimmtes auszusagen. 1. Das Lied: Erinnerung der herrlichen und lieblichen Gegenwart

Gottes

Gott ist gegenwärtig! Lasset uns anbeten Und in Ehrfurcht vor ihn treten! Gott ist in der Mitte! Alles in uns schweige Und sich innigst vor ihm beuge! Wer ihn kennt, Wer ihn nennt, Schlagt die Augen nieder; Kommt, ergebt euch wieder! Gott ist gegenwärtig, Dem die Cherubinen Tag und Nacht gebücket dienen; Heilig! heilig! singen Alle Engelchören, Wenn sie dieses Wesen ehren. Herr, vernimm Unsre Stimm', Da auch wir Geringen Unsre Opfer bringen! Wir entsagen willig Allen Eitelkeiten, Aller Erdenlust und Freuden; Da liegt unser Wille, Seele, Leib und Leben Dir zum Eigentum ergeben: Du allein Sollst es sein, Unser Gott und Herre, Dir gebührt die Ehre.

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Majestätisch Wesen, Möcht' ich recht dich preisen U n d im Geist dir Dienst erweisen! Möcht' ich wie die Engel Immer vor dir stehen U n d dich gegenwärtig sehen! Laß mich dir Für und für Trachten zu gefallen, Liebster Gott in allen! Luft, die alles füllet, Drin wir immer schweben, Aller Dinge Grund und Leben, Meer ohn Grund und Ende, Wunder aller Wunder, Ich senk mich in dich hinunter: Ich in dir, Du in mir, Laß mich ganz verschwinden, Dich nur sehn und finden! Du durchdringest alles; Laß dein schönstes Lichte, Herr, berühren mein Gesichte! Wie die zarten Blumen Willig sich entfalten U n d der Sonne stille halten, Laß mich so Still und froh Deine Strahlen fassen U n d dich wirken lassen! Mache mich einfältig, Innig, abgeschieden, Sanfte und im stillen Frieden. Mach mich reines Herzens, Daß ich deine Klarheit Schauen mag im Geist und Wahrheit! Laß mein Herz Überwärts Wie ein Adler schweben U n d in dir nur leben! Herr, k o m m in mir wohnen, Laß mein'n Geist auf Erden Dir ein Heiligtum noch werden. K o m m , du nahes Wesen, Dich in mir verkläre, Daß ich dich stets lieb und ehre.

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Wo ich geh, Sitz und steh, Laß mich dich erblicken Und vor dir mich bücken. Dieser Hymnus befindet sich bereits in der ersten Auflage des geistlichen Blumengärtleins von 1729 und dürfte damit in seiner Entstehung recht nahe an jene erste Mitteilung der Gegenwart Gottes im Leben Gerhard Tersteegens heranreichen. Schon bald hat dieses Lied eine beachtliche Verbreitung gefunden 1 1 . Daß diesen Versen auch nach Tersteegens eigenem Urteil eine besondere Bedeutung zukommt, ergibt sich aus der Vorrede zu einer Predigt über 4. Mose 9, 15 ff. v o m 22. 9. 1754. Er zitiert die erste Strophe dieses Liedes und fährt dann fort: „Wenn ich auch in dieser Stunde, liebste Freunde, uns allen weiter nichts sagte und zuriefe, als diese wichtige so eben ausgesprochene Worte, so würde ich doch schon alles gesagt haben, was wir einander zu sagen haben . . ," 1 2 Das Lied sperrt sich gegen eine rationale Analyse. Es bezeugt eine Wirklichkeit und beansprucht zugleich eine angemessene Begegnungsweise. Schon die erste Zeile hält unmißverständlich fest: dieser Wirklichkeit kann man allein anbetend begegnen. Das Verstehen dieses Hymnus besteht darum nicht so sehr im Erkennen seiner gedanklichen Struktur und im Erfassen seines Aufbaus als vielmehr schlicht im Einstimmen, im Mitsingen und Teilhaben an der Anbetung der Engel. Dennoch wollen wir dieses Lied zu verstehen suchen. Aber es bleibt für die Interpretation eigentlich nur ein beschreibendes Nachzeichnen dieser Eigentümlichkeit. Die einzelnen Strophen sind thematisch unscharf voneinander abgesetzt und unterstreichen mit ihren gleitenden Übergängen den fließenden Charakter dieses Liedes 1 3 . Ebensowenig ist ein klarer Gedankenfortschritt erkennbar. Tersteegens Bitte in der letzten Strophe, allezeit den Herrn zu schauen und sich vor ihm zu bücken, verbindet sich mühelos mit der Aufforderung der ersten Strophe: „Alles in uns schweige/Und sich innigst vor ihm beuge!" Damit mündet die Bewegung dieses Liedes in den Anfang wieder ein und umschließt wie ein Kreislauf seine Mitte. 1 1 W. Nelle berichtet, daß seit 1853 „wohl überhaupt kein deutsches Evangelisches Kirchengesangbuch erschienen (sei), welches dieses Lied nicht enthielte"; in: Tersteegens Geistliche Lieder, Gütersloh 1897 S. 380; dort ist auch die Verbreitung dieses Liedes von 1729 bis 1853 im einzelnen verzeichnet. 1 2 R E IV 3 ( 1 ) = G R 266. 1 3 S. besonders die Ü b e r g ä n g e von der zweiten zur dritten Strophe, von der dritten zur vierten und von der siebten zur achten Strophe; diese Beobachtung macht auch R. Deichgräber in Gott ist genug, Liedmeditationen nach Gerhard Tersteegen, Göttingen 1975 S. 16; allerdings kann ich seine Vermutung nicht teilen, daß in diesem Lied die Stufen der via purgativa, illuminativa und unitiva nacheinander durchschritten werden sollen.

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2. Wechselnde Bilder zur Umschreibung der Gegenwart

Gottes

D i e inhaltliche Beschreibung der G e g e n w a r t Gottes w i e d e r h o l t diese K r e i s b e w e g u n g . Sie geschieht in Bildern v o n besonderer symbolischer D i gnität. A b e r in der A r t u n d Weise, w i e die Bilder einander ablösen, b e g r e n zen sie sich gegenseitig in ihrer Fähigkeit, das Geheimnis der N ä h e Gottes zu erfassen. D e r A n f a n g des Liedes stellt die G e g e n w a r t Gottes unter das e h r f u r c h t g e bietende Bild majestätischer Würde, die v o n C h e r u b i n e n u n d E n g e l c h ö r e n u m g e b e n ist. Ü b e r vier S t r o p h e n hin beherrscht diese Vorstellung den B e w e g u n g s g a n g u n d erinnert deutlich an die Präfation der A b e n d m a h l s l i turgie, d e n n der A u f r u f : „. . . lasset uns anbeten, Und in Ehrfurcht vor ihn treten!" erhebt den Singenden gleich j e n e m s u r s u m cordis in eine h i m m l i s c h e Welt, die v o n d e m dreifachen Sanctus der Engel erfüllt ist. D i e beiden f o l g e n d e n Bilder stehen dazu in stärkstem K o n t r a s t . Gottes N ä h e scheint hier grenzenlos w i e die „Luft, die alles füllet", u n d u n e r g r ü n d lich wie das „ M e e r o h n ' G r u n d u n d E n d e " . Tritt in den ersten Versen die Personalität Gottes besonders h e r v o r , so k o m m t hier eine U m s c h r e i b u n g s f o r m zur Geltung, die seine Universalität u n d Weltbezogenheit h e r v o r k e h r t . A b e r L u f t u n d M e e r stehen auch untereinander in deutlicher S p a n n u n g . W ä h r e n d sich m i t der L u f t die Vorstellung des Schwebens verbindet, spricht Tersteegen b e i m M e e r v o n einer entgegengesetzten B e w e g u n g , v o n einem Versinken u n d Verschwinden. Das nächstfolgende Bild b e t o n t bei aller N ä h e des göttlichen G e g e n ü b e r s eine bleibende Distanz. A b e r es verbreitet dabei eine w o h l i g e G e s t i m m t h e i t . Gottes N ä h e w i r k t auf den M e n s c h e n w i e die S o n n e auf die B l u m e . Sie m a c h t still u n d f r o h . Das Lied endet m i t einer Vorstellung, die m e h r als alle anderen das Geheimnis göttlicher Präsenz einschließt. Eine Botschaft, die f ü r den M e n schen Heil b e d e u t e n soll, k a n n sich nicht d a m i t b e g n ü g e n , v o n seiner alles erfüllenden, alles b e g r ü n d e n d e n u n d alles d u r c h d r i n g e n d e n G e g e n w a r t zu reden, w e n n sie nicht zugleich d a v o n handelt, daß diese G e g e n w a r t in besonderer Weise auf den Geist des M e n s c h e n einwirkt, sich d o r t R a u m verschafft u n d in diesem R a u m wie in seinem E i g e n t u m lebt u n d w o h n t . Diese allein d e m M e n s c h e n z u k o m m e n d e Weise göttlicher G e g e n w a r t ä u ßert sich in d e m Bild v o n d e m Geist als d e m H e i l i g t u m Gottes. M i t dieser Vorstellung d u r c h b r i c h t Tersteegen zugleich den Bereich des M e t a p h o r i schen, d e n n er d e n k t dabei an ein durchaus reales P e r s o n e n z e n t r u m i m Herzen, w o sich die G e g e n w a r t Gottes deutlicher als a n d e r s w o mitteilt. Sie hinterläßt E m p f i n d u n g e n , die sich z w a r in ihrer Ganzheit e b e n s o w e n i g beschreiben lassen wie die O b j e k t e r f a h r u n g selber, aber doch d u r c h analoge G e f ü h l s m o m e n t e eingegrenzt w e r d e n k ö n n e n .

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Diese unterschiedlichen Empfindungen bilden den Hintergrund zu den wechselnden Bildern, mit denen Tersteegen seine Freunde zur Gegenwart Gottes fuhren will. Anhand dieser Bilder soll sich entfalten, wie Tersteegen seine Gotteserfahrung mitteilt. Die Bilder sind aber zugleich der Ausgangspunkt für die Darstellung der Gefühle, die sich mit dieser Erfahrung verbinden. Allerdings bedeutet die Auffächerung in einzelne sensitive Eindrücke noch nicht, daß sich durch Addition das Gemeinte ergibt. Die Gegenwartserfahrung ist kein komplexes Gebilde, das sich in einzelne Komponenten zerlegen ließe. Sie ist nach Tersteegens Auffassung vielmehr die Grunderfahrung jedes mystischen Gebetes. Andererseits weckt die Gegenwartserfahrung nicht alle Gefiihlsmomente gleichzeitig und in gleicher Intensität. Der Eindruck der Gottesnähe variiert zwischen den einzelnen Momenten, und zwar so stark, daß Tersteegen sich veranlaßt sieht, deshalb von einzelnen „Ständen" des geistlichen Lebens zu sprechen. Eine einzelne Empfindung kann ganz und gar in den Vordergrund rücken und alle anderen zurücktreten lassen. Und doch wird bei allen unterschiedlichen Akzentuierungen die Präsenz Gottes stets als ein- und dieselbe erkannt. 3. Wechselnde Redeformen zur Erinnerung an die Gegenwart

Gottes

Die Frage nach der inhaltlichen Umschreibung hat auf die Bedeutung der Bilder gewiesen. Als weiteres, markantes Ausdrucksmittel verwendet Tersteegen unterschiedliche Redeformen. Diese Wechsel im Sprechmodus sind die eigentlichen Zäsuren des Liedes. Es beginnt in der Form eines Aufrufes. Auf die Ansage „Gott ist gegenwärtig" folgt der Ruf „lasset uns anbeten". Der Kundgabe dieser Botschaft dienen die beiden ersten Strophen. Nach einer kurzen gebetsartigen Überleitung am Ende der zweiten Strophe folgt mit der dritten Strophe etwas ganz anderes. Sie ist eine Art Bekenntnis. Das betonte „Wir" am Anfang der Strophe läßt diesen Charakter deutlich hervortreten. Ein Blick auf Tersteegens persönliche Verschreibung macht sichtbar, woran er hier denkt 14 . Gemeint ist jener Akt der „Übergabe", der ihm als Antwort des Menschen auf die Offenbarung Gottes geradezu selbstverständlich erscheint. Die Strophen vier bis acht sind als persönliches Gebet verfaßt. An die Stelle des „Wir" tritt das persönliche „Ich". Es beginnt mit der Anrede „Majestätisch Wesen" und beinhaltet eine Reihe von Bitten, die zumeist mit einem „laß mich" eingeleitet sind. Diese gehobenen Weisen des Redens bestimmen die Eigenart unseres 14 In seiner Verschreibung heißt es: „Ich entsage von Hertzen allem Recht und Macht, so mir der Satan über mich selbst mit Unrecht möchte gegeben haben, von diesem Abend an"; darauf folgt wie auch hier die völlige Übergabe an den Willen des Vaters. Vgl. auch BR II 182 (63); III 99 (31).

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Liedes 15 . Aber weder der anfängliche Aufruf, noch das folgende Bekenntnis, noch der abschließende Gebetsteil würde allein genommen beschreiben können, in welche Bewegung Gottes Gegenwart einen Menschen versetzt. Sie veranlaßt ihn, von dieser Erfahrung Zeugnis zu geben, sich Gott völlig zu überlassen und um Heiligung und unablässiges Verweilen darin zu bitten. Das Lied will „Erinnerung" sein und damit Teil jener Bemühung, mit der Tersteegen sich und andere zur Gegenwart Gottes zurückruft. Indem wir diese drei Redeformen des Liedes voranstellen, wird andeutungsweise sichtbar, was bei Tersteegen als „Weg der Wahrheit" überschrieben ist 16 . a) „ Gott ist gegenwärtig,

lasset uns anbeten "

Wenn sich jemand vor Gottes Majestät gestellt sieht, berichtet er darüber nicht wie von einem sachlich mitteilbaren Geschehen. Würde er es dennoch tun, wäre er schon nicht mehr ganz und gar ergriffen von seiner Nähe. Indem er aber die Gegenwart Gottes ausruft, ruft er zunächst sich selbst wieder hinein in das Wissen um dieses Geheimnis. Wer ruft, teilt etwas mit, das den Gerufenen unmittelbar angeht. Im Rufen wird neue Wirklichkeit erschlossen. Daß auch die Gegenwart Gottes gleichsam im Menschen hervorgerufen werden muß, gehört zum wesentlichen Kennzeichen ihrer Mitteilungsweise. Das Gewahrwerden der Gegenwart Gottes ist wie das Bewußtwerden von etwas Neuem. Aber das Neuartige liegt nicht so sehr in der Neuigkeit des Inhalts, im Gegenteil, das Lied wendet sich an den, der Gott bereits kennt und nennt. Es ist überschrieben als „Erinnerung". Das Ausrufen seiner Gegenwart geschieht nicht als Mitteilung von Unbekanntem, sondern als Erinnerung an längst Gewußtes. Aber Erinnern setzt Vergessen voraus. Indem Tersteegen an die Präsenz des Heiligen erinnert, kennzeichnet er sie in ihrer alltäglichen Vergessenheit, denn das Wissen um seine Nähe wird immer wieder durch die „Ungestorbenheit" unserer Natur verschüttet. Es ist unsere Vergeßlichkeit, die solches Rufen notwendig macht. So ist das Ansagen der Gegenwart Gottes wie das Zurückrufen einer Wirklichkeit, die wir eigentlich nicht wieder vergessen wollten, aber doch nicht festhalten konnten. Demnach ist dieser Ruf kein Aufruf zur Bekehrung. Er meint nicht das erstmalige Vernehmen der Gottesnähe. Sein Rufen sucht vielmehr das erneute Bewußtwerden der Gegenwart Gottes. Es zielt auf ein Gewöhnen. Wer Gott zugehört, wird aufgerufen, sich an seine Gegenwart zu gewöhnen. Dies Rufen ist ein Erinnern an das Grunddatum des Glaubens. Wenn Tersteegen aufruft: „Kommt, ergebt euch wieder", so ist das seine Weise, zum 15

Vgl. BL 378 (3,29); 430ff. (3,52) u. 469ff. (3,62), die einem ähnlichen Aufbau folgen. Hier sei nochmals auf den 3. Teil der Dissertation verwiesen, der unter der Überschrift „Weg der Wahrheit" das tersteegensche Verständnis der Heiligung nachzeichnet. Er mußte im Rahmen dieser Veröffentlichung wegfallen. 16

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„reditus ad b a p t i s m u m " z u r ü c k z u r u f e n . U m des M e n s c h e n willen, aber n o c h m e h r u m Gottes willen ist dieses R u f e n n o t w e n d i g , d e n n die „ G o t t v e r gessenheit" 1 7 ist f ü r Tersteegen kein u n a b w e n d b a r e s Verhängnis, s o n d e r n etwas U n e r h ö r t e s u n d Schuldhaftes u n d zugleich Törichtes 1 8 , das u m Gottes willen so nicht bestehen bleiben darf. D a r u m d r o h t Gericht u n d Strafe f ü r den, der sich diesem R u f verschließt 1 9 . Ö f f n e t er sich i h m aber, w i r d er wieder h i n e i n g e n o m m e n in e i n e m Z u s t a n d ehrfürchtiger u n d stiller E r g r i f fenheit.

b) „ Wir entsagen willig allen

Eitelkeiten"

Wenn Tersteegen d a v o n spricht, allen Eitelkeiten willig zu entsagen, redet er nicht v o n d e m , was die G e g e n w a r t Gottes ist, sondern was sie wirkt. Sie n i m m t den M e n s c h e n in A n s p r u c h u n d b e k u n d e t darin ihren M a c h t c h a r a k ter. D a r u m ist die Preisgabe aller eitlen B e s t r e b u n g e n ein geradezu z w a n g s läufiger Reflex auf die E r f a h r u n g des Heiligen. In diesem A k t manifestiert sich das v o n Schleiermacher so benannte G e f ü h l „schlechthinniger A b h ä n gigkeit". Z u seiner Eigenart gehört, daß es keine E m p f i n d u n g ist, die der M e n s c h selbst i r g e n d w i e erzeugt. Es w i r d nicht w i e eine Selbstaufopferung m ü h s a m abgerungen, es ist vielmehr wie ein Schatten, der mit der E r f a h r u n g des Heiligen unablöslich m i t g e g e b e n ist 2 0 . So liegt f ü r Tersteegen nichts Heroisches in diesem A k t . Die H i n g a b e ist f ü r ihn vielmehr ein großes Glück u n d geschieht mit der Selbstverständlichkeit, m i t der m a n eben alles verkauft, u m den einen g r o ß e n Schatz zu besitzen. Verweigert m a n diesen Schritt, n i m m t m a n der E r f a h r u n g ihre Heiligkeit. Aber die G o t t e s b e g e g n u n g drängt v o n sich aus dazu, „Wille, Seele, Leib u n d Leben" G o t t als sein E i g e n t u m zu überlassen. „ N i c h t m e i n Wille, s o n d e r n dein Wille geschehe", hieß es in Tersteegens eigener Verschreibung. Die V e r f ü g u n g s g e w a l t des M e n s c h e n über sich selbst w i r d a u f g e h o b e n . Diese uneingeschränkte H i n g a b e ist das erste, was die G e g e n w a r t Gottes a m M e n s c h e n b e w i r k t . D e r Wille Gottes u n d der Eigenwille des M e n s c h e n treten v o n n u n an in einen unversöhnlichen Gegensatz. Dies erklärt, w a r u m neben die E r i n n e r u n g an die G e g e n w a r t Gottes der Begriff der „Eigenheit" ein so herausragendes G e w i c h t b e k o m m t . D i e A u t o n o m i e 17

B R 1224 (82). S. B R I 8 0 f f . (27). 19 S. dazu seinen Brief an J o h a n n Lobach, w o Tersteegen die Schrecken des Siebenjährigen Krieges als Folge j e n e r Gottvergessenheit ansieht: „ G o t t will uns d u r c h den L ä r m u n d D r u c k a u f w e c k e n aus d e m Schlaf; er will die Schafe durch die H u n d e , die er geschickt, nicht verjagen, s o n d e r n zu sich j a g e n u n d s a m m e l n . . . " B R 1224 (82). 20 Vgl. die Auseinandersetzung R u d o l f O t t o s mit Schleiermachers B e s t i m m u n g der Religion. Es entspricht genau Tersteegens Verständnis, w e n n O t t o das Abhängigkeitsgefühl lediglich als „subjektives B e g l e i t m o m e n t " der n u m i n o s e n E r f a h r u n g gelten lassen will, weil dieses „zuerst u n d unmittelbar auf ein Objekt außer mir geht". S. Das Heilige, M ü n c h e n 1963 32 S. 11. 18

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ist das, was der Erfahrung des Heiligen im Wege steht und den Menschen in seiner Gottverlassenheit festhält. So ist das Reden von Gott immer auch ein Reden von der Verleugnung, in der das Ich seine Eigenheit preisgibt. c) „ Möcht' ich wie die Engel immer vor dir stehen "

Gottes Gegenwart ist für Tersteegen Anlaß vom Finden und Haben, vom Besitzen und Genießen zu reden. Und doch ist nicht zu übersehen, daß er auch weiterhin um die Nähe Gottes bittet. Es bleibt etwas, worauf er noch immer warten muß. Die Möglichkeit, sich vollkommen verwandeln zu lassen und unablässig mit Gott verbunden zu sein, steht ihm vor Augen. Noch ist die Heiligung nicht wesentlich vorangekommen, aber indem Gott sich mit seinem Wesen und mit seinen heiligen Eigenschaften offenbart, weckt er das Verlangen, ebenfalls so „wesentlich" zu werden. Gott zeigt sich als ein einfältiges, innig abgeschiedenes, sanftes, stilles und reines Wesen 21 , darum die Bitte des Menschen: „Mache mich einfältig, innig, abgeschieden, Sanfte und im stillen Frieden, Mach mich reines Herzens, daß ich deine Klarheit Schauen mag im Geist und Wahrheit!"

Z u m anderen ist die Erfahrung göttlicher Gegenwart noch nicht von Dauer. Mal öffnet sich der Blick für einen Augenblick spontaner Erhellung, mal füllt sie wohl auch die ganze „ausgesparte" Zeit des Gebetes, aber dann bricht sie wieder ab und zurück bleibt die alltägliche Gottvergessenheit. Darum die Bitte: „Wo ich geh', Sitz und steh', Laß mich dich erblicken U n d vor dir mich bücken!"

(V. 8)

Mit diesen Bitten drängt der Beter über den Stand einfältiger Gegenwartserfahrung hinaus zum Stand der Beschauung und von dort zu den höchsten Erfahrungsweisen göttlicher Gegenwart. Wir kehren nun zu den bildlichen Umschreibungen zurück, mit denen Tersteegen seine Gebetserfahrungen mitteilt.

21

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S. WW 337(9,4ff).

II. Gott als das „Majestätisch Wesen" Wenn Tersteegen von der Gegenwart Gottes spricht, verwendet er gern die Vorstellung der Gott umgebenden Cherubim aus der Theophanie des Jesaja 22 . Keines der folgenden Bilder ist imstande, das Besondere seiner Gotteserfahrung so dicht zu umschreiben, wie das ehrfurchtgebietende und zugleich jubelnde „Heilig, heilig" dieser Engel. Indem unser Lied diese prophetische Vision in sich aufnimmt, versucht es, die Heiligkeit jener alttestamentlichen Gottesbegegnung einzufangen. Nichts ist Tersteegen zu groß, um seine Gebetserfahrung angemessen zu kennzeichnen. Dennoch gilt gerade hier, was er in einem Brief an den Adligen Adriaan Pauw nach Amsterdam schreibt: „Unsere Gedanken und Worte sind alle viel zu schwach, zu klein, u m das Innige seiner Gegenwart im Innern auszudrücken." 2 3

Gott selbst bleibt in der Jesajavision der Unbeschreibliche. Sein Wesen, seine Eigenschaften sind unaussprechlich. Nur vom Widerschein seiner Herrlichkeit, nur von der Anbetung seiner Engel läßt sich reden. In ihrer willigen, bedingungslosen Hingabe sind sie wie ein Spiegel, in dem die Göttlichkeit Gottes sich erstmalig bricht. Ihre Hingabe ist das Unmittelbarste, was die Nähe Gottes bewirkt. Darum sind diese anbetenden Engel geradezu Inbegriff einer Daseinsweise, die dem Leben in der Gegenwart Gottes angemessen ist. Das Bild unterstreicht die Personhaftigkeit Gottes, indem es von ihm redet wie von einer mit unbeschreiblichem Glanz umgebenen Majestät. Daraus ergibt sich der Anredecharakter, der das ganze Lied durchzieht und auch da noch in Geltung steht, wo die Gotteserfahrung in überpersonalen Begriffen umschrieben wird.

A. Das Gewahrwerden eines personalen Gegenübers Eine Frau aus Tersteegens Mülheimer Freundeskreis berichtet von ihren inneren Erfahrungen, worauf dieser antwortet: „Das Wesen, so dich heimlich beruhiget, ist ohne Zweifel Gott, dein höchstes Gut. Hast du wohl in allem Geschaffenen j e etwas gefunden, das dir solche Ruhe und sanftes Wohlseyn inwendig geben kann? Der Eindruck einer stillen, liebvollen E h r furcht, so auch unter dem Werk noch bleibet, gibt genug zu erkennen, daß es der Herr ist." 2 4 22 23 24

Vgl. dazu besonders BL 607 (FL 84). BR holl. 26 (6) = BR NS 9 (5). BRI201 (76).

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Dieser Briefabschnitt ist insofern aufschlußreich, als hier „ E i n d r u c k " u n d D e u t u n g n o c h nicht k o n g r u e n t sind. D a b e i w i r d sichtbar, wie die u n m i t t e l bare E r f a h r u n g sich mit ihrer Interpretation v e r k n ü p f e n kann. D a s „ Wesen" selbst ist n o c h i m m e r ein „Etwas", v o n d e m m a n eingesteht, daß m a n es nicht deutlich kennt, wenngleich Tersteegen gelegentlich h i n z u f u g t , daß auch „dieses Nichterkennen. .. ein wahres K e n n e n " sei 2 5 . D e m n a c h liegt das eigentliche E r k e n n u n g s m e r k m a l f u r die Göttlichkeit des erfahrenen E i n d r u c k s nicht in d e m Wesen selbst, s o n d e r n in den W i r k u n gen, die er auf den M e n s c h e n ausübt, in der „ R u h e " , d e m „Wohlseyn", der „Ehrfurcht". „Die tiefe Veneration, Die große Ruh, die sel'ge Wonn', Das Beugen ohn' Aufhören, Die geben, wo man geht und steht, Den Eindruck einer Majestät, Die Erd' und Himmel ehren."26 D e m n a c h sind Tersteegens Bilder keine visionären S c h ö p f u n g e n . Sie gehen sekundär aus den E i n d r ü c k e n h e r v o r , die jenes unanschauliche E t w a s hinterläßt. D a b e i h ä n g t die Tauglichkeit eines Bildes allein d a v o n ab, w i e gut es den jeweils h e r v o r t r e t e n d e n E i n d r u c k deutet. Dies läßt der eigenen religiösen V e r w u r z e l u n g einen g r o ß e n Spielraum. So ist nichts V e r w u n d e r l i ches daran, daß Tersteegen dieses „ E t w a s " mit der G o t t e s o f f e n b a r u n g des Jesaja verbindet. Wenn diese D e u t u n g des Sachverhalts zutrifft, m u ß sich aufzeigen lassen, daß alle Versuche, dieses Wesen in festumrissene Vorstellungen zu fassen, vergeblich bleiben. Wir w e r d e n sehen, wie beliebig Tersteegen d a m i t springen kann. Es ist gleich, o b G o t t oder Christus, o b der heilige Geist oder schließlich die ganze heilige Trinität uns g e g e n w ä r t i g sind. Wir b e g i n n e n m i t der Aussage, j e n e r E i n d r u c k gäbe klar zu erkennen, daß es der „Herr" sei.

1. Der Herr N i c h t die E h r f u r c h t ist das Erste, s o n d e r n das, was die E h r f u r c h t auslöst: „Gott will sich kindlich zwar zu seinen Kindern neigen, Doch lehrt die Ehrfurcht bald sich inniglich zu beugen, Wenn seine Majestät kommt in dies Haus hinein."27

25

E b d . vgl. dazu B R II 140 (42), w o Tersteegen G o t t als den „lieben Unbekannten" bezeichnet u n d in d e m anschließenden Gebet ihn anredet: „Ach! du Geheimer, den ich nicht zu n e n n e n weiß . . . " 26 BL 448 (3,58.7), vgl. dazu auch die Verse 5 u. 6. 27 B L 257 (2,108).

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A m A n f a n g steht e t w a s , das E h r f u r c h t b e w i r k t . Weil es S c h e u e r w e c k e n kann28 und den Eindruck v o n Unnahbarkeit und Erhabenheit vermittelt29, m u ß es einfach ein personhaftes G e g e n ü b e r sein. S o b e g e g n e t in d i e s e m Z u s a m m e n h a n g i m m e r w i e d e r das B i l d einer g ö t t l i c h e n Majestät: „ D a lernet der M e n s c h Gott erkennen, als einen majestätischen allgegenwärtigen Gott; u n d das wirket denn in i h m eine tiefe Ehrfurcht, u n d einen heiligen Wandel v o r diesem allgegenwärtigen majestätischen H e r r n . " 3 0 D i e s e r Eindruck der Erhabenheit G o t t e s w i r d durch die Vorstellung u n terstrichen, daß unzählige Scharen v o n E n g e l n seinen T h r o n u m g e b e n 3 1 . „ D i e höchsten Geister huld'gen dir, Sonn', M o n d , und alles s c h m i e g t sich hier;" 3 2 A b e r s c h o n h i e r fällt a u f , w i e w e n i g T e r s t e e g e n z w i s c h e n d e r M a j e s t ä t d e s V a t e r s u n d d e s S o h n e s u n t e r s c h e i d e t , d e n n a u c h v o m S o h n h e i ß t es: „ D i e höchsten Geister allzumal N u n dir die Knie beugen, D e r E n g e l Millionen Zahl D i r göttlich' Ehr' erzeigen, Ja, alle Kreatur dir schreit: Lob, Ehr, Preis, Macht in E w i g k e i t ! " 3 3

28

S. BL 554 (3,98.20) u. 228 (2,62). S. RE III 322 (7) = GR 509, w o ein Gebet mit der Anrede beginnt: „ O majestätischer, gegenwärtiger, großer und erhabener Gott!"; s. ähnlich RE III 442 (8) = GR 591. 30 RE III 370f. (7) vgl. BL 88 (1,231); BR 1350f. (122); WW 195 (5,38) u. 257 (6,29); RE III 442f. (8) u. RE IV 40 (1) u. bes. U A 272 (II, 11.13). 31 S. BL 506 (3,78.3); 510 (3,80.2) u. RE III 219 (4). 32 BL551 (3,98.10); vgl. BL409 (3,42.6); 498 (3,74.2); 567 (3,105.6 u. 7); RE III 322 (7) u. 396 29

(8). 33 BL 518 (3,84.3); vgl. 365 (3,22.2) u. 380 (3,30.1); RE III 269 (5) = GR 506; s. dazu Tersteegens Gebetspraxis, denn unabhängig davon, ob sich ein Gebet an den Vater oder an den Sohn wendet, beginnt es doch fast immer mit einer Anrede, die die Majestät und Erhabenheit des Göttlichen zum Ausdruck bringt. Als Beispiel hier eine Einleitung zu einem Gebet, das am Ende einer langen Predigt über den Bundesschluß nach 2. Chronik 15 steht: „ O Gott, o Majestät, heilig, heilig, heiliger Gott, Vater, Sohn und heiliger Geist, vor dem auch jetzt in diesem Augenblick sich beugen und niederfallen alle Seraphinen und Cherubinen, alle viel tausendmal tausend heilige Engel und die unzählige Menge der verklärten Heiligen in der seligen Ewigkeit . . . " RE III 98 (2) = GR 436. Mit gleicher Ehrerbietung soll schließlich auch das Singen geschehen, denn, so heißt es in der Vorrede zum großen Neander: „Wenn du singest, o Seele, so redest du mit dem heiligen, allgegenwärtigen Gott ebensowohl als wenn du betest. " Das Singen ist wie das Gebet Erinnerung an die Gegenwart Gottes: „Denke, du stehest mit den viel tausend mal tausend Engeln und seligen Geistern im Geiste vor dem Throne Gottes und willst deine schwache Stimme mit der Engel Musik vereinen. " WW 386f. (12,8).

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Das G e f ü h l der E h r f u r c h t ist derartig eng m i t d e m Bild h i m m l i s c h e r Majestät v e r b u n d e n , daß es m a n c h m a l scheint, als w ä r e n sie ü b e r h a u p t nicht voneinander ablösbar. Es klingt w i e eine Z u s a m m e n f a s s u n g unserer bisherigen B e o b a c h t u n g e n , w e n n Tersteegen das Gebet der G e g e n w a r t Gottes einfach d a d u r c h kennzeichnet, daß er sagt, es ist das „Gebet, da m a n die g e g e n w ä r t i g e Majestät Gottes v e r e h r e t " 3 4 . A b e r bisweilen verbindet Tersteegen das G e f ü h l der E h r f u r c h t m i t e i n e m Attribut, das ihn zu einer anderen U m s c h r e i b u n g jenes geheimen Wesens führt. 2. Der Vater „Wie gut ist's, wenn nach Kinder Art Man lebt in's Vaters Gegenwart . . . " 35

W ä h r e n d die schweigende E h r f u r c h t auf etwas Majestätisch-Erhabenes deutet, weist ein G e f ü h l kindlicher E h r f u r c h t darauf, daß G o t t uns als Vater begegnet. „Wenn wir gewahr werden, . . . daß ein tiefes Wohlsein, eine kindliche Ehrfurcht vor seiner Gegenwart oder etwas dergleichen in unserm Grunde sich befindet: so müssen wir uns seiner Wirkung ohne Furcht überlassen . . ," 3 6 Somit k a n n die G e g e n w a r t Gottes auch d u r c h eine kindliche E h r f u r c h t o f f e n b a r w e r d e n . In diesem Licht scheint alles, was geschieht, aus der „weisen u n d . g u t e n H a n d des Vaters" zu fließen37. Es ist „das zarte Vaterherz", das z u m „Wandel in Gottes G e m e i n s c h a f t " e r w e c k e n u n d ziehen will 3 8 . Es ist des „Vaters W i n k " , der den Beter zu einem einfältigen K i n d e m a c h t 3 9 , u n d des „Vaters H a n d " , die i h m nicht n u r alles schenkt, s o n d e r n ihn auch trägt 4 0 . Wer m ü d e ist, überläßt sich a m A b e n d der „Vatertreue" 4 1 . I m „Schoß des Vaters" findet er R u h e , vorausgesetzt, daß er „ a r m u n d b l o ß " w i e ein K i n d w i r d 4 2 , d e n n n u r d a n n ist G o t t u n e r m ü d l i c h „in seiner Vatersorge u n d Pflege", u m seine K i n d e r „auf allerlei Weise zu verpflegen . . ." 4 3 . Somit erscheint die G e g e n w a r t Gottes als „Vatersgegenwart" 4 4 . Sie w e c k t 34 RE IV 33 (1) = GR 278; s. a. RE III 228 (4) = GR 124, w o Tersteegen Jesus als den „dreimal heiligen Gott" anredet. 35 BL363 (3,21.3). 36 WW 342 (9,14). 37 BR 1105 (39). 38 BR 129 (8); vgl. RE 188 (2) = GR 387. 39 BL 465 (3,60.1). 40 BR IV 311 (127) u. BR holl 82 (34) = BR N S 277 (182). 41 BL 507 (3,78.1). 42 BL 665 (FL 372) u. 47 (1,57); 90 (1,250); 107 (1,331); s. a. 465 (3,60.1); BR 1315 (111); 368 (129); BR holl 207 (91). 43 RE 189 (2) = GR 388. 44 BL 363 (3,21.3).

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i m Beter den Wunsch, alles diesem Vater „ z u m Pläsier" zu tun u n d zu erleiden 4 5 , sich i h m ganz zu e r g e b e n 4 6 u n d i h m nahe zu bleiben 4 7 . W i e d e r holt v e r b i n d e t Tersteegen diese H i n g a b e an den Vater m i t j e n e m Wort aus M a t t h ä u s 11,26: „Ja, Vater! also ist es wohlgefällig v o r d i r . " 4 8 Besonders lebendig w i r d das Bild des Vaters da, w o Tersteegen b e schreibt, auf welch väterliche Weise G o t t auf die Verfehlungen seiner K i n d e r reagieren kann. Wenn G o t t uns seine G e g e n w a r t offenbart u n d uns in einen Stand kindlicher Einfalt versetzt, erscheint auch unsere S ü n d e in einem anderen Licht. Sie ist w i e das Fallen eines Kindes, das n o c h auf schwachen Füßen steht u n d d a r u m i m m e r w i e d e r v o m Vater aufgerichtet w e r d e n m u ß . In d e m folgenden Briefausschnitt k o m m t dies in schöner Weise z u m A u s druck. Tersteegen schreibt an die Frau seines Verlegers Schmitz in Solingen: „Weil es aber ein Kind ist, so stolpern oft seine schwachen Füße unterm Gehen, und es fiel wohl gar, wenn es nicht vom Vater gehalten würde. Ja wirklich, es fället, es thut sich weh, es weinet so eben; der Vater hebt es auf, gibt ihm ein Kuß, und es lächelt wieder mit thränenden Augen, und über der Liebe des Vaters vergißt es seines Falles; da inzwischen der gütigste Vater ihm den Schmutz, den es unterm Fallen möchte bekommen haben, vom Kleid und Angesicht abwischet. Will das dumme Kind solches selbst thun, dann wischt es oft den Koth übers ganze Kleid und Angesicht, und es kostet dann doppelte Mühe. Inzwischen geht das Kind wieder mit seinem Vater fort, und wenn der Vater sagt: Du mußt vorsichtig gehen; dann sagts nach seiner kindlichen Herzlichkeit: Ja, lieber Vater! ich wills gut machen. Indessen bleibt es ein Kind, und weiß von keiner eigenen Vorsichtigkeit. Den Vater lieben und ansehen ist seine ganze Kunst, welche Gestalt dem Vater so überaus wohl gefällt, daß er vorsichtig ist für das Kind, und demselben alle seine Fehler nicht anrechnet. " 4 9 Somit scheint der Sachverhalt klar u n d selbstverständlich: „Gott ist unser wahrer Vater, und die stille Ewigkeit ist unser Vaterland . . ." 5 0 Sieht m a n aber auf die g r o ß e B e d e u t u n g , die das K i n d in Tersteegens Vorstellungswelt e i n n i m m t , fällt auf, daß d e m g e g e n ü b e r der Vatername Gottes bei w e i t e m nicht diesem R a n g entspricht. D e r G r u n d ist ü b e r r a schend u n d f ü r den heutigen Leser v o n v e r b l ü f f e n d e r Aktualität, d e n n m e h r als v o m Vater spricht Tersteegen v o n der Mutter, w e n n er das Göttliche in personaler Weise u m s c h r e i b t . So ist es „Gottes M u t t e r h e r z " 5 1 , das die Kindlein sucht, sie a u f n i m m t u n d

45

BL 467 (3,60.5). BL 467 (3,60.6). 47 BR I 29 (8): „Ei! Laßet doch dem lieben Vater dieses Plaisir anthun, und nahe bei ihm daheim in unsem Herzen bleiben . . . " 48 BR 1105 (39) u. BR holl 122 (52); s. a. BL 142 (1,481). 49 BR III 223f. (70); vgl. BR II 50 (19). 50 BR IV 55 f. (21). 51 So BL 525 (3,88 Überschrift) u. 157 (1,537) s. a. 392 (3,36.2); 460 (3,59.6); 505 (3,77.7); 563 (3,102.2). 46

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im Geist an seiner „Brust" saugen läßt 52 . Seine Liebe ist „mütterlich" 53 , weil „sein Mütterliches Hertze nach uns verlanget.. ," 5 4 . Seine Führung ist wie die „haltende Hand" der Mutter 55 , die ihr Kind von hinten „am Leitband" festhält, und seine Gegenwart wie ein „Mutterschooß" 56 , in dem wir uns in unserer Nacktheit und Schwachheit verbergen können. So kann Tersteegen eine Freundin dazu aufrufen: „ S t e h e a u f , w a g e es, u n d w i r f d i c h d e r L i e b e s m u t t e r in d e n S c h o o ß , o h n e w e i t e r an dich selbst zu g e d e n k e n ! " 5 7

Und einen Bruder ermuntert er mit den Worten: „ L a ß e t u n s als n a c k t e u n d s c h m a c h t e n d e K i n d l e i n u n s stets i n n i g h i n e i n l e g e n in d e n o f f e n e n M u t t e r s c h o o s , u n d d a s e l b s t h u n g e r e n , w a r t e n , s a u g e n u n d l i e b e n in unschuldigem Kindersinn!"58

Zwar hebt Tersteegen hierbei die Bildlichkeit seines Ausdrucks betont hervor, so daß Gott in der Regel nicht selbst als Mutter angesprochen wird, aber die Analogie ist oftmals so gewagt formuliert, daß die Grenze verschwimmt. Die Sophienmystik seiner Zeit hat diese befremdliche Ausdrucksweise ermöglicht 59 . Über das Kernstück dieser Tradition, über Sprüche 8, 22 ff. heißt es in der Vorrede zum verborgenen Leben: „ D a h e r k o m m t es n u n , d a ß die e w i g e Weisheit, d e r e n B e l u s t i g u n g ist b e i d e n K i n d e r n d e r M e n s c h e n ( S p r ü c h e 8, 3 1 ) , als eine t r e u l i e b e n d e M u t t e r u n d B r a u t beständig gleichsam h e r u m gehet u n d . . . Seelen suchet . . . " 6 0

So hält Tersteegen dieses mütterliche Element für durchaus schriftgemäß. Die Weisheit sorgt wie eine „treuliebende Mutter" für ihre Kinder. Und da die Vorstellung der Sophia als Hypostase schon seit den Anfängen des Trinitätsdogmas mit dem himmlischen Logos gleichgesetzt wurde, betreffen diese absonderlichen Bezeichnungen vor allem die zweite Person der B L 422 (3,48.3) u. 415 (3,44.6); s.a. 172 f. (1,578); B R II 286 f. ( 9 5 ) ; W W 7 8 f . (2. Vorb.). B R II 67 (25); 154 (48) u. 301 (100); s. a. R E IV 398 (9) = G R 11. 5 4 h L G (Vorrede 15). 5 5 B R II 121 (40); s. a. B L 206 (2,25) u. 80 (1,201). 5 6 B R II 337 (112) u. 280 (93); s. a. B R 1115 (44); 151 (60); B L 142 (1,484); 491 (3,69.7) u. 504 (3,77.7 u. 8). 5 7 B R III 179 (59). 5 8 B R I 114 (44). 5 9 P. Alverdes (Der mystische Eros in der geistigen Lyrik des Pietismus, Diss. München 1921) meint belegen zu können, daß die Vorstellung Gottes als Mutter im Q u i e t i s m u s Tersteegens besonders ausgeprägt sei. Aber zu Recht weist schon Langen, Wortschatz a . a . O . S. 309, daraufhin, daß diese Gottesauffassung auch im sonstigen Pietismus weit verbreitet gewesen ist. So k o m m t man eher zu dem gegenteiligen Ergebnis, und daraufist in der Tersteegenforschung immer wieder hingewiesen worden, daß unser Mystiker etwa i m Vergleich zur M a d a m e G u y o n oder auch Gottfried Arnold der Sophienmystik gegenüber weit zurückhaltender ist. so w w 230 (6,2). 52 53

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Gottheit. Christus ist „unsere ewige Liebesmutter.. ." 6 1 . Der „mütterlichen Liebe und Sorge Christi" soll sich der Gläubige „auf ewig anvertrauen. . ," 6 2 . Bei Christus ist die „volle Liebesbrust" zu finden63. „Aus Jesu Brust" läßt sich der Beter „kindlich tränken.. ," 6 4 . „In Jesu Schoß" wird er bewahrt und beschützt 65 , denn sein „weiter Schoß" öffnet sich allen 66 . Und Jesus ist es schließlich, der angeblich ein treues und frommes „Mutterherz" trägt 67 , so daß Tersteegen sagen kann: „ O Jesu, Mutterherz, ich kriech'in deinen Schoß . . . " 6 8

Aber der erhöhte Christus zieht nicht nur diese mütterlichen Attribute an sich, auch der Vatername geht auf ihn über. Die Auslegung von Jesaja 9,6 gibt Tersteegen Anlaß, sich bei dem Thronprädikat Ewig-Vater über Christus als den „Vater der Ewigkeit" zu entfalten 69 . Alle Aussagen zum Vaternamen sind hier auf Christus übertragen: „Christus behält ein unverrückt ewig liebendes Vaterherz. " 7 0 „ E w i g e r Vater bleibt er in seiner unermüdeten Sorge für seine K i n d e r . " 7 1 „ E w i g e r Vater ist er auch in seiner Vatersgeduld . . . " 7 2 „Die Ewigkeit ist eine Ausgeburt, ein Werk des lieben Heilandes . . . er ist Vater davon . . , " 7 3 „Ist er mein Vater, und ich sein Kind, so bin ich . . . durch diese Kindschaft ein Erbe geworden dessen, was ihm a n g e h ö r e t . " 7 4

Sieht man einmal davon ab, daß Tersteegen hierin die Grenzen der orthodoxen Trinitätslehre beträchtlich überschreitet, so bereitet dieser Sachverhalt auch bezüglich der Gegenwartserfahrung selbst große Schwierigkeiten. Es stellt sich mit Nachdruck die Frage: Welche Bedeutung hat die Personjesu in Tersteegens Erfahrung der Gegenwart Gottes?

RE IV 400 (9) = GR 12; Tersteegen bezieht sich dabei aufjesaja 46,3 f. Ebd. 401. 6 3 BR 1283 (99) = B L 5 7 6 (3,113.16). 6 4 BL 148 (1,504); s.a. 85 (1,225); BR I 131 (52); WW 83 (2/1,9); BL 422 (3,48.3); BL 563 (3,102.2); 596 (FL 28) u. 665 (FL 371), wo es heißt: „Schau doch, Maria säuget mich, Und ich, mein Kind, will säugen dich; Tu auf den Mund, kehr alle Lust In mich hinein und saug die Brust!" vgl. BR holl 148f. (63), s. hierzu auch van Andel G. Tersteegen a.a.O. S. 143, Anm. 261. 6 5 B L 4 8 2 (3,66.2) u. 46 (1,48); s.a. 51 (1,77); 147 (1,502); 422 (3,48.5); BR 1395 (141); 289 (101). 6 6 BL 515 (3,82.4). 7 1 Ebd. 89 = GR 388. 6 7 BL 39 (1,17). 7 2 Ebd. 6 8 BL 43 (1,35). 7 3 Ebd. 91 = GR 389. 6 9 RE 188 (2) = GR 387. 7 4 Ebd. 7 0 Ebd. 61

62

115

3.

Christus

„Die beständige Nahheit Jesu Ich sehe dies und das und soll nur Eines sehen Du, Jesus, Freund, bleibst nah, auch wenn du scheinst zu gehen, Gib, daß ich's kindlich glaub', wenn ich's nicht seh' noch spür', Daß du seist alle Tag und auch nochjetzt bei mir!" 7 5 Tersteegens Lied v o n der G e g e n w a r t Gottes spricht d u r c h g ä n g i g v o n der N ä h e Gottes,

u n d auch die anderen Lieder zu d i e s e m T h e m a 7 6 b e r ü h r e n die

P e r s o n C h r i s t i nicht, s o daß zunächst der E i n d r u c k entsteht, „ G o t t , nicht J e s u s ist d e r M i t t e l p u n k t s e i n e r F r ö m m i g k e i t " 7 7 .

A b e r ein B l i c k in d a s

s o n s t i g e S c h r i f t t u m Tersteegens korrigiert schnell diesen ersten E i n d r u c k . Z u n ä c h s t fällt a u f , d a ß er i m G e g e n s a t z z u s e i n e r „ E r b r e l i g i o n " b e t o n t , d a ß C h r i s t u s a u c h n a c h s e i n e r menschlichen

N a t u r a l l g e g e n w ä r t i g sei.

„ D a s K i n d zu Bethlehem ist j a äusserlich in der Welt nicht mehr zu sehen, das K i n d ist in der Ewigkeit; und dennoch den Herzen der Gläubigen unaussprechlich nahe. " 7 8 A n a n d e r e r S t e l l e s p r i c h t er n o c h p o i n t i e r t e r v o n d e r G e g e n w a r t

des

K i n d e s : „ E s ist n o c h in d i e s e r W e l t . " 7 9 E s ist z w a r „ z u d e r R e c h t e n d e s h i m m l i s c h e n V a t e r s a u f g e f a h r e n , a b e r d e r g e s t a l t , d a ß es a u c h als u n s e r H e i l a n d , als u n s e r I m m a n u e l , G o t t m i t u n s , n o c h b e i u n s ist alle T a g e , b i s a n s E n d e der W e l t " 8 0 . J e s u s stellt s i c h z w a r n i c h t m e h r „ ä u ß e r l i c h o d e r l e i b l i c h " d a r , a b e r a u f g r u n d s e i n e r A l l g e g e n w a r t ist er allein, „ w i s s e n d o d e r u n w i s s e n d , u n a u s sprechlich n a h e . . . " 8 1 . „In unserer K a m m e r , auf d e m Felde, auf der Straße, w o wir gehen und stehen, da ist Jesus uns nahe und wartet auf uns . . . " 8 2 7 5 B L 266 f. (2. Zug. 7) zu Matthäus 28,20; für das Ende der zweiten Zeile gibt Tersteegen als Variante: „wenn andre Freunde gehen". 7 6 S. besonders die Lieder Nr. 10: „Die Seele will sich an Gott und dessen Umgang gewöhnen", Nr. 80: „Der selige Wandel in der Gegenwart Gottes" und Nr. 58, die lange Reimbetrachtung über den „Stand der Gegenwart Gottes"; s. aber auch Lieder wie Nr. 21 und 24, die ebenfalls ausfuhrlich von der Gegenwart Gottes handeln, aber genausowenig aufJesus Christus Bezug nehmen. 7 7 So Hermann Tögel über Tersteegen in Bilder deutscher Frömmigkeit, S. 161, mitgeteilt bei A. Löschhorn, Ich bete an a.a.O. S. 7. 7 8 RE 190 (2) = GR 388. 7 9 RE 127 (1) = GR 361. 8 0 RE I 28 (1) = GR 361; hier sei noch vermerkt, daß Tersteegen in die Allgegenwart Christi sogar seine Ämter ausdrücklich einschließt. So beginnt er z. B. eine Versammlung mit dem Gebet, Jesus möchte als „unser großer Hoherpriester, Prophet und König" alle Herzen vor seiner erhabenen Majestät vereinen, „sie in die Allgegenwart derselben" stellen, damit sie ihn als ihren „gegenwärtigen Hohepriester, Prophet und König" würdig verehren und anbeten möchten. RE III 157 f. (4) = GR 95. 8 1 RE II 259 (6) = GR 332. 8 2 Ebd.

