Die Metaphysikkritik Gerhard Ebelings und ihre Vorgeschichte 9783161543586, 9783161543579

In der Theologie war, über den größten Teil ihrer Geschichte, die Verwendung der Metaphysik so selbstverständlich wie he

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German Pages 351 [352] Year 2016

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Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungen
Kapitel 1: Einleitung
I. Die Fragestellung
II. Literaturüberblick
III. Ziel und Aufbau der Untersuchung
Teil 1: Evangelische Metaphysikkritik vor Ebeling
Kapitel 2: Albrecht Ritschl
I. Vorformen der Metaphysikkritik
1. Natürliche Religion
2. Natürliche Gotteserkenntnis
3. Die Unterscheidung der Religion vom theoretischen Erkennen
II. Ritschls Metaphysikverständnis
1. Metaphysik als Ontologie
2. Natur und Geist
3. Gott in der aristotelischen Metaphysik
4. Metaphysik und natürliche Theologie
5. Metaphysik als Erkenntnistheorie
a) Ontologie als Erkenntnistheorie
b) Ritschls Metaphysik
6. Metaphysikkritik
a) »Schlechte Metaphysik«
b) »Platonismus«
7. Metaphysik als Kosmologie
8. Welche Metaphysik?
III. Metaphysik in der Theologie
1. Die Verwechslung von Metaphysik und Religion
2. Der hermeneutische Aspekt
a) Die ›Absolutheit‹ Gottes
b) Die metaphysische Auslegung von Schriftstellen
c) Die Allgemeinbegriffe
d) Der Streit über die Erbsünde
3. Heillose Gotteserkenntnis
4. Metaphysik für die Theologie
IV. Ritschl und Luther
1. Der Einfluss der reformatorischen Theologie auf Ritschls Ansatz
2. Metaphysikkritik und Luther
V. Zusammenfassung
Kapitel 3: Wilhelm Herrmann
I. Die Metaphysikschrift
1. Begriffsklärungen
a) Metaphysik
b) Religion
c) Abgrenzung von Religion und Metaphysik
d) Die theologische Funktion der Metaphysik
2. Das Problem der Freiheit des Menschen
a) Das ethisch-religiöse Verständnis von Freiheit und Abhängigkeit
b) Die Bedeutung der religiösen Erfahrung
c) Konsequenzen für die Theologie
3. Metaphysik in der Christologie
4. Zusammenfassung
II. Metaphysik in der Religionsschrift
1. Das reine Erkennen
2. Das Naturerkennen
3. Die Metaphysik
a) Der zeitgebundene Charakter
b) Der praktische Charakter
4. Metaphysikkritik
a) Die bleibende Berechtigung
5. Die Religion
a) Die Denkbarkeit des Weltganzen
b) Der Bezug der Religion auf das innere Leben des Menschen
6. Religion und Metaphysik
a) Der Konflikt zwischen beiden
b) Unterschiedliche Zugänge zur Wirklichkeit
7. Die Verwendung der Metaphysik in der Theologie
a) Die traditionelle Verwendung der Metaphysik
b) Die bleibende Möglichkeit in der Gegenwart
c) Das berechtigte Anliegen
III. Der Beweis des Glaubens in der Religionsschrift
1. Die Konstitution der Persönlichkeit durch das Sittengesetz
2. Der Dienst des Sittengesetzes für die Religion
3. Der Dienst der Religion für die Sittlichkeit
4. Die Allgemeingültigkeit der Religion
5. Die Anbindung des Glaubens an das Leben
6. Die Gewissheit aus der Offenbarung
7. Der objektive Beweis des Glaubens
8. Zusammenfassung
IV. Die Metaphysikkritik der späten Schriften
1. Die Gliederung der Wirklichkeit
2. Die Unerreichbarkeit des Glaubens für das wissenschaftliche Welterkennen
3. Der hermeneutische Aspekt
4. Konsequenzen für die Konzeption der Theologie
V. Der Weg zur Religion
1. Die sittliche Not
2. Die Wende
3. Herrmanns Glaubensbegriff
4. Die bedingte Allgemeingültigkeit
5. Zusammenfassung
VI. Herrmann und Luther
1. Die Metaphysikschrift
2. Die Religionsschrift
3. Die Ausweitung des Bezuges im Verkehr
a) Herrmanns Quellenbasis
b) Reformatorische Legitimation
VII. Zusammenfassung
Kapitel 4: Rudolf Bultmann
I. Religion und Wirklichkeit in den frühen Arbeiten
1. Dualistisches Wirklichkeitsverständnis
a) Zwei Zugänge zur Wirklichkeit
b) Dualismus
c) Metaphysikkritisches
2. Religion als Erleben des »ganz Anderen«
a) Das Verständnis der Jenseitigkeit
b) Das Erleben
3. Das Verhältnis der Religion zur Welt
a) Die Bedeutung der Kultur für die Religion
b) Die Bedeutung der Ethik für die Religion
4. Zusammenfassung
II. Die Kritik an der natürlichen Theologie
1. Metaphysik und natürliche Theologie
2. Bultmanns Verständnis von traditioneller natürlicher Theologie
3. Die Funktion der natürlichen Theologie in der alten Dogmatik
4. Kritik der natürlichen Theologie
5. Die Abstraktion von der Existenz in der Wissenschaft
III. Bultmanns Alternative
1. Die Bestimmung der Theologie
a) Die Aufgabe der Theologie
b) Theologie als Wissenschaft
c) Theologie als existentiale Wissenschaft
2. Bultmanns natürliche Theologie
a) Die Frage des Verstehens
b) Außerchristliche Vorstellungen von Gott
c) Das Verhältnis von Theologie und Philosophie
d) Zusammenfassung
3. Die Wahrheit des Glaubens
a) Die Wende als neues Selbstverständnis
b) Die Begründung des Glaubens
4. Zusammenfassung
IV. Bultmann und Luther
1. Bultmanns Bezug auf Luther
2. Der Hintergrund
V. Zusammenfassung
Kapitel 5: Abschluss der Vorgeschichte
I. Metaphysikbegriff
II. Die Funktion der Metaphysik in der Theologie
III. Metaphysikkritik
IV. Die Alternative zur Metaphysik
V. Luther
Teil II: Gerhard Ebelings Metaphysikkritik
Kapitel 6: Die Metaphysikkritik in den frühen Arbeiten
I. Synonyme
II. Der zeitgeschichtliche Kontext
1. Zeitliche Einordnung der Metaphysikkritik Ebelings
2. Der Entmythologisierungsstreit
a) Die Objektivität der »Heilstatsachen«
b) Der Vorwurf der Metaphysik
c) Heideggers Metaphysikkritik
3. Ebelings Position in der Auseinandersetzung
a) Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode
b) Das Subjekt-Objekt-Schema in der Theologie
4. Zusammenfassung
III. Aspekte des Metaphysikverständnisses
1. Metaphysik als Kausaldenken
2. Metaphysik als rationales Fundament der Theologie
a) Gotteserkenntnis als Vernunftwissen
b) Ansichsein und scholastischer Naturbegriff
c) Gott als prima causa und causa sui
d) Der Mensch als Ursprung seiner Werke
e) Das objektivierende Denken der Neuzeit
3. Metaphysik als überholte Philosophie
4. Die Ungeschichtlichkeit der Metaphysik
5. Die Situationsvergessenheit der Metaphysik
a) Das Problem der Neutralität
6. Metaphysik als heillose Gotteserkenntnis
a) Theologia gloriae und theologia crucis
b) Das Problem der Gewissheit
IV. Zusammenfassung
Kapitel 7: Ebelings Alternative zur Metaphysik in der Theologie
I. Die angemessene Philosophie
1. Das Anliegen hinter der theologischen Verwendung der Metaphysik
2. Die Bedeutung der Philosophie bei Ebeling
a) Verifikation des Glaubens
b) Auslegung des Gesetzes
3. Ergebnis
II. Der Gegenstand der Theologie
1. Die Unterscheidung von Glaube und Welterkenntnis
2. Die Beziehung von Gott und Mensch
a) Das subiectum theologiae bei Luther
3. Ergebnis
III. Die Aufgabe der Theologie
1. Zeitgeschichtlicher Kontext
2. Die Situation der Gegenwart
3. Der Streit als Aufgabe
a) Streit um das Evangelium
b) Streit um die Zeit
c) Streit um Gott
4. Ergebnis
IV. Hermeneutische Theologie
1. Gotteslehre als Sprachproblem
2. Das Thema »Gott und Wort«
3. Sprache und Existenz
a) Das signifikative Sprachverständnis
b) Sprache und Verantwortung
c) Die Macht des Wortes
d) Die Bestimmung des Menschen von der Sprache her
e) Die prinzipientheologische Bedeutung des ethischen Problems
f) Gott als Mittel zur Bezeichnung der menschlichen Situation
g) Gott als Geheimnis der Wirklichkeit
4. Die Verifikation des Wortes »Gott« durch das Wort Gottes
a) Das Wort Gottes
b) Die Notwendigkeit des Wortes »Gott« für den gottlosen Menschen
5. Ergebnis
V. Die Gewissheit aus dem Glauben
1. Jesus als Grund des Glaubens
2. Der Glaube als »Grundakt der Existenz«
3. Ergebnis
VI. Zusammenfassung
VII.Ausblick auf die Dogmatik des christlichen Glaubens
1. Zum Aufbau der Dogmatik
2. Der Lebensbezug des Glaubens
3. Sprache und Streit um Gott
4. Die Verifikation als Programm der Dogmatik
5. Zusammenfassung
Kapitel 8: Schluss
I. Rückblick
II. Einordnung und Ausblick
Anhang
Literatur
1. Gerhard Ebeling
Aufsatzschlüssel
Monographien, Sammelbände, Sonstiges
2. Albrecht Ritschl
3. Wilhelm Herrmann
4. Rudolf Bultmann
5. Weitere Quellen und Sekundärliteratur
Personen
Sachen
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Die Metaphysikkritik Gerhard Ebelings und ihre Vorgeschichte
 9783161543586, 9783161543579

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Beiträge zur historischen Theologie Herausgegeben von

Albrecht Beutel

180

Ruth Görnandt

Die Metaphysikkritik Gerhard Ebelings und ihre Vorgeschichte

Mohr Siebeck

Ruth Görnandt, geboren 1968; Studium der Theologie und Romanistik; 1996–98 Vikariat; seit 1998 Dozentin für die evangelischen Klöster und Stifte in Niedersachsen; 2002–2004 Kandidatin des Predigtamts an der St. Stephanus Militärkirche in Munster/Niedersachsen; 2006–2007 Pastorin in Dörverden/Niedersachsen.

Zugleich Dissertation an der Humboldt-Universität zu Berlin (2015). e-ISBN PDF 978-3-16-154358-6 ISBN 978-3-16-154357-9 ISSN 0340-6741 (Beiträge zur historischen Theologie) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Großbuchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde von der Theologischen Fakultät der Humboldt Universität zu Berlin im Sommersemester 2015 als Dissertation angenommen. Für den Druck wurde der Text geringfügig überarbeitet. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Professor Dr. Johannes Zachhuber in Oxford. Er hat das Entstehen der Arbeit mit großartiger Unterstützung begleitet. Besonders seine klare und ordnende Sicht, seine konstruktive Kritik sowie seine ermutigende Art haben es mir ermöglicht, das komplexe Material zu bewältigen und strukturierend zu reflektieren. Für die langen, ertragreichen Gespräche in Berlin und Oxford sowie alle weitere Förderung auf meinem akademischen Weg bin ich ihm sehr verbunden. Ebenso möchte ich meinem Betreuer an der Humboldt Universität und Erstgutachter, Professor Dr. Notger Slenczka, herzlich danken. Seine kompetenten und wohlwollenden Kommentare haben mir vielfach den Blick geschärft und geholfen, wichtige Aspekte zu präzisieren. Auch ihm bin ich für seine bereitwillige Unterstützung im akademischen Bereich über die Arbeit hinaus sehr dankbar. Dem Herausgeber Professor Dr. Albrecht Beutel sowie Herrn Dr. Henning Ziebritzki vom Verlag Mohr Siebeck danke ich für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe der Beiträge zur Historischen Theologie, die mich auch deshalb gefreut hat, weil Gerhard Ebeling selbst diese Reihe nach dem Zweiten Weltkrieg wieder begründet und herausgegeben hat. Für die freundliche Betreuung bei der Drucklegung des Buches danke ich Frau Rebekka Zech. Für die unkomplizierte und großzügige Gewährung von Druckkostenzuschüssen danke ich meiner Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Union evangelischer Kirchen in der EKD (UEK) sowie der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburgschlesische Oberlausitz. Für allen Rückhalt im privaten Bereich danke ich meiner Familie und meinen Freunden, besonders Frau Dr. Erika Grünewald in Hamburg, die mit mir die Herausforderungen aus der seltenen Kombination von Freiberuflerin, Mutter und Wissenschaftlerin teilte, mit Ermutigungen nicht sparte und stets ein offenes Ohr für mich hatte. Abingdon (Oxfordshire), im März 2016

Ruth Görnandt

Inhaltsverzeichnis Vorwort .........................................................................................

V

Abkürzungen .................................................................................. XII Kapitel 1: Einleitung .........................................................................

1

I. Die Fragestellung .................................................................. II. Literaturüberblick ................................................................. III. Ziel und Aufbau der Untersuchung..........................................

1 5 9

Teil 1

Evangelische Metaphysikkritik vor Ebeling Kapitel 2: Albrecht Ritschl .................................................................. 15 I.

Vorformen der Metaphysikkritik............................................. 1. Natürliche Religion .......................................................... 2. Natürliche Gotteserkenntnis .............................................. 3. Die Unterscheidung der Religion vom theoretischen Erkennen ........................................................................ II. Ritschls Metaphysikverständnis ............................................... 1. Metaphysik als Ontologie .................................................. 2. Natur und Geist ............................................................... 3. Gott in der aristotelischen Metaphysik................................. 4. Metaphysik und natürliche Theologie.................................. 5. Metaphysik als Erkenntnistheorie ....................................... 6. Metaphysikkritik ............................................................. 7. Metaphysik als Kosmologie ................................................ 8. Welche Metaphysik? ......................................................... III. Metaphysik in der Theologie................................................... 1. Die Verwechslung von Metaphysik und Religion................... 2. Der hermeneutische Aspekt ...............................................

16 16 17 19 21 22 23 24 26 27 30 33 34 37 38 41

VIII

Inhaltsverzeichnis

3. Heillose Gotteserkenntnis.................................................. 4. Metaphysik für die Theologie ............................................. IV. Ritschl und Luther ................................................................ 1. Der Einfluss der reformatorischen Theologie auf Ritschls Ansatz 2. Metaphysikkritik und Luther ............................................. V. Zusammenfassung .................................................................

48 52 53 54 58 59

Kapitel 3: Wilhelm Herrmann............................................................. 62 I.

II.

III.

IV.

V.

Die Metaphysikschrift ........................................................... 1. Begriffsklärungen ............................................................. 2. Das Problem der Freiheit des Menschen ............................... 3. Metaphysik in der Christologie........................................... 4. Zusammenfassung ............................................................ Metaphysik in der Religionsschrift........................................... 1. Das reine Erkennen .......................................................... 2. Das Naturerkennen .......................................................... 3. Die Metaphysik................................................................ 4. Metaphysikkritik ............................................................. 5. Die Religion .................................................................... 6. Religion und Metaphysik................................................... 7. Die Verwendung der Metaphysik in der Theologie ................ Der Beweis des Glaubens in der Religionsschrift ........................ 1. Die Konstitution der Persönlichkeit durch das Sittengesetz ..... 2. Der Dienst des Sittengesetzes für die Religion ....................... 3. Der Dienst der Religion für die Sittlichkeit ........................... 4. Die Allgemeingültigkeit der Religion................................... 5. Die Anbindung des Glaubens an das Leben .......................... 6. Die Gewissheit aus der Offenbarung ................................... 7. Der objektive Beweis des Glaubens...................................... 8. Zusammenfassung ............................................................ Die Metaphysikkritik der späten Schriften ................................ 1. Die Gliederung der Wirklichkeit......................................... 2. Die Unerreichbarkeit des Glaubens für das wissenschaftliche Welterkennen................................................................... 3. Der hermeneutische Aspekt ............................................... 4. Konsequenzen für die Konzeption der Theologie .................. Der Weg zur Religion ............................................................ 1. Die sittliche Not............................................................... 2. Die Wende ...................................................................... 3. Herrmanns Glaubensbegriff............................................... 4. Die bedingte Allgemeingültigkeit ........................................ 5. Zusammenfassung ............................................................

63 65 72 75 77 78 78 79 81 83 85 87 90 94 94 96 97 99 100 101 102 104 106 107 108 109 110 111 112 113 116 118 119

Inhaltsverzeichnis

IX

VI. Herrmann und Luther ........................................................... 1. Die Metaphysikschrift....................................................... 2. Die Religionsschrift .......................................................... 3. Die Ausweitung des Bezuges im Verkehr............................... VII. Zusammenfassung .................................................................

119 120 122 124 126

Kapitel 4: Rudolf Bultmann ................................................................ 130 I.

II.

III.

IV.

V.

Religion und Wirklichkeit in den frühen Arbeiten ..................... 1. Dualistisches Wirklichkeitsverständnis................................. 2. Religion als Erleben des »ganz Anderen« .............................. 3. Das Verhältnis der Religion zur Welt ................................... 4. Zusammenfassung ............................................................ Die Kritik an der natürlichen Theologie ................................... 1. Metaphysik und natürliche Theologie.................................. 2. Bultmanns Verständnis von traditioneller natürlicher Theologie ........................................................................ 3. Die Funktion der natürlichen Theologie in der alten Dogmatik........................................................................ 4. Kritik der natürlichen Theologie......................................... 5. Die Abstraktion von der Existenz in der Wissenschaft............ Bultmanns Alternative ........................................................... 1. Die Bestimmung der Theologie .......................................... 2. Bultmanns natürliche Theologie ......................................... 3. Die Wahrheit des Glaubens ................................................ 4. Zusammenfassung ............................................................ Bultmann und Luther ............................................................ 1. Bultmanns Bezug auf Luther .............................................. 2. Der Hintergrund .............................................................. Zusammenfassung .................................................................

131 131 134 137 139 141 142 143 144 145 147 150 150 153 162 164 166 166 168 170

Kapitel 5: Abschluss der Vorgeschichte.................................................... 173 I. II. III. IV. V.

Metaphysikbegriff ................................................................. Die Funktion der Metaphysik in der Theologie.......................... Metaphysikkritik .................................................................. Die Alternative zur Metaphysik .............................................. Luther .................................................................................

173 174 175 176 177

X

Inhaltsverzeichnis

Teil 2

Gerhard Ebelings Metaphysikkritik Kapitel 6: Die Metaphysikkritik in den frühen Arbeiten ............................ 181 I. Synonyme............................................................................ 182 II. Der zeitgeschichtliche Kontext ................................................ 183 1. Zeitliche Einordnung der Metaphysikkritik Ebelings ............. 184 2. Der Entmythologisierungsstreit.......................................... 185 3. Ebelings Position in der Auseinandersetzung ........................ 194 4. Zusammenfassung ............................................................ 200 III. Aspekte des Metaphysikverständnisses...................................... 201 1. Metaphysik als Kausaldenken ............................................. 202 2. Metaphysik als rationales Fundament der Theologie .............. 206 3. Metaphysik als überholte Philosophie.................................. 219 4. Die Ungeschichtlichkeit der Metaphysik .............................. 221 5. Die Situationsvergessenheit der Metaphysik.......................... 224 6. Metaphysik als heillose Gotteserkenntnis ............................. 231 IV. Zusammenfassung ................................................................. 236 Kapitel 7: Ebelings Alternative zur Metaphysik in der Theologie ................. 240 I.

Die angemessene Philosophie .................................................. 1. Das Anliegen hinter der theologischen Verwendung der Metaphysik ..................................................................... 2. Die Bedeutung der Philosophie bei Ebeling .......................... 3. Ergebnis.......................................................................... II. Der Gegenstand der Theologie ................................................ 1. Die Unterscheidung von Glaube und Welterkenntnis ............. 2. Die Beziehung von Gott und Mensch .................................. 3. Ergebnis.......................................................................... III. Die Aufgabe der Theologie ..................................................... 1. Zeitgeschichtlicher Kontext................................................ 2. Die Situation der Gegenwart .............................................. 3. Der Streit als Aufgabe ....................................................... 4. Ergebnis.......................................................................... IV. Hermeneutische Theologie ..................................................... 1. Gotteslehre als Sprachproblem ........................................... 2. Das Thema »Gott und Wort« ............................................. 3. Sprache und Existenz ........................................................ 4. Die Verifikation des Wortes »Gott« durch das Wort Gottes ..... 5. Ergebnis..........................................................................

241 241 244 251 251 252 253 256 257 257 259 261 265 266 266 267 269 283 288

Inhaltsverzeichnis

XI

V. Die Gewissheit aus dem Glauben ............................................. 1. Jesus als Grund des Glaubens ............................................. 2. Der Glaube als »Grundakt der Existenz« .............................. 3. Ergebnis.......................................................................... VI. Zusammenfassung ................................................................. VII. Ausblick auf die Dogmatik des christlichen Glaubens .................... 1. Zum Aufbau der Dogmatik ................................................ 2. Der Lebensbezug des Glaubens........................................... 3. Sprache und Streit um Gott................................................ 4. Die Verifikation als Programm der Dogmatik........................ 5. Zusammenfassung ............................................................

290 291 294 295 295 298 298 299 301 304 307

Kapitel 8: Schluss .............................................................................. 308 I. Rückblick ............................................................................ 308 II. Einordnung und Ausblick ...................................................... 310

Anhang Literatur ......................................................................................... 319 Personen ......................................................................................... 331 Sachen ............................................................................................ 334

Abkürzungen CG DH GuV KD KdU KpV KrV LuSt PU RuV1−3 ScG STh SuZ TLP TuM TuV WGT WuG

Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube Heinrich Denzinger, Enchridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum Rudolf Bultmann, Glaube und Verstehen Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft Gerhard Ebeling, Lutherstudien Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen Albrecht Ritschl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, 1.–3. Aufl. Thomas von Aquin, Summa contra gentiles Thomas von Aquin, Summa Theologiae Martin Heidegger, Sein und Zeit Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus Albrecht Ritschl, Theologie und Metaphysik Gerhard Ebeling, Theologie und Verkündigung Gerhard Ebeling, Wort Gottes und Tradition Gerhard Ebeling, Wort und Glaube

Kapitel 1

Einleitung I.

Die Fragestellung

Dass die Theologie sich in ihrer Arbeit der Metaphysik1 zu bedienen habe, war über viele Jahrhunderte mit ihren sich ständig verändernden metaphysischen Systemen so selbstverständlich, wie es heute, insbesondere im Raum der deutschsprachigen evangelischen Theologie, die Auffassung über die Nutzlosigkeit oder sogar Schädlichkeit der Metaphysik in der Theologie ist.2 Nun ist nicht immer ganz klar, ob die Aufnahme der »Metaphysik« bereits den Apologeten der Alten Kirche zuzusprechen ist – das hängt davon ab, ob man das, was diese damals rezipierten, bereits als »Metaphysik« versteht oder ob es sich nicht allgemeiner einfach um die zeitgenössische Philosophie handelt. In jedem Fall verwendet spätestens die mittelalterliche Theologie metaphysische Begriffe, Unterscheidungen und Argumente. An der Schwelle der Neuzeit finden sich schließlich sogar explizite Begründungen darüber, dass Theologie die Metaphysik für ihre Arbeit benötigt. So sieht sich etwa Francisco Suárez (1548–1617) gezwungen, seine Arbeit an theologischen Themen zu unterbrechen, um in den Disputationes Metaphysicae die Metaphysik als für das theologische Erkennen unverzichtbare Grundlage auszuarbeiten: Inter omens autem naturales scientiae, ea, quae prima omnium est, et nomen primae philosophiae obtinuit, sacrae et supernaturali theologiae praecipue ministrat. . . . Ita enim haec principia et veritates metaphysicae cum theologicis conclusionibus ac discursibus cohaerent, ut si illorum scientia ac perfecta cognitio auferatur, horum etiam scientiam nimium labefactari necesse sit.3 1 Ich benutze die Bezeichnung »Metaphysik« hier zunächst als Schlagwort. Bedenkt man, dass die Metaphysik traditionell einen der Hauptzweige der Philosophie bildet, so ist klar, dass die Auffassung über ihren genauen Inhalt so vielfältig und wandelbar ist, wie die Philosophie selbst. Dazu kommt, dass das Wort »Metaphysik« nicht nur zur Bezeichnung dieser philosophischen Disziplin gebraucht wird, sondern teils im engeren Sinn die Schrift des Aristoteles, teils in einem unspezifischeren Sinn die philosophische oder so genannte »natürliche« Gotteserkenntnis meint. Wer die Bezeichnung »Metaphysik« verwendet, muss deshalb angeben, was er darunter versteht – wie umgekehrt stets genau zu beachten ist, was ein Autor meint, wenn er »Metaphysik« sagt. 2 S. etwa JÜNGEL, z. B. 49f. 138–146 oder SCHNEIDER-FLUME, 15. 59. 154. 189f. 3 SUÁREZ, Prooemium, 1.

2

1. Kapitel: Einleitung

Dieser Auffassung ist neben der römisch-katholischen Theologie auch die protestantische Orthodoxie, so dass die klassische Gestalt lutherischer und reformierter Theologie durch eine bewusste Aufnahme der Metaphysik geformt ist.4 Im Gegensatz dazu stehen die systematisch-theologischen Entwürfe in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter dem wirkmächtigen Einfluss der entschiedenen Verwerfung jeglicher »natürlichen Theologie«5 durch die dialektische Theologie und besonders Karl Barth, und sehen deshalb in der Regel nicht einmal mehr die Notwendigkeit, die Frage nach der Metaphysik überhaupt zu thematisieren.6 Auch das Werk von Gerhard Ebeling ist durch die Ablehnung der Metaphysik geprägt, allerdings findet sich bei ihm noch eine explizite Kritik an ihrer Verwendung in der Theologie, deren Schärfe angesichts des allgemeinen und selbstverständlichen Verzichts auf Metaphysik schon wieder überrascht. In seiner Dogmatik des christlichen Glaubens von 1979 kritisiert Ebeling die »Situationsvergessenheit metaphysischer Gotteslehre«, die in der »keimfreien Atmosphäre der Widerspruchslosigkeit« entworfen sei. Seine »Bedenken« an der »metaphysischen Infiltration der klassischen dogmatischen Gotteslehre« haben ihren Grund in der durch die Metaphysik bedingten »Ausklammerung der faktischen Situation des Redens über Gott«.7 Die »metaphysische Gotteslehre« setze »in der Widerspruchslosigkeit eines monotheistischen Gottesgedankens« an und müsse »erst wieder auf ihren Erfahrungshintergrund hin aufgebrochen werden«. Ebeling zufolge habe die »metaphysische Orientierung an der simplicitas Gottes« es der christlichen Gotteslehre »schwer« gemacht, die »Widersprüchlichkeit« der Erfahrung Gottes zu integrieren.8 Die Vorstellung von Gott als causa sui, die Ebeling als Zentrum der metaphysischen Gotteslehre betrachtet, sei »völlig unzureichend, wenn nicht irreführend, gemessen an dem genuinen religiösen Gebrauch des Wortes Gott«.9 Er führt die »metaphysische Gottesidee« auf eine »Anleihe bei der Religion« zurück, wobei sie »im Gegensatz zu dieser das Sein Gottes nicht als Personsein« erfassen könne.10 Ebenso wenig sei dem »metaphysischen Denken« die Anwendung des »Lebensbegriffes« auf Gott möglich, sondern erst die »biblische Art, von Gott zu 4

S. dazu SPARN, Wiederkehr, bes. 93–201. Die Begriffe »natürliche Theologie« und Metaphysik werden besonders in der Literatur des 20. Jahrhunderts oft synonym gebraucht. Dass beide eigentlich und ebenso in dem hier untersuchten Traditionshintergrund Ebelings zwei verschiedene Sachverhalte bezeichnen, wird in den folgenden Kapiteln deutlich werden – und damit auch die Ursache für manche Fehlurteile in der Sekundärliteratur zu den hier besprochenen Autoren. 6 Dies gilt vor allem für den Bereich der deutschsprachigen evangelischen Theologie nach dem zweiten Weltkrieg, in der positive Aufnahmen der Metaphysik wie bei Wohlfahrt Pannenberg oder neuerdings Hermann Deuser vereinzelte Ausnahmen darstellen. 7 EBELING, Dogmatik I, 168. 8 EBELING, Dogmatik I, 171f. 9 EBELING, Dogmatik I, 185. 10 EBELING, Dogmatik I, 227. 5

I. Die Fragestellung

3

reden«, könne Gott wirklich Leben zusprechen.11 Auch wenn Ebeling betont, dass er das »Stichwort(. . . ) metaphysisch« nicht als »Schimpfwort« verwenden und auch keine »Pauschalkritik« an der theologischen Verwendung der Metaphysik üben will,12 so ist doch sein kritischer Standpunkt gegenüber einer Verwendung der Metaphysik in der Theologie klar. Ebelings Äußerungen werfen für mich – abgesehen davon, was sie eigentlich genau meinen – zwei grundsätzliche Fragen auf. Zum einen überrascht Ebelings Engagement an diesem Punkt angesichts der bereits erwähnten Tatsache, dass kein Entwurf evangelischer Theologie zur Zeit Ebelings mehr ernsthaft auf die Verwendung der Metaphysik aufgebaut ist. Es erscheint ebenfalls unwahrscheinlich, dass Ebeling hier die römisch-katholische Theologie seiner Zeit vor Augen hat, denn seine Arbeiten zu ökumenischen Themen berühren das Thema der Metaphysik nicht,13 noch diskutiert Ebeling in seiner Auseinandersetzung mit der Metaphysik zeitgenössische römisch-katholische Entwürfe. Außerdem wird ihm, wie gleich noch deutlich werden wird, trotz seiner Metaphysikkritik eine Nähe zur »natürlichen Theologie« nachgesagt. Und wie die oben zitierten Äußerungen deutlich machen, zielt seine Kritik nicht, wie bei Barth gegenüber der »natürlichen Theologie«, auf die Ausklammerung der Christologie, und stellt einen ganz eigenen Typus von Metaphysikkritik dar. Somit stellt sich die Frage, wen oder was Ebeling eigentlich genau unter »Metaphysik« versteht und worauf seine Kritik daran zielt. Zum anderen lässt sich, auch angesichts neuerer Ansätze vorwiegend aus dem römisch-katholischen und angelsächsischen Bereich, die die Metaphysik als notwendig erachten,14 die undiskutierte Selbstverständlichkeit hinterfragen, mit der insbesondere die deutsche protestantische Theologie die jahrhundertelange Verbindung mit der Metaphysik aufgibt. Ebelings explizite Auseinandersetzung mit der theologischen Verwendung der Metaphysik gibt die Gelegenheit zu verstehen, mit welchen Argumenten dies geschieht und welche Auswirkung dies in konzeptioneller Hinsicht hat. Dafür ist zu fragen, welche systematischtheologische Bedeutung und Funktion die Metaphysikkritik für Ebelings Ansatz besitzt. Um beide Frageperspektiven präziser beantworten zu können, ist die Rückfrage nach Ebelings theologischem Hintergrund und seinen Quellen weiterführend. Während die erste Frage eine solche Einordnung bereits von sich aus fordert, wird sich zeigen, dass auch die Bearbeitung der zweiten Fragestellung von ei11

EBELING, Dogmatik II, 356. EBELING, Dogmatik I, 211. 13 Vgl. etwa EBELING, WGT. 14 Vgl. etwa die Enzyklika Fides et ratio von Johannes Paul II., DH 5080, die Beiträge von John Haldane, Stephen T. Davies und Schubert M. Ogden in PHILLIPS/RUHR, den Band von CANDLER/CUNNINGHAM oder für den Bereich der Religionsphilosophie DEUSER, z. B. 14–21. 12

4

1. Kapitel: Einleitung

ner Kontextualisierung des Ebelingschen Ansatzes profitiert. Eine theologiegeschichtliche Einordnung stößt allerdings auf die Schwierigkeit, dass Ebeling selbst in seinen Arbeiten nur wenig direkte Hinweise gibt und ihr eher skeptisch gegenüber steht. Er ist vor allem daran interessiert, seinen Ansatz mit der Theologie Martin Luthers in Verbindung zu bringen: Ich gehöre, wie mir scheint, zu den Theologen, die eine Reihe verschiedener Wurzeln haben und deswegen schwer überhaupt einem Lehrer als Schüler zuzuordnen sind. Auch die mir immer wieder zugeschriebene Bultmann-Schülerschaft trifft nur in sehr eingeschränktem Maße zu. Wenn ich eines Schüler bin, dann am ehesten Luthers.15

Die Ablehnung der Metaphysik in der Theologie verbindet Ebeling ebenfalls mit Luther.16 Nun soll in dieser Untersuchung die Bedeutung Luthers für die Theologie Ebelings nicht in Abrede gestellt werden. Aber es ist doch zu beachten, dass das eigene Denken immer im Horizont der Zeit und das heißt in einem geistigen Kontext aus einem bestimmten Weltbild, Problembewusstsein, Werten und Erfahrungen geformt ist. Dies gilt ebenso für wissenschaftliches Denken wie das theologische, dessen Grundansichten und Fragestellungen unter Lehrern und Persönlichkeiten der eigenen Zeit gebildet werden. Auch Ebelings Rückgriff auf Luther ist in den Zusammenhang seiner Zeit eingebettet, schon deshalb, weil er im Gespräch mit einer bestehenden und vorliegenden Lutherforschung erfolgt, zum anderen, weil der Blick auf historische Phänomene stets durch die eigene Gegenwart geprägt ist. Ein näherer Blick in die deutsche protestantische Theologie vor Ebeling zeigt, dass die Kritik an der Metaphysik in Verbindung mit einer Berufung auf Luther beziehungsweise die reformatorische Theologie schon einmal begegnet, nämlich im theologischen Programm der Ritschl-Schule. Diese Bewegung war nicht nur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von großer Bedeutung, sondern hat auch die Theologie im 20. Jahrhundert nachhaltig beeinflusst – und zwar dadurch, dass die bedeutendsten Vertreter der »Dialektischen Theologie« ihre Wurzeln in der Ritschl-Schule hatten. Dies macht deutlich, dass eine Verbindung zwischen Ebeling und dieser Linie der deutschen protestantischen Theologie nicht willkürlich gezogen wird. Wie sich zeigen wird, ist der Einfluss Rudolf Bultmanns auf Ebelings Denken doch sehr wichtig. Bultmann selbst wiederum war ein Schüler Wilhelm Herrmanns, von dem er ebenfalls grundlegende Einsichten übernommen hat. Und Wihelm Herrmann schließlich war einer der bedeutendsten Schüler Albrecht Ritschls. Ritschl nun gilt allgemein als der große

15

EBELING, WuG IV, 647. RGG VI [12], 826; WuG II [10], 96; Luther, 92–99; Dogmatik I, 168. 171. Die häufig verwendeten Aufsätze Ebelings sind zur besseren Orientierung nummeriert und im Aufsatzschlüssel S. 319 aufgelistet. 16

II. Literaturüberblick

5

Metaphysik-Kritiker der deutschen evangelischen Theologie17 und ist zudem bekannt für seinen Rückgriff auf die reformatorische Theologie. Ebenso findet sich bei Herrmann sowohl eine entschiedene Verwerfung der Metaphysik in der Theologie sowie eine Berufung auf Luther, was schließlich auch bei Bultmann begegnet, der sich mit dem Problem der »natürlichen Theologie« befasst und seine eigene Theologie in Übereinstimmung mit der reformatorischen Theologie versteht. Ebelings Metaphysikkritik erscheint so gesehen als eingebettet in einen bedeutenden Strom der deutschen protestantischen Theologie. Eine Untersuchung dieses Zusammenhangs und seiner Ideen verspricht damit, auch ein erhellendes Licht auf Ebelings Gedanken zu werfen. Dafür ist zu fragen: Wie und warum ist eine theologische Kritik an der Verwendung der Metaphysik überhaupt entstanden und wie hat sie sich im Laufe der Zeit verändert? Was genau verstehen die Autoren jeweils unter Metaphysik, was sind ihre Einwände gegen sie und ihre theologische Verwendung? Wie versuchen sie, das Problem der Metaphysik in der Theologie zu umgehen? Und welche Verbindung weist die jeweilige Metaphysikkritik zu Luther auf? Die Fragen, die in dieser Arbeit untersucht werden, betreffen also das konkrete Gegenüber und damit das, was Ebeling als »Metaphysik« verwirft, die systematisch-theologische Funktion und Auswirkung der Metaphysikkritik sowie die theologiegeschichtliche Einordnung seiner Metaphysikkritik.

II.

Literaturüberblick

Ebelings Auseinandersetzung mit der Metaphysik ist bisher nicht eingehend und angemessen untersucht worden. Hans Theodor Goebel hat sich zu Beginn der 1970 Jahre mit dem Thema der natürlichen Theologie respektive der Metaphysik bei Ebeling befasst. Allerdings untersucht er nicht den Metaphysikbegriff Ebelings, sondern verfolgt das Ziel, Ebeling eine »Neuaufnahme natürlicher Theologie« nachzuweisen. Goebel kritisiert Ebelings »Rückgriff« auf die Erfahrungswirklichkeit des Menschen als eine »Verbreiterung des ontologischen Fundaments für das Kerygma und den Glauben«. Denn indem Ebeling von dem »Angegangensein« des Menschen von der als Gesetz verstandenen Wirklichkeit ausgehe, beziehe er das Wort Gottes auf eine »sprachontologisch ausgelegte[. . . ] Gewissensstruktur des Menschen«. Und zwar so, dass das Wort Gottes »ontologisch aufgenommene Strukturen des Menschen« ›wahrmache‹. Ebenso wirft er 17

Vgl. etwa BIRKNER, 288–291; PANNENBERG, Grundfragen, 296; RATSCHOW, 4. 80; STANLEY, 6f. 106; NOWAK, 72; SPARN, Ontologische Metaphysik, 9. Es wird sich noch zeigen, dass diese Zuschreibung weniger in Ritschls Schriften als in seiner nicht zuletzt Wilhelm Herrmann zu verdankenden Wirkungsgeschichte begründet ist.

6

1. Kapitel: Einleitung

Ebeling vor, den Gottesbegriff »ontologisch zu explizieren«, indem er Gott und Wirklichkeit im Medium der »Worthaftigkeit« aufeinander beziehe. Eine solche Verbindung der Wirklichkeit mit dem Wort Gottes und dem Gottesbegriff weist nach Goebel die »Struktur metaphysischen Denkens« auf.18 Denn Goebel versteht unter Metaphysik den Versuch, Gott und »Wirklichkeit der Welt als Ganzer« zu erklären, indem sie miteinander in Beziehung gesetzt werden, und zwar unter der Annahme, dass beide erst durch den Bezug aufeinander »zureichend begrifflich erfasst werden können«.19 In diesem Sinne wirft er Ebeling eine »religiös-metaphysische Denkstruktur« vor, weil er die »Wirklichkeit als die ihrem ontologischen Begriff nach auf Gott angelegte und durch sein Wort zu verifizierende« bestimme.20 Auch Ebelings Kritik an der Metaphysik ist in Goebels Verständnis ein Beleg für den metaphysischen Ansatz. Denn Ebeling kritisiere zwar die »Situationsvergessenheit« der Metaphysik, sobald aber an die Stelle der »metaphysisch gedeuteten Welt« die »Existenz des Menschen« trete, stehe einer »Neuaufnahme der traditionellen Gotteslehre« durch Aufnahme ihrer »Intention«, die unter anderem in der Verknüpfung mit der allgemeinen Wirklichkeitserfahrung bestehe, nichts mehr im Weg. Goebel bezeichnet Ebelings Ansatz als »metaphysisches Denken«, weil dieses Denken auch in seiner existentiellen Sprache der metaphysischen Verhältnisbestimmung von erfahrbarer Wirklichkeit und Gott Folge leistet.21

Das Problem an Goebels Untersuchung besteht darin, wie schon angemerkt, dass er nicht Ebelings Metaphysikverständnis untersucht, sondern vielmehr seinen eigenen Begriff zu Grunde legt. Dieser Begriff ist allerdings sehr weit und versteht bereits jede Verbindung von Offenbarung und Wirklichkeit »unter Absehung von Kreuz und Auferstehung«22 als Metaphysik. Das mangelnde Interesse an Ebelings Metaphysikverständnis, das sich sehr viel genauer bestimmen lässt, führt nicht nur dazu, dass Goebel die in diesem Verständnis wichtigen philosophischen und theologiegeschichtlichen Implikationen nicht erfasst, sondern verstellt ihm auch den Blick für Ebelings umfangreiche Metaphysikkritik und ihre Bedeutung für die von dort aus gewonnene Konzeption der Theologie. Eine weitere Studie, die das Thema der »natürlichen Theologie« bei Ebeling genauer untersucht, stammt aus dem Jahr 2001. Christoph Kock verteidigt Ebeling gegen die Vorwürfe Goebels. Er betont, dass Ebeling zwar das Problem 18

GOEBEL, 174f. GOEBEL, 268. 20 GOEBEL, 178. Zu Sinn und Bedeutung der Verifikation bei Ebeling s. u. S. 245–249. 21 GOEBEL, 176. Goebel bezieht sich auf und zitiert Begriffe aus WuG II [16], 277f; zum Begriff der »Situationsvergessenheit« und zur sachgemäßen Interpretation dieser für Ebelings Metaphysikkritik wichtigen Stelle s. u. S. 224–227. 22 GOEBEL, 177. 19

II. Literaturüberblick

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der »natürlichen Theologie« aufnimmt, aber doch »ohne ihren Erkenntnisweg fortzusetzen«, d. h. der Gottesbegriff wird bei ihm eben nicht, wie es dem Weg der Metaphysik entspräche, aus der Erfahrung abgeleitet. Außerdem weist er darauf hin, dass die Dogmatik des christlichen Glaubens klarstellt, wie Ebeling sich den Bezug zur Wirklichkeit genauer denkt. Die dort entfaltete »Ontologie der Relation« ist gerade als Kritik an der »Substanzontologie« der traditionellen Theologie sowie des neuzeitlichen wissenschaftlichen Denkens zu verstehen, die die Wirklichkeit objektiviert und den Menschen auf seine Vernunfttätigkeit reduziert.23 Kock arbeitet heraus, was Ebeling unter »natürlicher Theologie« versteht und welchen Sinn die Aufnahme ihres Anliegens hat, aber auch, worin Ebelings Kritik an ihr besteht. Er legt dabei Ebelings Verständnis zu Grunde, wie es sich erst etwa ab der Dogmatik findet. Hier ist »natürliche Theologie«, anders als in den vorangehenden Aufsätzen, als die Ableitung Gottes aus der Natur oder der Vernunft verstanden, die sich in Reaktion auf die Aufklärung und dem damit zusammenhängenden Verlust der Selbstverständlichkeit Gottes entwickelt hat.24 Zur Darstellung der Kritik Ebelings zieht Kock allerdings auch die Aufsätze heran. Er verweist auf Ebelings Kritik daran, die »Existenz Gottes« zu den so genannten praeambula fidei zu rechnen, die der allgemeinen Vernunft ohne Offenbarung zugänglich sind. Ebeling kritisiere, dass auf diese Weise die Offenbarung beziehungsweise der Glaube als »übernatürliche Ergänzung« der Vernunft behandelt werde, wodurch das soteriologische Wesen aller Gotteserkenntnis, ihre existentielle Dimension und die Tatsache der Strittigkeit Gottes übersehen werden. Begegnung von Wort Gottes und menschlicher Wirklichkeit müsse nach Ebeling nicht als »Wirklichkeitsergänzung« gedacht werden, sondern als »kritische Wirklichkeitsveränderung«. Schließlich verweist er auf Ebelings Ansicht vom »doppelte[n] Recht natürlicher Theologie«, das im Bezug der Theologie zur Erfahrung besteht, nämlich erstens zur außerchristlichen Gottes- und Welterfahrung und zweitens in der Auseinandersetzung mit dem allgemeinen oder wissenschaftlichen Naturverständnis in der Entfaltung der christlichen Schöpfungslehre. Nach Kock geht es Ebeling in der Aufnahme des Anliegens der »natürlichen Theologie« um den für die Theologie notwendigen Erfahrungsbezug.25 Kocks Analyse ist soweit zuzustimmen. Mit Blick auf die Fragestellung der vorliegenden Arbeit ist allerdings zu betonen, dass sie den Bereich der Metaphysik, Ebelings Metaphysikverständnis und seine Metaphysikkritik, weitgehend unberücksichtigt lässt. Das Verständnis der »natürlichen Theologie« im Sinne 23

KOCK, 328f. KOCK, 301f mit Verweis auf EBELING, Dogmatik I, 278f sowie WuG IV, 11. 25 KOCK, 302 mit Verweisen auf WuG I [6], 362. 367; WuG II [13], 388; Dogmatik I, 169. 279; WuG IV, 503. 24

8

1. Kapitel: Einleitung

der Aufklärung findet sich in diesem präzisen Sinn erst etwa ab der Dogmatik. Davor gebraucht Ebeling den Begriff synonym mit metaphysischer oder philosophischer Theologie und Gotteserkenntnis. Dieser Themenkomplex ist es, der in Ebelings früheren Arbeiten, besonders in den Aufsätzen, vor allem präsent ist, und die dort gefundenen Standpunkte sind für den Ansatz insgesamt, wie er später auch die Dogmatik bestimmt, systematisch relevant. Für eine umfassende Klärung von Ebelings Verständnis, Kritik und Funktion der Metaphysik in der Theologie ist Kocks Untersuchung daher nicht ausreichend. Auch die theologischen Wurzeln und der theologiegeschichtliche Hintergrund Ebelings sind bisher nicht eingehend untersucht. Die vorliegenden Untersuchungen zu Ebeling widmen sich systematischen Themen und Fragestellungen. Sie konzentrieren sich deshalb auf die synchrone Ebene, während sie die diachrone, wenn überhaupt, nur gelegentlich streifen. In der Regel folgen sie Ebelings eigenen Hinweisen und verweisen daher in erster Linie auf Luther als den entscheidenden Hintergrund Ebelings, daneben noch auf seine Lehrer Bultmann und Bonhoeffer sowie auf die Einflüsse von Schleiermacher, Fuchs und Heidegger.26 Die – soweit ich sehe – einzige substantiellere theologiegeschichtliche Einordnung Ebelings stammt von Wohlfahrt Pannenberg. In seiner Mainzer Antrittsvorlesung »Die Krise des Ethischen und die Theologie« setzt sich Pannenberg mit Ebelings Vortrag »Die Evidenz des Ethischen und die Theologie« auseinander.27 Bevor er jedoch auf Ebeling eingeht, setzt er ein mit der »ethischen Begründung der Theologie« bei Wilhelm Herrmann (41–43) und stellt Bultmann und Fuchs als deren Nachfolger im 20. Jahrhundert dar (43–45), um von dort aus auf Ebeling zu sprechen zu kommen (45). Seinem Urteil zufolge gehört Ebelings Ansatz in die »ethische Begründung der Theologie in der Schule Ritschls« (46) und ist damit als »Ausdruck einer ganz bestimmten theologischen Tradition« zu verstehen (46f). Ebelings Programm bezeichnet er als eine »Er-

26

Einige Untersuchungen seien exemplarisch genannt: LORENZ untersucht den Zusammenhang von Ebelings Gedanken mit Luther und setzt sie in Beziehung zu Heidegger. Damit überspringt er den unmittelbaren theologiegeschichtlichen Zusammenhang. Dies tut auch GMAINER-PRANZL, 185–198, indem er allein Ebelings Anknüpfungen an Luther nachgeht. HILLER stellt knapp Ebelings »Rückgriff auf Luther und Schleiermacher« dar (105–107), verweist kurz auf Bultmann (109), um dann ein wenig ausführlicher den Einfluss Heideggers (109–115) darzustellen. KISTENBRUEGGE, 35f verzichtet bewusst auf eine theologiegeschichtliche Einordnung Ebelings. PILNEI, 204–207 erwähnt vor allem Fuchs, Bultmann (auch 265– 268) und Bonhoeffer, fokussiert dann aber, Ebelings Selbstauskunft folgend, auf Luther. Ausführlicher stellt er die Nähe von Ebelings Gewissensverständnis zu Emmanuel Hirsch dar (246–249. 258–263) und sieht lediglich einen eingeschränkten Einfluss Heideggers (255f. 299). 27 PANNENBERG, Krise; die folgenden Seitenzahlen im Text beziehen sich auf diesen Abdruck. Ebelings Vortrag ist veröffentlicht in WuG II, 1–55. Zur inhaltlichen Darstellung der Debatte zwischen Pannenberg und Ebeling s. u. S. 275–278.

III. Ziel und Aufbau der Untersuchung

9

neuerung Herrmannscher Gedanken« (48). Ebeling stimmt in seiner Reaktion auf Pannenbergs Antrittsvorlesung der Verbindung seiner Gedanken mit Herrmann zu. Obwohl Pannenberg die Verbindung von Ebeling und Herrmann beziehungsweise der Ritschl-Schule danach noch verschiedentlich anreißt, ist er ihr nicht mehr ausführlicher nachgegangen.28 Die genauere Untersuchung der Verbindung Ebelings zu der »theologischen Tradition« der Ritschl-Schule, zu deren Erben auch Bultmann zu zählen ist, stellt damit immer noch eine unerledigte Aufgabe dar. Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich zwar auf das Thema der Metaphysik, doch selbst in dieser Themenfokussierung wird deutlich werden, wie stark und vielfältig Ebelings Theologie in dieser Strömung der deutschen evangelischen Theologie verankert ist.29

III.

Ziel und Aufbau der Untersuchung

Die Absicht der vorliegenden Untersuchung besteht darin, Ebelings Metaphysikkritik in ihrem tieferen Zusammenhang mit der theologiegeschichtlichen Entwicklung und zeitgenössischen Situation der Theologie verständlich zu machen. Indem Ebelings Gedanken auf diese Weise kontextualisiert werden, möchte ich erstens zeigen, wie Ebelings Verständnis und Kritik der Metaphysik auf einer Ideengeschichte in einem wichtigen Strang deutscher protestantischer Theologie beruhen. Dazu soll die Geschichte der evangelischen Metaphysikkritik von ihrer Entstehung bei Ritschl über ihre Entwicklung bei Herrmann und Bultmann untersucht werden. Daraufhin soll deutlich gemacht werden, wie wichtige Gedanken und Argumente, die Ebeling verarbeitet, in diesem Hintergrund verankert sind und wie sie von daher zu verstehen sind. Außerdem soll dargestellt werden, welcher zeitgenössische Kontext Ebelings Auseinandersetzung bestimmt, so dass erkennbar wird, wen und was Ebeling genau mit seiner Metaphysikkritik vor Augen hat. Zweitens soll herausgearbeitet werden, welche systematisch-theologische Funktion die Metaphysikkritik für Ebelings Ansatz hat. Die Kontextualisierung mit dem theologiegeschichtlichen Zusammenhang hilft dabei auch zu verstehen, dass ein ummetaphysischer Ansatz der Theologie nicht in erster Linie ein Erfordernis der Treue gegenüber der reformatorischen

28

PANNENBERG, Gottesgedanke, 51; Problemgeschichte, 154; Ethik, 142. Die in dieser Arbeit behandelte Frage nach der Metaphysik in der Theologie ist bei Ritschl Teil einer umfassenderen Fragestellung nach dem Wissenschaftscharakter der Theologie. Ritschls theologische Arbeit drehte sich wesentlich um dieses Problem und die hierbei erreichten Standpunkte haben die theologischen Entwürfe der Ritschl-Schule und sogar noch die so genannte Dialektische Theologie geprägt, wenn auch die leitende Fragestellung sich nach etwa 1880 verändert hat; s. dazu ZACHHUBER, Theology, bes. 135–285. 29

10

1. Kapitel: Einleitung

Theologie darstellt, sondern auf konkrete Anforderungen an die Theologie im 19. und 20. Jahrhundert antwortet. Der erste Teil der Untersuchung widmet sich also der Entstehung und Entwicklung einer Metaphysikkritik in der evangelischen Theologie vor Ebeling. Dabei werde ich zeigen, dass die theologiegeschichtliche Linie von Ritschl über Herrmann und Bultmann zu Ebeling nicht nur formal über die jeweiligen Schülerschaften besteht, sondern auch einen engeren inhaltlichen Zusammenhang bildet. Zu Beginn eines jeden Kapitels im historischen Teil werde deshalb ich das jeweilige Lehrer-Schüler-Verhältnis sowie die Bedeutung des jeweiligen Autors für Ebeling beschreiben. Die Untersuchung beginnt mit Albrecht Ritschl, da in der Tat von seinem theologischen Ansatz (wenn auch anders als oftmals angenommen) die entscheidenden Impulse ausgehen, die bei Herrmann und später auch bei ihm selbst zur Formulierung einer Metaphysikkritik führen.30 Die Tatsache, dass Ritschl erst sehr spät eine explizite Auseinandersetzung mit der Metaphysik vorlegt, kann beleuchten, welchen Umständen und Notwendigkeiten sich die Entstehung einer evangelischen Metaphysikkritik verdankt. Da der Begriff »Metaphysik« einer sehr breiten Bedeutungsvielfalt ausgesetzt ist, ist dabei, wie bei allen anderen Autoren auch, zu klären, was genau Ritschl unter dem Begriff versteht und was genau er kritisiert. Und weil Ebeling seine Metaphysikkritik immer wieder mit der reformatorischen Theologie kontrastiert, soll am Ende des Kapitels noch ein kurzer Blick darauf geworfen werden, auf welche Weise die Beschäftigung mit Luther Ritschls Theologie und seine Metaphysikkritik prägt. Wilhelm Herrmann als bedeutendster Vertreter der Ritschl-Schule war es, der vom Ansatz Ritschls ausgehend zuerst eine theologische Metaphysikkritik ausgearbeitet hat. Dabei greift er die zeitgenössische Kritik an Ritschls unmetaphysischer Entfaltung dogmatischer Themen auf und liefert dafür eine grundlegende und systematische Metaphysikkritik. Interessanterweise akzeptiert er das Anliegen, das der Aufnahme der Metaphysik in die Theologie zu Grunde liegt. Er versteht es als das Bedürfnis, Wirklichkeit und Glaube zu verbinden, um die Allgemeinverständlichkeit und die Wahrheit der religiösen Vorstellungen nachzuweisen. An diesem Anliegen hält er fest, ersetzt jedoch den metaphysischen Zugang, im Frühwerk durch die Sittlichkeit, später durch eine existentielle Grundlegung der Theologie. Auch die Verbindung von Herrmanns Metaphysikkritik zu Luther soll abschließend thematisiert werden. Der existentielle Ansatz Herrmanns gibt der Theologie von Rudolf Bultmann entscheidende Impulse. Bultmann stimmt der Auffassung zu, dass Glaube und Offenbarung nur dann verstanden werden können, wenn sie in irgend einer Weise mit den Bedingungen der menschlichen Existenz verbunden sind. 30 Zum weiteren theologiegeschichtlichen und systematisch-theologischen Kontext von Ritschls Metaphysikkritik s. SLENCZKA, Glaube, bes. 124–218.

III. Ziel und Aufbau der Untersuchung

11

Gleichzeitig verwirft er jeglichen positiven Beitrag des Menschen zum Glauben und bezeichnet ihn als »natürliche Theologie«. Seine Auseinandersetzung mit der »natürlichen Theologie« ist dabei geprägt von Gedanken und Argumentationen seines Lehrers Herrmann. Auch die Entwicklung seiner eigenen »natürlichen Theologie«, in der er die menschliche Existenz als Voraussetzung für das Verstehen der Offenbarung beschreibt, greift wesentlich auf Herrmanns Ansatz zurück. Wie Ritschl und Herrmann sieht Bultmann seine Theologie in Übereinstimmung mit der reformatorischen Theologie. Diese Auffassung sowie das Verhältnis von Bultmanns »natürlicher Theologie« zur reformatorischen Theologie sind am Ende des Kapitels zu beleuchten. Der zweite Teil der Untersuchung gilt Ebelings Auseinandersetzung mit der Metaphysik. Zunächst wird in einem ersten Kapitel geklärt, in welchen zeitgeschichtlichen Kontext Ebelings Metaphysikkritik gehört, was genau Ebeling unter Metaphysik versteht und was er warum an der theologischen Verwendung der Metaphysik kritisiert. Dabei werden die Motive, Gedanken und Argumentationsfiguren Ebelings an die Geschichte der evangelischen Metaphysikkritik zurückgebunden, wie sie im ersten Teil der Arbeit dargestellt ist. Dies wird deutlich machen, wie stark Ebeling durch diesen theologischen Hintergrund geprägt ist.31 In einem weiteren Kapitel wird schließlich dargelegt, welche systematischtheologische Bedeutung Ebelings Metaphysikkritik hat. Es wird deutlich werden, dass die einzelnen Themen der Metaphysikkritik die negative Folie für Zentralthemen des theologischen Ansatzes Ebelings bilden – und zwar in Verbindung mit der Berufung auf Luther, den er für die positive Entfaltung seiner dogmatischen Ausführungen in Anspruch nimmt. Dabei zeigt die immer wieder vorgenommene Rückbindung seiner Gedanken an die im ersten Teil dargestellte Linie nicht nur, dass er auch hier gut eingebettet ist in seinen theologiegeschichtlichen Hintergrund, sondern wirft an einigen Stellen auch ein erhellendes Licht auf das Verständnis seiner Gedanken.

31

Es wäre äußerst aufschlussreich, Ebelings Auseinandersetzung auch in ihrem außertheologischen und über den spezifischen Begriff der Metaphysik hinausgehenden ideengeschichtlichen Kontext zu betrachten, etwa im Zusammenhang mit der Debatte mit Hans Albert und seinem »Kritischen Rationalismus«. Allerdings nötigt der ohnehin weite Rahmen der Arbeit zur Konzentration auf den theologischen Zusammenhang, zu dessen Verständnis nur die Bezüge zu den wichtigsten außertheologischen Einflüssen, vor allem Kant, Lotze und etwas ausführlicher Heidegger, hinzugezogen werden können.

Teil I

Evangelische Metaphysikkritik vor Ebeling

Kapitel 2

Albrecht Ritschl Ebeling selbst gibt über sein Verhältnis zu Ritschl keine direkten Auskünfte. Formal sind beide durch die Linie der Schülerschaften über Bultmann und Herrmann verbunden. Und auch inhaltlich finden sich viele Gemeinsamkeiten. Im Blick auf das hier untersuchte Thema begegnet bei beiden die Kritik an der Metaphysik, um unter Berufung auf Luther sowie Ablehnung der Lutheraner und der traditionellen lutherischen Theologie einen zeitgemäßen und erfahrungsorientierten Ansatz der Theologie in Auseinandersetzung mit den Anforderungen und dem allgemeinen Verstehensklima der Zeit zu entwerfen. Explizite Verweise auf Ritschl finden sich zwar nur wenige in Ebelings Arbeiten, aber sie reichen aus um zu zeigen, dass Ebeling Ritschls Theologie nicht nur kannte, sondern durchaus als ein Vorläufer seiner eigenen Bemühungen verstand. So erwähnt er verschiedentlich Ritschls Kritik am traditionellen metaphysischen Ansatz und seine Neuorientierung für die »Grundlegung systematischer Theologie«,1 so wie es Ebeling auch selbst fordert.2 Zusammen mit der Verbindung über die Schülerschaften weist dies alles auf einen ideengeschichtlichtlichen Zusammenhang oder eine Art Traditionslinie hin, die mit Ritschl beginnt und Ebelings Ansatz prägt. Da die Metaphysik bei Ritschl erst relativ spät ein eigenes Thema bildet, werde ich in diesem Kapitel zuerst Gedanken aus dem Frühwerk darstellen, mit deren Hilfe Ritschl später die Auseinandersetzung führt. Vor allem ist dann Ritschls Metaphysikverständnis und Metaphysikkritik zu untersuchen sowie zu fragen, wer oder was Ritschl dabei eigentlich vor Augen steht. Danach werde ich zeigen, welche Verwendung der Metaphysik in der Theologie Ritschl kritisiert und welche positive Funktion er ihr noch einräumt. Abschließend ist ein Blick auf die Bedeutung Luthers für Ritschls Theologie überhaupt sowie für seine Metaphysikkritik zu werfen.

1 RGG VI [12], 816, vgl. 826; WuG II [14], 127f; [13], 391f. Weitere Verweise auf Ritschl finden sich WuG II [8], 8; III, 431 sowie WGT, 107. 2 Z. B. WuG I [7], 391.

16

2. Kapitel: Albrecht Ritschl

I.

Vorformen der Metaphysikkritik

Ausführlichere Äußerungen zur Metaphysik finden sich bei Ritschl ab 1879. Ritschl hat aber in seinen Arbeiten davor bereits Gedanken und Motive entwickelt, deren er sich später im Zusammenhang mit der Metaphysikkritik bedient. Sie bilden das gedankliche Fundament für die Beurteilung der Metaphysik. Außerdem sind sie nicht, wie es teilweise in der Sekundärliteratur geschieht, mit Ritschls Metaphysikbegriff gleichzusetzen. Aus diesen Gründen sollen sie zunächst dargestellt werden. 1.

Natürliche Religion

Mit der Bezeichnung meint Ritschl meistens die im Gegensatz zu den positiven, geschichtlich gewachsenen und auf Offenbarung beruhenden Religionen stehende Vorstellung einer »natürlichen Religion« aus der Zeit der Aufklärung.3 Die Gründe für ihre Entstehung sieht er in den Konfessionskriegen und konfessionellen Streitigkeiten nach der Reformation, deren Probleme man durch Rückgriff auf die »über allen positiven Religionen stehenden natürlichen Religion« als die von allen Konfessionen verwendete »neutrale Basis« zu überwinden versuchte. Dieses Bemühen führte nach Ritschl zum theologischen Naturalismus und Deismus, die das auf Offenbarung und geschichtliche Überlieferung begründete Christentum bestreiten.4 Ritschl sieht darin eine »eigentümliche Nemesis für die christliche Theologie«, denn sie selbst habe in ihren Anfängen den Brückenschlag zur »heidnischen Bildung« vollzogen, indem sie »dem natürlichen Zuge der Vernunft zum Monotheismus« das Christentum als Antwort gegenübergestellt und die christliche Ethik als »das natürliche Sittengesetz« dargestellt habe. Nach Ritschl behandelte man dabei die Vorstellungen einer bestimmten, historisch bedingten Philosophie als »Objekte des allgemeinen geistigen Bewußtseins« und überging die spezifischen Unterschiede zwischen ihnen und den christlichen Vorstellungen. Dass die spätere »Theologie des Mittelalters wie die des Protestantismus« einen Gottesgedanken voraussetzen konnte, den »die von der speziellen Offenbarung noch nicht berührte Vernunft und Beobachtung der Welt . . . hervorbringe«, liege daran, dass sie »diese Fehler« der Alten Kirche nicht bemerke.5 Obwohl »fehlerhaft«, habe die »Orthodoxie« die »natürliche Religion« verwendet, »um die Allgemeingültigkeit des Christentums mit seiner Eigentümlichkeit zu combinieren«.6 Es ist also deutlich, dass Ritschl zwar vor allem die »natürliche 3

Z. B. RuV1 I, 341f. 344; RuV1 III, 11f. 165. 382. 474; Schleiermachers Reden, 4–6; RuV3 III,

176. 4 5 6

RuV1 I, 341f; vgl. RuV1 III, 11f. RuV1 I, 342. Schleiermachers Reden, 60f.

I. Vorformen der Metaphysikkritik

17

Religion« der Aufklärung im Blick hat, diese aber in Zusammenhang bringt mit der christlichen Theologie von der Alten Kirche bis zur Orthodoxie, weshalb er die in der Theologie dieser Epochen verwendete vorgeblich allgemeine bzw. philosophische Gottesvorstellung bisweilen ebenfalls als »natürliche Religion« bezeichnen kann.7 Anknüpfend an Schleiermacher lehnt Ritschl jedoch jede Vorstellung einer »natürlichen Religion« ab: Es giebt keine Religion und hat keine gegeben, die nicht positiv wäre; die sogenannte natürliche Religion ist eine Einbildung. Jede gemeinsame Religion ist gestiftet.

Ritschl führt, wie wir weiter unten noch genauer sehen werden, das Vorkommen einer nicht-religiösen Gottesvorstellung auf das philosophisch-wissenschaftliche Welterkennen zurück und stuft sie als ein Zerfallsprodukt der Religion ein: »Diese Gedanken sind als Surrogate der religiösen Gotteserkenntniß aufgekommen, wenn das Verständnis der positiven Religionen verkümmerte . . . «.8 Im Blick auf Ritschls spätere Auseinandersetzung mit der Metaphysik sind zwei Aspekte wichtig. Zum einen ist zu betonen, dass der spezifischere Gebrauch des Begriffes »natürliche Religion« im Sinne der Aufklärungsphilosophie etwas anderes bezeichnet als Ritschls späterer Metaphysikbegriff, beide Begriffe also nicht in eins gesetzt werden dürfen. Zum anderen begegnen allerdings Gedanken aus dem weiteren Gebrauch des Begriffes, nämlich über die Inanspruchnahme der Philosophie zur vernünftigen Vermittlung theologischer Aussagen der Apologeten, Scholastik und Orthodoxie im Zusammenhang mit der natürlichen Gotteserkenntnis (s. nächsten Abschnitt), die dann wiederum später für die Metaphysik wichtig wird. 2.

Natürliche Gotteserkenntnis

An wenigen Stellen spricht Ritschl auch von einer ›natürlichen Gotteserkenntnis‹. Er bezeichnet damit die Verwendung der »natürlichen Religion« von der Alten Kirche bis zur Orthodoxie, die die christliche Theologie auf eine vernünftige, allgemeingültige Basis stellen soll.9 Gelegentlich bezeichnet er dieses Bemühen auch als »natürliche«10 oder »vernünftige Theologie«11 . Unabhängig von der konkreten Bezeichnung geht es dabei um den Anschluss der christlichen 7

RuV1 III, 11f. 552; Schleiermachers Reden, 60; TuM, 65f. RuV1 III, 474; vgl. Ritschls Ausführungen über Schleiermachers Ablehnung der »natürlichen Religion« Schleiermachers Reden, 4–6. Zu Ritschls Auffassung, dass alle Religion positiv und durch Offenbarung vermittelt ist, s. a. HÖK, 5–51, bes. 7–14. 9 Schleiermachers Reden, 61; RuV3 III, 4. 184; 206f spricht Ritschl von der »vorgeblich angeborenen Gotteserkenntnis« (zum ontologischen Gottesbeweis in der Scholastik). 10 RuV1 III, 204; Lesefrüchte, 214; RuV3 I, 369f; RuV3 III, 7. 11 RuV3 III, 184f; vgl. Ethik, 8. 8

18

2. Kapitel: Albrecht Ritschl

Theologie an das allgemeine profane Wissen, durch das Verständlichkeit und Wahrheit der christlichen Vorstellungen ausgewiesen werden soll. Ritschl entwirft ein Modell der »vierfach abgestuften Unterschiebung«, in dem die christliche Theologie zur Verbindung ihrer Gottesvorstellung mit dem allgemeinen Verstehen eine angeblich natürliche Gotteserkenntnis entwickelt. Die erste Stufe bilden die frühchristlichen Apologeten aus, indem sie die spätplatonische Vorstellung »des gränzenlosen, unbeschränkten Seins« mit der christlichen Gottesvorstellung gleichsetzen. Diese Vorstellung hat allerdings »nur den negativen Sinn von Nicht-Welt« und »neutralisiert« so die »religiöse Vorstellung von Gottes Persönlichkeit«. Auf den so gebildeten Gottesbegriff greift dann die Scholastik zurück, um ihn in ihren Gottesbeweisen als zum Verständnis der Weltwirklichkeit notwendig darzustellen. Da aber die in Gegensatz zur Welt gebildete spätplatonische Vorstellung nun gerade nicht zur Erklärung der Welt dienen kann, wird ihr in einem zweiten Schritt für den kosmologischen Beweis der »Begriff der Ursache untergeschoben«. In einem dritten Schritt kommt dazu dann der Begriff des »Endzweckes der Welt« im teleologischen Beweis, wodurch die Gottesvorstellung wieder eine »Persönlichkeit« erhält. Diesem »formalen Schema der Persönlichkeit« wird schließlich im vierten Schritt der »ganze Inhalt der christlichen Gottesidee zugerechnet«, indem diese angeblich allgemeine Gotteserkenntnis mit dem christlichen Gottesverständnis gleichgesetzt wird.12 Dieses Modell macht deutlich, dass Ritschl die »natürliche Gotteserkenntnis« beziehungsweise »natürliche Theologie« weder mit der Metaphysik gleichsetzt, noch ihren Ursprung in der griechischen Philosophie verortet, sondern als ein Produkt der christlichen Theologie betrachtet. Die Grundzüge des Stufenmodells finden sich schon 1865. Ritschl bezeichnet den so gebildeten Gottesbegriff hier als »vorgeblich natürliche(. . . ), philosophische(. . . ) Erkenntnis von Gott«.13 In diesem Zusammenhang geht er auch auf die Funktion dieser »natürlichen Gotteserkenntnis« ein. Er betont, dass die Gottesbeweise der scholastischen Theologie nicht die Gewissheit Gottes herstellen sollen, sondern die bereits feststehende kirchliche »und jedem Gläubigen für sich unmittelbar gewisse« Gottesvorstellung mit der philosophischen Frage nach der Welt als Ganzer, also nach einem einheitlichen Weltbegriff, zusammenbringen soll, und zwar so, dass eine »Übereinstimmung« von Glaube und Wissen erzielt wird. Aber selbst wenn die Vorstellungen eines primum movens sowie einer ersten Wirk- und Zweckursache zur Bildung des Begriffs der Welteinheit erforderlich wären, so ist doch für Ritschl ihre Gleichsetzung mit der christlichen Gottesvorstellung im kosmologischen und teleologischen Gottesbeweis »nur behauptet und nicht bewiesen«. Und auch wenn Ritschl zugesteht, dass die christliche Gottesvorstellung durchaus »die Attribute des primum movens 12 13

RuV1 III, 193, ebenso in RuV3 III, 215f; vgl. Geschichtliche Studien, 279/27. Geschichtliche Studien, 281/29.

I. Vorformen der Metaphysikkritik

19

und des ultimus finis« sowie »das esse infinite als Merkmal der Geistigkeit Gottes« im Unterschied zum Geschaffenen beinhalte, so gehe sie doch quantitativ und qualitativ darüber hinaus. Außerdem seien die philosophischen Begriffe »als Prädikate eines ganz anders beschaffenen Grundbegriffes« gefasst.14 Diese Gedanken zu den Gottesbeweisen verbindet Ritschl erst in seinen späten Schriften mit der Metaphysik. 3.

Die Unterscheidung der Religion vom theoretischen Erkennen

Für Ritschls Theologie grundlegend ist der Unterschied zwischen »Religion und theoretischem Erkennen«, wobei das Letztere philosophische wie naturwissenschaftliche Erkenntnis der Welt umfasst.15 Zwar richten sich beide auf ein gemeinsames Objekt, »nämlich auf die Welt und auf das Geistesleben«,16 doch hat das »theoretische Erkennen« nach Ritschl einen völlig anderen Zugang, indem es »die allgemeinen Gesetze des Erkennens und des Daseins von Natur und Geist« erforscht. Deshalb sei eine »Collision zwischen beiden an sich nicht nothwendig«.17 Religion ist für Ritschl die »Anerkennung der Abhängigkeit von Gott«, die nicht nur den Menschen in seinem Selbstverständnis betrifft, sondern auch sein Verständnis der Welt.18 Ritschl kann dies auf die »Formel« bringen, Religion sei »Weltanschauung unter der Idee Gottes und Selbstbeurtheilung aus der Abhängigkeit von Gott im Verhältnis zur Welt«.19 Dabei ist entscheidend, dass die Religion die Welt als Ganzes von dem »offenbaren Endzweck des Reiches Gottes« her versteht.20 Diese Perspektive aber ist dem theoretischen Erkennen nicht möglich, denn die Erfahrung führt Ritschl zufolge gerade nicht zum Gedanken der »Zweckbestimmung« der Welt.21 Genau an diesem Punkt entsteht nun aber doch eine »Collision« zwischen beiden. Ritschl betont, dass »das höchste allgemeine Gesetz des Daseins«, das die Dinge der Welt »als ein Ganzes« zu verstehen ermöglicht, nicht in den Bereich des »theoretischen Erkennens« fällt, sondern zur Religion gehört. Dennoch entwirft die Philosophie ein einheitliches Weltbild. Seinem Verständnis nach

14 15 16 17 18 19 20 21

Geschichtliche Studien, 280f/28f; vgl. RuV1 III, 184f. Vgl. z. B. RuV1 III, 181. RuV1 III, 170 RuV1 III, 178. RuV1 III, 16f. RuV1 III, 170. RuV1 III, 174. RuV1 III, 186.

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2. Kapitel: Albrecht Ritschl

verräth sich in dem Anspruch der Philosophen, mit ihren Mitteln eine Gesammtweltanschauung zu bilden, vielmehr ein Trieb der Religion, welchen sie von ihrem Interesse methodischen Erkennens als etwas verschiedenartiges unterscheiden müßten.22

Wenn die Philosophie ein oberstes Gesetz des Daseins in ihrem Denken annimmt, dann bricht sie nach Ritschl »aus der Anwendung der genauen Erkenntnißmethode« aus und begibt sich auf dieselbe Ebene »wie die religiöse Vorstellung von Gott und Welt«. Diese Vermischung der »heterogenen Erkenntnißarten, der religiösen und der wissenschaftlichen«, liege zuerst in der griechischen Philosophie vor, besonders »in denjenigen Formen, in welchen man die letzten allgemeinen Gründe des Daseins, aus denen das Weltganze begriffen wird, mit der Gottesidee identificirt«. Ritschl sieht den Grund dafür aber nicht in einer ungebrochenen Einwirkung der Religion auf die Philosophie, sondern in einem fehlgeleiteten, sozusagen säkularisierten religiösen Bedürfnis, das zu verschiedenen Widersprüchen zwischen Philosophie und Religion führt. Ausgangspunkt dafür war die Naturbeobachtung der Philosophen, die den Grundlagen der griechischen Religion widersprach – nämlich der Vorstellung der Götter als transzendente Gründe von Naturphänomenen. Deshalb versuchten die Philosophen, »ihrem religiösen Triebe eine Befriedigung auf anderem Wege zu verschaffen«. Dadurch aber entstehen Ritschl zufolge verschiedene Gegensätze zwischen Philosophie und Religion, nämlich die Aufgabe der auch für die griechische Religion grundlegende Vorstellung der Persönlichkeit der Gottheit und ihres aktiven Eingreifens in die Welt in dem als Weltgrund gedachten Gott, der Konflikt zwischen rationaler Naturerklärung der Philosophie und »der religiösen Verbindung zwischen Naturanschauung und Gottesidee« sowie schließlich die »einheitliche Weltanschauung der Philosophen« im Widerspruch zu der im »Polytheismus nur locker ausgeführten religiösen Weltanschauung«. Das eigentliche Problem sieht Ritschl jedoch vor allem darin, dass im Rahmen einer vorgeblich philosophischen »Welterkenntniß« die »religiöse Einbildungskraft« zum Entwurf einer »philosophischen Gesammtweltanschauung« verwendet wird, »deren oberstes Gesetz niemals als solches erwiesen, sondern immer nur in vorgreifender Weise angenommen ist«.23 Diese Darstellung dient in diesem Zusammenhang jedoch weniger dazu, die griechische Philosophie auf ihre Eignung etwa für die Verwendung in der Theologie zu befragen. Ritschl zielt auf die Religionskritik des Materialismus, mit dem er die Problematik der griechischen Philosophie parallelisiert. Dem »Mate22

RuV1 III, 178f. Die Vorstellung von der Welt als Ganzer weist Ritschl in dem dieser Stelle vorangehenden § 27 der Religion zu, z. B. 171: »An der religiösen Weltanschauung ist das Eigenthümliche, daß sie auf die Vorstellung von einem Ganzen angelegt ist.« (mit Verweis auf LOTZE, Mikrokosmos III, 331. 23 RuV1 III, 179. Dass Ritschl griechische Philosophie und Religion bereits in Spannung sieht, ist besonders im Blick auf die Behauptung zu betonen, Ritschl kritisiere die Metaphysik, weil sie aus der griechischen Religion entstamme, s. u. Anm. 92.

II. Ritschls Metaphysikverständnis

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rialismus« wirft er vor, dass hier »das Gesetz eines besonderen Daseinsgebietes als das oberste Gesetz alles Daseins aufgestellt wird, ohne daß die übrigen Existenzformen daraus erklärt würden oder werden könnten«. Die mechanische Weltanschauung, mit der der »Materialismus« die christliche Auffassung bekämpfe, müsse als letzte Ursache der Welt den »Zufall« annehmen. Darin liegt für Ritschl einerseits das Eingeständnis, »daß das wissenschaftliche Erkennen nicht bis zu dem obersten Gesetze der Dinge vordringt«. Zum anderen seien die materialistischen Modelle der »Weltentstehung« geprägt durch einen Aufwand von Einbildungskraft, welcher seine nächste Analogie in den heidnischen Kosmogonien findet und dadurch kund gibt, daß in diesem Kreise nicht die Methode der wissenschaftlichen Erkenntniß, sondern ein verirrter über sich selbst unklarer Trieb waltet.24

Auch den als »Pantheismus« bezeichneten Idealismus und seine Religionskritik trifft der doppelte Vorwurf, dass er erstens die Gesetzmäßigkeit eines Teilbereiches der Wirklichkeit in falscher Weise verabsolutiere und deshalb als »Schlüssel zu einer erschöpfenden Weltanschauung im Ganzen« verwende, wohinter sich zweitens ein der reinen Methode wissenschaftlichen Erkennens fremder und fehlgeleiteter ›religiöser Trieb‹ verberge.25 Gegen die idealistische Reduktion des menschlichen Geistes auf das theoretische Erkennen betont Ritschl die Eigenständigkeit des Fühlens und Wollens. Die Religion ordnet er gleichermaßen diesen »drei elementaren Funktionen des Geistes« zu, so dass sie nicht entweder den Bedingungen des theoretischen Erkennens zu unterwerfen oder abzulehnen sei. Für eine solche Auffassung macht Ritschl allerdings die orthodoxen Theologen mitverantwortlich, »wenn dieselben irgend eine unvollständige Gestalt der Theologie für die christliche Religion ausgeben, nämlich ein Gesetz der Vorstellungen von Gott und Menschenwelt«. Dem Einspruch der Philosophie gegen die Einmischung der christlichen Vorstellungen »als einen mißbräuchlichen Eingriff der Phantasie in die gesetzliche Welterkenntniß« gibt Ritschl Recht.26 Es wird weiter unten deutlich werden, dass auch Gedanken aus diesem Argumentationszusammenhang in Ritschls Auseinandersetzung mit der Metaphysik wichtig werden.

II.

Ritschls Metaphysikverständnis

Es scheint, dass Ritschls Beschäftigung mit Metaphysik als einem eigenen Thema durch die kritischen Reaktionen insbesondere von Seiten der neulutherischen 24

RuV1 III, 180f. RuV1 III, 181. 26 RuV1 III, 181f. Die falsche rationale Engführung des christlichen Glaubens durch die orthodoxe Theologie wird zu einem wiederkehrenden Motiv in der evangelischen Theologie, es findet sich bei Herrmann, Bultmann bis hin zu Ebeling. 25

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2. Kapitel: Albrecht Ritschl

Theologie motiviert wurde, die den Verzicht auf metaphysische Begriffe und Konzepte in der ersten Auflage von Rechtfertigung und Versöhnung bemängeln. Deshalb findet sich die ausführlichere Beschäftigung Ritschls mit der Metaphysik seit Ende der 1870er und besonders zu Anfang der 1880er Jahre, aus der die kleine, aber besonders im Blick auf Ritschls Wirkungsgeschichte wichtige Schrift Theologie und Metaphysik (1881, 2 1887) hervorgegangen ist. Die erste Arbeit, die sich, soweit ich sehe, eingehender mit der Metaphysik beschäftigt, ist der Aufsatz »Lesefrüchte aus dem heiligen Bernhard« von 1879.27 Ritschl bemerkt hier, dass Bernhard möglicherweise der Vorwurf gemacht werden könnte, »durch Ausscheidung der Metaphysik entwerthe er das Christenthum«.28 Dies liest sich wie ein Widerhall der Kritik an Ritschl, wie sie der Leipziger Lutheraner Christoph Ernst Luthardt geäußert hat, der 1878 in seinem Kompendium der Dogmatik anmerkt, dass Ritschl mit Ausscheidung alles Metaphysischen das Christenthum unter den ausschließlichen Gesichtspunkt des Werthes, den alles Einzelne für die sittliche Zweckbestimmung des Menschen hat, stellt, eine moralisirende Werthbestimmung des Christenthums, welche dasselbe in rationalistischer Verkennung seines göttlichen Wesens entwerthet.29

Der andere große Kontrahent, der in Ritschls Beschäftigung mit der Metaphysik eine wichtige Rolle spielt, ist der Erlanger Lutheraner Franz Hermann Reinhold von Frank.30 1.

Metaphysik als Ontologie

Bei Ritschl ist die Metaphysik auf die »Lehre von dem Dinge, Ontologie« konzentriert.31 Ritschl ist sich dieser Reduktion bewusst. Wenn er erwähnt, dass die Ontologie »den ersten Theil der Metaphysik« bildet, dann bezieht sich dies auf die klassisch gewordene frühneuzeitliche Metaphysik, wie sie die Schulphilosophie des 17. Jahrhunderts ausgebildet hat und die auch Kant noch vor Augen steht. Bei allen Unterschieden im einzelnen ist dieser Metaphysik gemeinsam, dass sie aufgeteilt ist in metaphysica generalis, die die Ontologie behandelt, und metaphysica specialis, die in der Regel Physik bzw. Kosmologie, natürliche bzw. rationale Theologie und Psychologie umfasst.32 Ausgehend von dieser Gliederung engt sich der Gegenstandsbereich der Metaphysik im Laufe der Zeit immer 27

Abgedruckt in Aufsätze 2, 204–219. Lesefrüchte, 212. 29 Zit. in TuM, 5. 30 Zur Kontroverse zwischen Ritschl und Frank s. SLENCZKA, Glaube, bes. 124–218. 31 TuM, 9. Bereits kleinere Bemerkungen aus früherer Zeit deuten in diese Richtung, etwa wenn Ritschl »metaphysisch« synonym mit »dinglich« gebraucht, z. B. Lesefrüchte, 214 oder die Ersetzung des Wortes in RuV1 I, 235 durch ›substantiell oder dinglich‹ in RuV2 I, 246. 32 Zur Entwicklung der Metaphysik im 17. Jahrhundert s. WUNDT, 169–172. 218–227. Bei Kant, wenn auch mit leicht anderer Aufteilung, s. z. B. KrV, A 846/B 874. 28

II. Ritschls Metaphysikverständnis

23

stärker auf die Ontologie ein, während die Themen des speziellen Teils in andere Wissenschaften auswandern oder sich zu den positiven Wissenschaften verselbständigen. Die Metaphysik erhält so die Aufgabe, die ontologischen Grundlagen für die Arbeit der Wissenschaften zur Verfügung zu stellen. Dieses funktionale Verständnis einer auf den Dienst für die Wissenschaft abgezweckten Metaphysik liegt dann bei Ritschl vor. Ritschl bringt Metaphysik primär mit Aristoteles in Verbindung. Dessen ›Erste Philosophie‹ sei die »Untersuchung der allgemeinen Gründe alles Seins«, d. h. für ihn die Untersuchung der »Erscheinungen« in ihrer allgemeinen Eigenschaft als »Dinge« und damit »Lehre von dem Dinge, Ontologie«.33 Auf diese Weise erscheint seine eigene Beschränkung der Metaphysik auf Ontologie durch den Begründer dieser Disziplin gerechtfertigt, während er moderne Entwürfe, die etwa unter diesem Begriff eine »Gesammterkenntniß der Welt«, also eine umfassende Kosmologie entwerfen, unter Berufung auf Aristoteles ablehnt.34 2.

Natur und Geist

Die Dichotomie von Natur und Geist bildet ein grundlegendes Prinzip in Ritschls Denken.35 Die Wirklichkeit ist demzufolge radikal geschieden in zwei Bereiche: Nun sind ja die Dinge entweder Geist oder materielle Natur. Dinge überhaupt, welche weder das Eine noch das Andere wären, giebt es nicht . . . 36

Diesen beiden voneinander geschiedenen Bereichen der Wirklichkeit muss nun auch das Denken entsprechen. Das bedeutet, dass bei Ritschl dem Bereich der Natur die Rückführung auf die Wirkursache, also die Kausalität entspricht, dem Bereich des Geistes auf die Zweckursache, also die Teleologie.37 Damit legt Ritschl den Bereich der Natur auf die Gesetze des Mechanismus fest, die von der Naturwissenschaft durch die Frage nach den jeweiligen Wirkursachen eines Untersuchungsgegenstandes verstanden werden. Für den Bereich des Geistes hingegen gilt, dass die geistigen Phänomene in ihrer Eigenart nur durch teleologische Begriffe, also ethisch, verstanden werden können. Trotz dieser fundamentalen Aufteilung der Realität bleibt jedoch in Ritschls Verständnis die Metaphysik gegen diesen Unterschied neutral. Die mangelnde Unterscheidung ist für ihn kein Grund zur Kritik.38 Aber sie legt fest, welchen 33

TuM, 8f. RuV3 III, 17. 35 Zum folgenden s. ZACHHUBER, Theology, 176–196, bes. 176–187, der auch den Zusammenhang Ritschls mit der nachidealistischen Philosophie (vor allem Trendelenburg, Chalybäus, Lotze) nachweist. 36 RuV3 III, 226f. 37 S. z. B. RuV3 III, 198f. 211. 38 Gegen NEUGEBAUER, 10. 34

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2. Kapitel: Albrecht Ritschl

Stellenwert und welche Funktion die Metaphysik im allgemeinen Erkennen und speziell in der Theologie einnimmt. Ritschl führt aus, dass die aristotelische Metaphysik nur »die Stufe der elementarsten und unbestimmtesten Erkenntniß der Wirklichkeit« bildet, weil eben ihre Begriffe »Naturdinge und die geistigen Größen ohne Unterschied« erfassen. Er bezieht sich damit auf die Definition des Aristoteles, dass die Erste Philosophie das Seiende als Seiendes untersucht, und versteht diese als bewusste Beschränkung der Metaphysik auf das, was allen Dingen gleichermaßen und damit abgesehen von der weiteren Spezifizierung in natürliche und geistige Größen zukommt. Weil dieser grundlegende Aspekt der Wirklichkeit nicht in ihren Gegenstandsbereich fällt, versteht Ritschl die metaphysische Erkenntnis als eine nicht vollständige Wirklichkeitserkenntnis. Sie werde »überboten« durch eine »Erkenntniß der besonderen Bedingungen und Gründe . . . , aus denen ein Theil der Dinge als Naturwesen, der andere als geistige Kräfte oder Personen erkannt wird«. Deshalb sei die Metaphysik zwar grundlegend für die bestimmtere Erkenntnis der Wirklichkeit, aber gerade dadurch dieser nicht überlegen: Da nun im wissenschaftlichen Erkennen das Bestimmte höheren Wert hat als das Unbestimmte, so ist die metaphysische Erkenntniß der Dinge im Allgemeinen nur die Vorbereitung der bestimmten Erkenntnisse in Physik und Ethik. Physik und Ethik sind also dem Zwecke und dem Werte nach der metaphysischen Erkenntniß übergeordnet.39

Diese Argumentation wiederholt Ritschl später in Theologie und Metaphysik, was er wiederum in Rechtfertigung und Versöhnung zitiert.40 In diesem Sinne betont er, dass »die Metaphysik elementare, blos formale Erkenntniß« sei.41 Wie dies ihre Verwendung speziell in der Theologie bestimmt, werden wir weiter unten sehen.42 3.

Gott in der aristotelischen Metaphysik

Trotz der Beschränkung auf die Ontologie weiß Ritschl natürlich, dass die Metaphysik bei Aristoteles eine Lehre von Gott enthält. Sein Metaphysikverständnis erlaubt es ihm nun aber, dieses Vorkommen Gottes in der Metaphysik als sachfremde und unberechtigte Einmischung zu beurteilen.

Lesefrüchte, 213. Zur Definition der Ersten Philosophie bei Aristoteles vgl. z. B. Met. Γ 1, 1003a 21–26. 40 TuM, 8f. 12; RuV3 III, 16. Vgl. a. RuV3 III, 204f. 41 RuV3 III, 16. Es sei allerdings darauf hingewiesen, dass Ritschl doch auch vereinzelt zumindest in der traditionellen Metaphysik eine Tendenz zum Materialismus, also eine Nähe zur Naturbetrachtung sieht, etwa wenn er es als »Neigung zur Metaphysik« bezeichnet, die Realität des menschlichen Geistes feststellen zu wollen »in einer Form der Objektivität, die auch der Natur zu eigen ist«; TuM, 47, vgl. a. RuV3 III, 227. 42 S. u. S. 52f. 39

II. Ritschls Metaphysikverständnis

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Ritschl führt aus, dass Aristoteles innerhalb der Metaphysik »auch eine Beziehung zur Welt erörtert, welche er Gott nennt«. Damit bezeichne er aber lediglich den »letzten Endzweck . . . , welcher unbewegt, also auch ohne Willen, sich selbst denkend, die zweckmäßig zusammenhängenden Dinge, welche sich nach ihm hin bewegen, als Einheit denken läßt«. Dieser Endzweck sei bei Aristoteles ein weltimmanentes Prinzip, das eben nicht, wie es für die Gottesvorstellung konstitutiv ist, die Welt übersteige. Und so sieht Ritschl kein »Recht«, »diese Beziehung der Welt« mit einer religiösen oder gar der christlichen Gottesvorstellung gleichzusetzen.43 Der Endzweck ist im Zusammenhang des theoretischen Denkens notwendig zum »Abschluß des Weltganzen«. Und das bedeutet: »Der Titel Gott für dieses metaphysische Postulat ist nun aber eine Erschleichung.«44 Ritschl merkt an, dass die Gleichsetzung des weltimmanenten Endzwecks mit der religiösen Gottesvorstellung »nur auf der Stufe des Heidenthums . . . möglich« sei, weil die griechische Religion die »göttlichen Wesen mit der Naturwelt verflochten setzt«.45 Er beurteilt die griechische Religion als problematisch, weil sie das eigentliche religiöse Bedürfnis nach Transzendenz an der Natur zu befriedigen sucht und damit das eigentliche Wesen von Religion korrumpiert.46 Damit deutet Ritschl zweierlei an, nämlich einmal, dass das Vorkommen Gottes in der Metaphysik lediglich auf dem Hintergrund der griechischen Religion, also in einer ganz bestimmten historischen Situation, eine gewisse Plausibilität beanspruchen kann, und zweitens, dass es auf eine defizitäre Form der Religion zurückzuführen ist. Die metaphysische Gotteslehre ist somit in zweifacher Weise diskreditiert. Zusammen mit den Äußerungen zum prinzipiellen Unterschied zwischen Religion und theoretischem Erkennen dienen Ritschls Ausführungen dem Ziel, das Vorkommen des Gottesgedankens in der Philosophie nicht als Beweis für seine Vernünftigkeit und Allgemeinheit, sondern es als sachfremde und unberechtigte Übernahme eines religiösen und damit völlig anderen Gedankens kenntlich zu machen. Diese Auffassung ist auch für die Beurteilung der philosophischen Gotteslehre in den nachfolgenden hier dargestellten Entwürfen bis hin zu Ebeling leitend.47

43

Lesefrüchte, 213. TuM, 10; vgl. RuV3 III, 17. 206. 45 TuM, 11; vgl. 37. 46 RuV1 III, 174f; diese Auffassung findet sich bereits in den frühen Dogmatikvorlesungen, s. HÖK, 226–228. In diesem Sinne ist es auch zu verstehen, wenn Ritschl die scholastische Vorstellung von Gott als »das allgemeine Sein, die letzte Ursache, der unbegränzte Wille« als »unterchristlich« bezeichnet, RuV1 I, 395. 47 Vgl. z. B. die Bemerkung bei EBELING, Dogmatik I, 227, die metaphysische Gotteslehre verdanke sich einer »Anleihe bei der Religion«. 44

26

2. Kapitel: Albrecht Ritschl

4.

Metaphysik und natürliche Theologie

Wie oben bereits erwähnt, findet sich der Ausdruck »natürliche Theologie« bei Ritschl im Vergleich zu dem Wort »Metaphysik« deutlich weniger, die sachgleiche Bezeichnung »rationale« oder »vernünftige Theologie« noch seltener.48 Inhaltlich ist die »natürliche Theologie« für Ritschl nicht identisch mit der Metaphysik. Wohl sind sie miteinander verbunden, Ritschl bezeichnet die »rationale Theologie« als Teil der Metaphysik49 – aber eben daran wird deutlich, dass er beide unterscheidet. Nach Ritschl ist die »natürliche Theologie« überhaupt erst »in christlicher Zeit innerhalb der Metaphysik« entstanden. Inhaltlich versteht er unter dem Begriff »die neuplatonischen Abstraktionen von der Welt, welche hier mit einigen Formen der religiösen Vorstellung von Gott zusammengeschweißt sind«.50 Damit wird deutlich, dass er die Vermittlung von christlicher Theologie und antiker Philosophie bei den frühchristlichen Apologeten vor Augen hat — was er, wie oben dargestellt, auch als »natürliche Gotteserkenntnis« bezeichnet und wozu er den Brückenschlag zwischen Philosophie und christlicher Gottesvorstellung in den Gottesbeweisen der scholastischen Theologie rechnet.51 Weil Ritschl die »natürliche Theologie« als ein Produkt des Christentums versteht, verwendet er die Bezeichnung niemals für die Gottesidee in der Metaphysik des Aristoteles oder als Synonym für die Metaphysik überhaupt.52 Noch am Beginn von Theologie und Metaphysik unterscheidet Ritschl Metaphysik und »natürliche Theologie«. Denn er wirft Luthardt zwar vor, er verwende eine »natürliche Theologie«, merkt jedoch ironisch an, dass Luthardt, obwohl er bei Ritschl das Fehlen der Metaphysik kritisiert, in seinem eigenen Kompendium weder auf die Metaphysik noch auf den in der Theologie angeblich notwendigen metaphysischen Stoff eingehe.53 Diese klare Unterscheidung wird nun ausgerechnet in seiner in Bezug auf die Metaphysikkritik wirkungsreichsten Schrift Theologie und Metaphysik ein wenig missverständlich, wenn man Ritschls sonstigen Begriffsgebrauch nicht genau beachtet. Die scholastischen Gottesbeweise, die früher unter der Bezeichnung der »natürlichen Gotteserkenntnis« bzw. der »natürlichen Theologie« begegnen, stuft Ritschl hier als »metaphysisch« ein. Ein paar Seiten weiter nennt Ritschl die Forderung Franks, die christliche Gotteslehre vom Attribute der Absolutheit 48

Natürliche Theologie: RuV1 I, 339; RuV1 III, 204; Lesefrüchte, 214; TuM, 7; RuV3 I, 219f. 370; RuV3 III, 7. 173. Rationale oder vernünftige Theologie: Ethik, 8; RuV3 III, 185. Dass natürliche und vernünftige Theologie für Ritschl deckungsgleich sind, zeigen z. B. RuV1 I, 339; RuV1 III, 204. 49 Ethik, 8. 50 Lesefrüchte, 214. 51 S o. S. 17–19. 52 So allerdings SCHÄFER, 87f. 53 TuM, 5f.

II. Ritschls Metaphysikverständnis

27

aus zu entfalten, als »ungehörige Einmischung der Metaphysik in die Offenbarungsreligion«,54 woraus er schließlich den Vorwurf ableitet, Frank öffne damit »ein neues Kapitel der natürlichen Theologie«.55 Und an einer bekannten und deshalb wirkungsgeschichtlich bedeutenden Stelle in Rechtfertigung und Versöhnung sind die »neutrale, objektive Erkenntniß . . . in der . . . natürlichen Theologie« und die »uninteressirte oder metaphysische Erkenntniß Gottes« sehr nah aneinander gerückt.56 Möglich sind diese Aussagen, weil Ritschl, wie eben gezeigt, die natürliche Theologie als Teil der Metaphysik in christlicher Zeit betrachtet und sie in diesem Sinn tatsächlich als »metaphysisch« bezeichnen kann. Das ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass bei Ritschl die Begriffe einen jeweils eigenen und voneinander unterschiedenen Inhalt haben – womit zusammenhängt, dass Ritschl die »natürliche Theologie« entschieden ablehnt, die Metaphysik in bestimmter Hinsicht jedoch nicht. 5.

Metaphysik als Erkenntnistheorie

Mit der Beschreibung der Metaphysik als Ontologie will Ritschl allerdings nicht, trotz seines Rückgriffes auf Aristoteles, die alte Substanzmetaphysik restituieren. Im Sinne der Wende bei Kant fasst er Ontologie als Erkenntnistheorie auf. Allerdings folgt er dabei weniger Kant, sondern beruft sich vor allem auf Rudolf Hermann Lotze, einem ebenfalls in Göttingen lehrenden Neukantianer, mit dem er befreundet war. Von seinem Verständnis der Metaphysik als Erkenntnistheorie aus formuliert er dann auch seine Metaphysikkritik – nämlich als Kritik an einer falschen Erkenntnistheorie. a)

Ontologie als Erkenntnistheorie

In einem Brief an Herrmann äußert Ritschl 1881 eine gewisse Unzufriedenheit damit, wie Herrmann das »Thema der Metaphysik, welches ich vor vielleicht 6 Jahren berührt und Ihnen überlassen habe,« entfaltet hat, nämlich als das »Problem der Kosmologie«, während ihm selbst jedoch »die Frage der Ontologie, wie man das Ding zu erkennen hätte«, vor Augen gestanden habe.57 Während bei Herrmann die Metaphysik die Aufgabe hat, den Unterschied zwischen geistigen Größen und Naturdingen festzustellen,58 setzt in Ritschls Verständnis 54

TuM, 17f. TuM, 23. 56 RuV3 I, 219f. 57 Briefwechsel, Nr. 111, 258; hier ist in Anm. 9 auch ein Brief an Kattenbusch aus demselben Jahr zitiert, in dem Ritschl schreibt, Herrmann habe »die kosmologische Seite des Problems erörtert, während ich die ontologische, erkenntnißtheoretische meinte«. 58 Z. B. HERRMANN, Metaphysik, 7. 14; s. ausführlicher unten S. 66f. 55

28

2. Kapitel: Albrecht Ritschl

die Metaphysik gerade vor und in Absehung von dieser Wirklichkeitsdifferenz an, indem sie untersucht, wie Dinge überhaupt, also natürliche wie geistige Größen gleichermaßen, erkannt werden: Die metaphysische Erkenntniß der Natur und des geistigen Lebens als Dinge ist a priori; sie stellt die in dem erkennenden Geist des Menschen entspringenden Formen fest, in welchem derselbe überhaupt über den Fluß der Empfindungen und Wahrnehmungen zu Fixierung von Objekten der Vorstellung fortschreitet.59

Metaphysik ist deshalb für Ritschl als Ontologie »Erkenntnißtheorie«, weil sie die »Fixierung der Erkenntnißobjecte« zum Ziel hat.60 Und weil sie derart grundlegend und allgemein vor aller die Dinge als spezielle voneinander unterscheidenden Untersuchung ansetzt, bezeichnet Ritschl sie gegenüber der »Naturwissenschaft« als »elementare, blos formale Erkenntniß«.61 Ritschl legt damit keine singuläre Meinung vor, sondern befindet sich im Mainstream der zeitgenössischen Philosophie. Im damals vorherrschenden Neukantianismus beschränkt sich die Philosophie selber auf Erkenntnistheorie, und zwar in Abgrenzung zur gerade untergegangenen spekulativen Systemphilosophie Hegels. Die Beschränkung auf Erkenntnistheorie wird als »Philosophieren im Geiste Kants« empfunden, während die konkrete Untersuchung der Wirklichkeit den sich immer stärker entwickelnden positiven Wissenschaften überlassen bleiben soll. Die Erkenntnistheorie der Philosophie soll den Wissenschaften einen soliden Boden für ihre Forschungen zur Verfügung stellen und ansonsten ihre Selbständigkeit und Unabhängigkeit gegenüber einem als dogmatische Bevormundung empfundenen philosophischen System Ernst nehmen und bejahen.62 Über die Gründe, warum Ritschl nun den schon damals durchaus belasteten Begriff der Metaphysik verwendet, um diesen dann auf die formale Erkenntnistheorie zuzuspitzen, lassen sich nur Vermutungen anstellen. Zum einen mag sich dies dadurch erklären, dass Lotze als Ritschls Hauptgewährsmann Erkenntnistheorie als Spezialfall der Ontologie und beide als Bestandteile der »Metaphysik« behandelt. Außerdem ist es möglicherweise in dem apologetischen Anliegen begründet zu zeigen, dass er zwar nicht die alte Metaphysik in Anspruch nimmt, aber sein Ansatz im Lichte einer modernen, in der Funktion der alten Metaphysik in Anspruch genommenen Philosophie gerechtfertigt ist. Dies mag auch der Grund dafür sein, dass er dabei den Umweg über Aristoteles nimmt, statt sich lediglich auf zeitgenössische philosophische Ansätze zu berufen. Der große Metaphysiker scheint ihm gegen den Vorwurf gerade aus dem lutherischen Lager Rückendeckung zu bieten, er verzichte in seinem theologischen Ansatz völlig auf 59 60 61 62

TuM, 8. TuM, 32. RuV3 III, 16. PASCHER, 33–40.

II. Ritschls Metaphysikverständnis

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die Metaphysik und damit auf eine objektive Begründung seiner theologischen Aussagen außerhalb des subjektiven Wertempfindens. b)

Ritschls Metaphysik

Ritschl legt seine Auffassung einer korrekt verstandenen Metaphysik erstmals und in ausführlicherer Form überhaupt nur in Theologie und Metaphysik, also 1881, dar. Er grenzt sie hier von einer so genannten »vulgären Ansicht von den Dingen« ab, die meint, über die konkreten Wahrnehmungen eines Dinges zu dem von seinen Wirkungen unabhängigen Wesenskern, dem ›Ding an sich‹ zurückgehen zu können.63 Ritschl geht davon aus, dass eine Sache nur in ihrer konkreten Erscheinung, nicht aber über einen abstrakten Allgemeinbegriff zu erkennen ist. Die Vorstellung eines ›Dinges‹ stellt für ihn die Objektivierung einer Wahrnehmung dar, die wiederholt und nur in Grenzen veränderlich an einem bestimmten Ort auftritt, und zwar als Bündelung bestimmter Sinneseindrücke, die der Mensch als Eigenschaften des Dinges wahrnimmt: Eben diese Beziehungen, welche in dem gemeinsamen Ort bei wiederholter Wahrnehmung zusammentreffen, fassen wir in der Vorstellung eines Dinges zusammen, das in seinen Beziehungen da ist, das wir nur in ihnen kennen, und mit ihnen benennen.

Daraus folgt, dass wir eine Sache »nur in den Prädicaten kennen«. Ein Absehen von diesen Prädikaten würde bedeuten, dass »das Ding, das wir unter diesen Merkmalen kennen gelernt haben, aus unserer Erkenntniß herausfallen« würde. Eine Sache wird nur über ihre Eigenschaften erkannt, die auf den menschlichen Geist wirken: »Vielmehr ist das Ding Ursache in seinen Wirkungen und Zweck in der geordneten Reihenfolge seiner erscheinenden Veränderungen.«64 Deshalb kann man diese Wirkungen nicht als etwas Zufälliges von den eigentlichen »in sich ruhenden Dingen« abtrennen.65 Das ›Ding‹ ist nach Ritschl damit nicht hinter, sondern nur in seiner konkreten Erscheinung erkennbar. Gegen Kants und im Übrigen auch Lotzes Auffassung, dass das eigentliche Ding unter seiner Erscheinung verborgen bleibt,66 betont Ritschl, dass das Ding wirklich erkennbar ist.67 Der Sinn der Ausführungen besteht in Theologie und Metaphysik aber vor 63

TuM, 33–37; vgl. RuV3 III, 19. Zum Folgenden s. SLENCZKA, Glaube, 178–182. TuM, 38; vgl. 19f, dort Hinweis auf LOTZE, Metaphysik, 185. 65 TuM, 39. 66 S. z. B. LOTZE, Mikrokosmos III, 231–233. 67 RuV3 III, 19f; vgl. SLENCZKA, 179f. WEYER-MENKHOFF, 41 merkt an, dass Ritschl Lotze hier »bewußt unvollständig, also nur halbrichtig rezipiert hat«: Ritschl übergeht Lotzes metaphysischen Vorbehalt gegen eine uneingeschränkte Erkenntnismöglichkeit, um so scheinbar mit Lotze Ding und Erscheinung miteinander zu identifizieren; WEYERMENKHOFF, 42–47. Allerdings ist auch zu beachten, dass Ritschl Lotze an dieser Stelle überhaupt noch nicht erwähnt, also als Gewährsmann in Anspruch genommen hat. Überhaupt 64

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2. Kapitel: Albrecht Ritschl

allem darin zu betonen, dass der Auslöser der wahrgenommenen Eigenschaften nicht als der »selbst unbezügliche ›Träger‹ dieser Eigenschaften«68 isoliert werden kann als das eigentliche Ding, sondern die Vorstellung eines Dinges stets an die Eigenschaften, also an die konkrete Sache gebunden bleibt. Die Abstraktion der Dinge von ihren Wirkungen ist für Ritschl eine sekundäre, der Begegnung mit der konkreten Sache nachgeordnete Sicht. Mit diesem Ausführungen wird noch einmal deutlich, warum die als Ontologie verstandene Metaphysik nichts anderes als Erkenntnistheorie sein kann. Die Dinge sind nichts anderes als die in der Vorstellung zu einer konstanten Einheit zusammengefassten Sinneseindrücke. Es gibt, wie Ritschl gegen »Platon« betont, kein hinter ihnen stehendes, eigentliches Wesen, das der Realität zu Grunde liegt und auf das sich die Ontologie richten könnte, aber in den Erscheinungen sind, womit er sich gegen Kant abgrenzt, die Dinge tatsächlich gegeben und zugänglich. Deshalb hat die Ontologie eine bleibende Bedeutung für Ritschl, ist jedoch abgeleitet aus dem »Erkenntnisvorgang« und nicht, wie im ›platonischen‹ Weg, Grundlage der aus ihr zu begründenden Erkenntnis.69 6. Metaphysikkritik Nachdem gezeigt wurde, was Ritschl unter Metaphysik versteht, kann nun verständlich werden, wie er von diesem Standpunkt aus andere Entwürfe der Metaphysik kritisiert. Auch wenn die Ausführungen in Theologie und Metaphysik die einzigen genaueren Bemerkungen Ritschls zur Metaphysik darstellen, klingen doch sein Metaphysikverständnis und die von da aus geübte Kritik bereits früher an. a)

»Schlechte Metaphysik«

Bereits in der ersten Auflage von Rechtfertigung und Versöhnung findet sich eine Metaphysikkritik, die Ritschl von der eben dargestellten Auffassung aus ist interessant, dass Ritschl in seinen Darlegungen Lotze nicht nennt. Lediglich im Nachgang, in Abgrenzung gegenüber Luthardt, zitiert Ritschl eine längere Passage aus Lotzes Metaphysik (TuM, 39f). Neben dieser Stelle ist Lotze in TuM, soweit ich sehe, nur noch auf S. 19 Anm. 1 namentlich genannt. Auch wenn bekannt ist, dass Ritschl nicht nur mit dem Göttinger Kollegen einen freundschaftlichen fachlichen Austausch pflegte (O. RITSCHL, Leben II, 376–378), sondern auch in einem Brief aus dem Jahr der Abfassung von TuM angesichts der Notwendigkeit, die eigene »Metaphysik . . . klar zu stellen«, bemerkt, er habe sich mit Lotzes Mikrokosmos befasst und fühle sich in der Lage, »darüber zu schreiben« (Briefwechsel, Nr. 111, 258 Anm. 8), darf man vielleicht doch die Eigenständigkeit Ritschls an diesem Punkt nicht unterschätzen. Erst in RuV3 III, 20 bezeichnet Ritschl pauschal Lotzes »Form der Erkenntnißtheorie« als seine Auffassung von »Metaphysik« und verweist auf seine »genauere Erörterung« in TuM. 68 SLENCZKA, Glaube, 179. 69 SLENCZKA, Glaube, 181.

II. Ritschls Metaphysikverständnis

31

übt. Er bezeichnet es als »schlechte Metaphysik«, Gott so genannte ruhende Eigenschaften70 beizulegen, denn solche Eigenschaften machen für ihn keinen Sinn: Was ist überhaupt ruhende Eigenschaft, wenn die Eigenschaften der Dinge notwendig immer als die Arten ihres Wirkens, insbesondere ihres Wirkens auf unsere Wahrnehmung gedacht werden müssen? Die Vorstellung von einer ruhenden Eigenschaft entspringt nur aus einer Selbsttäuschung, wenn unsere ununterbrochene Beobachtung durch die Art eines stetigen Wirkens gefesselt wird.71

Später im Buch spricht er im Rahmen der Christologie unter Rückbezug auf diese Stelle von der »metaphysischen Distinction, welche unwahr ist« und die dazu führt, das Wesen Christi zuerst separat darzustellen, um dann von dort aus sein Wirken verstehen zu können.72 Und noch etwas weiter kritisiert er die Vorstellung von einem Verständnis der Bibel, »daß sie enthalte, was an sich selbst wahr sei«. Weil Ritschl dagegen betont, dass »zur göttlichen Offenbarung« auch »die entsprechende Selbstbeurtheilung« des Menschen gehöre, hält er dieser Auffassung entgegen: »Als ob etwas als wahr gelten könnte, das nicht für uns gälte!« Hier fehle die Einsicht, »daß die Erkenntniß der Dinge immer darauf gegründet ist, daß sie auf uns wirken«. In dem kritisierten Verständnis spiegele sich »die Unfreiheit gegen die falsche Erkenntnißtheorie und die schlechte Metaphysik, welche zur wissenschaftlichen Form des alten theologischen Systems gehören«.73 In diesen Zusammenhang gehört schließlich noch die Bemerkung über den »durchgängig realistischen Charakter der Metaphysik, welche in der alten Theologie mitwirkt«,74 womit Ritschl auf die im Gegensatz zum Nominalismus stehende Meinung anspielt, das eigentliche Wesen der Dinge liege jenseits ihrer konkreten Erscheinungen. Die Stellen zeigen, dass Ritschl bereits 1874 zumindest Ansätze des Metaphysikverständnisses entwickelt hatte, das dann 1881 etwas gründlicher zur Darstellung kommt. Die als »schlechte Metaphysik« bezeichnete Auffassung kritisiert er dann später unter der Bezeichnung »Platonismus«. b)

»Platonismus«

Die Bezeichnung »Platonismus« begegnet zunächst bis Ende der 1870er Jahre als Synonym für den Neuplatonismus, womit Ritschl präzise den »Neuplatonismus 70 Ritschl meint die in der Orthodoxie als attributa νενέργητα seu quiescentia oder auch als »metaphysisch« bezeichneten Eigenschaften Gottes. Sie beinhalten unitas, simplicitas, immutabilitas, infinitas, immensitas sowie aeternitas und sollen Gott in sich, also vor seinem Wirken auf die Welt beschreiben; vgl. BRETSCHNEIDER, 386; SCHMID, 89. 71 RuV1 III, 213f = RuV3 III, 237. 72 RuV1 III, 343. 73 RuV1 III, 357. 74 RuV1 III, 111.

32

2. Kapitel: Albrecht Ritschl

des Areopagiten«75 meint oder die »spätplatonische« und »stoische« Philosophie, die die frühchristlichen Apologeten in die Theologie aufnahmen.76 Ab 1881 verwendet Ritschls sie auch für das, was er vorher »falsche Metaphysik« genannt hat. Dieser Gebrauch ist zuerst in Briefbemerkungen aus diesem Jahr greifbar und dann schließlich in Theologie und Metaphysik. In einem Brief an Herrmann schreibt Ritschl von der Notwendigkeit, die »Erkenntnistheorie, die wir befolgen, gegen den Platonismus der uns stets mißverstehenden Gegner« klarzustellen.77 Und im folgenden Brief an Herrmann führt er aus, dass die Ursache für »die ganze Fülle von Missverstand« gegenüber seinen theologischen Aussagen genau in der ›ontologischen Seite‹ der Metaphysik liege, nämlich die vulgäre und in der platonischen Ideenlehre verallgemeinerte und befestigte Meinung, daß das Wesen der Dinge räumlich und zeitlich hinter ihrer Erscheinung und Wirkung liege und in dieser Distinction aufgezeigt werden müsse.78

In Theologie und Metaphysik beschreibt er diese »vulgäre Ansicht von den Dingen« genauer. Seiner Ansicht nach begeht sie zwei Fehler. Einmal unterscheidet sie das Ding »an sich außer Beziehung zu unserer Empfindung und Wahrnehmung« von seinem »Dasein für uns«, d. h. in seiner Wirkung auf unsere Wahrnehmung. Diesen Fehler sieht Ritschl in der Gotteslehre seiner Kritiker Frank und Luthardt gegeben, die davon ausgingen, »daß man etwas von Gott an sich lehren könne, was abgesehen von seiner irgendwie beschaffenen, aber von uns empfundenen und wahrgenommenen Offenbarung für uns erkennbar wäre«. Der zweite Fehler besteht darin, dass der durch Abstraktion vom Konkreten gebildete Allgemeinbegriff über die erfahrenen Dinge gestellt wird. In Ritschls Augen ist dieser Begriff vom Ding nichts ist als ein »Erinnerungsbild«, in dem die wiederholte Wahrnehmung des konkreten Dinges objektiviert ist und das dann fälschlicher Weise als die eigentliche Wirklichkeit verstanden wird.79 Ein paar Seiten später erst bringt er diese Ansicht, die er zuerst bei zeitgenössischen Theologen kritisiert hat, mit der »Lehre Platon’s von den Ideen« in Zusammenhang und nennt in Umkehrung von Platons Höhlengleichnis den von allen Bestimmungen und Besonderheiten gereinigten Allgemeinbegriff als »Schattenbegriff der wirklichen Dinge«.80 Ab der zweiten Auflage von Rechtferti-

75

Geschichtliche Studien, 279/27; vgl. RuV1 III, 234. RuV1 I, 12. 342; vgl. RuV1 III, 193 (›spätplatonisch‹) = RuV2 III, 211/RuV3 III, 215f (›platonisch‹); TuM, 11. 28. 77 Briefwechsel, Nr. 111, 258; vgl. a. den Brief an Harnack, zit. bei O. RITSCHL, Leben II, 388. 78 Briefwechsel, Nr. 112, 262. 79 TuM, 33f. 80 TuM, 36f. 76

II. Ritschls Metaphysikverständnis

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gung und Versöhnung ist diese Auffassung von der Erkenntnis eines Dinges sofort von Platon hergeleitet und im selben Atemzug auf die »Scholastik« ausgedehnt.81 Dies alles macht deutlich, dass Ritschl den Namen »Platon« oder die Bezeichnung »Platonismus« lediglich als ein Etikett benutzt. Es geht ihm nicht um die platonische Philosophie, sondern er versucht mit diesen Bezeichnungen, die erkenntnistheoretischen Grundlagen seiner zeitgenössischen Kritiker begrifflich zu fassen und die Kritik daran pointiert zu benennen. In diesem Sinne versteht er die »platonische Erkenntnißtheorie« als diejenige Metaphysik, die er selbst bewusst aufgegeben habe und auf die sich seine Kritiker in Übereinstimmung mit der »theologischen Überlieferung« berufen.82 7.

Metaphysik als Kosmologie

Ritschl grenzt sich verschiedentlich ab von einem Verständnis der Metaphysik als »Totalweltanschauung« oder auch »Kosmologie«. Zuerst begegnet dies als ein »Fragezeichen« zu Herrmanns Auffassung, »daß Metaphysik aus der Absicht auf Totalweltanschauung hervorgehe oder immer in dem Sinne des Systems der Erkenntniß gemeint sei«.83 Die Bemerkung gilt einem Vorentwurf von Herrmanns Religionsschrift, den Ritschl im September 1878 erhalten hatte.84 In diesem Vorentwurf findet sich offensichtlich bereits das Verständnis der späteren Religionsschrift, wonach die Metaphysik das von den Naturwissenschaften einer Zeit erarbeitete Wissen zu einem geschlossenen Weltbild zusammenfasst, das dem theoretischen Erkennen eigentlich nicht möglich, das aber aus praktischen Gründen, nämlich der Beherrschung der Natur zum Nutzen der Menschen, notwendig ist.85 Diese Auffassung von Metaphysik steht Ritschl vor Augen, wenn er 1881 wiederholt betont, Herrmann habe mit der Metaphysik »das Problem der Kosmologie«, er selbst jedoch »die Frage der Ontologie, wie man das Ding zu erkennen hätte«, gemeint.86 Auch in späteren Schriften grenzt er sein eigenes RuV2 III, 19 = RuV3 III, 19. TuM, 41; vgl. 46 sowie 42 die Bezeichnung von Hermann Weiß »als quasi Platoniker«. 83 Briefwechsel, Nr. 69, 174. 84 Briefwechsel, 469. 85 HERRMANN, Religion, 68–77, s. u. S. 81f. Die gegen Ende der späteren Religionsschrift zu findenden Bemerkungen Herrmanns über eine »rechtschaffene Metaphysik«, Religion, 360–362, die Ritschls eigener Auffassung vom formalen Charakter der Metaphysik sehr nahe kommen, waren in dem Auszug, den Ritschl gelesen hatte, noch nicht enthalten; vgl. Briefwechsel, 470f. 86 Briefwechsel, Nr. 111, 258 – zusammen mit dem in Anm. 9 zitierten Brief an Kattenbusch; Nr. 112, 262. Dass Herrmann in der Metaphysikschrift eine Auffassung vorgelegt hatte, die Ritschls Verständnis in weiten Zügen entspricht und die auch den als »Schlußhypothese« bezeichneten metaphysischen Entwurf einer Welteinheit ablehnt (s. u. S. 67f), scheint hier in den Hintergrund getreten zu sein. 81 82

34

2. Kapitel: Albrecht Ritschl

Metaphysikverständnis ab gegen eine »Kosmologie«, die durch ihre »Begriffe a priori« die Dinge der Wahrnehmung in der Vorstellung zur »Einheit der Welt« ordnet,87 oder eine »Gesammterkenntniß der Welt, welche zugleich elementar und zugleich die abschließende und erschöpfende Erkenntniß der Ordnung alles besonderen Daseins wäre«.88 Wenn Ritschl hier von »Kosmologie« spricht, dann hat er nicht nur und auch nicht in erster Linie die traditionelle metaphysische Kosmologie als Teil der Metaphysica specialis im Blick. Das Metaphysikverständnis, das Herrmann in der Religionsschrift wiedergibt, hat einen Anhalt in Entwicklungen in der Philosophie des 19. Jahrhunderts, etwa in der Entwicklung im und neben dem Neukantianismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von einer streng auf Erkenntnistheorie beschränkten formalen Philosophie zu einer ›positiven‹ Philosophie, also einer Art »Weltanschauungsphilosophie«, in der das Wissen der Zeit zu einem einheitlichen Weltbild zusammengefasst werden soll.89 Wenn Ritschl ein Verständnis der Metaphysik als Kosmologie in diesem Sinn ablehnt, dann folgt dies natürlich zum einen aus seiner eigenen Auffassung der Metaphysik als Ontologie beziehungsweise Erkenntnistheorie. Zum anderen ist dies begründet in seiner Unterscheidung von religiösem und theoretischen Erkennen. Wie bereits oben dargestellt, gehört die »Absicht, das Ganze zu begreifen«, nicht zum »theoretischen« oder, wie er später sagt, »uninteressirten Erkennen«, sondern in den Bereich der Religion.90 8. Welche Metaphysik? Ritschl bemerkt selbst einmal, dass Metaphysik ein vieldeutiger Begriff ist, um daraufhin sein eigenes Metaphysikverständnis darzulegen.91 Gegen welche Metaphysik aber grenzt er sich ab? Lassen sich konkrete Entwürfe ausmachen, die er mit seiner Kritik im Auge hat? Falls ja, so ließe sich etwas präziser erfassen, was er eigentlich genau durch seine Metaphysikkritik ablehnt. Wie wir gesehen haben, befasst Ritschl sich nicht wirklich mit »Platon« oder dem »Platonismus«. Ebenso wenig richtet sich seine Metaphysikkritik gegen die aristotelische Philosophie – Aristoteles ist für ihn im Gegenteil ein Gewährsmann für das Verständnis der Metaphysik als Ontologie. Seine Kritik 87

TuM, 9. RuV3 III, 17. 89 PASCHER, 44f; zur Frage der Weltanschauung als einem typischen Anliegen des 19. Jahrhunderts und ihrem Zusammenhang mit der Erkenntnisthematik vgl. ZACHHUBER, Weltbild, bes. 175–179. Solche Versuche, aus den Ergebnissen der einzelnen Wissenschaften durch Hypothesen auf spekulativem Weg zu einem zusammenhängenden Bild der Wirklichkeit zu gelangen, werden später auch als »induktive Metaphysik« bezeichnet – zu ihr wird unter anderem Lotze gezählt; vgl. MARCUS, 1280; EISLER, 404f. 90 RuV3 III, 204f; vgl. 197f. S. o. S. 19f. 91 RuV3 III, 16. 88

II. Ritschls Metaphysikverständnis

35

gilt eher der Verwendung des Gottesgedankens innerhalb der Ontologie, den er aber, wie gezeigt, nicht wirklich als Gottesgedanken akzeptiert.92 Auch trifft die Hauptstoßrichtung von Ritschls Kritik, dass die konkreten Dinge als das eigentlich Seiende den Allgemeinbegriffen vorzuziehen sind, eher nicht die aristotelische Metaphysik mit ihrem Vorrang des konkret Seienden.93 Auch die Scholastik des Mittelalters scheint nicht das Ziel von Ritschls Metaphysikkritik zu sein. Zwar befasst er sich mit ihr, teilweise auch ausführlich und kritisch, aber im Zusammenhang mit der Metaphysik begegnet sie eher marginal und als Etikett.94 Dagegen wird aus zahlreichen Nebenbemerkungen deutlich, dass Ritschl sich vor allem im Gegensatz zur Metaphysik der protestantischen Orthodoxie sieht. So bezeichnet er die »Meinung, daß das Wesen der Dinge räumlich und zeitlich hinter ihrer Erscheinung und Wirkung liege und in dieser Distinction aufgezeigt werden müsse«, als das »Schema«, in dem »die alte Dogmatik concipirt« sei.95 Oder er rechnet die »falsche Erkenntnißtheorie und die schlechte Metaphysik . . . zur wissenschaftlichen Form des alten theologischen Systems«.96 Damit steht ihm also die auch als »Schulmetaphysik« bezeichnete Philosophie vor allem des 17. Jahrhunderts vor Augen. 92

Insofern ist ein wenig Skepsis gegenüber dem Urteil bei SCHÄFER, 87 angebracht, Ritschl kritisiere die aristotelische Metaphysik, weil sie »der griechischen Naturreligion entstammt«. Wir haben o. S. 20 bereits gesehen, dass Ritschl griechische Philosophie und griechische Religion in ein Spannungsverhältnis zueinander setzt. In seinen Darlegungen vermischt Schäfer nicht nur die Begriffe »Metaphysik« und »natürliche Theologie«, die bei Ritschl in der Regel unterschieden sind, sondern nimmt auch nicht ernst, dass Ritschl sich für seine eigene Position auf Aristoteles beruft. Gegen Schäfer ist zu betonen, dass Ritschl die Metaphysik nicht deshalb kritisiert, weil sie mit der mangelnden Unterscheidung von Natur und Geist fremde religiöse Voraussetzungen in die Reflexion des Christentums einträgt. Vielmehr stimmt er dem Wesen der Metaphysik zu, vor der Unterscheidung von Natur und Geist anzusetzen, nämlich als formale Erkenntnistheorie, die feststellt, wie ein Ding, sei es geistiger, sei es materieller Natur, überhaupt erkannt werden kann; s. RITSCHL, TuM, 8f. 32–40. Schäfers Blick ist möglicherweise von Herrmann beeinflusst, der heidnische Religion und Metaphysik in ein ungebrochenes Verhältnis zueinander setzt (vgl. schon HERRMANN, Metaphysik, 3) und davon spricht, dass die Metaphysik unbesehen heidnische Voraussetzungen in die Theologie eintrage, HERRMANN, Religion, 95–97. 127–129; s. u. S. 88. 90f. 93 Vgl. etwa die πρ ται υσίαι in der Kategorienschrift (ARISTOTELES, Cat. 5, 2a 35–2b 7). Allerdings widerspricht Ritschls Verständnis des Dinges als objektivierter Sammelpunkt wiederholt erfahrener Eigenschaften der aristotelischen Auffassung eines der Erfahrung tatsächlich vorgegebenen Dinges. 94 TuM, 65; RuV3 III, 19. 202. 208. 215. 95 Briefwechsel, Nr. 112, 262. 96 RuV1 III, 357. An anderen Stellen begegnet die »schlechte Metaphysik« (RuV1 III, 213 = RuV3 III, 237) im Zusammenhang mit der »orthodoxen Auffassung« (§ 32 in RuV1 III, 210– 225 = RuV3 III, 233–250) oder Ritschl spricht vom »durchgängig realistischen Charakter der Metaphysik, welche in der alten Theologie mitwirkt« (RuV1 III, 111).

36

2. Kapitel: Albrecht Ritschl

Diese Metaphysik war die Grundlage für die Ausarbeitung der konfessionellen theologischen Dogmatik. Sie ist weniger statisch und monolithisch, als sie heute weitgehend wahrgenommen wird. In ihr fanden wichtige Entwicklungen statt, die sie von der vorneuzeitlichen Metaphysik unterscheiden und an die gleichzeitig Ritschls Auseinandersetzung anknüpft. Zum einen ist dies die Trennung von Ontologie und (rationaler) Gotteslehre. In der vorneuzeitlichen Metaphysik war bis einschließlich Suárez Gott ein unhinterfragter Bestandteil der Wirklichkeit und deshalb auch untrennbar von der metaphysischen Wirklichkeitsreflexion.97 Erst in der Neuzeit werden Gott und beobachtbare Wirklichkeit so voneinander getrennt, dass die Betrachtung des Seienden überhaupt ohne Bezug auf Gott betrieben werden kann. Dazu tritt die zunehmende Spezialisierung der Wissenschaften, durch die die Themen der Metaphysica specialis, also neben der rationalen Theologie etwa auch Kosmologie oder Psychologie, in eigenständige Einzelwissenschaften auswandern. In der Schulmetaphysik führen diese beiden Entwicklungen dazu, dass sich ihr Gegenstandsbereich im Laufe der Zeit immer mehr hin zu einer reinen Ontologie verschiebt, die zwar den Gottesgedanken noch nicht völlig aus den Augen verliert, aber doch als Voraussetzung statt als Teil der Metaphysica generalis betrachtet.98 Auf diesem Hintergrund kann Ritschl die Metaphysik als reine Ontologie auffassen und somit die Verwendung des Gottesgedankens bei Aristoteles oder die Verbindung von theoretischem Erkennen und Gott in den scholastischen Gottesbeweisen als eine unmotivierte und sachfremde Einmischung beurteilen. Die andere wichtige Veränderung gegenüber der vorneuzeitlichen Metaphysik ist die Relevanz der Erkenntnisthematik. Letztere spielt in der scholastischen Philosophie keine bedeutendere Rolle, sondern wird erst im Zuge der gesamteuropäischen Entwicklung der frühen Neuzeit (Bacon, Descartes, Locke u. a.) zu einem Thema auch in der Schulmetaphysik des 17. Jahrhunderts: In der »neuen Wissenschaft der Gnostologie« wird dem ens reale das ens rationis gegenübergestellt.99 Und in der Folge ist es dann möglich, Metaphysik überhaupt als Erkenntnstheorie zu verstehen. Natürlich verdankt sich Ritschls Interesse an der Erkenntnisthematik der Philosophie seiner Zeit. Aber die Tatsache, dass er Metaphysik als Erkenntnistheorie bezeichnen kann, beruht auf der Entwicklung innerhalb der neuzeitlichen Metaphysik, durch die sich schon die barocke Schulmetaphysik von der vorneuzeitlichen Philosophie absetzt. Nun will Ritschl allerdings keine Auseinandersetzung um historische Entwürfe von Theologie oder Philosophie führen. Ihm geht es um eine AuseinandersetSo etwa das Verständnis der πρώτη φιλοσοφία als θεολογική bei ARISTOTELES, Met. E 1, 1026a 16–18; vgl. A 2, 983a 5–10; K 7, 1064b 1–5; vgl. ROSS, lxxviii–lxxix. Ebenso SUÁREZ, s. 1, n. 26: »objectum adaequatum hujus scientiae debere comprehendere Deum«; vgl. n. 19: »ergo absolute Deus cadit sub objecum hujus scientiae«. 98 WUNDT, 166–172. 218–227. 99 WUNDT, 227f. 231f. 97

III. Metaphysik in der Theologie

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zung in der Gegenwart. Besonders seine Schrift Theologie und Metaphysik zeigt deutlich, dass sein eigentliches Gegenüber die neulutherische Theologie ist, wie sie vor allem bei Luthardt und Frank in Erscheinung tritt. Sein Interesse besteht darin zu zeigen, dass er, anders als die am Überkommenen festhaltenden Lutheraner, eine zeitgemäße Philosophie für seinen theologischen Entwurf in Anspruch nimmt. In diesem Sinne gesteht er den Gegnern zwar zu, die Tradition auf Ihrer Seite zu haben, macht aber gerade diesen Hintergrund dafür verantwortlich, dass sie seinen Ansatz missverstehen. So entgegnet er auf Luthardts Kritik, daß ich eine andere Erkenntnißtheorie, eine andere Fixierung der Erkenntnißobjecte übe, als der Vertreter des Hergebrachten und Überlieferten. Weil ich die Dinge, welche der Theologie angehören, anders bestimme, wie er es gewohnt ist, kann er nicht verstehen, warum ich manches lehre, was ihm so noch nicht vorgekommen ist, und manches dahingestellt lasse, worauf er Werth legt.100

In dieser Perspektive erscheinen die gegnerischen Lutheraner als im Gestern verhaftete Traditionalisten, die die Notwendigkeit der Gegenwart nicht sehen und meistern. Die kritisierte Metaphysik, die Ritschl vor Augen steht, ist also nicht nur die von der orthodoxen Dogmatik verwendete Schulmetaphysik, sondern vor allem ihre Fortführung bei den Gegnern der Gegenwart. Der nächste Teil wird unter anderem zeigen, worin Ritschl das Problem dieser Metaphysik in der Theologie sieht.

III.

Metaphysik in der Theologie

In seiner Auseinandersetzung mit Luthardt und Frank betont Ritschl, es sei »eine unüberlegte und unglaubliche Behauptung, daß ich alle Metaphysik aus der Theologie ausschiede«.101 Wir haben gesehen, dass Ritschl ein positives Verständnis der Metaphysik entwickelt hat, und es wird weiter unten noch deutlich werden, welche Rolle er der so verstandenen Metaphysik in der Theologie zuweist. Dennoch trägt Ritschl eine gewisse Mitverantwortung für die Auffassung, er lehne jegliche Metaphysik in der Theologie ab. Abgesehen von der Tatsache, dass er die Lehre von Gott in Rechtfertigung und Versöhnung ja tatsächlich und bewusst ohne Rückgriff auf traditionelle metaphysische Begriffe entfaltet, begegnen auch immer wieder Bemerkungen in seinen Schriften, die als generelle Ablehnung der Metaphysik missverstanden werden können. So scheint er nicht nur eine falsche, sondern die Metaphysik überhaupt abzulehnen, wenn er die Auffassung kritisiert, »die Theologie müsse ihr höchstes 100

TuM, 32; vgl. 41f. 47. TuM, 40. Luthardt hatte in seinem Kompendium der Dogmatik, 5 1878, 62 Ritschl die »Ausscheidung alles Metaphysischen« vorgeworfen; zit. bei RITSCHL, TuM, 5. 101

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2. Kapitel: Albrecht Ritschl

Problem metaphysisch auffassen und lösen«,102 die »Neigung zur Metaphysik« von Weiß und Luthardt bemängelt103 oder den Versuch, »theologische Themata metaphysisch zu beurtheilen«104 . Wir werden sehen, dass im Gesamtzusammenhang von Ritschls Ansatz diese Formulierungen nicht als generelle Ablehnung der Metaphysik zu verstehen sind, denn Ritschls Kritik richtet sich nicht nur auf eine falsche Metaphysik, sondern – und dies trifft auf die zitierten Bemerkungen zu – auch auf eine falsche Verwendung der Metaphysik in der Theologie.105 Ritschls Hauptargument ist in beiden Fällen hermeneutischer Art: Die alte Metaphysik sowie ihre Funktion in der alten Dogmatik führen dazu, dass religiöse Vorstellungen falsch verstanden werden. Damit legt Ritschl die Grundlage für die Metaphysikkritik der in dieser Arbeit miteinander verbundenen theologischen Ansätze. Wie Ritschl das Problem genauer fasst, soll nun dargestellt werden. Und am Ende soll noch ein kurzer Blick auf die Frage geworfen werden, welche Funktion Ritschl der in seinen Augen korrekten Metaphysik überhaupt noch in der Theologie einräumt. 1.

