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German Pages [388] Year 2005
GANZ OHR
Hans Jürgen Koch Hermann Glaser
GANZ
OHR
Eine Kulturgeschichte des Radios in Deutschland
§ 2005
BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2005 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Ursulaplatz 1, D-50668 Köln Tel. (0221) 913 90-0, Fax (0221) 913 90-11 [email protected] Druck und Bindung: Druckerei Theiss GmbH, A - St. Stefan im Lavanttal Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier. Printed in Austria ISBN 3-412-13503-8
INHALT
Vorbemerkung 1
1. Kapitel Weimarer Republik · 1923-1933
Die Entstehung des Rundfunks aus dem Geist der Zeit 5 · Auf Empfang: Die Geburtsstunde 10 · Der .Brotkasten'. Die umworbenen Hörer 16 · Und was sie hörten: Programmangebote 21 · Die Wirtschaft nutzt das neue Medium 24 · Der kulturelle Auftrag 27 · Lerne lauschen Hörer! Lerne erzählen Dichter! Literatur und Literaten im Programm 34 · Populär oder avantgardistisch? Sende- und Hörspiele 39 · Bertolt Brecht: Ein Radio-Lehrstück 41 · Fotografie in Worten: Die neue Sachlichkeit 45 · Von der langsamen Entdeckung der Wirklichkeit. Reportage und Politik 50 · Amerikanisiertes Vergnügen. Jazz und Swing 51 · Proletarische Opposition gegen bürgerliche Kultur: Arbeiter-Rundfunk-Bewegung 54 · Die Luft ist frei. Daten zur Geschichte des Rundfunks 1871— 1933 58
2. Kapitel Drittes Reich · 1933-1945
Verfuhrung durch Propaganda 69 · Wo man Bücher verbrennt... 10. Mai 1933 72 · Das Versagen der Eliten 73 · Der Triumph des Volksgenossen 76 · Der Rundfunk gehört uns und wird gereinigt 78 · Der neue Rundfunk und sein NS-Personal 90 · Inszenierte Staatsakte: Der Tag von Potsdam. Die Olympischen Spiele 94 · Ganz Deutschland hört den Führer 98 · Die Gesinnung nicht auf den Präsentierteller legen. Mit Musik geht alles besser 103 · Auf dem Weg in den Krieg: Der Rundfunk wird zur Waffe 109 · Wir siegen uns zu Tode. Wehrmachtberichte und Sondermeldungen 116 · „Hier spricht London!" Botschaften von draußen 119 · Der Verlust der Wirklichkeit oder: Der totale Krieg 127 · Ein Mittel zum Zweck. Daten zur Geschichte des Rundfunks 1933-1945 138
Inhalt
3. Kapitel Besatzungszeit · 1945-1949 Auf Ehre und Gewissen: Entnazifizierung 146 · Der Nürnberger Lehrprozess und die Umerziehung 150 · Leutnant Habe und Sergeant Heym 155 · „This is radio Hamburg" - und nun senden sie wieder 159 · Der Rundfunk als Helfer und Erzieher 163 · Hauptsache demokratisch: Das neue Personal 172 · Rückkehr in die Fremde. Remigranten im Rundfunk 175 · Kriegsheimkehrer zwischen Hoffnung und Verlorenheit 183 · Staatsferner Rundfunk im Westen - parteiischer Rundfunk im Osten 186 · Im Land der SED: Programm als Agitation 206 · Berliner Luft Kulturfrühling in der Vier-Sektoren-Stadt 217 · AFN - das Radio für die Gis und deutschen Jazz-Fans 221 · Keine Zeit fur Sendepausen. Daten zur Geschichte des Rundfunks 1945-1949 227
4. Kapitel Das geteilte Deutschland · 1949-1990
4.1 Bundesrepublik Deutschland Jetzt kommt das Wirtschaftswunder 237 · Nachtstudio und Hörspiel als linkes Refugium 243 · Eine wundersame Vermehrung der Programme 248 · Die Geburt des Fernsehens aus dem Geiste des Radios 250 · Der misslungene Coup Adenauers 254 · Chancen für neue Programmformen 260 · Der mediale Urknall: Das duale System entsteht 263 · Die 68er Bewegung und der Rundfunk 271 · Das Radio auf neuem Kurs 274 · Ausbau, Umbau, Kontroversen und Vereinigung. Daten zur Geschichte des BRD-Rundfunks 1950-2000 282
4.2 Deutsche Demokratische Republik Zentraler SED-Rundfunk 299 · Erziehungsdiktatur 302 · Der Volksaufstand von 1953 305 · Agitation und Widerstand 307 · Mauerbau und politisches Tauwetter 309 · Eiszeit - 11. Plenum des ZK der SED 1965 313 · Gesteigertes DDR-Selbstbewusstsein 315 · Niedergang und Ende 317 · Der Westen usurpiert den Ost-Rundfunk 322 · Das gelenkte Medium. Daten zur Geschichte des DDR-Rundfunks 1949-1990 326 VI
Inhalt
5. Kapitel Ausblick auf die Zukunft des Radios Die digitale Revolution 232 · Die Hoffnung auf ein mündiges Publikum 235 · Die Fundierung der Hörkunst 240
Anmerkungen
247
Literaturhinweise
253
Personenregister
369
Abbildungsnachweis
376
VII
VORBEMERKUNG
Die Öffentlichkeit, so meinte Bertolt Brecht in der ihm eigenen Dialektik, habe nicht auf den Rundfunk gewartet, sondern der Rundfunk auf die Öffentlichkeit. Gemeint und sicherlich auch richtig beobachtet war damit die Tatsache, dass damals im Publikum sich eigentlich kein Bedarf fur das Radio zeigte. Und es fehlte an geeigneten Programm-Inhalten, vor allem an solchen, die nicht dem Publikum geboten wurden, sondern durch dieses selbst bestimmt waren. „Man hatte plötzlich die Möglichkeit, allen alles zu sagen, aber man hatte, wenn man es sich überlegte, nichts zu sagen." So bleibt es in der Tat ein noch wenig erforschtes Phänomen, dass und warum 1923/24 wohl erstmals im 20. Jahrhundert ein technisches Wirtschaftsgut sich seinen Markt gegen alle