116

Selbst das Briefeschreiben erledigt Tersteegen als „In seiner göttlichen Gegenwart sitzend.. , " 8 3 . Demnach steht der Gegenwart Gottes ein ebenso deutliches Reden von der Gegenwart Jesu gegenüber 8 4 . Was bedeutet diese Doppelheit? Stehen dahinter zwei voneinander unabhängige Gegenwartserfahrungen 8 5 ? Die Verflechtung der beiden Ausdrucksweisen gibt eine deutliche Antwort. Gott und Christus sind bisweilen Subjekt ein und desselben Satzes, so daß man nicht zu Unrecht von einem „naiven Modalismus" bei Tersteegen gesprochen hat 8 6 . Seine Auslegung über die „Wolken- und Feuersäule", die das Volk Gottes durch die Wüste fuhrt, ist reich an derartigen Belegen. So sieht er in diesem Zeichen der „Gegenwart des H e r r n " 8 7 „nichts anders als unsern liebsten HeilandJesum.. ,"88. An anderer Stelle heißt es: „Gott müssen wir in unserm Herzen suchen; wo aber Gott ist, wo Jesus ist, da ist auch der Himmel. " 8 9 Insbesondere gibt ihm der Immanuel-Name immer wieder Gelegenheit zu modalistischen Äußerungen: „O Jesu Immanuel, Gott mit uns, Gott unter uns, Gott in unserm Herzen . . . " 9 0 Demnach können Gott und Christus als Objekte der Gegenwartserfahrung beliebig wechseln 9 1 . N i m m t man noch hinzu, daß bei Tersteegen gelegentlich auch die Dreieinigkeit als sein religiöses Gegenüber bezeichnet wird, ohne daß sich eine Veränderung in der Art der Gegenwartserfahrung erkennen läßt 9 2 , so bestäB R II 70 (26); vgl. B R III 361 (119). Als weitere Belege s. R E IV 63 (2) = G R 595; 23 (1) = G R 274; B R IV 212 (86); s. a. die Zitate, die Löschhorn zum Thema „Gegenwart Jesu Christi" zusammenstellt. (Ich bete an a.a.O. S. 42ff.) 8 5 So offenbar A. Löschhorn, wenn er zunächst von der Gegenwart Jesu Christi handelt (ebd.) und dann noch einmal einen weitgehend gleichen Sachverhalt unter der Überschrift „Gottes Gegenwart" abhandelt (ebd. 72 ff). Allerdings berichtet Löschhorn dann ebenfalls, wie sich diese beiden Ausdrucksweisen gegenseitig durchdringen, nur ist damit nachträglich die ganze Unterscheidung als eigentlich unangemessen erwiesen. 8 6 So A. Löschhorn, Ich bete an a.a.O. S. 101. 8 7 S. B L 472 (3,62.12). 8 8 R E IV 15 (1) = G R 271; dort noch viele ähnliche Belege. 8 9 R E III 12 (1) = G R 80. 9 0 R E 148 (1) = GR 370; vgl. B L 419 (3,46.6). 9 1 Zu gleichem Ergebnis kommt auch F. Winter, Die Frömmigkeit, a.a.O. S. 101. Dieser Sachverhalt ist alles andere als selbstverständlich. Man vergleiche nur, wie klar und bestimmt etwa Theresia von Avila zwischen der Gegenwart Jesu Christi und der Gegenwart Gottes sowie der Gegenwart des dreieinigen Gottes unterscheidet. Dies ist Tersteegen genauestens bekannt gewesen, da er j a aus ihrem Leben ausfuhrlich berichtet; vgl. Leben a.a.O. S. 98; 251 u. 462 ff. 9 2 S. B R II 96 f. (34), wo Tersteegen einen Bruder ermuntert, er möchte Jesus Christus nötigen, daß „der dreieinige Gott also in uns sein Reich möge haben, und sein Heiligthum, 83

84

117

tigt sich hierin noch einmal die anfängliche Vermutung: Aus der Gegenwartserfahrung selbst geht keine eindeutige Auskunft über das Objekt der Erfahrung hervor. Was da gegenwärtig ist und eine ehrfürchtige oder kindliche Andacht erweckt, ist zweifellos etwas Personhaftes, aber ob Tersteegen es als Majestät des Vaters oder des erhöhten Christus, ob er es als väterliche Autorität des Schöpfers oder des Schöpfungsmittlers, ob er es überhaupt als Vater oder nicht sogar als Mutter, kurz, ob er es als Gegenwart Gottes oder als Gegenwart Jesu Christi deutet, hängt offenbar wesentlich davon ab, in welchem Deutungsrahmen er seine Gebetserfahrung reflektiert. „Die Gottheit ist nur eins und dir im Grunde nah . . . " 9 3

Alle Variation und Konkretheit ist abgeleitet. Jenes Etwas ist und bleibt ein „Geheimer", den auch Tersteegen „nicht zu nennen w e i ß . . . " 9 4 . Tersteegen äußert sich selbst einmal explizit zu diesem Befund und bestätigt damit die Verflochtenheit der personalen Umschreibungsformen für die Objekterfahrung. In einem ausfuhrlichen Brief zum inneren Gebet und zum Thema der Gegenwart Gottes schreibt er: „Dieses a n b e t h u n g s - u n d l i e b e n s w ü r d i g e Wesen ist uns aber nicht n u r g e g e n w ä r t i g als Gott, s o n d e r n auch als unser Gott in C h r i s t o Jesu; als G o t t m i t uns; als unser Erlöser, Heiland u n d w a h r e r Seelenfreund . . , " 9 5

Friedrich Winter und Albrecht Löschhorn haben an dieser Stelle mit Genugtuung herausgestrichen, daß der innig-nahe Gott Tersteegens kein inhaltsloser, allgemein gegenwärtiger Gott ist, „sondern ein ganz konkretes Gesicht, nämlich ,Christus' hat, und in dieser Konkretheit das ganze Leben b e s t i m m t . . ." 9 6 . Wenn es tatsächlich stimmt, daß Tersteegen sich damit von der „Inhaltslosigkeit" des quietistischen Gottesbegriffs wohltuend abhebt, so muß doch deutlich unterschieden werden zwischen der Konkretheit der Aussage und der Konkretheit der zugrunde liegenden Gotteserfahrung. Es ist vor allem die enge Bindung Tersteegens an das pietistische Jesusbild, das dem Göttlichen in der Gegenwartserfahrung Anschaulichkeit verleiht. Die Objekterfahrung selber scheint ebenso unfaßlich wie die seiner quietistischen Vorläufer, die man dafür so einhellig zu verurteilen pflegt. Aber weil jede Empfindung als ausgesprochene Empfindung immer schon Deutung einschließt, ist dieses pietistische Sprachgewand insofern doch wieder ein Ausdruck seiner Verwurzelung im heimischen Kirchentum. So spricht er etwa einem Freund

worin er ohne Aufhören im Geist und in der Wahrheit möge angebethet . . . werden". Vgl. WW 345 (9,18) u. RE III 32 (1) = GR 88; s. a. BL 501 f. (3,75). 93 BL 38 (1,13). 54 S. o. S. l l O A n m . 25. 95 B R I 186 (72). 96 So F. Winter, Frömmigkeit a.a.O. S. lOOf.; A. Löschhorn, Ich bete an a.a.O. S. 77 u. 102.

118

gegenüber, der über seine inneren Erfahrungen Klarheit sucht, nicht einfach von der allgemeinen Gegenwart Gottes, sondern sagt: „Ja, wahrlich! es ist Jesus, der ihm solchergestalt inwendig begegnet." 97

B. Das Gefühl der Ehrfurcht „Wer dich in deinem Licht erblickt, In seiner Seele Grund, Gleichwie der Cherubin, gebückt, Dich ehrt zu aller Stund." 9 8

Während Gott selbst sich in der Gegenwartserfahrung „wie mit einer Wolke... bedecket" hat, um den Menschen vor „seiner allerheiligsten Gottheit" zu schützen", tritt das, was damit im Menschen ausgelöst ist, um so klarer hervor: ein Gefühl der Ehrfurcht und des Schweigens. „Da wird durch seine Gegenwart eine süße Ehrfurcht mitgetheilet, die alle Kräfte der Seele zum Stillseyn und Schweigen bringet." 100

Solange dies noch nicht geschieht, hält sich Gott noch verborgen und es bleibt Zeit, sich „von unserer Seite... durchs Gebeth und durch die Verleugnung" darauf vorzubereiten 101 . Das Auftreten der Ehrfurcht ist somit das erste Erkennungszeichen der Gegenwart Gottes. Í. Schaudernde Ehrßtrcht: ein Niederfallen und

Schweigen

Einem Menschen, der sündigt, kann Gott „nicht anders vorkommen als ein schrecklicher Gott und als ein zorniges Wesen.. ." 102 . Seine göttliche Majestät wird ihm wie ein „Schrecken, Zurückstoßen und die Hölle" begegnen 103 . So folgt auf den Ruf der Seraphinen „O Heilig, Heilig, Heil'ger du!"

die bange Frage des Beters: „Wo soll denn ich Unreiner bleiben? Und machst dich Sündern nicht gemein Und wer wird ohne Tadel sein? -" 1 0 4

97

BRÌI294(97). BL 370 (3,24.6). 99 RE IV 16(1) = GR 271. 100 BR III 103 (34). 98

101

Ebd. 104. RE 1257 (6) = GR 462. 103 w w 208 (5,2.Anh. 9). 104 BL 554 (3,98.20). 102

119

Niemand könnte es ertragen, „wenn der heilige Gott in seiner Heiligkeit sich zu uns nahete, wenn er mit der Stimme seiner Gerechtigkeit zu uns redete; darum nahet er sich durch Jesum Christum zu uns" 1 0 5 . Durch Christus ist Gott uns nahe gekommen 1 0 6 , durch ihn sind wir vor seinem Z o r n verschont 1 0 7 , durch ihn begegnet uns Gott wieder in einem „liebenswürdigen heiligen Angesichte.. ." 1 0 8 . So schwebt das Gefühl der Ehrfurcht über einem Untergrund der Furcht und des Erschreckens. Die Eigenart der E m p f i n d u n g äußert sich in zwei Reaktionen, die Tersteegen als „Beugen" und als „Schweigen" beschreibt. „Sollt' sich nicht mein Alles beugen Und in Liebesehrfurcht schweigen, Da ich, wo ich geh und steh, Meinen Gott vor Augen seh!"109 Bezüglich des Beugens steht ihm die Anbetung der Engel vor Augen, denn „Sie fallen nieder allzumal" 1 1 0 , sie dienen „Gebückt der ew'gen Gottheit. . ," 1 1 1 . Hierzu drängt es den Menschen sobald er die Nähe Gottes verspürt. „O Majestät, wir fallen nieder . . ," 112 „Wir beugen uns mit ohne Ende . . ," 113 Dies Beugen ist für Tersteegen mehr ein geistiger als ein leiblicher Akt, eine Geste schweigender Anbetung, die die Erhabenheit Gottes ehrt, indem man sich bedingungslos unterwirft und damit die eigene Niedrigkeit zum Ausdruck bringt. „Ehrfurcht und U n t e r w e r f u n g " sind die Kennzeichen dieser Anbetung 1 1 4 . Wer in der Gegenwart Gottes verweilen kann, verweilt in dieser Haltung. So gesteht Tersteegen seinem Freund Engelbert Evertsen einmal in vertraulichem Gespräch, daß er in seinem Inneren „ein immerwährendes Beugen und Anbethen" bewahre 1 1 5 . Ehrfurcht gebietet Schweigen.

105

107 RE II 258f. (6) = GR 332. BL 380 (3,30.3). 108 BR IV 56 (21). RE 1257 (6) = GR 462. 109 BL 511 (3,80.6); s. a. 131 (1,438); 619 (FL 141) u. 593 (FL 12): „Wer Gott k o m m t nah, der lernet schweigen U n d sich in stiller Ehrfurcht beugen. " 110 BL 498 (3,74.2), s. a. 365 (3,22.2). 111 BL 607 (FL 84); s. dazu den ganzen Vers: „Ein englisches Werk Jetzt eben alle Cherubinen/Gebückt der ew'gen Gottheit dienen Gott ist dir nahe, wie du weißt,/ So beuge dich denn mit im Geist!" 112 BL 498 (3,74.1). 113 BL 537 (3,93.7). 114 RE II 138 (3) = GR 206. 115 BR III LE II 114. 106

120

„Die höchste Majestät ist wert, Daß sie mit Schweigen wird geehrt." 116

Immer dann, wenn Gott sich in seiner Erhabenheit zu erkennen gibt, verstummt der Mensch. Diese Reaktion ist so zwangsläufig, daß auch die Umkehrung des Satzes gilt und man sagen kann: „Am Schweigen werden sie erkannt, Die Gott im Herzen tragen. " 1 1 7

Dieses Schweigen ist mehr als ein äußerliches Verstummen. Es betrifft vor allem das unaufhörliche Geschwätz der Gedanken. Schweigen ist Inbegriff von Rezeptivität. Wer Gott in seiner Majestät gegenwärtig sieht, kann nichts anderes nebenher tun oder denken. Selbst Worte und Gedanken stören. N u r im Verstummen bleibt seine Erhabenheit unverletzt. Darum ist das Schweigen ein Ausdruck höchster Ehrerbietung 118 . Unter allen seelischen Reaktionen, die von der Gegenwart Gottes ausgehen, hat dieses Gefühl der Ehrfurcht einen besonderen Rang, denn es ist die einzige Äußerung, die unverändert bleibt. Alle anderen treten zu verschiedenen Zeiten mehr oder weniger deutlich hervor. Diese aber bleibt und äußert sich gerade am Ende des geistlichen Weges besonders klar, weshalb Tersteegen die letzte Stufe des Gebetes nach diesem Eindruck benennt und sie als „Liebe der Hochschätzung" bezeichnet. Während alle anderen Gefühlsreaktionen variieren und schließlich in der „Dunklen Nacht" der Empfindungen wieder verschwinden, bewahrt allein das Gefühl „stiller Ehrfurcht" das Wissen u m die Gegenwart Gottes. Tersteegen beschreibt diesen Zustand, indem er ihn zunächst gegen den Stand der geistlichen Empfindungen und den der innigen Zuneigung abgrenzt, weil sich das, was diesen Stand kennzeichnet, „ohne alles obgemeldete" in der Seele befinden kann, „so gar in aller Dürre, Dunkelheit und Blöße" 119 . 2. Kindliche Ehrfiircht: ein Geßihl der Abhängigkeit „Laß mich abhängig fur und fur Und dir gelassen leben!" 120

Die Ehrfurcht wandelt ihre Ausdrucksformen, wenn statt der Erhabenheit oder Majestät Gottes das Antlitz Christi hervortritt. Gottes Gegenwart gewinnt darüber einen liebevollen, vertrauten Ausdruck, unter dem sich der

116

BL 79 (1,189); vgl. BL 619 (FL 141). BL 458 (3,58.45); s. a. BR III (Regel IV), w o es heißt: „Der Schwätzgeist ist eine . . . Verläugnung der göttlichen Gegen wart. " 118 S. BL 619 (FL 141). 119 BR IV 256 (107). 120 BL 311 (3,1.11); vgl. 602 (FL 58) u. 666 (FL 375). 117

121

Beter als ein Kind empfindet und mit „kindlicher Ehrfurcht" 1 2 1 antwortet. Diese Gestalt der Ehrfurcht äußert sich in einem „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit". Tersteegen beschreibt es so: „ I c h h a b e e i n e n u n a u s l ö s c h l i c h e n E i n d r u c k in m i r , d a ß n u r E r in m i r h e r r s c h e n , leben

und

Alles

werden

muß

nach

dem

Reichthum

seiner

Herrlichkeit

in

Christo."122

Er fühlt sich in völliger „Abhängigkeit von dem inwendigen Führer" 1 2 3 , sein „Gemüth" sagt ihm, daß er sich allein „blind und willenlos mit Gottes Vorsehung und Führung zu vereinigen" habe 124 ; „in der bloßen Abhängigkeit vom Herrn" erkennt er von nun an sein einziges Heil 125 . Dabei fällt auf die Geburt Jesu ein besonderes Licht, denn in der Kindheit des Gottessohnes findet Tersteegen die Haltung paradigmatisch vorgebildet. Er schreibt: „ M i r d ä u c h t , d i e G e b u r t J e s u . . . ist f ü r u n s ein B r u n n e n d i e s e s s ü ß e n L e b e n s d e r Abhängigkeit und Einfalt . . , " 1 2 6

Somit entspricht dem Eindruck einer väterlichen Gegenwärtigkeit Gottes, daß der Beter bereit ist, „Alles mit Ehrfurcht aus des Vaters Hand (zu) empfangen" und sich auf seine „Führung ganz (zu) verlassen" 127 . Wie entfaltet sich dieses Gefühl der Abhängigkeit? Tersteegen unterscheidet die Überlassung an Gottes Führung bezüglich eines inneren und eines äußeren Erfahrungsbereiches. So spricht er einerseits von der Aufmerksamkeit auf Gottes „Wirken im Innern" und andererseits von der Hingabe an seine „Vorsehung im Aeußern.. ," 1 2 8 . Zunächst die Überlassung im Äußeren: Wir spüren, daß wir „unverständige Kinder" sind 129 , nicht wissen, was für uns das Beste ist, sondern nur dies eine wissen, „daß alle Handlungen unsers guten Gottes und Vaters aus Weisheit und Güte entspringen..." 1 3 0 . Das Wissen wirkt in der Weise unmittelbar, als es für den Augenblick das Fallenlassen aller Sorgen und vorausgreifenden Gedanken bedeutet. Weil man unter der Vorsehung eines 121 WW 395 (12,20); s.a. 342 (9,14); gelegentlich spricht Tersteegen auch von „süßer Furcht", so B L 131 (1,438) vgl. B R III 103 (34). B R holl 146 (62) = B R N S 304 (201). B R III L E 57; s. a. B R holl 210 (92). 1 2 4 B R holl 162 (68) = B R N S 16 (9). 1 2 5 B R holl 176 (76) = B R N S 237 (150); s. a. B L 48 (1,59): „Abhängigkeit bringt Heiligkeit . . . " 1 2 6 B R h o l l 210 (92) = B R N S 179 (116). 1 2 7 B R holl 80 (33) = B R N S 276 (181). 1 2 8 B R holl 74 (29) = B R N S 273 (177); vgl. B R holl 39 (12) = B R N S 25 (14), w o Tersteegen schreibt: „Seine Führung im Innern und seine Vorsehung im Aeußern über uns geht mit großer Weisheit und Güte vor sich; möchten wir uns ihr nur recht innig überlassen und auf sie merken. " Der ganze Brief handelt von dieser Unterscheidung. S. a. B R I 138 f. (56); B R II 285 (94); B R holl 156 (66); R E IV 40(1). 1 2 9 B R holl 80 (33) = B R N S 276 (181). 1 3 0 Ebd. 3. 122 123

122

himmlischen Vaters lebt und damit „unter einer genauen Aufsicht und Bewahrung" steht, ist man „aller andern Sorgen gänzlich überhoben.. ," 131 . „Du darfst . . . nicht mehr sorgen, was du essen und trinken und womit du dich bekleiden werdest, wie und welcher Gestalt es dir hinfort nach Leib und Seele ergehen werde. Nein, sondern ich werde für alles sorgen; ich werde alles gut machen . . ," 1 3 2

Damit wird der Beter von seinen Zukunftssorgen abgelöst und in den gegenwärtigen Augenblick zurückversetzt. Aber auch auf die Gegenwart bezogen übt das Gefühl kindlicher Abhängigkeit eine befreiende Wirkung aus. Es beendet die Unzufriedenheit, weil es den augenblicklichen Zustand als von Gott gewollt ansieht. „Gleichwie uns aber die Ueberlassung an die göttliche Vorsehung unbekümmert macht, wegen des Zukünftigen, so wird sie uns nicht weniger geduldig und treu machen in Ansehung des Gegenwärtigen. Alles was uns von allen Seiten, und aller Augenblicke begegnet, kommt nicht von Osten oder Westen, sondern von der weisesten Hand der göttlichen Vorsehung zu unserm Beßten. (Rom. 8, 28. Weish. 7, 12) Wer sollte denn nicht in allem geduldig und wohl zufrieden seyn?" 133

Wer in der Gegenwart Gottes „eingeschlossen" lebt, lernt somit alles, was geschieht, „von des Herrn Fügung" anzunehmen, nichts trifft ihn „durch Zufall" 134 . So erinnert Tersteegen eine Schwester, die wieder einmal krank liegt, an dieses Bild: „So macht es unser weiser, guter himmlischer Vater mit seinen Gnadenkindern; bald kleidet er sie schön, nimmt ihrer etliche mit sich in den Lustgarten, gibt ihnen eine Kindermahlzeit, und manch schönes Blümlein zu sehen und zu riechen, usw. A m Abend gehen sie wieder heim; und bringen noch was mit heim von den schönen Sachen; des folgenden Tages aber müßen sie wieder in die Schule gehen und ihre Lection lernen; und unter solchen Abwechslungen wachsen sie heran, und werden gute, geschickte Kinder." 1 3 5

Gerade darin, daß Gott auch „Lektionen" aufgibt, erweist er sich als der wahre Vater, dessen „Regirung" man sich „kindlich überlaßen" kann 136 . Aber die Abhängigkeit von Gottes „Vorsehung" bedeutet nicht nur das Ende jeder planenden und sorgenden Vorausschau sowie aller Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen Geschick, sondern auch das Verweilen in reiner Gegenwärtigkeit 137 . In einem seiner Briefe nach Holland beschreibt er dieses neuartige Zeitgefühl folgendermaßen: 131 132 133 134 135 136 137

RE IV 349 (7) = GR 250. Ebd. BRI70(24). BR holl 63 (23) = BR NS 161 (101). BR IV 143 (58). Ebd. Zum Phänomen temporärer Gegenwartserfahrung s. besonders den Artikel „Gegen-

123

„Wie es in der Ewigkeit kein Gestern, kein Morgen, sondern nur immer ein Heute gibt, so vermag eine Seele, die Gott innig nahe g e k o m m e n ist, nicht mehr zurück und voraus zu denken. Es ist, als o b man einen Augenblick erlebte, der e w i g dauert; man kann sich und seine Angelegenheiten, so körperliche als geistige, nicht mehr nach seiner eigenen Weisheit regieren, anordnen oder leiten, sondern m u ß sich hingeben; mit einem Worte: man muß ein kleines Kindlein werden und bleiben." 1 3 8

Das Kind kennt nur den Augenblick, es „sorgt nicht vorwärts noch zurück"139. Es trägt nur das, „was es gegenwärtig fühlt"140: „Es weint, w a n n es die Leiden fühlt, und i m Augenblick lacht es, w a n n es die Mutter siehet." 1 4 1

In dieser Unmittelbarkeit liegt „das verlorene Paradies"142. „Dies Nun kann alles g e b e n . . . " 143 Wie ein „immerwährend sel'ges Heut" 144 erscheint die Gegenwart Gottes nach ihrer zeitlichen Dimension. Das Verweilen darin erlebt Tersteegen als so dermaßen schön, daß er schreibt: „Nichts ist schöner, als i m gegenwärtigen Augenblick ohne Form oder Bild hingegeben an Gott zu leben . . ," 1 4 5

Damit ist der „gegenwärtige Augenblick", das „stille Nu" 1 4 6 die besondere Zeitform des Göttlichen. Im „Nun der Ewigkeit kann Gott geschauet werden" 147 . Man muß sich aber „aus aller Zeit" 148 lösen können, um für diese Erfahrung offen zu sein, denn Gottes Offenbarwerden und das Verweilenkönnen im Augenblick sind für Tersteegen aufs engste verbunden. Darum gilt nicht nur, daß die Gegenwart Gottes den Menschen in reine Gegenwärtigkeit versetzt, sondern auch umgekehrt, daß die Zuwendung zum Augenblick den Menschen direkt in die Gegenwart Gottes zurückversetzt. Wiederholt begegnen darum Anweisungen wie diese: wart" in HWbPh III 136-140 und die dortigen Literaturhinweise. Verwiesen sei hier besonders auf Augustinus, Confessiones 1. XXI c 28; und S. Kierkegaard zum Begriff des Augenblicks im Begriff Angst, Samlede Vxrker 2 Bd. 4S. 388-390 u. 393-397 u. ö.; s. dazu HWbPh I Sp. 649f. aber auch N. Bcrdjajeff, Das Ich und die Welt der Objekte, Darmstadt 1951 S. 165-202. Außerdem sei hier auf die Bedeutung der „lebendigen Gegenwart" bei E. Husserl hingewiesen. S. dazu K. Held, Lebendige Gegenwart, Die Frage nach der Seinsweise des transzendentalen Ich bei E. Husserl, entwickelt am Leitfaden der Zeitproblematik, Den Haag 1966. 138 BR holl 36 (11) = BR NS 220 (140); vgl. BL 65 (1,136), ein Schlußreim mit der Überschrift: „Immer im Gegenwärtigen". 139 BL422 (3,48.7); vgl. 421 (3,47.5); BR 170 (24). 140 BR III 439 (143); vgl. BL 651 (FL 303). 141 Ebd. 142 B R I 3 9 5 (141). 143 BL 449 (3,58.9). 144 Ebd. 145 BR holl 133 (57) = BR NS 296 (196). 146 BL 151 (1,514); s. a. BR 1242 (90). 147 BL 74 (1,173); vgl. 89 (1,246); 151 (1,514); 153 (1,520); 364 (3,21.9); 370 (3,25.1); 421 (3,47.5); 447 (3,58.9); u. 549 (3,98.8). 148 BL 370 (3,25.1).

124

„Der gegenwärtige Augenblick m u ß eure W o h n u n g werden, . . . Denket ihr voraus oder zurück, so seyd ihr schon in U n r u h u n d Zweifel . . . " 1 4 9

Somit hat die „Gegenwart" Gottes auch einen zeitlichen Aspekt. Sie meint nicht nur die räumliche Nähe, sondern qualifiziert zugleich den Augenblick als das Zeitmaß der Gotteserfahrung. Was wir im gegenwärtigen Augenblick zu tun oder zu erleiden haben, ist das, was Gott uns gibt oder verwehrt. So hat die Gegenwart im zeitlichen eine eigene Dignität. Wo immer ein Mensch im Augenblick lebt und im Gegenwärtigen verweilen kann, ist er in irgendeiner Weise von etwas ergriffen und gehalten, was er nicht selber ist. Der Eindruck, von einem himmlischen Vater geführt zu werden, befreit zu reiner Gegenwärtigkeit. Solche Erfahrung liegt zugrunde, wenn Tersteegen schreibt: „Im Gegenwärtigen dich halten U n d die Vorsehung lassen walten, Erleichtert u n d befördert dich." 1 5 0

Aus einem zweiten Grunde gehört die Abhängigkeit von dem, was der Augenblick bringt, zu den wesentlichen Reaktionen der tersteegenschen Gegenwartserfahrung. Das Verweilen im Hier und Jetzt eröffnet den Z u gang zu Gottes „Führung im Innern". Er bezeichnet sie als „Abhängigkeit von dem inwendigen Führer im gegenwärtigen Augenblick" 1 5 1 und meint damit die Erfahrung, daß Christus im Menschen „denken, wollen, wirken und leben" wird, sobald er nur sein „eigenes Denken, Wollen und Wirken in seiner G e g e n w a r t . . . stille werden läßt 152 . Wer fur das gegenwärtige Handeln Gottes offen ist, verspürt die Wirkungen seines Geistes, nimmt die „Züge" und „Neigungen" wahr, mit denen er auf die Seele einwirkt und folgt diesem inneren Führer. Wir werden an späterer Stelle über den Charakter dieser „Neigungen" zu handeln haben 153 , hier k o m m t es darauf an, daß Tersteegen die Abhängigkeit von den inneren Wirkungen Gottes etwa so empfindet, als würde er „gleichsam bei der Hand" genommen 1 5 4 oder wie „von Hinten am Leitband" gefuhrt 1 5 5 . Immer wieder begegnet dieses Bild: „Ein Kind, das am Leitband gehet, w i r d so gelenket, so gehalten: es gehet zwar frei und uneingeschränkt; sollte es aber in den K o t h wollen laufen, oder sonst eine Schande zu befurchten seyn, alsobald w ü r d e es fühlen, daß es hinten v o n uns gehalten w ü r d e . " 1 5 6 149 ls

B R II 128 (40); v g l . B R III 383 (127); 3 9 3 (129); IV 2 0 4 (83); B R h o l l 6 0 (21); B R III LE 58. ° B L 90 (1,251); v g l . 9 4 (1,271); 6 1 0 (FL 95).

151

B R III LE 57.

152

B R IV 2 1 4 (87).

153

S. unten S. 2 9 2 - 3 0 9 . R E III 206 (4) = G R 115.

154 155 156

B R II 121 (40); s. a. R E III 206 (4) = G R 115. R E IV 4 2 3 (9) = G R 22.

125

Auf solche Art sieht sich der Beter von Gott gefuhrt. Durch einen „geheimen Zug" im Innern zeigt Gott ihm an, „was ihm mißfällig, was richtig und was unrichtig ist" 157 , und macht ihn damit „in allen undjeden Stücken" von seinem Willen „abhänglich" 158 . Z u m Beleg für diese innere Führung durch den Geist Gottes fuhrt Tersteegen sogar einmal Luther zum Zeugen an: „ O b der heilige Geist unter solchen Gedanken käme oder selbst anfinge in deinem Herzen zu predigen, mit reichlich erleuchteten Gedanken (cum splendidis e t l u m i n o sis cogitatis), so erweise ihm die Ehre, daß du deine gefaßten Gedanken fahren lässest. Sei still und höre ihm zu, der besser predigen kann als du, und was er prediget, das merke und schreibe auf, so wirst du Wunder erfahren. Lutherus Tom. VI. Altenb. fol. 473. " 1 S 9

Das Gefühl der Abhängigkeit von den „Zügen" und „Neigungen" Gottes tritt vor allem im Stande kindlicher Einfalt hervor. Hier werden diese Einwirkungen am deutlichsten erfahren und geben diesem Stand jenes Gepräge von Kindlichkeit. Dagegen sagt Tersteegen später von sich, daß er „keine so merklichen Mittheilungen" in seinem Inwendigen mehr hat 160 . Dafür tritt das Gefühl, von Gottes Vorsehung abhängig zu sein, gerade in dem Stand innerer Dunkelheit besonders hervor. So schreibt er an der gleichen Stelle, daß er sich um so mehr dem überlassen möchte, „was seine Vorsehung von Augenblick zu Augenblick, zu thun und zu leiden geben m ö c h t e . . ," 1 6 1 . Die Abhängigkeit von der inneren oder äußeren Führung Gottes tritt somit jeweils unterschiedlich klar hervor. Zusammenfassung

Der Eindruck, von etwas in kindlicher Weise abhängig zu sein, deutet auf ein Gegenüber, das Tersteegen als väterlich oder mütterlich beschreibt. Das Gefühl, vor Gott niederzufallen und schweigen zu müssen, verweist auf etwas Personhaftes, das majestätisch und erhaben erscheint. Auffällig bleibt die Unschärfe in der näheren Umschreibung des Göttlichen, während die Reaktionen auf das, was sich mitteilt, wesentlich klarer hervortreten. So redet Tersteegen nahezu gleichbedeutend von der Gegenwart Gottes und der Gegenwart Christi. Auch die personalen Charakteristika sind weitgehend austauschbar. Allerdings sind die Personen insofern unterschieden, als Christus für den Mystiker der Ermöglichungsgrund ist, um Gott Vater zu nennen. Das Moment des Majestätischen bewirkt eine Haltung völliger Unterwerfung und schweigender Anbetung. Sie gilt als die einzige Gefühlsreaktion, die durch alle Stufen mystischer Gotteserfahrung gewahrt bleibt. 157

R E III 2 0 5 (4) = G R 115.

160

B R III LE 63.

R E III 4 3 3 (8) = G R 588. 159 W W 7 4 (1,11 A n m . b).

161

Ebd.

158

126

Das M o m e n t des Väterlichen w e c k t ein G e f ü h l der Abhängigkeit, das sich s o w o h l auf die äußeren als auch auf die inneren Erfahrungsbereiche erstreckt. I m Ä u ß e r e n regiert Gottes „Vorsehung", i m Inneren seine „ F ü h r u n g " . A u s d e m Wissen u m Gottes Vorsehung ergibt sich der Impuls, alles eigene S o r g e n zu lassen u n d sich ganz d e m A u g e n b l i c k auszusetzen, w o b e i letzteres den Z u g a n g zu Gottes innerer F ü h r u n g erschließt. Dies geschieht d u r c h geistige E i n w i r k u n g e n auf das Innere, d u r c h die der Beter spürt, daß i h m das Gesetz Gottes ins H e r z geschrieben w i r d u n d er sich v o n Gottes „ Z ü g e n " leiten lassen soll.

III. Gott als die „Luft, die alles füllet" D i e f o l g e n d e n Bilder betrachten die G e g e n w a r t Gottes aus einem neuen Blickwinkel. Sie stehen nicht beziehungslos, s o n d e r n geradezu antithetisch d e m Jesaj azitat gegenüber. Es relativiert die Personhaftigkeit Gottes, w e n n G o t t Luft, M e e r u n d Licht g e n a n n t wird. N i c h t , daß das G e g e n ü b e r in Tersteegens Gebetserfahr u n g letztlich doch etwas Unpersönliches wäre, aber das personale I c h - D u Verhältnis k a n n etwas Wesentliches an dieser E r f a h r u n g verdecken. Alles Seiende lebt v o n der G e g e n w a r t Gottes, u n d zwar nicht in personaler Abhängigkeit, sondern in einer Weise inneren D u r c h d r u n g e n s e i n s . Ist n u n der M e n s c h ontologisch betrachtet w e n i g e r mit G o t t v e r b u n d e n als die sonstige N a t u r ? K a n n er sich d a m i t b e g n ü g e n , v o n seiner Gottesbezogenheit so zu reden, daß zwischen seinem Ich u n d d e m göttlichen D u f o r t w ä h r e n d unterschieden w e r d e n m u ß ? Z w a r offenbart das B e w u ß t w e r d e n der G e g e n w a r t Gottes erst einmal die tiefe K l u f t zwischen d e m eigenen u n d d e m göttlichen Wesen, aber die W i r k s a m k e i t dieser E r f a h r u n g besteht nicht i m Aufrechterhalten dieses Gegensatzes, sondern i m Verschwinden des Ich v o r der Ü b e r m a c h t des D u : „Laß mich ganz verschwinden, Dich nur sehn und finden!" In d e m Maße, wie das B e w u ß t s e i n e i n g e n o m m e n w i r d v o n der G e g e n w a r t Gottes, vergißt es sich selbst u n d läßt G o t t allein „alles in allem in uns seyn" 1 . Wer in der G e g e n w a r t Gottes steht, leidet an der U n t e r s c h e i d u n g v o n Ich u n d D u , solange das Ich n o c h etwas ist, das nicht G o t t allein zukommt. D a r u m w e h r t sich der M y s t i k e r dagegen, G o t t n u r als personales G e g e n über zu betrachten. Wo i m m e r er Gottes A l l g e g e n w a r t erkennt u n d sich 1

BRI43 (14). 127

selbst als Teil seiner Schöpfung darin einbezogen sieht, möchte er in überpersonalen Bildern von dieser Erfahrung reden. Tersteegen verwendet dafür Bilder der Natur. Aber sie sind nicht zufällig gewählt. Was könnte die Allgegenwart Gottes elementarer verkörpern als der Vergleich mit den Grundelementen Luft, Wasser, Licht. In den Elementen selbst liegt etwas Rätselhaftes, das geeignet ist, für das Geheimnis der Gegenwart Gottes Zeichen zu sein. Bei aller Selbstverständlichkeit, mit der sie uns umgeben, birgt ihr Wesen doch auch etwas Wundersames, das Staunen erwecken kann.

A. Das Gewahrwerden der Allgegenwärtigkeit Gottes Die Einsicht, daß die Luft als das unscheinbarste aller Elemente dennoch „Aller Dinge Grund und Leben" ist, wird dem Menschen nur zuteil in der Weise eines plötzlichen, verwundernden Gewahrwerdens. Diese eigentümliche Form des Vernehmens von Wirklichkeit ist dem Offenbarwerden der Gegenwart Gottes nicht unähnlich, besagt darum mehr über diese Erfahrung als selbst eine Vielzahl abstrakter Begriffe ausdrücken könnte. Sie beinhaltet etwas über den Stimmungsgehalt, der sich mit dieser Einsicht verbindet. 1. Eine „naturhafte"

Verbundenheit

Nichts ist uns näher, nichts ist lebensnotwendiger als die Luft zum Atmen: „Die Luft, worin wir leben, ist uns nahe, die Luft ist in uns, und wir sind in der Luft . . . "

Aber ist dieses überraschende Berührtwerden von ihrem Wesen bereits das Erstaunen vor der Gottheit selbst? Tersteegen fährt in diesem Brief fort: „. . . Gott ist uns unendlich näher; wir leben und schweben in Gott; wir essen, trinken und arbeiten in Gott; wir denken in Gott; und wer Sünde thut (erschrick nicht, daß ich so rede) der sündigt in Gott."2

Gottes Nähe hat wohl eine Entsprechung zu der alles umgebenden Luft, ist aber nicht einfach nur in quantitativem Sinn näher. Gottes Nähe ist immer noch etwas ganz anderes. Diese Unvergleichlichkeit kommt zum Ausdruck, wenn er anschließend schreibt: „Diese Gegenwart Gottes ist unbegreiflich; wir können und müßen uns kein Bild davon machen, sondern es nur so einfältig glauben. " 3 2 3

128

BRÌI295f. (98). Ebd. 296.

Gott ist nicht die „Luft, die alles füllet . . . " 4 . Aber gibt es etwas, daß die geradezu naturhafte Lebensnotwendigkeit, die die Gegenwart Gottes fur Tersteegen bedeutet, klarer zur Sprache bringt als dieser Vergleich mit der verborgenen Abhängigkeit unseres Körpers v o n der Luft? „Einige Dinge sind in der Welt, in der Natur, die unentbehrlich nothwendig sind, ζ. B. die Speise, die kann man nicht entbehren; wann wir die nicht haben, müssen wir sterben; desgleichen die Luft, worin wir leben; wann wir die nicht haben, so müssen wir ersticken. Nun, liebe Seele, unser Geist kann noch viel weniger ohne Gott leben, als unser Leib ohne Speise und ohne Luft. Haben wir Gott nicht, so muß unsere Seele sterben; haben wir Gott nicht, so muß unsere Seele ersticken und umkommen, gleichwie einer, der keine Luft mehr schöpfen kann. O wie so sehr ist dieses die Wahrheit! möchten wirs nur glauben! Gott ist uns nöthiger als die Speise, Gott ist uns nöthiger als die Luft, worin wir leben."5

2. Dennoch ein Erstaunen So naturhaft sich unser Geist auch mit Gott verbunden wissen mag, so sehr staunt er doch darüber, daß ihm diese Abhängigkeit nicht längst be4 A n dieser Stelle entzündet sich schon bei Tersteegens Zeitgenossen der V o r w u r f des Pantheismus. S. Voget u n d K u l e n k a m p o b e n S. 19ff. W. Forsthoff erneuert diesen V o r w u r f , w e n n er fragt: „Ist seine Gottesvorstellung die christliche oder die mystisch-pantheistische?" u n d darauf a n t w o r t e t : „Es ist nicht der transzendente Gott des christlichen Glaubens, den Tersteegen hier feiert, s o n d e r n der immanente der Mystik." M r h G K 12 1918 S. 217. Dabei b e r u f t er sich ausdrücklich auf die f ü n f t e u n d sechste S t r o p h e unseres Liedes ebd. S. 219.

A b e r schon F. Winter b e m e r k t dazu in M r h K G 22 1928 S. 130ff., daß diese Gegenüberstellung v o n transzendentem G o t t u n d i m m a n e n t e r M y s t i k völlig unzureichend sei, u m H e i d n i sches v o n Biblischem auszusondern. A u c h H . E. Weber verteidigt Tersteegen gegen den V o r w u r f einer „pantheistischen Vergottung der Seele" s. Glaube u n d Mystik, Studien des Apologetischen Seminars, H e f t 21 Gütersloh 1927 S. 52 A n m . 2. E b e n s o R. Deichgräber, G o t t ist g e n u g a . a . O . S. 2 0 f . Forsthoffs T h e s e f u h r t in der Tat zu einer u n m ö g l i c h e n Konsequenz: D e r Unterschied zwischen christlichem Glauben u n d heidnischer M y s t i k k a n n schließlich nicht darin bestehen, daß G o t t hier n u r in S y m b o l e n aus d e m sozialen Bereich als H e r r , König, Vater u n d Richter erfaßt w i r d , w ä h r e n d er d o r t in n a t u r h a f t e n Bildern als Leben, Licht, Luft, K r a f t u n d Geist beschrieben w i r d . Vielmehr sind in der Schrift beide Aspekte angelegt. So verweist Tersteegen zu Recht in einer F u ß n o t e zu diesem Vers a u f j e r e m i a 23, 24. R. O t t o b e m e r k t dazu, daß sich diese Polarität i m Gottesbegriff schließlich auch i m neutestamentlichen Verständnis v o m Reich Gottes wiederholt. Einerseits ist es das ganz Jenseitige u n d Z u k ü n f t i g e , auf das die G e m e i n d e des N e u e n B u n d e s wartet, andererseits ist es nach Lukas 17, 21 schon hier u n d jetzt mitten u n t e r uns. Er bezieht sich dabei auf den „alte(n) G r u n d s i n n der biblischen H y p o s t a s e n lehre", denn nach dieser sei „die andere H y p o s t a s e der Gottheit ,Wort u n d Geist'. Sie sind das Wesen der Gottheit selber, sofern es nicht n u r weltgetrennt u n d transzendent bleibt, s o n d e r n sofern es der Welt u n d d e m Geist einwohnend w i r d . " So in West-östliche Mystik, M ü n c h e n 1971 3 S. 155. D a ß schon die Vorsokratiker G o t t als Luft umschreiben k o n n t e n , zeigt der H i n w e i s auf Diogenes v o n Apollonia in Diels, Vorsokratiker, Fragment 5. A b e r auch hier k a n n nicht G o t t einfach m i t der Luft gleichgesetzt w e r d e n . S. die K o n t r o v e r s e zwischen W . Jäger, T h e o l o g i e der f r ü h e n griechischen D e n k e r , Berlin 1953 S. 236 u. K. Kerényi, Griechische G r u n d l a g e n des Sprechens v o n Gott, in: Weltgespräch 1, Weltliches Reden v o n Gott, Freiburg 1967 S. 13. 5

R E IV 191 f. (4) = G R 545.

129

w ü ß t gewesen ist. Das Staunen, das Gottes G e g e n w a r t auslöst, ist d a r u m nicht das Aufschrecken v o r etwas völlig A b s o n d e r l i c h e m , F r e m d e m , U n e r w a r t e t e m , s o n d e r n wie das V e r w u n d e r n v o r etwas ganz Selbstverständlichem. Es ist wie das plötzliche G e w a h r w e r d e n einer U m s c h l o s s e n h e i t , die w i r eigentlich schon längst k e n n e n m ü ß t e n , aber aus einer rätselhaft erschein e n d e n Verblendung heraus bisher tatsächlich nicht b e m e r k t haben. So k a n n in diesem E r s t a u n e n etwas Erschreckendes m i t s c h w i n g e n . Das, was hier plötzlich b e w u ß t w i r d , w a r d o c h schon i m Alten Testament ausgesprochen u n d selbst d e m heidnischen Griechen klar, w o r a u f Tersteegen in zwei F u ß n o t e n zu dieser Zeile unseres Liedes ausdrücklich hinweist 6 . A u c h w i r selbst w u ß t e n es eigentlich i m m e r schon. „ A b e r ach leider! w i e gar oft, w i e gar sehr, w i r d dieses v o n uns M e n s c h e n k i n d e r n aus der A c h t gelassen! W i r vergessen, o d e r v i e l m e h r w i r d e n k e n nicht an d e n G o t t , der H i m m e l u n d E r d e erfüllet; an d e n G o t t , der uns n ä h e r ist, als unsere eigene Seele u n s sehen k a n n ; an d e n G o t t , in d e m w i r leben, s c h w e b e n u n d sind . . . " 7

So k o m m t es zu j e n e m Erstaunen, das Tersteegen in Genesis 28 abgebildet findet: „ A u c h k ö n n e n w i r ζ. E. an J a c o b sehen, w e l c h e Früchte die lebendige H e r z e n s e r k e n n t n i ß G o t t e s h e r v o r bringet; d e n n als sich G o t t i h m auf d e m Felde o f f e n b a r e t e , als einen g e g e n w ä r t i g e n G o t t , da rief er aus: Gewißlich ist der Herr an diesem Orte! und ich wußte es nicht. 1. M o s . 28, 16. Es w e i ß z w a r der M e n s c h aus der v o n M e n s c h e n erhaltenen U n t e r w e i s u n g w o h l , daß G o t t überall g e g e n w ä r t i g ist: A b e r ach! es ist ganz w a s anderes, w e n n sich G o t t d u r c h den Heiligen Geist in uns als einen g e g e n wärtigen Gott offenbaret."8

In dieser F o r m des Erschreckens liegt w o h l auch die Wurzel f u r das sich selbst anklagende Bekenntnis, die G e g e n w a r t Gottes so spät erkannt zu haben 9 . A b e r dieses M o m e n t des Staunens enthält zugleich etwas ausgesprochen Beglückendes. Es ist das Gefühl, endlich einmal i m Einklang m i t sich selbst zu sein. Als w ü r d e uns in diesem A u g e n b l i c k „die D e c k e w e g g e n o m m e n v o r unseren A u g e n " 1 0 , u n d w i r w ü r d e n begreifen: so selbstverständlich wie der K ö r p e r die L u f t z u m A t m e n braucht, so selbstverständlich braucht unsere Seele die N ä h e Gottes. In diesem Augenblick gibt es f ü r sie nichts Natürlicheres als beständig in dieser G e g e n w a r t bleiben zu wollen.

6 Acta 17,28 und Jeremía 23,24 gehören zu den von Tersteegen am häufigsten zitierten Schriftworten. Z u j e r . 23,24 s. RE III 4 (1) = GR 76; IV 4 (1) = GR 266; BL 137 (1,461); 238f. (2,80); zur Acta 17,28 s. WW 244 (6,16) RE IV 4 (1) = GR 266; BR I 343f. (119); Brief an Br. Fischer in Kerlen, Gerhard Tersteegen a.a.O. S. 39; s. a. vLE 207. 7 RE IV 4 (1) = GR 266. 8 RE III 371 (7) = GR 530; vgl. a. WW 91 (2/1,18). 9 S. dazu oben S. 62 Anm. 13. 10 BL 42 (1,9).

130

„Und so leben sie in Gott und dessen Gegenwart nach ihrem Inwendigen, gleichwie ein Fisch im Wasser oder wie ein Vogel in der Luft. " u Nicht zufállig umschreibt Tersteegen diese Erfahrung mit einem Zustand des Schwebens.

B. Das Gefühl der Erhabenheit Wenn Gott als ein Etwas erscheint, das wie die Luft allgegenwärtig ist, wie erfährt sich das Ich in einem solchen Augenblick? Tersteegen beschreibt es als Zustand des Schwebens und der Freiheit. 1.

EinSchweben

Tersteegen verbindet mit der Luft die Vorstellung, daß wir darin „schweben" können. „Luft, die alles füllet, Drin wir immer schweben . . . " Es ist ein wunderlicher Gedanke, daß wir „in Gott" schweben können. Tersteegen scheint ihn von Acta 17 herzuleiten 12 , aber er ist ein genauer Exeget und weiß, daß dieses Wort dort nicht steht 13 . Dennoch findet sich wiederholt die Wendung: „wir leben und schweben in Gott . . ," 1 4 Woher erklärt sich dieser eigenartige Sprachgebrauch? Jener Reim aus einem Brief an eine Freundin in Essen nennt das Bild, das im Hintergrund steht und diese Wendung aufschlüsselt:

1 1 W W 244 (6,16); dieses Gefühl ist in dieser Umschreibung vielleicht erstmalig bei Anna Gracias belegt; s. AL II 8,129 = (2,248): „Einstmals zeigte mir unser Herr/ daß der Mensch ausser der Gegenwart Gottes, seye gleich wie ein Fisch ausser dem Wasser"; s.a. Madame Guyon, Leben a.a.O. II K. 16,8, wo es heißt: „Alles ist vollendet in der Einheit, aber auf eine so freie, leichte und natürliche Art, daß die Seele in und von Gott eben so unbefangen lebt, als der Körper von der Luft, die er einathmet." (Zit. n. der Ubersetzung von Henriette von Montenglant, Berlin 1826 Bd. II S. 250.) Tersteegen benutzt diesen Vergleich häufiger; s. B L 44 (1,40); 550 (3,98.10 Anm.); B R III 186 (60) u. R E III 401 (8) = GR 574. 1 2 S. z. B. die oben zitierte Stelle aus R E IV 4 (1), wo er an Acta 17 in dieser Weise anknüpft: „Gott, in dem wir leben, schweben (!) und sind." 1 3 So übersetzt er in W W 244 (6,16) völlig wortgetreu mit „uns bewegen"; s. a. B R I 343f. (119) und Brief an Br. Fischer in Kerlen, Gerhard Tersteegen a.a. O. S. 39. 1 4 B R II 296 (98); so beginnt z. B. das zweite Lied Tersteegens zur Gegenwart Gottes: „Großer Gott, in dem ich schwebe, Menschenfreund, vor dem ich lebe" B L 510 (3,80.1); s. a. B L 172 (1,577); 238 (2,80); 512 (3,80.15); B R IV 272 (110).

131

„Gedenk, was ist ein Stäubelein Im hellen Sonnenschein? Wie, sollt' ich nicht mich selbst und alle Ding vergessen! Da ich stäts leb und schweb im Wesen unermessen." 1 5

und in einem seiner letzten Briefe schließt er mit dem Wunsch: „Daß du, liebe Schwester, mit mir als ein solches Stäublein in Zeit und Ewigkeit vor Gott leben und schweben mögest, solches wünsche ich dir angelegentlich. Dein verbundener alter Bruder. " 1 6

Wenn das eigene Ich so klein und leicht wie ein Staubkorn geworden ist, beginnt es zu schweben, und es erfährt, daß die Gegenwart Gottes sie von allen Seiten umgibt und trägt 17 . Klein und leicht wird das Ich, wenn es die Größe Gottes staunend erfährt. „Wie groß ist Gott - wie klein bin ich!" 18

Aber, daß es zu dieser Kleinheit zusammenschrumpft, erlebt es nicht als Bedrängnis, sondern als Befreiung. Es wird leicht und schwerelos und steht nun als ein „freier Geist in Gott erhaben" über allem, was es binden könnte. „Welt, Sinne und Natur" hat es gleichsam „unter sich" gelassen 19 . So verbindet sich mit der Empfindung des Schwebens ein Gefühl der Freiheit und Leichtigkeit. 2.

Ein

Freisein

Das Moment der Leichtigkeit und Freiheit kommt in jenem zweiten Bild zum Ausdruck, das ebenfalls das Schweben umschreibt: „Laß mein Herz, Überwärts Wie ein Adler schweben . . . "

Und in der letzten Strophe eines Frühlingsliedes steht der Wunsch: „Die Lerche trägt dein Lob, so hoch sie kann, Ich möcht in dir als meiner Luft so schweben . . . " 2 0 15 BRÌI 243 (80) an Frau Griesenbeck in Essen, Brief vom 12. 6. 1735; später im Blumengärtlein unter 172 (1,577), dort etwas erweitert und leicht verändert. 16 BR IV 272 (110) vom 16. 12. 1768. 17 Vgl. auch BL 52 (1,83), w o sich die Leichtigkeit der Seele in diesem Bild ausdrückt: „Gleichwie ein leichtes Blatt, also gleichgültig schwebet In Gottes Luft mein willenloser Sinn . . . " Daß sich dieser Bewußtseinszustand auch leiblich-konkret äußern kann, ist in der Überlieferung außerordentlicher religiöser Phänomene immer wieder bezeugt. S.Jo. v. Görres, Mystik, Magie und Dämonie. „Die christliche Mystik" in Auswahl, hrsg. v. Josef Bernhart, Bd. II München 1927. 18 BL 172 (1,577). 19 BL 117 (1,375). 20 BL 533 (3,91.9); über die Vorgeschichte dieses Bildes s. M. Sandaeus, Onomasticon

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Die Sehnsucht des Menschen nach Freiheit und der Traum, gleichsam schwerelos wie ein Vogel zu schweben, scheint sich in dem Augenblick zu erfüllen, wo der Mensch in die Gegenwart Gottes eintritt. Zumindest beschreibt Tersteegen diesen Zustand wie ein ausgespanntes Schweben zwischen Himmel und Erde. Wie k o m m t er zu diesem Eindruck? Er nennt als Bedingung fur dieses Gefühl der Freiheit: „ Achja! eine durchgreifende Ausstoßung v o n Allem m u ß stattfinden; d e m Herzen darf nichts bleiben, ankleben." 2 1

An anderer Stelle heißt es ähnlich: „Ein abgeschiedener Christ, der nichts hat, woran sein Herz hänget, der kann eben so frei, w i e ein Vogel in der Luft leben." 2 2

Demnach wird die Seele leicht, wenn sie von ihrer Verfallenheit an die Dinge frei wird. Aber er nennt bisweilen noch eine zweite Bedingung. Man muß „aus sich selbst gegangen" sein, um „wie ein Adler stets frei über alles" schweben zu können 2 3 . Es sind also äußere und innere Fesseln, die den Geist binden. Sobald er aus dem „Kerker des Leibes" 24 und aus der „Knechtschaft" der Eigenheit befreit wird, verspürt er Leichtigkeit. Aber nur die Gegenwart Gottes und der Tod können aus diesem „Gefängnis" erlösen 25 , weshalb Tersteegen beide um dieser Befreiung willen lobt: „O, w e l c h ein köstliches Gut ist die Freiheit des Geistes! N i e m a n d kann es glauben, der es nicht aus eigener Erfahrung kennt; sie ist eine Perle, w o h l werth, daß man Alles dafür mit Freuden hingibt, und auch nur für diesen Preis ist sie zu erlangen, und kann nie wohlfeiler erlangt werden. " 2 6

Und zum Tode seiner vertrautesten Freundin Maria d'Orville erklingt ein ähnlicher Ton: „Die Fesseln sind gebrochen, der Herr hat ihr Gefängniß geöffnet, der Geist ist frei und w i e ein Vögelchen d e m Käfige entschlüpft; sie ist mit Entzücken in den freien Raum der seligen E w i g k e i t eingezogen . . ," 2 7

Vocabulorum et loquutionum obscurarum, Köln 1640 S. 194ff. und Grete Lüers, Die Sprache der deutschen Mystik des Mittelalters im Werk der Mechthild von Magdeburg, München 1926 S. 126 f. u. 251 ff. 21 BR holl 129 (56) = BR NS 221 (141). 22 RE III 425 (8) = GR 584; vgl. BL 203 (2,20): „Wer seine Augen schließt, nicht Eiteles zu sehen, Von allem los und bloß in Gott sich kehret ein, Kann wie ein Adler stets im Geist erhaben stehen Und bleiben unberührt von Unruh, Furcht und Pein . . . " 23 BL 107 (1,330). 24 26 BR IV 117 (47). BR holl 129 (56) = BR NS 222 (141). 25 27 S. BL 99 (1,294) u. 335 (3,9). BR holl 55 (20) = BR N S 204 (131).