Die Verwechslung von Metaphysik und Religion

Ritschl wendet sich verschiedentlich gegen die Meinung einer engen Zusammengehörigkeit oder sogar »Verwechslung von Metaphysik und christlicher Religion«.106 Das Problem einer solchen Verwechslung besteht darin, dass sie sich auf das Verständnis der Theologie auswirkt. Ritschl kritisiert, dass aus dem Vorkommen einer Gotteslehre in der Metaphysik der Schluss gezogen werde, Theologie könne nur »metaphysisch« betrieben werden und »jede wissenschaftliche Bestimmung des Gottesbegriffs auch innerhalb der positiven Theologie« sei »metaphysische Erkenntniß«.107 Diese Konsequenz steht Ritschl in Theologie und Metaphysik vor Augen. Er wendet dagegen ein, dass metaphysische Erkenntnis für die religiösen Vollzüge völlig belanglos ist und den religiösen Gottesgedanken auch in der Reflexion überhaupt nicht erreichen kann. Wir haben weiter oben bereits gesehen, dass Ritschl den Gottesgedanken in der Metaphysik des Aristoteles als eine sachfremde und unberechtigte Einmischung beurteilt.108 Nicht nur innerhalb der Metaphysik aber ist die Gleichsetzung von Gottesgedanken und Weltgrund problematisch, sondern auch aus der Perspektive der Religion. Zwar findet Ritschl in dem im griechischen Polythe102 103 104 105 106 107 108

Lesefrüchte, 212f. TuM, 47. TuM, 55. Vgl. TuM, 32. TuM, 9f; Briefwechsel, Nr. 24, 82. Lesefrüchte, 212f. S. o. S. 24f.

III. Metaphysik in der Theologie

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ismus angelegten »monotheistischen Zuge« einen gewissen Wiederhall für den unbewegten Beweger des Aristoteles. Dennoch, betont er, überwiege die Differenz desselben zur Auffassung eines göttlichen Wesens, zu dem die »Fürsorge für die Menschen und die Übung der vergeltenden Gerechtigkeit« gehöre. Weil eben dies für den unbewegten Weltgrund nicht zutreffe, folgert Ritschl: ». . . keine Gottesverehrung kann sich an diesen Gedanken knüpfen«. Ritschl setzt den aristotelischen Gottesgedanken eher mit der Vorstellung des unbegreiflichen Schicksals bei den Griechen gleich, das »die Menschen in ihrer Noth stecken« lässt und unterstreicht noch einmal: ». . . ebenso wenig kann die Größe in der Welt, welche Aristoteles Gott nennt, religiöse Verehrung auf sich ziehen«.109 Um Ritschls Bemerkungen an dieser Stelle richtig zu verstehen, muss man sie in seinen Religionsbegriff und das dem Christentum darin zugewiesenen Verständnis einordnen. Ritschl definiert die Religion, wie wir bereits gesehen haben, als die von einer überlegenen geistigen Macht aus entworfenen einheitlichen Weltsicht, die dem Menschen das Selbstverständnis ermöglicht, sich als geistiges Wesen über die Natur zu erheben.110 Dies aber ist gegenüber anderen Religionen wie der griechischen Religion oder dem Judentum im Christentum in vollkommener Weise gegeben, indem das Verständnis von der Ganzheit der Welt durch den einen Gott (im Unterschied zu vielen Göttern) als zweckgebende geistige Macht über alles (im Unterschied zur Beschränkung auf das Volk im Judentum) ermöglicht ist.111 Weil Ritschl Gott entsprechend seinem Religionsbegriff als »Macht« definiert, die den Menschen in seinem Bewusstsein als Geist über die »Hemmungen aus der Natur« erhebt, macht ein metaphysischer, also vor der Unterscheidung zwischen Natur und Geist ansetzender Gottesgedanke überhaupt keinen Sinn. Die 109 TuM, 10f mit Verweis auf HERRMANN, Religion, 123ff. Obwohl Ritschl hier auf Herrmann verweist, geht doch der Gedanke der mangelnden religiösen Valenz des metaphysischen Gottesgedankens auf ihn selbst zurück. Er begegnet zuerst 1876, als er Herrmann anlässlich der Lektüre von dessen Metaphysikschrift darauf aufmerksam macht, dass »in der Lehre des Aristoteles von Gott« der Grund für die »Verwechslung von Metaphysik und christlicher Religion« liege. In Bezug auf Frank fügt er dann an, dass dieser mit seiner Absolutheit »sein Vertrauen auf das Kleidergestell, das Skelett, das X setzt, welches Aristoteles Gott nennt, . . . um dann an die ausgestreckten Arme dieses nackten Schemas rechts die pharisäische und links die christliche Weltanschauung zu hängen«; Briefwechsel, Nr. 24, 82; vgl. Lesefrüchte, 214. Herrmann stimmt dem zu und führt diesen Gedanken in der Religionsschrift deutlicher aus, worauf sich Ritschl dann wiederum bezieht. Hinter dem Gedanken steht Ritschls Auffassung, dass der Kultus integraler Bestandteil der durch Offenbarung begründeten und auf Erlösung zielenden Religion ist, z. B. RuV1 III, 8f. 176f. 110 RuV1 III, 16f. 170; s. o. S. 19–21. 111 Darauf zielt § 27 in RuV III trotz erheblicher Unterschiede zwischen den Auflagen im Wesentlichen ab, RuV1 III, 170–178, bes. 173f = RuV2 III, 181–189, bes. 186f = RuV3 III, 184–193, bes. 189f. Zum im 19. Jahrhundert verbreiteten Modell der Religionsstufen und der besonderen Entfaltung bei Ritschl s. HÖK, 178–249.

40

2. Kapitel: Albrecht Ritschl

Verwendung des Gottesgedankens gesteht Ritschl Aristoteles und dem Spätplatonismus allenfalls, wie oben bereits dargestellt, auf dem Hintergrund der defizitären, weil Götter und Natur miteinander vermischenden griechischen Religion zu. Aber für die Christen bedeutet dies definitiv, dass es »keine metaphysische Erkenntniß des Gottes« geben kann, »an den man um seiner Seligkeit willen glaubt«.112 Was auch immer durch metaphysische Arbeit erreicht wird, es ist in religiöser Hinsicht irrelevant. Von hier aus kritisiert Ritschl nun auch die Gottesbeweise der scholastischen Theologie und greift dafür auf Gedanken zurück, die er bereits früher ohne Bezug zur Metaphysik dargestellt hat.113 Die Argumentation richtet sich in Theologie und Metaphysik konkret gegen Luthardt, den Ritschl einen »Vertreter der Metaphysik als eines wesentlichen und werthvollen Bestandtheils der Theologie« nennt, weil er auf der Bedeutung der klassischen Gottesbeweise in der Theologie besteht. Ritschl bezeichnet den kosmologischen und den teleologischen Gottesbeweis als »metaphysisch«, weil sie eben ohne Unterscheidung zwischen Natur und Geist die Welt auf die entsprechenden Kausalketten hin betrachten.114 Dabei ist es, wie bereits dargestellt, nicht schon die einheitliche Behandlung von natürlichen und geistigen Größen, die Ritschl in der Metaphysik als problematisch beurteilt. Das eigentliche Problem besteht für ihn darin, wenn dieser Metaphysik eine direkte Verbindung zum Gottesgedanken, dessen Bedeutung eben nur durch die Differenz zwischen Natur und Geist erfasst werden kann, unterstellt wird. Im Blick auf den kosmologischen Beweis wendet Ritschl ein, der »übliche Ansatz«, Gott einfach mit der alle res causatae begründenden causa sui gleichzusetzen, sei schlichtweg »falsch«. Denn: »Causa sui ist jedes Ding in sich, indem es zugleich in anderer Beziehung als res causata begriffen wird.« Einen wirklichen Abschluss der Kausalkette, die den ständigen Übergang von verursachtem zu verursachendem Ding unterbricht, erreicht man nur in der Annahme einer causa sui, die »in derselben Beziehung in der sie dieses ist, auch causa omnium ist«. Dies aber führt nach Ritschl lediglich zu dem Schluss, dass die Welt eine einheitliche, geschlossene »Substanz«, das »Eine Ding« darstellt. Der »Begriff eines einheitlichen Weltgrundes« impliziert jedoch keinen Gottesgedanken, sondern lediglich ein Verständnis von der Welt, das diese als Ursache der sonst als unendlich anzunehmenden Dinge setzt. Und daraus schließt Ritschl:

112 113 114

TuM, 11. S. o. S. 17–19. TuM, 12.

III. Metaphysik in der Theologie

41

Sofern diese Reflexion metaphysisch ist, hat sie gar kein näheres Verhältniß zur christlichen Religion, also auch keine specifische Bedeutung in der Theologie . . . 115

Auch dem teleologischen Beweis spricht Ritschl jede Tragkraft ab. Bereits Aristoteles habe von der »Annahme eines letzten Zweckes« aus die Vorstellung eines »Weltganzen« entworfen und diesen letzten Zweck, als »Weltseele« verstanden, »mit höchster Intelligenz« ausgestattet. Gegen ein solches Verfahren wendet Ritschl die Beobachtung ein, dass es neben »zweckmäßigen« auch zahlreiche »unzweckmäßige Beziehungen« in der Welt gibt. Deshalb führe dieser Weg »zu keinem Ziele, geschweige denn zu einem sichern Schluß auf einen überweltlichen Gott«.116 Generell aber gilt von den »beiden lediglich metaphysisch angelegten Beweisen«, dass sie nicht zur christlichen Gottesvorstellung führen, »sondern nur zu Begriffen der Welteinheit, welche gegen jede Religion neutral ist«. Und zwar deshalb, weil die vor dem Unterschied zwischen Natur und Geist ansetzende Metaphysik auf einer völlig anderen Ebene agiert als die religiöse Weltanschauung, die eben auf die Selbstunterscheidung des Menschen von der Natur zielt. Der immanente Weltgrund der Metaphysik ist mit dem religiösen Gottesgedanken schlichtweg inkompatibel und trägt Vorstellungen in die Theologie ein, die der Religion fremd sind. Deshalb fordert Ritschl: Diese Verwendung von Metaphysik muß also aus der Theologie ausgeschieden werden, wenn deren positiver eigenthümlicher Charakter aufrecht erhalten werden soll.117

Welche Schäden aus einer solchen falschen Verwendung der Metaphysik entstehen, wird nun im nächsten Abschnitt Thema sein. 2.

Der hermeneutische Aspekt

Bereits Ritschls Metaphysikverständnis hat sich oben als gegenüber Herrmann selbständig erwiesen. Auch seine Metaphysikkritik setzt einen eigenen Schwerpunkt und verdankt sich nicht einfach dem Einfluss Herrmanns.118 Dies ist schon 1875 greifbar, wenn Ritschl über Herrmanns entstehende Metaphysikschrift bemerkt: Ihr Titel: »Die Metaphysik in der systematischen Theologie des Christentums« entspricht nicht meinem Gesichtspunkt. Einmal würden die beiden letzten Worte zu tilgen sein. Dann 115

TuM, 12f; vgl. RuV3 III, 205. Die neuzeitliche Gleichsetzung von causa sui und Gott geht zurück auf Spinoza, Ethica, Pars prima: De Deo, Def. 1: »Per causa sui intelligo id cujus essentia involvit existentiam sive id cujus natura non potest concipi nisi existens.« 116 TuM, 14f; vgl. bereits RuV1 III, 186. 117 RuV3 III, 17f; vgl. 206. 208. 118 So jedoch TIMM, 98–101. Timm ist allerdings insofern Recht zu geben, als Ritschls Metaphysikverständnis durchaus im Dialog mit Herrmann geschärft ist, wie dies etwa bei der Auffassung der Metaphysik als Kosmologie oder der deutlicheren Ausarbeitung des mangelnden religiösen Charakters der metaphysischen Gottesvorstellung deutlich wurde.

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2. Kapitel: Albrecht Ritschl

aber habe ich es hauptsächlich auf die Einmischung der Metaphysik in die Exegese abgesehen, die Sie in Meyer’s Evangeliencommentaren an den betreffenden Orten konstatieren werden.

Wie Ritschl weiter bemerkt, liegt die Wurzel dafür letztlich in der Rolle der Metaphysik in der Dogmatik, die das Verständnis der Exegese leite.119 Dies zeigt die Problematik an, um die es Ritschl auch später in Theologie und Metaphysik geht, dass nämlich Schriftstellen und christliche Vorstellungen nicht aus der Schrift verstanden werden, sondern von metaphysischen Begriffen her. Dies aber ist nichts anderes als die Frage nach der korrekten Hermeneutik in der Theologie. Schon früh und damit vor Herrmann finden sich bei Ritschl Bemerkungen, die zeigen, dass er die Metaphysik in der Theologie aus hermeneutischen Gründen ablehnt. So führt Ritschl in den frühen Dogmatikvorlesungen den angeblichen »Conflict zwischen Vernunft und Offenbarung« in Wahrheit darauf zurück, dass die christlichen Vorstellungen in unangemessenen »Denkformen« der »griechischen Philosophie« und dadurch mit einem »metaphysischen Zusatz« versehen »reflecirt« wurden.120 Das Denken der griechischen Philosophie aber betrachtet Ritschl als zugehörig zu einer dem Christentum unterlegenen geistigen »Stufe« und als »mangelhaft« – was bedeutet: nicht in der Lage, zwischen Natur und Geist zu unterscheiden: Denn die Formen von Substanz und Accidenz, von Ding und Eigenschaften passen nur auf das Gebiet der Erscheinung, nicht auf die Wirklichkeit des Geistes und Willens; ihre Anwendung auf diese führt nothwendig zu Widersprüchen.121

Das heißt, die christlichen Vorstellungen treten nur deshalb in Konkurrenz zur Vernunft, weil sie in einem falschen Horizont verstanden werden. Ähnlich betont Ritschl in der Ethik-Vorlesung, dass die »Metaphysik« ungeeignet sei für das Verständnis der »Glaubenssätze« und die »Hauptfragen der Dogmatik« stattdessen von »ethische[n] Begriffe[n]« her zu behandeln seien.122 Welche Probleme ein solches metaphysisches Verständnis von Glaubensvorstellungen verursacht, stellt Ritschl in Theologie und Metaphysik an vier Beispielen dar: der ›Absolutheit‹ als Gottesprädikat bei Frank, der Auslegung von Stellen des Johannesevangeliums, dem Verständnis von Allgemeinbegriffen her und am Streit des 16. Jahrhunderts über die Erbsünde. 119

Briefwechsel, Nr. 13, 66. Dogmatikvorlesungen 1853 und 1856, zit. b. HÖK, 338f Anm. 32. 121 Dogmatikvorlesung 1856 und 1860, zit. b. HÖK, 339 Anm. 32; zur mangelnden Unterscheidung von Natur und Geist auf der Stufe der griechischen Philosophie vgl. a. RuV1 III, 12f. 122 Ethik, 7f; der Edition liegt die Fassung vom Sommer 1872 zu Grunde, die erste Fassung der Vorlesung stammt aus dem Jahr 1858. Zur Teleologie als Verstehenshorizont geistiger Größen und damit auch für das Verständnis der Religion, besonders der christlichen, s. a. ZACHHUBER, Theology, 180–196. 120

III. Metaphysik in der Theologie

a)

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Die ›Absolutheit‹ Gottes

Ritschl hatte in der ersten Auflage von Rechtfertigung und Versöhnung Gott ausschließlich soteriologisch von seinem Liebeswillen her bestimmt.123 Frank kritisiert diese Gotteslehre, weil seiner Auffassung nach die auch vom Menschen, also vom Geschaffenen aussagbare Liebe allein nicht die Einzigartigkeit von Gottes Gottheit erfassen lasse, und fordert dafür den Begriff der »Absolutheit«.124 Ritschl setzt sich nun mit diesem Einwand auseinander und kritisiert, dass damit das biblische Verständnis Gottes als Liebeswillen einen sekundären Rang erhält. Die Behauptung Franks, der »positive Begriff der Absolutheit« sei für den Christen durch biblische Vorstellungen gefüllt, bezeichnet Ritschl als »nicht wahr, jedenfalls nicht nachweisbar«.125 Der Begriff der Absolutheit, »das bloße Fürsichsein«, ziele gerade auf die Freiheit von Beziehungen, weshalb Ritschl keine Berechtigung finden kann, ihn mit biblischen Vorstellungen wie »der Fels der uns erzeugt und der Gott der uns geboren« zu verbinden. Für ihn führt dies unweigerlich in einen Widerspruch. Entweder schließt der Begriff der Absolutheit solche »Beziehungen« aus, oder diese Vorstellungen heben, falls sie doch als wahre »Prädicate« Gottes betrachtet werden müssen, den Begriff des Absoluten auf. Dagegen richtet Ritschl, neben dem Argument, dass »das Absolute« gar nicht religiösen Ursprungs ist und damit völlig unnötig durch die Metaphysik eingetragen wird, hauptsächlich einen an die spätere hermeneutische Diskussion erinnernden Einwand, indem er auf die Sinnlosigkeit solcher Behauptung verweist: Sagen kann man ja alles, also auch, daß das außer Beziehung auf Anderes stehende Ding Liebe zu Anderen hat oder ist; aber einen brauchbaren Sinn hat solche Rede nicht.126

Ritschl sieht den Schaden hier also darin, dass die Metaphysik einen durch die biblischen Vorstellungen gar nicht erforderlichen Begriff in die theologischen Reflexion einträgt und die daraus resultierende Verbindung zu sich gegenseitig aufhebenden und damit sinnlosen Aussagen führt. b) Die metaphysische Auslegung von Schriftstellen Ritschl setzt sich dann mit der Auslegung von Stellen aus dem Johannesevangelium auseinander, in denen es um die Einheit Jesu mit dem Vater und um die Einheit der Gläubigen untereinander geht. Das Einfallstor für die Metaphysik bietet sich in der Frage, wie die Einheit jeweils genau zu bestimmen ist. Ritschl kritisiert zunächst Meyer, der in seinem Kommentar zu Joh 10, 30 (»Ich und der Vater sind eins.«) trotz seiner Deutung der Beziehung als »Einheit der Macht« und 123 124 125 126

RuV1 III, § 34, 232–244; vgl. a. Unterricht, §§ 11–15. FRANK, 306–309. TuM, 17f; vgl. FRANK, 309f. TuM, 19f.

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2. Kapitel: Albrecht Ritschl

im Wirken »zur Ausführung des Messianischen Heilsrathschlusses« am Ende seiner Ausführungen bemerkt, die »Homousie« sei doch an dieser Stelle »wegen . . . des besonders bei Johannes klar bezeugten metaphysischen Sohnsverhältniß zum Vater vorauszusetzen«.127 Vor allem aber kommt es Ritschl auf Luthardt und dessen Erklärung an, wie die der Einheit von Vater und Sohn nachgebildete Einheit der »Gläubigen« untereinander in Joh 17, 11. 21f zu verstehen ist. Denn Luthardt sieht diese Einheit »nicht bloß« im »Willen und der Gesinnung« gegeben, »sondern ihrem wirklichen eigentlichen Sein nach« und in der Form der »unio mystica«.128 Ritschl bezeichnet diese Auslegung als schwer verständlich. Denn durch das von Luthardt angesprochene ›eigentliche Sein‹ werde aus der Selbsterfahrung des Menschen, der sich selbst in seinem Willen, seiner Gesinnung und seinem Handeln kennt, ein »abgeleitetes, scheinbares Sein«, ohne dass jedoch über das angeblich eigentliche Sein irgend etwas gewusst oder ausgesagt werden könne. Ritschl erkennt hier die »metaphysische Distinction zwischen dem unwirklichen uneigentlichen Sein . . . und ihrem vorausgesetzten wirklichen Sein«, die er etwas später in Theologie und Metaphysik unter der Bezeichnung des »Platonismus« behandelt. Außerdem bemängelt er, dass bei Luthardt ebenso unklar bleibe, wie die Einheit zwischen Glaubenden und Gott zu denken sei, denn der Begriff unio mystica sage nur aus, dass sie »unbestimmbar« sei.129 Die Auslegung der johanneischen Stellen, so Ritschls zusammenfassende Kritik, werde also durch die Verwendung der »metaphysischen Distinction« zwischen eigentlichem und uneigentlichem Sein des Menschen und der »mystischen unverständlichen Formel« der »unio mystica« völlig unverständlich. Gegen eine solche Art der Auslegung fordert er im Sinne des reformatorischen Grundsatzes der scriptura sui ipsius interpres, unklare Schriftstellen von klaren her auszulegen. Im Licht von Joh 4, 34 (»Meine Speise ist die, dass ich tue den Willen dessen, der mich gesandt hat und vollende sein Werk.«) legt Ritschl die Einheit zwischen Vater und Sohn als Übereinstimmung im Willen aus, durch den das Wirken des Sohnes identisch mit dem Wirken des Vaters wird. Und dieser »ethische Gesichtspunkt« erklärt für ihn dann auch die Einheit der Glaubenden mit Gott, die in der Mitarbeit am »Werk Gottes selbst« einen sichtbaren Ausdruck erhält.130 127

MEYER, 409f. LUTHARDT, 408. 129 TuM, 25f. Für Ritschl gehört auch die an sich religiöse Vorstellung von der »unio mystica« letztlich zur Metaphysik, denn die Gleichsetzung von Gott und dem allgemeinen Sein, mit dem die Seele in der mystischen Schau verschmelzen oder sich auflösen soll, habe die spätplatonische Metaphysik mit ihrer »Unterschätzung alles besonders bestimmten Seins und Lebens« gegenüber dem »Sein im Allgemeinen« als das »Wirkliche im eigentlichen Sinne« zum Hintergrund; TuM, 27f. 130 TuM, 29f; zu Ritschls Prinzip der Schriftauslegung vgl. a. RuV3 II, § 3, 9–20, bes. 13. 18. 128

III. Metaphysik in der Theologie

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Ritschls hermeneutische Perspektive wird am Ende des Abschnitts noch einmal sehr deutlich, wenn er darauf hinweist, dass Jesus in den diskutierten Stellen »nothwendig keine metaphysische Betrachtung . . . geübt« habe. Da es um die Frage nach der Einheit geistiger Personen gehe, können die Stellen nicht metaphysisch gemeint sein, denn die Metaphysik als Erkenntnis der »Dinge im Allgemeinen« setzt ja nach Ritschls Auffassung vor der Unterscheidung in Natur und Geist an und sei deshalb gar nicht in der Lage, die »eigenthümliche Wirklichkeit« geistiger Sachverhalte zu erfassen.131 Der Schaden, der hier durch die Einmischung der Metaphysik entsteht, liegt also darin, dass Schriftstellen, die in einer ethischen Perspektive klar und deutlich sind, ganz unverständlich werden. c)

Die Allgemeinbegriffe

Nachdem Ritschl in Theologie und Metaphysik seine Sicht von richtiger und falscher Metaphysik dargelegt hat, folgt ein Abschnitt, in dem er den Schaden durch die Verwendung von »Allgemeinbegriffen« in der Theologie darstellt, also den durch Abstraktion vom Konkreten gewonnenen Ideen oder Gattungsbegriffen, die im »Platonismus« für die eigentliche Wirklichkeit gehalten werden. Auch hier kritisiert er die Hermeneutik, christliche Vorstellungen von einem Allgemeinbegriff, einer Idee aus zu verstehen, die zudem in einem sachfremden Kontext gewonnen ist. Als Beispiele nennt er zuerst die traditionelle Gotteslehre, die Gott wie bei Frank von der Idee des Absoluten her versteht statt von der Schrift her und deshalb die Attribute Gottes verdoppelt, indem sie so genannte ruhende (metaphysische) und wirkende (biblische) Eigenschaften darstellt. Dann folgt die Christologie, wenn Christus von einem »Allgemeinbegriff von seiner präexistenten Gottheit« aus verstanden wird, der der johanneischen Vorstellung nicht entspricht, und dieses Verständnis der Gottheit im geschichtlichen Wirken Jesu versucht wird nachzuweisen; außerdem wenn nicht vom konkreten Wirken Jesu ausgegangen wird, um die Besonderheit der »Person« zu verstehen. In der Hamartiologie gerät nach Ritschl das Verständnis der konkreten aktiven Sünde des Menschen in Probleme, wenn sie von einem »Allgemeinbegriff als passiv angeerbte Verderbnis der menschlichen Natur« aus begriffen werden soll. Und die Dogmatik im Ganzen schließlich sei, kritisiert Ritschl, durch ihren prälapsarischen Einsatz an der »Idee des Menschen« orientiert, von der aus die Sünde und wiederum von dieser aus der »Erlöser« verstanden ist – statt sie im Ganzen an »Christus als dem Träger der Offenbarung« auszurichten.132 Vor allem aber ist der Abschnitt der Auseinandersetzung mit Weiß gewidmet. Ritschl verteidigt sich gegen den Vorwurf, in seiner Dogmatik falle der Heilige Geist aus, weil er dessen Wirklichkeit nur in seinen Wirkungen in der 131 132

TuM, 31. TuM, 41.

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2. Kapitel: Albrecht Ritschl

Gemeinde erkennen wolle und ihm nicht eine »der Natur verwandte objective Seite« zugestehe. Dagegen wirft Ritschl Weiß vor, die Wirklichkeit des Heiligen Geistes in einem »aus Metaphysik und Physik des menschlichen Geisteslebens gewobenen Nebel« erklären zu wollen, wenn er behaupte, der menschliche Geist, in dem die »Realität« des Heiligen Geistes nachgewiesen werden soll, sei »nicht blos Wille, sondern auch eine bestimmte Art des Seins und des Lebens«.133 Ritschl sieht hier eine »Neigung zur Metaphysik«, die den menschlichen Geist nicht in seinem Wollen, Erkennen und Fühlen versteht, sondern »hinter, unter und über diesen Funktionen . . . das eigentliche wirkliche Sein« suche, wenn also der menschliche Geist nicht in seinen konkreten Tätigkeiten, sondern in einer aus diesen Tätigkeiten abstrahierten und objektivierten Idee verstanden wird. Dagegen betont Ritschl, dass die »Wirklichkeit des Geistes« nur in den konkreten geistigen »Functionen«, allen voran dem »Wollen«, erkannt werden und somit die Gegenwart Gottes im Menschen, also der Heilige Geist, nur hier nachgewiesen werden kann.134 Ritschl bemerkt selbst, dass die Problematik bei Weiß derjenigen von Luthardts Auslegung von Joh 17 entspricht.135 Somit liegt der Schaden, den die Verwendung der Metaphysik hier anrichtet, auch hier wieder darin, dass der zu verstehende und zu erklärende Sachverhalt in dem »Nebel« aus Metaphysik und Physik unverständlich bleibt. d)

Der Streit über die Erbsünde

Als letztes Beispiel für die hermeneutische Problematik eines metaphysischen Verständnisses christlicher Vorstellungen behandelt Ritschl den Streit um die Erbsünde im Luthertum des 16. Jahrhunderts. Das Problem drehte sich um die Frage, ob die Sünde als Substanz des Menschen zu verstehen sei oder ob sie lediglich als Akzidenz einzustufen sei, die die Natur des Menschen unberührt lässt. Während die meisten Lutheraner die Sünde zur Akzidenz erklärten, um die Möglichkeit der Erlösung noch denken zu können und nicht als etwas dem Wesen des Menschen Widernatürliches annehmen zu müssen, rechnete Matthias Flacius Illyricus sie zur Substanz des Menschen. Allerdings unterschied Flacius die Substanz wiederum in zwei Bereiche und schrieb die Sünde der »forma substantialis« zu, während er die »substantia materialis« davon ausnahm.136 Ritschl kritisiert nun, dass das Denken in metaphysischen Distinktionen schon hier die berechtigte Intention des Flacius unverständlich werden lässt. Er versucht, den Sachverhalt aus der Perspektive des Willens deutlicher zu machen: Die »substantia materialis« versteht er als Fähigkeit, die inneren Antriebe in 133 134 135 136

TuM, 45. TuM, 47f. TuM, 42. TuM, 55f.

III. Metaphysik in der Theologie

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Motivationen und Handlungen umzusetzen. Diese Fähigkeit ist also durch die Sünde nicht berührt. Die »forma substantialis« dagegen versteht er als die »Richtung« des Willens, die die inneren Antriebe entweder auf Gutes oder Böses abzweckt. Eine solche Perspektive auf den »Lebensinhalt« des Willens, der einen »Charakter« als böse beurteilen lässt, ist gleichzeitig mit einer Bestimmung »des Unwerthes der Sünde« verbunden, die Ritschl durch den damals verwendeten Verstehenshorizont verhindert sieht: Aber das Alles kommt in den dürftigen metaphysischen Kategorien, in welchen sich Flacius und seine Gegner bewegten, gar nicht zur Klarheit.137

Weiterhin sei in dem Streit wichtig, so Ritschl, wie der Begriff der Substanz genau verstanden werde, genauer gesagt, »wie die Merkmale, unter denen ein Ding erscheint, auf die Titel Substanz und Accidens vertheilt werden«. Während Flacius die Qualitäten und damit auch den Willen zur Substanz des Menschen zählt, schließen einige Lutheraner die Qualitäten von der Substanz aus und verstehen deshalb auch den Willen, ebenso wie den Verstand, als veränderliche Akzidenzien. Die Verwendung von metaphysischen Begriffen führt nach Ritschl nun zu diesen Konsequenzen: Die Erbsünde wird entweder als accidens verstanden, was jedoch damit verbunden ist, dass man alle Qualitäten aus der Substanz ausnimmt und auf diese Weise das Wesen des Menschen als »unbestimmtes Ding, ohne Beziehungen, ohne Wirkungen« verstanden werden muss. Oder man versteht die Erbsünde als Substanz des Menschen, erklärt sie also für sein Wesen, was für Ritschl allerdings ebenso »unerträglich« ist. Außerdem beurteilt es Ritschl als »fatal«, dass die Auffassung von der Erbsünde als ein das Wesen eines Dinges nicht veränderndes Akzidenz neben dem Verständnis der Erbsünde als corruptio totius naturae et virium in die Konkordienformal aufgenommen wurde, was aber auf einen Widerspruch hinausläuft. Dazu weicht durch das Verständnis der orthodoxen Lutheraner die Abgrenzung von der römischen Lehre auf, die ja das liberum arbitrium auch noch unter der Erbsünde gegeben sieht. Alle diese Probleme und Widersprüche führt Ritschl auf das metaphysische Verständnis zurück: Das alles ist herausgekommen, indem man diesen Punkt der christlichen Lehre mit metaphysischen Begriffen zu bestimmen unternahm, deren Anwendung schon die richtige, d. h. der religiösen und sittlichen Schätzung der Sünde entsprechende Fragestellung unmöglich gemacht hätte.138

Die Diskussion dieses Problems zeigt noch einmal sehr deutlich die hermeneutische Stoßrichtung in Ritschls Argumentation, wenn er fordert, dass religiöse Begriffe als ethische, das heißt auf den Willen als geistige Realität bezogene 137

TuM, 56f; zur Bewertung des den Willen leitenden Endzweckes in Ritschls eigenem Ansatz s. a. RuV3 III, 278. 138 TuM, 57f.

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2. Kapitel: Albrecht Ritschl

Begriffe verstanden werden müssen.139 Genau dies liegt auch dem folgenden Gesichtspunkt zu Grunde. 3.

Heillose Gotteserkenntnis

Ein auf den ersten Blick neu erscheinendes Argument gegen die »metaphysische Erkenntniß Gottes« begegnet ab der zweiten Auflage von Rechtfertigung und Versöhnung, also ab 1882. Einmal mehr verteidigt Ritschl seine Gotteslehre, in der er die exklusive Erkenntnis Gottes als »Heilswille« vertritt, nun aber unter Berufung auf die Autorität Luthers. Ritschl verweist darauf, dass nach Luther die Erkenntnis Gottes ohne Christus schädlich und heillos sei, weil sie zur »Majestät Gottes« führe. Dieser Hinweis in Verbindung mit Luther ist zwar tatsächlich neu, aber er ist bei genauerem Hinsehen nichts anderes als ein Ausdruck von Ritschls schon vorher vertretener Grundposition. Ritschl hebt Luthers Gotteslehre »von dem vorhergehenden und nachfolgenden Schulgebrauch« durch den »Grundsatz« ab, dass sie ausschließlich aus der in Christus offenbaren Gnade Gottes und dem daraus entstandenen Vertrauen entworfen ist.140 Ritschl hat dabei Luthers Auslegung des ersten Gebots im Großen Katechismus vor Augen. Durch die exklusive Bindung an die Christusoffenbarung werde Gott als der Heilswille, als die Liebe begriffen, natürlich nur von demjenigen der an Christus glaubt, und durch ihn, nach seinem Maße auf Gott vertraut.

Gegenüber seinen Kritikern wie etwa Frank betont Ritschl, dass in der Perspektive von Luthers »Grundsatz« der »Liebeswille« als »das Sein oder das Wesen Gottes selbst«, also als ausreichende und vollständige Bestimmung Gottes verstanden sei.141 Ritschl kommt es hier nun vor allem darauf an zu zeigen, dass die »Kehrseite« dieses Grundsatzes in der Ablehnung einer Gotteserkenntnis besteht, die den Gottesbegriff zunächst und damit »fragmentarisch« von einer anderen Grundlage her klärt. Er nennt hier die »schulmäßige Erkenntniß Gottes aus der Vernunft«, aus der Welterfahrung oder von Allgemeinbegriffen her, also Wege, die er in Theologie und Metaphysik bereits kritisiert hat – aber statt der hermeneutischen Argumente führt er nun das Problem ein, dass solche Gotteserkenntnis deshalb »schädlich« sei, weil sie zur »Majestät Gottes« führe. Die Begegnung mit der »Majestät Gottes« bedeute die »Vernichtung« des Menschen, denn wer »außerhalb Christus, nach der Methode der natürlichen Theologie« nach Gott suche, finde eben nicht den Heilswillen oder die Liebe Gottes, sondern Gott »als den

139 140 141

Vgl. TuM, 48. RuV3 I, 218f; die zweite und die dritte Auflage von RuV I sind identisch. RuV3 I, 219.

III. Metaphysik in der Theologie

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unberechenbaren, unheimlichen, befremdenden Willen« und damit lediglich »Unseligkeit«.142 Ritschl erläutert diesen Gedanken nicht genauer, verweist aber auf einen Aufsatz von Hermann Schultz, demzufolge bei Luther die philosophische oder metaphysische Gotteserkenntnis zu dem in seiner unbegreiflichen Herrlichkeit verborgenen Gott führen.143 Vor allem ist Ritschl an der Unterscheidung zwischen christlicher und metaphysischer Erkenntnis Gottes interessiert, die Schultz bei Luther findet: Also ist die christliche Gotteserkenntnis von der speculativ gewonnenen metaphysischen Gotteserkenntnis in ihrem innersten Mittelpunkte verschieden, und während sie beseligt, müsste diese den wahrhaften und folgerichtig denkenden Menschen in den Abgrund der Unseligkeit stossen.144

Der vertrauende Glaube wird zum Kriterium über wahre und falsche Gotteserkenntnis. Außerhalb dieses Vertrauens ist, wie Ritschl unter Berufung auf Luther betont, keine Gotteserkenntnis möglich: Es giebt eben im Verhältniß zu Gott keine neutrale objective Erkenntniß, wie sie in der vorgeblichen natürlichen Theologie vorgespiegelt wird.

Einen solchen Versuch bezeichnet Ritschl als »uninteressirte, oder metaphysische Erkenntniß Gottes« und rechnet sie in Anknüpfung an die Formulierungen im Großen Katechismus dem »falsche[n] Vertrauen« zu.145 Das »uninteressirte Erkennen« schlägt einen Bogen zu Ritschls Werturteilslehre.146 Ritschl unterscheidet dabei zwischen »begleitenden« und »selbständigen Werthurtheilen«. Gegen Kaftans Unterscheidung von wertfreien theoretischen Erkenntnisurteilen und wertgeleiteten religiösen Urteilen betont er, dass wissenschaftliche Erkenntnis sehr wohl einen »Werth« für den Erkennenden besitzt, und zwar in Form eines den Willen motivierenden Interesses. Der Unterschied zu den »selbständigen Werthurtheilen« der Ethik und der Religion besteht in der Art der Beziehung zwischen Wert und Erkennen. Der »Werth« ist nicht das Ziel des wissenschaftlichen Erkennens, sondern »begleitet« die auf einen Sachverhalt gerichtete Erkenntnis und wird von Ritschl in diesem Sinn als »uninteressirt« bezeichnet. Bei den ethischen und religiösen Urteilen hingegen zielt das Erkennen über den zu Grunde liegenden empirisch erfassbaren Sachverhalt hinaus auf dessen Wert. Die Natur der Werturteile besteht darin, dass Ereignisse oder Personen zu einer bestimmten Selbstbeurteilung des Menschen führen 142

RuV3 I, 219f; vgl. RuV3 III, 202. SCHULTZ, 81–83. 144 SCHULTZ, 85f; auch aus dem folgenden Satz bei Schultz übernimmt Ritschl Formulierungen. 145 RuV3 I, 219f. 146 Zum Folgenden s. SLENCZKA, Glaube, 165–176. 143

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2. Kapitel: Albrecht Ritschl

und von dieser Selbstbeurteilung her verstanden werden. So ergibt sich aus der Begegnung mit Jesus Christus im kultischen Vollzug der Gemeinde nicht nur und nicht in erster Linie ein Wissen über die Person Christi, sondern diese wird zum Garanten der Stellung des Menschen über der Welt. Das Jesus Christus zugesprochene Prädikat der Göttlichkeit ist keine empirisch zu verstehende Aussage über seine Natur, sondern Ausdruck seines Wertes für den Glaubenden, weil er ihm diese Selbstbeurteilung ermöglicht und gewiss macht.147 Ritschls Werturteilslehre verfolgt ein hermeneutisches Ziel. Sie soll theologische Aussagen über religiöse Vorstellungen an die Situation zurückbinden, der diese Vorstellungen entspringen und von der sie folglich her zu verstehen sind. Ritschl verneint, dass es überhaupt theologische Aussagen gibt, die sich der rationalen Beschäftigung mit der Natur verdanken, wie es etwa die Aussagen der natürlichen Theologie zu sein beanspruchen. Aussagen über Gott können nach Ritschl nur, wie wir schon am Anfang des Kapitels gesehen haben, aus der Religion hervorgehen. Im Christentum ist dies der Lebensvollzug der christlichen Gemeinde. Der aus Rechtfertigung und Versöhnung hervorgehende Fiduzialglaube ist, wie Ritschl unter Rückgriff auf Luther ausführt, die Situation, in der Gott in einem bestimmten Wirken – nämlich seinem Heilswillen, das heißt als Wille zur Förderung des menschlichen Selbstzweckes – erfahren wird, was wiederum der Bildung der theologischen Begriffe zu Grunde liegt und deshalb den Rahmen ihres Verständnisses festlegt.148 Andere als sich dieser »Erschließungssituation« verdankende theologische Begriffe gibt es damit nach Ritschl nicht.149 Mit seiner Werturteilslehre will Ritschl also theologische Begriffe als Willensbegriffe kenntlich machen, das heißt sowohl bezogen auf den Heilswillen als Wirkung, in der Gott entsprechend der Metaphysik oder Erkenntnistheorie Ritschls zu erkennen ist, wie auch auf den Willen des Menschen, der aus seiner Erfahrung Gottes beziehungsweise Christi die Gewissheit als den Naturzwängen enthobene geistige Persönlichkeit ableitet. Durch diesen Bezug auf die Realität des Willens sind die theologischen Begriffe hermeneutisch grundsätzlich verschieden von den auf die empirische Realität bezogenen Urteilen des theoretischen oder wissenschaftlichen Welterkennens. Dies entspricht dem schon in Theologie 147

SLENCZKA, Glaube, 171–173. Die Unterscheidung zwischen den beiden Arten von Werturteilen findet sich RuV3 III, 195f und die Anwendung auf die Christologie RuV3 III, 370–377. Dass Ritschl das »uninteressirte Erkennen« teilweise in Anführungszeichen setzt, spielt auf Kaftan an und macht gleichzeitig seine Distanz gegenüber dieser Auffassung deutlich. 148 RuV3 III, 203; vgl. 376 (zur Erfahrung der Erlösung in Christus als Voraussetzung der christlichen Gottesvorstellung) sowie Unterricht, § 15, 27 (zur Rückbindung der Gottesattribute an den Fiduzialglauben) und § 11, 21f; §13, 25 (zur ausschließlichen Definition Gottes als Liebeswille). 149 SLENCZKA, Glaube, 174.

III. Metaphysik in der Theologie

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und Metaphysik vorhandenen hermeneutischen Anliegen, die »eigenthümliche Wirklichkeit des Geistes« »hauptsächlich« aus dem Wollen heraus zu verstehen, was im Kontrast zur kausalen Methode des theoretischen Erkennens nur mit Zweck- beziehungsweise Wertbegriffen möglich ist.150 Deshalb betont Ritschl, dass die Beschreibung Gottes von der »Analyse der Erfahrung an der Welt« her sinnlos ist, weil sie lediglich eine »täuschende Vorstellung von Gott« hervorbringt. Was Gott bedeutet, wird vom Horizont des empirischen Erkennens her verstanden, schlichtweg falsch, weil dabei die soteriologische Dimension fehlt, die nach Ritschl für die Gottesvorstellung konstitutiv ist. Dies bedeutet dann aber auch, dass eine solche »rein theoretische, ›uninteressirte‹ Erkenntniß Gottes« als eine Vorstufe zur religiösen Gotteserkenntnis ausfällt. Entsprechend seiner Metaphysikkritik hält er denjenigen, die den »Werth« Gottes oder Christi von einer vorgängigen Bestimmung ihres Wesens abhängig machen wollen, entgegen, dass nach Luther das »Wesen Gottes oder Christi nur innerhalb ihres Werthes für uns« erkennbar sei, also ausschließlich im Horizont der geistigen Realität des Willens. Seine frühere Kritik, dass Aristoteles und die Gottesbeweise den Gottesbegriff unberechtigerweise mit einem Inbegriff der Welt gleichsetzen, kehrt hier in Verbindung mit Luther in der Gestalt wieder, dass die »Möglichkeit einer ›uninteressirten‹ Erkenntniß Gottes etwa als Korrelat des Weltbegriffs schlechthin ausgeschlossen« sei, weil Luther außerhalb des vertrauenden Glaubens »die Vorstellung von Gott von Schrecken und vernichtenden Wirkungen begleitet« sehe.151 Dieser Gedanke entspricht Ritschls früher geäußerter Kritik an einer falschen Metaphysik, die versucht, Gott unter Absehung von seinen Wirkungen zu erfassen. Metaphysik und Werturteilslehre greifen damit ineinander: Ritschls Metaphysikverständnis dient dazu, die Begründung der theologischen Aussagen als religiöse Werturteile noch einmal von der Seite der Erkenntnistheorie her abzusichern. Dass Gott ausschließlich als Liebeswille und damit nur als Korrelat des Vertrauensglaubens zu erkennen ist, erhält durch die Natur des Erkennens eine metaphysische Begründung, die darin besteht, dass Sinneserfahrungen auf den ihnen zugrunde liegenden Gegenstand hin objektiviert werden, und zwar in präskriptiven Eigenschaften und nicht als eine hinter oder über den aus den Wirkungen abgeleiteten Eigenschaften liegendes eigentliches Wesen.

150 TuM, 48; vgl. die Kritik an der Scholastik in RuV3 III, 373, weil sie den Glauben wie das Wissen »innerhalb des Verstandes« ansiedelt. 151 RuV3 III, 202; vgl. 6f sowie 376f. Die Kritik an einer vernünftigen Vorstufe, auf die dann der Glaube aufbauen könnte, begegnet später bei Bultmann und Ebeling als Ablehnung der scholastischen »praeambula fidei« wieder. Auch die Warnung vor dem Deus maiestatis der metaphysischen Erkenntnis findet sich bei Ebeling.

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2. Kapitel: Albrecht Ritschl

Diese Ausführungen werfen bereits ein Licht auf die positive Funktion, die eine recht verstandene Metaphysik in Ritschls Ansatz hat. Auf diese Funktion ist nun noch genauer einzugehen. 4.

Metaphysik für die Theologie

Einleitend wurde bereits deutlich, dass Ritschl sich gegen den Vorwurf wehrt, er verzichte vollständig auf Metaphysik in der Theologie.152 Besonders in Theologie und Metaphysik will er das Gegenteil zeigen, indem er nachzuweisen versucht, dass einerseits die Metaphysik selbst, andererseits aber auch deren Verwendung bei seinen Gegnern falsch sind. Es wurde ebenfalls bereits deutlich, welche Auffassung Ritschl von einer korrekten Metaphysik hat und dass deren fehlende Unterscheidung zwischen Natur und Geist nicht schon an sich ein Problem für ihn darstellt. Bei Lichte betrachtet spielt die Metaphysik in Ritschls Theologie eine eher begrenzte Rolle – verglichen mit ihrer Bedeutung bis zum Ende der protestantischen Orthodoxie. Dennoch ist ihre systematische Funktion nicht unwichtig: Ritschl versucht auf diese Weise, seinen theologischen Ansatz im Kontext der Wissenschaft zu rechtfertigen. Und im Horizont des 19. Jahrhunderts bedeutet dies: in erkenntnistheoretischer Hinsicht. Ritschl schreibt, dass die Metaphysik in der Theologie »nur als die formelle Regel für die Erkenntniß der religiösen Größen oder Beziehungen in Betracht« kommt. Der Theologe als Wissenschaftler könne gar nicht anders, als in seiner Arbeit eine bestimmte Erkenntnistheorie anzuwenden, deren er sich allerdings bewusst sein und über die er Rechenschaft geben können muss. Diese Erkenntnistheorie aber legt fest, wie die Theologie ihre Gegenstände erfasst und ist deshalb »metaphysisch«.153 Wie oben gezeigt, geht es Ritschl darum, dass ein Gegenstand nicht hinter und über seiner konkreten Erscheinung erkannt werden kann, sondern nur in seinen Wirkungen. Auf dieser Grundlage rechtfertigt er zum Beispiel seine Ansichten, warum die Theologie Gott nicht in seiner »Absolutheit« und mit seinen »ruhenden Eigenschaften«, also das Wesen Gottes vor seinem Heilshandeln zum Ausgangspunkt der Gotteslehre machen kann, und dass die Gottheit Christi in seinem Wirken festgestellt werden muss und nicht etwa eine vorlaufende Idee von der Göttlichkeit dem Wirken seine Besonderheit verleiht. Ritschl begründet seine theologischen Aussagen an dieser Stelle also »metaphysisch« im Sinne von erkenntnistheoretisch und damit im Zusammenhang 152

S. o. S. 37. TuM, 40f; vgl. RuV3 III, 18. Die Forderung, die Voraussetzungen der eigenen wissenschaftlichen Arbeit offenzulegen, war bereits eine Ursache für den Bruch Ritschls mit der Tübinger Schule, die den Wissenschaftscharakter der Theologie mit ihrer Voraussetzungslosigkeit begründete; ZACHHUBER, Theology, 135. 153

IV. Ritschl und Luther

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der geistigen Situation seiner Zeit. Sieht man auf den überwiegenden Teil seiner Argumente, herrscht aber doch ein Bemühen vor, das der hermeneutischen Perspektive im 20. Jahrhundert nahe kommt. Ritschls Hauptargument gegen seine Kritiker besteht letztlich darin zu zeigen, dass christliche Vorstellungen nicht ›metaphysisch‹, also unter Absehung von der Differenz zwischen Natur und Geist oder auf dem Hintergrund einer falschen Metaphysik, zu verstehen sind, sondern als geistige Phänomene in einem ethisch-existentiellen Kontext ausgelegt werden müssen. Die Frage, wie Gott erkannt werden kann, verschiebt sich bei Ritschl zu der Frage, wie christliche Vorstellungen über Gott zu verstehen sind. Und damit öffnet er die Fragestellung in die Richtung einer hermeneutischen Behandlung des Problems. Gleichzeitig ist zu betonen, dass Ritschls Anliegen, die »falsche« durch eine angemessene Metaphysik zu ersetzen, eine Bejahung der hinter der theologischen Verwendung der Metaphysik liegenden Notwendigkeit darstellt. Die damit eingeschlagene Richtung ist grundlegend für die deutsche evangelische Theologie im 20. Jahrhundert. Herrmann setzt den Weg fort, indem er die hermeneutische und existentielle Perspektive deutlicher herausarbeitet, die dann schließlich bei Bultmann klar vorliegt. Am Ende wird Ebeling feststellen, dass die »hermeneutische Fragestellung« Bultmanns einerseits die Fortführung der »erkenntnistheoretischen Fragestellung« ist, in dem sich das 19. Jahrhundert mit dem Ende der alten Metaphysik auseinander setzte, andererseits aber gerade befreien soll von der »Befangenheit in dieser Metaphysik, wie sie auch in der erkenntnistheoretischen Fragestellung noch wirksam ist«.154 Allen ist gemeinsam, dass sie, anders als Karl Barth und seine Schule, hinter dem metaphysischen Zugang eine Notwendigkeit für die Theologie erkennen, der sie auf alternative Weise gerecht werden wollen. Ritschls Metaphysikkritik bereitet also einer Entwicklungslinie den Boden, die über Herrmann und Bultmann bis zur hermeneutischen Theologie Ebelings führt.

IV.

Ritschl und Luther

Neben der Metaphysikkritik hat auch Ritschls Rückgang auf Luther eine bedeutende Wirkungsgeschichte erfahren. Das Anliegen, unter Anknüpfung an Luther eine moderne, den Herausforderungen der Zeit gewachsene Theologie zu entwerfen, hat offensichtlich einen wichtigen Impuls für die Entstehung der so genannten Ritschl-Schule gegeben.155 So schreibt beispielsweise Kaftan im Vorwort zu seiner Dogmatik:

154 155

EBELING, WuG II [21], 345. WOLFF, 121f.

54

2. Kapitel: Albrecht Ritschl

Albrecht Ritschl hat zuerst die grundsätzliche Forderung erhoben, die theologische Aufgabe so aufzunehmen und anzugreifen, wie sie Luther ursprünglich gestellt hatte, indem er das Prinzip des Glaubens als des allein möglichen Wegs zur Gotteserkenntnis auf den Schild hob. . . . Hierdurch ist er mir und andern ein Lehrer und Führer geworden.156

Tatsächlich ist Ritschl in seinen späten Schriften von der Überzeugung getragen, dass sein theologischer Ansatz den ursprünglichen Impuls, der Luther zu Beginn der Reformation geleitet hat, endlich umsetzt. Er geht davon aus, dass der Grundgedanke der Reformation bisher in der protestantischen Theologie nicht wirklich umgesetzt worden ist: Die Reformation Luthers ist aus dem Schooße der mittelaltrigen Kirche nicht so entbunden worden, wie die Athene gepanzert und gewaffnet aus dem Haupte des Zeus hervortrat.157

Ritschl sieht in der mangelhaften Umsetzung der reformatorischen Erkenntnisse die Hauptursache für die Probleme des Protestantismus, die ihn seit den Anfängen bis in die Gegenwart bestimmen. Die »leitende Idee« der Reformation sei schon von den Reformatoren nicht zu einer systematischen Erneuerung der Theologie genutzt worden und schließlich in der Folgezeit, nicht zuletzt durch die Rückkehr Melanchthons zum Aristotelismus, völlig untergegangen. Dadurch ist der Protestantismus genöthigt worden, sich auf Gedankenmittel zu stützen, die seiner Eigenthümlichkeit fremd sind, und die unsicheren Schritte zu thun, welche bei dem Mangel selbständiger Richtung durch fremde Stützen nicht erspart bleiben.158

In der Festrede zu Luthers vierhundertjährigem Geburtstag 1883 äußert Ritschl die Hoffnung, dass der Protestantismus seine Kraft wieder erhalte, wenn er durch den Grundgedanken der Reformation von Grund auf erneuert werde. Ebenso müsse eine protestantische Theologie, die den Herausforderungen ihrer Zeit entgegentreten könne, von der reformatorischen Grundidee her neu entworfen werden. Ritschl hat sich dieser Aufgabe »in dem vollen Bewußtsein, dazu durch die Lehrurkunden der Reformation berechtigt und verpflichtet zu sein«, in seinem Hauptwerk Rechtfertigung und Versöhnung gestellt.159 1.

Der Einfluss der reformatorischen Theologie auf Ritschls Ansatz

Die Beschäftigung mit Luther spielt tatsächlich eine bedeutende Rolle in Ritschls Arbeit, allerdings nicht von Anfang an. Ritschl hat sich seit 1857 mit der reformatorischen Theologie und besonders mit Luther beschäftigt. Seine Studien über die Rechtfertigungslehre beginnt er, wie er seinem Vater berichtet, mit der Lektüre von Luther, den er allerdings anfangs recht »langweilig« findet.160 156 157 158

KAFTAN, IX; vgl. WOLFF, 139. Festrede, 17; vgl. RuV3 I, 143. Festrede, 27. Zum Rückfall Melanchthons in den »scholastischen Apriorismus« s. TuM,

60–63. 159 160

RuV3 III, 7. Brief an den Vater vom 24. 1. 1857, O. RITSCHL, Leben I, 294.

IV. Ritschl und Luther

55

Zehn Jahre später macht Ritschl über seiner Beschäftigung mit den Parteien des Reformationszeitalters die Entdeckung, dass die »Lehre von der Versöhnung durch Christus als einer allgemeinen Wirkung durchaus reciprok ist mit der Lehre von der Gemeinde der Gläubigen«.161 Der Gedanke von der Versöhnung geht dort verloren, »wo man nicht den Gedanken von der Kirche hat«. Die »Idee der Gemeinde«, fordert er, muss »ihre constitutive Bedeutung für die gesamte Lehrauffassung« erhalten. Er verweist auf Luther, der »vor dem reformatorischen Conflict« stets vom Standpunkt der Gemeinde her argumentiert habe. Dieses »ursprüngliche Gleichgewicht« habe er allerdings bald verloren, denn im Streit mit der katholischen Seite »läßt er sich das Concept verrücken«.162 Diese Bemerkungen zeigen nicht nur, dass Ritschl bereits in den Jahren vor der Veröffentlichung von Rechtfertigung und Versöhnung zu seinem Bild der Reformation gelangt ist, sondern sie machen damit auch deutlich, dass die in Rechtfertigung und Versöhnung wichtige Verbindung von Soteriologie und Ekklesiologie tatsächlich aus der Beschäftigung mit der reformatorischen Theologie erwachsen ist.163 Ritschl arbeitet seine in den brieflichen Äußerungen angeklungene Auffassung von der Reformation und ihrer Theologie in seiner theologiegeschichtlichen Rekonstruktion im ersten Band von Rechtfertigung und Versöhnung aus. Dabei konzentriert er sich auf frühe Predigten und Traktate Luthers vor dem Ablassstreit, also aus den Jahren 1515–1517. Grund dafür sind die späteren Modifikationen Luthers in seiner Position, die sich Ritschl zufolge vor allem seiner apologetischen Situation, aber auch dem Bedürfnis nach allgemein verständlicher Darstellung der Rechtfertigung verdankten.164 Als »Hebel der Reformation der Kirche« nicht nur bei Luther sondern auch bei Zwingli sieht Ritschl die »Gewißheit der Rechtfertigung durch Christus im Glauben, wie sie der in der Kirche stehende und nach Gottes Willen strebende Gläubige ergreift«. Es war für die Reformation grundlegend, dass die Reformatoren in ihrer Auffassung von der 161

Brief an Diestel vom 5. 12. 1867, O. RITSCHL, Leben II, 47. Brief an Diestel vom 2. 1. 1868, O. RITSCHL, Leben II, 48f. Vgl. a. den Brief an Link vom 1. 4. 1868, O. RITSCHL, Leben II, 50f, in dem er die Verbindung von Rechtfertigung und Auffassung von der Kirche als »Hebel« der Reformation und »Princip des Protestantismus« bezeichnet; ähnlich im Brief an Diestel vom 29. 3. 1868, O. RITSCHL, Leben II, 52. 163 Dies wird auch bestätigt durch Ritschls Selbstanzeige des ersten Bandes von RuV1 aus dem Jahr 1871, s. HOFMANN, 116f. 164 RuV3 I, 153f. 187f. Die Konzentration auf den ganz frühen Luther dient der Beantwortung von Ritschls Frage nach dem Auslöser der Reformation. Die sonstige Quellenbasis für Ritschls Lutherstudium ist wesentlich breiter, s. dazu die Übersicht bei HOFMANN, 236–246. Häufig benutzt Ritschl die großen Schriften Luthers von 1520, besonders die Freiheitsschrift, sowie beiden Katechismen. Neben Luther stützt er sich auch oft auf die Confessio Augustana und ihre Apologie; WOLFF, 216f; LOTZ, 30. Aus der Sekundärliteratur über Luther zitiert Ritschl am häufigsten JULIUS KÖSTLIN, Luthers Theologie in ihrer geschichtlichen Entwicklung, 2 Bde., 1863; vgl. LOTZ, 28. 162

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2. Kapitel: Albrecht Ritschl

Rechtfertigung das subjektive Heilsbewusstsein mit dem Grundverständnis der Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen verbanden und damit die Autorität der Kirche über das Heil des einzelnen verneinten.165 Rechtfertigung als Zentrum reformatorischer Theologie kommt bei Ritschl deshalb immer unter den beiden Aspekten der subjektiven Heilsgewissheit und der Verortung in der Gemeinschaft der Glaubenden in den Blick. Hier stellt sich natürlich die Frage, ob Luthers Theologie sich so gut in Ritschls Konzeption einfügt, weil Luther tatsächlich darauf einwirkt oder weil Ritschl Luther unter der Perspektive seines Religionsbegriffes liest und verwendet. Diese Frage kann hier nicht ausführlich geklärt werden. Nur soviel sei angemerkt, dass auch wenn die Verbindung von Ekklesiologie und Soteriologie in Rechtfertigung und Versöhnung durchaus auf Ritschls Auseinandersetzung mit Luther zurückzuführen ist, der für Ritschls Theologie zentrale Religionsbegriff in § 27 der verschiedenen Auflagen ganz ohne den Bezug auf Luther auskommt – was zeigt, dass er sich anderen Quellen verdankt.166 . Da es sich aber hier tatsächlich um den Lebensnerv seiner Theologie handelt, das entscheidende Kriterium für das Wesen der Theologie, kann durchaus vermutet werden, dass Ritschl Luthers Theologie unter dieser Perspektive liest und entsprechend in seinen eigenen Ansatz integriert. Dies zeigt sich etwa am Beispiel von Ritschls Verständnis der Rechtfertigung. Die zweite Auflage von Rechtfertigung und Versöhnung fügt neben der Heilsgewissheit und der Verortung in der Gemeinde als dritten Aspekt noch die durch das Vertrauen auf Gott und seine Weltleitung ermöglichte Herrschaft des Christen über die Welt als »die praktische Zweckbeziehung der Rechtfertigung«167 hinzu, wobei Ritschl sich im Wesentlichen auf Luthers Freiheitsschrift stützt. Sowohl David Lotz wie auch Frank Hofmann betrachten diesen dritten Aspekt der Rechtfertigung als grundlegendes Element in Ritschls eigenem Ansatz. Während Lotz den Aspekt für die nachträgliche Berufung auf Luther in einer ursprünglich aus anderen Quellen gewonnen Einsicht hält, spricht Hofmann davon, »daß Ritschl hier ein wesentliches Element seines theologischen Systems in der Form der

165 RuV3 I, 175. Die reformatorische Verbindung von persönlicher Heilsgewissheit und Kirchenverständnis bezeichnet Ritschls in der ersten Auflage von RuV auch als »Princip der Reformation« – so die Überschrift von § 26, vgl. a. RuV1 I, 162f. Vermutlich weil Ritschl die Rede vom »Formal- und Materialprinzip der Reformation« ablehnt, ist der Ausdruck »Princip der Reformation« in der zweiten Auflage von RuV völlig gestrichen; s. dazu Ritschls Aufsatz Principien, 234–247 sowie seine kritischen Äußerungen bereits in RuV1 I, 164. Vgl. HOFMANN, 151. 166 Ritschl hat in seinen frühen und damit prägenden Jahren entscheidende Einflüsse durch den spekulativen Idealismus erfahren, vor allem durch Heinrich Moritz Chalybäus; s. dazu ZACHHUBER, Theology, 196–210. 167 RuV3 I, 184f. Ritschl erweitert dafür den § 26 um die Seiten 181–185.

IV. Ritschl und Luther

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Interpretation Luthers und der bewußten Anknüpfung an ihn entwickelt«.168 Vor allem letzteres wirft aber die Frage auf, warum dieser dritte Aspekt der Rechtfertigung in Ritschls Berufung auf »Luther’s Grundsatz« zu Beginn des dritten Bandes nicht vorkommt. Lotz verweist auf eine Briefbemerkung Ritschls, in der er berichtet, sich davon »überzeugt« zu haben, dass die »Gotteskindschaft, die Freiheit von und über die Welt« einen »leitenden Gesichtspunkt für die Dogmatik« darstellt.169 Diese Briefbemerkung ist für die aufgeworfene Frage recht aufschlussreich. Zum einen ist festzustellen, dass Ritschl hier seine Entdeckung nicht mit der reformatorischen Theologie in Zusammenhang bringt, im Gegenteil eher den Mangel dieses Zusammenhangs in den reformatorischen Bekenntnissen feststellt. Dem entspricht, dass Ritschl auch sonst die Gotteskindschaft bzw. die Freiheit von der Welt als ein Merkmal der christlichen Religion stets ohne Bezug auf die reformatorische Theologie erwähnt, sondern eher im Zusammenhang mit seiner Religionstheorie.170 Zweitens schreibt Ritschl selbst, dass er nun die Tragweite des Sachverhalts erkannt hat, der ihm jedoch schon früher geläufig war. Das Motiv der Überlegenheit des Christen über die Welt taucht bereits sehr viel früher bei Ritschl auf, nämlich in den Dogmatikvorlesungen von 1860 und 1864. Es beschreibt den Inhalt der Begriffe »Seligkeit« oder »Gotteskindschaft« und verdankt sich einer Entwicklung in Ritschls Religionsbegriff seit 1860.171 Zu dieser Entwicklung haben Ritschls Reformationsstudien wohl Anlass gegeben, ihre konkrete Form aber verdankt sich anderen Quellen, allen voran Zeller, aber auch Lotze.172 Und schließlich muss man zur Kenntnis nehmen, dass sich Ritschls Entdeckung zwar tatsächlich unmittelbar systembildend im dritten Band der ersten Auflage ausgewirkt hat, denn die geistige Selbstbehauptung des Menschen über die Natur thematisiert Ritschl in § 2 der Einleitung zum dritten Band von Rechtfertigung und Versöhnung als grundlegendes Element seines Ansatzes, allerdings im Zusammenhang mit seinem Religionsbegriff. Die Herrschaft des Christen über die Welt bildet als dritter Aspekt des reformatori168

LOTZ, 66–70; HOFMANN, 154. Brief an Diestel vom 20. 3. 1873, O. RITSCHL, Leben II, 148. Ritschl schreibt hier über seine Arbeit am dritten Band von RuV. Lotz führt die Ergänzung des dritten Aspekts in § 26 auf diese Entdeckung Ritschls zurück. HOFMANN, 153, weist darauf hin, dass der Grundbestand der Ergänzung bereits in RuV1 III, 147–149 vorhanden ist, d. h. Ritschls Entdeckung hat sich schon im dritten Band der ersten Auflage auf seine Sicht des reformatorischen Rechtfertigungsverständnisses ausgewirkt, er hat die drei Aspekte aber erst in der zweiten Auflage in systematischen Zusammenhang gebracht und den Abschnitt dabei in den ersten Band eingearbeitet. 170 Z. B. RuV1 I, 8f = RuV3 III, 13 sowie RuV3 III, 189–192. 171 HÖK, 138f. 174–177. Hök bezeichnet diese Entwicklung als Verschiebung der Auffassung von einer auf Umwandlung des Willens zielenden Religion im Sinne des Idealismus hin zu einer auf Erlösung zielenden Religion. 172 HÖK, 112f mit Bezug auf O. RITSCHL, Leben I, 383. 169

58

2. Kapitel: Albrecht Ritschl

schen Rechtfertigungsverständnisses keine direkte Quelle für Ritschls Ansatz. Deshalb erwähnt Ritschl ihn auch nicht in Zusammenhang mit seiner Berufung auf die reformatorische Theologie, sondern als Teil seiner Religionstheorie. Daran zeigt sich, dass bei aller Bedeutung der Auseinandersetzung mit der Reformation und besonders Luther die Religionstheorie doch tiefer und damit bestimmender in Ritschls Ansatz verankert ist. 2.

Metaphysikkritik und Luther

Auch bei der Frage der Metaphysik in der Theologie ist es so, dass die Verbindung zu Luther erst sehr spät und einem anderen Ziel untergeordnet begegnet. Die Argumentationen von Theologie und Metaphysik, in denen Ritschl sich mit der Metaphysik auseinander setzt, kommen fast gänzlich ohne den Bezug auf Luther aus. Dennoch schließt Ritschl am Ende der Schrift mit der Feststellung, dass seine »Erkenntnißmethode«, also seine »Metaphysik«, »der eigentlichen Intention Luther’s, insbesondere seiner Absicht entspricht, mit der scholastischen Theologie zu brechen«.173 Wie kommt Ritschl aber dann zu diesem Schluss? Offensichtlich geht es ihm darum, für den Nachweis der Übereinstimmung mit Luther in erster Linie seine Erkenntnistheorie darzustellen – die Position Luthers ist wohl deshalb nicht weiter diskutiert, weil sie als bekannt vorausgesetzt ist. Sie wird an zwei Stellen kurz angerissen. Einmal, gleich am Anfang, führt Ritschl Luther gegen Luthardt und seine vernünftige Gotteserkenntnis als Vorstufe zur vollständigen offenbarten Gotteserkenntnis an.174 Und das zweite Mal bringt er gegen die metaphysischen »Begriffsbestimmungen und Distinctionen« im Streit um die Erbsünde »Luther’s bewußte Absicht in der Auffassung der theologischen Gesammtaufgabe« in Anschlag, die am »Heil« des Menschen ausgerichtet sei. Die Gotteserkenntnis bei den »Scholastikern« sei dagegen »heillos und verderblich«, weil die »Erkenntniß des Gnadenwillens Gottes« eben nur in Christus zu erreichen sei.175 Hier geht es allerdings nicht um Luthers Kritik der Metaphysik, wie ja auch Ritschl selbst nicht die Metaphysik überhaupt ablehnt. Es geht Ritschl darum zu zeigen, dass seine Erkenntnistheorie oder ›Metaphysik‹ es erlaubt, die »Intention Luther’s«, nämlich die Theologie ausschließlich an die Offenbarung in

173

TuM, 65. TuM, 6f unter Verwendung eines bei Luthardt selbst vorgebrachten Lutherzitats. Die Verwendung Luthers gegen die Lutheraner begegnet nach ZEEDEN, 209–226 seit Johann Georg Walch, als die historische Forschung den orthodoxen Luther-Mythos aufzulösen begann, und wurde dann durch die Aufklärung weitergeführt, z. B. bei Johann Salomo Semler oder bei Lessing, der »Luthers Geist gegen Luthers Kirche« in Anspruch nahm; ZEEDEN, 227–261. 268–270. 175 TuM, 58 mit Verweis auf Hermann Schultz, auf den Ritschl auch in RuV3 I, 219f über Luther und die »uninteressirte Erkenntniß« zurückgreift. 174

V. Zusammenfassung

59

Christus zu binden, im Ansatz der Theologie umzusetzen. Diese Konzeption der Theologie verdankt sich aber nicht Ritschls Lutherstudium, sondern ist die Konsequenz seines schon früher gewonnenen Religionsverständnisses. Wie oben dargestellt, hat auch die Berufung auf Luther bei der Ablehnung der »uninteressirte[n] oder metaphysische[n] Erkenntniß Gottes« in der Zweitauflage von Rechtfertigung und Versöhnung nicht den Sinn, von Luther her Argumente gegen die Metaphysik in der Theologie zu gewinnen, sondern dient der Verteidigung von Ritschls Gotteslehre. Die Ablehnung der Schulmetaphysik in der Dogmatik ist das Implikat von Ritschls Ansatz bei der Soteriologie: Der Gott, den wir kennen, ist der Gott, der uns erlöst. Das trifft sich mit Luther, ist aber nicht von ihm her gewonnen. Erst gegen die Kritik der Lutheraner, die in Ritschls Augen den metaphysischen Gottesbegriff als etwas Wertvolleres, Überlegenes verwenden, um von ihm aus die biblische Gottesvorstellung zu erschließen, beruft sich Ritschl dann auf Luther und wendet damit ihre eigene Autorität gegen sie. Somit ist deutlich, dass Ritschl seine Auseinandersetzung mit der Metaphysik nicht auf der Grundlage seiner Beschäftigung mit Luther führt, sondern hier fügt er nachträglich etwas zusammen, was er früher und aus anderen Grundlagen aufgebaut hat.

V.

Zusammenfassung

Die tiefere Auseinandersetzung mit der Metaphysik begegnet bei Ritschl erst seit Ende der 1870er Jahre und ist offenbar motiviert durch die Kritik, die er vor allem auf die Veröffentlichung von Rechtfertigung und Versöhnung erfahren hat. Sie nimmt aber Elemente aus früherer Zeit auf, nämlich Gedanken und Argumente, die er in der Beschäftigung mit der natürlichen Religion, der natürlichen Gotteserkenntnis und der Unterscheidung von Religion und theoretischem Erkennen gewonnen hat. Schon hier wird der Abstand Ritschls zu einem vernünftigen und außerhalb der Offenbarung gegebenen Gottesbegriff deutlich, wie ihn die »natürliche Religion« der Aufklärung und die »natürliche Gotteserkenntnis« der christlichen Theologie verwenden. Ritschl betrachtet Religion und theoretisches Erkennen als fundamental verschiedene Erkenntnisarten, insofern das theoretische Erkennen methodisch bedingt niemals über die gegebene Welt hinausgreifen und damit die Gottesvorstellung der Religion nicht von sich aus erreichen kann. Die hier gefundene Grundposition ist die Grundlage, auf der Ritschl sich dann mit der Frage nach der Metaphysik in der Theologie auseinandersetzt. Ritschl versteht Metaphysik unter Berufung auf Aristoteles ausschließlich als Ontologie. Dies erlaubt es ihm, die Gottesvorstellung als sachfremd aus der Metaphysik auszuweisen. Die ihm zufolge erst in christlicher Zeit unter Verwendung

60

2. Kapitel: Albrecht Ritschl

der Metaphysik entstandene »natürliche Theologie« als vernünftiger Zugang zur christlichen Theologie wird damit hinfällig. Auch eine »Kosmologie« im Sinne einer alles umfassenden und abschließenden einheitlichen Welterklärung kann die Metaphysik nicht sein, denn dies ist für Ritschl nur durch den Gottesbegriff der Religion möglich. Im Horizont seiner Zeit versteht Ritschl die als reine Ontologie ausgeführte Metaphysik als Erkenntnistheorie, d. h. als Rechenschaft darüber, wie eine Wissenschaft ihre Gegenstände im Erkennen erfasst. Gegenüber seiner eigenen Erkenntnistheorie kritisiert Ritschl die Metaphysik der protestantischen Orthodoxie, die für ihn die traditionelle Form der protestantischen Theologie darstellt, als »Platonismus«. Ihm ist jedoch nicht an einer historischen Auseinandersetzung gelegen, sondern er zielt auf die Lutheraner seiner Zeit und ihre Kritik an seiner Theologie, die er auf deren zwar traditionelle, aber eben falsche Erkenntnistheorie zurückführt. Diese Auseinandersetzung seit Mitte der 1870er Jahre ist es, die Ritschls Metaphysikverständnis und dessen Funktion im systematischen Zusammenhang der Theologie formen. Ritschl kritisiert die Metaphysik nicht schon dafür, dass sie den fundamentalen Unterschied zwischen Natur und Geist nicht thematisiert. Dass die Metaphysik als Untersuchung des ens qua ens vor dieser Unterscheidung ansetzt, gehört für ihn zu ihrem Wesen. Aber genau dies legt ihre Verwendung und Reichweite in der Theologie fest. Ritschls Metaphysikkritik zielt nicht nur auf die »falsche Metaphysik«, den »Platonismus«, sondern auch auf die »falsche Verwendung« der Metaphysik. Die »schlechte Metaphysik« sieht er in der Erkenntnis einer Sache abgesehen von ihren Wirkungen, also des Wesens Gottes oder Christi ohne ihren auf den Menschen gerichteten Heilswillen, und die »falsche Verwendung« im Verständnis religiöser und damit geistig-ethischer Vorstellungen im Horizont der gegen den Unterschied von Natur und Geist neutralen Metaphysik. In diesen Argumenten wird letztlich ein hermeneutisches Anliegen deutlich, wie es für die Ansätze der in dieser Arbeit vorgestellten Linie bis zu Gerhard Ebeling typisch ist. Trotz allen gegenteiligen Beteuerungen kommt der Metaphysik bei Ritschl nicht mehr die fundamentale Rolle zu wie in der alten Dogmatik oder wie bei den Gegnern. An die Stelle der Metaphysik als Interpretationshorizont religiöser Inhalte treten bei Ritschl Sittlichkeit und Religionstheorie: Sie sind es, die christliche Vorstellungen hermeneutisch korrekt im Kontext der geistigen Realität des Willens erschließen, und eben diese hermeneutische Funktion spricht Ritschl der Metaphysik für die Religion ab. Insbesondere den Gottesgedanken nimmt Ritschl aus dem Zuständigkeitsbereich der Metaphysik heraus und legt ihn exklusiv von der positiven Religion und ihrer im ethischen Sinn verstandenen Funktion her aus. Aber auch für die anderen christlichen Vorstellungen fordert Ritschl ein »ethisches« Verständnis, indem er sie als geistige Phänomene vom Willen her versteht. Damit legt Ritschl das Fundament für die hier dargestellten Ansätze, die die Metaphysik einem ethisch-existentiellen

V. Zusammenfassung

61

Standpunkt gegenüberstellen und ihre Verwendung in der Theologie von daher kritisieren. Ritschl selbst spricht noch von der Notwendigkeit der Metaphysik in der Theologie und meint damit die »Erkenntnistheorie«. Die folgenden Autoren setzen diesen Ansatz fort, indem sie hinter der Verwendung der Metaphysik die für die Theologie unvermeidbare Notwendigkeit sehen, den Glauben mit der Wirklichkeit beziehungsweise mit dem allgemeinen Wirklichkeitsverständnis in Beziehung zu setzen. Allerdings werden sie die Metaphysik überhaupt in der Theologie ablehnen. Die Verbindung der Kritik an einer bestimmten Metaphysik und ihrer Verwendung in der Theologie mit Luther erfolgt bei Ritschl erst spät und nimmt im Blick auf das Gesamtwerk gesehen verhältnismäßig wenig Raum ein. Dennoch war sie wirkungsgeschichtlich bedeutend, da sie in der letzten Auflage von Rechtfertigung und Versöhnung sowie in der breit wahrgenommenen Schrift Theologie und Metaphysik vorliegt. Der Hinweis auf Luthers Metaphysikkritik stammt nicht von Ritschl. Aber Ritschl hat sich am Ende bei der Ablehnung der traditionellen Metaphysik in der Dogmatik auf Luther berufen und beansprucht, Luthers reformatorischen Grundimpuls damit endlich in der Dogmatik umgesetzt zu haben. Dieses Bewusstsein haben seine bis in die 1920er Jahre wirkenden Schüler fortgesetzt und auf diese Weise zu der allgemeinen Auffassung beigetragen, dass eine evangelische Theologie sich jeglicher Metaphysik, was auch immer im einzelnen darunter verstanden wird, zu enthalten habe.

Kapitel 3

Wilhelm Herrmann Zwischen Ebeling und Wilhelm Herrmann gibt es deutliche Bezüge. Wie in den folgenden Kapiteln noch deutlich werden wird, ist Ebeling grundlegend beeinflusst von seinem Lehrer Bultmann. Dessen Theologie wiederum ist bleibend geprägt durch seinen, wie er ihn 1927 nennt, »treu verehrten Lehrer W. Herrmann«.1 Besonders die Vorlesung Theologische Enzyklopädie, die Ebeling zu Beginn seines Studiums hörte, ist durchsetzt von impliziten und expliziten Bezügen zu Herrmanns Theologie. Bultmann hat also Ebeling nicht nur durch seine eigene Theologie geprägt, sondern ihm wahrscheinlich auch den Zugang zu Herrmann geöffnet oder zumindest deutlich dazu beigetragen. Konkret greifbar wird der Einfluss Herrmanns auf Ebeling in verschiedenen Themen und Argumentationen. Eine deutliche Nähe zwischen beiden besteht, wie in diesem Kapitel gezeigt werden wird, bei der Kritik an der theologischen Verwendung der Metaphysik aus hermeneutischen Gründen bei gleichzeitiger Aufnahme des ihre Verwendung in der Theologie motivierenden Anliegens.2 Zum anderen spricht Ebeling den Bezug zu Herrmann auch selbst aus. Besonders in den Veröffentlichungen aus den 1960er Jahren finden sich zahlreiche Verweise auf Wilhelm Herrmann, oft zustimmend oder sogar zur Unterstützung der eigenen Argumentation.3 Einige dieser Stellen beschäftigen sich mit der hermeneutischen Kritik an der theologischen Verwendung der Metaphysik. Dies ist auch der Fall an der Stelle, an der sich Ebeling am deutlichsten zu seinem Verhältnis zu Herrmann äußert. In der Auseinandersetzung mit Wolfhart Pannenberg4 gesteht er, dass er sich zu Herrmann »bisher nur wenig geäußert« habe, und bedauert, dass deshalb »mein Verhältnis zu Herrmann« von anderen beurteilt werde.5 Er verteidigt Herrmann gegenüber Pannenbergs Kritik und betont die für die Theologie relevante Unterscheidung zwischen »Reden von Gott« und

1

BULTMANN, Christologie, 101. Weitere Bereiche sind etwa Christologie und Glaubensverständnis, wenn Ebeling Christus als den »Grund des Glaubens« versteht und diesem die »Glaubensaussagen« gegenüber stellt oder den Glauben als »Grundakt der Existenz« beschreibt; s. dazu genauer u. S. 290– 295. 3 EBELING, TuV, 6f. 76. 124; WuG II, 8. 21. 42–45. 48. 128. 392f. 4 S. dazu genauer u. S. 275ff. 5 EBELING, WuG II [8], 42 Anm. 2. 2

I. Die Metaphysikschrift

63

»Welterkennen«, die er mit der in der »Metaphysik« gegebenen »bruchlos[en]« Verbindung zwischen beiden kontrastiert: Gegen Pannenberg muß ich entschieden daran festhalten, daß im Denken Wilhelm Herrmanns Hinweise gegeben sind, die für die Verifikation des Redens von Gott angesichts der heutigen Grundlagenproblematik der Theologie sowie der weltweiten Krise des Ethischen von Belang sind.6

Aufgrund dieser Äußerungen sowie der thematischen Nähe ist Herrmann somit als ein wichtiger Hintergrund für Ebeling zu verstehen. Herrmann greift den Ansatz Ritschls auf, theologische Themen ohne den traditionell üblichen Rückgriff auf die Metaphysik zu beschreiben. Die damit bei Ritschl bis Mitte der 1870er Jahre vor allem implizit angelegte Metaphysikkritik führt Herrmann weiter zu einer ausführlichen Auseinandersetzung mit der Metaphysik und einer expliziten Kritik an ihrer theologischen Verwendung. Dabei übernimmt er die vor allem in Ritschls Spätwerk explizit geäußerte Auffassung, dass ein Ansatz der Theologie in Treue zur Reformation notwendig mit einer Ausscheidung der Metaphysik verbunden ist. Das Kapitel wird zeigen, an welchen Stellen Herrmanns Metaphysikverständnis von Ritschl abweicht und an welchen Stellen Kontinuität gegeben ist. Außerdem wird deutlich werden, dass auch Herrmann selbst in seinen beiden größeren Werken der Frühzeit unterschiedliche Metaphysikauffassungen zu Grunde legt. Deshalb sind diese beiden Schriften gesondert darzustellen. Danach soll eine Untersuchung der späten Schriften zeigen, dass sich, auch wenn Herrmann nun keine Auseinandersetzung mit der Metaphysik mehr führt, die Kritik am »Monismus« sowie der alternative Ansatz der Theologie der frühen Beschäftigung mit der Metaphysik verdanken. Der in ihnen enthaltene unausgesprochene Gegensatz zum traditionell metaphysischen Ansatz der Theologie bestimmt schließlich nicht nur den existentiellen Ansatz bei Bultmann und Ebeling, sondern auch deren eigene Position gegenüber der »natürlichen Theologie« (Bultmann) beziehungsweise »Metaphysik« (Ebeling).

I.

Die Metaphysikschrift

Herrmann griff 1876 mit der Schrift Die Metaphysik in der Theologie erstmals und schon gleich sehr profiliert in die theologische Debatte seiner Zeit ein. Hermann Timm hat diese Schrift als »Hahnenschrei des Ritschlianismus« bezeichnet, weil sie von Gegnern wie Freunden als programmatische Äußerung einer neuen Gruppe junger Theologen wahrgenommen wurde, die sich seit 1874

6

EBELING, WuG II [8], 42.

64

3. Kapitel: Wilhelm Herrmann

um Ritschl als Schulhaupt herum bildete.7 Herrmann selbst hatte Ritschl 1875 mit der Übersendung seiner Dissertation die Schülerschaft erklärt,8 was deutlich macht, wie sehr er sich als von Ritschl geprägt empfindet. Er greift in seiner Schrift das besonders von den Lutheranern kritisierte Bemühen Ritschls auf, religiöse Vorstellungen unter Verzicht auf den traditionellen Rückgriff auf metaphysische Begriffe zu verstehen, und legt, unter Verwendung weiterer Motive von Ritschl, eine ausgearbeitete Kritik an der Metaphysik in der Theologie vor. Damit erarbeitet er nicht nur einen expliziten erkenntnistheoretischen beziehungsweise hermeneutischen Beitrag zur Grundlegung einer Ritschl folgenden Theologie, sondern auch das Fundament für seinen eigenen Ansatz, der noch seine späte Theologie bestimmen wird. Die eingeschlagene Richtung führt ihn in seinem Spätwerk zu einer Existenztheologie, die den Weg der Theologie im 20. Jahrhundert, von der dialektischen Theologie bis hin zu Ebeling, vorbereiten wird. In der Metaphysikschrift verfolgt Herrmann vor allem ein hermeneutisches Anliegen, wie es auch bei Ritschl im Zusammenhang mit der Metaphysik in der Theologie begegnet. Sein Ziel, wie er es drei Jahre später im Vorwort zu seiner Religionsschrift zusammenfasst, besteht darin zu zeigen, »daß . . . die Gegenstände des christlichen Glaubens nicht in den Bereich des Welterkennens fallen«. Er habe in der Metaphysikschrift nachgewiesen, »daß jene Geltungswerthe der christlichen Gemeinde nicht etwa tiefer erkannt werden, sondern ihren ursprünglichen Sinn verlieren wenn man sie durch Vermittlung der Metaphysik zu Objecten des Welterkennens zu machen sucht«.9 Herrmann will zeigen, dass religiöse Begriffe an den Kontext des religiösen Erlebens gebunden sind. Die durch Missachtung dieses Kontextes ermöglichte Versetzung in einen ihnen fremdem Zusammenhang wie Metaphysik oder Naturwissenschaft führt seiner Darstellung nach zu Fehldeutungen der religiösen Inhalte. Sein wichtigstes Ziel ist der Nachweis, dass die Religion als ethisches Phänomen ihre Selbständigkeit gegenüber der Erkenntisweise von Metaphysik und empirischer Naturwissenschaft bewahren kann und muss.10

7 TIMM, 91; vgl. WEINHARDT, Stellung, 24f. Herrmann setzt sich im Vorwort zu seiner Religionsschrift, Religion, V–VIII mit den kritischen Rezensionen von Luthardt, Pfleiderer und Lipsius auseinander. 8 Mit der Dissertation über Gregor von Nyssa (1875) erlangte Herrmann gleichzeitig die Lehrbefugnis (»Dissertatio theologica . . . pro licentia docendi«), weshalb die Schrift z. B. von WEINHARDT, Stellung, 27 auch als »Habilitationsschrift« bezeichnet wird; Herrmann selbst spricht von seiner »Dissertation«, die er »zum Zweck der Habilitation« unternommen habe; Briefwechsel, Nr. 1, 47. 9 Religion, III. 10 Vgl. Metaphysik, 17: »die rein ethische, von weltlichen Bedingungen unabhängige Religion des Christentums«.

I. Die Metaphysikschrift

1.

65

Begriffsklärungen

Der erste Teil der Metaphysikschrift (S. 1–21) klärt zunächst die Begriffe Metaphysik und Religion. Aus dieser Begriffsklärung wird bereits deutlich, warum die Metaphysik im Bereich der Religion ungeeignet ist. a) Metaphysik Herrmann beschreibt die Metaphysik, ausdrücklich allgemein und ohne sich auf einen konkreten Systementwurf festzulegen, als Ontologie. Damit beschränkt er sie wie Ritschl auf die allgemeine Metaphysik (Metaphysica generalis) und klammert die spezielle aus. Die Metaphysik soll Antwort geben auf die Frage: »Wie muß das Seiende von uns gedacht werden, wenn überhaupt etwas ist?«11 Der angehängte Konditionalsatz zeigt, dass Herrmann Metaphysik als Objekterkenntnis und nicht im Sinne Kants als Erkenntnistheorie versteht. Als Bedingung der metaphysischen Erkenntnis nennt er das tatsächliche Vorhandensein von Erkenntnisobjekten, nicht die Frage, wie äußere Dinge in den erkennenden Geist gelangen.12 Die Metaphysik soll Auskunft geben »über das Wie des Seins und Geschehens«13 und dazu führen, »daß man bestimmter als bisher anzugeben vermag, was man unter dem Seienden . . . verstehe«.14

11 Metaphysik, 6. FISCHER-APPELT, Metaphysik, 109 Anm. 25 sieht hier »sachlich und terminologisch Anhalt« bei Lotze, und zwar am neunten Buch des Mikrokosmos und an der frühen Metaphysik (1841). Die Ausgangsfrage der Ontologie lautet bei LOTZE, Metaphysik, 27: »Wenn etwas gedacht werden soll, wie muß es gedacht werden?« Diese Ausgangsfrage formuliert Fischer-Appelt im Sinne von Lotzes teleologischem Idealismus, der die Metaphysik aus der Ethik hervorgehen lässt, um in die Frage: »Wie muß das Seiende von uns gedacht werden, wenn etwas sein soll?« An dieser Formulierung macht er Herrmanns Verhältnis zu Lotze deutlich: Wie Lotze bestimmt Herrmann die Metaphysik als Ontologie, aber die teleologische Ausrichtung der Metaphysik lehnt er ab. MOGK, 200f hält es für möglich, dass Hermanns Verständnis der Metaphysik als Ontologie von Lotzes früher Metaphysik beeinflusst ist, weist aber darauf hin, dass sich bei Herrmann keine direkten Anhaltspunkte dafür finden lassen, dass er die Metaphysik kannte; vgl. MOGK, 54. Ein Bezug zu Lotze könnte jedenfalls die überraschende Tatsache erklären, dass Herrmann Kant hier völlig zu ignorieren scheint, der die generelle Metaphysik zur Erkenntnistheorie umgestaltet sowie die konkrete Erkenntnis der Gegenstände, die »rationale Physiologie«, aus dem Zuständigkeitsbereich der Metaphysik herausgenommen und der Naturwissenschaft zugewiesen hatte; vgl. KANT, KrV, B 874f. 12 Vgl. FISCHER-APPELT, Metaphysik, 110. Herrmann erwähnt Kant in der Metaphysikschrift lediglich an zwei Stellen (37. 43) und auch dort nur im Nebensatz und ohne Bedeutung für die Gesamtargumentation. FISCHER-APPELT, Metaphysik, 123f hält dennoch Kant für »den ungenannten Hintergrund der ganzen Untersuchung« und verweist dafür auf die ersten beiden Kapitel der Religionsschrift. 13 Metaphysik, 9. 14 Metaphysik, 7.

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3. Kapitel: Wilhelm Herrmann

Nach Herrmann bestimmt die Metaphysik das Seiende »als Wirkendes und Leidendes« sowie »als unveränderlicher Träger erklärbarer Beziehungen«. Das erste Prinzip beschreibt Seiendes als etwas, das von sich aus tätig ist und anderes empfangen kann. Das zweite Prinzip hat die materielle Substanz vor Augen, mit der sich das Seiende zu erkennen gibt. Dabei stößt die Metaphysik auf das Problem, dass die beiden Prinzipien, wenn sie gleichermaßen auf die Gegenstände innerer und äußerer Erfahrung angewandt werden, zu Widersprüchen führen. Aber dies stellt für Herrmann noch keinen Einwand gegen die Metaphysik dar. Er betont, dass sie dieser Schwierigkeit begegnen kann, indem sie differenziert: Das erste Prinzip zielt auf geistige Subjekte, das zweite auf Dinge.15 Diese Unterscheidung zeigt, dass Herrmann, anders als Ritschl, an eine Metaphysik denkt, die sich wohl des Unterschiedes zwischen der Erkenntnis von Dingen und der des denkenden Subjekts bewusst ist, die aber noch nicht die Bedingungen der Erkenntnis kritisch im Sinne Kants reflektiert.16 Deshalb kann Herrmann die Aufgabe der Metaphysik dahingehend konkretisieren, »die ontologischen Voraussetzungen und ihren gleichartigen oder verschiedenen Wert für die beiden großen Gebiete unserer Erfahrung festzustellen«.17 Die so verstandene Metaphysik ordnet Herrmann dem Welterkennen zu.18 Auch darin besteht ein Unterschied zu Ritschl, für den die Metaphysik als rein formale Erkenntnis des ›Dinges an sich‹ aller Wissenschaft voraus liegt, nämlich »Physik und Ethik« beziehungsweise der »Erkenntniß der Natur und des geistigen Lebens« gleichermaßen.19 Bei Herrmann hingegen besteht der Sinn der Metaphysik darin, mit der Unterscheidung von materiellen Gegenständen und geistigen Subjekten eine Aporie der Naturforschung zu lösen, die aus der Konfrontation mit der Tatsache des geistigen Lebens resultiert. Die »mechanische Weltauffassung«, die für Herrmann den Inbegriff der naturwissenschaftlichen Welterklärung bildet, gerät in Widersprüche, wenn sie ihre Modelle auch zur Erklärung der Selbständigkeit und des Bewusstseins des geistigen Lebens verwenden will. Diese Widersprü15

Metaphysik, 6f; vgl. FISCHER-APPELT, Metaphysik, 116. FISCHER-APPELT, Metaphysik, 122–125 nennt Herrmanns Metaphysik »vorkantisch« und erkennt in ihr eine »cartesianische Position« (124), in der sich die Wirklichkeit in die beiden großen Gebiete der res extensa und der res cogitans gliedert. Ob sich mit Fischer-Appelt schließen lässt, dass Herrmann an eine Metaphysik denkt, die trotz Kant an der cartesischen Position festhält und sich damit selbst als überholt qualifiziert, ist fraglich, denn andererseits dient sie in der Metaphysikschrift ja durchaus auch der Theologie als Werkzeug. 17 Metaphysik, 14. 18 Vgl. auch Briefwechsel, Nr. 70, 178: das »Welterkennen, mag dieses sich nun Physik oder Metaphysik nennen«. 19 RITSCHL, Lesefrüchte, 212; TuM, 8. Allerdings nimmt Ritschl keine explizite Verhältnisbestimmung zwischen theoretischem Erkennen und Metaphysik vor, in den Abschnitten über das theoretische Erkennen geht er auf die Metaphysik nicht ein; vgl. § 28 in den verschiedenen Auflagen von RuV III. 16

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che führen aber dazu, dass die Naturforschung das, was sie überhaupt erst in Gang gesetzt hat,20 nämlich die »Bedürfnisse des Geistes« nach »Enträtselung der Natur«, gar nicht erfüllen kann. Indem die Metaphysik die Wirklichkeit gemäß ihrer Dualität erfasst, nimmt sie die geistigen Bedürfnisse des Menschen auf und ermöglicht der Naturforschung, sich auf die »mechanische Herrschaft über die Dinge« zu beschränken. Nach Herrmann ist es das »Ungenügende der naturwissenschaftlichen Begriffe«, das dazu führt, »in geordnetem Nachdenken über sie hinauszustreben« und sich damit auf den »Weg der Metaphysik« zu begeben.21 Während also der »Physiker« die Naturvorgänge »zum Zwecke mechanischer Weltbeherrschung« in gesetzmäßigen Formeln zu erfassen versucht, sucht der »Metaphysiker« nach allgemeinen Formeln, in denen er »die widerspruchsvolle Begriffswelt« der Naturwissenschaft ordnet und klärt.22 Damit geht bei Herrmann die Metaphysik von den Ergebnissen der Naturwissenschaft aus, während bei Ritschl die Metaphysik gerade vor den Erkenntnissen der Einzelwissenschaften ansetzt. Der Unterschied zwischen Naturwissenschaft und Metaphysik liegt für Herrmann also in der empirischen und der ontologischen Vorgehensweise, die er aber beide zur wissenschaftlichen Erkenntnis der Welt rechnet. Dabei kommt der Metaphysik die Aufgabe zu, Widerspruchslosigkeit und logisch-abstrakte Allgemeinheit der Begriffe zu erreichen. Gerade die zur Erfüllung dieser Aufgabe eingesetzte Arbeitsweise aber macht die Metaphysik für das Verstehen der Religion ungeeignet. Damit ist schon angedeutet, in welche Richtung sich die Metaphysikkritik der Metaphysikschrift bewegt: Während Herrmann die Funktion der Metaphysik im Dienst des wissenschaftlichen Welterkennens akzeptiert, bewertet er ihre Verwendung in der Theologie und ihre Anwendung auf die Religion als problematisch. Daneben wird, wenn auch nur untergeordnet und angedeutet, ein weiterer Kritikpunkt deutlich, der die Metaphysik nun allerdings selbst betrifft. Es geht Herrmann um den Versuch der Metaphysik, den Dualismus der Wirklichkeit und die ihm anhaftenden Probleme in einer einheitlichen Weltsicht zu überwinden. Diesen »Versuch, die Welt widerspruchsfrei zu denken« trotz des unausweichlichen Dualismus bezeichnet er als »Schlußhypothese«,23 weil sie die 20

Metaphysik, 4. Metaphysik, 6f. 22 Metaphysik, 9. FISCHER-APPELT, Metaphysik, 113f erkennt hier »zwei verschiedene Begriffe von Metaphysik«: Der dominierende geht von der »Objektseite des Erkenntnisprozesses« aus und löst die Aporie der Naturforschung angesichts des geistigen Lebens durch die Klärung der Begriffe. Der andere, untergeordnete Begriff geht von der »Subjektseite des Erkenntnisprozesses« aus und hat die Lösung des Welträtsels zum Ziel. Beide sieht er aber darin verbunden, dass sie die verborgene »rätselhafte Ambivalenz« des Menschen zum Ursprung haben. 23 Metaphysik, 14f. 21

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3. Kapitel: Wilhelm Herrmann

Enträtselung der Welt durch das wissenschaftliche Welterkennen zu einem den menschlichen Geist befriedigenden Abschluss zu bringen versucht. Herrmann benennt konkret zwei Formen dieses Versuches, nämlich die »Hypothese des subjektiven Idealismus« und die »materialistische Hypothese«. Beide erreichen die Einheit von geistiger und materieller Wirklichkeit allerdings nur dadurch, dass sie einem Bereich auf Kosten des anderen das wahre Sein zusprechen. Dabei stellt Herrmann als die zunächst unmittelbar sich anbietende Option die idealistische Entscheidung für den Vorrang des Geistigen dar,24 während er die materialistische Verabsolutierung der Dinglichkeit zum ontologischen Kriterium alles Wirklichen erst als bewusste Entscheidung gegen den Idealismus versteht. Beide Wege richten sich nach Herrmann auf den »Bereich des Tatsächlichen«, in dem die Frage nach dem Zweck der Welt nicht von Interesse ist.25 Herrmann ist nun aber wie Ritschl der Meinung, dass die Untersuchung der vorfindlichen Wirklichkeit gar nicht zur Welteinheit führen kann, sondern sich erst unter der Perspektive ihrer Bestimmung, also des sittlichen Zweckes aller Wirklichkeit ergibt.26 Dahinter steht Herrmanns Auffassung, dass die Bestimmung etwas ist, das der Wirklichkeit in Religion und Sittlichkeit beigelegt und gerade nicht durch Analyse aus ihr gewonnen wird – die vorfindliche Realität bedarf, religiös gesprochen, der Erlösung und trägt sie nicht schon in sich.27 Deshalb spricht Herrmann von »dem zweifelhaften metaphysischen Probleme, wie die Einheit des Dinglichen und Geistigen zu denken sei«, das die Theologie nicht zu interessieren braucht.28 b)

Religion

Die systematische Theologie ist nach Herrmann »die wissenschaftliche Darstellung und Begründung einer religiösen Weltanschauung«.29 Im Gegensatz zur Physik und Metaphysik kann sie ihren Gegenstand nur dann angemessen erfassen, wenn sie beachtet, »daß die christliche Religion nicht den tatsächlichen Bestand der Welt feststellen will, sondern die Zweckbeziehung derselben auf

24

Nach Religion, 30f hat Herrmann mit dem »subjektiven Idealismus« vor allem die Philosophie von George Berkley und dessen Widerlegung durch KANT, KrV, B 274–279 vor Augen; FISCHER-APPELT, Metaphysik, 127. 25 Metaphysik, 15f. Bereits RITSCHL, RuV1 III, 179f hatte den »Pantheismus« und den »Materialismus« dafür kritisiert, dass sie »das Gesetz eines besondern Daseinsgebietes als das oberste Gesetz alles Daseins« verabsolutieren; s. o. S. 21f. 26 Metaphysik, 13; zu Ritschl s. o. S. 19–21. Ritschl und Herrmann folgen hier dem Gedanken Kants, dass die Welteinheit teleologisch, nämlich durch die Ausrichtung der Welt auf den Endzweck gegeben ist, z. B. KANT, KdU, §§82–84; SLENCZKA, Glaube, 135. 27 Vgl. Religion, 82. 28 Metaphysik, 19. 29 Metaphysik, 8.

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uns«, die aus der »in Jesus Christus offenbaren Bestimmung« des Menschen hervorgeht.30 Jegliche religiöse Weltanschauung weist in Herrmanns Verständnis einen ethischen Grundzug auf. Denn der Sinn von Religion liegt für ihn darin, dem ethisch bewussten Menschen die Frage zu beantworten: »Wie muß die Welt beurteilt werden, wenn das höchste Gut wirklich sein soll?« Die Religion löst diese Frage, indem sie die den »Hoffnungen und Bestrebungen« widersprechende Natur »in die Abhängigkeit einer uns günstigen Gottheit rückt«. Damit garantiert die Macht der Gottheit dem religiösen Menschen die Wahrung und Durchsetzung seines höchsten Gutes. Das Christentum unterscheidet sich von anderen Religionen lediglich dadurch, dass es diesen Grundzug der Religion »am klarsten« aufweist. Der Widerspruch zwischen Mensch und Natur wird hier dadurch vollständig aufgehoben, dass Gott als absolut überweltlich, also allen weltlichen Widrigkeiten überlegen, und gleichzeitig als über alles Weltliche allmächtig verfügend gedacht wird.31 Auf diese Weise wird der Glaubende in die Lage versetzt, die Welt nun so »zu beurteilen, . . . daß sie unserer sittlichen Bestimmung, dem höchsten Gute, als dienendes Mittel subsumiert werden kann«.32 c)

Abgrenzung von Religion und Metaphysik

In diesem ethischen Grundzug der Religion liegt für Herrmann der Grund, warum religiöse Sachverhalte nicht durch das auf die Weltdinge ausgerichtete naturwissenschaftliche oder metaphysische Erkennen erfasst werden können.33 Herrmann unterscheidet Metaphysik und Religion durch die Weise, wie sie jeweils die Welt in den Blick nehmen. Während die Metaphysik nach allgemeinen, widerspruchsfreien Vorstellungsformen von Sein und Geschehen fragt, beschäftigt sich die Religion mit dem Verhältnis der »Dinge zu den Zielen unseres Willens, zu unserem Wohl und Wehe«, was in der Metaphysik völlig gleichgültig ist. Den Christen interessiert nach Herrmann wiederum nicht »das Wie des Seins und Geschehens«, sondern der »Weltinhalt«, der sich in Sein und Geschehen verwirklicht, nämlich das höchste Gut. Dass es einen Zusammenhang »zwischen der Weise des Seins und Geschehens in der Welt und dem höchsten Gute« gibt, ahnt der Christ zwar. Aber da er seine Gewissheit nicht aus einer Analyse der

30

Metaphysik, 18. Metaphysik, 8. Vgl. FISCHER-APPELT, Metaphysik, 184–186. 32 Metaphysik, 11. Wie nah Herrmann mit dieser Beschreibung der Religion bei Ritschl steht, zeigt Ritschls »Formel«, »daß jede Religion Weltanschauung unter der Idee Gottes und Selbtbeurtheilung aus der Abhängigkeit von Gott im Verhältnis zur Welt sei«; RITSCHL, RuV1 III, 170. 33 Vgl. Metaphysik, 35, wo Herrmann das auf Welterklärung gerichtete Kausalitätsdenken und das »Interesse des Christentums . . . wie . . . der ethischen Religion überhaupt« scharf gegenüber stellt. 31

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3. Kapitel: Wilhelm Herrmann

vorfindlichen Wirklichkeit bezieht, sondern aus der Macht des höchsten Gutes über sein Gemütsleben und aus dem Glauben an Gott, den Vater, der seine mechanische Abhängigkeit von der Welt zum Mittel für die Erfahrung der Freiheit macht, muss dieser Zusammenhang für ihn nicht genauer geklärt werden. Für den Glauben ist das »Gefühl für den Wert des Reiches Gottes« ausschlaggebend, nicht der tatsächliche Bestand der Welt.34 Die Verbindung beider Sichtweisen stellt deshalb für Herrmann ein Problem dar. Die Verwendung der Religion in der Erklärung der Welt hat eine negative Rückwirkung auf die religiösen Vorstellungen. Herrmann sieht die »Überweltlichkeit der Gottesvorstellung« und des in der Religion gegebenen »höchsten Gutes«, wenn sie »den tatsächlichen Befund der Welt« begreiflich machen sollen, »aufgegeben«. Unter dem »Prädikat« der Überweltlichkeit versteht Hermann, »daß der Glaube an unsern Gott nur dem sittlichen Menschengeiste durch das Gefühl für das Gute zugänglich ist«.35 Die Herauslösung der religiösen Vorstellungen aus diesem Kontext, ihr metaphysisches Verständnis, verändert also ihren Sinngehalt entscheidend. Herrmann spricht von der »Gefahr einer Trübung des christlichen Glaubens«. Weil die christliche Gottesvorstellung »nur vorhanden [ist] als Funktion des sittlichen Geistes, der in ihr die Freiheit von Schuld und Übel sucht und erfährt«, führt die Trennung von diesem »organischen Zusammen . . . zu einem ganz anderen Inhalt des Begriffs«, der dann durch die »mechanische« Welterklärung bestimmt wird.36 Wie bei Ritschl deutet sich hier also deutlich die hermeneutische Perspektive an, die Bultmann und Ebeling dann in aller Ausführlichkeit im Zusammenhang mit der »natürlichen Theologie« beziehungsweise Metaphysik beschäftigen wird. d) Die theologische Funktion der Metaphysik Angesichts der deutlich gewordenen Problematik stellt sich nun die Frage, worin Herrmann die Ursache für die bisherige Verwendung der Metaphysik in der Theologie sieht und er ob sie nun völlig ausschließen will. In der Auseinandersetzung mit Heinrich Julius Holtzmann,37 der das Bestehen der Religion von ihrer Anbindungsfähigkeit an das spekulative Denken abhängig macht, kommt er auf den theologischen Grund der Verbindung von Metaphysik und Theologie zu sprechen, nämlich den Versuch, die Gewissheit der 34

Metaphysik, 8f. Metaphysik, 12; vgl. 14. 36 Metaphysik, 16f. Dieser Gedanke wird später bei Ebeling zu einem wichtigen Aspekt seines Metaphysikverständnisses; s. u. S. 224–227. 37 Holtzmann (1832–1910) lehrte Neues Testament in Heidelberg und später in Straßburg. Holtzmann war, obwohl dem liberalen Lager zuzurechnen, ein Freund Ritschls; RITSCHL, Leben II, 129f. 305. Zu Holtzmanns theologischer Position s. WEINHARDT, Stellung, 160– 164. 35

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Religion metaphysisch abzusichern. Dies ist gegenüber Ritschl, bei dem vor allem die Vernünftigkeit und Allgemeinheit des Gottesgedankens im Vordergrund steht, ein neuer Gedanke im Zusammenhang mit der Metaphysik.38 Gegen Holtzmann wendet Herrmann ein, dass die Religion die Metaphysik zu diesem Ziel nicht braucht, weil der »tatsächliche Befund dieser Welt« dafür irrelevant ist, sondern in der Religion selbst liegt.39 Er betont, dass das Christentum die »spekulative Hilfe« mit der »Berufung auf die eigene Kraft« ablehnen kann.40 Und unter Berufung auf Melanchthon wehrt er sich dagegen, das »übernatürliche Gut« der Religion in seiner Geltung von der »Leistungsfähigkeit in spekulativer, d. h. in irdischer Arbeit« abhängig zu machen.41 Dennoch lehnt Herrmann die Metaphysik hier noch nicht vollständig ab, auch im Bereich der Theologie nicht. Gleichgültigkeit gestattet er dem Theologen, wie wir gesehen haben, nur der metaphysischen Bemühung um die Einheit von dinglicher und geistiger Wirklichkeit gegenüber. Weil die Theologie aber »wissenschaftliche Darstellung des Christentums« zu sein beansprucht, muss sie darauf achten, ob ihre »Darstellungsmittel« ihrem Gegenstand angemessen sind. Diesen Gegenstand der Theologie, die christliche Weltanschauung, kennzeichnet Herrmann als »Verkehr zwischen Geistern«, also zwischen Gott, Christus und den Menschen, sowie durch die »Unterscheidung eines sittlich bestimmten Geisterreiches als Zweck von der nicht sittlich bestimmten Welt als Mittel«. Um diesen Gegenstand korrekt darzustellen, braucht die Theologie die Metaphysik, damit »sie uns die Begriffe liefert, welche jenen Verhältnissen entsprechen«. Die Theologie nimmt die Metaphysik also in Anspruch, um in ihren Begriffen den Unterschied zwischen geistiger und dinglicher Realität zu beachten. Damit erfüllt die Metaphysik nicht eine von außen an sie herangetragene, sondern ihre ureigene Aufgabe: Es ist eine unvermeidliche Aufgabe der Metaphysik, die Abwandlungen zu markieren, welche unsere Begriffe in dem Wechsel der Beziehungen auf Dinge und auf Geister erleiden. Das Resultat dieser Arbeit ist die Rüstkammer der systematischen Theologie.42

38

Auch bei den später von ihm in Zusammenhang mit der Metaphysik gebrachten Gottesbeweisen sieht Ritschl nicht den Sinn, zur »Gewissheit der Wirklichkeit Gottes« zu führen; RITSCHL, RuV1 III, 184, vgl. RuV3 III, 203f. Er streift diesen Aspekt lediglich am Rande, wenn er Frank vorwirft, dass er das metaphysische Prädikat des Absoluten für Gott »als Stütze der Religion proclamirt«; RITSCHL, TuM, 20. 39 Metaphysik, 9. Das Thema der Gewissheit klingt bereits in der Einleitung der Metaphysikschrift an, auch hier im Zusammenhang mit Holtzmann, wenn Herrmann Bedenken gegenüber der Hoffnung anmeldet, die Theologie könne durch die »Hilfe« der Metaphysik ihren Wirklichkeitsbezug sichern und zum »Geheimnis« der zu einer Einheit verbundenen Welt vordringen; Metaphysik, 2. 40 Metaphysik, 11. 41 Metaphysik, 13. 42 Metaphysik, 19f.

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3. Kapitel: Wilhelm Herrmann

Darüber hinaus aber sieht Herrmann für die Metaphysik nur noch eine negative Funktion in der Theologie. Wenn nämlich die Metaphysik in ihrer Arbeit und unter dem Anspruch objektiver Wissenschaft Begriffe verwendet, die nur aus ihrem sittlich-geistigen Ursprung zu verstehen sind, dann muss die Theologie »jene Pseudometaphysik als ein Surrogat der Religion . . . entlarven«.43 Vor allem aber verfolgt Herrmann das Anliegen, die hermeneutische Problematik der Metaphysik in der Theologie bewusst zu machen. Dem dienen die folgenden beiden Teile in seiner Schrift. 2.

Das Problem der Freiheit des Menschen

Im zweiten Teil der Metaphysikschrift (S. 22–50) stellt Herrmann das Verhältnis von Freiheit des Menschen und seiner Abhängigkeit von Gott dar, das seiner Meinung nach in der Theologie durch die metaphysische Behandlung viele Missdeutungen erfahren hat. Auch hier knüpft Herrmann an Ritschl an, und zwar an dessen Aussagen über das Verhältnis von Rechtfertigung und Sittlichkeit.44 a) Das ethisch-religiöse Verständnis von Freiheit und Abhängigkeit Herrmann sieht das größte Problem der metaphysischen Methode in diesem Fall darin, dass Freiheit und Abhängigkeit metaphysisch betrachtet sich ausschließende Begriffe darstellen, während beide im religiösen Erleben zusammengehören. Für den Gläubigen wird Freiheit möglich, indem er seine Abhängigkeit von dem erlösenden Gott erfährt. Herrmann schließt sich dabei Kant an, der Freiheit als Bestimmung des Willens durch die Idee des Guten betrachtet: »Die volle Freiheit ist das Korrelat der vollen subjektiven Aneignung des wirklich höchsten Zweckes.«45 Denn die Ausrichtung auf diesen Zweck gibt dem Willen des Menschen »einen unvergleichlichen Wert«, der sein Selbstgefühl über die konkreten Bedingungen seines »empirischen Daseins« erhebt.46 Diesen ethischen Gedanken führt Herrmann auf den christlichen Glauben hin weiter. Das Bewusstsein der Freiheit verursacht ihm zufolge Probleme, die nur die Religion lösen kann. Es verschärft dem Menschen sowohl das Problem, dass der Lauf der Welt seinem sittlichen Streben entgegen steht, wie auch sein Schuldgefühl angesichts seiner eigenen Ungenügsamkeit gegenüber der sittlichen Forderung. Das Christentum ermöglicht dem Menschen nun eine andere Beurteilung der Welt und seiner selbst. Zum einen ordnet die christliche Gottesidee die Natur als Mittel der »ewige[n] Bestimmung des Menschen« als Zweck unter.

43 44 45 46

Metaphysik, 20f. RITSCHL, RuV1 III, §§ 6. 36 = 18–23. 250–255. Metaphysik, 24; vgl.WEINHARDT, Stellung, 169. Vgl. KANT, KpV, 144f. Metaphysik, 23.

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Zum anderen lässt die in Christus offenbare Gnade den Menschen die Liebe Gottes trotz seiner Sünde auf sich beziehen.47 Nach Herrmann ist also über Kant hinaus die konkrete Verwirklichung der Freiheit im Leben eines Menschen daran gebunden, dass die ihr entgegenstehenden Probleme durch die Abhängigkeit von Gott gelöst werden. Diese Erfahrung der Abhängigkeit des Erlösten von Gott ist aber nicht kompatibel mit dem metaphysischen »Begriff einer absoluten Determination des Endlichen durch das Unendliche«. Der metaphysische Begriff, betont Herrmann, bezieht sich unterschiedslos auf alles endliche Sein, wodurch er den Menschen als Teil der Natur setzt und gerade dessen Erhebung über die Natur verhindert. Demgegenüber setzt das religiöse Erlebnis der Abhängigkeit von Gott ein durch die Freiheit seines Willens zum Guten von allem Endlichen unterschiedenes Wesen voraus und sichert diese Freiheit, indem es dem Menschen durch das Gefühl unendlichen Wertes die Fähigkeit zur Selbstunterscheidung von der Natur gibt.48 b)

Die Bedeutung der religiösen Erfahrung

Mit dem Aufweis dieser Unterschiede in den jeweiligen Inhalten der Begriffe will Herrmann deutlich machen, wie irreführend die metaphysische Behandlung der Religion ist. Sein wichtigstes Argument in der Metaphysikschrift gegen die metaphysische Behandlung der Religion in der Theologie besteht im Hinweis auf die religiöse Erfahrung, in die die religiösen Aussagen untrennbar eingebunden sind. So kann die religiöse Auffassung von Freiheit nicht im allgemein-vernünftigen Rahmen des »Kausalitätsgesetzes« behandelt werden, weil die »besondere Erfahrung« der Religion »uns zwingt, uns von aller Welt zu unterscheiden« und damit den Willen gerade nicht im Zusammenhang der endlichen Größen zu betrachten.49 Auch der Zusammenhang zwischen der Abhängigkeit von Gottes Gnade und der Freiheit des Menschen erschließt sich dem Menschen allein in der religiösen Erfahrung: »Indem ihm sein kraftvolles Eigenleben als ein Werk Gottes durchsichtig wird, fühlt er sich in dieser Abhängigkeit selig und frei.«50 Die »Gewißheit, durch die Gnade Gottes geworden zu sein, was er ist«, bildet für den Christen den »subjektiv genügenden Beweis«, dass sich Freiheit und Abhängigkeit »in der Form, in welcher sie in der religiösen Weltanschauung auftreten«, nicht widersprechen. Damit stellt sich für ihn die Frage nicht, wie die Einheit von Freiheit und Abhängigkeit formal möglich sein kann.51

47 48 49 50 51

Metaphysik, 24. Metaphysik, 28. Metaphysik, 22f. Metaphysik, 25. Metaphysik, 26.

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c) Konsequenzen für die Theologie Wenn die Theologie nun die in der religiösen Erfahrung gegebene Einheit der formal widersprüchlichen Begriffe Freiheit und Abhängigkeit denkend nachvollziehen will, so muss sie nach Herrmann beide Begriffe »in voller Integrität«, d. h. streng in ihrem religiösen Sinn auffassen. Denn nur wenn der religiöse Gehalt der Begriffe vollständig erhalten und nicht durch metaphysische Gedankengänge korrumpiert wird, dann fordert ein Begriff »unmittelbar den Übergang zu dem entgegen gesetzten Begriffe«. Wird dies nicht beachtet, warnt Herrmann, führt das menschliche Bedürfnis nach einem einheitlichen Denken dazu, den formalen Widerspruch beider Begriffe »denkend auszugleichen«, was sie aus dem »Rahmen der ethischen Religion« herauslöst und in eine Allgemeinheit versetzt, mit der die »metaphysische Arbeit« umgehen kann.52 Was das bedeutet, zeigt Herrmann anhand der reformatorischen Theologie. Herrmann zufolge haben die Reformatoren den Fehler begangen, beide Begriffe als Allgemeinbegriffe zueinander in Beziehung zu setzen. Der sich daraus ergebende logische Widerspruch konnte letztlich nur durch eine Bevorzugung der Abhängigkeit von Gott gelöst werden, die zu einer Ausblendung der Freiheit des Menschen führte.53 Für das richtige Verständnis des religiösen Gehalts der Begriffe Freiheit und Abhängigkeit fordert Herrmann »zwei getrennte(. . . ) Reihen von Aussagen«,54 die das höchste Gut zum einen aus der Perspektive der Stellung Gottes zur Welt und zum andern aus der Perspektive der Stellung des Menschen zur Welt behandeln. Die erste Reihe ist die Aussagereihe des Glaubens und betrachtet das höchste Gut als Inhalt des Willens Gottes, der die Menschen in der Bindung an ihn erlöst. Die zweite Reihe ist die Aussagereihe der sittlichen Aufgabe, die das höchste Gut als Aufgabe für den durch die Bindung an Gott befreiten menschlichen Willen darstellt. Herrmann knüpft hier explizit an Ritschl an, der »jene Aufgabe zum ersten Mal gestellt und in bewundernswerter Weise gelöst hat«.55 In der Tat ist ja Ritschls Religionsauffasung, wie er selbst im Bild der Ellipse56 plastisch darstellt, von den beiden Polen Erlösung bzw. Rechtfertigung und Sittlichkeit bestimmt. Allerdings strebt Ritschl danach, die beiden Pole in eine rationale Beziehung zueinander zu bringen, während Herrmann Freiheit und Abhängigkeit durch die religiöse Erfahrung miteinander vermittelt. Dies

52

Metaphysik, 31. Metaphysik, 27f. Zu Herrmanns Kritik an der reformatorischen Behandlung des Themas s. u. S. 121. 54 Metaphysik, 32. 55 Metaphysik, 49. 56 RITSCHL, RuV3 III, 11. 53

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zeigt bereits in dieser frühen Schrift, welche Bedeutung das religiöse Erlebnis bei Herrmann hat.57 3.

Metaphysik in der Christologie

Im dritten Teil der Schrift (S. 50–80) zeigt Herrmann anhand der Christologie, wie das metaphysische Verständnis religiöse Aussagen verfälscht. Das religiöse Motiv der Gottheit Christi darf nicht als Aussage über einen Gottmenschen verstanden werden, die durch metaphysische Erklärung, wie eine Vereinigung von Gott und Mensch möglich sein kann, erfasst wird. Die Kenosislehre der Reformation beging nach Herrmann den Fehler, dass sie die allgemeine Möglichkeit einer Vereinigung von göttlicher und menschlicher Natur erklären wollte, obwohl doch gerade die Besonderheit der Person Jesu Christi beschrieben werden sollte. Den Grund für diesen Fehler sieht Herrmann in der »durch das griechische Erbe aufgezwungenen Unmöglichkeit«, den Begriff der Gottheit von der geschichtlichen Erscheinung Jesu her zu verstehen.58 Dies führte zu dem Problem, dass die metaphysische Interpretation, weil die Vereinigung der Naturen in Christus ja nun gerade unerkennbar ist, die Anwesenheit Gottes in Jesus Christus verschleierte. Nach Herrmann muss jedoch die »religiöse Gemeinde« nicht wissen, »daß und wie eine verborgene Einheit denkbar sei«, sondern sie ist darauf angewiesen, dass ihr die im Glauben erfassbare Gegenwart Gottes im Menschen Jesus aufgezeigt wird.59 Ritschl folgend ersetzt Herrmann den metaphysischen Zugang zur Bedeutung Christi durch einen ethischen.60 Die »besondere Beurteilung Christi in der christlichen Gemeinde«, der »Wert Christi« geht zunächst von dem sittlichen Urteil aus, dass er als Stifter der Gemeinde das Reich Gottes als deren höchstes Gut verwirklicht. Nun geben wir Herrmann zufolge allen Ereignissen, die zur Verwirklichung des höchsten Gutes beitragen, aber auch eine religiöse Deutung, indem wir sie als Handeln Gottes verstehen. Die »umfassende Bedeutung« von Jesu »Berufstätigkeit für die Verwirklichung des Reiches Gottes« führt dazu, in 57

Vgl. WEINHARDT, Stellung, 175. Allerdings bleibt Herrmann nicht, wie Weinhardt meint, einfach »beim Widerspruch von Freiheit und Abhängigkeit stehen«. Die Berücksichtigung der religiösen Erfahrung als Kontext, in dem beide Sachverhalte stehen, führt durchaus zu einer Vermittlung beider, die auch denkend nachvollzogen werden kann – wie Herrmann ja selbst mit seiner Darstellung zeigt. Herrmann kommt es aber darauf an, dass das Denken nicht den Widerspruch lösen kann, der entsteht, wenn beide Sachverhalte aus ihrem ethischreligiösen Kontext isoliert werden. Vgl. Metaphysik, 49, wo Herrmann »ihre ideale Einheit im Begriff des höchsten Gutes« verwirklicht sieht, sowie die späteren Ausführungen zum Thema in Widerspruch, bes. 245f. 58 Metaphysik, 53. S. u. S. 121. 59 Metaphysik, 54f. 60 Zu Ritschls Verständnis der Gottheit Christi aus dem Endzweck der Welt statt aus metaphysischen Begriffen s. RITSCHL, RuV1 III, § 45.

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ihm nicht eine einzelne Handlung Gottes zu erkennen, »sondern die Summe aller denkbaren«, was bedeutet, dass »er uns gleich Gott ist«. In seinem Berufswirken ist uns deshalb »die Fülle der Gottheit gegenwärtig«.61 Allein dieses Urteil der Einheit Jesu mit dem Vater würde nun aber nur dazu führen, dass uns vor allem »unser Abstand von ihm« schärfer vor Augen treten würde. Das Problem unserer eigenen sittlichen Unzulänglichkeit, also das Problem der Sünde, wäre damit nicht gelöst. Deshalb muss für Herrmann neben diese Beurteilung noch eine zweite treten, nämlich die Beachtung der »Lebensabsicht« Jesu. Diese sieht Herrmann darin, »der Menschheit die Gemeinschaft mit Gott als ihrem Vater zu vermitteln«, was in der Sündenvergebung durch Jesus geschieht. In dieser »liebevollen Lebensabsicht« erkennen wir den »auf uns gerichteten göttlichen Liebeswillen«, weil wir ja durch die sittliche Beurteilung Jesu um seine Einheit mit Gott wissen. Dadurch sind die »Lebensäußerungen Christi« uns als »das direkte Wirken Gottes auf uns als Glieder der Gemeinde offenbar«.62 Durch die sittliche Perspektive erschließt Herrmann die Gottheit Jesu also als Verbindung von sittlicher Autorität Jesu und Vollmacht zur Sündenvergebung. Somit kommt das religiöse Urteil über die Person Jesu nicht auf metaphysische Weise zustande, sondern knüpft an die »ethische Beurteilung Jesu« an. Dabei betont Herrmann, dass er eine ethische Beurteilung allein für »unzulänglich« halten würde. Das ethische Urteil bildet die Grundlage für das religiöse Urteil über Jesu Gottheit, indem sie die sittliche Besonderheit Jesu feststellt, »deren religiöse Deutung alsdann die Erkenntnis seiner Gottheit aufschließt«.63 An dieser Argumentation wird deutlich, wie Herrmann die Gottheit Christi seinem Lehrer Ritschl folgend nicht metaphysisch als der verborgene Grund seines geschichtlichen Lebens erschließt, sondern genau umgekehrt das geschichtliche Leben Jesu als »der erkennbare Ausdruck seiner offenbaren Gottheit«.64 Auch in der Christologie geht Herrmann damit den Weg, dass er ein religiöses Phänomen zunächst ethisch statt metaphysisch erfasst und von dort her das theologische Verständnis erschließt. Durch Begriffe wie der ›Wert Christi für uns‹ oder die ›religiöse Deutung‹ der Glaubenden nimmt seine Argumentation auch hier in grundlegender Weise auf die religiöse Erfahrung Bezug und macht so den angemessenen Verstehenshorizont religiöser Vorstellungen deutlich.

61

Metaphysik, 74f. Wenn Herrmann in diesem Zusammenhang ausführt, dass die »Beurteilung Christi« nicht aus »anderen bereits feststehenden religiösen Überzeugungen« hervorgeht, sondern die Grundlage für alle diese ist, dann klingt bereits die spätere Unterscheidung zwischen Grund und Gedanken des Glaubens an. 62 Metaphysik, 62f; vgl. 79. 63 Metaphysik, 75f; vgl. 79. 64 Metaphysik, 79. Vgl. RITSCHL, RuV1 III, 343 und oben S. 30.

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Zusammenfassung

Die Auseinandersetzung Herrmanns mit der Metaphysik in der Metaphysikschrift ist einerseits erkennbar durch Ritschls Gedanken geleitet, bringt andererseits aber auch neue Aspekte ein. Der Einfluss Ritschls wirkt sich weniger auf das Metaphysikverständnis und die Metaphysikkritik Herrmanns aus, da Ritschl selbst sich bis dahin in seinen Veröffentlichungen nicht über kürzere Bemerkungen hinaus zur Metaphysik geäußert hat. Herrmann knüpft vielmehr an grundlegende Aspekte aus Ritschls Ansatz an und erarbeitet sich mit ihrer Hilfe einen Standpunkt, von dem her er die Metaphysik beurteilt. Dazu gehören, neben zahlreichen anderen Bezügen, vor allem das Religionsverständnis und die ethische statt metaphysische Interpretation von Glaubensvorstellungen. Der für die in dieser Arbeit untersuchte theologiegeschichtliche Linie wichtigste Aspekt, den Herrmann aus Ritschls Gedanken ableitet, ist die hermeneutische Kritik an der Verwendung der Metaphysik in der Theologie. In Ritschls ethischer Auslegung religiöser Vorstellungen vom Willen her ist implizit die Entscheidung gegen das metaphysische Verständnis enthalten. Diese implizite Ablehnung arbeitet Herrmann zu einer konkreten Kritik an der metaphysischen Interpretation aus. Dafür legt er zu Beginn der Metaphysikschrift eine Auseinandersetzung mit der Metaphysik dar, die schon hier deutlich über den Umfang des im wesentlichen auf die Verteidigung des eigenen Ansatzes abgezweckte Metaphysikverständnis Ritschls hinaus geht. Wie bei Ritschl stellen Metaphysik und Religion bei Herrmann zwei völlig verschiedene Zusammenhänge dar, die den Sinn von Aussagen jeweils fundamental verändern. Mit diesem Aspekt ist Herrmann der Schüler, der die Intention des Lehrers deutlich zur Geltung bringt. In Anknüpfung an Gedanken Ritschls lehnt Herrmann außerdem den Versuch ab, vom Welterkennen her eine Metaphysik als abschließende und einheitliche Weltsicht zu entwerfen; beide sehen dies nur vom Bereich der Religion her möglich. Bezieht man nun Ritschls spätere Ausarbeitungen zur Metaphysik ein, so ergeben sich einige Unterschiede. Zwar versteht Herrmann die Metaphysik wie Ritschl als Ontologie, schreibt ihr aber die Unterscheidung von Natur und Geist als Aufgabe zu, während Ritschl das Fehlen dieser Unterscheidung gerade zum Wesen der Metaphysik rechnet. Weit wichtiger ist allerdings der Unterschied, dass Herrmann die Metaphysik eindeutig dem wissenschaftlichen Welterkennen zuordnet, während sie bei Ritschl den Gebieten des Geistes und der Natur neutral gegenüber steht. Bei Herrmann verliert die Metaphysik diese Neutralität, sie wird, indem sie eindeutig auf die Seite der Natur gestellt wird, dem ›mechanischen Weltbild‹, also der kausalen Methode zugeordnet, die den eigentlichen Sinn ethischer Inhalte zerstören. Nach Herrmann stellt sich also nicht die Frage nach der richtigen Metaphysik in der Theologie, sondern die Metaphysik an sich ist grundsätzlich nicht auf religiöse Inhalte anzuwenden.

78

3. Kapitel: Wilhelm Herrmann

Ein weiterer neuer Aspekt gegenüber Ritschl ist die Frage nach der Gewissheit. Herrmann lehnt es ab, dass die Theologie durch das in der Metaphysik erreichte Wirklichkeitsverständnis oder die Verwendung religiöser Gedanken in der metaphysischen Welterklärung irgendeine Hilfe erwarten könnte, um die Gültigkeit und den Wirklichkeitsbezug der Glaubensvorstellungen zu zeigen. Dieser Aspekt erhält in den folgenden Arbeiten Herrmanns noch größeres Gewicht und spielt dann bei Bultmann und Ebeling eine wichtige Rolle. Insgesamt ist also festzustellen, dass die Metaphysikschrift in ihrer Beschäftigung mit der Metaphysik zwar eine Frucht der Theologie Ritschls ist, dabei aber doch neue Aspekte hinzufügt, die Herrmann in der Religionsschrift weiter ausarbeitet und die für die Auffassung von Metaphysik im theologiegeschichtlichen Zusammenhang dieser Arbeit bedeutend sind.

II.

Metaphysik in der Religionsschrift

Die Religionsschrift knüpft an die Metaphysikschrift an, indem sie die Religion von Metaphysik und Welterkennen unterscheidet. Allerdings setzt Herrmann dabei andere Akzente. Das Metaphysikverständnis ist ein anderes und Herrmann setzt sich deutlicher als in der Metaphysikschrift mit der Funktion der Metaphysik in der Theologie auseinander, einen »theologischen Beweis« der »christlichen Weltanschauung« vorzulegen. Wenn er auch die Metaphysik dafür ablehnt, so besteht er doch auf der Notwendigkeit, eine »wissenschaftliche Begründung« zu erarbeiten und die »Allgemeingültigkeit« des Glaubens zu zeigen.65 In den ersten vier Kapiteln der Religionsschrift untersucht Herrmann dafür die verschiedenen Arten des Erkennens und grenzt sie gegeneinander ab. 1.

Das reine Erkennen

Im ersten Kapitel klärt Herrmann das Verhältnis von reinem Erkennen und wissenschaftlicher Naturerkenntnis. Unter Aufnahme der Erkenntnistheorie Kants unterscheidet er das grenzenlose reine Erkennen und das von einem ›practischen Impuls‹ begrenzte Erkennen der Naturwissenschaft. Zur Beschreibung des reinen, also ohne Einmischung der anderen beiden Seelenfunktionen Fühlen und Wollen vorgehenden Erkennens konzentriert sich Herrmann auf die Begriffe der Substanz und der Kausalität. Die Substanz bezeichnet den äußeren Gegenstand, auf den das Bewusstsein seine Wahrnehmungen bezieht und an dem die einzelnen Vorstellungen ihre Einheit finden. Der Begriff der Kausalität sorgt dafür, dass verschiedene Wahrnehmungen auf eine Substanz bezogen werden können, indem ein Zustand als Folge an einen 65

Religion, IIIf.

II. Metaphysik in der Religionsschrift

79

anderen geknüpft wird. Durch die Kausalität verknüpft das Bewusstsein jede Substanz mit anderen Substanzen, ohne doch auf eine »letzte Substanz« zu stoßen. Die Natur »als der Zusammenhang der durch jene Begriffe geordneten Gegenstände« dehnt sich daher »grenzenlos« aus. Das reine Erkennen ist »in sich grenzenlos«.66 2.