Konkurrenz in geradezu rasender Schnelligkeit erobern und zum Massenprodukt werden konnte, obgleich ein Bedürfnis dafür vorher nicht zu erkennen war. Denn als das Radio zunächst im Besonderen mit Musiksendungen hervortrat, war der Wunsch nach Unterhaltung durch Grammophon und Kinofilm eigentlich voll befriedigt. Und mit einer Fülle von Tageszeitungen, zum Teil in mehreren Ausgaben täglich, sowie illustrierten Zeitschriften schien auch der Bedarf an Information zumindest beim großstädtischen Publikum gesättigt zu sein. Warum also noch einen Unterhaltungs- und Bildungs-,Rundspruch' namens Radio? Der Erfolg des Radios, der in Deutschland am 23. Oktober 1923 einsetzte und noch heute andauert, gründet somit wohl auf anderen Gesetzen als denen des Marktes. Bei allen sozialen Schichten, vom reichen Snob oder Kriegsgewinnler bis zum einfachen Arbeiter, konnte sich das Radio deshalb so rasch durchsetzen, weil es ganz bestimmte Funktionen erfüllte, die in dieser Zeit auf solche Weise von keinem anderen Medium wahrgenommen wurden: Es stand für technische Modernität, ermöglichte die Teilhabe am aktuellen Geschehen überall in der Welt wie innerhalb des eigenen Lebensbereiches, bot Unterhaltung in vielen Spielarten, vermittelte Bildung und Belehrung und sorgte nicht zuletzt für soziales Prestige. Es war zudem besonders attraktiv als ein .offenes Medium', denn anders als Film und Schallplatte konnte das Radio unterschiedliche Inhalte für unterschiedliche Bedürfnisse und Interessen jeweils sofort oder zeitnah anbieten. Während für die Hörer als .Empfanger' das Radio also ein .offenes System' war, haben es die Sender, verkörpert in ihren Finanziers und
Vorbemerkung
Programmverantwortlichen, fìir ihre jeweiligen Interessen instrumentalisiert, zunächst vorwiegend wirtschaftlich: Es sollte seine Kosten einspielen und Gewinn abwerfen, gleichsam ein Radio für die Börse sein; auch der Staat sah dies ähnlich, weshalb er den Rundfunk nicht nur fördern, sondern auch kontrollieren wollte. Ebenso früh aber schieden sich die Geister an der Aufgabe, welche die Programme zu erfüllen hätten. Radio als ökonomische Einrichtung bedeutete, dass diese den Hörern bzw. der Werbung betreibenden Wirtschaft .verkauft' werden mussten. Als Bildungsangebot für das Volk im Sinne einer hoheitlichen .Volksbildungspflicht' hingegen hatte das Radio seine Hörer zu überzeugen; nach dem damaligen, vorwiegend paternalistischen Staatsverständnis kam dies allerdings staatlicher Bevormundung gleich. Mit diesen beiden Vorstellungen ist das Radio seit seinen Anfangen bis heute immer wieder, unter wechselnden Bedingungen, konfrontiert geblieben. Rundfunk wurde politisch-ideologisch missbraucht und er hatte und hat sich mit den Widersprüchen von Markt und Bildung auseinander zu setzen, wobei seine Möglichkeiten in einer offenen pluralistischen Gesellschaft immer wieder auf dem Prüfstand stehen. Abgesehen von diktatorischen Eingriffen hat das Radio sich in den mehr als achtzig Jahren seines Bestehens vorwiegend verstanden als ein Medium, das in seinen Programmen das jeweilige gesellschaftliche Interesse und Bewusstsein ohne Einschränkungen artikuliert - in Programmen also, in denen sich die Hörer erkennen und definieren können und ein offener Diskurs stattfindet. Von den wechselnden politischen, wirtschaftlichen und geistigen Bedingungen, unter denen der Hörfunk seine Funktionen ausübte und seine Programme entwickelte, aber auch davon, wie diese ihrerseits die Zeit mit prägten, handelt die nachfolgende Kulturgeschichte des Radios. In fünf Kapiteln folgt sie den Zeitläuften: Sie erzählt, wie der Rundfunk in Deutschland entstand, wie er in der Zeit der Republik von Weimar zu glanzvollem, auch umstrittenem Ansehen gelangte, im Dritten Reich zum ideologischen Sprachrohr wurde und nach 1945 sich als Garant demokratischen Geistes, im Osten jedoch als Teil des totalitären Regimes erwies; sie zeigt, wie die kulturellen Strömungen und Tendenzen das Radio prägten und sich in den Programmen spiegelten, aber auch, wie das Radio ein maßgebender Faktor für die kulturgeschichtliche Entwicklung wurde. Gerade in seiner Wandlungsfähigkeit liegt wohl das Geheimnis seines Überlebens und die prägende Kraft, die das Radio bis heute und für viele Menschen immer noch und immer wieder besitzt. 2
Vorbemerkung
Das revolutionäre Medium Rundfunk hat Geschichte gemacht und wurde selbst immer wieder zu einem Instrument von Geschichte. Einerseits bot es seinen Hörern die Verwirklichung eines mit der Renaissance erwachten Menschheitstraumes, nämlich die Uberwindung von Zeit und Raum: Drahtlos bewegten sich nun Worte und Töne durch den Äther und vernetzten die entferntesten Orte bzw. Vorgänge. Andererseits war das Modernität versprechende Medium geeignet, Wirklichkeit und Wahrheit zu beeinflussen, zu verzerren und zu verfalschen. ,Ganz Ohr' sein zu können hat den Menschen und die Menschheit in tief greifender Weise verändert.