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Wenn Tersteegen hier der Gegenwartserfahrung und dem Tod den gleichen Sinngehalt zuerkennt, so unter der Voraussetzung, daß beide im Grunde eins sind. Die Ablösung von den Dingen und von sich selbst wird durch das Gebet in dem Maße vorweggenommen, wie der Mensch ganz von Gott eingenommen ist. Solange er in der Gegenwart Gottes bleibt, ist er „frei von der Lüste Sklaverei" 28 . Der Geist taucht wieder in sein ureigenstes Element ein. Die Fesseln sind abgestreift, er ist in die Gegenwart Gottes zurückgekehrt und scheint darin zu schweben. Mit diesem Erlebnis von Freiheit steht Tersteegen in stärkstem Gegensatz zum autonomen Freiheitsgeflihl seiner Zeitgenossen. „Ach! der Mensch denkt es wohl, w e n n er so nach seinen eigenen Lüsten lebet, er thäte nur so was i h m ins Gemüthe käme; aber nein, o Mensch! du bist des Satans Sklave, er hat dich an der Kette . . ., du bist nicht dein eigener Herr und Meister. " 2 9

Dagegen heißt es von der „wahren" Freiheit: „Wer recht will frei sein hier auf Erden, M u ß meines Gottes Sklave werden." 3 0

Es bleibt also nur die Alternative zwischen jener „ägyptischen Sklaverei", wo der Geist dem „thierischen Theil" unterworfen ist 31 , und dieser „seligsten Sklaverei" 32 , wo er von den „geheimen Banden" der Lüste endlich wieder frei ist 33 . U m das menschenmögliche Maß an Freiheit zu verwirklichen, muß man erst die „schändliche und ungerechte Freiheit", die nach dem Sündenfall noch übrig geblieben ist, Christus „zu einem freiwilligen Geschenk ganz und gar ü b e r g e b e n . . . " 3 4 . Als Peter Büngers von der Otterbeck einmal bei Tersteegen anfragt, was man von dem freien Willen zu denken habe, antwortet er aus dieser Sicht: „So hat derjenige eigentlich ein recht freien Willen, w e r seinen Willen völlig an Gott übergeben und verloren hat. Ein Fisch kann frei liegen auf dem Land, und hin und her springen; er ist aber nirgend frei als i m Wasser. Was einem Fisch das Wasser ist, das ist Gott unser Geist. Wer seinem eigenen Sinn, Trieb und Willen folget, grob oder subtil, der ist ein gefangener Sclav. Auch die K ö n i g e der Erden sind in der Natur so w e n i g frei i m Willen, als ein Gefangener auf der Citadelle. Unser Geist und unser Wille lebt überall i m Z w a n g und in der Presse, bis daß er sich gründlich in Gott

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BL 336 (3,9.2). RE 140f. (1) = GR 367; s. BL 99 (1,294). 30 BL 99 (1,294); vgl. BR holl 197 (86), wo Tersteegen schreibt, daß nur die völlige Hingabe an den Herrn „eine große Freiheit" schenkt. 31 BR holl 15 (9) = BR NS 263 (168). 32 BL 105 (1,321). 33 BL336 (3,9.1 u. 2); s.a. 550(3,98.10): „Ich fiel in Zwang und Sklaverei; Dir lebend, leb' ich wieder frei. " 34 RE IV 342 (7) = GR 247. 29

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übergibt und wie verlieret; denn dazu sind wir geschaffen; darum sind wir alsdann auch recht frei, wohl und selig!"35 Demnach wird der Geist, der sich an die Gegenwart Gottes hingibt, nicht unterdrückt und entmächtigt, sondern befreit und auf die Höhe seiner Kraft gehoben, sofern man den Begriff der Freiheit nicht am Ideal der Autarkie mißt, sondern an der sonst unerreichbaren Gestalt, zu der er durch die Gegenwart Gottes bewegt und befähigt wird. Der Geist wird zwar gebunden und von den Dingen abgelöst, aber nicht so, daß er dadurch eine Einbuße erlitte, sondern so, daß er darüber zu einer höchsten, sonst unerschwinglichen Entfaltung angezogen wird. Aus diesem Erlebnis von Freiheit tritt Tersteegen den Libertinisten seiner Zeit mit der Gewißheit entgegen: „daß da allein und sonst nirgend wahre Freiheit sey, wo der Geist des Herrn ist und herrschet."36 Gott allein befreit die Seele aus ihrer Leibverfallenheit. Weil seine Nähe alles andere verdrängt, löst sie sich von ihrem Hang zum Dinglich-Konkreten. Sie verliert ihre Erdenschwere. Sie lebt zwar noch in der Welt, aber scheint gleichsam über ihr zu schweben 37 . So enthält das Bild des Schwebens ein Gefühlsmoment, das Tersteegens Erlebnis von Freiheit offenbar besonders treffend wiedergibt. Aber während hierin mehr die Freiheit von den äußeren Bedingungen zum Ausdruck kommt, betont die folgende Umschreibung vor allem die Ablösung von den inneren Bindungen. Sie handelt von den Aufhebungen des Ichs und unseres Eigenwillens.

IV. Gott als „Meer ohn' Grund und Ende" „Ist dem nicht so, mein Geliebter in dem Herrn? muß der Herr nicht Alles sein? und wird Er es nicht auch in uns sein? und ist dieses nicht die Seligkeit unsers Geistes?" 38

Im Kontrast zum erhabenen Gefühl des Schwebens folgt nun ein Vergleich, der eher gegenteilige Gefühle berührt. Mit dem Bild des Meeres 35 BR III 186 (60); s. hierzu den Abschnitt über den freien Willen in Tersteegens „Zeugniß der Wahrheit", w o er sich mit libertinistischen Strömungen seiner Zeit auseinandersetzt. BR I 427ff. (Zeugniß). 36 BRI430(Zeugniß). 37 S. BL 162 (1,555): „Nur der lebt frei und froh, der mit Gott einsam lebet, Z w a r in der Welt, doch fremd, ja innig drüber schwebet . . . " 38 BR holl 32 (9) = BR N S 263 (168).

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k o m m t das Unerschöpfliche und Unfaßbare, das Fremde und D u n k l e der Gegenwart Gottes zur Sprache. Tersteegen kleidet diesen Aspekt in das Bild eines Menschen, der einsam u n d verlassen auf der Weite des Ozeans treibt u n d sich hilflos den A b g r ü n d e n des Meeres ausgeliefert sieht. E m p f i n d u n gen aus derartiger Situation werden hier z u m Gleichnis 39 .

A. Das Gewahrwerden der Allheit Gottes Z u den kennzeichnenden M o m e n t e n tersteegenscher Gotteserfahrung gehört der Eindruck, sich plötzlich der Grenzenlosigkeit und Tiefe eines Meeres ausgesetzt zu sehen. Es ist, als w ü r d e alles Eigene in j e n e m „unergründlichen Meer der göttlichen Gegenwart" versinken 4 0 . Die Seele verliert sich in einem „seligen O c e a n . . ." 4 1 . Vom „Meer der verborgenen Gottheit" wird sie wie verschlungen 4 2 und von dessen „ A b g r u n d " eingenommen. I m m e r wieder spricht Tersteegen v o n Gott als einem „Meer" 4 3 , einem „ A b g r u n d " 4 4 , ein e m „ O c e a n " 4 5 der Liebe. Was für ein Eindruck steht hinter diesen Bildern der Weite und Tiefe? Überblickt m a n diese Kette der Umschreibungen, so fällt auf, wie wenig sie inhaltlich über dieses „Meer ohn' G r u n d und E n d e " aussagen. D e r A b grund des Meeres ist dunkel und alles, was er beinhaltet, in einer u n e r g r ü n d lichen Tiefe verborgen. Ebenso dunkel und allgemein scheint der Eindruck von der Göttlichkeit dessen, was da gegenwärtig ist 4 6 . Tersteegen m u ß seinen Freunden ausdrücklich versichern: „Es ist Gott, der uns dessen in Christo würdigt: und so w i e er ist auch seine Gnade, das heißt: göttlich, groß und unbegreiflich. Es ist also sein Wohlgefallen, was läßt sich dagegen sagen?" 4 7

Demnach ist von d e m G r u n d des Meeres nicht viel zu erkennen. Wirft man aber einen Anker aus und läßt ihn im Meer versinken, so „hält er das S c h i f f und gibt damit zu erkennen, daß ein Grund da ist. Der Anker selbst 39 Auch hier folgt Tersteegen vorgegebener mystischer Symbolsprache, vgl. wiederum Sandaeus, Onomastica a.a.O., s.a. Angele de Foligni in AL II 5, 101; die Gott ein „unerschöpftes Meer" und einen „unergründlichen Abgrund" nennt. 40 BRI 341 (18). 41 BR IV Zug. 33 (XIX). 42 BR 1307f. (108). 43 BL108 (1,334); 134(1,448); 339 (3,10.2); 344 (3,12.6); 512 (3,80.16); 536 (3,93.4); BR 1174 (68); 269 (95); 307 (108); 355 (123); II 147 (45); III 192 (62); 289 (91); IV 389 (Nr. 1) und 391 (Nr. 5). 44 BR holl 159 (67) = BR NS 19 (11); BR 1244 (90). 45 BR holl 151 (64) = BR NS 27 (15); BL 62 (1,123); s. a. BR holl 37 (11). 46 S. BR holl 37 (11) = BR NS 219f. (140). 47 BR holl 126 (54) = BR NS 294 (195).

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scheint wie verloren in dem Abgrund des Meeres, „doch sehen wir das Tau noch", womit er sagen will, daß wir zwar nicht die Gottheit selbst, dafür aber sehr wohl „die innige Neigung und das innige Streben unsres Gemüthes, die nach unten hingehen", wahrnehmen können 4 8 . Und diese zeigen an, daß sich die Seele in einem „Meer der Liebe" verliert. Wie erklärt es sich, daß etwas, was inhaltlich dunkel bleibt, dennoch gefühlsmäßig als äußerst bedeutsam erlebt werden kann? Die Chiffre „Meer" deutet auf einen Totalaspekt, denn schließlich ist alles, was ist, vom Meer umschlossen. Wie erlebt der einzelne dieses Umschlossensein? Treibt sein Leben auf einem Untergrund von Chaos und Bedrohung oder auf einem Abgrund von Liebe? Unter welchem 'Grundgefühl erlebt er seine Welt? Wo Gott sich in seiner Gegenwärtigkeit mitteilt, berührt es den Menschen bis in sein Grundgefühl. Wo zuvor Angst regierte, herrscht nun Geborgenheit. Was immer auch geschehen mag, es bleibt die Gewißheit, daß unser Leben von einem „Meer der Gottheit" umschlossen ist. „Leide ich dann auch schon Schiffbruch, so wird es nur im Meer der Gottheit seyn, dessen A b g r u n d mir so gut ist, als der beßte Hafen. " 4 9

Dieses Urvertrauen macht risikobereit. Der Beter sieht sich oft „ungestümem Wetter" ausgesetzt, sein „Schifflein" wird „auf dem großen Weltmeer" hin und her getrieben, bis man schließlich nicht mehr weiß, wo man ist 50 . „Ich seh die Fluten an U n d mir nicht helfen kann, Der Zweifel mich beweget, Mich hin und wider schlaget . . ." 5 1

Wie reagiert das Ich in solchen Augenblicken? Wehrt es sich verzweifelt gegen seine Hilflosigkeit? Verhält es sich wie jemand, „der in Gefahr ist zu ertrinken und Alles ergreift, was ihm vorkommt, wäre es auch nur ein elendes Hölzchen, in der Hoffnung, sich über dem Wasser zu erhalten . . ," 52 ? Oder kann es sich vertrauensvoll diesem Meer überlassen? Tersteegen schreibt in einem seiner ersten Briefe: „Weil ich nun d e m Winde nicht entgegen rudern will noch kann; so geb ich demselben mit Paulo und seinen Gefährten Actor. 27.15. mein Schifflein hin . . . " 5 3

Wer bereit ist, sein Ich preiszugeben, verliert seine Angst. Er kann sich vertrauensvoll diesem „Meer ohn' Grund und Ende" ausliefern und mit Gelassenheit von sich sagen: 48 49 50 51 52 53

BR holl 159 (67) = BR NS 19 (11). BRI244(90). S. BR 1244 (90). BL 354 (3,18.2). BR holl 156 (66) = BR NS 46 (29). BR 1244 (90).

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„Ich s e n k ' m i c h in dich hinunter . . . "

So kommt alles darauf an, ob man bereit ist, sein „Schifflein... sinken" zu lassen 54 , denn nirgendwo ist so viel Ruhe, wie am Grund des Meeres: „Wie selig ist, wer sich i m Glauben nur Mit Leib und Seel' in Gottes Meer verlieret, Der sanft entsinkt Zeit, O r t und Kreatur Im Seelengrund, da ihn kein S t u r m berühret!" 5 5

Das Bild des Meeres steht für die Allheit dessen, was uns umgibt. Im Licht der Gegenwart Gottes zeigt es sich in seiner Ganzheit als „Ocean der väterlichen Liebe Gottes" 5 6 oder als ein „Meer der unendlichen Gutheit.. ," 5 7 . Aber die Aussagekraft liegt nicht allein in dem Meer als solchem, sondern vor allem darin, wie sich das Ich dieser Übermacht des Objektiven gegenüber empfindet.

B. Das Gefühl des eigenen Nichts Wie erlebt sich der Mensch, wenn er im Bewußtsein der Gegenwart Gottes auf sich selbst schaut? Angesichts der Weite und Unergründlichkeit Gottes schrumpft sein Ich zu einem bedeutungslosen Etwas zusammen. Er kommt sich vor wie ein Wassertropfen, der sich spurlos in diesem Meer verliert. Wiederholt begegnet uns diese Vorstellung in Tersteegens Schlußreimen. „ D u unergründ'tes Meer, in dir Ich wie ein Tröpflein mich v e r l i e r ' . " 5 8 BR II 127 (40) u. BL 134 (1,448). BL 108 (1,334). 5 6 BR holl 151 (64) = BR N S 27 (15). 5 7 BR 1 174 (68). 5 8 So in einem ebenfalls frühen Lied über die Gegenwart Gottes BL 339 (3,10.2) ähnlich BL 62 (1,123); 108 (1,334) u. 457 (3,58.44); dieses Bild vorgeprägt schon bei Bernhard von Clairvaux, De Diligendo Deo, cap. 10,28; PL C L X X X I I 991, wo er die unio mystica beschreibt, wie die Auflösung eines Wassertropfens in einem Krug voll Wein. Das Bild vom Tropfen und Meer bei Meister Eckhart: „Alle Dinge sind so klein gegen Gott, wie der Tropfen gegen das Meer. Wenn die Seele Gott in sich zieht, dann verwandelt sich der Tropfen in das Meer." So F. Pfeiffer, Meister Eckehart, Leipzig 1857 Bd. 3/4, 19. Bezüglich Tauler s. Vetter, Die Predigten Taulers, Berlin 1910 S. 141, 229 und 251. Interessant in diesem Zusammenhang auch die Kritik des Nominalisten Gerson in De Consolatione Theologiae 41, in: Opera omnia, hrsg. von L. E. Du Pin, Antwerpen 1706 Bd. 3 S. 294f. Zur Verwendung dieses Bildes bei den französischen Quietisten s. Madame Guyon, die ihre Seele wie einen kleinen, ins Meer geworfenen Wassertropfen empfindet. S. Leben a.a.O. Bd. 1 K. 28,10 und Bernières: Cette perte en Dieu ne se peut exprimer que grossièrement, comme par la comparaison d'une goûte d'eau, qui tombe dans la mer; par cette chute elle s'y abîme et s'y perd et devient en quelque maniere la mer même." Maximes III Β. 2,5. 54 55

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D i e s e m Bild entspricht der an Schroffheit und Kürze nicht mehr zu überbietende Satz: „Gott alles, ich nichts!" 59 Gottes Allheit entspricht dem Bild des Meeres, das als das schlechthin Übermächtige erfahren wird. Im Wassertropfen verbildlicht sich das Gefühl der Nichtigkeit, das sich vor dieser Seinsfulle einstellt 60 . „Wy zijn niets, en Hy is alles; in Hem alleen is ons heil en heerlijkheid. " 6 1 So heißt es in einem seiner holländischen Briefe. Ein solcher Satz ist für Tersteegen Indikativ und Imperativ zugleich. Er beschreibt einmal einen Zustand, sofern wir in Gottes Nähe „die große Wahrheit unseres Nichts und seines Alls erkennen" 62 , und beinhaltet zum anderen eine Aufforderung, sofern wir nun auch „von Herzen" unserem „Elend und Nichts" zustimmen sollen 6 3 . Weil „Gott alles in allem" 6 4 ist, bleibt fur das Ich, das sich selbständig neben Gott behaupten will, nur die Möglichkeit, sich „selbst zu vernichtigen"65. 1. Eine innere „ Vernichtigung"66 Gottes Allheit wirkt auf den Menschen offenbar mit totaler Ausschließlichkeit. Sie läßt keinen Raum neben sich. Sie duldet es nicht, „daß irgendeine Kreatur, oder irgend etwas v o m Unsrigen den Platz einnehme, der ihm allein g e b ü h r t . . . " 6 7 . Vor der Allheit Gottes erfährt sich das menschliche Ich

59 WW 419(1. Zug. 1,7) u. B R h o l l l 5 1 (64) = BR N S 27 (15); ähnlich 87 (36); 133 (57); 145 (62); BL 73 (1,170); 417 (3,45.2); 578 (3,115.3); 609 (FL92); BR III LE 57 u. 72f.; II 116 (40); vgl. Sandaeus, Onomasticon a.a.O. 288 und Lüers, Die Sprache a.a.O. 232-237; s.a. Bernières vLE 250 und W. Hoffmann, Der Leidende Christ, zit. in Goebel, Geschichte a.a.O. III 298. 60

S. a. BL 172 (1,577), w o es heißt: „Denk nur, was ist ein Stäubelein Im hellen Sonnenschein!" Dieser Satz aus dem Schlußreim über „Das Sonnenstäublein" weist daraufhin, daß auch das Bild von dem Staubkorn und der Sonne dies Gefühl der Übermacht zum Ausdruck bringen kann, zumal Tersteegen in diesen Versen der Sonne seltsamerweise zumutet: „Verschling das Meine ganz, o Sonne . . . " So scheint auch hier die Vorstellung von dem Wassertropfen, der vom Meer verschlungen wird, einzuwirken. Vgl. BR II 243 (80) u. 296 (98). 61 BR N S 296 (196). 62 BR holl 145 (62) = BR N S 304 (201). 63 BR IV Zug. 16 (5); s. III LE 61. 64 BR 143 (14); 175 (68); BR holl 31 (9) u. ö. 65 BR III LE 73. « Z u m Begriff der Annihilatio bei Tersteegen s. z. B. BR II 279 (93); III 435 (142); III LE 73 u. 74; vgl. dazu den Artikel „Annihilatio" in DSp 1. 67 BR holl 32 (9) = BR N S 263 (168).

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als ein Nichts. Gott will es so, denn nur „in unserem Nichts will Er Alles seyn" 68 . Dabei erlebt Tersteegen diesen Totalitätsanspruch nicht einmal als besonders bedrängend. Es ist ihm vielmehr so recht „wünschenswerth, daß wir Nichts sind und Gott Alles"69. Er macht die sonderbare Feststellung, daß es seinem Ich wohltut und sein höchstes Glück bedeutet, wenn es sich selbst verliert und Gott „alles in allem" in ihm wird. Es ist einerseits in den „Ohren Gottes" angenehm, „wenn unser Nichts seiner Allheit unaufhörlich huldigt" 70 , aber andererseits auch für uns selbst das Angemessenste, wenn wir unserer Nichtigkeit zustimmen, weil Gottes „Kraft und Herrlichkeit" nur „in meinem Nichts vollbracht" wird 7 1 . Demnach mißt sich die Intensität der Gotteserfahrung an dem Grad der Vernichtigung. In dem Augenblick, wo der Mensch seine Nichtigkeit erfährt und annimmt, begegnet ihm Gott in seiner Allheit. Die Erfahrung des eigenen Nichts ist deshalb die unvermeidliche Kehrseite jeglicher Gottesbegegnung. Sie gehört zu ihr wie die Negation zur Position und ist in gleicher Weise ursprünglich. Das Gewahrwerden des eigenen Nichts und die Anbetung der Allheit Gottes sind kongruent. So heißt es in einem Brief an eine Frau aus seinem Mülheimer Freundeskreis: „Die willige und ruhige Erfahrung von deinem Nichts sey eine beständige Anbetung der Allheit Gottes!" 72

Und in einem Brief an einen holländischen Freund steht ein Gebet, das dieses Überwundenwerden eindrücklich zur Sprache bringt: „Doch, was bin ich? . . . mein Wesen und aller Dinge Wesen verschwindet gleichsam vor deinem Wesen, viel eher und mehr als ein Kerzlein im hellen Glanz der Sonne, welches man nicht siehet und dermaßen von einem größeren Lichtwesen überwunden wird, daß es gleichsam nicht mehr ist. Ach wenn du auch mich so also überwinden, also vernichten möchtest und das Gesicht von dir das Gesicht von mir, deine Hoheit meine Geringheit, dein übergroßes Licht mein kleines Licht, ja, meine Finsternis, dein reinstes Wirken mein so gebrechliches Wirken, dein Alles mein Nichts also übermeistern und gleichsam auslöschen möchte!" 7 3

Wenn die Teilhabe an der Nähe Gottes zu der Einsicht fuhrt, daß nichts ist, was nicht Gott ist, und mir bewußt macht, daß auch mein Ich nur ist, weil 68

BR II 134 (41); ähnlich berichtet auch Greith über das Gefühl der Vernichtigung in der deutschen Dominikanermystik: „Der Mensch versinkt und verschmilzt in sein eigenes Nichts und seine Kleinheit. Je klarer und bloßer ihm die Größe Gottes einleuchtet, um so kenntlicher wird ihm seine Kleinheit . . ." C. Greith, Die deutsche Mystik im Predigerorden, S. 146 f. 69 BR holl 87 (36) = BR N S 165 (104). 70 BR holl 151 (64) = BR N S 27 (15). 71 BR III LE 57. 72 B R I 192f. (73). 73 WW 302 f. (7,39); vgl. Evangelische Perle nach dem v. Tersteegen besorgten Auszug in kPE S. 27f.

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Gott ist, und weil er will, daß ich sein soll 7 4 , so ist die Anbetung Gottes das erste und angemessenste, worauf das Gefühl der Vernichtigung abzielt 75 . D a r u m heißt es an anderer Stelle über die Entdeckung des eigenen Nichts: „Sollte man über solche Entdeckungen melancholisch werden und nicht vielmehr ein Te D e u m laudamus anstimmen, daß uns der Herr eine so theure Gnade in der Erkenntnis unserer selbst mittheilet? Kein Mensch kann das Te D e u m laudamus anmuthiger singen, als eine sich selbst erkennende und verschmähende Seele. " 7 6

Wie deutet Tersteegen diesen sonderbaren Sachverhalt? Wir erklärt er sich, daß etwas in uns unsere eigene Vernichtigung will? U n d was ist das, das da ausgelöscht wird, wenn unser Ich sterben soll? Hier ist Klärung vonnöten. Einmal, weil Tersteegen selbst immer wieder darauf zurückkommt und diese Einsicht gar zum Inbegriff aller Wahrheit erklärt 77 . Z u m anderen, weil hier für viele Tersteegenforscher der eigentliche Ansatzpunkt zur Kritik liegt. Hier beginnt für sie endgültig das Reich des Mystischen und der Nebel überspannter Formulierungen. Traditionsgeschichtliche Untersuchungen verweisen auf den neuplatonischen Hintergrund 7 8 . So bezeichnet Forsthoff die tersteegensche Rede von der Nichtigkeit des Ich als das spezifisch Mystische, das von der christlichen E b d . 303. F. Winter behauptet, Tersteegen unterscheide sich in dieser E r f a h r u n g v o n der quietistischen M y s t i k , weil fur ihn das Erlebnis eigener Nichtigkeit stets a u f eine erneuerte Z u w e n d u n g zur G n a d e abzielt. Z w a r läßt sich diese Wechselbeziehung zwischen Vernichtigung und G n a denmitteilung vereinzelt nachweisen ( B e l e g e s. Winter, F r ö m m i g k e i t , a . a . O . S. 41-43), aber die eigentliche Würde dieser Selbsterkenntnis liegt für Tersteegen g e n a u s o w i e fur Bernières und M a d a m e G u y o n darin, daß sie Gotteserkenntnis ist. D i e Erkenntnis des eigenen N i c h t s ist bereits die v o l l k o m m e n s t e A n b e t u n g Gottes. D a z u braucht es keine zusätzliche Mitteilung v o n Gnade. 74 75

7 6 B R IV 189f. (61); i m m e r wieder b e g e g n e t dieser h y m n i s c h e T o n im Z u s a m m e n h a n g der Vernichtigung. S. z. B . B R III L E 57, aber auch B L 578 (3,114.5), w o es heißt: „ S o w i r d durch unser N i c h t s G o t t wieder recht geehret . . . " Wie eng Tersteegen gerade auch bezüglich dieser E r f a h r u n g mit d e m mystischen Pietismus seiner Zeit verbunden war, macht ein Lied deutlich, das Tersteegen aus d e m D a v i d i s c h e n Psalterspiel v o n 1718 aus Schaffhausen zitiert (s. dazu Nelle, G . Tersteegens Geistliche Lieder a . a . O . S. 360), denn auch hier w i r d das Singen zur E h r e Gottes zu einem geistigen „ S p i e l ' i m H e r z e n s g r u n d " , bei d e m unser N i c h t s den tiefen T o n abgibt, G o t t e s Allheit d a g e g e n den hohen. S. B L 578 (3,115.2 u. 3).

S. B L 609 (FL 92): „ D i e Wahrheit macht frei B i s t du bedrängt, bist du g e f a n g e n U n d kannst zur Freiheit nicht gelangen, Lern, daß du nichts, G o t t alles sei! N u r diese Wahrheit m a c h t dich frei. " Selbst das Gottesdienstgeschehen deutet er allein v o n dieser E r f a h r u n g , denn in einem B r i e f nach H o l l a n d reduziert er den wahren Gottesdienst a u f dieses eine: 77

„ D a s ist der wahre Gottesdienst, w e n n unser N i c h t s der unbegrenzten Allheit Gottes wieder huldigt." B R holl 27 (7) = B R N S 260 (166). 7 8 S o schon G . K u l e n k a m p s . o b e n S . 21; s. a. H . Forsthoff, Tersteegens M y s t i k a . a . O . S. 161 und H a u p t u r k u n d e n a . a . O . S. 7; J. M o l t m a n n , G r u n d z ü g e a . a . O . S. 208 u. ö.; v. Andel, G . Tersteegen a . a . O . S. 149f., 257 u. ö.

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Glaubensauffassung unbedingt fernzuhalten ist 79 . Auch Moltmann findet keinen Zugang zu diesem „mystischen Nihilismus" 80 . Ebensowenig kommt Winter zu einer befriedigenden Darstellung der tersteegenschen Annihilatio. Wie versteht Tersteegen selbst diesen Gegensatz von Gott und Ich? Worum geht es in der Annihilatio? Betrifft sie tatsächlich das Sein des Menschen, oder nur einen Vorgang des Bewußtseins? Anders gefragt: Ist die Tatsache, daß der Mensch „ist" für Tersteegen schon etwas, was der Allheit Gottes entgegensteht? Forsthoff meint, daß man Tersteegens Formel nur so verstehen kann. Auch Winter geht davon aus, daß der Quietismus den Gegensatz von Gott und Ich in diesem letzten seinshaften Sinn versteht. Er verweist auf eine Stelle, w o Madame Guyon ausdrücklich das „Sein" des Menschen in den Prozeß der Annihilatio einbezieht. So schreibt sie in ihrer L'amour sacré: „que perde avec vous tout chose et mon être. " Tersteegen stößt sich offensichtlich daran, denn in seiner Übersetzung heißt es statt dessen: „mit dir ich alles dann verlieren will auf Erden, mein Eigenes auch . . . " 81 79 So meint H. Forsthoff hinter diesem Gegensatz einen metaphysischen Dualismus zwischen Geist und Materie sehen zu müssen, weil dies angeblich der „Glaubenssatz aller Mystik vonjeher" ist (so in Mystik in Tersteegens Liedern a.a.O. 239). Mit dem Stichwort „Eigenheit" beschreibe Tersteegen die „Verkettung des Geistes an die Materie" (so ebd. S. 241), und die Überwindung dieser „Sünde" bestände folglich in der Vernichtigung des Ich, die den Menschengeist „aus der Umklammerung der Materie" löst und mit dem unendlichen Geist wieder vereinigt (ebd. S. 240). Die Konsequenz ist eindeutig: „Man sieht also, daß nicht die christliche Offenbarung, sondern der Mystizismus Tersteegens Geist beherrscht. " (Ebd. S. 240) Forsthoff hätte eigentlich wissen müssen, daß Tersteegen sich über das Verhältnis von Leib und Geist anders und wesentlich behutsamer äußert. Z u m anderen verkennt er völlig den erfahrungsmäßigen Hintergrund der Annihilatio. Sie betrifft nirgendwo die Leiblichkeit des Menschen und schon gar nicht die Überwindung seiner naturhaften Bindungen, sondern meint einen Bewußtseinszustand, der sich unter der Erfahrung der Gegenwart Gottes einstellt. 80 Auch Moltmann sieht hier nur eine neuplatonische Denkschablone. Dabei hat schon R u d o l f O t t o i n d a s H e i l i g e a . a . O . S. 10 darauf aufmerksam gemacht, daß der mystische Begriff der Annihilatio auch ohne Piatonismus verstehbar ist. Er verweist zu Recht darauf, daß sich das Gefühl der Nichtigkeit schließlich auch in der Schrift (z. B. in Gen. 18, 27) finden läßt, so daß man Tersteegens Reden von Gottes Allmacht und dem eigenen Nichts letztlich nur als eine Steigerung des numinosen Gefühls von Übermacht anzusehen braucht, das im Grunde jede Erfahrung des Heiligen umgibt. Vernichtigung ist somit für Otto der extremste Ausdruck für die schlechthinnige Überlegenheit Gottes. Damit trifft er genau den bei Tersteegen vorliegenden Sachverhalt. Den biblischen Hintergrund dieser Erfahrung hat Tersteegen stets gesehen und auch herausgestellt. So verweist er wiederholt auf Phil. 2,7, w o er las: „Er vernichtigte sich selbst . . . " Dazu schreibt er einmal die kurze Reimbetrachtung.· „Werd' ich vernichtet sein, so wird mich Gott erhöhen, So ist es, Jesu dir, so muß es mir geschehen . . . " BL 268 (2. Zug. 10); vgl. BR III LE 74. 81 hLG 27; s. F. Winter, Frömmigkeit a.a.O. S. 63.

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Winter leitet daraus eine gewisse Sonderstellung Tersteegens ab. Richtig daran ist, daß Tersteegen den Gegensatz tatsächlich nicht als metaphysischen Dualismus versteht. Die Vernichtigung des Ich bedeutet für ihn keine Veränderung in der ontologischen Beschaffenheit des Menschen, sondern einzig eine U m w a n d l u n g seiner ontischen Verfassung. Sie betrifft also nicht sein Vorhandensein als geschaffenes und existierendes Ich, sondern allein die Ichhafiigkeit seiner alltäglichen Daseinsweise. U m dieses eindeutig zu machen, setzt Tersteegen unter einen Abschnitt zur „Vernichtigung" bei Bernières de Louvigny folgende A n m e r k u n g : „Wenn man v o n Vernichtigung redet, so versteht man darunter niemals seine Vernichtigung nach d e m natürlichen Wesen (physique); denn nichts wird ganz zerstört in der Natur . . . Dieses Wort Vernichtigung bedeutet nichts Anderes, als die gänzliche Zerstörung des alten Menschen durch die Enteignung . . ," 8 2

Somit ist Winter gegen Forsthoff recht zu geben. Aber Winter übersieht zahlreiche Belege, die deutlich machen, daß auch im Quietismus von keiner „seinshaftigen Vernichtigung" die Rede sein kann. So ist gerade dieses letzte Zitat nicht etwa von Tersteegen persönlich formuliert, sondern seinerseits wieder Zitat, und zwar aus den Schriften der M a d a m e Guyon. Hier wie dort liegt der Gegensatz zwischen Gott und Mensch nicht auf der Ebene des Ontologischen, sondern i m Bereich des Voluntativen. Die Vernichtigung erstreckt sich lediglich auf den eigentümlichen H a n g des Selbstbewußtseins unabhängig von allem, etwas zu sein. Tersteegen präzisiert d a r u m die „Grundwahrheit", daß Gott alles und wir nichts sind in der Weise, daß er schreibt: „Gott (ist) Alles - alles andere aber außer ihm (ist) ein Nichts in sich selber . . . " 8 3

Andererseits gibt es hier wie dort Formulierungen, die die Konturen verschwimmen lassen. Die Ursache liegt wohl vor allem in der grundsätzlichen Schwierigkeit, diesen Bewußtseinszustand adäquat zu erfassen, denn zu Tersteegens Zeit geschieht es i m m e r wieder, daß ein Gefühl, das eigentlich phänomenologisch beschrieben werden müßte, in eine ontologische Begrifflichkeit gekleidet wird. Wir müssen also unterscheiden zwischen dem gemeinten P h ä n o m e n und den bisweilen zweideutigen U m s c h r e i b u n gen desselben. U m d e m Gemeinten näher zu k o m m e n , bietet es sich an, den Verben nachzugehen, die Tersteegen zur U m s c h r e i b u n g dieses Zustands benutzt. Sie erweisen sich als besonders aufschlußreich. 82

vLE 238 (II, 6.8 Anm.); ähnlich auch der Zusatz zu Gerlachs Herzensgespräch HG 25 (9, Anm.): „in sich entwerden ist sich selbst absterben oder sich vernichtigen in Ansehung seines Eigengesuches . . . " Bei der Anmerkung zu Bernières bezieht sich Tersteegen ausdrücklich auf zwei Abschnitte aus Mme. Guyons Discours crêtien, und zwar auf Tom. 1, Disc. 2 § 24 und Disc. 23 §§ 8 u. 9. Daß gerade Mme. Guyon so über die Vernichtigung schreiben kann, macht aus Winters Darstellung des Quietismus eine unhaltbare Konstruktion. 83 UA 236 (II, 8.6).

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2. Ein Versunkensein84 Wo Tersteegen v o m Sterben des eigenen Ich spricht, steht ihm eine Vielzahl ähnlicher Ausdrücke zur Verfügung. Dabei lassen sich zwei Gruppen unterscheiden, die sich in ihrem Auftreten klar voneinander abheben. Einerseits redet er v o n einem mehr aktiven, willentlichen „Kreuzigen", „Töten" und „Absterben" unserer Eigenheit und v o m „Verleugnen" unserer selbst. Andererseits von einem passiven „Sich vergessen" und „Sich verlieren", v o m „Sich entsinken" und „Sich verlassen", von „Entwerden" und in unserer Strophe sogar v o m „Verschwinden". Während erstere als bewußte Akte der Reinigung für sich stehen, begleiten diese das Offenbarwerden der Gegenwart Gottes unmittelbar. Von dieser zweiten Reihe ist hier zu handeln. Bei der Durchsicht dieser Verben fällt auf, wie häufig sie an das Bild des Meeres geknüpft sind. Die folgenden Zeilen zu Matthäus 16,25 machen deutlich, wie sich u m das Stichwort „Ozean der Gottheit" diese eigenartigen Negationen wie „Sich verlieren" 85 , „Sich loslassen" 86 , „Sich entsinken" 8 7 und „Verschwinden" 8 8 aufhäufen. 84 Vgl. hierzu besonders C. Albrecht, Psychologie des mystischen Bewußtseins, Bremen 1951 S. 96-107, w o er zwischen Aufmerksamkeit. Versenkung und Versunkenheit unterscheidet. 85 Hier wie auch bei den folgenden Verben fällt auf, daß Tersteegen sie einerseits einsetzt, um zu beschreiben, was die Gegenwartserfahrung am Betenden bewirkt und andererseits sie als Haltung darstellt, die man einnehmen muß, um möglichst schnell zur Erfahrung der Gegenwart Gottes zurückzukehren. Z u m Ersten s. BL 344 (3,12.6): „Wer einen Funken nur Von deiner Liebe spürt, Sich selbst ganz willig ganz In solchem Meer verliert. " oder BL 483 (3,67.3): „Willst du nicht mein Herz entzünden, Daß ich mich in dich verlier'?" vgl. BL 339 (3,10.2) u. 550 (3,98.11); BR III 55(17). Z u m Zweiten s. BL 607 (FL 82): „Verlier die Kreatur und dich, So findest du Gott wesentlich!" Vgl. BL 51 (1,75); 54 (1,88); 62 (1,123); 64 (1,133); 84 (1,222); 86 (1,230); 90 (1,253); 108 (1,334); 115 (1,366); 612 (FL 107); BR 1174 (68); II 147 (45); III 192 (62); 289 (91); III LE 44; IV 43 (17); IV Zug. 33 (XIX) u. ö. 86 S. BL 430 (3,52.5): „Laß los, laß los, brich alle Band' entzwei! Dein Geist wird sonst in Ewigkeit nicht frei. " Vgl. BR 11251 (83) u.ö. Ähnlich auch „sich verlassen". S. BR III LE 73: „Ich habe handgreifliche Beweggründe, mich selbst zu verlaßen, und mir selbst zu entsinken, um nur in Jesu erfunden zu werden." Vgl. BL 638 (FL 235); BR II 8 (2); 269 (90); 358 (121); 380 (128) u. ö. 87 S. B R I 220 (80): „gäbe (man) dem Gemüth ein wenig Raum in der Stille und Einfalt zu bleiben; so würde man

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„Wer sein Leben verliert, der wird es finden Ei, werd nicht bang, wenn alle Stützen dir Entnommen sind und du entblößt mußt schweben; Im Ozean der Gottheit dich verlier, Der tiefste Tod bringt dir das reinste Leben! Laß alles los und schließ die Augen zu; Verlierst du nicht, so wirst du nimmer finden! Wer sich entsinkt, der find't in Gott die Ruh, Sein Leben bleibt, das eigne muß verschwinden." 89 D i e Verben scheinen abhängig v o m Bild des Ozeans. Zumindest legt die Erinnerung an die Weite und Tiefe des Meeres es nahe, v o m Sterben des Ichs in der Weise des Einsinkens zu reden, wie es auch in unserer Strophe geschieht, w e n n es heißt: „Ich senk mich in dich hinunter . . . " U m diese Empfindung des Einsinkens aufzuhellen, bietet es sich an, dem Stichwort „Sinken" in der Bedeutung nachzugehen, wie sie uns aus dem alltäglichen Sprachgebrauch vertraut ist. Wo immer das Bewußtsein ganz und gar eingenommen wird v o n seinem Gegenstand, sprechen wir von Zuständen wie Sich versenken, Versenkung, Versinken, Versunkensein in den Gegenstand. Es ist zunächst nichts anderes als eine konzentrierte einseitige Aufmerksamkeit. In solchen Augenblicken gesammelter Versunkenheit gerät das Ich sogleich in eine eigentümliche Selbst-Vergessenheit 90 . wahrlich erfahren, wie man sich selbst nach und nach entsinken, aber auch zugleich, daß ein anderer in uns kommen, und sich unserer bemächtigen würde . . . " Vgl. BR II 372 (127). Wieder fällt auf, wie häufig Tersteegen zu solch „einfältiger, willenloser Entsunkenheit" einfach aufrufen kann. S. BL 153 (1,520): „entsink dir selbst zu Grunde Gelassen, still und bloß ins gegenwärt'ge N u . " Vgl. BL 74 (1,173); 116 (1,368); 485 (3,68.4). Besonders häufig in diesem Zusammenhang die aktiven Verben im Wortfeld sinken wie „sich senken", „sich ersenken", „sich einsenken" und „sich hineinsenken". S. z.B. BL 36 (1,3); 36 (1,6); 38 (1,12); 44 (1,41); 51 (1,77); 64 (1,133); 100 (1,300); 101 (1,301); 105 (1,324); 115 (1,364); 132 (1,448) u . ö . BR I 42 (13); 47 (17); 69 (24); 167 (65); 204 (76); 269 (96); 272 (96); 307 (108); 311 (109); 355 (123); 360 (125); 409 (146) u . ö . Vgl. aber auch „sinken" und „einsinken" in indikativem Sinn. S. BL 132 (1,442); 142 (1,481); 145 (1,495); 151 (1,514); 380 (3,30.1); 497 (3,73.6); 503 (3,76.6+7); 607 (FL 81); 650 (FL 295); 650 (FL 298) u. ö. Als Imperativ s. BL 81 (1,209); 648 (FL 286); 649 (FL 290); 654 (FL 317); 664 (FL 364) u. ö. 88 Zu „verschwinden" vgl. BL 342 (3,11.5). Ähnlich in diesem Zusammenhang Ausdrücke wie „verschlinge uns" so BR I 308 (108) oder „nimm uns ein" BR III 8 (4). 89 BL 62 (1,123). 90 Wie bei den vorangehenden Verben umschreibt „Selbstvergessenheit" einmal den Bewußtseinszustand, den die Gegenwart Gottes hinterläßt. S. BR III 55 (17), w o es heißt:

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S i c h „ s e l b s t u n d alle D i n g e v e r g e s s e n " 9 1 h a t d e r M e n s c h , w e n n

seine

A u f m e r k s a m k e i t g a n z e i n g e s u n k e n ist i n e i n e n g r o ß e n u n d s c h ö n e n G e g e n stand. S o k a n n ein ü b e r w ä l t i g e n d e r N a t u r e i n d r u c k das B e w u ß t s e i n für e i n i g e A u g e n b l i c k e v o l l s t ä n d i g a u s f ü l l e n . S e l b s t v e r g e s s e n h e i t ist n o t w e n dig, w e n n solch eine Versunkenheit stattfinden soll92. D a s B e s o n d e r e d e r mystischen

S e l b s t v e r g e s s e n h e i t ergibt sich n u n aus d e m

V e r g l e i c h m i t d i e s e m a l l t ä g l i c h e n B e w u ß t s e i n s z u s t a n d . I m a l l g e m e i n e n ist s i c h das b e w u ß t e I c h n i c h t n u r a n d e r e r D i n g e s o n d e r n a u c h s i c h s e l b s t , d e r B e w e g u n g e n u n d Zustände seines Inneren b e w u ß t . N o r m a l e r w e i s e w i r d das G e g e n s t a n d s b e w u ß t s e i n i m m e r a u c h v o n S e l b s t b e w u ß t s e i n begleitet. Wir sind uns nicht nur eines D i n g e s b e w u ß t , sondern zugleich auch dessen, daß

w i r u n s e i n e s D i n g e s b e w u ß t s i n d . I n d e r R e g e l ist e i n T e i l u n s e r e r

A u f m e r k s a m k e i t dadurch absorbiert, daß w i r unsere H i n g a b e b e o b a c h t e n u n d einer Z e n s u r u n t e r w e r f e n . Selbst in A k t e n m i t stärkster innerer B e t e i l i g u n g k a n n es g e s c h e h e n , d a ß d a s I c h - B e w u ß t s e i n n i c h t v o n s e i n e r d i s t a n zierten Z u s c h a u e r h a l t u n g l o s k o m m t , sich selbst e t w a b e i m B e t e n u n d in A u g e n b l i c k e n seelischer E r r e g u n g betrachtet u n d w o h l gar kontrolliert. „Wir gehen zu Gott, aber wir n e h m e n uns mit, und vieles des Unseren; und solchergestalt kann Gott nicht vertraulich mit uns, n o c h wir lauter mit Gott handien. Wir w o l l e n Gott umfassen, und halten heimlich uns selbst u n d die Kreatur fest; D a r u m kanns u n m ö g l i c h gehen. O großes Elend! also verwickelt zu seyn, und sich selbst nicht zu k ö n n e n entwicklen!" 9 3

„daß du über dem geheimen und stummen U m g a n g mit diesem Herzensfreund deiner selbst und aller deiner Elenden glücklich vergissest . . . " Vgl. BR I 133 (53); 316 (111); II 90 (33); IV Zug. 34; BL 172 (1,577); RE III 373 (7). S. dazu auch unten S. 147 Anm. 96 u. 97. Mit „Selbstvergessenheit" bezeichnet Tersteegen aber auch die Haltung, in der die Seele auf dem kürzesten Weg die Gegenwart Gottes in sich wahrnehmen kann. Darum kann er zur Selbstvergessenheit aufrufen. Der vorwiegend paränetische Charakter seines Schrifttums hat zur Folge, daß diese Seite besonders stark hervortritt. S. BL54(1,88): „. . . Verlier, vergiß dich gar, Kein Leben sei in dir als Christus offenbar!" Vgl. BL 84 (1,222); 101 (1,301); 130 (1,435); 137 (1,460); 162f. (1,558); 212 (2,36); 504 (3,76.8); 655 (FL 322); BR 141 (13); 50 (18); 137 (55); 206 (77); 308 (108); II 220 (73); III 8 (4); 59 (19); III LE 64 u. 74; IV Zug. 29 u. ö. Wie erklärt sich diese Doppelheit im Verwendungsgebrauch? Die Art, wie Tersteegen zur Selbstvergessenheit aufruft, deutet an, wie sich indikativer und imperativer Gebrauch dieser Verben zueinander verhalten: „Das Vergessen deiner Selbst und aller geschaffenen Dinge ist sehr gut; muß aber nicht direct und mit Anstrengung geschehen, sondern durch ein einfaltiges Fallenlassen, und durch einen ruhigen liebevollen Blick deiner Andacht auf den so nahen Gott." BR III 191 (62); vgl. BR II 90 (33) u. BL 618 (FL 134); s. a. BR III 306 (97), w o deutlich wird, daß Selbstvergessenheit trotz aller Übung nur dann gelingt, wenn Gott sie bewirkt. 91 BL 172 (1,577). 92 Vgl. Rudolf Otto, Mystische und gläubige Frömmigkeit, in Sünde und Unschuld und andere Aufsätze zur Theologie, München 1932 S. 145-148 und C. Albrecht, Das mystische Erkennen a.a.O.; zum Problem Bewußtseinspräsenz oder gnoseologische Präsenz S. 123ff. 93 B R Ì I 2 4 7 (82). 146

Hier wird das Ich als Last empfunden, als etwas, das die Hingabe wirkungsvoll stört, wenn nicht sogar verhindert 94 . Dadurch geraten Gegenstandsbewußtsein und Selbstbewußtsein in Spannung zueinander. In dem Maße, wie das eine sich aufdrängt, verschwindet das andere. Die Selbstvergessenheit beginnt da, wo die ganze Kraft des Vernehmens vom Gegenstand aufgesogen wird: „Er erfüllet uns; . . . Wunder! daß wir da an was anders denken können. In ihm, aus Respect gegen ihn, und ihm zu gefallen, sollen wir uns selbst und die Kreatur da laßen und vergessen, und uns, mit allem unserm Jammer, in dem Meer seiner Liebesnahheit verlieren. " 9S

Diese Erfahrung liegt Tersteegens Reden von der Vernichtigung zugrunde. Wo das Bewußtsein von der Gegenwart Gottes erfüllt wird, „entsinkt" es seinem eigenen Ich. Es kennt nur noch Gott, überall, wo es hinschaut, nur noch Gott: „Meer ohn'Grund und Ende . . . "

Die Gegenwart Gottes verursacht im Menschen ein totales Objektbewußtsein. Tersteegen schreibt: „Wie sollt' ich mich nicht selbst und alle Ding' vergessen, Da ich stets leb' und schweb' im Wesen unermessen?"96

In einem persönlichen Brief an Maria d' Orville gibt er zu erkennen, wie sich dieser Zustand der Selbstversunkenheit in seinem eigenen Leben geäußert hat. Zugleich gibt dieser Brief einen wertvollen Einblick in den Grad mystischer Versunkenheit, den wir für Tersteegen voraussetzen müssen. Er schreibt: „Oefters sehe ich, als im Vorbeigehen, daß mein Innerstes im Frieden ist, oft aber weiß ich nichts davon . . ," 97

So schafft das Gegenwartsbewußtsein Zustände, in denen die Seele ganz und gar von ihrem Gegenüber eingenommen und erfüllt ist. Es verursacht Augenblicke reiner Selbstvergessenheit: „O möchte der große und gütige Gott doch von nun an recht groß in unseren Herzen werden, ja so groß, herrlich und liebenswürdig, daß wir wegen der Erkänntniß und des Andenkens dieses großen und nahen Wesens immer mehr unserer selbst und alles Schattenwesens der sichtbaren und zeitlichen Dinge vergessen möchten!" 98

94

S. BR II 220 (73): „Immer sehen wollen, wie und wo man ist, gibt nur Verwirrung und Zeitverlust." 95 BR III 192 (62). 96 BL 172 (1,577); vgl. BL 101 (1,301). 97 BR III LE 61 ; vgl. ähnliche Äußerungen an Maria d' Orville in LE 34; 39; 55; 56; 63; 66; 71. 98 BR 1133 (53); vgl. RE III 373 (7) = GR 530 f.

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N u n w i r d die Eigenart dieses Z u s t a n d s aber erst richtig deutlich, w e n n m a n berücksichtigt, in w e l c h e m M a ß e sich der selbstbewußte M e n s c h diesem Versunkensein widersetzt. M a g er sich auch n o c h so sehr einem G e g e n über ö f f n e n , es bleibt d o c h ein Vorbehalt, der u n m e r k l i c h d a r ü b e r w a c h t , daß sein O b j e k t ihn nicht völlig gefangen n i m m t u n d die Freiheit seines Ichs antastet. So g e w i ß die G e g e n w a r t Gottes i m Augenblick den ganzen Menschen überwältigt, so w e n i g ist er d o c h ganz überwältigt. Das Ich w e h r t sich gegen sein E i n g e n o m m e n s e i n , i n d e m es sich in seiner Ergriffenheit aus der Distanz eines u n b e t r o f f e n e n Beobachters betrachtet. Es „will sehn u n d gesehen s e i n . . . " " . In dieser Reflektiertheit entzieht es sich der Allheit Gottes u n d b e w a h r t sich so das G e f ü h l seiner „schlechthinnig e n " Selbständigkeit. Es verhält sich so, als gäbe es einen neutralen P u n k t , v o n d e m aus es sich selbst in R u h e betrachten k ö n n e . Es verhält sich in seiner Versunkenheit wie ein Subjekt zu e i n e m O b j e k t . Diese Distanziertheit v e r hindert jedes echte Ergriffensein. D a r u m liegt in dieser H a l t u n g ein Verhängnis, d e n n sobald sie sich auf das Gottesverhältnis erstreckt, f u h r t sie unweigerlich z u m E n d e j e d e r religiösen Einstellung. Diesen Z u s a m m e n h a n g hat Tersteegen gespürt. E r hat die Allheit Gottes erfahren u n d erlebt, daß es keinen P u n k t gibt, auf d e m sich das Ich in seiner fiktiven Selbständigkeit halten kann. E r weiß, daß es einer Wahnvorstellung anhängt, w e n n es meint, i m G r u n d e frei u n d u n a b h ä n g i g zu sein. A b e r er w e i ß auch, wie sehr sich sein Ich dagegen w e h r t , seine Nichtigkeit einzugestehen. Weil er die l ä h m e n d e M a c h t dieser Fiktion kennt, reagiert er auf sie m i t äußerster Heftigkeit: „O das erschreckliche Selbst!"100 M e h r als alle Verfallenheit an die K r e a t u r ist i h m dieses „Selbst ein rechter Satan, . . . der sich in einen Engel des Lichts v e r s t e l l e t . . ," 1 0 1 , hindert es ihn d o c h daran, sich vorbehaltlos der Gottesnähe auszusetzen: „Könnten wir uns nur vergessen und verlaßen,. . . um ihn nur anzusehen, uns mit ihm zu beschäftigen . . ., so wären unsere Bande bald gebrochen." 102 D a m i t ist eindeutig, was Tersteegen unter der Nichtigkeit des Ich v e r steht. Er beschreibt d a m i t keinen Z u s t a n d des Seins, sondern des Bewußtseins. Die Annihilatio betrifft den eigentümlichen H a n g des neuzeitlichen Bewußtseins, G o t t u n d allem gegenüber letztlich frei u n d u n a b h ä n g i g bleiben zu wollen. D i e Vernichtigung des Ich bedeutet s o m i t nichts anderes als die A u f h e b u n g der S u b j e k t - O b j e k t - S p a l t u n g . Von d e m Augenblick an, w o Tersteegen auf die in i h m v e r b o r g e n e Fiktion v o n „schlechthinniger" Selbständigkeit gestoßen ist, hat er dieses Selbst als 99

BL 655 (FL 322). 100 w w 304 (7,41).

148

101

loa

BR II 247 (82). j 2Q6 (77).

BR

das eigentliche Hindernis seines Gebetslebens erkannt. Es ist „das schrecklich' Eigen" 1 0 3 , das den Zugang zur Gegenwart Gottes am wirkungsvollsten blockiert. So schreibt er in einem Brief an seinen Verleger Schmitz nach Solingen: „Es ist wahr, was du sagest, du wirst das Geschöpf, als dich selbst, dran geben können; denn wir sind unbegreiflich tief durchdrungen mit dem Selbst; wir lieben dieses Selbst so sehr, daß wir dem teuflischen Theil alles zu lieb thun, und ihm gern den Himmel gönnen sollten. Allein vergiß auch dieses selbst, und gib es dran, daß es sich, und durch die Hand Gottes von Innen und Außen zerstöret werde. Wo dieses Gespenst begegnet, da thue nur kindlich dein Auge davor zu, und siehe Gott an, mit einem einfältigen Glaubensgemerk seiner innigen Gegenwart." 1 0 4

Diese Empfindlichkeit gegen das aufbrechende Autonomiebewußtsein seiner Zeit ist das Charakteristikum dieser und aller quietistischen Mystik. Hier wird in aller Bestimmtheit nicht mehr die Welt, sondern das eigene Selbst als die große Versuchung empfunden. Ungreifbar wie ein „Gespenst" erscheint sie hier als der eigentlich „teuflische Teil". Aber wie entgeht das Selbstbewußtsein diesem Selbst? Mit Askese und Eremitentum entrinnt man zwar der Welt, nicht aber dem Sog eines ständig reflexiven Bewußtseins. Ihm entkommt man nicht durch Willensstärke, auch nicht durch irgendeine meditative Technik. Es bliebe immer noch Autonomie, vielleicht die feinste und sublimste Form des Eigenwillens, wenn man kraft eigenen Willens beschließt, sich über sein Selbst zu erheben oder seinem Ich zu entsinken. Darum die Mahnung: „Heut willst du fliegen, morgen sinken; Laß dir doch tiefer einwärts winken!" 1 0 5

Einsinken und Erheben sind für Tersteegen keine verfugbaren, meditativen Techniken. Er verbreitet keine ausgeklügelte Praktik der Versenkung. U m dem allgegenwärtigen Selbstbewußtsein zu entgehen, verweist er immer nur auf dieses Eine: Man muß die Nichtigkeit dieses Selbst erkennen, um sich um so mehr Gott selbst zu überlassen. Tersteegen richtet unsere Aufmerksamkeit darauf, wie wir uns „fest halten, anstatt daß wir sollten los laßen" 106 und uns damit um jede echte Hingabe und Versunkenheit bringen. Wer dies wie Tersteegen spürt, wird auch wie er geneigt sein, den zügelnden Griff seines Ichs zu lockern. Ständig neu erinnert Tersteegen daran, uns selbst loszulassen 107 , alle Sorge für uns selbst fallen zu lassen 108 , um so „wie ein Todter" den Wirkungen Gottes Raum zu geben 109 103 104

B L 116 (1,368). B R III 16 (8).