Das Naturerkennen

Das Naturerkennen als der »Versuch zum Begreifen oder Erklären der Naturvorgänge« ist an sich ebenso grenzenlos wie das reine Erkennen.67 Die Erkenntnismittel, mit denen die Naturwissenschaft arbeitet, sollen rein, also unvoreingenommen sein. Allerdings unterstellt die Naturwissenschaft, um überhaupt Naturgesetze formulieren zu können, dem Naturgeschehen eine Regelmäßigkeit, die nicht aus dem reinen Erkennen ableitbar ist.68 Diese Voraussetzung schränkt die »unbegrenzte() Beweglichkeit« des Denkens ein, indem sie die Möglichkeit »gewaltsam« ausschließt, dass die »regellose Vielheit uns eine zusammenhängende Erklärung unserer Welt verwehren könnte«.69 Warum aber schränkt die Naturwissenschaft das Erkennen ein? Es liegt daran, dass sie in ihrem Wesen bestimmt ist von einem praktischen Zweck, nämlich der Beherrschung der Natur. Ihr Erkennen ist nicht reines Erkennen, sondern von den beiden praktischen Geistesfunktionen mitbestimmt, dem Fühlen und dem Wollen. Der Mensch erfährt die Natur als seine Zwecke fördernd oder behindernd, oder, wie Herrmann in philosophischer Terminologie sagt, er erfährt durch die Natur Lust oder Unlust. Diese Erfahrung führt zum Willen, so auf die Natur einzuwirken, dass er in ihr seine Zwecke verwirklicht.70 Um auf die Natur einwirken zu können, muss der Mensch Naturgesetze formulieren, und dafür muss er einen begreifbaren, regelmäßigen Naturzusammenhang unterstellen. Diese Vorstellung von der Einheit der Welt, von einem Weltganzen ist weder theoretisch noch empirisch nachweisbar. Herrmann führt sie vielmehr auf das Personsein des Menschen zurück: »Das Weltganze ist so real, wie das fühlende und wollende Individuum real ist.« Person ist der Mensch dadurch, dass er nicht nur Bewusstsein hat, sondern auch im Gefühl Werte empfindet und einen Willen hat, diese vorgestellten Werte zu realisieren. Daher kann Herrmann sagen, die Vorstellung des Weltganzen »ist aus einem Werturteil abgeleitet«.71 66

Religion, 19–25; Zitate 25. Religion, 26. 68 Religion, 32–35. 69 Religion, 36. 70 Religion, 35. 71 Religion, 39f. Nach FISCHER-APPELT, Metaphysik, 173 Anm. 58 hat Herrmann den Begriff des Werturteils in die Theologie eingeführt. WEINHARDT, Stellung, 191 weist aber 67

80

3. Kapitel: Wilhelm Herrmann

Die Vorstellung des Weltganzen gehört, wie Herrmann in Anknüpfung an Kant sagt, zu den »regulativen Ideen«, die zu verstehen sind als »Ausdruck des Vertrauens, daß die Welt, die wir als Mittel für unseren Zweck in Anspruch nehmen, sich zusammenhängend werde erklären lassen«. Sie sind damit »Symbole des practischen Impulses, der in jedem wissenschaftlichen Erkennen als einem absichtlichen wirksam ist«.72 Zu diesen das Erkennen in praktischer Absicht begrenzenden regulativen Ideen gehören auch der Begriff der Seele und des Dinges an sich. Die Seele kann, da sie keine Substanz ist, nicht Gegenstand des Erkennens sein, sondern die Vorstellung einer Seele bzw. eines Ich beruht auf dem Selbstgefühl des Menschen und verdankt sich daher nach Herrmann auch wieder einem Werturteil. Sie ist es, die das Erkennen in ihrem Interesse begrenzt: Die eigentliche Grenze des Naturerkennens ist die lebendige Person selbst, welche auf Grund eines Gefühls ihre Realität behauptet und das Erkennen als Mittel für ihre Zwecke verbraucht.73

Dieser Begrenzung des Erkennens dient auch die Vorstellung vom ›Ding an sich‹, also die Vorstellung, dass die Dinge »als in sich abgeschlossene, von uns unabhängige Größen«74 aufzufassen sind. Herrmann bezeichnet das Ding an sich als »Werthgröße, als Veranlassung von Lust und Unlust«. Es dient, wie die Vorstellung vom Weltganzen, der Unterstellung einer Gesetzmäßigkeit, um handelnd mit den Dingen umgehen zu können. Nach Herrmann ist es nichts anderes als ein »Realitätspostulat«, das für das von praktischem Interesse geleiteten Erkennen notwendig ist, damit sich die Welt nicht »in endlose Vorstellungsreihen« auflöst.75 Wenn nun diese auf Werturteilen basierenden Begriffe Weltganzes, Seele und Ding an sich mit der theoretischen Welterkenntnis verknüpft werden, dann stellt dies »nicht mehr theoretische, sondern practische Welterklärung« dar. Denn diese Welterklärung zielt nicht auf neutrale Untersuchung des Gegebenen, sondern setzt als eine von praktischem Interesse geleiteten Erkenntnis Vorstellungen voraus, deren Geltung allein durch ihren Wert für uns legitimiert werden kann. Diese praktische Welterklärung existiert nun in zwei Formen: als »dogmatische Metaphysik« und als Religion.76 darauf hin, dass Herrmann »keine Werturteilstheorie entwickelt, sondern nur sporadisch auf Elemente einer solchen Bezug genommen« hat. Dagegen hat Ritschl, wohl unter Anknüpfung an Herrmann, aber auch in Auseinandersetzung mit Kaftan, seit der 2. Auflage von RuV (1883) eine Werturteilslehre entfaltet und in seinen Ansatz integriert. Herrmann selbst weist darauf hin, Schriften II, 207 Anm. 1. 72 Religion, 66. 73 Religion, 47. 74 Religion, 51. 75 Religion, 48–50. 76 Religion, 66. Zum Begriff »dogmatische Metaphysik« s. u. S. 83.

II. Metaphysik in der Religionsschrift

3.

81

Die Metaphysik

Die Funktionalisierung der Metaphysik für das naturwissenschaftliche Erkennen bildet damit den Rahmen für Herrmanns Metaphysikverständnis. Dieser Rahmen war in der Metaphysikschrift bereits angeklungen. Auch in der Religionsschrift fasst Herrmann die Metaphysik als Teil des wissenschaftlichen Welterkennens auf: Sie soll die dem Naturerkennen und der mechanischen Weltbemächtigung zu Grunde liegende »Vorstellung vom Weltganzen« absichern.77 Somit ist sie, da sie auf die kausal arbeitende Naturwissenschaft ausgerichtet ist, auch selbst als Kausaldenken zu verstehen. Aber die Funktionalisierung für die Naturwissenschaft führt gleichzeitig dazu, dass Herrmann die Metaphysik als praktische und jeweils zeitbedingte Welterklärung kennzeichnet. a)

Der zeitgebundene Charakter

Zeitgebunden ist die Metaphysik, weil sie nach Herrmann die Aufgabe hat, »die verborgene Tiefe und Einheit einer im Gebrauch der Naturwissenschaft befindlichen Begriffsmenge aufzudecken und zur Geltung zu bringen«. Dafür bezieht sie die »vorläufig beglaubigten Hypothesen«, die die Wissenschaft für ihre Forschung aufstellt, auf eine Vorstellung vom Weltganzen und erklärt sie von dort her. So werden die vorläufigen »Erklärungsmittel« dann, indem sie »aus der Natur des Weltganzen erklärt« werden, »als die aus dem Wesen der Welt sich ergebenden Formen ihres Seins und Geschehens« verstanden. Als solche, führt Herrmann aus, beanspruchen sie einen Zuwachs an Erkenntnis über die Naturwissenschaft hinaus, was sie aber nur sein könnten, wenn sie als Einsichten in den »bleibenden Charakter dieser Welt« eine »unveränderliche Größe« darstellten.78 Dies sind sie aber gerade in Herrmanns Augen nicht. Weil die Metaphysik an den ständigen Wandel oder sogar die Auflösung naturwissenschaftlicher Begriffe durch den Erkenntnisfortschritt der Naturwissenschaft gebunden ist, gehört der regelmäßige Zusammenbruch zum »unausbleiblichen Schicksal« metaphysischer Systeme. Herrmann sieht darin sowohl einen Hinweis auf die »Unzulänglichkeit eines einzelnen Versuches« wie auch darauf, dass der metaphysische Anspruch einer Erweiterung der Welterkenntnis gerade den Bedingungen einer solchen Erkenntnis widerspricht. Erkennt die Metaphysik ihren eigenen zeitbedingten Charakter nicht und betrachtet ihre hypothetische Verarbeitung der Erfahrung als ewiges und allgemeingültiges Gesetz, so läuft sie nach Herrmann Gefahr,

77

Religion, 69. Religion, 70. Diese Ausführungen hat Ritschl vor Augen, wenn er Herrmanns Verständnis der Metaphysik als »Kosmologie« kritisiert; s. o. S. 33f. 78

82

3. Kapitel: Wilhelm Herrmann

dem wissenschaftlichen Fortschritt nicht mehr zu dienen, sondern ihn zu behindern.79 Metaphysik ist für Herrmann nur noch gerechtfertigt, wenn sie sich ihres zeitbedingten Charakters bewusst ist. Sie deckt »im günstigsten Falle« die Vorstellung eines Weltganzen auf, »welche den augenblicklichen Begriffsapparat der Naturwissenschaft in seiner Anwendung begleitet«.80 Daher will Herrmann ihr »keine dauernde Berechtigung« mehr zugestehen, sondern zeigen, dass die Suche nach abschließender Welterkenntnis als das ihr zu Grunde liegende Motiv »auf andere Weise vollkommener befriedigt wird«,81 nämlich, wie wir noch sehen werden, durch die Religion. b)

Der praktische Charakter

Dass die Vorstellung von der Einheit der Welt aus praktischem Interesse notwendig ist, um eine Beherrschung der Natur durch die Naturerkenntnis des Menschen zu ermöglichen, hat Herrmann durch die Beschreibung des Naturerkennens aufgezeigt. Aus diesem Grund betrachtet er nun auch die Metaphysik, die sich mit dieser angenommenen Einheit beschäftigt, als einen Teil der praktischen Welterklärung. Herrmann greift auf seine Ausführungen im Abschnitt über das Naturerkennen zurück, wenn er darauf hinweist, dass die Vorstellung vom einheitlichen Wesen der Welt zwar »für das rein theoretische Erkennen nicht vorhanden« ist, aber dennoch »die fühlende und wollende Person« bei der theoretischen Erkenntnis »fortwährend« begleitet. Sie ist nicht nur die Voraussetzung für die Formulierung von Naturgesetzen, sondern gibt dem Menschen die für die Motivation seiner Arbeit wichtige »Zuversicht«, die Welt durch mechanische Beherrschbarkeit seinen Bedürfnissen gemäß zu gestalten zu können.82 Der »gelungene metaphysische Versuch«, der die Welteinheit aus den jeweiligen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen herausarbeiten kann, beantwortet daher das »practische Bedürfnis des Menschen, welcher erklären will, weil er handeln muß«. Weil die Vorstellung vom Weltganzen nicht theoretisch erweisbar ist, sondern nur als Bedürfnis des erkennenden Menschen greifbar ist, bestimmt Herrmann den Ursprung der Metaphysik »allein in der fühlenden und wollenden Person«.83 Die »Vorstellung von Zwecken«, von denen das Selbstgefühl der Person begleitet ist, ordnet die dingliche Realität zu einem »vielfach abgestuften Verhältniß von Mitteln«. Nur so ist es für Herrmann möglich, »das grenzenlose Gebiet der Erfahrung« zu einer Einheit zusammenzuschließen.84 79 80 81 82 83 84

Religion, 70f; vgl. 79. Religion, 71. Religion, 72f. Religion, 73. Religion, 75. Religion, 102; vgl. Metaphysik, 13.

II. Metaphysik in der Religionsschrift

83

4. Metaphysikkritik Diese Feststellung führt zu einem wichtigen Einwand Herrmanns gegen die Metaphysik. Weil die objektive Erkenntnis prinzipiell unabschließbar sein muss, wie im ersten Kapitel der Religionsschrift dargelegt, kann die empirische Forschung der Metaphysik gar nicht nicht die Grundlage bieten, um den Gedanken einer Welteinheit wirklich zu begründen.85 Die Metaphysik, wie Herrmann sie beschreibt, kann ihn ja nur als Implikat der Naturforschung herausarbeiten und bleibt damit einer ständigen Veränderlichkeit unterworfen. Damit aber geht das »practische Bedürfnis«, das über die Welteinheit Gewissheit haben möchte, über das hinaus, was eine an die Naturerkenntnis gewiesene Metaphysik ihm bieten kann.86 Ein wesentlicher Kritikpunkt Herrmanns besteht also darin, dass die Metaphysik dem, was sie hervorgerufen hat, gar nicht wirklich gerecht werden kann. Insgesamt steht Herrmann der Metaphysik in der Religionsschrift wesentlich kritischer als in der Metaphysikschrift gegenüber. Bereits seine Beschreibung arbeitet immer wieder Probleme der Metaphysik heraus. Dies hängt nicht nur mit einem kritischeren Standpunkt zusammen, sondern auch damit, dass Herrmann hier mit einem anderen Metaphysikbegriff operiert.87 Er beschreibt die Metaphysik nicht mehr wie in der Metaphysikschrift primär als Ontologie, sondern vor allem als Rekonstruktion des Weltganzen aus den in der naturwissenschaftlichen Forschung vorausgesetzten hypothetischen Begriffen. Damit beschreibt er sie vor allem als das, was er in der Metaphysikschrift als »Schlußhypothese« bezeichnet und was er dort schon als ›zweifelhaftes Problem‹ eingestuft hat.88 In der Religionsschrift bezeichnet Herrmann die problematische Form der Metaphysik als »dogmatische Metaphysik«. Sie entsteht ihm zufolge dadurch, dass die Metaphysik die durch die »Selbstgewißheit der Person« gegebene Erkennbarkeit der Welt auf falschem Wege erhärten will, indem sie einen »Erklärungsversuch der Welt durchführt«. Ihr gegenüber steht die »rechtschaffene Metaphysik«, die Herrmann als »Erkenntnißtheorie« mit einer kritischen Bearbeitung der wissenschaftlichen »Erkenntnißmittel« gleichsetzt.89 Damit knüpft Herrmann sprachlich und inhaltlich an Kant an, der unter dem »dogmatischen Verfahren« der Metaphysik bzw. der Vernunft oder dem »Dogmatism (der Meta85

Religion, 352. Religion, 79. 87 Herrmann kehrt hier zu einer kritischeren Sichtweise zurück, die sich bereits in früher bei ihm findet. MOGK, 200 bezeichnet das positive Metaphysikverständnis der Metaphysikschrift als überraschend angesichts der radikalen Auffassung Herrmanns in einer studentischen Arbeit von 1868 über das Glaubensverständnis Kants. Dort hatte Herrmann Kants Glaubensverständnis in der Kritik der praktischen Vernunft als Dogmatismus kritisiert; MOGK, 116. 88 S. o. S. 67. 89 Religion, 359f; vgl. 117. 86

84

3. Kapitel: Wilhelm Herrmann

physik)« die ihrem eigenen Erkenntnisvermögen unkritisch gegenüberstehende Metaphysik versteht, die sich allein als Gegenstandserkenntnis versteht.90 a)

Die bleibende Berechtigung

Neben der abzulehnenden dogmatischen Metaphysik gibt es für Herrmann auch eine »rechtschaffene Metaphysik«, die sich mit der kritischen Bearbeitung der wissenschaftlich verwendeten »Erkenntnißmittel« befasst: Metaphysik erhält damit als »Erkenntnißtheorie« eine Berechtigung.91 Als solche hat die Metaphysik die Aufgabe, »die allgemeinen Postulate des Erkennenwollens an das Licht zu bringen«. Es handelt sich dabei um die»practischen Voraussetzungen«, die Herrmann schon in seiner Untersuchung des Naturerkennens in Anknüpfung an Kant als »regulative Ideen« bezeichnet hat, also um das Weltganze, die Seele und das Ding an sich.92 Damit deckt die Metaphysik auf, dass die Erkenntnisvoraussetzungen »dem fühlenden und wollenden Geiste entspringen«. Auf diese Weise »kann und soll« die Metaphysik nun tatsächlich »über das Gegebene hinausgehen«. Denn die Geltung der Postulate ist im Letzten begründet in der »persönlichen Selbstgewißheit« des Subjekts, das seine Arbeit in der Welt als sittlich geboten empfindet.93 Die als »Erkenntnißtheorie« arbeitende Metaphysik ist also von Herrmann weiterhin akzeptiert. Sie entspricht Kants Vorgehen, der in der Kritik der reinen Vernunft die generelle Metaphysik zur reinen Erkenntnistheorie umgestaltet und den Stoff der bisherigen speziellen Metaphysik den jeweiligen Fachwissenschaften (Naturwissenschaften, Psychologie, Theologie) zuweist. Die so verstandene Metaphysik spielt jedoch faktisch eine marginale Rolle für Herrmann. In der Religionsschrift ist der Begriff in der Regel mit dem gleichgesetzt, was Herrmann als »dogmatische Metaphysik« beschrieben hat. Dieses Verständnis der Metaphysik als Erkenntnistheorie bei Herrmann ähnelt formal dem Verständnis Ritschls, wie es schon in der ersten Auflage von Rechtfertigung und Versöhnung anklingt, ist aber inhaltlich doch anders gefasst. Außerdem ist festzustellen, dass Ritschl seine Erkenntnistheorie durchaus mit der theologischen Darstellung religiöser Inhalte in Zusammenhang bringt, etwa bei der Entfaltung der Gotteslehre vom Liebeswillen her, während bei Herrmann dieser Zusammenhang nicht vorliegt.

90 91 92 93

KANT, KrV, B XXX. XXXV. 7. 22f. 494. Religion, 360. Religion, 356; zu den »regulativen Ideen« vgl. 66. Religion, 358f.

II. Metaphysik in der Religionsschrift

5.

85

Die Religion

Religion versteht Herrmann in der Religionsschrift als die Überzeugung von der Realität einer Macht, »welche die Welt, sie möge sein wie sie wolle, mit verborgener Gewalt dem höchsten Zwecke des Menschen unterwirft«94 und dem Individuum darin seine Erhaltung versichert. Das Wesen der Welt besteht in der Sicht der Religion darin, sich dieser Macht fügen zu müssen. Die Vielfältigkeit der Welt wird durch die Religion »als das geordnete Ganze von Mitteln« zur Verwirklichung des höchsten Zweckes und zur Erhaltung des Menschen offenbar.95 Dadurch unterscheidet sich die Religion zweifach von der Metaphysik. a)

Die Denkbarkeit des Weltganzen

Die so beschriebene Religion beinhaltet die für das erkennende und handelnde Subjekt notwendige Welteinheit und macht damit für Herrmann die Metaphysik, die das praktische Bedürfnis ohnehin nur unvollständig befriedigen kann, überflüssig. Denn während sich die Metaphysik zur Erfüllung ihrer Aufgabe ganz eng an die »thatsächlich gegebene Beschaffenheit der Dinge« halten muss, wird in der Religion »den Dingen ein Charakter aufgeprägt, der gegen ihre empirische Qualität völlig gleichgültig ist«.96 Damit kann Herrmann die religiöse Vorstellung vom Weltganzen der Naturwissenschaft und ihrem ständigen Erkenntnisfortschritt entziehen: »Diejenige Einheit der Welt, welche nur religiös interessirt, ist gegen die durch die wissenschaftliche Naturerklärung hergestellte Ordnung völlig indifferent.«97 Anders als die zeitbedingte Metaphysik liefert die Religion damit eine wirklich gewisse weil bleibende Einsicht in die Einheit der Welt. Herrmann macht die Überlegenheit der Religion gegenüber der Metaphysik aber vor allem am religiösen Verständnis der Arbeit fest. Die Religion gibt der Arbeit eine einzigartige »Bedeutung«, indem sie sie auf das höchste Gut ausrichtet, also auf das Gottesreich, dessen Verwirklichung der allmächtige Wille Gottes garantiert.98 Durch diese Bedeutung wird der Mensch in dem »Vertrauen« bestärkt, das er für seine Arbeit braucht:

94

Religion, 82. Herrmann verwendet den Begriff des höchsten Gutes bzw. höchsten Zweckes hier ohne weitere Erklärung. Er versteht darunter ganz im Sinne Kants die Verbindung von Glückseligkeit und Sittengesetz, das für ihn »das Gute, die Verbindung sittlicher Personen zu einem Reich der Zwecke« beinhaltet und das er im religiösen Bereich mit dem Reich Gottes gleichsetzt; Religion, 239f. 392f. 95 Religion, 85. 96 Religion, 82. 97 Religion, 85. 98 Religion, 350f.

86

3. Kapitel: Wilhelm Herrmann

Die richtig gedeutete christliche Weltanschauung umfaßt auch das Urtheil, daß die Welt zusammenhängend erklärbar sei, weil sie nur so als das von Gott gesetzte Mittel für unsere Thätigkeit im Dienste des höchsten Gutes verstanden werden kann.

Damit erfüllt die Religion nach Herrmann das Bedürfnis, das der Metaphysik zu Grunde liegt, »auf vollkommenere Weise, als dieß je durch irgend eine Metaphysik geschehen konnte«.99 Denn aus dieser Perspektive wird erkennbar, dass Gott die Welt zum »Werkzeug für uns« bestimmt hat. Der Wille Gottes ist der Grund für den einheitlichen »Charakter der Natur«, unserem Zweck zu entsprechen.100 Herrmann betont, dass dieser »Abschluß der Persönlichkeit« den Erkenntnisfortschritt und die Freiheit des reinen Erkennens nicht antastet. Denn er stellt keine »begriffswidrige Verbindung heterogener Elemente« her wie die Metaphysik, die das Naturerkennen und die subjektiven Erkenntnisvoraussetzungen miteinander in Beziehung setzt. Und so kommt Herrmann zu dem Schluss, »daß die Herrschaft des Christenthums in der Menschheit jenen Betrieb der Metaphysik principiell beseitigt«.101 b)

Der Bezug der Religion auf das innere Leben des Menschen

Die Religion zielt zwar wie die Metaphysik auf eine einheitliche Auffassung von der Welt. Aber im Gegensatz zur Metaphysik, die ihre Aussagen unabhängig vom Menschen formuliert, betrachtet die Religion die Welt unter dem Aspekt der Erhaltung des Menschen. Die Vorstellung eines Weltganzen mit dem Ziel, sich als seines höchsten Gutes bewusste Person nicht in der Vielheit der Dinge zu verlieren, führt zum religiösen Glauben. Nach Herrmann hat die Religion die Person im Blick, die »in der Richtung auf ein höchstes Gut zum Abschluß gekommen ist«.102 Damit verbindet Herrmann die Religion im Gegensatz zur Metaphysik, die auf die äußere Welt der Erscheinungen gerichtet ist, mit dem »inneren Leben der Person«. Dieses innere Leben besteht darin, dass der Mensch für bestimmte Dinge einen Wert empfindet und andere, ihm entgegenstehende Dinge von sich ausschließt. Ab einer bestimmten Stufe der Persönlichkeitsentwicklung stellt sich nun die Frage nach der Einheit dieser verschiedenen Empfindungen. Diese Einheit des inneren Lebens erhält der Mensch nur dadurch, dass er die verschiedenen Momente des inneren Lebens auf einen höchsten Wert, das höchste Gut, ausrichtet. Herrmann sieht darin eine »wenn auch noch so verschwommene 99

Religion, 351. Religion, 352. 101 Religion, 353. Die Nähe Herrmanns zu Ritschl an dieser Stelle ist offensichtlich, allerdings ist zu beachten, dass Ritschl die auf dem Weg der Religion erreichte einheitliche und abschließende Weltsicht nicht im Gegenüber zur Metaphysik, sondern zum theoretischen Erkennen darstellt; s. RITSCHL, RuV1 III, 171. 178f. 190–192. 102 Religion, 86. 100

II. Metaphysik in der Religionsschrift

87

Art religiöser Welterklärung«, denn sie setzt eine Welt voraus, »die von einem Unbedingten umhegt und von seiner geheimnisvollen Macht beherrscht ist«. Während Herrmann die Metaphysik bereits im »natürlichen Menschendasein« als ›unausweichlich‹ ansieht, weil der Mensch im Umgang mit der Welt die Vielheit der Dinge zu einer zweckvollen Einheit zusammenfassen muss, tritt für ihn die Religion also erst im Zusammenhang mit einer »bestimmten persönlichen Disposition« auf.103 Mit dieser Beschreibung von Religion und Metaphysik zielt Herrmann nicht nur, wie es bei Ritschls Auseinandersetzung mit der Metaphysik in erster Linie der Fall war, auf die innertheologische Diskussion, sondern er reagiert auch auf die Religionskritik seiner Zeit, die sich durch die immer stärker etablierten Naturwissenschaften und ihre Erfolge besonders in Materialismus und Positivismus artikuliert.104 Einerseits nimmt Herrmann in seinen Ausführungen deren Metaphysikkritik auf, andererseits aber enthebt er die Religion dem Zuständigkeitsbereich der naturwissenschaftlichen Untersuchung und entzieht damit dem Positivismus die Grundlage seiner Kritik. Dabei aber betont Herrmann, dass sich mit dem hier Dargestellten die Bedeutung der Religion nicht erschöpft. Wenn die Religion hier als »Weltanschauung« in den Blick kommt, dann dient das dazu, sie in Analogie zur Metaphysik, nämlich mit dem Zweck der praktischen Welterklärung, in den Blick nehmen zu können.105 6.

Religion und Metaphysik

a)

Der Konflikt zwischen beiden

Metaphysik und Religion wollen also beide die Vielheit der Wirklichkeit in eine Einheit zusammenfassen, aus der wiederum die Vielheit begründet werden kann. Beide haben einen unterschiedlichen »Anknüpfungspunkt . . . im geistigen Leben des Menschen«: »Für die Metaphysik ist es das Bedürfniß wissenschaftlicher Welterklärung, für die Religion ist es das Selbstgefühl der Person, die sich selbst als Zweck über die Welt der Erfahrung erheben möchte.«106 Wird dies nicht beachtet, entsteht ein Konflikt zwischen beiden.

103

Religion, 89f. Vgl. die Notwendigkeit Gottes bei Kant für die »Gelangung zum höchsten Gute«, KANT, KpV, A 232. 104 Materialismus und Positivismus sind bei Ritschl als Folie, zu der sich eine zeitgenössische Theologie verhalten muss, durchaus auch präsent, aber eben nicht in Gestalt der Metaphysik, sondern des ›theoretischen Erkennens‹; vgl. z. B. RITSCHL, RuV1 III, 179–181 = RuV3 III, 198–200. 105 Religion, 87. 106 Religion, 92. Den in der Theologiegeschichte folgenreichen Begriff des Anknüpfungspunktes übernimmt Herrmann von seinem Kritiker Otto Pfleiderer, der damit wiederum eine eher beiläufige Metapher Feuerbachs aufgreift; WEINHARDT, Stellung, 184–188.

88

3. Kapitel: Wilhelm Herrmann

Ihre Behandlung als gleichartige Wege der Welterklärung führt zum einen zu einer Vereinnahmung der Philosophie und einer religiösen Bevormundung der Wissenschaft, die die Freiheit des Erkennens einschränkt. Zum anderen wird die religiöse Weltanschauung überfremdet. Denn die Metaphysik, deren Aufnahme in die Theologie sich der altkatholischen Theologie verdankt, ist »in allen ihren Formen eine aus practischen Antrieben erwachsene Theologie des Heidenthums«, die, weil sie selber sich ihrer religiösen Züge nicht mehr bewusst war, ihre dem christlichen Denken gegensätzlichen Voraussetzungen unbesehen eingetragen hat.107 Sowohl das wissenschaftliche Welterkennen als auch die Religion sollten daher ein Interesse an der Unterscheidung von Metaphysik und Religion haben. b)

Unterschiedliche Zugänge zur Wirklichkeit

Für Herrmann liegt das Problem einer einheitlichen Wirklichkeitsauffassung, also dem Verständnis der Wirklichkeit durch eine einheitliche Methode und unter einem einheitlichen Kriterium darin, dass sie den Bereich des geistigen Lebens nicht erfassen kann, weil sie in der Regel von der Welt der äußeren Erscheinungen ausgeht. Da das Selbstbewusstsein zurückzuführen ist auf ein »Selbstgefühl«, in dem wir den unvergleichlichen Wert unseres geistigen Lebens erfahren, wird das »Wissen von uns selbst ein völlig anderes als das Wissen von Gegenständen«. Die Einheit der Gegenstände im Denken wird durch den allen gemeinsamen Begriff der Substanz ermöglicht. Das Selbst hingegen erhält seine Einheit durch das »Gefühl für den Werth des Selbstseins« und aller seiner Momente. Während die Wirklichkeit der Gegenstände durch Erfassung ihrer Merkmale, Verknüpfungen und Kausalbeziehungen in objektiven Vorstellungen feststeht, wird die Wirklichkeit des Selbstbewusstseins »auf Grund eines Gefühls von uns behauptet«. Das Selbstbewusstsein kann deshalb nicht behandelt werden wie die unter der Kategorie der Substanz erfassten Gegenstände.108 Die Wirklichkeit des Selbstbewusstseins ist »erlebbar . . . , aber nicht erklärbar«. Deshalb ist es für die »erklärende Wissenschaft . . . nichts weiter als ein Product rein subjectiver Einbildung«.109 Ähnlich begründet Herrmann etwas später in der Religionsschrift die, wie er den Abschnitt im Inhaltsverzeichnis betitelt, »Unzugänglichkeit des Sittlichen 107 Religion, 95–97; genauer dazu u. S. 91. Herrmann unterscheidet hier übrigens, wie Ritschl, begrifflich zwischen »natürlicher Theologie«, die in der altkatholischen Theologie entstand, und der »natürliche(n) Religion« der Aufklärung; 96f. Allerdings scheint er den Begriff »natürliche Theologie« fast nirgends sonst zu verwenden. 108 Religion, 106f. Diese Auffassung spielt später auch bei Heidegger und Bultmann eine wichtige Rolle, die die Übertragung der »Objektivierung« in der neuzeitlichen Erkenntnis von Gegenständen auf den Menschen und auf Gott (Bultmann) kritisieren. 109 Religion, 107f.

II. Metaphysik in der Religionsschrift

89

für die metaphysische Welterklärung«.110 Weil das Sittliche nicht ein »objektiv Gegebenes« ist,111 sondern an die »innere Welt des persönlichen Lebens« gebunden ist, kann das kausal vorgehende Erkennen darin nur »psychische Ereignisse mit den Verzweigungen ihrer Ursachen und Folgen« sehen und nicht »ein Wirkliches eigener Art«, was sich erst vom »Standpunkt« der »Geltung« des Sittlichen her ergibt. Da die Metaphysik aber das Sittliche und die Natur »durch den Gedanken eines einheitlichen Grundes« aus einem rein »intellectuelle[n] Bedürfnis« heraus vereinigen will, also unter der Perspektive des kausalen Verstehens der Welt, ist sie für die Wirklichkeit des Sittlichen von ihrem Wesen her blind.112 Herrmann stellt nun klar, dass der Begriff der Wirklichkeit in beiden Fällen eine unterschiedliche Bedeutung hat. Im Rückgriff auf Rudolf Hermann Lotze versteht er die Wirklichkeit von Gegenständen als das »Stehen in Beziehungen«. Ein Gegenstand wird als wirklich erwiesen, indem seine Beziehungen zu anderen Gegenständen aufgezeigt wird.113 Damit macht Herrmann deutlich, warum ein solches Wirklichkeitskriterium die Vorstellungen, die wir auf Grund ihres Wertes als wirklich setzen, als Einbildung einstufen muss. Eine durch ihren Wert als wirklich angesehene Vorstellung ergibt sich ja gerade nicht selbstverständlich aus dem tatsächlichen Zusammenhang der Dinge. Die aus dem Wertempfinden resultierenden Vorstellungen gelten dem Menschen »um seiner selbst willen als wirklich« und sind deshalb losgelöst von allen Beziehungen, in denen sonst das Wirkliche erfasst wird.114 Auf dem »Standpunkt des lebendigen Selbstbewusstseins« gilt ein eigenes »Kriterium des Wirklichen«, das Wirkliches von Einbildung unterscheidet. Die Gegenstände des Glaubens anderer werden uns nur dann verständlich und nicht als Einbildungen eingestuft, wenn wir das Gefühl für ihren Wert teilen können, weil es fester Bestandteil auch unseres eigenen Selbstgefühls ist. Nicht die Beziehung eines Vorstellungsinhaltes zu anderen vorgestellten Dingen, sondern »sein Verhältniß zu der Bestimmtheit unseres Selbstbewußtseins« stellt auf diesem Gebiet seine Wirklichkeit fest. Wirklich ist hier also nicht das »Erklärbare«, sondern das »Erlebbare«, d. h. was vom Selbstgefühl nachvollzogen werden kann. Eine Einbildung ist dann dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht mit dem Wesen des Selbstgefühls zusammenhängt, sondern »unter dem Einfluß einer vorübergehenden untergeordneten Stimmung« als wirklich betrachtet wird.115 Wie schon Ritschl bestreitet Herrmann also den Absolutheitsanspruch des gegenständlichen Erkennens und zeigt auf, dass die Realität des Selbstgefühls 110 111 112 113 114 115

Religion, 254–267 Religion, 254 Religion, 259. Religion, 111f; vgl. 20f. 51. Vgl. LOTZE, Mikrokosmos III, 473; Metaphysik, 33f. Religion, 112. Religion, 113f.

90

3. Kapitel: Wilhelm Herrmann

und damit auch der Religion einen anderen Zugang erfordert, ohne den die Wahrnehmung der Wirklichkeit in unzulässiger Weise verkürzt würde – ein Argument, das später auch bei Ebeling eine zentrale Rolle einnehmen wird. 7.

Die Verwendung der Metaphysik in der Theologie

a)

Die traditionelle Verwendung der Metaphysik

Die (dogmatische) Metaphysik dient nach Herrmann in der Theologie dazu, die »Allgemeingültigkeit der religiösen Erkenntnis« zu begründen.116 Sie wird gegenüber dem Naturerkennen als ein »Erkennen höherer Ordnung« betrachtet, das sich auf das Ganze der Dinge richtet und das es ermöglichen soll, die »Glaubensobjecte« mit dem »Rüstzeug des Erkennens« auf eine sichere Grundlage zu stellen.117 Motiviert ist dieses Vorgehen nach Herrmann dadurch, dass die geistige Welt sich dem Erkennen nicht so klar vermittelt wie die dingliche Realität. Herrmann sieht darin den Grund für die Glaubenszweifel aller Zeiten. Aus dieser Unsicherheit erklärt er sich den Versuch, die Glaubensvorstellungen durch die Verbindung zu den objektiven Vorstellungen oder zum »letzte[n] Erklärungsgrund der Erscheinungen, den die Metaphysik enthüllt,« zu sichern.118 Um den Grund dieser Verbindung genauer zu betrachten, geht Herrmann auf die Gleichsetzung von letzter Ursache und religiöser Gottesidee in der griechischen Philosophie zurück.119 Er stellt zunächst dar, dass Aristoteles zur »Erklärung der thatsächlich gegebenen Welt . . . eine selbst unbewegte Ursache der Bewegung in der Natur« annimmt, um das »Erklärungsbedürfniß« zu einem »Abschluß« zu bringen »und nicht ziellos in die Weite eines unendlichen Regressus« zu verlieren. Diese »letzte Ursache«, der »Grund alles Wirklichen«, ist nach Herrmann dadurch charakterisiert, dass sie das Mögliche in Wirklichkeit überführt, selber aber »reine Form«, »reine Energie« und »reines Denken« ist, also von der Welt unterschieden und unabhängig. Zwar ist sie auch verstanden als »Grund der Ordnung und Zweckmäßigkeit in der Welt« sowie als »Endzweck aller Dinge«. Aber Herrmann betont, dass hier ein wesentlicher Unterschied zur religiösen Gottesvorstellung besteht, denn das »leere Denken des Denkens« ist »einfach infolge der Natur« die »Zweckbeziehung der Welt« und nicht, da es ja eben kein »zwecksetzender Wille« ist, weil es diese »Beziehung« selbst aktiv hergestellt hätte.120 Die »Zweckthätigkeit der Gottheit« in der Metaphysik sei »nur 116

Religion, 315. Religion, 68f; vgl. 8: Die Theologie will die »Allgemeingültigkeit der religiösen Weltanschauung in ihrer möglichst großen Übereinstimmung mit der Metaphysik« aufzeigen. 118 Religion, 114f. 119 Wie schon bei Ritschls Darstellung der aristotelischen Gotteslehre erwähnt, verdankt sich Herrmanns Beschäftigung mit dem Thema einem Anstoß Ritschls, der wiederum dann Gedanken aus Herrmanns Ausarbeitung des Themas aufnimmt; s. o. S. 24f sowie S. 38–41. 120 Religion, 123f. 117

II. Metaphysik in der Religionsschrift

91

ein bildlicher Ausdruck« für die Bewegung der Dinge, also ihre Überführung von Potenz in Wirklichkeit, durch das höchste Wirkliche. Weil der aristotelische Gott lediglich die »allgemeinste physische Bedingung für die Verwirklichung« aller Dinge sei, stelle er kein »Object der Liebe« dar und die Beziehung des Menschen zu ihm sei »nicht Religion zu nennen«.121 Herrmann bemüht sich also darum, den aristotelischen Gottesbegriff ganz auf die Seite der kausalen Welterklärung zu ordnen und von jeder wirklichen teleologischen Implikation, wie er sie für die Religion als typisch ansieht, frei zu halten. Weil die »letzte Ursache« bei Aristoteles darauf ziele, »diese Welt in ihrer erfahrungsmäßigen Wirklichkeit abschließend zu erklären«, sei sie ganz auf die vorfindliche Welt bezogen und damit dem »Wesen« entgegengesetzt, das der Mensch brauche, »wenn ihn seine Zwecke über das Gegebene hinausweisen«.122 Die Bezeichnung der letzten Ursache als »Gott« ist somit in Herrmanns Augen ungerechtfertigt und nur möglich, weil die griechische Religion bereits eine mangelhafte Form der Religion darstellt. Für Herrmann besteht, wie für Ritschl, das Ziel des eigentlichen religiösen Bedürfnisses darin, den Menschen durch die persönliche Beziehung zu Gott über den Naturlauf hinauszuheben. In der griechischen Religion hingegen bleibt der Mensch der Natur unterworfen. Das dunkle, unberechenbare Walten der griechischen Götter beziehungsweise des Schicksals steht dem Menschen und seinen Zwecken letztlich bedrohlich gegenüber. Auch in seiner Religion verbleibt der griechische Mensch damit der Sphäre der tatsächlich gegebenen Welt verhaftet. Eine solche Religion bildet nach Herrmann die Bedingung, dass die religiöse Gottesidee überhaupt identifiziert werden kann mit dem letzten Grund der Metaphysik, der zur Erklärung der gegebenen Welt dient.123 Die Aufnahme dieser philosophischen Vorstellung, die Gott als »Causalität der Welt« versteht, durch die frühchristlichen Apologeten hat nicht nur die christliche Gotteslehre »verdorben«, sondern auch dazu geführt, dass der eigentlich intendierte »theologische Beweis« verfehlt wurde. Denn der Versuch, die Glaubensvorstellungen aus der »nothwendige[n] Wirksamkeit jener Ursache« abzuleiten und somit das »Geheimnis dieses Causalzusammenhanges« zu verstehen, führte dazu, dass die »Welt des Glaubens . . . dem Auge entschwand«.124 Schon aus seiner historischen Darstellung wird also deutlich, dass Herrmann den Preis einer Absicherung der religiösen Vorstellungen durch die Metaphysik im 121

Religion, 125f. Religion, 127; vgl. Metaphysik, 34f: Die Vermischung der Religion mit der »metaphysischen Aufgabe« habe dazu geführt, »Gott als absolute Kausalität zum Erklärungsprinzip der Weltwirklichkeit zu erheben«. Auch Ebeling ist bemüht, die Metaphysik ganz als Kausaldenken zu beschreiben und die Teleologie, das überweltliche Ziel des Menschen, aus ihrem Horizont herauszuhalten, s. u. S. 204. 123 Religion, 127–130. 124 Religion, 131. 122

92

3. Kapitel: Wilhelm Herrmann

Verlust ihres spezifisch religiösen Charakters sieht. Dieser Gedanke, der bereits der Metaphysikschrift zu Grunde lag, findet sich also auch in der Argumentation der Religionsschrift. Dies geschieht nach Herrmann dann, wenn die Metaphysik meint, die sittlichgeistige Realität und das »empirisch Gegebene« unter einer beide erfassenden »Formel für die Welterklärung« zu einer Einheit verbinden zu können. Die sittliche Persönlichkeit ist aber niemals wie die äußeren Dinge greifbar, weil sie immer auch ein »Ideal« darstellt. Wenn ihr trotzdem dieselbe Realität eingeräumt wird wie den äußeren Dingen, dann zeigt sich für Herrmann, dass in Wahrheit die religiöse Perspektive das theoretische Erkennen überlagert. Der »höchste Wert des Menschen« soll auf diese Weise »in Sicherheit gebracht werden«.125 Dennoch bezeichnet Herrmann diese Metaphysik als eine »unterchristliche«, weil sie die Persönlichkeit den Erklärungsmitteln der dinglichen Realität unterwirft und sie dadurch zu einem Teil der Natur macht. Die »religiöse Erhebung des Menschen« über die von Gott zum Mittel bestimmte Natur ist im Rahmen dieser Metaphysik unmöglich. Für Herrmann liegt es deshalb auf der Hand, »daß die christliche Theologie, indem sie die Gedankenreihen einer solchen Metaphysik direct verwerthet, ihren eigenen Zweck nothwendig verfehlt«.126 Deshalb schärft Herrmann ein, dass die Religion ihre Vorstellungen davor bewahren muss, mit den »gleichgültigen Objecten des bloßen Erkennens« auf eine Stufe gestellt und damit ihres eigentümlichen Charakters als »Erscheinungen des persönlichen Lebens« beraubt zu werden. Die Verbindung von Religion und Metaphysik ist, obwohl sie sich in der Geschichte ergeben hat, von der Sache her nicht gerechtfertigt: »Denn der gemeinsame Ursprung wird durch die grundverschiedene Zweckbestimmung Beider aufgewogen.« Für Herrmann hat damit der Versuch, die Wirklichkeit der Glaubensvorstellungen durch eine Anbindung an die Metaphysik sicher zu stellen, keine »innere Berechtigung«.127 Das hermeneutische Argument gegen die Verwendung der Metaphysik zum theologischen Verständnis der Religion, der in der Metaphysikschrift das Hauptinteresse Herrmanns darstellte, ist also auch in der Religionsschrift deutlich vorhanden,128 ist allerdings auf die ganze Schrift gesehen der Frage nach dem »Beweis« beziehungsweise der Allgemeingültigkeit der Religion untergeordnet.

125

Religion, 354f. Religion, 355f. Zur Bezeichnung »unterchristlich« s. RITSCHL, RuV1 I, 395 und o. S. 25 Anm. 46. 127 Religion, 119f. 128 Vgl. Religion, 13: ». . . daß die zur Metaphysik vollendete Welterkenntniß die Welt des Glaubens aufschließen könne, ist dem Wesen des Christentums zuwider«. 126

II. Metaphysik in der Religionsschrift

b)

93

Die bleibende Möglichkeit in der Gegenwart

Die bisherigen Ausführungen Herrmanns gelten, wie angedeutet, in Bezug auf die »dogmatische Metaphysik«. Die als »Erkenntnißtheorie« verstandene »rechtschaffene Metaphysik« aber kann nach Herrmann durchaus in der Theologie Verwendung finden.129 Als solche kann sie die Verbindung der Theologie mit den anderen Wissenschaften aufzeigen. Indem sie die Voraussetzungen des Erkennens aufdeckt, macht sie nach Herrmann deutlich, dass die Wissenschaften den »fühlenden und wollenden Geist« beziehungsweise die »Selbstgewißheit der Person« zu ihrer praktischen Voraussetzung haben. Daran knüpft die Theologie zweifach an. Zum einen begründet sie die von der Metaphysik aufgedeckte praktische Voraussetzung der Erkenntnis, indem sie die Personalität des Menschen auf den sittlichen Endzweck zurückführt, der »nur in Form einer religiösen Weltanschauung angeeignet werden« kann. Von der religiösen Weltanschauung aus werden die praktischen Voraussetzungen »als Bethätigungen der geistigen Weltherrschaft der Person« erkennbar. Zum anderen nimmt die Theologie das von der Metaphysik herausgearbeitete praktische Postulat einer zusammenhängenden Erklärung der Welt auf. Nicht so, dass sie die von der Metaphysik aus den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen der Zeit konstruierte Welteinheit verwendet. Sondern sie knüpft an das »practische Bedürfnis« an, das diesem Postulat zu Grunde liegt, und beantwortet es endgültig durch die religiöse Weltanschauung. Beide Anknüpfungen zeigen, dass Metaphysik, Theologie und auch die übrigen Wissenschaften nicht durch den »objective[n] Begriff des Weltgrundes« miteinander verbunden sind, sondern durch die ihn hervorbringende Person.130 Außerdem schreibt Herrmann der Metaphysik im Sinne Kants die Aufgabe zu, die Theologie über ihre »verwendeten Erkenntnißmittel« aufzuklären und kritisch zu belehren. Diese Verwendung greift nach Herrmann jedoch nicht auf die »Glaubensobjecte selbst« über – dies wäre für ihn nur im Rahmen einer »dogmatischen Metaphysik« der Fall, die »die specifisch theologischen Begriffe, wie Gott, Freiheit, Schöpfung, höchstes Gut, Erlösung nach ihrem Maß zurechtschneiden« würde.131 Obwohl Herrmann durchaus die Verwendung der Metaphysik in der Theologie für möglich hält, ist doch zu betonen, dass er diese positive Verbindung weniger im Sinn hat, wenn er normalerweise von der Metaphysik spricht. Meistens zielen seine Äußerungen auf die in der Theologie schädliche dogmatische Metaphysik.132 129

Die Bezeichnungen finden sich Religion, 360. Religion, 359f. 131 Religion, 360f. 132 Vgl. a. seine zusammenfassende Äußerung über die Religionsschrift aus dem Jahr 1886, in der er pauschal von der »Ausscheidung der Metaphysik aus der Theologie« spricht; Darstellung, 245. 130

94 c)

3. Kapitel: Wilhelm Herrmann

Das berechtigte Anliegen

Dass die christlichen Apologeten des zweiten Jahrhunderts die (dogmatische) Metaphysik trotz ihrer prinzipiellen Andersartigkeit zur Darstellung der christlichen Vorstellungen verwendet haben, hat für Herrmann einen Grund, den auch er für ein »unabweisbares Bedürfnis« hält. Es geht dabei um den Nachweis der Wahrheit und Allgemeingültigkeit der »Realitäten des christlichen Glaubens«. Herrmann betont, dass der Glaube »sich nicht nur auf unsagbare Gefühle und Stimmungen« berufen kann, sondern dass er »Gründe« vorweisen muss, auf die er sich stützt und die sowohl für die Gläubigen wie auch für nichtglaubende Menschen nachvollziehbar sind. Herrmann fordert deshalb einen Beweis, der zeigt, dass eine Beziehung der Glaubensinhalte zu einem »Wirklichen« besteht, das ohne die Glaubensinhalte »nicht vollständig gedacht werden kann«.133 Die Metaphysik und die empirische Wissenschaft hat er als dem Glauben fremde Gebiete des Denkens für diesen Weg ausgeschlossen. Da er den Glauben als ethisches Phänomen auffasst,134 bietet sich ihm die Ethik an. Sie ist dem Glauben nicht nur sachlich angemessen, sondern auch, weil in sich eigenständig begründbar, als für alle Menschen verbindlich anerkannt. Im zweiten Teil der Religionsschrift legt Herrmann deshalb eine Grundlegung der Theologie vor, die das Anliegen hinter der theologischen Anknüpfung an die Metaphysik anerkennt, die Wahrheit und Allgemeingültigkeit des Glaubens aber ohne die Metaphysik aufweisen will.

III. Der Beweis des Glaubens in der Religionsschrift 1. Die Konstitution der Persönlichkeit durch das Sittengesetz Im Zentrum der Ethik steht bei Herrmann das handelnde und praktisch denkende Subjekt im Zusammenhang mit seiner Frage nach sich selbst oder, wie Herrmann es nennt, in seinem »Selbstseinwollen«.135 Herrmann folgt hier in weiten Bereichen Kant. Wie schon in der Metaphysikschrift knüpft er an Kants Auffassung an, dass der Mensch wahre Autonomie nur durch Unterwerfung unter das Sittengesetz erreichen kann.136

133

Religion, 132f. S. o. S. 69. Vgl. a. Religion, 268: »Alles, was als religiöse Erkenntniß oder religiöses Gefühl genannt wird, muß sich dadurch legitimieren können, daß es dazu dient, die sittliche Persönlichkeit in sich zu vollenden und als Endzweck über die Welt zu erheben.« 135 Der Begriff findet sich in der Religionsschrift häufig, Religion, IXf. 90. 149. 151f. 153. 156–158. 163. 190–192. 194. 197. 203. 235. 273f. 303. 136 S. o. Anm. 45. 134

III. Der Beweis des Glaubens in der Religionsschrift

95

Wie für Kant bedeutet Freiheit für Herrmann die »Unabhängigkeit von aller Bestimmung durch Naturursachen«.137 Während für seinen Lehrer Ritschl die Religion den Menschen über die Natur erhebt, ist es bei Herrmann das unbedingte Sittengesetz, das es dem Subjekt ermöglicht, sich gegen seine faktisch vorhandene Abhängigkeit von der Natur selbst zu behaupten. Zu dieser Natur gehört auch der Selbsterhaltungstrieb und das Lustempfinden des Menschen. Das unbedingte Gesetz erlaubt es dem Menschen, sein Wollen von dieser Naturbestimmung frei zu machen. Die Person kann sich über die Natur erheben, wenn ihr Wollen statt von der Natur von dem unbedingten Gesetzt bestimmt wird.138 Ohne das Sittengesetz ist der Mensch seinen eigenen natürlichen Neigungen und Wünschen ausgeliefert. »Der Begriff der Freiheit ist daher, wenn er nicht in das Licht des Sittengesetzes gerückt wird, einfach Unsinn.« Wie in der Ethik Kants heißt für Herrmann die Unterwerfung unter das Sittengesetz, dass der freie Wille sein eigenes Gesetz befolgt.139 Die Ausführung des eigenen im Gegensatz zu einem von der Natur determinierten Willen führt nach Herrmann dann zur subjektiven Überzeugung vom Selbstsein der Person in Unabhängigkeit von der Natur.140 Denn dem Menschen ist bewusst, dass er unter dem Einfluss seiner Wünsche und Begierden »sein eigentliches Selbst« nicht erreicht. Darum hat er ein »Interesse an einem höheren Selbst, an einer besseren Person«. In diesem Kontext kann er das natürlicherweise in ihm angelegte Selbstseinwollen nur rechtfertigen, wenn er sich mithilfe des Sittengesetzes über die Natur erhebt.141 Das Selbstseinwollen der Person wird durch das Sittengesetz nicht vernichtet, »sondern auf eine höhere Stufe erhoben« oder, wie Herrmann es an anderer Stelle formuliert, es wird »sittlich geadelt und in einem höheren Sinne befriedigt, als dieß von dem Standpunkte des Naturzustandes auch nur zu denken möglich ist«.142 Die Gewissheit, dass Sittengesetz und eigene Gesinnung übereinstimmen, ist die wichtigste Bedingung dafür, dass die Person sich einen Wert zuschreibt, der zur »Pflege und Cultur des persönlichen Innenlebens« führt. Deshalb bedeutet nach Herrmann das Sittengesetz für den Menschen die »Erhebung zur Persönlichkeit«. Anders als durch den Aufweis dieser Wirkung im Menschen kann die Gültigkeit des Sittengesetzes Herrmann zufolge nicht begründet werden.143 Was aber hat dies alles mit der Frage nach der Allgemeingültigkeit des Glaubens zu tun? Herrmann kommt es darauf an zu zeigen, dass Religion und 137

Religion, 183. Religion, 157–159. 139 Religion, 191. 140 Religion, 289, vgl. 232: »Freie unabhängige Person ist man nur, sofern man weiß, daß sich in dem eigenen Wollen ein unbedingtes Gesetz vollzieht.« 141 Religion, 193f. 142 Religion, 197. 240. 143 Religion, 196f. 138

96

3. Kapitel: Wilhelm Herrmann

Sittlichkeit miteinander verflochten sind, und zwar so sehr, dass die eine ohne die andere nicht denkbar ist. In den folgenden Schritten zeigt er, dass die Religion auf die Sittlichkeit angewiesen ist, und dass umgekehrt auch die Sittlichkeit ohne die Religion nicht bestehen kann. Dieser letzte Schritt wird dann zu seinem »Beweis« für die Allgemeingültigkeit des Glaubens führen. 2.

Der Dienst des Sittengesetzes für die Religion

Herrmann führt nun einen Gedanken aus, den er bereits im zweiten Kapitel für die Unterscheidung von Metaphysik und Religion verwendet hatte. Dort hatte er festgestellt, dass die Religion, anders als die Metaphysik, sich dem Menschen nicht schon im Zusammenhang mit seinem natürlichen Leben aufdrängt, sondern erst in Verbindung mit einer »ganz bestimmten persönlichen Disposition«.144 Das Sittengesetz ist es, wie er nun erläutert, das den Menschen zum »Subject der Religion« qualifiziert.145 Denn was die Religion dem Menschen zuspricht, dass er nämlich durch die Abhängigkeit von Gott Freiheit von der und Erhebung über die Welt gewinnt, das lässt sich nur im Kontext einer sittlichen Auffassung vom Menschen realisieren. Der sittlich bestimmte Mensch trägt seinen Zweck in sich selbst, weil das Sittengesetz ihm seine Persönlichkeit als Zweck vorschreibt. Da die Persönlichkeit das einzige am Menschen ist, das nicht empirisch von der Natur herleitbar ist, weil nur in der subjektiven Überzeugung gegeben, kann der Mensch sich durch das Sittengesetz als Endzweck denken und läuft nicht Gefahr, durch seine Abhängigkeit von der Natur doch wieder einem anderen höheren Zweck unterworfen zu werden. Somit erhält die Behauptung der Religion, dass der Mensch mehr ist als die Natur, erst dadurch einen positiven Sinn, dass der Mensch in sich etwas entdeckt, was nicht Natur ist, nämlich die sittliche Persönlichkeit.146 Das zweite, was das Sittengesetz der Religion ermöglicht, ist die Bestimmung eines korrekten supranaturalistischen Gottesbegriffes. Als wahrhaft überweltlich und ewig kann Gott nur dann gefasst werden, wenn er als der gedacht wird, der die Herrschaft der sittlichen Persönlichkeit über die Welt will:147 Die Idee Gottes erhält erst einen concreten und zugleich gegen die Verwechslung mit der Natur gesicherten Inhalt, wenn das sittliche Bewußtsein in ihr seinen Abschluß findet.148

Herrmann zufolge kann sich nur die vom Sittengesetz aus entworfene religiöse Weltanschauung von den »Naturreligionen« unterscheiden. Nur hier sieht er wirkliche Erhebung zum Überweltlichen als möglich. Ohne das Sittengesetz 144 145 146 147 148

Religion, 90f; s. o. S. 87. Religion, 205. Religion, 206f. Religion, 209. Religion, 211.

III. Der Beweis des Glaubens in der Religionsschrift

97

erreicht der Mensch nach Herrmann in dem vermeintlich Überweltlichen nur die »gespenstisch verzerrte oder ästhetisch verklärte Natur«.149 Die Religion ist damit in hermeneutischer Hinsicht auf die Sittlichkeit angewiesen. Die Sittlichkeit dient der Religion dazu, ihre eigenen Begriffe richtig – und das heißt in Herrmanns Auffassung ethisch – zu verstehen. Nur im ethischen Verständnis kann die Religion dem Anliegen, um das es ihr geht, wirklich gerecht werden.150 3.

Der Dienst der Religion für die Sittlichkeit

Wie bereits angedeutet, ist die Religion nicht einseitig von der Sittlichkeit abhängig. Auch die Sittlichkeit braucht die Religion. Aber Herrmann betont, dass das Sittengesetz nun nicht für die Begründung seiner Geltung auf die Religion angewiesen ist.151 Wie er bereits gezeigt hat, ist das Sittengesetz nur durch den Aufweis seiner Wirkung im Menschen evident.152 Und gerade diese außerhalb der Religion feststehende Gültigkeit ist es ja, die den Beweis für die Allgemeingültigkeit der religiösen Gedanken erbringen kann. Wofür braucht aber die Sittlichkeit dann die Religion? Herrmann nennt die Religion »die Lebensbedingung der sittlichen Person« in der Wirklichkeit des menschlichen Lebens.153 Weil der Mensch in seiner Besonderheit als geistiges und leibliches Individuum nicht für sich allein existiert, sondern »im Zusammenhange mit der Natur- und Menschenwelt«, stellt sich die sittliche Aufgabe »als ein Ganzes, das kein Einzelner für sich verwirklichen kann«. Die umfassende Umsetzung der sittlichen Aufgabe, nämlich die »volle Herrschaft des Guten über die Welt der Mittel«, führt zur Glückseligkeit als »die volle Befriedigung des Selbstgefühls«. Die sittliche Gesinnung bedeutet den ernsthaften Willen, diese Aufgabe umzusetzen. Dennoch ist das sittliche Subjekt damit konfrontiert, dass die Verwirklichung dieser Aufgabe nicht in seiner Hand liegt. Damit treten Glückseligkeit und sittliche Gesinnung, obwohl sie in der allgemeinen Fassung der Sittlichkeit zusammen gehören, in der konkreten Verwirklichung des Sittengesetzes auseinander. Auch die noch so ernsthafte Hingabe des Menschen an das unbedingte Gesetz erreicht nicht das sie motivierende Ziel, nämlich den Abschluss des Selbstgefühls in der vollen Verwirklichung der freien, also sittlichen Persönlichkeit.154

149

Religion, 212. Es ist aber wichtig zu beachten, dass sich die Bedeutung der Sittlichkeit für die Religion nicht in dieser hermeneutischen Funktion erschöpft; s. u. S. 102–104. 151 Religion, 228–231. 152 Religion, 196f. 153 Religion, 229f. 154 Religion, 242f. 150

98

3. Kapitel: Wilhelm Herrmann

Angesichts dieser Problematik sieht Herrmann die notwendige Ausrichtung des einzelnen sittlichen Aktes auf den Endzweck nur durch das »Vertrauen« ermöglicht, dass der Endzweck »in irgend einer Form« doch verwirklicht wird. Dieses Vertrauen geht nun nicht aus der Sittlichkeit hervor. Es ist selbständig ihr gegenüber, auch wenn sie darauf angewiesen ist. Und wie Herrmann im zweiten Kapitel bereits gezeigt hat,155 handelt es sich bei dem Vertrauen, dass die Welt als ganze dem Endzweck untergeordnet ist, um ein Urteil »religiöser Art«. Dies bedeutet für Herrmann, dass die Sittlichkeit nur »durch die Vermittlung eines religiösen Urtheils zu individueller Wirklichkeit in einem Menschenleben« kommt.156 Herrmann warnt allerdings davor zu meinen, dass die Sittlichkeit eine Brücke zur Religion darstellt: »Man kommt überhaupt nicht vom sittlichen Bewußtsein zu religiöser Überzeugung . . . «. Wie er im letzten Kapitel seines Buches darlegt, verdankt sich der Glaube seinen ganz eigenen Ursachen. Religion und Sittlichkeit, so betont er, sind nicht auseinander ableitbar, aber sie sind aufeinander angewiesen, um im Menschen die sittliche Persönlichkeit zu entfalten. Die volle Entfaltung der Sittlichkeit ist durch die Religion bedingt und »schließt« sie deshalb »in sich«.157 Auf diesem Weg will Herrmann also die alte Funktion der Metaphysik in der Theologie ersetzen, indem er nicht an die metaphysisch festgestellte Wirklichkeit anknüpft, sondern an die Sittlichkeit als eine auf einem anderen Weg festgestellte und dennoch allgemein anerkannte Wirklichkeit, die ohne die Religion nicht vollständig denkbar ist. Allerdings ist für Herrmann der dogmatische Beweis damit noch nicht abgeschlossen. Die Notwendigkeit der Religion für die Sittlichkeit kann zwar die Allgemeingültigkeit der Religion nach außen hin zeigen, stellt aber nicht den einzigen und schon gar nicht den entscheidenden Grund für die religiöse Gewissheit der Glaubenden dar. Wie diese Gewissheit zustande kommt, zeigt Herrmann im letzten Kapitel der Religionsschrift. Bevor dieses Kapitel untersucht werden soll, ist allerdings noch ein genauerer Blick darauf zu werfen, was Herrmann unter Allgemeingültigkeit versteht.

155

Religion, 77–84, bes. 82. 85; s. o. S. 85. Religion, 247; vgl. 249f. Herrmanns Gedankengang folgt hier deutlich erkennbar Ritschl, der in RuV1 III den »Beweis« für die Wahrheit des Christentums aus der Übereinstimmung von Religion und natürlicher Ethik an einem zentralen Punkt ableitet – nämlich dem durch die Ausrichtung auf das Reich Gottes zu sittlichem Handeln befreiten Menschen in der Religion und Kants sittlichem Begriff des Reiches Gottes, durch den die für das sittliche Handeln notwendige Überzeugung der Einheit von Weltlauf und Sittlichkeit verbürgt ist; s. dazu SLENCZKA, Glaube, 135–140. 157 Religion, 250; vgl. 320: »Christlicher Glaube und sittliche Überzeugung sind Correlate; sobald man eines der beiden allein betrachtet, erscheint das andere als seine Voraussetzung.« 156

III. Der Beweis des Glaubens in der Religionsschrift

4.

99

Die Allgemeingültigkeit der Religion

Man darf Herrmann nicht vorschnell unterstellen, dass er mit seinem Beweis für die Allgemeingültigkeit des Glaubens in der Religionsschrift doch wieder der von ihm eigentlich abgelehnten rationalistischen Methode verfallen ist, also dem Versuch, den Glauben aus etwas anderem als sich selbst zu begründen.158 Es ist genau zu beachten, wie er diese Allgemeingültigkeit fasst und wozu sie ihm dient. Die Notwendigkeit einer allgemeingültigen Begründung ist nicht erst ein Problem aus der Außenperspektive des in ein kritisches Umfeld gestellten Glaubens, sondern ergibt sich schon innerhalb der religiösen Gemeinschaft. Wie Herrmann immer wieder in der Religionsschrift betont, kann sich die religiöse Gewissheit nicht alleine aus »einem subjectiven Erlebniß« begründen.159 Herrmann versteht Religion als »geistige Gesammtbewegung einer Gemeinschaft von Menschen«, und deshalb ist sie auf eine überindividuelle Gewissheit angewiesen, die den Gliedern dieser Gemeinschaft gemeinsam einsichtig ist. Für ihn ist Religion daher nur denkbar in Verbindung mit einer »Thatsache«, »welche durch ihre Evidenz im Stande ist, auch Anderen das Verständnis der religiösen Gedankenwelt aufzuschließen«. Und die »Expansionskraft« dieser Gemeinschaft wächst, je universaler sie den Anspruch vertreten kann, dass sie von allen Menschen verstanden werden kann. Dies kann der Glaube, indem er »seine Anknüpfungen« in der sittlichen Persönlichkeit sucht. 160 Es ist wichtig zu sehen, dass Herrmann mit seinen Überlegungen im Geltungsbereich der sittlich-religiösen Gemeinschaft bleibt. Denn Allgemeingültigkeit der Religion bedeutet für ihn nicht die Rückführung der Glaubensinhalte »auf Wahrheiten, die allen Menschen ohne Unterschied verständlich wären«, sondern ihre Verknüpfung mit dem Sittengesetz bzw. der sittlichen Persönlichkeit, deren Anerkennung von allen Menschen verlangt werden kann. Wer die Universalität der sittlichen Persönlichkeit erkennt, muss auch die Allgemeingültigkeit der mit der Realisierung dieser Persönlichkeit verknüpften Religion anerkennen. Aber dies bedeutet, dass Herrmann den Geltungsbereich der Allgemeingültigkeit auf eine Gemeinschaft beschränkt, die eben der Forderung des Sittengesetzes auch zustimmen. Objektiv ist diese Geltung nicht nachweisbar, sondern nur dem, der das innere sittliche Leben »als eine Wirklichkeit eigener Art« anerkennt. Und wer dies nicht tut, mahnt Herrmann, »darf weder für noch wider die Religion gehört werden«.161 158

Vgl. z. B. Religion, 8–12. 288. 312. 316. Vgl. z. B. Religion, 1. 132f. Diese Sicht ist gegenüber Ritschl neu, der stets von dem unhinterfragten Erlösungsbewusstsein der christlichen Gemeinde ausgeht. 160 Religion, 251. 161 Religion, 252f; vgl. 90f. 363: Die Theologie richtet sich »von vornherein nur an die Menschen, welche den Willen haben, Personen zu sein«. 159

100

3. Kapitel: Wilhelm Herrmann

Im Unterschied zu seiner späteren Theologie betont Herrmann hier noch, dass der Beweis der Allgemeingültigkeit für die Gegenstände des Glaubens notwendig ist. Die Verflechtung der Glaubensinhalte mit der religiösen Erfahrung ist hier noch nicht so weit entfaltet, dass sie die allgemeingültige Behandlung der Glaubensgedanken ausschließt. In der Religionsschrift ist die »Gewissheit von der Realität der Glaubensobjecte« sowohl auf die Verankerung durch die Erfahrungen des religiösen Subjekts wie auch auf die Überzeugung von der Allgemeingültigkeit der religiösen Inhalte angewiesen: ». . . beides gehört zusammen wie Einathmen und Ausathmen.«162 5.

Die Anbindung des Glaubens an das Leben

Die Überlegungen zur Allgemeingültigkeit sind verbunden mit einem Aspekt, der zeigt, dass die im Spätwerk deutlich hervortretenden existentiellen Züge schon früh in Herrmanns Ansatz angelegt sind. Herrmann will mit der Anknüpfung an die Sittlichkeit zeigen, dass die Religion »nicht völlig isoliert und abrupt« in das Leben des Menschen einbricht, sondern mit grundlegenden Vollzügen der menschlichen Existenz in Verbindung steht.163 Hinter der Sittlichkeit steht für Herrmann nämlich nichts anderes als der natürliche »Selbsterhaltungstrieb« des Menschen, den die Sittlichkeit nach Kant noch einmal ganz anders beantworten kann als die Natur.164 Das »Selbstseinwollen« der Person liegt der Sittlichkeit zu Grunde, denn es lässt den Menschen überhaupt erst nach der Sittlichkeit fragen und sie verstehen: »An dem Subjekt allein, das in seinem Selbstgefühl sein Dasein behauptet und in der dadurch eröffneten inneren Welt sich mit seinem Denken bewegt, ist das Sittliche verständlich.«165 Der Ausgangspunkt für den zweiten Teil der Religionsschrift, in dem Herrmann die Allgemeingültigkeit der Religion anhand ihres Verhältnisses zur Sittlichkeit entfaltet, ist damit der Lebenswille des Menschen.166 Aber nicht nur für die Sittlichkeit, sondern auch für das Verständnis der Religion ist dieser Lebenswille des Menschen elementar. Im hinteren Teil der Religionsschrift greift Herrmann noch einmal den Sachverhalt auf, dass die Menschen durch ihre Arbeit und ihre Erkenntnis »vor allen Dingen leben« wollen. Das Bewusstsein von sich selbst und der dabei empfundene Wert liegen den geistigen Tätigkeiten des Erkennens und Handelns zu Grunde. Das Selbstgefühl ist so mächtig im Menschen, dass es für ihn genauso wirklich ist wie die objektiven Dinge, auch wenn wir seine Wirklichkeit nicht feststellen können wie die Wirklichkeit der Dinge: »Diese Macht des Selbstgefühls, den Menschen auf 162 163 164 165 166

Religion, 254. Religion, 363. Religion, 146f. 149. Vgl. a. DIERKEN, 379f. Religion, 147. Vgl. bes. Religion, 146–148. 189. 192f.

III. Der Beweis des Glaubens in der Religionsschrift

101

eine ganz andere Wirklichkeit als die erklärbare und mechanisch bestimmbare hinzuweisen, bereitet der Religion ihre Stätte.«167 Herrmann bezeichnet den Glauben deshalb als »Correlat der persönlichen Selbstgewißheit des Menschen . . . , der nicht nur erkennen, sondern vor allen Dingen leben will«.168 Herrmann knüpft also bei der Sittlichkeit an, weil sie die Frage nach der Existenz des Menschen thematisiert und so den Verstehenshorizont des Glaubens sichtbar macht. Schon in der Religionsschrift und nicht erst im Spätwerk ist damit der Bezug von Glaube und Leben bzw. Lebenswillen des Menschen der Ausgangspunkt, um den Glauben dem allgemeinen Verstehen zu vermitteln. 6.

Die Gewissheit aus der Offenbarung

Herrmann hat gezeigt, dass die Sittlichkeit die Allgemeingültigkeit des Glaubens beweisen kann. Aber er hat auch immer wieder betont, dass die Sittlichkeit den Glauben nicht begründen, nicht hervorrufen kann. Die »Gewissheit von der Realität des Geglaubten« ist »niemals allein« durch den Zusammenhang von Glaube und Sittlichkeit herzustellen: »Diese Einsicht ließe den Glauben des Menschen . . . verdorren.«169 Denn auch von der Einsicht in den Zusammenhang von Glaube und Sittlichkeit führen verschiedene Wege in den theologischen Rationalismus, beispielsweise dann, wenn Kant die religiösen Vorstellungen nur noch als »symbolische Darstellungen sittlicher Ideen«170 betrachtet. Damit verkennt er Herrmann zufolge die Eigenständigkeit der positiven Religion und unterstellt, dass sie sich dem sittlichen Willen des Subjekts verdankt.171 Das bedeutet, die aus dem Zusammenhang von Glaube und Sittlichkeit abgeleitete Allgemeingültigkeit ist eine äußere, formale Begründung des Glaubens aus seiner funktionalen Notwendigkeit. Die Inhalte des Glaubens gehen daraus nicht hervor. Herrmann zeigt nun im letzten Kapitel seiner Schrift, dass diese Inhalte sich nichts anderem als der Offenbarung Gottes in Christus verdanken. Denn »christliche Religion«, wie Herrmann den Glauben in seinen frühen Schriften nennt, besteht darin, daß jemand in der geschichtlichen Person Jesu Christi denjenigen Ausdruck der thatkräftigen Gesinnung Gottes gegen ihn selbst gefunden hat, welcher ihn zu seinem Frieden bringt und ihm die Augen für die fortlaufenden Offenbarungen öffnet, mit welchen Gott seinen Lebensweg umgiebt.172

167

Religion, 363f. Religion, 270. 169 Religion, 428; vgl. 365: »Die Quelle der religiösen Erkenntnis ist für uns weder unsere Sittlichkeit noch irgendwelche Metaphysik, sondern die Offenbarung.« 170 Religion, 287; vgl. 311. 171 Religion, 281–292; vgl. 299. 172 Religion, 312f. 168

102

3. Kapitel: Wilhelm Herrmann

Der Glaube ist also zentriert auf die geschichtliche Person Jesus Christus, der ihn allein hervorrufen kann.173 Nach Herrmann muss der zu seinem sittlichen Bewusstsein gekommene Mensch anerkennen, dass das Reich Gottes, nämlich die »durch die Nächstenliebe verbundene(. . . ) Menschheit«, für uns ein »Ideal« darstellt, an dem wir uns zwar ausrichten, dessen volle Wirklichkeit wir dabei jedoch nicht erreichen können. Es bleibt für uns ein »Gegenstand des Strebens und der Sehnsucht«. Bei Jesus hingegen findet Herrmann dieses Ideal vollkommen verwirklicht und mit seinem persönlichen Selbstbewusstsein völlig deckungsgleich. Er betrachtet es nun als »Zeugnis unseres Gewissens« und »freie sittliche Erkenntnis«, dass diese von Jesus intendierte sittliche Verbindung der Menschheit »der absolute Endzweck der Welt« und damit der »Wille Gottes« ist. Die Deckungsgleichheit des Selbstbewusstseins Jesu mit diesem Willen Gottes und sein sittliches Wirken als Resultat daraus führen die Wahrheit seiner Einheit mit Gott vor Augen.174 Das bedeutet für Herrmann allerdings nicht, dass Jesus in erster Linie als ethisches Vorbild zu betrachten ist. Obwohl das Sittengesetz nötigt, in Jesus und seinem Leben Gott selbst zu erkennen, führt es doch nicht zur Liebe Gottes. Die Erkenntnis der sittlichen Persönlichkeit Jesu eröffnet dem Menschen lediglich die »Freiheit des Selbstgerichts«, weil er gerade nicht ist, was Jesus ist. Einen Zugang zur Liebe Gottes eröffnet sich erst durch die Weise, wie Jesus als sittliche Autorität an ihm handelt. Wenn sich Jesus ihm zuwendet, obwohl er sich »durch das Zeugnis des eigenen Gewissens« gegenüber der sittlichen Persönlichkeit Jesu völlig unterlegen fühlt, so erlebt er dies als einen »Act der Vergebung oder Verzeihung«. Die Erfahrungen, die Menschen an Jesus machen, erhalten damit den »Charakter von Liebesbeweisen Gottes«. Nicht in Jesus als ethischem Vorbild sieht Herrmann die Grundlage der christlichen Gemeinde, sondern in der einzigartigen Verbindung von sittlicher Autorität und vergebender Liebe, mit der Jesus den Menschen begegnet. Der so begründete Glaube basiert auf der Gewissheit, dass der Glaubende einen freien Zugang zu Gott hat, weil sich Gott selbst in Christus in diese Position gebracht hat.175 7.

Der objektive Beweis des Glaubens

Der Glaube steht im Zusammenhang mit einer sittlichen Gemeinschaft, in der ein Mensch ein Verständnis für die Sittlichkeit und ein Gefühl »für den Werth des persönlichen Lebens« entwickeln kann. Diese Voraussetzungen bezeichnet Herrmann als »Keime() der Persönlichkeit«, an denen »die Offenbarung der 173 Religion, 379. Wenn Herrmann von »geschichtlich« spricht, dann meint er den zeitübergreifenden Zusammenhang des sittlichen Lebens, der die Lebensabsicht Jesu mit unserem inneren Leben verbindet; z. B. Religion, 401f. Vgl. FISCHER-APPELT, Metaphysik, 44f. 174 Religion, 392f. 175 Religion, 395f.

III. Der Beweis des Glaubens in der Religionsschrift

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Liebe Gottes in Christus nicht spurlos vorüber« geht. Das Sittengesetz enthält darum »bereits den Hinweis auf die übernatürliche Welt unseres Glaubens«. Das bedeutet für Herrmann, dass die »Objectivität der Glaubensobjecte« nicht auf eine Begründung durch Metaphysik oder Psychologie angewiesen ist. Die Unabhängigkeit ihrer Wirklichkeit von den »subjectiven Erlebnissen der Gläubigen« begründet er aus »der Thatsache der Person Jesu und ihrem Verhältnis zu den Bedürfnissen des sittlichen Menschengeistes«. Die »Wirklichkeit der Glaubensobjecte« leitet sich aus einer objektiven »geschichtliche[n] Thatsache« ab, die aber, indem sie die Bedürfnisse des sittlichen Menschen betrifft, »zu uns selbst gehört«.176 Herrmann erreicht also eine objektive Begründung der Religion, indem er am allgemein anerkannten sittlichen Subjekt ansetzt. Dabei begründet aber die Sittlichkeit nicht den Glauben, sondern bildet den Anknüpfungspunkt an die Existenz des Menschen, durch den die Allgemeingültigkeit des Glaubens bewiesen werden kann. Die Offenbarung Gottes in Christus und die daraus hervorgehende Religion bezeichnet Herrmann als die »thatsächliche Lösung des Räthsels . . . , welches dem Menschen durch sein sittliches Bewusstsein aufgegeben ist«. Die Verbindung der Frage, die die Sittlichkeit aufwirft, mit der Antwort, die die Offenbarung darauf gibt, beweist die Allgemeingültigkeit des Glaubens. Die Dogmatik muss die »Lebensfrage des persönlichen Geistes« mit der geschichtlichen Offenbarung als »Quelle unseres Glaubens« zusammenbringen. Die Leitfrage der dogmatischen Arbeit formuliert Herrmann so: Wie ist es möglich, daß der sündige und der Naturmacht unterworfene Mensch in der im Sittengesetze ausgesprochenen Form des persönlichen Lebens oder in der sittlichen Gemeinschaft des Reiches Gottes seine Seligkeit suchen und derselben gewiß ein kann?

In der Orientierung an dieser Frage entsteht aus der dogmatischen Beschreibung der christlichen Inhalte ein »Ganzes«, für das sich »auch ein Beweis der Allgemeingültigkeit führen« lässt. Im Kontext des persönlichen inneren Lebens kann die Theologie die Universalität des Glaubens aufweisen.177 176 Religion, 398f; vgl. Metaphysik, 62f. Zur Bedeutung von »geschichtlich« s. o. Anm. 173. Die Verbindung der Glaubensinhalte mit der Geschichte schließt dabei für Herrmann ihre Verbindung mit der ihrem Anspruch nach zeitlos-ewigen Metaphysik aus. Herrmann beruft sich für diesen »ausschließenden Gegensatz des Metaphysischen und Historischen« auf Fichte. Allerdings widerspricht er nun gerade Fichtes Urteil, dass die Religion sich nur auf die ewigen Wahrheiten der Metaphysik beziehen kann; Religion, 399f, vgl. 312. Diese Entgegensetzung von Geschichte und Metaphysik begegnet auch bei Ebeling, z. B. WuG I [1], 33f; Wesen, 90; Dogmatik I, 168. 177 Religion, 431; vgl. 282f. Herrmanns Ausführungen machen deutlich, dass die Sittlichkeit hier nicht einfach nur einen hermeneutischen Dienst versieht, sondern als unverzichtbares Motiv für die Hinwendung des Menschen zur Religion in den Blick kommt. Sie führt den Menschen bei der Ausbildung seiner sittlichen Persönlichkeit in eine Problemsituation, die

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3. Kapitel: Wilhelm Herrmann

Die innere Gewissheit des Glaubenden, die aus seiner Befreiung zum wahren sittlichen Wollen und Handeln durch den in Christus eröffneten Zugang zu Gott entsteht, stellt nach Herrmann den einzig möglichen und im Glauben selbst angelegten Beweis für die Wahrheit der christlichen Religion dar. Weil die sittliche Persönlichkeit und das persönliche Leben des Menschen wesentliche Bestandteile des Glaubens sind, liegt schon im Glauben selbst »dasjenige Moment . . . , aus welchem seine eigene universelle Tendenz sich erzeugt«. Weil es also möglich ist, die Allgemeingültigkeit der Religion durch ein »integrierendes Moment ihrer selbst« nachzuweisen, gibt es für Herrmann keine Notwendigkeit, »die positive Religion zu rationalisieren«.178 8.

Zusammenfassung

Die Auseinandersetzung mit der Metaphysik in der Religionsschrift verdankt sich Ritschl, wie Herrmann selbst an Ritschl schreibt,179 und baut auf die drei Jahre früher veröffentlichte Metaphysikschrift auf. Gleichzeitig gibt es wichtige Unterschiede zu beiden, die für Verständnis und Kritik der Metaphysik bei Bultmann und Ebeling wichtige Grundsteine legen. Gegenüber Ritschl ist Herrmanns Beschäftigung mit der Metaphysik grundsätzlicher, differenzierter und systematischer. Ritschls Äußerungen zur Metaphysik fallen auf das Ganze seiner Arbeit bezogen eher übersichtlich aus. Er reagiert auf die Kritik an seinem in Rechtfertigung und Versöhnung vorgelegten Ansatz, was bedeutet, dass sie gegenüber seinem Ansatz sekundär sind. Seine Äußerungen zur Metaphysik sind damit im Wesentlichen auf einen konkreten apologetischen Zweck ausgerichtet und keine eigenständige Behandlung der Metaphysik als solcher. Herrmann hingegen führt seine Auseinandersetzung mit der Metaphysik allgemeiner, weil sie, auch wenn er damit letztlich die Stützung der Ritschlschen Theologie im Auge hat, doch von der konkreten Abzweckung frei ist, bereits vorliegende eigene Aussagen rechtfertigen zu müssen. Somit kann er grundsätzlicher ansetzen, indem er die Metaphysik im ersten Teil der Religionsschrift mit den verschiedenen Arten des Erkennens in Beziehung setzt und von daher beschreibt. Differenzierter widmet er sich der Frage nach dem Sinn der Metaphysik, und zwar als Frage nach dem die Metaphysik hervorbringenden Motiv

nur die Religion lösen kann. Das bedeutet, dass die Sittlichkeit hier schon die Funktion hat, die Herrmann später als den Ausgangspunkt für den »Weg zur Religion« beschreibt. Ähnlich wie Herrmann hier an die »Lebensfrage« des Menschen knüpft später auch Ebeling an den »Horizont der Fraglichkeit« oder die »Grundsituation« des Menschen an, um die Verständlichkeit und Notwendigkeit des Glaubens für den Menschen aufzuzeigen, ohne dabei ein außerhalb des Glaubens vorhandenes Wissen von Gott voraussetzen zu müssen; s. u. S. 278–281. 178 Religion, 432; vgl. Verkehr 1 , 30, Anm. 1. 179 Briefwechsel, Nr. 70, 178.

III. Der Beweis des Glaubens in der Religionsschrift

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überhaupt sowie als Frage nach dem Motiv ihrer Verwendung in der Theologie. Und er führt die Auseinandersetzung in der Religionsschrift systematischer, indem er der Kritik an der Metaphysik überhaupt sowie in der Theologie über die Aufnahme der ihnen zu Grunde liegenden Motive die Sittlichkeit als eine darauf antwortende Alternative gegenüberstellt. Was das Metaphysikverständnis betrifft, so ist festzustellen, dass Herrmann in der Religionsschrift die Metaphysik, im Unterschied zu Ritschl und zu seiner eigenen Metaphysikschrift, fast nur noch als Entwurf des in der Naturerkenntnis implizierten Weltganzen und als dessen problematische Form der »dogmatischen Metaphysik« versteht. Dementsprechend radikaler fällt auch seine Metaphysikkritik aus. Nach Herrmann ist die Metaphysik nicht in der Lage, das Motiv, das sie hervorruft, nämlich das Bedürfnis nach abschließender Erklärung der Welt, zu beantworten. An ihre Stelle tritt die Religion, die in Form des Christentums das Ende der Metaphysik, und zwar in ihrer Funktion für das Welterkennen, bedeutet. Ein wichtiges Motiv bildet Herrmanns Urteil über den Gottesgedanken in der Metaphysik, worauf seiner Ansicht nach das Missverständnis der Nähe von Metaphysik und Religion basiert. Diese Kritik an der von der aristotelischen Metaphysik ausgehenden Verwendung des religiösen Gottesgedankens im Bereich des kausalen Verstehens beschreibt die Metaphysik als einheitliche Erklärung der Welt von Gott als ihrem Grund her. In diesem Sinne begegnet die Metaphysik später auch bei Ebeling. In der Frage nach der Verwendung der Metaphysik in der Theologie hat sich die in der Metaphysikschrift angelegte ablehnende Haltung weiter vertieft. Der hermeneutische Aspekt, dass Glaubensaussagen durch ein metaphysisches Verständnis verzeichnet werden, ist weiterhin ein wichtiges Argument, tritt aber gegenüber der die Hauptlinie bildende Frage zurück, wie die Theologie die Allgemeingültigkeit und Gewissheit christlicher Vorstellungen darlegen kann, ohne auf die Metaphysik zurückgreifen zu müssen. Die durch die Metaphysik gesuchte Gewissheit lässt sich sowohl in der Sehnsucht nach abschließendem Verstehen der Welt wie auch in der Religion nur über den Weg der Sittlichkeit erreichen. Damit knüpft Herrmann an Ritschl an und wird daraus, wie wir noch sehen werden, seinen Ansatz an der Existenz des Menschen entwickeln, der dann auch für Bultmann und Ebeling die Alternative zur »natürlichen Theologie« (Bultmann) beziehungsweise Metaphysik in der Theologie sein wird. Auf den ersten Blick wie Ritschl stimmt Herrmann einer Verwendung der Metaphysik als Erkenntnistheorie zu, dennoch spielt diese – gegenüber Ritschl auch ganz anders gefasste – Metaphysik in der dogmatischen Entfaltung faktisch keine Rolle.

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3. Kapitel: Wilhelm Herrmann

IV. Die Metaphysikkritik der späten Schriften Mit der Metaphysikkritik seiner beiden frühen Schriften hat sich Herrmann die Grundlage für seinen theologischen Ansatz erabeitet. Bei allen Veränderungen, die sein Ansatz in den Jahren durchläuft, bildet die Unterscheidung von empirisch-wissenschaftlicher und religiöser Erkenntnis eine bleibende Basis für seine Überlegungen. Wenn Herrmann später auch »manche Enge und Unsicherheit« in seiner Religionsschrift feststellt, so ist er sich im Rückblick doch sicher, »daß ich aber im ganzen auf der richtigen Fährte war«.180 Allerdings findet sich die Metaphysik in den Spätschriften als Thema nicht mehr.181 Stattdessen führt Herrmann nun die Auseinandersetzung mit einem von der Welterkenntnis aus entworfenen Denken, das die Wirklichkeit einheitlich und abschließend zu verstehen beansprucht, unter dem Stichwort des »Monismus«. Mit diesem Begriff greift Herrmann Gedanken auf, die er in seinen frühen Schriften als Kritik an der (dogmatischen) Metaphysik äußert. Schon dort hat Herrmann mit dem Begriff der Metaphysik nicht nur die Metaphysik selbst im Blick, sondern zielt auch allgemein auf das Verfahren der sich auf die Weltwirklichkeit richtenden Wissenschaften. Die Kritik an der Metaphysik dient der Beschränkung dieses Verfahrens auf den Bereich der empirisch erfassbaren Wirklichkeit und dem Nachweis, dass die Religion nicht mit den Mitteln dieses Verfahrens zu erfassen ist. Dass die Auseinandersetzung mit der Metaphysik in diesem Thema aufgeht, zeigen verschiedene Stellen. In seiner Rezension von Franks System der christlichen Sittlichkeit aus dem Jahr 1884 geht Herrmann auf das Stichwort »Monismus« ein, mit dem Frank das Verständnis der Natur als eine mittelbare »Rede Gottes« bezeichnet. Offensichtlich ist Herrmann sich nicht ganz sicher, was Frank damit genau meint. Auf jeden Fall lehnt er die damit möglicherweise verbundene Auffassung ab, »daß

180

Lage, 32. Es besteht ein breiter Konsens, dass Herrmanns Werk in unterschiedliche Phasen zu unterteilen ist. Ohne hier tiefer in die Diskussion über die genaue Abgrenzung dieser Phasen eintreten zu können, schließe ich mich der allgemeinen Unterscheidung von drei Phasen an: Die Metaphysik- und Religionsschrift sind dabei der Frühphase zuzuordnen. Diese Frühphase wird um die Mitte der 1880er Jahre von einer mittleren Phase abgelöst, die entweder als »Hauptwerk« (Mahlmann, Fischer-Appelt) oder als »Übergangsphase« (Weinhardt) betrachtet wird. Herrmanns Werke nach 1900 werden allgemein einer späten Phase zugeordnet, die nur Fischer-Appelt noch in zwei Phasen aufteilt. FISCHER-APPELT, »Einleitung«, XXIII–LI; MAHLMANN, TRE, 165–171; WEINHARDT, Jugendschriften, 210–231. 181 Dies zeigt schon ein Blick in das Register der von Fischer-Appelt herausgegebenen Aufsätze, Schriften II, 369. Der weitaus überwiegende Teil der Fundstellen zum Stichwort »Metaphysik« befindet sich im ersten Band, der die Schriften der frühen und mittleren Phase beinhaltet. Die wenigen Stellen im zweiten, die Spätschriften umfassenden Band verwenden das Stichwort, bis auf Lage, 35f, nur als Schlagwort.

IV. Die Metaphysikkritik der späten Schriften

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wir durch unser Welterkennen von der Natur, oder, was dasselbe ist, von der Metaphysik aus Gott erfassen und verstehen können«.182 In einem Aufsatz aus dem Jahr 1889 resümiert Herrmann einem Kritiker gegenüber, was er unter der »Ausscheidung der Metaphysik aus der Theologie« versteht: nämlich »die klare Einsicht, daß die methodische Erkenntnis des Wirklichen in der Wissenschaft schlechterdings nicht an die Wirklichkeit unseres Gottes heranreicht« und dass die auf das Erkennen der Welt gerichtete Metaphysik die überweltlichen »Glaubensgegenstände« nicht einholen kann.183 Eine weitere Stelle stammt aus dem Jahr 1907. Herrmann äußert sich zu einer »neue[n] Metaphysik«, »die sich dem Glauben an Gott wieder als eine Stütze anbietet« und zwar, indem sie »mit den Mitteln der Naturwissenschaft die Erscheinung einer ›Überwelt‹ konstatieren will«. Die so gefundene »Überwelt« aber, wendet Herrmann ein, ist nicht in der Lage, dem Glauben die erhoffte Unterstützung zu verschaffen, weil sie ihn gar nicht erreichen kann. Denn die Wissenschaft wendet die »Idee der Gesetzmäßigigkeit« an und erreicht damit nur »ein Wirkliches« innerhalb der eigenen Wirklichkeit, also innerhalb der »Welt«. Die erhoffte »Überwelt« wird damit schon von der Wissenschaft selbst »als eine bloße Erweiterung der Welt« demaskiert werden.184 Diese Funktion der Metaphysik, die beiden Bereiche der Wirklichkeit zu verbinden und dem Glauben damit seine Allgemeingültigkeit und innere Gewissheit zu sichern, kommt in den Spätschriften dem »Monismus« zu. 1.

Die Gliederung der Wirklichkeit

Voraussetzung für Herrmanns Ansatz ist die Auffassung von einer Gliederung der Wirklichkeit in verschiedene Bereiche. Sie führt ihn zu einer scharfen Kritik an einer monistischen Beschreibung der Wirklichkeit. Herrmann kann wohl »das berechtigte Motiv einer monistischen Weltauffassung« erkennen, nämlich das Vorgehen der menschlichen Vernunft, die in alles Geschehen eine Ordnung bringt. Aber gerade dabei, findet er, wird doch die »Gliederung des Wirklichen« immer deutlicher, so dass er den Monismus nur als »leere Träumerei« betrachten kann. Dabei beruft sich Herrmann auf Kants Auffassung, dass die wissenschaftliche Erforschung der Wirklichkeit zu drei verschiedenen Gebieten führt, nämlich zur unbelebten Natur, zum Leben und zum Willen. Und die Ergebnisse der diese Gebiete erforschenden Disziplinen, also der exakten Naturwissenschaft, der Biologie und der Geschichtswissenschaft, lassen sich nach Herrmann nicht zu einer einheitlichen Wirklichkeitssicht verbinden.185

182 183 184 185

Rez. Frank, 606. Darstellung, 245. 251. Lage, 35f. Lage, 31f.

108

3. Kapitel: Wilhelm Herrmann

Herrmann wehrt sich vor allem dagegen, dass der Wirklichkeitsbegriff einseitig im Sinne der empirisch bestimmbaren Wirklichkeit festgelegt wird. Denn die auf die Verarbeitung der äußeren Wirklichkeit angelegten Methoden der Wissenschaft sind nicht in der Lage, den »Reichtum der von uns erlebten Wirklichkeit« zu erfassen. Herrmann zieht deshalb den Schluss: »Der Mensch lebt tatsächlich in einer anderen Welt, als sie die Wissenschaft mit ihren Begriffen gestaltet.« Herrmann hatte schon in der Religionsschrift das Selbstbewusstsein des Individuums als eine zwar wissenschaftlich nicht beweisbare, aber trotzdem anzuerkennende Realität beschrieben. In diesem Sinne fordert er auch später, dass die auf die Grenzen der äußeren Welt festgelegte Wissenschaft die innere Welt des Individuums, die ja ihre konkreten Auswirkungen in der Gestaltung der Geschichte und des geistig-kulturellen Lebens besitzt, als eine ihr nicht zugängliche Realität anerkennen muss. Für die »Auffassung der Wirklichkeit, wie der Einzelne sie erlebt« spielt die Religion eine fundamentale Rolle. Sie ermöglicht dem Individuum die Gestaltung seiner inneren Welt durch ein Befreiungserlebnis, das ihm die Selbstwerdung trotz der Erfahrung seiner Gebrochenheit ermöglicht. Dadurch wird die »nur erlebbare Wirklichkeit« subjektiv begründet und geordnet. Die Religion stellt damit »eine andere Auffassung und Ordnung des Wirklichen« neben der Wissenschaft dar.186 Für Herrmann müssen beide Wirklichkeitsauffassungen aber nicht in Konkurrenz zueinander treten. Er bezeichnet sie als »zwei Stämme des menschlichen Denkens«. Nachweisbare und erlebbare Wirklichkeit hängen eng miteinander zusammen, sind aber gleichzeitig scharf voneinander unterschieden. Sie sind für ihn »die Offenbarungen eines uns verborgenen Ganzen«. Wissenschaft und Religion, die sich ihrer jeweiligen Grenzen bewusst sind, respektieren dieses »Geheimnis des Wirklichen« und halten sich deshalb fern »von einem voreiligen Monismus, der das Wirkliche erschöpfen will«.187 2.

Die Unerreichbarkeit des Glaubens für das wissenschaftliche Welterkennen

Die Auffassung von einer Gliederung der Wirklichkeit in verschiedene Bereiche ist die sachliche Voraussetzung dafür, dass Herrmann Religion und Welterkennen scharf voneinander trennt. Immer wieder schärft Herrmann ein, dass sich die Religion, wie sie die Reformation wieder entdeckt hat, nicht »auf wissenschaftliche Erkenntnisse« zurückführen lässt. Die Auffassung, »daß die gründlich betriebene Wissenschaft zu Gott führe«, gehört für ihn ins Mittelalter. Er verweist auf das Selbstverständnis der modernen Wissenschaft, demzufolge die wissenschaftliche Arbeit zu nichts anderem als zur »Gesetzmäßigkeit des Wirk186

Lage, 52f; vgl. Frage, 132. S. Religion, 102–108 u. o. S. 88. Lage, 53. Herrmanns »zwei Stämme des menschlichen Denkens« erinnern an Kants »zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis«, die das untere Erkenntnisvermögen (Sinnlichkeit) von dem oberen (Verstand) unterscheiden; KANT, KrV, B 29. 187

IV. Die Metaphysikkritik der späten Schriften

109

lichen« beziehungsweise »auf Dinge dieser Welt und auf das ewige Gesetz der Naturordnung« führt.188 Da die »Gedanken des Glaubens . . . die Sinnenwelt durchbrechen«, kann von der Wissenschaft nicht erwartet werden, »daß sie uns vor Gottes Wirklichkeit stellen werde«.189 Die Wissenschaft verbleibt im Kausalzusammenhang der Welt und könnte Gott allenfalls in diesem Zusammenhang erkennen. Aber genau dies entspricht nach Herrmann nicht der religiösen Gottesvorstellung: ». . . ein bewiesener Gott ist Welt, und ein Gott, der Welt ist, ist ein Götze.«190 Eine Wissenschaft, die sich berechtigterweise aus der Bevormundung durch die Religion gelöst hat, muss nach Herrmann auch umgekehrt die »innere Selbständigkeit der Religion« und ihre eigenen Grenzen anerkennen: »Und dann schweigt sie zu der Frage, ob der lebendige Gott der Religion wirklich sei.« Herrmann weist darauf hin, dass dies auch der religiösen Wirklichkeit entspricht, wie der Glaube sie versteht. Es reicht nicht, wenn Menschen im Rahmen ihrer Möglichkeiten auf sie hinweisen, sondern sie muss sich selbst offenbaren.191 3.

Der hermeneutische Aspekt

Das in den Frühschriften entwickelte hermeneutische Argument, dass Glaubensvorstellungen durch ein metaphysisches Verständnis nicht erfasst werden können, begegnet auch im Spätwerk Herrmanns. Schon in der Metaphysikschrift hat Herrmann den Versuch kritisiert, Freiheit und Abhängigkeit des Glaubenden sowie die Gottheit Christi als metaphysische Allgemeinbegriffe zu behandeln und damit unabhängig von ihrer Bindung an die religiöse Erfahrung auszulegen. Diese Auffassung kehrt im Spätwerk in einer radikaleren Fassung wieder, indem Herrmann nun die allgemeingültige Form der wissenschaftlichen Erkenntnis als für die religiösen Inhalte ungeeignet ansieht. Damit zieht Herrmann die Trennlinie zwischen wissenschaftlichem Welterkennen und Glauben noch schärfer und konsequenter als in den Frühschriften. Gerade die Allgemeingültigkeit, die er für die »Glaubensobjecte«192 in der Religionsschrift noch nachweisen wollte, wird in den Spätschriften zum typischen Kennzeichen des wissenschaftlichen Erkennens, dem die Individualität des Glaubenserlebnisses gegenübersteht. Die »Gedanken der Religion« und die »Erkenntnis des nachweisbar Wirklichen« passen notwendigerweise nicht zusam188

Lage, 6f; Wirklichkeit, 294; vgl. unser Glaube, 247. Wirklichkeit, 292; vgl. die Begründung Religion, 82, dass die Religion den Dingen etwas hinzufügt, was empirisch-analytisch nicht an ihnen aufzuweisen ist, s. o. S. 85. 190 Offenbarung, 155. 191 Wirklichkeit, 290f. Auch die gegenseitige Anerkennung der Freiheit von Religion und Wissenschaft ist eine vom Frühwerk an immer wieder vorgebrachte Forderung Herrmanns, vgl. Religion, 95. 100f. 347f; Lage, 6; Schriften II, 206. 192 Religion, 254. 189

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3. Kapitel: Wilhelm Herrmann

men, stellt er nun fest, weil erstere sich einem individuellen Erlebnis verdanken und deshalb »von vornherein mit dem Verzicht auf Allgemeingültigkeit verbunden sind«.193 In diesen Zusammenhang ordnet er nun auch auch das bereits in der Religionsschrift als Rationalismus kritisierte Vorgehen Kants ein, die Allgemeingültigkeit religiöser Inhalte über ihre Rückführung auf die Sittlichkeit zu erreichen.194 Wirkliche Religion ist so sehr mit dem Leben selbst verflochten, dass Herrmann es für unmöglich hält, sie in einer allgemeingültigen, also von den individuellen Bedingungen eines Menschenlebens abstrahierenden Form zu erfassen: »Die Vorstellung eines lebendigen Gottes, der durch seine Offenbarung in dem Menschen wahrhaftiges Leben schafft, läßt sich mit dem allgemeingültigen Gedanken der Wissenschaft nicht verknüpfen.«195 4. Konsequenzen für die Konzeption der Theologie Trotz dieser erkenntnistheoretischen Überlegungen, die eine allgemeingültige Darstellung des Glaubensinhaltes verwehren, sieht Herrmann die Notwendigkeit, die Religion allgemeingültig zu beschreiben. Sie besteht vor allem deshalb, um die Berechtigung der Religion gegen ihre Bestreitung nach außen vertreten zu können, und zwar nicht speziell der christlichen, sondern von Religion überhaupt. Dafür muss die Theologie zeigen, was unter Religion zu verstehen ist. Den Nachweis der Allgemeingültigkeit setzt Herrmann nun deutlicher als in der Religionsschrift an der allgemeinen Situation des Menschen an. Er will aufdecken, dass etwas von der Religion universal in jedem Menschen zu finden ist, unabhängig von der Bildung eines Menschen und von seinen momentanen Bedürfnissen.196 Wenn Herrmann den apologetischen Bedarf etwas später gegenüber der »monistischen Weltauffassung« ausspricht und dabei auf die in der Religionsschrift vorgenommene »Unterscheidung der Religion von der Wissenschaft« verweist,197 so wird deutlich, dass er hier das Anliegen verfolgt, das Recht der Religion vor einem einseitig durch die Naturwissenschaften geprägten Weltbild zu verteidigen. Diese Auseinandersetzung mit dem Positivismus und der von

193

Lage, 52; vgl. dagegen Religion, 123: Dort sieht Herrmann seine Aufgabe in dem »Beweis, daß die Realitäten des christlichen Glaubens nicht bloß schöne Einbildungen sind, in denen wir uns wohlgefallen, sondern daß sie allen Menschen als wirklich zu gelten haben«. 194 Lage, 37; vgl. Religion, 281–292, bes. 287. 195 Lage, 42. 196 Lage, 29f. Bultmann und Ebeling setzen in ähnlicher Weise für die Beantwortung der Frage nach der Plausibilität des Glaubens am »gott-losen« Menschen an, bei dem die verlorene Beziehung zu Gott allgemein erkennbare Leerstelle hinterlässt; s. u. S. 158. 243. 288. 197 Lage, 31f.

V. Der Weg zur Religion

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daher entspringenden Bestreitung der Religion ist also bei Herrmann ein sehr viel wichtigerer Hintergrund als bei Ritschl. Die Konzeption der Theologie steht nun in der Spannung zwischen der Notwendigkeit, das Recht der Religion allgemeingültig aufzuzeigen, und der Unmöglichkeit, das individuelle Glaubensleben in einer allgemeinen Form zu beschreiben: Man muss sich also in der Dogmatik entschließen, das Notwendige zu tun, und an der Forderung allgemeingültiger Erkenntnis zwar festhalten, aber zugleich auf eine allgemeingültige Formulierung der Erkenntnisse des Glaubens verzichten.198

Diese Problematik will Herrmann durch seinen »Weg zur Religion« lösen.

V.

Der Weg zur Religion

Das Bewusstsein der Spannung von Allgemeingültigkeit und Individualität bestimmt Herrmanns Spätwerk. Während die Gedanken, in denen sich der Glaube eines Menschen ausspricht, so sehr mit dem persönlichen Leben verflochten sind, dass sie nicht für alle Glaubenden gleich festzulegen sind, kann der Weg, wie ein Mensch den Glauben findet, allgemeingültig beschrieben werden. Die Dogmatik kann die universale Berechtigung der Religion aufweisen, indem sie bei der Grundproblematik der menschlichen Existenz ansetzt und zeigt, dass nur der Glaube eine Antwort darauf geben kann. Der »Weg zur Religion« setzt sich aus Gedanken zusammen, die schon in der Religionsschrift begegnen und die Herrmann nun zu Stufen ausarbeitet, nach denen in einem Menschen der Glaube entsteht. Dabei rückt er den Lebenswillen als Grundlage dieses Weges deutlicher in den Vordergrund und erweitert den Begriff der Sittlichkeit. Damit ist deutlich, dass Herrmann die Funktion der Metaphysik in der alten Theologie, die Religion im Kontext des allgemeinen Denkens zu begründen, hier nun auf einen existentiellen Ansatz überträgt, der seine Wurzeln im Ansatz des Frühwerkes bei der die theologische Verwendung der Metaphysik ersetzenden Sittlichkeit hat.199 198

Lage, 25. Den inneren Zusammenhang zwischen Frühwerk und Spätwerk hat WEINHARDT, Stellung, 222f. 273f Anm. 57 noch einmal unterstrichen. Er wendet sich damit besonders gegen MAHLMANN, Philosophie, 99f der hier eine stärkere Verschiebung sieht. Obwohl Mahlmann zugesteht, dass schon in der Religionsschrift die späteren Gedanken in Ansätzen vorhanden sind, vertritt er doch die Auffassung, dass Herrmann erst durch Hermann Cohens Ethik (1904) das Verhältnis von Sittlichkeit und Religion »neu durchdenken« musste und so die »von Anfang an vorhandenen, aber nur halb verwirklichten Ansätze« neu ausarbeiten musste; dies betraf nach Mahlmann vor allem den Rückgang »hinter die Sittlichkeit auf die Grundbefindlichkeit des Lebens«. Wie bei der Beschäftigung mit der Religionsschrift deut199

112

3. Kapitel: Wilhelm Herrmann

Da Herrmanns »Weg zur Religion« als Alternative zum traditionell metaphysischen Zugang zur Theologie größte Bedeutung für den Umgang mit der Metaphysik und einem nicht-metaphysischen Ansatz nicht nur bei seinem direkten Schüler Bultmann, sondern auch bei Ebeling hat, ist er hier etwas genauer darzustellen. 1.

Die sittliche Not

Herrmann beginnt seinen »Weg zur Religion« mit der schon in der Religionsschrift begegnenden Feststellung, dass jeder Mensch seine innere Selbständigkeit voraussetzt, obwohl ihre Realität nicht zu beweisen ist.200 Damit der Mensch auf den Weg zum Glauben gelangt, ist die Begegnung mit dem sittlichen Denken notwendig. Die Sittlichkeit konfrontiert den Menschen zunächst mit der Frage nach der Berechtigung, seine innere Eigenständigkeit als schon immer gegeben vorauszusetzen. Herrmann bezeichnet deshalb die »Wahrhaftigkeit« als die »sittliche Grundforderung«.201 Das sittliche Denken verspricht dem Menschen jedoch die wahre Autonomie erst durch die völlige Hingabe an die sittliche Aufgabe. Die eigentlich vorausgesetzte Selbständigkeit wird ihm zu einer Aufgabe. Dabei muss der Mensch allerdings erkennen, dass er immer wieder hinter der sittlichen Forderung zurück bleibt. In ihm entsteht ein Schuldgefühl, das ihm den Mut nimmt, sich der sittlichen Aufgabe zu stellen. Somit führt das sittliche Denken den Menschen zum »Eingeständnis seiner sittlichen Not«, zu einer »Selbstbeurteilung«, die den Dienst an der sittlichen Aufgabe »unmöglich machen muss«. Klarer als in der Religionsschrift betont Herrmann damit gleich zu Anfang, dass die Verbindung der Religion zur Sittlichkeit nicht auf »sittlicher Begeisterung« basiert. Vielmehr stellt er klar, dass das sittliche Denken das ursprüngliche Selbstgefühl des Menschen »beständig in einen Ausdruck des Unmöglichen verwandelt«.202 Diese Konsequenz ist der Grund, warum Herrmann nun anders als in der Religionsschrift das sittliche Denken auf eine Stufe mit dem naturwissenschaftlichen Denken stellt. Die allgemeingültige Form beider kann dem individuellen inneren Leben des Menschen nicht gerecht werden, sondern löst es auf. Damit begründet Herrmann im Spätwerk, warum er den Weg zum Glauben nicht bei

lich wurde, bildet jedoch dieser Schritt hinter die Sittlichkeit kein neues Element im Spätwerk, sondern schon in der Religionsschrift war der Lebenswille des Menschen der explizite Hintergrund für Herrmanns Rückgriff auf die Sittlichkeit und der Ausgangspunkt seiner Überlegungen im zweiten Teil, s. o. S. 100. 200 Wirklichkeit, 294; Lage, 45. 57; vgl. z. B. Religion, 105–108. 363. 201 Schriften II, 106. 202 Ethik, 90f; Lage, 45f.

V. Der Weg zur Religion

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dem theoretisch-allgemeinen sittlichen Denken ansetzt, sondern an der inneren Situation des Menschen, der mit dem sittlichen Denken Ernst machen will.203 Ein weiterer Unterschied zur Religionsschrift besteht darin, dass Herrmann den Begriff der Sittlichkeit um die Forderung nach Wahrhaftigkeit erweitert. Dies bedeutet aber nicht, dass die Wahrheitsfrage den materialen Gehalt des sittlichen Denkens verdrängt. Herrmann kann ihn, ganz wie in der Religionsschrift als »Einigung der Menschen in einer Menschheit« bezeichnen.204 Erst das Versagen gegenüber dieser sittlichen Aufgabe macht die Frage nach der Wahrheit für den Menschen so vernichtend.205 Die »Frage« nach der Wahrheit des eigenen Lebens und die dadurch empfundene sittliche Not lösen im Menschen ein »Bedürfnis« nach innerer Erfüllung aus, in der er sein wahres Leben findet.206 Drastisch beschreibt Herrmann die Situation der existentiellen Not, in der sich der Mensch ohne Gott befindet. Er stellt dar, wie der Wille zur Wahrheit den Menschen auf dem Gebiet der Sittlichkeit, des wissenschaftlichen Erkennens und des Erlebens bzw. der Kunst in die Verzweiflung über seine Unzulänglichkeit bringt.207 Ein Leben ohne Gott ist bedrückt durch »die einfache Tatsache, daß wir keine immer wieder siegende Freude und keine Kraft besitzen, die über alle Hemmnisse hinausdringt«. Es wird zu einer »hoffnungslosen Finsternis«.208 2.

Die Wende

Das Ereignis der Wende, das den Menschen aus dieser Not befreit, verdeutlicht Herrmann, indem er zunächst alltägliche zwischenmenschliche Erfahrungen aufgreift, die den Menschen für die Begegnung mit Gott aufschließen. Hermann geht davon aus, dass alle Menschen über implizite Erfahrungen der Offenbarung verfügen. Dafür verweist er auf tiefe zwischenmenschliche Erfahrungen der Freiheit von allen Zwängen und des Glücks. In solchen Erfahrungen sehen wir uns »von einer Wirklichkeit umfasst, in der wir nicht mehr uns selbst verlieren«. Sie werden ausgelöst durch die »Güte treuer Menschen«, auf die wir nicht anders als mit Demut und Vertrauen reagieren können. Für Herrmann 203

Frage, 136; Ethik, 91. Es ist zu beachten, dass auch schon in der Religionsschrift die allgemeine Fassung der Sittlichkeit und die konkrete Situation des sich der sittlichen Forderung stellenden Menschen in eine Aporie führte, aus der nur die Religion herausführen konnte; s. o. S. 97 Aber das führte Herrmann noch nicht zu der Konsequenz, das sittliche Denken dem naturwissenschaftlichen gleichzustellen. 204 Lage, 45; vgl. z. B. Religion, 239. 205 Es ist daher nicht richtig, dass Herrmann »die Sittlichkeit auf den Willen zur Wahrheit reduziert«, wie MAHLMANN, Philosophie, 104, vgl. 101f schreibt. 206 Lage, 46f. 207 Wirklichkeit, 298–307. 208 Wirklichkeit, 308. Ähnlich negativ beschreibt Ebeling das Leben ohne Gott, vgl. z. B. EBELING, Wesen, 175f; WuG IV, 21; Dogmatik I, 97–104. 108.

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3. Kapitel: Wilhelm Herrmann

führt diese »Vereinigung von Gerechtigkeit und Güte« den Menschen »zu einer neuen Existenz«. In solchen Momenten kann der Mensch erkennen, dass ein Leben in Abhängigkeit von den Dingen keine Wahrheit hat und nur die »reine Hingabe an Eines«, nämlich »an die persönliche Kraft der Gerechtigkeit und Güte« das Leben wahr machen kann.209 Allerdings betont Herrmann, dass diese Erfahrungen nicht schon »für sich« Offenbarungen Gottes sind. Sie geben dem Menschen zunächst eine »Anschauung« davon, was er sucht.210 Er muss die Erfahrung der geistigen Macht von ihren »Trägern« ablösen, deren menschliche Schwäche er schnell erkennt. Die Erfahrung, die ihn zu innerer Hingabe und zu unbedingtem Vertrauen nötigte, muss er auf die hinter den konkreten zwischenmenschlichen Erfahrungen stehenden geistigen Macht übertragen. Und diese Macht wird dann zum »Herrn über unsere Seele« und im zweiten Schritt zum Herrn über die gesamte Wirklichkeit. In der freien und völligen Hingabe erlebt der Mensch die Macht des Gottes, der zugleich »Herr über die gesamte Wirklichkeit« ist. Deshalb findet der Mensch in dieser Erfahrung in der ihm bisher fremd und feindlich gegenüber stehenden Welt eine »Heimat«.211 Solche Erfahrungen, die in ihren zwischenmenschlichen und alltäglichen Bezügen auf die dahinter stehende Macht transparent werden und die dem Menschen ein Leben in Wahrheit schenken, nennt Herrmann »Offenbarungen«.212 Die innere Zerrissenheit, die der Mensch zwischen faktischer Gebundenheit an weltliche Dinge und Forderung des sittlichen Denkens erlebt, löst sich durch die Hingabe an Gott, dem sich der Mensch aus freiem Willen und mit seiner ganzen Existenz unterwirft. Die unausweichliche Nötigung zur »Abhängigkeit von einem Wirklichen, in das wir uns einordnen müssen«, findet weder in Dingen der Welt noch in der Sittlichkeit, sondern in Gott ihren wahren Bezugspunkt.213 Das selbständige Leben des Menschen wird wahr, weil der Mensch nun Gott als den »Grund seiner inneren Lebendigkeit« und wahren Inhalt seiner Alltagserfahrungen erkennt.214 Dieser Gedankengang ist Herrmanns Fassung der Rechtfertigungslehre Luthers, die er mithilfe von Schleiermacher für seine Zeit 209

Wirklichkeit, 309; vgl. Lage, 59, Frage, 143f; Ethik, 94. Lage, 59f. 211 Wirklichkeit, 310f; vgl. Lage, 62: »Der Moment, der in uns allen Widerstand bricht, öffnet uns auch die Sinne für den geheimnisvollen Gehalt der Welt.« In einem ähnlichen Sinn spricht Ebeling von Gott als dem »Geheimnis der Wirklichkeit«, weil erst die Abhängigkeit von ihm die die Lebensproblematik des Menschen löst, z. B. WuG II [19], 419; [22], 201. 207; Dogmatik I, 117f. 187 212 Ethik, 94. Herrmann beruft sich für diese indirekte Beschreibung der Offenbarung auf Luther, der in seiner Auslegung des ersten Gebots das »Offenbarwerden Gottes« ebenfalls nicht an sich, sondern »nur an seiner Wirkung, nämlich an der Befreiung zu reinem Vertrauen« deutlich mache; Lage, 60f. 213 Lage, 50 214 Ethik, 93. 210

V. Der Weg zur Religion

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formuliert.215 Dazu gehört dann, dass Herrmann die Wende der existentiellen Not nicht der Aktivität des Menschen zuordnet, sondern sie als ein Geschenk Gottes betrachtet. Die existentielle Not lässt uns Gott »von ganzem Herzen« suchen, aber »weiter kommen wir dann nur, wenn Gott sich tatsächlich von uns finden läßt«.216 Herrmann löst die sittliche Not des Menschen also dadurch, dass an die Stelle des abstrakt und allgemein gedachten Sittengesetzes die Begegnung mit Gott im persönlichen alltäglichen Leben tritt. Während in der Religionsschrift der Glaube eine Aporie löst, damit die Sittlichkeit in einem konkreten Menschenleben an ihr Ziel kommt,217 dient die Sittlichkeit im Spätwerk im Wesentlichen der Aufdeckung der Notsituation, die durch die Begegnung mit der Wirklichkeit Gottes gelöst wird. Zwar findet sich in Herrmanns Ausführung noch die Identifikation von dem »in der sittlichen Forderung sich aussprechenden Willen« mit der Güte Gottes, die der Mensch in seinem religiösen Erlebnis erfährt.218 Aber im Vordergrund steht doch das Vertrauenserlebnis des Glaubens, das den Menschen zu einem Leben in Wahrheit bringt.219 Die »Wende«, also die Überwindung von Existenzbedingungen, die dem Menschen in der Welt entgegenstehen, wird bei Herrmann zu einer Grundstruktur, wie Glaube und Weltwirklichkeit miteinander verbunden sind – nämlich über die Erfahrung. Dies ist die Form, in der der Ansatz bei der Sittlichkeit in der Religionsschrift statt bei dem auf die Vernunft ausgerichteten Welterkennen der Metaphysik nun fortgeführt wird. Die Offenbarung ist nicht, wie in der theologischen Anknüpfung an die Metaphysik impliziert, die übernatürliche, der Vernunft nicht anders erreichbare Ergänzung und Weiterführung der Weltwirklichkeit, sondern der erlösende Gegensatz zu der als feindlich erlebten Welt. Wichtig dabei ist, dass der Gegensatz zwischen beiden nicht dazu führt, sie überhaupt nicht miteinander ins Verhältnis zu setzen. Vielmehr ist die zu überwindende Weltwirklichkeit der hermeneutische Hintergrund, auf dem verstanden werden kann, was Glaube überhaupt meint. In diesem Sinne findet 215 Vgl. Frage, 139 und unser Glaube, 252, wo Herrmann sich explizit auf Luthers Auslegung des ersten Gebots im Großen Katechismus bezieht, sowie Ethik, 94, wo er »Luther und Schleiermacher« als seine Quellen nennt. 216 Lage, 49; vgl. Frage, 137; Ethik, 94. 217 S. o. S. 98. 218 Frage, 142. 219 Die Wende erhält damit eine wesentlich individualistischere Fassung als in der Religionsschrift. Während die frühen Schriften das Ziel der Religion noch mit dem Begriff des höchsten Gutes als Zusammenführung von Menschen zu einer Gemeinschaft der ethischen Weltberrschung, religiös formuliert zum Reich Gottes, beschreiben, stellen die späten Schriften die Fähigkeit zur Weltergebenheit durch die innersubjektive Überwindung der Welt als Ergebnis der Wende dar. Der an Ritschls Theologie anknüpfende Begriff vom »Gottesreich« in den frühen Schriften wird dabei ersetzt durch das ethisch freie und verantwortliche Handeln der autonomen Persönlichkeit. Vgl. BOSCH, 72f.

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3. Kapitel: Wilhelm Herrmann

sich diese Grundstruktur, in der Glaube und Weltwirklichkeit als Gegensätze zueinander in Beziehung gesetzt werden können, später ebenfalls bei Bultmann, der eine Anknüpfung im Widerspruch sieht, und bei Ebeling, der den Glauben durch die Erkenntnis der Wirklichkeit als »Gesetz« verifizieren will.220 3.

Herrmanns Glaubensbegriff

Herrmanns »Weg zur Religion« stellt nicht einfach nur die dogmatische Beschreibung des Zugangs zum Glauben dar, sondern ist mit einem Glaubensbegriff verbunden, der auch andere Themen der Dogmatik in einem anderen Licht erscheinen lässt. Das betrifft unter anderem die Bedeutung der heiligen Schrift und die Gotteserkenntnis. Der Glaubensbegriff Herrmanns und seine Konsequenzen für diese Themenbereiche sollen nun aufgezeigt werden, da auch sie für Bultmann und Ebeling prägend sind. Wichtig für Herrmann ist die enge Bindung seines Ansatzes an die alltäglichen Erfahrungen des Menschen. Er betont immer wieder, dass der Weg zur Religion »durch die einfache Wahrhaftigkeit im Alltäglichen« führt. Sie ist die »Wirklichkeit, an der sich die Religion entzündet«.221 Herrmann bezeichnet deshalb die Ereignisse des Alltags als »die irdische Hülle des Göttlichen«, das »immer wieder durch das vernehmlich werden will, das aus den Tiefen der Welt an uns herandringt«.222 Diese enge Verzahnung von Glauben und Leben ist der Grund, warum Herrmann seinen Religionsbegriff gegenüber Orthodoxie und Rationalismus absetzt. Er will Religion nicht verstehen als »ein System von Lehren, dessen gedanklicher Gehalt zu ermitteln wäre«. Vielmehr beschreibt er das Wesen des Glaubens als gelebtes Vertrauen. Religion ist für Herrmann ein »in tiefem Ernst frohes Menschenleben, das durch Erinnerungen an eigene Erlebnisse über alle gegenwärtige Bedrängnis hinweggetragen wird«.223 Dabei weitet Herrmann allerdings seinen Glaubensbegriff sehr aus. Kriterium für wahre Religion ist für ihn die reine innere »Hingabe an Eines«. So wird für ihn auch »sittlicher Idealismus«, die »Mystik« oder auch eine nicht näher benennbare Hingabe zur Religion.224 220

S. o. 155 (zu Bultmann) sowie 249–251 (Ebeling). Lage, 48; vgl. Ethik, 94. 222 Wirklichkeit, 315f; vgl. Offenbarung, 165. Ähnlich bezeichnet Ebeling die Lebenswirklichkeit des Menschen als »Material des Glaubens«: »Das ist das Wesen des Glaubens, daß er selbst und allein die Welt bewältigt, daß er an der Welt sein Material, seinen Gegenstand, seinen Widerstand, seine Konkretion und damit seine Wirklichkeit hat«, EBELING, Wesen, 208; vgl. WuG I [6], 369 – interessanterweise unter Berufung auf Luther – sowie Dogmatik I, 198f u. ö. 223 Ethik, 93f; vgl. Offenbarung, 162. 164; Wirklichkeit, 314. Vgl. Ebelings Verständnis des Glaubens als »Grundakt der Existenz«, WuG I [3], 252; vgl. 246f; Dogmatik I, 106f u. ö. 224 Lage, 61. 221

V. Der Weg zur Religion

117

Herrmann versteht die biblische Überlieferung dabei als eine »unschätzbare Hilfe« zum Glauben, indem sie uns Menschen nahe bringt, deren Leben durch Gottes Offenbarung verwandelt wurde.225 Sie darf dagegen keinesfalls als Glaubensgesetz aufgefasst werden: »Es muss unverhüllt gesagt werden, daß die Überlieferung nicht geglaubt werden soll.«226 Die Aufgabe einer evangelischen Dogmatik besteht darin, das »Leben des Glaubens« darzustellen. Erst unter dieser Vorgabe ist die Dogmatik auch Anleitung zum rechten Verständnis der heiligen Schrift: »Sie soll den Glauben darstellen, aber so, wie die jetzt lebende Gemeinde ihn in der heiligen Schrift sich aussprechen sieht.« Das Leben des Glaubens versteht Herrmann als den Prozess, in dem der Glaube entsteht und in dem er sich unter der Perspektive der Offenbarung Gottes auf die Alltagswirklichkeit einlässt. Das ganze Leben wird damit bei Herrmann zu einem Prozess der Gotteserkenntnis: In dem ganzen Verlauf seines Lebens ist dieser Glaube Gotteserkenntnis . . . Die Dogmatik handelt daher von Gott nicht in einem einzelnen Artikel de deo, sondern überall. Sie entwickelt . . . einfach die Gewißheit von Gott, in der ein Mensch die Welt überwindet.227

Aus diesen Gedanken wird deutlich, dass Herrmann Gott nicht ohne den Menschen denken kann. Der Mensch kann sich Gott »nicht gegenüberstellen«, d. h. ihn wie andere Erkenntnisobjekte unter völliger Loslösung von sich selbst zu betrachten. Bei dem wissenschaftlichen Erkennen der Dinge können »wir uns vergessen«. Aus dem unbegrenzten Wirkungsbereich der Wirklichkeit Gottes jedoch kann sich der Mensch nicht ausnehmen. Deshalb gilt für Gott: »Wir können nicht an ihn denken, ohne zugleich an uns zu denken.«228 Unter dieser Perspektive setzt Herrmann aber der Gotteserkenntnis des Menschen auch Grenzen. Wie Kant die menschliche Erkenntnis auf den Bereich des durch den Menschen Erfahrbaren beschränkt, so bindet auch Herrmann die Erkenntnis Gottes an das, was der Mensch von Gott an sich selbst erfährt: »Von Gott können wir nur sagen, was er an uns tut«. Er ist uns »nur in seinem Wirken auf uns« erkennbar. Alles andere an Gott, was nicht mit dem Menschen zu tun hat, muss unserer Erkenntnis verborgen bleiben. Das gilt für das Wesen Gottes, also Gott wie er »für sich selbst« ist.229 225

Offenbarung, 164f. Lage, 85. Schon in der Religionsschrift war die Anerkennung der Wunderberichte des Lebens Jesu für Herrmann nicht die »Bedingung für die Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinde«; Religion, 388. 227 Lage, 85f. Diese Definition der Dogmatik findet sich auch bei EBELING, Wesen, 92; Dogmatik I, 158, allerdings beruft sich Ebeling auf Luther, vgl. Luther, 286. 228 Offenbarung, 151. 229 Wirklichkeit, 313f. Vgl. den Rückgriff auf diese Stelle bei BULTMANN, GuV I, 36 und EBELING, WuG II [21], 345. Der Gedanke, dass Gott nur aus seinem Handeln am Menschen erkennbar ist, leitet Herrmann schon früh von Luther her, vgl. Verkehr 1 , 73. Auch Ebeling 226

118 4.

3. Kapitel: Wilhelm Herrmann

Die bedingte Allgemeingültigkeit

Seit seinen frühen Schriften bekämpft Herrmann die Auffassung, dass die Metaphysik die Grundlage dafür liefern kann, den Glauben in seiner Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit darzustellen. Das bedeutet aber nicht, wie wir gesehen haben, dass Herrmann die Frage nach der Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit ablehnt. Vielmehr beschäftigt ihn bis in sein Spätwerk die Frage, wie der jedem Menschen mögliche Zugang zum Glauben und seine allgemeine Verständlichkeit auf eine andere, dem Glauben angemessene Weise aufgefasst werden können. Im Spätwerk findet Herrmann in seinem »Weg zur Religion« diese Möglichkeit: »Der Weg zum Glauben ist allgemeingültig, denn er liegt für jeden Menschen in der Wahrhaftigkeit des eigenen inneren Lebens.«230 Die Frage nach Wahrhaftigkeit in Bezug auf das eigene innere Leben ist oben bereits als eine Frage des sittlichen Denkens sichtbar geworden. Damit setzt Herrmann der Allgemeingültigkeit eine Bedingung, wie sie schon in der Religionsschrift begegnet. Auch wenn Herrmann den Anspruch hat, an ein Moment im Menschen anzuknüpfen, das »allgemein verbreitet« ist und dessen Beachtung deshalb von allen Menschen gefordert werden kann,231 trifft doch nur den sittlichen denkenden Menschen die Forderung nach Wahrhaftigkeit tatsächlich. Prinzipiell kann der Mensch dieser Forderung auch ausweichen. Herrmann fasst diese Möglichkeit im Begriff der »Zerstreuung« zusammen. Der Mensch kann sich »zerstreuen in Arbeit und Genuß« und sich dabei von der Frage nach sich selbst ablenken. Der Preis dieser Ablenkung besteht allerdings in einer Entfremdung von sich selbst. Der Mensch verliert sich selbst, und weil er seiner Lebensfrage als Zugang zum Glauben ausweicht, geht er auch »für Gott verloren«. Herrmann bezeichnet deshalb die Zerstreuung als die »eigentliche Gottlosigkeit«.232 Für alle mit sich selbst ehrlichen Menschen, denen die »Würde eines selbständigen Wesens« nicht gleichgültig ist, ist die Frage nach Wahrhaftigkeit notwendig. Und weil der Weg zur Religion die einzig mögliche Antwort auf diese Frage ist, führt sie direkt auf den Weg zur Religion. Es ist dem nach seiner Wahrhaftigkeit fragenden Menschen somit »eine sittliche Pflicht für sich selbst die religiöse Frage aufzuwerfen«.233 Wie in der Religionsschrift kann Herrmann also nur dem sittlich denkenden Menschen die Allgemeingültigkeit des Glaubens aufweisen. Auch wenn Herrmann mit der Wahrheitsfrage den Begriff der Sittlichkeit sehr weit fasst, gilt die lehnt unter Berufung auf Luther die Behandlung des Wesens Gottes unter Absehung von seinem Wirken ab, z. B. WuG II [16], 283–286; Dogmatik I, 216–224. 230 Lage, 51. 231 Frage, 130. 232 Lage, 47f, vgl. Frage, 133. 233 Frage, 142, vgl. Lage, 47; Ethik, 93.

VI. Herrmann und Luther

119

Allgemeingültigkeit des Glaubens nur bedingt und erfasst bestimmte Menschen nicht. Wie düster Herrmann allerdings deren Schicksal sieht, haben wir oben bereits gesehen. Den Grund für die Ablehnung des Glaubens kann Herrmann einzig in einer wenn auch ungewollten Selbstnegation des Menschen sehen. 5.

Zusammenfassung

Die Metaphysik begegnet als eigenes Thema nicht mehr in den Spätschriften. Das, was Herrmann mit ihr in den Frühschriften abgelehnt hat, geht nun in seiner Kritik am Monismus auf. Auch hier findet sich das hermeneutische Argument, dass religiöse Vorstellungen nicht unter der Perspektive des Welterkennens zu erfassen sind. Dieser Gedanke wird nun dahingehend ausgeweitet, dass nicht die Glaubensvorstellungen in ihrer Allgemeingültigkeit nachweisbar sind, sondern nur noch der »Weg zur Religion«, also die anthropologischen Voraussetzungen von Religiosität überhaupt. Von hier aus statt von einem sei es metaphysisch oder empirisch gewonnenen Weltbegriff aus will Herrmann nun die Plausibilität des Glaubens zeigen. Die Allgemeingültigkeit, die Herrmann hier anstrebt, ist jedoch mit einer wichtigen Einschränkung verbunden. Das alte Anliegen der theologischen Verwendung der Metaphysik ist mit der Modifikation aufgenommen, dass der Aufweis der Plausibilität nicht mehr zwingend und unbedingt erfolgen kann. Die Bindung an die Erfahrung, die die Faktoren für den Weg zum Glauben als etwas universal Menschliches zeigen lässt, stellt gleichzeitig eine Grenze dar. Wer sich dieser Erfahrung verweigert, kann diese Plausibilität nicht sehen. Dies ist die Kehrseite der Abkoppelung des Glaubens von der objektiv nachweisbaren Weltwirklichkeit. Allerdings zeigt Herrmann auch deutlich, dass diese Loslösung zwingend notwendig ist, wenn das Wesen des Glaubens nicht völlig missverstanden werden soll. Damit liegt die bedingte Möglichkeit, die Allgemeingültigkeit des Glaubens zu zeigen, nicht im Verfahren, sondern im Wesen des Glaubens selbst begründet. Diese bewusst in Kauf genommene Einschränkung, mit dem das Anliegen hinter der theologischen Verwendung der Metaphysik aufgenommen ist, bestimmt von Herrmann her dann auch die Vermittlungsbemühungen bei Bultmann und Ebeling.

VI.

Herrmann und Luther

Die Verbindung von Herrmanns Ablehnung der Metaphysik mit Luther und der reformatorischen Theologie ist, ähnlich wie bei Ritschl, selten explizit thematisiert, dennoch stets implizit vorhanden. Das Bewusstsein, mit der eigenen Arbeit das reformatorische Grundanliegen umzusetzen, ist ein Erbe Ritschls, das man als ein wichtiges Wesensmerkmal der gesamten Ritschl-Schule bezeich-

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3. Kapitel: Wilhelm Herrmann

nen kann.234 In diesem Sinne ist auch die Kritik an der Metaphysik in dieses Bewusstsein der Treue gegenüber der Reformation eingeschlossen. Herrmanns Auseinandersetzung mit der reformatorischen Theologie, besonders mit Luther, steht von Anfang an wie bei Ritschl235 unter der Perspektive, dass der richtige und wegweisende Neuansatz der Reformatoren sich in der Durchführung ihrer Theologie nicht durchgesetzt hat. Später bringt Herrmann diese Perspektive prägnant in der Unterscheidung zwischen dem »Christentum Luthers« und der »Theologie Luthers« zum Ausdruck. Mit »Christentum Luthers« bezeichnet Herrmann Ausführungen und Gedanken, in denen sich Luthers Erfahrung der Erlösung und des daraus hervorgehenden neuen Glaubenslebens ausspricht. In solchen Gedanken findet Herrmann bei Luther »das Verständnis des Evangeliums, das ihn zum evangelischen Christen und zum Reformator machte«. Luthers Theologie dagegen ist nach Herrmann weiterhin von »katholischen Voraussetzungen aus entworfen« und läuft deshalb der reformatorischen Grundeinsicht oft zuwider.236 Für seinen eigenen Ansatz orientiert sich Herrmann deshalb an der reformatorischen Grundeinsicht und grenzt sich kritisch von den Gedanken der Reformatoren ab, die aus seiner Sicht der Grundeinsicht widersprechen. 1.

Die Metaphysikschrift

Bereits die Metaphysikschrift setzt sich in dieser Perspektive mit der reformatorischen Theologie auseinander. Gleich zu Beginn macht Herrmann seinen Anschluss an die reformatorische Theologie dadurch deutlich, dass er an Melanchthons »mustergültiger« Unterscheidung von Theologie und Metaphysik anknüpft. Ihm ist Melanchthons Gedanke wichtig, dass der soteriologische Gottesbegriff des Christentums allein durch die Offenbarung vermittelt ist und damit für die Metaphysik unerreichbar bleibt. Mit der daraus gezogenen Folgerung der grundsätzlichen Verschiedenheit von metaphysischem und theologischem Gottesbegriff versieht Herrmann die folgenden Ausführungen über die Unabhängigkeit der Theologie von der Metaphysik mit einer reformatorischen Legitimation.237 Der Unterscheidung von Metaphysik und Theologie liegt eine wichtige konzeptionelle Entscheidung zu Grunde, bei der sich Herrmann in Übereinstimmung mit der reformatorischen Theologie sieht. Die religiöse Erfahrung, die den Angelpunkt der Argumentation in der Metaphysikschrift bildet, findet Herrmann auch als Grundlage der reformatorischen Theologie wieder. Luther 234 Neben der oben S. 54 zitierten Bemerkung Kaftans vgl. auch Herrmanns Aussage, Ritschl habe »uns« Schülern zum »echten Luthertum verholfen«; Albrecht Ritschl, 405. 235 RITSCHL, RuV3 I, 143; Festrede, 17f. 27f; TuM, 60–63. 236 Verkehr 7 , 39f; vgl. Lage, 8. 12. 237 Metaphysik, 4; vgl. 13.