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Georg Grosz, (Berlin) Friedrichstraße
1. Kapitel WEIMARER REPUBLIK · 1923-1933
Entstehung des Rundfunks aus dem Geist der Zeit In seinem Rückblick auf die Entstehung des Rundfunks in den zwanziger Jahren schrieb Rudolf Arnheim, dass damit eine Entwicklung einen Höhepunkt erreiche, die mit den ersten Seefahrern und Karawanen begonnen habe. Der Mensch verlasse seinen Stammsitz, überquere Land, Gebirge und Meer, tausche Produkte, Erfindungen, Kunstgegenstände, Sitten, Religionen, Kenntnisse aus. Der Wagen und das Segelschiff seien von der Eisenbahn und dem Dampfschiff übertrumpft worden und diese wiederum vom Flugzeug. Aber je einfacher und schneller sich der Mensch von Ort zu Ort bewegen könne, umso mehr vermöge er, auf diese Beweglichkeit zu verzichten; denn Hören, Sprechen und Sehen, die einen so großen Teil seiner Tätigkeit ausmachten, würden immer vollkommener über den Raum hinweg möglich. Immer schneller reisten die Briefe um die Welt; der Telegraf schalte die Reisezeit vollkommen aus, das Telefon mache den Umweg über die Schrift überflüssig, die Fotografie ersetze das Augenzeugnis, die Bildtelegrafie erübrige den Posttransport der Bilder und über Ton- und Bildrundfunk, endlich hörten und sähen beliebig viele Menschen gleichzeitig, was allenthalben in der Welt geschehe. 1 Seit dem Zeitalter der Renaissance, da die mittelalterliche vertikale Sicht auf die Welt (zwischen Hölle und Himmel angesiedelt) in die horizontale (der Weite des Erdenrunds sich widmend) umschlug und ein ungestümer Entdeckerdrang sich sowohl fernen Ländern wie Kontinenten als auch dem Mikro- wie Makrokosmos zuwandte, also ein zunächst in der Landschaftsmalerei sich bekundendes .perspektivisches Denken' einsetzte, wurde die Uberwindung von Raum und Zeit zum europäischabendländischen Zentralthema. Während in der „Historia von D.Johann Fausten" (1587) es noch mehr um die Suche nach den letzten Wurzeln des Lebens und der Welt geht („er wollte alle Gründ' am Himmel und auf Erden" erforschen), ist die nur wenige Jahre nach dem Faust-Buch erschienene Geschichte des Faust-Schülers Christoph Wagner mit dessen .epikureischer' Neugier viel stärker auf die real-existierende Welt bezo-
Weimarer Republik · 1923-1933
gen. Wagner unternimmt Reisen nach Amerika; er strebt nach Kenntnissen, die ihm Reichtum bringen können, womit er Fausts metaphysischen Wunsch nach Wissen um seiner selbst willen hinter sich lässt. Die Verwirklichung des neuzeitlichen Vernetzungstraumes begann mit der Einrichtung der Post Ende des 15. Jahrhunderts; dem Postreiter folgte die Postkutsche. Einen besonderen Gipfel der Entwicklung stellten die Erfindungen des 19. und 20. Jahrhunderts dar, die eine entmaterialisierte Uberwindung von Zeit und Raum ermöglichten; Information und Kommunikation bedurften dann nicht mehr der Bewegung des menschlichen Körpers. Die Geschichte der Übertragungsmedien, so Jochen Hörisch, teile sich in die Epoche, „da Körper beziehungsweise Materie und Botschaften beziehungsweise Informationen noch aneinandergekoppelt waren, und die Epoche, da sich der Geist vom ,Erdenrest zu tragen peinlich' emanzipiert - oder, um weniger gnostisch zu formulieren, die Epoche der körperlosen Übertragung von Information durch Drähte oder Funksignale. Kein Uberschallflugzeug und auch keine Rakete kann Menschen so schnell von A nach Β bringen, wie Botschaften mit Hilfe von Télégraphié, Telephonie, Faxtechnologie oder Internet an ihren Bestimmungsort gelangen können."2 Beides, der Transport von Menschen und Gütern wie von Signalen und Botschaften, ist bestimmt von der Absicht nach immer größerer Beschleunigung bzw. Geschwindigkeit. Die Eisenbahn bewirkte eine revolutionäre Verkürzung der Zwischen-Räume; Telegraf, Telefon und dann Rundfunk fuhren zur Allgegenwart und Gleichzeitigkeit. Die individuelle und kollektive Mentalität, die durch Geschwindigkeitssucht bestimmt sei, nannte Goethe „veloziferisch": „Man verspeist im nächsten Augenblick den vorhergehenden, und so springt's von Haus zu Haus, von Stadt zu Stadt, von Reich zu Reich und zuletzt von Weltteil zu Weltteil." In einem Brief an seinen Freund Karl Friedrich Zelter schrieb er am 6. Juni 1825: „Alles ... ist jetzt ultra. Alles transzendiert unaufhaltsam im Denken wie im Tun. Niemand kennt sich mehr, niemand begreift das Element, worin er schwebt und wirkt... Junge Leute werden viel zu früh aufgeregt und dann im Zeitstrudel fortgerissen. Reichtum und Schnelligkeit ist, was die Welt bewundert und wonach jeder strebt; Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle möglichen Fazilitäten der Kommunikation sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbilden."3 Goethe nimmt mit dem Begriff .aufgeregt' eine psychosomatische Befindlichkeit vorweg, die Ende des 19. Jahrhunderts, als Folge der immer rascher sich entwickelnden Industrialisierung mit .moderner Nervosität' bezeichnet und auch, vor allem beim Bürgertum, als Krankheitsphäno6
Die Entstehung des Rundfunks