105

B L 6 4 0 (FL 246). io» B R II 2 4 8 (82).

107

S. bes. B R III LE 57 u. 64; III 8 0 (24); IV 2 8 3 (114).

108

B R II 127 (40); III 191 (62) u. LE 62. R E III 361 (7) = G R 526.

109

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„Wir wollen daher nur durch bloßes Loslassen und Schweigen vor dem Unserm dem Göttlichen leidend in uns Raum geben." 110 Wer bereit ist, sein „Schifflein" sinken zu lassen, wird erfahren können, daß sich unterhalb des Ich-Bewußtseins etwas öffnet, das er nach und nach, je mehr er es entdeckt, als „einen sehr edlen, stillen, lautern G r u n d " 1 1 1 erkennt. Es erschließt sich ihm ein ganz neuer Bereich, der von „Zeit, O r t und Kreatur" unberührt erscheint 112 , ein Grund der Ruhe, in dem der Geist aufatmet und sich befreit fühlt von der Knechtschaft des Ich-Bewußtseins. D a r u m ist das Versunkensein im Meer der Gottheit letztlich etwas überaus Beglückendes, so daß Tersteegen schreiben kann: „Wie selig ist, wer sich im Glauben nur Mit Leib und Seel'in Gottes Meer verlieret . . ," 113 Einer Frau in Mülheim kann er „diesen seligen Tod" geradezu wünschen. Er bittet für sie: „Er selbst (Christus) wolle . . . geben, daß wir uns dergestalt in ihn verlieren mögen, daß wir uns nimmer in uns selbst wieder finden."114

Zusammenfassung Wir sahen: Gotteserfahrung kann sich bei Tersteegen in der Weise mitteilen, daß sich in der Seele ein Eindruck von numinoser Übermacht einstellt. Das Selbstbewußtsein reagiert darauf mit dem Gefühl seiner eigenen Nichtigkeit und zugleich mit der Bereitschaft, diese „Vernichtigung" willig an sich geschehen zu lassen. In der eigenen Seele entsteht der Wunsch: „Laß mich ganz verschwinden, Dich nur sehn und finden!" Dieser Prozeß der Vernichtigung hat sich als eine Bewegung fortschreitender Versunkenheit und Selbstvergessenheit dargestellt. So bedeutet das Einsinken in das „Meer ohn' Grund und Ende" ein Entsinken von der Oberfläche des Ich-Bewußtseins und ein Eintauchen in den Grund der Seele. Tersteegen behandelt unter diesem Bild das Problem der Subjekt-ObjektSpaltung und ihre Überwindung. Die Aufhebung des Ich betrifft das IchBewußtsein in seiner Eigenart, allem gegenüber eine schlechthinnige Selbständigkeit zu bewahren. Versunkenheit meint darum die eigentümliche Seelenstruktur, daß etwas in uns unsere eigene Vernichtigung will, u m zu seinem eigentlichen Dasein befreit zu werden. Dies k o m m t in den beiden folgenden Bildern zu einer näheren Entfaltung.

110 111 112

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BR holl 98 (42) = BR N S 283 (187). BR 138 (12). BL 108 (1,334).

113 114

BL 108 (1,334). BR II 134f. (41).

V. Gott als das alles durchdringende Licht „Was ist nun leichter und einfaltiger, als die Augen aufzuthun, und das Licht anzusehen, welches uns von allen Seiten umgiebet. Gott ist uns weit mehr gegenwärtig, als das Licht; in ihm leben wir, bewegen wir uns, und sind wir. Er durchdringt uns; er erfüllet uns; er ist uns näher, als wir uns selber sind . . . 1 , 1

Wie im Bild von Luft und Wasser ist auch hier Gott als ein Etwas u m schrieben, das „uns von allen Seiten umgiebet". Und doch sind die Gefuhlsmomente, die sich an dieses Bild heften, anders. Sein Symbolgehalt steht nicht ohne Spannung zum vorherigen Bild. Dem dunklen Grund des Meeres steht nun das helle, strahlende Licht der Sonne gegenüber und dem im endlosen Meer versinkenden Ich das Bild der Blume, die die Strahlen der Sonne erfaßt und auf sich wirken läßt. Zwar ist die Blume im Vergleich zur Sonne auch beinahe ein Nichts, und doch ist das Ich, das sich hierin abgebildet findet, nicht ganz verschwunden, nicht ganz versunken in die göttliche Tiefe; es ist noch jenes zarte Wesen, das sich wohl ganz der Sonne hingibt, aber doch ein Eigenes bleibt. Auch die Gestimmtheit ist anders: ein Bild des Einklangs und natürlicher Harmonie. Die Blume lebt ihre Bestimmung „still und froh", sie findet ihre äußerste Entfaltung mühelos. Sie setzt sich einfach dem „schönsten Lichte" aus, fängt seine Strahlen ein und läßt sie wirken. Was bedeutet dieser Gegensatz im Bildlichen? Handelt es sich dabei um eine neue, andersartige Erfahrung? Welchen phänomenologischen Rang hat Tersteegens Reden von Licht und Sonne? Äußerungen, wie die beiden folgenden Briefabschnitte, geben Aufschluß darüber, daß wir erneut zwischen Eindruck und Deutung unterscheiden müssen. Der zugrundeliegende Eindruck ist auch jetzt wieder „verborgen" und von „eene hand, die men niet altoos z i e t . . . " 2 . So heißt es in einem holländischen Brief: „Von Zeit zu Zeit empfangen wir von einer nicht immer sichtbaren Hand, einen verborgenen und immer festen Eindruck von der Gegenwart und Allgenügsamkeit des Herrn in uns, so daß man es gleichsam beständig auf eine allgemeine Weise in sich fühlt (by zieh draagt), nebst einem Gesicht von der großen Reinheit in allen Theilen, mit der man diesem genügenden Gegenstande ankleben muß, welches Gesicht uns zuweilen mit solcher Kraft und Annehmlichkeit einnehmen kann, daß dieses ein hinlängliches Zeugnis von seinem Ursprung gibt." 3 1 BR 1343 f. (119); vgl. den auffallend ähnlichen Passus in BR II 295 f. (98), der von der Luft handelt; s. o. S. 128. 2 BR N S 294 (195). 3 BR holl 125 (54) = BR NS 294 (195).

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Faßbar ist demnach der Eindruck, daß das, was da in uns gegenwärtig ist, uns genügt oder „vergnügt", wie Tersteegen sagt. Faßbar ist auch der Eindruck, daß man um dieses Etwas willen reiner werden müsse. Ähnlich k o m m t es in dem folgenden Abschnitt zum Ausdruck: „Die allgemeine, verborgene Ruhe und Friedlichkeit im Herzen (grond), welche eine solche Seele bei diesem Formlosen (onverbeeldelyke) schmeckt, ist ein unfehlbarer Beweis, daß sie sich auch wohl fühlt (wel is), daß sie in Gott oder unter dessen Führung ist; denn keine Creatur kann dem Herzen Frieden und Wohlsein verschaffen; und so wenig auszeichnendes die Sache auch haben mag, so kann doch die Seele, wie es ihr scheint (und dem ist auch so) sich mehr dabei beruhigen als bei allen ausgezeichneten Gewißheiten... ." 4

Wieder wird die objektbezogene Seite des Eindrucks als „onverbeeldelyke" bezeichnet. Carl Albrecht nennt diese undifferenzierte Weise des Erfahrens ein „Spüren", präziser ein mystisches „Spüren der Präsenz" 5 . Seine Beschreibung trifft gut den für Tersteegen geltenden Sachverhalt. Er schreibt: „Der Anfang ist ein erstes .Bemerken', daß der mystische Gegenstand aufgetaucht ist, der .Eindruck', ,daß da etwas ist', also ein erstes ,Berührtwerden' von ihm." 6 Es gehört zum Kennzeichen dieses Spürens weiterhin, daß es den Erlebenden in ein Zwielicht von Wirklichkeit und Schein versetzt. Noch weiß er nicht sicher, ob das Gespürte der Ursprung echter Erfahrung oder ein Produkt seiner Phantasie ist. Und schließlich trifft Albrecht auch darin den hier vorliegenden Befund, wenn er das mystische Spüren als „die alle mystische Einzelerfahrung umhüllende und begleitende Urerfahrung" bezeichnet 7 . Im Spüren bleibt das Erfahrene mehr ein Ahnen. Greifbarer sind dagegen die Wirkungen, hier die „allgemeine, verborgene Ruhe" und ein „Wohlsein". Sie ermöglichen Differenzierung. Daß da etwas ist, was diese Wirkung auslöst, kann man als gesicherte Erkenntnis festhalten, aber was das ist, bleibt in hohem Maße Tersteegens Deutung vorbehalten. Die Unschärfe läßt gegensätzliche Aspekte zu, macht sie geradezu notwendig. So ist auch die Umschreibung Gottes als Licht in starkem Maße traditionsbeladen. Für Tersteegen verbindet sich mit diesem Bild einerseits ein Gefühl des Wohlseins und andererseits der Impuls, reiner und unbefleckter zu werden.

4 5 6 7

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BR holl 133 (57) = BR N S 296 (196). Das myst. Erkennen a.a.O. S. 232. Ebd. 231. Ebd. 233.

Α. Das Gewahrwerden von Licht und Wärme „O Gottes Gegenwart ist keine todte Gegenwart, o nein, sondern wie die Sonne am Himmel mit ihren Strahlen sowohl alles erleuchtet als auch zugleich erwärmet, und mit Kraft und Leben durchdringet, so dringet auch die Gegenwart Gottes, als eine hell leuchtende und lieblich strahlende Sonne in die Herzen ein, die danach begierig sind, und flößet ihnen immer neues Leben und neue Kräfte ein. O was wird da in dem Herzen verspühret. . ." 8

Auf das Bild der erleuchtenden, erwärmenden und belebenden „Gnadensonne" bezieht sich die alte Lebensbeschreibung, um Tersteegens persönliche Frömmigkeit zu kennzeichnen: „Er w u ß t e : G o t t schaut in m i c h hinein. D a r u m legte er dieser göttlichen G n a d e n s o n n e sein Inneres o f f e n , u m d u r c h ihre Strahlen erleuchtet, e r w ä r m e t u n d belebet zu werden."9

Zugleich weckt diese Erfahrung von Licht und Wärme in Tersteegen das Verlangen, sich dieser Sonne beständig auszusetzen. So heißt es im Bericht der Freunde weiter: „ D a b e i ü b t e er sich beständig i m Schauen auf Gott allein, d a m i t er d u r c h dieß A n s c h a u e n , i m m e r m e h r erleuchtet w e r d e n , u n d i m m e r n e u e Lebenssäfte aus d e m innigstnahen Gott und Heiland empfangen möchte. " 1 0

Aber dieses Erleuchtetwerden durch die „göttliche Gnadensonne" ist keine Empfindung, die vom äußeren Licht der Sonne herrührt. Wenn Tersteegen in unserer Strophe bittet: „. . . laß dein schönstes Lichte, H e r r , b e r ü h r e n m e i n Gesichte!"

erwartet er nicht einen strahlenden Sonnenschein 11 . Das Licht, von dem er redet, liegt vielmehr tief im Inneren. „ M e n s c h , k e h r dich d o c h hinein, da scheint die G n a d e n s o n n e , D a b e u t dir G o t t sein H e r z , sein Leben, Licht u n d W o n n e ! " 1 2

Das Herz ist der Ort, wo diese ganz andere Sonne aufleuchtet. Zwischen „der hellen Sonne der Gegenwart Gottes" 1 3 und der belebenden Kraft der Frühlingssonne besteht lediglich eine gewisse Ähnlichkeit. 8

RE IV 241 (5) = GR 225. BR III LE 54. 10 BR III LE 54 f. 11 Allerdings kann auch dieses Licht zum Gegenstand von Lob un Anbetung werden s. ζ. B. RE II 317ff. (7) = GR 129. 12 13 BL 155 (1,530). WW 339 (9,8). 9

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In einer Frühlingsansprache über Psalm 100 entfaltet Tersteegen a u s f u h r lich die gleichnishafte B e d e u t u n g des Sonnenlichtes. Wie i m Frühling „ d u r c h das liebliche, d u r c h das a n g e n e h m e , d u r c h das alles erfreuende Licht der S o n n e " der B o d e n e r w ä r m t u n d der Schoß der E r d e w i e d e r belebt w i r d 1 4 , so „berühret, bestrahlet, erquicket u n d e r w ä r m e t " 1 5 die S o n n e der G n a d e auch unser Herz. D a b e i gleicht das H e r z in seinem natürlichen Z u s t a n d einem winterlichen Land: „Die E r d e ist hart u n d zu allem untüchtig, alles ist kahl, alles ist w i e todt, alles ist w i e o h n e L e b e n . " 1 6 A b e r w i e die E r d e i m Winter auf die belebende K r a f t der Frühlingssonne wartet, so sehnt sich auch das H e r z nach d e m ewigen Licht der G e g e n w a r t Gottes. Eine S t r o p h e aus d e m B l u m e n gärtlein kleidet diesen Vergleich in ein poetisches G e w a n d : „Du siehst mein Herze, wie ich bin; Ich geb' dir's ein, ich geb' dir's hin, Erwartend dein Beleben. Die Sonn erwärmet dieses Rund: Du bist mir näher noch im Grund, Licht, Kraft und all's zu geben. Wälder Felder Schönheit bringen, Vögel singen; Laß im Dürren Denn dein Täublein nicht stets girren!" 17 Tersteegen liebt diese n a t u r h a f t e n Vergleiche 1 8 . A b e r was enthüllen sie ü b e r das eigentliche G e f ü h l v o n Licht u n d W ä r m e , das in der O f f e n b a r u n g der G e g e n w a r t Gottes aufleuchtet? Sie sind f ü r Tersteegen w i e gemalte Bilder v o n der Sonne. Sie geben zwar eine gewisse Vorstellung, aber erleuchten u n d e r w ä r m e n nicht selber. Z w a r k a n n ein Maler, w e n n er seine „ s c h ö n e J u n g f r a u (die reine göttliche Wahrheit) lange g e n u g in der Stille mit u n v e r w a n d t e n A u g e n angesehen, auch w o h l ein Porträt v o n derselben m a chen, solches andern, die sie nicht kennen, zu zeigen u n d selbige d a d u r c h zu ihrer Liebe anzulocken". U n d w e n n er sein Bild aufs beste g e t r o f f e n hätte, w i e töricht ginge er d o c h zu Werke, w e n n er v o n diesem leblosen Bild m e h r 14

RE II 317 (7) = GR 129. RE II 328 (7) = GR 134; vgl. U A 51 (1,4.8): „da Gott ein so schönes, anmuthiges, erfreuendes, lebendigmachendes, klares, hellglänzendes Licht fur unsern äußern Leib geschaffen hat - Er selbst ein noch unendlich schöneres, herrlicheres, erfreuenderes und lebendigmachenderes Licht seyn müsse, um sich unseren Seelen mitzutheilen. " 16 RE II 316 (7) = GR 129. 17 BL 558f. (3,99.3). 18 S. BR III LE 93f.: „Er unterhielt die Gesellschaft immer mit einem guten und gottseligen Gespräche, wozu er oft natürliche Dinge, Blumen, Kräuter, Korn etc. zum Anlaß nahm, die er aufs Geistliche deutete . . . " 15

154

A u f h e b e n s m a c h e n wollte als v o m Original u n d n u r n o c h an seinem Bild h e r u m k ü n s t e l t e 1 9 . So meisterhaft er sein H a n d w e r k auch verstehen m a g , über das e w i g e Licht k ö n n t e er nie angemessen Z e u g n i s geben. Bei aller Ähnlichkeit des äußeren Lichtes mit d e m hier gemeinten, bleibt das innere Licht etwas ganz anderes u n d letztlich Unerklärbares. D a r u m b e t o n t Tersteegen, daß m a n sich erst ins Licht der Sonne begeben m u ß , u m die Sonne zu sehen u n d genießen zu k ö n n e n 2 0 . N u r w e r es w a g t , sich selbst in dieses Licht zu stellen, erfährt seinen Glanz. 1. Ein

Entdecktwerden21

Schon i m Katechismus v o n 1724 geht Tersteegen der Frage nach, w a s k a n n uns die Sonne, das Werk des vierten Schöpfungstages, sagen? Tersteegen a n t w o r t e t , daß sie uns „das allsehende A u g e Gottes zu G e m ü t h f u h r e n " k a n n 2 2 . Wenn schon „die erschaffene S o n n e " ihre Strahlen über den ganzen Erdkreis verbreiten kann, „wie vielmehr w i r d der Gott, der sie g e m a c h t hat, uns alle allenthalben sehen k ö n n e n ? Selbst w a n n u n d w o uns die äußere Sonne nicht sehen oder bescheinen kann, sieht Er uns i m hellsten Lichte, m i t unsern v e r b o r g e n s t e n Sünden, G e d a n k e n u n d B e g i e r d e n " 2 3 . Seitdem begegnet i m m e r wieder die E r i n n e r u n g : „die Gegenwart Gottes, diese Liebes- und Lebenssonne, umstrahlet euch; die Augen des Herrn sehen auf e u c h . . ," 24 . Dies „alles d u r c h d r i n g e n d e A u g e G o t t e s " 2 5 w i r d v o r allem daran erkannt, daß der B e t e n d e gleichsam m i t den A u g e n Gottes seine innersten B e s t r e b u n gen entdeckt. Es offenbart uns „nach und nach... unsere tiefgewurzelte Selbstliebe.. ." 2 6 . Tersteegen betont, daß „allein" das A u g e Gottes solch tiefen Wurzeln n a c h s p ü r e n k a n n 2 7 . U n d w e n n w i r uns n o c h so viel selbst betrachten w ü r d e n , „in dieser göttlichen Sonne, b e m e r k e n w i r unsern Staub b e s s e r . . . "28. Das „Licht seiner göttlichen G e g e n w a r t " deckt etwas auf, „was kein anderes Licht so w ü r d e aufdecken k ö n n e n . . ," 2 9 . Es „entdeckt die subtilste 19

WW 54 (1/2,18). WW 337 (9,4). 21 Vgl. dazu den Abschnitt „Der Blick Gottes" in C. Albrecht, Das mystische Erkennen a.a.O. S. 188ff. 22 U A 53 (1,4.14). 23 Ebd. 54. 24 RE IV 240 (5) = GR 224; s. a. BL 93 (1,265); vgl. 69 (1,152); 116 (1,369); 123 (1,402); 140 (1,471); 150 (1,511) u.ö. 25 BR IV Zug. 23(7). 26 BR III 109 (38). 27 BR IV Zug. 23(7). 28 BR holl 30 (8) = BR N S 262 (167). 29 BR holl 154 (65) = BR N S 24 (13); vgl. BR II 4 (1) u. 200 (68). 20

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Eigenheit" 30 . Es zeigt uns „die subtilste Selbstgefälligkeit" 31 . Es „offenbaret erst Finsterniß, und alles ungerechte Wesen in u n s . . . " 3 2 . Sobald dies eintritt ist es geradezu ein „Beweis" dafür, „daß uns das Licht der Wahrheit nahe k o m m t . . . " 3 3 . Darum wertet Tersteegen es als eine besondere Gnade Gottes, wenn man „seine Eigenheiten so in allem fühlen muß" 3 4 . Wie geschieht das Aufdecken unserer verborgenen Autonomie? Tersteegen betont, daß es sich in der Regel schrittweise und „allmählich" vollzieht. „Ließe seine göttliche Majestät dir, und uns, unser ganzes Verderben auf einmal fühlen, so würden wir gar verzagen; deßwegen thut ers mit Maßen und mit Abwechslungen . . . " 3 5

Dies ist für Tersteegen auch der Grund, warum sich dieses Entdecktwerden nicht bei jeder mystischen Gegenwartserfahrung ereignet. Er sieht darin einmal mehr einen Erweis der „Güte und Weisheit" Gottes, weil er „sein schwaches Geschöpf sonst tödten w ü r d e . . ," 36 . Wie reagiert die Seele auf den Eindruck ihrer eigenen Dunkelheit? Tersteegen differenziert: „Wer nur wenig von dieser Eigenliebe siehet, g e h t . . . an die Arbeit; wer aber viel von ihr siehet, gibt diese Arbeit auf, und überläßt sie dem alles durchdringenden Auge Gottes." 3 7

Demnach gilt die Regel: Wer das Entdecktwerden in seiner ganzen Tiefe verspürt, reagiert unangemessen, wenn er versucht, die aufgedeckten „Eigenheiten, Nichtigkeiten und Verdorbenheiten" 38 eigenmächtig auszulöschen. Das führt nur zu Hochmut oder Verzweiflung. Das „Gesicht" unserer Eigenheit ist nicht dazu da, daß es überwunden wird, sondern, daß es stehen bleibt. Gott sorgt mit seinem durchdringenden Licht dafür, daß es sich ständig erneuert. Je mehr die Heiligung fortschreitet und „grobe" Versuchungen überwunden werden, um so mehr macht er die tief verborgenen Eigenheiten offenbar. Ihm liegt geradezu an dem „Gesicht" unserer Eigenheit. Der Betende begreift allmählich die göttliche Absicht: die Heiligung, die Gott an ihm vollziehen will, soll ohne Selbstüberhebung geschehen können. Darum läßt er ihn mit zunehmender Heiligkeit fühlen, daß in ihm „bei dem allen doch nichts als Sünde und Eigenheit" zu finden ist 39 . Einer Schwester, die unter diesem Widerfahrnis leidet, schreibt er als Erklärung:

30 31 32 33 34

156

BR II 351 (118); vgl. 199 (68) u. 4 (1). B R I 5 8 (20). BR 1383 (136). BR 1341 (118). BR II215 (72); bgl. BR III 172 (42).

35 36 37 38 39

BR BR BR BR BR

193 (33). II200 (68). IV Zug. 23(7). 1341 (118). II124 (40).

„Du wolltest gerne ganz heilig und rein seyn, und so mußt du gerade das Gegentheil nur in dir sehen und fühlen. Ey! gib dich nur zufrieden in deinem Jammer, und schließ die Augen zu. Gott wird dich zwar auch heiligen, aber deine Heiligkeit sollst du nicht sehen, damit du dich nicht erhebest. " 4 0 D e m n a c h m ü s s e n w i r zwischen d e m , was der B e t e n d e sieht u n d d e m , was an fortschreitender Heiligkeit u n b e w u ß t an i h m geschieht, unterscheiden. D e m Selbstbewußtsein sollen n u r seine „subtilen Eigenheiten" entdeckt w e r d e n . A b e r v o r i h m v e r b o r g e n dringt die Heiligung n u n d o c h in diese Bereiche vor, d e n n die „ S o n n e der Gerechtigkeit" offenbart nicht nur, sie läßt auch genesen 4 1 . Sie „ e n t d e c k t " nicht nur, sie „ B e k ä m p f t u n d verzehrt" auch „alles D u n k l e des eigenen Lebens bis auf das Aeußerste u n d bis i m I n n e r s t e n . . ," 4 2 . D i e Sonne läßt allmählich allen „ N e b e l " verschwinden, „daß es helle u n d still w i r d in unserer inneren W e l t . . . " 4 3 . D a r u m ist es wichtig, dieser Sonne stille zu halten, d a r u m in diesem Z u s a m m e n h a n g auch i m m e r wieder der Rat: Wo sich Unlauteres in uns regt, versuche nicht, es v o n dir selbst aus tilgen zu wollen, s o n d e r n „lege es aufrichtig u n d r u h i g v o r Gottes Angesicht bloß, so w i r d es v e r s c h w i n d e n " 4 4 . E m o t i o n a l kreuzen sich offenbar zwei E m p f i n d u n g e n . Einerseits k a n n das E n t d e c k t w e r d e n „nicht o h n e Wehe t h u n geschehen" 4 5 . J e näher das reine Licht d e m Ich k o m m t , u m so m e h r „klaget u n d j a m m e r t " es ü b e r Finsternis, Elend u n d N o t 4 6 . Andererseits erlebt es dieses Licht als das Licht Gottes u n d freut sich an Gottes Z u w e n d u n g . Tersteegen w u n d e r t sich selbst, „daß zwei so w i d e r w ä r t i g e Beschaffenheiten zugleich in Einer Seele Statt haben k ö n n e n . . . " 4 7 . Aber, w e r diesen Z u s a m m e n h a n g durchschaut, w i r d gerade auch f ü r dieses Widerfahrnis danken k ö n n e n . So m u t e t er einem B r u d e r in solcher Situation zu: „Danke Gott, daß er dir seine Gegenwart offenbaret, und danke ihm auch, daß er dir deine Finsternissen der Eigenheit zeiget, welche nur in diesem Licht können bekannt gemacht w e r d e n . . . " 4 8 Das A u f l e u c h t e n eines göttlichen Lichtes vermittelt aber nicht n u r einen E i n d r u c k des A n g e s c h a u t w e r d e n s , sondern auch den E i n d r u c k , in einer ganz neuen Weise sehen zu k ö n n e n . Wir sehen zugleich, daß w i r angeschaut werden.

40 41 42 43 44

BR II 132 (41). B R I 3 8 3 (136). BR holl 154 (65) = BR N S 24 (13) BR II 4(1). WW 339 (9,8).

45 46 47 48

BR 1383 (136). Ebd. BR II 199 (68). BR II 200 (68).

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2. Ein

Erleuchtetwerden

Das Licht schafft sich in uns erst das Vermögen, sein Leuchten zu erkennen. So heißt es mit Hinweis auf Psalm 36,10: „Dieses unzugängliche ewige Licht wird nicht gesehen, als nur in seinem eigenen Licht." 49

Es gibt keinen objektiven Zugang zu diesem Phänomen. Entweder redet man als „Erleuchteter" von diesem Licht oder aber wie ein Blinder von der Farbe 50 . An dieser Stelle wird Tersteegens Auseinandersetzung mit dem Geist der Aufklärung geradezu drastisch. Er vergleicht den Verstand eines „unerleuchteten Menschen" mit einem Blindgeborenen, der zur Erkenntnis des natürlichen Lichtes gelangen will. „Sehet einen solchen an: er höret vom Lichte reden mit aller Aufmerksamkeit, er fasset alle zu ihm geredeten Worte in sein Gedächtnis, er machet sich eine Vorstellung und Begriff von dem Lichte so weit, daß er so gut davon schwätzen kann als ein Sehender. Sollte nun ein solcher sich demnach einbilden, nun habe er eine gute Erkenntnis vom Lichte? Würden wir nicht Mitleid mit ihm haben?" 5 1

Die Andersartigkeit des göttlichen Lichtes verlangt ein ganz neuartiges Sehvermögen. „Gott muß einen hellen Schein in unser Herz geben (2. Kor. 4,6); er muß uns geben erleuchtete Augen unseres Verständnisses (Ephes. 1,18)." 52 Oder im Bilde unseres Blinden gesprochen: „Wäre es nicht besser, daß dieser Blinde (unser unerleuchteter Verstand), wenn ihm anders nicht zu raten wäre, nachdem er von anderen Sehenden die Nachricht bekommen, daß ein so schönes und vergnügendes Licht s e i , . . . er aber sei ein elender Blinder, . . . er sich nun alsbald zu dem Arzt hinfuhren ließe, und, ohne sich weiter mit seinen ungewissen Begriffen von dem Licht aufzuhalten, dem Arzt stille hielte und nach dessen Rat die Genesung einfältig abwartete?" 53

Die Erfahrung der Gegenwart Gottes wirkt nicht nur von außen als Licht, sondern zugleich von innen als Erleuchtung, als plötzliche oder allmähliche Erschlossenheit eines ganz neuen Sehvermögens. Sie gleicht dem Gefühl, 49

WW 337 (9,4); vgl. 344 (9,17) u. 54 (1/2,18); s. a. B L 9 3 (1,264). S. UA 39 (1,2.36). si WW 31 (1/2,1); in „Tersteegen's Gedanken über die Werke des Philosophen zu Sanssouci" scheut er sich nicht, sogar seinen König als solch einen „Blinden" zu bezeichnen und dies zu veröffentlichen. Er schreibt: wenn wir uns nicht darauf verstehen, die „edlere Kraft" unserer Seele zu gebrauchen, „dann ist es vernünftig, daß wir's machen wie die Blinden, die so lang andern Glaubwürdigen glauben, bis ihnen der Staar auch weggenommen ist." Ebd. S. 57. Dieser Aufsatz ist erstmalig noch von Tersteegen selbst veröffentlicht unter dem Titel: „Gedanken über eines Anonymi Buch, genant, Vermischte Wercke des Welt-Weisen zu Sanssouci" 1762 s. Friso Melzer, Kirche und Literatur, Gütersloh 1933 S. lOff. 52 WW 30 (1/2,1). 53 W W 3 1 f. (1/2,1). 50

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von einer langjährigen Blindheit endlich erlöst zu sein. Wenn jener Blinde lange genug seinem Arzt stille hielte, würde er mühelos das Licht erkennen, seine Kraft erfahren und, w o es nötig ist, auch anderen verkündigen können 5 4 . Tersteegen benennt dieses neuartige Sehvermögen mit Begriffen wie „Geistesaugen" 5 5 , „Verstandesaugen" 5 6 , „Gemütsaugen" 5 7 , „Augen des Glaubens" 5 8 , „Einfaltsaugen" 5 9 oder „Augen der Seele" 6 0 , die für ihn alle gleichbedeutend sind 6 1 . Dabei bezieht er sich mehrfach auf Epheser 1,17 f. 6 2 . Normalerweise sind diese inwendigen Sinne verdeckt, weil sie nur für eine andere Welt geschaffen sind, wenn aber Gott sich selbst mitteilt, können diese Sinne aufgeweckt werden, und die Seele bekommt schon jetzt einen Eindruck von der Seligkeit des zukünftigen Lebens 6 3 . So wenig das Licht der Gegenwart Gottes dem natürlichen Licht der Sonne entspricht, so wenig gleichen die inneren „Augen des Geistes" den natürlichen Augen des Gesichtes. Mehr noch: die äußeren Augen sind völlig untauglich für das „göttliche Gnadenlicht" 6 4 . Sie müssen geschlossen sein, damit der Mensch Gott in seinem Lichte schauen kann. „Gott siehst du, wenn's Auge zu Wer seine Augen schließt vor sich und allem zu, Der schauet Gott im Licht und lebt in sichrer Ruh. " 6 S

U n d in einem Gebet heißt es: „ O wecke uns doch auf, . . . daß wir Herz und Augen zuschließen mögen vor dieser gegenwärtigen Welt, um nur dich und deine Gegenwart als gegenwärtig vor unsern Augen zu sehen, . . , " 6 6 .

Tersteegen liegt viel daran, zwischen den inneren und äußeren Augen zu unterscheiden: WW 32 (1/2,1). B L 38 (1,13); B L 309 (3,1.1) u. ö. 5 6 WW 30 (1/2,1); 97 (2,26); 111 (2,47); B L 575 (3,113.10); B R III L E 38; R E IV 41 (1) u. ö.; B R II 240 (79); B R 1162 (63); U A 39 (1,2.36). 5 7 WW 43 (1/2,9); 48 (1/2,14); 339 (9,8); 344 (9,17); B R 112 (2); 162 (63) u. ö. 5 8 B L 128 (1,426); 432 (3,54.1); B R II130 (41); B R holl 19 (3) u. ö. R E IV 314 (7). 5 9 B L 53 (1,86); 71 (1,163); 86 (1,233); 93 (1,266); 631 (FL 201); 639 (FL 241) u. ö. 6 0 B R III 67 (19). 6 1 Zur Geschichte des Bildes: s. Karl Rahner, Die geistlichen Sinne nach Orígenes u. Die Lehre von den „Geistlichen Sinnen" im Mittelalter. Beide Aufsätze in Schriften zur Theologie B d . X I I Zürich, Einsiedeln, Köln 1975 S. 111-136 u. S. 137-172; s. a. T h . Gomperz, Apologie der Heilkunst 1910 2 , S. 155, auch B . Schweitzer, Piaton und die bildende Kunst der Griechen 1953 S. 13f. u. Paul Friedländer, Platon I, Berlin 1964 2 S. 13ff. 54 55

S. WW 30 (1/2,1); 48 (1/2,14); 54 (1/2,18); 89 f. (2,17); 274 (6 Anh. 2); 2 7 5 ( 6 Anh. 2). S. B R IV 343 (137). 6 4 WW 53 (1/2,18). 6 5 B L 123 (1,400); vgl. 373 (3,26.4). 6 6 R E III 48 (2) = G R 415; vgl. R E IV 49f. (1) = G R 285 und B R I 201 (76): „ T h u e nur dein A u g e ruhig und unschuldig zu; der Herr muß es dir selbst öffnen. " 62 63

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„Allein das Auge des Glaubens hat ein weit anderes Licht, als die Vernunft und die Natur." 6 7 So vollzieht sich dieses eigentümliche Erlebnis des Schaucns auch nicht im K o p f , sondern i m Herzen, weil das A u g e des Verstandes tief i m Herzen seinen Platz hat 6 8 . „Tief im Grund, da ist es schön, Da kann man mit Augen sehn, Wie des Herren Glorie-Glanz Dieses Haus erfüllet ganz. " 6 9 So wie das H e r z der O r t ist, an d e m das göttliche Licht seine belebende K r a f t entfaltet, ist auch i m H e r z e n das „ A u g e " zu finden, das dieses Licht erspürt u n d als E r l e u c h t u n g w a h r n i m m t . I m H e r z e n findet Tersteegen die eigentliche, lebendige Q u e l l e des Lichts. I m Herzen ist f u r ihn d a r u m auch mit einem einzigen Blick m e h r Wahrheit einzusehen, als V e r n u n f t u n d Sinne jemals, u n d sei es unter g r ö ß t e r A n s t r e n g u n g , aufdecken k ö n n t e n 7 0 . A b e r o h n e göttliche E r l e u c h t u n g ist der Z u g a n g hierzu verschlossen. Die A u g e n des Verstandes sind „des Lichtes Gottes beraubt, u n d ganz v e r d o r ben, zugeschlossen u n d verfinstert (Ephes. 4,18), so daß er nicht begreifen k a n n die D i n g e , die des Geistes Gottes sind (1. K o r . 2,14), s o n d e r n lauter v e r k e h r t e G e d a n k e n v o n G o t t u n d allen göttlichen D i n g e n u n d Wahrheiten h a t . . ," 7 1 . Allein die G n a d e Gottes k a n n die A u g e n wieder ö f f n e n u n d brauchbar m a c h e n . M a n k a n n zwar auch o h n e E r l e u c h t u n g b e h a u p t e n , daß G o t t allgegenwärtig sei, aber Tersteegen versichert: „hat uns Gott nicht erleuchtet und sich selbst offenbaret, so wissen wir es nicht. Und wenn es Gott gefallen würde, uns die Gnade zu tun, wir würden offenherzig mit Jakob bekennen müssen: Gewiß ist der Herr an diesem Orte, und ich habe es nicht gewußt, 1. Mose 28" 72 . O h n e dieses M o m e n t der E r l e u c h t u n g bleibt f ü r Tersteegen alle Wahrheitserkenntnis zur M u t m a ß u n g u n d M e i n u n g . In d e m A u g e n b l i c k aber, w o sich die G e g e n w a r t Gottes einem M e n s c h e n offenbart, h ö r t e das „ D i s p u tieren" auf, d e n n er hat die Wahrheit e r k a n n t u n d „was m a n gesehen hat, das w e i ß man, darüber hat m a n nicht nötig zu zanken" 7 3 . In diesem A u g e n b l i c k ist zugleich „alle Seligkeit aufgeschlossen" 7 4 , d e n n der Geist des M e n s c h e n e r h o f f t nichts sehnlicher, als zu seinem eigentlichen V e r m ö g e n befreit zu w e r d e n . D i e „alleredelste W ü r k u n g des Verstandes ist, nämlich G o t t als g e g e n w ä r t i g a n s c h a u e n . . ," 7 S . 67 68 69 70 71 72 73

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BRÌI 130 (41). S. WW 111 (2,47). BL 256 (2,107) als Auslegung von Hes. 43,5.7. WW 112 (2,50). U A 100 (1,9,14) Zit ausi. Kor 2,14 dort gesperrt. 74 WW 91 (2,18). WW 81 (2,4). Ebd. ™ RE IV 343 (7) = GR 247.

3. Ein Anschauen „Der Adler schaut gerade zu Die Sonne fröhlich an; Mein Geistesaug' eröffne du, Daß ich dich schauen kann!" 7 6

Die Offenbarung der Gegenwart Gottes bewirkt ein Erlebnis des Schauens. Tersteegen erläutert diese Erfahrung, indem er auf die klassische Unterscheidung von Verstand und Vernunft zurückgreift 77 . Während die Vernunft ein wirkendes Vermögen im Menschen ist, das für alle Dinge „einen distinkten Begriff und Konzept im Kopfe haben w i l l . . . " 7 8 , ist der reine Verstand ein „leidentliches Vermögen in u n s . . . " , das uns Gott und geistige Dinge „wesentlich und gegenwärtig" erkennen und beschauen läßt 7 9 . Unter Vernunfterkenntnis versteht Tersteegen „eine mehr oder weniger mühsame, nachsinnende, hin und her sehende Tat (Actus reflexus), B e m ü hung, Wirksamkeit" des Kopfes 8 0 . Aber sie ist niemals „wesentliche Wahrheitserkenntnis". Sie hat bloß ein Bild der Wahrheit vor Augen, „ ein (Contrefait) nachgemachtes Ding, eine Schilderei unserer Hände" 8 1 . Sie ist der Versuch, kraft des schlußfolgernden Denkens „einige Vermehrung des Lichtes oder der Erkenntnis" zu erlangen 82 . Dagegen ist die Verstandeserkenntnis ein Beschauen der Wahrheit, und als solche „eine sehr leichte, gerade vor sich sehende, höchst einfältige Tat unseres Verständnisses.. , " 8 3 . Immer wieder spricht Tersteegen v o m Anschauen Gottes im stillen Grund 8 4 . So heißt es auch in unserem Lied: 7 6 B L 370 (3,24.5); die Annahme, daß der Adler in die Sonne schauen könne, geht auf Aristoteles zurück s. Historia animalium 9.32 u. 34 und findet als Metapher seitdem reichliche Verwendung. So schreibt Hildegard von Bingen an Bernhard von Clairvaux: „Du bist der Adler, der in die Sonne schaut." in Deutsche Mystikerbriefe des Mittelalters, 1100-1500, hrsg. v. Wilhelm Oel, München 1931 S. 83. Unveränderter Nachdruck Darmstadt 1972. Weitere Belege aus der mittelalterlichen Mystik s. Lüers, Sprache a.a.O. S. 126f. Belege aus dem Pietismus s. Langen, Wortschatz a.a.O. S. 197f. 7 7 Anders als bei Kant und den nachkantischen Begriffsbestimmungen iur Verstand und Vernunft ist für Tersteegen die Vernunft gleichbedeutend mit der ratio, dem aktiven, schlußfolgernden Geistesgebrauch. Dagegen entspricht dem Verstand, bei Tersteegen zumeist mit dem Zusatz „reiner" oder „leidentlicher" Verstand, das klassische Verständnis von intellectus, jenem Vermögen von intellektueller Anschauung, das mit einem Blick das Wesen der Dinge erkennt. Über die antike Vorgeschichte dieser Unterscheidung s. K. Oehler, Die Lehre vom noetischen und dianoetischen Denken bei Piaton und Aristoteles, Zetemata 29, 1962. Über Kant und die eigentümliche Verschiebung in der Zuordnung von ratio und intellectus zu Vernunft und Verstand s. Klaus Oehler, Artikel „Vernunft und Verstand" in R G G 3 VI Sp. 1364; vgl. a. bezüglich Tersteegen F. Weinhandl, Gott ist gegenwärtig a.a.O. S. 8 Anm. 41.

W W 98 (2,27). 79 W W 90 (2,17). 8 0 W W 286 (7,11). 8 1 W W 285 (7,9). 8 2 Ebd. « W W 286 (7,11); vgl. B L 100 (1,298): „Die schöne und leichte Kunst." 78

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„ M a c h mich reines Herzens, daß ich deine Klarheit Schauen m a g in Geist und Wahrheit. "

Dieses schauende Erfassen von Gegenwärtigem ist fur Tersteegen das vornehmste Vermögen des Verstandes. Dagegen ist die Vernunft lediglich ein Bedenken von Abwesendem. Während der Verstand die Dinge unmittelbar und mit einem Blick erfaßt, macht die Vernunft sich „mancherlei seltsame Einbildungen von Dingen, die man niemals gesehen noch erfahren h a t . . . " 8 S . So stellt Tersteegen gegenüber: „Welch ein Unterschied ist es, wann sich die Vernunft von Gott und dessen Allgenugsamkeit ein Bild geschitzelt hat, oder aber, wenn Gott selbst sich und seine herrliche Erkenntnis der Seele e i n d r ü c k t . " 8 6

Gotteserkenntnis und Vernunft stehen demnach nicht neutral nebeneinander. Das Ideal der Erkenntnis besteht vielmehr darin, daß die „Vernunftaugen" geschlossen 8 7 und die „Augen des Verstandes" auf die Anschauung der einen einfachen Wahrheit gesammelt werden 8 8 . Die Vernunft ist für Tersteegen immer schon eine entstellte Form des Intellekts. In seinem „Sendschreiben von der Vernunft" beschreibt er ausführlich den „natürlichen" und damit „fleischlichen" Vernunftgebrauch und wehrt sich leidenschaftlich gegen eine Überbewertung der Vernunft in den Kreisen der Rationalisten: „die Vernunft wird mir's ohne Zweifel sehr übel nehmen, daß ich ihr hie so einen niedrigen R a n g gebe, da sie doch gewohnt ist, in allen Assembleen obenan zu sitzen." 8 9 8 4 BL 318 (3,34.6); „Im stillen Grund, mein Gott, zuschauendich." S.a. BL41 (1,27): „Kehr einwärts dein Gesicht, der Geist ihn schauen kann!" und BL 119 (1,384): „Des Herrn Angesicht im Grunde schauet er . . . " Vgl. BL 30; 67 (1,144); 74 (1,173); 100 (1,298); 123 (1,400); 139 (1,470); 141 (1,479); 202 (2,17); 256 (2,107); 258 (2,110); 363 (3,21.4); 370 (3,24.5); 511 (3,80.6); 569 (3,105.10); u. ö. 8 5 WW 90 (2,18). 8 6 BR II 238 (78); vgl. dazu „Tersteegen's Gedanken über die Werke des Philosophen in Sanssouci". Er schreibt über den Deismus Friedrichs d. Großen: „Welch einen Gott schnitzet man sich nach seinem eigenen Portrait! und was soll das heißen, einen abwesenden Gott anbeten, der nicht Acht auf mich hat . . . " Ebd. S. 58. 87 WW 79 (2, Vorb.). 8 8 S. dazu B L 108 (1,336) und BR II 141 (43): „Du sagest von deiner Vernunft, daß sie immer sehen, fühlen und empfinden will. Es kommt mir eben vor, als wenn ein Blinder, um das Licht zu sehen, den Kopf bald hier, bald dorthin wendete. Ach armer Blindgeborener! halte deine Augen dem himmlischen Arzt erst stille dar, daß er sie öffne, dann wirst du das Licht ganz natürlich sehen, und ohne so viel hin- und herwendens. " 8 9 WW 86 (2,12); vgl. in diesem Zusammenhang die ganze eindrucksvolle Auseinandersetzung Tersteegens mit dem von Friedrich dem Großen ursprünglich anonym herausgebrachten Buch „Vermischte Wercke des Welt-Weisen zu Sanssouci". Tersteegen teilt den Skeptizismus des Königs hinsichtlich unseres Vernunftgebrauches, tadelt aber um so schärfer, daß er an den wichtigsten Stellen auf reichlich unphilosophische Weise einfach "präsupponiret": „so und so ist es", dabei Gedankengebäude konstruiert, die ganz offenbar „mehr dem Anstoß und Wider-

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Aber besteht n u n zwischen Vernunft und Verstand ein unversöhnlicher Gegensatz? Verwirft Tersteegen hier nicht die Vernunft durch die Vernunft? 9 0 „Geduld! ich behandle sie ihrem Stand gemäß und nach der Regel der Schrift." 91 U n d so räumt er ein, daß es für erleuchtete Menschen sehr w o h l einen guten Gebrauch ihrer Vernunft geben kann, indem sie nicht nur für sich, sondern gerade auch für andere die einmal erfahrene Wahrheit wieder vor Augen stellen und „lieblich anpreisen" könne. Wobei sie jedoch deutlich die Gefahren spüren, die in dieser Wirksamkeit der Vernunft stecken. D a r u m bleiben sie „ nicht gern zu lange im Kopf: Das Wesen im Herzen schmeckt ihnen besser als die Bilder im K o p f ' 9 2 . Aber auch für alle, die noch nicht zur Erleuchtung gelangt sind, ist die Betrachtung oder Meditation, die mittels der Vernunft geschieht, nicht nur nützlich, sondern geradezu unumgänglich. Diese Ü b u n g führt zur A b l ö sung von allem Eigenen und damit auch z u m allmählichen Absterben der Vernunfttätigkeit. D e r wahre Vernunftgebrauch zielt auf seine eigene A u f hebung und gibt damit R a u m für das Anschauen Gottes mit den Augen des Verstandes. Dieser Augenblick ist erreicht, w e n n sich die Gegenwart Gottes im Herzen erschließt und alle Aufmerksamkeit gefangen n i m m t . So hat die Vernunft, solange sie in diesen „Schranken" bleibt, für Tersteegen eine durchaus wichtige Funktion. Aber das eigentliche Erkennen der Gegenwart Gottes ist ein Akt des Anschauens, und der geschieht jenseits der Vernunft. Kraft des „leidentlichen Verstandes" beschaut und genießt unser Geist seine Gegenwart. Aber wieder gilt die Einschränkung, daß dieses Anschauen nur eine symbolische U m s c h r e i b u n g dafür ist, wie der Mensch göttliche N ä h e w a h r n i m m t , denn dieses Schauen ist kein Sehakt i m eigentlichen Sinne. Das Licht des Glaubens ist dunkel. Die göttliche Majestät ist nur i m „dunklen Heiligt u m zu b e s c h a u e n . . . " 9 3 . „In einer seligen Dunkelheit" 9 4 beschaut der Glaube die Gegenwart Gottes, wenn er in seine N ä h e tritt. Es ist zwar so, als sähe der Glaube die N ä h e Gottes, aber Gott bleibt der Unsichtbare 9 5 . Das A n schauen ist nur i m übertragenen Sinne als Sehen zu verstehen. Tersteegen denkt nicht an konkrete Visionen oder dergleichen 9 6 . Allein, daß die Gegen-

spruch der Vernunft unterworfen sind, als das ganze Gebäude so er übern Haufen werfen will". So in Tersteegen's Gedanken S. 57. 90 So fragt Tersteegen selbst in der Einleitung zu seinem Sendschreiben s. WW 78 (2, Vorb.). 91 WW 86 (2,12). 92 WW 93 (2,20). 93 BR hoU 14 (1) = BR N S 258 (164). 94 BL 547 (3,98.2 Anm.). 95 S. WW 286 (7,11). 96 S. BL 119 (1,382): „Ich erwarte nicht Gesichter, Wundergaben, hohe Lichter"; vgl. BL456 (3,58.40).

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wart Gottes auf eine rezeptive und dabei „höchst einfältige" und „sehr leichte" Weise, also gleichsam mit einem Blick erfahren wird, läßt ihn v o m Schauen reden. Mit der Erfahrung der Gegenwart Gottes meint Tersteegen kein positives Lichtphänomen. Sie wird nicht durch „Bild oder Gesicht" vermittelt, sondern durch „Eindrücke u n d Wirkungen", an denen das innere A u g e erkennt, daß sie „das M e r k m a l von etwas Göttliches mit sich f u h r e n . . ," 9 7 . D a r u m nennt er dieses „Licht des Glaubens" eher einen „Instinkt, Trieb, oder Eindruck des Glaubens ins Herz" 9 8 , und ein andermal schreibt er: „ D a s Glaubenslicht aber ist die Ü b e r z e u g u n g oder das Sehen, v o n G o t t i m H e r z e n b e w i r k t , o h n e E i n m i s c h u n g der Sinne (Joh. 3 , 8 ) . " "

Wenn die Gegenwart Gottes auch dunkel und verborgen bleibt, so geht von diesem Licht dennoch eine spürbare Wirkung aus. Das „Auge des Gemütes" wird von diesem Licht „erwecket, eröffnet u n d verkläret", was „nicht bloß spekulativisch ist", sondern sehr konkret, so daß v o n diesem Licht alle übrigen Seelenkräfte, ja der ganze Mensch nach und nach durchdrungen, geheiligt und vergnügt wird 1 0 0 . In einem Schluß reim zu Hesekiel 10,4 k o m m t der symbolische Charakter dieses Anschauens in besonderer Weise z u m Ausdruck. Der Geist sieht zwar nicht das reinste Licht der Lichter u n d schaut es dennoch. Er wird durch das göttliche Licht wohl in tiefste Dunkelheit gefuhrt, alle übrigen Seelenkräfte werden dabei aber erhellt und mit Glanz erfüllt: „Wo G o t t das " e r Z erfüllt, dies reinste Licht der Lichter, Haus D a bet't der Geist ihn an in tiefster D u n k e l h e i t , E r s c h m e c k t nicht dies n o c h das, er hat auch nicht Gesichter, Z w a r s c h m e c k t u n d schaut er G o t t , d o c h o h n e U n t e r s c h i e d . D o c h w o die G o t t h e i t w o h n t i m Hause selbst i m D u n k e l n , D a w i r d der Vorhof voll v o n seinem Glorieglanz; In Sinnen u n d Verstand die reinsten Lichter f u n k e l n , Wort, Werk u n d Wandel w i r d ein Licht i m H e r r e n g a n z . " 1 0 1

Ging es bisher u m die objektive Seite der Lichterfahrung, u m das, was z u m Eindruck der Erfahrung gehört, so umschreiben die folgenden A b schnitte die Geßihle, die diese Erfahrung i m Betrachter auslöst. Es geht u m die Wirkungen und damit primär u m die subjektbezogene Seite der Erfahrung.

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BR IV 32 (14). WW 79 (2, Vorb.). 99 BR holl 19 (3) = BR NS 4 (la). 100 WW 48 (1/2,14). 101 BL 245 (2,91); zu dieser Unterscheidung zwischen dem Haus des Tempels und seinem Vorhof bezüglich der menschlichen Seelenkräfte vgl. BL 547 (3,98.2 Anm.). 98

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Β. Das Gefühl tiefen Wohlseins Zu den auffälligsten Erkennungszeichen der Gegenwart Gottes gehört für Tersteegen das Gefühl eines tiefen, stillen oder sanften Wohlseins 102 . So schreibt er in einem Brief an Wilhelm Weck über die Übung der Gegenwart Gottes: „ B e i m unverstellten Stilleseyn, findet man ein verborgenes Wohlseyn, ohne daß man dessen Ursache begreifet. " l 0 3

Und der Frau von Leyden versichert er, daß „kein Betrug und Gefahr dabei" sei, wenn sie bisweilen eine süße Stille, ein Wohlseyn und einen tiefen Frieden" in sich gewahr werde 104 . „ O wie so ruhig, o wie so wohl!" 1 0 5 bricht es aus ihm hervor, wenn die Seele die Nähe Gottes beschauen kann. U m dieses Gefühl zu beschreiben, verweist er auf die natürliche Gestimmtheit der Natur, wobei die Blume diese Gemütsverfassung für ihn in besonderer Weise verkörpert. Wie die Blume von dem Licht der Sonne lebt, so lebt auch das Gefühl des Wohlseins von der Erfahrung göttlichen Lichtes. Es beschreibt ihre Wirkung. So steht die Blume als Bild für die Seele, die sich „still und froh" der Sonne Gottes aussetzt. „Ein Blümlein Ein Blümlein, wenn's die Sonne spüret, Sich öffnet stille, sanft und froh; Wann Gottes Gnade dich berühret, Laß auch dein Herz bewirken s o ! " 1 0 6

Und in einem Frühlingslied heißt es: „Wie süß bestrahlt die Sonne B l u m ' und Blätter! D u bist mein Licht, der alles fröhlich macht. " 1 0 7

Aus der Blume spricht eine ungezwungene Freude am Dasein. Sie entfaltet sich frei und mühelos, sie wächst und blüht ohne Anstrengung, denn sie lebt nicht aus eigener Kraft. 102

Z u m Stichwort Wohlsein s. B L 550 (3,98.9); WW 336 (9,2); B R I 272 (96); IV 56 u. 57

(21); tiefes Wohlsein: B L 473 (3,56.6); WW 342 (9,14). sanftes Wohlsein: B R 1273 (96); 201 (76); II 140 (42); stilles Wohlsein: B R IV 61 (23); inniges Wohlsein: WW 210 (5, Anh II, 14). ewiges wahres 103 B R 104 B R 105 B L

Wohlsein: B R 1129 (51); B R II 83 (30). Wohlsein: B R 180 (27); B R II 83 (30). III 27 (11). 1 0 6 B L 628 (FL 184). IV 56 (21 ). 1 0 7 B L 5 3 1 (3,91.2). 451 (3,58.17).