VI. Herrmann und Luther

121

und die anderen Reformatoren orientieren sich an der Heilsgewissheit, die für Herrmann das Kennzeichen der evangelischen Theologie und die »wertvollste Errungenschaft der Reformation« bildet.238 Herrmann kritisiert aber, dass die Reformatoren diesen richtigen Ansatz in der »Folgezeit« nicht genutzt haben, um »die Theorie in bessere Bahnen zu lenken«.239 Sie haben weiterhin ein »falsches wissenschaftliches Verfahren« angewandt, nämlich die Einbeziehung der Metaphysik zur Durchführung der Theologie. Der Versuch, religiöse Inhalte mithilfe von metaphysischen Allgemeinbegriffen zu interpretieren, hat ihnen das richtige Verständnis verstellt.240 Die Reformatoren haben nach Herrmann die Erfahrung des Glaubenden, dass seine Erlösung und die daraus folgenden guten Taten sich der Gnade Gottes verdanken, mit einem allgemeinen Begriff von Freiheit in Beziehung gesetzt. In dieser sich formell widersprechenden Zuordnung musste aus der im Glauben erfahrenen Abhängigkeit von Gott, um sie vor der Einschränkung durch den Allgemeinbegriff der Freiheit zu schützen, der Begriff der »absoluten Determination alles kreatürlichen Seins« werden. Herrmann kritisiert, dass die reformatorische Theologie damit den Begriff der menschlichen Freiheit ausblendet, »während es doch darauf ankam, sein tatsächliches Vorhandensein zu erklären«.241 Dadurch haben die Reformatoren das höchste Gut einseitig als Gabe Gottes und nicht auch »als Produkt der Freiheit als ethische Größe« verstanden. Aber gerade auf der Erfahrung, durch Gottes Erlösungstat zum sittlichen Handeln befreit zu sein, beruht für Herrmann die Heilsgewissheit des Glaubenden. Indem sie diesen inneren Zusammenhang übersehen haben, haben die Reformatoren »die teuer erkaufte Abgrenzung von der römischen Kirche an einem wichtigen Punkte wieder in Frage gestellt«.242 Das für Herrmann richtige Motiv der Reformatoren ist durch Anwendung ungeeigneter Begriffe korrumpiert. Auch in der Christologie konstatiert Herrmann eine Spannung zwischen dem reformatorischen Neuansatz und der »Befangenheit in der dogmatischen Tradition«. Das Festhalten an den alten metaphysischen Formeln der Zweinaturenlehre habe es Luther und der nachfolgenden lutherischen Lehrbildung verwehrt, »die Gottheit Christi in einem deutlich erkennbaren Zusammenhange mit seiner geschichtlichen Erscheinung zu sehen«. Sie haben in der Lehre von der unio naturarum und von der communicatio idiomatum immerhin die Tatsache behauptet, dass der rechtfertigende Glaube in Christus Gott ergreift. Aber als Nachweis blieb ihnen nur die Möglichkeit, den besonderen Fall einer Vereinigung der 238

Metaphysik, 62. Metaphysik, 29. 240 Metaphysik, 27f. 241 Metaphysik, 26f. 242 Metaphysik, 29. Mit dem Anschluss an Ritschls Ausführungen (Metaphysik, 49) übernimmt Herrmann auch dessen Kritik an der reformatorischen Behandlung des Themas, vgl. RITSCHL, RuV1 III, 22f. 254f. 239

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3. Kapitel: Wilhelm Herrmann

Naturen durch den Beweis der allgemeinen Möglichkeit zu erläutern. Damit konnten sie jedoch gerade die Besonderheit Christi nicht erfassen.243 Trotzdem erkennt Herrmann in der reformatorischen Christologie das Anliegen, den Zusammenhang zwischen der Person Christi und ihrer Wirkung, nämlich der dem Glaubenden erfahrbaren Gewissheit des Heils, aufzuweisen. So hält die Lehre von der communicatio idiomatum die Beziehung zum irdischen Christus und damit die auch durch die metaphysisch korrumpierte Christologie nicht zu zerstörende »Verbindung mit der lebendigen Tatsache evangelischer Frömmigkeit« aufrecht.244 Herrmann gewinnt also das positive Verständnis seiner beiden Hauptthemen in der Metaphysikschrift vor allem durch die Abgrenzung von der konkreten Durchführung der reformatorischen Theologie, in der er das von ihm als eigentlich richtig anerkannte Grundmotiv durch die falsche Methode allenfalls als verschüttet wirksam erkennen kann. Es ist wichtig zu sehen, dass Herrmann die Verbindung seines Ansatzes mit der Heilsgewissheit der reformatorischen Theologie erst im hinteren Teil seiner Schrift entfaltet. Zunächst verläuft die positive Entwicklung seiner Gedanken, nach dem Einsatz mit Melanchthon, ohne das Gespräch mit der reformatorischen Theologie. Hier begegnet vor allem die Aufnahme von Gedanken Ritschls und daneben auch Kants. Damit verbunden ist jedoch eine implizite Verbindung zur Reformation. Ritschl ist, wie oben dargestellt, bereits in der 1. Auflage von Rechtfertigung und Versöhnung von dem Bewusstsein geleitet, dass sein theologischer Ansatz dem reformatorischen Anliegen entspricht. Die Anknüpfung an Ritschl bedeutet damit für Herrmann, dass seine eigenen Gedanken, insofern sie sich Ritschl verdanken, ebenfalls konform mit dem reformatorischen Neueinsatz sind, auch wenn diese Ansicht nicht in allen Teilen der Metaphysikschrift offen ausgesprochen ist. Ebenso zeigt der Anspruch Herrmanns, mit seinem Ansatz an der religiösen Erfahrung das eigentliche Grundanliegen der Reformation zur Geltung zu bringen und damit den metaphysischen Ansatz zu vermeiden, dass er seine Ablehnung der Metaphysik in der Theologie in Übereinstimmung mit der Reformation sieht. 2.

Die Religionsschrift

In der Religionsschrift knüpft Herrmann an die in der Metaphysikschrift erarbeiteten Bezüge zur reformatorischen Theologie an. Auch hier stellt er wieder den richtigen Grundansatz der reformatorischen Theologie der fehlenden Verhältnisbestimmung von Religion und Sittlichkeit »zur Darstellung und Begründung« der Religion gegenüber.245

243 244 245

Metaphysik, 52f. Metaphysik, 54f. Religion, 3f.

VI. Herrmann und Luther

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Weniger kritisch als in der Metaphysikschrift spricht er von der reformatorischen Christologie, wenn er sich in der Auseinandersetzung mit der Theologie von Richard Adelbert Lipsius auf sie beruft. Gerade das das geschichtliche Verständnis Jesu sieht er hier als die entscheidende Neuerung der Reformation gegenüber dem Mittelalter. Er begründet dies damit, dass die Reformatoren den Eindruck des Glaubenden von der Person Christi als »Grund unseres bewußten Vertrauens auf Gott« und die »uns verständliche Kundgebung Gottes an uns« verstehen. Das reformatorische Verständnis Christi als »Grund« der persönlichen »Selbstgewißheit« lässt die Glaubenden ihre »Abhängigkeit von dem geschichtlichen Heilsgrunde . . . tiefer und reicher . . . erfahren« als es durch den »unheimlichen Magismus der Sacramente« in der »katholische[n] Kirche« möglich ist.246 Für Herrmann betrifft diese neue Sicht nun nicht nur ein einzelnes Thema der Theologie, sondern fordert eine ganz andere Konzeption. »Das christliche Volk darüber zu unterweisen, wie es in dem Menschen Jesus den allmächtigen Gott erkennen könne«, darin sieht Herrmann die durch das reformatorische Verständnis der Erlösung in der Rechtfertigungslehre gestellte Aufgabe der evangelischen Theologie, die bisher nur »unvollkommen« gelöst wurde. In Anknüpfung an seine Ausführungen in der Metaphysikschrift erkennt Herrmann in der Lehre von der communicatio idiomatum trotz der falschen Methode das Bewusstsein für die Notwendigkeit dieser Aufgabe.247 Neu gegenüber der Metaphysikschrift ist Herrmanns Anliegen, den »Zusammenhang Kants mit der Reformation« zu erweisen. Dieser Zusammenhang besteht für ihn darin, dass erst Kants Unterscheidung von naturwissenschaftlichem und sittlichem Erkennen der Theologie endlich die Freiheit gegeben hat, »nach der sie in der Reformationszeit hinausgeblickt hatte«.248 Kants Verbindung des Glaubens »mit dem Bewußtsein persönlicher Selbständigkeit und Freiheit« bedeutet den »kraftvollen Durchbruch« der Selbständigkeit des Glaubens, die zwar in der reformatorischen Heilsgewissheit aufschien, aber in der Folgezeit in der evangelischen Theologie nur unterdrückt vorhanden war.249 Aufs Ganze gesehen, halten sich die Verweise auf die reformatorische Theologie in der Religionsschrift jedoch in Grenzen.250 Wie in der Metaphysikschrift gewinnt Herrmann seine positiven Aussagen vor allem durch Anknüpfung an die Theologie Ritschls. Allerdings betreffen seine Bezüge zur Reformati246

Religion, 376. Religion, 434f. 248 Religion, 16f. 249 Religion, 300. Diese Auffassung von der selbständigen Religion, die in der Reformation erwacht ist, ist auch in den späteren Schriften wichtig, vgl. Lage, 6f; Aufgaben, 259–262; Wirklichkeit, 290–292. 250 Luther selbst ist, wenn ich richtig sehe, nur an einer einzigen Stelle erwähnt, nämlich Religion, 215f. 247

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3. Kapitel: Wilhelm Herrmann

on zentrale Stellen. Indem er Kants Übereinstimmung mit der Reformation nachweist, legitimiert er seinen eigenen Grundansatz der Selbständigkeit des Glaubens gegenüber der Naturwissenschaft als Umsetzung des reformatorischen Grundgedankens. Und indem er die verschütteten Motive der reformatorischen Christologie freilegt, macht er deutlich, dass seine Neugestaltung der Theologie durch die reformatorische Erkenntnis nicht nur gerechtfertigt, sondern notwendig ist. Im Vergleich mit der Metaphysikschrift überwiegt hier die positive Anknüpfung an die reformatorische Theologie. Die Notwendigkeit des Neuansatzes der Theologie, der das reformatorische Grundanliegen endlich umsetzt, zeigt auch hier wieder das dahinter stehende Bewusstsein Herrmanns, dass die damit verbundene Ablehnung der Metaphysik in der Theologie dem reformatorischen Anliegen entspricht. 3.

Die Ausweitung des Bezuges im Verkehr

Die in den Frühschriften aufgezeigte Übereinstimmung seines Ansatzes mit dem Grundanliegen der reformatorischen Theologie führt Herrmann nun mit der weiteren Entfaltung seiner Theologie in seiner nächsten größeren Schrift Der Verkehr des Christen mit Gott im Anschluss an Luther dargestellt (1886) zu einer breiten Berufung auf Luther weiter.251 a)

Herrmanns Quellenbasis

Wie Ritschl sich zur Bestimmung des »Hebels der Reformation« auf den jungen, noch nicht apologetisch verzeichnenden Luther konzentriert hat,252 so begrenzt Herrmann seine Quellenbasis auf Schriften Luthers, »in welchen die positive Darstellung des Christenlebens die polemische Rücksichtnahme auf die kirchlichen Hemmnisse desselben überwiegt«. Eine solche unverstellte »Schilderung des von Gott erweckten neuen Lebens« findet Herrmann vor allem in Luthers Predigten oder sonstigen deutschen, also nicht an die akademische Theologie gewandten Schriften. Anders als die konfessionelle Theologie seiner Zeit hält Herrmann es für »bedenklich«, »bei der Verhandlung einzelner Dogmen sich auf Luther zu berufen«, denn hier sind ihm Luthers Gedanken zu uneinheit-

251 Der Verkehr weist von allen Schriften Herrmanns die meisten Bezüge zu Luther auf. Um zu erkennen, wie stark die Auseinandersetzung mit Luther tatsächlich auf die Entwicklung von Herrmanns eigener Theologie eingewirkt hat, ist es sinnvoll, die erste Auflage des Buches als das am frühesten greifbare Ergebnis dieser intensiveren Beschäftigung mit Luther zu Grunde zu legen. 252 Zu Ritschl s. o. S. 55. Wie sehr Herrmann Ritschls Lutherdeutung schätzt, wird auch daran deutlich, dass er Ritschl gegen die Kritik der Lutheraner Frank und Luthardt als den »bessere[n] Lutheraner« verteidigt; Verkehr 1 , 24 Anm. 1.

VI. Herrmann und Luther

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lich.253 Daraus dürfte sich auch erklären, warum Herrmann die akademischen lateinischen Schriften so gut wie nicht berücksichtigt.254 b)

Reformatorische Legitimation

Zu Beginn greift Herrmann auf die Religionsschrift zurück. Als Ziel dieser Schrift bezeichnet er nun die Darstellung der im Glauben selbst angelegten Gewissheit, die allein die Wahrheit des Glaubens beweisen kann. Daran anknüpfend formuliert er als »Hauptsatz« den Gedanken, »dass Gott uns durch die geschichtliche Erscheinung Christi so berührt, dass wir seiner gewiss werden«, wobei die Gewissheit aus der durch den in Christus ermöglichten Verkehr mit Gott gewonnenen »sittliche[n] Befreiung« resultiert.255 Wie wir gesehen haben, hat Herrmann seine Gedanken in der Religionsschrift nicht in Auseinandersetzung mit der reformatorischen Theologie entwickelt. Im Verkehr entfaltet er seine Haupterkenntnis noch einmal, indem er »einige Folgerungen aus diesem Hauptsatze« entwickelt,256 und verbindet sie nun mit reichen Bezügen zu Luther. Dies ist für ihn möglich, weil er seinen Grundansatz nicht nur in Übereinstimmung mit der reformatorischen Theologie sieht, sondern als bisher nicht geleistete Umsetzung der reformatorischen Erkenntnis in eine evangelische Konzeption der Theologie. Herrmann hebt durch seinen Hauptsatz einen Grundsatz heraus, der besonders den zweiten Teil der Religionsschrift bestimmt hat und den er nun ausdrücklich mit der reformatorischen Theologie untermauert. Es geht ihm darum, dass der Verkehr des Menschen mit Gott allein auf der Initiative Gottes beruht: »Gott gibt sich uns zu erkennen durch eine Thatsache, um deren willen wir an ihn glauben können«.257 Der so aktualisierte Grundsatz der Reformation gibt das Grundgerüst des Verkehrs vor: Die Hinwendung Gottes in Christus 253 Verkehr 1 , 22. Ein ähnliches Vorgehen findet sich bei Ebeling, der sich in seinen fundamentaltheologischen Überlegungen sowie in seinen Vorüberlegungen zur Gotteslehre auf Luther beruft, in der Entfaltung der Gotteslehre hingegen materiale Äußerungen Luthers zur Gotteslehre überhaupt nicht aufgreift. 254 Herrmann zitiert Luther nach der Erlanger Ausgabe (EA), soweit vorhanden nach der zweiten Auflage (1862–1885), ansonsten nach der ersten (1826–1857). Die meisten Zitate aus EA1 stammen aus den in der Abteilung Exegetische Schriften zusammengefassten Bänden (Bd. 33–52), darunter besonders oft die Bände 46, 47 und 49 bis 51, und beziehen sich fast ausschließlich auf Predigten Luthers. Aus EA2 zitiert Herrmann am häufigsten aus den als Kirchenpostille bezeichneten Bänden (Bd. 7–15), die die verschiedenen Predigtsammlungen aus den 1520er Jahren und von 1544 enthalten. Aus den ebenfalls in der Erlanger Ausgabe herausgegebenen lateinischen Schriften (insgesamt 38 Bände) zitiert Herrmann nur sehr vereinzelt die Freiheitsschrift (EA var. Bd. IV). Wenige Male beruft er sich auch auf die Bekenntnisschriften, insbesondere auf die Apologie der Augsburgischen Konfession. 255 Verkehr 1 , 30f. Vgl. Religion, 395–397. 432. 256 Verkehr 1 , 31. 257 Verkehr 1 , 26.

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3. Kapitel: Wilhelm Herrmann

zum Menschen (Kap. 1: »Der Verkehr Gottes mit uns«) ruft als Antwort unsere Hinwendung zu Gott im Gebet hervor (Kap. 2: »Unser Verkehr mit Gott«), und dieser »Verkehr« begründet das Glaubensleben des Christen (Kap. 3: »Die Gedanken des Glaubens«). Dementsprechend liegt auch den Hauptgedanken des Verkehrs die schon in der Metaphysikschrift als Kriterium wahrer evangelischer Theologie beanspruchte reformatorische Heilsgewissheit des Christen zu Grunde. Gleich auf den ersten Seiten des ersten Kapitels (21–31) fällt die häufige Verwendung der Begriffe »Gewissheit« und »gewiss« sowie der Bezug auf die »evangelischen Christen« auf. Zwar geht es Herrmann zunächst nicht direkt um die Gewissheit der Erlösung, sondern allgemeiner um die Gewissheit der »Wirklichkeit Gottes«258 , vermutlich weil den Menschen des späten 19. Jahrhunderts weniger die Frage nach dem gnädigen Gott als die Frage, ob es überhaupt einen Gott gibt, umtreibt. Da aber Herrmann den Gottesbegriff ohnehin ausschließlich soteriologisch versteht,259 sind die Begriffe »Gewissheit« und »gewiss« als Anspielung auf die reformatorische Theologie zu verstehen. In den folgenden Kapiteln des Buches entfaltet Herrmann seine zentralen Themen wie die Christologie, das Glaubensverständnis, die Auffassung von den Glaubensgedanken und von der Sittlichkeit mit breiten Bezügen zur Theologie Luthers. Da diese Themen sich als Entfaltung des »Hauptsatzes« der Religionsschrift präsentieren, wirft die ausführliche Verbindung zu Luthers Theologie ihr Licht ebenfalls auf das Anliegen der Religionsschrift. Damit versieht Herrmann die dort vorgelegte Konzeption von der religiösen Erfahrung her mit einer breiten reformatorischen Legitimation, die umgekehrt den Schluss beinhaltet, dass der Ansatz von der Metaphysik her, den Herrmann dort ja kritisiert und durch seinen Ansatz ersetzt, eben nicht dem reformatorischen Anliegen entspricht.

VII.

Zusammenfassung

Was hat nun der Blick auf Herrmanns Auseinandersetzung mit der Metaphysik im Blick auf den in dieser Arbeit untersuchten theologiegeschichtlichen Zusammenhang ertragen? Herrmann stellt die Brücke dar zwischen Ritschls Auseinandersetzung mit der Metaphysik und den Entwürfen von Bultmann und Ebeling. Während Ritschls Ausführungen sekundär aus der Verteidigung seines ummetaphysischen Ansatzes hervorgehen, ist die Theologie von Bultmann und Ebeling von vorne herein von einem die Metaphysik beziehungsweise die »natürliche Theologie« zwar ablehnenden, aber ihr Anliegen aufnehmenden alternativen Zugang her 258 259

Verkehr 1 , 27. Verkehr 1 , 23; vgl. Religion, 365.

VII. Zusammenfassung

127

entworfen. Herrmanns Bedeutung in diesem Zusammenhang liegt darin, dass er die gesamte Auseinandersetzung mit der Metaphysik ausführlicher, grundsätzlicher und systematischer führt und dass er den Ansatz der Theologie bei der Sittlichkeit zu einem existentiellen Zugang ausweitet, der die Vermittlung der theologischen Aussagen mit dem allgemeinen Verstehen anstelle der Metaphysik übernimmt. Herrmanns Metaphysikbegriff ist gegenüber Ritschl umfassender. Metaphysik ist nun nicht nur und nicht in erster Linie Erkenntnistheorie, sondern bedeutet die theoretische Erklärung der Welt als Ganzer von Gott als ihrem letzten Grund her. Konnte Ritschl die Metaphysik noch als den Gebieten der Ethik und Physik neutral zu Grunde liegend betrachten und damit sowohl auf Gegenstände wie auch auf geistige Phänomene anwenden, so weist Herrmann die Metaphysik dem Bereich der »mechanischen« Welterklärung, also dem kausalen Denken zu und trennt sie damit von dem Bereich des inneren Lebens. Herrmann schließt also nicht wie Ritschl eine falsche Metaphysik sondern die Metaphysik überhaupt von der Erfassung geistiger Phänomene aus. Daraus ergeben sich zwei wichtige Konsequenzen, die sich später ähnlich auch bei Ebeling wiederfinden. Zum einen muss der metaphysische Wirklichkeitsbegriff, wenn er absolut gesetzt wird, als unzulässige Reduktion betrachtet werden. Zum anderen ist die Metaphysik überhaupt zum Verständnis der Religion ungeeignet. In den Spätschriften gehen diese Gedanken im Begriff des »Monismus« auf. Herrmann verweist dabei auf den Kausalzusammenhang, an den das empirische Erkennen gebunden ist und durch den es nicht in der Lage ist, die Überweltlichkeit Gottes und des Glaubens zu erreichen. Dieses Argument führt Ebeling später gegen die Metaphysik an. Die eindeutige Zuweisung der Metaphysik zum Welterkennen lässt außerdem den Gegensatz zur »Geschichte« anklingen, die Herrmann, ähnlich wie später Bultmann und Ebeling, als einen zeitübergreifenden Zusammenhang des sittlichen Lebens versteht. Über Ritschl hinaus geht Herrmann auch bei der Frage nach der Funktion der Metaphysik in der Theologie, wodurch er den hermeneutischen Aspekt der Metaphysikkritik ausweitet. Im Anschluss an Ritschl setzt er sich zunächst mit dem metaphysischen Verständnis einzelner Themen und dessen fehlenden Bezug zur religiösen Erfahrung auseinander. Darüber hinaus verbindet er aber in der Religionsschrift mit der Metaphysik auch das Bedürfnis, die Allgemeingültigkeit und Gewissheit der Religion nachzuweisen, also ein Verständnis für die Religion als ganzer zu vermitteln. Herrmann will diesem Anliegen gerecht werden, aber ohne auf die Metaphysik zurückzugreifen. Stattdessen setzt er bei der Erfahrung des Menschen als geistigem Wesen an, das gleichzeitig der Natur unterworfen ist. Daraus erklärt er nicht nur das Motiv der Metaphysik, die die widersprüchliche Wirklichkeitserfahrung durch den Entwurf eines einheitlichen Weltbildes vergeblich zu überwinden versucht.

128

3. Kapitel: Wilhelm Herrmann

Diese Wirklichkeitserfahrung wird nun auch zu einem hermeneutischen Hintergrund, von dem her Herrmann die Plausibilität der Religion zeigen will. Anders als die Metaphysik, die für den »Abschluss« der Welterkenntnis auf die naturwissenschaftliche Analyse der Kausalzusammenhänge zurückgreift, kann die Religion die Wirklichkeit von Gott her teleologisch als Mittel für den Menschen verständlich machen und damit einen einheitlichen Blick auf die Wirklichkeit bieten. Diese durch die Ausrichtung auf den Endzweck gewonnene Welteinheit ist sowohl für die Weltbeherrschung des Menschen im Naturerkennen als auch für die Verwirklichung der Sittlichkeit im konkreten Menschenleben notwendig. Die Religion antwortet also auf eine problematische Wirklichkeitserfahrung, die mit dem Menschsein als solchem gegeben ist, und kann, wenn sie von daher betrachtet wird, allgemein verständlich gemacht werden. Herrmann verbindet die Religion auf diese Weise, wie im Ansatz der Theologie bei der Metaphysik intendiert, mit der Wirklichkeit der Welt, allerdings nicht durch das Erkennen, sondern durch die Erfahrung. Diesen Ansatz bei der Erfahrung wendet Herrmann auch an, wenn er die Glaubensgewissheit darstellt. Erfahrungen, die mit dem sittlichen Bewusstsein des Menschen gegeben sind, setzt er in Beziehung mit der Erfahrung der Liebe Gottes in Jesus Christus. Nicht die Übereinstimmung der Glaubensvorstellungen mit dem Welterkennen liefert dem Glaubenden die Gewissheit, sondern Erfahrungen, die sein Welterleben durchbrechen. In den Spätschriften begegnet dieser Ansatz im »Weg zur Religion«. Die Erfahrung der Not des sittlich aufrichtigen Menschen verbindet Herrmann mit allgemein menschlichen Erfahrungen, die in der Lage sind, diese Not stellenweise zu durchbrechen, und macht von ihnen her verständlich, was mit der Vorstellung Gottes gemeint ist. Diese enge Verzahnung von Glaube und menschlichen Grunderfahrungen führt auch dazu, dass Herrmann die (Orthodoxie und Rationalismus unterstellte) Auffassung des Glaubens als ein theoretisches Lehrsystem ablehnt. Bultmann und Ebeling folgen Herrmann später in diesem Bemühen, das alte Anliegen hinter der Metaphysik in der Theologie durch den Ansatz an existentiellen Grundbedingungen alternativ zu beantworten und den Glauben entsprechend als einen existentiellen Akt zu verstehen. Das Motiv der Auseinandersetzung mit der Metaphysik und später dem »Monismus« ist bei Herrmann nicht wie bei Ritschl in erster Linie die innertheologische Rechtfertigung des eigenen Ansatzes vor den Kritikern, sondern hat vor allem den Positivismus des 19. Jahrhunderts vor Augen und damit eine Rechtfertigung des Glaubens nach außen zum Anliegen. Herrmann versucht, die Religion in einem so stark wie einseitig durch die Naturwissenschaften geprägten Weltbild plausibel zu machen. Und zwar nicht, indem er die Religion im Kontext dieses Weltbildes verteidigt, sondern indem er die Gültigkeit dieses Weltbildes hinterfragt. Seine Ausführungen über die grundsätzliche mangelnde Eignung des Welterkennens für einen ganzen Bereich der Wirklichkeit

VII. Zusammenfassung

129

machen den metaphysischen oder monistischen Versuch der Welteinheit zu einer falschen Reduktion und damit zu einer Verzeichnung der Wirklichkeit. Herrmann erklärt auf diese Weise das Welterkennen nicht nur als nicht zuständig für das Verstehen der Religion, sondern entzieht der sich auf den Positivismus berufenden Religionskritik die Grundlage. Mit Herrmanns Vorgehen verbunden ist der Verzicht auf eine zwingende Beweisführung. Herrmanns Weg ist nicht objektiv im Sinne der naturwissenschaftlichen Forschung oder des theoretischen Erkennens, sondern nur subjektiv möglich über die Aufrichtigkeit der eigenen Erfahrung gegenüber. Dies schließt die Möglichkeit ein, dieser Erfahrung auch auszuweichen. Die so erreichte Plausibilität ist nur bedingt vermittelbar. Bei Herrmann erscheint dies allerdings nicht als Schaden für die Theologie, sondern als Gewinn. Dieser Weg ist der einzig angemessene, weil er dem Wesen des Glaubens entspricht. Die Übereinstimmung der Metaphysikkritik mit Luther beziehungsweise der reformatorischen Theologie ist in Herrmanns Schriften vor allem implizit vorhanden, aber doch so klar, dass sie in ihrer Wirkung auf die evangelische Theologie nicht unterschätzt werden sollte. Zentral dabei ist der Gedanke, dass das richtige reformatorische Grundanliegen der falschen Umsetzung in der reformatorischen Theologie gegenüber steht. Weil Herrmann seinen theologischen Ansatz bei der Erfahrung als Verwirklichung des eigentlichen Anliegens der Reformation betrachtet und ihn gleichzeitig als Gegensatz zu einer metaphysisch arbeitenden Theologie versteht, erscheint die Ausscheidung der Metaphysik aus der Theologie schon implizit als Übereinstimmung mit der Reformation. Dieses Bewusstsein bestimmt die Metaphysikschrift sowie die Religionsschrift und sie wird im Verkehr durch die breiten Bezüge zu Luther noch einmal verstärkt. Durch die Verbindung der Metaphysikkritik in den frühen Schriften mit dem besonders im Verkehr vorhandenen ausführlichen Bezug zu Luther dürfte Herrmann einen gewichtigen Beitrag zu der allgemeinen Meinung in der evangelischen Theologie geleistet haben, dass eine Theologie in Treue zum eigentlichen Anliegen der Reformation die Verwendung der Metaphysik in der Theologie ablehnen muss.

Kapitel 4

Rudolf Bultmann Gerhard Ebeling zählt Rudolf Bultmann zu den »Dozenten . . . , die mein Studium nachhaltig prägten«. Schon in seinem ersten Semester, im Sommersemester 1930, hörte Ebeling bei Bultmann die zweistündige Vorlesung Theologische Enzyklopädie und lernte damit gleich zu Beginn seines Studiums den von Herrmann stark geprägten Ansatz Bultmanns kennen. Außerdem belegte er verschiedene neutestamentliche Vorlesungen und Seminare bei ihm. Schließlich bewarb er sich um ein Stipendium, mit dem Emil Brunner »Bultmann-Schülern« ein Studium in Zürich ermöglichte.1 Auch wenn Ebeling sich später immer wieder in eine gewisse Distanz zu Bultmann bringt und lieber als Schüler Luthers denn als Bultmann-Schüler gesehen werden möchte,2 ist die grundlegende Prägung durch seinen Marburger Lehrer nicht zu übersehen. Im Blick auf die Frage nach der Metaphysik in der Theologie haben beide das Anliegen, die Metaphysik beziehungsweise die »natürliche Theologie« aus der Theologie herauszuhalten, ohne das für ihre theologische Verwendung verantwortliche Motiv der Vermittlung mit dem außerreligiösen Verstehen aufzugeben. Beide wollen neben der Offenbarung keine andere Quelle für den Glauben und damit auch für theologische Aussagen zulassen, aber dennoch an die Existenz des Menschen anknüpfen, um den Glauben verständlich zu machen. Bultmanns Theologie hat wiederum starke Impulse von seinem Lehrer Wilhelm Herrmann empfangen. Dies wird besonders an Bultmanns frühen Schriften deutlich. Aber auch die spätere Auseinandersetzung mit der so genannten »natürlichen Theologie« ist erkennbar von Herrmann geprägt. Dabei steht Bultmann vor allem unter dem Einfluss von Herrmanns Spätwerk. Aber gerade dadurch wirkt in seinen Gedanken die frühe Metaphysikkritik Herrmanns nach. Die Kritik Herrmanns am Monismus, die Verortung der Religion in einem vom Welterkennen unterschiedenen Bereich und ihre dennoch vorgenommene 1 EBELING, Weg, 7f. Ebeling hörte Vorlesungen, die auch für Bultmanns systematischtheologischen Ansatz bedeutend waren, und zwar im SS 1930 die vierstündige Auslegung des Galater- und Römerbriefes, über deren Auslegung bei Luther Bultmann einige Jahre zuvor gelesen hatte, sowie in folgenden Semestern den 2. Korintherbrief und schließlich das Johannesevangelium. Vgl. a. BEUTEL, 12–16, bes. 16. 2 Z. B. EBELING, Weg, 7; WuG IV, 647.

I. Religion und Wirklichkeit in den frühen Arbeiten

131

antithetische Verbindung finden sich bei dem frühen Bultmann in einem dualistischen Wirklichkeitsverständnis wieder und in der Weise, wie er Religion dazu ins Verhältnis setzt. Der dabei entwickelte Ansatz bildet später die Grundlage für seine eigenen Auffassung von »natürlicher Theologie«. Um diese ideengeschichtliche Entwicklung nachvollziehen zu können, soll nun zuerst Bultmanns Dualismus in den frühen Schriften dargestellt werden und danach das Thema der »natürlichen Theologie«, das seit dem Ende der 1920er Jahre an Bedeutung gewinnt.3

I.

Religion und Wirklichkeit in den frühen Arbeiten

Rudolf Bultmann kam 1905 für die beiden letzten Semester seines Studiums nach Marburg, wurde dort promoviert, habilitierte sich und lehrte als Privatdozent, bis er 1916 nach Breslau berufen wurde. Briefäußerungen aus diesen Jahren zeigen, dass er ständig im Kontakt mit Herrmann stand und ihn überaus schätzte.4 Das zentrale Thema, das ihn damals beschäftigte und das ihn später zur Gruppe der so genannten dialektischen Theologie brachte, ist das Thema, das auch Herrmann Zeit seines Lebens bearbeitet hat, nämlich die Frage nach dem Wesen der Religion bzw. des Glaubens.5 Bultmann bearbeitet sie im Horizont der dualistischen Wirklichkeitserkenntnis, die Herrmann aus der Metaphysikkritik seiner frühen Schriften gewonnen hat. 1.

Dualistisches Wirklichkeitsverständnis

Auch wenn der junge Bultmann Themen wie Ontologie, Metaphysik oder Erkenntnistheorie nicht ausführlich behandelt, gibt es doch einige Äußerungen, die seinen dualistischen Zugang zur Wirklichkeit deutlich werden lassen. a)

Zwei Zugänge zur Wirklichkeit

Schon in Bultmanns Examensexegese über 1. Korinther 2, 6–16 von 1906 finden sich entsprechende Äußerungen. In einem Exkurs setzt er sich anlässlich der Aus3 Daran wird auch deutlich werden, dass die Vorstellung einer »Wende« Bultmanns als einer Abwendung nicht nur von seiner frühen Auffassung, sondern auch von seinem Lehrer Herrmann nicht zu halten ist; EVANG, Frühzeit, 273f; vgl. STICHT, passim sowie CHALAMET , passim. 4 In einem Brief an seinen Freund Walter Fischer vom 19. 8. 1908 schreibt Bultmann, Herrmann habe »das tiefste Verständnis für Religion, das ich irgendwo gefunden habe und das mir zur Klärung meiner Anschauungen ungeheuer viel geholfen hat«; EVANG, Frühzeit, 263. Vgl. weitere Briefzitate aus diesen Jahren bei EVANG, Frühzeit, 23f. 5 Theologische Wissenschaft, 135. Vgl. EVANG, Frühzeit, 249f; HAMANN, 118–125.

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4. Kapitel: Rudolf Bultmann

führungen des Paulus mit dem Verhältnis von Glauben und Wissen auseinander. Er weist darauf hin, dass Paulus »die hellenistische Philosophie im Auge hat, die sich nicht in den dem erkennenden Geist gesteckten Schranken hielt, sondern die letzten Fragen des Lebens zu lösen suchte und lösen zu können meinte«.6 Das wissenschaftliche Erkennen unterliegt also Grenzen, und die Beachtung dieser Grenzen dient Bultmann als Kriterium für seine Bewertung. Er stellt fest, dass diese Grenzen lange Zeit nicht gesehen wurden. Die Theologie vom 2. Jahrhundert an bis zur protestantischen Orthodoxie habe die »Objekte des Glaubens nachträglich zu Objekten der Wissenschaft gemacht« und damit die »πίστις zur γνώσις«.7 Erst die Erkenntnislehre Kants hat Bultmann zufolge die Grenzen zum Bewusstsein gebracht, indem Kant die rationale Erkenntnis an die Erfahrung der Welt in Raum und Zeit gebunden hat. Auf diesem Wege ist der Erkenntnis »nie etwas wahrhaft Wirkliches« zugänglich, sondern nur die »bis ins Unendliche« gehende kausale Zurückführung einer Wirklichkeit auf eine andere: »Die Welt der Erscheinungen zeigt nur Relatives, nichts Absolutes.« Und damit hat die rationale Erkenntnis keine Möglichkeit, das Dasein Gottes zu erreichen. Ihr stellt Bultmann das religiöse Erkennen als eigenes Erkenntnisgebiet gegenüber, weil die Religion eben gerade in der Beziehung zu diesem Absoluten besteht. Er beruft sich dafür auf »Schleiermachers Fortführung und Verwertung« der Erkenntnisse Kants: Das Absolute ist nur dem »fühlenden, wollenden Subjekt« mit seinem persönlichen Leben erreichbar. Und darum kann Bultmann den Glauben auch nicht als ein Wissen verstehen, als ein »Fürwahrhalten von Objekten«, die den wissenschaftlichen Objekten prinzipiell gleichgestellt sind. Sondern der Glaube ist für ihn eine aus einem religiösen »Erlebnis« entstandene »persönliche Überzeugung«.8 Aufgrund dieser prinzipiellen Verschiedenheit der beiden Erkenntnisarten betont Bultmann, dass die Beachtung der Grenzen im beiderseitigen Interesse liegt. Beide Gebiete müssen dem jeweils anderen Bereich eine von »Übergriffe[n]« und »Bevormundung« freie Entfaltung zugestehen.9 Wenn Bultmann sich hier auch direkt auf Schleiermacher beruft, verraten die Argumentation und die gewählten Ausdrücke doch deutlich den Herrmannschen Hintergrund. b)

Dualismus

Wie Herrmann geht Bultmann davon aus, dass empirische und geistige Wirklichkeit nicht über einen monistischen Zugang erkannt werden können. Dies wird aus Bemerkungen der folgenden Jahre deutlich. So stellt Bultmann der durch die 6 7 8 9

Examensarbeit, 74. Examensarbeit, 75. Examensarbeit, 76f. Examensarbeit, 77f.

I. Religion und Wirklichkeit in den frühen Arbeiten

133

Vernunft gesetzmäßig erfassbaren Wirklichkeit »das Irrationale« als Kennzeichen der Religion gegenüber. Er kritisiert die Versuche, die religiöse Wirklichkeit »als eine gesetzmäßige nachzuweisen, sie zu der Erfahrungswirklichkeit in Beziehung zu setzen, womöglich ein Verhältnis von erfahrungsmäßiger Kausalität und göttlicher Wirksamkeit zu definieren«. Dagegen habe Herrmann in seinem Vortrag von 1908 »Der Christ und das Wunder«10 »ganz glänzend den Dualismus dargestellt, in dem der religiöse Mensch sich schlechterdings befinden muß. Wir können nicht Monisten sein.« Dualismus bedeutet für Bultmann, dass die durch kausale Gesetze beschreibbare Wirklichkeit und das Wirken Gottes niemals zusammengedacht werden können. Bultmann weist darauf hin, dass der Mensch die empirische Wirklichkeit einerseits in seinem Denken und Handeln »als etwas Reales« behandeln muss, andererseits aber, vom Standpunkt der Religion aus, den Mut haben muss, sie als »Schein« zu verstehen. Darum, schreibt Bultmann weiter, kann die Religion »ihre Gewißheit nur in sich selbst« haben. Somit kommt der religiöse Mensch »über den Dualismus nicht heraus«.11 c)

Metaphysikkritisches

Dementsprechend finden sich bei Bultmann Andeutungen, die Herrmanns Kritik an der Vermischung von Metaphysik beziehungsweise Welterkennen mit der Religion aufnehmen. Weil nach Bultmann die »Welt Gottes« nicht nur die Natur, sondern auch das geistige Schaffen des Menschen überbietet, übersteigt sie auch die menschliche Vernunft: »Es führt keine Brücke in sie hinüber, kein Weg des Denkens und Beweisens aus unserer Welt in Gottes Welt.« Sie ist nur in Form von »persönlichen Erfahrungen« kommunizierbar.12 Und deshalb kritisiert Bultmann, dass man »Arbeitsmethoden, die im Diesseits gelten«, teilweise auf das Jenseits der Religion übertragen wollte und sie dafür »umgebogen« habe. Um die religiöse Wirklichkeit beweisen zu können, wurde diese als notwendige Ergänzung für die »Lücken« des »naturwissenschaftlichen Weltbildes« behandelt. Bultmann bezeichnet es als »Erlösung«, dass er diese 10

HERRMANN, Schriften II, 170–205. In dem Vortrag spricht Herrmann u. a. von dem Irrtum, ein »Wunder Gottes« gleichzeitig »als ein Glied in dem gesetzmäßigen Zusammenhang der Natur zu denken« (175). 11 Brief vom 25. 10. 1908 an Walter Fischer, EVANG, Frühzeit, 125f. 12 Jenseitsreligion, 111. Eine im Wortlaut ähnliche Stelle findet sich bei Herrmann, wenn er auf die durch die »herrschende Theologie« als »Dualismus« bezeichnete Unterscheidung der Glaubensgedanken von den »Resultaten des Welterkennens« zu sprechen kommt: »In diesen Gedanken bricht der Gläubige jede Brücke zwischen seiner Überzeugung und dem, was die Wissenschaft als wirklich erkennen kann, ab . . . «; HERRMANN, Verkehr 4 (1903), 297 = Verkehr 5/6 (1908), 286; schon der frühe Herrmann hatte dies ausdrücklich auch auf die Reflexion vom sittlichen Bewusstsein aus bezogen und betont: »Die sittliche Person hat nicht nöthig, auf der Brücke irgend welcher Argumente zur Religion zu gelangen.«; HERRMANN, Religion, 259f.

134

4. Kapitel: Rudolf Bultmann

»falschen Arbeitsmethoden« und »trügerischen Jenseitsvorstellungen« abgelegt habe.13 Die angeführten Bemerkungen machen deutlich, dass Bultmann sich die Auswirkungen der Metaphysikkritik Herrmanns zu eigen gemacht hat. Im Folgenden soll dargestellt werden, wie Bultmann in diesem erkenntnistheoretischen Horizont sein Religionsverständnis entfaltet und wie dabei das bei Herrmann entworfene Schema der antithetischen Verbindung von Wirklichkeit und Glaube, das den metaphysischen Zugang der Theologie ersetzt, Bultmanns Gedanken bestimmt. 2.

Religion als Erleben des »ganz Anderen«

Bultmann erweitert den Bereich des Welterkennens über das wissenschaftliche Denken hinaus. Schon in Herrmanns späten Schriften sind dem theoretischen Erkennen die Kunst und das sittliche Denken beigeordnet.14 Auch Bultmann übernimmt diese auf den Neukantianismus zurückgehende Gliederung, indem er alle drei Bereiche unter dem Begriff der »geistigen Kultur« zusammenfasst. Die Kultur ist für ihn die »methodische Entfaltung der menschlichen Vernunft in ihren drei Gebieten, dem theoretischen, dem praktischen und dem ästhetischen«.15 Im Gegenüber zur Kultur bestimmt Bultmann die Religion als Bezug auf ein Jenseits und als reines Erleben. a)

Das Verständnis der Jenseitigkeit

Bultmann beschreibt das »Wesen der Religion« als Beziehung zum »Transzendenten« oder zum »Jenseits«.16 Dabei greift er die von Rudolf Otto stammende Beschreibung der religiösen Wirklichkeit als »das ›Ganz andere‹« auf, ohne allerdings deren inhaltlicher Bestimmung zu folgen.17 Es geht ihm vor allem darum, die Religion von allen Arten menschlicher Aktivität abzugrenzen, wie es auch in Herrmanns Spätphase begegnet. Er bezeichnet sie deshalb als »Jenseits im Verhältnis zur Natur wie zur Kultur«.18

13

Jenseitsreligion, 106. Vgl. z. B. HERRMANN, Metaphysik, 4. 13; Religion, 68f. 114f. HERRMANN, Wirklichkeit, 298–305; vgl. o. S. 113. 15 Religion und Kultur, 15. 17. 16 Eschatologie, 81; Religion und Kultur, 26. 17 Mystische Religion, 47; vgl. 44 sowie Eschatologie, 80. Wie ein Brief an Otto aus dem Jahr 1918 deutlich macht, bewertet Bultmann Ottos Religionsverständnis vom Standpunkt der Herrrmannschen Theologie aus; s. den Abdruck des Briefes bei EVANG, Berufung, 5–13. Bultmann kritisiert an Ottos Religionsverständnis, dass nicht die Form, nämlich »besondere psychische Zustände der Erschütterung oder Begeisterung«, die Religion ausmachen, sondern der »geistige Inhalt«, dass der Mensch »Gott als eine Wirklichkeit gefunden hat, . . . in der er den Sinn seines Lebens findet«. 18 Religion und Kultur, 26; Eschatologie, 81. 14

I. Religion und Wirklichkeit in den frühen Arbeiten

135

Hatte Ritschl noch die Religion vor allem im Gegenüber zur Natur bestimmt, gewinnt Bultmanns Religionsbegriff sein Profil durch die Abgrenzung von der Kultur. Während die Kultur als ein Produkt der menschlichen Vernunft betrachtet werden muss, die durch ihr methodisches Vorgehen und die Formulierung allgemeiner, überindividueller Sätze geprägt ist, bezeichnet Bultmann in leichter Abwandlung der Schleiermacherschen Wendung die Religion als »Bewußtsein schlechthinniger Abhängigkeit«. Er leitet daraus eine dreifache Unterscheidung der Religion von der Kultur ab. Erstens kann die Möglichkeit zu solcher absoluten, auch die Gedanken und Gefühle umfassenden Abhängigkeit, wie Bultmann in unverkennbarer Anlehnung an Herrmann ausführt, dem Menschen nur geschenkt werden, wenn er einer Macht begegnet, der er sich in »freier Selbsthingabe« unterwirft; er erreicht sie nicht durch schöpferische Aktivität seines Geistes. Zum zweiten weist Bultmann darauf hin, dass die Religion nicht methodisch planbar ist, sondern nach Schleiermacher ihren Ursprung in einer »Wundergeschichte« hat, was im Herrmannschen Sinn des Wunders zu verstehen ist.19 Daraus folgt dann zum dritten der ebenfalls schon von Herrmann bekannte Aspekt, dass die »Erkenntnisse und Gedanken der Religion« nicht »notwendig und allgemeingültig« sein können, sondern nur für das hervorbringende Individuum gelten. Darum, resümiert Bultmann, ist die Religion unabhängig von der Kultur und steht »neutral gegenüber den Gestaltungen der Natur«.20 Die Eigenart der Religion liegt aber nicht einfach nur in einem Gegensatz zur Kultur, sondern darin, dass sie die Kultur übersteigt. Bultmann unterscheidet das »Jenseits der Religion« von der Kultur als »Jenseits des Geistes«. Er bezeichnet die Kultur als »Selbsterlösung« des Menschen. Denn der Mensch kann seine Freiheit von der Natur nur bewahren, indem er seine geistige Kultur ständig gegen die Natur durchsetzt. Aber gerade darin bleibt die Kultur doch der Natur verbunden, indem sie sich zur Aufgabe macht, »sich in dieser Welt durchzusetzen, am Diesseits zu arbeiten, es nach sich zu formen«.21 Auch wenn Bultmann diese spannungsvolle Beziehung zwischen Natur und Kultur als Quelle der geistigen Lebendigkeit betrachtet, sieht er darin doch auch eine gewisse Last für den Menschen. Je intensiver der Mensch die geistige Kultur entfaltet, desto bedrängender empfindet er Bultmann zufolge den Widerspruch der Natur. Bultmann spricht davon, dass der Mensch »des Schaffens müde« wird und sich »nach einem Punkt außerhalb des Kampfes« sehnt, der dann aber auch notwendig außerhalb seines Handelns liegen muss, weil sein eigenes Handeln sich 19

In seinem Vortrag »Der Christ und das Wunder« beschränkt Herrmann den Begriff des Wunders als ein der vernünftig erkennbaren Wirklichkeit widersprechendes Ereignis auf die Neuwerdung des Menschen durch den Glauben an und bezeichnet damit den Vorgang, »daß Gott dem Menschen eine andere Wirklichkeit eröffnet als die Natur«; HERRMANN, Schriften II, 182. 20 Religion und Kultur, 17–19. 21 Jenseitsreligion, 109f.

136

4. Kapitel: Rudolf Bultmann

wieder nur auf das Diesseits richten könnte: »Nicht Selbsterlösung – Erlösung müsste es sein.«22 In dieser Situation verortet Bultmann die »Geburtsstunde der Religion«. Religion entsteht, wenn der Mensch in dieser Spannung zwischen Natur und Kultur ohne sein Zutun einen »Reichtum des Lebens« erlebt und wenn er hinter diesem Geschenk eine »Macht über alles Wirkliche« entdecken kann, die diesen Reichtum »will und wirkt«. Durch diesen Bezugspunkt »jenseits der Welt der Erfahrung« erkennt er den Sinn der Spannung zwischen Natur und Kultur und kann sie als sein Schicksal annehmen, weil ihm gerade in dieser Spannung die Macht begegnet, »die das Ich reich und lebendig macht, die es erlöst von der Natur und vom Streben seiner selbst«.23 Bultmanns Rede vom Jenseits und der Transzendenz meint also weniger etwas geheimnisvoll Verborgenes, sondern unterscheidet die Religion als einen eigenen Wirklichkeitsraum von der Wirklichkeit, der sich der Mensch durch Vernunft und Handeln bemächtigen kann. Das Jenseits der Religion ist bei Bultmann damit im Sinne von Herrmanns Überweltlichkeit als Bereich zu verstehen, der die Zwänge wie auch die Möglichkeiten des Menschen übersteigt.24 b)

Das Erleben

Die »Beziehung des Menschen zum Transzendenten« wird dem Menschen somit durch »Erlebnisse« geschenkt, »die ihn überwältigen, denen er sich frei hingibt, die er als Offenbarung, als Gnade bezeichnet« und an denen er nicht selbst aktiv beteiligt ist, »sondern schlechthin abhängig«.25 Wie der Jenseitsbegriff hebt also auch der Erlebnisbegriff die Religion aus dem Bereich der menschlichen Handlunsgmöglichkeiten heraus. Bultmann beschreibt die Religion als radikalen Gegensatz zu den Möglichkeiten des Menschen, indem er sie als die »Höhe des Erlebens« bezeichnet: »Eigentliche Religion . . . ist nur in den Augenblicken des Erlebens vorhanden . . . «26 Gleichzeitig wird durch die Beschreibung der Religion als »Erleben« aber auch deutlich, dass Bultmann die wahre Religion als ein lebendiges Geschehen im Menschen auffasst, und zwar im Unterschied zu den »objektiven Gestaltungen«27 , die dieses innere Erleben hervorbringt. Darunter versteht er gemeinschaftliche Formen wie »Kultus und Mythus«. Er betont wohl, dass eine religiöse Gemeinschaft ohne sie nicht existieren kann. Aber die Religion selbst sind sie eben für ihn nicht.28 Wie Herrmann die »wirkliche Religion« als »selbständiges Leben« 22 23 24 25 26 27 28

Jenseitsreligion, 111f. Religion und Kultur, 25f; vgl. Jenseitsreligion, 112–114. Vgl. HERRMANN, Darstellung, 249f; Lage, 48f; Offenbarung, 155f. Eschatologie, 80; Religion und Kultur, 18 Religion und Kultur, 26f. Religion und Kultur, 22. Mystische Religion, 43.

I. Religion und Wirklichkeit in den frühen Arbeiten

137

betrachtet, so nennt Bultmann das religiöse Erlebnis »neu, ursprünglich und selbständig«.29 Religion ist für ihn außerhalb des Menschen nicht greifbar, sondern besteht »im Verwirklichtwerden, d. h. in dem, was mit dem Individuum geschieht«.30 Daran wird deutlich, dass Bultmann mit dem Begriff »Religion« die im Subjekt lebendige Religiosität im Blick hat, weshalb er später dafür die Bezeichnung »Glaube« gebraucht. 3.

Das Verhältnis der Religion zur Welt

Zur dualistischen Wirklichkeitserkenntnis Bultmanns gehört bei aller Abgrenzung die Vermittlung des Glaubens mit der Welt der äußeren Erfahrung. Würde er bei der Abgrenzung stehen bleiben, könnte die Religion als eine innersubjektive Setzung erscheinen, die den Verdacht der Projektion und Einbildung nicht zu entkräften vermag. Bultmann stellt den Bezug zur Wirklichkeit her, indem er wie Herrmann die Erkenntnis der Welt in Form der Erfahrung mit dem religiösen Erleben in eine dialektische Beziehung setzt.31 a)

Die Bedeutung der Kultur für die Religion

Einerseits versteht Bultmann die Religion, wie oben dargestellt, gerade aus ihrem Gegensatz zur Kultur. Sie ist für Bultmann »kein Kulturfaktor«, weil sie nach allem, was Bultmann ausgeführt hat, nicht als »geistige Macht« betrachtet werden kann, »die Geschichte schafft und die in den objektiven Gestaltungen der Kultur ihre Existenz hat«.32 Andererseits, aus einer anderen Perspektive betrachtet, kann für ihn die Religion aber doch ein Kulturfaktor werden – »und zwar der stärkste«.33 Es ist der Erlebnisbegriff, der Religion und Kultur sowohl voneinander unterscheidet wie auch verbindet. Bultmann verbindet die Religion, wie wir gesehen haben, mit der Sehnsucht des Menschen nach einer Wirklichkeit, die ihn über die Spannung von Natur und Kultur »hinwegträgt«, die sein inneres Leben »reich und lebendig macht«, die ihn innerlich erfüllt und ihm damit »Heimat und Ruhe« schenkt. Damit wird die Einbindung des Menschen in Natur und Kultur zur Voraussetzung für die Religion: »Religion kann nur haben, wer in beiden Welten steht.« Wie Herrmann die Religion an die Selbstbehauptung des Menschen anbindet, so sieht Bultmann die Wurzel für diese Sehnsucht in »dem Triebe« des Ich, sich seiner 29

Eschatologie, 81; vgl. HERRMANN, Lage, 22f. Religion und Kultur, 19; vgl. 23. Ebenso hat Herrmann das religiöse Erlebnis beschrieben als ein »Erlebnis, das sich nicht objektivieren lässt«; HERRMANN, Lage, 63. 31 Bultmanns Denken bewegt sich auch schon vor seinem Anschluss an die dialektische Theologie in dialektischen Relationen; vgl. CHALAMET, 61–65. Das Verhältnis von Religion und Kultur ist in seinen frühen Schriften ein Beispiel dafür. 32 Religion und Kultur, 23. 33 Religion und Kultur, 27. 30

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4. Kapitel: Rudolf Bultmann

selbst in der Spannung als Natur- und Kulturwesen zu vergewissern.34 In diesem Sinn schließt sich Bultmann Herrmanns dialektischer Verhältnisbestimmung von »Glaubensgedanken und Arbeitsgedanken« an.35 Der Sinn der Kultur liegt also darin, dem religiösen Erleben den Boden zu bereiten.36 b)

Die Bedeutung der Ethik für die Religion

Die Sittlichkeit steht in Bultmanns frühen Schriften als Teil der Kultur ebenfalls in einem dialektischen Verhältnis zur Religion. Allerdings behandelt Bultmann sie auch isoliert von den anderen beiden Bereichen der Kultur, was wohl als Nachwirkung der Bedeutung zu verstehen ist, die die Sittlichkeit im allgemeinen Bewusstsein des 19. Jahrhunderts und besonders in der neuprotestantischen Theologie eingenommen hatte. Gerade gegenüber Barth, bei dem er eine »mystische Religion« erkennt, stellt sich Bultmann auf die Seite der »ethischen Religion«.37 Seine Bestimmung zeigt, wie eng er an den »Weg zur Religion« anknüpft, mit dem Herrmann die Allgemeingültigkeit der Religion aufzeigt. Deshalb ist hier noch einmal kurz darauf einzugehen. Bultmann hält zwar noch am Begriff der ethischen Religion fest, sieht aber das durch diesen Begriff mögliche Missverständnis. Deshalb betont er, dass auch in der »ethischen Religion« der Begriff des »Ganz anderen« von der »Welt des Guten« als »Schöpfung unserer eigenen sittlichen Vernunft« unterschieden werden muss. »Das ›Ganz andere‹, von dem die ethische Religion redet, ist nicht die Forderung des Guten, sondern der Gott, der dem Menschen in seinen Erlebnissen unter dem Gehorsam des Guten begegnet.«38 Bultmann kann deshalb von einem »Dualismus der christlichen Weltanschauung« sprechen, in dem »Gottes Welt« dem auch die »Welt der Güter und sittlichen Aufgaben« umfassenden »Kosmos« gegenüber steht.39 Andererseits steht die Sittlichkeit am Beginn der Religion in einem Menschen. Wie Herrmann den »Weg zur Religion« mit der existentiellen Bedrängnis des 34 Religion und Kultur, 26f. Vgl. Herrmanns Anbindung der Religion an eine bestimmte Stufe der Persönlichkeitsentwicklung schon seinen frühen Schriften (s. o. S. 87f) wie auch in seinem späteren »Weg zur Religion«. 35 Religion und Kultur, 27; vgl. 21 Anm. 2. GuV I, 225 Anm. 1, verweist Bultmann auf Herrmanns Vortrag »Der Christ und das Wunder«, HERRMANN, Schriften II, 177f. Hier beschreibt Herrmann die dialektische Spannung, die dem »Gedanken der göttlichen Fürsorge« und dem Gedanken »des gesetzmäßigen Zusammenhangs des Geschehens«, der aller Arbeit zu Grunde liegt. Diese »Betrachtungsweisen« des Lebens stehen im Gegensatz, aber gehören für Herrmann auch zusammen, denn sie erzeugen »die innere Spannung oder das Irrationale, ohne das wir uns das Lebendige überhaupt nicht vorstellen können«. 36 Religion und Kultur, 27; vgl. Jenseitsreligion, 109. 113f. 37 Mystische Religion, 46f. 38 Mystische Religion, 45. 39 Eschatologie, 87.

I. Religion und Wirklichkeit in den frühen Arbeiten

139

Menschen angesichts der sittlichen Forderung beginnen sieht, setzt Bultmann beim Menschen an, »der sich der Forderung des Guten beugt«. Zwar schildert er den Zustand eines solchen Menschen nicht so drastisch wie Herrmann. Doch ist auch für ihn die Entstehung der Religion in einem Menschen mit einer so positiven Veränderung der Lebenssituation verbunden, dass er von »Verwandeltwerden« und »Neugeschaffenwerden« sprechen kann. Denn der Mensch, der sich der ethischen Forderung unterwirft, erreicht die Lebenswirklichkeit, aus der er sich emporwachsen, der er sich ganz unterworfen und von der er sich getragen fühlt . . . durch Erlebnisse, die ihn durch Tiefen und Höhen führen, Erlebnisse, die in religiöser Sprache Sünde und Gnade heißen.40

Die ethische Haltung bildet damit die Grundlage, auf der Religion entstehen kann. Wie in Herrmanns »Weg zum Glauben« ereignet sich die Begegnung mit der Wirklichkeit Gottes zwar im Zusammenhang mit dem ethischen Handeln, steht aber dem handelnden Menschen absolut unverfügbar gegenüber. Die Entstehung der Religion in einem Menschen führt »nicht zur Erfüllung der sittlichen Forderung, sondern zur Erfüllung des Seins«.41 Hier schließt sich Bultmann Herrmanns Fassung der reformatorischen Rechtfertigungstheologie an: Die göttliche Wirklichkeit zeigt sich dem Menschen gerade da, wo er die Grenzen seiner Handlungsmöglichkeiten erfährt. Sie kann ihm nur im Akt des »Beschenktwerdens« zuteil werden.42 Die dialektische Verhältnisbestimmung zwischen Religion und menschlichem Handeln bei Bultmann verdankt sich also nicht allein und auch nicht in erster Linie der reformatorischen Rechtfertigungslehre, sondern knüpft an den dualistischen Wirklichkeitszugang Herrmanns an, der wiederum in dessen Metaphysikkritik seine Wurzeln hat.43 4.

Zusammenfassung

In Bultmanns frühen Schriften ist die Metaphysik kein Thema. Allerdings ist der erkenntnistheoretische Dualismus, in dem Bultmann der Verständnis der 40

Mystische Religion, 44f. Mystische Religion, 45. Diese Aussage Bultmanns stößt sich mit der Aussage des frühen Herrmann, dass der Glaube zu wahrem sittlichen Wollen und Handeln führt. Allerdings haben wir gesehen, dass schon in der Religionsschrift der Lebenswille des Menschen das eigentliche Problem war, das Herrmann durch die Sittlichkeit thematisieren wollte; s. o. S. 100f. In der Konsequenz hat Herrmann in den späteren Schriften sein eigentliches Thema immer weniger in der Frage nach der Verwirklichung der Sittlichkeit, sondern in der Befähigung des innerlich zerrissenen Menschen zum Leben gesehen; s. o. S. 115. Bultmanns Aussage kann also durchaus auf der Linie des späten Herrmann verstanden werden. 42 Mystische Religion, 45. 43 Dies ist festzuhalten gegen den Versuch, die dialektische Bestimmung von menschlichen Handeln und Religion aus Bultmanns Auseinandersetzung mit Luther abzuleiten; s. u. S. 169 Anm. 171. 41

140

4. Kapitel: Rudolf Bultmann

Religion und das Verständnis der Wirklichkeit der äußeren Erfahrung unterscheidet als Anschluss an Herrmanns Kritik am Monismus zu verstehen, die wiederum das Ergebnis der Metaphysikkritik des frühen Hermann darstellt. Und ebenso ist Bultmanns Religionsverständnis, weil er es im Horizont seines Dualismus entfaltet, ohne Herrmanns Metaphysikkritik undenkbar. Auf diesem Hintergrund grenzt Bultmann die religiöse Wirklichkeit als Bezug auf das »Ganz andere« von allem ab, was dem Menschen von sich aus erreichbar ist. Dass er darunter auch, anders als Ritschl, die geistige Aktivität des Menschen fasst, also die »Kultur«, verdankt sich dem konsequenten Ausschluss aller Eigeninitiative des Menschen in Bezug auf die Religion, mit dem sein Lehrer Herrmann den in der frühen Metaphysikkritik begonnenen Weg in den späten Schriften fortsetzt. Diese Grundlage ist also vorausgesetzt, wenn Bultmann die Religion als reines »Erleben« beschreibt. Wie jeder Ansatz, der die Überfremdung des Glaubens durch eine falsche Anbindung an die außertheologische Wirklichkeitsreflexion verhindern will, den Aufweis der Verständlichkeit und Berechtigung des Glaubens jedoch nicht grundsätzlich negiert, muss auch Bultmann darlegen, wie er sich die korrekte Verhältnisbestimmung von Glaube und Wirklichkeit denkt. Diese Verhältnisbestimmung nimmt Bultmann wie Herrmann über das Subjekt vor, in dem Erfahrung der Welt und religiöse Erfahrung aufeinander treffen. Das Verhältnis von Religion und Weltwirklichkeit beschreibt der frühe Bultman in einer dialektischen Weise – mit einer späteren Wendung könnte man sagen, die Religion knüpft »im Widerspruch« an die Kultur an. Denn einerseits betrachtet Bultmann die Kultur als notwendige Voraussetzung der Religion, andererseits aber besteht der Sinn der Religion gerade darin, die durch die Kulturarbeit entstehenden Spannungen und Probleme zu lösen, indem sie den Menschen darüber hinaus hebt. Der Wahrheitsbeweis, den die alte Theologie mithilfe der Metaphysik zu führen versuchte, wird bei Bultmann damit im Anschluss an Herrmann zu einem Aufweis des Sinns und der Berechtigung der Religion, der durch negative Anknüpfung an die Weltwirklichkeit ermöglicht ist. Bultmann will also die Religion plausibel machen, indem er ihre Relevanz für den Menschen durch ihre Beziehung auf die Kultur deutlich macht. Ob die Religion dabei die einzige Möglichkeit ist, mit den aus der Kultur sich ergebenden Problemen umzugehen, diskutiert Bultmann nicht. Genauso wie Herrmann verzichtet er darauf, die Religion als zwingend notwendiges Gegenüber zur Kultur zu beweisen, sondern zeigt die Möglichkeit auf, den Sinn der Religion zu verstehen.

II. Die Kritik an der natürlichen Theologie

II.

141

Die Kritik an der natürlichen Theologie

Ab der Mitte der 20er Jahre tauchen bei Bultmann erkennbar neue Themen und Perspektiven auf. Durch den Anschluss an die dialektische Theologie macht Bultmann die Offenbarung entschiedener als vorher an der Verkündigung und dem in der Schrift bezeugten Wort Gottes fest.44 Ebenso gehen die radikale Fassung der Sünde und ihrer Unausweichlichkeit,45 die Bezeichnung des Glaubens als »Gehorsam« gegenüber dem Wort der Verkündigung46 sowie die deutlichere Berufung auf Luther auf den Einfluss der dialektischen Theologie zurück.47 Außerdem bringt Bultmanns Austausch mit Heidegger neue Perspektiven in seine Theologie. Seit 1930 begegnet dann auch der Begriff »natürliche Theologie«. Zunächst geht es Bultmann dabei um die Kritik an der Gotteserkenntnis außerhalb der Offenbarung, später nimmt er unter diesem Begriff das Anliegen auf, den Glauben mit der Wirklichkeit zu vermitteln – nicht um, wie bei Ritschl und Herrmann unter anderem im Blick, die Wahrheit beziehungsweise die Allgemeingültigkeit des Glaubens zu zeigen, sondern um darzulegen, wie und warum der Glaube überhaupt verstanden werden kann. Bultmanns Auseinandersetzung mit der »natürlichen Theologie« ist allerdings nicht als ein gänzliches neues Thema oder sogar als Ausdruck einer »Wende« gegenüber seinen früheren Gedanken zu sehen. Die folgende Darstellung wird deutlich machen, dass der in den frühen Arbeiten deutlich gewordene Ansatz das Fundament bietet, auf dem Bultmann das Thema ausarbeitet. Dafür ist der dualistische Zugang zur Wirklichkeit, den er von Herrmann übernommen hat, d. h. das Bewusstsein für die hermeneutische Unterscheidung von Welterkennen und Glaube, wesentlich, sowie das Anliegen, den Glauben in Beziehung zu der durch die Erfahrung wahrgenommenen Wirklichkeit verständlich zu machen.

44 1913 hatte Bultmann die Offenbarung zwar aus der »Schrift« abgeleitet, aber noch ganz im Sinne von Herrmanns mittleren Schriften auf die »Person Jesu« konzentriert, die trotz historischer Unsicherheiten der »Überlieferung« doch in der Kirche »lebendig« sei; Theologische Wissenschaft, 135. 125. Etwas später beschreibt er, eher Herrmanns späteren Schriften folgend, die Offenbarung sehr zurückhaltend als »Erlebnisse«, die der Mensch »als Gnade bezeichnet«; Eschatologie, 80. 45 In deutlichem Kontrast steht die vorsichtige Verwendung des Wortes »Sünde« im Frühwerk, z. B. Mystische Religion, 44f. 46 Dies gilt in erster Linie für die Verwendung der Bezeichnung, inhaltlich bringt Bultmann, wie wir sehen werden, den Glaubensgehorsam mit Herrmann in Verbindung. 47 HAUSCHILDT, 59 macht darauf aufmerksam, dass bis 1921 bei Bultmann der Bezug auf Luther äußerst selten ist und bringt dies, unter Verweis auf den starken Rückgang von Lutherzitaten in der Christlichen Welt, in Zusammenhang mit der allgemeinen Haltung »der jüngeren Genration von Theologen, die bei der Betonung des Lutherischen ihren Lehrern aus der Ritschl-Schule so nicht mehr nachfolgte«.

142 1.

4. Kapitel: Rudolf Bultmann

Metaphysik und natürliche Theologie

Das Wort Metaphysik kommt auch in Bultmanns späteren Schriften nur vereinzelt und nicht als eigenes Thema mit prinzipientheologischer Bedeutung vor. Bultmann benutzt den Begriff »Metaphysik« nicht in einer speziellen Bedeutung, sondern schlagwortartig oder in Bezug auf Heidegger.48 Allerdings beschäftigt er sich mit dem Begriff »natürliche Theologie«. Es ist dabei in erster Linie Karl Barth zu verdanken, dass das Problem der »natürlichen Theologie« innerhalb der dialektischen Theologie zum Gegenstand der Auseinandersetzung wurde. Barth reagiert 1930 kritisch auf die Ansätze von Gogarten, Brunner und Bultmann. In einem Brief an Bultmann wirft er ihnen vor, »den Glauben aufs neue . . . als eine menschliche Möglichkeit oder, wenn Sie so wollen, als begründet in einer menschlichen Möglichkeit verstehen zu wollen«. Barth kann darin nichts anderes erblicken als ein Spiel »mit der Möglichkeit einer natürlichen Theologie«, was für ihn bedeutet, »die Theologie im Rahmen eines untheologisch gewonnenen Vorverständnisses zu treiben«.49 Um die Differenzen der Gruppe zu klären, regt Bultmann im Herbst desselben Jahres eine Aussprache an, die im Vorfeld der jährlichen Tagung der »Alten Marburger«50 stattfinden soll. Außerdem erbittet er von Barth für die Tagung ein Referat über das Thema der natürlichen Theologie.51 Barth sagt zunächst zu, kurz vor der Tagung allerdings wieder ab.52 Den ausgefallenen Vortrag über die natürliche Theologie holt Bultmann dann selbst bei der folgenden Tagung der »Alten Marburger« im Herbst 1931 nach.53 Bultmann lässt sich also das Thema der »natürlichen Theologie« von Karl Barth geben. Seit 1930 findet sich daher der Begriff in seinen Schriften. Wie im Folgenden deutlich werden wird, streitet die dialektische Theologie unter dieser Bezeichnung um eine Problematik, die Ritschl sowie der frühe Herrmann im Zusammenhang mit der »Metaphysik« und der späte Herrmann sowie Bultmann selbst in seinen frühen Arbeiten mit dem »Monismus« der Erkenntnis kritisiert haben.

48

GuV I, 29. 266. 331; GuV II, 258; GuV III, 212. Brief an Bultmann vom 5. Februar 1930, Briefwechsel Barth–Bultmann, 100f. 50 Zu diesem Kreis lud Bultmann seit 1927 seine ehemaligen Schüler sowie seine gegenwärtigen Doktoranden zu einem jährlichen Treffen Ende Oktober ein. 51 Brief an Barth vom 16. Februar 1930, Briefwechsel Barth–Bultmann, 103–105. 52 Briefe an Bultmann vom 17. Februar 1930, Briefwechsel Barth–Bultmann, 105f und vom 3. Oktober 1930, Briefwechsel Barth–Bultmann, 114f. 53 HAMANN, 224f. Der Vortrag »Das Problem der ›natürlichen Theologie‹« ist abgedruckt in GuV I, 294–312. 49

II. Die Kritik an der natürlichen Theologie

2.

143

Bultmanns Verständnis von traditioneller natürlicher Theologie

Als »natürliche Theologie« bezeichnet Bultmann den Versuch, eine Lehre von Gott zu entwerfen, die statt auf der Offenbarung in Christus auf der am Verstehen der Welt ausgerichteten Vernunft beruht.54 Typisch ist dieses Vorgehen Bultmann zufolge »in der katholischen Tradition«. Sie beweist Gottes Dasein aus der Schöpfung und verwendet die rein aus der Vernunft gewonnenen Sätze über Gott, die »praeambula fidei«, als »Unterbau der Dogmatik«. Allerdings bestimmt nach Bultmann die Methode dieses Unterbaus dann auch die Behandlung der Offenbarung. Weil die Glaubenssätze aus der Offenbarung von den vernünftigen Sätzen über Gott nicht prinzipiell, sondern nur graduell unterschieden, d. h. als strukturell analog betrachtet werden, kann die katholische Dogmatik in Bultmanns Augen gar nicht anders, als auch die Offenbarung »primär als Mitteilung von Lehren« zu verstehen. Die Offenbarung ermöglicht also nach Bultmann im katholischen Verständnis eine Art höhere Vernunfterkenntnis, die sich auf Gott als Erkenntnisobjekt richtet wie die natürliche Vernunft die Objekte der Welt betrachtet.55 Die gleiche Bedeutung hat die Bezeichnung »natürliche Theologie«, wenn Bultmann auf die protestantische Orthodoxie zu sprechen kommt. Ihr Verfahren, die »fides quae creditur« durch die Vernunft zu beweisen, nennt Bultmann »eine Art rationaler ›natürlicher‹ Theologie«. Hier geht es ihm vor allem um den methodischen Aspekt: Die Glaubenssätze aus der Offenbarung werden vernünftig »erkannt und mit den Mitteln wissenschaftlicher Erkenntnis bearbeitet«, um sie als allgemein wahre Sätze einsichtig zu machen. Die Glaubenssätze sollen damit schon erkennbar sein, bevor der Mensch zum Glauben gelangt ist, denn die Zustimmung zu ihnen, der assensus, ist als Schritt auf den vollen Glauben, die fiducia, hin nötig.56 Schließlich nennt Bultmann Versuche in der »modernen theologischen Arbeit«, die Dogmatik auf einen »sogenannten religionsphilosophischen Unterbau« zu stellen, eine »Wiederholung der natürlichen Theologie«, wenn sie, »sei es durch eine religionsgeschichtliche oder religionspsychologische Orientierung, sei es durch den Versuch, ein religiöses Apriori aufzuweisen«, den Glauben »als ein allgemein-menschliches, zum vollen Menschentum gehöriges Phänomen« verstehen und damit Gott als jenseitiges Gegenüber des Menschen aus dem Blick verlieren.57 54

GuV II, 100; Anknüpfung, 125. Problem der natürlichen Theologie, 294. 56 Christologie, 86; Enzyklopädie, 31f; Theologie als Wissenschaft, 453f. Den inhaltlichen Beitrag der »notitia Dei naturalis« zum Lehrstück »de Deo« in der Orthodoxie erwähnt Bultmann nicht. 57 Problem, 294f. Bultmann meint hier Ansätze wie die von E. Troeltsch und R. Otto, vgl. liberale Theologie, 4f; Theologie als Wissenschaft, 452f. 55

144

4. Kapitel: Rudolf Bultmann

Mit dem Begriff »natürliche Theologie« bezeichnet Bultmann also ein Verfahren, das religiöse Aussagen rein rational gewinnen oder begründen will und dabei religiöse Inhalte wie Phänomene der Welt behandelt. Damit deutet sich die hermeneutische Kritik Ritschls und Herrmanns an der Verwendung der Metaphysik in der Theologie an. Bultmanns Begriff entspricht dabei dem Verständnis bei Ritschl, der die »natürliche Theologie« als Anwendung der Metaphysik innerhalb der christlichen Theologie versteht. Wenn Bultmann den rationalen Zugang des Welterkennens in der natürlichen Theologie für das Missverständnis des Glaubens als Lehrsystem verantwortlich macht, bindet er gewissermaßen Herrmanns späte Kritik am Verständnis des Glaubens als Lehrsystem an die vor allem in Herrmanns Frühschriften entwickelte hermeneutischen Kritik an der metaphysischen Behandlung der Glaubensvorstellungen zurück. Bultmann geht es aber nicht nur um den methodischen Beitrag der natürlichen Theologie, sondern auch um den inhaltlichen. Diesen sieht er in den »praeambula fidei« als rational gewonnener »Unterbau der Dogmatik«.58 Damit setzt sich Bultmann vorwiegend auseinander. 3.

Die Funktion der natürlichen Theologie in der alten Dogmatik

Ziel der Inanspruchnahme natürlicher Theologie ist, wie aus dem eben Gesagten schon deutlich wird, die Wahrheit der christlichen Aussagen zu begründen. Eine Äußerung lässt erkennen, wie Bultmann sich diese Funktionen genauer vorstellt. In seinem Vortrag »Das Problem der ›natürlichen Theologie‹« lehnt er die natürliche Theologie für die »protestantische Theologie« zwar ab, betont aber, dass die in ihr behandelten Probleme nach wie vor akut sind. Er begründet seinen Hinweis mit drei Phänomenen, aus denen die natürliche Theologie erwächst. Als erstes nennt Bultmann die »Tatsache des Verstehens«: Er weist darauf hin, dass die christliche Verkündigung auch von einem nicht glaubenden Menschen verstanden werden kann, d. h. der Mensch hat auch ohne den Glaubens eine Art Vorwissen, das das Verständnis der Verkündigung überhaupt ermöglicht. Zweitens konfrontiert für Bultmann das »Phänomen der Religion« die Theologie mit der »Tatsache, daß auch außerhalb des christlichen Glaubens von Gott und zu Gott geredet wird«. Die dritte Tatsache ist nach Bultmann das »Phänomen der Philosophie«, die das »Dasein des Menschen« verstehen will. Wird der Glaube nun als »Bewegung des Daseins« aufgefasst, so müsste er nach Bultmann auch für die Philosophie wahrnehmbar sein. 59 Bultmann denkt also erstens an die Funktion der natürlichen Theologie, die allgemeine Verständlichkeit der christlichen Aussagen aufzuzeigen. Der zweite Punkt bezieht sich auf die Notwendigkeit, die allgemeinen Vorstellungen von Gott mit der christlichen in ein Verhältnis zu setzen. Und der dritte Punkt 58 59

Problem der natürlichen Theologie, 294. Problem der natürlichen Theologie, 295.

II. Die Kritik an der natürlichen Theologie

145

entspricht ihrem Anliegen, den Glauben mit dem vernünftigen Welt- und Selbstverständnis des Menschen zu vermitteln. Weil Bultmann diese Punkte als ein bleibendes Problem für die Theologie betrachtet, wird er sich ihnen auf seine Weise stellen, wie wir weiter unten sehen werden. Damit erkennt er, wie Ritschl und Herrmann, das Motiv der Metaphysik in der Theologie als berechtigt an. 4.

Kritik der natürlichen Theologie

Bultmanns Kritik an der natürlichen Theologie beruht auf zwei Argumenten, einmal auf seinem radikalen Verständnis der Jenseitigkeit Gottes und zum anderen auf seiner Auffassung von der Allmacht Gottes. Die scharfe Betonung der Jenseitigkeit, das Verständnis von Gott als dem »Ganz Anderen«, war für Bultmann schon in seinen frühen Schriften der Grund, warum der Mensch Gott nicht aus eigener Kraft erreichen kann. Diesen Aspekt führt er nun auch gegen die natürliche Theologie an. Die natürliche Theologie, die Gott rein auf dem Wege der Vernunft erkennen will, denkt Gott wie »ein Seiendes nach Art der Welt, das wie die Phänomene der Welt Objekt der Erkenntnis werden kann«. Bultmann aber betont dagegen, dass Gott keine »Gegebenheit« ist wie die Dinge um uns herum, die uns in direkter Erkenntnis zugänglich sind. Gott als »Jenseits der Welt« wird »nur durch seine Offenbarung sichtbar«. Weil aber diese Offenbarung Gott eben als den ganz Anderen erkennen lässt, widerspricht sie dem Bild, das sich der Mensch ohne sie von Gott gemacht hat. Nur dem Glauben als Bejahung der Offenbarung ist Gott damit zugänglich.60 Die Allmacht Gottes ist ein Gedanke, den Bultmann im Hauptwerk mit dem Aspekt der Jenseitigkeit Gottes verbindet. Bultmann denkt die Allmacht Gottes als »die Alles bestimmende Wirklichkeit«, d. h. die Existenz des Menschen bestimmende Macht, der sich der Mensch nicht entziehen kann. Er wirft der rationalen Gotteserkenntnis vor, trotzdem einen Standpunkt außerhalb der Allmacht Gottes zu suchen. Diese Gotteserkenntnis kritisiert er als ein Reden »über Gott«, das Gott zu einem »Objekt des Denkens« macht und »in allgemeinen Sätzen, allgemeinen Wahrheiten« über ihn spricht. Das Problem solcher Sätze sieht Bultmann, wie Ritschl und Herrmann, in ihrer Allgemeingültigkeit, und das bedeutet für ihn die Abstraktion »von der konkreten Situation des Redenden«.61 Wie aber stellt sich Bultmann diese konkrete Situation genau vor? Bultmann versteht die Allmacht Gottes nicht nur als faktische Bestimmung durch Gott, sondern auch als den »Anspruch Gottes auf uns«.62 Und wenn Gott, gerade indem er die menschliche Existenz bestimmt, der »Ganz andere« ist, dann bedeutet dies für Bultmann, dass er »mir als dem Sünder gegenübersteht«.63 D. h. 60 61 62 63

Problem der natürlichen Theologie, 294f; liberale Theologie, 18. Sinn, 26f. Sinn, 27. Sinn, 30.

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4. Kapitel: Rudolf Bultmann

die konkrete Situation besteht für Bultmann darin, dass der Mensch sich ständig dem Anspruch Gottes entziehen will, also in der Sünde des Menschen. Und wenn die natürliche Gotteserkenntnis nun Gott unter Verweigerung seines Anspruchs auf die menschliche Existenz erfassen will, dann kann sie Gott gar nicht wirklich erkennen, weil sie gar nicht erfassen kann, was Gottes Allmacht und Jenseitigkeit wirklich bedeuten. Vielmehr ist der Versuch der natürlichen Gotteserkenntis, einen Standpunkt außerhalb der Allmacht Gottes einzunehmen, für Bultmann eine »Gottlosigkeit« und damit »Sünde«.64 Es erinnert an Herrmanns Metaphysikbegriff, wenn Bultmann auch den Versuch ablehnt, die Bedeutung Gottes für die menschliche Existenz dadurch zu verstehen, dass man Gott als »Prinzip der Welt« denkt, sei es als Grund unserer Existenz oder als Ursprung der Naturgesetze. Denn dabei wäre Gott wieder nur »von außen« gesehen, als eine allgemeine, von der eigenen Existenz gelöste Wahrheit und würde zu einer »Gegebenheit, zu der eine Erkenntnisrelation möglich ist, die nach Belieben vollzogen werden kann«.65 Gott ist aber nach Bultmann nicht »objektivierbar«, d. h. er lässt sich nicht wie ein Gegenstand der menschlichen Wahrnehmung unterwerfen. Er ist »wesenhaft nicht erfaßbar . . . , weil er alles erfaßt«. Weil es keinen Standpunkt außerhalb Gottes gibt, kann der Mensch Gott nicht ohne den Blick auf sich selbst erkennen. Gott kann nur aus seiner Bedeutung für die eigene Existenz erkannt werden, »als der mich fordernde und richtende, mich begnadigende und schenkende«.66 Weil für Bultmann Allmacht bedeutet, dass Gott »den Augenblick schickt und seinen Anspruch in ihm stellt«, erschließt sich Gott nur jeweils »im Augenblick« der eigenen Existenz und ist »in seinem Was gar nicht allgemein zu bestimmen«.67 Nur wer von der eigenen Erfahrung her spricht, nur wer Gottes Anspruch in seiner eigenen Existenz wahrnimmt, der kann nach Bultmann wirklich »von Gott als dem Herrn der Wirklichkeit . . . reden«.68 Neben dieser Kritik an der natürlichen Gotteserkenntnis wendet sich Bultmann gegen ein Glaubensverständnis, das sich aus der Methode der natürlichen Theologie ergibt. Die Orthodoxie weist nach Bultmann ein problematisches Glaubensverständnis auf, weil sie die »Sätze der fides quae creditur« zu allgemeingültigen Wahrheiten macht, denen der Mensch zustimmen muss, um zum vollen Glauben zu gelangen. Diese Wahrheiten sollen gelten »ohne den existentiellen Bezug auf die konkrete Situation des Sprechenden«. Der diesem Inhalt zugehörige Glaubensakt, die »fides qua«, wird dadurch reduziert zu einem Entschluss, Sätze als allgemeine Vernunftwahrheiten anzuerkennen, auf die der Mensch »von sich 64

Sinn, 27f. Sinn, 32. 66 Theologie als Wissenschaft, 451; vgl. Sinn, 28: ». . . will man von Gott reden, so muß man offenbar von sich selbst reden«. 67 Enzyklopädie, 61f. 68 Sinn, 33. 65

II. Die Kritik an der natürlichen Theologie

147

aus nie gekommen wäre, und die er mit ganzem oder teilweisem sacrificium intellectus für wahr hält«. Damit ist der Glaubensakt zu einem »menschlichen Werk« geworden, das sich auf eine Lehre richtet und Gott als seinen eigentlichen Gegenstand verloren hat.69 Bultmann folgt hier also der Linie von Ritschl und Herrmann, die an der Verwendung der (traditionellen) Metaphysik die Behandlung der Glaubensvorstellungen als allgemeine Begriffe kritisieren, die den konstitutiven Bezug zum religiösen Leben übersieht. Wenn Bultmann den fehlenden Lebensbezug kritisiert, so geht es ihm um eine grundsätzliche Haltung, mit der der Mensch der Welt begegnet und die er in der natürlichen Theologie unzulässigerweise auf Gott und den Glauben überträgt. Diese Erkenntnishaltung, die Bultmann im Bereich der Wissenschaft durchaus als berechtigt akzeptiert, ist allerdings nicht nur im Blick auf Gott und den Glauben problematisch, sondern birgt die Gefahr, den Menschen für Wirklichkeitserfahrungen zu verschließen, auf die der Glaube sich bezieht. Hier schimmert Herrmanns Kritik an der fehlenden Aufrichtigkeit durch, die es dem Menschen ermöglicht, sich den auf den Weg zum Glauben führenden Wirklichkeitserfahrungen zu verschließen. Auch für Bultmann besitzt nur der Mensch, der sich selbst und seiner Lebenswirklichkeit nicht ausweicht, ein Verständnis für den Glauben. Es kommt also nicht nur darauf an, dass der Mensch seine Lebenswirklichkeit einbezieht, sondern auch darauf, wie er sie erfasst. Die gängige wissenschaftliche Betrachtung der Wirklichkeit kommt für Bultmann dafür nämlich nicht in Frage. In ihrem Bereich berechtigt, eignet sie sich nicht dafür, dass der Mensch seine Wirklichkeitserfahrungen und damit sich selbst verstehen kann. 5.

Die Abstraktion von der Existenz in der Wissenschaft

Nach Bultmann wird etwas wissenschaftlich als wirklich beurteilt, wenn es sich in den »einheitlichen Zusammenhang dieser Welt« einordnen lässt. Dabei ist es für Bultmann gleichgültig, ob dieser Zusammenhang kausal oder teleologisch hergestellt wird und ob seine Elemente als materiell oder geistig gedacht werden. Entscheidend ist vielmehr, dass das aus diesem Zusammenhang entstehende Weltbild »unter Absehung von unserer eigenen Existenz« konstruiert ist. Der Mensch wird zu einem »Objekt unter anderen Objekten« und als solches in den jeweils als Wirklichkeit betrachteten Zusammenhang eingeordnet. Er wird dabei dann »etwa als Zufallsprodukt einer Atomverbindung, als höchstes Wirbeltier und Vettern der Affen oder als ein interessantes Phänomen psychischer Komplexe« verstanden. Alle diese Weltanschauungen erweisen nach Bultmann 69 Theologie als Wissenschaft, 454; vgl. Enzyklopädie, 32–34. Deutlich ist hier Bultmanns Anknüpfung an Herrmanns Kritik am römischen Glaubensverständnis als Lehrgesetz und am assensus der Orthodoxie; z. B. HERRMANN, Verkehr 7 , 171–179.

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4. Kapitel: Rudolf Bultmann

dem Menschen den »großen Dienst, daß sie ihn von sich selbst losbringen, daß sie ihn der Problematik seiner konkreten Existenz, der Sorge um sie und der Verantwortung für sie entheben«. Sie ermöglichen es dem Menschen, den »Moment«, in dem die »Rätsel« des Lebens seine Existenz fraglich machen, nicht ernst nehmen zu müssen, indem er ihn »als einen Fall des Allgemeinen« in den Zusammenhang eines bestimmten Weltbildes einordnet, was bedeutet, »ihn zu objektivieren und so aus seiner eignen Existenz herauszuspringen«.70 Diese »Flucht des Menschen vor sich selbst« ist das Motiv, ein »Wissen um des Wissen willens« zu betreiben, das völlig vom Leben abgelöst ist.71 Nach Bultmann besteht »in der Wissenschaft« die Tendenz, das Wissen immer mehr von seinem Lebensbezug zu lösen. Es geht immer weniger um das Dasein des Menschen und immer stärker um ein Wissen um des Wissenwollens. Die Wissenschaft wird zum Selbstzweck. Ursprünglich aber besteht nach Bultmann der Anlass des Wissens, das »Wozu, um deswillen man wissen will«, in der menschlichen »Sorge um sich selbst«. Der Mensch bildet sich ein Wissen von Gegenständen, weil er durch die Sorge für sein Dasein mit ihnen zu tun bekommt. Wenn nun aber die Wissenschaft das Wissen vom Leben ablöst, so verliert das Wissen seine Gegenstände. Sie kann die Gegenstände »nur noch als das stillhaltend Betrachtbare« sehen, das auf den Erkennenden keine Rückwirkung entfaltet – »als die Fülle der Möglichkeiten für mein Tun und Leiden, für meine Entscheidungen«.72 Und deshalb bezeichnet Bultmann das Verhältnis der Wissenschaft, besonders der Naturwissenschaft, zu den Gegenständen als »das betrachtende Hinsehen aus der Distanz«.73 »Echtes Wissen« ist dagegen nach Bultmann »durch seinen Gegenstand bestimmt« und sucht die Wahrheit in der »Erschlossenheit des Gegenstandes«,74 70

Sinn, 31. Enzyklopädie, 38f. Bultmann hat die Vorlesung »Theologische Enzyklopädie« mehrfach gehalten und immer wieder überarbeitet. In der von Jüngel und Müller besorgten Edition des Vorlesungsmanuskripts spiegeln vor allem die Schichten A bis C die Vorlesung des Jahres 1930, die Ebeling in seinem ersten Semster gehört hat. 72 Enzyklopädie, 36f. Der Begriff der Sorge ist ein Kernbegriff in Heideggers Sein und Zeit. Heidegger bezeichnet damit die Grundverfassung des menschlichen Daseins, das in der Eingebundenheit in die Welt für sich selbst sorgt. Dabei besteht die Beziehung zu Dingen, die sich der Mensch für sein Dasein dienstbar macht, im »Besorgen«, zu anderen Menschen dagegen in der »Fürsorge«. Damit ist die Sorge bei Heidegger der Ausdruck eines unmittelbaren und ursprünglichen Verhaltens des Menschen zu seiner eigenen Existenz. S. HEIDEGGER, SuZ, 6. Kapitel, bes. § 41. 73 Enzyklopädie, 40f. 74 Auch hier greift Bultmann wieder einen Zentralbegriff aus Heideggers Sein und Zeit auf. Unter »Erschlossenheit« versteht Heidegger die dem Dasein unmittelbare Zugänglichkeit seiner selbst und der Welt in einem unmittelbar gegebenen, vorreflexiven Verstehen des Daseins. S. z. B. HEIDEGGER, SuZ, § 31. Bultmann, Enzyklopädie, 42 spricht von »einem vorläufigen, dunklen Wissen, das in jedem Verhältnis zu einem Seienden mit da ist«. Zu be71

II. Die Kritik an der natürlichen Theologie

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d. h. das Wissen des Gegenstandes ist »im Verhältnis des Menschen zum Gegenstand begründet« und macht das Verhältnis des Menschen zum Gegenstand deutlich. »Echtes Wissen« tritt deshalb für Bultmann nicht als sekundäre Reflexion zum Leben hinzu, sondern ist »ein Stück des Lebens selbst«.75 Bultmann kritisiert nun die Wissenschaft dafür, dass sie die Frage nach der Wahrheit mit ihrer Art der distanzierten Betrachtung zu beantworten versucht. Er wirft ihr vor zu übersehen, dass die Frage nach der Wahrheit Ausdruck der »Sorge des Daseins« ist, das sich selbst verstehen will und deshalb, weil Dasein zeitlich ist, den »Augenblick« verstehen will. Abgesehen davon, dass eine Einzelwissenschaft die Frage nach der Wahrheit nur je für ihr Gebiet und damit mit Einzelwahrheiten beantworten kann, können die Wissenschaften mit ihren zeitlosen Sätzen die Frage nach »der Wahrheit« als »Frage des Daseins je nach seinem Jetzt« überhaupt nicht stellen. Nach Bultmann bedeutet es »eine Verirrung des Daseins, wenn es meint, durch zeitlose Wahrheiten der jeweils vom Jetzt gestellten Frage Herr werden zu können«.76 Denn die Frage nach der Wahrheit überhaupt sieht Bultmann gerade dann entstehen, wenn der Mensch entdeckt, dass sich ihm das »Jetzt« in seinem Anspruch eben nicht »durch das Wissen des Einzelnen«, also durch Einzelwahrheiten erschließt.77 Das Dasein fragt nach Wahrheit, weil es sich verstehen muß, um bei sich selbst zu sein, um zu seiner Eigentlichkeit zu kommen, und das heißt – da Dasein immer Handeln ist – zugleich zu wissen, was ich je tun soll.

Aufklärung und Positivismus haben Bultmann zufolge die Wahrheit in der Summe aller Einzelwahrheiten gesucht. Der Mensch will sich verstehen, indem er die Welt versteht: »Kennt man alles, so kann man sich nicht mehr versehen, vergreifen.« Aber dabei ist nach Bultmann schon vorausgesetzt, dass der Mensch bei sich selbst ist und dass die Wissenschaft ihn »von außen sehen und verstehen kann«. Griechische Philosophie und Idealismus fasst Bultmann zusammen, weil sie die Wahrheit in der vernünftigen Struktur des Seins gesucht haben, im λόγος, der sowohl dem menschlichen Geist wie auch der Welt im ganzen zu Grund liegt. Der λόγος gibt die Antwort auf die Frage nach dem Augenblick und seinem Anspruch auf den Menschen. Aber bei dieser Antwort, kritisiert Bultmann, muss die Philosophie den Augenblick »aus der Sphäre des Endlichen und Zeitlichen herausheben in die Sphäre des Ewigen, Zeitlosen, der Idee«.78

achten ist ferner, dass Heidegger das Wort »Dasein« für das menschliche Dasein oder einfach den Menschen verwendet; s. u. S. 191 Anm. 56. 75 Enzyklopädie, 42f. 76 Enzyklopädie, 44f. 77 Enzyklopädie, 47. 78 Enzyklopädie, 48f. Ähnlich wie Bultmann griechischer Philosophie und Idealismus das Denken in der Zeitlosigkeit vorwirft, kritisiert Ebeling die Metaphysik dafür, dass sie die

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4. Kapitel: Rudolf Bultmann

Weil Bultmann aber das Dasein als »zeitlich geschichtlich« versteht, »dem es je im Jetzt um sich selbst geht«, macht für ihn die Frage nach der Wahrheit überhaupt nur Sinn als die »Frage nach der einen Wahrheit des Augenblicks, meines Augenblicks«.79 Die Frage nach der Wahrheit stellt sich existentiell und kann deshalb auch nur existentiell und nicht innerhalb einer Wissenschaftsauffassung beantwortet werden, die die Gegenstände von ihrem Lebensbezug löst und stattdessen in den Zusammenhang einer abstrakten Idee einreiht. Nur in einem derart aufgebrochenen Zugang zur Wirklichkeit wird dem Menschen seine eigene Grundverfassung deutlich, also ein Verständnis seiner selbst, das wiederum für das Verständnis des Glaubens notwendig ist.

III.

Bultmanns Alternative

Bultmann geht wie Ritschl und Herrmann davon aus, dass der Glaube verständlich gemacht werden kann und muss, indem sein Bezug zur Wirklichkeit aufgedeckt wird, auf die jeder Mensch durch seine Erfahrung ansprechbar ist. Wie Bultmann die Notwendigkeit der Vermittlung genau begründet, geht aus seiner Bestimmung der Theologie hervor. Und wie Bultmann die Möglichkeit dieser Vermittlung sieht, beantwortet seine »natürliche Theologie«. 1.

Die Bestimmung der Theologie

a)

Die Aufgabe der Theologie

Als Aufgabe der Theologie bezeichnet Bultmann die »begriffliche Klärung der gläubigen Existenz«80 , worunter er genauer die »systematische Explikation des im Glauben gegebenen christlichen Existenzverständnisses«81 versteht. Welchen Zweck aber verfolgt diese Explikation? Weil Bultmann die Notwendigkeit der Theologie nicht aus einem allgemeinen Wissenschaftsbegriff ableiten kann,82 also etwa als Teil der menschlichen Reflexion der Welt, bestimmt er ihre Funktion auch nicht im Zusammenhang des allgemeinen Wissens. Theologie kann für ihn nicht die Funktion haben, die Glaubenssätze als »allgemeine Wahrheiten« auszuarbeiten, einen »religionsGotteslehre »in der Situation ewiger Muße, in der Ungestörtheit der Zeitlosigkeit« behandelt; EBELING, Dogmatik I, 168. 79 Enzyklopädie, 50. Bultmann baut damit die schon bei Herrmann begegnende Verbindung von Geschichtlichkeit und Existenz weiter aus. 80 Enzyklopädie, 163; Geschichtlichkeit, 348. Vgl. Herrmann, HERRMANN, Lage, 85f, der die Aufgabe der Dogmatik darin sieht, dass sie »das Leben des Glaubens« darstellen soll. 81 Theologie als Wissenschaft, 462; Kirche, 181; Enzyklopädie, 167; so auch schon 1913: Theologische Wissenschaft, 124. 82 Geschichtlichkeit, 348; Enzyklopädie, 163; Kirche, 181.

III. Bultmanns Alternative

151

philosophischen Beweis« zu finden oder Gott »in seinem Für-sich-Sein« zu thematisieren.83 Vielmehr weist er der Theologie eine Funktion allein für die Kirche zu. In diesem Kontext bestimmt er sie als »kritische Prüfung« der Verkündigung, »ob sie wirklich reine Lehre sei«. Die Theologie hat zu prüfen, ob Inhalt und Begriffe der Verkündigung wirklich »sachgemäß« sind.84 Sie soll helfen zu klären, »was uns verkündigt wird und was wir zu verkündigen haben«,85 und »falsche von echter Verkündigung zu unterscheiden«86 . Die Offenbarung führt zu einem neuen Selbstverständnis des Menschen und damit auch zu Erkenntnis.87 Angesichts anderer Arten der Erkenntnis muss sie ihr Verstehen »explizit« darlegen. Bultmann führt als Beispiel »Judaismus« und Gnosis an, die die Erscheinung Jesu anders als das frühe Christentum verstehen. Die christliche Verkündigung wehrt sich dagegen »kritisch und polemisch«, indem sie diese Formen als falsches Verstehen einstuft.88 Die Notwendigkeit von Theologie erhebt sich also angesichts der Gefahr, dass das Evangelium falsch verstanden und gepredigt wird. Diese Gefahr droht der Kirche aber nicht nur von außen, durch »Irrlehren«. Auch der Glaubende hat sich nach Bultmann »den Sinn der Verkündigung immer wieder klarzumachen«, weil die gehorsame Antwort des Glaubens auf die Verkündigung »nie ein für allemal« gegeben ist, sondern sich in jedem Augenblick der Existenz vollzieht.89 Glaube ist für Bultmann »Rechtfertigungsglaube«. Das bedeutet einmal, dass er verborgen ist. Bultmann versteht die Rechtfertigung unter Berufung auf die lutherische Orthodoxie rein imputativ,90 d. h. für ihn ist die neue Existenz eine »eschatologische« und keine greifbare »Qualität«91 am Glaubenden. Und zum anderen, dass er unverfügbar ist. Der Glaubende muss sich den Geschenkcharakter der Rechtfertigung bewusst halten. Um den Gehorsam des Glaubens in jedem Augenblick der Existenz vollziehen zu können, muss sich der Glaubende »den vollen Ernst dessen, was Glauben heißt, zum Bewußtsein« bringen, also die Verborgenheit und die Unverfügbarkeit des Glaubens. Deshalb bedarf der Glaube »der Reflexion auf sich selbst«.92

83 84 85 86 87 88 89 90 91 92

Theologie als Wissenschaft, 462. Enzyklopädie, 166f; vgl. 161; Geschichtlichkeit, 349. Enzyklopädie, 164. Enzyklopädie, 168. Kirche, 179. Kirche, 181f. Enzyklopädie, 165. Enzyklopädie, 140. Enzyklopädie, 139. Theologie als Wissenschaft, 458f.

152 b)

4. Kapitel: Rudolf Bultmann

Theologie als Wissenschaft

Auch wenn die Theologie einen Zweck nur für die Kirche erfüllt, so sieht Bultmann doch ihre Wissenschaftlichkeit gegeben, weil er darunter ein bestimmtes »Verfahren« versteht.93 Theologie verfährt ihm zufolge wissenschaftlich, weil sie ein »objektivierendes Verfahren« darstellt, d. h. sich einem Gegenstand in einer vom ursprünglichen Lebensverhältnis distanzierenden Weise gegenüberstellt. Sie arbeitet objektiv, sofern sie rein von ihrem Interesse am Gegenstand und nicht von praktischer Brauchbarkeit oder Vorurteilen geleitet ist. Sie geht von einem »vorwissenschaftlichen Verhältnis zu ihrem Gegenstand« aus und arbeitet das in ihm gegebene Verständnis methodisch aus. Und sie besitzt eine eigene, ihrem »Gegenstandsgebiet« spezifisch entsprechende Methode.94 Mit allen Wissenschaften aber hat sie Bultmann zufolge gemein, dass sie dabei in »begründenden Sätzen« vorgeht, um ein »Gegenstandsgebiet . . . in seinem inneren Zusammenhang« zu zeigen.95 Dieser Bezug auf einen konkreten Gegenstand ist für Bultmann der Grund, warum er die Theologie gegenüber der grundsätzlichen Allgemeinheit der Philosophie als »positive Wissenschaft« versteht. Das gläubige Dasein, dem sich die Theologie widmet, stellt für ihn ein »Positum,« eine mögliche Konkretion der allgemeinen Daseinsbeschreibung dar, wie sie die Philosophie vornimmt.96 Der Gegenstandsbezug erhellt auch, in welcher Weise in der Theologie Wahrheit begegnet. Dazu ist nach Bultmann die »Mehrdeutigkeit des Begriffes ›Wahrheit‹« zu berücksichtigen. Bultmann fasst Wahrheit, wie wir oben gesehen haben, als »Erschlossenheit des Gegenstandes« auf. Dabei unterscheidet er zwischen der Wahrheit überhaupt, die das Dasein erschließt, und der wissenschaftlichen Wahrheit, die den konkreten Gegenstand der Wissenschaft erschließt. Im Blick auf diese wissenschaftliche Wahrheit unterscheidet sich die Theologie nicht von anderen Wissenschaften, die auf wahre Aussagen über ihren Gegenstand zielen. Die Besonderheit der Theologie besteht aber darin, dass sie in ihrem Gegenstand »die Wahrheit« vorfindet, nämlich die Erschlossenheit des Daseins und des Augenblicks durch die Offenbarung. Diese Wahrheit kann die Theologie nicht begründen oder beweisen, sie ist »der Gegenstand der Theologie . . . und nicht ihr Ergebnis«. Auch die Naturwissenschaft muss die Natur als ihren Gegenstand voraussetzen und nicht erst hervorbringen. Und ebenso hat die Theologie die Wahrheit des Glaubens als ihren Gegenstand vorauszusetzen. Wie die anderen

93

Theologie als Wissenschaft, 447. Theologie als Wissenschaft, 468. 447–450. 95 Theologie als Wissenschaft, 450. 96 Geschichtlichkeit, 343. Zu den teilweise wörtlichen Parallelen zwischen Bultmanns Ausführungen und Heideggers Vortrag »Phänomenologie und Theologie«, gehalten 1927 in Tübingen und 1928 in Marburg, vgl. MANZKE, 216–221 und L ANDMESSER, 181–186. 94

III. Bultmanns Alternative

153

Wissenschaften sucht die Theologie nach der Wahrheit über ihren Gegenstand, mit der Besonderheit, dass sie damit »die Wahrheit über die ›Wahrheit‹« sucht.97 Diese Differenzierung ist wichtig, weil sie zeigt, dass Bultmann die für eine Wissenschaft konstitutive Wahrheitsfrage nicht einfach ablehnt, wenn er die alte Dogmatik mit ihrer natürlichen Theologie kritisiert. Natürlich muss sich die Theologie fragen und fragen lassen, ob ihre Aussagen wahr sind, ob sie also ihren Gegenstand tatsächlich und richtig erfasst. Und gleichzeitig kann er zeigen, warum die Theologie die im Glauben und durch den Glauben erschlossene Wahrheit nicht zu begründen und zu beweisen hat. c)

Theologie als existentiale Wissenschaft

Wie führt die Theologie nun die »Explikation der gläubigen Existenz« durch? Weil sie ihren Gegenstand als ein Geschehen in der Existenz betrachtet, muss sie auf die Existenz als solche Bezug nehmen, also auf das »geschichtliche Dasein«, wie Bultmann auch sagt. Dasein existiert, wie Bultmann im Anschluss an Heidegger formuliert, als geschichtliches: Dem Menschen erwachsen in jedem Augenblick seines Daseins verschiedene Möglichkeiten seines »Seinkönnens«, von denen er je in seinem »Jetzt« eine als »Möglichkeit seiner selbst« ergreifen muss.98 Darin ist ein Verstehen des Daseins gegeben, das der Mensch bewusst ausbilden kann. An dieses Selbstverständnis kann die Theologie anknüpfen und die gläubige Existenz als eine bestimmte Weise des geschichtlichen Daseins aufgrund eines bestimmten Selbstverständnisses verständlich machen. Diese Anschlussfähigkeit der gläubigen Existenz aufzuzeigen ist eine Aufgabe, der Bultmann in seiner natürlichen Theologie nachkommt, und an ihr hängt für ihn die »Möglichkeit« der Theologie überhaupt.99 Wie Bultmann dies tut, sollen nun die folgenden Abschnitte zeigen. 2.

Bultmanns natürliche Theologie

Bultmann thematisiert das geschichtliche Dasein im Rahmen seiner natürlichen Theologie, weil für ihn nicht erst das gläubige, sondern bereits das vorgläubige »natürliche« Dasein auf Gott stößt. Deutlich ist ihm dies durch die Tatsache, dass die christliche Botschaft verstanden werden kann, durch das Phänomen des außerchristlichen Redens von Gott und durch die Philosophie. Dabei unterscheidet der Standpunkt des Glaubens Bultmanns natürliche Theologie vom traditionellen Ansatz. Während Bultmann der traditionellen natürlichen Theologie vorwirft, dass sie nicht vom Glauben aus entworfen ist, aber die theologische Darstellung des Glaubens durch einen rationalen Unterbau 97 98 99

Enzyklopädie, 14. Enzyklopädie, 50. 143. 146. Enzyklopädie, 163; vgl. Problem der natürlichen Theologie, 312.

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4. Kapitel: Rudolf Bultmann

begründen will, betont er die Möglichkeit und Notwendigkeit einer natürlichen Theologie, die »vom Glauben aus das ›natürliche‹ (vorgläubige) Dasein verständlich macht«.100 Im Anliegen des Verstehens sieht Bultmann den Unterschied seines Verfahrens zur alten Dogmatik. Er betont, dass er keinen religionsphilosophischen »Unterbau zur Dogmatik« oder einen »Gottesbeweis« liefern will, um die »Wahrheit der christlichen Verkündigung« zu begründen, sondern er will sie, »wie es in der Gesetzeslehre des Paulus geschieht«, verständlich machen, indem er vom Glauben aus aufdeckt, was der natürlichen Theologie in Wahrheit zu Grunde liegt.101 a)

Die Frage des Verstehens

Zunächst geht Bultmann der Frage nach, warum die christliche Verkündigung überhaupt verstanden werden kann, selbst von nicht glaubenden Menschen, wenn man gleichzeitig davon ausgeht, dass die Offenbarung dem natürlichen Dasein diametral gegenübersteht und man deshalb kein allgemeines, durch Vernunft oder das Leben selbst zu ermittelndes Wissen annehmen kann, das wirklich Wissen von Gott ist. Kernbegriff von Bultmanns Überlegungen ist das »Vorverständnis«. Dieser Terminus begegnet bei Bultmann zunächst in Bezug auf das Verstehen von Texten. Um einen Text zu verstehen und zu interpretieren, muss ein Leser ein Vorverständnis von dem Sachverhalt haben, um den es im Text geht. Dieses Vorverständnis ist ein unmittelbares, vorreflexives Verstehen, das dem Menschen durch seinen Umgang mit dem Sachverhalt in seinem Leben gegeben ist. Bultmann spricht von einem Verstehen aus dem »Lebensverhältnis des Interpreten zu der Sache, die im Text . . . zu Worte kommt«. Das bedeutet, dass Autor und Interpret des Textes »den gleichen Lebensbezug« zur Sache haben, »weil sie (sofern sie) im gleichen Lebenszusammenhang stehen«.102 Dieses »Vorverständnis« ermöglicht nun auch das Verstehen der christlichen Verkündigung.103 Die Verkündigung ermöglicht nach Bultmann dem, der sie hört und im Glauben bejaht, ein neues Existenzverständnis. Dieses neue Existenzverständnis kann aber nur verstanden werden, weil dem Menschen im Umgang mit dem Leben immer schon ein Verstehen seines Daseins gegeben ist.104 Weil er in 100

Geschichtlichkeit, 350 Anm. 1. Problem der natürlichen Theologie, 302f. 102 Problem der Hermeneutik, 217; vgl. GuV I, 125f; GuV III, 147. Es ist deutlich, dass Bultmann hier Heideggers Begriff der »Erschlossenheit« verarbeitet, mit dem er die konstitutive Angewiesenheit des Wissens auf den im Lebensverhältnis gegebenen Bezug zum Gegenstand begründet; s. Anm. 74. 103 Problem der natürlichen Theologie, 295. 104 Bultmann knüpft hier an Heidegger an, der das Dasein als Verstehen beschreibt sowie als »Möglichsein« und »Seinkönnen« durch das Verstehen seiner Möglichkeiten, z. B. HEIDEGGER , SuZ, § 31, bes. 144f. 101

III. Bultmanns Alternative

155

diesem Daseinsverständnis um Tod und Leben weiß, weil er die Möglichkeiten seines Daseins kennt, kann er ein anderes Existenzverständnis verstehen, das dieses Wissen neu erschließt. In diesem Sinn bezeichnet Bultmann das alte, aus dem Lebensverhältnis des Menschen erwachsende Existenzverständnis als »Vorverständnis« für die Verkündigung.105 Das Existenzverständnis des Glaubens negiert und ersetzt das alte Verständnis, indem es an einem Problem desselben ansetzt. Bultmann betont, dass die Offenbarung in diesem Prozess des sich selbst Verstehens »nur in Frage stellen« kann, »was schon in Frage steht«. Die Offenbarung stößt auf die »Fragwürdigkeit«, die in der natürlichen Existenz und ihrem Selbstverständnis gegeben ist.106 Die den Menschen, der er selbst sein will und der sein Selbst verloren hat, bewegende Frage nach seiner Eigentlichkeit ist der Anknüpfungspunkt für Gottes Wort.

Insofern betrachtet Bultmann den Menschen »in seiner Existenz als ganzer« als den »Anknüpfungspunkt«, durch den die Offenbarung dem Menschen verständlich ist. Aber eben nur in der Weise, dass die Offenbarung dem bisherigen Existenzverständnis des Menschen widerspricht – die Anknüpfung besteht im Widerspruch.107 Eine »natürliche Theologie« muss für Bultmann also nicht vernünftige Aussagen über Gott finden, um die Offenbarung und das aus ihr entstehende Glaubenswissen dem allgemeinen Verstehen vermitteln zu können, sondern muss die »Fragwürdigkeit« der Existenz herausarbeiten, die die »ungläubige Existenz und ihr Selbstverständnis« beherrscht, die aber erst vom Glauben aus erkennbar ist.108 b)

Außerchristliche Vorstellungen von Gott

Das im Dasein gegebene Vorverständnis ist nach Bultmann der Hintergrund, auf dem der Mensch außerhalb der Offenbarung Vorstellungen über Gott entwickelt. Bultmann will nun zweierlei zeigen: Zum einen, dass diese Vorstellungen von Gott überhaupt kein Wissen von Gott, sondern vielmehr vom Menschen enthalten, zum anderen aber, dass wiederum der Glaube in diesem Wissen vom Menschen tatsächlich von Gott weiß. Nach Bultmann dient in den verschiedenen Gottesvorstellungen das Wort »Gott« zur »Bezeichnung eines bzw. des ›Höchsten Wesens‹«, was allerdings unterschiedlich konkretisiert wird. Bultmann geht die verschiedenen Bedeutungen der Bezeichnungen durch und interpretiert sie vom Standpunkt des christlichen Glaubens aus. 105 106 107 108

Problem der natürlichen Theologie, 296f; vgl. GuV I, 126; Geschichtlichkeit, 351f. Problem der natürlichen Theologie, 297f. Anknüpfung, 120f. Problem der natürlichen Theologie, 298.

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4. Kapitel: Rudolf Bultmann

Zum einen zielt die Bezeichnung auf eine Verkörperung der menschlichen Wünsche und Ängste, in der sich das Wissen ausdrückt, dass der Mensch die Erfüllung seiner Wünsche nicht in der Hand hat. Aus der Perspektive des Glaubens erkennt Bultmann hier die »Intentio« des Menschen, sich diese Macht verfügbar zu machen. Auch wenn im Glauben diese Intention »gebrochen« ist, ist in ihr doch etwas Wahres enthalten: Bultmann entdeckt in dieser Vorstellung ein bestimmtes Selbstverständnis des Menschen, nämlich »als eines dem Rätsel, dem Übermächtigen, Ausgelieferten«, der gleichzeitig auf sich bedacht ist und sich sichern will.109 Die zweite Konkretion leitet Bultmann vom Denken des Menschen her. Wenn Gott als »prima causa«, »Idee der Einheit, der Gesetzlichkeit, der Unbedingtheit, des Ursprungs« gedacht ist, dann zeigt sich darin nach Bultmann der Wille des Menschen, die Wirklichkeit von Gott her zu verstehen. Auch wenn vom Glauben aus dieses Bestreben als »Flucht vor Gott in die Kosmologie, in die Weltanschauung« aufgedeckt wird,110 ist darin etwas Wahres zu entdecken. Motiviert wird der Mensch dazu, weil er »um das Rätsel des Augenblicks« weiß und »den Anspruch des Augenblicks« erahnt, was für Bultmann eine »sich selbst verdeckte Anerkennung des Schöpfers« darstellt.111 Die dritte Konkretion, die Bultmann anführt, ist der zweiten ähnlich, richtet sich aber nicht auf die Welt und ihre vernünftige Erklärung, sondern auf den zwischenmenschlichen Bereich. Auch hier weiß sich der Mensch vor einen Anspruch gestellt, den er in der Vorstellung von Gott als dem »Garant des Sittengesetzes« zum Ausdruck bringt. Im »Wissen um Gut und Böse, um das Sollen, unter das der Mensch sich stellt« liegt nach Bultmann das verborgene »Wissen um die Forderung Gottes im Augenblick«, die »im begegnenden Du laut wird«. Verborgen aber deshalb, weil der Glaube erkennt, dass der Mensch die Übernahme des Sollens zu einem Akt der Freiheit erklärt und damit gerade seiner Gebundenheit gegenüber Gott zu entfliehen sucht.112 Als vierte Konkretion nennt Bultmann die Vorstellung von Gott »als das Irrationale, Numinose«. Der Glaube sieht hier die Intention des Menschen, sich des Rätsels zu bemächtigen, indem er es »für Gott erklärt«. Dennoch spiegelt dies für Bultmann das Wissen, dass der Mensch Gott nicht durch seine Vernunft oder die Moral finden kann, sondern dass er, wenn er die Frage nach Gott von sich ausgehend lösen will, »im Rätsel und im Unheimlichen« steht.113

109

Problem der natürlichen Theologie, 300f. Vgl. o. S. 148. 111 Problem der natürlichen Theologie, 301. Bultmann führt hier nicht aus, was er unter dem »Anspruch des Augenblicks« versteht, hilfreich sind dafür die Ausführungen aus der Enzyklopädie-Vorlesung, s. o. S. 149f. 112 Problem der natürlichen Theologie, 302. 113 Problem der natürlichen Theologie, 302. 110

III. Bultmanns Alternative

157

In einem späteren Aufsatz entfaltet Bultmann die Konkretionen als Bestandteile eines allgemeinen Gottesgedankens, den er nun unter Anknüpfung an Luthers allgemeine Fassung des Gottesgedankens in der Auslegung des ersten Gebots im Großen Katechismus gewinnt. Die erste Konkretion wird hier zum Gedanken der Allmacht Gottes, in dem sich das Wissen des Menschen um seine Ohnmacht ausdrückt. Die zweite und dritte Konkretion werden zusammengefasst im Gedanken der Heiligkeit Gottes, der Gott als Richter versteht und der das Wissen des Menschen um sein »Gefordertsein« zeigt. Und die vierte Konkretion wird zum Gedanken der Ewigkeit Gottes, der das Wissen des Menschen um seine »Vorläufigkeit« zum Ausdruck bringt.114 Wie Ritschl und Herrmann besteht Bultmann aber darauf, dass der Mensch Gott ausschließlich durch Offenbarung und Glauben findet. Er verleiht dem besonderen Nachdruck, indem er sagt, dass »alles menschliche Reden von Gott außerhalb des Glaubens« nicht von Gott redet, »sondern vom Teufel«. Dennoch betont er, dass der »natürliche Mensch« auf dem Hintergrund seiner Existenz den »Gottesgedanken« erfassen kann, ja sogar dass dieser Mensch »in seiner Existenz um Gott weiß«.115 Wie ist dieses Wissen zu verstehen? Bultmann spricht davon, dass die außerchristlichen Gottesvorstellungen »nur die Frage nach Gott« enthalten. Denn das Wissen in ihnen hält er, wie wir gesehen haben, für »ein Wissen des Menschen von sich selbst«, und zwar »ein Wissen um das, was er nicht hat und nicht ist . . . ein Wissen um die Begrenztheit und Nichtigkeit des Menschen«.116 Der Mensch ist aber nach Bultmann versucht, das Wissen um sich selbst zu einem Wissen von Gott zu machen, d. h. die im Verstehen seiner selbst liegende Frage zu einer Vorstellung über Gott zu machen und so von sich aus mit einer Antwort zu versehen.117 Aus dem Wissen um seine »Begrenztheit« erschließt der Mensch Gott »als die Macht, die diese Begrenztheit des Menschen durchbricht und ihn dadurch zu seiner Eigentlichkeit emporhebt«.118 Das Verstehen seines Daseins führt den Menschen zur Frage nach Gott, in der ein Begriff, eine Vorstellung von Gott enthalten ist. Vom Standpunkt des Glaubens aus urteilt Bultmann, »daß auch das natürliche Dasein seinen Bezug zu Gott hat«. Aber erst der Glaube sieht, dass das Dasein den Bezug, den es eigentlich haben müsste, verloren hat: Daß der Mensch gottlos ist, heißt nicht, daß er ohne ihn ist, sondern daß er ihn, den er haben müßte, verloren hat. Eben damit – das Dasein müßte ihn haben – ist auch gesagt, daß das Dasein die Frage nach Gott hat, von ihr bewegt ist.

114 115 116 117 118

Frage, 82–86; vgl. Enzyklopädie, 60f. Problem der natürlichen Theologie, 303f. Frage, 82. Frage, 83–85. Frage, 86.

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4. Kapitel: Rudolf Bultmann

Aus dieser Frage, d. h »aus dem Wissen vom Menschen, zu dem die Gottesfrage gehört«, findet der Mensch den »Begriff Gott«, aber nicht Gott selbst.119 In dieser Frage also weiß der Mensch »um Gott«, in einem negativen Wissen aus dem, was ihm fehlt, und das nicht von sich aus zu einem positiven Wissen, zur Antwort werden kann. Nur die Offenbarung kann daraus ein positives Wissen machen, indem sie an das negative Wissen anknüpft. Bultmanns Gedankengang erreicht seine Spitze in der Behauptung, dass der Glaube den Begriff, den das natürliche Dasein von Gott hat, »zunächst einfach zu bestätigen hat«. Auch der Glaube nennt Gott »die Macht, die den Menschen aus seiner Begrenztheit befreit«. Der Unterschied besteht nach Bultmann darin, dass der Glaube von der Offenbarung her spricht, d. h. von der »Tat« Gottes als einem Faktum. »Der christliche Glaube kritisiert von seinem Wissen aus also nicht die außerchristliche Frage nach Gott – sie kann er nur durchschauen und klären –, sondern erst die Antwort, die das außerchristliche Fragen sich gibt.«120 Natürliche Theologie vom Standpunkt des Glaubens aus bedeutet für Bultmann deshalb, die Frage des natürlichen Daseins nach Gott vom Glauben aus als die Antwort zu erkennen.121 Dass im natürlichen Dasein nur die Frage nach Gott präsent ist, dient auch dem Bemühen Bultmanns, die Erkenntnis Gottes von der menschlichen Aktivität auszunehmen, die im Bereich des erkennenden und handelnden Umgangs mit der Welt ihren Platz hat. Die Unterscheidung zwischen Arbeits- und Glaubensgedanken, die Bultmann schon früh von Herrmann übernommen hat, ist hier auf die Frage nach der Erkenntnismöglichkeit Gottes angewendet. c)

Das Verhältnis von Theologie und Philosophie

Das Problem der natürlichen Theologie stellt sich für Bultmann ebenfalls durch die Philosophie – und er denkt hier an Heideggers »existentiale Analytik« –, weil die Philosophie zu Aussagen über das Dasein kommt, wie sie auch die Theologie verwendet.122 Bultmann will nun deutlich machen, dass die Theologie sich zwar tatsächlich der philosophischen Daseinsanalyse bedienen muss, wenn sie nicht die Verständlichkeit ihrer Aussagen und sich selbst als Wissenschaft aufgeben will. Gleichzeitig liegt ihm aber auch daran zu zeigen, dass die Verwendung der Philosophie in der Theologie nicht das Ziel hat, die Glaubensaussagen mit einem vernünftigen »Unterbau« auszustatten, der ihren Wahrheitsbeweis sichert.123 Weil offenbar bestimmte Aussagen der Theologie in der Philosophie »präformiert« sind, stellt Bultmann die Frage nach dem Verhältnis beider Wissenschaf119 120 121 122 123

Theologie als Wissenschaft, 451f. Frage, 86; vgl. Geschichtlichkeit, 351f. Problem der natürlichen Theologie, 304. Problem der natürlichen Theologie, 305. Vgl. Problem der natürlichen Theologie, 311.

III. Bultmanns Alternative

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ten zueinander. Beide treffen sich für ihn in demselben »Gegenstand«, nämlich dem Dasein des Menschen. Es ist nicht möglich, der Philosophie nur das »ungläubige« Dasein zuzuschreiben, um das »gläubige Dasein« für die Theologie zu reservieren. Bultmann weist darauf hin, dass die Philosophie »das Dasein als solches« verstehen will, zu dem dann aber auch das gläubige Dasein gehören muss, und dass umgekehrt die Theologie auch die von der Philosophie erarbeiteten »Daseinsstrukturen« als gültig für das gläubige Dasein akzeptiert. Die klassische Verhältnisbestimmung zwischen Philosophie und Theologie, dass die Theologie die philosophische Daseinsanalyse »ergänzt und damit korrigiert«, ist für Bultmann unmöglich. Denn wenn die Philosophie den Anspruch hat, eine vollständige Analyse des ganzen Daseins zu geben, dann kann diese Analyse für die Theologie nur als ganze richtig oder falsch sein.124 Sofern Glaube und Unglaube Phänomene des Daseins darstellen, betont Bultmann, sind sie auch für die Philosophie wahrnehmbar. Das gilt sogar für den Unglauben, den die Theologie als »Grundverfassung des menschlichen Daseins überhaupt« erkennt. Die Philosophie erkennt das von der Theologie so bezeichnete »Phänomen«, aber sie versteht es anders, und zwar »als die ursprüngliche Freiheit, in der sich das Dasein konstituiert«.125 Philosophie und Theologie erfassen denselben Gegenstand, aber sie deuten ihn in unterschiedlicher Weise. Dies gilt auch für den Glauben. Die Philosophie kennt den Glauben, aber versteht ihn anders als die Theologie. Bultmann weist darauf hin, dass die Philosophie um die der »Freiheit des Daseins . . . wesenhaft zukommende Fraglichkeit« weiß, d. h. die Frage des Menschen nach seiner Eigentlichkeit kennt. Wenn der Mensch sein Dasein in Freiheit vollzieht, also im »freien Entschluß«, sich selbst zu übernehmen, dann enthält diese Freiheit auch die Möglichkeit, in der glaubenden Abhängigkeit von Gott auf diesen Entschluss zu verzichten. Rein formal betrachtet, ist dieser Verzicht damit eine von vielen Möglichkeiten, die in der Freiheit des Daseins gegeben sind. Aber inhaltlich, betont Bultmann, beurteilt die Philosophie den Verzicht als eine »verlorene, sinnlose Möglichkeit« des Daseins.126 Nach Bultmann beschreibt die Philosophie also in allgemeiner Weise das Dasein, in dem sich der Mensch in unterschiedlichen Weisen verstehen und zu verschiedenen Möglichkeiten entschließen kann. Der Glaube kommt als eine mögliche Bestimmung dieser allgemeinen Beschreibung in Betracht, als eine konkrete »Existenzweise des menschlichen Daseins«127 . Und diese formale Bestimmung stimmt nach Bultmann auch mit dem Selbstverständnis des Glaubens überein, der sich »als eine konkrete Entscheidung, in einer konkreten Situati124 125 126 127

Problem der natürlichen Theologie, 308f; vgl. Geschichtlichkeit, 339f. Problem der natürlichen Theologie, 309f. Problem der natürlichen Theologie, 310. L ANDMESSER, 184.

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on betrachtet, die durch das Wort der Verkündigung und durch den Nächsten konstituiert wird«.128 Die Philosophie kann jedoch inhaltlich die Behauptung des Glaubens nicht nachvollziehen, dass der konkrete Entschluss »die Grundverfassung des Daseins neu konstituiert«. Denn für Bultmann ist der Glaube »als rechtfertigender Glaube kein Phänomen des Daseins«, aus dem für die Philosophie wahrnehmbare »neue Daseinsstrukturen« entstehen würden. Er ist kein beobachtbarer Zustand des Menschen: »Glaube als geschichtlicher Akt ist immer der konkrete Entschluß im Augenblick, d. h. Glaube ist immer nur im Überwinden des Unglaubens.«129 Im Blick auf die Frage nach einer natürlichen Theologie führen Bultmann diese Überlegungen zu zwei Einsichten, und zwar einmal über das Vorverständnis, aus dem die christliche Verkündigung verstanden wird, und dann über die Verwendung der philosophischen Arbeit in der Theologie. Das »Vorverständnis« kann Bultmann nun als »nichtwissendes Wissen von Gott« bestimmen, weil vom Standpunkt des Glaubens aus nicht die Freiheit des Menschen, sondern der Gehorsam das Dasein ursprünglich konstituiert. Die natürliche Existenz weicht also mit ihrem »Entschluß zur Freiheit« dem ursprünglichen Gehorsam aus und muss durch den Glauben »zur ursprünglichen Schöpfung« zurückgebracht werden, weshalb Bultmann sagen kann, dass der Unglaube »von vornherein auf den Glauben angelegt« ist. Die Philosophie arbeitet das »Existenzverständnis« des dem ursprünglichen Gehorsam ausweichenden Daseins aus, dessen verborgene Anlage auf den Glauben hin die Theologie als »Vorverständnis« aufdecken kann. Und diese »Interpretation der vorgläubigen Existenz und ihres Selbstverständnisses vom Glauben aus« bezeichnet Bultmann als »natürliche Theologie«. Auf sie ist die Theologie angewiesen, weil sie den Glauben »als steter Überwindung des Unglaubens« nur dadurch verständlich machen kann, dass sie ihn »in ständiger Auseinandersetzung mit dem natürlichen Daseinsverständnis« und damit durch Aufdeckung des in ihm angelegten Vorverständnisses beschreibt. Deshalb fordert Bultmann, dass die natürliche Theologie ein »ständiger Bestandteil der dogmatischen Arbeit selbst« sein muss, wie es auch bei Luther und Paulus der Fall sei.130 Die Notwendigkeit, philosophische Begriffe in der Theologie zu verwenden, ergibt sich nach Bultmann aus der Tatsache, dass die ontologische Analyse »die formalen Strukturen« beschreibt, die allem Dasein zu Grunde liegen, auch dem, »an das sich die Verkündigung wendet«.131 Bultmann betont allerdings, dass dies nur für eine Philosophie gilt, die als »Phänomenologie« arbeitet, nicht für eine

128 Problem der natürlichen Theologie, 310; Geschichtlichkeit, 342f. Dass Heidegger in dieser Verhältnisbestimmung mit Bultmann übereinstimmt, zeigt MANZKE, 216. 219. 129 Problem der natürlichen Theologie, 310f. 130 Problem der natürlichen Theologie, 311f. 131 Problem der natürlichen Theologie, 312.

III. Bultmanns Alternative

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»systematische Philosophie«, die die Gegenstände begrifflich erfasst, indem sie sie aus einer vorgefassten Idee ableitet – was für Idealismus und Materialismus gleichermaßen gelten würde. Die Theologie darf nicht das System oder Dogmen der Philosophie übernehmen, sondern muss sich von der Philosophie die Phänomene zeigen lassen.132 Denn auf die Phänomene des Daseins beziehen sich die theologischen Begriffe, auch wenn sie die Phänomene in eine neue Perspektive stellen. Bultmann weist als Beispiel darauf hin, dass die christliche Eschatologie nur zu verstehen ist, wenn man weiß, was ganz allgemein »Zukunft für das Dasein heißen kann«.133 Und so ist es für Bultmann selbstverständlich, dass »jede Theologie für die Explikation ihrer Begriffe auf ein vortheologisches, in der Regel durch eine philosophische Tradition bestimmtes Daseinsverständnis zurückgreift«. Das »natürliche« Daseinsverständnis muss die theologische Arbeit leiten, wenn sie von etwas reden will, das den Menschen in seinem Dasein betreffen soll und wenn die theologische Explikation darin verständlich sein soll.134 So wie Ritschl und Herrmann also auf die zeitgenössische philosophische Debatte zurückgreifen, um ihre theologischen Aussagen mit der Wirklichkeitsauffassung ihrer Zeit zu vermitteln, so nimmt Bultmann Heideggers Philosophie in Anspruch, um den Wirklichkeitsbezug theologischer Begriffe und damit die Verständlichkeit der christlichen Verkündigung aufzuzeigen. d)

Zusammenfassung

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Bultmann unter »natürlicher Theologie« eine am »natürlichen« Existenzverständnis ansetzende Theologie versteht, die die Verständlichkeit von Offenbarung und Glaube für die »natürliche Existenz« aufweist, weil die Offenbarung zwar im Widerspruch, aber darin eben doch an diese Existenz anknüpft. Es ist deutlich geworden, dass Bultmann natürliche Theologie nur vom Standpunkt des Glaubens aus möglich sieht und dass er durch sie nicht die Glaubensaussagen begründen oder in ihrer Wahrheit beweisen will, wie es die praeambula fidei der alten natürlichen Theologie als rationaler Zugang zur Theologie leisten sollten. Es geht Bultmann vielmehr darum, den Glauben als eine Möglichkeit des geschichtlichen Existierens verständlich zu machen. Dafür setzt er an der Frage des geschichtlichen Daseins nach seiner »Eigentlichkeit« an. Während für Heidegger der Mensch seine Eigentlichkeit, sein »Ganzseinkönnen«, finden kann, indem er im »Vorlaufen in den Tod« sein Dasein übernimmt,135 d. h. in der Annahme seines Todes die seinem Dasein unauswechselbar gegebenen konkreten Möglichkeiten und darin

132 133 134 135

Geschichtlichkeit, 344. Geschichtlichkeit, 347. Geschichtlichkeit, 349. HEIDEGGER, SuZ, 305.

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4. Kapitel: Rudolf Bultmann

sich selbst findet,136 verneint Bultmann aus der Perspektive des Glaubens diese Möglichkeit.137 Wie der frühe Herrmann, für den Kants Sittlichkeit nur durch die Religion zu verwirklichen ist, widerspricht Bultmann am Ende eines über weite Strecken gemeinsamen Weges Heideggers Existenzanalyse, weil er den Glauben als einzig mögliche Lösung des Problems versteht. 3.

Die Wahrheit des Glaubens

Die Wende vom »natürlichen Dasein,« vom Unglauben zum Glauben wird ermöglicht durch die Offenbarung. Nach dem eben Gesagten stellt sich für Bultmann nun die Aufgabe, diese Wende vom natürlichen Dasein her verständlich zu machen, ohne sie daraus abzuleiten. Bultmann grenzt sich wie Herrmann von dem Verständnis der Offenbarung als Mitteilung von »Lehren« ab und beschreibt sie als ein »an uns selbst sich vollziehendes Geschehen«.138 Dieses Geschehen besteht inhaltlich in dem »Heilsfaktum« Jesus Christus139 , formal in der jeweils aktuellen Verkündigung, die das Schicksal Jesu in seiner Heilsbedeutung erschließt und als »Anrede« in der eigenen Gegenwart die Hörenden zur Entscheidung auffordert,140 und bringt als Wirkung den Menschen zu seiner »Eigentlichkeit«141 . a)

Die Wende als neues Selbstverständnis

Nach Bultmann führt die Offenbarung den Menschen zu seiner »Eigentlichkeit«, indem sie »das ursprüngliche Schöpfungsverhältnis« wieder herstellt. Bultmann spricht durchaus von einer »natürlichen Offenbarung« als einer ursprünglich im Wissen um die eigene Geschöpflichkeit gegebenen Gotteserkenntnis. Aber dieses Wissen hat der Mensch durch die Sünde verloren. Als Sünde versteht Bultmann das Missverständnis des Menschen, seine Geschöpflichkeit zu vergessen und sich selbst an Gottes Stelle zu setzen. Die »Welt«, so interpretiert Bultmann das Johannesevangelium, versteht sich aus sich selbst, aus dem, »was sie hat und tut«. Sie setzt einzig auf ihren Verstand und rechnet nicht mit anderen Möglichkeiten, als die, über die sie verfügt. Und so hält der Mensch sein Dasein »für sein endgültiges Sein« und damit auch den Tod für endgültig.142

136

SuZ, vor allem die §§ 53 und 62 Problem der natürlichen Theologie, 304; Enzyklopädie, 89. 138 Begriff der Offenbarung, 29. 21. 139 Begriff der Offenbarung, 18. 20. 140 Begriff der Offenbarung, 22. 31; Bedeutung des geschichtlichen Jesus, 205. 141 Begriff der Offenbarung, 3 142 Begriff der Offenbarung, 25f; vgl. Frage, 100–103. Bultmann zielt hier auf Heideggers entschlossene Übernahme des eigenen Todes, durch die der Mensch seine Ganzheit gewinnt; s. o. S. 161. 137

III. Bultmanns Alternative

163

Der Mensch hat nach Bultmann keine andere Möglichkeit als sich aus dieser Welt, »aus einer Geschichte, die durch dies Mißverständnis beherrscht ist«, zu verstehen. Denn ihm stehen nur Möglichkeiten seines Seinkönnens offen, die ihm aus seiner Vergangenheit erwachsen. Erst die »Botschaft von Christus« erlaubt ihm, sich aus einem anderen Zusammenhang zu verstehen, nämlich aus der »neuen Seinsweise«, die durch die Versöhnung Gottes in Christus konstituiert ist.143 Dies ist jedoch kein gegebener Zustand, sondern es muss als Möglichkeit des Seins immer wieder »ergriffen werden«. Die Möglichkeit des Seins in Christus eröffnet dem Menschen die »eigentliche Freiheit«, indem er durch die Vergebung frei von seiner Vergangenheit wird. Dies geschieht Bultmann zufolge dadurch, dass der Mensch Gottes Urteil über sein altes Leben annimmt und damit sich selbst radikal preisgibt.144 Alles Irdische und damit auch der Tod gewinnen auf diese Weise den »Charakter der Vorläufigkeit«, der Glaubende aber gewinnt die »Freiheit zum Gehorsam, d. h. zur Liebe«.145 Seine »Eigentlichkeit« findet der Mensch also nach Bultmann in der Möglichkeit, sich selbst als Geschöpf zu verstehen, das von Gott zum Gehorsam in der Liebe gerufen ist. Das »zum Augenblick gesprochene Wort der Vergebung« ist für Bultmann Offenbarung, weil es dem Menschen seine Eigentlichkeit im Gehorsam der Liebe aufdeckt.146 b)

Die Begründung des Glaubens

Nach Bultmann ist die christliche Existenz die einzige Möglichkeit, in der das Dasein zu seiner Eigentlichkeit, also zu seiner Wahrheit kommt. Diesen Anspruch muss die Theologie aber begründen – nicht für das ungläubige Dasein, sondern für den Glaubenden, der wissen will, »ob wahr ist, woran er glaubt, bzw. was er glauben darf und soll.«147 Der Gehorsam des Glaubens darf, um wirklich zu sein, was er sein soll, nicht »blinder«, sondern muss »verstehender« sein. Denn Bultmann versteht ihn ja als das »Selbstverständnis«, das die Verkündigung dem Glaubenden erschließt.148 Wie ist es nach Bultmann also möglich, die Wahrheit des Glaubens zu erkennen? Der Glaube ist nach Bultmann durch nichts anderes zu begründen als durch das Wort der Verkündigung, das sich im Verkündigungsgeschehen selbst legitimiert.149 Denn das Wort der Verkündigung »trifft« den Menschen »nicht 143

Begriff der Offenbarung, 26f; Enzyklopädie, 143; vgl. Mythologie, 35f. Deshalb bedeutet der λόγος το σταυρο für den Menschen ein σκάνδαλον, dem ausweichen zu wollen Bultmann der »liberalen Theologie« vorwirft; liberale Theologie, 2. 145 Begriff der Offenbarung, 27f; vgl. Bedeutung des geschichtlichen Jesus, 206f. 146 Enzyklopädie, 144; vgl. Begriff der Offenbarung, 30. 147 Theologie als Wissenschaft, 453. 148 Enzyklopädie, 158. 149 Enzyklopädie, 151f; dieses Verfahren ist zentral für Ebelings Begriff der »Verifikation«, s. u. S. 244f, 283ff und 304ff. 144

164

4. Kapitel: Rudolf Bultmann

als etwas Zufälliges in einer freischwebenden Situation«, sondern in seiner Geschichtlichkeit, die es klärt und den Menschen dadurch sich selbst erschließt. Es »öffnet uns . . . gleichsam über uns selbst die Augen«, indem es die Erfahrung aufgreift und »sehen lehrt, . . . wie wir in ihnen vor Gott sind«.150 Darin bringt es den Menschen zu seiner »Eigentlichkeit«. Der Glaube ist also dadurch begründet, dass die Existenz in ihm zur Wahrheit kommt. Die Fragen der Theologie nach Grund, Möglichkeit und Vorgang des Glaubens sollen den Glauben nicht vor dem »außergläubigen Dasein« rechtfertigen, sondern seinen Sinn bewusst machen, indem umgekehrt »das außergläubige Dasein vor das Forum des Glaubens gestellt wird«.151 Bultmann kehrt damit den Weg der alten Dogmatik um, die mit der Metaphysik beziehungsweise natürlichen Theologie die christlichen Aussagen vor dem Forum des Welterkennens plausibel zu machen suchte. Die durch Gottes Heilshandeln bestimmte Existenz wird nur »zugänglich im Glauben«, also nur dem, der selbst von der Offenbarung Gottes getroffen ist. Die Allgemeingültigkeit der Wissenschaft ist hier also wie schon bei Herrmann nur eingeschränkt zu erreichen. Denn allgemeingültig sind die Sätze einer Wissenschaft, insofern jeder sie verstehen kann, weil er schon immer in einem Lebensverhältnis zu dem betreffenden Gegenstand steht. In der Theologie ist Allgemeingültigkeit nach Bultmann aber lediglich in dem »formalen« Sinn möglich, »daß jeder, der ein Verhältnis zum Gegenstand hat, sie versteht und bejaht«.152 4.