men diagnostiziert wurde. Nervosität, so Joachim Radkau in seiner Untersuchung „Uber das Zeitalter der Nervosität", zeige ein Doppelgesicht: „Sie war ein kulturelles Konstrukt und zugleich eine echte Leidenserfahrung. Die einzelnen Symptome - Magen- und Darmbeschwerden, Impotenz, Herzflattern, Schlaflosigkeit, Angst- und Schwächezustände - sind, für sich genommen, vieldeutig und unspezifisch; zur bedeutungsvollen Nervosität wurden sie erst durch verbindende Interpretationen. Aber diese Deutungsmuster waren zu ihrer Zeit nicht willkürlich. Eine Kultur ist kein absichtsvoll handelndes Subjekt, das sich trickreich Krankheiten ausdenkt. Und die Nervosität war eben nicht nur ein Schlagwort, sondern war und blieb auch eine beunruhigende und quälende Erfahrung."4 Im Film als Massenmedium und neuer Kunstform träten, so Arnold Hauser, die Wesensmerkmale der Epoche besonders deutlich hervor. „Der Film unterscheidet sich von den andern Künsten im Wesentlichsten gerade dadurch, daß in seinem Weltbild Raum und Zeit fließende Grenzen haben, - der Raum, mit einem quasi-zeitlichen, die Zeit mit einem gewissermaßen räumlichen Charakter.... Der Raum verliert seine Statik, seine in sich ruhende Passivität und gewinnt einen dynamischen Charakter; er entsteht sozusagen vor unseren Augen. Er ist fließend, unbegrenzt, unabgeschlossen, ein Element, das seine Geschichte, seine einmaligen Momente, Etappen und Stadien hat." Im Medium des Films verlöre die Zeit ihre ununterbrochene Kontinuität, andererseits ihre unumkehrbare Richtung. „Sie kann zum Stehen gebracht werden: in Großaufnahmen; zurückgeschraubt werden: in Retrospektionen; wiederholt werden: in Erinnerungsbildern; und übersprungen werden: in Zukunftsvisionen. Parallellaufende, simultane Vorgänge können nacheinander, und zeitlich auseinanderliegende - durch Zusammenkopieren oder durch alternierende Montage - gleichzeitig gezeigt werden; das Frühere kann später, das Spätere vorzeitig erscheinen."5 Auf gleiche Weise konnte das noch jüngere Massenmedium .Rundfunk' Montagen vornehmen, die den Eindruck von Koinzidenz und Simultaneität hinterließen; es waren dann keine bewegten Bilder, sondern bewegte Töne, die Gegenwärtigkeit vermittelten. Film und Radio setzten auf die Unmittelbarkeit des Eindrucks, was - in zeitgenössischer Deutung - dem Geschmack der Massen entsprach: nämlich eine Entlastung von allem Zerebralen zu ermöglichen, „jedenfalls den Schritt vom Buch weg" (Rudolf Leonhard)6. Für Walter Benjamin veränderte sich im Zeichen der technischen Reproduzierbarkeit von Kunst deren Wahrnehmung und Aufnahme entscheidend; die Aura, die original erlebte Kunst ausströme, ginge bei Massenrezeptionen verloren. Der Kontemplation 7
Weimarer Republik · 1923-1933
des vereinzelten kunstbetrachtenden Individuums stellt er die stimulierende Zerstreuung im Kollektiv gegenüber, die durch den Schock der Unmittelbarkeit bestimmt sei.7 „Es funkt." Diese Metapher aus der Sprache des 20. Jahrhunderts zur Charakterisierung plötzlicher, direkter, externer Signale, die interne Reaktionen auslösen, verweist zugleich auf den technischen Ursprung des Rundfunks im Funk. Auf der Grundlage der von dem deutschen Physiker Heinrich Hertz 1884 entdeckten elektromagnetischen Wellen - Grundlage für die drahtlose Übertragung von Telegrafie und Telefonie - gelang es dem Italiener Guglielmo Marconi, die erste Sendeantenne fiir drahtlose Nachrichtenübermittlung zu konstruieren; 1897 sendete er eine Nachricht über den ca. fünf Kilometer breiten Bristolkanal in England. 1906 geschah dies zum ersten Mal mit einer Stimme. Erste spektakuläre und dramatische Einsätze der Funktelegrafie ergaben sich im Bereich der Schifffahrt. Eines der wohl bekanntesten Beispiele ist der funktelegrafische Verkehr der 1912 sinkenden .Titanic', durch den eine Rettungsaktion, freilich viel zu spät, in Gang gesetzt werden konnte. Die Funktechnik war dann 1914 bis 1918 auf beiden Seiten ein wichtiges Instrument der Kriegsführung; der tägliche Heeresbericht wurde über die .Hauptfunkstelle Königs Wusterhausen' verbreitet - offiziell ein drahtloser Kriegsnachrichtendienst, der sich aber auch als neues Mittel psychologischer Kriegsführung erwies. Die Revolution bediente sich ebenfalls der Funktechnik. Am 12. November 1917 übermittelte Lenin den vom Sowjetkongress gebilligten Friedensschluss durch den berühmten „Funkspruch an Alle!"; die deutschen Matrosen gaben am 4. November 1918 von Kiel und Wilhelmshaven aus die Botschaft über ihren Aufstand drahtlos nach Berlin bekannt und am 9. November 1918 besetzten in Berlin revolutionäre Arbeiter und Soldaten das .WolfF'sche Telegraphen-Bureau', den zentralen Nachrichtendienst des Deutschen Reiches. Uber das WTB verbreitete der .Vollzugsrat' der Arbeiter- und Soldatenräte vier Wochen lang die revolutionären Aufrufe und Anordnungen an die Räte und Amter im gesamten Reich. Eben diese Episode aus einer schließlich gescheiterten deutschen Revolution sollte über Jahrzehnte hinweg das sowieso schon spannungsvolle Verhältnis zwischen Rundfunk und Politik, zwischen Staatskontrolle und Rundfunkfreiheit belasten. Eine wesentliche Verbesserung der Funktechnik - die ausgesandten Signale wurden nun durch die untere Schicht der Atmosphäre auf die Erde zurückreflektiert - führte dazu, dass es nicht mehr der bislang wegen der Krümmung der Erdoberfläche notwendigen Sichtweite zwischen Sender und Empfanger bedurfte. Dazu kamen Experimente, um 8
Die Entstehung des Rundfunks
Musik und Wort mit Hilfe der drahtlosen Telegrafie direkt zu übertragen. Im Ersten Weltkrieg erfolgte der erstmalige Einsatz von Röhrensendern, Verstärkern und Empfangern. Durch die Verstärkungen der Schwingungen im Hochfrequenzbereich mit Hilfe der DreiElektroden-Röhre (Triode) wurde der Weg zum ,Rund-Funk' bereitet. Dessen Ursprungsland waren die Vereinigten Staaten; es folgten Großbritannien und Deutschland. Im Jahr 1916 gab es in den USA bereits mehr als 10.000 Lizenzen fur Radioamateure und eine viel größere Zahl von Amateurfunkern, die ihrem Hobby unlizenziert nachgingen. 1921 wurde in Pittsburgh der erste für die Öffentlichkeit bestimmte Rundfunksender in Betrieb genommen; Ende 1922 gab es in den USA dreißig Stationen, 1924 bereits fünfhundert.