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„Wenn eine Rose blühet, solches fallt ihr ja nicht schwer? Warum fällt es ihr nicht schwer? Antwort: Der allmächtige Geist Gottes, der da in dem Strauche ist, der treibet von innen heraus, und die liebe Sonne wirket von außen mit, daß das Röselein mit Freuden blühet." 108

Wer dieses Wachsen betrachtet, kann erfahren, wie die Sehnsucht nach einer ebenso mühelosen Selbstverwirklichung geweckt wird. Darum liegt die Aussagekraft dieses Bildes in dem Schluß, daß die Gegenwart Gottes auch uns dieses sorglos fröhliche Leben wieder möglich macht. Gott ist für den Menschen, was die Sonne für die Blume ist. Wenn er wieder in das Herz des Menschen einzieht, beginnt es ebenfalls zu grünen und zu blühen. So heißt es in einer Auslegung zu Hes. 36,31.33: „Gott kommt und zieht ins Herz hinein, Wie schön wird's dann bewohnet sein! Es lebet, grünt und blühet gar, Was vor so wüst und einsam war." 109

Dieses Aufblühen in der Gegenwart Gottes ist kein gezwungenes, kein gewaltsames Werk. Es geschieht genauso mühelos wie das Wachsen in der Natur: „es geht alles so frei, so fröhlich, so lieblich her" 1 1 0 . In allen natürlichen Bewegungen ist kein Zwang zu finden. Die zarten Blumen entfalten sich willig. Sie halten der Sonne fröhlich stille und lassen die Strahlen des Lichtes einfach auf sich wirken. So leicht und sorglos lebt alle Kreatur. Tersteegen erinnert an die Nachtigall: „wie lebendig, wie munter, wie fröhlich, singet nicht dieß kleine Vögelein mit den andern um die Wette, und thuts allen zuvor! Darf mans ihm wohl befehlen, darf mans wohl dazu nöthigen, und wird es wohl ermüdet darinn? Man kann ja nicht sagen, es fället dem Thierchen sauer, daß es so arbeitsam singet; nein, es jubiliret seinem Gott, seinem Schöpfer, aus seiner Natur so frei, so ganz ungezwungen und mit Freuden."111

Dieses kreatürliche Gefühl des Wohlseins strahlt ein Wesen aus, wenn es an seinem rechten Ort steht und nicht gewaltsam von seinem natürlichen Element getrennt ist. So heißt es im Blumengärtlein: „Ein Fisch will in dem Wasser leben, Ein Vogel in der Luft muß schweben; Wenn jedes da ist, wo es soll, So ist es still und ihm ist wohl. " 112

N u r der Mensch hat sein natürliches Element verloren. Darum ist er ein „ganz unruhiges Geschöpf' geworden. „Kein Thier, kein auf der Erde kriechendes Würmchen ist so voll Jammer und Unruhe, als ein Mensch, der ohne Gott in der Welt lebt. " 1 1 3 108 109 110

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RE III 362 (7) = GR 526. BL 254 (2, 103). RE II 334 (7) = GR 514.

111 112 113

Ebd. BL 44 (1,40). RE III 401 (8) = GR 574.

Gott allein kann diesen Zustand beenden, denn seine Gegenwart ist das Element, auf das hin der Mensch erschaffen ist 114 . Wenn sie sich der Seele mitteilt, wird auch der Mensch endlich wieder „eines solchen heimlichen Wohlseins und einer solchen Beruhigung gewahr werden.. ." 11S . Darum endet der obige Schlußreim mit den Zeilen: „Mein Geist ist ruhig und vergnüget, Wenn er in Gott, sein'm Ruhpunkt, lieget." 116

Für Tersteegen selbst ist dieses Ruhen und Vergnügtsein bestimmend gewesen. Nahezu ununterbrochen hat er in einem Zustand „heimlichen Wohlseins" gelebt. Seine Briefe, Lieder und Ansprachen machen sichtbar, in welchem Maße dies sein Lebensgeftihl bestimmt hat. Selbst in den Jahren der Erweckung, in denen er zum geistlichen Mittelpunkt des bergischen Landes wird und äußerster Beanspruchung ausgesetzt ist, verliert er dieses positive Grundgefuhl nicht. Die alte Lebensbeschreibung berichtet aus Tersteegens Alltag: „Da einst eine Freundin zu ihm kam, und sein ganzes Angesicht mit einem matten Schweiß bedeckt sah, sagte er zu ihr: Ich bin so schwach, habe viele Besuche, auch hab' ich vieles geschrieben, und noch sechs Briefe liegen da unerbrochen. Wie nun die Freundinn hierauf aus Mitleiden weggehen wollte, um ihn in Ruhe zu laßen, sprach er lächelnd: O nein! bleibe du hier; Tersteegen muß nicht geschonet werden, der muß keine Ruhe haben. U n d da er sah, daß sie traurig ward, stand er auf, ging in der Stube auf und ab, sang mit fröhlicher Stimme zwei Verse, und suchte also sowohl sich selbst, als seinen Besuch auf solche Weise zu e r m u n t e r n . . ," 1 1 7

Trotz der übermäßigen Belastung bewahrt er eine innere Gelassenheit. Er bleibt „ruhig und zufrieden"118. In einem Brief an seine Vertraute Maria d'Orville aus demjahr 1755 gibt er einen Einblick in seine Gemütsverfassung während dieser Zeit: „Sehet, meine liebe Schwester! macht es der Herr nicht gut? Behandelt er micht nicht gelind und väterlich? O ja! Ich würde es wirklich ziemlich gemächlich und ruhig haben, wenn ich nur von außen in Ruhe gelaßen würde. Doch nein! so muß ich nicht sagen;.. . Ich habe wohl bei meinen gegenwärtigen schwächlichen Umständen keine so merkliche Mittheilungen in meinem Inwendigen, und denke bisweilen nicht einmal so viel an mich selber; doch bin ich Gott Lob! ziemlich ruhig und wohl in Gott." 1 1 9

114 D a ß G o t t das Element unseres Geistes ist, gehört zu den beliebtesten R e d e w e n d u n g e n Tersteegens: s. B L 3 3 (Einl.); 38 (1,16); 66 (1,139); 163 (1,559); 450 (3,58.15); 557 (3,98.28); B R II 100 (35); 262 (88); R E II 285 (6); III 401 f. (8) u. ö. 115 Zitiert nach A. Löschhorn, Ich bete an a . a . O . S. 192. 116 B L 44 (1,40). 117 B R III L E 97 f. 118 B R III L E 63. 119 B R III LE 62 f.

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Bei der näheren Umschreibung dieses Wohlseins fällt auf, daß Tersteegen diese Befindlichkeit in zwei Gefiihlsmomente auffächert, die sich wie zwei Komponenten dieser einen Grundstimmung zueinander verhalten. Der sprachliche Ausdruck variiert. In unserm Lied umschreibt er dieses Gefühl mit „still und froh" 120 , häufiger spricht er jedoch von „ruhig und vergnügt" 121 oder „vergnügt und still"122. Oft begegnet die Verbindung „Fried' und Freud'"123 auch „Ruh und Freud'"124 oder „Ruhe und Wonne"125, „Ruhe und Seligkeit"126. Immer ist ein quietistisches mit einem stark emotionalen Element verbunden. Wie dicht diese beiden aufeinander bezogen sind, ergibt sich aus einer Wendung wie dieser: „mein Geist in höchst vergnügter Ruh", aber beide Teile haben dennoch einen deutlich unterscheidbaren Gehalt. 1. Ein Ruhen „ Schau nur die Blümlein an bei heiterm Sommerwetter, Sie halten sich ganz still und öffnen ihre Blätter, So scheint die Sonne drein und wirket sänftiglich; So will ich's machen auch, halt dich nur leidentlich!" 127

Das Stillesein im Licht der Gegenwart Gottes ist für Tersteegen das sicherste Kennzeichen einer echten Gottesbegegnung 128 . Die Gegenwart Gottes ist nicht etwas Blitzartiges, das die Dunkelheit der Nacht für einen Augenblick durchzuckt, sondern wie das ruhige, gleichmäßige Strahlen der Sonne, das unaufhörlich leuchtet, auch wenn die Wolken sie selbst verdecken. 120 S. auch BL 77 (1,188) u. 210 (2,31): „Hilf glauben, daß du nah, so werd' ich still und froh!"; weiter 327 (3,6.6). 121 S. BL 44 (1,40); 536 (3,93.6); WW 4 (Von·.); 343 (9,15); BR II 81 (29); III LE 66 und 41; RE II 285 (6); III 401 (8); 422 (8); s. auch BR IV 57 (21) und 75 (29). Z w a r verwendet Tersteegen bei dem Stichwort „Vergnügen" noch den älteren Wortsinn, der von dem mittelhochdeutschen Zeitwort „vergenüegen" mit der Bedeutung Zufriedenstellen ausgeht (s. Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin 1963" S. 815). Doch hat das Wort zumeist schon einen stark emotionalen Klang im Sinne der zu seiner Zeit vordringenden Bedeutung „voluptas". Als Beispiel für das Nebeneinander dieser beiden Inhaltes. BL 148 (1,506): „Ach, süßer Gott, wer dich vergnüget, Mit dir vergnügt im Elend lieget." Ähnl. RE III 436 (8) = GR 589. 122 S. BL 142 (1,481) und 224 (2,56). 123 S. BL 113 (1,357); 141 (1,477); 429 (3,51.6); BR 1154 (61); REIII86f. (2); W W 3 4 5 (9,18); vLE 235 Anm. 124 S. BL 103 (1,313); 104 (1,317); 345 (3,13.2); 347 (3,14.4f.); BR IV132 (55); RE III 14 (1); s. auch WW 336 (9,2); w o er in einer Anmerkung das Gemüt eine „Fakultät der Freude und Ruhe" nennt. 125 S. BL 448 (3,58.7); 552 (3,98.14). 126 w w 140 (3,27); BL 552 (3,98.14). 127 BL 37 (1,8). 128 „still" gehört zu den am häufigsten gebrauchten Adjektiven in Tersteegens Sprachschatz.

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„Scheint gleich die Sonne nicht, sie ist doch da, und gibt das nöthige Licht. " 1 2 9 Gott erweist sich in seiner Offenbarung als ein „reines, stilles Wesen" 1 3 0 , das ganz in sich selbst ruht. Wer sich dieser „stillen Ewigkeit" 1 3 1 aussetzt, wird selber „still, vergnügt und willenlos" 1 3 2 . Still setzen sich die Blumen der Sonne aus, still ist auch das Wasser, w e n n die Sonne bis auf seinen Grund strahl. In einem „ungestümen Dreck wasser" kann „die Sonne der göttlichen Klarheit" nicht gesehen werden 1 3 3 . N u r w e n n der Schmutz sich absetzen kann und das Wasser nicht „durch stetiges Schütteln und Poltern" trübe gehalten wird, kann man die „köstliche Perle der Wahrheit auf dem Boden eines solchen Wassers (nämlich des unreinen Herzens) recht erblicken und erkennen.. ." 1 3 4 . Darum muß dieses Wasser still gehalten werden, w e n n die göttliche Sonne hineinstrahlt 135 . Ruhig und reglos wie die Oberfläche des Wassers an einem windstillen Tag ist die Seele, w e n n sie die N ä h e Gottes erfährt 136 . So heißt es in Tersteegens langem Gedicht über den Stand der Beschauung: „Das Wässerlein bleibt still und klar, Ich werd' kein Windchen mehr gewahr, Was sonst turbieren sollte; Mein Treiben ist zur Ruh gebracht, Es hält mich eine sanfte Macht, Wo ich mich stören wollte." 1 3 7 Aber dieses Ruhen ist nicht zu vergleichen mit alltäglicher Pause und Entspannung. Tersteegen betont nachdrücklich, daß dieser Zustand etwas 129

BR IV 202f. (83); s. Evangelische Perle in kPE 11 ; von dort hat er offensichtlich dies Bild. BL 120 (1,388); vgl. 137 (1,461); WW 340 (9,10). 131 WW 340 (9,10) u. RE III 442 (8) = GR 591. 132 BL 139 (1,467). " J WW 41 (1,8). 134 Ebd. 135 S. BL 155 (1,530) und 117 (1,376): „Immerdar still und klar Halt dich innig, still und rein Wie ein klares Wässerlein, Daß des Höchsten Liebessonne In dich strahl' mit Licht und Wonne!" S. auch BR 1124 (49) und besonders WW 340 (9,10). 136 Tersteegen fand dieses Bild im Chrétien intérieur des Bernières de Louvigny s. vLE 224 (11,4.2): „gleich-wie die geringste Bewegung, welche das Wasser eines Brunnens trübe macht, verursacht, das selbiger das Bild der Sonne verliert, eben also machen auch die Auskehrungen und Zerstreuungen zu den Kreaturen, daß die Seele das Gesicht dieser göttlichen Gegenwart verlieret." In dem Artikel „Arne" des Dictionaire de Spiritualité I Paris 1937 Sp. 441, Anm. 5 macht L. Reypens auf die alte Parallele aus der griechischen Patristik aufmerksam. Diadochus von Photike (5. Jh.) spricht davon, daß der „Grund der Seele" (βυθός της ψυχής) gleich einem Meeresboden klar und durchsichtig ist, wenn er sich in Ruhe befindet, trüb und unklar, wenn er von einem „ungerechten Z o r n " aufgewühlt wird. In Capita centum de perfectione spirituali in PG 65 Sp. 1167-1212 c. 26 137 BL 451 (3,58.19). 130

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anderes sei als M ü ß i g g a n g : „Still sein ist nicht m ü ß i g s e i n . . . " , heißt es wiederholt in seinen Schlußreimen 1 3 8 . Das R u h e n ist z w a r eine passive, aber d e n n o c h keine spannungslose H a l t u n g . Es ist w e d e r ein Z u s t a n d a n g e s p a n n ter A u f m e r k s a m k e i t n o c h ein s t u m p f e s Verharren i m N i c h t s t u n . D i e w i l lentliche K o n z e n t r a t i o n ist aufgehoben, aber das B e w u ß t s e i n ist d e n n o c h in äußerster Weise gesammelt. Das B e s o n d e r e u n d Unvergleichliche an dieser inneren Verfassung besteht darin, daß die K o n z e n t r a t i o n nicht unter m ü h s a m e r Loslösung v o n den zerstreuenden D i n g e n geschieht, sondern vielmehr so, daß alles, w o g e g e n sich die A u f m e r k s a m k e i t n o r m a l e r w e i s e w e h r e n m u ß , u m bei der Sache zu bleiben, hier wie v o n selbst abfällt. Die Seele ist leer v o n äußeren D i n g e n . Die A f f e k t e sind v e r s t u m m t 1 3 9 , der Eigenwille ist wie weiches Wachs zerschmolzen 1 4 0 . Alle A n s p a n n u n g ist gewichen. Bis in den K ö r p e r hinein äußert sich dieses Gelöstsein. „Der Leib tut ruhig, was er macht, Der Atem gehet immer sacht, . . ," 1 4 1 selbst „die Adern sind von Friede voll" 142 . A b e r trotz dieser völligen E n t s p a n n u n g ist das B e w u ß t s e i n ganz g e s a m melt u n d erfüllt v o n einem Etwas, das es wie v o n selbst an diesem Einen festhält. „Ein Etwas ist mir innig nah, Ein unbekanntes Gut ist da, Das meinen Geist erfüllet." 143 So unscharf dieser E i n d r u c k zunächst auch sein m a g , an den W i r k u n g e n , die dieses „ u n b e k a n n t e G u t " h e r v o r r u f t , w i r d deutlich, daß es etwas Göttliches ist, was den Geist erfüllt. Die tiefe E h r f u r c h t , die g r o ß e R u h e u n d selige W o n n e 1 4 4 geben zu erkennen: „Es ist was Göttliches mir nah, Der Gottheit Gegenwart ist da, Wer sollt dran zweifeln können." 1 4 5 Es ist die E r f a h r u n g eines göttlichen Gegenübers, das dieser Stille ihre Eigentümlichkeit gibt. M e h r f a c h erklärt Tersteegen in seinen Briefen den U n t e r s c h i e d zwischen d e m M ü ß i g g a n g u n d der göttlichen Gebetsstille in dieser Weise: W ä h r e n d die „falsche Ledigkeit" darin besteht, daß ein M e n s c h in „eigenmächtiger Weise aus Trägheit i m G e b e t h nichts t h u n oder denken w i l l . . . " 1 4 6 , ist die 138 139 140 141 142

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BL141 (1,479); ähnl. BL 80 (1,205) und 653 (FL 313). S. BL 318 (3,4.8) und BL 450(3,58.16). BL451 (3,58.17). BL451 (3,58.16). BL 451 (3,58.17).

143 144 145 146

BL 448 (3,58.5). BL 448 (3,58.7). BL448 (3,58.6). BR IV 57 (21).

wahre Ledigkeit dadurch gekennzeichnet, daß sich ein numinoses Etwas zu erkennen gibt, das im Betenden diesen Zustand des Ruhens bewirkt. „Diese göttliche Ledigkeit und Stille hingegen ist gewöhnlich begleitet mit einem allgemeinen Eindruck von Gott, mit einer süßen Ehrerbietung vor Gott, und mit einem Frieden und Wohlseyn, das alle Welt nicht geben kann." 1 4 7

Dieses Gefühl des Stilleseins kann nur dann erfahren werden, wenn ein Gegenüber da ist, das erleuchtet und belebt, das erfreut, aber auch erschreckt. Wo ein solcher „Eindruck" sich mitteilt, hält die Seele bereitwillig stille. Das Ruhen in der Gegenwart Gottes ist keine rein rezeptive Einstellung. Es liegt in ihr ein aktives Moment, das die Aufmerksamkeit auf ein Objekt gerichtet hält. Das Stillesein ist ein Stille/ja/ien148. Aber, daß dieses Stillehalten völlig mühelos geschieht, weil Gott selbst das Bewußtsein des Betenden bei sich festhält, unterscheidet es von allen sonstigen geistigen Akten. Alle Seelenkräfte ruhen. Alle geistige Aktivität ist stillgelegt, und doch ist das Zentrum des Menschen nicht ausgelöscht. Es ist vielmehr dank dieser Stille als eine eigene Wirklichkeit überhaupt erst wahrgenommen. Im Stillehalten vor der göttlichen Gnadensonne ist das Tun des Menschen zu seiner äußersten Möglichkeit gefuhrt. Es ist für Tersteegen die vornehmste Weise menschlicher Geistestätigkeit. Er nennt es die „alleredelste Würkung des Verstandes" 1 4 9 oder auf seinen Geist bezogen auch einfach nur „sein Werk" 150 . Allerdings fragt Tersteegen, ob man es mit Recht „eine Tat (einen Actum) nennen mag, wenn unser Auge das Licht ansieht und genießet" 151 . Es gleicht dem Tun eines Blinden, der endlich von seiner Blindheit geheilt ist und nun die Augen aufschlägt und sieht 152 . „Ohne sein Bemühen und Kopfbrechen wird er von nun an das Licht erkennen und dessen Kraft e r f a h r e n . . . " 1 5 3 Stillehalten und Stillewerden sind Wirkungen der Gegenwart Gottes. 147

Ebd. Auch „stillehalten" gehört zu den häufigen Verben in Tersteegens Sprachschatz; s. BL 37 (1,8); 61 (1,120); 80 (1,205): „Sollt', wenn der Schöpfer wirken will, Ihm sein Geschöpf nicht halten still . . ."; 87 (1,236); 96 (1,279); 105 (1,323); 112 (1,354); 114 (1,359); 117 (1,376); 128 (1,424); 139 (1,469); 144 (1,489); 155 (1,530); 158 (1,541); 168 (1,569); u.ö. s. besonders WW 301 f. (7,36). Das eigentümliche Ineinander von Aktivität und Passivität, das sich in diesem Verb ausdrückt, äußert sich in ähnlicher Weise in der von Tersteegen sehr häufig gebrauchten Wendung: der Gegenwart Gottes „Raum geben". S. WW 92 (2,20); BR I 170 (66); 174 (68); II 51 (19); 87 (32); 88 (32); 246 (82); IV 360 (141); BR holl 18 (3); 25f. (6); 32 (9); 98 (42); RE 1136 (3); II 328 (7); III 361 u. 369 (7) u. sehr oft. (In gleicher Weise schon Johann Arndt, Wahres Christentum III c. 148

16).

Beide Verben stehen in der Regel synonym füreinander und werden gelegentlich auch unmittelbar miteinander verknüpft. S. BR IV 129 (53) u. WW 302 (7,35). 149 RE IV 342 (7) = GR 247; ähnl. 266 (6) = GR 58. 150 BL318 (3,4.6). W W 3 1 f . (1/2,1). 151 153 WW 286 (7,11). WW 32 (1/2,1).

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Wenn das Licht der Sonne strahlt, öffnen sich die Blumen und halten ihren Strahlen stille. Wie versteht Tersteegen diese Wirkung? Was bedeutet dieses naturhafte Bild übertragen auf die psychische Reaktion des Menschen? Wie k o m m t es in ihm zur Ruhe? Wir treffen hier auf zwei Aussagen, die nicht nur unabhängig, sondern in denkbar größtem Gegensatz zueinander stehen. Einmal heißt es: nicht das Haben, sondern das Verleugnen bringt Ruhe 1 5 4 , und das andere Mal: still ist, wer alles hat, was er will 1 5 5 . Einerseits ist es die völlige Willenlosigkeit, die Ruhe und Frieden verursacht, andererseits die äußerste Erfüllung des Willens. Beide Auffassungen vertritt Tersteegen mit Nachdruck und mit geradezu monotoner Regelmäßigkeit. Was bedeutet dieser Gegensatz in der Beschreibung der Ruhe? Für die fernöstliche Gebetsfrömmigkeit war es schon immer selbstverständliche Voraussetzung, daß man das Begehren als solches zur Ruhe bringen muß, u m wirklich zur Ruhe zu kommen. Für das Abendland galt aber bisher die Einstellung Piatos, daß dem Menschen allein durch das Verlangen, den Eros, die größten Güter zuteil werden 1 5 6 und daß es darum nicht am Begehren selbst, sondern allein am Objekt des Begehrens liege, ob eine Seele Ruhe finde oder nicht. Demnach kommt es nicht darauf an, das Verlangen auszulöschen, sondern lediglich das Richtige zu verlangen. Im Quietismus und bei Tersteegen ist nun erstmalig auch im christlichen Abendland die Wechselbeziehung von Willenlosigkeit und Ruhe als grundlegende Erfahrung bewußt geworden. Damit treffen hier beide Anschauungen über den Ursprung der Ruhe aufeinander. Schließen sie sich gegenseitig aus? Stehen sich die östlichen und westlichen Wege zur Stille der Kontemplation unversöhnlich gegenüber? Vor dem Hintergrund des Dialogs zwischen Christentum und Buddhismus über die j e eigenen Gebetserfahrungen verdient die Stellung Tersteegens ein besonderes Interesse, vor allem deshalb, weil für ihn beide Einstellungen letztlich kein echter Gegensatz sind, der zu einseitiger Entscheidung herausfordert. Willenlosigkeit und äußerste Erfüllung des Willens bilden für Tersteegen eine innere, wenn auch paradoxe Einheit, die im Wesen der Erfahrung selbst begründet liegt. Aber fragen wir zunächst, wie Tersteegen über den Zusammenhang von Willenlosigkeit und Ruhe und Willenserfullung und Ruhe spricht.

154 155 156

172

S. RE III 420 (8) = GR 582. S. B L 106 (1,327). Phaidros 244 a. 6 ff.

a) Die Ruhe als Willenlosigkeit

und

Gelassenheit „Wer viel begehrt, Wird viel gestört, Wer gar nichts will, Bleibt immer still." 1 5 7

Unermüdlich mahnt Tersteegen, dem eigenen Willen zu entsinken, weil nichts so sehr die Stille stört, wie der Eigenwille 158 . „Die Ungestorbenheit unsers eigenen Willens ist eine Hauptursache unserer inneren Unruhe; und die gründliche Willenlosigkeit in allen Dingen der kürzeste Weg zum beständigen Frieden der Seele." 1 5 9

Was aber ist Eigenwille? „alles, was ich mit Eigenheit will, alles, was ich gar mit Heftigkeit will, alles, was ich so will, daß ich nicht davon absterben muß, wofern ich zur wahren Ruhe k o m m e n will. " 1 6 0

Eigenwille ist für Tersteegen also nicht der falsch gerichtete Wille, nicht der Wille, der etwa nur auf den persönlichen Vorteil bedacht ist, Eigenwille ist vielmehr alles, was mit Leidenschaft erstrebt wird. Der „Eigenwille bleibt Eigenwille, wenn er gleich was Gutes zu wollen scheinet" 161 . So ist auch das Streben nach Heiligkeit zumeist nur eine sublimere Form von Autonomie. „Wer noch gern sich selbst schön und heilig sehen will, der offenbaret nur seine Eigenliebe . . ," 1 6 2

Tersteegen selbst gesteht einmal, daß er am Anfang seines geistlichen Lebens (1720) ein Wort von Bernières wie „eine Art von Todesurteil" über seinen Eigenwillen empfunden habe. Es habe ihm deutlich gemacht, daß er die Vollkommenheit nur deshalb begehre, weil sie ein so hoher Stand sei 163 . Allein das Loslassen des eigenen Wollens gibt wahren Frieden. So wünscht Tersteegen, bereit zu sein, allen seinen „sogenannten guten Willen, gute Vorsätze und Neigungen beständig wieder aufzuopfern, los zu laßen, und in Gott gleichsam zu verlieren" 164 . Und einer Freundin erklärt er, ihre Unruhe bestände allein darin, daß sie meine, die Dinge und ihr geistliches Leben müßten sich immer so zutragen, wie sie selbst es „gutmeynend" wünsche: „Weil nun solches alles oft ganz anders gehet, so seyd ihr i m m e r in U n r u h ; j a auch dann, w a n n es nach eurem Denken recht schön stehet und gehet; so bleibt ihr doch in

157

BL 97 (1,285) s.a. 125(1,412): „Wer an nichts klebt, i n R u h e lebt . . ."; ähnl. 125 (1,413). S. BL 120 (1,386): „Eigenwille stört die Stille"; vgl. bes. BL 57 (1,104); 90 (1,250); 142 (1,483): „ D u kriegst nicht eher Ruh, bis du nichts Eignes hast. " U n d 451 (3,58.17). 159 162 BR 1277 (98). BR II 116 (40); ähnl. II 45 (17) u. 258 (86). 160 163 RE III 428 (8) = GR 585. S. BR IV Zug. 25 (7) v o m 29. 9. 1750. 161 164 RE III 428 (8) = GR 585. BR III LE 57. 158

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einer geheimen Trouble und Treiben, weil ihr, nach dem Grunde, euch nur darin freuet, daß ihrs nach euerm Sinne habt, welches unrichtig ist." 165 U m zur Ruhe zu k o m m e n , muß das anfängliche gute Wollen wie eine Blume am Baum abfallen, in eine „heilige Gelaßenheit" sinken und so der Frucht selbst Platz machen 1 6 6 . Gelassenheit ist das Wort, mit dem Tersteegen den Zustand der Willenlosigkeit beschreibt 1 6 7 . Betraf das Versunkensein das Aufheben des Ich im Bereich des Bewußtseins, so das Gelassensein das Loslassen des Ich im Bereich des Willens 1 6 8 . Es meint jene Haltung, in der der Eigenwille abstirbt und nichts mehr will 1 6 9 . In „tiefster Gelaßenheit" entsinkt die Seele „allem eigenen Willen" 1 7 0 . Ein gelassener Geist ist auch von einem „subtilen Eigenwillen" frei 1 7 1 . Über das Streben nach Heiligkeit kann Tersteegen darum sagen: „Die beßte und heiligste Begierden müßen sich in einer friedsamen, innigen Gelaßenheit an Gott endigen . . ," 1 7 2 N u r die „heilige", „innige", „kindliche" Gelassenheit kann wahre Ruhe schenken. So sind Stille und Gelassenheit nahezu äquivalent. Tersteegen spricht von „stiller Gelaßenheit" 1 7 3 und „gelaßener Stille" 1 7 4 und bittet darum, noch auf Erden „Still, gelassen" zu werden 1 7 5 . 165

166 BR IV 62 (23). BR III 432 (140). Z u m Begriff s. U . Dierse in H W P h 3 Basel 1974 Sp. 2 1 9 f f , dort auch die weitere Literatur. Tersteegen meidet in diesem Zusammenhang den umstrittenen Begriff der „indifference". In den frühen Schlußreimen begegnet er als „Gleichgültigkeit" zwar gelegentlich s. BL 52 (1,83) u. 83 (1,218), später aber tritt dieses Wort ganz zurück. Wo es begegnet, bekommt es einen neutralen oder sogar negativen Klang, so BR IV 314 (104): „Nicht prätendire ich, daß ihr ganz unempfindlich und gleichgültig werden sollet." N u r selten, wie hier im Zitat eines französischen Quietisten finde ich an späterer Stelle noch einmal das Stichwort „Gleichgültigkeit": „Alle meine Ruhe ist in der Gleichgültigkeit; und mein großes Geheim ist, nichts zu wollen . . ." BR 1237 (88). Stattdessen spricht Tersteegen häufigjedoch von „Gleichmütigkeit". Aber bedeutet dies, daß Tersteegen sich auch in der Bewertung der Indifferenz von seinen quietistischen Vorbildern distanziert? F. Winter versucht, auf den Seiten 65-69 seiner Arbeit darzustellen, daß wir es bei Tersteegen nicht mit einer „absoluten", sondern eher mit einer „bedingten Gelassenheit" zu tun haben. Aber auch diese Unterscheidung vermag nicht zu überzeugen. Die angezeigten Differenzen liegen eher im unterschiedlichen Naturell der Madame Guyon als in wirklich theologischen Einwänden Tersteegens. Wieder macht sich bemerkbar, daß Winter nicht auf die verschiedenen Stände des geistlichen Lebens achtet. Tersteegens Berichte an Maria d'Orville aus seinen späteren Jahren zeigen ihn in einer Seelenverfassung, die der von Madame Guyon und Bernières beschriebenen Indifferenz in kaum zu unterscheidender Weise ähnelt. S. BR III LE 60-64; bes. 63 f. Inhaltlich teilt Tersteegen diesen typisch quietistischen Wertbegriff uneingeschränkt. 168 S. BR I 55 (20), w o sich Eigenwille und Gelassenheit einerseits und Eigenliebe und reine Liebe andererseits gegenüberstehen. 169 S. BL 632 (FL 204): „Die Gelassenheit" 170 173 BR 143 (14). BR 135 (11) u. 162 (63). 171 174 B R I 15 (3). BRI290(101). 172 175 B R I 4 0 8 (146). BL327 (3,6.6). 167

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Tersteegen sieht diese Haltung am deutlichsten in einem Kind verkörpert, das die Abhängigkeit von seiner Mutter willenlos hinnimmt. „Ein K i n d c h e n ist g e b e u g t u n d stille, Wie sanft gelassen ist sein Wille! Es n i m m t , w a s i h m die M u t t e r gibt, Es lebet süß u n d unbetriibt. " 1 7 6

Vor allem ist das Jesuskind in der Krippe der Ort, an dem wir uns in eine „kindliche, demütige Gelaßenheit" und in eine „göttliche Stille" versenken können 1 7 7 . Wo das Wollen aufhört und Gelassenheit sich einstellt, bekommt die Begierde keine Nahrung und stirbt ab. An die Stelle des unsteten Verlangens treten Friede und Stille. Darum rühmt Tersteegen die Willenlosigkeit: „Wie selig, w e n n der eigne Wille In G o t t liegt w i e ein T o t e r stille . . . " 1 7 8

Und er erinnert seine Hörer daran, daß „bei einem Christen kein eigener Wille mehr genannt" werde. „ D a s W o r t Ich will, u n d Ich will nicht, ist eine Schande in d e m M u n d e eines w a h r e n Christen."179

Bei aller Nähe zum östlichen Versenkungsweg bleibt jedoch ein wesentlicher Unterschied. Gelassenheit und Willenlosigkeit liegen für Tersteegen nicht im Verfugungsbereich menschlichen Wollens. Erst in der Gegenwart Gottes verstummt der Eigenwille. In seiner Nähe schmilzt er „wie weiches Wachs" dahin 180 , „seine Gegenwart zeiget und tödtet die subtilste Selbstgefälligkeit", sie bricht die Kräfte des eigenen Willens und macht ihn „sanft, geschmeidig und freundlich" 181 . Ohne die Erfahrung der Gegenwart Gottes gibt es für Tersteegen keinen Ausweg aus der Sklaverei des Eigenwillens. Er kann sich „grob oder subtil" äußern 182 , was immer der Mensch zu seiner Überwindung unternehmen mag, bleibt letztlich doch nur eine raffiniertere, verstecktere Form von Autonomie. Natürlich kann man sich in das „Nichtwollen" auch hinein „verbilden und es nachmachen wollen" 183 , aber man kann den Eigenwillen nicht kraft eigenen Willens austreiben wollen. Hierin liegt die Brücke zu der zweiten Aussage, die zunächst völlig entgegengesetzt erscheint.

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BL 330 (3,7.2); vgl. a. BR 1277f. (98) u. BL 48 (1,61). B R I 4 7 (17). 181 BL 86 (1,232). BR 158 (20). 182 RE IV 342 (7) = GR 517. S. BR III 186 (60). 183 BL 451 (3,58.17). BR III LE 58.

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b) Die Ruhe als Willenserfiillung und Glück „Er ist unser Ruhepunkt; wann wir in ihn kommen, dann haben wir nichts mehr zu suchen, zu trachten und uns zu beruhigen; da wird der Geist gewahr, daß er dahin gelanget, wohin er wollte; er hat den Ort gefunden, wo er ruhen kann." 1 8 4

Tersteegen bewegt sich diesmal ganz im traditionellen Deutungsrahmen christlicher Mystik. Er begründet die Ruhe und das Stillesein vor dem Hintergrund einer schöpfungsmäßigen Gottesbezogenheit des Menschen 185 . Das menschliche Herz ist für Gott geschaffen, darum kann es nicht eher ruhen, bis es wieder zu ihm zurückkehrt186. „. . . hier in der Welt, in dem Geschaffenen, ist keine Ruhe und Vergnügen für unsern unsterblichen Geist. Denn wir sind nicht erschaffen für diese Welt, wir können nicht Frieden darin finden; unser Geist kann nicht zum Frieden kommen. Unsern Gott müssen wir wieder haben. " 1 8 7

Hat der Mensch Gott gefunden, so schwindet alle Unruhe. Der Hunger der Seele ist gestillt 188 . Das „durstige Verlangen" ist erfüllt 189 . Er „genießet und ist still"190. Dabei wird das Verlangen des Menschen nicht weggenommen, sondern nur gereinigt. Ruhe und Frieden werden nicht dadurch erlangt, daß das Begehren aufhört, sondern ganz auf Gott gerichtet wird 191 . Die Leidenschaft ist nicht verworfen, sondern nur zu ihrem eigentlichen Ziel geführt. Nicht die Lust selber, nur die „irdische" Lust steht der Heiligkeit entgegen 192 . In diesem Augenblick begreift der Mensch, daß Gott ein „allgenugsam Wesen" ist 193 . Gott allein ist imstande, das Herz des Menschen völlig zufriedenzustellen194. 184

BR 1391 f. (140). 185 Xersteegen geht davon aus, daß der Mensch auch nach dem Sündenfall noch „dieselbe unauslöschliche und unermessene Begierden nach einem vergnügenden Gut" in sich trägt (RE IV 268 [6]) = GR 59. Sie sind zwar „sehr verdunkelt, geschwächt und mangelhaft", so daß der Mensch „würklich nicht weiß, wo er sein Vergnügen suchen und finden soll" (ebd.), dennoch ist diese Unruhe die Ursache für die „heimliche unaufhörliche Sehnsucht" des Menschen nach Erlösung, (s. RE IV 183 [4] = GR 541). 186 S. RE II 285 (6) = GR 344 in Anlehnung an das berühmte Augustinuswort aus Conf. I c. 1 n. 1. In RE III 400 (8) = GR 573 zitiert er dieses Wort sogar in ähnlichem Zusammenhang. 187 RE II 285f. (6) = GR 344; vgl. widerum RE III 401 (8) = GR 574 s. auch BL 33 (Vorb.). 188 BL348 (3,14.7) s. auch 339 (3,10.3); 381 (3,30.5). 189 194 BL 360 (3,20.4). BL 346 (3,14.1 u. 3): „Du vergnügst alleine 190 BL95 (1,275). Völlig, innig, reine 191 BR I 283 (99). Meines Geistes Platz. " 192 S. RE 1320 (7) = GR 631. „Was ich mehr 193 BL346 (3,14.1) u. 548(3,98.7). Als ich dich begehr', Mein Vergnügen in dir hindert Und den Frieden mindert. " Vgl. auch BR IV 174 (12).

176

Alle äußeren Dinge können die Seele nicht wirklich befriedigen, denn sie stimmen mit dem Wesen unserer Seele nicht überein. „Die Seele muß was Geistliches haben, etwas, das wie sie selbst ewig bleibet." 1 9 5 Vergängliches wird sie nicht berühren. Gott allein kann sie sättigen 1 9 6 . N u r das „selige Nahesein dieses allgenugsamen Wesens" kann auch uns „einigermaßen allg e n u g s a m " machen. Hat die Seele in der Einsamkeit Gott gefunden, ist sie „still und satt" 1 9 7 . D a r u m deutet Tersteegen das Stillsein in der Gegenwart Gottes immer wieder als ein Gestilltsein198. Es gleicht dem Augenblick, w o ein Mensch, der eben noch quälenden Durst verspürt hat, endlich eine Quelle findet und nun trinkt, bis sein Durst gestillt ist 1 9 9 . Jetzt erscheint das Stillsein nicht mehr als ein Leersein, sondern als ein Erfulltsein. Es ist nicht mehr die Ruhe dessen, der alles Begehren in sich ausgelöscht hat, der nichts mehr will, weil er alles Wollen getilgt hat, sondern das glückliche Verweilen dessen, der alles hat, was er will. Denn Glück ist seit der klassischen Definition des Aristoteles nichts anderes, als daß die Seele hat, was sie will 2 0 0 . U n d R E III 421 (8) = GR 582. S. B L 43 (1,39): „Der menschliche Geist Ein Geist, ein Wunderding, könnt er gleich alles kriegen, Was Erd und Himmel hat, es würd' ihn nicht vergnügen; Sobald er aber Gott im Grund gefunden hat, Hätt' er auch gar nichts mehr, so spricht er: Ich bin satt. " Vgl. B L 94 (1,270); 106 (1,326); 120 (1,388); 221 (2,51) u. 477 (3,63.8); s. a. WW 344 (9,16). 1 9 7 B L 347 (3,14.1). 1 9 8 Die folgenden Verweise auf das Blumengärtlein zeigen, wie geläufig Tersteegen die Vorstellung geworden ist, von Gott „gestillt" zu sein. B L 36 (1,5); 45 (1,46); 47 (1,55); 55 (1,92); 57 (1,104); 80 (1,205); 94 (1,270); 114 (1,360); 117 (1,374); 137 (1,461); 155 (1,528); 208 (2,28); 348 (3,14.7); 371 (3,25.5); 375 (3,27. 1 u. 5); 381 (3,30.5); 402 (3,39.5); 407 (3,41.12); 421 (3,47.5); 423 (7,49.1 u. 2); 448 (3,58.5); 461 (3,59.11); 476 (3,63.4); 481 (3,65.5); 514 (3,81.6); 600 (FL 49); 611 (FL 102); 630 (FL 198). Tersteegen kann das Wort „stillen" auch in der Weise verwenden, daß er die Seele mit einem Säugling vergleicht, der an ,Jesu Brust" liegt und sich stillen läßt. S. B L 148 (1,504) u. 421 (3,47.5). Tersteegen ist dieses Bild aus der Karmelitermystik vertraut (vgl. z. B. Theresa von Avila, Weg der Vollkommenheit c. 31, 2-8 und Johannes vom Kreuz, Aufstieg zum Berge Karmel, 1.2 c. 12 mit B L 172 (1,578). Aber im Vergleich etwa zu Bruder Lorenz, der sogar von einem „Stand der Brüste Gottes" spricht (s. A L II, 9,24) ist Tersteegen diesem Bild gegenüber recht zurückhaltend, wenngleiches auch hier noch Anstoß erregt. S. B L 8 5 (1,225); 121(1,394); 415 (3,44.6); 422 (3,48.3); 563 (3,102.2); 596 (FL 28); 644 (FL 264); 665 (FL 371); WW 78f. (2. Vorb.) 368 (5 Anh. 2,15); B R 1131 (52); 283 (99); II 286 (95). 195

196

S. B L 2 0 8 (2,28): „Mein arm', elender Geist war' bald vor Durst vergangen, Ich suchte außer mir das Wasser hier und dar Und fand doch gar nichts da, was stillet mein Verlangen;" Sobald er aber im Grunde der Seele Gott entdeckt, liegt ihm die „Quelle des Lebens" offen. Nun kann er trinken und wird satt: „Die Lebensquelle Gott ist allein die Quell' des Lebens, Gott macht alleine still und satt. Man sucht es überall vergebens; 199

Der hat's, wer dieses Wesen hat." (BL 610f. [FL 99]) vgl. 197 (2,8). 2 0 0 S. Aristoteles, Nikomachische Ethik 1098 a. 16; in WW 139 (3,26) zitiert Tersteegen diese

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genau dies ist es, was Tersteegen immer wieder sagt, wenn er das Verweilen in der Gegenwart Gottes beschreibt: „Wem du dich gegeben, Kann in Frieden leben, Er hat, was er will; Wer in seinem Grunde Dich, den Schatz, hat funden Liebet und ist still." 201 c) Die Ruhe als transzendente Erfahrung jenseits von und Willenserßillung

Willenlosigkeit

Ruhe stellt sich ein, wenn der Eigenwille stirbt und das Wollen nichts mehr will. Ruhe, so hieß es weiterhin, entsteht dort, wo sich der Wille des Menschen erfüllt und er hat, was er will. Damit sind die beiden Wege markiert, auf denen Tersteegen sich der Erfahrung göttlicher Ruhe nähert. Aber beide treffen jeweils nur einen begrenzten Aspekt dieser Erfahrung: Willenlosigkeit ruft eine Gleichmütigkeit hervor, die gegen die Unruhe des Begehrens schützt, aber Willenlosigkeit als Prinzip und erlernbare Methode ist etwas ganz anderes. Tersteegen nennt sie, so verstanden, eine „falsche Ledigkeit", die vom wahren Ledigsein, das Gott wirkt, weit entfernt ist 202 . Aber Ruhe wird auch erfahren, wo sich ein heftiges Verlangen erfüllt und der Wille befriedigt wird. Und wieder droht das gleiche Mißverständnis. Wenn der Mensch eigenmächtig nach der Erfüllung greift, wird er statt der ersehnten Ruhe ständig neue Unruhe erfahren. Es liegt nicht am Wollen, ob sich die Erfüllung einstellt. „Gottes Erbarmen muß die Sache geben, und nicht unser Wollen sie ergreifen... " 2 0 3 . N u r wenn Gott sich dem Menschen mitteilt, wird er wirklich „still und satt". In der Erfahrung der Gegenwart Gottes vereinen sich diese beiden Wege. Es ist vor allem der personale Charakter dieser Erfahrung, der die Brücke zwischen dem Nichts-Wollen und dem Alles-Wollen bildet. Indem Gott dem Betenden als Person begegnet, tritt er ihm mit seinem Willen entgegen, so daß sich in diesem Augenblick der Wille Gottes und der Eigenwille gegenüberstehen: Definition sogar vollständig: „Wenn es die Seligkeit ist (. . .), alles zu haben, was man will und verlanget, . . . " und fährt dann fort: so muß eine Seele, welche die wahre Gottseligkeit besitzet, wohl recht selig sein . . . " 201 BL 347 (3,14.2); vgl. 45 (1,46); 47 (1,54); 86 (1,231); 106 (1,327); 449 (3,58.11); u. 454 (3,58.28). 202 S. besonders BR III 23ff. (11); IV 57 (21); WW 291 (7,18) u. 301 (7,36). 203 BR III 432 (140).

178

„Ihr werdet", so schreibt Tersteegen an die Frau von Leyen, „eure Ruhe und Vergnügen nicht finden in der Erfüllung eures Willens, sondern in der Erfüllung des Willens Gottes"204. R u h i g w i r d , w e r den Willen Gottes tut. Das bedeutet einerseits die Ü b e r w i n d u n g des Eigenwillens, d a r u m sind das Nichtwollen" u n d das „Gott nur wollen"205 f ü r Tersteegen gleichbedeutend, andererseits ist der G e h o r s a m gegen den Gotteswillen zugleich tiefste E r f ü l l u n g eines inneren, v e r b o r g e nen Wollens. Wenn einem M e n s c h e n in der G e g e n w a r t Gottes b e w u ß t w i r d , daß er v o n einem göttlichen Willen u m g e b e n ist u n d dabei seine A u t o n o m i e als sein größtes Hindernis erfährt, spürt er, daß das Sterben des Eigenwillens etwas ist, d e m er selbst z u s t i m m t . E r k o m m t zu der p a r a d o x e n Einsicht, daß das N i c h t w o l l e n genau das ist, was er i m tiefsten G r u n d e „will". Diese eigenartige S t r u k t u r der E r f a h r u n g f u h r t Tersteegen dazu, v o n e i n e m d o p p e l t e n Wollen zu reden, e i n e m „Willen der N a t u r " 2 0 6 , der sich selber will, u n d einem „ i n n e r e n " 2 0 7 oder „tiefsten" 2 0 8 Willen, der allein auf Letztgültiges gerichtet ist. J e m e h r der eine stirbt, k o m m t der andere z u m D u r c h b r u c h . So handelt es sich allein u m den inneren, tief v e r b o r g e n e n Willen, der zur E r f ü l l u n g k o m m t , u n d das Sterben betrifft n u r den natürlichen Willen. D a m i t scheint sich das Rätsel dieser Polarität sehr einfach aufzulösen. Willenlosigkeit u n d Willenserfüllung m e i n e n j e zwei grundverschiedene Willen. A b e r auch diese Aussage trifft n o c h nicht den Sachverhalt. Tersteegen liegt nicht daran, eine doppelte S t r u k t u r des Willens nachzuweisen. Vielm e h r ist der ganze Wille gemeint, w e n n es heißt, daß G o t t uns „ o h n e Willen h a b e n " will, so als w ä r e n wir gleichsam nicht m e h r . A b e r d a n n fährt er fort: „Er will allein in dir wollen und dich bewegen . . ." 209 Jenes innere Wollen ist s o m i t kein mit der Existenz n a t u r h a f t m i t g e g e b e nes V e r m ö g e n , s o n d e r n es ist das Wollen Gottes, das in uns lebt 2 1 0 . „Er wirket in uns das Gute wollen . . ,"211 A b e r ist dieser innere Wille d a n n ü b e r h a u p t n o c h „ m e i n " Wille? „ M e i n Wille ist nicht m e h r m e i n Wille", heißt es in einer A n s p r a c h e zu 1. K o r i n t h e r 6,19. E r ist Christus z u m Geschenk übergeben, d a m i t er „allein in uns wolle u n d nicht wolle... " 2 1 2 . Wenn aber unser Wille nichts anderes m e h r will, als 204 205 206 207 208 209 210 211 212

BR IV 62 (23). BR III LE 57. BL 358 (3,19.5). BR 162 (20); 255 (93); 366 (128); III 313 (101); W W 292 (7,20). BL 52 (1,79) u. 358(3,19.5). B R Ì I 223 (74). S. BL 53 (1,83). B R Ì I 51 (19). RE IV 341 f. (7) = GR 246f.; vgl. W W 139 (3,26).

179

w a s G o t t will „ u n d sich d e m Wollen der göttlichen G n a d e u n t e r w i r f t " 2 1 3 , so ist dieser Wille Gottes in uns d o c h auch wieder ganz unser Wille 2 1 4 . Es ist ein „innerer v o n G o t t geschenkter neuer Wille" 2 1 5 u n d als solcher ein „edles V e r m ö g e n " des M e n s c h e n 2 1 6 . Dieser neue Wille ist j e d o c h kein strebendes Wollen m e h r , n u r ein Beipflichten 2 1 7 , G u t h e i ß e n 2 1 8 u n d Z u s t i m m e n 2 1 9 zu d e m , was G o t t will. Erst w e n n der Wille sich in dieser Weise G o t t überläßt, w i r d er w a h r h a f t gelassen. N u r ein Loslassen, das zugleich ein Sich-Überlassen an G o t t ist, f u h r t zu echter Gelassenheit 2 2 0 . N i c h t schon die N e g a t i o n des Wollens, s o n d e r n erst j e n e F o r m v o n Z u s t i m m u n g , in der der Wille „sich gelaßentlich in das u n u m s c h r ä n k t e Wohlgefallen G o t t e s " ersenkt 2 2 1 , schenkt die „ B e r u h i g u n g " , die Tersteegen m e i n t 2 2 2 . Solche Weise des Wollens spricht sich aus in einer Bitte wie dieser: „Mache du dir Platz in uns! E n t d e c k e , binde, zerstöre das U n s e r e , u n d setze das D e i n e an dessen Stelle!" 2 2 3

Wenn sich dieses Gebet erfüllt, ist s o w o h l der „tiefste Wille" gestillt, als auch der eigene Wille a u f g e h o b e n . Es breitet sich ein G e f ü h l der Stille aus, an d e m sich erweist, daß das eigene Wollen wirklich zur R u h e g e k o m m e n ist. Diese Stille ist kein selbstgewirkter, stoisch u n b e w e g t e r Gleichmut, s o n dern „selige Stille 2 2 4 u n d „ s ü ß e " R u h 2 2 5 . Es ist z w a r so, als ob m a n keinen Willen oder Verlangen m e h r hätte 2 2 6 , aber hierdurch w i r d , so fährt Tersteegen fort, „eigentlich das Verlangen nicht w e g g e n o m m e n , s o n d e r n n u r gerein i g t " 2 2 7 . Es ist nicht abgestorben, s o n d e r n erfüllt. 213

RE III 78 (2) = GR 428. S. BL 358 (3,19.8): „Gottes Will' nimm mich gefangen, So wird mein Wille frei und rein!" Vgl. 374(3,26.8). 215 BR III 313 (101). 216 RE III 78 (2) = GR 428. 217 S. BRÌI 175 (60). 218 BL 142 (1,481); BR II 201 (68). 219 BL 456 (3,58.39); BR III 431 (140); III LE 61; s. a. IV Zug. 16 (5) u. 25(7). 220 S. BL 78 (1,195) oder auch den Ausdruck „gottgelassen" in BL 577 (3,114.3); vgl. dazuR. Otto, West-östl. Mystik a.a.O. S. 141. 221 So BR 1162 (63); s. a. 139 (12) u. bes 66f. (22). 222 Die alte Lebensbeschreibung faßt den Abschnitt, der von Tersteegens Gelassenheit handelt sehr treffend unter die Überschrift „Beruhigung in Gottes Wohlgefallen" (S. 64). Das Wort „Wohlgefallen" gehört übrigens zu den besonders häufig benutzten Substantiven unter den typischen Redewendungen Tersteegens und steht in der Regel, um das Wohlwollen des göttlichen Willens zu bezeichnen. S. zunächst die Belege, die unter der obigen Überschrift in der alten Lebensbeschreibung gesammelt sind (LE 64—67); dazu noch einige Stellen aus dem ersten Briefband: s. 119 (4); 36 (11); 39 (12); 92 (33); 94 (33); 105 (39) diese Stelle belegt, daß der Begriffseinen Wortsinn aus Mt 11,20 bezieht; 66f. (22); 162 (63); 252 (93); 293 (102); 295 (103); II 22 (7); 51 (19); 133 (41); 136 (41); 162 (52); 181 u f. (63); 252 (84); 312 (104); 319f. (106); 329 (109); 349 (118); 387 (131); 394 u. f. (133); 405 (137). 223 226 BR II 223 (74). BR 1352 (122). 224 227 BL 125 (1,41 2). Ebd. 225 BL 57 (1,103) u. 577(3,114.4). 214

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Innerstes Erfulltsein ist darum das hervorstechende Kennzeichen dieser Ruhe 2 2 8 . 2. Ein

Vergnügtsein

„Ein Blümlein thut ja nichts zu der Sache, es hat ein Leben empfangen, da es nichts zu gethan hat; nun stellt es sich der Sonne nur bloß, und läßt die Kraft der Sonne treiben, da wirds schön, da lacht es, da ist es fröhlich." 2 2 9

Die Blume verkörpert nicht nur Ruhe. In ihrem Leuchten strahlt zugleich eine Schönheit und Heiterkeit auf, die sich dem Menschen unmittelbar erschließt. So beinhaltet auch das Wohlsein in der Nähe Gottes ein emotionales Moment, das Tersteegen mit „Freude", „Vergnügen" und „Seligkeit" umschreibt. Aber auch die Frage nach der Emotionalität fuhrt vor einen Sachverhalt, den Tersteegen in zwei grundverschiedene Aussagen kleidet. Einerseits spricht er geradezu überschwänglich von den Seligkeiten, die die Seele in der Nähe Gottes empfindet, andererseits bestreitet er, daß es sich überhaupt um eine sinnliche Empfindung handelt. Von diesen beiden Polen ausgehend versucht Tersteegen, die besondere Eigentümlichkeit dieser emotionalen Verfassung zu treffen. a) Das Vergnügtsein als äußerste

Emotionalität

Tersteegen scheut sich, „all die hohen Seligkeiten", die das Leben in der Gegenwart Gottes schon jetzt begleiten, zu berühren, weil es alles nur „dunkle und unzulängliche Ausdrücke" sein würden 2 3 0 . Keineswegs sollte man es jedoch als ein „melancholisches, trauriges, schweres und verdrießliches Leben und Wesen" ansehen 231 . Im Gegenteil: Der Mensch ist von Gott zu nichts anderem als zur Freude geschaffen 232 . Darum kann die Gottseligkeit nichts Trauriges, sondern allemal nur etwas Fröhliches sein 233 . Tersteegen verbindet mit seiner Gotteserfahrung ein Gefühl tiefster Freude, das frei ist von düsterer Heiligkeit. So heißt es in einem Los über die „heilige Freude": „Die Freud' in Gott und seinem Willen Ein Brunn ist, draus viel Güter quillen, Weit mehr als aus der düstern Pein, Die mancher hegt zum Heiligsein. " 234

228 229

S. WW 139f. (3,27). RE II 86 f. (2) = GR 487.

230 w 231 w

w 141 w 141

(3 29). (3>30).