Zusammenfassung

In Bultmanns Hauptwerk wirkt die Metaphysikkritik Herrmanns in der selbstverständlichen Voraussetzung nach, dass die Möglichkeiten des Menschen und Erkenntnis Gottes scharf voneinander zu unterscheiden sind. Bultmann lehnt die Gotteserkenntnis der »natürlichen Theologie« ab, weil sie Gottes Jenseitigkeit und Allmacht sowie das Faktum der Sünde nicht konsequent beachtet, wenn sie versucht, ihn über die Möglichkeiten des menschlichen Denkens zu erfassen. Dennoch sieht er, wie Ritschl und Herrmann sowie im Gegensatz zu Barth, nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Notwendigkeit, den Bezug des christlichen Glaubens auf die Wirklichkeit theologisch zu beschreiben. Damit soll die Theologie die Wahrheit des Glaubens zwar nicht beweisen, aber doch verständlich machen. Unter diesen Voraussetzungen entfaltet Bultmann seine existentiale Theologie. Die Beziehung des Glaubens zur Wirklichkeit versucht Bultmann zu zeigen, indem er den Glauben als Existenzverständnis entfaltet. Dafür knüpft er an Heideggers Daseinsanalyse in Sein und Zeit an und beschreibt den Glauben als 150 151 152

Enzyklopädie, 153. Theologie als Wissenschaft, 459. Enzyklopädie, 161f.

III. Bultmanns Alternative

165

»geschichtliche Tat«.153 Dadurch bringt er die Notwendigkeit des Menschen zum Ausdruck, sein Dasein in jedem Augenblick durch die Aneignung einer bestimmten Seinsmöglichkeit zu gestalten. Weil Bultmann aber voraussetzt, dass der Glaube nicht aus der gegebenen Welt abzuleiten ist, kann er der philosophischen Analyse nur bis zu einer bestimmten Grenze folgen. Er nimmt ihre Problembeschreibung auf, widerspricht aber vom Glauben her ihrer Problemlösung, um den Glauben selbst als die eigentliche Lösung verständlich zu machen. Diese Lösung besteht darin, dass der Mensch durch die Offenbarung seine Geschöpflichkeit als Seinsmöglichkeit ergreifen kann, die sich ihm vorher in seinem von der Sünde bestimmten Lebenszusammenhang nicht geboten hat. Der im Gehorsam auf die Offenbarung Gottes antwortende Mensch gibt sein altes Existenzverständnis auf, weil er das wahre Existenzverständnis gefunden hat. Bultmann gelingt es auf diese Weise, den Glauben an die Wirklichkeit anzubinden, ohne ihn aus ihr abzuleiten. Er knüpft an sie an, aber eben so, dass der Glaube der gegebenen Wirklichkeit und ihrem Verständnis widerspricht. Damit hält er an der Grundstruktur der Theologie fest, wie sie bereits in seiner Frühzeit zu finden ist. Der Einfluss der dialektischen Theologie und Heideggers haben diese Grundstruktur nicht aufgehoben, sondern im Gegenteil verstärkt. Bultmann zeigt Gott und den Glauben in der allgemeinen Wirklichkeit und ihrer wissenschaftlichen Erfassung auf, indem er gewissermaßen auf ihr Fehlen hinweist. Das allgemeine Verstehen der Wirklichkeit wird damit aufgegriffen, aber in dialektischer Weise, so dass es am Ende in den Glauben aufgehoben ist. Die Möglichkeit einer ungebrochenen Aufnahme ist bei Bultmann von seinen Voraussetzungen her ausgeschlossen, weil er sichern will, dass Gott der Verfügbarkeit des Menschen entzogen bleibt. Damit folgt er der vor allem bei Herrmann ausgearbeiteten Linie der Verbindung von Glaube und Wirklichkeit. Wie schon in seiner Frühzeit hat Bultmann auch im Hauptwerk, das Anliegen, die Wahrheit des Glaubens plausibel zu machen, ohne sie beweisen zu wollen. Statt auf dem Hintergrund der Kultur tut er dies nun auf dem Hintergrund von Heideggers Daseinsanalyse, was sich bei genauerem Hinsehen nicht als prinzipieller Unterschied erweist. Dementsprechend ist festzustellen, dass nicht die Daseinsanalyse der Existenzphilosophie Bultmanns theologischen Ansatz bestimmt, sondern umgekehrt Bultmann die Daseinsanalyse entsprechend seinen theologischen Voraussetzungen behandelt und in seinen Ansatz integriert. Bultmann findet in der Wirklichkeitserfassung der Philosophie kein selbständiges Gegenüber, sondern ordnet sie seinen theologischen Grundentscheidungen unter. Der Preis dafür, dass die von der Theologie in Anspruch genommene außertheologische Wirklichkeitsreflexion die Beschreibung des Glaubens nicht

153

So die Überschrift von § 14 in der Enzyklopädie, 130–158.

166

4. Kapitel: Rudolf Bultmann

überfremdet, besteht bei Bultmann in der Gefahr, die Wirklichkeit nur so wahrzunehmen, dass sie zu den theologischen Voraussetzung passt und sie bestätigt.

IV.

Bultmann und Luther

Bultmann ist, wie schon Ritschl und Herrmann, von dem Bewusstsein getragen, dass sein theologischer Ansatz in Kontinuität mit Luther und der Reformation steht. Wie die beiden älteren Theologen grenzt sich Bultmann in seiner Berufung auf Luther gegen das Neuluthertum in Theologie und Kirche ab. In einem Brief aus dem Jahr 1922 schreibt er: »Die Stimmen der Lutherischen Kirchenzeitung, die eine Trennung der Orthodoxie vom freien Protestantismus fordern, haben für mich viel Einleuchtendes. Ich würde aber mit aller Energie den Spieß herumdrehen und sagen: Nicht wir müssen heraus, sondern ihr. Wir sind die legitimen Erben der Reformation, ihr seid Pseudo-Protestanten; uns kann es gar nicht um Duldung zu tun sein, sondern einfach um unser Recht. Bekenntniskirche wollen auch wir, aber evangelisches Bekenntnis und nicht eure abgestandenen Antiquitäten.«154

Bultmann hat diesen Anspruch niemals ausführlicher begründet. Aber er zieht in seinen Arbeiten immer wieder die Verbindung zu Luthers Theologie. Wie ist diese Verbindung zu bewerten? Lässt sich sagen, dass Bultmann seine Position in der Auseinandersetzung mit Luther gewinnt? 1.

Bultmanns Bezug auf Luther

Dass Bultmann sich mit Luther auseinandergesetzt hat, wird an zahlreichen Stellen deutlich. Im Sommersemster 1927 hatte er, übrigens zusammen mit Heidegger, ein neutestamentliches Seminar über »Luthers Kommentar zum Galaterbrief« und im Sommersemester 1930 ein neutestamentliches Seminar über »Luthers Exegese des Römerbriefes« durchgeführt.155 Dies hat sich auch auf seine Aufsätze niedergeschlagen, in denen sich ganz verschiedene und teilweise längere Zitate aus den betreffenden Lutherschriften finden.156 Neben der Quellenlektüre 154

Brief vom 8. 9. 1922 an Hans von Soden, zit. n. EVANG, Frühzeit, 121. HAUSCHILDT, 9 Anm. 21. 156 Aus der Römerbriefvorlesung von 1515/16 in der Ausgabe von Ficker (1908) GuV I, 220. 223. 225; GuV II, 99. 139; GuV III, 29. 70, aus der Galaterbriefvorlesung von 1516/17 GuV I, 201 und von 1531 GuV I, 227. Die Annahme von BURGER, 54, dass sich Bultmanns Kenntnis der Lutherschriften damit erschöpft, greift meines Erachtens zu kurz, zumal Burger sich auf Bultmanns Aufsatzsammlung Glaube und Verstehen beschränkt und auch dort nicht alle Lutherzitate erfasst. Nach Burgers formalen Kriterien – der fehlenden Angabe der Auflage bei Zitaten aus der Eisenacher Ausgabe (GuV I, 108. 112f. 238f), die fehlende Angabe der Entstehungszeit oder des Titels einer Schrift – müsste auch Herrmann und Ebeling die Kenntnis der originalen Lutherschriften abgesprochen werden. 155

IV. Bultmann und Luther

167

hat sich Bultmann auch anhand der Sekundärliteratur mit Luther befasst, was sich ebenfalls in seinen Schriften auswirkt.157 Andererseits spricht Bultmann selbst von den Grenzen seiner Lutherkenntnis.158 Lässt sich also behaupten, dass Bultmann seinen theologischen Ansatz unter Rückgriff auf Luther entfaltet? Um diese Frage zu klären, ist es aufschlussreich zu sehen, welche Funktion der Verweis auf Luther jeweils im Gang von Bultmanns Argumentation einnimmt. Christoph Burger hat dafür einige Stellen aus der Aufsatzsammlung Glauben und Verstehen untersucht. Er stellt fest, dass Bultmann weder seine eigenen Positionen von Luther her korrigieren lässt, noch er selbst Luther widerspricht oder über ihn hinaus geht. »Es handelt sich um eine Rezeption, die beim Rezipienten die aus anderen Quellen geschöpften Ergebnisse bestätigt.«159 In der Regel entwickelt Bultmann seinen Gedankengang selbständig, um am Ende die Übereinstimmung der erreichten Position mit Luther zu belegen: »Es ist, wie Luther sagt . . . «160 Dieses in der Aufsatzsammlung zu findende Vorgehen Bultmanns zeigt sich auch in der Enzyklopädie-Vorlesung. Der Bezug auf Luther dient dazu, die eigene Position zu verdeutlichen oder zu untermauern.161 Eine Stelle in Glauben und Verstehen fällt nur auf den ersten Blick aus diesem Vorgehen heraus. Hier scheint Bultmann seinen Gedankengang von Luther ausgehend aufzubauen. Um den Gehalt der allgemeinen Gottesvorstellung zu erheben, verweist Bultmann auf Luthers Auslegung des ersten Gebots im Großen Katechismus und bestimmt von dort aus den Gedanken der Allmacht, der Heiligkeit und der Ewigkeit bzw. Jenseitigkeit Gottes.162 Allerdings greift Bultmann in diesem Aufsatz aus dem Jahr 1941 auf seinen Vortrag über »Das Problem der ›natürlichen Theologie‹« von 1931 zurück, in dem er die allgemeine Vorstellung eines »Höchsten Wesens« ohne den Bezug auf Luther entsprechend bestimmt: In dieser Vorstellung artikuliert der Mensch sein Wissen, dass er Gott ausgeliefert ist, von Gott (durch das Leben und den Mitmenschen) gefordert und Gott ihm aber dennoch entzogen ist.163 Auch eine Stelle in der Enzyklopädie macht deutlich, dass Bultmann Luthers Auslegung des ersten Gebots als Bestätigung seines theologischen Ansatzes verwendet. Die zuvor entfaltete Ansicht, dass der Mensch auch »außerhalb des Glaubens« ein Wissen von Gott habe, untermauert 157

Z. B. Th. Harnack: Enzyklopädie, 60f, Gottschick: Enzyklopädie, 101f. 157, Althaus: GuV I, 306f. HAUSCHILDT, 67 Anm. 31 weist auf eine drei Schuber umfassende Sammlung mit dem Titel »Lutherana« im Nachlass Bultmanns hin; darin hat Bultmann Einzelveröffentlichungen über Luther gesammelt, die er in der Regel vom Autor zugesandt bekommen hatte (besonders von Althaus, Bornkamm und Wolf). 158 GuV II, 43f; Brief an Barth vom 16 5. 1927, Briefwechsel Barth–Bultmann, 73. 159 BURGER, 55, vgl. a. die Untersuchung der einzelnen Stellen 48–53. 160 Begriff der Offenbarung, 29. 161 Enzyklopädie, 60f. 73. 107f. 133. 139. 152. 156f. 162 Frage, 80–82. 163 Problem der natürlichen Theologie, 300–302.

168

4. Kapitel: Rudolf Bultmann

Bultmann mit dem Hinweis auf Luther: »Luther setzt voraus, daß der Mensch einen Gottesbegriff hat, d. h. in der Frage um Gott weiß.«164 Der letzte Teil des Satzes aber stellt weniger eine an Luthers Intention orientierte Paraphrase dar, sondern ist, wie wir oben gesehen haben, eine typische Wendung aus Bultmanns »natürlicher Theologie«, mit der er das Lutherwort interpretiert und für seine Zwecke in Anspruch nimmt. Die Untersuchung von Bultmanns natürlicher Theologie hat oben schon gezeigt, dass der Bezug auf Luther erst sekundär hinzu kommt. Wenn Bultmann nun seinen Ansatz nicht durch direkte Auseinandersetzung mit Luther entfaltet, woher bezieht er sein Bewusstsein, dass seine Theologie als legitime Fortführung der Reformation zu betrachten ist? 2.

Der Hintergrund

Das Entythologisierungsprogramm, das im lutherischen Bereich scharfe Reaktionen hervorgerufen hat,165 versteht Bultmann gerade als »die radikale Anwendung« der Rechtfertigungslehre »auf das Gebiet des Wissens und des Denkens«. »Es gibt keinen Unterschied zwischen der Sicherheit auf der Basis von guten Werken und der Sicherheit, die auf objektivierendem Wissen beruht.«166 Bultmann sieht die Entythologisierung also als Umsetzung des zentralen Anliegens reformatorischer Theologie. Der Grund liegt nach dem Durchgang durch Bultmanns Ansatz auf der Hand: Das objektivierende Wissen ist in Bultmanns Augen gekennzeichnet durch die Abstraktion von der eigenen Betroffenheit und stellt ein Produkt der menschlichen Aktivität, in Bultmanns Terminologie ein »Werk«, dar. Beides steht, wie oben gezeigt, im Gegensatz zu Bultmanns Verständnis der Offenbarung und des Glaubens. Echter Glaube kann für Bultmann nicht aus dem vernünftigen Wissen oder Erkennen weltlicher Gegebenheiten hervorgehen, sondern allein daraus, dass die Offenbarung den Menschen in seiner existentiellen geschichtlichen Situation trifft. Aus diesem Grund übt Bultmann am assensus der Orthodoxie eine Kritik, die er von Herrmann übernimmt: Der von der fiducia gelöste assensus macht aus dem Glauben einen menschlichen Akt der Zustimmung zu allgemeinen Wahrheiten ohne existentiellen Bezug auf den Betroffenen.167 Herrmann nun verbindet die Ablehnung des assensus mit der Unterscheidung von Glaubensgrund und Glaubensgegenständen, die für ihn die einzige Möglich-

164 165 166 167

Enzyklopädie, 60. S. u. S. 185ff. GuV IV, 188. Theologie als Wissenschaft, 454.

IV. Bultmann und Luther

169

keit darstellt, der reformatorischen Rechtfertigungslehre gerecht zu werden.168 Bultmanns Ansicht, dass die Entmythologisierung das zentrale Anliegen der reformatorischen Theologie zur Geltung bringt, hat also ihre Wurzel in der Theologie Herrmanns. Auch an verschiedenen Stellen in der Enzyklopädie fällt die häufige Verbindung der Berufung auf Herrmann und Luther auf. Dass die Wirkung des Heiligen Geistes nicht zu feststellbaren Qualitäten führt, zeigt Bultmann mit breitem Verweis auf Herrmann und einem Lutherzitat.169 Schon für Herrmann war der assensus nicht von der fiducia zu trennen; infolgedessen verweist Bultmann zunächst auf Herrmann und dann auf Luther.170 Und schließlich stellt Bultmann mit Herrmann und unter Verweis auf ein Lutherzitat dar, dass der Allmachtsgedanke nur Sinn macht, wenn er mit dem Vertrauen auf Gottes Heilshandeln zusammengedacht wird. Für Bultmanns Argumentation hat der Rückgriff auf Herrmann oft eine konstruktive Funktion, während ein Lutherzitat am Ende des Argumentationsganges die Übereinstimmung mit Luther zeigen soll.171 Eine Stelle in Glaube und Verstehen zeigt allerdings, dass Bultmann nicht bei Herrmanns Lutherbild stehen bleibt. Gegen Herrmann verweist er mit Lu168 Vgl. etwa HERRMANN, Verkehr 7 , 173–179. Zur Unterscheidung von Grund und Inhalt des Glaubens als Notwendigkeit für eine der Reformation folgende Theologie z. B. HERRMANN, Grund, 292. 169 Enzyklopädie, 73. 170 Enzyklopädie, 101f. 171 Enzyklopädie, 133. HAUSCHILDT, 81 sieht allerdings die Ursache dafür, dass Bultmann die Theologie Herrmanns »in wichtigen Punkten beibehalten« habe, in dessen »LutherLektüre«. Hauschildt geht in seiner Untersuchung von der Annahme aus, dass Bultmann die Grundstruktur seiner Theologie, nämlich den »Gegensatz von Arbeit und Geschenk« unter dem Einfluss Luthers gebildet habe, nämlich unter der Perspektive der Rechtfertigungslehre und der Dichotomie von Gesetz und Evangelium. Dagegen ist zunächst festzustellen, dass Bultmann als evangelischer Theologe am Beginn des 20. Jahrhunderts und als Enkel Ritschls gar nicht anders kann als die Rechtfertigungslehre als Grundvoraussetzung seiner Theologie anzuerkennen; dafür wäre keine tiefere Auseinandersetzung mit Luther nötig gewesen. Ein weiterer Aspekt führt jedoch zu einem gewichtigeren Einwand. Der Gegensatz von Arbeit und Geschenk, den Hauschildt anhand der Predigten Bultmann rekonstruiert, findet sich auch in Bultmanns frühen Schriften. Dort aber verweist Bultmann auf die Unterscheidung Herrmanns zwischen »Glaubens- und Arbeitsgedanken« (Religion und Kultur, 21. 27). Und das, was Bultmann nach HAUSCHILDT, 131 ab 1926 mit der Dialektik von Gesetz und Evangelium (vgl. Enzyklopädie, 153) bezeichnet, findet sich in der Frühzeit, wie oben dargestellt, in der negativen Bedeutung von Kultur und Ethik für die Entstehung des Glaubens – und dort in erkennbarer Anknüpfung an Herrmann. HAUSCHILDT, 59 selbst konstatiert, dass bis 1921 Luthertexte oder Verweise auf Luther bei Bultmann »äußerst selten« begegnen. Gegen Hauschildt muss also festgehalten werden, dass Bultmann, so wichtig Luther für ihn tatsächlich war, das Grundkonzept seiner Theologie unter dem Einfluss Herrmanns gebildet hat. Dass er sich damit in Übereinstimmung mit Luther sehen konnte, liegt in Herrmanns Theologie begründet.

170

4. Kapitel: Rudolf Bultmann

ther auf den »Moment des Gehorsams« gegenüber dem »Wort der Schrift von der Vergebung«.172 Hier wird sicherlich der Einfluss der dialektischen Theologie – besonders Gogartens, aber auch Barths – greifbar,173 durch die gegenüber Herrmann neue mit Luther in Verbindung gebrachte Themen bei Bultmann erscheinen: Neben dem Gehorsam gegenüber der Schrift als dem »Wort Gottes« dürfte dies auch für die Kreuzestheologie gelten. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Bultmanns Berufung auf Luther als Ausdruck einer tiefen und ehrlich empfundenen Übereinstimmung mit dem Reformator zu verstehen ist174 und nicht allein ihren Grund darin hat, gegen seine Kritiker eine gewichtige und anerkannte Autorität anzuführen.175 Weil Bultmann seine Theologie ausgehend von Herrmann entwickelt, Herrmann wiederum sich ausführlich mit Luther auseinandergesetzt hat und seine Theologie als moderne Fortführung des Anliegens Luthers versteht, kann sich auch Bultmann sozusagen in Herrmanns Bahnen als legitimer Erbe Luthers begreifen.176 Durch seinen Anschluss an die dialektische Theologie mit ihrer Berufung auf Luther wird dieses Bewusstsein noch einmal verstärkt.

V.

Zusammenfassung

Bei Bultmann fällt im Zusammenhang der hier untersuchten Ansätze zunächst auf, dass nicht die Metaphysik, sondern die »natürliche Theologie« das Thema der Auseinandersetzung bildet. Bultmann verbindet mit diesem Begriff den vernünftigen Zugang zur Theologie, vor allem in den so genannten praeambula fidei, aber auch in der vernünftigen Auslegung der Glaubenssätze mit Hilfe des wissenschaftlichen Welterkennens. Weil er sich auf den Bereich der christlichen Theologie beschränkt, befasst er sich nicht mit der Verwendung des Gottesgedankens in der Metaphysik. Damit richtet er seine Aufmerksamkeit tatsächlich auf das Phänomen, das schon Ritschl als »natürliche Theologie« bezeichnet hat. Inhaltlich aber basiert die Auseinandersetzung mit der »natürlichen Theologie« auf dem, was Ritschl und Herrmann in ihrer Beschäftigung mit der 172

Christologie, 107f. S. dazu HAUSCHILDT, 67. 174 JOHNSON, 267. 175 Auf diese Funktion verengt BURGER, 55f Bultmanns Verweise auf Luther. 176 Die Behauptung von BURGER, 55, dass Bultmann sich »unter Berufung auf Luther . . . von seinem eigenen Lehrer«, nämlich Herrmann, ›losringe‹, erweist sich damit als völlig verfehlt. Vgl. dagegen JOHNSON, 275, der darauf hinweist, dass Bultmann weder in die Lutherrenaissance des frühen 20. Jahrhunderts verwickelt war noch auch nur eine einzige Arbeit zur Auseinandersetzung mit Luther vorgelegt hat, und deshalb schließt: »The Luther Bultmann knew was communicated through the social context of the Church and the personal impact of his beloved theological mentor, Wilhelm Herrmann.« 173

V. Zusammenfassung

171

Metaphysik ausgearbeitet haben. So ist die hermeneutische Unterscheidung von Glaube und Welterkennen, die streng auf der Unerreichbarkeit der Überweltlichkeit Gottes und der Glaubensdinge besteht, eine elementare Voraussetzung bei Bultmann. Gerade die frühen Arbeiten zeigen, dass Bultmann die vor allem bei Herrmann innerhalb der Metaphysikkritik ausgearbeitete Dualität der Erkenntniswege aufnimmt und in diesem Horizont das Verhältnis von Religion und Wirklichkeit bestimmt. Außerdem muss das Anliegen, im Unterscheid zu Barth den Glauben überhaupt mit der Wirklichkeit ins Verhältnis setzen zu wollen, als Aufnahme des Motives der Metaphysik in der Theologie verstanden werden, wie es bei Ritschl und Herrmann begegnet. Konsequenterweise tritt dann Bultmanns eigener Entwurf einer »natürlichen Theologie« an die Stelle der Metaphysik in der alten Dogmatik. Im Blick auf Ebeling ist von Bedeutung, dass Bultmann der Auseinandersetzung mit der natürlichen Theologie eine deutliche, systematisch relevante existentielle Form verleiht, indem er in Anknüpfung an Heidegger sowohl Welterfahrung als auch Glaube als ein Verstehen interpretiert, somit strukturell parallelisiert und auf diese Weise in Beziehung zueinander setzt. Diese Perspektive ist allerdings schon bei Ritschl und Herrmann angelegt, etwa in Ritschls Auffassung der Religion als Selbstverständnis, in Herrmanns existentiellem Verständnis des der Metaphysik zu Grunde liegenden Motivs oder bei beiden, wenn sie die Wirklichkeit über die Erfahrung mit der Religion vermitteln. Diese Aspekte ermöglichen es Bultmann, das Selbstverständnis des vorgläubigen Daseins als »Vorverständnis« für das Verstehen des Glaubens zu verwenden. Wie schon für Herrmann die Sittlichkeit oder später die Wirklichkeitserfahrung zu einer Frage beziehungsweise einer Not führt, von der aus die Religion zu verstehen ist, bildet auch bei Bultmann das aus der Wirklichkeitserfahrung sich ergebende Wissen des Menschen um sich selbst, seine Fraglichkeit, den hermeneutischen Horizont für das Verständnis des Glaubens an Gott. Insofern besteht Bultmann darauf, dass von Gott nur im Zusammenhang mit dem Menschen zu reden ist. In dieser Funktion sieht Bultmann den Sinn der traditionellen natürlichen Theologie und als Aufnahme dieser Funktion entwirft er seine eigene natürliche Theologie. Prägend für Ebeling ist Bultmanns Interpretation der natürlichen Theologie nicht als positives Wissen von Gott, sondern als Frage nach Gott und darin als ein Wissen des Menschen um sich selbst. Der Mensch erfährt seine Gottlosigkeit in dem Sinne, dass sich der Verlust der für ihn wesentlichen Gottesbeziehung in bestimmten, in ihrer wahren Natur jedoch verborgenen Erfahrungen niederschlägt. Die Beziehung von Gott und Wirklichkeit ist so zwar gesichert, aber doch so, dass daraus kein eigentliches Wissen von Gott außerhalb der Offenbarung abgeleitet werden kann. Dass Bultmann dabei den Glauben in eine antithetische Beziehung zu der in der Erfahrung thematisierten Wirklichkeit setzt, greift sowohl auf vor allem

172

4. Kapitel: Rudolf Bultmann

Herrmann zurück wie es auch eine wichtige Grundlage für Ebeling darstellt. Diese antithetische Beziehung zur Wirklichkeit stellt bei Herrmann, Bultmann und Ebeling eine Alternative zu dem ungebrochenen Verhältnis zur Metaphysik dar, wie es etwa in dem Modell von Natur und Übernatur vorliegt. Die Verbindung von Glaube und Wirklichkeit bildet dabei kein Beweisverfahren, sondern soll, wie schon bei Herrmann, die Plausibilität des Glaubens zeigen. Die Metaphysikkritik, die bei Ritschl und Herrmann von der Unterscheidung zwischen Natur und Geist beziehungsweise Welterkennen und Sittlichkeit ihren Ausgang genommen hat, hat bei Bultmann zu einem theologischen Ansatz geführt, der den Glauben durch eine existentielle Hermeneutik erschließen will. Diese theologiegeschichtliche Entwicklung ist das Fundament, auf dem Ebeling schließlich seine Auseinandersetzung mit der Metaphysik führt. Auf diesem Hintergrund wird deutlich, dass Bultmann auch seine Position gegenüber der »natürlichen Theologie« nicht durch die Auseinandersetzung mit Luther gewonnen hat. Dennoch kann Bultmann sie mit Luther verbinden, weil er als Schüler Herrmanns seinen gesamten Ansatz in Übereinstimmung mit Luther sieht. Im Unterschied zu den Lutheranern mit ihren »abgestandenen Antiquitäten« und ihrer Kritik am Entmythologisierungsprogramm versteht er seine Übereinstimmung als wahrhafte Treue gegenüber dem, was die Reformation eigentlich wollte.

Kapitel 5

Abschluss der Vorgeschichte Was hat nun die Untersuchung bis hierhin ergeben? Zunächst ist festzustellen, dass in allen untersuchten Entwürfen die Auseinandersetzung mit der Metaphysik die Grundlagen der Theologie berührt. Alle Autoren haben dabei ein jeweils eigenes Verständnis von Metaphysik, aber auch viele Gemeinsamkeiten, die sich durchhalten. Die Verwendung der Metaphysik in der Theologie wird immer auf eine Notwendigkeit zurückgeführt, der sich die Theologie generell nicht entziehen kann und die deshalb alternativ zu beantworten ist. Außerdem hat sich gezeigt, dass die Verbindung der Metaphysikkritik mit Luther stets sekundär ist. Diese thematischen Linien sollen nun noch einmal zusammenfassend dargestellt werden.

I.

Metaphysikbegriff

Entgegen seinem Ruf setzt sich Ritschl erst spät und vergleichsweise knapp explizit mit der Metaphysik auseinander. Auslöser dafür ist vor allem die Kritik lutherischer Theologen an seiner unmetaphysischen Entfaltung dogmatischer Themen. Ritschl wendet dagegen ein, dass Metaphysik der Theologie lediglich als eine formale Methode zu dienen habe, nämlich als »Ontologie«, was Ritschl wiederum als »Erkenntnistheorie« versteht. Gegenüber dem inhaltlichen Beitrag der Metaphysik zur Gotteslehre der klassischen evangelischen Dogmatik betont er, dass die Verwendung der genuin religiösen Gottesvorstellung bereits in der aristotelischen Metaphysik unberechtigt ist, da es hier um eine weltimmanente Erklärung der Wirklichkeit geht, die von dem transzendierenden Wesen der Religion zu unterscheiden ist. Dabei beschreibt er die metaphysische Erklärung der Wirklichkeit als so elementar, dass sie vor der Unterscheidung der Dinge in natürliche und geistige Phänomene ansetzt. Erst die weitere Untersuchung richtet sich nach der Unterscheidung der Wirklichkeit in Natur und Geist, wobei das wissenschaftliche Erkennen den Bereich der Natur »mechanisch«, also kausal erklärt, Ethik und Religion hingegen den Bereich des Geistes teleologisch erfassen. Dabei ordnet Ritschls die Metaphysik jedoch nicht dem Welterkennen und damit nicht der kausalen Methode zu. Herrmanns Auseinandersetzung mit der Metaphysik ist gegenüber Ritschl grundsätzlicher und systematischer. Auf den ersten Blick scheint Herrmann Rit-

174

5. Kapitel: Abschluss der Vorgeschichte

schl zu folgen, wenn er die Metaphysik ebenfalls als Erkenntnistheorie beschreibt und als solche in der Theologie akzeptiert. Faktisch spielt diese Metaphysik jedoch keine Rolle in seinem Ansatz. Er hat vor allem den als »Schlusshypothese« oder »dogmatische Metaphysik« bezeichneten Versuch vor Augen, aus den jeweiligen Ergebnissen der Naturwissenschaft ein einheitliches, zusammenhängendes Weltbild zu erheben, das das wissenschaftliche Erkennen einerseits voraussetzen muss und andererseits zum Abschluss bringen soll. Metaphysik wird auf diese Weise Teil des Welterkennens und seines kausalen Begründungsverfahrens. Weil die so verstandene Metaphysik damit in den Gegensatz zur Teleologie der Religion tritt, lehnt Herrmann sie überhaupt in der Theologie ab. Gegen ihre traditionelle Verwendung betont er, dass der Gottesgedanke nicht in den Kausalzusammenhang der Welt eingeordnet werden kann und seine Inanspruchnahme in der aristotelischen Metaphysik eben deshalb unberechtigt ist. Im Spätwerk tritt die Auseinandersetzung mit der Metaphysik zurück, geht aber in der Kritik am »Monismus« auf. Sowohl bei Ritschl wie auch bei Herrmann findet sich eine funktionale Auffassung der Metaphysik, die als Ontologie oder Erkenntnistheorie der Wissenschaft überhaupt, also auch der Theologie, oder als »Kosmologie« dem naturwissenschaftlichen Welterkennen zu dienen hat. Bultmann setzt sich nicht mit der Metaphysik, sondern mit der »natürlichen Theologie« auseinander. Er versteht darunter den vernünftigen »Unterbau« der Theologie, wie er ihn in den scholastischen praeambula fidei findet, und im vernünftigen Verständnis von Glaubenssätzen, das er neben der Scholastik auch in der protestantischen Orthodoxie ausmacht. Inhaltlich ist seine Auseinandersetzung mit der »natürlichen Theologie« aber von Ritschls und besonders Herrmanns Beschäftigung mit der Metaphysik getragen.

II. Die Funktion der Metaphysik in der Theologie Alle untersuchten Ansätze erkennen hinter der Verwendung der Metaphysik in der Theologie ein an sich berechtigtes Anliegen. Ritschl ist sogar noch bemüht zu zeigen, dass er keineswegs die Metaphysik in der Theologie ablehnt, sondern die rechte Metaphysik in der korrekten Verwendung fordert. Der als Erkenntnistheorie verstandenen Metaphysik weist er die Aufgabe zu, Auskunft darüber zu geben, wie eine Theologie die Dinge, die sie untersucht, überhaupt als Dinge erfasst. Zwar ist sein Vorgehen erkennbar davon bestimmt, seine Abweichung von der traditionellen Behandlung dogmatischer Themen im innertheologischen Kontext zu rechtfertigen. Aber eben darin, dass er es als notwendig erachtet, in der theologischen Reflexion der Religion auf das außertheologische Denken zurückzugreifen, wird die Funktion der Metaphysik deutlich, die theologischen Aussagen im Kontext des allgemeinen Wirklichkeitsverstehens verständlich zu machen.

III. Metaphysikkritik

175

Auch Herrmann lässt erkennen, dass er die Funktion der Metaphysik darin sieht, die Glaubensvorstellungen zu verstehen und ihre Wahrheit zu beweisen. Über Ritschl hinaus sieht er aber in grundsätzlicherer Weise den Sinn, Wahrheit und Gewissheit der Religion als ganzer aufzuzeigen. Die Notwendigkeit dessen erkennt er an, auch wenn er die Metaphysik dafür als falsches Mittel ablehnt. Und ebenso schreibt Bultmann diese beiden Funktionen der »natürlichen Theologie« zu, nämlich einmal der vernünftige Zugang zur Dogmatik sowie zweitens, die Wahrheit einzelner christlicher Aussagen im Zusammenhang mit dem allgemeinen Denken zu zeigen. Bultmann betont, dass die Probleme, die in der »natürlichen Theologie« behandelt sind, der Theologie bleibend aufgegeben sind, nämlich die Frage nach der Möglichkeit des Verstehens von Glaubensaussagen, nach dem Verhältnis zur Gottesvorstellung außerhalb der Offenbarung und nach dem Verhältnis zum vernünftigen Selbst- und Weltverständnis.

III.

Metaphysikkritik

Ritschl kritisiert noch nicht die Verwendung der Metaphysik in der Theologie überhaupt, sondern zum einen die »schlechte Metaphysik« beziehungsweise den »Platonismus«, womit er die traditionell verwendete Schulmetaphysik der frühen Neuzeit im Blick hat, und zum anderen die falsche Verwendung der gegenüber der Unterscheidung von Natur und Geist neutralen Metaphysik, um mit ihrer Hilfe die besondere Eigenart geistig-ethischer, also auf den Willen bezogener Phänomene zu verstehen. In diesem Zusammenhang kritisiert er auch die Verwendung metaphysischer Allgemeinbegriffe, weil sie eben die Besonderheit der auf konkrete Lebensphänomene bezogenen religiösen Vorstellungen nicht erfassen können. Die Zuweisung religiöser Vorstellungen zum Willen beziehungsweise zum Leben und die damit verbundene Opposition zu ihrer der traditionellen Theologie vorgeworfenen Einordnung in das Wissen werden wegweisend für die Ritschl folgenden Ansätze. Darin wird ein hermeneutisches Anliegen deutlich, das die Metaphysikkritik bis zu Ebeling bestimmen wird. Gleichzeitig deutet sich eine Positivismuskritik an, die den Versuch ablehnt, geistige Sachverhalte von dem an gegebenen Dingen gewonnenen Wirklichkeitsverständnis her zu erfassen. Ebenfalls bestimmend für die nachfolgenden Entwürfe ist die der Metaphysikkritik zugrunde liegende Motivation, die keine historische Auseinandersetzung etwa mit Aristoteles oder der Scholastik darstellt und auch keine sachlich angemessene Würdigung der Metaphysik anstrebt, sondern auf die Diskussion um eine den Erfordernissen der Gegenwart angemessenen Theologie zielt. Herrmann macht den hermeneutischen Aspekt der Metaphysikkritik besonders in seiner Metaphysikschrift stark, indem er als angemessenen Verständnisrahmen religiöser Vorstellungen die Erfahrung des Menschen im Sinne der

176

5. Kapitel: Abschluss der Vorgeschichte

inneren Bewältigung der Wirklichkeit fordert. Schon in der frühen Schrift wird deutlich, dass Herrmann die Metaphysik deshalb kritisiert, weil er sie anders als Ritschl dem Welterkennen zurechnet. Dass die Metaphysik die Realität geistiger Phänomene nicht erfassen kann, liegt damit nicht mehr wie bei Ritschl an ihrer Neutralität, sondern daran, dass sie als Welterkennen Dinge aus ihrem kausalen Zusammenhang versteht und damit dem Wesen der teleologische Begriffe erfordernden geistigen Realität entgegen gesetzt ist. Später betont er, dass das auf die Welt und ihren Kausalzusammenhang gerichtete Erkennen die Überweltlichkeit des Glaubens schon methodisch nicht erreichen kann. Herrmanns Ausführungen sind dabei stärker als bei Ritschl als Auseinandersetzung mit dem Positivismus und dessen Religionskritik zu verstehen. Denn er versucht, die Religion im Zusammenhang mit einem einseitig naturwissenschaftlich bestimmten Weltbild zu rechtfertigen, indem er die Gültigkeit und Ausschließlichkeit dieses Weltbildes als eine Reduktion hinterfragt. Diese Kritik an der Reduktion der Wirklichkeit begegnet im Spätwerk als Kritik am »Monismus«. Die zugrunde liegende Motivation ist hier wie bei Ritschl die Frage nach einer den Bedingungen der Gegenwart angemessenen Theologie. Bultmanns Kritik an der »natürlichen Theologie« basiert deutlich auf Herrmanns Auseinandersetzung mit der Metaphysik. Besonders greifbar wird der Einfluss Herrmanns im Frühwerk, und zwar an der Notwendigkeit eines dualistischen Wirklichkeitsverständnisses, an der antithetischen Verbindung von Religion und Wirklichkeit, der Unerreichbarkeit der Glaubensdinge für die Vernunft und dem hermeneutischen Argument, dass die Religion von einem ethischen Zugang her zu verstehen ist. Die Kritik im Hauptwerk an der Objektivierung Gottes und des Menschen in der »natürlichen Theologie« analog dem objektivierenden Erkennen der Wissenschaft entspricht Herrmanns sowie Ritschls Kritik an der Ausblendung des notwendigen Lebensbezuges bei der metaphysischen Interpretation religiöser Vorstellungen.

IV.

Die Alternative zur Metaphysik

Sowohl Ritschl wie auch Herrmann ersetzen den metaphysischen Zugang zur Religion durch ein ethisches Verständnis. Religiöse Vorstellungen sowie die Religion selbst sind dabei von der Sittlichkeit und vom Willen her gedeutet. Religion wird beschrieben als ein Selbstverständnis des Menschen, der als Geistwesen der Problematik gegenübersteht, dass er sich als der Natur unterworfen erfährt. Besonders Herrmann spricht aus, dass es dabei nicht darum geht, die Religion von der Sittlichkeit her zu begründen. Vielmehr soll die Anknüpfung an die Ethik die Religion statt dem Wissen über die Welt dem inneren Leben der Person zuordnen. Damit wird die Religion durchaus mit der Wirklichkeit verbunden, aber nicht so, dass sie ein defizitäres Vernunftwissen als ein übervernünftiges

V. Luther

177

Wissen ergänzt, sondern indem sie auf eine Problematik der Wirklichkeitserfahrung antwortet, der der Mensch durch rationale kausale Erklärung nicht Herr werden kann. Die Gewissheit des Glaubens beruht damit nicht auf seiner Übereinstimmung mit dem rationalen Erkennen der Welt, sondern durch die Antithetik, durch die der Glaube die bedrängende Welterfahrung transzendieren und so überwinden kann. Auf dem Weg über die innere Erfahrung des Menschen sollen einerseits Glaubensvorstellungen angemessen verstanden werden, andererseits die Plausibilität der Religion als ganzer gezeigt werden. Bei Herrmann ist damit durchaus ein Verzicht auf den objektiven Beweis der Religion verbunden. Religion kann zwar Allgemeingültigkeit beanspruchen, aber nur soweit Menschen sich auf die in der Erfahrung gegebene Grundproblematik des Lebens einlassen. Bultmann folgt dieser Linie, indem er den Glauben als ein Selbstverständnis des Menschen deutet, der von seiner Wirklichkeitserfahrung her grundsätzlich in Frage gestellt wird. Auch bei Bultmann ist der Glaube zum einen nicht im Sinne einer Ergänzung, sondern antithetisch und zum anderen über die Erfahrung statt über das Wissen mit der Wirklichkeit verbunden. Unter den von Ritschl und Herrmann ererbten Voraussetzungen, dass die Vernunft Gott nicht erreicht und dass es in der Religion um Erfahrung geht, interpretiert Bultmann die »natürliche Theologie« als Ausdruck der existentiellen Fraglichkeit des Menschen. Von hier aus arbeitet er seine eigene »natürliche Theologie« aus, indem er das vorgläubige Existenzverständnis des Menschen als ein »Vorverständnis« beschreibt, von dem aus das Verstehen der Offenbarung erst möglich ist. Und auch ihm geht es dabei nicht um einen objektiven Beweis, sondern um den Aufweis der Plausibilität, die aber nur dem zugänglich ist, der sich seiner existentiellen Situation bewusst ist.

V.

Luther

Die Beschäftigung mit der reformatorischen Theologie, besonders mit Martin Luther, ist bei keinem Theologen ursächlich verantwortlich für die Metaphysikkritik. Bei Ritschl tritt die Verbindung zu Luther sogar erst spät auf. Die Untersuchung hat gezeigt, dass sich die Position, die Ritschl über die Jahrzehnte in Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Denkern erarbeitet hat, am Ende mit seinem Bild von Luther und dem »Hebel der Reformation« trifft. Und dies ist es, was Ritschl seinen lutherischen Gegnern und ihrer Kritik an seinem ummetaphysischen Ansatz entgegen hält. Nicht weil er seine Theologie von Luther her gewonnen hat, sondern weil er eine Übereinstimmung mit Luther feststellt, betont Ritschl, dass er eine moderne Theologie entwirft, die endlich das Anliegen der Reformation zur Geltung bringt. Da er dieses Bewusstsein allerdings durch die polemische Frontstellung bedingt sehr betont vertritt, stärkt

178

5. Kapitel: Abschluss der Vorgeschichte

er die im 19. Jahrhundert auch von anderen vertretene Auffassung erheblich, dass eine Theologie in Treue zur Reformation die Metaphysik in der Theologie ablehnen muss. Bei Herrmann finden sich zwischen Metaphysikkritik und Berufung auf Luther überhaupt nur wenige explizite Bezüge. Dennoch ergibt sich durch verschiedene Gedanken eine implizite und nicht zu unterschätzende Verbindung. Wie Ritschl teilt Herrmann die Ansicht, dass die nachreformatorische Theologie das reformatorische Grundanliegen nicht umgesetzt hat, sondern in irrtümlich erhaltenen Grundvoraussetzungen verfangen blieb. Herrmanns Ansatz bei der Erfahrung ist bewusst entworfen im Kontrast zur metaphysischen Abstraktion von der Erfahrung. Und weil Herrmann den Ansatz bei der Erfahrung als Übereinstimmung mit Luther versteht, muss die Ablehnung der Metaphysik ebenfalls als Übereinstimmung mit Luther verstanden werden. Die Untersuchung hat ebenfalls deutlich gemacht, dass Bultmann seine Auseinandersetzung mit der »natürlichen Theologie« nicht von Luther her führt, sondern auf der Grundlage von Ritschls und besonders Herrmanns Theologie. Da aber beide Entwürfe ein derartiges Bewusstsein von der Übereinstimmung mit Luther in sich tragen, musste auch Bultmann seine Kritik an der »natürlichen Theologie« als Treue zu Luthers Anliegen verstehen.

Teil II

Gerhard Ebelings Metaphysikkritik

Kapitel 6

Die Metaphysikkritik in den frühen Arbeiten Die Untersuchung von Ebelings Auseinandersetzung mit der Metaphysik kann nicht, wie es zunächst als naheliegend erscheinen mag, die Dogmatik des christlichen Glaubens zu Grunde legen. Die Dogmatik ist am Ende von Ebelings aktiver Lehrtätigkeit entstanden und damit als systematisch-theologisches Hauptwerk der Spätphase zu betrachten, in dem Ebeling seinen in den vorangegangenen Jahrzehnten erarbeiteten theologischen Ansatz zusammenfasst und umsetzt. Dafür greift er auf früher dargelegte Gedankengänge zurück, indem er sie oft stark zusammenfassend oder auch nur andeutend aufnimmt. Die Dogmatik verarbeitet deren Argumente und Motive in einer gereiften Weise, so dass eine frühere Schärfe oder polemische Zuspitzung, die Hinweise auf ihre Entstehungshintergründe geben können, abgemildert sind. Zudem sind Anregungen, die Ebeling von anderen Theologen und Philosophen aufgenommen hat, in der Dogmatik so durch sein eigenes Denken hindurchgegangen, dass sie ihren Ursprung nicht mehr so klar wie in den frühen Schriften erkennen lassen. Um genauer zu verstehen, was Ebeling unter Metaphysik versteht, was und wen er mit ihr kritisiert und welchen Sinn die Abgrenzung von ihr hat, empfiehlt es sich daher, vor allem die Schriften und Aufsätze zu untersuchen, die bis zur Arbeit an der Dogmatik entstanden sind, also etwa bis Mitte der 1970er Jahre. Wie die zeitgeschichtliche Einordnung zeigen wird, findet Ebelings Auseinandersetzung mit der Metaphysik vorwiegend zwischen dem Beginn der 1960er Jahre und dem Beginn der 1970er Jahre statt. Die Texte, auf die sich folgende Untersuchung hauptsächlich stützt, stammen aus dieser Zeit. Die ausführlichsten Gedanken finden sich in den Aufsätzen »Der hermeneutische Ort der Gotteslehre bei Petrus Lombardus und Thomas von Aquin« (1964) und »Existenz zwischen Gott und Gott« (1965)1 sowie in dem Buch Luther. Einführung in sein Denken (1964). Hier befasst sich Ebeling mit der ›natürlichen Gotteserkenntnis‹ beziehungsweise der Metaphysik als dem vernünftigen Fundament der scholastischen Theologie. Zwei weitere Texte geben Aufschluss über Ebelings Gedanken zum Problem der Metaphysik in der modernen Theologie, nämlich der RGGArtikel »Theologie und Philosophie« (1962) und der Aufsatz »Die Botschaft von Gott an das Zeitalter des Atheismus« (1963).2 Für den zeitgeschichtlichen 1 2

WuG II [15], 209–256 und [16], 257–286. RGG [12], 782–830 und WuG II [13], 372–395.

182

6. Kapitel: Die Metaphysikkritik in den frühen Arbeiten

Kontext und die Genese der Metaphysikkritik ist außerdem Ebelings programmatischer Aufsatz »Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode für die protestantische Theologie und Kirche« (1950)3 aufschlussreich. Diese Texte bilden den Grundstock der Untersuchung von Ebelings Auffassung und Kritik der Metaphysik, der durch weitere Texte vor allem aus den Aufsatzbänden Wort und Glaube ergänzt werden wird.4 Anders als in den vorangehenden Kapiteln wird es keinen separaten Abschnitt zum Verhältnis von Ebeling und Luther geben. Ebelings Beschäftigung mit Luther ist von Anfang an so sehr mit seiner systematisch-theologischen Arbeit verbunden, dass ein Verständnis seines Ansatzes den Bezug zu Luther und zur Reformation als einen wesentlichen Bestandteil in der laufenden Darstellung mit berücksichtigen muss.

I.

Synonyme

Geht man dem Wortfeld von »Metaphysik« in Ebelings Arbeiten nach, so zeigt sich ein recht weiter Gebrauch, der mit anderen Begriffen derart ineinander fließt, dass es teilweise synonym mit ihnen gebraucht wird. So kann Ebeling die »metaphysische Gotteserkenntnis« als Äquivalent für die »natürliche Gotteserkenntnis«, »natürliche Theologie«, »philosophische Theologie« und »philosophische Gotteserkenntnis« verwenden.5 Dass Ebeling hier nur verschiedene Bezeichnungen aufgreift, nicht aber die mit diesen Bezeichnungen verbundenen Inhalte, wird an der natürlichen Gotteserkenntnis deutlich. Diesen Begriff versteht er einfach als Gotteserkenntnis der Vernunft, die vor allem die »Existenz Gottes« erreicht,6 oder als »allgemeine(. . . ) Gotteserkenntnis«, wenn er beschreibt, wie Paulus in seiner Verkündigung eine »Kenntnis Gottes« voraussetzt.7 Die in der altprotestantischen Dogmatik mit dieser Bezeichnung verbundene Differenzierung in notitia insita und notitia acquisita spielt in Ebelings Gebrauch keine Rolle. Gleiches gilt für den Begriff der natürlichen Theologie. Als »natürliche Theologie« bezeichnet er ganz allgemein »ein nicht ausschließlich an Christus und die Schrift gebundenes theologisches Denken«.8 Er setzt Luthers »Verwerfung WuG I [1], 1–49. Ebelings Studie Disputatio de homine soll in den Anmerkungen mit berücksichtigt werden, da sie zwar aus späterer Zeit stammt, aber doch sein Bild von der Scholastik und den die Dogmatik traditionell prägenden metaphysischen Begriffen sehr detailliert zeigt. 5 WuG II [15], 239f, die Bezeichnungen wechseln mehrfach; vgl. WuG II [16], 263f; [13], 389. 6 Luther, 263f. 282. 7 WuG II [13], 386f. 8 Evangelienauslegung, 250 Anm. 541. 3

4

II. Der zeitgeschichtliche Kontext

183

der natürlichen Theologie« gleich mit dessen »Kampf gegen die scholastische Theologie und Aristoteles« und der »Preisgabe philosophischer Theologie«.9 Natürliche Theologie ist für ihn gleichbedeutend mit der »natürlichen Gotteserkenntnis«.10 Ebeling versteht also die Bezeichnung wie Bultmann allgemein als Gotteserkenntnis außerhalb der Offenbarung und kann sie deshalb einfach als Synonym für die Gotteserkenntnis der Metaphysik gebrauchen. Der präzisere Gebrauch dieser Bezeichnung im Sinne der theologia naturalis der protestantischen Orthodoxie, im Sinne der Aufklärung, die sich auf das Phänomen der »natürlichen Religion« beruft, oder im Sinne Kants als Ableitung von Dasein und Eigenschaften eines Welturhebers aus der Ordnung und Einheit der Welt11 hat für Ebeling keine Bedeutung. Wenn man nach der Bedeutung des Wortes »Metaphysik« fragt, muss man also auch Ebelings Aussagen zu diesen Schlagwörtern im Blick behalten. Bevor nun aber gezeigt werden kann, was Ebeling inhaltlich unter der Bezeichnung »Metaphysik« versteht, muss die terminologische Frage geklärt werden, warum der Begriff »Metaphysik« in der evangelischen Theologie wieder begegnet, nachdem sich durch die dialektische Theologie der Begriff »natürliche Theologie« allgemein etabliert hatte. Dafür ist ein Blick auf die zeitgeschichtliche Situation notwendig, in der sich Ebeling mit der Metaphysik auseinandersetzt.

II.

Der zeitgeschichtliche Kontext

Ebeling sieht noch die zeitgenössische Theologie wesentlich von metaphysischen Denkvoraussetzungen bestimmt. So stellt er fest, dass es in der Neuzeit gerade die Theologie ist, die ein metaphysisches Weltbild einfordert und sich so zur »Vorkämpferin der Metaphysik« in einer Zeit macht, in der die metaphysische Plausibilität schon verloren ist.12 In den Aufsätzen aus den sechziger Jahren sieht Ebeling die metaphysisch begründete Theologie noch in der deutlichen Übermacht. Er spricht von dem »Gewohnheitszwang«, den die metaphysische Grundlegung der Theologie im gegenwärtigen »Bemühen um die theologische Verstehensfrage im Kontext der Neuzeit« ausübt.13 Die Theologie beginne »erst jetzt« die »Größe der Aufgabe« zu begreifen, die eine nicht-metaphysische Begründung bedeute, wobei er darauf hinweist, dass dies »nach der vorherrschenden theologischen Tradition: gott-los« bedeute.14 9

Evangelienauslegung, 250f. Evangelienauslegung, 254. 11 Z. B. KrV, B 659f. 12 RGG VI [12], 826. 13 WuG III, 499. 14 WuG II [10], 97; vgl. [13], 389. Das Wort »gott-los« ist ein Zitat von HEIDEGGER, Identität, 65. Außerdem spricht Heidegger, Humanismus, 337 von der »noch herrschenden 10

184

6. Kapitel: Die Metaphysikkritik in den frühen Arbeiten

Angesichts solcher Ausführungen muss daran erinnert werden, dass in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts keine evangelische Theologie mehr unter expliziter Anknüpfung an die traditionelle abendländische Metaphysik konzipiert ist, es sogar explizit nachmetaphysische Entwürfe der Theologie gab. Beispiele sind John Robinson, Honest to God (1963) mit seiner Kritik am klassischen theistischen Gottesverständnis oder Harvey Cox, The Secular City (1965). Vertreter in der deutschsprachigen Theologie stellen Eberhard Jüngel, Gottes Sein ist im Werden (1965) und etwas später Jürgen Moltmann, Der gekreuzigte Gott (1972) dar. Sie zeigen, dass Ebeling mit seiner expliziten Abgrenzung der Theologie von der Metaphysik nicht alleine dastand. Außerdem ist zu beachten, dass Karl Barth und seine Schule, zum Beispiel Herrmann Diem, Gott und die Metaphysik (1956), mit der ausdrücklichen Bekämpfung auch nur des Anscheins einer ›natürlichen Theologie‹ in dieser Zeit die theologische Szene besonders im deutschsprachigen Raum stark prägte.15 Damit erhebt sich die Frage, wen Ebeling mit seiner Metaphysikkritik eigentlich im Blick hat. Dies soll nun geklärt werden. 1. Zeitliche Einordnung der Metaphysikkritik Ebelings In den Schriften bis 1960 findet sich kein besonderes Interesse Ebelings an der Metaphysik. In seiner Dissertation Evangelische Evangelienauslegung von 1938 (gedruckt 1942) kommt das Wort »Metaphysik« überhaupt nicht vor, das Adjektiv »metaphysisch« ist stets in einem allgemeinen deskriptiven Sinn gebraucht, nämlich um eine der sichtbaren Welt übergeordnete jenseitige Sphäre zu kennzeichnen.16 In anderen Schriften aus Ebelings frühester Zeit begegnet die Wortgruppe »Metaphysik« und »metaphysisch« nur selten und dient dann entweder im genannten deskriptiven Sinn17 oder dafür, um knapp auf den Zusammenbruch der Metaphysik an der Schwelle zur Neuzeit hinzuweisen18 . An einer einzigen Stelle spricht Ebeling den Gegensatz »zwischen dem Gott der Bibel und dem Gott der Metaphysik« an. Allerdings will er hier lediglich »mit den üblichen Schlagworten« die gängige Meinung der »neueren evangelischen Theologie« wiedergeben und warnt vor einer Simplifizierung des Problems sowie vor »definitiven Scheidungen«.19 Metaphysik«, um die gegenwärtige Philosophie zu kennzeichnen, die in der Tradition der abendländischen Metaphysik das Sein vom Seienden her denkt. 15 Die starke Präsenz der Kritik Barths an der »natürlichen Theologie«, auch wenn Ebeling, wie noch deutlich werden wird, seine eigene Position vor allem in kritischer Abgrenzung zu ihr entwirft, kann durchaus als eine Art Motivverstärker für Ebelings eigene Metaphysikkritik betrachtet werden. 16 Evangelienauslegung, 93. 95. 113. 184f. 192. 228. 343. 17 Wesen, 90. 18 Wesen, 30; WuG I [1], 33; [6], 361 19 WuG I [6], 353.

II. Der zeitgeschichtliche Kontext

185

Eine andere Verwendung des Begriffs »Metaphysik« begegnet ab 1960. Nun kritisiert Ebeling das Beharren in Christentum und Theologie auf dem vorneuzeitlichen Weltbild und bezeichnet dieses Wirklichkeitsverständnis als »Metaphysik«. Neben der bereits erwähnten Stelle aus dem RGG-Artikel »Theologie und Philosophie« von 1962, in dem er die Theologie »überwiegend als Vorkämpferin der Metaphysik« sieht,20 warnt er in einem Aufsatz aus dem Jahr 1960 davor, »eine Metaphysik von gestern mit dem christlichen Glauben zu verwechseln«, und stellt fest, die »Christenheit« habe sich bisher »herumgedrückt um die unvermeidliche Transformation dessen, was traditionellerweise als christlicher Glaube ausgegeben wird«.21 Die große Aufmerksamkeit Ebelings für das Thema Metaphysik und ihre Kritik dokumentiert schließlich der zweite Band von Wort und Glaube, der vor allem Aufsätze und Arbeiten aus den sechziger Jahren veröffentlicht. Im Register finden sich nun 20, teils mehrseitige Fundstellen zu den Stichworten »Metaphysik« und »metaphysisch«. Mit dem Beginn der 1970er Jahre nimmt dann die Zahl der Fundstellen wieder ab und die Bezeichnung »Metaphysik« sinkt zurück auf ein allgemeines Schlagwort.22 Erst in der Dogmatik wird die Auseinandersetzung mit der Metaphysik wieder bedeutsam,23 wobei Ebeling, wie schon angedeutet, hier im Wesentlichen seine früheren Ausführungen aufgreift und für die Konzeption seines eigenen dogmatischen Ansatzes fruchtbar macht. Es zeigt sich also, dass Ebeling seine Haltung zur Metaphysik gegen Ende der fünfziger und vor allem in den sechziger Jahren erarbeitet hat. Was ihn ihn damals dazu geführt, sich ausführlicher mit der Metaphysik zu beschäftigen? 2.

Der Entmythologisierungsstreit

Auf die Spur zum zeitgeschichtlichen Kontext führt eine Bemerkung aus dem Jahr 1965, in der Ebeling kritisiert, dass das »metaphysische Denken« in der Theologie »die Gottesgewißheit nach Art der Weltgewißheit« verstanden und deshalb »die neuzeitliche Herausforderung zu hermeneutischer Situationsbesinnung in Bezug auf das Reden von Gott als Angriff auf den objektiven Grund der Theologie empfunden« hat.24 Eine solche Kontrastierung der Metaphysik mit der Hermeneutik oder dem Verstehensproblem in der Theologie begegnet RGG VI [12], 826. WuG I [7], 391. 22 Dies wird beispielsweise deutlich im dritten Band von Wort und Glaube: WuG III, 5. 21 [1974]; 86 [1970]; 118. 124 [1973]; 157 [1971]; 176 [1973]. 23 Das Register verzeichnet acht Fundstellen mit insgesamt zwölf Seiten, davon elf Seiten im ersten Band, woran deutlich wird, welche prinzipientheologische Relevanz die Abgrenzung von der Metaphysik für Ebeling besitzt. 24 WuG II [16], 278. 20

21

186

6. Kapitel: Die Metaphysikkritik in den frühen Arbeiten

häufiger und stellt in der Regel eine Anspielung auf den Streit um Rudolf Bultmanns Entmythologisierung dar, der Theologie und Kirchen vor allem in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts beschäftigte.25 Bultmann hatte den so genannten Streit um die Entmythologisierung durch seinen später als Aufsatz veröffentlichten Vortrag »Neues Testament und Mythologie« aus dem Jahr 1941 ausgelöst.26 Der Vortrag und seine Veröffentlichung lösten erwartungsgemäß eine intensive Debatte im akademischen und kirchlichen Bereich aus. Anfang der fünfziger Jahre kam es schließlich zu heftigen Reaktionen in den evangelischen Kirchen. Die Generalsynode der VELKD im April 1952 umging zwar eine öffentliche Verurteilung Bultmanns, ihre Bischofskonferenz formulierte allerdings 1953 eine Kanzelabkündigung für den Ewigkeitssonntag, in der die Entmythologisierung des Neues Testaments, ohne Bultmanns Namen zu nennen, als unvereinbar mit der kirchlichen Lehre bezeichnet wurde.27 Im Vorfeld der Synode gab Ernst Kinder im März 1952 einige Vorträge bayerischer Theologen unter dem Titel Zur Entmythologisierung. Ein Wort lutherischer Theologie heraus. Die lutherischen Kirchenleitungen reichten diese Schrift als Informationsgrundlage an ihre Pfarrämter und die Mitglieder der im April tagenden Generalsynode der VELKD weiter.28 Es ist vor allem der in dem Heft enthaltene Aufsatz von Kinder, mit dem sich die Verteidiger Bultmanns auseinandersetzen. a)

Die Objektivität der »Heilstatsachen«

In dem Aufsatz »Historische Kritik und Entmythologisierung«29 betont Kinder immer wieder die Objektivität und »Tatsächlichkeit« der Heilsereignisse. Weil die »Theologie der Entmythologisierung« die »Kriterien und Methoden angeblich allgemeingültiger ›Wissenschaftlichkeit‹« absolut anwende,30 müsse sie die »Nichthistorizität« der neutestamentlichen »Heilsereignisse« voraussetzen und sie zu »Mythen« erklären. Sie halte zwar die »christlichen Kerninhalte« fest, reduziere sie jedoch auf ihre »bloße existentiale Bedeutsamkeit«. Kinder kritisiert, Vgl. z. B. WuG I [7], 390f; II [17], 119; III, 499. Bultmann hielt den Vortrag 1941 zwei Mal vor der Gesellschaft für evangelische Theologie, einmal im April auf einer Regionaltagung in Frankfurt/Mai und schließlich im Juni auf der Gesamttagung der Gesellschaft in Alpirsbach; HAMANN, 308. Der Vortrag wurde im selben Jahr veröffentlicht in RUDOLF BULTMANN, Offenbarung und Heilsgeschehen, Beiträge zur Evangelischen Theologie 7, München: Kaiser, 1941, 27–69 und später in mehreren Auflagen (1 1948, 2 1951 u. ö.) wieder abgedruckt in BARTSCH, Kerygma I, 15–48. 27 HAMANN, 313–319. 421–426. Die »Entschließung« der Generalsynode vom 27. April 1952 ist abgedruckt in BARTSCH, Kerygma II, 6f. 28 GOGARTEN, 7. 80; HAMANN, 424f. 29 KINDER, 33–60. 30 KINDER, 44. 25

26

II. Der zeitgeschichtliche Kontext

187

dass die »objektive Tatsächlichkeit der Heilsereignisse wie der realen Präexistenz Christi, der Jungfrauengeburt, der Wunder Jesu, der leiblichen Auferstehung, Himmelfahrt und der Zukunftsdramatik der Eschatologie« als Hindernis für den wahren paulinisch-evangelischen Glauben betrachtet werde. Weil diese Heilsereignisse nicht in den »Rahmen des ›heutigen Weltbildes‹« passten, würden sie »nicht als reale, objektive Fakta, die tatsächlich transsubjektiv so geschehen sind«, betrachtet.31 Kinder fordert nun, weil der Glaube sich auf Geschehnisse beziehe, die außerhalb des Subjekts liegen, »den objektiv-realen Wirklichkeitscharakter der Gegenstände des Glaubens« zu betonen. Ihm zufolge erschließt sich im Glauben eine »›übernatürliche‹ Wirklichkeit eigener Art«, so dass der Glaube mit seinen Gegenständen nicht außerhalb seiner selbst liegenden »Wirklichkeitskriterien« unterworfen werden darf. Damit tritt Kinder für einen »genuin theologischen Wirklichkeitsbegriff« ein, der vom allgemeinen Wirklichkeitsbegriff unterschieden und von der »tyrannischen Bevormundung des Historischen« befreit ist.32 Theologie und Verkündigung müssten »die übernatürlichen Fakten der Heilsgeschichte in ihrer transsubjektiven Tatsächlichkeit fromm stehen lassen«.33 Es ist aber nicht nur Kinder, der gegen Bultmann die Objektivität der Heilsereignisse betont. Schon zehn Jahre vorher hatte bereits Helmut Thielicke in einem Gutachten zur Erstveröffentlichung von Bultmanns Aufsatz den »an Jesus Christus objektiv gebundenen Glauben« als reformatorische Auffassung bezeichnet. Es gehe Luther gerade um den »extra me gelagerten Gegenstand des Glaubens«.34 Entsprechend nennt Thielicke die »Auferstehungstatsache« ein »brutum factum«, das »ohne Einschaltung meiner produzierenden Subjektivität« vorhanden sei. Bei Bultmann dagegen hänge die Auferstehung »an dem durch die Begegnung mit Christus . . . entstandenen Glauben« und sei somit lediglich als Bild, als »Reflex eines Begegnungserlebnisses« zu verstehen.35 Letztlich sieht Thielicke deshalb den »Heerhaufen der Bultmannschen Argumente und Glaubensbegründungen . . . auf den engen Raum der Bewußtseins-Subjektivität zusammengedrängt«.36 Er selbst geht von einem spezifisch biblischen Begriff des Mythos aus und versteht darunter nicht, wie er Bultmann vorwirft, die »Ob-

31

KINDER, 46f. Als weitere Wendungen finden sich: »objektive Tatsächlichkeiten« (37); »real geschehenen Tatsächlichkeit« und »objektive Faktizität jener Heilsereignisse« (48); »transsubjektiven Wirklichkeiten« (49); »objektiven Tatsächlichkeit« (50); »objektive Wirklichkeit« (52); »objektiven Geschehens« (53). 32 KINDER, 49f. 33 KINDER, 60. 34 BARTSCH, Kerygma I, 159. 35 BARTSCH, Kerygma I, 171. 36 BARTSCH, Kerygma I, 172f.

188

6. Kapitel: Die Metaphysikkritik in den frühen Arbeiten

jektivierung eines spukaften subjektiven Erlebens, sondern die Subjektivierung (die geistige Aneignung) eines objektiven Heilsereignisses«.37 Die Denkschrift der theologischen Fakultät in Tübingen Für und Wider die Theologie Bultmanns, die Hanns Rückert 1952 in Zusammenarbeit mit Ebeling verfasste, hinterfragt unter der Überschrift »Der Glaube und die Heilstatsachen«38 kritisch die Eignung der Unterscheidung von »objektiv gegebenem Glaubensinhalt und dem subjektiven Glaubensakt«.39 Neben den Schlagworten »Subjekt« beziehungsweise »subjektiv« und »objektiv«40 begegnet hier ein weiteres zentrales Stichwort der Auseinandersetzung, nämlich das der »Heilstatsachen«. Bultmann selbst nimmt zu diesem Begriff Stellung41 und auch Julius Schniewind nennt ihn als Schlagwort der Gegner Bultmanns.42 Die Schlagworte »subjektiv« und »objektiv« sowie der Begriff der »Heilstatsachen« bestimmen also den Streit mit und um Bultmanns theologisches Programm. Der Begriff der Metaphysik spielt allerdings in der Auseinandersetzung zunächst keine Rolle. Es ist nicht zu beobachten, dass die Gegner Bultmanns auf einer metaphysische fundierten Theologie bestehen.43 b)

Der Vorwurf der Metaphysik

Das Schlagwort der Metaphysik begegnet schließlich unter den Verteidigern Bultmanns. Sie bezeichnen die Argumentation der Gegner als »metaphysisches Denken«. Friedrich Gogarten setzt sich in seiner 1953 erstmals erschienenen Schrift Entmythologisierung und Kirche unter anderem mit den Ausführungen Ernst Kinders über die Entmythologisierung auseinander. Dessen Beharren auf »Fakta« und der »objektiven Faktizität«, die aber eine »Faktizität der besonderen Art« darstellen soll, ordnet er ein in einen Wirklichkeitsbegriff, der für ihn

37

BARTSCH, Kerygma I, 177 Denkschrift, 30–37. 39 Denkschrift, 32. 40 Ernst Fuchs bezeichnet 1954 die Gegner der Entmythologisierung »der Kürze halber und deren Intention gemäß« als »Objektivisten«; FUCHS, Entmythologisierung, 726. Noch zehn Jahre später geht Helmut Gollwitzer aus barthianischer Sicht auf den Streit um Bultmann ein und äußert sich »Zur theologischen Diskussion über das Subjekt-Objekt-Schema«, wobei er gegen ein »Verbot der Vokabeln Subjekt und Objekt in der Theologie« sowie ein »Verbot der Objektivierung« Gottes Stellung bezieht; GOLLWITZER, 37–40, Zitate: 37f. 41 BARTSCH, Kerygma II, 200. 42 BARTSCH, Kerygma I, 77 43 Im Gegenteil betont Regin Prenter in der Auseinandersetzung mit Bultmann, dass gerade der Mythos vor dem Einfall der Metaphysik schütze: »Wenn die Mythologie verschwindet, tritt die Metaphysik an ihre Stelle. . . . Die Theologie trennt sich . . . durch die Mythologie von allen philosophischen und metaphysischen Problemen. . . . [So] versperrt die Mythologie der Philosophie und Metaphysik den Zugang zur Theologie.«; BARTSCH, Kerygma II, 82f. 38

II. Der zeitgeschichtliche Kontext

189

»genuin« in die metaphysische Theologie des Mittelalters gehört: »Dieser Begriff ›übernatürlich‹ gehört in das metaphysische Verständnis des Glaubens und hat dort seinen guten Sinn.«44 Allerdings ist Gogarten der Ansicht, dass dabei das »genuin christliche Verständnis der menschlichen Existenz und ihrer Welt als einer geschichtlichen« von der Metaphysik »verdeckt« ist, weil dort alles Geschehen in der Geschichte als durch ein in der biblischen Offenbarung erkennbares und von Gott vorgegebenes Ziel vorherbestimmt verstanden wird.45 Das metaphysische Verständnis des Glaubens passt für ihn nicht in eine dem genuin christlichen Verständnis verpflichteten und deshalb geschichtlichen Theologie: »Hier gilt . . . die Entscheidung zwischen geschichtlichem und metaphysischem Denken.«46 Gogarten führt außerdem aus, dass das geschichtliche Verständnis des Glaubens »nicht in dem Schema von Subjekt-Objekt ausgesagt werden kann«. Geschichtlichkeit bedeutet für Gogarten nicht so sehr die Beschäftigung mit der Vergangenheit, sondern die gegenwärtige Verantwortung des Menschen für seine Existenz und für die Gestaltung seiner Welt. Das auf das cartesische Wirklichkeitsverständnis zurückgehende Subjekt-Objekt-Schema macht nach Gogarten die »Geschichtlichkeit des Objekts«, in diesem Falle der Welt, und die des »Subjekts«, also des Menschen, zunichte, indem es das Verhältnis des Menschen zur Welt »zerreißt«. Denn, wie Gogarten unter Anknüpfung an Heidegger formuliert, bedeutet das Subjekt-Objekt-Schema die »Setzung eines ›isolierten Subjektes‹ und damit natürlich auch die eines ebenso isolierten Objektes«.47 Bei Ernst Fuchs48 findet sich nun die Verbindung von dem cartesischen Subjekt-Objekt-Denken der Neuzeit mit der abendländischen Metaphysik, womit die Vorstellung von den »objektiven Heilstatsachen« schließlich in den 44

GOGARTEN, 52. GOGARTEN, 31–33. Gogarten spricht zwar wörtlich von »metaphysische altkirchliche Theologie«, meint aber damit die mittelalterliche Theologie, denn er knüpft explizit an Diltheys Auffassung von einer das abendländische Mittelalter prägenden Synthese aus griechischer Metaphysik und christlichem Geschichtsdenken an; GOGARTEN, 30f. 46 GOGARTEN, 52f. 47 GOGARTEN, 54f. Gogarten veweist für den Begriff des »isolierten Subjekts«auf § 43 aus HEIDEGGER, SuZ, 200–212. Der Begriff findet sich dort besonders 204–206, aber auch sonst im Buch. Vgl. auch Gogartens Darstellung des Zusammenhanges zwischen Subjektwerdung des Menschen und dem vorstellenden Erkennen nach HEIDEGGER, Weltbild, 81–87. 100, GOGARTEN, 64–66. Im Übrigen hat bereits Ritschl betont, dass das dem »philosophischen Erkennen« zugehörige »Schema von Subject und Object« die »Eigenthümlichkeit der Religion« nicht erfassen kann, RITSCHL, RuV1 I, 18f. 48 Ernst Fuchs und Ebeling verband seit den gemeinsamen Jahren in Tübingen eine enge Freundschaft. Fuchs war von 1949 bis 1955 Privatdozent und Dozent, Ebeling von 1945 bis 1956 zunächst Assistent und später Professor in Tübingen; EBELING, Weg, 39. 50–60 Weg, vgl. PILNEI, 63–65. Die beiden müssen sich aber schon früher gekannt haben, denn Fuchs war in den 30er Jahren oft zu Konventen und Rüstzeiten der Bekennenden Kirche in 45

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6. Kapitel: Die Metaphysikkritik in den frühen Arbeiten

Horizont eines durch die Metaphysik geprägten Denkens eingeordnet ist. In seiner 1954 zuerst erschienenen Hermeneutik ordnet er das »Bekenntnis zu ›objektiven Heilstatsachen‹« in eine »Logik« ein, die Gogarten das »SubjektObjektschema« genannt habe.49 Gegen die Meinung, dass Dinge ursprünglich objektiv vorhanden seien und damit in einer objektiven Weise, also ohne Einmischung des Subjekts, unverfälscht wahrgenommen werden können, weist Fuchs darauf hin, dass sich bereits die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt der Tätigkeit des menschlichen Vorstellungsvermögens verdankt. Das gilt auch für die »Heilstatsachen«: »Auch jene ›objektiven Heilstatsachen‹ verdanken ihre Objektivität lediglich unserem gestaltenden Vorstellungsvermögen.«50 Der hermeneutische Zirkel verweist für Fuchs dagegen auf die »Identität von Objektivität und Subjektivität« und erinnert somit daran, »daß wir uns nicht durch unangemessene Wahrheitspostulate beeinflussen lassen sollen, wie sie unter der Herrschaft des vorstellenden, in der Mathematik am reinsten zum Vorschein kommenden Denkens entstanden sind«.51 Fuchs stellt das SubjektObjekt-Denken in den Zusammenhang der abendländischen Metaphysik. Die »›Vorstellung‹ vom ›Objektiven‹« habe seine Wurzeln in der »abendländischen Metaphysik«, die fordere, »das Wirkliche, das ›Reale‹, als voraussetzungslos anzusetzen«.52 Dass die Position der Gegner Bultmanns »metaphysisches Denken« bezeichnet werden konnte, basiert also darauf, dass die Betonung der Objektivität der Heilstatsachen in eine bestimmte Auffassung der abendländischen Geistesgeschichte eingeordnet wurde, die das Subjekt-Objekt-Denken als neuzeitliches Erbe der abendländischen Metaphysik versteht, und zwar als ein schädliches Erbe, das es zu überwinden gilt.

Berlin-Brandenburg eingeladen, wie Kurt Schaaf, Ebelings Ordinator, berichtet; EBELING/ JÜNGEL/SCHUNACK, VII. Ebeling war von 1934 bis 1945 zunächst Vikar, später Pfarrer der BK in Berlin-Brandenburg und berichtet auch von der Teilnahme an den Konventen der BK; EBELING, Weg, 14–23. 28–31. 49 FUCHS, Hermeneutik, 94 mit Verweis auf 79, wo er GOGARTEN, 55 referiert. Ich zitiere die Hermeneutik von Fuchs nach der zweiten Auflage, die auch Ebeling in RGG VI [12], 830 anführt. 50 FUCHS, Hermeneutik, 120f. 51 FUCHS, Hermeneutik, 121f; vgl. seine Darstellung Heideggers, Hermeneutik, 63f. 52 FUCHS, Hermeneutik, 125. Fuchs greift hier einen Gedankengang Heideggers auf, demzufolge im neuzeitliche Denken »Sein« den »Sinn von Realität« erhält, weil hier, ausgehend von Descartes, »das Seiende als vorhandener Dingzusammenhang (res)« vorausgesetzt ist; HEIDEGGER , SuZ, 201, vgl. 89–101 zu Descartes. Dieses Denken bezeichnet Heidegger später als neuzeitliche Metaphysik, HEIDEGGER, Nietzsches Wort, 255. Zur Kritik an der SubjektObjekt-Spaltung durch Fuchs und ihren Wurzeln bei Heidegger vgl. PILNEI, 102–107.

II. Der zeitgeschichtliche Kontext

c)

191

Heideggers Metaphysikkritik

Die Einordnung des Subjekt-Objekt-Schemas als »Metaphysik« und die damit verbundene Kritik gehen auf Martin Heidegger zurück. Nicht nur auf Gogarten und Fuchs hat Heidegger in diesem Zusammenhang einen beutenden Einfluss ausgeübt, sondern auch auf Gerhard Ebeling, der schon im Studium mit der Heideggerschen Philosophie sehr vertraut war.53 Metaphysik bedeutet für Heidegger »das Hinausfragen über das Seiende, um es als ein solches und im Ganzen für das Begreifen zurückzuerhalten«54 und das heißt für Heidegger, insofern der die Einheit herstellende Grund des Seienden mit Gott identifiziert ist, Ontologie als »Onto-Theo-Logie«.55 Zunächst gebraucht Heidegger das Wort in einem positiven Sinn. Weil der Mensch von seinem »Wesen« her darauf angewiesen ist, das Seiende zu verstehen und deshalb über es hinauszufragen, kann er sagen: »Die Metaphysik gehört zur ›Natur des Menschen‹«. Er nennt sie »das Grundgeschehen im Dasein«, ja »das Dasein selbst«.56 Was meint er damit? Das Dasein des Menschen ist für Heidegger »immer schon« mit einem »Seinsverständnis« verbunden, ohne dass dieses begrifflich fixiert ist. In dieser Form liegt es bereits im Verständnis des Wortes »ist« vor. Heidegger nennt es das »durchschnittliche und vage Seinsverständnis« oder das »vor-ontologische« Seinsverständnis.57 Dieses erste Verstehen ist damit gegeben, dass der Mensch das ihm begegnende Seiende überschreitet, und zwar nicht einzelnes Seiendes, sondern das Seiende als »Ganzheit«, als Zusammenhang oder Welt, und sich selbst davon unterscheidet. Durch diesen Akt des Transzendierens wird der Mensch überhaupt erst ein »Selbst«.58 Das menschliche Dasein ist für Heidegger ein Sein,

53

Als Student hielt Ebeling 1933 in einem Seminar des Philosophen Eberhard Grisebach in Zürich ein Referat über Das Problem der Metaphysik bei Martin Heidegger. Das ausgearbeitete Referat ist als Typoskript im Universitätsarchiv Tübingen erhalten. Nicht nur die für ein Referat vergleichsweise breite Literaturbasis – neben Sein und Zeit noch drei weitere Schriften von Heidegger – sondern auch die Tatsache, dass Ebeling Heidegger vehement gegen Grisebach verteidigt (Problem der Metaphysik, 1. 6f, vgl. Weg, 11), zeigen, wie geläufig ihm die Gedanken Heideggers sind. Dazu hat neben Bultmann auch der Heidegger-Schüler Gerhard Krüger beigetragen, den Ebeling in seiner Marburger Studienzeit hörte, vgl. BEUTEL, 15. 54 Was ist Metaphysik, 118. 55 Was ist Metaphysik, 122; Identität, 45; Einführung, 3; Nietzsches Wort, 210; Einleitung, 365. 378f. Es kann in diesem Abschnitt selbstverständlich nicht darum gehen, eine vollständige Darstellung der Heideggerschen Gedanken zu geben. Es sollen vielmehr die groben Linien nachgezeichnet werden, die Ebelings Nähe zu Heideggers Metaphysikkritik erkennen lassen. 56 Was ist Metaphysik, 121f. Es ist zu beachten, dass Heidegger die Bezeichnung »Dasein« für das menschliche Dasein bzw. den Menschen gebraucht, weil er den Begriff »Mensch« in einem irreführenden Sinn vorbelastet sieht, vgl. SuZ, 12. 46. 57 SuZ, 5; Wesen des Grundes, 132. 58 Wesen des Grundes, 138f; vgl. SuZ, 38: »Sein ist das transcendens schlechthin.«

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6. Kapitel: Die Metaphysikkritik in den frühen Arbeiten

das sich aus seinem »Da« versteht, also aus dem Zusammenhang mit anderem Seienden oder, wie er auch sagt, aus seinem »In-der-Welt-sein«59 . Dieser ursprüngliche, dem »vor-ontologischen« Verstehen zu Grunde liegende Zusammenhang aber gerät aus dem Blick, indem die Reflexion die Dinge aus ihrer im alltäglichen Umgang gegebenen »Zuhandenheit« herauslöst und analysierend vor sich stellt. In dieser Betrachtungsweise wird das »In-der-Welt-Sein« des Menschen »unsichtbar«, Sein als isoliertes Vorhandensein von Seiendem aufgefasst und die Frage nach dem Sein durch die Untersuchung des Seienden ersetzt.60 Schon in den frühen Werken kritisiert Heidegger diese »Seinsvergessenheit« der bisherigen Philosophie. Seit der griechischen Philosophie bis heute ist seiner Ansicht nach die »Frage nach dem Sein« in »Vergessenheit« geraten. Das Sein galt in der griechischen Philosophie und damit auch im abendländischen Denken des Mittelalters als »der allgemeinste und leerste Begriff«, der als nicht definierbar galt, als eine »sonnenklare(. . . ) Selbstverständlichkeit«, die nicht definiert werden konnte und musste.61 Auch Descartes und Kant haben es Heidegger zufolge versäumt, die Seinsfrage zu stellen.62 Wollte Heidegger in seiner frühen Metaphysikkritik diese Seinsvergessenheit noch durch den Rückgang in den Grund der Metaphysik überwinden und somit die Metaphysik zu ihrem eigentlich Wesen bringen,63 so betrachtet er sie später als das unüberwindliche Wesen der Metaphysik. Mit den im Wintersemester 1936/37 beginnenden Nietzsche-Vorlesungen wird Heideggers endgültige Ablehnung der Metaphysik deutlich.64 Die Bezeichnung »Metaphysik« oder »metaphysisch« dient ihm nun zur Kennzeichnung eines Denkens, das die »Frage nach der Wahrheit des Seins« von vorne herein ausgeschlossen hat. Die Metaphysik denkt, wenn sie das Seiende als Seiendes untersucht, »das Sein als solches« nicht, sondern versteht das Seiende als das Sein.65 Die Metaphysik nimmt das Seiende in den Blick durch das »Vorstellen des Seienden als des Seienden«: Sie stellt das Seiende vor sich, wie und sofern es 59 Zum Begriff vgl. SuZ, 52–59. Heidegger bringt die mit dem Dasein gegebene Transzendenz auch durch den Begriff »Existenz« in Sein und Zeit zum Ausdruck (vgl. Einleitung, 374f) oder später durch den Begriff »Ek-sistenz« (Humanismus, 323–327). 60 Vgl. z. B. HEIDEGGER, SuZ, 58f. 183. 206. 61 SuZ, 2f. Der später oft verwendete Begriff »Seinsvergessenheit« begegnet als solcher in Sein und Zeit noch nicht, dennoch ist die Seinsvergessenheit des bisherigen Denkens, wie das Vorwort SuZ, 1 deutlich macht, der das Buch motivierende Hintergrund, vgl. Einleitung, 378. 62 SuZ, 24f. 63 So noch 1935 in der Vorlesung Einführung, 14f. Diesen Stand spiegelt auch Ebelings Referat von 1933, vgl. Anm. 53. 64 INWOOD, 126f; FIGAL, 79. 65 Humanismus, 321f; vgl. Einleitung, 365–370; Nietzsches Wort, 263. Heidegger bezeichnet den Unterschied zwischen Sein und Seiendem als »ontologische Differenz«, z. B. Wesen des Grundes, 134.

II. Der zeitgeschichtliche Kontext

193

ihrer Auffassung von Seiendem entspricht.66 Die Frage nach der Wahrheit des Seins als Rückfrage in den Grund der Metaphysik und hinter das Seiende ist für Heidegger nicht mehr Metaphysik.67 Im Unterschied zur verbreiteten Meinung sieht Heidegger die Metaphysik nicht durch die Neuzeit überwunden. Das neuzeitliche Denken ist für ihn noch immer von den metaphysischen Grundlagen bestimmt, wenn auch in einer neuen Weise. Heidegger spricht von der »Metaphysik der Neuzeit«68 , nicht nur weil trotz des Neueinsatzes bei Descartes und Kant, wie bereits erwähnt, die für die Metaphysik typische Seinsvergessenheit weiter besteht, sondern auch weil sich das neuzeitliche Subjekt-Objekt-Denken der alten Ontologie verdankt. Den entscheidenden Vorgang bei Descartes sieht Heidegger darin, dass »der Mensch zum Subjekt wird«. Den Begriff Subjekt führt Heidegger auf das griechische ποκείμενον als das »Vor-Liegende, das als Grund alles auf sich sammelt«, zurück. In diesem Sinne wird nun der Mensch zum »ersten und eigentlichen Subjectum« und damit »zu jenem Seienden, auf das sich alles Seiende in der Art seines Seins und seiner Wahrheit gründet«. Möglich ist dies für Heidegger aber nur dadurch, dass das Seiende, die Welt, zum »Weltbild« wird. Dem Seienden, also der Welt, wird nur Sein zugeschrieben, sofern es zu einem Ganzen systematisiert und vor Augen gestellt ist – und das meint, dem denkenden Subjekt gegenüber gestellt ist.69 »Das Sein des Seienden wird in der Vorgestelltheit des Seienden gesucht und gefunden.«70 Diesen Akt nennt Heidegger das »neuzeitliche Vor-stellen«. Es besteht darin, dass der Mensch das »Vorhandene«, also das aus seinem Lebenszusammenhang isolierte Seiende, »als ein Entgegenstehendes vor sich« stellt, auf sich selbst bezieht und auf diese Beziehung zu sich festlegt.71 Damit ist das Seiende, soweit es nicht Subjekt ist, zum Objekt geworden.72 Durch diesen Modus des Erkennens wird nach Heidegger dann aber auch das Subjekt zum Objekt. Die metaphysischen, oder wie Heidegger in Sein und Zeit sagt: ontologischen Voraussetzungen wirken im Subjekt-Objekt-Denken dadurch nach, dass Descartes Sein von der Substanz her, also vom selbständig Seienden her versteht. Deshalb spricht Heidegger davon, dass die »Substanzialität« der Bestimmung der Dinge als res extensa zu Grunde liegt.73 Und er stellt fest, dass sie auch auf den Menschen übertragen ist, wenn Descartes ihn als res cogitans bestimmt. Sein ist auf diese Weise als »Realität« verstanden, also

66 67 68 69 70 71 72 73

Einleitung, 379f; vgl. SuZ, 95–98. Einleitung, 367. Nietzsches Wort, 238. Weltbild, 88f. Zur Auslegung des ποκείμενον vgl. schon SuZ, 46. 319. Weltbild, 90. Weltbild, 91. Vgl. Nietzsches Wort, 255f. SuZ, 89–92.

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6. Kapitel: Die Metaphysikkritik in den frühen Arbeiten

als Zusammenhang von primär selbständigen Substanzen.74 Dem in sich eigenständig gedachten Seienden steht damit das ebenso eigenständig gedachte Subjekt gegenüber. Heidegger spricht vom »cartesischen Ansatz eines isoliert vorfindlichen Subjekts«, der auch von Kant nicht aufgegeben worden sei.75 Auf diese Weise, kritisiert Heidegger, ist der im vorontologischen Seinsverständnis angelegte Zusammenhang des Menschen mit der ihn umgebenden Welt ignoriert und wird als sekundär hergestellt betrachtet: »Nach der Zertrümmerung des ursprünglichen Phänomens des In-der-Welt-seins wird auf dem Grunde des verbleibenden Restes, des isolierten Subjekts, die Zusammenfügung mit einer ›Welt‹ durchgeführt.«76 Indem der Mensch das durch das Zusammensein mit der Welt unmittelbar gegebene Selbstverständnis überspringt, versteht er sich in der Struktur, wie er auch die Dinge objektivierend erfasst, und verfehlt sich damit selbst. Heidegger beschreibt also das Subjekt-Objekt-Denken als Fortsetzung der Metaphysik in der Neuzeit. Auf diesem Hintergrund war es möglich, die lutherische Kritik an Bultmanns Entmythologisierung als »Metaphysik« zu bezeichnen. Der Begriff der »Metaphysik«, den die dialektische Theologie durch den der »natürlichen Theologie« ersetzt hatte, hält auf diese Weise wieder Einzug in die Theologie. 3. Ebelings Position in der Auseinandersetzung Auch Ebeling hat sich an der Auseinandersetzung um Bultmanns Entmythologisierung beteiligt und versucht, die Legitimität der Position Bultmanns zu zeigen.77 Ein Beleg dafür ist der Aufsatz »Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode für die protestantische Theologie und Kirche«, mit dem Ebeling im Frühjahr 1950 anstelle eines Editorials die Neuerscheinung der Zeitschrift für Theologie und Kirche eröffnete.78

74

SuZ, 201; vgl. 24f. 92f. SuZ, 204. 76 SuZ, 206. 77 Die bereits erwähnte Denkschrift der theologischen Fakultät Tübingen wurde zwar, wie Ebeling, Weg, 52f berichtet, »im Wesentlichen von Hanns Rückert« verfasst, aber, wie wiederum Rückert notiert, »in Zusammenarbeit mit G. Ebeling«, der darüber hinaus einen Absatz selbst formuliert habe; vgl. WALLMANN, 507 Anm. 31. WALLMANN, 506f spricht von einem »Ketzergericht« über Bultmann und verweist darauf, wie sehr Ebeling und Rückert für Bultmann engagiert waren. 78 Wieder abgedruckt in WuG I [1], 1–49. An der Tatsache, dass Ebeling Bultmann in diesem Aufsatz nur an zwei Stellen und dort eher nebenbei erwähnt, wird sein Bemühen deutlich, die Auseinandersetzung zu versachlichen und von der Fixierung auf die Person Bultmanns zu lösen. Zum Zusammenhang zwischen dem Streit um Bultmann und der Neuaufnahme der ZThK s. die Darstellung und Quellen bei WALLMANN, bes. 506–519. 75

II. Der zeitgeschichtliche Kontext

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a) Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode Ebeling sieht die Theologie und Kirche nach dem zweiten Weltkrieg vor der ungelösten Spannung, die sich aus der neuen Aufmerksamkeit für die reformatorische Theologie seit den zwanziger Jahren und der entschiedenen Abkehr vom Neuprotestantismus ergibt, dem jedoch die in der Theologie weiterhin angewandte historisch-kritische Methode entstammt.79 In dieser Situation ist es Ebelings Anliegen zu zeigen, dass die historisch-kritische Methode gerade zum reformatorischen Wesen von Theologie und Kirche gehört. Ausgangspunkt von Ebelings Überlegungen ist der an Ritschl erinnernde Satz: »Das Christentum steht und fällt mit der Bindung an seinen einmaligen historischen Ursprung.«80 Das Christentum ist durch einen Ursprung in der Vergangenheit konstituiert, dem dadurch bleibende Relevanz in der Gegenwart zukommt.81 Ebeling will nun zeigen, in welcher Weise das vergangene Offenbarungsgeschehen, das das Christentum konstituiert hat, zu anderen Zeiten gegenwärtig sein kann. Nach Ebeling hat die Alte Kirche, um das Offenbarungsgeschehen als geschichtliches Ereignis wie auch in seinem übergeschichtlichen und unverfügbaren Charakter zu erfassen, »durch gleichzeitige Anwendung physischer und metaphysischer, historischer und metahistorischer Kategorien« ein »allgemeines metaphysisches Vorverständnis« in der Theologie etabliert. Dieses Vorverständnis sieht Ebeling durch die Reformation zwar »erschüttert«, indem diese die Offenbarung inhaltlich neu in »heilsgeschichtlich-personalistischen Kategorien« bestimmte.82 Aber die reformatorische Theologie hat die »allgemeinen weltanschaulichen Denkvoraussetzungen«, zu denen das Offenbarungsgeschehen in Beziehung gesetzt wurde, nicht grundsätzlich beseitigt. Wie Ritschl und Herrmann, so führt auch Ebeling die Entstehung der altprotestantischen Orthodoxie auf diese Inkonsequenz zurück.83

79 WuG I [1], 1–10. In der Ankündigung des ersten Heftes der ZThK, ein nach BEUTEL, 172 »im Wesentlichen von Ebeling formuliertes Faltblatt«, ist in schärferer Form von den »Gefahren« der dogmatischen, biblizistischen und konfessionalistischen Erstarrung und vom verbreiteten Misstrauen gegenüber der historisch-kritischen Methode die Rede; WALLMANN, 517f. – Unter »Neuprotestantismus« versteht Ebeling die »Entwicklung, die sich etwa seit der Mitte des 17. Jahrhunderts unter dem Einfluß des modernen Geistes im Kirchentum der Reformation vollzogen hat«; WuG I [1], 1. 80 WuG I [1], 13; vgl. Ritschl, RuV II, 13. 18. 81 WuG I [1], 14f. 82 Hinter dieser Formulierung steht Ebelings Verständnis der Offenbarung als Begegnung mit Jesus Christus als dem Wort Gottes, das in der Geschichte nicht nur einmal ergangen ist, sondern in der Verkündigung in den verschiedenen Zeiten fortgesetzt wird und dem auf der Seite des hörenden Menschen der Glaube entspricht; s. u. S. 292. 83 WuG I [1], 16.

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6. Kapitel: Die Metaphysikkritik in den frühen Arbeiten

Die ontologische Interpretation des Offenbarungsgeschehens in der alten Kirche als ein »Geschehen sui generis« ist, wie Ebeling weiter ausführt, der Grund dafür, auch die Schrift, das Zeugnis dieses Geschehens, als ein »genus ganz eigener Art« zu betrachten. Damit erhält jede einzelne Stelle der Bibel »Offenbarungsqualität«, das Weltbild der Bibel wird zur Norm aller christlichen Weltanschauung. Nach Ebeling hat die Reformation auch dieses Schriftverständnis erschüttert, inden sie mit Christus als Mitte der Schrift und mit der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium »einen unerhört kritischen Kanon innerhalb des Kanons aufgerichtet« hat. Aber auch hier hat sie wieder nicht »durchgreifend kritisch revidiert«. In der Folge sieht Ebeling das altkirchliche Schriftverständnis in übersteigertem Maß wirken. Weil die Reformation die Bedeutung der kirchlichen Hierarchie für die Schriftauslegung negiert, kann das »Formalprinzip«, also das Verständnis der Schrift als Offenbarung, auf Kosten des kritischen Potentials des »Materialprinzips«, nämlich Jesus Christus, gestärkt werden und erhält in der Lehre von der Verbalsinspiration eine »bis dahin unbekannte Steigerung und fundamentaltheologische Bedeutung«.84 Ebeling, der bei der Abfassung des Aufsatzes noch Professor für Kirchengeschichte in Tübingen war, legt bereits in seiner historischen Darstellung eine vielfältige Kritik an den Gegnern Bultmanns vor. Die Forderung der Gegner nach einem besonderen Wirklichkeitsbegriff für das Verständnis von Offenbarung und Schrift wird im Lichte dieser Darstellung zu einem Festhalten an metaphysischen und metahistorischen Kategorien, das sich weltanschaulichen Entscheidungen der Alten Kirche verdankt. Diese Kategorien stellen ein vorreformatorisches Relikt dar, das dem Wesen der reformatorischen Theologie zuwider läuft und sozusagen aus Versehen nicht revidiert wurde. Sowohl die Orthodoxie, an die das Luthertum zu Ebelings Zeit anknüpft, wie auch die Lehre von der Verbalinspiration, die im gegnerischen Verständnis der Schrift als Offenbarung nachwirkt, werden zu den Resultaten einer Fehlentwicklung, die die eigentlichen Errungenschaften der Reformation wieder verloren hat. Die Gegner der Entmythologisierung stützen sich also nach Ebeling nicht nur auf ein schwaches Moment der Reformation, sondern in Wahrheit auf ein antireformatorisches. Dagegen will Ebeling zeigen, dass die Frage nach der Vergegenwärtigung der Offenbarung im eigentlichen Sinn der reformatorischen Theologie nur durch die historisch-kritische Methode zu beantworten ist. Weil die im reformatorischen Sinne als geschichtlich-personale Begegnung verstandene Offenbarung allein durch das »Wort« vergegenwärtigt wird, erhält die Predigt und damit die Theologie zentrale Bedeutung für die Kirche – und zwar in der dreifachen Bestimmung als Exegese, die sich »durch die Schuttmassen der Tradition zum Urtext« hindurcharbeitet, als »kritische Theologie«, die das Zeugnis der Schrift von ihrem Zentrum her kritisch liest und so zur Offenbarung vordringt, und durch die 84

WuG I [1], 16f.

II. Der zeitgeschichtliche Kontext

197

hohe Bedeutung der hermeneutischen Frage, die das Verständnis der Schrift aus der Schrift selbst gewinnt ohne dogmatische oder lehramtliche Vorgaben.85 Ebeling kritisiert allerdings, dass die Reformation übersehen hat, wie die Vergegenwärtigung des Offenbarungsgeschehens jeweils geschichtlich bestimmt und damit an ihre Zeit gebunden ist. Auch wenn die Reformation mit der Auffassung gebrochen hat, die Kirche stelle wie die Offenbarung »ontologisch eine Größe sui generis« dar, die damit der geschichtlichen Wandlung enthoben sei, so hat sie in Ebelings Augen das Verhältnis von Kirche und Geschichte nicht genügend bedacht. Den daraus entstandenen Irrtum, der reformatorischen Theologie und ihren Bekenntnissen komme eine »abschließende Bedeutung« zu, betrachtet Ebeling als weiteren Grund für die Entstehung der Orthodoxie, die ihre Aufgabe in der strengen Bewahrung der reformatorischen Tradition und ihre Anwendung in der Schriftauslegung sah. Dabei übersah die Orthodoxie, »daß reformatorische Scholastik trotz des Bemühens um getreueste Konservierung keineswegs identisch ist mit reformatorischer Theologie«.86 Erst als die Geschichtlichkeit der Existenz ins Bewusstsein trat, nämlich »das Faktum der geschichtlichen Wandlung, der jeweiligen Zeitbedingtheit und des trennenden historischen Abstandes«, und die Selbstverständlichkeit der abendländischen Metaphysik zerbrach, konnte und musste nach Ebeling die historisch-kritische Methode entstehen.87 Ebeling sieht die Geschichte der historisch-kritischen Methode durchaus kritisch und ist auch der Meinung, dass um ihre »rechte Handhabung« gerungen werden muss.88 Es liegt ihm aber vor allem daran, den »tiefen inneren Sachzusammenhang« zwischen der reformatorischen Rechtfertigungslehre und der historisch-kritischen Methode zu zeigen.89 Weil die geschichtlich-personale Begegnung mit der Offenbarung »allein im Hören auf das Wort« geschieht, stellt Ebeling die »Zerschlagung aller vermeintlich die Glaubensentscheidung entbehrlich machender historischer Sicherungen« durch die historische Kritik auf dieselbe Ebene mit dem reformatorischen »Kampf gegen die Heilsbedeutung der guten Werke oder gegen das Verständnis der Sakramentswirkung im Sinne des opus operatum«.90 Die historisch-kritische Arbeit verhilft also dazu, dass der Glaube reiner Glaube im Sinne des reformatorischen sola fide bleibt. Der Glaube soll nicht auf dem WuG I [1], 22f. Zur Vergegenwärtigung der im biblischen Text schriftlich fixierten Offenbarung durch die historisch-kritische Methode bei Ebeling vgl. L AUSTER, 295–308, bes. 302–305 zum hier dargestellten Aufsatz Ebelings. 86 WuG I [1], 25f. 87 WuG I [1], 33. 88 WuG I [1], 37. 89 WuG I [1], 43f. 90 WuG I [1], 45. Ähnlich hat bereits Herrmann den höchsten Wert der »historischen Arbeit« darin gesehen, »daß sie, richtig gebraucht, dem Glauben falsche Stützen hinwegnimmt«; HERRMANN, Christus, 167. 85

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6. Kapitel: Die Metaphysikkritik in den frühen Arbeiten

Irrweg der Lehre von der Verbalinspiration darin bestehen, das biblische als das eigene Weltbild übernehmen zu müssen, sondern sich an die Mitte der Schrift, nämlich an Jesus Christus als geschichtlich-personale Offenbarung halten. In dieser Perspektive muss ein Vertreter der historischen Kritik wie Bultmann als der wahre Nachfolger und konsequente Weiterdenker der reformatorischen Theologie in der veränderten Situation der Neuzeit verstanden werden – im Unterschied zu den lutherischen Gegnern der Entmythologisierung, deren Position durch Ebelings Ausführungen als Ergebnis von Fehlentwicklungen in reformatorischer und nachreformatorischer Zeit erscheint.91 Dieses Vorgehen bildet eine Parallele zu Ritschl, der seinen Ansatz als treue Fortführung von Luthers Anliegen in der Gegenwart darstellt und die Kritik der Lutheraner auf eine dem reformatorischen Grundimpuls widersprechende Konservierung der dogmatischen Tradition zurückführt. b)

Das Subjekt-Objekt-Schema in der Theologie

Einige Jahre später hat sich Ebeling noch einmal ausführlicher zum Entmythologisierungs-Streit geäußert. In den 1953 gehaltenen und 1954 gedruckten Vorträgen Die Geschichtlichkeit der Kirche und ihrer Verkündigung als theologisches Problem spricht er unter anderem von den »sogenannten Heilstatsachen« wie Leben, Sterben und Auferstehung Christi, die gleichzeitig als »dogmatische Gegenstände« und als »historische Fakta behauptet werden«, und geht auf die »Geschichtlichkeit sui generis« ein, die als »schützende Ausnahmebestimmung« die Historizität der biblischen Berichte sichern soll.92 Ebeling wendet sich im Blick auf das Verständnis der Offenbarung gegen die »Zerlegung in ein objektives und ein subjektives Geschehen«. Ungenannt, aber deutlich steht Heidegger im Hintergrund, wenn Ebeling ein solches Verständnis als »befangen in einem bestimmten philosophischen Denkschema« bezeichnet, das »die Offenbarung einordnet in die Struktur welthafter Vorfindlichkeit«.93 Er spielt hier auf Heideggers Kritik an der Ontologie der Vorhandensein an und deutet dadurch an, dass für ihn die Objektivität gar nicht als etwas Direktes, Ursprüngliches zu betrachten ist, sondern als Produkt des Subjektes94 und damit als eine abgeleitete Erkenntnis, die durch eine bestimmte Weise des reflexiven

91

Dieses Anliegen begleitet den Aufsatz eher verdeckt, aber es erklärt, warum Ebeling in seinem Aufsatz die historisch-kritische Methode mit dem Ausschluss »historischer Sicherungen« einer, wie L AUSTER, 304 kritisiert, »ausschließlich negativen Funktionsbestimmung« unterwirft und positive Beiträge, wie er sie später in seinen hermeneutischen Überlegungen zur Schrift als Quelle des Wortgeschehens und im Zusammenhang mit der Erfahrung entwickelt, nicht erwähnt. 92 Geschichtlichkeit, 7. 60. 93 Geschichtlichkeit, 62. 94 Vgl. WuG I [7], 385.

II. Der zeitgeschichtliche Kontext

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Umgangs mit der Wirklichkeit geleitet ist. Ebeling verbindet also die Position der Gegner, die wie Kinder oder Thielicke die Objektivität der Heilstatsachen und die Notwendigkeit ihrer subjektive Aneignung betonen, mit Heideggers Kritik am Denken der Neuzeit. Ebenso implizit bezieht sich Ebeling auf Bultmann, wenn er auf den Widerstand hinweist gegen den »Versuch, die Interpretation der Offenbarung aus diesem unsachgemäßen Objekt-Subjekt-Schema herauszuführen«. Und seine Kritik daran, dass dieses Schema das Offenbarungsgeschehen in die objektiv vorhandene Offenbarung und den Glauben als Akt ihrer subjektiven Aneignung aufspaltet, greift erkennbar auf die wiederum von Herrmann übernommene Kritik Bultmanns an der Trennung von Glaubensinhalt und Glaubensakt zurück. Wie Herrmann und Bultmann sieht hier auch Ebeling den Glauben »zu einem menschlichen Werk . . . oder das Evangelium zum Gesetz« gemacht. Damit ist der Glaube »gut katholisch zur dispositio ad salutem geworden und besteht vornehmlich im assensus zu Gegebenheiten«. Ein solcher Glaube aber ist für Ebeling ein »Konkurrenzorgan zum Denken«. Wie der Glaube Rechtfertigung und Heilsgewissheit vermitteln soll, lasse sich so nicht mehr erkennen.95 Ebeling betont dagegen, dass »Offenbarungsgeschehen und Glaube in actu eins sind«, weil es hier »um eine personale Relation« gehe. Dabei geht es ihm, wie Bultmann, um »zwei Weisen des Selbstverständnisses«, nämlich »dem Selbstverständnis coram Deo und dem Selbstverständnis coram me ipso bzw. coram mundo«, die er, wie ebenfalls bei Bultmann zu finden, als »Glaube und Unglaube« auslegt. Als »Geschehen des Glaubens« bezeichnet Ebeling das Selbstverständnis coram Deo, weil der Mensch hier »herausgerissen wird aus seinem In-sich-selbst-Sein« und sich als solcher vor Gott als Sünder erkennt, dem die Rechtfertigung gilt. Wenn Ebeling betont, dass das coram Deo eben keine »welthafte Ortsbezeichnung« ist, so will er damit deutlich machen, dass das Geschehen von Offenbarung und Glaube das welthafte Denken im Subjekt-Objekt-Schema übersteigt.96 Wie Gogarten und Fuchs lässt sich Ebeling von Heidegger leiten, um die Position der Gegner philosophiegeschichtlich einzuordnen, und zwar in eine Epoche, die nicht nur nicht der Reformation entspricht, sondern auch durch den Ansatz Heideggers überwunden ist. Durch seine Einordnung ist es ihm möglich, diese Position, die, wie eingangs erwähnt, in der Forderung Bultmanns nach »hermeneutischer Situationsbestimmung« einen »Angriff auf den objektiven Grund der Theologie« gesehen hat, als »metaphysische[s] Denken« zu verstehen,97 das trotz der Neuansätze in der Reformation letztlich nicht aus der Theologie entfernt wurde. 95 96 97

Geschichtlichkeit, 63; vgl. WuG I [2], 110. Geschichtlichkeit, 64. S. o. S. 185.

200 4.

6. Kapitel: Die Metaphysikkritik in den frühen Arbeiten

Zusammenfassung

Ebelings Beschäftigung mit der Metaphysik entstammt also den Auseinandersetzungen um das Entmythologisierungsprogramm Bultmanns. Auch wenn Ebeling, wie im Folgenden deutlich werden wird, vor allem die scholastische Theologie und den Widerspruch Luthers gegen sie untersucht, darf doch nicht vergessen werden, dass dahinter dieser Gegenwartsbezug steht. Der Rückgriff auf den reformatorischen Widerspruch gegen die Scholastik dient dabei zunächst der Verteidigung Bultmanns. Wie Ritschl will Ebeling zeigen, dass die Lutheraner sich mit ihrer Position nicht auf Luther berufen können, sondern dass eine wirkliche Aufnahme des reformatorischen Anliegens in der Gegenwart eine hermeneutische beziehungsweise historisch-kritische Arbeit erfordert, wie sie Bultmann in seinem Entmythologisierungsprogramm vorlegt. Die Waffe der Berufung auf Luther oder auf die reformatorische Theologie schlägt Ebeling also quasi den konfessionellen Gegnern aus der Hand und wendet sie gegen sie selbst. Durch die Argumente, mit denen Ebeling die Notwendigkeit der Entmythologisierung verteidigt, erscheint Bultmann als derjenige, der in Wahrheit das umsetzt, was Luther respektive die Reformation eigentlich beabsichtigten – Bultmann wird damit, ein wenig überspitzt formuliert, zu einem neuen Luther, die Entmythologisierung zur neuen Reformation und die lutherischen Gegner Bultmanns geraten demgegenüber in das Zwielicht, die neuen Scholastiker zu sein. Es ist fast überflüssig darauf hinzuweisen, dass dieser Anspruch, das wirkliche Anliegen der Reformation nun endlich zu seiner Umsetzung zu bringen und damit eine der Gegenwart gerecht werdende Theologie zu entwerfen, sehr stark an Ritschl und Herrmann erinnert. Der Gegenwartsbezug macht sich nun bei Ebeling nicht nur formal bemerkbar, etwa durch die in den 60er Jahren gesteigerte Aufmerksamkeit für die Metaphysik, sondern auch inhaltlich, indem sie seinen Metaphysikbegriff prägt. Denn unter dem Begriff »Metaphysik«, soweit er über den Gebrauch als bloßes Schlagwort hinausgeht, vereinigt Ebeling unterschiedliche Ideen, deren Sinn nicht darin liegt, ein sachlich und historisch differenziertes Verständnis der Metaphysik als solcher zu bieten, sondern die theologischen Grundlagen der lutherischen Gegner der Entmythologisierung zu hinterfragen. Diese Ideen sind bereits angeklungen. Dazu gehört die Vermischung von Glaube und dinglicher Erkenntnis, die Ebeling sowohl in der metaphysischen Fundierung der Theologie durch die Alte Kirche wie auch in der Verwendung des Subjekt-Objekt-Schemas in der zeitgenössischen Theologie feststellt. Eine weitere Idee ist in dem Urteil enthalten, dass die Metaphysik am in der frühen Neuzeit erwachenden historischen Bewusstseins zerbrochen ist. Damit ist die Metaphysik verstanden als eine überholte Form der Philosophie und als in ihrem Wesen ungeschichtlich. Dadurch dass Ebeling den geschichtlichen Aspekt mit einem personalen Verständnis beziehungsweise mit der Fokussierung der

III. Aspekte des Metaphysikverständnisses

201

menschlichen Existenz gleichsetzt, ist der ungeschichtliche Charakter der Metaphysik als Übersehen des Existenzbezuges oder, wie Ebeling es nennt, als »Situationsvergessenheit« bestimmt. Dies führt zu einer letzten Idee, nämlich dass der mit der Metaphysik vermischte Glaube nicht in seiner Relevanz für den mit seiner Existenz ringenden Menschen betrachtet wird und darum Rechtfertigung und Heilsgewissheit nicht vermitteln kann. Damit ist ein Grundriss der Ideen skizziert, die Ebelings Metaphysikbegriff ausmachen und die nun im Folgenden darzustellen sind.

III.

Aspekte des Metaphysikverständnisses

Auch wenn im Folgenden der Versuch unternommen wird, diese Ideen, aus denen Ebelings Metaphysikverständnis besteht, einzeln zu identifizieren und darzustellen, muss doch beachtet werden, dass sie sich nicht scharf voneinander abgrenzen und nebeneinander sortieren lassen. Vielmehr hängen sie stark miteinander zusammen, so dass es sinnvoll erscheint, eher von »Aspekten« zu sprechen. Die Darstellung wird zudem zeigen, dass diese Aspekte aufeinander aufbauende Argumente enthalten. Es soll zunächst deutlich werden, dass Ebeling die Metaphysik grundsätzlich als Vermischung von Glaube und Welterkennen versteht. Diese Auffassung äußert sich in zwei Aspekten. Zum ersten im Verständnis der Metaphysik als Kausaldenken, das den Gottesgedanken zur Erklärung der dinglichen Welt verwendet. Und zum zweiten im Verständnis der Metaphysik als vernünftigem Zugang zur Theologie. Diese beiden Aspekte beschreiben, was Ebeling vor Augen hat, wenn er den Begriff »Metaphysik« gebraucht. Weil Ebeling allerdings nicht an einer neutralen Untersuchung der Metaphysik interessiert ist, sondern seine Beschäftigung von Anfang an durch eine kritische Perspektive geleitet ist, ist bereits die Beschreibung seines Metaphysikbegriffs nicht von seiner Metaphysikkritik zu trennen.98 Die Vorstellungen der Metaphysik als überholt, ungeschichtlich, situationsvergessen und heillos bilden dann eine Reihe von weiteren, aufeinander aufbauenden Kritikpunkten, in denen deutlich wird, warum Ebeling die Verwendung der Metaphysik in der Theologie als nicht möglich betrachtet. Die folgende Untersuchung soll außerdem zeigen, dass die Wurzeln der einzelnen Aspekte im bisher behandelten ideengeschichtlichen Zusammenhang von Ritschl über Herrmann zu Bultmann liegen. Daneben stellt, wie bereits deutlich wurde, auch die Philosophie Martin Heideggers einen für Ebelings Metaphy-

98

Vgl. auch Ebeling selbst, WuG II [16], 277.

202

6. Kapitel: Die Metaphysikkritik in den frühen Arbeiten

sikverständnis und Metaphysikkritik bedeutsamen Faktor dar und muss daher weiterhin mit im Blick bleiben.99 1.

Metaphysik als Kausaldenken

Ebeling spricht oft von der Metaphysik als einer vernünftigen Erfassung der Welt durch Rückführung auf Gott als ihren Grund.100 Diese Beschreibung mag auf den ersten Blick schlicht und allgemein wirken. Genauer betrachtet aber handelt es sich bereits um eine spezifische Auffassung von Metaphysik, die sich einem bestimmten ideengeschichtlichen Hintergrund verdankt. Ebeling beschreibt die »Sprache der Metaphysik« als »die Sprache der GrundVerantwortung« und die Metaphysik als »das Grund-Verhältnis im Horizont der Vernunft«. Diese Aussagen gewinnen an Verständlichkeit, wenn man Heidegger als Interpretationsfolie hinzuzieht, der die Metaphysik als »Onto-Theo-Logie« bezeichnet und als »Denken . . . vom Grund (λόγος) her«.101 So gesehen charakterisiert Ebeling hier Metaphysik als ein Denken, das das Wesen einer Sache durch Rückführung auf ihren Grund, und das heißt im Sinne Heideggers: durch vernünftiges Begründen erfassen will.102 Ebeling will nun zeigen, dass in diesem Denken Mensch, Sein, Sprache und Wahrheit einer rationalen Engführung unterworfen sind. Er spielt auf die aus der abendländischen Auffassung vom animal rationale herrührende Fokussierung des Menschen auf das denkende Ich bei Descartes an, wenn er ausführt, dass der Mensch von seiner vernünftigen Begabung her als »tätiges Subjekt« verstanden werde, das durch sein Denken über 99 Die Bezüge von Ebelings Theologie zur Philosophie Heideggers sind breit und vielfältig. Ihnen nachzugehen, wäre reizvoll und erhellend, würde aber den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen. Insgesamt ist jedoch zu beobachten, dass Ebelings Auffassungen sich zwar an vielen Stellen erkennbar an Heidegger anlehnen, meistens aber zumindest auch oder sogar in erster Linie auf den theologischen Hintergrund zurückzuführen sind. Interessant ist weiterhin, dass Heidegger selbst mit der in dieser Arbeit untersuchten Traditionslinie in Berührung steht, nicht nur mit Bultmann, sondern auch mit Herrmann und mit Ritschl. Bultmann schreibt beispielsweise: »Aber eben, weil ich bei Herrmann gelernt habe, war ich für Heidegger vorbereitet. Dieser hat übrigens auch von Herrmann gelernt und schätzte ihn hoch . . . «; Briefwechsel Barth–Bultmann, 188. Vgl. STANLEY, 124. 100 WuG II [15], 239; WuG II [23], 324; [13], 389; WuG III, 118. 101 HEIDEGGER, Identität, 45. 50. S. zur »Onto-Theo-Logie« vor allem den Vortrag »Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik«, Identität, 31–67, bes. 45–65 und Einleitung, 378f. Zum »Grund« s. neben den genannten Stellen vor allem die Vorlesungen und den zusammenfassenden Vortrag »Der Satz vom Grund«, z. B. Satz, bes. 53f. 165–170. 182f. 210f, die Kerngedanken finden sich aber schon früher, z. B. SuZ, 34. 95–98 oder Humanismus, 348f; vgl. a. PÖGGELER, 152–158. 102 Klassischerweise ist hier an die vier Ursachen der aristotelischen Philosophie zu denken, s. z. B. ARISTOTELES, Met. Δ, 2, 1013a 24–1013b 3 oder an den Leibnitz’schen »Satz vom Grund«; vgl. HEIDEGGER, Wesen des Grundes, 124f sowie die Vorlesung »Der Satz vom Grund«, in der sich Heidegger vor allem mit Leibniz auseinander setzt.

III. Aspekte des Metaphysikverständnisses

203

sich und anderes verfügt. Das Sein werde erfasst als »dem Denken korrespondierendes Vorhandensein«, d. h. das rationale Denken löst die Dinge aus ihrem alltäglichen Zusammenhang und stellt sie isoliert vor sich, um sie als Substanzen in ihrem vom zeitlichen Wandel unberührten Wesen zu betrachten. Sprache in diesem Zusammenhang werde verstanden als Werkzeug der rationalen Erfassung des Seienden, nämlich um von einem Ding Wesen und Eigenschaften aussagen zu können. Und schließlich werde die Wahrheit angesiedelt im »Bereich des Vorgestellten« und damit in der Beziehung von vorstellendem Subjekt und vorgestelltem Objekt.103 Metaphysik erscheint in dieser Beschreibung als die Haltung des Menschen, die Wirklichkeit rational-begründend zu verstehen und dadurch zu verengen, also im Sinne von Heideggers Ontologie der Vorhandenheit. Mit dieser Haltung begegnet der Mensch nun nicht nur den Dingen, die ihn umgeben, sondern seiner gesamten Wirklichkeit und damit auch sich selbst und schließlich Gott, der ihm im Kontext der Religion begegnet. So entsteht, was Heidegger als »OntoTheo-Logie« bezeichnet, wenn Gott in diese Wirklichkeitserfassung eingeordnet wird und gleichgesetzt mit dem Grund des Seienden, von dem her die gesamte Wirklichkeit zu verstehen ist. Allerdings hat die Kritik an der verengenden Sichtweise der Metaphysik, auch wenn Ebeling sie hier in Heideggerschen Begriffen beschreibt, ebenfalls einen starken Rückhalt im theologischen Bereich. Schon Ritschl hat kritisiert, dass die dem Unterschied von Natur und Geist neutral gegenüber stehende Metaphysik die durch den Willen konstituierte geistige Realität in ihrer Eigenart nicht erfassen kann und deshalb eine unvollständige Erfassung der Wirklichkeit bietet.104 Bei Herrmann ist die gleiche Kritik begründet mit der Zuordnung der Metaphysik zum Gebiet des Welterkennens, das sich auf das »Erklärbare« richte und das Gebiet des »Erlebbaren«, nämlich des persönlichen, geistig-sittlichen Lebens nicht wahrnehmen kann.105 Später kritisiert Herrmann den »Monismus« dafür, dass er durch seine Fixierung auf die dingliche Wirklichkeit den »Reichtum der von uns erlebten Wirklichkeit« nicht in den Blick nehmen kann.106 Ebenso betont Bultmann, dass die vom Lebensbezug der Dinge abstrahierende objektivierende Erkenntnisweise der Wissenschaft kein »echtes Wissen« hervorbringe.107 Die Übernahme von Heideggers Auffassung einer rationalen Engführung im metaphysischen Denken war also durch Ebelings theologischen Hintergrund zumindest gut vorbereitet.

RGG VI [12], 825f. Zum Heideggerschen Hintergrund dieser Ausführungen vgl. o. S. 193f. 104 S. o. S. 23f. 105 HERRMANN, Religion, 114; s. o. S. 88–90. 106 HERRMANN, Lage, 52f; s. o. S. 106–108. 107 BULTMANN, Enzyklopädie, 42–44; s. o. S. 147–150. 103

204

6. Kapitel: Die Metaphysikkritik in den frühen Arbeiten

Während Heidegger nun das »Prinzip der Kausalität« zwar zu dem die Metaphysik prägenden »Satz vom Grund« zählt, aber doch nicht in eins setzt,108 fasst Ebeling die Metaphysik in ihrem Wesen als Kausaldenken auf. Wie Ebeling ausführt, zielt die Metaphysik »auf Gott als principium aller Dinge und darum auf die metaphysische Bedingtheit des Physischen«, weshalb ihr »Schwerpunkt . . . in dem theologischen Abschluß der Welterkenntnis und damit im causa-Schema, im Zurückgehen auf das principium, nicht aber im Vorausschreiten auf den finis« liege.109 Ebeling setzt sich hier mit Thomas von Aquin auseinander. Er weiß natürlich, dass die aristotelische Metaphysik als eine der vier Grundursachen auch das ο! "νεκα, die causa finalis in den Blick nimmt.110 Deshalb sieht er, dass Thomas der Philosophie durchaus »die Frage nach dem finis des Menschen« zuweist.111 Allerdings hat in seiner Interpretation die Vernunft bei Thomas lediglich »das Offenhalten des Ziels, das Einschärfen des Nicht-am-Ziel-Seins, das Ausschauen nach dem noch ausstehenden Ziel« zur Aufgabe. Weil die »Vernunft von sich aus« nicht in der Lage ist, eine adäquate Antwort auf diese Frage zu geben, ergibt sich die Notwendigkeit der Offenbarung.112 Ganz offensichtlich ist es Ebelings Interesse, Metaphysik ausschließlich als Kausaldenken darzustellen, von dem er die Teleologie, sofern sie über die reine Frage hinaus geht, ausnimmt. Anders ist es nicht einsichtig, warum Ebeling hier übergeht, dass in der Aristoteles folgenden Metaphysik Gott nur insofern als prima causa gedacht wird, weil er causa finalis ist: Der unbewegte Beweger bewegt die Welt, weil alles auf ihn als höchsten Zweck hingeordnet ist und sich deshalb auf ihn zubewegt.113 Woher kommt dieses Interesse Ebelings? Ebelings Auffassung der Metaphysik als Kausaldenken lehnt sich zwar an Heideggers Gedanken an, ist aber nicht in erster Linie aus ihnen zu erklären. Dagegen begegnet die Beschreibung als kausale Erklärung der Welt von Gott her in Ebelings theologischem Hintergrund, und zwar in Ansätzen bei Ritschl und dann ausgeführt bei Herrmann.

108

HEIDEGGER, Satz, 43f. WuG II [15], 239. 110 Vgl. z. B. Luther, 266 sowie später zum »Schema« der vier causae in der Scholastik und bei Luther LuSt II/2, 333–358; II/3, 483–507. 111 WuG II [15], 244; vgl. zur causa finalis des Menschen in der aristotelisch geprägten scholastischen Philosophie LuSt II/2, 367–391. 112 WuG II [15], 245f; vgl. 256. Diese Ausführungen scheint PESCH, 173–175 in seiner Kritik an Ebeling zu übersehen. In LuSt I, 281, Anm. 26 verweist Ebeling dafür auf Thomas, STh I/II q. 5 a. 5 c., in dem es am Ende heißt: »Omnis autem cognitio quae est secundum modum substantiae creatae, deficit a visione divinae essentiae, quae in infinitum excedit omnem substantiam creatam. Unde nec homo, nec aliqua creatura potest consequi beatitudinem ultimam per sua naturalia«. 113 Met. Λ 7, bes. 1072a 19–1073a 30. Auf den unbewegten Beweger bezieht sich Thomas gleich in der ersten der quinque viae, der vom ständigen Wandel in der Welt ausgeht. 109

III. Aspekte des Metaphysikverständnisses

205

Wie im ersten Teil dargestellt, kritisiert Ritschl die unberechtigte Einmischung der religiösen Gottesidee zunächst in die Welterklärung der griechischen Philosophie, später in die Metaphysik des Aristoteles, indem die »letzten allgemeinen Gründe des Daseins« mit Gott gleichgesetzt werden.114 Auch der Endzweck der Welt bei Aristoteles ist ihm zufolge nicht mit der religiösen Gottesvorstellung zu identifizieren, weil er zum »Abschluß des Weltganzen« erforderlich ist und somit lediglich ein weltimmanentes Prinzip darstellt.115 Das Verständnis Ritschls, dass die Gottesidee in der Welterklärung sachlich unnötig und deshalb unberechtigt ist, basiert dabei, wie oben gezeigt, auf einer Entwicklung innerhalb der barocken Schulmetaphysik, die Ontologie und Theologie immer deutlicher voneinander unterscheidet, so dass die Ontologie am Ende ohne Theologie auskommt.116 Daneben ist wichtig für Ebelings Verständnis, dass Ritschl das theoretische Erkennen (nicht die Metaphysik) der Erforschung der Natur und damit der kausalen Methode zuordnet, die Religion dagegen dem Geist und damit der Teleologie.117 Herrmann nimmt Ritschls Gedanken auf und verbindet sie zu der Beschreibung, dass die aristotelische Metaphysik bei ihrer Verwendung des Gottesgedankens den Kausalzusammenhang der Welt im Blick hat. Bereits bei ihm wurde das Bemühen deutlich, den aristotelischen Gottesbegriff ganz der kausalen Welterkenntnis zuzuordnen und von jeder eigentlichen Teleologie frei zu halten. Er betont, dass die »Zweckursache der Welt« bei Aristoteles im Unterschied zur religiösen Gottesvorstellung kein »zwecksetzender Wille« sei, sondern einen »in Folge der Natur« vorhandenen Zusammenhang von Ursache und Wirkung in der Welt beschreibe. Es liegt somit keine personale, durch den Willen der Gottheit entstandene Beziehung, sondern ein naturhaft oder gewissermaßen rein »mechanisch« gegebener Zusammenhang vor, mit dem die »Erklärung der tatsächlich gegebenen Welt« zum »Abschluß« gebracht werden kann und sich nicht in einen unendlichen Rückgang von Ursachen und Wirkungen verliert.118 Gott sei auf diese Weise als »Causalität der Welt« gedacht.119 Somit gehört auch der oberste Zweck der aristotelischen Metaphysik dem Kausalzusammenhang von Ursache und Wirkung in der Welt an und kann nicht mit der über die gegebene oder dingliche Welt hinausgreifenden Teleologie der Religion verbunden werden. Über Aristoteles hinaus versteht Herrmann die Metaphysik überhaupt als Kausaldenken, indem er sie dem wissenschaftlichen Erkennen zuordnet, das er 114

RITSCHL, RuV1 III, 179; TuM, 8f. RITSCHL, TuM, 10; RuV3 III, 17. 206; s. o. S. 19–21 und S. 24f. 116 S. o. S. 36. 117 S. o. S. 23f. 118 HERRMANN, Religion, 123f. 119 HERRMANN, Religion, 131; s. o. S. 90f. Vgl. bereits Herrmanns Bemerkung in Metaphysik, 35, dass in der Metaphysik »Gott als absolute Kausalität zum Erklärungsprinzip der Weltwirklichkeit« gemacht sei. 115

206

6. Kapitel: Die Metaphysikkritik in den frühen Arbeiten

durch die Arbeit mit den Begriffen der »Substanz« und »Causalität« gekennzeichnet sieht.120 Außerdem macht sich in Ebelings Beschränkung der Metaphysik auf das Kausaldenken auch der Einfluss Bultmanns bemerkbar, demzufolge der vernünftige Umgang des Menschen mit der Welt nur die Frage nach Gott erreicht.121 Ebelings Verständnis der Metaphysik als ein vom Gottesgedanken ausgehender Kausalzusammenhang zur Erklärung der Welt nimmt also zwar Gedanken und Formulierungen von Heidegger auf, ist aber in erster Linie begründet im theologischen Hintergrund Ebelings. 2.

Metaphysik als rationales Fundament der Theologie

Die Verwendung des Gottesgedankens zur Erklärung der Welt hat nun zur Folge, dass dieses Denken umgekehrt auch zum Verständnis der Glaubensauffassungen in der Theologie angewendet wird. Die Verwendung der Metaphysik soll die theologischen Aussagen in Beziehung mit dem allgemeinen, vernünftigen Verstehen bringen. Die Art dieses Bezuges allerdings wirft nach Ebeling schwerwiegende hermeneutische Probleme auf.122 Wie im ersten Teil der Arbeit dargestellt, begegnet der Hinweis auf das hermeneutische Problem der Metaphysik in der Theologie zuerst bei Ritschl. Zwar lehnt dieser die Metaphysik als Erkenntnistheorie nicht prinzipiell ab, dennoch kritisiert er schon früh ihren falschen Gebrauch. Denn für ihn dient die Metaphysik zum Erfassen von Dingen und deren Eigenschaften, wofür sie von der Unterscheidung zwischen Natur und Geist absieht. Der Versuch, die »Wirklichkeit des Geistes und Willens« in ihrer Eigenart und damit religiöse Vorstellungen von ihr her zu verstehen, führt deshalb notwendig zu »Widersprüchen«.123 Diese hermeneutische Kritik greift der frühe Herrmann auf, der vor allem in der Metaphysikschrift auf die hermeneutischen Probleme und Fehldeutungen hinweist, die ein metaphysisches Verständnis religiöser Inhalte verursacht. Später wird dieses Motiv bei Herrmann zum Kampf gegen einen »Monismus« des Erkennens, in dem Glaubensvorstellungen mit den Methoden des wissenschaftlichen Erkennens erfasst werden sollen, und zur Kritik an einem Verständnis des Glaubens als Wissen.124 Bei Bultmann begegnen diese beiden Aspekte wieder, in den frühen Schriften ebenfalls die Kritik am »Monismus« und später die nun als »natürliche Theologie« bezeichnete mangelnde hermeneutische Unterscheidung von Welterkennen und Glaube, durch die der Glaube als ein Wissen und Gott wie andere Objekte des dinglichen Erkennens behandelt werden. Hier ist nun die 120 121 122 123 124

HERRMANN, Religion, 20; s. o. S. 66f sowie S. 78f. S. o. S. 153–162. Vgl. RGG VI [12], 825f; Luther, 92. Dogmatikvorlesung von 1860, zit. b. HÖK, 339 Anm. 32; s. o. S. 41–52, bes. S. 41f. S. o. zur Metaphysikschrift, bes. S. 70f.