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Maßgebend für die Entwick.Rundfunk im Freien', ein preisgekröntes Bild im lung des Rundfunks in DeutschPhotowettbewerb einer Rundfunkzeitschrift (1927) land war Hans Bredow, den man mit Recht „Vater des deutschen Rundfunks" genannt hat. Er wurde 1879 in Hinterpommern geboren; sein Hochschulstudium konnte er aus Geldnot nicht abschließen; ohne jedes Diplom ging er in die Ingenieurspraxis und wurde bald Leiter der von den Firmen AEG und Siemens getragenen Gesellschaft für drahtlose Télégraphié GmbH' (Telefiinken). Damals beherrschte die britische Firma Marconi den internationalen Funkverkehr, speziell den Schiffs- und Küstenfunk, auch den deutschen. Als Bredow einen eigenen Funkdienst aufbaute, verweigerte Marconi jeden Verkehr mit Schiffen, die nicht von Marconi ausgerüstet waren. Vier Jahre dauerte der Konkurrenzkampf; Bredow setzte sich durch; 1912 wurde auf einem Kongress in London, bei
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Weimarer Republik · 1923-1933
dem er zugleich die erste Funkausstellung der Welt veranstaltete, ein allgemeiner .Weltfunkfrieden' geschlossen. Vor Reims veranstaltete Bredow 1917 mit Grammophonmusik fiir Soldaten die erste Rundfunksendung; kurz nach der Novemberrevolution (4.12.1918) wurde bei der Post eine Rundfunkkommission eingerichtet, als deren Leiter er fungierte. Er trug die Idee eines allgemeinen ,RundFunks', den jedermann empfangen könne, 1919 dem Hauptausschuss der die Verfassung der neuen Republik vorbereitenden Weimarer Nationalversammlung vor. Das war zu einer Zeit, da er sich, als Vertreter der Funkindustrie, noch zur Monarchie bekannte. Der technische Schriftsteller Hans Dominik schrieb im .Berliner Lokalanzeiger': „Trotzdem der Vortragende streng auf dem Boden der Sachlichkeit blieb, konnte er doch gelegentlich Zukunftsperspektiven von Jules Vernescher Kühnheit entwerfen, so beispielsweise den künftigen politischen Redner, der seine Rede an einer Stelle in den drahtlosen Sendeapparat spricht, während sie gleichzeitig in ganz Deutschland von Millionen gehört wird."8 Bald darauf wurde Bredow ins Reichspostministerium berufen. Die Einrichtung eines staatlichen Rundfunks, wie ihn Bredow anstrebte, dauerte aber noch weitere drei Jahre, in denen unter anderem der Widerstand von vielen der etwa 100.000 ehemaligen, häufig im d e u t schen Funkerbund' organisierten Militärfunker überwunden werden musste; sie forderten Mitsprache oder wären gerne ,unter sich' geblieben. Als einige Verleger eine private Rundfunkinitiative starteten und auch die Firmen ,Telefunken' und ,Lorenz' einen Konzessionsantrag einreichten man wolle keine Zeit verlieren, um in Deutschland die Vorbereitungen zu schaffen, die es dem Publikum ermöglichten, von den Vorteilen eines Broadcasting-Dienstes Gebrauch zu machen -, da erklärte der Reichspostminister im Dezember 1922 in einer Denkschrift an den Reichstag seine Absicht, in nächster Zeit Konzessionen an Privatgesellschaften fiir die funktelefonische Verbreitung von allgemeinen Nachrichten zu erteilen; gedacht sei dabei an Vorträge und Darbietungen belehrenden und unterhaltenden Inhalts. Am 29. Oktober 1923 war es dann so weit: Der Rundfunk in Deutschland nahm seinen Programmbetrieb auf.
Auf Empfang: Die Geburtsstunde Die ,BZ am Mittag' berichtete über den Abend dieses Tages: „Drei Minuten vor acht Uhr! Alles versammelt sich im Senderaum. Erwartungsvoll beobachtet man das Vorrücken des Zeigers der Uhr ... Acht Uhr! Alles 10
Auf Empfang: Die Geburtsstunde
schweigt. In das Mikrophon ertönen nun die Worte: .Achtung! Hier Sendestelle Berlin Voxhaus Welle 400. Wir bringen die kurze Mitteilung, daß die Berliner Sendestelle Voxhaus mit dem Unterhaltungsrundfunk beginnt."9 Die Ankündigung sprach Friedrich Georg Knöpfke, designierter Direktor der noch gar nicht gegründeten .Berliner Rundfunk-Gesellschaft'; dann wurden die .gebenden Künstler' vorgestellt und das erste Musikstück des einstündigen Konzertes (insgesamt handelte es sich um zwölf Darbietungen von Schallplattenaufnahmen): ein Cello-Solo des österreichischen, als Virtuose und Komponist gefeierten Fritz Kreisler. Am Ende ertönte die Nationalhymne „Deutschland, Deutschland, über alles", gespielt von der Reichswehrkapelle. Bei der Vox AG handelte es sich um eine .Schallplatten- und Sprechmaschinen AG', die im Dezember 1920 gegründet worden war und nahezu unbemerkt eine Programmgesellschaft aufgebaut hatte - mit der Grundidee, in Form eines .Wirtschaftsrundspruchs' Nachrichten und Informationen fur die Wirtschaft zu verbreiten. Die Bezeichnung des neuen Mediums als „Unterhaltungsrundfunk", die am 17. August 1926 offiziell in „Rundfunk" verändert wurde, bedeutete eine Schwerpunktverlagerung: Man wollte vor allem .rund herum' fiir Vergnügen sorgen; am .Radio' (eine Kurzform des englischen ,radio telegraph') sollten die Menschen, die es zu dieser Zeit recht schwer hatten, von ihrer Misere abgelenkt und entlastet werden. Denn die Weimarer Republik befand sich in ihrer größten wirtschaftlichen und politischen Krise; die Hoffnung auf einen demokratischen Sozialstaat schmolz mit der Inflationszeit dahin, die 1923 ihren Höhepunkt erreichte (ein Dollar kostete 4,2 Billionen Papiermark). „Die Bürde des verlorenen Ersten Weltkrieges lastete schwer auf der 1918 entstandenen jungen deutschen Republik. Putschversuche von links und rechts, Attentate, denen anfangs der 20er Jahre prominente Politiker zum Opfer fielen, erschütterten das Land.... Es gehörte also schon eine Portion Mut dazu, den Aufbau eines neuen Kommunikationsnetzes in Angriff zu nehmen, dessen Schicksal im Ungewissen lag und fur das nach Weisung der Reichsregierung keine Kosten entstehen durften."10 Aber die vielfach aus Neureichen bestehende Oberschicht konnte sich damals fast alles leisten; doch war sie nicht nur an materiellem Luxus interessiert; sie stützte mit ihrem kulturellen Interesse die künstlerischen Hochleistungen der Epoche, die man im Rückblick als die „goldenen zwanziger Jahre" bezeichnet. „Die wundervollsten Jahre Deutschlands und Berlins, seine Pariser Jahre voll von Talenten und Kunst, es kommt 11