232 233 234

RE III 13 f. (1) = GR 80. RE III 17 (1) = GR 82. BL 649 (FL 293).

181

In den Lebensbeschreibungen heiliger Seelen hat Tersteegen regelmäßig darauf verwiesen, daß die wahren Heiligen eine besondere „Freude im Heiligen Geist" gekannt haben 235 , und in dem langen Gedicht über den Beschauungsstand finden sich Zeilen wie diese: „Die Zeit vergeht mir süß und sacht"236, „Mein Beten ist Genießen" 237 und „Ich feire Gott im Grunde." 238

Aber dies ist nur die eine Seite der tersteegenschen Äußerungen über den Gefuhlszustand eines verborgenen Lebens in Gott. Daneben finden sich Aussagen, die eine völlig entgegengesetzte Erfahrung zum Ausdruck bringen. b) Das Vergnügtsein als

Emotionslosigkeit „Verleugnen, glauben, streiten, leiden Ist unser Werk in dieser Zeit; Genießen, sehen, ruhn in Freuden Wird folgen in der Ewigkeit. " 2 3 9

Die ungetrübte Freude ist allein der Ewigkeit vorbehalten. Hier ist die Zeit des Leidens und des dunklen Glaubens 240 , die erst dort „mit tausend Zentner Freud'" vergolten wird 2 4 1 . So ruft er zur Geduld und vertröstet auf die „selige Ewigkeit". „Halte nur getrost aus liebe Schwester! Endlich wird es gut gehen, und nach dem traurigen Charfreitag ein fröhlicher Ostertag folgen." 242

Freude und göttliche „Süßigkeiten" zu begehren, und „sollten es auch Entzückungen und Offenbarungen sein", ist für Tersteegen nur Ausdruck von Selbstgefälligkeit 243 . „Ach! wie so mancher meinet, bei dergleichen Gaben und Empfindlichkeiten gar innig, andächtig und heilig zu sein, da er doch noch wohl voll von Eigenliebe, Eigenwillen und Selbstgefälligkeit ist. . . " 244

Statt zu überschwänglicher Freude zu führen, entzieht die Gegenwart Gottes mehr und mehr alle großen Empfindungen, so daß die Seele schließlich nichts mehr fühlt und genießt. Sie verursacht einen Zustand, in dem „man entblößt wird von allem Lichte, entblößt von allen empfindlichen Tröstungen und Erquickungen.. ." 2 4 s . 235

236 237 238 239 240

182

S.Z.B.: AL III 16. 449 (3 5 8 9)

BL

BL 454 (3,58.28). BL 454 (3,58.29). BL 107 (1,329). BR IV 87 (35); s. a. 1352 (122).

241

242 243 244 245

BL 167 (1,567). (35)

B R IV 87

WW 261 (6,35). WW 262 (6,35). RE II 31 (1) = GR 645; vgl. BR 116 (3); II 296 (98).

Zwischen diesen beiden Extremen bewegen sich Tersteegens Äußerungen über die emotionale Befindlichkeit im Gewahrwerden der Gegenwart Gottes. Ihre Polarität deutet auf einen Sachverhalt, der sich einer einlinigen Beschreibung entzieht 246 . Einerseits beschreibt Tersteegen die Gegenwart Gottes als eine Empfindung von unbeschreiblicher Seligkeit, andererseits betont er mit Nachdruck, daß sie das Gegenteil sei von aller sinnlichen Empfindung. Was bedeutet diese Ambivalenz? Welcher Gefiihlszustand verbirgt sich hinter solch widersprüchlichen Äußerungen? c) Das Vergnügtsein als transzendente Empfindung jenseits von natürlicher Emotionalität und Emotionslosigkeit

U m das Besondere und Einzigartige dieses Zustands zum Ausdruck zu bringen, greift Tersteegen zum Mythos. Die „heilige Freude", die er in der Gegenwart Gottes erfährt, ist nur zu vergleichen mit der Seligkeit des Menschen im paradiesischen Urständ: Einstmals besaß der Mensch in sich lauter „himmlische, göttliche und paradiesische Vergnügungen, Ergötzlichkeiten und Belustigungen.. ." 2 4 7 . Mit dem Geist, seinem „alleredelsten Teil", belustigt er sich allein in Gott und vergnügt sich im Anschauen, Umfassen und Genießen seines Gottes und dessen göttlicher Mitteilungen 248 . Schließlich hat er aber durch den Sündenfall dieses paradiesische Vergnügen verloren, so daß kein natürlicher Mensch von dieser Seligkeit eine deutliche Vorstellung haben kann. Geblieben ist nur eine dunkle Erinnerung an die ursprüngliche Bestimmung zur Freude und eine unstillbare Sehnsucht nach Glück 249 . Aber was Tersteegen in seiner Gottesbegegnung erfährt, erscheint ihm wie eine Rückkehr zu der ersten paradiesischen Freude. Eigentlich ist sie allein dem ewigen Leben vorbehalten, Tersteegen spürt jedoch, daß sie 246 Man könnte daran denken, die unterschiedlichen Aussagen über die Gefiihlszustände von den unterschiedlichen Ständen des geistlichen Lebens abhängig zu machen und damit den Gegensatz in ein stufenmäßiges Nacheinander aufzulösen. Aber die Stufen, die von der Gegenwart Gottes geprägt sind, der Stand der Beschauung, der Stand der Überlassung und der Stand der Vereinigung, sind von Tersteegen nicht in dieser Weise voneinander abgehoben. Im Stand der Überlassung tritt zwar mehr die Dunkelheit und Emotionslosigkeit der Gotteserfahrung in den Vordergrund, während im Stand der Beschauung die Gegenwart Gottes spürbar erfahren wird, aber hier wie dort liegt das, was als Vergnügtsein erfahren wird, jenseits der natürlichen Empfindungen. Die eigentliche Zäsur im emotionalen Bereich liegt vielmehr zwischen dem Stand der „empfindlichen Gnadengaben" und der Stufe der Beschauung. Im Stand der Empfindungen kennt der Betende aber noch nicht die Erfahrung der Gegenwart Gottes.

Somit lassen sich die gegensätzlichen Aussagen über die emotionale Seite der Gegenwartserfahrung nicht auf unterschiedliche Stände aufteilen. Das Vergnügtsein ist vielmehr eine Gestimmtheit, die in sich selbst zweideutig ist. 247 RE IV 266 (6) = GR 58. 248 RE IV 266 f. (6) = GR 58. 249 RE IV 268 f. (6) = GR 58.

183

bereits in diesem Leben anfangen kann. „Schon jetzt genießen die wahren Gläubigen" die himmlischen Seligkeiten „dem Anfang nach, als einen Vorgeschmack jenes ewigen Lebens" 2 5 0 . In diesem eschatologischen Schon jetzt u n d N o c h nicht liegt der ambivalente Charakter jenes Vergnügtseins in Gott begründet. Die „heilige" Freude ist anders als alle normale Fröhlichkeit. Sie ist einmal innerlicher und z u m anderen beständiger. Die „Freude der Welt" ist ein äußeres, sinnliches Vergnügtsein, „ein Kitzel f ü r die Sinnen, ein Spiel und Blendwerk vor (sie!) die Augen" 2 5 1 . Dagegen ist das Vergnügtsein in Gott eine ganz inwendige Freude. Sie betrifft das „Innerste des Herzens" 2 5 2 . Im tiefsten Grunde der Seele wird dieses w o n n e volle Wesen erfahren 2 5 3 . Z w a r kann es bisweilen auch alle anderen Kräfte der Seele durchdringen, aber das Besondere und Eigentümliche dieser E m p f i n dung tritt erst dann hervor, w e n n die Affekte schweigen und Verstand und Wille stillgelegt sind. Ist die „empfindliche Freude" entzogen, k o m m t die Eigenart dieses Vergnügtseins erst richtig z u m Vorschein. Von den „ S t u r m winden der Affekte" bleibt die v o l l k o m m e n e Freude unberührt 2 5 4 . E m o t i o nen wie „beunruhigende Freude und Traurigkeit, Furcht und H o f f n u n g , die von außen den Geist anfallen möchten", kann sie nicht betrüben 2 5 5 . Im Gegenteil: gerade w e n n das Äußere von Krankheit u n d Leiden bestimmt wird, w e n n die Seele abgeschieden ist von aller Freude, Trost u n d Vergnügen der Kreatur, kann sie mit der „innigsten und reinsten Freude und d e m tiefsten Frieden Gottes angefüllt w e r d e n . . . " 2 5 6 . Als weiteres Kennzeichen wahren Vergnügtseins in Gott nennt Tersteegen die Dauer dieser E m p f i n d u n g . Sie ist keine „so vorüber gehende, so vorbei rauschende Freude, wie die elende Freude dieser Welt; sondern es ist eine ewig bleibende Freude" 2 5 7 . Alltägliche Freuden sind unbeständig. Sie „bezaubern und betören" eine kurze Zeit 2 5 8 , aber dann sind sie „wie ein Schatten verschwunden" 2 5 9 . Hat m a n schon einmal eine Puppe, w o m i t m a n einige Tage spielt, so ist m a n schon bald des Dings m ü d e und will wieder was anderes haben 2 6 0 . Es ist, als w e n n „man i m m e r . . . von einem Z w e i g e auf den andern hüpft, und n i m m e r ein vergnügt Herz erlanget" 2 6 1 ! In einem Brief an seinen Freundeskreis in Krefeld klagt er einmal, daß i h m die Worte

250

RE III 86 (2) = GR 431; vgl. III 373 (7) = GR 351; BR 1154 (61) u. III 133f. (45). 255 RE 160 (2) = GR 375 . Ebd. 252 256 S. RE III 90 (2) = GR 433. Ebd. 253 257 Ebd. RE III 90 (2) = GR 433. 258 254 w w 345 (9,18). BL 430 (3,52.1 ). 259 w w 3 1 0 ( 8 j 5) ; v g i . a u c h BR 1119 (46); 127f. (50); 128 (51). 2eo RE 162 (2) = GR 376. 261 Ebd. s. zu diesem Thema auch die fragmentarische Nachschrift einer Ansprache über 2. Petr. 3,11, die Tersteegen selbst für seine Hörer begonnen hatte (RE II 357-364). Hier handelt er sehr ausfuhrlich von der Vergänglichkeit aller weltlichen Freuden; ähnl. auch RE III 237 ff. (5) 251

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und Ausdrücke fehlen, u m die Nichtigkeit aller zeitlichen Vergnügen so einzudrücken, wie seine Seele sie erkennt 2 6 2 . Die göttliche Freude ist dagegen etwas Beständiges. Sie unterliegt nicht dem A u f u n d Ab erwartungsvoller und enttäuschter Sehnsüchte. Sie ist wie ein gleichmäßiger Cantus firmus, der allen Gemütsregungen zugrundeliegt. Er kann zwar leise oder laut erklingen, er kann überhört werden oder auch selbst alle anderen A k k o r d e übertönen, aber er kann nie mehr ganz abreißen. Vielmehr wächst diese E m p f i n d u n g von Seligkeit in d e m Maße, wie eine Seele sich an die N ä h e Gottes gewöhnt 2 6 3 . Zwischen dem sinnlichen und kurzlebigen Vergnügen an den Dingen u n d der tiefen beständigen Freude an Gott besteht für Tersteegen ein nicht aufzulösender Gegensatz. U m diese zu erfahren, m u ß man j e n e m absterben. „ O ! behaltets w o h l , daß wo vergängliches Vergnügen ausgehet, da gehet Vergnügen ein; u n d sonst n i r g e n d . " 2 6 4

unvergängliches

Vor d e m Hintergrund dieses Antagonismus stellt sich noch einmal die Frage, w a r u m Tersteegen das Leben in der Gegenwart Gottes nur als Verleugnen, Leiden u n d Absterben beschreibt und alles Genießen u n d Freuen der Ewigkeit vorbehält, andererseits es aber als den Inbegriff aller Seligkeit anpreisen kann. Beide Aussagen verschmelzen bei Tersteegen zu einer eigenartigen Synthese, die es nun zu verstehen gilt. Das Absterben von den vergänglichen Freuden verursacht „dem u n g e beugten Eigenwillen und dem verderbten Naturleben bitteres Kreuz, Angst und Tod; aber eben dieser Eigenwille und das Naturleben ist es, was uns elend und unselig macht und daher durch die Kraft und den Geist unseres Seligmachers Jesu w e g g e r ä u m t werden . . . m u ß , will m a n anders hier oder ewig recht freudig, vergnügt und in Gott selig sein" 2 6 5 . Die Ablösung betrifft aber nicht nur das sündhafte Vergnügen am Sinnlichen. U m die reine Freude zu erfahren, m u ß die Seele sich auch von d e m Verlangen nach geistlichen E m p f i n d u n g e n lösen 2 6 6 . In den ersten Stunden des Glaubens teilt Gott noch allerhand empfindliche Gnadengaben mit 2 6 7 , die die Seele ermuntern und zu großen Entschlüssen bewegen, aber dieses „großscheinende Feuer" hat noch viel „ v o m Stroh der Eigenliebe" in sich 2 6 8 , denn die N e i g u n g des natürlichen Menschen nach sinnlicher Lust ist hier noch ungebrochen in Kraft. 262

264 BR 1129 (51). BR IV 93 (37). 265 S. BR III 136 (45). WW 141 f. (3,30). 266 S. RE II 129 (3) = GR 202f. « „O die Gläubigen müssen sich scheiden von manchen Dingen: sie müssen sich scheiden nicht nur von der Sünde . . ., sondern sie kommen auch manchmal in Proben, daß sie sich scheiden müssen von Dingen, die an und für sich selbst gut sind, die heilig sind, ja, die göttlich sind: sie müssen sich manchmal scheiden von mancherlei Süßigkeiten, von mancherlei Empfindungen, von mancherlei Ausflüssen, die sie gehabt haben. " 267 S. BR III 61 (19). 268 BR IV 256 (107). 263

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U m von dieser „Lustseuche"269 freizuwerden, entzieht Gott die anfänglichen Seligkeiten. Er läßt uns „im dunklen Glauben wallen, Hebr. 10, 36-38 und durchs Kreuz gefuhrt werden" 270 . Dies scheint zwar nicht „allemal Freude und Seligkeit zu seyn . . . obsgleich wirklich Seligkeit i s t . . . " 271 . Kreuz und Seligkeit sind für Tersteegen keine Gegensätze, die sich ausschließen. Sie sind vielmehr aufeinander bezogen. Aber sie gehören nicht nur in der Weise zusammen, daß das Leiden der Seligkeit vorausgeht und zu ihr hinfuhrt. Das Kreuz ist nicht allein der unvermeidliche Weg, der erst durchlaufen werden muß, sondern bereits die vollkommene Freude selber. „Hätten wir den Sinn der Heiligen, wir würden uns unserer Leiden erfreuen!"272

Es ist nur das äußere, sinnliche Wesen, das aufhören muß, und darin willigt der Geist freudig ein, auch wenn es manchmal „sauer fällt"273. Der Grund der Seele bleibt vom Leiden unberührt. Darum kann er „vergnügt seyn, und ruhig mit Gott einstimmen, und die Natur doch zu eben der Zeit das Gegenteil fühlen... " 274 . Das Innere und das Äußere, der geistige und der seelische Teil lösen sich voneinander 275 . Nur so kann der Geist vergnügt sein, während die Seele und der untere Teil Leid empfinden. 276 269

273 RE III 381 (7) = GR 534. S. RE III 146f. (3) = GR 184. 274 BR III 134 (45). BR III 49 (15). 271 275 Ebd. S. BR III 229 (72). 272 B R I 3 5 (11). 276 Dieses eigentümliche Ineinander von Leiden und Genießen hat Tersteegen schon im Chrétien intérieur des Bernières de Louvigny vorgefunden. Zunächst beschreibt Bernières in seinem Abschnitt über die Gegenwart Gottes zu welch großem Genuß und seliger Empfindung ihn diese Gegenwart gefuhrt habe (s. vLE 213ff.). Auch spricht er davon, daß der Mensch dazu geschaffen sei, dieses kostbare Gut zu genießen (231 f.). Aber dann heißt es genauso eindeutig, daß das Genießen eigentlich dem Himmel vorbehalten bleibe (233) und das Leben in Gott ein Leben des Kreuzes sei: „Die Ewigkeit ist lang genug, um zu genießen, und wir haben nur dieses (kurze) Leben, um zu leiden. Rom. 8,17.18." (232f.) Aber auch Bernières versteht dies nicht als zwei unterschiedliche Gefuhlsmomente, die sich nacheinander ablösen, sondern Leiden und Genießen sind in eigentümlicher Weise miteinander verschmolzen. In dem folgenden Bericht des Bernières k o m m t das Eigentümliche dieser Gestimmtheit deutlicher noch als bei Tersteegen zur Sprache: 270

„Bisher konnte meine Schwachheit es nicht begreifen, daß eine Seele zugleich glückselig und auch unglückselig seyn könnte. Ich hatte so wenig Kraft, daß das Leiden mich aus der Genießung des in mir gegenwärtigen Gottes herauszog, indem es wegen meiner gar zu großen Sinnlichkeit, die Aufmerksamkeit auf die Genießung des gegenwärtigen Gottes verdunkelte. U n d weil ich mir einbildete, daß diese Genießung nicht statt haben könnte, als nur in einer Seele, welche von allen Arten der Leiden gänzlich befreiet wäre, so geschah es, wenn mir Traurigkeiten, Beschwerden und Unlust begegneten, daß ich mich, sobald ich nur konnte, davon losmachte, u m in den Stand der Genießung wieder zu kommen. Gegenwärtig werden diese Beschwerden mir zu einem Mittel dienen, mich desto kräftiger mit Gott zu vereinigen; ich nehme sie willig an und werde selbige dieser verborgenen, doch im Grunde meines Herzens wesentlich gegenwärtigen Majestät zum Opfer darbringen" (vLE 234). U n d dann erläutert er, wie ihm an den zwei Naturen Christi aufgegangen sei, wie die Seele in ihrem oberen Teil die Gegenwart Gottes empfinden und genießen könne, während sie in ihrem unteren Teil zugleich vernichtigt und gekreuzigt werde.

186

T e r s t e e g e n n e n n t d i e s e n Z u s t a n d , in d e m der Geist v o n Freude u n d Traurigkeit, Furcht u n d H o f f n u n g u n b e w e g t bleibt, eine „ o d e r Unberührtheit

des Geistes"277,

Unannehmlichkeit

u n d beschreibt ihn f o l g e n d e r m a ß e n :

„Ich nenne es eine Unannehmlichkeit des Geistes; denn nur der Geist oder G r u n d der Seele kann in dieser Zeit dahin gelangen. Der seelische und sinnliche Theil w i r d mehr oder weniger berührt, j a m u ß in einigen Stücken berührt werden, und sich der D i n g e annehmen, und ist w o h l eine Tugend. " D a n n erinnert er daran, daß auch Jesus E m p f i n d u n g e n g e k a n n t habe u n d fährt fort: „Wir m ö g e n und m ü ß e n , s o w o h l in Ansehung anderer, als unserer selbst, alles Böse und G o t t Mißfällige furchten, u n d alles Gute hoffen und v o n G o t t begehren. Wir m ü ß e n Gottes Kinder und alle Menschen lieben: allein, w o w a h r e Abgeschiedenheit befestiget ist, da gehet dieses Lieben, Hoffen, Fürchten, Trauern, Freuen etc. nur i m Vorhof und seelischen Theil vor; es dringet nicht ein in den Geist; der ganze Mensch w i r d nicht so davon bewegt, wie bei anderen; es macht inwendig nicht verwirrt; es läßt kein hinderliches Bild zurück; der Geist bleibt in seiner Freiheit ganz Gott anhangend, und läßt das Andere draußen, es sey denn, daß es G o t t anders wolle. So lang Seel und Geist nicht geschieden sind, (Hebr. 4,12) kann der Mensch nicht so abgeschieden seyn: es kostet einen Tod . . . " 2 7 S A u f g r u n d dieser T r e n n u n g v o n Seele u n d Geist k a n n T e r s t e e g e n das L e i d e n lieben u n d „die väterliche R u t e k ü s s e n " 2 7 9 . W e n n der Geist auch unberührt u n d a b g e s c h i e d e n ist v o n allen R e g u n g e n des seelischen Teils, s o ist er d o c h w i e d e r u m nicht o h n e E m p f i n d u n g e n . D e r f o l g e n d e A b s c h n i t t aus e i n e m T r o s t b r i e f an d e n kranken A b r a h a m E v e r t s e n m a g als B e i s p i e l gelten: „Courage! mein Bruder! im Leiden lernet m a n leiden; und w a n n die Widerstreb u n g sich todt gearbeitet hat, dann schmecket der Geist die süße Frucht, die aus der bittern Wurzel hervor wächst. O! zarter, reiner und innigst ruhiger Geschmack des

Tersteegens Anmerkung zu dieser Stelle macht deutlich, daß er dieser Erfahrung voll und ganz zustimmt: „Jener kann im Frieden und Freuden bleiben, da dieser in Unruh und Leiden ist. Siehe 2. Cor. 7,4; Col. 1,24; 2. Cor. 6,10" (vLE 245 Anm.). Daß es sich hier nicht u m eine zeitbedingte Erfahrung handelt, sondern u m ein genuines Erlebnis gesteigerter Spiritualität, wird darin sichtbar, daß anderthalb Jahrhunderte später in der Biographie der Therese von Lisieux die gleiche Erfahrung fast bis in den Wortlaut hinein sich wiederholt: „Mein Herz ist erfüllt von dem Willenjesu. Was auch über mich k o m m e n mag, es dringet nicht bis auf den Grund. Es ist ein Nichts, daß dahingleitet wie Öl auf einer klaren Wasserfläche . . . Die wechselnden Einflüsse von Schmerzen und Tröstungen dringen nicht tief in den Kelch meiner Seele, und so bleibe ich immer in tiefem Frieden. " S. Histoire d'une âme, c. 12; zit. η. Geschichte einer Seele, hrsg. v. O . Karrer, München 1962 S. 269; leider fehlt dieses Kapitel in dem Band: Selbstbiographische Schriften, Authentischer Text, Einsiedeln 1958. 277 278 279

BR III 228 (72). Ebd. vgl. auch BL 59 (1,113). BR IV 380 (152).

187

Geistes so aus Kreuz und Leiden geboren, und nicht so leicht, wie andere süße Mittheilungen, von der Eigenliebe verdorben wird!" 280 D e r Geist „ s c h m e c k e t " die „süße Frucht". Gerade in Zeiten der „ D ü r r e " , w o die Seele nichts anderes als D u n k e l h e i t erfährt, k a n n sie in „ s c h m a c k h a f t e m " G e n u ß den Frieden Gottes e m p f i n d e n 2 8 1 . In d e m Augenblick, w o das H e r z allen E m p f i n d u n g e n abgestorben ist, empfindet es die g r ö ß t e n Seligkeiten. A b e r dieses G e f ü h l v o n Seligkeit w i r d nicht m e h r sensitiv w a h r g e n o m m e n . Es liegt tiefer, v e r b o r g e n e r als der Bereich der Sinne, der E m p f i n d u n gen a u f n i m m t . Wichtig ist nur, daß „die E m p f i n d l i c h k e i t . . . nicht in das innere K ä m m e r l e i n k o m m e n , u n d das G e m ü t h s t ö r e n " k a n n 2 8 2 . Das Vergnügtsein in der G e g e n w a r t Gottes ist kein Z u s t a n d natürlicher E m o t i o n a l i tät, u n d d o c h eine A r t v o n Emotionalität. D a r u m k a n n Tersteegen auf der einen Seite sagen, daß er nicht „allezeit i m G e n u ß s t ü n d e " u n d es auch gar nicht begehrte, aber in gleichem A t e m z u g d a v o n sprechen, daß er sich „öfters so unschuldig e r f r e u e n " k a n n an d e m Dasein eines solch v e r g n ü g e n d e n Gottes 2 8 3 . „Zwar wird den Bundeskindern auch wohl bisweilen die empfindliche Freude . . . entzogen; aber dem ohnerachtet wird ihre Freude in Grunde doch nicht von ihnen genommen, sie wird auch nie in eine Betrübniß verwandelt, wie mit der Freude dieser Welt geschieht: es ist eine bei ihnen bleibende Freude, die durch alles Leiden, Krankheit und Tod mitgehet bis in die Ewigkeit . . , 2 8 4 Die innere Freude ist unauffällig. Sie ist unter A r m u t u n d Leiden verdeckt, die sie wie D e c k e n einhüllen u n d den Blicken entziehen 2 8 5 . U m dieses inneren Genießens willen m ü s s e n die äußeren G e m ü t s b e w e g u n g e n a u f h ö ren u n d auch das Verlangen danach absterben. Selbst G o t t darf m a n nicht genießen wollen. Tersteegens Briefwechsel mit den pietistischen G r u p p e n seiner Zeit m a c h t deutlich, m i t welch gegensätzlichen Einstellungen er sich auseinanderzusetzen hat. E r m a h n t nachdrücklich v o r der N e i g u n g dieser G r u p p e n , „den Werth der G e m ü t h e r nach d e m M a ß ihrer s c h m a c k h a f t e n M i t t h e i l u n g e n " zu messen 2 8 6 .

280

BR III 382 (127); vgl. BL166 (1,565): „Nein, das Kreuz ist keine Last Als der Seele nur, die's haßt; Wer's mit Liebe will umfassen U n d sich kindlich Gott kann lassen, Der mag bei des Kreuzes Pein Innig still und freudig sein. " 281 B R I 2 9 0 (101). 282 BR IV 314 (128). 283 BR III LE 69 f. ; vgl. LE 40. 284 RE III 91 (2) = GR 433. 285 WW 244f. (6,17); vgl. BL494 (3,71.4). 286 BR IV 206 (84); vgl. BR IV 318f. (130): „Beurteilt niemals euern Zustand nach eurem Gefühl."

188

Im Bereich des Emotionalen liegt zwischen Tersteegen und den erweckten Kreisen, besonders den Inspirierten und den Herrnhutern eine beachtliche Distanz 2 8 7 . Alles Gefühlsbetonte ist ihm fremd 2 8 8 , und gegen die pietistische Gewohnheit, sich in seinen Entscheidungen von geistlichen Gefühlen leiten zu lassen, gibt er den klaren Rat: „im U m g a n g mit andern nehmet n i m m e r euer Gefühl zur Regel, als welches betrüglich ist. " 2 8 9 2 8 7 S. hierzu den Bericht in der alten Lebensbeschreibung (BR III LE 48); die Vorrede zum verborgenen Leben (vLE 56 [Vorrede]) und Tersteegens Aufsatz, Von dem Verhalten bei außerordentlichen Geistesgaben, Gesichten, Offenbarungen usw (in WW 149-162 [4]); vgl. dazu Goebel, Geschichte III a.a.O. S. 306 u. 159f. und v. Andel, Tersteegen a.a.O. S. 132. Ähnlich zurückhaltend gegenüber den charismatischen Erfahrungen der „Inspirierten" äußerten sich auch Hochmann von Hohenau und Wilhelm Hoffmann (s. H. Renkewitz, Hochmann von Hochenau, Quellenstudien zur Geschichte des Pietismus, in Arbeiten zur Geschichte des Pietismus im Auftrag der historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus, hrsg. v. K. Aland, E. Peschke und M. Schmidt, Bd. 5 Witten 1969 S. 293f.) wie auch der zweite berühmte Schwarzenauer Carl Hector von Marsay, der durch die ungewöhnlichen Erscheinungen und vor allem durch das Übertreten des einflußreichen Gruber zur Inspirationsbewegung verunsichert, sich schriftlich bei Madame Guyon Rat einholt, (s. dazu Goebel, Geschichte III a.a.O. S. 136 Anm. 1).

Tersteegen vertritt hier einen durchaus innerpietistischen Traditionsstrang, der sich allerdings von dem Ideal mystischer Gelassenheit besonders beeinflußt zeigt. Im Hintergrund steht eine Position wie sie etwa Johannes vom Kreuz verkörpert, der im „Aufstieg zum Berge Karmel" einmal sagt: „nach Süßigkeit und lieblichem, angenehmem Verkehr mit Gott zu haschen . . .", das ist „geistige Nascherei". (Aufstieg, a.a.O. I c. 6 S. 100). Tersteegen zitiert ihn in diesem Zusammenhang gelegentlich, so AL III 23, 476 (Vorrede). Allerdings bedeutet die Abwehr Tersteegens gegen schwärmerische Gefuhlsseligkeit keine grundsätzliche Ablehnung des Emotionalen. Vielmehr ist der Stand der Einwohnung gerade durch das Aufbrechein einer neuen, reinen Gottes-empfindung gekennzeichnet (s. u. S. 254f.). Es ist also nicht so sehr die Furcht vor Illusion, wie E. Seeberg behauptet (Gottfried Arnold a.a.O. S. 44), die der romanischen Mystik und auch Tersteegen hier Zurückhaltung auferlegt (Tersteegen hat wie fast alle Mystiker sehr zuverlässige Kriterien zur Unterscheidung der Geister), sondern vielmehr die Erfahrung, daß Verzückung und Sinnlichkeit nahe beieinander stehen und es darum auf der Stufe der Reinigung eine Gefahr bedeutet, sich einer Gefuhlsseligkeit auszuliefern, da die Seele noch nicht frei ist von sinnlichem Begehren. Marsays Bericht über seinen inneren Zustand nach seiner Verbrüderung mit Zinzendorf ist ein typisches Beispiel für die Sensibilität der Stillen gegenüber der pietistischen Gefuhligkeit. Er schreibt: „Da wir nun ganz in den Sinnen waren, und eine starke Kraft und Zug eben auch in den Sinnen hatte, so war es keine fremde Sache, daß er uns, da wir ihm den Eingang gestatteten, konnte gefangen nehmen. " Während Marsay selbst bald von der Gefährlichkeit seines Zustands überzeugt war, blieb seine Frau noch länger dem Hang zur Sinnlichkeit und Süßigkeit verfallen, bis sie schließlich krank wurde. Nun wurden ihr „die inneren Augen geöffnet und sie erkannten ihren üblen Zustand und ihre Untreue, daß sie nicht in dem Stand des dunklen Glaubens geblieben und sich liederlicherweise an die Creatur (an Zinzendorf) gehängt und geistliche Hurerei getrieben hatten." (aus: Das Leben des Herrn Charles Hector Marquis St. George de Marsay, von ihm selbst geschrieben. Zit. nach Goebel, Geschichte III a.a.O. S. 219). 2 8 8 S. B R IV 320 (130): „Alles, was euch ins Hohe und Außerordentliche führet, müßt ihr meyden wie die Pest." S. auch B R III 174 (58); vgl. B R 116 (3); B R II 167f. (57). 2 8 9 B R IV 319 (130); s. auch B R holl 100 (43) = B R NS 284 (188).

189

U m der wahren, vollkommenen Seligkeit willen muß die Seele den Gaben Gottes gegenüber gleichgültig werden und nichts davon für sich selbst haben wollen. Darum bewirkt die Nähe Gottes auch im Bereich der Emotionen zunächst eine Entäußerung. Aber es bewahrheitet sich auch hier die paradoxe Erfahrung, daß da, wo die Seele bereit ist, sich selbst zu verlieren, sie sich erst richtig findet. Darum heißt es hier: „je mehr wir uns alles Guten entäußern, und es in der Eigenart nicht besitzen wollen, desto edler haben wirs; und wenn wir uns des Edlen, das wir haben, auch wieder entäußern, um nichts als Gott ansehen zu wollen, so wächst abermal unser Gutes und unsere Seligkeit." 290

Erst wo der Mensch sich ohne eigene Absicht Gott zuwendet und alles eigenmächtige Greifen nach religiösen Stimmungen aufgibt, findet er die „unaussprechliche Seligkeit" 291 , die in Gott enthalten ist. Zusammenfassung

Diese Strophe unseres Liedes spricht von der Gegenwart Gottes wie von einer Sonne, die mit ihrem Licht alles durchdringt, und von dem Menschen in dieser Erfahrung wie von einer Blume, die sich willig entfaltet, stillehält und die Strahlen der Sonne auf sich wirken läßt. Diese beiden Seiten der Gegenwart Gottes wurden als Gefühl von Licht und Wärme und als ein Gefühl tiefen Wohlseins umschrieben. Einerseits wirkt die Gegenwart Gottes wie ein Licht, das die Dunkelheit erleuchtet, uns von unserer bisherigen Blindheit befreit und uns ein ganz neuartiges Sehvermögen schenkt. Hier wurde vom „Auge der Seele" gehandelt und von der Besonderheit intellektueller Anschauung. Andererseits haben wir das Gefühl des Wohlseins nach Tersteegens Weise betrachtet und als eine Empfindung von Ruhe und Vergnügen entfaltet. Wir haben gesehen, wie diese beiden Begriffe den emotionalen Charakter der Gegenwart Gottes umschließen und sich dabei gegenseitig ergänzen: die Ruhe meint ebensowenig Leere und innere Reglosigkeit, wie das Vergnügen den augenblickhaften emotionalen Überschwang. Die Ruhe schließt eine überaus freudige Gestimmtheit ein, wie auch das Vergnügen ein gleichmäßig ruhiges Grundgefühl meint. Aber wir haben uns jeweils sagen lassen müssen, daß diese Empfindungen anders sind als alles, was wir normalerweise als Ruhe und Vergnügen erleben. Sie ähneln zwar jenen leiblich-seelischen Zuständen, sind aber Empfindungen, die allein den Geist betreffen und daher von eigener Art. Diese Strophe ist ebenfalls eine Umschreibung der Allgegenwart Gottes, aber anders als in der vorhergehenden kommt hier zum Ausdruck, daß das 290

B R III 62 (19); vgl. R E II 129f. (3) = G R 203.

291 WW 138f. (3,25). 190

Ich doch nicht ganz aufgelöst, doch nicht verschwunden ist in einem geistlosen Zustand von Ekstase, sondern bei aller Versunkenheit zu einer neuen Geistigkeit befreit ist, in der ihm die Welt wie in einem neuen Licht erscheint, so daß es selbst nichts Schöneres weiß, als sich diesem Licht auszusetzen und darüber still und froh zu werden. „Hier ist gut sein Wie ist mir doch geschehn, w o bin ich hingeführt, Welch eine neue Welt hat mich in sich genommen! Mein Geist in seinem Grund die tiefste Stille spürt, Ich bin ins Paradies, und es in mich gekommen. Mein vor bedrängter Geist, der kriegt nun weiten Raum, Er schöpfet frische Luft und sanft empor sich hebet, Wie munter sieht er aus, der sonst sich regte kaum, Und frei im Element der reinsten Wonne lebet!"292

VI. Der menschliche Geist ein Heiligtum Gottes „Herr, komm in mir wohnen, Laß mein'n Geist auf Erden Dir ein Heiligtum noch werden. "

Mit diesem Bild räumlich kultischer Präsenz tritt noch einmal etwas völlig Neues in den Kreis der Vorstellungsbilder. Wenn Gott letzthin „alles füllet", „aller Dinge Grund und Leben" ist und mit seinem Licht alles durchdringt, ist er auch dem Menschen nicht unerreichbar fern. Darum steht am Ende ein Bild, das von einer besonderen Gegenwärtigkeit Gottes im Menschen handelt.

A. Das Gewahrwerden eines heiligen Grundes Die bisherigen Vergleiche endeten stets an einer bezeichnenden Stelle. Sie führten vor eine Grenze, an der Tersteegen betonte, daß die Nähe Gottes noch etwas ganz anderes sei. Von der Luft hieß es, sie sei uns nahe, Gott aber noch unendlich näher 1 , und vom Licht: „Das äußre Sonnenlicht ist da Und leucht't mir ins Gesicht; Gott ist noch mehr dem Geiste nah Mit seinem Lebenslicht."2 292 1

BL 163 (1,559); dort auch die Leseart: „Und frei im Element der Gotteswonne lebet!" 2 BRII295Í. (98) s . o . S . 128. BL369(3,24.1); vgl. 558f. (3,99.3)u. BRI343Í. (119).

191

Was ist gemeint, wenn Tersteegen die Gegenwart Gottes als ein noch dichteres Maß an Nähe versteht? In quantitativem Sinne ist eine Steigerung nicht mehr möglich. Die Luft läßt keine Zwischenräume, auch das Wasser nimmt den Regentropfen ganz in sich auf und das Licht berührt und umgibt die Pflanze von allen Seiten. So ist jedes in seiner Weise ein Bild unmittelbarer Nähe. Dennoch enden sie alle vor der gleichen Barriere. Sie reden von der Nähe Gottes im Sinne der landläufigen Vorstellung, daß das am nächsten sei, was uns von außen am dichtesten berührt. Etwas, das zunächst wie ein Objekt außerhalb von uns ist, kommt uns nahe. In diesem Sinne sind Luft, Licht und Wasser unübertroffen hautnah. Aber Tersteegen betont, daß Gott uns näher sei, näher als Licht und Luft, ja sogar „näher als wir uns selbst" 3 . Gott ist uns „innigst nahe" 4 oder „unaussprechlich n a h e . . ." 5 , er ist uns „inwendig" nahe 6 oder auch „drinnen" nahe 7 . Alle diese Steigerungen zielen auf ein Nahesein Gottes „in unserem Inwendigen" 8 :

3

Immer wieder begegnet dieses Augustinuswort in Tersteegens Briefen und Versen, dabei in mancherlei Variation: s. BL 119 (1,385); 172 (1,577); 511 (3,80.7): „Daß du mir in Jesus Christ Näher als mein Herze bist!" BL 638 (FL 235): „Das Paradies, die Quell' für Sünden, ist n ^ e f a l s du selbst zu finden. " tieter BR I 79 (26); 343 (119); II 297 (98): „Gott ist uns viel inniger, als das allerinnigste in uns . . ."; ebenso 355 (120); BR III 22 (11); IV 360 (141); BR holl 26 (6); RE IV 4 (1). S. dazu Augustinus, Confessiones c. 6 n . 11: „Tu autem eras interior intimo meo . . . " dieses Wort scheint überhaupt eines der am häufigsten zitierten Augustinusworte zu sein. Immer wieder treffen wir in der mystischen Tradition auf dieses Wort; s. z. B. Angela von FoligniinAL 115,87: „Ich bin in deiner Seele viel inniger, als sie ihr selbst ist;" Tauler s. F. Vetter, Die Predigten Taulers, in Deutsche Texte des Mittelalters, Bd. XI Berlin 1910 Nr. 37 S. 144, 6: „im innersten gründe, do Got der seien naher und inwendiger ist verrer wan si ir selber ist . . ."; Madame Guyon, s. Moyen court et très facile de faire oraison § 1 und § 14 (in der deutschen Ausgabe von G. Arnold, Frankfurt u. Leipzig 1701 S. 58 u. 108; Johann Arndt, s. Wahres Christentum III K. 4. 4 Unzählig oft, einige Beispiele aus dem vierten Teil der Briefe: BR IV 56 (21); 91 (37); 104 (42); 111 (45); 175 (72); 188u. f. (77); 208 (85); 210 (86); 223 (91); 233 (96); 238 (98); 283 (118); 300 (123); 364 (143). 5 Ebenfalls recht häufig: BR 1187 (72); II 43 (15); 355 (120); III 137 (45); 143 (48); 171 (58); 314 (101); 368 (122); IV 238 (98); 323 (132) u. ö. 6 WW 258 (6,30); BR II 297 (98); III 145 (48); IV 163 (66); 214 (87); 339 (137). 7 BL 43 (1,34); 161 (1,551); 466 (3,60.4): „Bei Gott im Herzen drinnen . . ."; BL 563 (3,102.1); RE IV 430 (9); BR IV 289 (118); u. BR IV 75 (29) = IV Zug. 11 (3). 8 BR 1187 (72); 297 (98); III 137 (45); 368 (122); 367 (121); IV 92 (37); 238 (98); 377 (151).

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„denn wahrlich, er ist uns nahe; nicht nur nach seiner allgemeinen Gegenwart; wie er auch allen unvernünftigen Geschöpfen nahe ist: sondern in dem holden Namen Jesus-Immanuel, ist dieses seligste Gut unserm Geist näher, als wir uns selber sind . . ." 9 1. Die Gottesnähe als geistige

Begegnung

Das Heiligtum ist der Ort einer besonderen, ausgezeichneten Präsenz Gottes. Die Bitte, daß unser Geist ein solcher Tempel Gottes werde, meint mehr als das allgemeine, kreatürliche Partizipieren am Sein Gottes. Es ist die Ahnung von einer besonderen Dignität des menschlichen Geistes, die zu dieser auffälligen Umschreibung fuhrt. „Nun ist zwar Gott, besagter Maßen, überall gegenwärtig; weil er aber ein Geist ist, so ist er auf eine ganz besondere und weit seligere Weise unserem Geist nahe . . . So ist nun inwendig, unser Geist, Gottes Werkstatt, Tempel und Heiligtum, da Gott wohnet und wohnen will;"10 Durch den Geist ist der Mensch in unvergleichlicher Weise mit Gott verbunden, denn der Geist kennt eine Gegenwärtigkeit von besonderer Art. Die Weise, wie Geist sich mit Geistigem verbindet, ist tiefer und spontaner als alles, was sonst als Objektbeziehung möglich ist. Geistige Einsicht ist ablösbar von ihrem geschichtlichen Ursprung, ablösbar auch von den persönlichen Bedingungen ihres Trägers und überhaupt frei von den Begrenzungen durch Raum und Zeit. Der Geist überwindet die Grenzen der Individualität, ihm ist Universalität eigen, während von der leiblich-seelischen Verfassung etwas Trennendes ausgeht, eben das Bewußtsein, einmalig und unverwechselbar zu sein. Geistige Einsicht erzeugt dagegen einen Mitteilungsdrang, der ihre Allgemeingültigkeit auch überall gelten lassen möchte. Nichts begegnet sich unmittelbarer als Geist, der auf Geistiges trifft. In solchem Zusammentreffen entsteht ein Gefühl von Einheit, weil alles, was trennen könnte, unberührt bleibt. In dem Maße, wie der Geist von derartiger Begegnung geprägt ist, gibt es etwas in ihm, das ihm heilig ist und gegenwärtig als das, was sein Innerstes und Kostbarstes ist. Wie alles, was man liebt, ständig in uns wirksam ist und die Akte steuert und bewertet, so wirkt auch die Gegenwart Gottes auf den Geist. Diese spezifisch geistige Form von Gegenwärtigkeit wird hier zum Gleichnis. Aber ist dies überhaupt noch Gleichnis? „Gott ist Geist" 11 und ist „als Geist, unserm Geist n a h e . . ," 1 2 . Gott ist im Menschen als Geist gegen9

BR III 22 (11). BRÌI 296 f. (98) s.a. Bruder Lorenz als Auslegung von Joh. 4,24 in AL II, 9.118 = 2,327 f. 11 BR holl 120 (51) = BR N S 292 (193) u. WW 131 (3,16) mit Bezug aufjoh. 4,24; vgl. auch BL 105 (1,323) u. 560 (3,100.1); U A 16 (1,2.4). 12 BR 1186 (72); vgl. WW 337 (9,3). 10

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wärtig. Er begegnet i h m als Geist, der „mit Geist u m g e h e t . . ," 1 3 . D i e s ist für Tersteegen mehr als Analogie. Hierin liegt für ihn vielmehr die Wesensb e s t i m m u n g der Gott-Mensch-Beziehung schlechthin. „Gott ist ein Geist, drum wer ihn finden will, Muß auch im Geist, nicht in den Sinnen leben." 1 4 Hier teilt Tersteegen die alte platonische Prämisse, daß Gleiches durch Gleiches erkannt wird 1 5 . „Gott ist ein Geist; sollen wir mit ihm in Wahrheit vereinigt und ihm auf die Art dienen, die ihm gebührt, dann müssen wir uns ihm da nähern, wo er ist, nämlich im Geiste; wir müssen trachten, ihm einigermaßen ähnlich zu werden, das heißt: wir müssen geistig werden." 1 6 Solche Aussagen sind für Tersteegen ontologisch betrachtet letztgültig 1 7 . Der Begriff Geist ist nicht nur Metapher für das Geheimnis der Gottesnähe, er ist dieses Geheimnis selber. Erst mit der U m s c h r e i b u n g dieser Geistbeziehung als das Eingehen Gottes in das innere Heiligtum des Menschen beginnt die bildhafte D e u t u n g dieser geistigen B e g e g n u n g .

a) Die innere Gegenwart

Gottes „Niemand ist uns von Natur weniger bekannt als Gott und wir selbst." 18

Was versteht Tersteegen unter Geist, w e n n er ihn allein für würdig hält, ein Heiligtum Gottes zu werden? In seinem Katechismus steht als A n t w o r t auf die Frage, „Was ist des Menschen Geist?" „Es ist der innerste Grund seiner Seele, oder der Abgrund des unsterblichen, unsichtbaren Wesens in ihm . . ," 1 9 13

BL 560 (3,100.1); vgl. BL 112 (1,353): „Da sich Geist und Geist verbindet . . ." BL 105 (1,323). 15 S. BL 44 (1,42) u. 625 (FL 170). 16 BR holl 120 (51) = BR N S 292 (193); vgl. WW 337 (9,4). 17 S. WW 380 (12,1). 18 WW 308 (8,1). 19 U A 87 (I, 8.6); in dem Maße, wie dieser Abschnitt zum Eigentlichen der tersteegenschen Gegenwartserfahrung fuhrt, verläßt er das Gehege der von H. E. Weber eingegrenzten „Glaubensmystik". Sie war zwar bestimmt als Glaube an die Gegenwart Gottes und dadurch mit Tersteegens Anliegen verwandt, aber die Gegenwart Gottes begrenzt sich fur Weber auf das „vor Gott stehen". Natürlich soll die Seele von der Gegenwart Gottes nicht ausgenommen sein, aber „für das Vergegenwärtigen Gottes in der Glaubensmystik ist doch eben kennzeichnend, daß es die Blicke nicht auf das Ich und die Seele hinwendet" und „vollends nicht auf einen göttlichen Seelengrund" (Glauben und Mystik a.a.O. S. 67). So wird Tersteegens „Sinnen über den .Grund'" als „etwas Gefährliches und Fremdes" erachtet (ebd. Anm. 4). Gerade diese Arbeit, die zum Anliegen der Mystik positiv Stellung zu nehmen versucht, macht deutlich, wie schwer und wenig aussichtsreich es ist, von einem festen dogmatischen Standpunkt aus mystische Gebetserfahrung zu erfassen und verständlich zu machen. 14

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Demnach ist mit Geist nicht eine Tätigkeit des Kopfes gemeint, nicht die zergliedernde Wirksamkeit des Denkens. Wenn Tersteegen Geist sagt, denkt er an etwas Überrationales, was außerhalb des trennenden Subjekt-ObjektSchemas liegt. „Im Geiste, das ist, im inwendigsten Grunde des Herzens . . ."20 Das Gefühl geistiger Nähe ist etwas, das sich im „Allerinnersten, das in uns ist" einstellt 21 . Dort nimmt der Mystiker Gott am spürbarsten wahr. Dort liegt für ihn das eigentliche Widerfahrnis der Gegenwart Gottes. Beginnt mit diesem Abschnitt über den Seelengrund das im engeren Sinne Mystische und d a r u m dogmatisch nicht m e h r Nachvollziehbare? Es ist geradezu erschreckend, wie leichtfertig H . E. Weber an dieser Stelle das biblische Zeugnis des Christus in uns übergeht und schließlich auch den fur Luther und Calvin nicht unwesentlichen Aspekt der E i n w o h n u n g Christi außer acht läßt. Dies hätte ihn zu größerer Offenheit in dieser Frage fuhren können. In welch abenteuerliche Position sich der Protestantismus der zwanziger Jahre durch solche E n g f ü h r u n g hat drängen lassen, macht eine katholische Stellungnahme, ein Aufsatz v o n E. Przywara zur Mystikdebatte deutlich. Er geht davon aus, daß das katholische Gotteserlebnis „die Spannung von ,Gott in uns und über uns' zum Sinn" hat (s. Ringen der Gegenwart, Gesammelte Aufsätze 1922-1927, Augsburg 1929 Bd. I S. 498), während das lutherische Verständnis nur ein radikales „Gott über uns" kennt (a.a.O. Bd. II S. 553). U n d dann zieht er als Konsequenz daraus: Wenn aber „Gott prinzipiell der ,Gott über uns' ist, so kann es eben kein ,religiöses Erleben' geben, das eine Wirkung auf Gott hätte, kann es kein Gotteswerk geben, das als solches erkennbar wäre. Alles irgendwie Göttliche ist prinzipiell das allem Menschlichen und Anschaulichen diametral Entgegengesetzte, ja, wie Barth-Gogarten sehr richtig anmerken, m e h r als ein Entgegengesetztes, da ein solches noch eine Beziehung einschließt, Gott aber das schlechthin .Andere' und Jenseitige', .senkrecht Entgegengesetzte', wie Barth es formuliert, zu allem Geschöpflichen schlechthin beziehungslos ist. Die einzige Beziehung zwischen Gott und Geschöpfist, wie Gogarten in , Glauben und O f f e n b a r u n g ' es meisterhaft auseinanderlegt, die des absoluten N e i n " (a.a.O. S. 553). Alle Vermittlungsversuche dazwischen wie Heilers Erlebnischristentum und Webers Glaubensmystik erscheinen aus Przywaras Sicht nur noch als unscharfe „Mittelstandpunkte, an denen unser Geistesleben leidet" (a.a.O. S. 555). Damit ist die Gefahr signalisiert, die dem Protestantismus droht, w e n n er sich dem Zeugnis des Christus in uns grundsätzlich verweigert. Z u m Glück ist Przywaras Alternative nur eine Karikatur der konfessionellen Positionen jener Zeit. Vgl. statt dessen Luthers Auslegung des „Christus in uns" im großen Galaterkommentar zu Gal. 2,20 (WA 40 I, 281 ff). Z w a r ebnet schon Melanchthon das Besondere dieses Lehrstücks weitgehend ein (s. z . B . C R 14, 1186 u. 1209; 15, 327 u. 387), aber in den altprotestantischen Loci zur unio mystica ist dies M o m e n t der Glaubenserfahrung oftmals in großer Breite wieder verhandelt und somit'im Protestantismus fest verwurzelt. Vgl. dazu auch, wie sich die Konkordienformel über die E i n w o h n u n g Christi äußert (SD III, 54; cf. Epit. III, 16; IV, 15 u. 19; SD XI, 73). Solange Tersteegen mit seiner inneren Erfahrung Gottes noch als reformierter Christ gelten kann, sind derartige Unterscheidungen überspannt und an den mystischen Elementen der Schrift und an den mystischen Traditionen der protestantischen Kirchen vorbei formuliert. Dieser Abschnitt der tersteegenschen Gotteserfahrung hat somit eine eigene Brisanz. An der Offenheit oder der Verweigerung gegenüber einer inneren Erfahrung Gottes fällt die Entscheidung über einen zentralen Punkt des ökumenischen Dialogs und über die Einstellung zum Erbe der Mystik in den Kirchen der Reformation insgesamt. 20 U A 278 (II, 11.26). 21 B R I 186 (72).