III. Aspekte des Metaphysikverständnisses

207

Grundsätzlichkeit der Kritik erreicht, wie sie dann auch bei Ebeling begegnet, nämlich dass das unangemessene Fundament der »natürlichen Theologie« einen hermeneutischen Horizont eröffnet, der in der Folge das gesamte Unternehmen der Theologie korrumpiert. Die Kritik an den hermeneutischen Problemen der Metaphysik in der Theologie hat also einen im 19. Jahrhundert wurzelnden Hintergrund. Ebeling überspringt allerdings diesen Zusammenhang und führt die Auseinandersetzung als Anschluss an Luthers Abgrenzung von der scholastischen Theologie. Sein Gegenüber bildet daher vor allem die »Scholastik« beziehungsweise präziser Thomas von Aquin. An dessen Theologie will Ebeling die hermeneutischen Probleme einer theologischen Verwendung der Metaphysik zeigen. Er setzt sich dafür zum einen mit der metaphysischen Gotteserkenntnis in den so genannten Gottesbeweisen des Thomas auseinander, zum anderen mit den Folgen der metaphysischen Begriffe natura und causa im Verständnis von christlichen Auffassungen. Dass sein Verständnis aber zumindest auch ein Interesse in der Theologie seiner eigenen Zeit verfolgt, macht die Beschäftigung mit dem »objektivierenden Denken« in der Neuzeit deutlich, das er mit der scholastischen Vermischung von Offenbarung und Dingerkenntnis parallelisiert. Dies alles soll im Folgenden genauer dargestellt werden. a)

Gotteserkenntnis als Vernunftwissen

Der Bezug auf die Metaphysik in der Theologie soll Ebeling zufolge zeigen, dass bereits der vernünftige Umgang mit der Wirklichkeit den Menschen zu Gott führt. Dies ist der Grund, warum die, wie er formuliert, »Existenz Gottes« in der alten Dogmatik »nicht eigentlich ein Artikel des Glaubens, sondern bloß die Voraussetzung der Glaubensartikel« ist. Ebeling weist, ähnlich wie Bultmann, darauf hin, dass Thomas die Lehre von der »Existenz Gottes« zu den »praeambula ad articulos fidei« rechnet.125 WuG II [16], 285; vgl. [13], 387; Luther, 282. Die von Ebeling zitierte Formulierung findet sich bei Thomas in der STh I, q. 2 a. 2 ad 1: ». . . quod Deum esse, et alia hujusmodi quae per rationem naturalem nota possunt esse de Deo, ut dicitur Rom. 1, non sunt articuli fidei, sed praeambula ad articulos«. Auffällig ist, dass Ebeling das Wort esse in seinen frühen Schriften stets als »Existenz« wiedergibt. Er merkt zwar einmal an, dass Thomas »von esse in Unterscheidung von essentia redet«, gebraucht aber dennoch »in Anpassung an den späteren, uns geläufigen Sprachgebrauch das Wort existentia« und will die »sachliche Verschiedenheit« an dieser Stelle »unerörtert« lassen; WuG II [16], 268 Amn. 26. Der Gebrauch des Existenzbegriffes wie auch die Untersuchung der neuzeitlichen Kritik an der Anwendung dieses Begriffes auf Gott (WuG II [16], 273–276) zeigen, dass es Ebeling zumindest nicht nur um Thomas, sondern auch um die Aufnahme der in der Gegenwart verbreiteten Frage geht, ob Gott überhaupt »existiert«; vgl. z. B. WuG II [13], 391. 394; [19], 397. Die Auffassung von einer in der scholastischen Theologie selbstverständlich angenommenen Allgemeinheit der Gotteserkenntnis beurteilt Ebeling allerdings später differenzierter und schränkt sie unter an125

208

6. Kapitel: Die Metaphysikkritik in den frühen Arbeiten

Ebeling greift die quinque viae des Aquinaten126 auf und interpretiert sie auf die Existenzsituation des Menschen, indem er die Betrachtung der Wirklichkeit in den fünf Wegen auf die Erfahrung existentieller Bedrängnis zurückführt. Zunächst betont Ebeling, dass Thomas Gott natürlich nicht aus Ursachen herleiten kann, sondern vom »Gewirkten« (effectus) aus zurückfragt. Dies ist für Ebeling ein Anhaltspunkt, dass hier die Existenzsituation des Menschen durchscheint. Die Frage »nach dem nicht mehr hinterfragbaren Prius« gehe letztlich aus dem »In-Frage-Gestelltsein des Menschen« hervor, d. h. aus dem »Betroffensein des Menschen«.127 Damit folgt Ebeling Bultmann, der die »natürliche Theologie« nicht als Aussage über Gott, sondern über die menschliche Existenz versteht.128 Dann stellt Ebeling in der Durchführung der von Thomas jeweils parallel angelegten Wege jedes Mal »drei Sprünge« fest. Thomas beginne zunächst mit einer »Aussage elementarer Welterfahrung«. Die Feststellung verschiedener Kausalzusammenhänge in der Wirklichkeit, mit denen Thomas jeweils einsetzt, wird bei Ebeling zu einem ›Sprung‹ in die »Grunderfahrung von Seiendem«, die den Menschen auffordert, »dem Seienden nachzugehen auf das ihm Fehlende hin«, also nach der Ursache von actus und potentia, von Werden und Vergehen und damit von Sein und Nichtsein des Seienden zu fragen. Weil dieser Zusammenhang, in dem Ursache und Wirkung ständig ineinander übergehen, in der Zeitlichkeit geschieht, erfährt der Mensch die Welt als »Bewegung im fragwürdigen Beisammen von Sein und Nichtsein«, als Entstehen und Vergehen. Diese Erfahrung trägt für Ebeling den »Charakter einer Zumutung«, weil sie die Wirklichkeit der Welt als »Fraglichkeit« erfahren lässt, die »dem Menschen unbegrenzt zu denken gibt«.129 derem im Blick auf Thomas ein, LuSt II/2, 418. Zu den praeambula fidei bei Bultmann als vernünftiger »Unterbau« der katholischen Theologie, vgl. BULTMANN, Problem der natürlichen Theologie, 294. Bereits Ritschl spielt darauf an, wenn er die »rein theoretische ›uninteressierte‹ Erkenntnis Gottes . . . als die etwa notwendige Voraussetzung der Glaubenserkenntniß« bestreitet, RuV3 III, 202; s. o. S. 51. 126 STh I, q. 2 a. 3 c. 127 WuG II [16], 269f. 128 S. o. S. 155–158. 129 WuG II [16], 270. Diese Auffassung von der den Menschen bedrängenden, weil in Frage stellenden Wirklichkeit schlägt einen Bogen zu Herrmann und Bultmann, deren Wirklichkeitsbeschreibung unter der Perspektive des reformatorischen secundus usus legis steht, aber auch zu Heidegger, der in seiner Freiburger Antrittsvorlesung von 1929 »Was ist Metaphysik?« beschreibt, dass die Wirklichkeit, die Ganzheit des Seienden am deutlichsten in der »Angst« erfasst wird. Diese Angst ist nach Heidegger – im Unterschied zur Furcht, die sich immer auf etwas richtet – »unbestimmt«, ist also das Gefühl der existentiellen Bedrohung, ohne dass der Mensch einen konkreten Grund dafür benennen kann. Deshalb sagt Heidegger, dass sich in dieser Angst das »Nichts« zu erkennen gibt. Auf dieser Angst, in der der Mensch dem »Nichts« begegnet, ist somit die Metaphysik begründet: »In der hellen Nacht des Nichts der Angst ersteht erst die ursprüngliche Offenheit [d. h. die Erkennbarkeit, R. G.] des Seienden

III. Aspekte des Metaphysikverständnisses

209

Eine »plötzliche Zäsur« markiert für Ebeling den zweiten Sprung. Der Hinweis des Thomas, dass ein procedere in infinitum unmöglich sei, ist für Ebeling ein Widerspruch gegen die »Qual des Nicht-zum Ziele-Kommens, des Hineingerissenseins in den Sog endlosen Fragens«: Die Absicht des Gottesbeweises ist offenbar, den Menschen einer Welterfahrung auszuliefern, zu der er, gerade weil er sie als wahr anerkennen muss, doch schließlich protestierend nein sagt: Die Welt soll mich nicht in infinitum festhalten, so daß sie an die Stelle Gottes träte.

Vielmehr kommt die Denkbewegung durch den Sprung in das »ens infinitum« ans Ende. Dass das infinitum als Sein zu denken ist, verdankt sich nach Ebeling ebenfalls der Welterfahrung: Daß die Welt, obwohl in den Strudel der Seinsvernichtung reißend, doch da ist als endliches Gehaltensein im Unendlichen, lädt dazu ein, das infinitum als Sein zusprechendes Sein, als ens infinitum anzusprechen und das seinsmörderische procedere in infinitum fahren zu lassen.130

Der dritte und letzte Sprung besteht in der knappen Identifikation der jeweils ersten oder höchsten Ursache mit Gott. Für Ebeling ist dies nicht das zwingende Ergebnis einer strengen Beweisführung, sondern der »Sprung in die Sprache des Glaubens«.131 Ebelings Interpretation der quinque viae zeigt einen deutlichen Bezug zu Heidegger. So, wie Ebeling die quinque viae interpretiert, korrigiert er gewissermaßen den Ansatz des Thomas. Die Wege sind in Wahrheit keine aus der vernünftigen Betrachtung gewonnenen Sätze, sondern verdanken sich einer Welterfahrung, deren sich aber der Mensch nicht richtig bewusst wird, sie also überspringt und stattdessen zu einer theoretischen Erkenntnis ummünzt. Hier schlägt sich Heideggers Auffassung nieder, dass der Mensch in seinem vorstellenden Umgang mit den Dingen das darin eigentlich vorausgesetzte vorontologische Verstehen überspringt. Ebeling will damit zeigen, dass nicht eine vernünftige Besinnung, sondern die Besinnung auf die Existenz zu einem allgemein verständlichen Zugang zur Theologie führen kann. Auch Bezüge in den theologischen Bereich werden greifbar, vor allem zu Bultmann, nicht nur mit seiner Gegenüberstellung von Glaubenssaussagen und praeambula fidei in der metaphysisch einsetzenden Theologie, sondern ganz stark mit seiner Auffassung, dass die »natürliche Theologie« als Aussage über die Existenz des Menschen zu verstehen sei. Die darin enthaltene Auffassung vom als eines solchen: daß es Seiendes ist – und nicht Nichts.«; HEIDEGGER, Was ist Metaphysik, 111f. 114–122, Zitat 114. Den Heideggerschen Hintergrund für die Grunderfahrung der Fraglichkeit aufgrund von Werden und Vergehen in der Welt bestätigt auch D I, 291, wo Ebeling die Schlussfrage der Metaphysikvorlesung, Was ist Metaphysik, 122, zitiert. Dass Ebeling diese Vorlesung bereits in seinem Studium kannte, zeigt sein Referat aus dem Jahr 1933; Problem der Metaphysik, 1. 130 WuG II [16], 271f. 131 WuG II [16], 272; vgl. 268; [20], 416.

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6. Kapitel: Die Metaphysikkritik in den frühen Arbeiten

bedrängenden Charakter der Wirklichkeit schlägt darüber hinaus einen Bogen zu Herrmanns vorgläubiger Existenzerfahrung. b)

Ansichsein und scholastischer Naturbegriff

Nach Ebeling ist das metaphysische Denken gekennzeichnet durch die »Annahme eines einzigen kontinuierlichen Wirklichkeitszusammenhangs« mit einem »bruchlosen Übergang« aus der dinglichen Realität in die geistige.132 Ebeling spricht von einem »Kausalnexus«, der einen »qualitativen Umbruch«, nämlich den »Umschlag aus der Körperlichkeit in die Unkörperlichkeit, aus der Räumlichkeit in die Unräumlichkeit, aus der Endlichkeit in die Unendlichkeit, aus der Zeitlichkeit in die Ewigkeit« erlaubt.133 Schon Herrmann hat die Annahme eines solchen zu Gott führenden Zusammenhangs dem »Mittelalter« zugewiesen.134 Ebeling kritisiert nun, dass der Gottesbegriff in diesem Denken »in der theoretischen Welterkenntnis« verankert ist und damit »nach Art theoretisch erkennbarer Sachen« bestimmt wird.135 Das Problem einer solchen Erkenntnisweise ist, dass sie Gott wie eine in der Welt vorfindliche Substanz behandelt und so deren Wesen theoretisch-abstrakt, d. h. unter Absehen von seinen konkreten Beziehungen bestimmen will. Darin klingt nun nicht nur Heideggers Kritik am vorstellenden Denken an. Bereits Ritschl hat eine solche Erkenntnis kritisiert, die meint, die Dinge zunächst »an sich«, also in ihrem isolierten Wesen feststellen zu können, bevor sie sie in ihren konkreten Eigenschaften und Beziehungen nach außen in den Blick nimmt. Dieser »schlechten Metaphysik« oder dem »Platonismus« hält er vor, dass die Dinge überhaupt nur in ihrem »Dasein für uns«, d. h. für ihn metaphysisch: in der Wirkung auf die menschliche Wahrnehmung, erkennbar seien. Von dort aus schließt er, dass eine Lehre von »Gott an sich«, die ihn in seinen »ruhenden Eigenschaften« bestimmen will und dabei von seiner »Offenbarung für uns« absieht, überhaupt nicht möglich ist.136 Deshalb verwirft er auch Luthardts Standpunkt, den metaphysischen Begriff der Absolutheit als primäres Prädikat Gottes zu Grunde zu legen, und betont stattdessen, dass Gott ausschließlich als »Liebeswillen« erkennbar sei, nämlich in seiner Offenbarung und damit in seinem Heilswillen gegenüber dem Menschen.137 Und ebenso kritisiert Bultmann an der »natürlichen Theologie«, dass sie Gott wie eine »Gegebenheit« in der

132 Vgl. die Kritik Ritschls, Herrmanns und Bultmanns an der unzureichenden Differenzierung zwischen Natur und Geist in der Metaphysik bzw. im monistischen Wirklichkeitsverständnis. 133 WuG II [16], 277f; vgl. WuG III, 499. 134 HERRMANN, Wirklichkeit, 292 u. o. S. 108. 135 WuG II [13], 389. 136 RITSCHL, TuM, 33f; s. o. S. 30–33. 137 RITSCHL, TuM, 17–20; s. o. S. 43.

III. Aspekte des Metaphysikverständnisses

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Welt in den Blick nimmt und versucht, unabhängig von der Offenbarung zu erkennen.138 Ein ähnliches Interesse verfolgt nun auch Ebeling. Er will zeigen, dass das theologische Verstehen Themen nicht isoliert von ihrem Bezug auf das rechtfertigende Handeln Gottes am Menschen behandeln kann. Den Grundfehler der scholastischen Theologie sieht er dabei in der bruchlosen Verbindung von Vernunftwissen und Glauben, durch die, wie bereits Herrmann und Bultmann kritisiert haben,139 auch der Glaube wie ein Wissen aufgefasst wird. Nach Ebeling behandelt Thomas von Aquin die Glaubenssätze wie »Prinzipien und Hauptlehrsätze« der mittelalterlichen Wissenschaft und entwickelt daraus die Theologie als Wissenschaft. Damit werde die Offenbarung zu einer »übernatürlichen Bereicherung der menschlichen Vernunft«.140 Die positive Anknüpfung an die Metaphysik führt also dazu, dass der Stoff der Theologie gleich am Anfang in eine am Erkennen von Dingen gewonnene Struktur eingepasst wird. Als zentral für das scholastische Erkennen der Dinge betrachtet Ebeling vor allem den der aristotelischen Physik entnommenen Naturbegriff, den er versteht als das, »was aus seinem Wesen als seinem inneren Prinzip heraus wirklich und tätig ist«.141 Er zielt darauf, einen Gegenstand als eigenständige Substanz zu erfassen, weil er dessen Wesen und Wirkungen aus seinem inneren Prinzip erklärt: »Natur meint das Seiende, das im Wege des Hervorgehens und Hervorbringens sich selbst verwirklicht und an sich selbst zu messen ist.«142 Die Frage nach seiner Natur lässt also nach Ebeling nicht die Beziehung eines Gegenstandes zu anderem sichtbar werden, zumindest nicht im ersten Schritt, sondern führt in das Wesen des Gegenstandes hinein. In diesem Sinn spricht Ebeling davon, dass die Scholastik einen Gegenstand in seinem »Ansichsein« betrachtet. Ebeling kritisiert nun, dass die scholastische Theologie auch Gott und Mensch unter der Frage nach ihrer Natur betrachtet und beide auf diese Weise zuerst in ihrem »Ansichsein« in den Blick nimmt – also als eigenständige Substanzen, deren Wesen unter Abstraktion von ihren Bezügen nach außen festgestellt wird.143 Auf dieser Grundlage basiert nach Ebeling das Verständnis von Gott als prima 138 139

S. o. S. 145. Vgl. z. B. HERRMANN, Lage, 7 und BULTMANN, Problem der natürlichen Theologie,

294. WuG II [15], 246f. Luther, 266. 142 LuSt I, 280; vgl. Luther, 92f; WuG II [15], 241 sowie später LuSt II/3, 276f. 143 Auch wenn Ebeling in seinem Luther-Buch verschiedentlich betont, dass es hier nicht um eine Kritik an den aristotelischen Begriffen überhaupt geht, sondern um ihre theologische Verwendung (Luther, 95. 268), so ist doch auch klar, dass er im Anschluss an Heidegger die metaphysische Wirklichkeitserfassung generell für falsch hält, vgl. z. B. RGG VI [12], 825; WuG II [21], 94–97. 140

141

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6. Kapitel: Die Metaphysikkritik in den frühen Arbeiten

causa und causa sui sowie das Verständnis des Menschen als Ursprung seiner Werke, wie gleich genauer dargelegt werden soll. Ebeling zeigt dabei, ähnlich wie Herrmann in der Metaphysikschrift144 die Schäden auf, die sich aus dieser Behandlungsweise für die theologischen Inhalte ergeben. Aber anders als Herrmann, der die Einmischung der Metaphysik in die Theologie zunächst an der reformatorischen Theologie dargestellt hat, hat Ebeling vor allem die Scholastik vor Augen und betont die Kritik Luthers an ihr.145 c)

Gott als prima causa und causa sui

Nach Ebeling führt die vom aristotelischen Naturbegriff geleitete Frage nach Gottes Wesen dazu, dass die scholastische Dogmatik Gott als eigenständige Substanz nach Art der Weltdinge und damit weltverhaftet in den Blick nimmt: Der metaphysische Gott ist das erschlossene Weltprinzip, dessen »Natur« es ist, der ewige, dem Zeitlichen ferne, unveränderliche, eigenschaftslose, unbegreifliche, unpersönliche Grund der Welt zu sein, den zu erkennen die Rückkehr aus dem Vergänglichen über die zeitlosen Wahrheiten in den wahren Seinsgrund ist.146

Die Welt als Werk Gottes wird als Äußerung seines Wesens verstanden und soll als solche wiederum Auskunft über sein Wesen geben. Unter dieser Perspektive wird er »im Unterschied und im Verhältnis zu allem Seienden als die Ur-Sache schlechthin, als causa sui und als causa prima« gedacht.147 Die Frage nach Gottes Wesen führt damit in den Kausalzusammenhang der Welt. Deshalb bezeichnet Ebeling die scholastische Gotteserkenntnis als »weltverhaftet«.148 Dennoch spricht er davon, dass die Bestimmung Gottes über den scholastischen Naturbegriff zu dessen »An-sich-Sein« führt. Wie ist das zu verstehen? Für Ebeling bedeutet dieser Ausdruck nicht die Beziehungslosigkeit Gottes zur Welt, sondern die Reduktion des Verhältnisses von Gott und Welt beziehungsweise Mensch auf eine »Kausalbeziehung«, in der Gott als unbedingtes und anderes verursachendes Sein, der Mensch dagegen als verursachtes Sein in den Blick genommen wird. Das Problem dieser Gotteserkenntnis sieht Ebeling vor allem darin, dass Gott und Mensch nicht von vorne herein aus dem theologischen Zusammenhang von sündigem Menschen und rettendem Gott 144

HERRMANN, Metaphysik, 22–50, s. o. S. 72–76. Vgl. z. B. Luther, 269–275. Allerdings ist zu betonen, dass Ebeling auch der metaphysisch ansetzenden Theologie nicht vorwirft, dem metaphysischen Denken uneingeschränkt Raum zu geben. Er weist immer wieder darauf hin, dass eine christliche Theologie gar nicht anders kann, als den metaphysischen Ansatz zu durchbrechen, wie etwa bei der Trinitätslehre oder der biblischen Auffassung von der creatio ex nihilo; RGG VI [12], 798. 826; WuG II [16], 264. 278; D I, 169. 146 RGG 6 [12], 798. 147 Luther, 266; vgl. WuG II [19], 420. 148 WuG II [15], 256. 145

III. Aspekte des Metaphysikverständnisses

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verstanden werden, sondern »in der Illusion neutralen Konstatierens« aus dem metaphysischen »causa-Schema«.149 Dies meint Ebeling, wenn er die Betrachtung Gottes in seinem »Ansichsein analog dem Ansichsein von innerweltlich Seiendem« als »Neutralisierung des Existenzbezuges« erläutert.150 Die metaphysische Betrachtung des Seienden nach seiner Natur, also nach seinen inneren Prinzipien und damit als selbständige Substanz wird auf Gott übertragen und nimmt ihn damit aus dem existentiellen Bezug für den Menschen heraus. Dies ist einerseits im Sinne Heideggers gedacht, der die Ablösung des Verstehens der Dinge von ihrem Lebensbezug kritisiert, unterscheidet sich dann aber von Heidegger, insofern Ebeling unter diesem »Existenzbezug« letztlich die Problematik des sündigen Menschen versteht und damit also in erster Linie Herrmann und Bultmann folgt. Mit der Ablösung von diesem Bezug aber entfällt der soteriologische Zusammenhang, ohne den das Wort »Gott« sinnlos wird.151 Mit dem »Ansichsein Gottes« meint Ebeling also nicht die völlige Trennung von Gott und Welt. Er sieht, dass das Verständnis von Gott als prima causa der Welt bei Thomas den Rückgang auf Gott über die Welt als seine Wirkung bedeutet.152 Und den Sinn der, wie er auch sagt, »Aseität Gottes« sieht er vielmehr gerade in der Aussage über die Abhängigkeit des Geschöpfes von seinem Schöpfer, der selbst wiederum von nichts abhängig ist.153 Dieses Anliegen sieht er auch in der »Voranstellung« einer von Gottes Heilshandeln unabhängigen, aus der theologischen Verarbeitung der Metaphysik begründeten Lehre vom Wesen Gottes am Anfang der klassischen Dogmatik.154 Sie soll Gottes »Unabhängigkeit von der Welt« herausarbeiten, um Gottes Wesen und sein Handeln nach außen ins Verhältnis zu setzen. Sein im zweiten Schritt dargestelltes Offenbarungshandeln soll als tatsächliche und verlässliche »Äußerung seines Wesens« verstanden werden können, ohne dass er in Abhängigkeit von diesem Handeln gerät. Es darf nicht als notwendige Äußerung seines Wesen erscheinen, sondern muss auf seinen freien Willen zurückgeführt werden.155 Wie Ebeling später in der Dogmatik sagt, liegt im »Gesichtspunkt schlechthinniger Unabhängigkeit und Selbständigkeit«, den die »Formel causa sui« zum Ausdruck bringe, der Sinn der »metaphysischen Gotteslehre« in der Scholastik.156 Nun ist allerdings zu beachten, dass die Scholastik Gott keineswegs als causa sui bezeichnet. Gerade Thomas kritisiert den Begriff der causa sui im kausalen 149 150 151 152 153 154 155 156

Luther, 268. WuG II [16], 278. WuG II [16], 265; vgl. [15], 256. Näheres dazu unten S. 224ff. WuG II [16], 269. Luther, 291f. WuG II [16], 262f; vgl. RGG VI [12], 798. WuG II [16], 264f. D I, 185.

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6. Kapitel: Die Metaphysikkritik in den frühen Arbeiten

Sinn als logischen Widerspruch.157 Um die Unabhängigkeit Gottes von etwas anderem zu bezeichnen, spricht Thomas von Gott als »ipsum esse subsistens«,158 andere scholastische Theologen von der Aseität Gottes.159 Die Bezeichnung Gottes als causa sui findet sich vor allem seit der Neuzeit und wird schließlich von Heidegger als eines der Merkmale onto-theo-logischen Metaphysik bezeichnet.160 Allerdings hat Ritschl darauf hingewiesen, dass der Begriff causa sui allein nicht mit Gott gleichgesetzt werden kann. Denn causa sui sei »jedes Ding in sich« (nämlich im Sinne des aristotelischen Naturbegriffs), während es gleichzeitig auch als gewirkt von anderem, als res causata zu verstehen ist. Deshalb müsse der Gedanke der causa sui mit dem Gedanken einer causa omnium verbunden werden, die selbst nicht res causata ist.161 Bei Ebeling findet sich nun nicht nur der Hinweis auf das scholastische Verständnis Gottes als causa sui stets verbunden mit dem Begriff der prima causa. Auch die Argumentation erinnert an Ritschls Gedankengang, wenn Ebeling das scholastische Verständnis vom Menschen im Gegensatz zu Gott einerseits als »verursacht« und gleichzeitig als, »auf seine Natur gesehen, Ursprung seiner Werke« beschreibt oder wenn er von der Abhängigkeit des »endlich Seienden . . . von der causa sui« spricht.162 Das Verständnis Gottes als causa sui bei Ebeling lässt sich also nicht nur und nicht in erster Linie von Heidegger her, sondern plausibler aus der durch Ritschl begründeten Traditionslinie erklären. Dies gilt auch für den Begriff des »Ansichseins«, der, wie wir gesehen haben, zur Beschreibung einer falschen Metaphysik und deren Probleme in der traditionellen Dogmatik bereits bei Ritschl begegnet. d)

Der Mensch als Ursprung seiner Werke

Ebeling macht den Naturbegriff auch für Probleme in der Auffassung vom Menschen verantwortlich, durch die er die gesamte scholastische Theologie belastet sieht. Der Naturbegriff erfordert, den Menschen nach dem in ihm liegenden Prinzip zu verstehen. Theologisch betrachtet ist zunächst Gott als Schöpfer 157 Für Thomas gilt allgemein »nihil autem potest esse sibi causa essendi« (ScG II, 47, vgl. De ente, IV, 71; STh I, q. 2 a. 3 c) und dies dann auch speziell im Blick auf Gott (ScG I, 19); vgl. MARION, 310–315, bes. 311; RINGLEBEN, 475f. Allerdings findet sich bei Thomas der finale Gebrauch des Begriffs causa sui, nämlich im Sinne der Freiheit als »um seiner selbst willen«, z. B. ScG II, 48: »Liberum est quod sui causa est. Quod ergo non est sibi causa agendi, non est liberum in agendo.« Vgl. HADOT, 976. 158 Z. B. ScG III, 19; STh I, q. 3 a. 4 s. c. ; q. 4 a. 2 c.; q. 11 a. 4 c. u. ö. 159 HADOT, 976. 160 HEIDEGGER, Identität, 51. 64; vgl. MARION, 286f. 314f; HADOT, 976f. Die Gleichsetzung des causa sui-Begriffs mit dem Gottesgedanken in der Neuzeit geht auf Spinoza zurück, s. o. S. 41 Anm. 115. 161 TuM2 , 12; RuV3 III, 205f; s. o. S. 40. 162 Luther, 266f; D I, 185.

III. Aspekte des Metaphysikverständnisses

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das principium des Menschen. Im Gegensatz aber zur übrigen Kreatur, die sich gemäß dem in ihr gesetzten Prinzip entfaltet und damit ihr »natürliches« Ziel erreicht, besitzt der Mensch einen freien Willen, durch den er sich nicht automatisch auf das seinem principium entsprechendem natürlichen Ziel zubewegen muss. Deshalb versteht die scholastische Theologie den Menschen nach Ebeling »in abgeleiteter Weise« als principium, »freilich nicht principium seines Seins, wohl aber principium seiner Werke«. Der Mensch erreicht also sein Ziel durch sein Handeln in freiem Willen, wodurch aber auch die Möglichkeit besteht, dass er sein Ziel nicht erreicht, also sich selbst verfehlt.163 Ebeling sieht damit den eigentlichen Naturbegriff gesprengt. Die Natur des Menschen besteht in der scholastischen Auffassung gerade darin, »daß er sein Ziel nicht in sich selbst hat als eine ihn notwendig bestimmende Anlage«. Deshalb gehört das Ziel des Menschen in den Bereich des »Übernatürlichen«. Die Natur des Menschen, stellt Ebeling fest, trägt in der scholastischen Auffassung die Paradoxie in sich, »über sich selbst hinauszumüssen, ohne doch von Natur über sich selbst hinauszukommen«. Erst durch Offenbarung und Gnade ist es in diesem Modell für den Menschen möglich, sich über seine Natur hinaus zu erheben. Der Naturbegriff aber erfordert nach Ebeling, dass der Mensch auch auf dieser Ebene weiterhin als das principium seiner Werke, also unter Erhalt des freien Willens, gedacht werden muss, wenn die Erlösung am Ende nicht »etwas Widernatürliches« darstellen soll.164 Die Verschiebungen, die sich durch die Interpretation theologischer Vorstellungen mit dem Naturbegriff ergeben, haben für Ebeling genau hier, in der scholastischen Gnadenlehre, ihren entscheidenden Ort. Er macht dies fest an ihrer »obersten Norm«, den menschlichen freien Willen nicht einzuschränken, und an ihrer Auffassung als übernatürliche Ausstattung, die den Menschen analog zu seiner Natur auf das übernatürliche Ziel hin ausrichtet. Die Gnade bewirkt somit im Verständnis der Scholastik, dass der Mensch Verdienste vollbringen kann, die ihm des übernatürlichen Zieles würdig machen.165

WuG II [15], 252. WuG II [15], 254f; vgl. LuSt I [18], 280f. 165 Luther, 267; vgl. auch Ebelings Hinweis auf Luthers Kritik an der Einmischung der aristotelischen Ethik und ihres Tugendbegriffs in die scholastische Gnadenlehre, wodurch die Gnade analog den menschlichen Tugenden »als ein den Menschen in seinen seelischen Fähigkeiten vervollkommnender habitus« verstanden werde, Luther, 96f. Dieser letztere Gesichtspunkt findet sich im Übrigen bereits bei BRUNNER, 588, der den »naturalistische[n] Tugendbegriff« bei Thomas als deutlichsten Ausweis der »Abhängigkeit von Aristoteles und seiner Anthropologie« versteht und die aristotelische Ethik als fokussiert auf die Vollkommenheit des Menschen »in sich«. Ebeling hat den Verdienstgedanken in der Scholastik und die damit verbundene Verhältnisbestimmung von Natur und Gnade später noch einmal eingehender untersucht, LuSt II/3, 297–308. 163

164

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6. Kapitel: Die Metaphysikkritik in den frühen Arbeiten

Der Naturbegriff führt also nach Ebeling zum Synergismus, weil er dafür sorgt, dass die scholastische Theologie Gott und Mensch zuerst in ihrem »Ansichsein« behandelt, um sie nachträglich miteinander in Beziehung zu denken. Auch wenn in diesem ersten Schritt die Bestimmung Gottes durch den Rückgang hinter das Seiende durchaus Bezug auf die Welt nimmt und ebenso der Mensch als verursacht durch Gott in den Blick kommt, so kritisiert Ebeling doch, dass diese Beziehung im »causa-Schema« verbleibt und nicht die Beziehung beider sieht, die für Luther »den einzigen Gegenstand der Theologie« darstelle, nämlich die Beziehung von sündigem Menschen und rettendem Gott. Nach Ebeling ist diese Beziehung in der Scholastik erst der zweite Schritt, nachdem Gott und Mensch »in ihrem An-sich-Sein« und in »grundsätzlich widerspruchsfreier Kausalbeziehung sozusagen ›festgestellt‹ sind«. Alles, was sich daran anschließt, ist dann »mit der verhängnisvollen Hypothek belastet«, sich dem »Kausalschema« und dem Verständnis der menschlichen Natur unterordnen zu müssen.166 e)

Das objektivierende Denken der Neuzeit

Ebelings Kritik am gegenständlichen Erkennen in der Theologie richtet sich aber nicht nur auf die Scholastik, sondern auch auf die Theologie seiner Zeit. Zwar nimmt er die alten Texte selbst vor Kritik in Schutz, die sich durch die »naive Unterstellung neuzeitlicher Verstehensvoraussetzungen« ergibt.167 Aber dennoch ist er der Ansicht, dass die Verwendung »physischer Vokabeln« in der scholastischen Theologie, auf die sich Luthers Kritik richtet, einem »Sachverhalt« entspricht, der in der Neuzeit »mutatis mutandis an dem Problem der Überfremdung der Theologie und der Geisteswissenschaften überhaupt durch naturwissenschaftliche Denkformen und das ihnen zugrunde liegende Wirklichkeits- und Wahrheitsverständnis« deutlich wird.168 Ebeling bringt hier wie Ritschl, Herrmann und Bultmann, wenn auch mit Aufmerksamkeit für die Unterschiede, die Kritik Luthers an der Metaphysik in Verbindung mit der neuzeitlichen Kritik an einem an den Naturwissenschaften orientierten Verständnis geistiger Phänomene, das auch in der Theologie Anwendung findet. Diese »Verkehrung« des Denkens in »objektivierendes, vorstellendes, rechnendes Denken«, wie Ebeling unter Anknüpfung an Heidegger

166

Luther, 268. WuG II [16], 276f. 168 Luther, 266. Ebeling bezeichnet die Metaphysik als die »unbedacht bleibende Voraussetzung« der neuzeitlichen Wissenschaft; RGG 6 [12], 826. Vgl. dazu HEIDEGGER, Weltbild, bes. 86–94. Dass ihm dieser Zusammenhang wichtig ist, wird in Dogmatik I, 348 noch einmal deutlich, wenn er die Notwendigkeit der Kritik an der »Substanzontologie« nicht nur mit der »theologischen Tradition« begründet: »Die Substanzontologie beherrscht in hohem Maße auch das neuzeitliche wissenschaftliche Denken und entspricht dem Wirklichkeitsverständnis der objektivierenden ratio.« 167

III. Aspekte des Metaphysikverständnisses

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formuliert, steht im »Bann des metaphysischen Sprachverständnisses« und gilt somit auch für das »metaphysische Reden von Gott« in der Theologie.169 Die Objektivierung, der sich auch die Auffassung von der ›Objektivität der Heilstatsachen‹ verdankt, ist also für Ebeling die Folge einer bestimmten Einstellung dem Sein gegenüber, mit der sich die Theologie nicht erst durch die Übermacht der Naturwissenschaft in der Neuzeit auseinandersetzen muss, sondern die sie selber »schon lange durch ihr eigenes fehlgeleitetes Selbstverständnis«, nämlich eine Art christliche Weltanschauung zu sein, teilt.170 Was aber versteht Ebeling genau unter dem objektivierenden Denken? Es ist die Methode des wissenschaftlichen Denkens, wie es sowohl in den Naturwie auch in den Geisteswissenschaften der Neuzeit herrscht. Sein wichtigstes Kennzeichen sieht Ebeling in der Abstraktion des zu betrachtenden Gegenstandes von dem Verhältnis, das der Betrachter zu ihm hat.171 Die Dinge werden aus ihrem »konkreten Lebensbezug« herausgenommen, durch den sie mit dem betrachtenenden Menschen eigentlich verbunden sind. Diese »objektivierende Betrachtung« beschreibt Ebeling zwar vornehmlich als Methode der Wissenschaft, aber ihre Wurzel sieht er in der Art, wie sich der Mensch überhaupt Dinge denkend erschließt, nämlich »als etwas an sich Ganzes und Abgeschlossenes«, »als eine Größe an sich«, deren »Eigenschaften« zu bestimmen sind. Darum findet Ebeling diese Betrachtungsweise nicht erst in der neuzeitlichen Wissenschaft. Vielmehr ist sie ihm zufolge bereits in der traditionellen Tugendlehre der philosophischen Ethik sowie in der Lehre von den göttlichen Eigenschaften in der traditionellen Dogmatik auf den Menschen und auf Gott übertragen, indem man sie »jeweils als eine Größe an sich« behandelt, die durch Bestimmung der ihr zukommenden Eigenschaften verstanden und beschrieben wird.172 Ebelings Kritik am objektivierenden Erkennen in der Theologie knüpft vor allem an Bultmann an, wie seine ausführliche Auseinandersetzung mit Bultmanns Aufsatz »Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?« zeigt. Ebeling übernimmt dadurch Bultmanns Verbindung von Heideggers Kritik an der objektivierenden Erfassung der Existenz und Herrmanns Kritik an einer von der Erfahrung absehenden Gotteserkenntnis. Ebeling betont das hermeneutische Anliegen dieses Aufsatzes. Es gehe Bultmann nicht nur um die Verstehensbedingungen des »Redens von Gott«, sonWuG II [10], 96f. WuG II [21], 347. 171 WuG I [7], 385. Ebeling betont dabei allerdings, dass die »Objektivierung« als »größtmögliche Ausschaltung der menschlichen Bezüge« paradoxerweise gerade die »denkbar stärkste Aktivierung und Einschaltung des Menschen« bedeutet, weil dieser »sich bewußt in die Distanz des rein erkennenden Subjekts begibt«. 172 Wesen, 157f. Vgl. Heideggers Kritik daran, dass das bisherige Denken den unmittelbaren Zusammenhang mit den Dingen, das »In-der-Welt-Sein«, »überspringt« und die Dinge isoliert für sich betrachtet; z. B. SuZ, 65f. 175–180. 201. 169 170

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6. Kapitel: Die Metaphysikkritik in den frühen Arbeiten

dern auch um die Bedingungen, denen bereits dieses Reden unterliegt.173 Denn der »Modus des Redens«, ob wissenschaftlich-objektivierend oder konkretexistentiell, ist abhängig von dem dahinter stehenden Wirklichkeitsverständnis und gibt auf diese Weise eine »fundamentale hermeneutische Wegweisung, wie dieses Reden gemeint ist und verstanden sein will«.174 Es geht also nach Ebeling darum, in welchem seinen Sinn bestimmenden Zusammenhang das Wort »Gott« gebraucht wird. Und dieser Zusammenhang kann nicht das objektivierende Denken sein, das die Bedeutung seiner selbst für die zu verstehende Sache ausschließt. Ebeling bezeichnet das »Thema der Nichtobjektivierbarkeit« als »Grundmotiv in Bultmanns Denken«.175 Die Bedeutung von Bultmanns Aufsatz sieht Ebeling darin, dass er »die Nichtobjektivierbarkeit Gottes und die Nichtobjektivierbarkeit des Menschen« als einen notwendigen Zusammenhang herausarbeitet. Nach Ebeling bringt Bultmann dadurch zum Ausdruck, dass das »Gegenüber von Gott und Mensch« der hermeneutische Schlüssel für das »Reden von Gott« ist. Der Mensch kann seine Existenz nicht objektivierend erfassen, weil diese gerade darin besteht, von Gott so abhängig zu sein, dass eine neutrale Distanz zu ihm unmöglich ist. Entsprechend liegt der Sinn des Wortes »Gott« für Ebeling darin, die Situation zu benennen, »daß die Existenz als in ihrem Weltbezug sich selbst überantwortete sich selbst entzogen ist«. Das Wort Gott ist also wesentlich auf die Existenz des Menschen bezogen und verweist so auf die »Situation der Nichtobjektivierbarkeit«.176 Wie die metaphysische Behandlung Gottes und des Menschen in ihrem »Ansichsein«, kann also auch die objektivierende Betrachtung Gott und Mensch in ihrer theologischen Dimension nicht erfassen, weil sie die für das theologische Verständnis konstitutive Relationalität beider nicht von Anfang an berücksichtigt.177 Ebeling hebt deshalb positiv an Bultmanns Aufsatz hervor, dass er »die untrennbare Verbundenheit und gemeinsame Verwurzelung des Redens von Gott WuG II [21], 345f. WuG II [21], 347. 175 WuG II [21], 347f. Der in den Naturwissenschaften gebräuchliche Begriff der Nichtobjektivierbarkeit begegnet auch in theologischen Zusammenhängen. Ernst Käsemann verwendet 1953 das »vom Naturwissenschaftler zugeworfene Stichwort der Nichtobjektivierbarkeit« und versucht es, mit exegetischen Fragen, z. B. nach dem Wunder, zu verbinden; KÄSEMANN, 224. Bei Bultmann selbst kommt es laut Register (L ATTKE, 79) in den Aufsatzbänden Glauben und Verstehen nur ein einziges Mal vor, und zwar in Bezug auf die »Nichtobjektivierbarkeit der existentiellen Entscheidung«, GuV III, 117. Da Bultmann aber das »objektivierende Reden« bzw. »objektivierende Denken« in Bezug auf Gott und die Existenz ausschließt, schreibt Urban Forell 1966 dem »Begriff der Nichtobjektivierbarkeit eine zentrale Rolle« im »Denken von Rudolf Bultmann« zu; FORELL, 327. 176 WuG II [21], 367f. 177 Dieses für Ebelings Theologie zentrale Thema wird weiter unten ausführlicher beschrieben werden, s. u. S. 224–230, S. 253–257 sowie S. 278–282. 173

174

III. Aspekte des Metaphysikverständnisses

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und des Redens von unserer Existenz in der Situation des Menschen« herausgearbeitet habe, auch wenn er Bultmann vorwirft, nur auf den Zusammenhang hingewiesen zu haben, ohne zu erklären, warum der Mensch von Gott und sich reden muss und warum bereits die Nötigung zu beidem zusammenhängt.178 Wir werden weiter unten sehen, wie Ebeling diese Frage selbst beantwortet und damit den durch Bultmann eingeschlagenen Weg für seinen eigenen Ansatz vertieft. In Ebelings Auffassung vom objektivierenden Denken macht sich also vor allem der Einfluss Bultmanns sowie, als gemeinsamer Bezugspunkt, Heidegger bemerkbar. Die dahinter stehende Kritik an der Dominanz des modernen naturwissenschaftlichen Erkennens, dem der Glaube zum Opfer zu fallen droht, reiht sich aber auch in eine Traditionslinie ein, die über Bultmann und Heidegger hinaus zu Herrmann und Ritschl zurückreicht. Die Metaphysikkritik als Positivismuskritik, d. h. als Abwehr des wissenschaftlichen Welterkennens für Erfassung und Verständnis der Religion, hat hier ihre Wurzel. 3.

Metaphysik als überholte Philosophie

Ebeling setzt die Metaphysik gleich mit einer historisch überwundenen Form der Philosophie. Obwohl er die Bezeichnung »Metaphysik« oft schlagwortartig verwendet, meint er doch nicht Metaphysik überhaupt. In der Regel interessieren ihn die antike griechische Metaphysik und die Entwürfe der neuzeitlichen Metaphysik nicht.179 Wenn Ebeling genauer auf die Metaphysik eingeht, setzt er sich, wie bereits deutlich wurde, meistens mit Thomas von Aquin auseinander, dem er dann die Durchbrechung der metaphysischen Ausrichtung der Theologie als eines der Hauptanliegen Luthers gegenüberstellt.180 Interessanterweise kehren die an Thomas gewonnenen Einsichten an anderer Stelle als Kennzeichen von Metaphysik überhaupt wieder, oder die an einer Stelle beschriebenen Charakteristika »der« Metaphysik werden später an Thomas erklärt.181 Dies macht deutlich, dass die Metaphysik des Thomas exemplarisch für alle theologisch in Anspruch genommene Metaphysik steht. Von hier aus fasst Ebeling unter dem Begriff »Metaphysik« pauschal die in der Perspektive der christlichen Lehre adaptierte aristotelische Erste Philosophie zusammen, die von der Hochscholastik im Mittelalter ausgebildet wurde und von der protestantischen Orthodoxie bis in die

WuG II [21], 370. Nur in seinem Beitrag in der RGG über die Geschichte des Verhältnisses von Theologie und Philosophie stellt er sowohl die antike griechische wie auch die neuzeitliche Metaphysik dar; RGG VI [12], 790f. 809–814. 180 Luther, v. a. 87–99. 259–279 sowie WuG II [15], 228–256; [16], 266–272. 279–286. 181 Z. B. die Abstraktion der Metaphysik von der konkreten Existenz, Wesen, 90. 178 179

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6. Kapitel: Die Metaphysikkritik in den frühen Arbeiten

frühe Neuzeit hinein verwendet wurde.182 Diesen Zeitraum bezeichnet er als »Zeit einer theistisch bestimmten und aufs Christliche hin zurechtgebogenen Metaphysik«.183 Ebeling weist oft darauf hin, dass die Metaphysik in der Neuzeit überholt ist,184 auch wenn ihm bewusst ist, dass dieses Urteil »nur eine bestimmte Gestalt von Metaphysik« betrifft.185 Den Grund für das Ende der Metaphysik sieht er in der »Trennung der Wirklichkeit in res extensa und res cogitans« bei Descartes, durch die die metaphysische Vorstellung eines einheitlichen, geistige und dingliche Realität verbindenden Wirklichkeitszusammenhangs ihre »Verständlichkeit« verloren hat.186 Die Dingwelt lässt sich nicht mehr durch Rückführung auf ihren ewigen geistigen Grund allgemein plausibel erklären. Durch diesen Verlust der Plausibilität hat die Metaphysik für Ebeling aber auch die Funktion verloren, für die sie ursprünglich von der Theologie in Anspruch genommen wurde, nämlich die theologischen Aussagen an das »allgemeine Wahrheitsbewußtsein« anzubinden.187 Dieser Punkt zeigt allerdings, dass Ebeling hinter der theologischen Verwendung der Metaphysik einen Sinn sieht, der nicht einfach erledigt ist und der den Dialog mit der Philosophie weiterhin notwendig macht.188 Die Ansicht, dass die Theologie die Philosophie als Gesprächspartnerin benötigt, die christlich-aristotelische Metaphysik jedoch nicht nur eine sachlich unangemessene, sondern auch eine historisch überholte Form der Philosophie darstellt, findet sich, wie oben gezeigt, bereits bei Ritschl, wenn dieser die in der theologischen Arbeit notwendige Metaphysik bzw. Erkenntnistheorie, die auf Platon zurückgeht und von Kant abgelöst wurde, als die von der Scholastik und noch in der Theologie seiner Zeit verwendete »falsche« Metaphysik versteht.189 Und auch Herrmann lehnt mit der Kritik an der »dogmatischen Metaphysik« die theologische Verwendung einer unkritischen Metaphysik ab, die nach Kant keine Legitimität mehr beanspruchen kann.190 Dass Ebeling »die« Metaphysik allerdings mit Descartes und nicht mit Kant enden lässt, könnte sich an HeiRGG VI [12], 800–807. WuG II [11], 43; vgl. WuG II [14], 125. 184 Geschichtlichkeit, 27; Wesen, 30; WuG I [1], 33; TuV, 2; WuG II [11], 43; [16], 278; [13], 391. 185 RGG VI [12], 826. Mit dieser Einschränkung wird der Unterschied, der sich hier auf den ersten Blick zu Heidegger ergibt, relativiert. Beide sehen die vorneuzeitliche Metaphysik als verborgene Voraussetzung der positiven Wissenschaften in der Neuzeit, nur dass Heidegger diesen Sachverhalt als »neuzeitliche Metaphysik« beschreibt, während Ebeling ihn im Zusammenhang mit der neuzeitlichen »Objektivierung« behandelt; vgl. Anm. 168. 186 WuG II [16], 277. 187 RGG VI [12], 826. 188 WuG II [16], 276. Zur Notwendigkeit der Philosophie für die Theologie s. u. S. 241– 251. 189 RITSCHL, RuV3 III, 19f, vgl. TuM, 33–37. 41; s. o. S. 31f. 190 S. o. S. 83f. 182 183

III. Aspekte des Metaphysikverständnisses

221

degger orientieren, der hier einen tiefen Einschnitt im metaphysischen Denken sieht, auch wenn er die mit der cartesischen Wende beginnende Philosophie, da in ihr die Voraussetzungen der alten Metaphysik weiterwirken, als neuzeitliche Metaphysik betrachtet.191 4.

Die Ungeschichtlichkeit der Metaphysik

Dass Ebeling der Metaphysik in der Neuzeit keine allgemeine Plausibilität mehr zugesteht, hängt mit einem weiteren Aspekt seines Verständnisses von Metaphysik zusammen, nämlich dass er sie im Gegensatz zu Zeit und Geschichte denkt. Für ihn ist mit der abendländischen Metaphysik platonisch-aristotelischen Gepräges die »Idee zeitlos gültiger Metaphysik« verbunden.192 Denn wenn diese Metaphysik das Wesen einer Sache in der substantia sucht, dann fragt sie nach dem, was einer Sache unberührt vom ständigen Wandel, Werden und Vergehen zu Grunde liegt, und zielt damit auf die »zeitlose innere Wesenheit« der Dinge.193 Deshalb verortet Ebeling die Metaphysik in »zeitlosen Gefilde[n]« und stellt sie immer wieder der Geschichte gegenüber,194 . Damit setzt er die Metaphysik in einen prinzipiellen Gegensatz zum neuzeitlichen Denken, das sich, wie Ebeling immer wieder betont, im Unterschied zu früheren Zeiten durch ein radikales geschichtliches Bewusstsein auszeichnet: »Dem König Midas, so erzählt die Sage, wurde alles, was er berührte, zu Gold. Dem Menschen der Neuzeit wird alles, die ganze Wirklichkeit, zu Geschichte.«195 Der Mensch der Neuzeit erkennt »das Faktum der geschichtlichen Wandlung, der jeweiligen Zeitbedingtheit und des trennenden historischen Abstandes«.196 Das Neue in der Neuzeit sieht Ebeling darin, dass der Mensch den geschichtlichen Wandel, der natürlich immer schon vorhanden war, nun erst in seiner vollen Tragweite erkennt.197 Das Wissen um den Wandel wird zum Prinzip des neuzeitlichen Verstehens, wodurch das Vergangene als Vergangenes relativiert wird: »Was frühere Zeiten über Mensch und Welt gedacht haben, ist historisch zu verstehen, darum aber auch in seiner Gültigkeit historisch begrenzt.«198 Dies gilt nicht nur für Texte oder Überlieferungen aus der Vergangenheit, sondern auch für die Erkenntnisse und Ansichten der eigenen Gegenwart. Darin besteht die Radikalität des neuzeitlichen Geschichtsbewusstseins: Es gibt keine verlässlich

191 192 193 194 195 196 197 198

S. o. S. 193. RGG VI [12], 826. Luther, 92f. Wesen, 90; WuG II [14], 125f; [13], 384. WuG I [7], 381. WuG I [1], 33. WuG I [7], 385. WuG I [7], 383.

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6. Kapitel: Die Metaphysikkritik in den frühen Arbeiten

feststehenden Gewissheiten mehr, sondern ausnahmslos alles ist dem Fluss der Zeit, dem Wandel der Geschichte unterworfen. Die Radikalität des Wandels weist darauf hin, dass er aus etwas Grundsätzlichem entspringt. Ebeling findet dies im Wesen des Menschen. Denn »Geschichte im eigentlichen Sinn« gibt es für ihn nur »in Bezug auf den Menschen, und zwar darum, weil der Mensch sich verstehend zu sich selbst in seiner Vergangenheit und Zukunft verhält«.199 Durch sein Bewusstsein von Vergangenheit und Zukunft kann der Mensch sich zum einen über seine Gegenwart erheben, zum anderen kann er nicht nur, sondern muss sich auch zu seiner Vergangenheit und seiner Zukunft verhalten.200 Unter »Geschichtlichkeit der Existenz« versteht Ebeling deshalb »das je und je zur Entscheidung stehende Selbstverständnis des Menschen, der zwischen Vergangenheit und Zukunft seine Gegenwart ergreift«.201 Dieser einzelne Augenblick aber ist unwiederholbar, wodurch sich die ständige Wandlung im Geschichtsverlauf ergibt.202 Durch die Erkenntnis der Geschichtlichkeit und ihrer Tragweite verliert die Metaphysik mit ihrem Anspruch als zeitlos gültige Wahrheit an der Schwelle zur Neuzeit ihre »Selbstverständlichkeit« und wird durch das geschichtliche Denken abgelöst.203 Ebeling gesteht zwar zu, dass die Metaphysik das Thema der Geschichte durchaus berührt.204 Aber ihm geht es um den prinzipiellen Unterschied zwischen metaphysischem und neuzeitlich-geschichtlichen Denken. Die metaphysische Bestimmung der Zeit durch die Ewigkeit versteht die Zeit lediglich als Raum des ständigen Werdens und Vergehens im Kontrast zum ewigen unveränderten Sein, in dem das Wesen der Dinge erkennbar ist, also als ontologisch defizitäres Abbild der vollkommenen Ewigkeit.205 Das heißt, durch die Priorität der Ewigkeit wird die Zeit in ihrer eigenen Bedeutung und Tragweite gar nicht ernst genommen. Dies hat grundlegende Bedeutung für den metaphysischen Gottesbegriff. Der »metaphysische Gott« ist nach Ebeling der »ewige, dem Zeitlichen ferne, unveränderliche, eigenschaftslose, unbegreifliche, unpersönliche Grund der Welt«, der erkannt wird, indem man in den »zeitlosen Wahrheiten« hinter den vergänglichen Dingen nach ihm sucht. Demgegenüber betrachtet Ebeling es als problematisch, wenn dieser Gottesbegriff für die »Auslegung des Evangeliums« verwendet wird, das davon berichtet, wie Gott »in Freiheit als ›Person‹« geschichtlich-eschatologisch handelt. Das Vorgehen der patristischen Theologie, diese beiden Gottesvorstellungen »schichtweise zusammenzusetzen«, führe zu »Friktionen«, die bis weit in die materiale Dogmatik hinein wirken, bei199 200 201 202 203 204 205

Geschichtlichkeit, 31f. WuG II [14], 135; vgl. WuG III, 458f. Geschichtlichkeit, 34. WuG I [1], 23f; Geschichtlichkeit, 12. 23. WuG I [1], 33; vgl. WuG II [14], 125; RGG VI [12], 826. TuV, 2f Anm. 3. WuG II [14], 126.

III. Aspekte des Metaphysikverständnisses

223

spielsweise die »Vorordnung einer metaphysischen Lehre vom Wesen Gottes«, also einer Betrachtung Gottes ohne seine Bezüge zur Welt, vor die eigentliche Dogmatik.206 Diese Betrachtungsweise der Metaphysik, kritisiert Ebeling, löst Gott »von der geschichtlichen Situation des wirklichen Menschen« ab.207 Der metaphysische Gottesbegriff ist »der faktischen Situation des Menschen in seiner Zeitbedrängnis wenig gewachsen«, weil er »die Beziehung zwischen Gott und Zeit als konkreter, zu existierender Zeit« übergeht.208 Durch Ebelings Formulierung schimmert die Bestimmung des Daseins, wie sie bei Heidegger und Bultmann begegnet, nämlich dass der Mensch sich in jedem Augenblick seines Daseins und damit in der Abfolge der Augenblicke, in der Zeitlichkeit, selbst zu übernehmen hat. Dass das metaphysische Denken den von seiner Zeitlichkeit bedrängten Menschen nicht in den Blick nimmt, ist in Ebelings Sinne der Grund für die tiefe Scheidung der vorneuzeitlichen Metaphysik nicht nur vom neuzeitlichem Denken, sondern auch von der hermeneutisch korrekt verantworteten christlichen Verkündigung. Ebeling kritisiert den Versuch, ein »sturmfreies Gebiet« für den Glauben zu schaffen, das unabhängig sein soll von den stets der Veränderung unterworfenen Forschungsergebnissen der wissenschaftlichen Theologie. Ebeling greift damit eine Formulierung Martin Kählers auf, der dem Dogmatiker die Aufgabe zuweist, »den Gelehrtenapparat der Historiker in seine Schranken zu weisen« und dem Glauben eine vor den Wandlungen wissenschaftlicher Untersuchungen sichere Grundlage zu verschaffen: »Auf dieses sturmfreie Gebiet soll meines Ermessens der Dogmatiker den Christen führen«.209 Dagegen weist Ebeling darauf hin, dass die »Geschichtlichkeit« des Glaubens eine Verkündigung erfordert, »die sich theologisch der Sturmzone der Geschichte aussetzt«. Die neuzeitliche »Nötigung zu radikal geschichtlichem Denken« hat nach Ebeling nicht nur dazu geführt, dass die »herkömmliche Kirchensprache« nicht mehr verständlich ist, sondern eine »Umformung des christlichen Denkens erfordert, deren Weg und 206 RGG VI [12], 798. Weil die christliche Verkündigung eigentlich ein geschichtliches Denken erfordert, stellt Ebeling auch vereinzelt »theologische Vorstöße gegen die Herrschaft der Metaphysik« in der Theologie fest und verweist auf Luther, Schleiermacher, Kierkegaard, Ritschl und Herrmann; RGG VI [12], 826, vgl. 816; WuG II [14], 127f. Die Auswirkung dieser Vorstöße auf die gesamte evangelische Theologie jedoch hält er offenbar für begrenzt, wenn er die metaphysische Grundlegung der Theologie noch in den 1960er Jahren als den Normalfall einstuft, vgl. WuG II [10], 97; [13], 389. Ebelings Vorwurf der ›schichtweisen‹ Kombination der verschiedenartigen Gottesbegriffe erinnert an Ritschl, der Frank und Philippi vorwirft, ihr Gottesbegriff sei aus biblischen und metaphysischen »Theile[n] auf einander geschichtet«; RITSCHL, TuM, 21. 207 WuG II [16], 283f. 208 WuG II [15], 240. 209 TuV, 7; Ebeling zitiert aus MARTIN KÄHLER, Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche Christus, 2. Aufl., 1896, 73. 147.

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6. Kapitel: Die Metaphysikkritik in den frühen Arbeiten

Ausmaß wir erst ahnen«. In diesem Kontext ist der »Streit um die Sprache des Glaubens« zu führen.210 Das Bild der »Sturmzone« für die Anforderungen, die die Geschichtlichkeit des Menschen der Theologie stellt, benutzt Ebeling bis in spätere Veröffentlichungen als Kontrast zur metaphysischen Gotteslehre. So kritisiert er, dass die metaphysisch ansetzende Theologie eine »Gotteslehre in der ungestörten Beziehung zu Gott« und damit »in der Abstraktion von der geschichtlichen Situation des wirklichen Menschen« ansetze.211 Und in der Dogmatik sieht er die metaphysische Gotteslehre »in der Situation ewiger Muße, in der Ungestörtheit der Zeitlosigkeit und, wenn man so sagen darf, in der keimfreien Atmosphäre der Widerspruchslosigkeit behandelt«. Sie sei damit in der »Illusion« entworfen, »man könne die Gotteslehre an einem sturmfreien Ort als ein in sich Widerspruchsfreies System konstruieren«.212 Neben Heidegger ist die von Ritschl ausgehende Traditionslinie für diesen Aspekt von Ebelings Metaphysikverständnis prägend. Ebeling selbst schlägt bei seinen Gedanken zur Bedeutung der Geschichte für die Theologie einen Bogen zu Ritschl und seiner Schule. Das geschichtliche Bewusstsein und eine strenge historische Methode gehören bekannterweise zum Kernbestand der RitschlSchule. Ebeling weist bei seinen Überlegungen auf die kritische Revision der »Verschmelzung von biblischer und metaphysischer Tradition« durch die RitschlSchule hin, die das Ziel hatte, »das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit theologisch neu in Hinsicht auf die Geschichtlichkeit der Offenbarung zu durchdenken«.213 Damit ist deutlich, dass dieser Strang des Ebelingschen Metaphysikverständnisses seine Wurzeln nicht nur in Heideggers Existenzphilosophie, sondern auch in seinem theologischen Hintergrund hat. 5. Die Situationsvergessenheit der Metaphysik Der Gegensatz der Metaphysik zum geschichtlichen Denken bedeutet für Ebeling die Nichtbeachtung der Zeitlichkeit des Menschen und dies wiederum bedeutet, im Sinne Heideggers und Bultmanns, die mangelnde Berücksichtigung der Existenz des Menschen. Ebeling weist darauf hin, dass die fehlende Beachtung der menschlichen Existenz in der Neuzeit problematisch geworden ist. An die »Stelle der metaphysisch gedeuteten Welt« tritt die »Existenz des Menschen« als Bezugsrahmen des neuzeitlichen Denkens. Die Auflösung der Metaphysik versteht Ebeling als Urteil über ihre »Situationsvergessenheit«.214 Es ist aufschlussreich, dass Ebeling hier 210

TuV, 7f. WuG II [16], 283. 212 D I, 168f. 213 WuG II [14], 127f mit Verweis auf HERRMANN, Verkehr 7 , 162f. Zu Ritschls historischem Anspruch s. ZACHHUBER, Theology, 147–174. 214 WuG II [16], 278. 211

III. Aspekte des Metaphysikverständnisses

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die »Existenz des Menschen« anführt und nicht, im Sinne der Philosophie der Aufklärung oder des Idealismus, das denkende Ich beziehungsweise die Subjektivität. In Ebelings Formulierung schwingt die Forderung Heideggers mit, das Denken nicht auf die Spaltung von Subjektivität und objektiv gedachter Wirklichkeit zu gründen, sondern auf das alltägliche, durch den Umgang mit den Dingen gegebene Verstehen der Wirklichkeit, in Heideggers Begrifflichkeit auf das »In-der-Welt-Sein« oder die »Ek-sistenz« des Menschen.215 Ebelings Formulierung stellt damit bereits eine Grundentscheidung in der Anthropologie dar, indem sie den Menschen nicht als denjenigen versteht, der sich die Welt durch sein Denken unterwirft, sondern der sich in der Welt und ausgeliefert an sie vorfindet. Was aber versteht Ebeling unter dem Begriff der »Situation«? Der Begriff hat bei ihm stets hermeneutische Bedeutung. Es geht Ebeling dabei um den situativen Kontext, in dem ein Wort gebraucht und in dem es folglich allein seiner Intention gemäß zu verstehen ist. Dass die Metaphysik davon abstrahiert, verstellt den Zugang zu einem sachgemäßen Verständnis des Wortes »Gott«: Was gegen solche metaphysischen Aussagen über das Wesen Gottes einzuwenden ist, ist nicht so sehr das, was sie sagen, wie vielmehr das, was sie infolge . . . einer schlechten Hermeneutik . . . verdecken, nämlich was es für das, was gesagt wird, bedeutet, daß es gesagt wird.

Der Denkende bezieht sich nicht als »selbst Betroffener« in das, was er denkt, ein und versteht den Sinn seiner Aussage deshalb nicht aus dem Geschehen, in dem sie stattfindet. Das »Aussagegeschehen« aber konstituiert den hermeneutischen Rahmen, in dem das Wort »Gott« seine Verständlichkeit erhält. Die »Verstehenssituation des Redens von Gott« ist nach Ebeling »eine ihn selbst entscheidend treffende Situation, in der er sich immer schon befindet«.216 Es geht Ebeling in erster Linie also gar nicht darum, dass eine semantisch vollständige Erklärung auch den Bezug Gottes zum Menschen umfassen muss. Der Begriff der »Situation« zielt auf die existentiellen Bedingungen, die dazu nötigen, das Wort »Gott« überhaupt zu benutzen: ». . . das, was dazu treibt, ›Gott‹ zu schreien oder Gott zu verfluchen, ist in der Tat als Gott anzusprechen«.217 Diese Wurzel aber, kritisiert Ebeling, übersieht das metaphysische Denken, wenn es meint, von der menschlichen Existenz abstrahieren zu können. Deshalb richtet Ebeling den »Vorwurf der Situationsvergessenheit« als »Grundeinwand« gegen die Metaphysik: »Es wird die Situation des metaphysischen Sprachge-

215 S. dazu o. S. 191–194. Ebeling selbst bringt die Geschichtlichkeit des Menschen in Zusammenhang mit dem »In-der-Welt-Sein« und schlägt damit explizit eine Verbindung zu Heidegger; WuG I [7], 385. 216 Luther, 292f. 217 WuG II [16], 284.

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schehens, d. h. der Bezug zur Existenz des Menschen abgeblendet und so der Anschein neutraler Deskription erweckt.«218 Der Begriff »Situationsvergessenheit« lehnt sich zwar an Heideggers »Seinsvergessenheit« an, jedoch in erster Linie formal – Ebeling selbst warnt davor, »die ontologische Differenz theologisch zu deuten«.219 Dennoch weist der Begriff gewisse Bezüge zu Heideggers Kritik an der Abstraktion des Erkennens vom Lebensbezug, also von der im Horizont des »Daseins« entworfenen Welt und damit von der »Zuhandenheit« der Dinge auf. Der Gedanke der »Situationsvergessenheit« verdankt sich aber vor allem Ebelings theologischem Hintergrund, in dem die Religion beziehungsweise der Glaube als eine Selbstdeutung des Menschen unter der Perspektive Gottes in Kontrast gesetzt wird zu der vom konkreten Leben abstrahierenden Allgemeinheit und vom Subjekt bewusst absehenden Objektivität der Welterkenntnis. Schon Ritschl hat die Metaphysik, und zwar nicht nur den »Platonismus« als falsche Form der Metaphysik, unter anderem wegen dieser vom Konkreten absehenden Allgemeinheit als ungeeignet für das Verständnis von Glaubensvorstellungen kritisiert.220 Herrmann ordnet die Metaphysik dem Welterkennen zu und kennzeichnet es durch die Arbeit mit »allgemeinen Formen«, deren Geltung unabhängig »von den Zielen unseres Willens, . . . unserem Wohl und Wehe« ist.221 So findet sich bei ihm in der Religionsschrift der Gegensatz zwischen den religiösen Vorstellungen als »Erscheinungen des persönlichen Lebens« und den »gleichgültigen Objekten des bloßen Erkennens« und später zwischen der Allgemeingültigkeit der »Erkenntnis des nachweisbar Wirklichen« und den sich einem individuellen Erlebnis verdankenden und damit notwendig mit dem Menschen verbundenen »Gedanken der Religion«.222 Insofern ist die »metaphysische Welterklärung« gewissermaßen blind für das Sittliche, d. h. für die Problematik, der der Mensch in seinem konkreten Leben ausgeliefert ist.223 Und schließlich begegnet die Kritik am Verlust des Lebensbezuges in der Wissenschaft bei Bultmann, der seine Prägung durch Herrmann mit dem Einfluss Heideggers verbindet.224 WuG II [16], 277f. WuG II [10], 97. Auch sonst ist zu beobachten, dass Ebeling Begriffe formal in Anlehnung an Heidegger bildet, die aber inhaltlich allenfalls eine eigene Weiterführung oder auch ganz unabhänghig vom entsprechenden Heideggerschen Begriff sind. Dazu zählt die »theologische Differenz« zwischen Schöpfer und Geschöpf, die Ebeling selbst wegen der formalen Nähe inhaltlich von Heideggers »ontologischer Differenz« abgrenzt (WuG II [10], 97f), oder auch Ebelings Fundamentaltheologie, die an Heideggers »Fundamentalontologie« erinnert. 220 S. o. S. 30–33 sowie 45f. 221 HERRMANN, Metaphysik, 8; s. o. S. 67. 70. 222 HERRMANN, Religion, 119, s. o. 88–92, und Lage, 52, s. o. S. 107f sowie S. 109f. 223 S. o. S. 88–90. 224 S. o. S. 147–150. 218 219

III. Aspekte des Metaphysikverständnisses

227

In diesem Horizont versteht Ebeling die objektivierende Methode des Welterkennens, das die Metaphysik bestimmt, als Abstraktion von der Existenz des Menschen225 und diese Abstraktion wiederum als Gegensatz zur Zeitlichkeit beziehungsweise Geschichtlichkeit des Lebens.226 Bereits seine »verständnisvolle Interpretation« der quinque viae bei Thomas versteht Ebeling als »Kritik am metaphysischen Denken«.227 Denn Ebeling hat in der Auslegung herausgearbeitet, was er für die verschütteten Grundlagen dieses Denkens hält. Wie Bultmann die Aussagen der natürlichen Theologie als »Wissen des Menschen von sich selbst« versteht,228 führt Ebeling damit die rationale Theologie in Wahrheit auf die Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Existenzsituation zurück. a)

Das Problem der Neutralität

Demgegenüber bezeichnet Ebeling das Vorgehen des metaphysischen Denkens, als »Neutralisierung des Existenzbezuges«. Dies aber führt seiner Auffassung nach zu einer falschen Gotteserkenntnis, weil »das Gottsein Gottes die Situation neutraler Distanz schlechterdings ausschließt«.229 Was versteht Ebeling nun genau unter der Existenz des Menschen und welche konkreten Probleme sieht er durch die Ablösung von ihr, also durch den Standpunkt der »Neutralität«? Ebeling kontrastiert die »zeitlosen Gefilde metaphysischer Spekulation« mit dem Versuch, Gott »konkret zu denken«, d. h. »streng in Beziehung auf unsere Wirklichkeit«. Er setzt zunächst sehr weit an und verweist auf »all das, was in Raum und Zeit uns angehen und andringen mag«, um dann die menschliche Wirklichkeit letztlich auf die Sünde zu fokussieren: »Man kann aber nicht nüchterner diese unsere Wirklichkeit zur Sprache bringen als im Hinblick auf unser Verfehlen und Verfallen, also auf Schuld und Tod, was ja miteinander zusammenhängt: denn ›der Stachel des Todes ist die Sünde‹ (1. Kor 15, 56).«230 WuG II [11], 45; [16], 278. Wesen, 90; WuG I [1], 33; WuG II [15], 240; [13], 384. 227 WuG II [16], 277. 228 BULTMANN, Offenbarung, 82; s. o. S. 157f. 229 WuG II [16], 278. 230 Wesen, 90/70. Die Bestimmung »konkret« greift auf Ebelings BonhoefferInterpretation zurück. Ebeling zitiert Bonhoeffers Frage nach der »Konkretion in der Verkündigung« und betrachtet diese als Kern der Theologie Bonhoeffers; WuG I, 298. In seinem großen Bonhoeffer-Aufsatz nimmt Ebeling mit dem Wort »konkret« Bonhoeffers Anliegen auf, christliche Begriffe angesichts der Lage des Christentums in der Gegenwart ›nicht-religiös‹, d. h. so zu interpretieren, »daß sie nicht an unserer Wirklichkeit vorbeigehen« oder aus Angst vor dem Verlust des Glaubens in der modernen Welt in einer religiösen Sonderwirklichkeit isoliert werden, »sondern unsere Wirklichkeit im ganzen betreffen«; WuG I [2], 113f. Bonhoeffer leitete das Predigerseminar der Bekennenden Kirche in Finkenwalde, das Ebeling 1936/37 besuchte, und setzte sich auch für Ebelings Arbeit an einer Dissertation 225

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6. Kapitel: Die Metaphysikkritik in den frühen Arbeiten

Ebeling folgt hier Bultmann, der, wie wir gesehen haben, die Notwendigkeit des Menschen in der Theologie betont, weil der jenseitige Gott nur als der »ganz Andere« verstanden werden kann, wenn er als Gegenüber zum sündigen Menschen in Betracht kommt.231 Auch für Ebeling hat die Kritik an der »Situationsvergessenheit« der Metaphysik, wie bereits beschrieben, einen hermeneutischen Grund: Weil das Wort Gott etwas Grundlegendes in der Wirklichkeit des Menschen anspricht, ist es ohne diesen Kontext nicht oder zumindest nicht ausreichend zu verstehen. Die menschliche Wirklichkeit aber ist für Ebeling grundlegend bestimmt durch eine Heillosigkeit, die aus der Sünde des Menschen hervorgeht.232 Deshalb muss, wer Gott angemessen verstehen will, ihn »konkret denken«, d. h. in Beziehung auf die durch die Sünde hervorgerufene Heillosigkeit des Daseins.233 Erst wenn man den Bezug zum Menschen beziehungsweise zur Existenz mit den Auswirkungen der Sünde gleichsetzt, ist verständlich, was Ebeling genau meint, wenn er kritisiert, dass das scholastische Modell der »Stufenfolge natürlicher und übernatürlicher Erkenntnis« das Verhältnis zwischen Vernunft und Glaube »neutralisiert«.234 Die Vernunft wird als notwendiges Fundament der Offenbarung betrachtet, wodurch die Offenbarung ihr kritisches Potential gegenüber der Vernunft nicht geltend machen kann. Mit dem Begriff der »Neutralisierung« wirft Ebeling der metaphysisch begründeten Gotteslehre also vor, die Wirklichkeit der Sünde nicht radikal genug auf die natürliche Vernunft anzuwenden. Diese Gotteslehre setze »in der ungestörten Beziehung zu Gott« an statt wie bei Luther »in der heillosen Situation des Menschen vor Gott«. Mit der Verwendung der metaphysischen Gotteserkenntnis stelle die Theologie ihre Gotteslehre auf eine »soteriologisch neutrale Basis«.235 Wenn so die Realität der Sünde ausgeblendet ist, entfällt allerdings ein, Weg, 22f; dazu und zur Verbundenheit zwischen Bonhoeffer und Ebeling s. BEUTEL, 46–54. 231 In diesen Zusammenhang gehört die bekannte Aussage »will man von Gott reden, so muß man offenbar von sich selbst reden« (BULTMANN, Sinn, 28), die Bultmann am Ende seiner Ausführungen unter Bezug auf Herrmanns »Von Gott können wir nur sagen, was er an uns tut.« (HERRMANN, Wirklichkeit, 314) erklärt – was letztlich auf Ritschl zurückgreift, für den Gott ausschließlich als Heilswille, d. h. in seinem Handeln am Menschen erkennbar ist. 232 Vgl. WuG III [24], 268. Es ist aber zu beachten, dass Ebeling sehr zurückhaltend mit dem Begriff »Sünde« umgeht, nicht um der Sache aus dem Weg zu gehen, sondern um Missverständnisse zu vermeiden; vgl. WuG II [16], 260f; WuG III, 178. 221. 377. Deshalb spricht er stattdessen oft von »Heillosigkeit« oder verbindet den Begriff »Sünde« mit ihrer Interpretation als »Unglauben«, Wesen, 147. 173–177; WuG III [25], 180–184; [24] 268. 233 Wesen, 90f. 102f; WuG I, 378f. 234 WuG II [16], 278. Ebeling bezeichnet die Formel »gratia non tollit naturam, sed perficit« bei Thomas (STh I, q. 1 a. 8 ad 2) als »wohlgefügte Harmonisierung«; WuG II [15], 243. 235 WuG II [16], 283.

III. Aspekte des Metaphysikverständnisses

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auch der hermeneutische Rahmen, der das Wort Gott verständlich macht. Und deshalb wendet Ebeling ein, dass Gott überhaupt nicht erfasst ist, wenn der das Heilshandeln Gottes notwendig machende Kontext der Sünde außer Acht gelassen ist: »Ist Gott erkannt, wenn er nicht auf die Existenznot des Menschen bezogen ist? Ist es überhaupt Gotteserkenntnis, was dem Menschen nicht zum Heil ist?«236 Wie Ritschl, Herrmann und Bultmann lässt auch Ebeling als wirkliche Gotteserkenntnis nur die soteriologische gelten. Neben dieser Traditionslinie begegnet die Sünde als entscheidendes Argument gegen die Metaphysik beziehungsweise natürliche Theologie auch bei Karl Barth, der hier, wenn vermutlich auch nicht als Auslöser, so doch zumindest verstärkend auf die Auffassung Ebelings eingewirkt hat.237 Aus diesem Grund kritisiert Ebeling auch die Ablösung des Seins Gottes von der übrigen Glaubenserkenntnis. Dass, wie bereits erwähnt, die mit dem metaphysischen Gottesverständnis einsetzende Theologie die »Erkenntnis der Existenz Gottes« nicht zu den eigentlichen Glaubensartikeln, sondern nur zu deren »Voraussetzung«, zu den »praeambula fidei«, zählt, stellt für Ebeling »problematischerweise ein erster Schritt eindeutiger, neutraler Gotteserkenntnis« dar.238 Um wirklich von Gott zu sprechen, d. h. im Wissen darum, was das Wort »Gott« wirklich meint, ist es nach Ebeling notwendig, die Bedeutung Gottes für die Existenz des Menschen zu berücksichten, also die soteriologische Perspektive. Und das heißt wiederum, dass dabei der gesamte christliche Glaube mit erfasst ist. Deshalb sieht sich Ebeling veranlasst, die Frage nach dem Sein Gottes gegen ihre scholastische Behandlung als praeambulum fidei und unter Berufung auf Luther als Grundfrage der gesamten Theologie zu bezeichnen: Es wäre nicht von Gott die Rede, wenn nicht das Ganze der christlichen Lehre und wenn nicht der Mensch schon dabei wäre, so nämlich, daß es in der christlichen Lehre ebenso wie in der Existenz des Menschen um gar nichts anderes geht als um die Grundbehauptung des Seins Gottes.239

Die »wahre Gotteserkenntnis« richtet sich auf den »für uns und mit uns seienden Gott« als Summe des christlichen Glaubens, ebenso wie umgekehrt »wahre Erkenntnis des Menschen« nur möglich ist, wenn sie den Menschen aus dieser Perspektive des Glaubens heraus versteht – und das heißt eben in Bezug auf den erlösenden Gott. In diesem Sinn betont Ebeling, dass Gott und Mensch in der

WuG II [15], 256; vgl. [20], 295: »Eignet dem Reden von Gott nicht Notwendigkeit im strengen Sinne, so ist es sinnlos.« 237 Vgl. KD I/1, 134f. Dass Ebeling sich, gerade in seinen frühen Jahren, nicht nur kritisch mit Barth befasste, zeigen einige biographische Notizen, z. B. WuG IV, 429f; Weg, 8. 16. 35. 39. 238 WuG II [16], 285f. 239 Luther, 284; vgl. 281f; Wesen, 92; WuG I [6], 362; WuG II [16], 265f. 236

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6. Kapitel: Die Metaphysikkritik in den frühen Arbeiten

Theologie »nicht zwei Themata, sondern ein einziges« darstellen – »voneinander getrennt, werden beide verfehlt«.240 Diese Ablehnung einer Erkenntnis Gottes ›an sich‹ ist in Ebelings theologischem Hintergrund über Bultmann vorwiegend mit hermeneutischen Argumenten begründet. Schon in Zusammenhang mit Ebelings Kritik an der Vorstellung vom »Ansichsein Gottes« wurde darauf hingewiesen, dass auch Ritschl die Erkenntnis Gottes und Christi in ihrem isolierten Wesen »an sich«, d. h. ohne die auf den Menschen wirkende Offenbarung, als »schlechte Metaphysik« beziehungsweise als »Platonismus« ablehnt.241 Später kehrt dieser Gedanke wider als Ablehnung einer ›neutralen objectiven‹ beziehungsweise ›uninteressirten‹ Gotteserkenntnis. Unter Berufung auf Luthers Großen Katechismus betont Ritschl, dass wirkliche Gotteserkenntnis nur als ein ›Werthurtheil‹ möglich sei. Man könne nicht zunächst eine »›uninteressirte‹ Erkenntniß Gottes« in seinem für sich gedachten Wesen entwerfen, um von dort aus seinen »Werth für uns« festzustellen. Eine solche Trennung von »Erkennen und Vertrauen« des Menschen nennt Ritschl in Bezug auf Gott ein »wahrheitswidriges Verfahren«.242 Auch Herrmann sieht den Menschen als konstitutiven Bestandteil der dogmatischen Ausführungen, wenn er das metaphysische Verständnis der »Natur« Christi unabhängig von der Bedeutung seines Wirkens für den Glaubenden ablehnt243 oder die Gottesvorstellung von den Erfahrungen des Menschen her verständlich macht und so beispielsweise feststellt, dass die Dogmatik in ihrem gesamten Verlauf die »Gewißheit von Gott, in der ein Mensch die Welt überwindet«, darstellt.244 Darüber hinaus lässt sich diese Auffassung letztlich auf Schleiermacher zurückführen, für den Gott nur über das Subjekt beziehungsweise das Selbstbewusstsein des Subjekts, etwa das »Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit«, erkennbar ist.245 Auf ihn beziehen sich bewusst sowohl Ritschl, der sich auf die »Methode« Schleiermachers beruft, aber auch Ebeling.246 240

Wesen, 134f. S. o. S. 210 sowie im Ritschl-Kapitel S. 30–33. 242 RITSCHL, RuV3 III, 202f; s. o. S. 49f. In RuV3 I, 220 setzt Ritschl »neutrale objective«, »uninteressirte« und »metaphysische Erkenntniß Gottes« gleich. Ebelings Formulierung in WuG II [16], 278, dass die vom Menschen absehende neutrale Beschreibung des metaphysischen Denkens sich »über sich selbst . . . und zugleich über Gott« »täuscht«, bildet übrigens eine doch recht auffällige Parallele zu Ritschls Formulierung, dass der »durch Analyse der Erfahrung an der Welt« gewonnene Gottesbegriff einen »Fall des mit Selbsttäuschung behafteten Vertrauens« und somit eine »täuschende Vorstellung von Gott« darstellt; RITSCHL, RuV3 III, 203. 243 S. o. S. 75f. 244 HERRMANN, Lage, 85f; s. o. S. 117f. 245 Z. B. SCHLEIERMACHER, CG, § 4, 4 = 28–30. 246 S. z. B. RITSCHL, RuV3 III, 22f; TuM, 54 sowie EBELING, WuG II [23], 324–326; WuG III, 116–136, bes. 118–123. 241

III. Aspekte des Metaphysikverständnisses

6.

231

Metaphysik als heillose Gotteserkenntnis

Weil die metaphysische Gotteserkenntnis von der »Situation« des Menschen abstrahiert, kann sie die Existenzproblematik des Menschen nicht lösen und somit nicht, wie es Sinn des christlichen Glaubens und der Verkündigung ist, dem Heil des Menschen dienen. In diesen Gedanken mündet nun Ebelings Kritik an der theologischen Verwendung der Metaphysik. Dies macht er einerseits an Luthers Unterscheidung von theologia crucis und theologia gloriae deutlich, also wieder an der historischen Frontstellung Luthers gegen die Scholastik, aber auch durch die Gegenüberstellung von Luther und Descartes, durch die der zeitgenössische Kontext des Streites um Bultmanns Entmythologisierung durchschimmert. a)

Theologia gloriae und theologia crucis

Unter Berufung auf die Reformation grenzt Ebeling, wie dies schon bei Ritschl und Herrmann der Fall war,247 die metaphysische von der christlichen Gotteserkenntnis durch den »soteriologischen Aspekt« ab.248 Die metaphysische Gotteserkenntnis ist für Ebeling nicht nur widersprüchlich, sondern auch heillos. Um dies zu zeigen, greift Ebeling Luthers Unterscheidung von theologia gloriae und theologia crucis aus der Heidelberger Disputation von 1518 auf. Nach Ebeling kennzeichnet Luther mit dem Ausdruck theologia gloriae den »Grundzug« der philosophischen Gotteserkenntnis in der scholastischen Theologie. Deren Aufstieg »vom Sichtbaren zum Unsichtbaren« kenne »den herrlichen Gott, den Deus gloriosus in seinen metaphysischen Eigenschaften« und eben nicht den in seinem Kreuzesleiden verborgenen Gott. Für Ebeling ist »die der Vernunft evidente Unsichtbarkeit des Deus gloriosus« aber nichts anderes als die »Glorifizierung der Welt«. In kritischer Anspielung auf den scholastischen Naturbegriff identifiziert er diese Erkenntnis Gottes als Prinzip der Welt mit der »Bestätigung des menschlichen Strebens, . . . sich selbst in seinen Werken zu verwirklichen«. Seine ganze Ablehnung der metaphysischen Gotteserkenntnis kommt schließlich darin zum Ausdruck, dass er die in ihr vorgenommene Analogisierung von Gott und Welt auf das »Prinzip der Gleichschaltung« zurückführt.249 Diese Gotteserkenntnis setzt Ebeling unter Berufung auf Luther gleich mit der »spekulative[n] mystische[n] Theologie des Neuplatonismus, die in die inneren Finsternisse einzudringen und das ungeschaffene Wort zu hören und sich darein zu versenken lehrt«. Die mystische Suche der Neuplatoniker nach »dem Gott in seiner Gottheit selbst, Gott in seiner Majestät, in gänzlicher Unmittelbarkeit« 247

Unter Berufung auf Luther: RITSCHL, RuV3 I, 218f; III, 201–203; unter Berufung auf Melanchthon: HERRMANN, Metaphysik, 4. 13; Religion, 365. 248 WuG II [15], 256; vgl. WuG III [25], 176. 249 Luther, 260f.

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6. Kapitel: Die Metaphysikkritik in den frühen Arbeiten

bedeutet für Ebeling, wie er wiederum in Anknüpfung an Luther formuliert, »als nackter Mensch dem nackten Gott« zu begegnen. Dieser Deus nudus, von dem Ebeling oft im Zusammenhang mit der vernünftigen Gotteserkenntnis spricht, ist nach der Lutherstelle, auf die Ebeling verweist, der seinen Verheißungen entkleidete Gott. Ebeling verweist auf Luthers eigene »Erfahrung«, um deutlich zu machen, was diese Gotteserfahrung bedeutet, wenn sie nicht im Bereich der bloßen Spekulation bleibt: »Diese Gotteserfahrung ist die Hölle.«250 Ebeling kombiniert hier vier verschiedene Texte Luthers. Zur spekulativ-mystischen Versenkung führt er eine Stelle aus der Römerbriefvorlesung 1515/16 an, in der Luther von jenen spricht, »Qui secundum mysticam theologiam in tenebras interiores nituntur omissis imaginibus passionis Christi, Ipsum Verbum increatum audire et contemplari volentes« (zu Röm 5, 2: »Per quem habemus accessum per fidem«; WA 56, 299, 27–300, 2). Diese Stelle verbindet er mit einem Text aus De captivitate, in der Luther die mystische Theologie des Dionysius Areopagita kritisiert, weil sie mehr Platon als Christus folge, der doch aber »via, vita et veritas: haec scala per quam venitur ad patrem« ist (WA 6, 562, 8–14).251 Die Vorstellung des Deus nudus entnimmt Ebeling der Enarratio Psalmi 51 von 1532.252 Der Kontext betont, dass David in diesem Bußpsalm »cum deo patrum suorum, cum deo promissore, das Christus mit drin sey«, spreche und nicht wie die »hypocritae, Mahometistae etc., qui speculationibus suis ascendunt in coelum et speculantur de deo creatore« (WA 40/II, 329, 6–9). Ebeling verweist auf den Satz: »Den [in seine Verheißungen gekleideten] Gott muss man haben, Ne sit nudus deus da cum nudo homine« (330, 1f). Noch deutlicher heißt es unmittelbar vor der zitierten Stelle: »qui vult salvus fieri, relinquat deum in Maiestate, quia iste et humana creatura sunt inimici« (329, 9–11). Es geht hier also darum, dass die Spekulation nicht zum Heil führt, weil sie an Gottes Verheißungen vorbei geht und deshalb Gott »nackt«, also im Stand der Sünde, gegenübersteht. Während nun die ersten drei Stellen von der mystischen bzw. vernünftigen Spekulation über Gott außerhalb von Christus sprechen, fällt die vierte aus der Reihe. Ebeling will damit belegen, dass die vernünftige Suche nach Gott außerhalb Christi in die Erfahrung der Hölle führe.253 In dem Text aus den Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute (1518) spricht Luther von Erfahrungen der Anfechtung, die er mit der Erfahrung der Hölle und des Fegefeuers gleichsetzt (WA 1, 557, 33–558, 15), so wie auch andere Menschen diese Qualen bereits in diesem Leben erfahren müssen (557, 15–24). Ebeling setzt also den nackten Gott, den die Spekulation außerhalb seiner Verheißungen sucht, mit dem Gott gleich, mit dem es die Anfechtung zu tun hat, weil sie nicht in der Lage ist, Gott in seinen Verheißungen zu erfassen. Ein unmittelbarer Zusammenhang zur Gotteserkenntnis der Vernunft, um die es Ebeling geht, oder der Mystik existiert in diesem vierten Text allerdings nicht.

In Ebelings Lutherinterpretation gehören also der Deus maiestatis und die theologia gloriae zur Gotteserkenntnis der Vernunft und führen als solche in Heillosigkeit und Anfechtung. Nun finden sich bei Luther jedoch durchaus Stellen, in 250 Luther, 264; vgl. LuSt I [18], 267, hier unter dem »Vorwurf der Situationsvergessenheit«, sowie später, weniger scharf allerdings, LuSt II/2, 413–415. 251 Luther, 264 Anm. 15. 252 Luther, 264 Anm. 16. 253 Luther, 264 Anm. 17.

III. Aspekte des Metaphysikverständnisses

233

denen die Betrachtung der Majestät Gottes gerade nicht in die Anfechtung führt und in denen sowohl die Spekulation über Gott wie auch eine theologia gloriae durchaus als theologisch korrekt und sogar notwendig dargestellt sind.254 Wie ist Ebelings Interpretation Luthers dann aber zu erklären? Schon Ritschl kontrastiert unter Berufung auf Luther die von Christus ausgehende Gotteserkenntnis mit der metaphysischen und betont, dass es »keinen neutralen Begriff von Gott, wie die Scholastiker annehmen«, geben kann, weil diese Gotteserkenntnis nur zur furchtbaren »Majestät Gottes« und damit in Verzweiflung und Verberben führe.255 In Ebelings Darstellung stellt die der theologia crucis als Inbegriff der wahren Theologie gegenübergestellte theologia gloriae das Bindeglied dar, über das metaphysische Gotteserkenntnis, Erkenntnis der Majestät Gottes und Anfechtung miteinander verbunden sind. Nun ist zu beobachten, dass der Begriff der »theologia crucis« bei Luther selbst gar nicht häufig begegnet. Auch in der Theologie nach Luther ist er zu keiner großen Verbreitung gekommen. Dagegen wird seit den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts Luthers Kreuzestheologie nicht mehr nur, wie seit dem 19. Jahrhundert, in rein historischem Interesse in der Lutherforschung behandelt, sondern zunehmend als Programmbegriff gebraucht, um die sachgemäße Ausrichtung der christlichen Theologie überhaupt zu kennzeichnen. Besonders Walter von Loewenich stellt 1929 die Kreuzestheologie als »ein Prinzip der gesamten Theologie Luthers« dar und etabliert sie somit als Kriterium für eine sachgemäße, weil Paulus und Luther folgende Theologie.256 Unter denjenigen, die vor ihm die Kreuzestheologie Luthers untersucht haben, hebt er besonders Theodosius Harnack hervor, unter anderem deshalb, weil Harnack, indem er die Kreuzestheologie der Frage nach »Prinzip und Methode« der Theologie Luthers zuordnet, den prinzipiellen Rang der Kreuzestheologie erkannt habe.257 Harnacks zweibändige Darstellung der Theologie Luthers war gerade 1927 neu herausgegeben worden. Ähnlich wie bei Ebeling findet sich bei Harnack und Loewenich die über die theologia crucis hergestellte Verbindung von metaphysischer Gotteserkenntnis mit der

254

HELMER, Theology, bes. 239–244 sowie Trinitätsverständnis, bes. 15–19; schon Harnack zitiert Stellen, in denen Luther das Jesuskind in der Krippe oder Predigt und Sakramente gerade als Zugangsmöglichkeiten zur hohen Majestät Gottes darstellt, HARNACK, 42. 49. 255 RITSCHL, RuV3 III, 6, vgl. RuV3 I, 219f über die »uninteressirte oder metaphysische Erkenntnis Gottes«: »Wer diesen Weg einschlägt, also außerhalb Christus, nach der Methode der natürlichen Theologie, Gottes Wesen und Majestät erkennen will, würde Gott als den unberechenbaren, unheimlichen, befremdenden, rätselhaften Willen, und sich in Unseligkeit versetzt finden.« S. o. S. 48–52. 256 KORTHAUS, 3–12; LOEWENICH, 14. 257 LOEWENICH, 11f Anm. 2; s. den § 4 bei HARNACK, 41–56.

234

6. Kapitel: Die Metaphysikkritik in den frühen Arbeiten

Anfechtung258 sowie die Kreuzestheologie als Grund für die Ausscheidung der Metaphysik aus der Theologie.259 Wenn Ebelings Darstellung der Kreuzestheologie ihren Fluchtpunkt sofort in der Kritik an der philosophischen oder metaphysischen Gotteserkenntnis überhaupt hat und die ›Majestät‹ Gottes mit Heillosigkeit und Anfechtung verbindet, indem sie uneingeschränkt entweder mit dem Deus absconditus gleichgesetzt oder der spekulativen Gotteserkenntnis der Vernunft zugeordnet ist260 , so dürfte dafür die Perspektive der Lutherdeutung in der deutschsprachigen Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts verantwortlich sein, die Harnack und Ritschl bis hin zu Loewenich teilen. b)

Das Problem der Gewissheit

Ebeling ist der Meinung, dass das metaphysische Verständnis von Glaubensvorstellungen ein Gewissheitsproblem verursacht. Die »Situationsvergessenheit« der Metaphysik führt dazu, schreibt er, dass »die Gottesgewißheit nach Art der Weltgewißheit verstanden ist«. Dies macht er, wie oben gezeigt, an den Gegnern der Entmythologisierung fest, die »die neuzeitliche Herausforderung zu hermeneutischer Situationsbesinnung in Bezug auf das Reden von Gott als Angriff auf den objektiven Grund der Theologie empfunden« haben.261 Was meint Ebeling mit diesen Andeutungen? Ebeling spielt hier auf die von Luther her bekannte Unterscheidung zwischen certitudo und securitas an. Eine Gewissheit, die aus der Erkenntnis von Dingen hervorgeht, ist etwas anderes als die Gewissheit, die aus dem Glauben kommt. Den Unterschied zwischen beiden Arten der Gewissheit hat Ebeling am Vergleich zwischen Descartes und Luther herausgearbeitet. Beide hinterfragen in radikaler Weise das Überkommene, weil sie von der Frage nach wahrer Gewissheit geleitet sind. Während aber Descartes nach Ebeling den methodischen Zweifel auf den Bereich des abstrakten Denkens beschränkt und somit durch die Gewissheit aus der cogitatio überwinden kann, also indem er im isolierten denkenden Ich einen sicheren Grund gewinnt, entsteht bei Luther die Gewissheit, die die Anfechtung besiegt, im Gewissen, und das heißt für Ebeling »in dem Getroffensein des Menschen durch ein über ihn entscheidendes Urteil, dem er Recht geben muß«. Weil aber dem Menschen nach Ebeling kein abschließendes Urteil über sich selbst möglich ist, ist diese Gewissheit, um die es im Glauben geht, nicht durch das intellektuelle Vermögen zu erreichen. Descartes umgeht 258

HARNACK, 47f; LOEWENICH, 43f. HARNACK, 52–56; LOEWENICH, 26. 76f. Beide Werke führt Ebeling in der Literatur zu seinem Luther-Artikel in RGG3 IV, 516f an. 260 EBELING, Luther, 248. 264. 270f. 306; vgl. WuG II [16], 262; D I, 255; Dogmatik III, 543. 261 WuG II [16], 278. 259

III. Aspekte des Metaphysikverständnisses

235

die existentielle Begründung der »Gewissensgewissheit«, auf die Ebeling zufolge letztlich auch die Gewissheit aus dem cogito sum bezogen ist, indem er sich auf die abstrakte Erkenntnis zurückzieht.262 Abgesehen von dieser problematischen Begründung bei Descartes kommt es Ebeling nun vor allem auf die Probleme an, die aus der Verwechslung der Glaubensgewissheit mit der »Weltgewißheit« entstehen. Wenn nun gegen die hermeneutische Besinnung Bultmanns auf die »Objektivität der Offenbarung« hingewiesen wird, so versucht man in Ebelings Augen, Gewissheit aus einem Wissen statt aus dem Gewissen zu erreichen. Denn hier wird die Offenbarung zu einem Faktum objektiviert, das sich der Mensch im Glauben subjektiv aneignen muss. Damit, folgert Ebeling, ist der Glaube als intellektuelle Zustimmung verstanden, die aufgrund einer anderen Quelle, aber eben in der Struktur des vernünftigen Welterkennens biblische Texte als historische Tatsachenberichte versteht.263 Eine Glaubensgewissheit aber, die dadurch entstanden ist, dass der Mensch Glaubensvorstellungen bejaht wie er Fakten denkend zur Kenntnis nimmt, kann in der Situation der Anfechtung, deren Ort für Ebeling gerade nicht das Wissen ist, sondern das Gewissen, also das den Menschen treffende Urteil über sich, nicht bestehen.264 Das metaphysische Verständnis, das die Glaubensdinge nach Art des Verstehens von Weltdingen wie Wissensinhalte behandelt und damit ihre existentielle Dimension ignoriert, verfehlt deshalb nach Ebeling die echte Glaubensgewissheit und führt nur zu einer falschen Sicherheit. Wie die Erläuterung von Ebelings kurzen Andeutungen zeigt, weist die Auswirkung der metaphysischen »Situationsvergessenheit« über die mittelalterliche Scholastik hinaus zu dem Gewissheitsproblem, vor das Ebeling in besonderer Schärfe seine Gegenwart gestellt sieht. Ebenso wird deutlich, dass Luther hier nicht Ebelings alleinige Quelle darstellt, sondern seine Gedanken in seinem theologischen Hintergrund wurzeln, und zwar in der Auffassung Herrmanns, dass Glaubensgewissheit nicht mit den Mitteln des Welterkennens erreichbar ist. So betont Herrmann, dass religiöse »Gewißheit« nicht angewiesen ist auf den »tatsächliche[n] Befund dieser Welt«.265 Und deshalb kritisiert er die Verwendung der Metaphysik in der Theologie, um die »Glaubensobjecte« mit dem »Rüstzeug« des wissenschaftlichen Erkennens abzusichern.266 Dabei nämlich verlieren sie in seiner Ansicht ihren Bezug auf das innere Leben des Menschen und können nicht mehr auf die spezifische Problematik des Menschseins ant262 WuG II, 148–164, Zit. 163. Zu dieser Beurteilung von Descartes vgl. a. HEIDEGGER, SuZ, 95–100; Weltbild, 107–110. 263 Geschichtlichkeit, 63. 264 Vgl. Luther, 269, hier zur »falschen religiösen Sicherheit« durch die scholastische Theologie. 265 HERRMANN, Metaphysik, 9; s. o. S. 70f. 266 HERRMANN, Religion, 68f.

236

6. Kapitel: Die Metaphysikkritik in den frühen Arbeiten

worten, was aber eigentlich der Zweck der Religion ist.267 Außerdem wirkt sich in Ebelings Unterscheidung zwischen Welt- und Glaubensgewissheit die Kritik Herrmanns und Bultmanns aus, den Glauben beziehungsweise die Offenbarung, die auf die Existenzproblematik des Menschen zielen, als ein Wissen zu verstehen, das analog zum objektiv verfahrenden wissenschaftlichen Erkennen vom Menschen und seiner Existenzproblematik gerade absieht.268

IV.

Zusammenfassung

Die Untersuchung der frühen Arbeiten konnte Ebelings Metaphysikbegriff und seine Kritik daran inhaltlich präzisieren, dabei die Wurzeln im theologischen Kontext zeigen und die zeitgeschichtlichen Umstände ihrer Entstehung bestimmen. Die Entstehung der Metaphysikkritik ist deshalb aufschlussreich, weil sie das Gegenüber der Kritik zeigt und damit deutlich werden lässt, wogegen genau sich Ebeling richtet und welche Absicht er damit verfolgt. Der Streit um Bultmanns Entmythologisierung ist dabei der Anlass, an dem die Frage nach einer sach- und zeitgemäßen Theologie in reformatorischer Nachfolge aufbricht. Dass die in der orthodoxen Schultradition stehenden Lutheraner das Gegenüber Bultmanns und Ebelings sind, entspricht der Frontstellung, wie sie bereits bei Ritschl und Herrmann vorlag. In beiden Fällen wird das Festhalten der Gegner an der Tradition als eine Verleugnung des eigentlichen Anliegens der Reformation kritisiert, weil es philosophische Grundlagen zu konservieren versucht, die die reformatorische Theologie gewissermaßen aus Versehen nicht eliminiert hat. Den Lutheranern wird damit vorgeworfen, dass sie sich in Wahrheit auf die vorreformatorische Theologie berufen und somit eine Art moderne Scholastiker darstellen. Gleichzeitig wird die eigene Position der Abwendung von diesen falschen philosophischen Grundlagen als Umsetzung des wahren Anliegens der Reformation gerechtfertigt. Nachdem die Diskussion um den vernünftigen Zugang zur Theologie in der dialektischen Theologie unter dem Schlagwort der »natürlichen Theologie« geführt wurde, begegnet im Streit um Bultmann wieder das alte Schlagwort der »Metaphysik«, was sich zunächst dem Einfluss Heideggers verdankt, dann aber auch mit einer umfangreichen und akzentuierten Vorgeschichte im theologischen Kontext verbunden werden kann. Dies ist schließlich auch in Ebelings Metaphysikbegriff und Metaphysikkritik der Fall. Ebelings Metaphysikbegriff ist dabei recht weit und wenig konkret. Schon hieran wird deutlich, dass es nicht um die Auseinandersetzung mit einem be267 268

S. o. S. 90–92. S. o. S. 116 zu Herrmann, S. 143f und S. 146. 162 zu Bultmann.

IV. Zusammenfassung

237

stimmten metaphysischen Entwurf oder um eine differenzierte Untersuchung der Metaphysik geht. Allerdings setzt sich Ebelings Metaphysikverständnis aus verschiedenen Aspekten zusammen, die, auch wenn Ebeling oftmals auf den ersten Blick an Heidegger anzuknüpfen scheint, auf die Auseinandersetzung der in dieser Arbeit untersuchten theologischen Linie von Ritschl über Herrmann zu Bultmann zurückgeführt werden können. Der erste dieser Aspekte beschreibt die Metaphysik als Kausaldenken, also als vernünftige Erklärung der Welt von Gott als ihrem Grund her, wodurch Gott zu einem Teil der wissenschaftlichen Welterklärung wird. Es wurde deutlich, dass hier Einflüsse von Heideggers »Onto-Theo-Logie« und der Kritik am vorstellenden Denken vorliegen. Ebelings starkes Interesse jedoch, die Metaphysik als Kausaldenken zu bestimmen, um dann von ihr jede Teleologie auszuklammern, wird erst auf dem theologischen Hintergrund erklärbar. Dieses Verständnis ist bei Ritschl vorbereitet und dann vor allem bei Herrmann ausgeführt. Teleologie oder die Frage nach dem Ziel des Menschen gehört in den Bereich der Religion, sofern sie über die Welt und ihren mechanischen, kausal zu erklärenden Zusammenhang hinausgreift und von einem zwecksetzenden Willen ausgeht, also personal gedacht ist. Dagegen findet in der Metaphysik die Methode der kausalen Erklärung durch weltimmanente Ursache-Wirkung-Verhältnisse seine Anwendung, zu dem die causa finalis, der »Zweck« als ein mechanischer, naturgegebener Zusammenhang gehört. Dahinter steht das bei Herrmann deutlich greifbare Interesse, den Glauben aus dem Zuständigkeitsbereich des wissenschaftlichen Denkens herauszunehmen. In diesem Sinne betont Bultmann, dass der vernünftige Umgang mit der Welt lediglich vor die »Frage« nach Gott führt. Und beides bestimmt auch das Anliegen Ebelings, die Metaphysik als reines Kausaldenken zu beschreiben. Der zweite Aspekt des Ebelingschen Metaphysikverständnisses ergibt sich aus dem ersten und nimmt dessen Auswirkung in der Theologie in den Blick. Metaphysik ist hier verstanden als der vernünftige Zugang zur Theologie, also als ein Fundament, das der Theologie die Allgemeinverständlichkeit ihrer Aussagen sichern soll, dabei aber, weil eigentlich sachlich unangemessen, die ganze Durchführung der Theologie beschädigt. Zum einen geht es hier um ein außerhalb der Offenbarung gewonnenes thematisches Wissen von Gott. Ebeling interpretiert hier die quinque viae des Thomas, erkennbar unter Anknüpfung an Heidegger, in einer existentiellen Weise, die aber ebenso den Bogen zum theologischen Hintergrund schlägt, nämlich zu Herrmann und Bultmann. Und hier wurzelt auch die Beurteilung dieser Gotteserkenntnis: In seiner bedrängenden Existenzerfahrung entsteht dem Menschen die Frage nach Gott, die er aber fälschlicherweise mit einem Wissen von Gott verwechselt. Zum anderen gehört zu diesem Aspekt die Diskussion der hermeneutischen Probleme, die eine metaphysische Interpretation von Glaubensvorstellungen verursacht. Diese Problematik ist seit Ritschl ein wichtiges Argument in der Auseinandersetzung

238

6. Kapitel: Die Metaphysikkritik in den frühen Arbeiten

mit der Metaphysik in der Theologie. Aus dem theologischen Hintergrund wird dabei besonders deutlich, dass es hier um keine sachliche oder theologiegeschichtliche Auseinandersetzung mit der Metaphysik in der Theologie geht, sondern um eine zeitgenössische Auseinandersetzung, wie dies ebenso bei Ebeling durch die Parallelisierung der Metaphysik mit dem objektivierenden Denken deutlich wird. Hier steht die Frage nach einer angemessenen theologischen Hermeneutik angesichts des Positivismus und der von ihm motivierten Religionskritik im Vordergrund. Der dritte Aspekt nimmt die Metaphysik als eine überholte Philosophie in den Blick. Anders als bei Heidegger, der von einer »neuzeitlichen Metaphysik« spricht, ist die Metaphysik im theologischen Hintergrund Ebelings vor allem mit der vorneuzeitlichen Philosophie als Fundament besonders der scholastischen und altprotestantischen Theologie gleichgesetzt. Ritschl spricht auch vom »Platonismus« und meint damit die »falsche Metaphysik« der altprotestantischen Theologie, die er als unangemessene Grundlage einer modernen Theologie betrachtet. Dass die Metaphysik eine überholte Philosophie darstellt, macht sie für Ebeling, neben allen anderen Problemen, zusätzlich unbrauchbar, um den Sinn des Glaubens in der Gegenwart verständlich zu machen. Der vierte Aspekt beschreibt die Metaphysik im Gegensatz zur Geschichte und kritisiert damit ihre Ungeschichtlichkeit. Ebeling macht die Vorstellung von einer über dem zeitlichen Wandel stehenden und damit zeitlos gültigen Metaphysik verantwortlich für ihren Plausibilitätsverlust in der Neuzeit, die ganz vom geschichtlichen Bewusstsein durchdrungen ist. Außerdem sieht er sachliche Probleme, wenn der metaphysisch und damit zeitlos gedachte Gottesbegriff mit der geschichtlichen Gottesvorstellung der Bibel kombiniert wird, weil die metaphysischen Aussagen über Gott von dem in seiner Geschichte und seiner Zeit bedrängten Menschen abgelöst sind. Ähnliche Kritik an der durch die metaphysische Hermeneutik verursachte Trennung von Wesen und Wirken im Blick auf Gott und auf Christus begegnet bereits bei Ritschl und Herrmann. Außerdem verbindet Ebeling selbst seine Argumente mit dem historischen Bewusstsein der Ritschl-Schule. Der fünfte Aspekt, die »Situationsvergessenheit« der Metaphysik, ergibt sich aus dem vorangehenden Aspekt, insofern Ebeling als Konsequenz des Gegensatzes zur Geschichte die Ausklammerung der konkreten Existenz des Menschen sieht. Schon im theologischen Hintergrund war die Verbindung zur konkreten menschlichen Erfahrung, sei es über die Sittlichkeit, den Religionsbegriff und das »Werthurteil« bei Ritschl, das »Leben Wollen« des Menschen bei Herrmann oder die der Sünde verfallene Existenz bei Bultmann, konstitutiv für das rechte Verständnis der Glaubensvorstellungen, weshalb die Allgemeinheit des wissenschaftlich-objektiven Erkennens dafür entschieden abgelehnt wird. Ebenso betont Ebeling, dass die metaphysische Abstraktion von den Lebensbedingungen des Menschen den Bezug eliminiert, in den der Gottesgedanke gehört,

IV. Zusammenfassung

239

und diesen damit sinnlos macht. Deshalb kann nach Ebeling der Gottesgedanke nicht, wie im metaphysischen Denken versucht, objektiv und neutral, also unter Absehung vom Menschen bestimmt werden, sondern macht nur im religiösen Horizont, also soteriologisch Sinn. Daraus ergibt sich dann der sechste Aspekt, der Metaphysik als eine heillose Form der Gotteserkenntnis auffasst. Zum einen, weil Ebeling hier den Versuch sieht, Gott in seiner Majestät erkennen zu wollen, was er unter Verweis auf Luther als heillos und verderblich einstuft. Zum anderen, was Ebeling ebenfalls mit Luther verbindet, weil die aus dem Wissen von Dingen zu erreichende Gewissheit, die die Metaphysik anbietet, keine Glaubensgewissheit erreichen kann, die in den Bereich des Gewissens gehört. Beide Punkte finden sich über ihren Bezug zu Luther hinaus bereits im theologischen Hintergrund Ebelings, der erste bei Ritschl, der die Gotteserkenntnis als »Werthurteil« bezeichnet und außerhalb davon ebenfalls unter Berufung auf Luther als heillos auffasst, der zweite bei Herrmann, der betont, dass die Gewissheit des Glaubens nicht mit den Mitteln des Welterkennens erreichbar ist. Der Durchgang durch diese sechs Aspekte hat gezeigt, dass bereits Ebelings Metaphysikverständnis ganz von seiner Metaphysikkritik durchdrungen ist. Und zwar als Kritik an einem Ansatz, der von falschen und überholten philosophischen Grundlagen aus hermeneutische Fehler begeht, die einerseits den Glauben und sein Wesen missverstehen und andererseits den Anforderungen einer Vermittlung des Glaubens in der Gegenwart nicht gerecht werden. Damit wird deutlich, dass Ebeling seine Auseinandersetzung mit der Metaphysik nicht in historischer Perspektive führt, etwa um den Gegensatz zwischen Luther und der scholastischen Theologie zu verstehen, sondern dass die Metaphysikkritik von Anfang an ihren Sinn in der systematisch-theologischen Frage nach der Theologie in der Gegenwart hat. Hinter der Berufung auf Luther verbergen sich Gedanken, die im theologischen Hintergrund Ebelings entstanden und geformt sind. Dies gilt ebenso für die Anknüpfung an Heidegger, die sich teilweise sogar bis in die Wortwahl an ihn anlehnt. Trotz dieser vordergründigen Verbindung zeigen doch die oftmals ganz eigenständige Verarbeitung der Heideggerschen Impulse und die konkret verwendeten Argumente den Zusammenhang mit dem theologischen Kontext, der dem Anschluss an Heidegger zu Grunde liegt. Dass die Metaphysikkritik kein Nebenthema für Ebeling darstellt, sondern eine für seinen eigenen Ansatz konstitutive Auseinandersetzung enthält, wird das folgende Kapitel zeigen.

Kapitel 7

Ebelings Alternative zur Metaphysik in der Theologie Nachdem Ebelings Metaphysikverständnis deutlich wurde, soll nun dargestellt werden, wie er die Probleme vermeiden will, die der Theologie durch eine metaphysische Grundlage entstehen. Dafür soll jedem Aspekt aus Kapitel 6 die Alternative Ebelings gegenübergestellt werden. Die Darstellung folgt der Reihenfolge der Aspekte mit zwei Ausnahmen: Erstens wird die Kritik an der Metaphysik als überholter Gestalt der Philosophie (Kapitel 6.III.3.) gleich zu Beginn damit kontrastiert, wie Ebeling sich das Verhältnis von Theologie und Philosophie denkt. Dies erlaubt eine systematische Darstellung der übrigen Teile, die sich innertheologischen Fragestellungen verdanken. Zweitens sind die Abschnitte über die Metaphysik als Kausaldenken (6.III.1.) und als vernünftiger Zugang zur Theologie (6.III.2.), die ja bereits in Kapitel 6 eng miteinander verbunden waren, zusammengefasst der Frage nach dem Gegenstand der Theologie zugeordnet. Da Ebeling die Aspekte seines Metaphysikverständnisses vor allem an den Grundlagen der Theologie äußert, führt die Darstellung der positiven Alternativen zu seinen eigenen theologischen Grundlagen und zeigt damit einen Grundriss seiner Theologie. Ziel des vorliegenden Kapitels ist zu zeigen, dass Ebeling seinen theologischen Ansatz explizit im Zusammenhang mit seiner Metaphysikkritik entwirft. Als Textgrundlage dient dabei über die in der Einleitung zu Kapitel 6 genannten Texte hinaus, vor allem für die Darstellung seiner »hermeneutischen Theologie«,1 hauptsächlich die Arbeit »Gott und Wort« (1966),2 in der Ebeling eine theologische Grundlegung über die Sprache entwirft und die gewissermaßen als Blaupause für den später in der Dogmatik durchgeführten Ansatz betrachtet werden kann. Daneben gibt das Buch Das Wesen des christlichen Glaubens (1959) als ein erster längerer systematischer Entwurf Auskünfte zu Ebelings Ansatz. Am Ende des Kapitels soll ein Ausblick auf die Dogmatik zeigen, wie Ebelings Metaphysikkritik noch das späte, den systematisch-theologischen Ertrag seiner Arbeit zusammenfassende Hauptwerk von der Metaphysikkritik bestimmt ist.

1 2

S. 266ff. Zunächst separat veröffentlicht und wieder abgedruckt in WuG II [19], 396–432.

I. Die angemessene Philosophie

I.

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Die angemessene Philosophie

Wie wir im vorangehenden Kapitel gesehen haben, kritisiert Ebeling die Verwendung der Metaphysik in der Theologie unter anderem deshalb, weil er sie als eine überholte Form der Philosophie betrachtet, die mit der Neuzeit ihre Verständlichkeit, Plausibilität und damit ihren eigentlichen Sinn für die Theologie verloren hat. An dieser Kritik wird aber gleichzeitig deutlich, dass Ebeling auch das Anliegen zur Kenntnis nimmt, weswegen die alte Dogmatik die Metaphysik in Anspruch genommen hatte. Worin besteht für ihn dieses Anliegen und welche Bedeutung misst er ihm für die Theologie seiner eigenen Zeit bei? 1.

Das Anliegen hinter der theologischen Verwendung der Metaphysik

Ebeling hat sich eingehend mit der Funktion der Metaphysik in der Theologie befasst. In dem Aufsatz »Existenz zwischen Gott und Gott«3 setzt er sich mit einem im Vergleich zu seiner sonstigen Kritik auffälligen Wohlwollen mit dem vernünftigen Zugang auseinander, über den Thomas von Aquin in seiner Summa theologiae zur Theologie hinführt. Die Funktion der Metaphysik für die Theologie arbeitet Ebeling an der Gotteslehre heraus. Da Gott den gemeinsamen Bezugspunkt von Metaphysik und Theologie darstellt, findet sich die Verbindung von metaphysischer und christlich-biblischer Tradition vor allem in der traditionellen Lehre von Gott. In ihr findet nach Ebeling »die Verklammerung der Offenbarung mit der allgemeinen Wirklichkeitserfahrung« statt, um »die allgemeine Verstehensbedingung der Offenbarung« aufzuzeigen. Es geht also nicht nur um die Entfaltung einzelner Lehrstücke über Gott, sondern Ebeling betont, daß die Gotteslehre als ganze, und zwar grundlegend und wegweisend für die Dogmatik überhaupt, Welterfahrung und Offenbarungswiderfahrnis integriert, also in besonderem Maß sich dem hermeneutischen Problem der Theologie stellt.4

Der Verwendung der Metaphysik in der Theologie ordnet Ebeling damit in erster Linie eine hermeneutische Funktion zu. Die Metaphysik soll helfen, den Glauben zu verstehen. Weil der Glaube eine »Wahrheit« vertritt, die auf die »Wirklichkeit« zielt,5 ist sein Verstehen für Ebeling von der Auskunft über seinen »Wirklichkeitsbezug und Wahrheitsgehalt« abhängig und somit nur im Zusammenhang dessen möglich, »was sich dem vernünftigen Wahrnehmen als wirklich aufdrängt«.6 Dieser Zusammenhang wird in der alten Dogmatik über die Metaphysik hergestellt. Denn die Metaphysik lehrt, dass der Mensch bereits in seiner Wirk3 4 5 6

WuG II [16], 257–286. WuG II [16], 263f. Studium, 135; vgl. WuG I, 397. 404–406. WuG III, 498.

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7. Kapitel: Ebelings Alternative zur Metaphysik in der Theologie

lichkeitserfahrung mit Gott konfrontiert ist. Die Gottesbeweise bei Thomas von Aquin haben für Ebeling das aus seiner Sicht berechtigte Anliegen, ganz am Anfang der dogmatischen Entfaltung auszuweisen, was unter dem Wort »Gott« überhaupt zu verstehen ist.7 Mithilfe der Metaphysik wird diese Frage durch den Hinweis auf Gott als Ursprung und Ziel der physischen Wirklichkeit beantwortet. Damit wird das Wort »Gott« inhaltlich verständlich gemacht durch den Bezug auf Prinzipien der Wirklichkeit, die jedem Menschen durch seine eigene Erfahrung vertraut sind. Das bedeutet, wie Ebeling am Beginn der Summa theologiae des Thomas zeigt,8 dass die theologische Verwendung des Wortes »Gott« mit allgemeinem Verständnis rechnen kann: »Die Dogmatik kann deshalb mit Gott beginnen, weil der Mensch kraft seiner rationalen Wirklichkeitserkenntnis bereits beim Thema ›Gott‹ ist.« Aus der Tatsache, dass Gott »keine speziell christliche Vokabel« darstellt, folgt die allgemeine Verständlichkeit der Theologie im Ganzen.9 Die Theologie muss somit das Verhältnis von Gott und Wirklichkeit nicht herstellen oder aufdecken, sondern findet es bereits vor. Über das Wort »Gott« sind dann der Glaube und die theologischen Aussagen an das allgemeine Wirklichkeitsverstehen angeschlossen. Denn Gott bestimmt in der Theologie als Bezugspunkt alle Themen und ist deshalb nicht Gegenstand eines einzelnen Kapitels, sondern die gesamte Dogmatik ist für Ebeling in einem umfassenden Sinn als Gotteslehre zu verstehen.10 Der Bezug zur Wirklichkeit und seine hermeneutische Relevanz sind es nun auch, die Ebeling den sonst kritisierten praeambula fidei als berechtigtes Anliegen zugesteht.11 Ähnlich wie Bultmann hinter der Idee Gottes als prima causa das Anliegen sieht, die Wirklichkeit von Gott her zu verstehen,12 sieht Ebeling hinter den praeambula das »tiefe theologische Recht«, Gott nicht »als etwas Zusätzliches 7 WuG II [16], 264; vgl. [19], 416. Zur Funktion der quinque viae, die vortheoretisch gegebene Vorstellung Gottes zu klären und überhaupt zum Verhältnis von Gottesbeweisen und Glaubenserfahrung s. SLENCZKA, Gottesbeweis, bes. 14–17. 22–30. 8 STh I, q. 1 a. 1. 9 WuG II [15], 233f. Ebeling weist darauf hin, dass die Allgemeinheit des Wortes Gott bei Thomas zunächst durchaus in die »Strittigkeit« führt, denn die Theologie muss nun begründen, warum ihr Reden von Gott neben der philosophischen Gotteslehre überhaupt notwendig ist. Allerdings kritisiert er, dass Thomas diese Strittigkeit dann zu schnell hinter sich lasse, indem er Vernunft und Offenbarung in die »wohlgefügte Harmonisierung: gratia non tollit naturam, sed perficit« bringt; WuG II [15], 234–236. 243. 255f. 10 WuG II [16], 261f; vgl. Luther, 286; D I, 158. Ähnlich beschreibt Ebeling in Wesen, 92, dass die Wahrheit der »Glaubensaussagen« daran hänge, »daß Gott ist«. Ebenso betont HERRMANN , Lage, 86, dass die gesamte Dogmatik Gotteslehre ist, wie bereits S CHLEIERMACHER , CG, § 31, 2 = 166f, auf den sich auch Ebeling später beruft, WuG II [23], 333–335; WuG IV [26], 490. 11 Zur Kritik s. o. S. 207. 229. 12 S. o. S. 156.

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zur bisherigen Wirklichkeit« zu denken, sondern als etwas, »was schon immer zur Wirklichkeit des Menschen gehört, darum aber auch in seinem Schon-Sein beim Menschen in irgendeiner Weise verifizierbar ist«.13 Die praeambula bringen zum Ausdruck, dass das Wort Gott etwas anspricht, was so grundlegend zum Menschen gehört, dass es allgemein verständlich und auf dem Hintergrund der menschlichen Wirklichkeitserfahrung diskussionsfähig ist. Ebeling betont, dass die christliche Verkündigung eben dies voraussetzen muss, nämlich dass der Mensch »der von der Wirklichkeit angegangene Mensch, der Mensch unter dem Gesetz ist«. Damit ist, wie Ebeling in Anlehnung an Bultmann formuliert, ihre Verständlichkeit gegeben: »Gottlos kann der Mensch nur daraufhin sein, daß Gott zur Wirklichkeit des Menschen gehört, der gott-lose Mensch also der mit seiner Wirklichkeit im Widerspruch stehende Mensch ist.«14 Das hermeneutische Anliegen hinter der theologischen Verwendung der Metaphysik liegt nach Ebeling also darin, am Anfang der dogmatischen Arbeit zum einen den Sinn des Wortes »Gott« als Bezugspunkt aller weiteren Aussagen zu klären, und zum anderen die Wahrheit und Verständlichkeit der theologischen Sätze zu zeigen, indem auf die Beziehung Gottes zu der jedem Menschen vertrauten Wirklichkeit hingewiesen wird. Bei aller Kritik an der Metaphysik in der Theologie sieht Ebeling, wie Ritschl, Herrmann und Bultmann, hinter ihrer Verwendung also eine Notwendigkeit, der sich keine Theologie entziehen kann. Der Weg Barths und des Barthianismus, mit der Kritik an der »natürlichen Theologie« jeden Bezug auf die Wirklichkeit vor und außerhalb der Offenbarung zu verneinen, schüttet für Ebeling gewissermaßen das Kind mit dem Bade aus: »Es droht ein Offenbarungspositivismus, der nun erst recht das Wort Gottes zu einer – noch dazu unmotivierten – Ergänzung werden läßt.«15

WuG II [13], 388; vgl. WuG I [5], 340; WuG II [15], 238; [16], 286; [19], 428. Ebeling legt allerdings Wert auf den Unterschied seiner Interpretation der praeambula von der traditionellen »natürliche[n] Theologie«, weil es ihm nicht um ein natürliches Wissen von Gott gehe, sondern darum, aus der bedrängenden »faktischen Wirklichkeitserfahrung« die Notwendigkeit der christlichen Verkündigung zu begründen; WuG II [13], 389 Anm. 16. Den Grund für die Allgemeinheit des Wortes Gott sieht Ebeling selbst übrigens nicht in seiner vernünftigen Erfassbarkeit, sondern in der vorneuzeitlichen »Macht der christlichen Tradition, der kirchlichen Gewöhnung, der zum kulturellen Klima gewordenen Glaubensanschauungen«; WuG II [15], 234; vgl. Luther, 282. 14 WuG II [13], 388f. Vgl. BULTMANN, Wissenschaft, 452; s. o. 158. Wenn Ebeling den Menschen »in seiner Existenznot, seinem ziellosen Fragen nach dem Ziel« als den »hermeneutischen Ort der sacra doctrina« versteht (WuG II [15], 247), so erinnert dies auch an BULTMANN, Enzyklopädie, 153, der im Anschluss an Herrmann die Verständlichkeit des verkündigten Wortes durch die Erfahrung der »geschichtlichen Existenz« gegeben sieht. 15 WuG II [19], 427f; vgl. [16], 263. Es ist allerdings zu beachten, dass Ebeling im Blick auf Barth nicht einer plakativen Einordnung verfallen will. So weist er zum Beispiel auf die bei Barth vorhandene »Relevanz des hermeneutischen Problems« hin und betrachtet die Kirch13

244 2.

7. Kapitel: Ebelings Alternative zur Metaphysik in der Theologie

Die Bedeutung der Philosophie bei Ebeling

Ebeling betont, dass die Theologie sich mit der Metaphysik auseinandersetzen musste, »solange diese das allgemeine Wahrheitsbewußtsein beherrschte«.16 Weil der christliche Glaube nicht »Flucht ins Getto, sondern Sendung in die Welt« ist, hält Ebeling die »Begegnung« mit der Philosophie für unausweichlich. Die Wurzel der christlichen Theologie liegt für ihn in der im Glauben angelegten »Bereitschaft zu verantwortender Rechenschaft«.17 Er kritisiert also nicht die Tatsache, dass sich die Theologie überhaupt mit der Philosophie in Gestalt der Metaphysik auseinandergesetzt hat, sondern die Art und Weise, wie diese Auseinandersetzung sich auf die Theologie ausgewirkt hat. Wie wir gesehen haben, hält Ebeling in der patristischen Theologie die seiner Ansicht nach unkritische Kombination von metaphysischen und biblischen Aussagen über Gott und in der scholastischen Theologie die vorschnelle Harmonisierung von Vernunft und Offenbarung für problematisch.18 Hier haben in Ebelings Augen philosophische Gedanken den eigentlichen Sinn biblisch-christlicher Vorstellungen überlagert.19 Außerdem haben wir oben gesehen, dass Ebeling die Metaphysik neben diesen sachlichen Erwägungen für eine überholte Gestalt der Philosophie hält, die eben deshalb der Theologie die Verbindung zum allgemeinen Wahrheitsbewusstsein nicht mehr bieten kann. Da die Metaphysik nicht mehr das neuzeitliche Wirklichkeitsverständnis repräsentiert, ist die Theologie auch nicht mehr an diese historische Gestalt der Philosophie gebunden, sondern muss sich an eine aktuelle Philosophie wenden, die der Theologie ihre hermeneutische Aufgabe in der Gegenwart zu verantworten ermöglicht. Bei seinem Anliegen, die Theologie in ein differenziertes Verhältnis zur Philosophie zu setzen, gewissermaßen durch einen Mittelweg zwischen Scholastik und Offenbarungspositivismus, beruft sich Ebeling auf Luther. Es liegt ihm daran zu zeigen, dass auch Luther bei aller Kritik an der aristotelischen Philosophie nicht die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit der Philosophie verneint. Wie er betont, gehe es Luther nicht »um Aristoteles an sich, sondern um die Verwendung, die Aristoteles in der Theologie gefunden hat«.20 Er verweist darauf, dass Luther die Vernunft durchaus auch als »etwas Göttliches« hochschätzen könne. Aus Luthers »extrem gegensätzlichen Äußerungen« über die Philosophie leitet er die Aufgabe für die heutige Theologie ab, ihr Verhältnis zur Philosophie »weiterführend« zu bestimmen. Zwar kann die Theologie nicht liche Dogmatik als eine »implizite Antwort auf das hermeneutische Problem«; WuG II [5], 324. 16 RGG VI [12], 826; vgl. 798. 17 Luther, 85. 18 S. o. S. 222f und 206–216. 19 Vgl. z. B. Luther, 92. 20 Luther, 95.

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einfach Begriffe und Fragestellungen einer Philosophie übernehmen, sondern ist »für ihre Sprache« selber verantwortlich. Aber gerade zu der Verantwortung für ihre Verständlichkeit gehört nach Ebeling, dass sie ihre Sprache nicht isoliert und deshalb mit der in der Philosophie repräsentierten Allgemeinverständlichkeit konfrontiert. Für eine neue Verhältnisbestimmung von Theologie und Philosophie habe Luther, so Ebeling, »Vorarbeiten« geleistet, die eigentliche Umsetzung aber der »Nachwelt« überlassen müssen.21 Ebeling stimmt also dem Anliegen grundsätzlich zu, das die alte Dogmatik zur Verwendung der Metaphysik geführt hat. Wie aber setzt er selbst dieses Anliegen um, ohne den Problemen der patristischen und scholastischen Theologie zu verfallen? Die Verhältnisbestimmung von Theologie und Philosophie ist bei ihm von zwei Überlegungen geleitet: Einerseits will Ebeling deutlich machen, dass der Glaube im Zusammenhang mit dem allgemeinen Wirklichkeitsverständnis zu entfalten ist. Andererseits will er das theologische Verstehen vor einer Verfälschung durch die Philosophie schützen. Beide Aspekte sind nun genauer darzustellen. a)

Verifikation des Glaubens

Wenn es Ebeling um die Wahrheit und den Wirklichkeitsbezug des Glaubens geht, spricht er häufig von »Verifikation« oder »verifizieren«: »Die heutige Krise in Bezug auf das Wort ›Gott‹ . . . kann nur dann überwunden werden, wenn der Sinn des Wortes ›Gott‹ verifizierbar ist.«22 Was aber meint er mit diesem Begriff, wenn anders er damit keinen Beweis im Sinne der metaphysisch einsetzenden Theologie vorlegen will? Ebeling entnimmt den Begriff der »Verifikation« nach eigenen Angaben der angelsächsischen analytischen Sprachphilosophie, deren Wurzeln allerdings in den Neopositivismus des Wiener Kreises und zu Ludwig Wittgenstein zurückreichen. Im logischen Empirismus bezeichnet »Verifikation« die empirische und logische Überprüfbarkeit, die einen Satz als wahr oder falsch erweisen kann. Ein Satz ist dann sinnvoll, wenn man die Bedingungen angeben kann, unter denen er wahr ist.23 Ebeling greift also einen Kernbegriff der analytischen Sprachphilosophie auf, den er allerdings in seinem Sinne modifiziert. Er kritisiert das Wahrheitsverständnis des »logischen Positivismus«, das Wahrheit auf »sinnlich-empirische Feststellbarkeit« oder »logistische Verrechenbarkeit und Stimmigkeit« verenge, und fordert stattdessen einen auf das Leben bezogenen Wahrheitsbegriff. Da21

Luther, 97–99. WuG II [19], 416. 23 In diesem Sinn hat Wittgenstein in einem Gespräch mit Vertretern des Wiener Kreises den Satz formuliert, der zum Sinnkriterium im logischen Empirismus wurde: »Der Sinn eines Satzes ist die Methode seiner Verifikation.«, WAISMANN, 79. 22

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7. Kapitel: Ebelings Alternative zur Metaphysik in der Theologie

mit meint Ebeling nicht die von der analytischen Philosophie selbst vollzogene Wende von der Erarbeitung einer idealisierten Wissenschaftssprache zur Untersuchung der Alltagssprache, sondern zielt auf eine theologische Sicht der Wahrheit. Er weist darauf hin, dass der Mensch theologisch gesehen von sich aus gar nicht in der Wahrheit lebt und deshalb erst zur Wahrheit befähigt werden muss: »Hier wird die Frage der Verifikation von Sprache durch die Frage nach der Verifikation des Menschen überholt.«24 Darin scheint Ebelings Grundprogramm auf, das weiter unten noch genauer beschrieben werden wird. Entscheidend für Ebeling ist nun aber eine Modifikation, die er selbst gar nicht benennt, nämlich die hermeneutische Ausrichtung des Begriffs der »Verifikation«. Der analytischen Philosophie zustimmend verortet Ebeling die Wahrheit »im sprachlichen Umgang mit der Wirklichkeit«.25 Wahrheit ist also auf die sprachliche Erfassung der Wirklichkeit bezogen und deshalb kann die Wahrheit einer Aussage nur durch den kritischen Bezug auf die Wirklichkeit, die sie zu erfassen beansprucht, überprüft werden. Und so setzt Ebeling das »Problem der Verifikation des Redens von Gott« gleich mit der »Frage, inwiefern das theologische Reden an der jeden Menschen angehenden Wirklichkeit Anhalt hat«.26 Dies zu zeigen ist für ihn nun aber nicht möglich durch den Bezug auf eine logisch oder empirisch festgestellte Wirklichkeit, sondern eine hermeneutische Aufgabe. Denn welchen Sinn eine Aussage macht, hängt hermeneutisch gesehen von dem Kontext ab, auf den sie bezogen ist. Je nach Kontext kann eine Aussage sinnvoll oder sinnlos sein. Und ob dieser Sinn verstanden werden kann, hängt davon ab, ob er an etwas anknüpfen kann, das der Verstehende kennt. Der hermeneutisch modifizierte Begriff der »Verifikation« zielt somit darauf, den Zusammenhang aufzudecken, in dem eine Aussage sinnvoll, also wahr ist und verstanden werden kann. In diesem Sinn ist es zu verstehen, wenn Ebeling der »Verifikation« den Zweck zuschreibt, in Beziehung zum »allgemeinen Wahrheitsbewusstsein« und »zu der jedermann zumutbaren Wirklichkeitserfahrung« die Bedingungen für »rechtes Reden von Gott zu erfassen«.27 Die analytische Philosophie bildet, neben den Bezügen vor allem zu Fuchs und Heidegger,28 einen aufschlussreichen Hintergrund für Ebelings Ausführungen über die Sprache. Gegen die dort entwickelte Sprachauffassung hebt Ebeling sein Sprachverständnis kritisch ab. Er scheint dabei vor allem die frühe Phase der analytischen Philosophie im Blick zu haben, also den frühen Wittgenstein und den logischen Positivismus des Wiener Kreises. So stellt er im Zusammenhang seiner Abgrenzung vom ›signifikativen Sprachverständnis‹ eine radikale

24 25 26 27 28

Sprachlehre, 215f. Sprachlehre, 216. WuG II [11], 48; vgl. [22], 187. WuG II [22], 187; vgl. WuG II [11], 43. – Zum Begriff »Reden von Gott« s. u. S. 266f. Vgl. WuG II [19], 402 Anm. 4; [21], 97; Sprachlehre, 107.