Weimarer Republik · 1923-1933
nicht wieder."11 Was Unter-, Mittel- und Oberschicht vereinte, war die große Vergnügungssucht, zu deren Befriedigung freilich in der Klassengesellschaft die Ressourcen höchst unterschiedlich verteilt waren. Dem populären Texter und Komponisten Robert Steidl gelang mit „Wir versaufen unsrer Oma ihr klein Häuschen / und die erste und die zweite Hypothek" 1923 ein Stimmungslied, das in der Inflationszeit zur eigentlichen Nationalhymne der kleinen Leute avancierte. Die von Hans Bredow, dem Staatssekretär im Reichspostministerium, bewusst und aus politischer Opportunität geprägte Bezeichnung „Unterhaltungsrundfunk" traf somit das dominierende Bedürfnis der Zeit nach Amüsement. Doch wollte er auch der vor allem in bildungsbürgerlichen Kreisen vorhandenen Aversion gegen die Laszivität des Vergnügungsrummels entsprechen; unter pädagogischem Aspekt sollten die Freudengaben verteilt werden: nicht frivol, sondern erbaulich und besinnlich. Den Ansprüchen der Weimarer Verfassung entsprechend, war eine moralisch zu rechtfertigende Heiterkeit anzustreben. Die Atherwellen waren dementsprechend reglementiert; das .Radiofieber', das nun einsetzte, war zudem politisch so lange ungefährlich, als man als Radiobesitzer nur Programme empfing und nicht etwa selbst in den Äther schicken konnte. Der Staat als Inhaber der Funkhoheit sollte das neue Medium kontrollieren. Schließlich hatten einige Beamte im Post- und Innenministerium den sogenannten ,Funkerspuk' aus den Tagen der revolutionären Soldatenräte von 1918 noch fest im Gedächtnis. „In der kulturkritischen Debatte der Zeit wie im staatsautoritären Denken einer zumeist konservativen Beamten-Elite war der unterschwelligen Angst vor einer durch das Massenmedium politisierten Masse nur durch staatliche Verbote und Kontrollen zu begegnen."12 Diese staatliche Regulierungssucht in Deutschland ging anders als in den USA und in England - weit über technische Regulierungsnotwendigkeiten hinaus; sie war ein Erbteil obrigkeitsstaatlichen Denkens und unterstellte, „daß Massen .geführt' werden müssen". In ihr drückte sich aber auch der ganze „Abscheu der Intellektuellen vor der Masse" aus, die ihr „kulturkritisches Potential" zunächst auf das Massenmedium Rundfunk abluden.13. Folgerichtig wurde aus Sicht des Staates und seiner Beamten bereits im Juli 1923 festgelegt, dass die Industrie lediglich Apparate anbieten durfte, die nur einen engen Mittelwellenbereich empfangen konnten und nicht geeignet waren, selbst Funkwellen zu senden. Wer ein Rundfunkgerät benutzen wollte, musste es gegen eine Gebühr von zunächst 25 Goldmark, ab 1924 jedoch 60 Reichsmark sowie mit einer Urkunde der Reichspost als ,Funkempfangsanlage' genehmigen lassen. 12
Auf Empfang: Die Geburtsstunde
Mit besonderer Leidenschaft bastelten viele, oftmals unter Anleitung ehemaliger Funkersoldaten oder in den Arbeiter-Rundfunkvereinen, ihr eigenes Radiogerät; es faszinierte, wenn man den Wunderkasten selbst anfertigen konnte. Viele Druckschriften berichteten über solche Arbeit, vor allem über die erreichten Ergebnisse beim Empfang, der wiederum von der Qualität der Antenne abhängig war. Mancher Schwarzhörer wurde entdeckt, weil er diese zu wenig verbarg. Die Eigentätigkeit war nicht zuletzt wirtschaftlich motiviert, denn Röhrengeräte waren nicht unter 300 RM zu haben, also für die Mehrzahl der Deutschen, die in diesen Jahren zwischen 200 und 300 RM im Monat verdiente, unerschwinglich. Detektoren kosteten jedoch nur zwischen 15 und 40 RM, dazu kam freilich noch das Zubehör, nämlich Kopfhörer, Antennendraht, Stecker und Kabel. „In den ersten Jahren der Rundfunkgeschichte gab es zwei ganz verschiedene Typen von Radiogeräten, den Detektor und das Röhrengerät. Der Detektor, der die Radiowellen über einen eingebauten Kristall empfing, war nur in den mit Bodenwellen der Rundfunksender versorgten Gebieten einzusetzen. Mit ihm ließ sich verläßlich nur das Programm des nächsten Senders hören. Außerhalb der Bodenwellenbereiche mußten Röhrengeräte eingesetzt werden, die einfallende Signale verstärken konnten. Auch der in der Nähe eines Senders wohnende Hörer, der die Auswahl zwischen verschiedenen Programmen haben wollte, benötigte einen Röhrenempfanger. ... Gemeinsam war Detektoren und Röhrengeräten ihre hohe Störanfälligkeit; sie mußten während des Empfangs immer
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D a s Rad¡0
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ein
Weihnachtsgeschenk für die
Familie (1927)
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Weimarer Republik · 1923-1933
wieder kontrolliert und nachreguliert werden. Keines der frühen Radios besaß einen eingebauten Lautsprecher; die meisten Teilnehmer benutzten Kopfhörer. In der Frühzeit des neuen Mediums war Radiohören daher eine diffizile, hohe Aufmerksamkeit erfordernde Tätigkeit. Der Weg hin zu einem benutzerfreundlichen Gerät war lang."14