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In einem Brief an den Vater seines Verlegers Schmitz schreibt er genauer: „ D u findest, d u r c h göttliche B a r m h e r z i g k e i t , in dir eine allgemeine S e h n s u c h t u n d einen tief v e r b o r g e n e n H u n g e r nach G o t t , j a ein inniges u n d in seinem M a ß a u f r i c h t i ges Verlangen, u m v o n allem Verderben erlöset u n d ganz G o t t e s E i g e n t u m zu seyn. Bisweilen m e r k s t d u dieses deutlicher, bisweilen d u n k e l u n d c o n f u s . D i e ß ist n u n der Geist u n d der innere Mensch. D u findest dabei eine v e r b o r g e n e A b m a h n u n g u n d A b n e i g u n g v o n allem G o t t Mißfälligen, u n d eine innige R e i z u n g u n d Z u n e i g u n g zu G o t t u n d z u m G u t e n ; das ist auch der innere Mensch, der Geist, b e r ü h r e t v o n G o t t e s Geist."22

D a r u m antwortet Tersteegen auf die Frage, w o die O f f e n b a r u n g Gottes geschehe, mit aller Bestimmtheit: „ n i r g e n d anders, als i m G r u n d e unseres H e r z e n s . I n w e n d i g sitzt die Sünde, H ö l l e u n d Verderben: i n w e n d i g m u ß auch die E r l ö s u n g u n d Seligkeit k o m m e n . " 2 3

Im G r u n d e seines Inneren hat Tersteegen etwas w a h r g e n o m m e n , was ihm rätselhafter u n d wesentlicher erscheint als alles, was i h m jemals von außen begegnet ist. Diesen Bereich hat er als eine eigene Wirklichkeit entdeckt, als die eigentliche Welt des Geistes, die nicht weniger real ist als die Welt der sichtbaren Dinge. M e h r noch: alles Äußere ist i h m seitdem nur wie „ein Bild, Abdruck oder Kopie v o n d e m inneren O r i g i n a l . . ." 2 4 . D e m Inneren k o m m t die wesentliche Realität zu 2 5 . „Inwendig bös: alles bös! I n w e n d i g gut: alles u n d überall g u t ! " 2 6

An anderer Stelle heißt es ähnlich: „ I n w e n d i g , i n w e n d i g ist alles zu suchen u n d zu finden, w a s u n s g r ü n d l i c h heiligen u n d glückselig m a c h e n k a n n , auch n o c h in diesem Leben, m e h r als auszusprechen ist."27

U m Gott und die Seele kreist Tersteegens geistige Welt. Gott und die Seele sind i h m gleichermaßen rätselvoll 2 8 . Beide, „Gott und meine Seele", halte ich auf, w e n n ich mich d e m Anruf Gottes nicht ergebe 2 9 . Beide sind u n m i t telbar aufeinander bezogen, das Geheimnis der Seele ist das Geheimnis Gottes 3 0 . Dabei interessiert Tersteegen nicht das Subjektive an der Seele, nicht das individuelle Unterbewußtsein, nicht der Bereich der ganz persönlichen Träume und Phantasien, nicht Begierden und Sentimentalitäten. Tersteegen geht es allein u m den Grund der Seele, der unterhalb davon liegt. Der G r u n d ist eine Z o n e reiner Objektivität, w o „das Geheimniß der Bosheit 22

26 BR II 217 (73). BR IV 265 (108). 27 BR III 136 (45). BR II 52 (19). 24 28 BR 111 (2). S. WW 309 (8,1). 25 29 S. BL 624 (FL 166). BL 430 (3,52.3). 30 Tersteegen steht damit innerhalb jener mystischen Strömung, die als Introversions- oder Seelenmystik seit Augustinus die abendländische Spiritualität beherrscht und in der spanischen Mystik und im Quietismus Tersteegen unmittelbar vor Augen gestanden hat. 23

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und das Geheimniß der Gottseligkeit, die Tiefen des Satans und die Tiefen der Gottheit zu entdecken" sind 31 . Innerlichkeit bedeutet für Tersteegen keineswegs Empfindsamkeit 32 . Die Zuwendung zum Seelengrund ist vielmehr ganz und gar objektorientiert und uninteressiert an subjektiver Gefühligkeit. Der Weg nach innen ist fiir ihn der Weg zum Kern aller Wirklichkeit. Kein Begriff begegnet darum so häufig wie das Wort Seelengrund33 mit all den zahlreichen Variationen, die die mystische Tradition hierfür bereit hält. So spricht er vom Herzensgrund 34 und Einfaltsgrund35, vom Friedensgrund 36 oder Liebesgrund37, vom Gemütsgrund 38 , vom Abgrund 39 oder

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B R I 11 (2). Hier ist vor allem O . Söhngen (Gerhard Tersteegen und die Gemeindefrömmigkeit) zu widersprechen, der unter Hinweis auf M. Wiesers Darstellung von Peter Poiret nun auch von Tersteegen behauptet, seine Psychologie sei „unbedingt sentimental zu nennen . . .", weil seiner Zuwendung zur Innerlichkeit angeblich die Intentionalität abgeht. Wir werden über die Frage der Intentionalität bei Tersteegen noch ausfuhrlich zu sprechen haben. S. unten S. 239 ff. 33 Stellvertretend für die zahlreichen Stellen in Tersteegens Schrifttum einige Belege aus den Schlußreimen des Blumengärtleins: BL 56 (1,97); 63 (1,126); 68 (1,148); 70 (1,157); 74 (1,176); 74 (1,177); 75 (1,181); 78 (1,192); 89 (1,249); 93 (1,264); 94 (;,267); 102 (1,309); 105 (1,324); 108 (1,334) usw.; zum Terminus Seelengrund in der abendländischen Mystik s. vor allem L. Reypens, Artikel „Arne" (son fond, ses puissances et sa structure d'après les mystiques), in DSp Bd. I Paris 1937 Sp. 440; s.a. G. Lüer, Die Sprache der deutschen Mystik a.a.O. S. 188-190 und P. Wyser, Taulers Terminologie vom Seelengrund a.a.O. S. 324-352. Die Traditionsgeschichte dieses Begriffs ist noch nicht voll geklärt. H. Kunisch (Das Wort „grünt" in der Sprache der deutschen Mystik des 14. und 15. Jahrhunderts, Diss. Münster, Osnabrück 1929) meint, daß Meister Eckhart die Metapher „grünt" aus der höfischen und somit vormystischen Periode übernommen habe und erst dann mit dem augustinischen additum mentis verbunden habe. Dagegen können Rypens und Wyser darauf hinweisen, daß der eckhartsche Terminus Seelengrund in seinem ganzen Begriffsumfang bereits im 5. Jahrhundert bei Diadochus von Photike vorliegt (s. Reypens DSp I Sp. 441 und Wyser ebd. 330f.), ohnejedoch zeigen zu können, daß das Abendland davon Kenntnis gehabt hat. Augustinus handelt zwar der Sache nach v o m Seelengrund (Belege s. Wyser ebd. S. 335), aber es fehlt der Terminus. Über die Bedeutung der Stoa und Orígenes in diesem Zusammenhang s. Endre v. Ivánka, Plato Christianus, Einsiedeln 1964 S. 332 u. Anm. 32

34 BL 44 (1,41); 364 (3,21.6); 578 (3,115.3); BR 133 (10); II 14 u. f. (4); 385 (130); III 136 (45); WW 366 (11,7); 372 (11,16); U A 278 (II, 11.26) u. ö. Über das Verhältnis von Seelengrund und Herzensgrund s. Hermann Kunisch, Das Wort „grünt" in der Sprache der deutschen Mystik des 14. und 15. Jahrhunderts, Diss. Münster, Osnabrück 1929. Kunisch legt dar, daß zwischen dem „grünt des herzen" der höfischen Literatur und dem mystischen „grünt der seien" ein Zusammenhang besteht und daß Tauler und Seuse erstmalig beide Begriffe synonym verwenden. Allerdings ist auch hier wieder auf jene morgenländische Tradition zu verweisen, w o der Grund des Herzens (τό β ά θ ο ς της καρδίας) und der Grund der Seele (τό β ά θ ο ς της ψυχής) synonym verwandt werden. So Diadochus von Photike s. Wyser ebd. S. 330 f. 35 BL 67 (1,145); 81 (1,208); 84 (1,223) u. ö. 36 BL 97 (1,282). 37 BL 563 (3,102.3). 38 B R I 3 8 (12). 39 BL 639 (FL 242); BR 1232 (85); II 175 (60); 401 (136); IV 377 (151) u. ö.

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häufig einfach nur vom Grund 4 0 , dann aber vielfach mit einem erläuternden Adjektiv versehen 4 1 . Bisweilen nennt er das Zentrum des inneren Menschen ein „stilles" oder „ewiges" N u n 4 2 oder das Dunkle 4 3 . O f t sind für ihn auch die Worte Geist 4 4 und Herz 4 5 gleichbedeutend mit dem Seelengrund, besonders wenn er von der „Spitze des Geistes" 4 6 und v o m „reinen Verstand" 4 7 redet. Geist und Herz sind für Tersteegen nahezu äquivalent. So heißt es in seinen Brosamen einmal: „ N u n gehört mein Herz zu meinem Geist. " 4 8

Alle diese Wendungen sollen dazu dienen, das Geheimnis des inneren Menschen zur Sprache zu bringen. Wenn die Seele sich zu sammeln beginnt und den ersten Regungen Gottes stillehält, wird sie allmählich erkennen, daß „ganze Welten" in ihr zu finden sind 4 9 . Sie wird mit der Zeit erfahren, daß sie nicht nur einen äußeren Menschen hat, „sondern auch einen inneren Menschen, einen edlen Geist, der seinen Grund und Wurzel in der Ewigkeit hat" 5 0 . Nach und nach wird sie in sich einen „sehr edlen, stillen, lauteren Grund des Gemüths" entdecken, der von allen Schwankungen des Seelischen frei ist, w o „aber Gott und die stille Ewigkeit sich o f f e n b a r e t . . . Doch stille, Mund und Feder! Dieß muß mehr erfahren als gesprochen werden. " 5 1 Mit einer derartigen Konzentration auf das Innere beantworten Tersteegen und die Stillen im Lande die religiöse Herausforderung ihrer Zeit. Die Entzauberung der Natur von seiten der Wissenschaft scheint ihnen unwiderruflich. So gibt Tersteegen den Raum der Schöpfung frei und gesteht zu, daß aus ihr keine unmittelbare Gotteserfahrung mehr zu gewinnen ist. Statt dessen konzentriert er sich auf eine Seinsschicht, die zwar von der Mystik 4 0 Zum Beleg nur einige Seiten aus dem Blumengärtlein, um die Häufigkeit aufzuzeigen: BL 36 (1,5); 38 (1,13); 39 (18); 43 (39); 46 (50); 51 (73); 53 (85); 54 (87); 58 (109); 59 (113); 66 (139); 67 (144) . . . 4 1 So besonders „stiller Grund": BL 49 (1,67); 64 (1,131); 85 (1,227); 88 (1,239) u. ö. „nackter Grund": BL 64 (1,131); 74 (1,174); 134 (1,451) „tiefster Grund": B L 4 4 (1,42); 362 (3,20.11); 373 (3,26.5) „heiterer Grund": BL 57 (1,102) „sanfter Grund": BL 571 (3,109.1) „reiner Grund": BL 257 (2,108) „innerer Grund": BL 601 (FL 54). 4 2 S. BL 54 (1,89); 74 (1,173); 151 (1,514); 153(1,520). 4 3 S. BL 60 (1,115); 65 (1,134). 4 4 S. BL 30 (Vorb.); 102 (1,309); 105 (1,323); 109 (1,340); 112 (1,353); 132 (1,442); 142 (1,480); 342 (3,11.8); 369 (3,24.2); 434 (3,54.7); 560 (3,100.ff.); 577 (3,114.4) u. ö. 4 5 S. BL 65 (1,134); 100 (1,297); 155 (1,529); 178 (1,587); 131 (1,440); 202 (2,18); 213 (2,38); 239 (2,80); 254 (2,103); 262 (2,116); 335 (3,8.8); 388 (3,33.11); 391 (3,35.5); 415 (3,44.7); 420 (3,46.10); 426 (3,50.5); 445 (3,57.24); 466 (3,60.4); 500 (3,70.7); 529 (3,89.11) u. ö. 4 6 WW 82 (2,7) u. vLE 235 Anm. 4 9 BR 111 (2). 4 7 WW 82 (2,7) u. vLE 235 Anm. 5 0 WW 342f. (9,14). 4 8 RE IV 340 (7) = GR 246. 5 1 BR 138f. (12).

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schon früh erschlossen ist, aber sowohl den Orthodoxen als auch den Rationalisten und Deisten als eigener Wirklichkeitsbereich verborgen geblieben ist. Dort findet er den Zugang zu neuer Gotteserfahrung. Der Weg der Seelenmystik hat sich an ihm bewahrheitet. Der Seelengrund erweist sich als der eigentliche Raum des religiösen Gefühls. Wer durch dieses Tor eintritt, wird schließlich auch in der Natur wieder Spuren der Wirksamkeit Gottes finden. Aber die Zuwendung zum Herzen ist für Tersteegen der einzige Schlüssel. In dieser Einsicht besteht seine religiöse Erfahrung. Sie erscheint ihm als die Antwort auf die geistliche Situation seiner Zeit. Als theologische Konsequenz ergibt sich daraus die prinzipielle Unterscheidung zwischen Innerem und Äußerem. b) Vom Äußeren zum Inneren „Vom Schatten zum Wesen, vom Aeußern zum Inneren." 5 2

Aus der Erfahrung innerer Gottesnähe kommt Tersteegen zu einer Unterscheidung, die seinen theologischen und seelsorgerlichen Äußerungen ihre Prägung gibt und sich in vielfacher Variation wiederholt. Tersteegen unterscheidet zwischen dem Inneren und Äußeren 53 . Das Wissen um eine innere Gegenwart Gottes macht ihn empfindlich gegen alles Fromme, was nur im Äußerlichen bleibt. Weil Gott Geist ist, darf ihm nicht bloß auf eine „äußerliche, zeremonialische und heuchlerische Weise" gedient werden. 5 4 „Heuchelei und Irrtum" ist es, Gott nur das Äußere darzubringen, „mit dem Herzen aber an der Erde kleben" zu bleiben 55 . Die allgemeine Veräußerlichung des Glaubens ist für Tersteegen wie schon für G. Arnold mit der Person „des so sehr gelobten Kaisers Konstantin des Großen" verbunden. Seit seiner Zeit ist das „Leben der meisten Christen" nicht mehr „ein inwendiges, wahres Christentum, sondern ein auswendiges Scheinchristentum . . . " 5 6 Aus der gleichen Sicht betrachtet er den Streit der kirchlichen und separatistischen Gruppen untereinander, geht es doch auch dort meist nur um Äußerliches, nicht aber um die „Hauptsache": „Sieh! lieber Bruder! dieß ist so mein Kummer in dieser Zeit, daß es innerlich so jämmerlich aussiehet, und daß beides, Fromme und Unfromme nur aufs Aeußere sehen. Nicht, als wenn ich nicht auch mit dem äußeren Elend, das an so manchen Orten erstaunlich groß ist, inniges Mitleiden hätte, und gerne Hiilf und Rettung

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B R I 3 3 2 (116). So übrigens auch J. Arndt, Wahres Christentum a.a.O. III, 1, bes. S. 509, w o er fur diese Unterscheidung auf Tauler verweist. 54 WW 131 (3,16). 55 RE IV 337 (7) = GR 245. 56 WW 249 (6,21); vgl. dazu G. Arnold, Abbildungen der ersten Christen. 53

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sähe: aber das sage ich, das Aeußere ist nicht die Hauptsache. Das äußere Elend kommt nur wegen des Inwendigen . . ," 57

Bei aller Klage liegt die Wurzel dieser Veräußerlichung für Tersteegen dennoch nicht im Menschen selber, es ist die Verführung des „Tausendkünstlers", der „das Gemüth außer sich selbst und also auch von Gott" abzieht 58 . Gott „ziehet hinein, durch seine Liebe, der Versucher aber lockt heraus, unter heiligem Schein" 59 . Weil nun der Mensch „so jämmerlich von Gott und seinem Inwendigen ins Aeußere gekehret" und damit aller Zerstreuung hilflos ausgeliefert ist, kann er unmöglich „Gott selber und die unmittelbare Stimme seines Geistes" in seinem Inneren vernehmen 6 0 . Er ist zu sehr der Äußerlichkeit verfallen. Darum muß auch das geistliche Leben notgedrungen im Äußeren beginnen. „Gott muß mit dem ausgekehrten Menschen so reden, daß er's höret und verstehet, das ist auf eine äußerliche, bildliche, laute Weise, damit er durch ein solches Getön (daß ich so rede) aufgewecket, und zu mehrerer Stille und Aufmerkung gebracht werde, wahrzunehmen und zu unterscheiden die Regungen der göttlichen Gnade in seinem Herzen . . ," 61

Gott wirkt also zunächst im Äußeren des Menschen, im Bereich der Antriebe und Affekte, und doch dient dieser Anfang nur dazu, ihn aufsein Inneres zurückzuführen 6 2 . „Die Vereinigung mit Gott im Geist ist das Ziel, so wir immer im Auge halten müßen . . , 6 3

Was dazu dient, ist „lieb und wert", was daran hindert und ins Äußere zieht, muß „mit großer Gleichgültigkeit" übergangen werden 6 4 . So ist dies Tersteegens „alte Regel": „ Von Außen eng; von Innen weit. "6S

Und dies sein besonderes Anliegen: „O Menschen, werdet inwendige Menschen!" 66

Das Wirken Gottes beginnt zwar im Äußeren, aber es zielt auf das „Allerinnerste". Mehr und mehr schärft sich der Sinn für sein Handeln an unserm Inneren. Allmählich gewöhnt sich die Seele daran, auf die „zarten Neigungen" und den „geheimen Zug" in ihrem Grund zu achten, bis sie schließlich begreift, daß Gott in ihr gegenwärtig ist. In diesem Augenblick wird ihr die 57

59 BR 1225 (82). BR IV Zug 31 (XIII). 60 B R I 11 (2). W W 2 1 (1/1,2). 61 WW 22 (1/1,3); s. dazu auch WW 381 f. (12,3). 62 S. WW 370 (11,11): „Gotthat alles Aeußere angeordnetum des Inneren willen . . . " S . a . BL158 (1,540). 63 65 BR 125 (6). BR II 149 (46) ; ebenso BL 594 (FL 19). 64 66 Ebd. WW 198 (5,41). 58

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Unterscheidung v o n innen und außen zum Grundgesetz ihres geistlichen Lebens 6 7 . Sie wird fortan „dem äußeren und alten Menschen fremd ja feind werden, und es mit dem Inneren halten" 68 . In der Seele vollzieht sich eine „sehr wesentliche Scheidung dieser beiden Theile": War das Innere zuvor schwach, konfus und unbeständig, weil seine Tür gleichsam offen stand, so daß das Innere hinaus und das Äußere hineinging 6 9 , so ist nun die Tür verschlossen. „Unvermerkt" wird der innere Mensch v o m äußeren geschieden 7 0 . Der innere Mensch hält sich im Geist bei Gott in seinem Herzen auf und sucht alles andere zu vergessen und fallen zu lassen 71 . Er n i m m t sich des Äußeren nicht mehr an, mag es auch noch so „toben und wüten". Er sagt nur „aufrichtig nein, und bleibt ruhig" 72 . D i e Scheidung dieser Teile, in der jedes „für sich und wider das andere" steht 7 3 , wird somit zum Schlüssel für alle weiteren Räume des inneren Heiligtums. Was bedeutet dies fur die religiöse Betrachtung der Schöpfung? Tersteegens Äußerungen über das Verhältnis der Allgegenwart Gottes zu seiner inneren Gegenwart spiegeln genau unsere bisherige Unterscheidung. α) Von der Allgegenwart zur inneren Gegenwart Gottes U m die Erfahrung innerer Gottesnähe hervorzuheben, unterscheidet Tersteegen sie v o n dem Wissen u m seine Allgegenwart. In der Vorrede zur Kleinen Perlenschnur heißt es darum: „Diese Allgegenwart Gottes macht an für sich niemand selig, so wichtig diese große Wahrheit auch ist; sondern je nachdem ein Mensch beschaffen ist. " 7 4 67 S. BR 138 (12) u. a. III 314 (104); mit dieser Unterscheidung folgt Tersteegen dem paulinischen Gegensatz von Fleisch und Geist. Beide Dichothomien setzt er ausdrücklich gleich (s. BR II 216 [73]). Es wäre in diesem Zusammenhang reizvoll, die lutherische Unterscheidung von Gesetz und Evangelium mit diesem mystischen Begriffspaar zu vergleichen. Die dialektische Struktur ihrer Zuordnung stimmt vielfach überein. Aber die Grenze der Übereinstimmung liegt darin, daß Tersteegen von der Veräußerlichung des Menschen nicht sagen kann, daß Gott sie absichtlich gewollt habe, um den Menschen vor seine Ausweglosigkeit zu fuhren. Auch hält Tersteegen die Unterscheidung von innen und außen für grundlegender als die Dialektik von Gesetz und Evangelium, wie aus WW 198f. (5,40f.) hervorgeht: „Verlangen wir zu wissen, was Gesetz, was Evangelium sei? Sehet, Paulus lehret es uns hier durch den heiligen Geist, und eben also erfahren es die wahren Gläubigen. Außer der Welt, außer der Sünde, außer sich selbst, in Christo sein, das ist unter dem Evangelio sein. Kehret man sich außer dem Geist, aus Christo heraus, geht man in oder durch sich selbst zu Werk, dann ist man nicht mehr rein evangelisch; . . . Lebt ausgekehrt - so werdet ihr allerorten (auch im Evangelio) nichts als Gesetz und Verdammung finden; lebt eingekehrt - so wird euch alles (auch selbst das Gesetz) das reinste Evangelium predigen." 68 BRÌI218 (73). 69 BR II 196 (67) u. noch einmal II 216 (73); s. a. II 200 (68). 70 BR III 390 (128). 71 BR II 196f. (67) u. BR II 218 (73). 72 BR II 219 (73); vgl. auch BR II 173 (59): „da fängt der untere Theil an, seine Widerspenstigkeit und Zweifelung zu zeigen." 73 74 BR II 200 (68). kPE 6 (Vorr. 4).

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D a g e g e n schreibt er v o n der zweiten A r t der G e g e n w a r t Gottes: „Dies ist der Kern des wahren Evangelii, der doch, ach Schade! so wenig von Herzen geglaubt und gründlich erfahren wird. " 7 5 Hier w i r d b e w u ß t , daß G o t t „im G r u n d e der Seele wesentlich g e g e n w ä r tig" u n d „in i h m alles Heil zu finden" ist 7 6 . I m September 1754 hielt Tersteegen eine Ansprache über die G e g e n w a r t Gottes u n d unterschied auch dort in diesem Sinne: Wie schon auf der W ü s t e n w a n d e r u n g die Feuer- u n d Wolkensäule nicht n u r über den Israeliten g e g e n w ä r t i g w a r , sondern auch in ihrer Mitte, in d e m Allerheiligsten der Stiftshütte, so ist Gottes G e g e n w a r t „nicht n u r eine G e g e n w a r t ü b e r die Gläubigen außer ihnen, sondern Gottes G e g e n w a r t in C h r i s t o Jesu ist auch eine i n w e n d i g e süße G e g e n w a r t , G o t t k o m m t in den innersten T e m p e l des Herzens der Gläubigen j e länger j e m e h r zu w o h n e n " 7 7 . Somit steht diese F o r m der G e g e n w ä r t i g k e i t als die „ b e s o n d e r e " der „allgemeinen" G e g e n w a r t Gottes gegenüber 7 8 . Z w a r k a n n auch Tersteegen der Linie B o n a v e n t u r a s folgen u n d anregen, zuerst die S c h ö p f u n g zu betrachten, u m einen Begriff v o n der e w i g e n K r a f t u n d Gottheit des Schöpfers zu b e k o m m e n 7 9 . Gerade w e n n G o t t sich n o c h nicht in den H e r z e n hat finden lassen, k ö n n e n wir wenigstens die G e s c h ö p f e als Wesen ansehen, die auf ihren Schöpfer zurückweisen 8 0 . So rät er in einer A n s p r a c h e zur Erntezeit: 75

kPE 6 (Vorr. 5). kPE 6f. (Vorr. 5). 77 RE IV 32 (1) = GR 278; vgl. BR 1185f. (72). 78 S. RE IV 3f. (1) = GR 266: „O, die große, die wichtige, die herzrührende und göttliche Wahrheit nicht allein der allgemeinen, sondern auch und vornähmlich der besondern und innigen Gegenwart unsers Gottes in Christo muß unser Ganzes seyn im Leben und im Sterben. " Vgl. WW 244 (6,16); BR III LE 55; III 22 (11); RE III 4 (1) u. bes. U A 277f. (11,11.25). Weil gerade diese letzte Belegstelle die Übereinstimmung zwischen dem Unparteiischen Abriß und den späteren unbestrittenen Schriften Tersteegens sinnfällig dokumentiert, sei sie hier noch zitiert: „Fr. Was ist noch sonderlich, und vor allen Dingen bei dem Gebet in Acht zu nehmen? A. Daß ich mir Gott nicht vorstelle, als einen solchen, der etwa nur droben im Himmel viel tausend Meilen von uns entfernt wohnet; sondern als einen Gott, der nicht nur Himmel und Erde mit seiner Gegenwart erfüllet, sondern auch in meinem Herzen, als in seinem Tempel, Heiligthum und Himmel sich offenbaren und wohnen will . . . " Bis hin zu den angefugten Schriftworten (Jer. 23,23f.; Apg. 17,27f.; 2.Kor. 6,16 u. Joh. 14,21 u. 23) gleicht die hier getroffene Unterscheidung seinen späteren Äußerungen. Forsthoffs Zweifel an Tersteegens Verfasserschaft sollten endgültig als erledigt betrachtet werden. Schon Thomas v. Aquin unterschied in diesem Sinn, s. o. S. 80 Anm. 82; und aus Tersteegens unmittelbarer Nähe: Bernières, vLE 259 u. Johann Arndt, Wahres Christentum a.a.O. II Vorrede S. 505. 76

79 S. besonders U A 50-55 (1,4.8-19), w o Tersteegen Anweisung gibt, wie aus den Werken der sechs Schöpfungstage sich ein deutlicher Begriff von Gottes Wesen erkennen läßt. 80 RE III 281 (6) = GR 586.

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„Lasset uns, wann wir diese Geschöpfe vor uns sehen, denken: diese Creaturen leben, weil ihnen Gott das Leben mittheilet, sie wachsen, weil ihnen Gott Wachsthum giebt." 8 1

Über diesem Anschauen wird die Hoffnung geweckt, daß Gott auch meinem Herzen ein Leben erschließt, das ewig ist 82 . Darum endet der Hinweis auf die Allgegenwart Gottes in den Dingen regelmäßig mit der Bitte, daß Gott auch den Menschen mit einschließen möchte in seine beseligende Gegenwart, daß er auch ihm gibt, was er zum Leben braucht: „Du füllest Erd' und Himmel, Herr, Laß doch mein armes Herz nicht leer!" 83

So hat die Betrachtung der Allgegenwart Gottes wohl eine propädeutische Funktion, aber sie endet, sobald sich Gott im Geist kundtut. „Man geht nicht mehr herum, bei Kreaturen fragen, Wenn sich der Schöpfer selbst dem Geiste machet kund. " 8 4

Nur so erklärt sich, daß Tersteegen zunächst auffordert: „Schaut ihn doch nur von ferne! Wie schön ist nicht die Sonne, Mond und Sterne." 85

Und dann an anderer Stelle sagt: „Schau nicht die Sterne an, Gott ist dir nicht so ferne . . . " 8 6

Letztlich ist alle Betrachtung der Kreatur, auch wenn sie die „große Allmacht, Güte, Schönheit und Weisheit" 87 ihres Schöpfers widerspiegelt, dem Geist zu wenig 88 . „Ich kann dich missen, Kreatur; In meinem Grund ich kehre nur, Da ich Gott selbst kann haben . . . " 8 9

Das eigentliche Offenbarungsgeschehen vollzieht sich für Tersteegen allein innen. Innen ist Gott wesentlich zu finden. „Gottes Zug und Licht kommt nicht von außen herein, . . . es meldet sich im Grunde an. " 9 0

81 82 83 84 88 89 90

Ebd. Ebd. 281 f. BL 239 (2,80). BL 90 (1,249). BL 220 (2,49): „Weg alte BL 54 (1,87). BR II 172 (59).

85 86 87

BL 538 (3,94.4). BL 224 (2,57). UA 50 (1,4.7).

! du bist dem Geist zu wenig . . . "

203

Nicht außen, sondern im Herzen will Gott sich finden lassen 91 . So erzählt Tersteegen von sich selber: „Ich suchte draußen hie und da Und wußte nicht, daß wir so nah Im Geist beisammen waren. " 9 2

Wer Gott im Grunde finden will, wird die Augen vor der Schöpfung verschließen müssen. U m so mehr fällt auf, wie andersartig Tersteegen in unserer bisherigen Untersuchung von der Allgegenwart Gottes gesprochen hat. Nirgendwo ist bisher der Eindruck entstanden, als habe er bisher nur von den Vorstufen der eigentlichen Gotteserfahrung gesprochen. Dieser Sachverhalt verweist uns auf die zweite Seite seiner Unterscheidung. c) Vom Inneren zum Äußeren Der Weg zur Erfahrung der Gegenwart Gottes geht von außen nach innen. Er kann mit der Betrachtung der Schöpfung beginnen, zielt aber auf das Allerinnerste des Menschen und damit auf eine Abtrennung des Inneren v o m Äußeren. Diese Trennung ist jedoch nicht grundsätzlich. Das Ziel ist nicht die Scheidung von Äußerem und Innerem, sondern die Herrschaft des Inneren über das Äußere. U m sie zu gewinnen, ist das Innere von der Übermacht des Äußeren zu befreien. Hat das Innere seine eigentliche Bestimmung gewonnen, so findet auch der äußere Mensch seinen ihm entsprechenden Platz. Er wird, im Bilde gesprochen, zum „Schemel seiner Füße" 9 3 . Denn Inneres und Äußeres, Seele und Leib, sind Eigentum Gottes 9 4 , beide hat Christus erkauft. „Darum müssen wir Gott mit beiden, nemlich mit dem Leibe und mit dem Geiste preisen und verherrlichen. " 9 S

Er kann in diesem Zusammenhang sogar sagen: „es ist auch ein schändlicher und schädlicher Betrug, einer falschen Geistlichkeit, welche das, was Gott zusammen gefuget, zu trennen suchet." 96

91 RE III 84 (2) = GR 430; s. a. BL 43 (1,34): „was du draußen suchst, das findst du bei mir drinnen . . . " 92 BL 450 (3,58.12); vgl. 510 (3,80.4) u. 208 (2,28). Vgl. Theresia Leben, a.a.O. S. 414, wo Tersteegen eine Stelle fand, an der Theresia aus apokryphen Selbstgesprächen Augustins zitiert: „ich suchte außen, was im Innern war." S. dort die Anmerkung des Herausgebers. Aber s. hierzu auch den echten Augustinus, Confess. X c. 27 u. 38 u. De vera religione c. 39 η. 72: „Noli foras ire, in te ipsum redi in interiore homine habitat Veritas . . . " 93 BR IV 125 (51). 94 RE IV 321 f. (7) u. 336 (7) = GR 238 u. 244 s. a. WW 381 (12,2). 95 RE IV 336f. (7) = GR 244 s. a. BL 316 (3,3.2). 96 RE IV 337 (7) = GR 244.

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Geist und Leib sind eine Einheit. Das Äußere dient dem Inneren, und aus dem Inneren wächst das Äußere 97 . Ontologisch betrachtet sind diese Sätze die eigentlich gültigen, und Tersteegen legt Wert darauf, daß wir die Glieder und die Sinne unseres Leibes nicht sich selbst überlassen 98 , sondern sie dem Geist unterstellen 99 . Aber in der konkreten Seelsorge liegt das ganze Gewicht seiner Äußerungen darauf, zunächst alles Äußere beiseite zu lassen und sich einseitig auf das Innere zu konzentrieren, um den Zugang zum inneren Reich des Geistes überhaupt erst einmal aufzuschließen. Kommt es auf diesem Weg schließlich zur Erleuchtung, kann sich auch die Welt des Äußeren wieder öffnen. Tersteegen beschreibt diesen Umschwung an dem Verhältnis von Beschauung und Betrachtung. U m das Wesen im Herzen zu beschauen, muß die Betrachtung des Äußeren erst einmal wegfallen. Hat die Seele aber in ihrem Grunde das Urbild der Wahrheit gefunden, kann auch das Äußere wieder in den Blick kommen. Dabei erscheint es jedoch in ganz neuem Licht. Tersteegen schreibt über die Betrachtung der Natur: „Allein auch dieses wird nachher nach Gottes Wohlgefallen manchmal wieder geschenket und zwar viel reiner, schöner und lebhafter: und nachdem dann wir selbst und unsere Seelenkräfte und deren Wirksamkeiten gereinigt sind, so vergönnet uns auch Gott wohl einmal eine solche heilige Ergötzung (Divertissement) und Spaziergang; ja, er führet uns wohl einmal hinaus, seine Schildereien und Abbildungen zu besehen und dann wiederum hinein, ihn selbst, das Urbild und Wesen der Wahrheit zu beschauen; und da wir dergestalt mit unserm Hirten aus- und eingehen, finden wir überall Weide und Nahrung. " 1 0 °

Das Erlebnis innerer Erleuchtung bleibt nicht bei sich selbst, es dehnt sich geradezu aus. Mehr und mehr wird die Welt des Äußeren in das Gefühl der Nähe Gottes hineingezogen. So findet Tersteegen in späteren Jahren einen auffallend positiven Zugang zur Natur 1 0 1 . Der Wechsel der Jahreszeiten, das Auf- und Untergehen der Sonne, die Blumen und Pflanzen der Natur, alle Schönheit der Welt wird ihm zum Gleichnis, in ihr spiegelt sich der Geist des Herrn, der sie geschaffen hat und in ihr lebt 102 . Außerdem drängt dieses Erlebnis auf Mitteilung. Tersteegen beginnt seit jener erstmaligen Erfahrung der inneren Nähe Gottes zu schreiben und zu reden und entfaltet in zunehmendem Maße eine äußere Wirksamkeit 103 . 97 98 99

So BL 158 (1,540). S. besonders RE IV 338 f. (7) = GR 238. RE III 78 f. (2) = GR 428.

100 WW287 (7,12). 101

Mit der vierten Auflage des Blumengärtleins von 1745 beginnen Tersteegens Lieder zur Natur; s. BL (3,67 u. 78) und BL (3,91 u. 103) in der fünften und siebten Auflage. 102 S. besonders die Ansprachen zum Frühling 1754 in RE II (7) = GR 124 ff. ; zu Beginn der Ernte: RE III (6) = GR 553 ff. und zu Pfingsten 1755: RE III (7) = GR 508 ff. 103 Vgl R Mohr, Gerhard Tersteegens Leben a.a.O. S. 217. Mohr meint erkennen zu

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U n d schließlich f u h r t es ihn zu einer neuen B e j a h u n g seiner Leiblichkeit. E r m ä ß i g t seine Askese u n d w i r d nachsichtiger gegen seinen „ a r m e n Esel" 1 0 4 . „Welchen Nutzen stiftet ein Geist ohne Körper?" 105 Das Ä u ß e r e ist wichtig, weil es aus d e m Inneren „als eine Frucht" e n t springt 1 0 6 . Es ist ein Spiegel dessen, was innerlich zu finden ist 1 0 7 . So hat Tersteegen den Weg nach innen gelehrt, aber den Weg nach außen gelebt. Weil er innerlich reich ist, w i r d i h m eine äußere W i r k s a m k e i t z u g e m u t e t , die ihn an die Grenze seiner Belastbarkeit f u h r t , ohne daß er sich dabei verausgabt. Wenn B e r n h a r d v o n Clairvaux v o m christlichen Leben einmal sagt: „wenn du klug bist, mache dich zum Behälter und nicht zum Kanal. Denn ein Kanal nimmt auf und gibt fast zur gleichen Zeit wieder ab; ein Behälter aber wartet, bis er voll ist und teilt dann ohne eigenen Verlust von der Überfülle mit" 1 0 8 , so hat Tersteegen dies in besonderer Weise verwirklicht. α) Von der besonderen G e g e n w a r t Gottes zur A l l g e g e n w a r t Die neue Z u w e n d u n g z u m Ä u ß e r e n f u h r t Tersteegen auch zu einem tieferen Verständnis der A l l g e g e n w a r t Gottes. „Gott ist im Innern nah, Gott ist an allen Enden In allem klar zu sehn, In allem süß und schön . . ," 1 0 9 Beide G e g e n w a r t s w e i s e n , seine äußere u n d seine innere N ä h e stehen n u n gleichwertig nebeneinander 1 1 0 . Tersteegen k a n n sie geradezu f o r m e l h a f t z u s a m m e n k n ü p f e n , so daß die Verschiedenartigkeit ihres U r s p r u n g s sich k a u m n o c h ahnen läßt. Hier ist v o r allem das beliebte „Ich in dir, du in m i r " aus J o h a n n e s 17,23 u n d 6,56 zu nennen, das Tersteegen in diesem Sinn können, daß es zum „Wesenszug protestantischer Frömmigkeit" gehört, daß sie „zunächst um etwas rein Innerliches" kreist, dann aber, wie schon das Auftreten Luthers in Worms zeigt, öffentlich davon Zeugnis gibt, und zwar in einer Weise, die aufhorchen lassen will. Für Tersteegen wird man diese Charakteristik gelten lassen können. 104 S. BR II 10 (3). 105 BR holl 219 (97) = BR N S 79 (49). 106 Ebd. 107 B R I 11 (2). 108 Cantica Canticorum 18,3 und 6. 109 BL 161 f. (1,554). 110 S. a. RE III 84 (2) = GR 430: „Er, der Herr erfüllet Himmel und Erden, und wird allenthalben gefunden; so wird er ja auch in unserm Herzen gefunden . . . " A m Anfang steht zwar die Erfahrung innerer Gegenwärtigkeit aufgrund der besonderen Beschaffenheit des Menschen, was Tersteegen auch an dieser Stelle wieder betont, aber grundsätzlich sind beide Erfahrungen gleichwertig. Ähnlich auch in BR 1185 f. (72) u. WW 109 (2,43).

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verwendet 111 , oder die Überschrift: „Gott in dir, Gott in allem" 112 , aber auch ein Satz wie dieser gehört dazu: „sie (die Seele) erkennet nun, daß sie einen über sich und in sich habe . . . " U 3

In allen Dingen ist plötzlich Gottes Nähe zu spüren. Nicht nur, weil er in uns, sondern auch weil er allenthalben gegenwärtig ist, kommt er uns unaussprechlich nahe 114 . Allerdings: „natürliche A u g e n sehn ihn nicht, und natürliche Herzen fühlen ihn nicht . . . " 1 1 5

Hat er sich aber erst einmal im Inneren offenbart, kennt seine Gegenwart keine Grenzen. Sie erfüllt Inneres und Äußeres gleichermaßen. Darum kann in Luft und Wasser, in Licht und Blumen ein numinoser Gehalt sichtbar werden, der sie geeignet macht, das Geheimnis der Gegenwart Gottes zu enthüllen. Diese verklärte Sicht des Äußeren liegt unserm Lied zugrunde, so daß sich auch hier die Erinnerung an Gottes Allgegenwart mit der Vergegenwärtigung seiner inneren Nähe nahtlos verbindet. Dennoch ist dieses Ineinander von innerer und äußerer Gottesnähe phänomenologisch betrachtet überaus bemerkenswert. Die Glätte der Formel täuscht darüber hinweg, daß ihr Ausgangspunkt grundverschieden ist und auch völlig beziehungslos voneinander auftreten kann. Traditionsgeschichtlich ist die Verflechtung dieser beiden Wege zwar schon bei Plotin und erst recht bei Meister Eckhart vollzogen 116 und damit für Tersteegen schon lange vorgegeben. Aber die Verbindungslinie zwischen beiden Erfahrungen ist immer noch rätselhaft und keineswegs durchsichtig. Für den Mystiker selbst scheint diese Verflochtenheit selbstverständlich und notwendig. Aber für den Außenstehenden, der Tersteegens Weg nach innen mühsam zu folgen versucht, um den göttlichen Grund in sich wahrzunehmen, ist es überraschend, auf diesem Wege erfahren zu sollen, daß auch das Äußere, die Natur und Geschichte von Geist beseelt und gotterfüllt ist. Bei aller Konzentration auf den Grund der Seele springt die innere Erkenntnis plötzlich um, entdeckt die äußere Welt neu und findet in den Dingen den gleichen Ursprung. Wie ist das möglich? Eine innere Notwendigkeit scheint nicht gegeben. Der Mystiker meidet vielmehr den Blick nach 111

So vor allem in der fünften Strophe unseres Liedes, wo das „Ich in dir" eindeutig im Zusammenhang der Allgegenwart steht. Tersteegen versteht diesen Satz zwar nicht immer in diesem präzisen Sinn, oft beschreibt er lediglich die Innigkeit des Gottesverhältnisses (Belege s. Löschhorn, Ich bete an a.a.O. S. 94ff.). Aber Löschhorn hat Unrecht, wenn er behauptet, daß sich die beiden Seiten dieser Formel nicht trennen lassen und das „In Gott"-Sein stets nichts anderes bedeutet als „in dem Gott (zu) sein, der durch Gnade ,in uns' Wohnung nimmt". S. 94. 112 BL 161 (1,554). na WW 242 (6,14); s. a. BL 630 (FL 194): „Bleib vor und in Gott stille" u. WW 395 (12,21): „wir leben und schweben immer vor dir und in dir . . ." 114 S. RE III 280 (6) = GR 556; ebenso a. 277 (6) = GR 554. 115 RE III 280 f. (6) = GR 556. 116 S. hierzu R. Otto, West-östl. Mystik a.a.O. S. 43ff.

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draußen. Er sucht Gott in der Seele und sonst nirgendwo. Daß Gott „aller Dinge Grund und Leben" ist, was geht das die Seele an? „Abyssus abyssum invocat - eine Tiefe ruft die andere." Dieses von Tersteegen so geliebte Psalmwort, das ihm erklärt, wie im Abgrund der Seele der Abgrund göttlicher Liebe erfahren wird, mag auch fur dieses Geheimnis stehen. Der geistige Blick, der auf den Grund der Seele schaut, findet auch in den Dingen den gleichen Grund. Entscheidender als das jeweilige Objekt ist für den Mystiker offenbar der Umgang mit ihm. Hat er erst einmal in seiner Berührung mit den Dingen, mit Innerem oder Äußeren eine religiöse Haltung eingenommen, die es ihm ermöglicht, sein Geheimnis offen zu beschauen, findet er hier wie da den Geist, der sie trägt. Weil aus der Perspektive des Mystikers das Zentrum der Dinge und das Zentrum der Seele Geist sind, sind beide für ihn im Grunde identisch. So ergibt sich jene eigentümliche Verflechtung von innerer und äußerer Gegenwärtigkeit Gottes, wie sie bei Tersteegen besonders hervortritt. 2.

Ein besonderes

Raumgefiihl

Gott ist nahe wie Wasser, Luft und Licht, aber es ist nur ein Gleichnis seiner Nähe. Gott erscheint uns als weltumspannende Majestät in ehrfürchtiger Distanz, aber auch dies ist nur ein bildlicher Ausdruck seiner Heiligkeit. Wo erfahre ich Gott wirklich in der Offenbarung seiner Nähe? Tersteegen spricht hier von einem besonderen Raumgefühl, wie auch das Wort Gegenwart für ihn vornehmlich einen räumlichen Sinn hat. N u r selten meint es das von Vergangenheit und Zukunft abgehobene Hier und Jetzt. Zumeist bezeichnet es die Empfindung eines in uns liegenden Zentrums 1 1 7 . a) Der Raum

als Mittelpunkt:

das neue

Herz

Liegt für den denkenden Menschen das Zentrum seines Ichs im Kopfe, so findet Tersteegen unterhalb des Kopfes, im „Grunde des Herzens" einen Raum, in den er einsinken kann. Dort erschließt sich dem Mystiker das eigentliche Personenzentrum. „Unter dir wird der Herr Raum machen, drum mußt du dich nicht w o l l e n halten, sondern sinken laßen . . ," 1 1 8

Dieses Sinken ist für Tersteegen ein real empfundenes Raumerlebnis. Die Aufmerksamkeit taucht vom Kopf ins Herz hinab. Das Herz erscheint als der wahre Mittelpunkt. Kopf und Leib werden über das Herz wieder miteinander verbunden. Während das normale Leben 117 S. dazu die Etymologie dieses Wortes: in Kluges Etymologischen Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin 196319. 118 BR 1193 (73).

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zwischen diesen beiden Polen hin- und herpendelt, kommt mit dem Einsinken in das Herz dieses Schwanken zur Ruhe. Das Ich scheint zu schweben, der Leib bleibt unbeachtet unten, das Denken unbetätigt oben. Das Herz gleicht einer Kammer, einer Burg, einem Zufluchtsort, dessen Wände vor dem endlosen Geschwätz des Kopfes und den triebhaften Versuchungen des Leibes abschirmen. „Wer eingekehrt in seinem Herzen zu leben suchet, ist sehr befreit von tausend Versuchungen, Verwirrungen usw., davon ein anderer angefallen wird;" 1 1 9

Aber das Herz ist hier nicht im anatomischen Sinn als Organ gemeint. U m dieses Mißverständnis auszuschließen spricht Tersteegen oft genauer vom Grunde des Herzens. Der Grund des Herzens liegt zwar einerseits im Herzen und das Gefühl des Innenraumes ist zweifellos mit dem Herzraum verbunden, andrerseits meint der Grund des Herzens aber etwas ganz und gar Unleibliches. Er ist der Mittelpunkt des Geistes. Die Geistigkeit des Menschen hat für Tersteegen im Herzen ihr Zentrum. Hier liegt jene Mitte, die die Unruhe und das Suchen im Menschen wachhält, hier findet Tersteegen jenes rätselvolle Etwas, das in ihm eine Bezogenheit begründet, die auf Letztgültiges zielt, nicht in der Weise des Habens und Besitzens, sondern in der Weise ahnenden Suchens und unzufriedenen Nichthabens oder metaphysisch gesprochen: hier liegt der geistige Grund, von dem er zu wissen meint, daß er himmlischen Ursprungs ist und von Gott selbst dem Menschen eingehaucht 120 . Von dieser Mitte sagt Tersteegen, daß der Mensch erst dann seine eigentliche Bestimmung gefunden hat, wenn Gott selbst diese Mitte aufschließt, in sie einzieht und Wohnung darin nimmt: „Der Seele Mittelpunkt und Grund Wird mit Verwundrung bloß und kund Der Gottheit Haus und Throne, Denn Gott sich ewig diese Stadt Geeignet und befreiet hat, Daß er allein drin wohne," 1 2 1

Diese Mitte ist der Ort, an dem Jesus seinen Frieden zuspricht 122 . Er ist der Ruhepunkt, an dem unser Geist unbeweglich stehen bleiben kann 123 . Somit ist jede Vergegenwärtigung der Nähe Gottes für Tersteegen mit einer besonderen Konzentration auf den Herzraum verbunden.

119 w w 113 (2,52). 120

S. U A 87 (1,8.1): „Fr. : Woher hat der menschliche Geist seinen Ursprung? A. : Von Gott, der ihn dem Menschen eingeblasen hat. " 121 BL 450 (3,58.13); vgl. 92 (1,259). 122 B R I 2 9 0 (101). 123 BL 119 (1,384); vgl. BL 44 (1,40) u. 66 (1,139); WW 135 (3,20) u. BR 1350 (122).

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„Wir sind nicht allezeit Meister über unsere Gedanken im Kopf; wir haben dieselben auch öfters alle bei unsern Geschäften nötig; aber mit unserm Herzen und mit den Gedanken unseres Herzens können wir uns beständig bei Gott halten durch seine Gnade . . ," 124 b) Der Raum als weites Land: das Reich Gottes in uns

Die Vorstellung des Mittelpunktes wird durch eine entgegengesetzte Raumempfindung eingegrenzt. Die Erfahrung eines geistigen Zentrums ist zwar auf einen Punkt im Inneren des Menschen konzentriert, aber ist doch alles andere als ein Punkt. Wenn Tersteegen vom Ruhepunkt oder Zentrum des Menschen redet, meint er nicht einen hypothetischen Nullpunkt, in dem die verschiedenen Antriebe und Strebungen des Ich wie in einem Koordinatenkreuz zusammenkommen. Die Erfahrung des Mittelpunktes ist anschaulich und von konkretem Inhalt. Sie gleicht der Empfindung eines Träumenden, der aus der Dunkelheit kommend plötzlich vor einer „seligen Lichtwelt" steht 125 und sich in einer weiten, paradiesischen Landschaft wiederfindet. Es ist, als öffne sich in ihm eine Tür und er entdecke tief in sich „Ein Friedensland, weit, ohne End, Von Milch und Honig fließend;"126 Voll Staunen erfährt die Seele in einem solchen Augenblick: „Ich bin ins Paradies, und es in mich gekommen. " 127 Tersteegen deutet diese Erfahrung als das Wiederfinden des verlorenen Paradieses 128 . Es ist die Pforte des Paradieses, die sich im Grunde des Herzens neu öffnet 1 2 9 . Und daß die Seele „wirklich in eine solche selige Welt nach ihrem Inneren versetzet" ist, erweist sich darin, daß sie dort anfänglich „wunderbare Süßigkeiten und Erquickungen" erfährt 130 . Tersteegen betont darum nachdrücklich, daß es sich hier nicht um ein Gleichnis, sondern um „pure Wahrheit" handelt 131 . Im Seelengrund erschließt sich eine ganz eigene Welt von unermeßlicher Weite. 1 " WW 112f. (2,51). 125

RE 1187 (4) u. 189 (4) = GR 161; III 138 (3) = GR 180; 126 (3) = GR 175 u. ö. BL450 (3,58.15) s.a. BL364 (3,21.9): „Du Friedensreich, so weit und breit, Wohl dem, der dich gefunden!" 127 BL 163 (1,559). 128 So antwortet Tersteegen auf die Frage, was denn das innere Heiligtum sei: „Das ist das Paradies, das ist der Zugang zu Gott in unserem Herzen" RE 1190 (4). Vgl. dazu auch RE III 333 (7) = GR 513 f., w o Tersteegen das innere Paradies des Menschen in seinem Urständ beschreibt. 129 S. BL 365 (3,22.3); 378 (3,29.4); 390 (3,34.7); 330 (3,7.1 u. 18) u. BR 1395 (141). 130 RE 1189 (4) = GR 161. 131 RE 1187 (4) = GR 161. 126

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„Es ist, als ob Er gleichsam in einem großen Landstrich in uns wohne . . . " 1 3 2 So befinden sich im „Gemüth der Glaubigen" geradezu „zweierlei Landschaften" 1 3 3 : neben dem „Land der Veränderlichkeit" 134 oder „der Sinnlichkeit" 1 3 5 das „stille Land der Ewigkeit" 1 3 6 oder das „unermeßliche Land der Freiheit" 1 3 7 . Es ist „ein großes Land" 1 3 8 , ein Himmel 1 3 9 , vor dem die Weite der Welt wie ein Kerker erscheint 140 . Es ist für Tersteegen nichts anderes als das Reich Gottes, das uns in Christus „so nahe herbei-, ja inwendig in uns gekommen ist" 1 4 1 . Der Innenraum heißt darum auch einfach das „inn're Königreich" 1 4 2 oder „das Reich Gottes in uns" 1 4 3 . So findet er im Evangelium diese mystische Erfahrung vorgezeichnet. Jesus selbst habe seinen Jüngern, die noch viel von seinem Reich im K o p f hatten, mühsam erklären müssen, daß sein Reich nicht von dieser Welt, sondern inwendig in ihren Herzen zu finden sei 1 4 4 . Tersteegen verweist hierzu regelmäßig auf Lukas 17,21, aber auch die Emmausgeschichte versteht er in diesem Sinn. Jesus habe versucht, seinen Jüngern deutlich zu machen, daß sie das Reich Gottes nicht länger außerhalb suchen sollen, sondern von nun an in sich finden können 1 4 5 .

1 3 6 B L 153 (1,519). B R holl 26 (6) = B R N S 9 (5). 1 3 7 B R holl 14 (1) = B R N S 258 (164). B R 1351 (122). 1 3 4 B R 138 (12); s. a. B R II 139 (42). 1 3 » So B L 607 (FL 81). 1 3 5 B R Ì I 139(42). 1 3 9 R E III 11 f. (1) = GR 79 f. ; B L 268 (2. Zug. 11) u. U A 278 (II 11,25) Tersteegen nimmt hier bewußt die zeitgenössische Auseinandersetzung mit den Rationalisten auf, die spöttisch fragen, wo denn der Himmel sei. Er antwortet darauf in einem seiner Schlußreime: 132 133

„Frag nicht, wo Himmel sei, geh aus der Eigenheit, Sonst bleibt dir, wo du bist, der Himmel fremd und weit! Wer seinem Willen stirbt und Gott sich kann ergeben, Der wird aufErden schon bei Gott im Himmel leben." B L 58 (1,106) Zeller bemerkt zu diesem Thema, daß Tersteegen den Himmel im Sinne der barocken Raumund Zeitlosigkeit des Himmels gedeutet habe (so Zeller, Bibel a.a.O. S. 185) und verweist dabei auf B L 270 (2. Zug. 16), wo Tersteegen vom Himmel sagt, er sei „außer Ort und Zeit". Das ist insofern zutreffend, als Tersteegen, wo er vom Himmel als Ziel der irdischen Pilgerschaft spricht, natürlich nicht mehr das himmlische Firmament meint. Aber der Himmel ist für ihn zunächst und vor allem der Ort der Gegenwart Gottes. So heißt es einmal in den Brosamen: „wo aber Gott, ist, wo Jesus ist, das ist auch der Himmel. " R E III 12 (1) = G R 80 und dieser Ort ist durchaus raumhaft: „Ich soll sein Himmel sein, er ist so nahe mir, Komm, Jesu, nimm mich ein, komm, fülle mich mit dir!" B L 268 (2. Zug. 11) In unserm Herzen ist der Himmel zu finden (s. R E III 11 f. (1) = GR 79f. und 33 (1) = G R 89 und hierin klingt neben dem Moment des Emphatischen deutlich ein Gefühl von Weite und Unbegrenztheit an. B L 607 (FL 80). B L 31 f. (Vorb. 9). 1 4 2 B L 153 (1,520). 1 4 3 B R 110 (2); II 97 (34); II 337 (112); IV 39 (16); B L 153 (1,520) u. bes. U A 273 (II 11.15) als Auslegung der zweiten Bitte des Vaterunsers; s. a. B L 419 (3,46.5): „Gottes Reich im Geiste". 1 4 4 B R III 384 (127). 1 4 5 B R I lOf. (2). 140 141

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Mit diesen Bildern innerer Weite will Tersteegen deutlich machen, daß die Erfahrung des Geistes nicht inhaltsleer ist, daß ihr vielmehr im Sinne des antiken und scholastischen Realismus die eigentliche Wirklichkeit zukommt 1 4 6 . Unter dem Eindruck der inneren Geisterfahrung ist das Äußere nur noch schattenhaft. Die Welt wird zur „Schattenwelt" 147 , die Dinge sind wie „leere Schattenbilder" 148 , alles Sichtbare nur noch ein Traum 1 4 9 . Das Realitätsgefiihl kehrt sich geradezu um. Der Geist erkennt, daß dies Paradies seine eigentliche Heimat 1 5 0 , sein Vaterland 151 ist. Die Welt wird ihm darüber zu einem fremden Land 152 . Aber auch die Bilder der Weite und Unabgeschlossenheit der inneren Welt treffen wiederum nur einen begrenzten Aspekt jener Raumempfindung, denn das Zentrum dieser Erfahrung ist nicht die unermeßliche Fülle und Grenzenlosigkeit der Welt des Geistes, sondern die Anwesenheit Gottes in ihrer Mitte, und diese findet ihren räumlichen Ausdruck in der Gestalt eines Tempels, eines Palastes, einer Burg. c) Der Raum als sakrale Mitte: Die Wohnung Gottes in uns „Gottes Wohnung Den Mittelpunkt von deinem Wesen Hat Gott zur Wohnung sich erlesen; Kehr sanft hinein, da offenbart Die Gottheit ihre Gegenwart!" 1 5 3

Dies ist das Kernstück tersteegenscher Gebetserfahrung. In der stillen Dunkelheit unseres Herzens wohnt Gott wie in seinem Eigentum. Der innerste Raum des Menschen erweist sich als ein Ort besonderer Heiligkeit. Wie Gott sich im alten Bund mit dem Tempel in Jerusalem einen besonderen Ort erwählt hat, so will er jetzt im neuen Bund „inwendig in den Herzen seiner Kinder w o h n e n . . ." 1 5 4 . Das Herz wird zum Wohnraum Gottes, zu seiner königlichen Residenz 155 , zu einem weiten stattlichen Palast. 146 Daß auch Tersteegen von den Dingen als von „vorbeigehenden Schatten" reden kann, macht deutlich, in welchem Maße Piatos Höhlengleichnis bis hierher nachwirkt. S. BR I 128 (51). Aber Tersteegen beklagt auch, daß wir solche Ausdrücke schon so gewohnt sind, daß wir kaum einmal den Nachdruck ihrer Bedeutung bedenken. „Allein, auch die nachdrücklichste (sie!) Ausdrücke davon, wäre kaum ein Schatte zu nennen in Vergleichung dessen, was die Seele davon erkennet . . . " BR 1129 (51). 147 B R Ì I 6 (2). 148 w w 3 1 0 (8,5); s. a. BR 1119 (46). 149 BR IV 153 (62); s. a. BL 496 (3,76.3); BR 1128 (51); RE II 133 (3). 150 RE III 240 (5) = GR 494; s. a. BL 364 (3,21.8); 557 (3,98.28) u. BR 129 (8). 151 S. B L 3 6 (1,6); 74 (1,173); B R I 243 (90) u. 117(2). 152 BL97 (1,284) u. WW 321 (8,19). 153 BL 92 (1,259) s. a. BL 142 (1,480); 391 (3,35.5); 420 (3,46.10); RE III 85 (2); IV 319 (7). 154 WW 195 (5,38). 155 S. RE IV 318 u. f. (7) = GR 237 u. WW 257 (6,29); in diesem Bild wirkt besonders die allegorische Deutung von Hohelied 1,4 nach.