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Verengung der Sprache in der Neuzeit auf ihre »Zeichenfunktion« fest, wodurch »das Wort auf die Chiffre und der Wortzusammenhang im Satz auf den Kalkül reduziert« werde.29 Dies entspricht der Auffassung des frühen Wittgensteins und des logischen Positivismus, die die Sprache rein formal als Gefüge von Regeln zur Erzeugung von Aussagen betrachten. Die Sprache gilt als eine empirisch erfassbare Gegebenheit, die logisch-mathematisch analysiert werden kann. Die Philosophie soll dabei auf die formale Aufgabe beschränkt sein, eine streng logische Idealsprache zur Verfügung zu stellen, mit der die Wissenschaften sinnvolle Sätze aufstellen können.30 Matthias Petzoldt hat sicherlich Recht, wenn er feststellt, dass Ebelings Bild von der analytischen Philosophie sich einer »begrenzten Wahrnehmung der angelsächsischen Diskussion« verdankt. Es ist in der Tat erstaunlich, dass Ebeling die Nähe seiner Sprachauffassung zur Sprechakttheorie John L. Austins nicht erwähnt.31 Wenn er das Verfahren der »Sprachanalyse« als »naturwissenschaftlich und logistisch« bezeichnet, wird deutlich, dass er die frühen Vertreter der analytischen Philosophie mit ihrer Suche nach der streng logischen Idealsprache vor Augen hat.32

WuG II [19], 408f. Der in der formalen Logik und Mathematik elementare Begriff des Kalküls für ein System von Regeln wird in der frühen analytischen Philosophie auf die Sprache angewendet und spielt in diesem Sinne beispielsweise bei Rudolf Carnap eine wichtige Rolle. Auch Wittgenstein notiert, er sei in seiner früheren Sprachauffassung davon ausgegangen, »daß, wer einen Satz ausspricht und ihn meint, oder versteht, damit einen Kalkül betreibt nach bestimmten Regeln«; PU I, 81. HEIDEGGER, Satz, 172f hat das Wort »Kalkül« der rationalen Engführung des begrifflichen Denkens zugeordnet. 31 PETZOLDT, 447f. Allerdings zitiert Ebeling WuG II [19], 417 Anm. 12 im Zusammenhang mit dem Begriff der »Wortsituation« aus den Philosophischen Untersuchungen des späten Wittgenstein. Dessen Abwendung von der frühen Philosophie der Idealsprache hin zu einer Philosophie der Alltagssprache wird dort am Begriff des »Sprachspiels« deutlich, das auch Austin wichtige Anstöße liefert. Wittgenstein will damit den Reichtum der Satzformen und die Entwicklungsdynamik der Sprache zum Ausdruck bringen: »Das Wort ›Sprachspiel‹ soll hier hervorheben, daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform.« (PU I, 23) Wittgenstein wendet sich gegen die Reduktion der Sprache auf die Funktion der »Benennung« (PU I, 27). Ebeling zitiert aus PU I, 43: »Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.« Vgl. PU I, 432. 32 WuG II [19], 402. »Logistik« ist hier im alten Sinne als mathematische oder »symbolische Logik« zu verstehen, wie sie etwa bei RUSSELL, The Principles of Mathematics (1903), besonders das zweite Kapitel über »Symbolic Logic«, oder bei CARNAP, Abriss der Logistik (1929) dargestellt ist. Auch wenn Ebeling WuG II [19], 402 Anm. 4 mit James Opie Urmson und Frederick Ferré auf spätere Vertreter verweist, so ist doch zu beachten, dass die zitierten Werke über weite Strecken historiographischen oder beschreibenden Charakter haben, wie z. B. die Darstellung von Geschichte, Sinn und Problem des »verification principle« bei URMSON, 107–114. 168–172. 29 30

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7. Kapitel: Ebelings Alternative zur Metaphysik in der Theologie

Dies bedeutet nun aber nicht, dass Ebeling die analytische Philosophie im Unterschied zur hermeneutischen einfach ablehnt. Petzoldt ist offenbar dieser Meinung, wenn er Ebeling in die Nähe Gadamers rückt und Ebelings Bild von der analytischen Philsophie als »belastet« von der »Kontroverse mit Hans Albert« versteht: Auch wenn Ebeling in der Sprachlehre von 1971, anders als noch in »Gott und Wort«, das »gemeinsame hermeneutische Interesse« von Hermeneutik und Sprachanalyse erkenne, so repräsentiere Hans Albert für ihn immer noch »eine markante Position der analytischen Sprachphilosophie«.33 Tatsächlich aber führt Ebeling Hans Albert in der Sprachlehre gerade deshalb an, weil dieser die hermeneutische und die analytische Sprachbetrachtung »auf einen Nenner« bringt, indem er beide als »verschleierten ›Positivismus‹« kritisiert.34 Auch Ebelings Anliegen besteht darin zu zeigen, dass man beide nicht in ein »konträres Verhältnis« setzen darf,35 so sehr die Hermeneutik eher an den »sogenannten Geisteswissenschaften«, die Sprachanalyse hingegen eher »an den Naturwissenschaften« orientiert sei: »Doch auch hier treten Überschneidungen auf, die eine so glatte Formel nicht erlauben.« Stattdessen erkennt Ebeling eine »gewisse Konvergenz der Fragestellung«.36 Diese Sicht ist nun nicht erst, wie Petzoldt meint, in der Sprachlehre vorhanden. Schon an den Äußerungen in »Gott und Wort« wird deutlich, dass Ebeling hermeneutisches »Verstehen« und sprachanalytische »Verifikation« zu einem gemeinsamen Anliegen verbindet: »Das Problem ist dann: Wie sind Aussagen verstehbar und verifizierbar, die etwas bezeichnen, was sich, wie es scheint, der Erfahrung entzieht?«37 Der auf diesen Satz folgende Absatz in dem Aufsatz »Gott und Wort« zeigt deutlich, dass Ebeling hermeneutische und analytische Philosophie zu einer »Sprachproblematik« zusammenführt, innerhalb derer für ihn die Theologie den Sinn des Wortes »Gott« aufzuweisen hat. Zunächst spielt Ebeling auf sprachanalytische Überlegungen an, wenn er Aussagen über Gott in der Alternative sieht, entweder »als sinnlos abgetan [zu] werden« oder in ihrem ursprünglichen Sinn entkräftet zu werden, indem sie lediglich als uneigentliche Redeweise akzeptiert werden.38 Die Probleme der Verbindung von Gott und Sprache fasst Ebeling

33

PETZOLDT, 447. Sprachlehre, 107. 35 Sprachlehre, 184. 36 Sprachlehre, 185f. 37 WuG II [19], 402, vgl. WuG II, 152f sowie PILNEI, 228 Anm. 124. 38 CARNAP, 61f beispielsweise bezeichnet »das Wort ›Gott‹« als »Scheinbegriff«, weil dafür keine »Definition«, d. h. für Carnap eine »Zurückführung auf Beobachtbares«, angegeben werden kann. Und der späte Wittgenstein versteht religiöse Sätze als »Lebensregeln in Bilder gekleidet«; WITTGENSTEIN, Bemerkungen, 490f. Vgl. a. die Darstellung bei FERRÉ, 18–41. 121–135. 34

I. Die angemessene Philosophie

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dann aber in einer Anspielung auf die hermeneutische Philosophie zusammen: »Angemessen scheint allein das Schweigen von Gott.«39 An diesen durch hermeneutische und analytische Philosophie hergestellten Problemkontext im Blick auf das Reden von Gott in der Gegenwart knüpft Ebeling mit dem Begriff »Verifikation« an, indem er den analytischen Begriff im hermeneutischen Sinn umsetzt.40 Sowohl der Begriff der »Verifikation« wie auch die Auseinandersetzung mit dem logischen Positivismus und der analytischen Philosophie tragen dabei sachlich nichts Neues zu Ebelings Theologie bei. Vielmehr kann Ebeling dadurch zeigen, dass sein Ansatz der Kritik der zeitgenössischen Philosophie, analytische wie hermeneutische, begegnen kann, teilweise sogar mit Grundforderungen übereinstimmt und den »Sinn« des »Redens von Gott« gegen ihre Einwände darlegen kann. Die »Verifikation« ersetzt bei Ebeling damit den alten »Beweis«, für den die Theologie traditionell die Metaphysik in Anspruch genommen hat.41 b)

Auslegung des Gesetzes

In welcher Form aber kann das durch die Philosophie erfasste allgemeine Wirklichkeitsverstehen die Theologie bestimmen, ohne sie zu überfremden oder zu verfälschen? Wie Ritschl, Herrmann und Bultmann, die gerade die Einbeziehung der Philosophie mit der Forderung nach Eigenständigkeit der Theologie verbunden haben, betont Ebeling, dass es nun nicht darum gehe, »die Theologie statt der aristotelischen einer anderen Philosophie auszuliefern«,42 sondern die Aufgabe besteht in der »rechten unterscheidenden Inbeziehungsetzung von Philosophie und Theologie«.43 Für die Verhältnisbestimmung zwischen beiden legt Ebeling die reformatorische Unterscheidung von Gesetz und Evangelium zu Grunde. Während die 39

Dieser Satz greift HEIDEGGER, Identität, 45 auf: »Wer die Theologie, sowohl diejenige des christlichen Glaubens als auch diejenige der Philosophie, aus gewachsener Herkunft erfahren hat, zieht es heute vor, im Bereich des Denkens von Gott zu schweigen.« Daneben mag hier auch der Schlusssatz in Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus mitschwingen: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.«, WITTGENSTEIN, TLP, 85 (Nr. 7), vgl. 9 (Vorwort). Vgl. allerdings schon die Forderung bei HERRMANN, Wirklichkeit, 291, dass die Wissenschaft ihre Grenzen anerkennen müsse: »Und dann schweigt sie zu der Frage, ob der lebendige Gott der Religion Wirklichkeit sei.« 40 In Sprachlehre, 187 schließt er sich in der Verhältnisbestimmung von Hermeneutik und Sprachanalyse an KARL OTTO APEL, »Wittgenstein und das Problem des hermeneutischen Verstehens«, ZThK 63 (1966), 49–87 an, bei dem »für die Verhältnisbestimmung die Orientierung am Verstehensproblem maßgebend« sei; auf diesen Aufsatz verweist er bereits in WuG II [19], 402. 41 Vgl. WuG II [11], 43; [17], 119; [13], 388 u. ö. 42 Luther, 97f. 43 Luther, 86.

250

7. Kapitel: Ebelings Alternative zur Metaphysik in der Theologie

Theologie sich »im Horizont des Gewissens« mit der Erschließung des Menschen durch das Wort Gottes, also mit dem Geschehen des Evangeliums befasst, das auf Glaubensgewissheit zielt, hat Ebeling zufolge die Philosophie »im Horizont der Vernunft« die Erschließung der Wirklichkeit zum Gegenstand.44 Ebeling versteht die Unterscheidung von Philosophie und Theologie als »eigentliche Konkretion« der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium »im Felde des Denkens«. Dabei wird deutlich, wie Philosophie und Theologie zusammengehören: »Gerade weil die Theologie am Evangelium orientiert ist, hat sie mit dem Gesetz zu tun, aber auch nur insofern!« Die Beziehung von Gesetz und Evangelium, die gerade (und nur) im »Widersprechen« als ein »Entsprechen« aufeinander bezogen sind, liefert für Ebeling in den reformatorischen Lehren vom Gebrauch des Gesetzes und der Zwei-Reiche-Lehre die Perspektive zur Reflexion des Verhältnisses von Theologie und Philosophie. Als »höchste Möglichkeit des Menschen« stellt die Philosophie ein »besonders signifikantes Zur-Sprache-Kommen des Gesetzes« dar.45 Damit bestimmt Ebeling genau wie Bultmann die Philosophie als Ausarbeitung des Gesetzes. Sie besitzt eine hermeneutische Funktion für das Verständnis des Evangeliums, insofern dieses sich widersprechend auf die als Gesetz verstandene Wirklichkeit bezieht.46 Wie Bultmann, der die Philosophie vom Standpunkt des Glaubens aus als Ausarbeitung des »ungläubigen Daseins« versteht,47 ordnet Ebeling die Philosophie also von vorne herein theologisch ein und setzt das von ihr ausgearbeitete Wirklichkeitsverständnis in ein antithetisches Verhältnis zu Evangelium und Glauben. Damit stellt er sicher, dass das philosophische Wirklichkeitsverständnis die theologische Reflexion zwar einerseits stets begleitet, andererseits aber nicht mit sachfremden Inhalten überlagern kann. Die »Verifikation« der theologischen Inhalte, die Ebeling durch die Anbindung an den Problemhorizont des allgemeinen Wirklichkeitsverstehens erreichen will, erhält durch die Einordnung der Philosophie als Ausarbeitung des Gesetzes noch einmal eine wichtige Bestimmung. Der Bezug auf die Wirklichkeit, der den Glauben »verifizieren« soll, steht damit im Grundschema des »Widerspruchs«.48 Die philosophische Reflexion dringt nicht ungebrochen und ungezähmt in den theologischen Bereich ein, sondern ist von vorne herein in der Interpretation als »Gesetz« in theologischen Gewahrsam genommen. Sie prägt die Reflexion des Glaubens als negative Folie und soll ausschließlich in RGG VI [12], 823; vgl. 829; WuG II [10], 94. RGG VI [12], 827f. Die Ortsbestimmung der Philosophie unter der reformatorischen Lehre vom Gesetz macht für Ebeling den Unterschied zur »katholischen« Verhältnisbestimmung aus, in der Philosophie und Theologie mithilfe der »Unterscheidung von natürlicher und übernatürlicher Erkenntnis« aufeinander bezogen sind. 46 WuG II [10], 95f; vgl. [13], 388. 47 S. o. 158–162. 48 Vgl. bereits Wesen, 90f. 44 45

II. Der Gegenstand der Theologie

251

dieser Verhältnisbestimmung den christlichen Glauben in enger Beziehung auf das allgemeine Wahrheitsbewusstsein allgemein verständlich machen. Die folgenden Abschnitte des Kapitels werden zeigen, wie Ebeling dieses Anliegen, das die alte Dogmatik durch die in seiner Sicht zu unkritische Anknüpfung an die Metaphysik verfolgt, in ganz eigener Weise umsetzt. Ebelings Vorgehen erinnert dabei nicht nur an Bultmann, der den Glauben als neues Existenzverständnis durch Anknüpfung im Widerspruch an das vorgläubige Selbstverständnis des Menschen verständlich machen will, sondern bereits an Herrmann, der den Glauben in der Grundstruktur der »Überwindung« von Wirklichkeit versteht. Damit schlagen beide eine Verbindung zum allgemeinen Wirklichkeitsverständnis, aber eben so, dass sie dieses vom Standpunkt des Glaubens aus hinterfragen.49 3.

Ergebnis

Ebelings Verhältnisbestimmung von Theologie und Philosophie ist eine explizite Antwort auf die in seinen Augen problematische Weise, wie die Theologie die Metaphysik einbezogen hat. Dabei nimmt er als berechtigtes Anliegen die Anknüpfung an das allgemeine Wirklichkeitsverstehen als hermeneutische Notwendigkeit für die Theologie auf. Im Unterschied zur metaphysisch einsetzenden Theologie aber wendet sich Ebeling der hermeneutischen und analytischen Philosophie als einer zeitgemäßen Gestalt der Wirklichkeitsreflexion zu und vermeidet die positive Anknüpfung an die Philosophie, wie er die Entfaltung der christlichen Lehre auf der Basis der Metaphysik versteht, indem er das Verhältnis der Theologie zu ihr antithetisch mithilfe der reformatorischen Lehre vom Gesetz bestimmt.

II.

Der Gegenstand der Theologie

Ein zentraler Aspekt der Metaphysikkritik Ebelings ist, wie im sechsten Kapitel dargestellt, die Vermischung von Glaube und Welterkennen. Darin sieht Ebeling den Fehler, Glaubensaussagen als Erweiterung des vernünftigen Weltwissens zu betrachten und deshalb analog zum Erkennen des dinglich Seienden, wie es die Betrachtung der Dinge in ihrem »Ansichsein« in der vorneuzeitlichen Metaphysik oder das »objektivierende Denken« der neuzeitlichen Wissenschaft zum Ziel haben, zu verstehen. Dagegen betont er zum einen, dass Glaube und Welterkenntnis voneinander zu unterscheiden sind und zum anderen setzt er

49 Z. B. HERRMANN, Lage, 85f. Die Grundstruktur wird auch in der »Wende« auf dem »Weg zum Glauben« deutlich, s. o. S. 113ff. Zu Bultmann s. o. S. 154f.

252

7. Kapitel: Ebelings Alternative zur Metaphysik in der Theologie

den Gegenstand der Theologie so an, dass die Möglichkeit einer Vermischung von Glaube und Welterkennen gar nicht erst entsteht. 1. Die Unterscheidung von Glaube und Welterkenntnis Ebeling richtet sich explizit gegen den metaphysischen Ansatz der Theologie, wenn er betont, dass die theologische Reflexion den Glauben nicht als einen Beitrag zum Welterkennen behandeln kann. Die hermeneutischen Probleme, die Ebeling durch die Anwendung metaphysischer, also an der Untersuchung des dinglich Seienden gewonnener Begriffe in der Theologie entstehen sieht, sind im vorangegangenen Kapitel dargestellt. Darüber hinaus warnt er davor, dass die Vermischung von Glaube und Welterkennen dem Atheismus der neuzeitlichen Religionskritik Vorschub leiste. Er weist darauf hin, dass die Theologie »seit den frühchristlichen Apologeten« Gottes- und Welterkenntnis miteinander vermischt, indem sie das »Reden von Gott« durch die Verbindung mit der Metaphysik »im vernünftigen Welterkennen« ansiedelt. Die Frage nach der »Existenz Gottes« wird dadurch zu Beginn der Dogmatik und damit als Grundlage der Rechenschaft über den Glauben als eine Wissensfrage und nicht als Glaubensfrage behandelt.50 Wird aber auf diese Weise Gott als vernünftig erkennbare prima causa und causa sui verständlich gemacht, kann der neuzeitliche Atheismus »zusammen mit der Stichhaltigkeit dieses metaphysischen Kausaldenkens auch den Gottesbegriff als erledigt« betrachten.51 Weil die Theologie die Frage nach Gott zunächst auf die Frage nach seiner »Existenz« reduziere, sieht Ebeling »die Begegnung mit dem Atheismus an einem Ort fixiert, wo dem Atheismus kaum zu entgehen ist«. Die Frage nach Gott, mit dem das vorneuzeiltiche Welterkennen noch selbstverständlich gerechnet hat, ist im »Horizont des wissenschaftlichen Denkens« der Neuzeit prinzipiell ausgeschlossen. Deshalb macht es nach Ebeling überhaupt keinen Sinn, im Weltbild des objektivierenden Denkens »für Gott Raum zu schaffen«.52 Solche falsche Auffassung vom Glauben macht Ebeling verantwortlich für falsche Auseinandersetzungen mit dem vernünftigen Welterkennen.53 Wenn sich das Verständnis von Theologie am Evangelium orientiert, wird nach Ebeling die »Verwechslung der Sache des christlichen Glaubens mit einem System allgemeiner Welterkenntnis« vermieden.54 Was Ebeling genau unter »Evangelium« versteht, soll hier zunächst nur als Frage aufgeworfen werden, um sie später aus dem weiteren Verlauf der Darstellung beantworten zu können.55 Die Auseinan50 51 52 53 54 55

WuG II [13], 387. WuG II [13], 389. WuG II [13], 391. Wesen, 12f; RGG VI [12], 825; WuG II [19], 405. RGG VI [12], 827. S. u. S. 287.

II. Der Gegenstand der Theologie

253

dersetzung mit der Philosophie soll jedenfalls der Selbstbesinnung der Theologie dienen. Die Theologie soll sich klar werden, dass sie nicht selbst Philosophie ist und den Glauben nicht als vernünftige Wirklichkeitserkenntnis behandeln soll.56 Dies bedeutet nun nicht, wie im vorangehenden Abschnitt gezeigt, dass Ebeling die Beschäftigung mit der allgemeinen Wirklichkeit aus der Theologie ausschließt. Aber ebenso, wie er die Philosophie dem Bereich des Gesetzes zuweist, so macht er hier deutlich, dass metaphysische respektive wissenschaftliche Welterkenntnis nicht den primären und eigentlichen Gegenstand der Theologie ausmacht. Was aber ist nun nach Ebeling der Gegenstand, mit dem sich die Theologie befasst und der sie überhaupt zu einer eigenen Wissenschaft macht? 2.

Die Beziehung von Gott und Mensch

Der Gegenstand der Theologie ist für Ebeling nicht einfach Gott. Zwar führt er aus, dass Theologie beziehungsweise Dogmatik in einem »umfassenden Sinne« als Gotteslehre zu verstehen sind57 und dass die Dogmatik in allen ihren Themen letztlich nichts anderes als eine »Anweisung zum rechten Reden von Gott« sei.58 Aber gerade daran wird deutlich, dass nach Ebelings Ansicht eben nicht Gott allein Thema der Theologie sein kann. Dabei spielt eine Rolle, wie Ebeling Gotteserkenntnis überhaupt als möglich betrachtet. Im Zusammenhang mit dem Streit um Bultmanns Entmythologisierung wirft er den auf der Objektivität der Offenbarung beharrenden Gegnern vor, dass sie Gott zu einem »unmittelbaren Objekt welthafter Erkenntnis« machen, indem sie das der wissenschaftlichen Erkenntnis der Welt entstammende Subjekt-Objekt-Schema auch als für die Offenbarung gültig behaupten. Damit werde »letztlich Gott selbst als ein welthaftes Phänomen« verstanden.59 Das Problem sieht Ebeling darin, dass die objektive Betrachtung der Offenbarung vom Menschen abstrahiert und damit übersieht, worum es in der Offenbarung eigentlich geht – nämlich »so coram Deo gestellt sein, daß ich mich als einer verstehe, der coram Deo steht«. Gegen die Behauptung einer Objektivität der Offenbarung beschreibt Ebeling durch die »Relationsbezeichnung« coram Deo und unter Berufung auf Luther die Offenbarung als ein »Geschehen«, in dem »der Mensch herausgerissen wird aus seinem In-sich-selbst-Sein und extra se, d. h. coram Deo, zu stehen kommt« und sich darin nicht nur als Sünder, sondern als der gerettete Sünder erkennt.60

56 57 58 59 60

RGG VI [12], 829; Luther, 84f. WuG II [16], 261. Luther, 286. Geschichtlichkeit, 61f; s. o. S. 198f. Geschichtlichkeit, 64 mit Verweis auf Luthers Scholien zu Röm 3, 5 = WA 56, 229, 7ff.

254

7. Kapitel: Ebelings Alternative zur Metaphysik in der Theologie

Den Streit um die Entmythologisierung hat Ebeling in einem weiteren Aufsatz aus den 50er Jahren im Blick, wenn er sich gegen die Meinung richtet, das Wort Gottes sei ein »übernatürliches Sonderwort«, das erst noch »in menschliches Wort umgewandelt« werden müsse. Auch hier kritisiert er als »Kardinalfehler der Theologie« die Anwendung der welthaften Erkenntnis auf die Offenbarung, die Gott wie einen »Teil der Wirklichkeit« behandelt, dabei aber als eine Sonderwirklichkeit und somit als etwas »Zusätzliches zur übrigen Wirklichkeit« versteht, was dazu führe, dass man »Gott und Welt zunächst in ihrem Ansichsein als getrenntem Nebeneinander« betrachte und erst sekundär über ihre Beziehung nachdenke. Dagegen betont er, dass theologisch von Gott und Welt überhaupt nur dann geredet werden kann, wenn das eine das andere einschließe.61 Wahre Erkenntnis Gottes, wie ihn die Verkündigung des Evangeliums meint, ist für Ebeling seinem theologischen Hintergrund entsprechend heilsnotwendige Erkenntnis. Deshalb richtet er an die bei Thomas den praeambula fidei zugerechnete vernünftige Gotteserkenntnis die Frage: »Ist es überhaupt Gotteserkenntnis, was dem Menschen nicht zum Heil ist?«62 Und darum wehrt er sich gegen eine den sündigen Menschen ausklammernde metaphysische63 beziehungsweise eine »neutrale, objektive, distanzierte Gotteserkenntnis«64 oder, was letztlich das gleiche ist, er betont, dass Gotteserkenntnis die Summe aller Glaubensaussagen sowie der christlichen Lehre ist.65 Die Art der Erkenntnis Gottes wirkt sich somit auch auf die gesamte Theologie aus. Deutlich kommt hier die Auffassung Ritschls, Herrmanns und Bultmanns zum Tragen, dass Gott nur in Verbindung mit dem Menschen und nicht »an sich« in seinem Wesen erkannt werden kann, wie dies bereits in Kapitel 6 dargestellt wurde. a)

Das subiectum theologiae bei Luther

Was Ebeling in den 50er Jahren in der Auseinandersetzung mit den Gegnern der Entmythologisierung herausarbeitet, begegnet dann in den 60er Jahren als Gegenüber von scholastischer Theologie und Luther. Luthers Weise Gott zu erkennen grenzt Ebeling ab gegen die »metaphysische Gotteserkenntnis« der 61 WuG I [5], 340; vgl. [2], 144. Auch in Geschichtlichkeit, 62f spricht Ebeling übrigens von einem »Kardinalfehler« und meint damit ein falsches Verständnis vom Glauben, der als subjektive »Offenbarungsaneignung« von der objektiv erkennbaren Offenbarung getrennt wird – Ebeling versteht dagegen wie Bultmann den Glauben als das »gegenwärtige(. . . ) Geschehen der Offenbarung«. Das Motiv von Gott als einer »zusätzlichen, an die Welt und die Existenz des Menschen angrenzenden Wirklichkeit« stammt aus Ebelings Auseinandersetzung mit Bonhoeffer und dessen Kritik am »Denken in zwei Räumen«, WuG I [2], 144–148. 62 WuG II [15], 256. Zum theologischen Hintergrund dieser Auffassung s. o. S. 230f. 63 Wesen, 90f; [20], 288. 64 Wesen, 134f. 65 Wesen, 92; Luther, 281f. 284; WuG I [6], 362; WuG II [16], 265f.

II. Der Gegenstand der Theologie

255

scholastischen Theologie, die den »Deus maiestatis«, also Gott selbst, sowie den »nudus Deus« und den »nudus homo«, also Gott und Mensch an sich, betrachten wolle.66 Ebeling stellt dem Einsatz der scholastischen Theologie beim »An-sich-Sein« Gottes, also mit der metaphysisch geprägten Lehre von Gott selbst ohne Bezug auf seine Schöpfung und sein Heilshandeln, Luthers Auffassung vom »einzigen Gegenstand der Theologie« gegenüber, »nämlich daß es um den schuldigen und verlorenen Menschen und den rechtfertigenden und rettenden Gott geht«.67 Das Beziehungsgeschehen, das er vorher mit der Formel coram Deo als Inbegriff der Offenbarung beschrieben hat, begegnet nun wieder als Luthers Auffassung vom Gegenstand der Theologie. Ebeling verweist oft auf eine Stelle, in der Luther dieses Geschehen zwischen dem »Deus iustificans« und dem »homo peccator« als »subiectum theologiae« bezeichnet.68 Diese Stelle dient Ebeling in den Schriften aus den 1960er Jahren nicht nur, um Luthers Theologieverständnis zu beschreiben,69 sondern auch um seine eigene Auffassung vom Gegenstand der Theologie deutlich zu machen.70 Die Frage nach dem subiectum im Sinne des einer jeweiligen Wissenschaft gegebenen positum, also des der wissenschaftlichen Arbeit zugrunde liegenden Gegenstandsbereiches ist eine Frage, mit der sich die Scholastik auseinandersetzt.71 Die Frage nach dem LuSt I [18], 267. Luther, 268. 68 Soweit ich sehe, findet sich diese Beschreibung erstmalig 1960 in RGG IV, 515. Ebeling bezieht sich auf Luthers Auslegung von Ps 51, 2 aus der Enarratio Ps LI von 1532: »Cognitio dei et hominis est sapientia divina et proprie theologica, Et ita cognitio dei et hominis, ut referatur tandem ad deum iustificantem et hominem peccatorem, ut proprie sit subiectum Theologiae homo reus et perditus et deus iustuficans vel salvator. quicquid extra istud argumentum vel subiectum quaeritur, hoc plane est error et vanitas in Theologia«; WA 40/II, 327, 11–328, 3. 69 RGG IV, 515; Luther, 268; LuSt I [18], 255–272; Sprachlehre, 44f; WuG III [25], 174– 178; vgl. auch später noch LuSt II/3, 27f. Der Verweis auf diese Beschreibung der Theologie durch Luther geht nicht auf Ebeling zurück. Ebeling selbst spricht LuSt I [18], 221 von der »bekannten Bestimmung«. Der Hinweis auf sie begegnet bereits 1947 bei ALTHAUS, 3 unter Verweis auf Luthers Tischreden (WA TR 5, Nr. 5757) und kurz danach bei WOLF, 12, nun unter Verweis auf die Enarratio Ps LI in WA 40/II. Außer an den genannten beiden Stellen ist diese Bestimmung der Theologie bei Luther nicht zu finden. Es ist sicher Ebelings Hervorhebung dieser Stelle zu verdanken, dass sich die Bestimmung in vielen neueren Darstellungen von Luthers Theologie findet, z. B. bei BAYER, 36–38; LOHSE, 52–54; L ANDMESSER, 205f (unter Verweis auf Bayer) und KORSCH, 356f. 70 WuG II [21], 98; TuV, 16. 71 Die Frage nach dem subiectum theologiae findet sich z. B. bei Thomas von Aquin, STh I, 1, 7 oder Wilhelm von Ockham, Scriptum in primum librum Sententiarum, Prol., q. 9. Der Begriff subiectum etablierte sich im 13. Jahrhundert, als die Schriften des Aristoteles über die arabische Philosophie wieder das Abendland erreichten. Aristoteles gebraucht beispielsweise in der Metaphysik den Begriff ποκείμενον, um zu bezeichnen, was die Einheit der Metaphy66 67

256

7. Kapitel: Ebelings Alternative zur Metaphysik in der Theologie

subiectum der Theologie fragt damit nach dem Gegenstandsbereich, auf den sich die Theologie bezieht, und damit nach einem Kriterium, das sie von anderen Wissenschaften unterscheidet. Ebeling versteht auch Luthers Bemerkung in diesem Sinne. Dabei ist es ihm wichtig zu betonen, dass Luthers Beantwortung gegenüber den scholastischen Antworten ganz ohne Vorbild ist.72 Neben der Unterscheidung von anderen Wissenschaften kommt es Ebeling aber vor allem darauf an, dass Luther hier ein Kriterium für die Unterscheidung von rechter und schlechter Theologie liefert. Nicht jedes Reden von Gott hat für ihn »theologische[n] Charakter«, auch nicht, wenn es sich auf den Menschen und sogar in seiner Bestimmung als Sünder bezieht. Das »über alles entscheidende theologische Kriterium« sieht er darin, dass das »Wissen um die Situation des Menschen vor Gott . . . die Weise aller theologischen Aussagen bestimmt«.73 3.

Ergebnis

Die Theologie hat es damit nach Ebeling nicht einfach mit der Erkenntnis Gottes oder mit der Erkenntnis des Menschen zu tun, sondern mit der Erkenntnis des Geschehens zwischen beiden. Nur durch dieses spezifische Geschehen lässt sich die christliche Theologie von anderen Arten der Gotteserkenntnis wie der philosophischen abgrenzen.74 Als theologische Aussagen akzeptiert Ebeling nur solche Sätze, die auf das Geschehen der Rechtfertigung bezogen sind, in dem Erkenntnis Gottes und des Menschen eine Einheit bilden. Ebeling versteht in expliziter Abgrenzung zur als ›metaphysisch‹ verstandenen Theologie der Gegner Bultmanns und später zur scholastischen Theologie, die ihm zufolge Gott und Mensch im Horizont des Kausaldenkens zunächst in ihrem »Ansichsein« bedenken, unter Berufung auf die Autorität Luthers die soteriologische Beziehung zwischen Gott und Mensch als Ausgangspunkt der sik als Wissenschaft ausmacht: τ$ν δ% πρώτην ε&ρήκαμεν 'πιστήμην τούτων ε*ναι καθ+ ,σον -ντα τ. ποκείμενά 'στιν, λλ+ ο0χ 2 "τερόν τι; Met. K, 1061b, 30f. Die Übersetzung subiectum bezeichnet dann das ›Vorgegebene‹ oder ›Zugrundliegende‹, sozusagen das ›Substrat‹, das als Gegenstandsbereich die Einheit einer Wissenschaft mit ihrer Vielzahl an Untersuchungsobjekten herstellt; COURTINE, 9–13. In diesem Sinne versteht auch Gabriel Biel im Collectorium circa quattuor libros Sententiarum I: Prologus et Liber primus das subiectum theologiae: ». . . quia unitas scientiae ex unitate subiecti eius attenditur, quaerit [sc. Wilhelm von Ockham] de subiecto theologiae«; BAYER, 31f. Dass auch bei Heidegger der aus dem griechischen ποκείμενον verstandene Begriff des subiectum, wenn auch im Blick auf das neuzeitliche Subjekt, eine wichtige Rolle spielt, haben wir bereits gesehen, vgl. z. B. Weltbild, 88. 106. 108; s. o. S. 193. 72 Es ist hier nicht der Ort, genauer darauf einzugehen, wie Ebeling diese Unterschiede beschreibt; s. dazu WuG III [25], 175–178; Sprachlehre, 42–45. 73 LuSt I [18], 265f; vgl. Sprachlehre, 45. 74 Vgl. WuG III [25], 176; Sprachlehre, 45.

III. Die Aufgabe der Theologie

257

Theologie. Der grundlegende und darum umfassende Gegenstand der Theologie, der damit gleichzeitig das Kriterium für die Beurteilung von theologischen Sätzen bildet, ist dieses Beziehungsgeschehen oder das Thema der Rechtfertigung, das bereits bei Ritschl Gegenstand und systembildender Gesichtspunkt für alle Themen der Dogmatik ist.75

III.

Die Aufgabe der Theologie

Als weiteren Kritikpunkt Ebelings an der Metaphysik und der mit ihr arbeitenden Theologie hat das sechste Kapitel die Priorität der Ewigkeit und die damit verbundene Marginalisierung der Zeit herausgearbeitet. Ebeling kritisiert insbesondere die Auswirkungen in der altkirchlichen und scholastischen Gotteslehre, die Gott am Anfang der Dogmatik in einer separaten Lehre unabhängig von seinen Bezügen zur Welt in den Blick nimmt.76 Um diesen seiner Meinung nach problematischen Ansatz der Theologie zu vermeiden, konzipiert Ebeling die Theologie so, dass ihre Aufgabe gerade in der Auseinandersetzung mit der Zeit besteht. 1.

Zeitgeschichtlicher Kontext

Im vorangehenden Kapitel wurde bereits deutlich, dass die Kritik an der Ausblendung der Geschichtlichkeit, die Ebeling im Zusammenhang mit dem Streit um Bultmanns Entmythologisierung vorträgt, eine wichtige Wurzel für seinen Metaphysikbegriff darstellt. Aber nicht nur die Gegner im Entmythologisierungsstreit sind das Gegenüber, dem Ebeling in den Arbeiten bis Ende der 1950er Jahre die mangelnde Beachtung der Geschichtlichkeit für Glaube und Theologie vorhält, sondern auch die Bekennende Kirche, deren Erfahrungen im Kirchenkampf er als Nährboden für diese Haltung betrachtet. Die damalige Situation der Bedrohung von außen haben Kirche und Theologie durch eine Konzentration nach innen und die Rückbesinnung auf ihre reformatorischen Wurzeln bewältigt. Ebeling kritisiert aber, dass man auch weiterhin versucht, diese damals positive Erfahrung »durch Abschließung nach außen« zu konservieren und sich deshalb nicht den Erfordernissen in der Gegenwart stellt.77 Ebeling folgt hier Bonhoeffer und dessen Kritik an der Bekennenden Kirche. Er weist darauf hin, dass Bonhoeffer die Bekennende Kirche als »Kirche

75

Vgl. RITSCHL, RuV1 III, 3/RuV3 III, 3–6. Vgl. WuG II [16], 264f. 77 WuG I [1], 10; vgl. [9], 66f. Zur Bedeutung der Rückbesinnung auf die reformatorischen Bekenntnisse in der Bekennenden Kirche und in der Situation nach 1945 vgl. WENDEBOURG, bes. 425–443. 76

258

7. Kapitel: Ebelings Alternative zur Metaphysik in der Theologie

in der Selbstverteidigung« bezeichnet78 und ihr Problem in der mangelnden Interpretation der »großen Begriffe der christlichen Theologie« gesehen hat. Dies verhindere, dass die Menschen die Inhalte der Verkündigung nicht nur verstehen, sondern wirklich von ihnen getroffen werden können. Die Frage nach einer der Gegenwart angemessenen, nicht dem gewohnten Horizont von Theologie und Kirche verhafteten und das heißt für Bonhoeffer: »nicht-religiösen Interpretation« dieser Begriffe ist nach Ebeling bei Bonhoeffer so radikal gefasst, dass nicht nur die traditionelle dogmatische Sprache, sondern auch die bisherigen »modernen Versuche christlicher Apologetik als hoffnungslose, ja geradezu unchristliche Versuche« erscheinen, die dem »heutigen Menschen, wie er wirklich ist«, völlig unverständlich bleiben müssen.79 Gegen diese Haltung, die sich der Zeitsituation verschließt und damit ein echtes Verständnis der christlichen Vorstellungen verhindert, arbeitet Ebeling auch im Entmythologisierungsstreit, indem er für die Beachtung der Geschichtlichkeit in der Theologie eintritt. Der Vortrag Die Geschichtlichkeit der Kirche und ihrer Verkündigung als theologisches Problem zeigt dies deutlich gleich auf den ersten Seiten, die Kernbegriffe des Streites wie die »Gegenstände« des Glaubens und die »Heilstatsachen« aufnehmen80 oder die Angst vor einer »Auflösung« ansprechen, »wenn alles . . . hineingerissen wird in die Geschichtlichkeit«.81 Ebenso spiegelt die Diskussion des objektiven Offenbarungsverständnisses weiter hinten in der Schrift die Auseinandersetzung mit den Kritikern Bultmanns, wenn Ebeling auf die Meinung eingeht, die Bibel sei »ontologisch ein Wort sui generis« oder die Offenbarung zwar ein »historisches Faktum«, aber »von ontologisch absoluter Besonderheit«, nämlich von einer »Geschichtlichkeit sui generis«.82 Wie bereits deutlich wurde, will Ebeling im Kontext des Streits um die Entmythologisierung die Notwendigkeit der historisch-kritischen Hermeneutik in der Theologie verteidigen.83 Deshalb bricht er das Stichwort der »Gegenstände« des Glaubens, mit dem die Kritiker Bultmanns ein zeitloses und objektives Gegebensein verbinden, sofort auf, indem er die Frage nach der Art der »Gegenständlichkeit« theologischer Themen stellt und in das »Problem ihrer Geschichtlichkeit« 78 WuG I [2], 119 mit Verweis auf BONHOEFFER, Widerstand, (8 1958) 259/(3 1985) 414; vgl. WuG I [2], 109–114. 79 WuG I [2], 119f mit zahlreichen Verweisen auf BONHOEFFER, Widerstand. Als »unchristlich« bezeichnet Ebeling die moderne Apologetik deshalb, weil sie dem Evangelium mehr schadet als nutzt; vgl. TuV, 6 mit Anm. 2. 80 Geschichtlichkeit, 5. 7. Zu den Begriffen s. o. S. 186f. 81 Geschichtlichkeit, 8; vgl. TuV, 8. 82 Geschichtlichkeit, 58–60. Es ist allerdings zu beachten, dass auch, wenn der Entmythologisierungsstreit als Kontext deutlich präsent im Vortrag ist, Ebeling sich nicht explizit mit ihm auseinandersetzt und ebensowenig exklusiv – er hält sein Gegenüber allgemeiner, nämlich als Kritik an der geschichtlichen Arbeitsweise in der Theologie überhaupt, die auch Barth und seine Schule äußern. Zu Barth s. z. B. Geschichtlichkeit, 26f. 83 S. o. S. 195–198.

III. Die Aufgabe der Theologie

259

überführt.84 Theologische Themen gibt es für ihn nur im Wandel der Geschichte. Es ist schon deutlich geworden, dass Ebeling die Geschichtlichkeit und mit ihr die Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit der einzelnen Lebenssituationen als wesentlich für den Menschen betrachtet.85 Dies führt er nun als Grund dafür an, dass auch die Verkündigung, die die Botschaft der Bibel an den geschichtlich existierenden Menschen ausrichten soll, ihrerseits geschichtlich sein muss, damit sie ihn in seiner jeweiligen Lebenssituation überhaupt erreicht. Er verweist auf die Tatsache, dass die Predigt den Text der Bibel nicht einfach wiederholt, etwa indem sie ihn unkommentiert vorliest, sondern ihn auslegt und damit ständig neu in die jeweilige Zeit überträgt: »Und nur dann kann im strengen Sinne eben dasselbe, was der Text damals gesagt hat, heute gesagt werden, wenn es heute neu und anders gesagt wird.«86 Die Position, dass die Theologie geschichtlich denken müsse, weil der Mensch und die Verkündigung geschichtlich seien, hat Ebeling also bereits vor seiner Beschäftigung mit der Metaphysik in der scholastischen Theologe formuliert, und zwar in der Auseinandersetzung mit der Kritik an Bultmann in den 1950er Jahren. In den 1960er Jahren wird dann die metaphysisch ansetzende Theologie zum Inbegriff des Gegenentwurfs zu einer der Sache und den Erfordernissen der Gegenwart angemessenen Theologie. 2.

Die Situation der Gegenwart

Mit Bonhoeffer sieht Ebeling »unsere heutige Situation« dadurch gekennzeichnet, dass der mit der Neuzeit begonnene »Säkularisierungsprozeß auf allen Gebieten des menschlichen Lebens« zum Abschluss gekommen und zur selbstverständlichen Bestimmung des modernen Wirklichkeitsverständnisses geworden ist. Diese Säkularisierung meint nicht einen dezidierten Atheismus, sondern die »unaufhaltsame Zurückdrängung Gottes aus den Erkenntnis- und Lebensbereichen einer mündig gewordenen Welt«, die dazu führt, dass Gott im normalen Leben der Menschen keine Notwendigkeit mehr hat. Gott ist aus der Erfahrungswelt des Menschen verdrängt und die »Religion« dadurch »zu einer besonderen Provinz am Rande des Lebens« geworden.87 Und dies gilt, wie Ebeling im Anschluss an Bonhoeffer betont, auch für die Christen, die »in weiten Bereichen ihres Lebens faktisch ebenfalls religionslos existieren«.88 84

Geschichtlichkeit, 5. S. o. S. 222f. 86 Geschichtlichkeit, 23. 87 WuG I [2], 124f, auch hier wieder mit zahlreichen Verweisen auf BONHOEFFER, Widerstand, wobei Ebelings letzte Formulierung auf Schleiermacher anspielt, demzufolge die Religion eine »eigne Provinz im Gemüte« besitzt; SCHLEIERMACHER, Reden, 40 (= 37 im Urtext von 1799). 88 WuG I [2], 127f. 85

260

7. Kapitel: Ebelings Alternative zur Metaphysik in der Theologie

Diese Einschätzung der Zeitsituation prägt nun auch die nach der Dissertation erste größere Veröffentlichung Ebelings, Das Wesen des christlichen Glaubens aus dem Jahr 1959. Ebeling entwickelt die Fragestellung des Buches unter Rückgriff auf seinen Bonhoeffer-Aufsatz und schließt daraus: »Wie mir scheint, gibt die Zeit, in der wir leben, allen Anlaß, uns für ein neues, wirkliches Verstehen dessen, was es um den christlichen Glauben ist, bereit zu halten.« Er betont, dass in Bezug auf den Glauben »sich uns heute die Verstehensfrage mit ganz besonderer Dringlichkeit stellt«.89 Ebeling sieht eine »erschütternde Unkenntnis« vom Christentum und macht dafür in erster Linie die »kirchliche Verkündigung« verantwortlich, die das, was sie zu sagen hat, derart isoliere von der Lebenswirklichkeit der Gegenwart, dass der Glaube auf eine Sonderwirklichkeit bezogen erscheint.90 Er greift Bonhoeffers Bild von den »zwei Räumen« auf, mit dem dieser die Trennung von »Gotteswirklichkeit« und »Weltwirklichkeit« beschreibt, und sieht diese Teilung der Wirklichkeit als Ursache für das »Nebeneinander zweier Sprachen«, nämlich einer »christlichen« und einer »Sprache der uns angehenden Wirklichkeit«, in deren Kontext erstere als eine völlig fremde Sprache erscheint. Er kritisiert, dass die Sprache der Verkündigung aus einer Zeit vor dem epochalen Einschnitt der Neuzeit stamme. Die »Existenz in zwei Räumen« bedeute damit eine »Existenz in zwei Zeiten«, nämlich »der Gegenwart und einer bestimmten Phase kirchengeschichtlicher Vergangenheit«.91 Um dieses Problem zu überwinden, sieht Ebeling die Theologie heute vor einer »Aufgabe des Übersetzens und Interpretierens . . . , die in der Theologie nichts einfach als selbstverständlich und neuen Durchdenkens unbedürftig stehen läßt«. Zu den alten Selbstverständlichkeiten, die der Gegenwart verloren gegangen sind, zählt Ebeling nicht nur die Plausibilität der Gottesbeweise oder die Annahme einer religiösen Grundkonstitution des Menschen, sondern schlicht den Inhalt des Wortes »Gott«.92 Die bereits angesprochene »Selbstverständlichkeit . . . , daß es Gott nicht gibt« nennt Ebeling den »neuzeitliche[n] Atheismus« oder den »Atheismus als Massenerscheinung«.93 Später spricht er auch von der »Profanität der Moderne«, um die mit Bonhoeffer gewonnene Erkenntnis zu beschreiben, dass die Erfahrung Gottes durch die Übermacht der empirischen Erkenntnis aus der Erfahrung der Welt in den isolierten Bereich der inneren Erfahrung verdrängt ist.94 Die Auseinandersetzung mit dem Atheismus, kritisiert Ebeling, finde aber »höchstens apologetisch im Vorfeld der Verkündigung« statt – ein Verfahren, 89

Wesen, 7f. Wesen, 9f. 91 Wesen, 11f. Zum »Denken in zwei Räumen« verweist Ebeling WuG I [2], 110 Anm. 63 auf BONHOEFFER, Ethik, 4 1958, 61–69 = 1992, 41–52. 92 Wesen, 99f; vgl. WuG I [6], 351; [7], 373f; 403. 93 Wesen, 96. 94 WuG III, 21f. 90

III. Die Aufgabe der Theologie

261

das er bereits bei Thomas von Aquin ausmacht. Zwar gebe es ein wachsendes Bewusstsein für das Ausmaß der veränderten Bedingungen. »Aber wenn ich recht sehe, ist die Aufgabe, die aus solcher Veränderung für Theologie und Verkündigung sich ergibt, kaum auch nur erkannt.«95 Obwohl die atheistische Ablehnung des alten metaphysischen Gottesbegriffs Ebeling zufolge einen Kernbestand im »Denken unseres Zeitalters« bildet, erwecke die christliche Verkündigung oft den »Eindruck«, diese dem neuzeitlichen Denken nicht mehr nachvollziehbare metaphysische Gottesvorstellung sei entscheidend für den Glauben. Und damit werde dem, der eben nicht an die christliche Existenz in zwei Räumen gewöhnt ist, »eine Gottesvorstellung zugemutet, die er, wenn er gewissenhaft urteilt, nur als nichtig bezeichnen kann«.96 Ebeling hat mit seiner Theologie den Anspruch, diese Problematik zu überwinden, indem er ihre Beachtung in den Grundlagen der Theologie verankert. 3.

Der Streit als Aufgabe

Der geschichtliche Ansatz der Theologie, durch den Ebeling die Zeitsituation in die Aufgabenstellung der Theologie einbezieht, steht im Gegensatz zu seiner Beschreibung der metaphysisch ansetzenden Theologie, in deren Konzentration auf die Ewigkeit und Zeitlosigkeit er den Versuch sieht, in einer von den Wandlungen der Geschichte unberührten Eindeutigkeit und damit zeitloser Gültigkeit einzusetzen.97 Demgegenüber will Ebeling keine der Zeit und Geschichte enthobene Theologie entwerfen, weil eine solche Theologie den Menschen in seiner konkreten Zeitbedrängnis nicht trifft.98 Wie fasst nun Ebeling die Aufgabe der Theologie, um dies zu erreichen? a)

Streit um das Evangelium

Ebeling bezeichnet zunächst ganz schlicht die Vermittlung des Evangeliums als Aufgabe der Theologie. Diese Aufgabenstellung problematisiert er aber sofort, indem er darauf hinweist, dass das »Evangelium im Streit ist«, und zwar im »Streit des Verstehens«. Dieser Streit betrifft das Evangelium nicht nur äußerlich, etwa als Frage wie eine ansonsten feststehende Sache in einer schwierigen Zeit vermittelt werden könnte, sondern der Streit geht nach Ebeling »um die Sache selbst«, nämlich darum, was eigentlich durch das Evangelium zu verstehen ist. Ebeling begründet diesen »Streit um die Verständlichkeit des Evangeliums« damit, dass das Evangelium auf den Widerspruch den Menschen trifft, der sich damit gleichzeitig gegen Gott als den richtet, von dem das Evangelium ausgeht.99 95 96 97 98 99

WuG II [13], 387f; vgl. WuG I [6], 359. WuG II [13], 389f. S. o. S. 221ff. WuG II [15], 240. WuG II [9], 59.

262

7. Kapitel: Ebelings Alternative zur Metaphysik in der Theologie

Warum dieser Widerspruch in den »Streit des Verstehens« führt, wird deutlich, wenn man Bultmanns Gedanken über das Selbstverständnis des Menschen hinzuzieht. Nach Bultmann besteht die Sünde des Menschen in dem Missverständnis, sich selbst, weil seine eigene Geschöpflichkeit vergessend, an Gottes Stelle zu setzen.100 Der Widerspruch des Menschen, von dem Ebeling spricht, besteht in diesem falschen Selbstverständnis. Nach Bultmann widerspricht wiederum die Offenbarung diesem alten Selbstverständnis des Menschen und bietet ihm ein neues an, das ihn zu seiner Eigentlichkeit bringen kann.101 Wenn Ebeling nun nicht vom »Selbstverständnis« des Menschen spricht, sondern allgemein vom »Verstehen«, hält er den Begriff auch für die Welt- und Wirklichkeitsbewältigung des Menschen offen, ohne die ein Selbstverständnis ja gar nicht möglich ist. Auf diesem Hintergrund betrachtet, sieht Ebeling das Evangelium deshalb im »Streit des Verstehens«, weil hier zwei Weisen des menschlichen Verstehens, die sich gegenseitig ausschließen, aufeinander treffen. Und es wird deutlich, warum für Ebeling der Streit um die Verständlichkeit des Evangeliums nur zu führen ist, indem darüber gestritten wird, was durch das Evangelium zu verstehen ist. Wenn die Theologie also die Aufgabe hat, das Evangelium zu vermitteln, so muss nach Ebeling sie in diesen »Streit um das Evangelium« eintreten. b)

Streit um die Zeit

Ebeling sieht diese Aufgabe zwar grundsätzlich und damit in jeder Zeit gegeben. Dennoch, betont er, stelle sie sich in jeder Zeit »anders und neu«, denn das »Wortgeschehen des Evangeliums« kann, sofern es sich eben auf den Menschen richtet, nur als »Streit um die Zeit« ausgetragen werden.102 Was meint Ebeling damit? Für Ebeling konstituiert sich das Wesen des Christentums aus dem Handeln Gottes in Christus. Dieser Grund, betont er deutlich erkennbar mit Blick auf die Kritiker der hermeneutischen Theologie, ist nicht schon dadurch konstitutiv für das Christentum, dass er »fixiert«, d. h. in einer bestimmten Zeit schriftlich festgehalten wurde, sondern dadurch, dass er in der Verkündigung zum »antwortenden und verantwortenden Glauben« führt.103 Daraus folgt die Notwendigkeit, den »historisch datierbaren Ursprung« ständig in neue geschichtliche Situationen und eine jeweils veränderte Sprach- und Vorstellungswelt zu übersetzen. Diese »Geschichtlichkeit« des Christentums begründet für Ebeling die »Notwendigkeit der Theologie«, aber auch die »Freiheit zu ihr«. Die Verkündigung selbst macht, sobald sie in dieser Geschichtlichkeit bedacht wird, die Wandlungsfähigkeit der 100

BULTMANN, Begriff, 25f; s. o. S. 162. BULTMANN, Problem, 296f; s. o. S. 154f. 162f. 102 WuG II [9], 59. 103 RGG VI , 760f. Zu Ebelings Offenbarungsverständnis als Zusammenhang von verkündigtem Wort und antwortendem Glauben s. u. S. 292f. 101

III. Die Aufgabe der Theologie

263

Sprache bewusst und führt damit zu der Einsicht, dass sie in verschiedenen Zeiten eine jeweils eigene »Sprachgestalt« erfordert und die in einer Zeit gefundene Sprachgestalt nicht mit der »Sache selbst« zu verwechseln ist.104 Dafür muss die Theologie die »wirklichen Probleme der Zeit« aufgreifen und »zu den ihren« machen.105 Dies führt zu einem wechselseitigen Auslegungsprozess. Das in der Schrift fixierte Geschehen muss durch die jeweilige Wirklichkeit der Zeit und die jeweilige Wirklichkeit muss durch das in der Schrift fixierte Wortgeschehen ausgelegt werden. Nur so wird das Wortgeschehen verständlich, das der Ursprung des Textes ist. Und nur wenn dieses Wortgeschehen die Probleme der Zeit verständlich machen kann, erreicht es das, was es ursprünglich und eigentlich soll, nämlich Glauben schaffen. In diesem Sinne spricht Ebeling von dem »Prozeß der Wortverantwortung, die dem biblischen Text, weil der Welt, und der Welt, weil dem biblischen Text, verpflichtet und zugewandt ist«. In diesem Prozess wird das »Wort Gottes« in die »Situation seiner Bewahrheitung« gebracht, weil es in seiner Auslegung der gegenwärtigen Wirklichkeit seine »Macht als Wort« neu bewähren kann.106 Die Theologie hat also nach Ebeling die Aufgabe dafür zu sorgen, dass sich das dem biblischen Text zugrunde liegende »Wortgeschehen« des Evangeliums in der Gegenwart ereignen und damit »verifizieren« kann.107 Der »Streit um die Zeit« dreht sich also um die Frage, wie die Zeit zu verstehen ist. Und dies ist unmittelbar damit verbunden, wie das Evangelium verstanden wird.108 Die Beschäftigung mit der Zeit dient nach Ebeling dazu, »theologisch zu erfassen, wie das Gesetz den heutigen Menschen de facto gefangenhält und tödlich trifft«. Die verständliche Auslegung des Gesetzes ist die Bedingung für die »Verständlichkeit der Verkündigung des Evangeliums«. Die »Besinnung auf die Probleme der Gegenwart« dient nach Ebeling »allein« diesem Ziel.109 Ebeling betont, dass die Theologie »um der Verkündigung willen« vor der »Herausforderung« steht, »angesichts der Wirklichkeit dieser Zeit das Evangelium zu sagen und gar nichts anderes zu haben als das Evangelium und dieses 104

RGG VI, 761. WuG II [9], 59f. 106 WuG II [17], 108. 107 Vgl. WuG II [17], 120. 108 Als Evangelium beschreibt Ebeling hier die »Ansage einer anderen, neuen Zeit« gegenüber »den sich wandelnden Sprach- und Verstehensbedingungen dieser Weltzeit«, WuG II [17], 100; Genaueres wird der Abschnitt über das »Wort Gottes« bringen, s. u. S. 283. Die Differenz zwischen beiden beschreibt Ebeling in einer an Bultmanns Gegenüber von gläubigem und ungläubigen Daseinsverständnis erinnernden Formulierung als das »Entweder-Oder eines Wirklichkeitsverständnisses im Glauben oder im Unglauben«, WuG I, 202. 109 WuG II [9], 67f. Ebeling spricht einmal davon, dass die Theologie »einem notvollen Spitaldienst« gleichen, d. h. »in Beziehung zum wirklichen Menschen sozusagen eine Blutund Wundentheologie« sein muss, wie er in Anspielung auf den Choral Paul Gerhardts sagt; WuG I [6], 351. 105

264

7. Kapitel: Ebelings Alternative zur Metaphysik in der Theologie

als das schlechterdings jedem Heilsnotwendige zu vertreten«. In dieser »Verantwortung für das Wortgeschehen« hat die Theologie die »Aufgabe«, »sich auf die Wirklichkeit, auf die Zeit, auf den konkreten Menschen einzulassen; das heißt: alles, was sie theologisch bedenkt, als das zu bedenken, was jeden Menschen angeht«.110 c)

Streit um Gott

Die Aufgabe der Theologie, das Evangelium zu vermitteln, hat gezeigt, dass dies nach Ebeling in den Streit führt, der auch ein Streit um den ist, von dem das Evangelium ausgeht, nämlich um Gott. Der Widerspruch des Menschen gegen das, was durch das Evangelium zu verstehen ist, richtet sich im Kern gegen Gott und ist damit genau das, was die Theologie mit dem Begriff der »Sünde« bezeichnet. Wenn die Theologie nach Ebeling den »Streit um das Evangelium« zu Aufgabe hat, dann umfasst dies auch den »Streit um Gott.«111 Diese grundsätzliche Aufgabe der Theologie wird durch die Bedingungen der Gegenwart, wie Ebeling sie beschreibt, besonders profiliert. Sie machen es notwendig, in der Situation äußerster Bestreitung Gottes von Grund auf und ohne die Voraussetzungen traditioneller Selbstverständlichkeiten zu zeigen, was das Wort »Gott« eigentlich meint: »Eine Lehre von Gott ist aber heute abstrakte Spekulation, wenn in ihr nicht von Anfang an das Phänomen des neuzeitlichen Atheismus präsent ist.«112 Wie Ebeling dies genau umsetzt, wird im nächsten Unterkapitel deutlich werden. Ebelings Grundlagen für eine der Gegenwart angemessene Gotteslehre stimmen dabei mit seinem Verständnis von Luthers theologischem Ansatz überein, den er mit seinem Verständnis der scholastischen metaphysisch geprägten Theologie kontrastiert: Während nun die dogmatische Tradition die Gotteslehre in der ungestörten Beziehung zu Gott ansetzt bzw. in der Abstraktion von der geschichtlichen Situation des wirklichen Menschen, hat für Luther schon der Anfang des Redens von Gott seinen Ort in der heillosen Situation des Menschen vor Gott.113

Ebeling verweist darauf, dass Luther zwar wie die scholastische Theologie eine vernünftige Erkenntnis des Seins Gottes für möglich hält. Allerdings betont er, dass Luther die »Erkenntnis des Daß Gottes« grundsätzlich allgemeiner ansetze als die Theologie vor ihm, insofern er sie »auch in allen Weisen der Nichter-

110 111 112 113

WuG II [9], 68. WuG II [9], 59. WuG I [6], 359. WuG II [16], 283.

III. Die Aufgabe der Theologie

265

kenntnis Gottes« für wirksam hält.114 Für Luther sei diese weite Allgemeinheit der Gotteserkenntnis aber nicht der »positive Ansatzpunkt« für die Gotteslehre, sondern die »Quelle der Strittigkeit und Fraglichkeit Gottes«. Denn zum einen übergreift sie »Gott und Abgott«, also rechte wie auch falsche Gotteserkenntnis. Zum anderen sieht Ebeling die Feststellung des »Daß Gottes« bei Luther in der »Anfechtung« verortet. Denn sie dränge zu der Frage, »was oder wer Gott sei«. Der Verweis auf Luthers Formulierung in der Auslegung des ersten Gebots: »Worauf Du . . . Dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich Dein Gott« macht die existentielle Dimension deutlich, die Luther für Ebeling mit der Frage nach Gott verbindet. Denn die isolierte Feststellung des Daß Gottes versteht Ebeling wie Bultmann in Wahrheit als Aussage über den Menschen, nämlich über seine Not, sein Vertrauen auf etwas zu richten, weil die Wirklichkeit ihn in Frage stellt: Die nackte Aussage über die Existenz Gottes ist also eine Aussage über die Existenzsituation des Menschen: den Ur-Sachverhalt, der allem Reden von Gott und allem Gotteslästern zugrunde liegt, nämlich die Erfahrung der Wirklichkeit als Existenzanfechtung.

Damit aber steht Luther für Ebeling in scharfem Kontrast zur »traditionelle[n] Gotteslehre«, weil dort »das Sein Gottes zunächst einmal in der vermeintlichen Eindeutigkeit neutralen Vorhandenseins in Betracht kommt, der gegenüber der Mensch sich in der Distanz noch unentschiedener Möglichkeit befindet«.115 Der Ansatz, wie ihn Ebeling bei Luther rekonstruiert, wird dann später zum Vorbild der Gotteslehre in Ebelings Dogmatik, und zwar in erklärter Abgrenzung gegen den ›metaphysischen‹ Ansatz.116 4.

Ergebnis

Die Abstraktion von der geschichtlichen Situation des Menschen als ein Merkmal der metaphysisch ansetzenden Theologie setzt Ebeling in Kontrast sowohl zu Luthers Ansatz bei der Strittigkeit Gottes wie auch zur Aufgabenstellung der Theologie, wie er selbst sie formuliert. Durch das gemeinsame Gegenüber in diesem Punkt profiliert Ebeling seine Theologie gegen die als neue Metaphysiker erscheinenden Kritiker der hermeneutischen Theologie und nimmt für sich die Autorität Luthers in Anspruch, insofern sein eigenes Vorgehen analog zum Vorgehen Luthers angesichts derselben Problematik erscheint. Beide Wege integrieren die Gottlosigkeit, Luther durch die Aufnahme der Anfechtung, Ebeling durch die Aufnahme des modernen Atheismus. Dies ist einer der Gründe, 114 Ebeling verweist dafür auf eine Stelle in der Auslegung des Buches Jona von 1526, in der Luther beschreibt, wie die Vernunft Gott zwar immer wieder verfehlt, aber gerade darin deutlich wird, dass sie von seinem Sein weiß; WA 19, 206, 31–207, 13. Vgl. Luther, 263f. 115 WuG II [16], 283f. 116 S. u. S. 301–304.

266

7. Kapitel: Ebelings Alternative zur Metaphysik in der Theologie

warum Ebeling verschiedentlich betont, dass die Theologie bei der Bewältigung ihrer Aufgabe in der Gegenwart von Luther viel lernen kann.117

IV.

Hermeneutische Theologie

Das sechste Kapitel hat gezeigt, dass Ebeling gegen das metaphysische Denken vor allem den Vorwurf der »Situationsvergessenheit« richtet. Er kritisiert mit diesem Begriff die Abstraktion von der »Existenz des Menschen« mit der Illusion, Gott in der »Situation neutraler Distanz« beschreiben zu können.118 Ebeling dagegen versteht Theologie als existentielle oder »hermeneutische« Theologie im Sinne des wechselseitigen Auslegungsprozesses von in der Schrift fixiertem Wortgeschehen und menschlicher Wirklichkeit.119 Solche betonte Akzentuierung, wie sie bereits in der Gegenstandsbeschreibung und Aufgabenstellung der Theologie durch Ebeling deutlich geworden ist, grenzt sich automatisch ab von einem theologischen Ansatz, den Ebeling in Zusammenhang mit dem durch »Situationsvergessenheit« geprägten metaphysischen Denken bringt. Dass diese Abgrenzung in Ebelings hermeneutischer Theologie nicht nur impliziert ist, sondern Ebeling sie auch immer wieder explizit zur Sprache bringt, soll nun dargestellt werden.120 1.

Gotteslehre als Sprachproblem

Es ist schon auf den ersten Blick auffällig, dass Ebeling in seinen Schriften häufig das »Wort ›Gott‹« oder das »Reden von Gott« thematisiert statt direkt Gott oder die christliche Gotteserkenntnis in den Blick zu nehmen. Zwar hat die Formulierung »Reden von Gott« auch den Sinn, jegliche Äußerung über Gott zu erfassen, also vor allem Theologie und Verkündigung in eine gemeinsame Perspektive zu stellen.121 Noch mehr aber geht es Ebeling darum, die Probleme der Theologie bewusst als Sprachphänomene anzugehen. Er orientiert sich hier an seinem Lehrer Bultmann. Ebeling bezeichnet es als deutlichste Auffälligkeit in Bultmanns Aufsatz »Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden«, dass dieser nicht der Frage der Gotteserkenntnis nachgeht, sondern stattdessen die »Frage nach dem Sinn des Redens 117

Z. B. WuG IV, 13; Evangelienauslegung, 557; LuSt III, 573. WuG II [16], 278. 119 S. o. S. 263. 120 Die folgende Untersuchung von Ebelings hermeneutischer Theologie ist von dieser Absicht geleitet und konzentriert sich deshalb besonders auf Aspekte, an denen dies deutlich wird. Für einen generellen Überblick s. z. B. BÜHLER, bes. 461–463; BEUTEL, 258–263. 121 Vgl. Ebelings Sprachgebrauch z. B. in WuG I [6], 349–371, bes. 355 sowie Luther, 280– 309, bes. 284. 118

IV. Hermeneutische Theologie

267

von Gott« stellt. Die Frage nach Gott sei damit nicht mehr als erkenntnistheoretisches, sondern nunmehr als hermeneutisches Problem gestellt. Beide Perspektiven stehen aber für Ebeling in einem Zusammenhang. Die erkenntnistheoretische Fragestellung der Gotteslehre sei im 19. Jahrhundert als Konsequenz aus der »Krisis der traditionellen Metaphysik« entstanden. Der »hermeneutische Ansatz« Bultmanns wiederum ist nach Ebeling als Fortführung der »kritische[n] Auseinandersetzung mit der Metaphysik« zu verstehen, der jedoch die »Befangenheit« der erkenntnistheoretischen Fragestellung in der Metaphysik überwinden will. Was er genau darunter versteht, erläutert er hier nicht weiter. Vielmehr weist er darauf hin, dass bereits Bultmanns Lehrer Herrmann den erkenntnistheoretischen Ansatz durch den Ansatz bei der Frage nach der Gewissheit der Wirklichkeit Gottes aufgebrochen habe. Sowohl für Herrmanns Ansatz am »Gewißheitsproblem« wie auch für Bultmanns Ansatz am »Verstehensproblem« sei wesentlich, dass sie die Frage nach Gott vom Lebensbezug aus klären wollten.122 Wenn Ebeling also in seinen eigenen Arbeiten ebenfalls das »Wort ›Gott‹« und das »Reden von Gott« unter Bezug auf die Existenz des Menschen thematisiert, dann knüpft dies bewusst an die Traditionslinie von Herrmann und Bultmann an und bringt seinen hermeneutischen Ansatz in Zusammenhang mit der Kritik am metaphysischen Denken in der Theologie. Wie sieht nun Ebelings hermeneutische Theologie aus? In der Arbeit »Gott und Wort« aus dem Jahr 1966123 legt Ebeling sein theologisches Grundprogramm dar. Dieser Aufsatz soll im folgenden als Leitfaden dienen, um den Auswirkungen der Metaphysikkritik in Ebelings hermeneutischer Theologie nachzugehen. 2.

Das Thema »Gott und Wort«

Ebeling zeigt zunächst im ersten Abschnitt des Aufsatzes, wie die Verbindung »Gott und Wort« in die typischen Probleme seiner Gegenwart führt und macht damit die allgemeine, nicht nur auf den religiösen Bereich beschränkte Relevanz seines Themas deutlich.124 Die allgemeine Bedeutung seines Themas begründet Ebeling damit, dass er die Gegenwart in der Spannung zwischen einer »Sprachtradition« verortet, die »voll von Bezugnahme auf Gott« ist, und einer Verständnislosigkeit für diese Sprachtradition, die nur noch als »totes Sprachrelikt der Vergangenheit« erscheint.125 Die Auseinandersetzung mit dieser Sprachtradition hält Ebeling allgemein für dringend geboten, weil eine stillschweigende Abkoppelung von ihr WuG II [21], 345. Ebeling betont, dass Herrmanns Aufsatz »Die Wirklichkeit Gottes« als wichtiger Hintergrund für die Ausführungen Bultmanns zu betrachten sei. 123 Wiederabdruck in WuG II [19], 396–432. 124 Der Begriff der »Gegenwart« bezieht sich der Einfachheit halber im Folgenden auf Ebelings Gegenwart, also auf die Situation der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts. 125 WuG II [19], 398. 122

268

7. Kapitel: Ebelings Alternative zur Metaphysik in der Theologie

einen »kulturellen Niedergang« und der »Gefahr einer geistigen Barbarisierung« zur Folge hätte.126 Aufgrund dieser Zeitanalyse kann Ebeling nun betonen, dass das Thema »Gott und Wort« sofort in die »Geschichtssituation« der Gegenwart führe, womit deutlich werde, dass es kein »zeitloses Thema« sei, sondern »Zeit, Erfahrung und Geschichte mit ins Spiel« bringe.127 Dieser Hinweis ist als implizite Abgrenzung vom metaphysischen Einstieg der Theologie zu verstehen, für den Ebeling das Stichwort der Zeitlosigkeit sonst verwendet.128 Es folgt nun eine Beschreibung des Atheismus, dessen Selbstverständlichkeit in der Gegenwart Ebeling, wie wir bereits gesehen haben, als den größten Unterschied zu früheren Zeiten betrachtet. Auch hier findet sich wieder eine Verbindung zur Metaphysikkritik. Für die Tatsache, dass das schon früher bekannte »Phänomen der Gottlosigkeit« in der Neuzeit allgemein verbreitet und »als angeblich radikale Ehrlichkeit« akzeptiert ist, gibt Ebeling der christlichen Theologie und Verkündigung eine Mitschuld. Denn das »christliche Reden von Gott« war in Ebelings Urteil durch die metaphysische Begründung bis zur Unkenntlichkeit mit dem vorneuzeitlichen Weltbild verwoben, so dass die wissenschaftliche Erforschung der Welt irrtümlicherweise in Konflikt mit dem Glauben geraten musste. Ebeling betont damit, dass der verbreitete Atheismus sich also gar nicht gegen den richtig verstandenen Glauben richtet, sondern nur gegen das mit dem Glauben verwechselte Weltbild der christlich überformten Metaphysik: »Dieser Unglaube war aber nicht im klaren über sich selbst, weil es an klarer Bezeugung des Glaubens mangelte.«129 Diesen vielschichtigen Hintergrund nimmt Ebeling nun zum Anlass, nach den »eigentlichen Schwierigkeiten im Verhältnis von Gott und Wort« zu fragen. Ebeling sieht diese Schwierigkeiten zunächst gar nicht so sehr im Atheismus, sondern darin, dass nach christlicher Auffassung alle Menschen »Sünder und somit in strengem Sinne Gottlose sind«. Wie kann dann aber überhaupt von Gott geredet werden? Ebeling nimmt hier ein zentrales Motiv der frühen dialektischen Theologie auf, wenn er die »widersprüchliche Erfahrung« des Menschen anspricht, »einerseits von Gott reden zu müssen, anderseits nicht von Gott reden zu können«, die sich nur dadurch löst, dass der Mensch von Gott selbst zum Reden autorisiert wird.130 Zwar ungenannt, aber durch die Begrifflichkeit deutlich, knüpft Ebeling an Bultmann an, wenn er ausführt, dass der Gottlose nur von Gott reden kann, wenn er sich selbst »als Gottlosen« erkennt, der von Gott zu diesem Reden ermächtigt ist. Hinter dieser Begrifflichkeit steht Bultmanns

126 127 128 129 130

WuG II [19], 400. WuG II [19], 403. Vgl. z. B. Wesen, 90. WuG II [19], 404f. Vgl. BULTMANN, Sinn, bes. 33–35 und BARTH, Wort Gottes, passim.

IV. Hermeneutische Theologie

269

Vorstellung, dass das Wort »gottlos« die verlorene Beziehung zu Gott und gerade dadurch deren Ursprünglichkeit und Notwendigkeit aussagt. Dies wird noch deutlicher, wenn Ebeling den Atheismus der Gegenwart in die Fragestellung einbezieht. Er will die radikale Anfrage des Atheismus aufnehmen, indem er den Sinn des Redens von Gott davon abhängig macht, ob die »Gotteserfahrung des säkularisierten Menschen« die dargestellte »widersprüchliche Selbsterfahrung des Menschen nur verdeckt, aber nicht beseitigt«. Und so präzisiert er die Leitfrage des Aufsatzes: »Ist das Wort der Menschen heute immer noch Wort der Gottlosen? Oder sind der Mensch und seine Sprache so radikal säkularisiert, daß sie nicht einmal mehr gottlos sind?«131 Mit den Überlegungen des ersten Abschnitts hat Ebeling das Thema »Gott und Wort« in die spezielle Situation der Gegenwart, wie sie sich ihm darbietet, platziert und dabei mehrfach in teilweise benannten, teilweise impliziten Gegensatz zum Ansatz des metaphysischen Denkens gebracht. Gleichzeitig hat er aber das Anliegen des metaphysischen Ansatzes der Theologie aufgenommen, indem er die allgemeine, über den Bereich von Theologie und Kirche hinaus gehende Bedeutung aufgezeigt hat, die das Reden von Gott in seinen Augen hat. 3.

Sprache und Existenz

Ebelings Rückgriff auf die Sprache hat aber nicht nur die Funktion, die Problemsituation der Gegenwart deutlich zu machen. Die Tatsache, dass sie dies kann, beruht auf einem tiefer liegenden Sachverhalt, nämlich dem, dass der Mensch seine Wirklichkeit überhaupt sprachlich bewältigt. Ebeling hat deshalb gleich zu Beginn seines Aufsatzes die Sprache als »Schnittpunkt aller Dimensionen der Wirklichkeitserfahrung« charakterisiert.132 Und so dient ihm das Thema der Sprache nun im zweiten Abschnitt anstelle der Metaphysik zur Erfassung der (menschlichen) Wirklichkeit, die er dann schließlich mit einer vorläufigen Bestimmung des Wortes »Gott« in Beziehung setzt. a)

Das signifikative Sprachverständnis

Um die Wirklichkeit über die Sprache fassen zu können, muss sich Ebeling zunächst vom gängigen Verständnis der Sprache absetzen. Das Problem dieses Sprachverständnisses besteht für ihn darin, dass es nicht nur »mit Notwendigkeit die Vokabel ›Gott‹ und somit das Reden von Gott überhaupt der Sinnlosigkeit« ausliefert, sondern dass es prinzipiell eine »Verengung« darstellt, »die, konsequent gehandhabt, das Leben der Sprache erstickt«.133 Wie kommt es dazu? WuG II [19], 406f. Zu Bultmanns Begriff von »gottlos« s. o. S. 158. WuG II [19], 397. 133 WuG II [19], 408. Vgl. o. S. 249–251 bereits die kritische Anknüpfung an das allgemeine Wirklichkeitsverstehen. 131 132

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7. Kapitel: Ebelings Alternative zur Metaphysik in der Theologie

Schon früher hatte Ebeling das Kausaldenken der Metaphysik unter anderem für die Reduktion der Sprache auf ihre »Aussage- und Bezeichnungsfunktion« verantwortlich gemacht.134 Damit steht die Metaphysikkritik auch wieder dahinter, wenn er nun davon spricht, dass das gängige Sprachverständnis das Wort als Zeichen für eine Sache und damit die Sprache von ihrer »Bezeichnungsfunktion« her versteht. Ebeling nennt es das »signifikative Verständnis«, das er auf die Antike und ihre Unterscheidung von signum und res zurückführt. Die Neuzeit hat dieses Sprachverständnis in seinen Augen radikalisiert, indem es die Sprache völlig auf ihre »Zeichenfunktion« reduziert, nämlich »das Wort auf die Chiffre und der Wortzusammenhang auf den Kalkül«. Ebeling spricht von »konsequenter Mathematisierung« der Sprache, deren Sinn in bestimmten begrenzten Zusammenhängen er zwar anerkennt, von der er aber betont, dass sie eben nicht zum »Wesen der Sprache« führen kann.135 b)

Sprache und Verantwortung

Die instrumentelle Auffassung der Sprache lässt nach Ebeling außer Acht, »was am lebendigen Geschehen der Sprache das Konstitutive ist, nämlich die Zeit«. In diesem Geschehen ist nicht das einzelne Wort das grundlegende Element, sondern der Satz: »Er fügt das, wovon die Rede ist, im Medium der Zeit zusammen.« Ebeling unterscheidet deshalb die einzelne »Vokabel«, die eine isolierte Sache bezeichnet, von dem in einem bestimmten Kontext gebrauchten »Wort«, das etwas aussagt. Selbst ein einzelnes Wort ist, sobald es ausgesprochen wird, für Ebeling eine »Zeitaussage«, weil es dann in Verbindung zu einer konkreten zeitlichen Situation des Sprechers steht. Insofern nun das Wort ein »zeitliches Geschehen« darstellt, gehört zu ihm »die Situation, der es entspringt, in die hinein es geschieht und die es verändert«.136 Die Kritik an der Abblendung der Zeit, die Ebeling gegen die Metaphysik richtet, begegnet hier also gegenüber einer bestimmten Sprachauffassung. Die durch die Zeit bestimmte »Wortsituation« setzt Ebeling gleich mit der »Wortverantwortung«. Die Beziehung des Wortes zur Zeitsituation, in die hinein es gesprochen wird, ist eine vom Sprechenden zu verantwortende Beziehung: »Wer etwas sagt, muss wissen, ob es an der Zeit ist.« Diese Verantwortung erstreckt sich aber nicht nur auf den gegenwärtigen Akt des Redens. Die Sprache erschließt nach Ebeling die Welterfahrung des Menschen. Diese Erfahrung aber ist, indem sie in aufeinander folgenden Zeitmomenten stattfindet, geschichtlich. Der Umgang des Menschen mit seiner Geschichtlichkeit, der bereits im vor-

RGG VI [12], 825; s. o. S. 202f. WuG II [19], 408f. Wie die Stichworte »Chiffre« und »Kalkül« zeigen, hat Ebeling hier vor allem die frühe analytische Sprachphilosophie im Blick, s. o. S. 246–249. 136 WuG II [19], 409. 134 135

IV. Hermeneutische Theologie

271

angehenden Kapitel angeschnitten wurde,137 ist durch die Sprache ermöglicht: »Allein durch die Sprache kann ich mich zu Vergangenheit und Zukunft verhalten, ist mir Vergangenes und Zukünftiges gegenwärtig, kann ich hinter mein Jetzt zurückgehen und ihm vorauseilen.« Aus den Möglichkeiten der Sprache ergibt sich nun auch die Nötigung, seine Vergangenheit und seine Zukunft zu verantworten.138 Sprachlichkeit und Verantwortung des Menschen stehen für Ebeling damit in einem elementaren Zusammenhang. Den Begriff »Verantwortung« verwendet Ebeling auf unterschiedliche Weise, die er hier nicht explizit unterscheidet. Zum einen versteht er darunter den »Antwortcharakter menschlichen Verhaltens«,139 der dadurch entsteht, dass sich der Mensch in seinem Leben verschiedenen Forderungen stellen muss.140 Ebeling kann das menschliche Verhalten als »Antwort« oder überhaupt als »Wort« bezeichnen, weil er im Anschluss an Bultmann den Wortbegriff so weit fasst, dass dieser auch die Taten des Menschen umfasst.141 Damit versteht er Verantwortung als Antwort auf die Forderung der Gegenwart »durch Taten, die auch Worte, und Worte, die auch Taten sind«. Zum anderen bedeutet Verantwortung für ihn die »Rechenschaft«, die der Mensch für sein Verhalten zu geben hat, und zwar solange er lebt, so dass sie nicht nur auf seine Vergangenheit gerichtet ist, sondern immer auch seine Zukunft bestimmt. Diese Rechenschaft kann nach Ebeling nur im Wort geleistet werden. Die eigentliche Bedeutung des Handelns für den Menschen besteht darin, dass sich der Mensch, wenn es geschehen ist, damit identifizieren muss. Beide Aspekte des Begriffs »Verantwortung« fließen dadurch zusammen, dass ihr gemeinsamer Gegenstand letztlich der Mensch selbst ist, der sein Leben lang nicht von dieser Verantwortung loskommt: »Der Prozeß, in den der Mensch als zur Verantwortung Gerufener, als zur Rechenschaft Geforderter verwickelt ist, kommt während des Lebens nicht ans Ende.«142 Aufgrund dieser Zusammenhänge hält Ebeling den »Begriff des Verantwortens« für geeigneter, um den »Grundsachverhalt von Sprache« zu verstehen, als die Bezeichnungsfunktion.143 Die Verantwortung des Menschen für seine Vergangenheit und Zukunft ist die Grundlage, wenn Ebeling nun dem aufgewie-

137

S. o. S. 222. WuG II [19], 410; vgl. [8], 27f. 139 WuG II [8], 30. 140 Ebeling spricht WuG II [8], 26 von der »Nötigung zum Wirken, zur Hingabe und zum Zurechtbringen« als Grundbestimmungen des Menschseins; zur Beschreibung dieser Nötigungen s. WuG II [8], 12–26. Zum »Antwortcharakter« vgl. HEIDEGGER, Humanismus, 323f, für den der Mensch »vom Sein angesprochen wird« und in diesem »Anspruch« findet, »worin sein Wesen wohnt«. Ähnlich FUCHS, Hermeneutik, 70; vgl. PILNEI, 97. 141 WuG II [8], 28f; vgl. WuG II [21], 348f, wo Ebeling die enge Verflechtung von Wort und Handeln bei BULTMANN, Sinn, 36 darstellt. 142 WuG II [8], 31f. 143 WuG II [19], 410. 138

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7. Kapitel: Ebelings Alternative zur Metaphysik in der Theologie

senen Zusammenhang von Existenz und Sprachlichkeit weiter nachgehen will. Der Begriff der Verantwortung macht dabei schon jetzt deutlich, dass Ebeling den Lebensbezug in seinem Ansatz durch eine – in einem wie bei Herrmann und dem frühen Bultmann weitem Sinne verstandene – ethische Perspektive erreichen will, die im Gegensatz zur rationalistischen Engführung des metaphysischen Denkens steht. c)

Die Macht des Wortes

Ebeling will klären, was die Sprache für den Menschen überhaupt leistet. Er verweist zunächst auf die »Verständigung im menschlichen Miteinander«. Für ihn ist allerdings bezeichnend, dass er die Notwendigkeit solcher Verständigung nicht neutral oder sogar positiv begründet, etwa in der Fähigkeit des Menschen zur Organisation des Lebens in sozialen Gefügen, sondern in der Problematik, dass »die Menschen in ihrem Denken und Wollen unberechenbar sind und deshalb zu Widersachern werden«. Hieran wird bereits deutlich, dass für Ebeling das eigentliche Potential der Sprache nicht oder zumindest nicht vollständig durch den Menschen entfaltet werden kann. Und entsprechend einschränkend beantwortet Ebeling dann auch die Frage nach dem, was durch das Wort geschieht »und nur durch das Wort geschehen kann«, nämlich »letztlich und eigentlich . . . Zukunft zu gewähren, Freiheit zu gewähren«.144 Ebeling geht es dabei nicht nur darum, dass diese Freiheit und diese Zukunft das übersteigen, was der Mensch durch sein bloßes Handeln erreichen kann: Damit, daß ich einen vom Ertrinken rette, errette ich ihn noch nicht aus der Verzweiflung an der Zukunft, die ihn in den Selbstmordversuch trieb. . . . Ebenso gebe ich dem von Mordlust Besessenen nicht damit die Freiheit, daß ich ihn freilasse und so dem Zwang seiner Raserei überlasse.

Es geht Ebeling vor allem um das Problem, dass der Mensch mit seiner Freiheit seine eigene Zukunft und Freiheit zerstört.145 Nach Ebeling kann nur das Wort in dieser Situation wirklich Freiheit und Zukunft vermitteln, und zwar indem es die Wahrheit sagt. Dies nennt Ebeling die »elementarste Auskunft« über die Funktion des Wortes. Wahrheit ist für ihn »die ins Wort gefasste Wirklichkeit«, was er gleichsetzt mit dem »Kundwerden dessen, was . . . das Geheimnis der Wirklichkeit ist«. Mit dem »Geheimnis der Wirklichkeit« spricht Ebeling zwar den Kern seines Wirklichkeitsverständnisses an, präzisiert aber erst später, was er genau darunter versteht – seine Ausführungen sollen erst darauf hin leiten. Das Wort, das die Wahrheit vermittelt und uns 144 WuG II [19], 411f. Ebeling versteht die »Grundstruktur des Wortes« nicht als »Aussage«, die er als »abstrakte Abart des Wortgeschehens« bezeichnet, sondern als »Mitteilung . . . in dem gefüllten Sinn von Partizipation und Kommunikation«; WuG I [5], 342. Zur »Mitteilung« vgl. HEIDEGGER, SuZ, 155. 145 WuG II [19], 412f.

IV. Hermeneutische Theologie

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dem Geheimnis der Wirklichkeit näher bringt, besteht nicht im »Feststellen von Richtigkeiten«, sondern darin, »gegen die Wurzel seines eigenen Mißbrauchs anzugehen«, nämlich gegen die Zerstörung von Freiheit und Zukunft durch das im weiten Sinne des gesamten Handelns verstandene Wort, und den Menschen selbst wahrzumachen, also von der Verkehrung seines Wortes zu befreien. Das »Wort« nun kann den Menschen wahr und frei machen, weil es seine Eigenschaft ist, »das Nichtvorhandene, Abwesende gegenwärtig sein zu lassen«. Dies ist für Ebeling entscheidend im Blick auf die persönliche Geschichte des Menschen. Auch hier arbeitet Ebeling wieder die problematischen Aspekte heraus. Zwar sieht er in den gefallenen Entscheidungen den Anlass für »Dank und Reue«, in den zukünftigen den Grund für »Angst und Hoffnung«. Aber es sind die bedrängenden Erfahrungen, die ihm daran wichtig sind. Die »Verborgenheit« der Zukunft, die den Menschen bedrängt, und das »Dunkel der Vergangenheit«, das dem Menschen undurchsichtig ist und ihn an falsches Handeln fesselt, belasten die Gegenwart des Menschen, weil sie ihm die Zukunft entschwinden lassen. Aus dieser Situation beantwortet Ebeling seine Frage danach, was durch das Wort »eigentlich und letztlich« geschieht: Das Wort ist nicht irgendein, dem Menschen zur Verfügung stehendes, sondern »das wahrmachende und freimachende«, das dem Menschen »eine solche Gewißheit zur Zukunft« vermittelt, »die aller schwindenden und enttäuschten Zukunft überlegen ist«.146 d)

Die Bestimmung des Menschen von der Sprache her

Die Ausführungen Ebelings haben nicht das Ziel, eine »allgemeine Sprachtheorie« vorzulegen. Vielmehr ist es seine Absicht, »die Situation zu kennzeichnen, in der sich der Mensch dadurch befindet, daß er Sprache hat«. Die Überlegungen zum Wesen der Sprache stellen also eine anthropologische Besinnung anhand der Sprache dar.147 Es ist offensichtlich, dass Ebeling hier an die aristotelische Definition des Menschen anknüpft, die im λόγον 3χον die differentia specifica des Menschen gesehen hat.148 Allerdings versteht Ebeling den griechischen Begriff λόγος nicht als ratio und damit den Menschen als ›vernunftbegabtes Lebewesen‹, sondern eben als »Sprache«.149 Nicht die Vernunft ist die Eigenschaft, die das Grundmenschliche beschreibt, sondern die Sprache. Und weil Ebeling das Wesen der WuG II [19], 414f. WuG II [19], 415; vgl. WuG I [5], 342f. BAYER, 473 nennt Ebelings Vorgehen deshalb eine als »Phänomenologie der Sprache« entworfene »Fundamentalanthropologie«. 148 ARISTOTELES, pol. I 2, 1253a 9f; EN I 6, 1098a 3. 149 Vgl. HEIDEGGER, SuZ, 25, der die Definition übersetzt als »das Lebende, dessen Sein wesenhaft durch das Redenkönnen bestimmt ist« und anmerkt, dass der lateinische Ausdruck animal rationale nicht nur Übersetzung, sondern auch »metaphysische Auslegung« sei; zur Deutung des Logos-Begriffs s. a. SuZ, 32–34. 146 147

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7. Kapitel: Ebelings Alternative zur Metaphysik in der Theologie

Sprache über den Begriff der Verantwortung beschrieben sieht, ist für ihn der Mensch grundlegend über seine »Moralität« beziehungsweise »Sittlichkeit« zu erfassen. Das bedeutet nicht, dass Ebeling die Vernunft nicht als elementare Eigenschaft des Menschen betrachtet. Die bereits erwähnte »Nötigung zur Rechenschaft«, der sich der Mensch in seinem Leben stellen muss, umfasst auch die »Nötigung zu redlichem Vernunftgebrauch«. Um sein Leben bewältigen zu können und sich nicht selbst zu schaden, muss der Mensch etwas als richtig oder falsch beurteilen können, also »zwischen Wahrheit und Lüge« unterscheiden. Unter »Denken« versteht Ebeling deshalb »sich Rechenschaft geben«. Die aristotelische Definition des Menschen als ζ5ον λόγον 3χον stellt Ebeling in eine Reihe mit dem sokratisch-platonischen Motiv des λόγον διδόναι150 sowie dem platonischen und biblischen λόγον α&τε6ν151 . Alle drei führt er auf die Sprachlichkeit des Menschen zurück: »Als einer, der des Wortes mächtig ist, ist er Rede und Antwort schuldig, ist er verantwortlich.« Im Wort fallen damit Moralität und Vernünftigkeit zusammen. Aber eben so, dass Ebeling die Vernunft in den weiteren Zusammenhang der »Nötigung zur Rechenschaft« und damit der »Sittlichkeit« einordnet: »Das Denken gehört offenbar in den Horizont des Sittlichen, so daß es sittliche Pflicht ist zu denken, das Denken aber auch an sittliche Verantwortung gebunden ist.«152 Nicht Denken oder Vernunft sind also bei Ebeling die elementarste Bestimmung des Menschen, sondern die durch die Sprache wahrgenommene Verantwortung, also die »Moralität«. Diese anthropologische Bestimmung bedeutet zugleich eine wichtige Weichenstellung für die Konzeption der Theologie. Denn damit will Ebeling seinen Ansatz von der rationalen Engführung frei halten, für die er das metaphysische Kausaldenken durch die Bestimmung des Menschen von der Vernunft her verantwortlich macht.153 Der Zusammenhang zwischen der Grundbestimmung des Menschen und der Grundlegung der Theologie ist zum Gegenstand einer aufschlussreichen Diskussion zwischen Ebeling und Wolfhart Pannenberg geworden, die nun über den Aufsatz »Gott und Wort« hinausführt, aber sehr schön zeigt, wie Ebeling bewusst an die Theologie Herrmanns anknüpft und sich dabei gegen eine Theologie positioniert, die er als vom metaphysischen Denken gekennzeichnet sieht. Das λόγον διδόναι ist als Rechenschaft dem Fragenden gegenüber das zentrale Element des Dialogs, vgl. PLATON, Lach. 187d; Tht. 201c, oder die Fähigkeit, etwas vor sich selber zu rechtfertigen, rep. 534b 3f. Allerdings spielt das Motiv der Rechenschaft auch bei Heidegger eine wichtige Rolle, so dass Ebelings Ausführungen entgegen dem Anschein nicht direkt an die griechische Philosophie anknüpfen, sondern vor allem Heideggers Auseinandersetzung damit aufnehmen, vgl. HEIDEGGER, Identität, 50 sowie Satz, z. B. 181. 151 PLATON, polit., 285e; 1 Petr 3, 15. 152 WuG II [8], 26f; vgl. WuG I, 440. 153 S. o. S. 202f. 150

IV. Hermeneutische Theologie

e)

275

Die prinzipientheologische Bedeutung des ethischen Problems

Ebeling hatte im Jahr 1969 einen Aufsatz in der Zeitschrift für Theologie und Kirche veröffentlicht, in dem er Gastvorlesungen über die »Evidenz des Ethischen und die Theologie« zusammenfasste. Darin weist er dem »ethischen[n] Problem« eine grundlegende Bedeutung in der »dogmatischen Prinzipienlehre« zu, und zwar in hermeneutischer Hinsicht: »Denn der Mensch, wie er faktisch vorgegeben ist in seinem Gefordertsein und immer schon Gehandelthaben, ist Verstehensbedingung der Glaubensverkündigung.« Die ethische Forderung ist also die Grundbestimmung des Menschen und seiner Wirklichkeit.154 Ebeling kommt sofort einem Einwand zuvor, wie er gegen Bultmann und seine Rezeption der Existenzanalyse Heideggers geäußert wurde, indem er betont, dass es ihm nicht um die unkritische Aufnahme eines unabhängig vom Glauben gewonnenen »profanen Selbstverständnisses« des Menschen geht.155 Vielmehr ist sein Blick auf die Wirklichkeit, wie bei Bultmann, bereits von der christlichen Verkündigung geleitet. Da für ihn der Sinn der Verkündigung darin besteht, die Lebenswirklichkeit auszulegen, würde eine Verkündigung ohne Bezug auf die Lebenswirklichkeit gar keinen Sinn machen, »ins Leere« stoßen und »gegenstandslos« werden. Deshalb hängt für Ebeling »die Wahrheit des theologischen Denkens und die Verstehbarkeit aller theologischen Aussagen« davon ab, ob die Wirklichkeit von vorne herein in das theologische Denken einbezogen ist. Dass nun die Wirklichkeit durch das ethische Problem erfasst ist, hat in der Verkündigung seine Ursache, die, wie Ebeling ja häufig betont, nicht auf eine Erweiterung des Wissens zielt, sondern auf die Existenz des Menschen. Ebeling weist darauf hin, dass »hier, wie stets im Verstehensproblem« der »hermeneutische Zirkel« deutlich wird. Wenn er also der »ethische[n] Besinnung auf den Menschen« eine »hermeneutische Funktion« für die Theologie zuschreibt, so ist dies notwendigerweise bereits von einem bestimmten Verständnis des theologischen Gegenstandes her gewonnen.156 Es ist wichtig zu beachten, dass Ebeling nicht allgemein an der Ethik, sondern am »Problem des Ethischen« und seiner den Menschen bedrängenden Erfahrung interessiert ist.157 Worin aber liegt das »Problem des Ethischen«? Ebeling geht von der »Evidenz« aus, dass im menschlichen Miteinander die »Mitmenschlichkeit« immer schon beeinträchtigt ist. Aus dieser »Evidenz« leitet er die »Nötigung zum Zurechtbringen« ab, mit der sich der Mensch in seiner

WuG II [8], 11; vgl. 7: »Mit dem Ethischen steht das Menschsein selbst auf dem Spiel.« Bultmann wehrt sich gegen diesen Vorwurf, indem er betont, dass seine »natürliche Theologie« vom »Standpunkt des Glaubens« her gewonnen sei; z. B. BULTMANN, Geschichtlichkeit, 350 Anm. 1; Problem der natürlichen Theologie, 302–304. 156 WuG II [8], 11; vgl. WuG II [9], 68f. 157 WuG II [8], 19. 154 155

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7. Kapitel: Ebelings Alternative zur Metaphysik in der Theologie

Existenz konfrontiert sieht.158 Diese Nötigung führt einerseits zu der absoluten und radikalen Forderung nach »reiner Mitmenschlichkeit«, die alle das Handeln leitenden sozialen Strukturen und Konventionen (wie Sitte und Recht) übersteigt und lediglich »in eigener Verantwortung« erfüllt werden kann. Andererseits führt sie zu »bestimmten und begrenzten Forderungen« nach einem Handeln, das die sozialen Strukturen und Konventionen als Schutzräume der Mitmenschlichkeit bewahrt.159 Beide Arten der Forderung geraten nun in Konflikt miteinander. Die begrenzten Forderungen verleiten dazu, »die radikale Forderung zu verdecken und das Zurechtbringen für erfüllt zu halten, wenn das Gewohnte gewahrt bleibt«, während die absolute Forderung dazu tendiert, die Notwendigkeit der begrenzten Forderungen »schwärmerisch« zu übersehen. Das Handeln des Menschen steht nach Ebeling somit unter dem ständigen Konflikt, wie sich »die radikal ausgelegte Forderung zum Leben in den alltäglichen Notwendigkeiten verhält«.160 Die Ursache für die »Zweidimensionalität« der Forderungen entsteht nach Ebeling dadurch, dass nicht die Frage nach dem rechten Mitmenschlichen Handeln, sondern der Mensch selbst die »eigentliche Wurzel des ethischen Problems« darstellt. Weil die Verletzung der Mitmenschlichkeit vom Menschen ausgeht, ergibt sich einerseits die Notwendigkeit geordneter sozialer Strukturen und Konventionen – also das, was die Theologie traditionell als das postlapsarische Erhaltungshandeln Gottes versteht. Andererseits folgt daraus die radikale Forderung, den Menschen selbst zurechtzubringen.161 Aus der Spannung zwischen der absoluten und den konkreten Forderungen folgert Ebeling, »daß das Problem des Ethischen offenbar ethisch nicht lösbar ist.«162 In diesem Problemhorizont will Ebeling die »Notwendigkeit des Theologischen« dadurch erweisen, dass es die durch die Grenzen der Ethik für die Ethik selbst entstehenden Probleme löst.163 Das Stichwort des »Selbstverständnisses« und der von vorne herein abgefangene Einwand gegen die Überfremdung der Theologie durch die Rezeption eines vom christlichen Glauben unabhängigen Wirklichkeitsmodells zeigen deutlich, dass Ebeling hier an Bultmann anknüpft. In seiner »natürlichen Theologie« will Bultmann zeigen, dass sich die Offenbarung auf Strukturen der menschlichen Wirklichkeit bezieht und deshalb verständlich ist. Er findet diese Strukturen im Selbstverständnis des Menschen und beschreibt die Offenbarung als das Angebot eines neuen Selbstverständnisses, das an das alte Selbstverständnis anknüpft, 158 159 160 161 162 163

WuG II [8], 20. WuG II [8], 22. WuG II [8], 22f. WuG II [8], 23f. WuG II [8], 24. WuG II [8], 32.

IV. Hermeneutische Theologie

277

indem es ihm widerspricht. Geht Ebeling hier also formal wie Bultmann vor, so erinnert seine prinzipientheologisch in Anspruch genommene Bestimmung des Menschen über die »Sittlichkeit« inhaltlich vor allem an Bultmanns Lehrer Wilhelm Herrmann. Auch bei Herrmann, vor allem in der Religionsschrift, hat der Bezug auf die Sittlichkeit den Sinn, die menschliche Existenz an ihrer Wurzel zu erfassen. Ebenso soll die über die Sittlichkeit erfasste Existenz die religiösen Inhalte hermeneutisch korrekt erschließen und die Wahrheit der Religion aufzeigen, weil erst die Religion den Menschen so zurecht bringt, dass er der sittlichen Forderung zu entsprechen vermag. Darin begegnet ebenfalls, wenn auch anders als bei Ebeling aus der kantischen Ethik gewonnen, die Spannung zwischen bestimmten Forderungen und der absoluten Forderung.164 Wolfhart Pannenbergs Mainzer Antrittsvorlesung aus dem Jahr 1961 geht unter dem Titel »Die Krise des Ethischen und die Theologie« kritisch auf den Ansatz Ebelings ein. Ebeling wiederum antwortet in einer Replik auf Pannenbergs Kritik, auf die dann noch ein Briefwechsel zwischen beiden folgt. Die Diskussion kann hier nicht umfassend wiedergegeben werden. Für den vorliegenden Zusammenhang reicht es aus, auf die grundlegende Differenz zwischen beiden hinzuweisen. Pannenberg setzt in seiner Antrittsvorlesung, obwohl Ebeling Herrmann in seinem Aufsatz nur zwei Mal eher beiläufig und Bultmann überhaupt nicht erwähnt, mit Herrmanns Religionsschrift ein und schlägt von da aus den Bogen über Bultmann, Gogarten und Fuchs zu Ebeling, dem er eine offen zu Tage liegende Nähe zu Herrmann bescheinigt.165 Dementsprechend zielt seine Kritik gleichermaßen auf Herrmann wie auf Ebeling. Auch Pannenberg betrachtet es als notwendig, die Theologie von der Anthropologie her zu begründen. Aber er erfasst das Grundmenschliche von der Sinnproblematik her. Diese umfasst für ihn zwar auch das ethische Problem, muss ihm aber vorausgehen, weil es für Pannenberg ohne die Reflexion der Wirklichkeit überhaupt kein ethisches Problem geben kann: »Erst aus dem jeweiligen Verständnis der Wirklichkeit im Ganzen ergeben sich die Grundlinien eines ethischen Verhaltens.«166 Die Grunderfahrung, von der der Mensch her zu erfassen ist, auf das ethische Problem einzuschränken, bezeichnet Pannenberg deshalb als »ethizistische Engführung«.167 Ebelings erste Antwort an Pannenberg setzt mit einer Verteidigung Herrmanns ein, die deutlich macht, dass er den theologiegeschichtlichen Zusammenhängen, die Pannenberg zwischen ihm und Herrmann hergestellt hat, tatsächlich

164

S. o. S. 97f. PANNENBERG, Krise, 41–45. In Ebelings Ansatz sieht Pannenberg die »Erneuerung« der »ethische[n] Begründung der Theologie in der Schule Ritschls«, Krise, 46, und spricht von der »Erneuerung Herrmannscher Gedanken«, Krise, 48. 166 PANNENBERG, Krise, 48–54, Zitat 52. 167 PANNENBERG/EBELING, 455. 165

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7. Kapitel: Ebelings Alternative zur Metaphysik in der Theologie

zustimmt.168 Es wird deutlich, dass er sich bei der »Orientierung am ethischen Problem« zur Ausrichtung der Theologie »auf das Forum des Menschlichen schlechthin« an Herrmann anschließt.169 Bei ihm sieht er eine »zu Unrecht preisgegebene Spur«, die er letztlich »auf Luther zurückführt«.170 Zur Position Herrmanns sieht Ebeling nur eine einzige Alternative, nämlich eine »neue Metaphysik«, die aber »vom spezifisch Menschlichen des Menschen zunächst ganz absähe«, und das »Reden von Gott . . . im Zusammenhang neuzeitlicher Wissenschaftsmethode« zu verankern. Die Ablehnung eines Ansatzes bei der ethischen Erfahrung bedeutet also für Ebeling, die Theologie überhaupt nicht vom Menschen, sondern ›metaphysisch‹, d. h. »objektiv im Bereich des den Menschen ausklammernden Welterkennens zu begründen«. Dagegen plädiert er dafür, die Wirklichkeit für die Theologie über die Erfahrung des Menschen mit seinem Menschsein zu erfassen, was er als »das den Horizont des Ethischen sprengende Problem des Ethischen« präzisiert.171 Ebeling besteht auch noch 1973 in seiner zweiten Antwort an Pannenberg darauf, dass die menschliche Grunderfahrung als eine ethische anzusprechen ist, die zwar durchaus die »Sinnthematik« umfasst. Er betont aber, dass das Ethische dem Sinnproblem gegenüber ursprünglicher ist, wenn man nicht systematisch vom ordo rei her denkt, sondern von dem ordo cognitionis, den das konkrete Leben mit seinen Erfahrungen dem Menschen aufdrängt. Dann haben für ihn eben auch die Sinnfrage und das Wirklichkeitsverständnis ihre Wurzel im Ethischen.172 Die Kontroverse zwischen beiden geht also im Kern darum, von wo aus das Menschsein des Menschen für den Ansatz der Theologie zu erfassen ist. Während Ebeling mit dem ethischen Problem auf die Nötigung des Menschen zum Handeln zielt, sieht Pannenberg den Menschen zuerst als Denkenden. Nicht am ethischen Problem anzusetzen, bedeutet für Ebeling aber, die Theologie im Wissen und damit metaphysisch zu begründen. Auch wenn Ebeling später das ethische Problem durch die Sprachlichkeit des Menschen ersetzt, bedeutet dies nicht, wie seine zweite Antwort an Pannenberg zeigt, dass er damit die an Herrmann gewonnene Konzeption der Theologie aufgibt. f)

Gott als Mittel zur Bezeichnung der menschlichen Situation

Die Überlegungen zur Sprache in »Gott und Wort« dienen also der ethischen Grundbestimmung des Menschen und führen, wie Ebeling als These formuliert, »in den Erfahrungshorizont dessen, was wir meinen, wenn wir ›Gott‹ sagen«. 168 169 170 171 172

WuG II [11], 42f. 45f WuG II [11], 48. WuG II [11], 43. WuG II [11], 44f; vgl. WuG II [16], 279; [13], 391. PANNENBERG/EBELING, 464–469, bes. 464f.

IV. Hermeneutische Theologie

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Weil Ebeling den Menschen als »Wesen« versteht, »das Sprache hat«, kann für ihn eben die Sprache die »Grundsituation des Menschen« aufdecken. Und diese Grundsituation ist genau »diejenige Situation, die durch das Wort ›Gott‹ angesprochen und gemeint ist«.173 Was macht Ebeling hier? Will er etwa den Inhalt des Wortes »Gott« von einer Grundbestimmung des Menschen her erheben? Ein solches Verfahren, das einen außerhalb der Offenbarung gewonnenen Gottesbegriff zur Voraussetzung für die theologische Entfaltung macht, würde sich von der alten Theologie nur dadurch unterscheiden, dass Ebeling statt von der Metaphysik von einem Grundverständnis des Menschen ausgeht. Ebeling will dies natürlich nicht, sieht sich hier aber doch genötigt, auf den Gottesbeweis am Beginn der klassischen Dogmatik einzugehen. Er räumt tatsächlich eine »formale Ähnlichkeit« mit den quinque viae des Thomas ein, die er allerdings gar nicht als strengen Beweis betrachtet, sondern als einen an der Welterfahrung des Menschen ansetzenden »Aufweis«, der lediglich zeigen soll, was mit dem Wort »Gott« gemeint ist. Ebeling gibt diesem Verfahren bei aller Kritik grundsätzlich Recht, insofern der Gebrauch des Wortes »Gott«, gerade in der Situation des Glaubens in der Gegenwart, eine »Auskunft« darüber verlangt, was damit gemeint ist. Eine solche Auskunft aber muss auf die allgemeine menschliche Erfahrung bezogen sein, denn nur dort ist für Ebeling der »Sinn des Wortes ›Gott‹ verifizierbar«.174 Es geht Ebeling also darum, den Inhalt des Wortes »Gott« zu ›verifizieren‹ und nicht zu bestimmen. Wir haben bereits oben gesehen, dass Ebeling den metaphysischen Gottesbeweis in der Theologie durch seinen hermeneutisch modifizierten Begriff der »Verifikation« ersetzt. Damit will er den Wirklichkeitsbezug deutlich machen, der den Gebrauch des Wortes »Gott« sinnvoll und damit wahr werden lässt – aber eben nicht empirisch-logisch, wie es das Verfahren des logischen Positivismus wäre, sondern hermeneutisch, indem das Wort »Gott« von dem Referenzrahmen her verstanden wird, in den es originär gehört. Deutlich scheint hier Bultmann durch, der jegliches Reden von Gott, auch das »natürliche«, hermeneutisch auf die Existenzsituation des Menschen bezieht.175 Wie bei Bultmann sagt das nicht näher bestimmte Wort »Gott« auch bei Ebeling zunächst nur etwas über die Situation des Menschen aus. Und in diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Ebeling formuliert: »Der Sinn des Wortes ›Gott‹ . . . ist die

WuG II [19], 415. WuG II [19], 416. Zu Ebelings auf die Existenzsituation hin interpretierten Darstellung der quinque viae des Thomas s. o. S. 207f. 175 Vgl. Ebelings Auswertung von Bultmanns Aufsatz »Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden«, WuG II [21], 361–368, z. B. 361f: »Der Sinn des Redens von Gott ist die Situation des Redens von Gott. Wenn man die Situation des Redens von Gott nicht bedenkt, d. h. wenn man den Menschen ausklammert, der von Gott redet, so wird das Reden von Gott sinnlos.« 173

174

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7. Kapitel: Ebelings Alternative zur Metaphysik in der Theologie

Grundsituation des Menschen als Wortsituation.«176 Der Gebrauch des Wortes »Gott« ist dann sinnvoll, und damit verständlich und wahr, wenn es auf den Menschen in seiner durch die Sprache bestimmten Existenzsituation bezogen ist. Wie aber bestimmt Ebeling die »Wortsituation« des Menschen? Die Sprache macht nach Ebeling die wesenhafte Abhängigkeit des Menschen deutlich. Dies zeigt sich für ihn schon daran, dass der Mensch auf tradierte Sprache angewiesen ist, um überhaupt sprechen zu können. »Niemand kann von sich aus sprechen.« Außerdem weist Ebeling auf den Antwortcharakter des menschlichen Lebens hin. Das »Wort« des Menschen ist »immer nur Antwort«. Und diese Antwort muss er verantworten. So kann Ebeling sagen, der Mensch habe »nicht das erste und nicht das letzte Wort«.177 Und schließlich besteht die Sprachlichkeit des Menschen für Ebeling in der Tatsache, dass er auf ein Wort angewiesen ist, das er sich selber nicht geben kann. Nämlich auf ein Wort, das ihn »aus der beängstigenden Enge der Bindung an das Vorhandene und somit aus der Angst des eigenen Herzens befreit«. Schuld und Tod bezeichnet Ebeling als »Bewährungsproben für das Wort«, denn an ihnen wird deutlich, »ob der Mensch dem ausgeliefert ist, was ihn sprachlos macht, oder ob er noch im Verstummen sich an ein Wort halten kann, das ihn außerhalb seiner selbst versetzt«. Somit deckt die Sprache für Ebeling die wesenhafte Passivität und Angewiesenheit des Menschen auf.178 Ein solches Verständnis des Menschen steht im Gegensatz zum metaphysischen Denken, in dem der Mensch von seiner Vernunftbegabung her als »tätiges Subjekt« aufgefasst ist.179 Die durch die Sprache aufgedeckte Passivität entspricht dem, was Ebeling sonst den »Horizont der radikalen Fraglichkeit« nennt.180 Nach Ebeling erfährt der Mensch diese Fraglichkeit durch die »Passivität«, die seinem Leben letztlich, auch seiner »Aktivität«, von Anfang bis Ende zugrunde liegt. Neben dem Hinweis, dass wie Geburt und Tod weite Bereiche des Daseins nicht in der Hand des Menschen liegen, begründet Ebeling dies auch hier mit der Antwortstruktur des menschlichen Lebens. Es handelt sich um die Erfahrung, dass der Mensch von etwas abhängig ist, das ihm verborgen ist. Die Erfahrung dieser Passivität, in der der Mensch dennoch zur Antwort gedrängt ist, ohne von sich aus eine Antwort geben zu können, bezeichnet Ebeling als »Ursache« der radikalen Fraglichkeit.181 Er spricht von dem »Widerfahrnis eines radikalen und umfasWuG II [19], 416. In dieser Formulierung schlägt sich auch Ebelings Beschäftigung mit Schleiermacher nieder, vgl. WuG III, 116–136 und z. B. SCHLEIERMACHER, CG, § 4, 4 = 28–30. Diesem für Ebelings Ansatz bedeutenden Hintergrund kann allerdings im Rahmen dieser Arbeit nicht nachgegangen werden. 177 WuG II [19], 417f. 178 WuG II [19], 419. 179 S. o. S. 202f. 180 WuG I [6], 365f. 181 WuG I [6], 368. 176

IV. Hermeneutische Theologie

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senden Nichtverstehens, das eben jene die Welt und mich selbst umgreifende Fraglichkeit ist«. Dieses »Nichtverstehen« ermöglicht für Ebeling das Verstehen des Wortes »Gott«.182 In dieser radikalen Fraglichkeit, die Ebeling als eine allgemeinmenschliche Grunderfahrung versteht, erfährt der Mensch letztlich in verborgener Weise Gott, nämlich als die »Frage, die ihn unbedingt angeht«.183 Wenn nun Ebeling das Wort »Gott« auf diese »Grundsituation« des Menschen bezieht, dann will er einen Ansatzpunkt für das Verstehen schaffen, ohne aber das Wort »Gott« inhaltlich von ihr her zu füllen. Seine Überlegungen zum Menschen können nicht, wie die metaphysisch erfasste Wirklichkeit im scholastischen Stufenmodell von Vernunft und Offenbarung, einen positiven Beitrag zum Gottesbegriff leisten, sondern können nur sozusagen via negationis aufdecken, dass dem Menschen etwas entzogen ist, was doch wesentlich zu ihm gehört. Deshalb bezeichnet Ebeling Gott nun als das »Geheimnis der Wirklichkeit«.184 g)

Gott als Geheimnis der Wirklichkeit

Was versteht Ebeling unter dem Begriff des Geheimnisses? Er grenzt ihn ab von der absichtlichen »Verheimlichung«. Das Geheimnis dagegen ist etwas, »auf das der Mensch stößt, das ihm begegnet und ihm zu schaffen macht, mit dem er sich auseinandersetzen muß, weil es ihm vorgegeben und aufgegeben ist«.185 Anders als das »Rätsel« soll er es nicht lösen, sondern es »wahrnehmen«, d. h. »als Geheimnis respektieren«. Dem Geheimnis gegenüber ist der Mensch also nichts als »Empfänger«.186 Auf die Unterscheidung des Menschen als Handelndem und als Empfangendem kommt es Ebeling hier an. Es geht ihm darum, dass der Mensch als Handelnder und als Empfangender »immer schon« mit Gott zu tun hat, auch wenn es ihm nicht bewusst ist. Wie der Mensch als Handelnder sich mit »einem unerfüllten und unerfüllbaren Anspruch« konfrontiert sieht, den die Theologie als »Gesetz« und damit als verborgene Erfahrung Gottes anspricht, so begegnet der Mensch nach Ebeling in verborgener Weise Gott, wenn er die Erfahrung macht, Empfangender zu sein, vom Geschenk, von der Gnade zu leben, vom Geheimnis umgeben zu sein. Dieses Geheimnis erfährt der Mensch als etwas, »was ihn vom Unbegreiflichen ergriffen werden läßt, was ihm Ehrfurcht abnötigt und ihn Vertrauen erweisen läßt, was ihm Mut verleiht zu Liebe und zu Hoffnung«. Solche Erfahrung, deren Beschreibung stark an Wendungen Herrmanns erinnert, betrachtet Ebeling als »Erfahrung Gottes«, WuG I [6], 366. Wesen, 100f. Die Beschreibung der menschlichen Wirklichkeit in der Struktur der Frage, auf die der Glaube oder die Offenbarung antwortet, weist besonders deutlich auf Bultmann und Herrmann hin; s. o. S. 103 und 113 zu Herrmann sowie S. 153–158 zu Bultmann. 184 WuG II [19], 419. 185 WuG II [22], 197. 186 WuG II [22], 200. 182 183

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7. Kapitel: Ebelings Alternative zur Metaphysik in der Theologie

die in der Deutung durch das Evangelium »zu rechter Erfahrung Gottes werden kann«.187 Das »Geheimnis« bei Ebeling entspricht überhaupt in weiten Teilen den Erfahrungen des religiösen Erlebens in Herrmanns späten Schriften.188 Beiden kommt es vor allem auf die Passivität des Menschen an, dem diese Erfahrung absolut unverfügbar gegenübersteht. Wenn Ebeling davon spricht, dass der Mensch das Geheimnis wahrnehmen und wahren müsse,189 dann bedeutet dies, dass der Mensch der Tatsache entsprechen muss, Empfangender zu sein – und als solcher zum Wort, also zur Antwort, gefordert ist. Das Geheimnis der Wirklichkeit entspricht damit aller, auch der Aktivität des Menschen zugrunde liegenden Passivität. Entsprechend versteht Ebeling den Unglauben als »Aberglaube, nichts als Täter zu sein«.190 Ebeling bezeichnet also Gott deshalb als das »Geheimnis der Wirklichkeit«, weil er ihn zu dieser grundlegenden Passivität des Menschen in Beziehung setzen will und weil er damit andeuten will, dass diese Passivität das Leben des Menschen in einer verborgenen Weise beherrscht. Somit sagt die Rede von Gott als dem »Geheimnis der Wirklichkeit« nichts anderes aus als das, was Ebeling bereits mit der »Wortsituation« des Menschen beschrieben hat, fügt aber den Bezug auf Gott hinzu, ohne das Wort »Gott« dadurch inhaltlich weiter zu bestimmen. Indem er Gott als in der Wirklichkeitserfahrung des Menschen verborgen bezeichnet, stellt er den Wirklichkeitsbezug der christlichen Gottesvorstellung sicher, ohne damit wie in der metaphysisch ansetzenden Theologie ein positives vernünftiges oder angeborenes Wissen von Gott zu verbinden. Damit hat Ebeling sein Ziel hier noch nicht erreicht, nämlich die »Verifikation« des Wortes »Gott«. Er hat bisher lediglich behauptet, dass das Wort »Gott« der »Wortsituation« des Menschen entspricht.191 Die »Verifikation« des Wortes »Gott« erfordert bei Ebeling das »Wort Gottes«,192 mit dem er sich nun im dritten Abschnitt seines Aufsatzes befasst.

187 WuG II [22], 206f. Im Unterschied zu Herrmann aber findet bei Ebeling die Transzendierung dieser Erfahrungen durch das Evangelium statt, d. h. Offenbarung ist dezidiert an Schrift und Verkündigung gebunden. 188 Vgl. HERRMANN, Wirklichkeit, 310f; Lage, 59f sowie 62, wo Herrmann davon spricht, dass das religiöse Erlebnis dem Menschen »auch die Sinne für den geheimnisvollen Gehalt der Welt [öffnet]«. Wie dargestellt, ist die Wende des religiösen Erlebnisses als Herrmanns moderne Fassung der Rechtfertigungslehre zu verstehen, s. o. S. 114f. Die Betonung der menschlichen Begrenzung, die das Geheimnis Gottes respektieren und nicht auflösen soll, erinnert allerdings auch an BARTH, KD II/1, 42–45. 189 Z. B. WuG II [22], 197f; 200. 190 WuG II [22], 207. 191 WuG II [19], 419f. 192 WuG II [19], 421.

IV. Hermeneutische Theologie

4.

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Die Verifikation des Wortes »Gott« durch das Wort Gottes

Der »Sinn« des Wortes »Gott«, also die inhaltliche Bestimmung des Wortes, hängt für Ebeling ab von der Notwendigkeit seines Gebrauchs. Ist die Notwendigkeit des Wortes nicht aufzuweisen, kann man umgekehrt sagen, dann ist das Wort sinnlos, d. h. es könnte nicht verifiziert werden. Dies trifft sich mit Ebelings Auffassung, dass Gott nur dann wirklich erkannt ist, wenn seine Heilsnotwendigkeit erkannt ist.193 Was aber bedeutet »Gebrauch« im Blick auf das Wort »Gott«? Ebeling verweist zunächst auf die allgemeine Sprache. Eine Vokabel, führt er aus, wird in der Sprache dadurch gebraucht, dass sie mit anderen Vokabeln einen »Aussagezusammenhang« bildet. Der »Sprachzusammenhang« oder das »Wortgeschehen«, zu dem die »Vokabel ›Gott‹« gehört, ist das Wort Gottes. In diesem Kontext ist »zu dessen Klarheit« das Wort »Gott« notwendig, weil es ausspricht, »worauf sich solches Wortgeschehen bezieht, worauf es sich beruft, woran es appelliert, woran es seine Wahrheit hat«.194 Noch einmal schlägt Ebeling den Bogen zu den Problemen der Gegenwart, die den Aufweis dieser Notwendigkeit vor besondere Schwierigkeiten stellt. Sie bestehen in seinen Augen daraus, dass Bibel und Verkündigung als überholter Traditionszusammenhang betrachtet werden, dass das »Reden von Gott« zu einer »Gettosprache« geworden ist und dass die »Rationalisierung und Technisierung« dazu geführt haben, dass der Mensch das Geheimnis der Wirklichkeit nicht mehr wahrnimmt – die technische Machbarkeit überdeckt die wesenhafte Passivität des Menschen.195 In den nun folgenden Abschnitten klärt Ebeling den Begriff des Wortes Gottes, um dann von dort aus aufzuzeigen, weshalb für den Sprachzusammenhang des Wortes Gottes das Wort »Gott«, trotz aller Schwierigkeiten in der Gegenwart, notwendig ist. a)

Das Wort Gottes

Für den Begriff des Wortes Gottes verweist Ebeling zunächst auf das »ursprüngliche Wortgeschehen, das als Heilige Schrift fixiert ist«. Dabei betont er, dass die biblischen Texte »nicht einfach selbst das zu Überliefernde« sind, sondern das »eigentlich zu Überliefernde« bezeugen, nämlich die »Quelle des Wortgeschehens«, das immer wieder neu zur Verkündigung befähigt. Diese Quelle ist Gott selbst, und zwar »im Alten Testament Jahwe, im Neuen Testament Jesus«. Wort

193 194 195

Vgl. WuG II [15], 256; [20], 295. WuG II [19], 420f. WuG II [19], 423.

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7. Kapitel: Ebelings Alternative zur Metaphysik in der Theologie

Gottes versteht Ebeling deshalb nicht als ein einmal fixiertes, sondern als ein »sich ständig erneuerndes, . . . sprachschöpferisches Wortgeschehen«.196 Woran aber lässt sich solches »Wort Gottes« erkennen? Wie bei Ritschl, Herrmann und Bultmann die christliche Religion beziehungsweise der Glaube nicht durch von außen angelegte Mittel, wie etwa Metaphysik oder Ethik, bewiesen werden kann, sondern nur durch sich selbst, so hält auch Ebeling im Blick auf die als Wort Gottes gefasste Offenbarung eine »von außen hinzukommende Bestätigung und Bewahrheitung« für unmöglich. Er betont, dass das Wort Gottes seine Wahrheit nur selber erweisen kann: »Wort Gottes ist vielmehr selbst Verifikation. Es verifiziert sich selbst, indem es den Menschen verifiziert.«197 Was er meint, verdeutlicht Ebeling wieder an allgemeinsprachlichen Zusammenhängen, und zwar daran, »wie Wort Verstehen vermittelt«. Ein Wort, führt er aus, bewirkt im Normalfall von sich aus Verstehen, ohne dass es zuerst verständlich gemacht werden muss. Es muss dafür an bereits Verstandenes anknüpfen, also an Erfahrung, die, weil Verstehen für Ebeling ein sprachlicher Vorgang ist, einen »sprachlichen Charakter« trägt. Der »Erfahrungshorizont« des hörenden Menschen ist deshalb der »Kontext«, in den das Wort gesprochen wird. In diesen Kontext bringt ein Wort, wie Ebeling im Rückgriff auf seine Darlegungen im zweiten Teil des Aufsatzes ausführt,198 die »Ansage von Verborgenem« hinein. Weil das Entscheidende der sprachlichen Kommunikation in diesem »Zur-Sprache-Kommen von Verborgenem« liegt, folgert Ebeling: »Wort setzt also immer Ungesagtes, Verstehen immer Unverstandenes voraus«. Die Wirkung des Wortes zielt darauf, indem es etwas Verborgenes ausspricht und damit anwesend sein lässt, den Kontext, also den Erfahrungshorizont des Menschen, zu verändern. Sofern dieses Verborgene dem Kontext nicht so fremd ist, dass es ihn gewaltsam verändert, sondern ausspricht, was in ihm verborgen vorhanden ist, bezeichnet Ebeling die Wirkung des Wortes als eine den Kontext »zurechtbringende, wahrmachende Veränderung«.199 Auch wenn Ebeling hier den Anschein erweckt, er beschreibe zunächst allgemein, »wie Wort Verstehen vermittelt«, macht doch gerade das Stichwort der ›wahrmachenden Veränderung‹ deutlich, dass seine Ausführungen über die Sprache bereits von dem Ziel geleitet sind, Offenbarung und Verkündigung in ihrem Wesen als Wortgeschehen zu beschreiben. Daraus erklärt sich sein Interesse, den Aspekt der Informationsvermittlung bei seinem Nachdenken über die Sprache derart zu marginalisieren.200 Wie Herrmann und Bultmann lehnt er WuG II [19], 425f; vgl. WuG II [17], 106f. 116. WuG II [19], 426. Vgl. BULTMANN, Christologie, 107: »Für das Wort ist . . . keine andere Legitimation zu fordern und keine andere Basis zu schaffen, als es selbst ist.« 198 WuG II [19], 414f. 199 WuG II [19], 426f. 200 Vgl. Anm. 144. PANNENBERG, Krise, 51 wirft Ebeling vor, die »Mitteilungsfunktion des Wortes von seiner Aussagefunktion« zu isolieren statt beide in einem wesenhaften Zu196 197

IV. Hermeneutische Theologie

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es ab, Offenbarung als Mitteilung theoretisch zu erfassender Informationen zu verstehen. Mit dem Verweis auf die das Leben bestimmende Macht der Sprache will er die Begegnung mit dem Wort Gottes als eine das Leben verändernde Erfahrung zeigen. Ebeling will dabei nicht nur herausarbeiten, dass der allgemeine Vorgang des Verstehens durch Sprache und das Geschehen des Wortes Gottes dieselbe Struktur aufweisen, sondern dass das Verstehen des Wortes Gottes von vorne herein bezogen ist auf das durch die Sprache schon immer ermöglichte Verständnis des Menschen von sich selbst und seinem Leben. Wie bei Bultmann die Offenbarung verstanden werden kann, weil sie dem schon immer gegebenen Selbstverständnis des Menschen strukturell entspricht, nicht indem sie dieses ergänzt, sondern indem sie ihm widerspricht, so spricht auch Ebeling davon, dass »das biblische Wort und die daraus erwachsende Verkündigung« verstanden werden können, weil sie sich, wie das Wort allgemein, auf den Kontext von bereits Verstandenem beziehen, mit diesem aber im Widerspruch stehen: Zugleich ist Mangel an Wort und Verstehen vorausgesetzt – ein »Zugleich«, das dem im Kontext schon vorgegebenen Wort und Verstehen den Charakter eines gegensätzlichen Entsprechens, eines Widersprechens geben muß, wenn es sich nicht um ergänzendes Wort, sondern im strengen Sinn um entscheidendes Wort handelt.

Entscheidend aber ist für Ebeling das Wort nur dann, wenn es nicht einen Teil des Kontextes, sondern »den Kontext selbst und im ganzen« betrifft: »Es entscheidet über Tod und Leben«.201 Die allgemeine Beschreibung der Sprache überträgt Ebeling nun auf das Wort Gottes. Es kann nur dann verstanden werden, »wenn es an dem Menschen und dessen Welt den Kontext hat, in den hinein es Verborgenes ansagt«, und zwar nicht irgend etwas, sondern das, was »als die Wahrheit über das Menschsein des

sammenhang zu sehen. Außerdem merkt er kritisch an, dass Ebeling wie auch sein Freund Ernst Fuchs ihre Sprachtheorie »zu schnell auf das Eröffnen oder Verschließen von Existenz« verengten. Pannenberg sieht hier eine vorschnelle Zuspitzung der Sprachanalyse »auf einen modernen Wechselbegriff für den traditionellen Rechtfertigungsgedanken«. 201 WuG II [19], 427. Vgl. BULTMANN, Begriff des Wortes Gottes, 284, der das Wort Gottes nicht nur in struktureller Parallele zum Selbstverständnis des Menschen, sondern auch als über Leben und Tod entscheidendes Geschehen beschreibt: »Da dies Wort reine Anrede ist und keine Legitimation bringt, da es nichts beweist, und nicht als Theorie von der Gnade Gottes, sondern als Gottes eben jetzt sich ereignender Akt der Gnade verstanden werden will, bringt es Leben oder Tod, ist es das Wort des Lebens wie des Gerichts. Die Möglichkeit des Wortes, verstanden zu werden, fällt zusammen mit der Möglichkeit für den Menschen, sich selbst zu verstehen.« Im Unterschied zu Bultmann widerspricht bei Ebeling nicht das Wort Gottes dem Menschen, sondern umgekehrt das vorgegebene menschliche Selbstverständnis dem Wort Gottes. Vor Bultmann hat bereits Ritschl die Religion als ein »Selbstverständnis« beschrieben, s. o. S. 39.

286

7. Kapitel: Ebelings Alternative zur Metaphysik in der Theologie

Menschen entscheidet«. Damit hat Ebeling nun die Verifikation des Menschen erreicht, die er als Verifikation des Wortes Gottes betrachtet: Die Tradition des Wortes Gottes . . . will uns vielmehr in bezug auf unser Sein in der Welt verifizieren; und das heißt nach der Grundbedeutung dieses lateinischen Kompositums . . . uns in bezug auf unser Sein in der Welt »wahr machen«, zur Wahrheit bringen.202

Das Verhältnis des Wortes Gottes zur Wirklichkeit hat damit nicht die Form einer »Ergänzung«, wie es sich in Ebelings Augen aus der metaphysisch ansetzenden Theologie ergibt, noch die einer »Verdrängung«, wie es Ebeling in Barths Ansatz als Gefahr sieht. Mit dem Begriff der Verifikation will Ebeling eine Alternative erreichen, die den Problemen beider Ansätze entkommt, indem er das Wort Gottes einerseits auf die menschliche Wirklichkeit bezieht, ohne dieser Einbeziehung aber, wie in der metaphysisch ansetzenden Theologie, eine Auswirkung auf die Erlösungslehre zu erlauben, die die absolute Rolle der Gnade Gottes einschränken würde.203 Das Wort Gottes ist zwar auf die menschliche Wirklichkeit bezogen, aber nicht ungebrochen, sondern indem es ihr so widerspricht, dass sie zu ihrer Wahrheit kommt. Wie aber bringt das Wort Gottes den Menschen zu seiner Wahrheit? Indem es ihm seine »Grundsituation als Wortsituation« aufdeckt, also ihn erkennen lässt, dass er zwar »als Mensch immer schon von Gott angegangen ist«, sich diesem »Angegangensein vom Geheimnis der Wirklichkeit« aber verschließt. Auf diese Weise versucht Ebeling in seine Zeit zu übersetzen, was die Theologie traditionell mit dem status corruptionis und dem Begriff der Sünde beschreibt. Der Mensch, der seiner eigenen Grundsituation ausweicht, ist nach Ebeling »nicht mit sich selbst identisch«. Er lebt in Lüge und Unfreiheit sowie in Unfrieden mit dem, was die menschliche Wirklichkeit in Wahrheit bestimmt. Ebeling bejaht damit die Leitfrage, die er am Ende des ersten Teils gestellt hatte, nämlich ob der heutige Mensch und seine Sprache, trotz ihrer radikalen Säkularisierung, immer noch als »gottlos« zu bezeichnen sind. Nach Ebeling macht, wie der gottlose Mensch bei Bultmann, gerade der seiner Grundsituation gegenüber verschlossene Mensch seine Angewiesenheit auf Gott deutlich: »Weil nicht einig mit Gott, ist er nicht einig mit sich selbst. Als Gottloser ist er der Mensch im Widerspruch.«204 Das Wort Gottes ist für Ebeling die einzige Möglichkeit, dieser Problematik zu entkommen. Es spricht den Menschen in einer konkreten Situation an und lässt ihn darin seine Grundsituation erkennen. Damit führt das Wort Gottes für die vorher im Widerspruch gefangene hoffnungslose Existenz die Wende herbei: »Und zwar in der Weise, daß der Mensch in eine konkrete Wortsituation gestellt wird, die ihn offen macht für seine Grundsituation: durch ein Wort des Glaubens, das Liebe bezeugt und deshalb hoffen läßt.« Um deutlich zu machen, 202 203 204

WuG II [19], 428f. Vgl. WuG II [15], 252–255, s. o. S. 216. WuG II [19], 429; die Leitfrage findet sich 407.