Der .Brotkasten*. Die umworbenen Hörer Auf vielen Fotos aus dieser Zeit ist das Radio gleichsam als Familienmittelpunkt abgebildet: Fasziniert sitzen Vater, Mutter und Kinder vor dem Gerät, an das sie mit Kopfhörer .angekettet' sind und lauschen den Tönen aus nah und fern. Unerheblich blieb in der Anfangszeit, was man hörte; Hauptsache war, dass dem oft mit viel Eifer zusammengebauten Gerät überhaupt Musik- und Wortfetzen entlockt wurden. „Dumpf tönte es in den Muscheln der Kopfhörer, oder es quäkte aus den zunächst behelfsmäßig selbst gebauten und später auch käuflichen Lautsprechern. Schon bald prägte der Rundfunk den Tagesablauf der von ihm begeisterten Menschen und entwickelte sich zu einem Begleiter in allen Lebenslagen."15 Vor allem sollte den Frauen in ihrer häuslichen Einengung kulturell geholfen werden; und die oft sehr monotone Lebensweise älterer und alter Menschen durch den ,Funkenschlag' des Radios Auflockerung erfahren; dem ältesten Berliner Funkhörer, Lehrer Harnisch in Friedrichshagen (105 Jahre alt), 3
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Eine alte Frau im Altersheim hört die Morgenandacht (Mitte der 20er Jahre)
war
in e i n e r Radiozeitschrift folgendes Gedicht gewidmet:
Der .Brotkasten'. Die umworbenen Hörer
„,Gott grüß Euch, Alter! Schmeckt die Pfeife?' Hat man den Alten einst gefragt. Der hat mit abgeklärter Reife dem Fragenden „schön Dank" gesagt. Heut aber lauscht der Greis der Welle. Spricht man zu ihm, hat's anderen Klang: ,Gott grüß Euch, alter Funkgeselle! Wie ist denn heute der Empfang?' Hat früher einer ein Jahrhundert, (sonst aber nichts) zurückgelegt, so lebte er wohl viel bewundert, indessen wenig angeregt. Jetzt ist Zerstreuung stets zur Stelle. Dem Greise wird die Zeit nicht lang. ,Nun, alter Jung- und Funkgeselle, wie ist denn heute der Empfang?' Wenn man auch klug und von Gelahrtheit; das blieb man nicht mit 100 Jahr. Heut ist man aber, trotz Bejahrtheit, aufnahmewillig noch und klar. Solang' noch jung die Trommelfelle, ist mir um solchen Mann nicht bang. ,Gott grüß Euch, alter Funkgeselle! Wie ist denn heute der Empfang?' Du Ält'ster von den Amateuren verläßt du einst das Jammertal, klingt dir ins Ohr: Auf Wiederhören! Dann ,erdet' man zum letztenmal. Betrittst du zag des Himmels Schwellen, ertönt's umrauscht von Sphärensang: ,Gott grüß dich, alter Funkgeselle! Hier winkt dir freundlicher Empfang!'"16 Trotz der Findigkeit der Funkliebhaber bei der Verbesserung ihres .Brotkastens' (so Kabarettisten in Angleichung an das englische broadcasting) ließen die Innovationen im Industriebereich noch einige Zeit auf sich warten; zwar hatte die Firma Loewe im Herbst 1926 einen Röhren-Ortsempfanger herge-
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Weimarer Republik· 1923-1933
stellt, der im Vergleich zum primitiven Detektor besseren und lautstärkeren Empfang im Nahbereich der Sendestationen gewährleistete und nur 90 Reichsmark kostete - er wurde von anderen Produzenten vielfach nachgebaut -, doch blieben die zum Fernempfang geeigneten Mehrfach-Röhrengeräte nahezu unverändert kostspielig. „Erst 1928/29 gelang der Radioindustrie der Durchbruch zu einem hörerfreundlichen Gerät. Die seitdem mehr und mehr produzierten Netzgeräte mit eingebautem Lautsprecher erforderten bei der Bedienung kaum noch technische Kenntnisse und auch nur vergleichsweise geringen Wartungsaufwand. Die technische Seite des Radiobetriebs wurde fur die Hörer damit zum ersten Mal unwichtig. Dem entsprach eine optische Wandlung der Rundfunkgeräte hin zum Möbelstück."17 Was die geschäftliche Bewegung und Beweglichkeit betraf, so berichtet der Zukunftsforscher Robert Jungk in seinen Erinnerungen: „Wir freuten uns an allen neuen Erfindungen, vor allem am drahtlosen Rundfunk, dessen Sendungen über kleine, oft selbstgebastelte Detektorapparate und Kopfhörer in meist recht schlechter Tonqualität zu uns kamen, und legten unser Taschengeld zusammen, um einen sehr teuren, schweren Röhrenempfänger zu kaufen. Ich bekam ein solches, höchst empfindliches Monster schließlich für fast nichts geschenkt, weil meine Mutter, um ein wenig eigenes Geld zu verdienen, die Vertretung einer Radiofirma übernommen hatte. Allerdings mußte sie die Apparate erst einmal auf Kredit zum Herstellungspreis einkaufen. Als nach einem knappen Jahr neue, technisch verbesserte Geräte auf den Markt kamen, blieb sie auf der Hälfte ihres Lagers sitzen, ein frühes Opfer des von uns allen damals noch nicht begriffenen neuen Prinzips der industriellen Marktwirtschaft: immer neuer Profit durch immer neue Verbesserungen, die aus dem hochmodernen Spitzenprodukt von gestern schnell einen alten Ladenhüter machten."18 4
16
Die Berliner Funk-Stunde wirbt für ihr Tagesprogramm auf dem Lande: morgens Konzert, nachmittags Kinderkabarett und Filmvorführungen, abends Funk-Kabarett (Ende der 2 0 Jahre)
Die Erwartungen der privatkommerziellen Sendegesellschaften und ihrer Aktionäre sowie der Reichspost hinsichtlich der Ent-
Der .Brotkasten'. Die umworbenen Hörer
wicklung bei den Hörer- und Teilnehmerzahlen des Rundfunks erfüllten sich zunächst nur zögerlich. Die privaten Investoren, das Reichspostministerium und die aufstrebende Rundfunkindustrie erwarteten jedoch nicht nur eine angemessene Verzinsung ihres Kapitals, sondern vor allem satte Gewinne. Die Gründe für das zunächst langsame Wachstum lagen nicht zuletzt in der anfanglich hohen Genehmigungsgebühr. Da sich zu Beginn der regelmäßigen Rundfunksendungen am 23. Oktober 1923 die Inflation in Deutschland auf ihrem Höhepunkt befand, belief sich diese Gebühr auf 350 Milliarden Reichsmark im Oktober und auf 3,5 Billionen Reichsmark Anfang November - also auf einen Koffer voller Geldscheine, der jeden Monat zum Postamt zu tragen war, bei ständigen Kurssteigerungen.