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α) Ein weiter Palast „Ein Palast Kehr ein in deiner Seele Grunde, D a w o h n und werde Gott gemein! Wer diesen weiten Palast funde, D e m muß die Welt ein Kerker sein. " 1 5 6

Gott wohnt im Herzen „wie ein Landesfiirst in seinem Palast.. , " 1 5 7 . Auch hier ist der R a u m weit, aber er ist nicht mehr unbegrenzt 1 5 8 . Vielmehr liegt an den Mauern dieses Palastes ein besonderes Interesse. Sie bieten Schutz und Zuflucht. Das Herz erscheint wie eine „feste B u r g " 1 5 9 , wie ein „sicheres Schloß" 1 6 0 . Kein Feind kann hinein, wie hart sie diese „Festung" 1 6 1 auch bedrängen, denn diese Burg ist hoch gebaut und weit über alle Sinne 1 6 2 . „ D i e Feind' erbost die Stadt bestreiten Sie wird belagert gar und öfters hart bedrängt, M a n c h giftiges Geschoß wird auf sie los gesprengt Bei Tag, bei Nacht, von allen S e i t e n . " 1 6 3

Dies Moment der personhaften Gegenwart kann so stark hervortreten, daß die Weite des Bildes sich verliert und der Raum zu einem Kabinett zusammenschrumpft, in dem die Seele sich zu verbergen sucht. ß) Ein Kämmerlein „ D u verbirgst sie heimlich, Ps. 31,21 Hinaus, hinaus A u s diesem fremden Haus! Z u r E w i g k e i t dein Geist sich einwärts kehre, D a sei hinfort Dein Nest, dein Zufluchtsort, Daß dich die Welt und Eigenheit nicht störe! Dein stilles K ä m m e r l e i n Sei Gottes Herz allein, S o hast du R u h in allen, Wenngleich der Leib noch hier und da muß w a l l e n . " 1 6 4 BL 607 (FL 80); s. a. RE IV 318 f. (7) = GR 237. RE IV 166 (3) = GR 51. isa jvlit Bezug aufjes. 31,5f. vergleicht er das Herz sogar mit der Stadt Jerusalem und bittet: „. . . laß mein Herz denn auch auf Erden Deine werte Friedensstadt und also beschirmet werden. . ." B L 202 (2,18); s. a. 155 (1,529) u. 450(3,58.13). 1 5 9 B L 155 (1,529); das Bild der „Seelenburg" übrigens auch schon bei Diadochus von Photike; s. Capita centum c. 57 in Ausgabe Des Places a.a.O. S. 118; vgl. Bernhard von Clairvaux, Die Schriften, übertr. v. A. Wolters a.a.O. Bd. 4, Anspr. 82: „Die Wachen der Seelenburg" S. 244; s. auch Theresia von Avila, Sämtliche Schriften Bd. V a.a.O. „Die 1 6 2 BL 203 (2,20). Seelenburg". 1 6 0 BL381 (3,30.6); s.a. B R I 3 5 1 (122) u . B L 4 0 3 (3.39.13). 1 6 3 B L 155 (1,529). 1 6 1 B L 6 1 (1,120) u. B R Ì I 3 7 9 (128). 1 6 4 B L 169f. (1,573). 156

157

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U m der Welt und Eigenheit ungehindert zu entgehen, sucht die Seele nicht die Auseinandersetzung, sondern verbirgt sich einfach in ihrem Inneren. Das Herz wird zu einem heimlichen Zufluchtsort, w o die Seele vor aller Anfeindung Ruhe hat. In diesem Zusammenhang erscheint das Herz wie ein „Verborgnes Winkelein" 1 6 5 , ein „heimlich Hüttchen" 1 6 6 oder „armes Häuslein" 1 6 7 , wie ein „Stall" 1 6 8 , ein „ N e s t " 1 6 9 oder „Zufluchtsort" 1 7 0 , wie eine „ Z e l l e " 1 7 1 oder ein „Kämmerlein" 1 7 2 . An die Stelle der Weite tritt ein enges, aber bergendes Raumgefühl. In dieser unterschiedlichen Empfindung von Innenraum wiederholt sich zunächst nur die verschiedenartige Erlebnisweise eines personalen Gegenübers. Erscheint Gott in der Offenbarung seiner Nähe wie ein vertrauter Vater, so ist die Verborgenheit eines stillen Kämmerleins der entsprechende Ort für diese Begegnung, tritt aber das majestätische Moment der Gottheit stark hervor, wird auch das Raumgefühl sich hieran angleichen und der Beter sich wie in eine „Residenz dieser göttlichen Majestät" 1 7 3 gestellt sehen. Jedoch hat das Moment der Zuflucht bei Tersteegen ein unübersehbares Gewicht. Das weckt die Vermutung, daß sich hierin nicht nur etwas objektiv Widerfahrenes spiegelt, sondern auch seine persönliche, seelische Befindlichkeit. Ein Gemüt, das sich bedrängt und von Feinden umstellt fühlt, wird sich zu verbergen suchen und die Gegenwart Gottes vor allem als Zuflucht empfinden. Dagegen ist es Ausdruck einer überaus hochgemuten Stimmung, wenn eine Seele sich vorkommt, als ginge sie im Kabinett eines Königs ein und aus. Sie fühlt sich zu adeligem Stand erhoben. Aber die soziale Identität jener B L 170 (1,574); s. a. B R 1275 (97). B L 105 (1,322); s.a. B R II 358 (121). Aus B R IV 76 (29) wird deutlich, daß Tersteegen hierbei an Offenbarung 21,3 denkt. D a r u m spricht er in B L 424 (3,49.4) u. 479 (3,64.9) auch von „deiner", also Gottes Hütte im Herzen. Vgl. dazu aber auch Ps. 27,5. 1 6 7 B L 170 (1,574). 1 6 8 B L 317 (3,4.3); so vor allem im Kontext der Weihnachtsbotschaft; s. bes. B R I 368 (129): „ U n s e r Herz sey dein Stall und deine Krippe, worin du geboren und geherberget werdest"; vgl. B R IV 93 (37); B L 420 (3,46.10 u. 11); ebenso Krippe s. R E 1144 (3) u. B L 420 (3,46.10). 1 6 9 B L 170 (1,573) u. 317(3,4.3). 1 7 0 B L 170 (1,573); s. a. 394 (3,36.8) u. 303 (3,39.13). 1 7 1 B L 109 (1,339); zur Traditionsgeschichte dieses Bildes sei hingewiesen auf D S p II Sp. 396-400 (Gougaud); s. a. J o s e f Sudbrack, Die Geistliche Theologie des Johannes von Kastl, Studien zur Frömmigkeitsgeschichte des Spätmittelalters Teil I, in Beiträge zur Geschichte des alten Mönchtums und des Benediktinerordens Heft 27, 1 S. 277 A n m . 33 dort weitere Literatur. 1 7 2 S. B L 39 (1,19); 50 (1,69); 59 (1,110); 72 (1,167); 143 (1,488); 170 (1,573); 363 (3,21.2); 637 (FL 181); 634 (FL 214); B R 1275 (97); II 297 (98); WW 343 (9,16) und sehr oft. Diesem Bild liegt ein mystisches Verständnis von Mt. 6,6 und Hohel. 1,4 zugrunde. Der Bezug zu Mt. 6,6 wird besonders deutlich in U A 278 (II 11,25). Z u Hohel. 1,4 s. einen Satz wie diesen aus B R II 139 (42): „und ein besserer Freund . . . wird dir sodann die Hand bieten, und dich in seine geheime Schlafkammer einfuhren . . . " Im Kontext von Lukas 2 nennt Tersteegen den Seelengrund gelegentlich auch eine Herberge (so B R II 87 [32]). 173 WW 257 (6,29). 165 166

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„Stillen im Lande" gründet sich offensichtlich auf ein ganz anders gelagertes Selbstverständnis. Sie beantworten die vielfachen Anfeindungen mit betonter Zurückgezogenheit oder wandern aus 1 7 4 . Statt die offene Auseinandersetzung zu suchen, halten sie sich lieber vor der Welt verborgen. Sie schließen sich in Konventikeln zusammen und hüten das Wissen um die Gegenwart Gottes wie ihr Geheimnis. So scheint ihre Liebe zu dem kleinen Kämmerlein des persönlichen Gebets und der privaten Zusammenkünfte auf die Raumempfindung in der Gegenwart Gottes wesentlich einzuwirken. An solcher Stelle wird sichtbar, wie das objektive Widerfahrnis und ihre subjektive Deutung ein Geflecht ergibt, das sich nie mehr ganz auseinanderknoten läßt. Das Offenbarwerden der Gegenwart Gottes wird im Geschehen bereits gedeutet. Damit sind schon im Augenblick des Erlebens die seelischen und gesellschaftlichen Bedingungen mit eingeflochten. Aber auch dieses Bild ist noch nicht das Beherrschende. Unter allen Variationen der Wohnung Gottes ist Tersteegen keine so wertvoll wie das Bild des Tempels. γ) Ein Tempel „Unser Herz, Gottes Heiligtum Ich k e h r ein in m e i n H e i l i g t u m U n d b l e i b in L i e b e s e h r f u r c h t s t u m m ; In's G e i s t e s stiller D u n k e l h e i t , Von Kreatur und Sinnen weit, D a wohnet Gottes Klarheit, D a s c h a u t m a n G o t t in W a h r h e i t . " 1 7 S

Kein Bild umschreibt das Numinose an der Entdeckung des Seelengrundes treffender als die Vorstellung eines inneren Tempels. Das Innere ist noch etwas anderes als ein heller glanzvoller Palast und ist auch anders als das eigene vertraute Gebetskämmerlein. Beiden fehlt ein wesentliches Charakteristikum: Das Gefühl der Ehrfurcht und des undurchdringlichen Geheimnisses. Allein das Heiligtum vermittelt diese Gefühlsinhalte. Wie sich vor dem Allerheiligsten des Tempels in der Regel ein leises Gefühl des Schauderns einstellt, so geht auch vom innersten Grund des Herzens eine solche Empfindung aus, denn beide sind ausschließlich Eigentum Gottes 176 . Wie

1 7 4 Z u diesem interessanten Phänomen s. vor allem Friedrich Nieper, Die ersten deutschen Auswanderer von Krefeld nach Pennsylvanien. Ein Bild aus der religiösen Ideengeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts Neukirchen 1940. Diese Arbeit gibt einen vorzüglichen Einblick in Tersteegens amerikanischen Freundeskreis. 1 7 5 B L 65 (1,134); vgl. B L 32 (Vorb.); 45 (1,45); 65 (1,134); 100 (1,299); 171 (1,575); 262 (2,116); 342 (3,11.8); 424 (3,49.6); 426 (3,50.5); 529 (3,88.11); 560 (3,100.2 u. 4); 500 (3,70.7); 546 (3,98.2); WW 258 (6,30); 263 (6,37); 266 (6, Anh.) u. ö. 1 7 6 B L 202 (2,18); 335 (3,8.8); 388 (3,33.8).

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der Tempel ist auch der Grund unserer Seele einzig sein Haus 1 7 7 , sein Thron 1 7 8 . D a r u m ist kein Geschöpf würdig, diesen Platz zu betreten. Er ist wie das Heiligtum sakrales Territorium und tabu für alles Profane. „Nur Gott allein dein Herz räum ein! Geschöpfe, geht aus meinem Herzen weg, Laßt diesen Platz dem Schöpfer ganz alleine! Mein Alles ich zu seinen Füßen leg', Er ist mein Schatz, und ich auch ganz der seine." 179

In einem Brief an Engelbert Evertsen schreibt er darum: „Ich habe den Herrn gebethen, er möge dein Herz umzäunen und abgeschieden bewahren, damit nichts Fremdes in sein Heiligthum eindringen und solches einigermaßen profanieren (entheiligen) möge!" 180

U n d Evertsen schreibt seinerseits, daß Tersteegen „zu verschiedenen M a len" zu ihm gesagt habe: „Ich danke Gott, der mir ein Kämmerlein gegeben, worein noch nie eine Kreatur mit eingegangen . . ." 181 ,

was wiederum Evertsen zu großer Bewunderung Anlaß gibt. Sowenig man im alten Bund in den heiligsten Teil des Tempels einfach einzutreten wagt, sowenig kann man auch in den Grund des Herzens einfach eindringen. „Ich wollt' in deinen Tempel treten, Doch bleib' ich schon beim Eingang stehen, Sink' gar vorm dunklen Heiligtum, Will nichts mehr sehen, nur tief anbeten . . ." 182

Hier wie dort scheint das Allerheiligste dunkel und leer, ein Zeichen der Unbegreiflichkeit 1 8 3 . Es wäre Frevel, sein Geheimnis neugierig zu ergründen. Für Tersteegen ist die Übereinstimmung des Herzens mit dem äußeren Tempel so eindeutig, daß er sagen kann: es war die Absicht Gottes, daß dieser äußere Tempel „nur eine Vorbildung und eine Anleitung sein sollte, daß Gott selber in ihren Herzen wollte wohnen und w a n d e l n . . . und ihr Herz ein Heiligthum werden sollte" 184 . Nicht zu Unrecht verweist Tersteegen immer wieder auf Paulus, der die Bedeutung des Tempels schon in diesem Sinne spiritualisiert habe 1 8 5 . So sagt er einmal in Auslegung von Lukas 24,53: 177

181 B L 4 5 0 (3,58.13); 561 (3,100.5). BR III LE II 115. 182 BL 335 (3,8.8); 388 (3,33.11); 450 (3,58.13). BL 546 (3,98.2). 179 183 BL 87 (1,235). Ebd. 180 184 BR III 406 (134). RE II 285 (6) = GR 343. 185 Zu 1. Kor. 6,19 bei Tersteegen s. RE IV 314-356 (7) = GR 234-253 u. RE IV 32 (2) = GR 278. Zu 1. Kor. 3,16f. s. RE II 137 (3) = GR 206. Z u 2. Kor. 6,16f. s. BL 191 (2. Vorb.); W W 178

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„ N u n , das soll auch unser Werk sein, daß wir uns allewege in d e m Tempel einfinden. Wo ist denn aber dieser Tempel? Paulus sagt es uns, 1. Cor. 3,16: Wisset ihr nicht, daß ihr Gottes Tempel seid, u n d der Geist Gottes in euch w o h n e t ? U n s e r Herz ist der Tempel i m neuen B u n d e , der Tempel, w o r i n w i r allewege sein s o l len . . . O das ist eine Sache, w e l c h e w e n i g bekannt ist, ich will nicht sagen bei natürlichen M e n s c h e n , sondern auch leider! bei berufenen H e r z e n . " 1 8 6

Die Kultbeschreibung in Nummeri 9,15 ff. wird Tersteegen zum Gleichnis für die Nähe Gottes im Herzen und das priesterliche Tun zum Vorbild unserer inneren Wirksamkeit187. Auch dies ist wiederum nur ein Bild. Es ist zwar eine markante Kennzeichnung, wenn Tersteegen sagt: „So ist nun i n w e n d i g , unser Geist Gottes Werkstatt, Tempel u n d H e i l i g t h u m da Gott w o h n e t u n d w o h n e n will . . , " 1 8 8

Und doch ist unser Geist kein raumhaftes Etwas. Ein derartiger Innenraum ist auch für Tersteegen nicht empirisch faßbar. Hier gilt mehr dennje 122 (3, Eusebeia); 161 (4,13); 204 (5,1. Anh.); 243 (6,15); 275 (6, Anh.); BR III 135 (45); IV 214 (87); RE III 30 (1); 128 (3); IV 328 (7); U A 278 (II 11.25) s. übrigens auch Luther WA 23,228). 186 RE II 137 f. (3) = GR 206. 187 S. dazu BR holl 216 (95) = BR N S 181 (118), w o Tersteegen erläutert, daß in dem Augenblick, w o „Geist mit Geist umgeht" der Mensch lernt, „was reiner Gottesdienst ist". Einige Beispiele: Wie Gott im Allerheiligsten der Stiftshütte in einer dunklen Wolke wohnt, aber dennoch von den Priestern im Heiligtum gelegentlich gesehen wird, weil das Licht der Feuersäule durch die Teppiche dringt, so ist auch Gott in den innersten Tempel unseres Herzens gekommen, um sich „in dem Dunkeln des Glaubens" schauen und genießen zu lassen. (RE IV 32 [1] = GR 278) Bis ins Detail hinein wertet Tersteegen die Beschreibung in N u m m e r 9 analogisch aus. Wenn die Israeliten morgens und abends sich in der Stiftshütte versammeln, sollen auch wir uns „Morgens und Abends, und den Tag durch öfters" versammeln zu der Wohnung und Stiftshütte Gottes in unserem Herzen, um ihn dort als gegenwärtig zu verehren und anzubeten, (ebd.) Aber mehr noch sollten wir wie Priester unser Leben lang im Hause des Herrn bleiben wollen: „ O wohl denen, die allezeit in dem Hause ihres Gottes wohnen!" (ebd. S. 34) Der Tempel ist der Ort des Opfers. Unsere „tierische Lüsten und Begierden" und der Eigenwille werden an dieser Stelle aufgeopfert. „Es war nicht genug, daß die Israeliten ihre Ochsen, Schaafe und Thiere in ihren Häusern schlachteten, sondern sie mußten sie bringen vor die Gegenwart Gottes zur Stiftshütte . . ." (ebd. S. 34f.) So sollen auch wir, wenn wir etwas dranzugeben haben, es nicht mühsam von uns abzwingen, sondern vor dem Angesicht Gottes aufopfern, weil allein seine Nähe uns von aller Begierde innerlich löst und den Eigenwillen bricht. Der Tempel ist schließlich der Ort, an dem ständig ein heiliges Feuer brennt. So findet auch die Seele in ihrem tiefsten Grunde ein Feuer der Liebe, „das Fleisch und Blut ihr nicht gegeben . . . " (ebd. S. 37 = GR 280; vgl. zu diesem Abschnitt WW 475 [2. Zug]) Es ist ihr gleich dem heiligen Feuer Israels wie vom Himmel gefallen und muß nun brennend erhalten werden. Wenn es darum zum Tempeldienst des alten Bundes gehörte, daß die Asche weggeräumt und ständig neues Brennmaterial hinzugefugt wurde, so besteht unser Tempeldienst darin, uns immer wieder von weltlichen Gedanken zu reinigen und unsere Liebe „durch die Übung des wahren stäts anhaltenden Herzensgebets" zu erhalten, (ebd. S. 38) 188

BR II 297 (98). 217

der Vorbehalt, den Tersteegen gegen alle Bilder hegt. Wer sich diese Vorstellung real vergegenwärtigt, sieht die Unmöglichkeit dieses Bildes. Im Bild selbst liegt seine eigene Aufhebung. Das Herz ist Organ wie alle anderen, ersetzbar, austauschbar, ohne das Innerste zu berühren. Dieser Vorbehalt kommt zum Ausdruck, wenn Tersteegen einer Freundin rät: „Laß dirs seyn, als wenn in deinem Inwendigen ein heimliches Kämmerlein RQ ware . . . " I1βν

Solche räumlichen Vorstellungen sind zwar eine Hilfe und geben auch in etwa den Empfindungsgehalt wieder, aber dennoch sind sie nichts anderes als Vorstellungsbilder unter anderen. Die Raumempfindung verbindet sich mit einer überaus positiven Gestimmtheit. Der Herzensgrund ist der Ort der Gottesliebe, die sich hier spürbar mitteilt. Als Paradies ist es die Heimat und das Vaterland unserer Seele, als Burg und Kämmerlein unsere Zuflucht und die Vorstellung eines inneren Heiligtums scheint geradezu die Quintessenz dieser Empfindungen. So liegt ein besonderes Interesse auf dem Zugang zu dieser Erfahrung. Wie erschließt sich dem Menschen seine innere Welt und warum ist sie ihm normalerweise unbekannt, obgleich sie doch sein eigentlicher Lebensraum sein sollte? Der natürliche Mensch weiß nichts von einem in ihm liegenden Grund. Er ahnt nicht einmal, in welchem Maße ihm seine eigentliche Bestimmung verschlossen ist. Öffnet sich dem Menschen schließlich doch der Zugang zu dieser Erfahrung, so erscheint ihm dies wie das Aufgehen einer lange zuvor verschlossenen Tür.

3. Ein Sich-Öjjhen der Herzenstür Was immer das Innere auch sein mag, ein tiefer Grund, ein Mittelpunkt, ein Paradies oder Kämmerlein, ein Herz oder Heiligtum, immer ist es die Tür, die den unmittelbaren Zugang verschließt und den Blick in das Innere verwehrt 1 . Wie man vor einer Tür steht und geduldig warten muß, bis sie sich endlich öffnet, so erfahrt auch der Beter, wie sich nach langem Warten etwas in ihm aufschließt und den Weg freigibt zu bislang unbekannten Räumen 2 . Wie wir gesehen haben, gehen die Vorstellungen über den Raum weit auseinander. Sie bleiben unscharf. Was aber den Zugang zu dieser Erfahrung betrifft, sind Tersteegens Aussagen keineswegs vage. Auf diesen Zugang konzentrieren sich alle Vorstellungsbilder. 189

BR II 297 (98); ähnlich BR IV 298 (122), w o es heißt: „Ihr müßt wie im Herzen leben. . . " Tür zum Grund s. BR holl 202 (88) = BR NS 71 (43); Tür zum Mittelpunkt s. BR holl 32 (9) = BR N S 263 (168); Tür zum Kämmerlein s. BR 1185 (72). 2 S. Lk. 11,9. 1

218

Wir haben bisher nur beiläufig die Bedeutung Christi berührt, so daß der Eindruck entstehen konnte, fur die tersteegensche Gotteserfahrung sei die Heilsbedeutung Christi unerheblich. Dieser Eindruck trügt. Selbstverständlich liegt auch bei ihm eine protestantische Christologie zugrunde. Von dogmatischen Neuerungen ist er weit entfernt. Aber ist die Heilsbedeutung Christi für sein mystisches Erleben wirklich notwendig? Ist sie das tragende Fundament für die Ü b u n g der Gegenwart Gottes? Oder sind beide nicht doch ganz eigene Gebäude, die zwar eng nebeneinanderstehen, aber aufje eigenem Grund: Hier Glaube, dort Mystik? Ist das Christusbekenntnis für seine Gebetspraxis nicht einfach überflüssig 3 ? Der Christusglaube muß ein wesentliches Moment in der inneren Struktur seiner Gotteserfahrung ausmachen, wenn Tersteegens Verknüpfung von Christologie und Mystik wirklich überzeugen soll. An welcher Stelle der inneren Erfahrung verspürt er einen solchen Zwang von Christus zu reden? Er erlebt es als Widerfahrnis, daß die Tür zu seinem Inneren plötzlich offen steht, wie es ihm andererseits als Verhängnis erscheint, daß dieser Zugang für ihn bisher versperrt gewesen ist. Er verspürt, daß das Innere kein neutraler Raum ist, den man wie ein schwer zugängliches Gelände erobern kann. Das Innere ist dunkel und undurchsichtig, aber es ist keine Sache des Mutes und der Entschlossenheit, ob wir uns hineinwagen oder nicht. Tersteegen erlebt das Innere anders. Er fühlt sich gleichsam an die Hand genommen und hineingeführt. Er spürt, daß ihm hierin Zuwendung widerfährt, die ihren Ursprung nicht in ihm selber hat. In der plötzlichen Erschlossenheit seines Inneren liegt für ihn eine wesentliche Transzendenzerfahrung. Er kann dies Erlebnis nicht mit seiner eigenen Bemühung in 3 S o fragt Forsthoff, wenn er sagt: „ E s ist nicht der biblische Christus, den er in seinen Liedern feiert; es ist der Gegenstand seiner mystischen Versenkung, dem er die Farben des biblischen Christusbildes verleiht" H. Forsthoff, Die Mystik in Tersteegens Liedern a . a . O . S. 230. E s ist noch kein Antwort, wenn Winter (Die Frömmigkeit, a . a . O . S. 22ff.) und Löschhorn (Ich bete an a . a . O . S. 18) ihm entgegenhalten, daß Tersteegen immer wieder auf die Heilsbedeutung Christi verwiesen habe. Dies steht natürlich auch fur Forsthoff außer Zweifel. Aber es bleibt die Frage, ob die Ü b u n g der Gegenwart Gottes nicht auch an Christus vorbei möglich ist, zumal diese Ü b u n g ihre Wurzeln zweifellos in der Antike hat, worauf Forsthoff nachdrücklich verweist.

Daß sich bei Tersteegen ein antikes Erbe mit einem christlichen verbindet, sollte unbestritten sein. Aber von welcher Art ist diese Synthese? Ist hier etwas ursprünglich Fremdes mit dem Christusglauben verknüpft, u m diesen anzureichern, oder ist Tersteegens Gebetsübung eine Gestalt der Christusbegegnung, wie sie in dieser oder ähnlichen Form bei innerlich veranlagten Menschen mit Notwendigkeit zum Ausdruck k o m m t . Dann wäre Forsthoffs Auffassung allerdings ein folgenschweres Urteil über alle Religiosität, die von einer größeren inneren Sensibilität getragen ist. S o entscheidet sich viel an der Frage, wie sich hier Christuszeugnis und meditatives Gebet miteinander verbinden. Die innere N o t wendigkeit, mit der fur Tersteegen die Christuserfahrung der Meditation zugrundeliegt, muß an dieser Stelle zum Ausdruck kommen. Wir fragen also danach, ob sich in Tersteegens christologischen Abschnitten etwas ausdrückt, was darauf hinweist, daß er aufgrund der Eigenart seiner Gotteserfahrung zwangsläufig von Christus reden muß. Ist also dieses Christubekenntnis auch phänomenologisch relevant?

219

Verbindung bringen. Z u deutlich ist i h m b e w u ß t , w i e verschlossen i h m dieser Weg bisher gewesen ist. Wie die plötzliche Erschlossenheit ist i h m auch die alltägliche U n z u g ä n g lichkeit der Seele nicht einfach ein neutraler Sachverhalt. E r verspürt sie als absichtliche Verweigerung, die aus d e m N u m i n o s e n selbst k o m m t u n d ihn v o m Z o r n Gottes u n d v o n besonderen P r ü f u n g e n Gottes reden läßt. I m G r u n d seines Wesens fühlt Tersteegen nicht ein Es, s o n d e r n Liebe oder Z o r n eines göttlichen Gegenübers. D e r Seelengrund ist unzugänglich, weil G o t t den M e n s c h e n nicht m e h r lieben will u n d kann, „er k a n n kein Wohlgefallen mehr, an demselben h a b e n . . . " 4 u n d i h m d a r u m sein Reich nicht m e h r öffnen. „wir sind Feinde Gottes, und Gott kann nicht anders als von uns abgeneigt sein." 5 Weil das Innere kein N e u t r u m ist, sondern das Reich Gottes, zu d e m seine Liebe u n d sein Z o r n uns den Z u g a n g erschließt u n d v e r w e h r t , muß Tersteegen von C h r i s t u s reden. Christus hat in seinem Leiden die „Feindschaft" zwischen G o t t u n d M e n s c h aufgelöst u n d den Z o r n Gottes besänftigt 6 . „durch Jesum Christum ist im Herzen Gottes wieder eine rechte Sehnsucht und Verlangen nach uns erwecket worden . . . " 7 Von Gottes Seite ist n u n alles wieder gut gemacht 8 . Christus ist M e n s c h g e w o r d e n u n d gestorben, auferstanden u n d gen H i m m e l gefahren u n d hat uns dadurch den H i m m e l w i e d e r aufgeschlossen 9 . In Formeln wie diesen b e w e g t sich Tersteegen d u r c h w e g innerhalb der o r t h o d o x e n Christologie. Sie b e k o m m e n j e d o c h ihre besondere A u s r i c h t u n g dadurch, daß er die Ö f f n u n g des H i m m e l s mit der W i e d e r e r ö f f n u n g des Seelengrundes i m M e n s c h e n gleichsetzt. M a t t h ä u s 4,17 u n d Lukas 17,21 sind die Bestätigung dafür, daß er das Werk Christi in rechter Weise z u s a m m e n f a ß t , w e n n er sagt, daß uns d u r c h den „ N a m e n Jesus Immanuel die sanfte, wallende Liebe Gottes i n w e n d i g in u n s e r m H e r z e n s g r u n d e w i e d e r u m e r ö f f n e t u n d unaussprechlich nahe w o r den s e i . . ." 1 0 . Dies ist f ü r ihn die M i t t e der Botschaft u n d der „ K e r n des w a h r e n E v a n g e l i u m s . . . " 1 1 . Ein anderes M a l n e n n t er es die „ g r o ß e e v a n g e lische H a u p t - u n d G r u n d w a h r h e i t " , daß G o t t u n s e r e m Herzen so nahe g e k o m m e n ist 1 2 . Das ganze Heilswerk Christi gipfelt darin, daß der Seele n u n m e h r „in i h r e m Innersten, in i h r e m Geiste, der Weg z u m Paradies, zu der seligen Lichtwelt ganz o f f e n " steht 1 3 . 4 5 6 7 12 13

220

8 RE 1317 (7) = GR 629. RE 1182 (4) = GR 159. 9 RE 1182 (4) = GR 159. RE II 102 (3) = GR 191. 10 Ebd. B L 3 1 (Vorb. 9). 11 RE 1317 (7) = GR 629. Ebd. BR 1186 f. (72) auch hier (S. 188) verweist er auf Matth. 4,17. RE III 138 (3) = GR 180.

Was n ö t i g t Tersteegen, in dieser Weise v o n C h r i s t u s zu reden? D e r Weg nach innen ist f ü r ihn keine Möglichkeit des natürlichen Menschen. Z u deutlich spürt er den Widerstand, den das Ä u ß e r e d e m Inneren e n t g e g e n setzt. Z u eindrücklich ist i h m die D u n k e l h e i t des Lebens gegenwärtig. Hier regiert kein optimistischer Weltgrund, der sich an schönen Meditationen erneuert, sondern ein v o n Krankheit u n d Leiden gezeichnetes Lebensgefühl, das die Vergänglichkeit spürt u n d sie nicht übersehen kann. U n t e r der Ü b e r m a c h t v o n Sinnlosigkeit k a n n n i e m a n d aus sich heraus Sinn setzen. Es sei denn, der G r u n d des Seins erschließe sich neu. Dies hat Tersteegen an der biblischen Christusgestalt erfahren. A n dieser Stelle u n d n u r hier d u r c h b r i c h t das wesentliche Sein die harte Schale des schattenhaften Daseins. So b e s t i m m t ihn einerseits ein ausgeprägtes S e n s o r i u m f ü r die V e r g ä n g lichkeit (Uneigentlichkeit) alles geschaffenen Seins u n d auch v o n der M e n schennatur erwartet er nichts als Eitelkeit, aber andererseits k e n n t er ein G e f ü h l v o n Geborgenheit, das v o n der Gestalt Christi ausgeht u n d ihn den Grund der D i n g e u n d des M e n s c h e n in n e u e m Licht erscheinen läßt. Diese A m b i v a l e n z i m G r u n d g e f ü h l bildet p h ä n o m e n o l o g i s c h betrachtet den U n t e r g r u n d seines Christuszeugnisses. D a r u m ist Christusglaube v o r ausgesetzt, w e n n w a h r e s Sein sich o f f e n b a r e n soll. N u r „einer gläubigen Seele" steht dieser Weg offen 1 4 . N u r weil Christus uns den Weg dahin g e b a h n t hat, k ö n n e n w i r „schon bei Leibes-Leben m i t C h r i s t o i m Paradiese seyn" 1 5 . D e r Glaube, daß Christus in uns lebt, ist f ü r Tersteegen die E r k l ä r u n g dafür, w i e trotz einer rezeptiven Grundeinstellung etwas in der Seele geschieht, was sich m i t der eigenen Wirksamkeit nicht erklären läßt. Die Seele hat nicht v o n sich aus die T ü r z u m Inneren aufgebrochen. Sie ist selber viel zu sehr d e m Ä u ß e r e n verfallen. D a ß das Innere plötzlich offensteht, k a n n n u r d u r c h Christus geschehen sein. D a r u m läßt sich das Christuszeugnis v o n seiner mystischen E r f a h r u n g nicht ablösen. a) Christus und die Pforte des Paradieses D a ß A d a m vorzeiten aus d e m Paradies vertrieben w u r d e , ist f ü r Tersteegen keine alte Geschichte, sondern etwas, das „ w i r alle m i t einander an uns selbsten, leider! täglich e r f a h r e n " 1 6 . Die tausend Mühseligkeiten, die uns das Leben begleiten, sind „ein thätiger Beweis", daß w i r alle m i t aus d e m Paradies vertrieben sind. „Ist wohl ein Thier auf dem Erdboden zu finden, das so vielen Krankheiten, so viel Jammer, so vielen Dürftigkeiten unterworfen ist, als ein Kind Adams?" 17

14 15

RE III 138 (3) = GR 180. Ebd.

" RE II 99 (3) = GR 190. RE II 100 (3) = GR 190.

17

221

Vor allem ist ihm aber die Tür zur Ewigkeit verschlossen. Der natürliche Mensch muß mit einem unruhigen Herzen und einem bedrückten Gemüt in dieser Welt leben und kann nicht hoffen, irgendwo eine „bleibende Zufriedenheit" zu finden, denn der Zugang zu Gott ist verschlossen 18 . „es liegt ein Cherubim vor dem Garten, den Eingang des Paradieses und den Weg zum Baum des Lebens zu bewahren: das hin und her blinkende Schwert des Cherubims hat allen natürlichen Adamskindern den Weg so versperrt, daß kein Zugang weder im Leben noch im Sterben in solchem Zustande zu hoffen ist." 1 9

Auch dies ist für Tersteegen hier und jetzt gegenwärtige Erfahrung. Er erinnert an jenes eigentümliche Widerstreben, das sich einstellt, sobald wir zu beten versuchen. „Fühlen wir nicht . . . ein Zurückstoßen, wenn wir uns zu Gott nahen wollen?" 20

Aus diesem Elend gibt es keinen anderen Weg als den, daß Gott seinen Sohn sendet. Christus ist der neue Adam, der den versperrten Weg ins Paradies wieder öffnet. „Nun steht der andre Adam da, Ins Paradies aufs neu versetzet, Die o f f n e Pfort' im Geist ist nah Wer mit ihm stirbt, wird mit ergötzet;" 21

Dank seiner Geburt ist „die Pforte des Lebens nun offen zu sehen" 22 , denn die Wiederherstellung des ursprünglichen paradiesischen Zustandes gründet sich vornehmlich auf die Menschwerdung Christi. „Durch Christus ist dem armen Sünder der Himmel, der ihm verschlossen war, wieder geöffnet worden; durch Christus ist nun Gott wiederum mit dem Menschen, der Himmel mit der Erde in eine Freundschaft und Vereinigung gekommen, so daß nun die Menschen durch Christum wiederum in den Himmel und zu Gott kommen können; und Gott wieder zu den Herzen der Menschen kommen kann. " 2 3

Tersteegen bewegt sich hier auf den Bahnen alexandrinischer Christologie und weiß sich mit Irenäus eins, den er an solcher Stelle einmal ausführlich zitiert 24 . Im Geheimnis der zwei Naturen liegt der Weg, der auch uns den Zugang zum göttlichen Ursprung wieder öffnet. Gott wird Mensch, damit der Mensch wieder göttlich werde 25 .

18

20 Ebd. RE II 101 f. (3) = GR 191. 21 Ebd. 101. BL 365 (3,22.3). 22 BL 378 (3,29.4); vgl. a. BL 419 (3,46.5) u. BR III 389 (128). 23 RE III 10 (1) = GR 79. 24 S. W W 220 (5,3 Anh. 14). 25 S. BR I 393 (140): ,Jesus hat den Schooß seines Vaters verlaßen; und k o m m t , uns arme Kinder wieder in diesen Schooß der Liebe einzuführen." S. a. W W 319 (8,19) u. BL 665 (FL 372). 19

222

„Ich bin der Weg Hör doch, warum ich k o m m e n bin Vom Himmelsthron zum Stall auf Erden! Daß du durch mich mit Herz und Sinn Z u m Himmel sollst gefuhret werden." 2 6

So wie sich in Christus Gott und Mensch verbinden, sollen auch wir wieder mit Gott verbunden sein: „ O Jesu, wie kann es seyn? Ein Gott! ein Kind! im Elend mich zu suchen, sich mir zu geben, und von Gott und Menschen Einen zu machen!" 2 7

Inkarnation bedeutet für Tersteegen also nicht nur, daß der Gottessohn sich in dem einen Menschen Jesus verleiblicht, sondern Christus hat unsere ganze Menschheit an sich genommen 2 8 . Uns allen ist darin das „Unterpfand" gegeben, „daß wir wieder der Kindschaft, und also Gott selbst, teilhaftig gemacht werden k ö n n e n . . , " 2 9 . So gewiß Gott seinen Sohn gegeben hat, so gewiß ist auch uns die Möglichkeit gegeben, wieder am göttlichen Leben teilzuhaben. Durch die Vereinigung Gottes mit der Menschheit ist „die Pforte unserer Wiedervereinigung mit Gott eröffnet.. . " 3 0 , und die grundsätzliche Kluft zwischen Gott und Mensch ein für allemal aufgehoben 3 1 . Wenn wir das Kind anschauen, können wir wie „durch ein Ritzchen" 3 2 den ganzen „ U n g r u n d der göttlichen Menschenliebe" erblicken 3 3 . In diesem Kind „ist das unermeßliche Meer, die unendliche Gluth der göttlichen Liebe aufgeschlossen.. , " 3 4 . Die Pforte steht offen, es liegt an uns, ob wir uns „in Abgeschiedenheit zu ihm hineinwenden" 3 5 . Christus öffnet die Pforte des Lebens, aber nicht wie ein Deux ex machina, der gleichsam v o m Himmel fällt und. das Rätsel löst, wie aus einem ver664 (FL 366); vgl. auch B L 665 (FL 370). III 286 (90) dort gesperrt; vgl. R E 165-67 (2). 28 135 (1) = G R 364; s. a. B R III 288 (91). 29 131 (1) = G R 363. 30 w w n l (2,2 Anh.); s. a. B R holl 237 (101) = B R N S 308 (203). 3 1 R E I 211 (5) = G R 442f.; aber nicht nur durch das Weihnachtsgeschehen, auch durch Christi Tod, Auferstehung und Himmelfahrt ist uns das „Paradies wiederum aufgeschlossen" (RE 11102(3) = G R 393). Durch sein Leiden und Sterben „haben wir einen offenen Z u g a n g zu dem Paradies in unserm Herzen" ( R E 1190 (4) = G R 162; s. a. 197 (4) = G R 165 u. B R holl 16 (2) = B R N S 140 [90]), „durch seine Auferstehung" ist Christus „in das Paradies versetzet, hat es in Besitz genommen, und uns den Weg dahin gebahnet . . . " ( R E III 127 (3); vgl. B L 365 [3,22.3]); „durch seine Himmelfahrt" hat uns Christus inwendig in unseren Herzen „die Pforte schon geöffnet, daß wir den Himmel nun nahe finden, daß wir nun können Himmelfahrt halten in unserem Herzen". ( R E II 138 (3) = G R 206). 26

27

32 33 34 35

BL BR RE RE

BR BR BR BR

IV IV IV IV

Z u g . 14 (4); ebenso B R III 388 (128); R E 19 (1) u. R E III 32 (1). Z u g . 14(4). 326f. (134). 389 (128).

223

schlossenen Inneren ein geöffnetes wird. Vielmehr ist die Weise seines Kommens der eigentliche Schlüssel. Die Erniedrigung des Gottessohnes ist der Weg, der den Zugang öffnet 36 . Weil Christus sich so tief herabbeugt, aus Liebe zum Kind wird 37 und sich selbst zum Opfer gibt, hat er den Zorn des Vaters besänftigt 38 . Von Gottes Seite besteht keine grundsätzliche Feindschaft mehr 39 . Aber Tersteegen warnt eindringlich davor, die Offenheit des Paradieses einfach als gegeben anzunehmen 40 . Auch von unserer Seite muß die Feindschaft gegen Gott abgelegt werden 41 . Es ist als wäre auch von unserer Seite die Tür verschlossen, so daß auch wir erst unser Herz aufschließen müssen, bevor wir unser Innerstes betreten können. Nicht im Sinne jenes nominalistischen „facere quod in se est", Tersteegen denkt an kein synergistisches Tun, sondern allein daran, daß wir uns rufen lassen. Seine Stimme bekommt leidenschaftlichen Klang, wenn er daran erinnert, daß von Gottes Seite das Reich nahe ist und Christus nun an der Tür unseres Herzens steht, anklopft und versucht, Einlaß zu bekommen 42 . „Ja wahrlich, da stehet der erbarmende, ewig liebende Jesus, an deiner Thür, und klopfet an; er buhlet und bettelt recht um dein Herz, eben als wenn ers nötig hätte: Gieb mir doch, gieb mir doch, mein Sohn, dein Herz! Laß dich doch mit Gott versöhnen!" 43

Aber weil der Mensch von Natur die Finsternis liebt, scheut er das Licht des Inneren und wendet sich ab44. Er verweigert sich seinem numinosen Grund und bewahrt sich so die Illusion, als sei nur das Äußere real, und alles Innere Trug und Schein. Nur wenn er dem Weg Jesu folgt und sich selbst erniedrigt, findet er das Land des Lebendigen: „Wer nun die Zierde da will sehn, Muß auch mit ihm heruntergehn. Da wird erst der Lebend'gen Land U n d seine Zierd' im Grunde bekannt." 4 5

Christus bedeutet für Tersteegen nicht nur, daß da ein Versöhner ist, der von Gottes Seite eine neue Zuwendung zum Menschen ermöglicht. Christus ist zugleich die Verkörperung dieses neuen Menschen. Er ist 36

BL 250 (2,98).

37

»

RE

j 183 (4j = G R

159 .

40 BL 378f. (3,29.3.6). So in RE II 102f. (3) = GR 393. 38 41 S. hierzu bes. RE 1262f. (6) = GR 464. RE 1183 (4) = GR 159. 42 BR II 33 f. (11); überhaupt hat diese aus Offenb. 3,20 entlehnte Vorstellung eine große Bedeutung bei Tersteegen; s. BR 1 187 (72); II 294 (97); WW 194 (5,37); 370 (11,10); 395 (12,21) u. WW 320 (8,20): „und stehet nun an deinem Herzen und bittet durch tausend Erinnerungen, du möchtest dich nun auch mit Gott versöhnen lassen und diesen besten Freund in dein Herz einnehmen. " 43 RE IV 407 (9) = GR 15; s. a. BL 430 (3,52.4).

44

BRÌI34(11).

45

BL 250 (2,98).

224

„ein sichtbares Vorbild, Muster und Exemplar . . . nach dem wir müssen neu gebildet werden, und er uns also, in seinem Leben und Leiden, den Weg zeigte, und solchen als der erste Durchbrecher selber bahnte und uns vorginge (Joh. 13,15 u. 1. Petr. 221)"«

So hat auch das Leben Jesu heilsbedeutenden Sinn, beschreibt es doch den Weg, den der Mensch gehen muß, um dem Nahekommen Gottes zu entsprechen. Objektive Heilsbedeutung und Christusnachfolge sind hier besonders eng verflochten. So heißt es zunächst: „Laß uns eingehen, laß uns eingehen, mein Bruder, durch die Pforte, die uns das Blut Jesu geöffnet hat . . .",

und gleich danach: „die Pforte, die da ist: Jesus, und seinem sterbenden Kreuze leben . . . " 47 .

Wenn uns seine Erniedrigung zueigen wird und wir selbst „Kindergestalt" 48 annehmen, ist auch unsererseits das Hindernis aus dem Weg geräumt. „o klein, o klein müssen wir sein, sonst kommen wir nicht ins Paradies hinein:. . . das PfÖrtchen ist gar ein enges Pfortchen." 49

Bis wir aber zu einer solchen Gestalt verwandelt sind und die Tür nach innen uns bleibend offen steht, „findet das flammende Schwerdt der Cherubim . . . unglaublich viel im Menschen zu tödten und zu vernichten... " 50 . Nur einfältig gemachter Geist und ein kindliches Wesen können in das Reich Gottes eingehen 51 . Aber diese neu erworbene Kindlichkeit gehört für Tersteegen ebenso zum Werk Christi, wie das große Heilsgeschehen der Versöhnung 52 . Darum die Bitte an das Kind Jesus: „Bringe uns wieder zu diesem glückseligen Nichtwissen, du nacktes Gotteskind! so finden wir in dir das verlorene Paradies wieder!"53 b) Christus und der Zugang zum

Allerheiligsten

„Dein Blut mir öffnet wiederum Den neuen Weg ins Heiligtum, Den ich so nahe find' im Herzen;"S4 46

U A 163 (11,1.16); hier ist übrigens das Nebeneinander der beiden Heilsbedeutungen Christi besonders augenfällig, weil Tersteegen unmittelbar zuvor von der objektiven Bedeutung der Inkarnation handelt; vgl. dazu bes. WW 117 (2,2Anh.); s. dazu unten S. 228ff. 47 BR holl 16 (2) = BR N S 140 (90). 48 BL 379 (3,29.8). 49 RE 1167 (4) = GR 152; ähnl. a. 177 (4) u. BR IV 39 (16). 50 BR holl 164 (69) = BR N S 162 (102). 51 53 BR 1395 (141). BR 1395 (141). 52 54 BR holl 164 (69) = BR N S 162 (102). BL 426 (3,50.5).

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Während die Vorstellung der geöffneten Paradiesestür sich vornehmlich an die Inkarnation heftet, konzentriert sich die Heilsbedeutung seines Leidens und Sterbens auf die Bemerkung der Synoptiker, daß im Augenblick des Todes Jesu der Vorhang im Tempel zerriß. „Als unser liebster Heiland am Charfreitag die wichtigen Worte sprach: Es ist vollbracht! Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist! und danach sein Haupt neigete und verschied; da lesen wir, daß der Vorhang vor dem Allerheiligsten von oben bis unten aus zerrissen sei, zu einem kräftigen Beweis, daß durch Christi Leiden und Sterben der rechte Weg ins Heiligtum den armen Sündern wieder geöffnet und dargestellet sei." 55

Zuvor mußte sterben, wer das Innerste des Tempels betrat, aber nun haben wir „einen freien und offenen Zugang" in das „Allerheiligste der inneren Gemeinschaft" mit Gott 56 . Christus hat uns wieder hineingeführt, indem er uns gleichsam wie „in ein Bündlein nahm, und uns durch den Vorhang ins Allerheiligste brachte und sagte: O Gott, da sind nun die Menschen, . . . ihr Gott sollst du nun wieder s e i n . . . " 5 7 . Tersteegen beruft sich auf Hebräer 10, wo er dies Geschehen bereits in mystischem Sinn gedeutet findet: „Der Vorhang ist durch seinen Tod zerrissen, nicht nur (wie uns Paulus lehret) im Tempel zu Jerusalem, sondern der Weg zur stillen, seligen Ewigkeit ist uns im Geist aufgeschlossen. " 5 8

Neben der Ankündigung des Gottesreiches in Matthäus 4,17 muß dieses Wort aus dem Hebräerbrief als die Zentralstelle tersteegenscher Christologie gelten. Immer wieder verweist Tersteegen darauf, daß wir durch Christi Blut „Freimütigkeit zum Eingang in das Heilige" haben und er uns diesen Eingang „zubereitet hat zum neuen und lebendigen Weg durch den Vorhang..."59. Und wieder verbindet Tersteegen dies Heilsgeschehen mit der Aufforderung, diesen Weg nun auch zu begehen. „. . . Geh, Seele, denn hinzu Durch Sterben und Gebet zu dieser tiefen Ruh!" 6 0

Verleugnen und Gebet bilden den Weg, den man beschreiten muß, um den Eingang ins Allerheiligste offen zu finden. 55

RE 1190 (64) = GR 162; vgl. WW 263 (6,37). RE II 66 (2) = GR 478. 57 RE 1272 (6) = GR 468. 58 BRI 187 (72). 59 RE 1190 (4) = GR 162; ebenso BL 268 (2, Zug. 12); WW 122 (3, Eusebeia); 167 (5,2); 182 (5,24); 195 (5,38); 209 (5,2. Anh. 10) = BRholl237 (101); WW 264 (6,37); BR 1188 (72); BRholl 149 (63); RE 1274 (6); II 66 (2); 135 (3) u. bes U A 163 (11,1.16). 60 BL 268 (2, Zug. 12). 56

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Aber dieser Weg ist leicht geworden, denn Christus hat ihn uns „lieblich und liebenswürdig" gemacht 61 . Durch ihn hat das Allerheiligste seine U n nahbarkeit verloren. Er läßt uns wissen, „daß der heilige Gott nicht schrecklich ist denen, die ihn im Glauben suchen und zu ihm nahen" 62 . Dennoch fuhren Verleugnung und Gebet nicht von sich aus zum Ziel. Es ist immer noch ein Akt besonderer Zuwendung Gottes, wenn das Innere sich wirklich aufschließt. Sojedenfalls deutet Tersteegen seine Gebetserfahrung: Das Gebet führt ihn lediglich bis an den „Pfosten" jener Tür zum Allerheiligsten. Dort muß er warten. „der Herr (gibt) eben nicht allemal einen klaren und offenen Eingang ins Heiligthum . . ," 63

Im Gegenteil: meist geschieht es, daß wir nicht hineingehen können und „am Türlein wachen" müssen 64 . Es ist immer noch ausschließlich göttliches Tun, wenn sich „das Thürlein" wirklich öffnet. U m dies zu verdeutlichen, bleibt es häufig verschlossen: „Wenn uns Gott das Thürlein öffnet, dann ist Gebeth und Einkehr leicht und süß; da werden wir leicht vermessen, und meynen, wir könntens, wenn wir wollten: dann schleußt aber Gott das Thürlein zu, nicht, damit wir nun weglaufen, sondern als gute Kinder, vor der Thür wartend, liegenbleiben sollen." 65

Christus hat zwar den Zugang ein für allemal aufgeschlossen, aber die Tür steht nicht einfach offen, im Gegenteil: das Sich-Öffnen der Tür ist etwas, auf das immer wieder neu gewartet werden muß. „Mit friedsamer Demuth und Sanftmuth müssen wir uns . . . zum innern Pfortchen der göttlichen Erbarmungen hinlegen, ob es dem Herrn etwa gefiel, uns aufzuthun . . ," 66

Bis zu diesem Punkt kann die Gebetsübung von sich aus fuhren. Sie stellt den Beter wie vor eine solche Tür. Hierauf zielen die vielen Anleitungen Tersteegens. Die ganze Übung der Gegenwart Gottes verdichtet sich zu diesem Bild. An den Pfosten seiner Tür soll der Beter in kindlichem Sinn warten, bis der Herr ihn in sein Heiligtum einnimmt 6 7 . Denn Beten ist fur ihn eigentlich nichts anderes, als dort „auf unserm Posten" auszuhalten 68 und wie ein „geistlicher Priester Tag und Nacht seiner Hut (zu) w a r t e n . . ," 6 9 . 61

65 RE 1273 (6) = GR 469. BR IV 30 (13). RE II 67 (2) = GR 479. « BR II 163 (53). 63 BR III 406 (134).