IV. Hermeneutische Theologie

287

dass das Wort Gottes in Jesus Christus seine Mitte hat, spricht Ebeling davon, dass »der Mensch Jesus« als die »Fülle« des Wortes Gottes erschienen ist. Der Glaube an Jesus Christus bedeutet, »in ihm in die eigene Grundsituation versetzt sein«. Das Wort Gottes bringt den Menschen bei Ebeling dadurch zu seiner Wahrheit, dass es ihn in diese Externrelation, also den Glauben, bringt.205 Hier nun kann die oben aufgeworfene Frage206 beantwortet werden, was Ebeling mit dem Evangelium genau meint: Es ist verstanden als ein Sprachbezug, das dem Menschen das wahre Selbstverständnis vermittelt, oder anders formuliert als ein Wort, das dem Menschen eine bestimmte Selbsterfahrung ermöglicht. b)

Die Notwendigkeit des Wortes »Gott« für den gottlosen Menschen

Von hier aus greift Ebeling noch einmal die Frage nach der Notwendigkeit des Wortes »Gott« angesichts seiner religiösen Vieldeutigkeit und besonders seiner gegenwärtigen Strittigkeit auf. Der Gebrauch des Wortes für das biblische Wort Gottes steht nach Ebeling in einem »nie zu Ende kommende[n] Kampf um das Wort ›Gott‹«. Das Wort Gottes klärt, was das Wort »Gott« in Wahrheit meint. Und dies bezieht Ebeling nicht nur auf die Gegenwart, sondern verortet bereits die Bibel selbst in einem durch »Mißbrauch des Namens Gott« geprägten »Kontext«.207 Dieser Hinweis hat fundamentale Tragweite für Ebelings Konzeption der Theologie. Ebeling bringt damit zum Ausdruck, dass die Theologie nicht nur in der Gegenwart, sondern von ihrer Sache her nicht bei der Eindeutigkeit der Vokabel »Gott« einsetzen kann. Deshalb ist es nicht möglich, einen metaphysisch geklärten Begriff von Gott vorauszusetzen, um daran das, was die christliche Verkündigung über Gott sagt, anzuschließen. Die Aufgabe der Theologie ist, wie bereits in Ebelings Aufgabenstellung für die Theologie deutlich wurde, der Streit. Weil die Strittigkeit zum Wesen der Sache gehört, will Ebeling am Wort »Gott« festhalten. Es geht ihm also nicht darum, ob die »Vokabel ›Gott‹« durch eine andere Vokabel zu ersetzen ist, denn die Probleme mit dem Wort Gott beziehen sich ja nicht auf die Vokabel, sondern auf ihren Inhalt. Den aber betrachtet Ebeling um des Menschen willen als notwendig, um das Geheimnis der Wirklichkeit, dem der Mensch unausweichlich begegnet, benennen zu können. Um dies auch wirklich leisten zu können, muss das Wort »Gott« so intensiv auf die menschliche Erfahrung hin ausgelegt werden, dass die Notwendigkeit seines Gebrauches deutlich wird.208 Ebeling gibt seine Verbindung mit Herrmann und der von diesem beeinflussten dialektischen Theologie zu erkennen, wenn er an dieser Stelle, um jeglichen 205 206 207 208

WuG II [19], 429f. S. 252. WuG II [19], 430. WuG II [19], 431.

288

7. Kapitel: Ebelings Alternative zur Metaphysik in der Theologie

Aktionismus und damit die Gefahr des Synergismus vom Wort »Gott« fernzuhalten, eigens betont, dass dies abhängt von einem »Geschehen, das nicht in unserer Macht liegt«. Wie für Bultmann der Mensch nur von Gott reden kann, wenn er dazu durch Gottes Handeln ermächtigt ist,209 so ist auch für Ebeling eine Wiedergewinnung des Wortes »Gott« in der Gegenwart nur durch Gott selbst möglich, nämlich dann, wenn Wort Gottes ergeht. Ebeling fordert, in einem »Bereitschaftsdienst« am Wort Gottes und »im Vertrauen auf neue Sprachermächtigung« die »Konzentration auf das biblische Wort Gottes«. Denn das Wort der Bibel erschließt die Situation des Menschen, die Ebeling als eine »zwiespältige Wirklichkeit« versteht und in der der Mensch es mit dem Geheimnis der Wirklichkeit zu tun bekommt, als eine »worthafte Wirklichkeit«, die vom Menschen umfassende Verantwortung verlangt, und als »Wirklichkeit, die Glauben fordert«. Ebeling bezeichnet es als »lebensnotwendig«, diese Situation »beim Namen nennen zu können«. Indem sie als verborgene Begegnung mit Gott benannt wird, wird es möglich, ohne die Hilfe einer metaphysisch gewonnenen ›natürlichen Theologie‹ und dennoch auf die Wirklichkeit bezogen das rettende Wort Gottes zu verkündigen, und zwar denen, die Gott ermangeln, also »als Wort für die Gottlosen«. Auch die »Menschlichkeit« der Sprache hängt für Ebeling davon ab, dass die Sprache offen ist für das Geschehen des Wortes Gott und sich nicht in ihrer Ausweg- und Hoffnungslosigkeit verschließt: »Dann aber ist selbst im Wort der Gottlosen verborgenes Wort Gottes zu vernehmen.«210 So beantwortet Ebeling seine Leitfrage, ob der Mensch auch heute noch als »gottlos« anzusprechen sei, mit dem Hinweis darauf, dass die Abwendung des Menschen von Gott greifbare negative Auswirkungen auf das Menschsein des Menschen hat, die nur durch als Wort Gottes geschehende Hinwendung Gottes zum Menschen überwunden werden können. Die Bestimmung zum Glauben ist eine Grundanlage des Menschseins und ein falsches, weil diese Grundanlage negierendes Selbstverständnis bringt den Menschen in Widerspruch zu sich selbst. Mit diesem Zusammenhang begründet Ebeling die Notwendigkeit des Wortes »Gott«. Wesentliches Grundmoment der Wirklichkeitserfahrung ist für Ebeling die verborgene Erfahrung Gottes – im Unterschied zum metaphysischen Ansatz der Theologie, der in der Wirklichkeitserkenntnis des Menschen eine thematische Erfahrung Gottes annimmt. Das Wort »Gott« klärt eine Problematik, der der Mensch als Mensch ausgesetzt ist und die anders nicht zu lösen ist. 5.

Ergebnis

Das Thema »Gott und Wort« stellt eine genaue Umsetzung dessen dar, wie Ebeling Aufgabe und Gegenstand der Theologie bestimmt. Denn wie wir gesehen haben, leitet Ebeling die Aufgabe der Theologie aus der Notwendigkeit ab, den 209 210

Vgl. BULTMANN, Sinn, bes. 34f. WuG II [19], 431f.

IV. Hermeneutische Theologie

289

Gegenstand der Theologie, das Evangelium, in jeder Zeit »anders und neu« zum Verstehen zu bringen. Somit hat sich die Theologie mit Gott zu befassen, von dem das Evangelium ausgeht, und mit dem Menschen, auf den das durch das Evangelium intendierte Verstehen zielt. Um diesen Verstehensprozess aber in Gang zu setzen, muss sich die Theologie mit der Gegenwart befassen, die das Verstehen des Menschen durch die Art, wie er seine Wirklichkeit erfährt, prägt. Durch das »Wort« intendiert Ebeling nun zweierlei. Zum einen will er durch das »Wort«, also durch die Sprache, die Wirklichkeitserfahrung des Menschen in ihrer je zeitbedingten Prägung aufgreifen. Zum anderen führt ihn das »Wort« zur Sprachlichkeit des Menschen, von der aus er das Wesen des Menschen versteht. Das Thema »Gott und Wort« ist für Ebeling also in der Aufgabe der Theologie enthalten. Das Wesen des Menschen beschreibt Ebeling durch die Grundsituation der Angewiesenheit, die dadurch bestimmt ist, dass der Mensch seine lebensnotwendige Freiheit und Zukunft zerstört und selbst nicht wieder zurecht bringen kann. Das Wort Gottes bezieht er auf diese Grundsituation. Es macht ihre Problematik verständlich, indem es sie darauf zurückführt, dass der Mensch als Geschöpf seine wesenhafte Abhängigkeit von Gott verloren hat. Das Evangelium versteht Ebeling schließlich als Angebot eines neuen Wirklichkeitsverständnisses, in dem der verlorene Mensch sein Gegenüber im rettenden Gott findet. Auf diese Weise macht Ebeling das Wort »Gott« durch den Bezug auf den Menschen verständlich, ohne materiale Aussagen über Gott daraus abzuleiten. Er will mit seinem Weg keinen Beweis für Gott vorlegen, sondern, indem er den »Sinn« des Wortes Gott an der menschlichen Grundsituation zeigt, die Plausibilität des christlichen »Redens von Gott« aufweisen. Weil die Theologie in diesem Sinn für das rechte Reden von Gott zu sorgen hat, indem es dieses »selbstverständlich als den Menschen angehendes« verständlich macht, spricht Ebeling von ihrem »hermeneutische[n] Charakter«.211 Eine solche hermeneutische Theologie steht im Gegensatz zu einer »Situationsvergessenheit«, mit der Ebeling das metaphysische Denken kennzeichnet, weil sie gegen die als »metaphysisch« bezeichnete Abstraktion der konkreten, von der jeweiligen Zeit geprägten Lebenssituation eine konstitutive Rolle gibt. Gott und Situation des Menschen sind so aufeinander bezogen, dass sie sich wechselseitig Sinn geben: Das Wort »Gott« ist im Horizont der menschlichen Existenzsituation notwendig und damit sinnvoll, die Existenz des Menschen wird verständlich und wahr durch den Bezug auf Gott. Oder im Blick auf die Wahrheitsfrage formuliert: Das Wort »Gott« wird verifiziert im Kontext der

211

WuG II [17], 106.

290

7. Kapitel: Ebelings Alternative zur Metaphysik in der Theologie

menschlichen Existenzsituation, indem diese durch das »Wort Gottes« zur Wahrheit gebracht wird, das wiederum auf das Wort »Gott« angewiesen ist.212

V.

Die Gewissheit aus dem Glauben

Der letzte im sechsten Kapitel dargestellte Aspekt von Ebelings Metaphysikkritik beinhaltete die mangelnde Heilsgewissheit, die sich aus der metaphysisch fundierten Gotteserkenntnis ergibt. Diese mangelnde Heilsgewissheit begegnete in Ebelings Schriften wiederum in zwei Formen, die bei Ebeling zwar nicht explizit miteinander verbunden sind, aber doch sachlich zusammenhängen. Zum einen handelte es sich um die Suche nach Gott außerhalb der Offenbarung in Jesus Christus, die dazu dient, den Glauben über die natürliche Verfassung des Menschen, sei es durch die mystische Versenkung in sich selbst oder durch die Vernunft, abzusichern, wodurch zum zweiten der hermeneutische Fehler vorbereitet ist, die Glaubensgewissheit analog zum Weltwissen zu verstehen und damit eine falsche, der Anfechtung des Gewissens nicht gewachsene religiöse Sicherheit hervorzurufen. Dem steht Ebelings Glaubensverständnis gegenüber, insofern allein die Begegnung mit Jesus Voraussetzung für den Glauben ist, zum anderen der Glaube als ein die ganze Existenz umfassendes Vertrauen verstanden ist. Ebeling hat sein Glaubensverständnis bereits in den 50er Jahren entfaltet und damit vor seiner Metaphysikkritik, teilweise in Auseinandersetzung mit Bultmann, teilweise gegenüber den Kritikern Bultmanns im Streit um die Entmythologisierung.213 Wenn Ebeling die metaphysische Gotteserkenntnis beziehungsweise die metaphysisch fundierte Theologie für ihre mangelnde Glaubensgewissheit kritisiert, dann ist dies also auch als Resultat seines Glaubensverständnisses zu verstehen.

212

Bereits bei RITSCHL, RuV3 III, 207 findet sich dieses Vorgehen, die Gewissheit Gottes von der dem Menschen notwendigen Selbstdeutung her zu erweisen: Die Überzeugung von der »Wirklichkeit Gottes« basiert darauf, dass die Religion dem Menschen eine »Stellung zur Welt« ermöglicht, die ihm als Geistwesen die Unabhängigkeit von der Natur garantiert. Ebenso wollen Herrmann und Bultmann die Überzeugungskraft des Glaubens zeigen, indem sie an einer dem Menschen problematischen Selbsterfahrung angesichts der ihm entgegenstehenden Wirklichkeit anknüpfen, die durch ein aus der Abhängigkeit des Menschen von Gott gewonnenen neuem Selbstverständnis gelöst wird. 213 »Jesus und Glaube«, in: ZThK 55 (1958), 64–110, abgedruckt in WuG I [3], 203–254; der etwas früher erschienene Vortrag Was heißt Glauben? (SGV 216), Tübingen 1958, abgedruckt in WuG III [4], 225–235, bringt die Überlegungen des Aufsatzes in geraffter Form. In Das Wesen des christlichen Glaubens (1959) greift Ebeling stark auf »Jesus und Glaube« zurück und führt die Überlegungen stellenweise etwas weiter.

V. Die Gewissheit aus dem Glauben

1.

291

Jesus als Grund des Glaubens

Ebeling setzt in seinen Ausführungen über den Glauben bei dem von Herrmann her bekannten Satz an, dass Jesus nicht als ein Glaubensgegenstand neben den anderen, sondern als »Quelle« und »Grund des Glaubens« in den Blick genommen werden muss.214 Was meint er damit? Zunächst grenzt sich Ebeling gegen den »katholische[n]« Glaubensbegriff ab, der ihm zufolge nicht nur von der »Scholastik« breit ausgearbeitet wurde, sondern der auch noch die altprotestantische Theologie bestimmt.215 Das Kennzeichen dieses Glaubensbegriffes sieht er in der Aufspaltung des Glaubens in fides quae und fides qua, also in eine Art »Organ«, eine formale Fähigkeit des Menschen, die in sich leer und unbestimmt ist, und einen zu glaubenden Inhalt oder »Glaubensgegenstand«, der die fides qua inhaltlich füllt und bestimmt. Die Rechtfertigung, kritisiert er, wird dabei allein von dem Inhalt abhängig gemacht. Aber selbst, wenn man Jesus als den entscheidenden Gegenstand des Glaubens annähme, ist für Ebeling nicht klar, wie auf diese Weise der Glaube rechtfertigen soll: »Wie kann überhaupt ein Glaubensgegenstand, auch wenn mir in ihm das ›objektiv‹ gewirkte Heil vorgehalten ist, mir dieses Heil mittels Glauben zueignen?« Ebeling will deshalb der »Zusammengehörigkeit von Jesus und Glaube« auf den Grund gehen.216 Wie wir oben bereits gesehen haben, ist das Gegenüber von objektiv gegebenen Glaubensgegenständen und subjektiver Aneignung dieser Gegenstände ein zentrales Thema der lutherischen Kritik an Bultmanns Theologie. Sie bildet den entscheidenden zeitlichen Hintergrund von Ebelings Ausführungen über den Glauben. Und somit ist weniger die altprotestantische und schon gar nicht die scholastische Theologie das direkte Gegenüber Ebelings, sondern die Kritiker der Entmythologisierung, deren unter Berufung auf die orthodoxe Theologie vorgetragene Glaubensbegriff als ›katholisch‹ und damit unlutherisch qualifiziert werden soll. Für sein Vorhaben setzt sich Ebeling nun mit dem Glaubensbegriff in der Bibel auseinander. Nach einer Untersuchung des alttestamentlichen Glaubensverständnisses fragt er nach den Besonderheiten des Glaubensbegriffes im Neuen Testament und wendet sich dafür den Heilunsgeschichten der synoptischen Evangelien zu.217 In diesen Geschichten geht es Ebeling zufolge deshalb um den Glauben, weil der um Heilung Bittende durch sein Leiden in seiner Lebensgrundlage erschüttert ist und die Überwindung dieses Zustandes nicht in seinen eigenen Möglichkeiten sucht, sondern sich dabei völlig Jesus und seiner Macht

214 215 216 217

WuG I [3], 204. WuG I [3], 204f. WuG I [3], 205f. Zur genauen Begründung s. WuG I [3], 228–238.

292

7. Kapitel: Ebelings Alternative zur Metaphysik in der Theologie

ausliefert.218 Diesem Menschen, stellt Ebeling fest, begegnet Jesus mit seiner Gottesgewissheit, d. h. mit einem Glauben, dessen Vertrauen in Gott so hoch ist, dass er wiederum für den anderen zu einer Quelle wird, »von der Gewissheit ausgeht«. Dieses Zeugnis bietet dem Gegenüber einen verlässlichen Grund seines Lebens an, der ihm ein neues Selbstverständnis erschließt und so in ihm Glauben weckt. In diesem Sinne also bezeichnet Ebeling Jesus als »Grund und Quelle des Glaubens«.219 Diese an den synoptischen Heilungsgeschichten herausgearbeitete konstitutive Bedeutung der Person Jesu für den Glauben legt Ebeling seinem eigenen Glaubensverständnis zu Grunde. Die Nähe zu Herrmann wird deutlich, wenn Ebeling betont, dass nicht »sogenannte Glaubensgegenstände« den Glauben begründen, also Aussagen oder Bekenntnissätze über Jesus wie beispielsweise die Auferstehung.220 So betrachtet Ebeling die Aussagen im zweiten Artikel des Apostolikums zwar als »Verstehenshilfen und Kriterien«, ohne die der Glaube an Jesus undeutlich oder sogar verfälscht würde, sieht ihren Sinn aber nur dadurch gegeben, dass sie als Relativsätze dem »credo in Iesum« untergeordnet sind.221 Weil der personale Bezug den Glauben konstituiert, »korrespondiert« Ebeling zufolge »der Glaube dem Wort«. Jesus Christus ist in seiner Person Anrede Gottes an den Menschen, er ist das Wort Gottes, die Offenbarung, in der Gott einzigartig zu den Menschen spricht. Die einzig angemessene Weise des Menschen, auf dieses Wort zu reagieren, ist der Glaube. Der Glaube entsteht und lebt aus dem Wort Gottes, und das heißt eben aus der Begegnung mit Jesus Christus als Grund des Glaubens.222 In diesem Zusammenhang von Wort und Glaube besteht für Ebeling die »Offenbarung in der Geschichte«. Wie Bultmann betont er, dass die Offenbarung nicht auf das einmal ergangene Wort Gottes in Jesus Christus beschränkt werden darf, dem dann entweder als zwar besonderes, aber doch historisches Ereignis oder als besonderes, aber doch welthaft gegebenes Buch Offenbarungscharakter unterstellt wird. Offenbarung gibt es für ihn »nur als verkündigtes Geschehen, d. h. als Wort«, das aber einfach norWuG I [3], 239. WuG I [3], 244f. Vgl. Herrmanns Auffassung von Jesus als »Grund unseres Glaubens«, der durch seine »Person« bzw. durch das »Bild« seines »inneren Lebens« zum Glauben »überwältigt«; HERRMANN, Christus, 170f; Verkehr 7 , 79. 183 u. ö. 220 WuG III [4], 233. Kritisch gegenüber Ebelings Position betonen EICHHOLZ, bes. 571– 579 und PANNENBERG, Grundzüge, 108f die glaubensbegründende Rolle der Glaubensinhalte. 221 WuG III [24], 253. Wenn Herrmann die Person Jesu als Glaubensgrund von den Aussagen (auch des NT) über ihn als »Glaubensgedanken« unterscheidet und ihnen, so sehr er auch ihre Notwendigkeit betont, nicht die Funktion des Glaubensgrundes zugesteht (z. B. HERRMANN, Grund, 285–289), so ist doch zu beachten, dass er im Unterschied zu Ebelings Einordnung der Bekenntnissätze die Glaubensgedanken als subjektiv und damit nicht allgemein verbindlich auffasst. 222 WuG III [4], 233; [24], 266f. 218 219

V. Die Gewissheit aus dem Glauben

293

male Rede von Menschen bleibt, »wenn es nicht als geglaubtes Wort zu dem Geschehen dessen wird, was es bezeugt«. Deshalb nennt Ebeling den Glauben das »gegenwärtige[. . . ] Geschehen der Offenbarung«.223 Dass Glaube Heil und Rechtfertigung vermitteln kann, liegt also für Ebeling daran, dass er aus einer personalen Begegnung mit Jesus entsteht, die das Leben des Menschen grundlegend verändert. Heil und Rechtfertigung können nicht vermittelt werden durch die Richtigkeit von Glaubensinhalten, die auf der Ebene des Wissens liegen. Denn Glaube als heilende Veränderung richtet sich nicht partiell auf den Menschen, indem er das intellektuelle Vermögen des Menschen anspricht, sondern umgreift die ganze Existenz. Dies führt zum zweiten Aspekt von Ebelings Glaubensverständnis.

223 Geschichtlichkeit, 61f. Vgl. z. B. BULTMANN, Begriff der Offenbarung, 22f. 30f. Ebeling knüpft hier an Herrmann an, der in seiner frühen und mittleren Phase das Offenbarungshandeln Gottes an der geschichtlichen Person Jesu festmacht. Dass Herrmann Jesus als Glaubensgrund bezeichnet, soll die Begründung des Glaubens aus der als »Glaubensgesetz« verstandenen Schrift verhindern. Der unbewältigte Zusammenhang von Bibel, Offenbarung, Person Jesu und historisch-kritischer Methode bewirkt allerdings, dass Herrmann diese Zentralstellung der Person Jesu im Spätwerk verliert. Bultmann führt diesen Verzicht auf die zentrale Bedeutung der »Person Jesu«, oder, wie er sagt, des »historischen Jesus«, explizit durch, indem er erklärt, dass keine Rückfrage hinter das in der Schrift bezeugte Wort Gottes, das »Kerygma« der urchristlichen Gemeinde, möglich ist. Wie Herrmann will er damit die Priorität des Offenbarungshandelns Gottes bei der Glaubensentstehung begründen und das Verständnis des Glaubens als Zustimmung zur Historizität der biblischen Berichte abwehren, kann aber, anders als Herrmann, die Bedeutung der Heiligen Schrift als Zeugnis des urchristlichen Kerygmas festhalten. Ebeling verbindet die Auffassungen von Herrmann und Bultmann. Für ihn lässt das »Kerygma als historische Größe« durchaus Rückfragen zu, aber nicht, wie in der von Bultmann abgelehnten »liberalen« Jesu-Leben-Forschung, um nach historischen »objektivierten« Fakten zu suchen, sondern als ein »Zurückfragen hinter ein interpretationsbedürftiges Wort auf ein darin vorausgesetztes Wortgeschehen« (TuV, 55f). Die Rückfrage soll nicht den Sinn haben, den »historischen Jesus« gegen das nachösterliche kirchliche Kerygma auszuspielen (TuV, 60). Ebeling sieht die Notwendigkeit, da historischer Jesus und urchristliches Kerygma nicht identisch sind, nach dem Verhältnis zwischen beiden zu fragen. Es muss geklärt werden, »wie es vom Auftreten und der Verkündigung Jesu zum urchristlichen Kerygma gekommen ist«, um zu zeigen, dass die Aussagen des Kerygma über Jesus Christus und den Glauben tatsächlich einen »Anhalt . . . an Jesus selbst« haben und nicht nur bloße »Behauptungen« darstellen (TuV, 62f) Es ist deutlich, dass Ebeling mit dem »historischen Jesus« nicht den historisch beweisbaren Jesus vor Augen hat, sondern den Rückschluss auf den in den biblischen Berichten vorausgesetzten Menschen Jesus, also auf das, was Herrmann unter der »geschichtlichen Person« verstanden hat.

294 2.

7. Kapitel: Ebelings Alternative zur Metaphysik in der Theologie

Der Glaube als »Grundakt der Existenz«

Ebeling spricht von dem aus der personalen Begegnung mit Jesus entstanden Glauben als »Grundakt der Existenz«.224 Auch dies begründet er aus den synoptischen Heilungsgeschichten. In diesen Geschichten kommen für ihn Menschen in den Blick, die durch die Beeinträchtigung und Bedrohung ihrer Existenz in ihrer Bitte um Heilung nicht nur auf einen Teilbereich, sondern auf ihr gesamtes Leben konzentriert sind. In der Frage, was dem Menschen Grund und Halt gibt, geht es um sein Leben im Ganzen. Für Ebeling zeigt sich darin das Wesen des Glaubens als eine der Existenz im Ganzen zugrunde liegende Ausrichtung.225 Weil der Glaube bei Ebeling eine Bewegung darstellt, die die Existenz im Ganzen betrifft, muss auch er selbst als Einheit verstanden werden. Er kann nicht zerlegt werden, indem man ihn entweder in verschiedene »Glaubensakte« gliedert, durch die der Mensch sich einzelne »Glaubensgegenstände« aneignet, oder indem man ihn auf bestimmte Bereiche des Menschseins beschränkt, etwa auf das Denken, und alle anderen Bereiche von ihm unberührt bleiben lässt.226 Die weiter oben dargestellte Kritik Ebelings an der Trennung von Offenbarung als Glaubensinhalt und Aneignung der Offenbarung als Glaube durch Anwendung des Subjekt-Objekt-Schemas auf das Offenbarungsgeschehen hat in diesem Zusammenhang seinen ursprünglichen Ort. Ebeling spricht einmal spöttisch von der Vorstellung des Glaubens als »leerem Sack«, bei dem die Vollständigkeit und Unversehrtheit der Inhalte über seine Richtigkeit entscheide.227 Wie Herrmann und Bultmann versteht Ebeling den Glauben ausschließlich als Fiduzialglauben, bei dem Akt und Inhalt nicht voneinander zu trennen sind. Bereits Bultmann hat den »intentionalen Charakter« eines solchen Glaubens betont. Das glaubende Vertrauen kann nicht absolut vorhanden sein, sondern muss durch etwas fundiert sein und sich auf etwas richten.228 Und so spricht Ebeling davon, dass der Glaube »konkreter Glaube in dem Bezogensein auf eine konkrete Situation« ist.229 Weil der Glaube sich aber im Widerspruch auf die menschliche Lebenserfahrung bezieht, spricht Ebeling in einem ganz eigenen Sinn vom »Glaubensgegenstand«. Die Welt und ihre WirkWuG I [3], 252. WuG I [3], 246f; vgl. WuG III [4], 232-234; Wesen, 221f. 226 WuG I [3], 246; vgl. Wesen, 162. 207f. Ähnlich Herrmann, für den auch eine mit göttlicher Autorität auftretende »Mitteilung« über Gott wie die Heilige Schrift keine Glaubensgewissheit begründen kann, indem sie die intellektuelle Zustimmung zu bestimmten Glaubenssätzen fordert, sondern nur der selbst erlebte »Verkehr« mit Gott, den Jesus vermittelt; HERRMANN, Verkehr 7 , 45f, vgl. schon Religion, 365. 227 Wesen, 15; vgl. 18 (»Behälter«). Vgl. Herrmanns Polemik vom Glauben als »leerem Schlauch«, Grund, 292. 228 S. z. B. BULTMANN, Enzyklopädie, 147; Kirche, 176; Christologie, 88 sowie HERRMANN , Verkehr 7 , 79f. 229 WuG I [3], 251. 224 225

VI. Zusammenfassung

295

lichkeit sind der Gegenstand des Glaubens oder, wie Ebeling lieber sagt, das »Material des Glaubens«. Glaube wird konkret, indem er gegen konkrete Widerstände aus der Wirklichkeitserfahrung anglauben muss, die dem widersprechen, »daß Gott mein Vater, daß Jesus der Christus, daß der Heilige Geist ausgegossen ist«.230 Der »Glaubensgegenstand« ist also das, was dem Glauben im Leben konkret entgegensteht und woran dieser sich eben als Glaube bewähren muss. Ebeling bestimmt das Verhältnis des Glaubens zum Leben zweifach: Einerseits bezogen auf die Existenz als ganze, andererseits aber gerade dadurch bezogen auf konkrete Lebenssituationen. Der Glaube bewältigt und überwindet die konkrete Situation »vom Existenzgrund her«.231 Indem der Glaubende das durch Jesus Christus vermittelte Vertrauensverhältnis zu Gott auf sein gesamtes Leben bezieht, wird jeder einzelne Lebensmoment von dort her erschlossen und damit auch verändert. 3.

Ergebnis

Das Glaubensverständnis Ebelings ist zwar entwickelt im Gegenüber zu den Kritikern Bultmanns, steht aber ebenfalls im Gegensatz zur metaphysisch fundierten Theologie, mit der er sich dann besonders in den 60er Jahren auseinandersetzt. Beides hat schon dadurch eine Verbindung, dass Ebelings Metaphysikkritik ja, wie wir gesehen haben, in der Auseinandersetzung mit dem Streit um Bultmann ihren Ausgangspunkt und Hintergrund hat. Und so steht Ebelings Auffassung von Jesus als »Glaubensgrund« nicht nur der Auffassung von der subjektiven Aneignung der objektiv gegebenen Glaubensgegenständen gegenüber, die den Glauben zu einer dem Wissen analogen Lehre macht, sondern auch einer Theologie, die vernünftig gewonnene Sätze über die Welt zur Begründung des christlichen Glaubens aus der Offenbarung verwendet, wodurch der Glaube ebenfalls in eine durch das Weltwissen vorgegebene Struktur eingepasst wird. Und wie Ebeling den lutherischen Kritikern vorwirft, dass sie aus ihrem Glaubensverständnis nicht deutlich machen können, wie der Glaube Heil vermittelt, so sieht er später die Verwechslung von »Weltgewißheit« und »Gottesgewißheit« als fatale Auswirkung des metaphysischen Denkens in der Theologie.232

VI.

Zusammenfassung

Die Untersuchung des siebten Kapitels hat gezeigt, dass sich die Grundlinien von Ebelings theologischem Ansatz teilweise explizit, teilweise implizit als Gegenentwurf zu einem als »metaphysisch« bezeichneten Ansatz der Theologie 230 231 232

Wesen, 208f; vgl. WuG III [4], 233f. WuG I [3], 252. WuG II [16], 278.

296

7. Kapitel: Ebelings Alternative zur Metaphysik in der Theologie

präsentieren. Die verschiedenen Elemente des Ansatzes konnten dabei jeweils hauptsächlich mit einem bestimmten Aspekt der Metaphysikkritik in Verbindung gebracht werden. Die Auskunft darüber, ob und wie Ebeling die Philosophie als Dialogpartnerin der Theologie versteht, ist als positive Entsprechung der Kritik zu verstehen, die in der Metaphysik eine historisch überholte Form der Philosophie sieht. Dabei bejaht Ebeling das Anliegen hinter der theologischen Verwendung der Metaphysik, nämlich die theologischen Aussagen in Bezug zur Wirklichkeit zu setzen, um ihre allgemeine Verständlichkeit und Wahrheit zu zeigen. Statt des metaphysischen Beweises als Einstieg in die Theologie greift Ebeling den Begriff der »Verifikation« aus dem logischen Positivismus auf, den er aber hermeneutisch modifiziert. Nicht logisch-positivistisch, sondern hermeneutisch soll der »Sinn« des »Redens von Gott« durch Aufdecken seines Wirklichkeitsbezuges gezeigt werden. Dabei setzt Ebeling aber die Wirklichkeit nicht in eine positive Beziehung zum christlichen Reden von Gott, wie die metaphysisch ansetzende Theologie die übernatürliche Offenbarung auf dem natürlichen Weltwissen aufbaut, sondern charakterisiert das Verhältnis durch die theologische Einordnung der Wirklichkeit als Gesetz wie Bultmann (und auf seine Weise schon Herrmann) als eine Anknüpfung im Widerspruch. Auch den theologischen Gegenstand bestimmt Ebeling als Kontrast zur metaphysisch geprägten Theologie, die durch die positive Verhältnisbestimmung von Vernunft und Offenbarung den Gegenstand der Theologie in einer Art höherem, übernatürlichem Wissen sieht. Dagegen betrachtet Ebeling unter Berufung auf Luther, aber deutlich auf dem Hintergrund von Herrmann und Bultmann, die Beziehung von rettendem Gott und sündigem Menschen, also das Evangelium, als den präzisen Gegenstand der Theologie. Damit steht die Gegenstandsbestimmung vor allem in Kontrast zur Vermischung von Glaube und Welterkenntnis sowie der daraus folgenden isolierten Betrachtung von Gott und Mensch in der metaphysisch ansetzenden Theologie. Aus dieser Gegenstandsbestimmung leitet Ebeling die Aufgabe der Theologie ab. Ihm zufolge besteht sie darin, das Evangelium verständlich zu machen, was aber nur möglich ist in Auseinandersetzung mit der Zeit, deren konkrete Umstände das Verstehen bedingen. Ausgehend von den Problemen des Christentums in der Gegenwart führt Ebeling zu der grundlegenden Eigenschaft des Evangeliums, als ein besonderes Verstehen von Gott und Mensch zu anderen Weisen des Verstehens in Konkurrenz zu treten. Daher weist er der Theologie den Streit um das Evangelium als Aufgabe zu. Dies setzt er verschiedentlich in Kontrast zum metaphysischen Einstieg in die Theologie, der nicht nur die konkrete Zeit zugunsten der Ewigkeit marginalisiert, sondern dadurch auch in der Unstrittigkeit der Ewigkeit und damit in einer lebensfernen Eindeutigkeit ansetzt.

VI. Zusammenfassung

297

Gegen die »Situationsvergessenheit« des metaphysischen Denkens entwirft Ebeling seine hermeneutische Theologie. Den Streit um das Verstehen Gottes und des Menschen will er führen, indem er sich zuerst über die Sprache zur »Grundsituation des Menschen« führen lässt. Diesen Ansatz bei der Existenz verbindet Ebeling selbst mit Herrmanns Ansatz bei der Sittlichkeit und grenzt ihn gegen einen als »metaphysisch« charakterisierten Ansatz bei den intellektuellen Fähigkeiten des Menschen ab. Der hermeneutische Bezug des Wortes »Gott« auf die menschliche »Grundsituation« soll zeigen, dass der »Sinn« des Wortes in der Bezeichnung des »Geheimnisses der Wirklichkeit« liegt. Damit kann Ebeling die Abhängigkeit des Menschen als grundlegendes Element der Wirklichkeitserfahrung in den hermeneutischen Zugang zum Wort »Gott« integrieren, ohne dass dies etwas Materiales zur christlichen Gotteserkenntnis beitragen kann, wie es in der metaphysisch ansetzenden Theologie der Fall ist. Die inhaltliche Bestimmung geschieht ausschließlich durch das »Wort Gottes«, das den Menschen zu seiner Wahrheit bringt, indem es ihn vor Gott stellt. Darin erweist das christliche »Reden von Gott« seine Wahrheit. Als Geschehen, das den Menschen sich selbst neu verstehen lässt, »verifiziert« sich das Wortgeschehen des Evangeliums selbst. Damit dreht Ebeling die Begründungsrichtung der klassischen Apologetik um. Die Wahrheit des Evangeliums ist nur zu verstehen, wenn der Fragende sich selbst vom Evangelium auf seine Wahrheit hin befragen lässt beziehungsweise wenn er sich auf die seinem Leben innewohnende Fraglichkeit ansprechen lässt. Das bedeutet, dass die Wahrheit des theologischen Gegenstandes nicht, wie im metaphysischen Ansatz, theoretischabstrakt oder »situationsvergessen« aufweisbar ist, sondern nur in Bezug auf den fragenden Menschen selbst. Dies entspricht dem Ansatz Ritschls, Herrmanns und Bultmanns, bei denen eine (problematische) Wirklichkeitserfahrung die Voraussetzung für das Verständnis der Wahrheit des Glaubens bildet. Der letzte in Kapitel 6 dargestellte Aspekt der Metaphysikkritik, die Heillosigkeit des metaphysischen Zuganges, findet nun sein Gegenüber in Ebelings Glaubensverständnis. Wenn Ebeling im Anschluss an Herrmann Jesus Christus als »Glaubensgrund« beschreibt, dann hat er zunächst die Kritiker Bultmanns vor Augen, die die heilende Macht des Glaubens von den korrekten Glaubensinhalten abhängig machen. Die exklusiv christologische Begründung des Glaubens setzt Ebeling aber später unter Berufung auf Luther auch in Gegensatz zu dem Versuch, den Zugang zu Gott in mystischer Versenkung oder vernünftiger Spekulation und damit außerhalb von Christus zu finden. Außerdem widersetzt sich der durch Jesus als »Glaubensgrund« entstandene Glaube als »Grundakt der Existenz« der Verwechslung mit einer falschen Sicherheit, die statt echter, das Gewissen befreiender Glaubensgewissheit sich nur auf ein der Anfechtung nicht standhaltendes Wissen verlässt, was Ebeling nicht nur bei Bultmanns Kritikern beanstandet, sondern auch mit der metaphysisch begründenden Theologie verbindet. Ebelings Position liegt dabei die Entgegensetzung von Glaube

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7. Kapitel: Ebelings Alternative zur Metaphysik in der Theologie

und Wissen zu Grunde, wie sie in der von Ritschl ausgehenden Traditionslinie ausgebildet worden ist. Die Kritik an der Metaphysik und am metaphysischen Denken in der Theologie bilden also eine Art Hintergrund, auf dem Ebeling seine eigene Theologie entwirft und profiliert. Dieser Hintergrund ist so wesentlich, dass er auch noch die Dogmatik des christlichen Glaubens bestimmt. In einem kurzen Ausblick soll dies nun noch gezeigt werden. Hierbei wird deutlich werden, wie die eingangs zitierten Äußerungen Ebelings zur Metaphysik zu verstehen sind und welche Funktion sie haben.

VII.

Ausblick auf die Dogmatik des christlichen Glaubens

Die Metaphysikkritik selbst ist in Ebelings Dogmatik in den Hintergrund getreten. Aber eben als Hintergrund bestimmt sie Ansatz, Aufbau und Durchführung. Verschiedene markante Begriffe und Themen, die in Ebelings Aufsätzen im Kontext der Metaphysikkritik begegnet sind, zeigen dies. So dienen etwa das Stichwort der »Situationsvergessenheit«, die Betonung des Lebens beziehungsweise der Sprache sowie die Bindung an die Situation des Glaubens teils implizit, teils explizit der Abgrenzung vom metaphysischen Ansatz der Theologie und seinen Problemen. Gemäß der fundamentalen Bedeutung dieser Abgrenzung vom metaphysischen Ansatz, finden sich entsprechende Stellen vor allem in den grundlegenden Überlegungen des ersten Bandes. Besonders wird dies an Ebelings Begründung des Aufbaus der Dogmatik deutlich sowie in Abschnitten, die den Lebensbezug des Glaubens thematisieren, den Einsatz der Dogmatik bei der Strittigkeit Gottes begründen und schließlich an der Verifikation, die das Verfahren der Dogmatik ausmacht. 1.

Zum Aufbau der Dogmatik

Ebeling gliedert seine Dogmatik im Anschluss an den traditionellen heilsgeschichtlichen Aufbau »nach den drei Artikeln des Credo«.233 Er verwendet die Artikel als »dogmatische(. . . ) Hauptaussagen«, nach denen er den gesamten Stoff der Dogmatik strukturiert. Dabei versteht er diese »Hauptaussagen« als »Situationsbestimmungen in bezug auf den Menschen als Sünder«, nämlich die trotz der Sünde bestehende Geschöpflichkeit des Menschen vor Gott, die Versöhnung des Sünders mit Gott und der Weg des Menschen als Sünder und Gerechter durch die Welt hin auf die die Sünde überwindende Vollendung. Weil bereits in

233 D I, 71. Ebeling meint das Apostolikum, auch wenn das Nizäno-Konstantinopolitanum ebenfalls ein trinitarisches Schema aufweist.

VII. Ausblick auf die Dogmatik des christlichen Glaubens

299

dieser Grundanlage der Dogmatik der »Lebensbezug« des dogmatischen Stoffes deutlich wird, sieht Ebeling die gesamte Dogmatik auch als eine »fundamentale Besinnung auf das Leben«.234 Dass diese Grundanlage als Gegenentwurf zum metaphysischen Ansatz zu verstehen ist, wird deutlich durch Ebelings Hinweis, dass damit ein »Ausbrechen in eine prälapsarische Betrachtungsweise« vermieden wird. Weil er es für unzulässig betrachtet, »aus unserem eigenen Betroffensein als Sünder vor Gott herauszutreten und situationsvergessen über Gott und die Welt zu spekulieren«, will er mit dem am Apostolikum orientierten »Gliederungskonzept« erreichen, dass die dogmatische Betrachtung alle Glaubensaussagen stets in ihrer »Verankerung . . . in der menschlichen Grundsituation« wahrnimmt.235 Auch die weitere Unterteilung, die Ebeling in den einzelnen Paragraphen der Dogmatik vornimmt, ist von Einsichten bestimmt, die mit der Kritik am metaphysischen Ansatz verbunden sind. Ebeling thematisiert jeden Paragraphen in Hinsicht auf Gott, Welt, Mensch und Glaube. Diese Themen bilden für ihn die »Elemente«, aus denen dogmatische Aussagen aufgebaut sind. Dabei kommt aber dem Glauben eine Sonderstellung zu. Ebeling betont, dass er nicht einfach ein »vierter Gesichtspunkt« ist, sondern vielmehr das, was die anderen drei Themen zu einer »Einheit« verbindet und überhaupt erst zu »Glaubensaussagen« macht.236 Der Glaube bildet das »generelle Vorzeichen, das für alle folgenden Gegenstände maßgebend ist«. Dies ist auch der Grund, warum Ebeling seine Dogmatik, nach den einleitenden Prolegomena, mit einem Kapitel über den Glauben beginnt.237 Die alles andere bestimmende Priorität des Glaubens greift auf seine frühere Einsicht zurück, dass die Theologie nicht, wie die metaphysisch einsetzende, an einem neutralen Standpunkt beginnen kann, sondern stets die Situation des Menschen, der als Sünder dem erlösenden Gott gegenüber steht, zu Grunde legen muss. Die Vorordnung des Glaubens in der Dogmatik soll also sicherstellen, dass »im Unterschied zu der situationsvergessenen Denkweise der Metaphysik . . . von der grundlegenden Situationsbestimmung ausgegangen [wird], auf die sich das Reden von Gott bezieht.«238 2.

Der Lebensbezug des Glaubens

Der Bezug des Glaubens zum Leben beziehungsweise in den Aufsätzen des Redens von Gott zur Wirklichkeit ist ein Kernanliegen Ebelings. In Abgren234 D I, 72f. Ebeling betrachtet die dogmatischen Aussagen, ebenso wie »Glaubensaussagen«, als eine »Situationsbestimmung« des Menschseins durch einen Bezug auf Gott, der an der »Erscheinung Jesu« orientiert ist; D I, 46f. Zum Begriff der »Situation« s. D I, 189. 235 WuG IV [26], 485. 236 D I, 74. 237 D I, 79. 238 WuG IV [26], 489; s. o. S. 227–230; 275f.

300

7. Kapitel: Ebelings Alternative zur Metaphysik in der Theologie

zung zum Ansatz Karl Barths hat Ebeling immer wieder darauf hingewiesen, dass die traditionelle metaphysisch vermittelte Dogmatik hier ein berechtigtes Anliegen verfolgt hat, das sie allerdings in falscher Weise umgesetzt hat.239 Die christliche Verkündigung ist nur dann als wahr, verständlich und notwendig aufzuzeigen, wenn sie sich auf etwas bezieht, das jeden Menschen fundamental betrifft, nämlich die Wirklichkeit oder, wie Ebeling in der Dogmatik sagt, das Leben. Die Austauschbarkeit der Begriffe »Wirklichkeit« und »Leben« deutet dabei die entscheidende Perspektive Ebelings an. Bereits in den Aufsätzen hat Ebeling unter »Wirklichkeit« konkret die Lebenswirklichkeit des Menschen verstanden. Das »Reden von Gott« zielt nicht, wie in der metaphysisch begründeten Theologie, auf eine das Wissen des Menschen erweiternde Lehre über die Welt und ihre Wirklichkeit, sondern auf das Gewissen des Menschen, der sein Leben zu bewältigen hat.240 Entsprechend ist der Begriff des Lebens auch in der Dogmatik auf das »Phänomen des menschlichen Lebens« eingegrenzt.241 Der Bezug der Verkündigung beziehungsweise des Glaubens auf das Leben darf nicht, wie im metaphysischen Ansatz, in rationalistischer Verengung, sondern muss existentiell verstanden werden. Es ist also als Ergebnis der Auseinandersetzung mit der metaphysisch einsetzenden Theologie zu verstehen, wenn Ebeling am Beginn der Dogmatik seine Ausführungen zum Glauben sofort mit einer Reflexion auf das Leben verbindet. Auch wenn seine Überlegungen erklärtermaßen das Ziel haben, den Zusammenhang beider herauszuarbeiten, will er doch Glaube und Leben zunächst »je für sich« betrachten, um den Phänomenen ohne gegenseitige Überfremdung gerecht zu werden.242 Die Ausführungen zum »Lebensbegriff« haben für Ebeling den Sinn, gleich zu Beginn »den Wirklichkeitsbezug der gesamten Dogmatik« herauszustellen, d. h. sie betreffen den »Bereich des ontologischen Problems«.243 Ebeling sieht also die Notwendigkeit, den Bezug der dogmatischen Aussagen zur Wirklichkeit im Rahmen einer reflektierten Auffassung der Wirklichkeit zu entfalten. Weil aber für ihn die menschliche Wirklichkeitserkenntnis im »Phänomen des Lebens« ihren entscheidenden »Brennpunkt« hat, so ist für ihn die Frage der Ontologie vom Leben des Menschen her zu klären.244 Wie Ebeling sich eine vom Leben her entworfene Ontologie vorstellt, wird deutlich, wenn er in der speziellen Gotteslehre in Kapitel 2 das »Sein Gottes« 239

S. o. S. 241–243. S. z. B. o. S. 234f. 241 D I, 94. 242 D I, 80. 89f. 105f. 243 D I, 94; vgl. 90. 244 D I, 96; vgl. die Betonung der sekundären Rolle des Denkens in Bezug auf das Leben, D I, 219f. 240

VII. Ausblick auf die Dogmatik des christlichen Glaubens

301

bestimmt. Er entwirft eine »relationale[. . . ] Ontologie« und grenzt sie vom »Denkschema der Substanzmetaphysik« ab,245 die er in den Aufsätzen dafür kritisiert hatte, dass sie in einem Akt der Abstraktion vom Leben Gott und Mensch zunächst »an sich«, also als selbständige Substanzen denke, um sie erst sekundär zueinander in Beziehung zu bringen.246 Stattdessen versteht er das »Sein Gottes« von vorne herein als »Zusammensein von Welt und Gott«, bei dem er allerdings den »Primat Gottes« vor der auf den Schöpfer angewiesenen Welt im »Gegenübersein Gottes« zum Ausdruck bringt.247 Für Ebeling hat nun die »ganze Dogmatik« den Zusammenhang von Glaube und Leben zum Gegenstand: »Der Inhalt des Glaubens ist mit dem Thema des Lebens derartig verschmolzen, daß es auf allen Stufen der dogmatischen Entfaltung um eine Darstellung der Beziehung von Glaube und Leben geht.«248 Um den Bezug des Glaubens auf das Leben des Menschen näher zu bestimmen, eignet sich nach Ebeling der »Begriff des Gewissens«, wenn er in rechter Weise, also ohne moralistische Engführung, verstanden ist, nämlich in seiner »Ausrichtung auf das Personsein«, in seinem fundamentalen Bezug auf »das ganze Leben« (und nicht nur einzelne Momente des Lebens) und in seinem »Externbezug«, der die dem Menschsein wesentliche Verantwortlichkeit meint.249 Entsprechend verortet Ebeling den Glauben in der Situation der »Lebensproblematik«, wenn das Sinnfundament des Lebens und damit der »Mensch sich selbst« zum Problem werden. Er bezeichnet solche Situationen als »Transzendenzsituation«, weil sie den Menschen drängen, sein Leben »auf das hin zu transzendieren, was ihm Grund, Sinn, Ziel, Identität, Freiheit, Wahrheit verleiht.« Damit besteht der Lebensbezug des Glaubens darin, dass er in »bestimmten Lebenssituationen« auf die »Grundsituation des Menschen« bezogen wird und diese konkreten Situationen dadurch grundsätzlich verändert. In dieser engen Beziehung zum Leben besteht für Ebeling der Glaube: »Der Glaube besteht im Lebensbezug. Und der gelebte Glaube ist nichts anderes als geglaubtes Leben.«250 3.

Sprache und Streit um Gott

Ebeling entwirft die Gotteslehre seiner Dogmatik im Rahmen eines hermeneutischen Ansatzes und im erklärten Gegensatz zum metaphysischen Ansatz. »Hermeneutisch« ist dieser Ansatz, insofern er Gott von Anfang an im Verhält-

245 246 247 248 249 250

D I, 215. S. o. S. 211–216. D I, 222–224. D I, 105. D I, 107. D I, 108f.

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7. Kapitel: Ebelings Alternative zur Metaphysik in der Theologie

nis zur Sprache thematisiert, wodurch Ebeling den ständigen »Situationsbezug des Redens von Gott« sichern will.251 Wie geht er dafür vor? Zunächst setzt Ebeling nicht bei der mithilfe der Metaphysik hergestellten Eindeutigkeit Gottes ein, sondern bei der Strittigkeit, die er wie im Aufsatz »Gott und Wort« in der Sprache verortet. Der als »Grundlegung« der Gotteslehre konzipierte Paragraph 8,252 der das »Reden über Gott« zum Thema hat, beginnt deshalb mit der »Widersprüchlichkeit des Redens über Gott«.253 Neben den Problemen, die im Verhältnis von »Gott und Sprache« liegen, wird vor allem am Verhältnis von »Gott und Welt« sowie von »Gott und Gott« deutlich, worauf es Ebeling hier ankommt. Im Verhältnis von »Gott und Welt« geht es Ebeling nicht nur um den Widerspruch der »Weltwirklichkeit« gegen das »Reden von Gott«, sondern auch um den Widerspruch Gottes gegen die Weltwirklichkeit. Das »Widersprechen« Gottes stellt für Ebeling die »Grundfigur christlichen Redens von Gott« dar, nämlich im Schöpfungsglauben, der den vermeintlich natürlichen Zustand der Welt als Folge der Sünde erkennen lässt, im Glauben an den Versöhner, der den Sünder gerecht spricht, und im Glauben an die Vollendung, der die Endgültigkeit des Todes bestreitet. Demgegenüber kritisiert Ebeling die »Situationsvergessenheit metaphysischer Gotteslehre«, die abgehoben vom konkreten Leben »in der keimfreien Atmosphäre der Widerspruchslosigkeit« entworfen ist und dadurch der »faktischen Situation des Redens über Gott« ausweicht.254 Auf dem Hintergrund der Aufsätze ist deutlich, dass dies für Ebeling deshalb problematisch ist, weil so der korrekte hermeneutische Rahmen des christlichen Gottesverständnisses entfällt, nämlich die Situation der Sünde, mit der nicht nur die (Heils-)Notwendigkeit, sondern auch die Verständlichkeit des »Redens von Gott« gegeben sind.255 Auch die Widersprüchlichkeit zwischen »Gott und Gott« ist für Ebeling ein elementarer Ansatzpunkt für die Gotteslehre, den die metaphysische Grundlegung übersieht. Denn der metaphysische Weg führt, weil er bei der »Selbstverständlichkeit« und damit »Eindeutigkeit« Gottes einsetzt, zu der »Illusion . . . , man könne die Gotteslehre als ein in sich widerspruchsfreies System konstruieren«. Damit, kritisiert Ebeling, kommt die Strittigkeit Gottes überhaupt nicht mehr in den Blick.256 Wie Ebeling aber in den Aufsätzen dargelegt hatte, gehört der Streit nicht nur deshalb in die Theologie, weil das Reden von Gott in der Gegenwart umstritten ist, sondern weil er zur Sache selbst gehört. Der Streit um WuG IV [26], 490. D I, 158. 253 D I, 163. 254 D I, 167f. Zur zentralen Rolle des Widerspruchs für das Verstehen der Wahrheit des Glaubens vgl. schon Wesen, 90f. 255 S. o. 228f. 256 D I, 169; vgl. 172. 251 252

VII. Ausblick auf die Dogmatik des christlichen Glaubens

303

das (rechte) Reden von Gott ist gleichzeitig der Streit um das Verständnis des Menschen und betrifft damit den Lebensbezug und die Bedeutung des Evangeliums. Auch hier liegt also der Grund für Ebelings Kritik am metaphysischen Einstieg im Wegfall des für das Reden von Gott hermeneutisch notwendigen Bezugsrahmens. Stattdessen will Ebeling die Gotteslehre am »Streit um Gott« im Sinne des ersten Gebotes ansetzen. Der »Widerspruch . . . zwischen dem wahren Gott und den falschen Göttern« soll zum einen den an der »Erscheinung Jesu Christi« gewonnenen christlichen Sinn des Wortes »Gott« gegenüber der außerchristlichen Verwendung profilieren. Zum anderen soll die im ersten Gebot mit der »Bejahung Gottes« verbundene »Verneinung der anderen Götter« die »Grundsituation« aufdecken, auf die das christliche Gottesverständnis bezogen ist und in der darum sein Sinn deutlich wird.257 Auf dem Hintergrund von Ebelings Aufsatz zu Luthers Auslegung des ersten Gebots verstanden, geht es hier um die Situation, dass der Mensch seine wesenhafte Abhängigkeit statt auf Gott auf irdische Dingen richtet.258 Zum »Streit um Gott« gehören für Ebeling aber auch die Erfahrungen der Widersprüchlichkeit Gottes selbst, beispielsweise die Spannung zwischen Zorn und Liebe Gottes, bis hin zu den Erfahrungen der Anfechtung, in denen »Gott gegen Gott steht«, also das, was Luther mit der doppelten Prädestination und der Spannung von »Deus absconditus und Deus revelatus« versucht hat zu erfassen. Ebeling fordert, dass die dogmatische Gotteslehre diesen Widersprüchen ihren Raum lassen muss. Damit grenzt er sich von der Gotteslehre der Metaphysik ab, die von der »simplicitas Gottes« her entworfen ist.259 Auch dahinter steht Ebelings Anliegen, die Gotteslehre nicht metaphysisch von der welterkennenden Vernunft her und damit als ein theoretisches, vom Leben abstrahiertes Wissen zu entwerfen, sondern von der Erfahrung des durch das Leben bedrängten Menschen aus. Auf diese »Grundsituation« muss nach Ebeling das »Reden über Gott« bezogen sein. Wie in den Aufsätzen, so versteht Ebeling sie auch hier von der Sprache her. Er bezeichnet die »Grundsituation« als »Sprachsituation«, die er als »strittige und darum bedrängende Situation« versteht, weil der Mensch in ihr »Rede und Antwort zu stehen« hat. Aufgabe der dogmatischen Gotteslehre ist es zu zeigen, wie das »Reden über Gott« diese Problematik des Menschen zurecht bringen kann.260 Die »Sprachsituation« entspricht dem, was Ebeling 257

D I, 171. WuG II [20], 301f. 259 D I, 172f. 260 D I, 189f. Schon bei der Beschreibung des »Lebensphänomens« im einleitenden 1. Kapitel skizziert Ebeling unter der »Sprachlichkeit« des Lebens das »Lebensproblem« des Menschen, das sich ableitet aus seiner Grundverfassung als »Lebenwesen, das Sprache hat«, das damit Verantwortung zu übernehmen hat und deshalb »auf ein Wort angewiesen [ist], durch 258

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7. Kapitel: Ebelings Alternative zur Metaphysik in der Theologie

in den Aufsätzen als »Horizont der Fraglichkeit« oder in »Gott und Wort« als »Grundsituation« beschrieben hat.261 Um die Gotteslehre in ständigem Bezug auf diese Grundsituation zu entfalten, verwendet Ebeling das Gebet als »hermeneutischen Schlüssel«. Die Situation des Gebets entspricht ihm zufolge sowohl der Intention des Wortes Gott als auch der menschlichen »Grundsituation« als »Sprachsituation«, insofern hier eine Manifestation des Geheimnisses der Wirklichkeit, eine bestimmte Weise letztgültigen Angegangenseins in die menschliche Grundsituation eingreift, sie als Sprachsituation in Bewegung versetzt und den Menschen auf Gott hin ausrichtet.262

In diesem Bezugsrahmen legt Ebeling aus, was unter Sein und Attributen Gottes zu verstehen ist. Damit soll die Gotteslehre »der Situation ihrer Verifizierung zugeführt werden«.263 Nach den Aufsätzen verstanden geht es also darum, die Wahrheit des christlichen Gottesverständnisses zu zeigen, indem aufgedeckt wird, wie es den Menschen zu seiner Wahrheit bringt. Dieses Ziel erreicht Ebeling aber nicht schon im ersten Band der Dogmatik, sondern erst im zweiten, wenn die Gotteslehre unter dem Aspekt des Christusgeschehens weiter entfaltet wird. Die »Veränderung« der menschlichen »Grundsituation« geschieht nach Ebeling dadurch, dass der Mensch durch das Christusereignis »in das Kräftefeld der göttlichen Attribute hineingenommen« wird.264 Die im ersten Band als vorläufiger »Grundriß«265 entworfenen Attribute Gottes werden im Licht des Christusereignisses präzisiert und in ihrer »kommunikativen« Bedeutung, d. h. als Wirken Gottes am Menschen, interpretiert.266 4.

Die Verifikation als Programm der Dogmatik

In den Prolegomena der Dogmatik beschäftigt sich Ebeling mit dem »Begriff der Verifikation« im Zusammenhang mit dem »Verfahren« der Dogmatik. Wenn Ebeling ausführt, die Dogmatik habe wie jede andere Wissenschaft ihre Aussagen der »Verifikation und Falsifikation« auszusetzen,267 so erweckt dies zunächst den Anschein, als sei hier nur von einem der Wissenschaftlichkeit der Dogmatik geschuldeten Verfahren die Rede. Tatsächlich aber sieht Ebeling die »Verifikation« auch vom Gegenstand der Dogmatik her gefordert und setzt sie, wie in den Aufsätzen, in einen engen das sein Leben zur Wahrheit kommt«; D I, 104. Wirklich verständlich sind diese knappen Andeutungen nur auf dem Hintergrund der Aufsätze. 261 S. o. 280–282. 262 D I, 192f. Zur »Intention des Wortes Gott«, die Ebeling wie in den Aufsätzen im »Geheimnis der Wirklichkeit« zusammenfasst, s. D I, 184–187. 263 D I, 194. 264 D II, 121f. 265 D I, 241. 266 D II, 100–119; zur »kommunikativen Interpretation« s. 105f. 267 D I, 58f.

VII. Ausblick auf die Dogmatik des christlichen Glaubens

305

Zusammenhang mit der hermeneutischen Fragestellung. Weil bereits der Gegenstand der Dogmatik – nämlich der christliche Glaube268 – auf das Leben bezogen ist, können auch die dogmatischen Aussagen über diesen Gegenstand nur durch den »Lebensbezug« verifiziert werden. Dies aber wird dadurch möglich, dass der Dogmatiker sein eigenes Leben als Horizont nimmt, auf den er die Aussagen des Glaubens hermeneutisch bezieht. Nur so kann er die Wahrheit seiner dogmatischen Sätze überhaupt finden und vertreten.269 Umgekehrt betont Ebeling im Blick auf das dogmatische Verstehen, dass es, anders als beispielsweise ein rein historisches Verstehen, das als wesenhaft Christlich Erkannte in der Gegenwart nur vertreten werden kann, wenn gleichzeitig seine Wahrheit erkannt ist.270 Mit der »Verifikation« unterwirft Ebeling also die Dogmatik nicht einem von außen an sie herangetragenen Verfahren. Dazu gehört jedoch, dass das als Bezugspunkt der Verifikation dienende Wahrheitsverständnis durch den dogmatischen Gegenstand verändert wird. Ebeling betont die Notwendigkeit, das gängige »Wahrheitsverständnis aus seinen üblichen Verengungen zu öffnen in die Richtung lebensbezogener Wahrheit«, d. h. über den »Rahmen heutiger Wissenschaftstheorie« hinaus.271 Hier schlägt sich der aus Ebelings früheren Arbeiten bekannte Einspruch gegen die analytische Philosophie nieder, soweit sie das Wahrheitskriterium in der logisch-empirischen Beweisbarkeit sieht und Sprache auf ein logisches Regelsystem reduziert, sowie gegen das der metaphysischen Situationsvergessenheit in der Neuzeit entsprechende, vom Leben abstrahierende objektivierende Denken.272 Das die Verifikation der dogmatischen Aussagen ermöglichende Wahrheitsverständnis zeichnet sich gegenüber dem abstrakten wissenschaftlichen Verständnis durch seinen Bezug auf das Leben aus, und zwar auf das konkrete Leben, das der Mensch zu führen gefordert ist. Den Zusammenhang zwischen Wahrheit und Leben lässt sich Ebeling dabei vom biblischen Wahrheitsverständnis geben. Wie alle Gottesattribute, so versteht er auch die Wahrheit als ein »kommunikatives Attribut«. In der »Kommunikation der Wahrheit Gottes« ereignet sich, biblisch gesehen, »eine Kommunikation des Lebens«. Diese bereits im 268

Vgl. D I, 1. 11. D I, 59. Ebeling weist dabei wie Bultmann auf den Unterschied zwischen der Wahrheit der dogmatischen Aussagen hin, die zu erzielen Aufgabe der Dogmatik ist, und der im vorgegebenen Gegenstand der Dogmatik selbst enthaltenen Wahrheit, die durch die wissenschaftliche Reflexion nicht herzustellen oder zu begründen ist, wie jede Wissenschaft den ihr vorgegebenen Gegenstand nicht herstellen, sondern untersuchen muss. Vgl. BULTMANN, Enzyklopädie, 14, s. o. S. 152f. 270 D I, 56. 271 D I, 60; vgl. D II, 116: Ebeling spricht hier vom »verengten Wahrheitsverständnis«, das den Zusammenhang von Sprache und Wahrheit auf die »Richtigkeit einer Aussage« reduziert, und fordert stattdessen, den Bezug zum »Sein« im Blick zu behalten. 272 S. o. S. 269. 246f. 217–219. 269

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7. Kapitel: Ebelings Alternative zur Metaphysik in der Theologie

hebräischen Denken vorhandene enge Verbindung erhält nach Ebeling durch das »Christusgeschehen« eine »zuvor unbekannte Konzentration, Konkretion und Steigerung«.273 Der Mensch erhält hier Anteil »an der wahrmachenden Wahrheit«, indem er von der Unwahrheit und damit von der in Unfreiheit fesselnden Sünde befreit wird, wie Ebeling im Anschluss an Joh 8, 32 formuliert. Er versteht Wahrheit deshalb als »Akt der Liebe Gottes«, so dass er den Zusammenhang von Wahrheit und Gnade im Neuen Testament als »Hendiadyoin« bezeichnet. Dieser Zusammenhang ist für ihn der »Generalnenner dessen, was in Jesus Christus erschienen ist«, nämlich die Macht Gottes, die als Zusammenhang von Wahrheit und Gnade auf das wahre Leben des Menschen zielt.274 Dieses Wahrheitsverständnisses bildet den Hintergrund, wenn Ebeling zwar fordert, dass sich die Dogmatik dem »Wahrheitsanspruch« zu stellen hat, aber gleichzeitig mit einem kritischen Blick auf das übliche Wahrheitsverständnis anfügt, die Dogmatik habe ein Wahrheitsverständnis zu erarbeiten, das Jesus Christus als Wahrheit und den Menschen als Sünder »interpretierbar« macht.275 Mit dem Wahrheitsverständnis der neuzeitlichen positiven Wissenschaft kommt die Situation, auf die sich das Reden von Gott und damit die dogmatischen Sätze beziehen, nicht in den Blick, nämlich die Problematik des vom Leben bedrängten Menschen. Die dogmatischen Sätze können nur verifiziert werden, wenn die als Bezugspunkt dienende Wahrheit vom christlichen Standpunkt her verstanden ist. Damit wird deutlich, dass der hermeneutische Zirkel der Aufsätze auch die Grundlage der Dogmatik bestimmt.276 Wenn nun der Mensch als Sünder und seine Erlösung durch das Christusereignis von vorne herein das Wahrheitsverständnis bestimmen, dann wird auch deutlich, weshalb der Vorgang, den Ebeling vor allem in »Gott und Wort« als »Verifikation« bezeichnet hat, das Programm der gesamten Dogmatik des christlichen Glaubens bildet. In »Gott und Wort« war der »gottlose Mensch« beziehungsweise der »Mensch im Widerspruch« gegen Gott und damit gegen sich selbst Ansatz und Ziel der Verifikation, mit der das »Reden von Gott« seine Wahrheit zeigt, weil es den Menschen sein »Angegangensein vom Geheimnis der Wirklichkeit« aufzeigt, ihn zu Gott zurückbringt und dadurch ›wahr macht‹.277 In der Dogmatik bezeichnet Ebeling als »Verstehenssituation« für das »Reden über Gott«, wie bereits erwähnt, die »Widerspruchssituation, in der Gott nicht gleichgeschaltet als bloße Bestätigung und Ergänzung hinzukommt, sondern zu der menschlichen Selbst- und Welterfahrung in Gegensatz tritt«. Diese »Grundfigur christlichen Redens von Gott« bestimmt für ihn die »ganze Dogmatik«.278 273 274 275 276 277 278

D II, 116f. D II, 118. D I, 16f. S. o. S. 275. WuG II [20], 428f; s. o. S. 286. D I, 167.

VII. Ausblick auf die Dogmatik des christlichen Glaubens

307

Die Begriffe »gleichgeschaltet«, »Bestätigung« und »Ergänzung« sind dabei als Anspielung auf den metaphysischen Ansatz der theologia gloriae zu verstehen, dem Ebeling Luthers Kreuzestheologie und ihre Gotteserkenntnis »im Zeichen des Widerspruches« gegenüber stellt.279 Die hermeneutische Rückbindung der dogmatischen Aussagen an die bedrängende Lebenswirklichkeit des Menschen als der Situation, in der das »Reden von Gott« seine Wahrheit von sich aus erweist, bildet auch das Vorgehen der Verifikation, das Ebeling in den Aufsätzen als Alternative zum Beweis mithilfe der metaphysischen Theologie entworfen hat. 5.

Zusammenfassung

Ebelings Dogmatik ist wie sein Ansatz in den frühen Arbeiten als explizite Alternative zu einer metaphysisch konzipierten Theologie entworfen. So soll sie den speziellen Anforderungen gerecht werden, die sich in der Gegenwart an eine Dogmatik stellen. Immer wieder greift Ebeling dabei auch auf Luther zurück, der durch seine Neuausrichtung der Theologie, zu dem für Ebeling wesentlich die Abkehr von der Metaphysik gehört, als Wegweiser für eine sachgerechte Theologie in der Gegenwart dient. Auffällig ist dabei, dass Ebeling, ähnlich wie Herrmann, sowohl in den frühen Arbeiten wie in der Dogmatik nicht an Luthers Äußerungen zu materialen Themen der Dogmatik anknüpft, sondern bestimmte Themen Luthers für grundsätzliche Perspektiven seines Ansatzes, wie zum Beispiel den Ansatz der Gotteslehre in der »Strittigkeit«, verarbeitet. Dadurch setzt Ebeling seine Ansicht um, dass, wie er einmal gegen die neulutherischen Theologen ausgeführt hat, eine »Konservierung« der reformatorischen Theologie nun gerade nicht dem reformatorischen Grundimpuls entspricht.280 Die Art der Inanspruchnahme Luthers in Verbindung mit der ausdrücklichen Metaphysikkritik reihen Ebelings Dogmatik in einen bedeutenden Traditionsstrom der deutschen evangelischen Theologie ein, der über Bultmann auf Herrmann und schließlich Ritschl zurückzuführen ist.

279 280

Luther, 260f. WuG I [1], 26.

Kapitel 8

Schluss I.

Rückblick

Die Untersuchung hatte mit der Absicht begonnen, Ebelings Metaphysikkritik durch die Rückfrage nach ihrem theologiegeschichtlichen Zusammenhang und ihrer systematischen Bedeutung zu verstehen. Der genauere Blick in die Theologiegeschichte vor Ebeling hatte gezeigt, dass sich die Entstehung einer evangelischen Metaphysikkritik einem apologetischen Bemühen verdankt, mit dem zunächst Herrmann und dann auch Ritschl der Kritik an Ritschls Ansatz begegnen. Beide kritisieren die Metaphysik als eine zeitlich und sachlich unangemessene philosophische Grundlage der Theologie. Dabei legen sie ein funktionales, das heißt auf den Dienst für das wissenschaftliche Erkennen beschränktes Verständnis von Metaphysik zu Grunde. Weil eine solche als Ontologie oder Erkenntnistheorie aufgefasste Metaphysik entweder vor der Unterscheidung der Dinge in Natur und Geist ansetzt (so überwiegend bei Ritschl) oder ganz dem Bereich des natürlich Gegebenen zugerechnet ist (Herrmann), fehlt ihr das methodische Werkzeug, um die geistige Realität, also den Bereich des Willens, der Werte und der inneren Erfahrung des Menschen, zu erfassen. Deshalb kann sie nicht als Interpretationshorizont zum Verständnis der Religion dienen. Dieses auf der funktionalen Auffassung der Metaphysik beruhende hermeneutische Argument liegt auch Bultmanns Ablehnung der »natürlichen Theologie« zu Grunde und bildet die grundlegende Perspektive in Ebelings Metaphysikkritik. Alle untersuchten Theologen gestehen zu, dass der Verwendung der Metaphysik in der Theologie ein berechtigtes Anliegen zu Grunde liegt. Dabei geht es um das Bemühen, Wahrheit und Verständlichkeit von Religion respektive Glaube und christlichen Vorstellungen nachzuweisen, indem sie mit der allgemein zugänglichen Wirklichkeit in Beziehung gesetzt werden. Dieses Anliegen aber, so die übereinstimmende Meinung, kann nur erreicht werden, wenn die Beziehung zur Wirklichkeit sachlich angemessen und im Horizont der jeweiligen Zeit erfolgt. Denn die Religion beziehungsweise der Glaube beziehen sich nicht nicht auf eine von der Zeit abstrahierte, objektiv erfasste Wirklichkeit, sondern auf die in der konkreten Erfahrung des Menschen gegebene Wirklichkeit. Um diese Wirklichkeit zu erfassen, wählen die behandelten Autoren in erklärter Abgrenzung zu der dem abstrakt objektivierenden Wissen verpflichteten Metaphysik

I. Rückblick

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den Willen, die Sittlichkeit oder die Existenz als Interpretationshorizont für den Glauben. Dies macht deutlich, dass es am Ende gar nicht um eine historische Auseinandersetzung mit der Metaphysik selbst oder mit der traditionellen Theologie geht, sondern um die Frage nach einer gegenwärtigen Grundlegung der Theologie. Wie schon bei Ritschl, Herrmann und Bultmann ist die »Metaphysik« oder die »natürliche Theologie« auch bei Ebeling letztlich ein Stellvertreter für theologische Positionen, die durch unkritische Übernahme eines falschen Wirklichkeitsverständnisses an den Anforderungen der Gegenwart scheitern müssen. Bei Ebeling sind dies die lutherischen Kritiker Bultmanns, die sich mit einer »Metaphysik von gestern«1 den Notwendigkeiten der Gegenwart verschließen. Die systematisch-theologische Funktion der Metaphysikkritik liegt damit bei Ebeling, wie schon bei seinen Vorgängern, in der Profilierung des eigenen Ansatzes als eine dem Glauben und der Gegenwart angemessene Theologie. Die »Metaphysik« beziehungsweise die auf der Metaphysik aufbauende Theologie, die Ebeling vorwiegend in der Gestalt von Thomas von Aquin anschaulich macht, bilden eine Art Negativfolie, gegen die Ebeling seinen Ansatz und die ihn bestimmenden Grundentscheidungen verdeutlicht. Den Kern seiner Auseinandersetzung mit der Metaphysik bildet der Vorwurf der »Situationsvergessenheit«, in dem alle Aspekte der Kritik zusammenlaufen und von dem her er die Heillosigkeit metaphysischer Gotteserkenntnis begründet. Demgegenüber plädiert Ebeling für einen Ansatz der Theologie bei der Erfahrung des Menschen, auf die alle Themen des Glaubens hermeneutisch zu beziehen sind. Unter dieser Erfahrung versteht Ebeling allerdings nicht die gesamte unspezifische Weite der menschlichen Verarbeitung von Sinneseindrücken, sondern die vom Standpunkt des Glaubens aus erfasste Existenzerfahrung, soweit sie dazu dienen kann, den Glauben als ein der ›natürlichen‹ Selbsterfahrung widersprechendes Selbstverständnis deutlichen zu machen. Die Wirklichkeit kommt damit nicht neutral und als solche in den Blick, sondern in ihrer Eigenschaft als hermeneutische Folie für den Glauben, also theologisch gesehen als »Gesetz«, an das der Glaube, wie schon Bultmann formuliert, im »Widerspruch« anknüpft. Dieses Modell der Verbindung von Glaube und Wirklichkeit versteht Ebeling als Gegenmodell zur Harmonisierung von Offenbarung und vernünftiger Welterkenntnis, also von Glaube und Vernunft, wie er es in der metaphysisch ansetzenden Theologie sieht. Dieses Modell wird von allen untersuchten Autoren bisweilen als das ›katholische‹ bezeichnet, dem dann das eigene Modell unter Berufung auf Luther entgegengestellt wird. Wie jedoch der Durchgang durch die Geschichte der Metaphysikkritik vor Ebeling und auch Ebelings Auseinandersetzung gezeigt hat, ist der Bezug auf Luther nicht ursächlich für die kritische Haltung der Metaphy1

WuG I [7], 391.

310

8. Kapitel: Schluss

sik gegenüber. Vielmehr verbindet sich vor allem die jeweils als Kontrast zum metaphysischen Ansatz entworfene und das heißt an der konkreten Existenz orientierte eigene Grundlegung der Theologie mit Motiven, die als zentral für die reformatorische Theologie beurteilt werden. Auf diese Weise können die vorgelegten alternativen Ansätze beanspruchen, reformatorische Grundanliegen unter den Bedingungen der Gegenwart neu zur Geltung zu bringen. Bei allen Gemeinsamkeiten, die eine Einordnung in den theologiegeschichtlichen Hintergrund gezeigt hat, darf doch Ebelings eigene Leistung nicht übersehen werden. Gegenüber seinen Vorgängern ist Ebelings Auseinandersetzung mit der Metaphysik am ausführlichsten und differenziertesten mit Luther verbunden und begründet. Außerdem ist deutlich, dass er die Thematik aktualisiert, indem er sie im geistigen Kontext seiner Zeit entfaltet. Das betrifft erstens das philosophische Gegenüber. Ebeling führt die Auseinandersetzung mit der Metaphysik unter Aufnahme einflussreicher Strömungen seiner Zeit, etwa mit dem Thema der Sprache, in das er den logischen Positivismus, Wittgenstein und die hermeneutische Philosophie einbezieht. Die große Bedeutung Heideggers ist in dieser Untersuchung deutlich geworden. Außerdem verbindet er seine Überlegungen mit dem Atheismus der Neuzeit und mit dem naturwissenschaftlichen Denken. Zweitens nimmt er die theologische und kirchliche Situation seiner Zeit auf. Gegenüber der Rückzugstendenz in Kirche und Theologie nach dem zweiten Weltkrieg fordert er die Auseinandersetzung mit der Zeit ein und eine Theologie, die konzeptionell in der Lage ist, diese Auseinandersetzung zu führen. Dazu gehört letztlich auch der Streit um Rudolf Bultmanns Entmythologisierungsprogramm, auf den Ebeling mit seiner Metaphysikkritik eine wenn auch überwiegend implizite Antwort gibt. Sein Bemühen um eine hermeneutische, dem Leben zugewandte ›praktische‹ Theologie war in der Lage, im geistigen Klima der Umbrüche im Westdeutschland der 1960er Jahre mit seiner Dominanz politischer, humanwissenschaftlicher und philosophisch-hermeneutischer Themen einen neuen differenzierten und sachlicheren Zugang zu Glaube und Theologie zu eröffnen. Und nicht zuletzt ist zu betonen, dass der in der Auseinandersetzung mit der Metaphysik enthaltene hermeneutische Aspekt bei keinem der Vorgänger derart ausführlich ausgearbeitet und explizit systematisch durchgeführt ist.

II.

Einordnung und Ausblick

Welchen Beitrag leistet nun die Untersuchung der Metaphysikkritik Ebelings und ihrer Geschichte im Kontext der heutigen theologischen Diskussion? Es ist deutlich geworden, dass es sowohl Ebeling wie auch seinen Vorgängern nicht um die Metaphysik an sich geht und letztlich auch weniger um die traditionelle, die Metaphysik in Anspruch nehmende Dogmatik, sondern um die Frage

II. Einordnung und Ausblick

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nach einer gegenwärtigen Theologie. Mit der Metaphysik wird zum einen ein bestimmtes Wirklichkeitsverständnis kritisiert, nämlich die Abstraktion von der Erfahrung und die damit verbundene Verengung des Realitätsverständnisses auf das rationale Wissen, und zum anderen die Art, wie Religion mit diesem Wirklichkeitsverständnis ins Verhältnis gesetzt wird beziehungsweise die Frage, welche Rolle dieses Wirklichkeitsverständnis in der Theologie zur Interpretation des christlichen Glaubens und seiner Vorstellungen zu spielen hat. Dass für die Arbeit der Theologie ein Bezug auf die Wirklichkeit notwendig ist, wird von allen untersuchten Autoren nicht nur bejaht, sondern spielt für ihre Ansätze eine jeweils konstitutive Rolle. Das Ziel der Theologie, die Wahrheit und allgemeine Verständlichkeit religiöser Vorstellungen zu zeigen, kann nur erreicht werden, indem ihr Realitätsbezug deutlich gemacht wird. Und dafür sind sie einzuordnen in den Zusammenhang dessen, was allgemein als wirklich und wahr verstanden und anerkannt ist. Der aus der Offenbarung abgeleitete Glaube muss somit in Beziehung gesetzt werden zu dem allgemeinen, und das heißt in der Neuzeit: rein aus der Vernunft abgeleiteten Wissen über die Realität. Dieses grundsätzlich bejahte Verhältnis wird in der Metaphysikkritik der untersuchten Autoren problematisiert. Es geht dabei also um das theologische Thema der Beziehung von Glaube und Wissen respektive Vernunft. Dabei spielt weniger die Frage nach der Theologie als Wissenschaft eine Rolle, bei der es um den formalen Gebrauch der Vernunft geht, also um die »Theologie als rationales Unternehmen«2 , das allgemeine Vernunftgrundsätze anwendet, um seinen Gegenstand zu begreifen. Vielmehr geht es in der theologischen Metaphysikkritik um die Frage nach dem Stellenwert des materialen Beitrages der Vernunft zu theologischen Aussagen. Indem religiöse Vorstellungen mit dem vernünftig rekonstruierten Realitätsverständnis in Verbindung gesetzt werden, werden sie mit bestimmten Inhalten verbunden, durch die die religiösen Vorstellungen sowie der Glaube im Ganzen als Realität und Wahrheit beanspruchende Phänomene verstanden und ihr Sinn erkennbar gemacht werden können. Stimmt man überhaupt der Notwendigkeit zu, in der Theologie den Realitätsgehalt der Glaubensvorstellungen aufzuzeigen, so kommt man um solchen inhaltlichen Beitrag der Vernunfterkenntnis zu theologischen Aussagen nicht herum. Entscheidend ist dabei die Art, wie religiöse Vorstellungen und Vernunftwissen miteinander in Beziehung gesetzt werden. In der Geschichte der Theologie gab es dazu bekanntlich verschiedene Ansätze zwischen weitgehender Entgegensetzung, etwa bei Tertullian oder den apologetischen Vätern mit ihrer Ersetzung des Vernunftwissens durch das Christentum als »wahre Philosophie«, und relativ weit gehender positiver Verbindung wie etwa in der scholastischen Theologie oder der protestantischen Orthodoxie, die dabei allerdings die Kompetenz der Vernunft auf den Bereich des Natürlichen eingrenzen und 2

DALFERTH, 59–72.

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8. Kapitel: Schluss

die übernatürlichen Lehren aus der Offenbarung dem Urteil durch das aus der Welt gewonnene Vernunftwissen entziehen mussten.3 Die positive Verhältnisbestimmung lässt sich noch weiter zu einer Überordnung des Glaubens über die Vernunft oder der Vernunft über den Glauben differenzieren. Ersteres ist in den Modellen der Scholastik und Orthodoxie der Fall, Letzteres entwickelt sich in der Epoche der Aufklärung, die zunächst die Vernünftigkeit der biblischen und christlichen Vorstellungen voraussetzt, diese dann aber den Maßstäben der autonomen Vernunft unterwirft und am Ende den Glauben ganz durch die Vernunft ersetzt. Bei allem, was dagegen kritisch einzuwenden ist, ist die Autonomie der Vernunft von da an ein Grunddatum, um das keine Verhältnisbestimmung von Glaube und Vernunft mehr herum kommt.4 Im Licht dieser historischen Entwicklung ist die Leistung der in dieser Arbeit untersuchten Traditionslinie zu sehen. Die dargestellten Ansätze erkennen die Autonomie der Vernunft grundsätzlich an und versuchen dennoch zu zeigen, dass die Auflösung des Glaubens in die Vernunft nicht die zwingende Konsequenz dieser Anerkennung ist. Die philosophische Unterscheidung von Natur und Geist dient dabei dem Ziel, den Glauben aus dem Zuständigkeitsbereich der auf das gegenständlich Gegebene und Beobachtbare gerichteten Vernunft auszunehmen, ohne ihn ganz von der vernünftigen Wirklichkeitswahrnehmung zu isolieren. Die Besinnung auf das Wesen der Religion und ihrer Vorstellungen ebenso wie die Ergebnisse der sich immer stärker entfaltenden Naturwissenschaften machen dabei deutlich, dass der Glaube und sein Realitätsbezug überhaupt nicht an das Wirklichkeitsverständnis der Naturwissenschaften und der ihr zugeordneten Metaphysik anzuschließen sind. Auf dem Hintergrund der philosophisch begründeten Eigenart des Bereich des Geistes gegenüber dem Bereich der Natur wird die Religion als geistiges Phänomen verstanden, der traditionelle Bezug auf die Metaphysik dagegen als ein Missverständnis deutlich gemacht, das Glaubensvorstellungen wie Erkenntnisse des Welterkennens versteht und damit ihre eigentliche Bedeutung und der Religion im Ganzen verfehlt. Gerade Ebelings Metaphysikkritik und sein alternativer hermeneutischer Ansatz zeigen sehr klar, wie schon der Gottesgedanke und damit der Glaube im Ganzen seinen Sinn verliert, wenn er durch ein metaphysisches Verständnis seinem wahren Kontext in der Existenzerfahrung des Menschen entzogen wird. Zu dieser differenzierten Wirklichkeitsauffassung tritt aber noch ein zweiter entscheidender Gesichtspunkt. Auch die Beziehung des Glaubens zur Realität des Geistes, also zum Bereich des Willens, der Sittlichkeit, des Lebens oder der Existenz muss gegenüber dem traditionellen Modell in der Theologie geklärt 3

Für eine dem gängigen Schema gegenüber etwas kritische Darstellung des Verhältnisses von Theologie und Philosophie in der Theologiegeschichte s. PANNENBERG, Theologie und Philosophie, 20–36, bes. 21–30. 4 PANNENBERG, Theologie und Philosophie, 29f.

II. Einordnung und Ausblick

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werden. Der geistige Bereich kann nicht einfach in ein positives Verhältnis zum Glauben gesetzt werden. Besonders bei Ebeling und Bultmann wird die antithetische Beziehung zwischen Glaube und Existenzerfahrung deutlich, die jedoch auch bei den anderen Ansätzen mehr oder weniger explizit vorhanden ist. Indem die Wirklichkeit beziehungsweise das allgemeine Wirklichkeitsverständnis von vorne herein vom Standpunkt des Glaubens als »Gesetz« wahrgenommen wird, wird verhindert, dass sie eine das Wesen des Glaubens verstellende Eigenständigkeit in der Theologie gewinnt. Die Leistung der Auseinandersetzung mit der Metaphysik liegt in den untersuchten Ansätzen also, wie besonders von Ebeling her sehr deutlich zu erkennen ist, in einer hermeneutischen Klärung, was religiöse Sätze sagen und was nicht, woher sie entspringen und wie sie demnach zu verstehen sind, und in einer von dieser Einsicht in das Wesen des Glaubens aus vorgenommenen differenzierten Verhältnisbestimmung zum allgemeinen Wirklichkeitsverstehen. Dieser Prozess wurde zwar historisch gesehen durch den Aufstieg der modernen Naturwissenschaften und der von ihnen ausgehenden positivistischen Religionskritik eingeleitet. Jedoch hat die Theologie, indem sie sich dieser Kritik gestellt hat, die notwendige Selbstklärung geleistet – und zwar in Form der Metaphysikkritik, weil eben das Festhalten an der traditionellen Verwendung einer veralteten Metaphysik in der Theologie mit ihrer unkritischen Verbindung von Glaubensvorstellungen und vernünftigem Welterkennen einen substantiellen Plausibilitätsverlust von Glaube und Theologie in der Neuzeit verursacht hat. Das Ergebnis dieses Klärungsprozesses ist gerade in unserer Gegenwart mit seiner hohen Bedeutung des naturwissenschaftlich gewonnenen Wissens elementar und nicht mehr zu aufzugeben. Dennoch kann die Theologie nicht bei dem erreichten Ergebnis stehen bleiben. An drei Punkten wäre meines Erachtens eine Weiterarbeit notwendig. Zum einen ist dies die Tatsache, dass die theologische Wahrnehmung der Wirklichkeit nicht unvoreingenommen, sondern vom Standpunkt des Glaubens aus geschieht, zweitens die Beschränkung der Wirklichkeitswahrnehmung auf den geistigen Bereich und drittens die (aus dem ersten resultierende) Antithetik, in der Glaube und vernünftige Wirklichkeitserkenntnis miteinander verbunden sind. Die Wahrnehmung der Wirklichkeit vom Standpunkt des Glaubens aus verengt den Blick auf die Punkte des allgemeinen Wirklichkeitsverstehens, die die Plausibilität christlicher Vorstellungen zeigen können. Vor allem ist dies der Blick auf das Scheitern des Menschen an sich selbst und in seinen sozialen Bezügen sowie auf die Grenzen seines Könnens und Verstehens. Diese im allgemeinen Verständnis der Wirklichkeit nicht zu negierenden, sondern nachvollziehbaren Erkenntnisse sind dann der Bezug, mit dem der Wirklichkeitsanspruch des auf die menschliche Erlösung konzentrierten Glaubens begründet wird. Andere Erkenntnisse, die vom Standpunkt des Glaubens aus der Begründung seines Wirklichkeitsanspruches nicht unmittelbar dienlich sind, werden für nicht rele-

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8. Kapitel: Schluss

vant erklärt und bewusst ausgeblendet.5 Dies aber lässt fragen, wie robust der Wirklichkeitsanspruch begründet werden kann, wenn das Wirklichkeitsverstehen nicht umfassend, in seiner Selbständigkeit und mit seinen dem Anspruch des Glaubens widersprechenden Einsichten gewürdigt wird. Das zweite Problem schließt sich daran an. Die Zuordnung des Glaubens zum Bereich der Wirklichkeitserfahrung hatte den tatsächlich festzuhaltenden Gewinn, Glaubensaussagen nicht einfach mit Sätzen des Welterkennens gleichzusetzen. Dennoch läuft eine Beschränkung der für das theologische Verständnis von Glaubensaussagen relevanten Wirklichkeitswahrnehmung auf das innere Leben Gefahr, die Bedeutung besonders der Naturwissenschaften zu übersehen. Gerade in einer Zeit, in der vor allem naturwissenschaftliche oder pseudowissenschaftliche Erkenntnisse das allgemeine Bewusstsein bestimmen,6 wird die Theologie vor allem die Begründung des Wirklichkeits- und Wahrheitsanspruches christlicher Vorstellungen oder des Glaubens im Ganzen nicht ohne (auch kritische) Auseinandersetzung mit diesem Wirklichkeitsverstehen zumindest in einer breiteren gesellschaftlichen Perspektive betreiben können. Dies gilt gerade angesichts von Theorien, die das Phänomen der Religion im Gegensatz zum religiösen Selbstverständnis oder zu theologischer Auffassung vermeintlich geschlossen und hinreichend naturwissenschaftlich meinen erklären zu können.7 Dagegen ist in Theologie und Kirche heute vor allem das Modell einer friedlichen Koexistenz von Glaube und Naturwissenschaften verbreitet. Die evangelischen Ansätze gehen dabei wie die hier untersuchte Traditionslinie davon aus, dass der Glaube sich auf den »inneren Grund« der Welt, also den Sinn und die Bestimmung der Welt richtet, während die Naturwissenschaften den »äußeren

5 Sehr deutlich ausgesprochen ist diese Perspektive, in der der Glaube die Wahrnehmung der allgemeinen Wirklichkeit bestimmt, bei Bultmann, s. o. S. 153f. Und ebenso ist bei Ebeling diese Position erkennbar. Denn auch wenn er etwa Dogmatik I, 80; vgl. 89f. 94 betont, das »Phänomen des Lebens« »zunächst« selbständig thematisieren zu wollen, ist das letztlich bestimmende Anliegen doch, »das Lebensphänomen auf seinen Glaubensbezug hin zu beschreiben«, Dogmatik I, 105, wie schon seine Beschreibung des »hermeneutische[n] Zirkels« in der Diskussion mit Pannenberg die Priorität der theologischen Perspektive bei der »ethische[n] Besinnung auf den Menschen« erkennen ließ; s. o. S. 275. 6 Das heutige Bewusstsein unterscheidet sich hierdurch von Ebelings Zeitsituation, in der das allgemeine Bewusstsein seit den 1960er Jahren vor allem von humanwissenschaftlichen Inhalten, etwa aus der Soziologie, Politologie und Psychologie, bestimmt war. Der heutigen Situation dürfte eher Ritschls und Herrmanns Auseinandersetzung mit dem Positivismus nahe sein, wobei die Frage der Sittlichkeit oder Ethik heute ebenfalls stärker in den Hintergrund getreten ist. 7 Prominent ist hier natürlich Richard Dawkins, aber auch andere Theorien aus dem Bereich der kognitiven Evolutionstheorie, die nicht derart offen religionsfeindlich konzipiert sind, haben hier durchaus ernst zu nehmendes und dem heutigen Wirklichkeitsverständnis zumindest auf den ersten Blick plausibles religionskritisches Potential.

II. Einordnung und Ausblick

315

Grund«, also die empirisch beobachtbaren Kausalbezüge der Welt untersuchen.8 In derselben Weise sprechen römisch-katholische Dogmatiken davon, dass Glaube und Naturwissenschaft zwar, indem sie sich auf die Wirklichkeit richten, ein gemeinsames »Materialobjekt« haben, aber, indem sie es in unterschiedlicher Hinsicht in den Blick nehmen, sich doch auf verschiedene »Formalobjekte« richten.9 Mit diesem Modell eines konkurrenzlosen Nebeneinanders wird man allerdings den substantiellen Anfragen aus der Naturwissenschaft, die – egal ob absichtlich oder unbeabsichtigt, aber doch in jedem Fall faktisch – in Konkurrenz zu christlichen Vorstellungen und theologischen Aussagen treten, nicht in befriedigender und erschöpfender Weise entgegentreten können. Das dritte Problem betrifft die ausschließliche Antithetik, in der der Glaube mit dem Welterkennen verbunden wird. Diese Antithetik verdankt sich in den untersuchten Ansätzen der Notwendigkeit, die christlichen Vorstellungen in Bezug auf das allgemeine Weltverstehen zu erklären, ohne sie aus ihm abzuleiten. Ritschls und Herrmanns Ansätze bilden dabei die Grundlage für die scharfe Unterscheidung von Gott und Mensch mit der radikalen Entgegensetzung von Vernunft als Teil der menschlichen Aktivität und Glaube als rein passives Empfangen, die auch die Ansätze von Bultmann und Ebeling bestimmt. So notwendig es ist zu begründen und zu zeigen, warum der Glaube nicht aus der Welterfahrung ableitbar ist, macht gerade die von allen untersuchten Autoren zum Verstehen für nötig erklärte Beziehung von Glaubensvorstellungen auf die Wirklichkeit es erforderlich, eine differenziertere Verhältnisbestimmung vorzunehmen. Verstehen setzt Anknüpfungsmomente voraus, die durch den Prozess des Verstehens nicht negiert werden. Eine reine Negation des Gegenstandes im Verstehen würde fraglich machen, ob es sich tatsächlich um diesen Gegenstand handeln kann. Im Prozess des Neuverstehens muss beides enthalten sein, die Entdeckung neuer Aspekte, aber auch der Erhalt gewisser Wesensmerkmale. Was der Mensch ist, kann durch die Offenbarung nicht vollständig negiert werden, ohne dass es unmöglich wird zu sagen, ob und warum das Erkannte immer noch die Bezeichnung »Mensch« verdient. Dieses Zusammenspiel hat für das Verhältnis von Glaube und Vernunft beziehungsweise für die Bedeutung naturwissenschaftlicher Einsichten im Bereich der theologischen Explikation von Glaubensvorstellungen weitreichende Bedeutung. Die Veränderung etwa des Kenntnisstandes über Wesensmerkmale des Menschen hat faktisch ohnehin 8 HÄRLE, 409f. 418–420. Auch der Ansatz von KLEFFMANN, 157–163 gehört zu diesem Modell, denn obwohl er betont, dass die naturwissenschaftliche Erkenntnis die christlichtheologische »Interpretation« modifizieren kann, ist er vor allem darum bemüht, die Nichtzuständigkeit naturwissenschaftlicher Fragen auf dem Gebiet der christlichen Schöpfungslehre zu zeigen, indem er das naturwissenschaftliche Denken wie in der hier untersuchten Traditionslinie als »kausal« dem auf das »Ganze« gerichteten Blick des christlichen Glaubens gegenüberstellt. 9 BEINERT, bes. 234–240. 243f.

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8. Kapitel: Schluss

Einfluss auf theologische Aussagen, indem sie bestimmt, worauf die Theologie die Glaubensvorstellungen bezieht. So haben die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse wesentlich dazu beigetragen, dass die Dogmatik heute anders über Schöpfung oder Urstand des Menschen spricht als die altprotestantischen Dogmatiker mit ihrem realistischen Verständnis der biblischen Schöpfungserzählung. Die bewusste Einbeziehung des wissenschaftlichen Kenntnisstandes trägt nicht nur dazu bei, dass die Theologie die christlichen Glaubensvorstellungen im Horizont ihres jeweiligen Weltverständnis verständlich machen kann, sondern dient auch dazu, wie es in der Geschichte der evangelischen Metaphysikkritik geschehen ist, ihr eigenes Wesen zu erkennen und ihre Wahrheit klarer zu sehen. Wie genau jedoch das Verhältnis von Negation und positivem Einfluss vernünftiger Einsichten zu fassen ist, ohne die in der Auseinandersetzung mit der Metaphysik erreichten Einsichten preiszugeben, muss die Aufgabe weiterer Forschungsarbeit sein. Die in der Metaphysikkritik der untersuchten Traditionslinie und besonders bei Ebeling erreichten hermeneutischen Einsichten bleiben bei allen genannten Fragen eine unhintergehbare Grundlage. Jede Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Glaube und Vernunft, Theologie und Philosophie sowie Theologie und Naturwissenschaften muss auf der erreichten hermeneutischen Klärung aufbauen oder läuft Gefahr, mit einer unbedachten Vermischung von Glaubensvorstellungen und naturwissenschaftlichen Einsichten wieder in die alten Konflikte und Probleme gerade für Glaube und Theologie zu geraten, die der hermeneutische Ertrag der Auseinandersetzung mit der Metaphysik in der Theologie überwunden hat.

Anhang

Literatur 1. Gerhard Ebeling Aufsatzschlüssel Dieser Schlüssel listet die häufig zitierten Aufsätze Ebelings auf. [1] »Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode für die protestantische Theologie und Kirche« (1950), WuG I, 1–49. [2] »Die ›nicht-religiöse Interpretation biblischer Begriffe‹« (1955), WuG I, 90–160. [3] »Jesus und Glaube« (1958), WuG I, 203–254. [4] »Was heißt Glauben?« (1958), WuG III, 225–235. [5] »Wort Gottes und Hermeneutik« (1959), WuG I, 319–348. [6] »Elementare Besinnung auf verantwortliches Reden von Gott« (1959), WuG I, 349–371. [7] »Die Welt als Geschichte« (1960), WuG I, 381–392. [8] »Die Evidenz des Ethischen und die Theologie« (1960), WuG II, 1–41. [9] »Hauptprobleme der protestantischen Theologie in der Gegenwart« (1961), WuG II, 56–71. [10] »Verantworten des Glaubens in Begegnung mit dem Denken M. Heideggers. Thesen zum Verhältnis von Philosophie und Theologie« (1961), WuG II, 92–98. [11] »Die Krise des Ethischen und die Theologie. Erwiderung auf W. Pannenbergs Kritik« (1962), WuG II, 42–55. [12] Art. »Theologie und Philosophie« (1962), RGG3 6, 782–830. [13] »Die Botschaft von Gott an das Zeitalter des Atheismus« (1963), WuG II, 372–395. [14] »Zeit und Wort« (1964), WuG II, 121–137. [15] »Der hermeneutische Ort der Gotteslehre bei Petrus Lombardus und Thomas von Aquin« (1964), WuG II, 209–256. [16] »Existenz zwischen Gott und Gott. Ein Beitrag zur Frage nach der Existenz Gottes« (1965), WuG II, 257–286. [17] »Hermeneutische Theologie?« (1965), WuG II, 99–120. [18] »Cognitio Dei et hominis« (1966), LuSt I, 221–272. [19] »Gott und Wort« (1966), WuG II, 396–432. [20] »›Was heißt ein Gott haben oder was ist Gott?‹ Bemerkungen zu Luthers Auslegung des ersten Gebots im Großen Katechismus« (1966/67), WuG II, 287–304. [21] »Zum Verständnis von R. Bultmanns Aufsatz: ›Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?‹«, WuG II, 343–371. [22] »Profanität und Geheimnis« (1968), WuG II, 184–208. [23] »Schleiermachers Lehre von den göttlichen Eigenschaften« (1968), WuG II, 305–342. [24] »Der Aussagezusammenhang des Glaubens an Jesus« (1969/1974), WuG III, 246–269.

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Literatur

[25] »Theologie zwischen reformatorischem Sündenverständnis und heutiger Einstellung zum Bösen« (1973), WuG III, 173–204. [26] »Zu meiner Dogmatik des christlichen Glaubens« (1980), WuG IV, 476–491.

Monographien, Sammelbände, Sonstiges EBELING, GERHARD, Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. I: Der Glaube an Gott den Schöpfer der Welt (1979), 3. Aufl., Mohr Siebeck, 1987. — Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. II: Der Glaube an Gott den Versöhner der Welt (1979), 3. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck, 1989. — Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. III: Der Glaube an Gott den Vollender der Welt (1979), 3. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck, 1993. — Einführung in theologische Sprachlehre, Tübingen: Mohr Siebeck, 1971. — Evangelische Evangelienauslegung (1942), 3. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck, 1991. — Die Geschichtlichkeit der Kirche und ihrer Verkündigung als theologisches Problem. Drei Vorlesungen, SgV 207/208, Tübingen: Mohr, 1954. — Luther. Einführung in sein Denken, Tübingen: Mohr, 1964. — Lutherstudien, Bd. I, Tübingen: Mohr Siebeck, 1971. — Lutherstudien, Bd. II/2: Die philosophische Definition des Menschen. Kommentar zu These 1–19, Tübingen: Mohr (Siebeck), 1982. — Lutherstudien, Bd. II/3: Die theologische Definition des Menschen. Kommentar zu These 20– 40, Tübingen: Mohr (Siebeck), 1989. — Lutherstudien, Bd. III: Begriffsuntersuchungen – Textinterpretationen – Wirkungsgeschichtliches, Tübingen: Mohr (Siebeck), 1985. — »Mein theologischer Weg«, in: Mein theologischer Weg, hrsg. von INSTITUT FÜR HERMENEUTIK UND R ELIGIONSPHILOSOPHIE DER T HEOLOGISCHEN FAKULTÄT Z ÜRICH , Hermeneutische Blätter. Sonderheft 2006, Zürich, 2006, S. 5–66. — Das Problem der Metaphysik bei Martin Heidegger, unveröff. Typoskript, Tübingen: Universitätsarchiv 633/679, 1933. — Theologie und Verkündigung. Ein Gespräch mit Rudolf Bultmann, 2. Aufl., HUT 1, Tübingen: Mohr Siebeck, 1963. — Das Wesen des christlichen Glaubens, 1. Aufl., Tübingen: Mohr, 1959 (Wiederabdruck als Siebenstern Taschenbuch 8, 3. Aufl., München/Hamburg: Siebenstern, 1967). — Wort Gottes und Tradition. Studien zu einer Hermeneutik der Konfessionen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1964. — Wort und Glaube, Bd. I, 2. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck, 1962. — Wort und Glaube, Bd. II: Beiträge zur Fundamentaltheologie und zur Lehre von Gott, Tübingen: Mohr Siebeck, 1969. — Wort und Glaube, Bd. III: Beiträge zur Fundamentaltheologie, Soteriologie und Ekklesiologie, Tübingen: Mohr Siebeck, 1975. — Wort und Glaube, Bd. IV: Theologie in den Gegensätzen des Lebens, Tübingen: Mohr Siebeck, 1995.

2. Albrecht Ritschl

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2. Albrecht Ritschl RITSCHL, ALBRECHT, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. 1: Die Geschichte der Lehre, 1. Aufl., Bonn: Marcus, 1870. — Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. 3: Die positive Entwickelung der Lehre, 1. Aufl., Marcus, 1874. — Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. 1: Die Geschichte der Lehre, 2. Aufl., Bonn: Marcus, 1882. — Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. 3: Die positive Entwickelung der Lehre, 2. Aufl., Bonn: Marcus, 1883. — Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. 1: Die Geschichte der Lehre, 4. Aufl., Bonn: Marcus, 1903 (unveränderter Nachdruck der 2. Aufl. von 1882). — Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. 2: Der biblische Stoff der Lehre, 4. Aufl., Bonn: Marcus, 1900. — Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. 3: Die positive Entwickelung der Lehre, 4. Aufl., Bonn: Marcus, 1895. — »Festrede am vierten Seculartage der Geburt Martin Luthers, 10. November 1883«, in: Drei Akademische Reden, Bonn: Marcus, 1887, S. 5–29. — Gesammelte Aufsätze, hrsg. von OTTO RITSCHL, Bd. [2] Neue Folge, Freiburg/Leipzig: Mohr (Siebeck), 1896. — »Geschichtliche Studien zur christlichen Lehre von Gott« (1865), in: JDTh 10 (1865), 277– 318 (Wiederabdruck in: Aufsätze 2, S. 25–64). — »Lesefrüchte aus dem heiligen Bernhard« (1879), in: Aufsätze 2, S. 204–219. — Schleiermachers Reden über die Religion und ihre Nachwirkungen auf die evangelische Kirche Deutschlands, Bonn: Marcus, 1874. — Theologie und Metaphysik. Zur Verständigung und Abwehr (1881), 2. Aufl., Bonn: Marcus, 1887. — Unterricht in der christlichen Religion. Studienausgabe nach der 1. Auflage von 1875 nebst den Abweichungen der 2. und 3. Auflage, hrsg. von CHRISTINE AXT-PISCALAR, Tübingen: Mohr Siebeck, 2002. — Vorlesung Theologische Ethik (1872), hrsg. von ROLF SCHÄFER, Berlin: de Gruyter, 2007. — »Über die beiden Principien des Protestantismus. Antwort auf eine 25 Jahre alte Frage« (1875), in: Gesammelte Aufsätze, hrsg. von OTTO RITSCHL, Bd. 1, Mohr, 1893, S. 234– 247. RITSCHL, ALBRECHT/WILHELM HERRMANN, Briefwechsel 1875–1889, hrsg. von CHRISTOPHE CHALAMET /P ETER F ISCHER-A PPELT /J OACHIM W EINHARDT , Tübingen: Mohr Siebeck, 2013.

3. Wilhelm Herrmann HERRMANN, WILHELM, »Albrecht Ritschl, seine Größe und seine Schranke«, in: Festgabe von Fachgenossen und Freunden A. von Harnack zum siebzigsten Geburtstag dargebracht, Tübingen: Mohr, 1921. — Ethik (1901), 5. Aufl., Grundriss der Theologischen Wissenschaften V/2, Tübingen: Mohr, 1913.

322

Literatur

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330

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Personen Albert, Hans 11, 248 Althaus, Paul 167, 255 Apel, Karl Otto 249 Aristoteles 23–28, 34–36, 38–40, 59, 90f, 175, 183, 202, 204f, 215, 244, 255, 273

Deuser, Hermann 2f Diem, Hermann 184 Dierken, Jörg 100 Dilthey, Wilhelm 189 Dionysius Areopagita 32, 232

Bacon, Francis 36 Barth, Karl 2f, 53, 138, 142, 164, 167, 170f, 184, 229, 243, 258, 268, 282, 286, 300 Bayer, Oswald 255f, 273 Beinert, Wolfgang 315 Berkley, George 68 Bernhard von Clairvaux 22 Beutel, Albrecht 130, 191, 195, 228, 266 Biel, Gabriel 256 Birkner, Hans-Joachim 5 Bonhoeffer, Dietrich 8, 227f, 254, 257– 260 Bornkamm, Günther 167 Bosch, Henk van den 115 Bretschneider, Karl Gottlieb 31 Brunner, Emil 130, 142, 215 Bühler, Pierre 266 Burger, Christoph 166f, 170

Eichholz, Georg 292 Eisler, Rudolf 34 Evang, Martin 131, 133f, 166

Candler, Peter M. 3 Carnap, Rudolf 247f Chalamet, Christophe 131, 137 Chalybäus, Heinrich Moritz 23, 56 Cohen, Hermann 111 Courtine, Jean-François 256 Cox, Harvey 184 Cunningham, Connor 3 Dalferth, Ingolf U. 311 Davies, Stephen T. 3 Dawkins, Richard 314 Descartes, Ren´e 36, 190, 192f, 202, 220, 231, 234f

Ferr´e, Frederick 247f Feuerbach, Ludwig 87 Fichte, Johann Gottlieb 103 Figal, Günther 192 Fischer, Walter 131, 133 Fischer-Appelt, Peter 65–69, 79, 102, 106 Flacius Illyricus, Matthias 46f Forell, Urban 218 Frank, Franz Hermann Reinhold von 22, 26f, 32, 37, 39, 42f, 45, 48, 71, 106f, 124, 223 Fuchs, Ernst 8, 188–191, 199, 246, 271, 277, 285 Gerhard, Paul 263 Gmainer-Pranzl, Franz 8 Goebel, Hans Theodor 5f Gogarten, Friedrich 142, 170, 186, 188– 191, 199, 277 Gollwitzer, Helmut 188 Gottschick, Johannes 167 Grisebach, Eberhard 191 Hadot, Pierre 214 Haldane, John 3 Hamann, Konrad 131, 142, 186 Härle, Wilfried 315 Harnack, Adolf von 32 Harnack, Theodosius 167, 233f Hauschildt, Eberhard 141, 166f, 169f

332 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 28 Heidegger, Martin 8, 11, 88, 141f, 148f, 152–154, 158, 160–162, 164–166, 171, 183, 189–194, 198f, 201–204, 206, 208– 211, 213f, 216f, 219f, 223–226, 235– 239, 246f, 249, 256, 271–275, 310 Helmer, Christine 233 Hiller, Doris 8 Hofmann, Frank 55–57 Hök, Gösta 17, 25, 39, 42, 57, 206 Holtzmann, Heinrich Julius 70f Inwood, Michael 192 Johannes Paul II. 3 Johnson, Roger Alan 170 Jüngel, Eberhard 1, 148, 184 Kaftan, Julius 49f, 53f, 80, 120 Kähler, Martin 223 Kant, Immanuel 11, 22, 27–30, 65f, 68, 72f, 78, 80, 83–85, 87, 93–95, 98, 100f, 107f, 110, 117, 122–124, 132, 162, 183, 192–194, 220 Käsemann, Ernst 218 Kattenbusch, Ferdinand 27, 33 Kinder, Ernst 186–188, 199 Kistenbruegge, Armin 8 Kleffmann, Tom 315 Kock, Christoph 6–8 Korsch, Dietrich 255 Korthaus, Michael 233 Krüger, Gerhard 191 Landmesser, Christof 152, 159, 255 Lauster, Jörg 197f Leibnitz, Gottfried Wilhelm 202 Lessing, Gotthold Ephraim 58 Lipsius, Richard Adelbert 64, 123 Locke, John 36 Loewenich, Walter von 233f Lohse, Bernhard 255 Lorenz, Rüdiger 8 Lotz, David W. 55–57 Lotze, Hermann 11, 20, 23, 27–30, 34, 57, 65, 89 Luthardt, Christoph Ernst 22, 26, 30, 32, 37f, 40, 44, 46, 58, 64, 124, 210

Register Luther, Martin 4f, 8, 10f, 15, 48–51, 53– 59, 61, 114–126, 129f, 139, 141, 157, 160, 166–170, 172f, 177f, 182, 187, 198, 200, 204, 207, 212, 215f, 219, 223, 228– 235, 239, 244f, 253–256, 264–266, 278, 296f, 303, 307, 309f Mahlmann, Theodor 106, 111, 113 Manzke, Karl-Hinrich 152, 160 Marcus, Wolfgang 34 Marion, Jean-Luc 214 Melanchthon, Philipp 54, 71, 120, 122, 231 Meyer, Heinrich August Wilhelm 42–44 Mogk, Rainer 65, 83 Moltmann, Jürgen 184 Müller, Klaus W. 148 Neugebauer, Matthias 23 Nowak, Kurt 5 Ogden, Schubert M. 3 Otto, Rudolf 134, 143 Pöggeler, Otto 202 Pannenberg, Wolfhart 5, 8f, 62f, 274, 277f, 284f, 292, 312, 314 Pascher, Manfred 28, 34 Pesch, Otto H. 204 Petzoldt, Matthias 247f Pfleiderer, Otto 64, 87 Philippi, Friedrich Adolf 223 Pilnei, Oliver 8, 189f, 248, 271 Platon 30, 32–34, 220, 232, 274 Prenter, Regin 188 Ratschow, Carl Heinz 5 Ringleben, Joachim 214 Ritschl, Otto 30, 32, 55, 70 Robinson, John 184 Ross, David 36 Rückert, Hanns 188, 194 Schaaf, Kurt 190 Schäfer, Rolf 26, 35 Scheider-Flume, Gunda 1 Schleiermacher, Friedrich 8, 17, 114, 132, 135, 223, 230, 242, 259, 280 Schmid, Heinrich 31

Personen Schniewind, Julius 188 Schultz, Hermann 49 Semler, Johann Salomo 58 Slenczka, Notger 10, 22, 29f, 49f, 68, 98, 242 Sparn, Walter 2, 5 Spinoza, Baruch de 41, 214 Stanley, Timothy 5, 202 Sticht, Friedrich Wolfgang 131 Su´arez, Francisco 1, 36 Tertullian 311 Thielicke, Helmut 187f, 199 Thomas von Aquin 204, 207–209, 211, 213–215, 219, 227f, 237, 241f, 254f, 261, 279, 309 Timm, Hermann 41, 63f Trendelenburg, Friedrich Adolf 23 Troeltsch, Ernst 143

333

Urmson, James O. 247 Waismann, Friedrich 245 Wallmann, Johannes 194f Weinhardt, Joachim 64, 70, 72, 75, 79, 87, 106, 111 Weiß, Herrmann 33, 38, 45f Wendebourg, Dorothea 257 Weyer-Menkhoff, Stephan 29 Wilhelm von Ockham 255f Wittgenstein, Ludwig 245–249, 310 Wolf, Ernst 167, 255 Wolff, Otto 53–55 Wundt, Max 22, 36 Zachhuber, Johannes 9, 23, 34, 42, 52, 56, 224 Zeeden, Ernst Walter 58 Zeller, Eduard 57

Sachen Abhängigkeit 19, 69f, 72–75, 95f, 109, 114, 121, 123, 135, 159, 213f, 230, 280, 289f, 297, 303 Absolute, das 43, 45, 71, 132 Absolutheit 26, 39, 42f, 52, 210 Abstraktion, abstrakt 26, 29f, 32, 45, 67, 115, 145, 147, 150, 168, 178, 210f, 217, 219, 224, 226f, 234f, 238, 264–266, 272, 289, 297, 301, 305, 308, 311 Akzidenz 42, 46f Allgemeinbegriff(e) 29, 32, 35, 42, 45, 48, 74, 109, 121, 175 Allgemeingültigkeit 16, 78, 90, 92, 94– 101, 103–105, 107, 109–111, 118f, 127, 138, 141, 145, 164, 177, 226 Allgemeinheit 25, 67, 71, 74, 152, 207, 226, 238, 242f, 265 Alte Kirche 1, 16f, 195f, 200 Anknüpfungspunkt 87, 103, 155 Ansichsein 210–214, 216, 218, 230, 251, 254–256, siehe auch Fürsichsein – Ding an sich 29, 32, 66, 80, 84, 210 – Gott an sich 32, 114, 210, 230, 255 – Größe an sich 217 – Mensch an sich 254f, 301 Apologeten, frühchristliche 1, 18, 26, 32, 91, 94, 252, 311 assensus 143, 147, 168f, 199 Atheismus 252, 259f, 264f, 268f, 310 Aufklärung 7f, 16f, 58f, 88, 149, 183, 225, 312 Beweger, unbewegter 39, 204 Beweis 73, 78, 91f, 94, 96–100, 102–104, 122, 129, 133, 140, 151, 158, 172, 177, 245, 249, 296, 307, siehe auch Gottesbeweis Bewusstsein 39, 78f, 123, 187 – Erlösungsbewusstsein 99

– geistiges 16, 66 – geschichtliches 197, 200, 221f, 224, 238 – Heilsbewusstsein 56 – Selbstbewusstsein 88f, 100, 102, 108, 230 – sittliches 96, 102f, 128, 133 – Wahrheitsbewusstsein 220, 244, 246, 251 cartesisch 66, 189, 194, 221 causa sui 2, 40f, 212–214, 252 Christologie 3, 31, 45, 50, 62, 75f, 121– 124, 126 Christus siehe Jesus (Christus) Deus maiestatis 51, 232, 255, siehe auch Majestät Gottes Ding an sich siehe Ansichsein Dualismus, dualistisch 67, 131–133, 137– 141 Eigenschaften 29–31, 35, 42, 51, 183, 203, 206, 210, 217 – Gottes 31, 45, 52, 210, 217, 231 – ruhende 31, 45, 52, 210 Eigentlichkeit 149, 155, 157, 159, 161– 164, 262 Endzweck 18f, 25, 47, 68, 75, 90, 93f, 96, 98, 102, 128, 205, siehe auch Zweck, höchster Entmythologisierung 169, 172, 185f, 188, 194, 196, 198, 200, 231, 234, 236, 253f, 257f, 290f, 310 Erfahrung 2, 4, 7, 19, 35, 50f, 66, 81f, 87, 102, 108, 113–116, 119–121, 127–129, 133, 137, 146, 150, 164, 171, 175, 177f, 198, 208, 217, 230, 232, 237f, 242, 260, 268, 273, 275, 277–279, 281f, 284f, 287,

Sachen 294, 303, 308f, 311–313, siehe auch Erleben – der Welt 48, 132, 140, 171, 177, 208f, 241, 260, 270, 279, 306, 315 – der Wirklichkeit 6, 127f, 147, 171, 177, 241–243, 246, 265, 269, 282, 288f, 295, 297, 314 – Gottes 2, 50, 232, 260, 269, 281f, 288 – religiöse 73–76, 100, 109, 120, 122, 126f, 140 – Selbsterfahrung 44, 287, 290, 306, 309 Erkennen, Erkenntnis – empirische(s) 51, 106, 127, 260 – religiöse(s) 90, 106, 132 – theoretische(s) 19, 21, 25, 33f, 36, 51, 59, 66, 82, 86f, 92, 129, 134, 205, 209 – uninteressierte(s) 27, 34, 49–51, 58f, 230, 233 – Welterkennen, Welterkenntnis 17, 50, 63f, 66–68, 77f, 80–82, 88, 105–109, 115, 127–130, 133f, 141, 144, 164, 170– 174, 176, 201, 203f, 206, 210, 219, 226, 235, 239, 251–253, 278, 296, 309, 312– 315 – wissenschaftliche(s) 19, 21, 24, 49, 80, 106, 109, 113, 117, 132, 143, 173f, 205, 235f Erkenntnitstheorie, erkenntnistheoretisch 27f, 30, 32–36, 50–53, 58, 60f, 64f, 78, 84, 105, 110, 127, 131, 134, 139, 173f, 206, 220, 267, 308 Erlösung 39, 46, 50, 57, 68, 74, 93, 120f, 123, 126, 135f, 215, 306, 313 Erleben 113, 128, 134, 136–138, 140, 188 – religiöses 64, 72, 282 Erstes Gebot (Luthers Auslegung) 48, 114f, 157, 167, 265, 303 Ethik, ethisch 8, 16, 23f, 42, 44f, 47, 49, 53, 60, 63–66, 69, 72, 74–77, 94, 97f, 102, 115, 121, 127, 138f, 169, 173, 175f, 215, 217, 272, 275–278, 284, 314 Ewigkeit, ewig 72, 81, 96, 103, 109, 149f, 157, 167, 210, 212, 220, 222, 224, 257, 261, 296, siehe auch Zeitlosigkeit, zeitlos fides quae/qua 143, 146, 291 fiducia 143, 168f

335 Fiduzialglaube 50, 294 Fraglichkeit 104, 171, 177, 208, 265, 280f, 297, 304 Freiheit 57, 70, 72–75, 93, 95f, 102, 109, 113, 121, 123, 135, 156, 159f, 163, 214, 222, 262, 272f, 289, 301 Fürsichsein 43, 151, siehe auch Ansichsein Gefühl 70, 73, 79f, 88f, 94, 102, 135, 208, 230 – Schuldgefühl 72, 112 – Selbstgefühl 72, 80, 82, 87–89, 97, 100, 112 Geheimnis 71, 91 – der Wirklichkeit 114, 272f, 281–306 – des Wirklichen 108 Gemeinde 46, 50, 55f, 64, 75f, 99, 102, 117, 293 Geschichte, geschichtlich 16, 45, 75f, 92, 101–103, 108, 121, 123, 125, 127, 137, 150, 153, 160f, 163, 165, 168, 189, 195– 198, 200, 221–224, 238, 243, 258f, 261f, 264f, 268, 270, 273, 292f Geschichtlichkeit 150, 164, 189, 197f, 222–225, 227, 257–259, 262, 270 Gesetz 81, 95, 97, 107f – des Daseins, oberstes 19–21 – Gesetz und Evangelium 169, 196, 199, 249f – Glaubensgesetz 117, 293 – Lehrgesetz 147 – Naturgesetz 19, 23, 79, 82, 109, 133, 146 – Wirklichkeit als Gesetz 5, 116, 243, 249–313 Gewissen 5, 8, 102, 234f, 239, 250, 290, 297, 300f Gewissheit 50, 69–71, 73, 78, 83, 95, 98– 102, 104f, 107, 125–128, 133, 175, 177, 222, 234f, 239, 273, 290, 292, siehe auch Bewusstsein – der Rechtfertigung 55 – Glaubensgewissheit 128, 235f, 239, 250, 290, 294, 297 – Gottes 18, 71, 117, 126, 185, 230, 234, 267, 290, 292, 295

336 – Heilsgewissheit 56, 121–123, 126, 199, 201, 290 – religiöse 98f – Selbstgewissheit 83f, 93, 101, 123 – Weltgewissheit 185, 234f, 295 Glaubensgegenstand, -gegenstände 107, 168, 291f, 294f Glaubensgrund 168, 292, 295, 297 Gott an sich siehe Ansichsein Gottesbegriff 6f, 18, 38, 48, 59f, 96, 120, 126, 168, 210, 223, 230, 252, 279, 281, siehe auch Gottesidee – aristotelischer 51, 91, 205 – metaphysischer 59, 222f, 238, 261 Gottesbeweis 17–19, 25f, 36, 40f, 51, 71, 154, 207, 209, 242, 260, 279, 289 Gotteserkenntnis 49, 54, 58, 116f, 162, 217, 229f, 233, 237, 239, 253f, 265f, 297, 307 – allgemeine 18, 182 – außerhalb d. Offenbarung 141, 183 – falsche 227, 265 – heillose 48, 231, 239 – metaphysische 8, 49, 182f, 207, 231, 233f, 254, 290, 309 – natürliche 1, 17f, 26, 59, 146, 164, 181f – neutrale 229, 254 – philosophische 8, 182, 231, 234, 256 – scholastische 58, 207, 212, 231, 254 – vernünftige, rationale 48, 58, 145, 182, 207, 232, 234, 254 Gottesgedanke 2, 16, 25, 35f, 38–41, 60, 71, 105, 157, 170, 174, 201, 205f, 214, 238f, 312 Gottesidee 18, 20, 26, 72, 90f, 205 – metaphysische 2 Gotteslehre 2, 26, 32, 43, 48, 52, 59, 84, 91, 125, 150, 241f, 253, 264–267, 300– 304, 307, siehe auch Reden von Gott – aristotelische 90 – Luthers 48 – metaphysische 2, 25, 38, 213, 224, 228, 302f – philosophische 242 – rationale 36 – scholastische 213, 257 – traditionelle 6, 45, 173, 264f

Register Grundsituation 104, 279–281, 286f, 289, 297, 299, 301, 303f Gut, höchstes 69f, 74f, 85–87, 93, 115, 121 Gute, das 47, 70, 72f, 85, 97, 138f, 156 Handeln 44, 100, 104, 133, 135f, 139, 149, 215, 271–273, 276, 278, 281 – ethisches 139 – Gottes 75, 117, 211, 213, 228, 262, 276, 288 – Heilshandeln Gottes 52, 164, 169, 213, 229, 255 – sittliches 98, 121 Heidentum 25, 88 heidnisch 16, 21, 35 Heillosigkeit, heillos 48, 201, 228, 231f, 234, 239, 264 Heilstatsachen 186, 188–190, 198f, 217, 258 Hermeneutik, hermeneutisch 38, 41–43, 45–48, 50f, 53, 60, 62, 64, 70, 72, 77, 92, 97, 103, 105, 109, 115, 119, 127f, 141, 144, 171f, 175f, 185, 197–200, 206f, 217f, 223, 225, 228–230, 234f, 237– 239, 241–244, 246, 248–252, 267, 275, 277, 279, 289f, 296f, 301–305, 307–310, 312f, 316, siehe auch Theologie, hermeneutische – hermeneutischer Zirkel 190, 275, 306, 314 Idealismus 21, 56f, 65, 68, 116, 149, 161, 225 In-der-Welt-sein 192, 194, 217, 225 Jesus (Christus) 45, 48, 50, 55, 58f, 69, 71, 73, 75f, 101–104, 121–123, 125, 128, 143, 162f, 182, 187, 195f, 198, 232f, 238, 262, 283, 287, 290–295, 297, 306 katholisch 55, 120, 123, 143, 199, 208, 250, 291 – römisch-katholisch 2f, 315 Kausaldenken 69, 81, 91, 127, 201–206, 237, 240, 252, 256, 270, 274 Kausalität, kausal 23, 51, 73, 77–79, 81, 88f, 91, 105, 132f, 147, 173f, 177, 204– 206, 212f, 216, 237, 315

Sachen Kausalzusammenhang 109, 127f, 174, 176, 205f, 208, 210, 212 Kosmologie 22f, 27, 33f, 36, 41, 60, 81, 156, 174 Kreuzestheologie, theologia crucis 170, 231, 233f, 307 Kultur 108, 134–138, 140, 165, 169 Lebensbezug 147f, 150, 154, 176, 203, 213, 217, 226, 267, 272, 298f, 301, 303, 305 Liebe 43, 91, 102, 163, 281, 286 – Gottes 48, 73, 102f, 128, 303, 306 Liebeswille (Gottes) 43, 48, 50f, 76, 84, 210 λόγος 149, 163, 202, 273f Lutheraner 15, 22, 37, 46f, 58–60, 64, 124, 172, 198, 200, 236 Majestät Gottes 48, 231, 233f, 239, siehe auch Deus maiestatis Materialismus 21, 24, 68, 87, 161 Mensch an sich siehe Ansichsein Methode, historisch-kritische 195–198, 200, 258, 293 Monismus, monistisch 63, 106–108, 110, 119, 127–130, 132f, 140, 142, 174, 176, 203, 206, 210 Natur 7, 24f, 33, 39–41, 46, 50, 57, 66f, 69, 72f, 77, 79, 82, 86, 89–92, 95–97, 100, 106f, 127, 133–137, 152, 173, 176, 205, 290 – und Übernatur 172 – und Geist 19, 23f, 28, 35, 39–42, 45, 52f, 60, 66, 77, 172f, 175, 203, 206, 308, 312 Naturbegriff 215f – aristotelischer 214 – scholastischer 210–212, 214, 231 Naturerkennen 78–84, 86, 90, 105, 128 Naturwissenschaft(lich) 23, 28, 33, 64– 67, 69, 78f, 81–85, 87, 93, 107, 110, 112f, 123f, 128f, 133, 148, 152, 174, 176, 216–219, 247f, 310, 312–316 Neukantianismus 28, 34, 134 Nichtobjektivierbarkeit 218

337 Objekt 16, 28, 65, 67, 117, 132, 143, 145, 147, 189, 193, 203, 206, 226, 253, 315, siehe auch Subjekt–Objekt Objektivierung, objektivieren 7, 29, 32, 35, 46, 51, 88, 137, 148, 152, 168, 176, 188, 194, 216–220, 227, 235, 238, 251f, 293, 305, 308 Objektivität 24, 186f, 190, 198f, 217, 226, 235, 253 Onto-Theo-Logie 191, 202f, 214, 237 Ontologie, ontologisch 5f, 17, 22–24, 27f, 30, 32–36, 59f, 65–68, 77, 83, 131, 160, 173f, 191, 193, 196f, 205, 222, 226, 258, 300, 308 – der Relation 7, 301 – der Vorhandenheit 198, 203 – ontologische Differenz 192, 226 – Substanzontologie 7, 216 – vorontologisch 191f, 194, 209 Orthodoxie 2, 16f, 21, 31, 35, 37, 52, 60, 116, 128, 132, 143, 146f, 151, 166, 168, 174, 183, 195–197, 219, 236, 291, 311f Person(sein) 2, 45, 79f, 82f, 86f, 93, 95, 97, 99f, 176, 222, 301 Philosophie – analytische 245–249, 251, 270, 305 – griechische 18, 20, 35, 42, 90, 149, 192, 205, 274 – hermeneutische 248f, 251 – scholastische siehe Scholastik Physik 22, 24, 46, 68, 127, 211 Platonismus, platonisch 30–34, 40, 44f, 60, 175, 210, 221, 226, 230f, 238, 274 – spätplatonisch 18, 26, 32, 44 Plausibilität 25, 110, 119, 128f, 172, 177, 183, 220f, 238, 241, 260, 289, 313 Positivismus 87, 110, 128f, 149, 175f, 219, 238, 248, 313f – logischer 245–247, 249, 279, 296, 310 praeambula fidei 7, 51, 143f, 161, 170, 174, 207–209, 229, 242f, 254 prima causa 156, 204, 212–214, 242, 252 Protestantismus 16, 54f, 166 – Neuprotestantismus 195 Rationalismus, rationalistisch 11, 22, 99, 101, 110, 116, 128, 272, 300

338 Rechtfertigung 50, 55–58, 72, 74, 139, 151, 199, 201, 256f, 285, 291, 293 – Rechtfertigungslehre 54, 114, 123, 139, 168f, 197, 282 Reden von Gott 62f, 153, 157, 185, 217f, 225, 234, 242, 246, 249, 252f, 256, 264– 269, 278f, 283, 289, 296f, 299f, 302f, 306f Reformation, reformatorisch 16, 44, 54– 58, 61, 63, 75, 108, 119–126, 129, 139, 166, 168f, 172, 177f, 182, 187, 195–200, 208, 231, 236, 249–251, 257, 307, 310, siehe auch Theologie, reformatorische Reich Gottes 70, 75, 85, 98, 102f, 115 Religion – griechische 20, 25, 35, 39f, 91 – natürliche 16f, 59, 183 Religionskritik 20f, 87, 129, 176, 238, 252, 313f Scholastik, scholastisch 25f, 36, 51, 54, 174, 207, 210–212, 214f, 228f, 231, 256f, 281 – Philosophie 36, 204 – Theologie 18, 26, 40, 58, 181, 183, 200, 207, 211, 214–216, 231, 235, 238f, 244f, 254–256, 259, 264, 291, 311, siehe auch Theologie, mittelalterliche Schulmetaphysik 35–37, 59, 175, 205 Selbstbewusstsein siehe Bewusstsein Selbstverständnis 19, 39, 145, 151, 153, 155f, 159f, 162f, 171, 175–177, 194, 199, 217, 222, 251, 262, 275f, 285, 287f, 290, 292, 309, 314 Seligkeit 40, 57, 103 Sittengesetz 16, 85, 94–97, 99, 102f, 115, 156 Sittlichkeit, sittlich 10, 22, 47, 60, 68– 72, 74–76, 84f, 88f, 92–105, 110–116, 118, 121–123, 125–128, 133f, 138f, 162, 171f, 176, 203, 226, 238, 274, 277, 297, 309, 312, 314 Situation 2, 50, 110, 113, 136, 139, 145f, 150, 160, 168, 177, 208, 218f, 223–225, 227f, 235, 256, 259, 263–266, 270, 272f, 279f, 286, 288f, 295, 298f, 301f, 304, siehe auch Grundsituation, Wortsituation

Register Situationsvergessenheit 2, 6, 201, 224– 226, 228, 232, 234f, 238, 266, 289, 297f, 302, 305, 309 Soteriologie, soteriologisch 7, 43, 51, 55f, 59, 120, 126, 213, 228f, 231, 239, 256 Sprache 203, 240, 246–248, 260, 263, 269– 274, 278–280, 283–286, 288f, 297f, 301–303, 305, 310 Sprachlichkeit 271f, 274, 278, 280, 289, 303 subiectum 193, 254–256, siehe auch ποκείμενον Subjekt 66, 84f, 94f, 100f, 137, 140, 187, 189f, 193f, 198, 203, 217, 226, 230 – isoliertes 189, 194 – sittliches 97, 103 – Subjekt–Objekt 188–191, 193f, 198– 200, 253, 294 Subjektivität 187, 190, 225 substantia 46, 204, 221 Substanz 40, 42, 46f, 66, 78–80, 88, 193f, 203, 206, 210–213, 301 Sünde 45–47, 73, 76, 139, 141, 146, 162, 164f, 227–229, 232, 238, 262, 264, 286, 298, 302, 306 – Erbsünde 42, 46f, 58 Sünder 145, 199, 253, 256, 268, 298f, 302, 306 Teleologie, teleologisch 18, 23, 40–42, 65, 68, 91, 128, 147, 173f, 176, 204f, 237 Theologie – hermeneutische 53, 240, 262, 265– 267, 289, 297, 310 – mittelalterliche 1, 189, siehe auch Scholastik, scholastisch – moderne 53, 177, 181, 238 – natürliche 2f, 5–7, 11, 18, 26f, 35, 48– 50, 60, 63, 70, 88, 105, 126, 130f, 141– 145, 147, 150, 153–155, 158, 160f, 164, 167f, 170–172, 174–178, 182–184, 194, 206–210, 227, 229, 233, 236, 243, 275f, 288, 308f – reformatorische 4f, 9–11, 54–58, 74, 119–126, 129, 168f, 177, 195–198, 200, 212, 236, 307, 310 – vernünftige, rationale 17, 22, 26, 36, 143, 227

Sachen übernatürlich 7, 71, 103, 115, 187, 189, 211, 215, 228, 250, 254, 296, 312 Überweltlichkeit, überweltlich 41, 69f, 91, 96f, 107, 127, 136, 171, 176 Ungeschichtlichkeit, ungeschichtlich 200f, 221, 238 Ursache 18, 29, 32, 40, 89–91, 95, 98, 202, 204, 208, 212 – höchste 209 – letzte 21, 25, 90f – und Wirkung 205, 208, 237 – Wirkursache 18, 23 – Zweckursache 18, 23, 205 Verifikation, verifizieren 6, 63, 116, 163, 243, 245–250, 263, 279, 282–284, 286, 289, 296–298, 304–307 Vertrauen 39, 48f, 56, 80, 85, 98, 113–116, 123, 169, 230, 265, 281, 288, 290, 292, 294f – Vertrauensglaube 49, 51 vor-ontologisch siehe Ontologie, ontologisch Wahrheitsbewusstsein siehe Bewusstsein Weltanschauung 19–21, 34, 39, 41, 68f, 71, 73, 78, 86–88, 90, 93, 96, 138, 147, 156, 196, 217 – Gesamtweltanschauung 20 – Totalweltanschauung 33 Weltbild 147f, 187, 193, 198, 252, 268 – biblisches 196 – einheitliches 19, 33f, 127, 174 – mechanisches 77 – metaphysisches 183 – naturwissenschaftliches 110, 128, 133, 176

339 – vorneuzeitliches 185, 268 Welterkennen, Welterkenntnis siehe Erkennen, Erkenntnis Weltgrund 20, 38–41, 93, 212, 222 Wert(e) 4, 22, 24, 29, 49–51, 66, 70, 72f, 75f, 79f, 86, 88f, 92, 95, 100, 102, 197, 230, 308 Werturteil 49–51, 79f, 230, 238f Wille 25, 42–44, 46f, 49–51, 57, 60, 69, 72–74, 77, 79, 90, 95, 97, 99, 101, 107, 113–115, 156, 175f, 203, 205f, 213, 215, 226, 233, 237, 308f, 312 – Gnadenwille 58 – Gottes 55, 85f, 102 – Heilswille 48, 50, 60, 210, 228, siehe auch Liebeswille – Lebenswille 100f, 111f, 139 Wirklichkeit – empirische 50, 92, 106, 108, 132f, 246f Wirkung 29f, 32, 35, 45, 47, 50–52, 55, 60, 95, 97, 114, 122, 162, 169, 210f, 213, 284 Wortgeschehen 198, 262–264, 266, 272, 283f, 293, 297 Wortsituation 247, 270, 280, 282, 286 ποκείμενον 193, 255f, siehe auch subiectum Zeitlosigkeit, zeitlos 103, 149f, 212, 221f, 224, 227, 238, 258, 261, 268, siehe auch Ewigkeit, ewig Zweck 29, 68, 71f, 79f, 82, 85–87, 91, 96, 237 – höchster 41, 72, 85, 204f, siehe auch Endzweck – sittlicher 68