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Noch heißt das Radio offiziell,Unterhaltungsrundfunk' und kostete 2 Reichsmark im Monat - und das bis weit in die fünfziger Jahre
So waren am 1. Dezember 1923 lediglich 467 zahlende Hörer in Deutschland angemeldet. Aber Millionen hörten schon, als .Schwarzhörer', die Programme, und zwar mit selbst gebauten Empfangsgeräten. Es half wenig, dass man seitens des Reichspostministeriums mit Appellen, auch mit Androhung von Geld- und sogar Gefängnisstrafen bis zu 6 Monaten massiven Druck ausübte. Wer übrigens Schwarzhörer bei der Post denunzierte, bekam für je 5 Meldungen von den Sendegesellschaften Geld- oder Sachpreise, etwa in Form eines teuren Röhrenempfangers (so in Frankfurt am Main); in Karlsruhe soll ein Student es auf eine Liste von 1500 säuberlich geordneten Namen gebracht haben. Eine .Verordnung zum Schutze des Funkverkehrs', vom Reichspräsidenten am 8. März 1924 erlassen, brachte durch drastische Verschärfung der Strafen bei gleichzeitiger Amnestierung für bisherige Schwarzhörer, die sich bis zum Stichtag 16. April meldeten, zwar zusätzliche 50.000 Hörer, aber immer noch nicht den von der Reichspost dringend benötigten finanziellen Erfolg. Erst eine ab 14. Mai 1924 (rückwirkend zum 1. April) ver17
Weimarer Republik · 1923-1933
ordnete Senkung der monatlichen Gebühr auf 2 Mark - die nun 45 lange Jahre, bis 1969 (ungeachtet aller Währungsumstellungen), unverändert blieb - setzte dann die offiziell festgestellten Hörerzahlen in Bewegung: Ende 1924 waren 548.749 und bis Ende 1925 die erste Million zahlender Hörer gemeldet. Für ihre Programmangebote erhielten die Sendegesellschaften von der Reichspost 1924 einen Gebührenanteil von 60 Prozent gemäß der angemeldeten Teilnehmerzahl ihres Sendegebietes, also 1,20 Reichsmark;
Gründung der Sendegesellschaften im Überblick Sender/'Nebensender
Programmbeginn
Einwohner Teilnehmer im Sendegebiet
Funk - Stunde AG,Berlin Vormals:Deutsche-Stunde
29.10.1923
9,2 Millionen
MIRAG, Leipzig Mitteldeutsche Rundfunk AG - Dresden
Programmstunden/Tag
Ende Nov. 500 Ende Jan.'25: 265 000
Okt.'23: 1 Stunde März '25: bis zu 9 Stunden
02.03.1924
Ende Juli: 19 000
März'24:
4,0
22.02.1925
Ende Jan.'25: 56 000
März'25:
7,5
Anfangs einige 100 Ende Jan.'25: 78 000
Apnl'24: März'25:
6,0
April'25 April'25 März'25
3,0 3,0 7,0
1,0
Deutsche Stunde in Bayern, München 30.03.1924 01.08.1924 - Nürnberg
7,3
SÜWRAG, Frankfurt/Main Südwestdeutscher Rundfunkdienst - Kassel
01.04.1924
5,7
Anfangs ca. 500 März '25: 64 000
NORAG; Hamburg Nordische Rundfunk AG - Bremen - Hannover
02.05.1924
5,9
Mai'25: Anfangs ca. 900 März'25: Uber 100 000 März'25:
SÜRAG, Stuttgart Süddeutsche Rundfunk-AG
11.05.1924
4,2
Anfang: ca. 400
Mai'24:
4,0
Schlesische Funkstunde AG Königsberg
26.05.1924
4,5
Anfang ca. 300
Juni'24:
3,0
ORAG, Königsberg Ostmarken-Rundfunk AG
16.04.1924
3,1
Juli'24: 1 500 Jan.'25: 13 000
Juni'24: März'25:
3,5 4,5
WEFAG, Münster/Westf. Westdeutsche Funkstunde AG Ab 1926 als WERAG, Köln Westdeutscher Rundfunk AG
15.09.1924
12,5
Anfang ca. 6 000
Okt.'24:
3,0
25.01.1925
5,5 13,0
30.11.1924 16.12.1924
29.10.1926
Für die Zeit der Rheinlandbesetzung war durch Verordnung Nr. 71 vom 26 Januar 1921 (Spionageabwehr) durch die Interalliierte Rheinland-Kommission allen Bewohnern des Rheinlands (einschließlich des Saargebiets) Empfang und Sendung von sog. Funkdarbietungen verboten; ohne schriftliche Genehmigung der Kommission durften „drahtlose Nachrichtengeräte oder Teile davon weder hergestellt, verkauft, gekauft oder besessen" werden. Deshalb entschied sich die Reichstelegraphenverwaltung für die Gründung der W E F A G zunächst in Münster.
18
Der .Brotkasten'. Die umworbenen Hörer
bis 1932 ging er auf 41 Prozent (82 Pfennig) zurück. Aus ihrem Gebührenanteil finanzierte die Reichspost den Ausbau und die Unterhaltung der Sendeanlagen; sie konnte zudem noch erhebliche Einnahmen (u. a. aus der Konzession für Werbesendungen und -durchsagen im Rundfunk) an das Finanzministerium abführen. Statistiken aus der Zeit belegen, dass das .Radiowunder' sich vor allem dort zeigte, wo die Sendegesellschaften mit nennenswertem Großstadtpublikum rechnen konnten. In den ländlichen Regionen dagegen waren die Teilnehmerzahlen weiterhin für die Reichspost eher enttäuschend. Da man meinte, dass es sich hierbei weniger um ein soziales als viel mehr um ein Informationsproblem handle, veranstalteten Reichspost und Sender gemeinsam zum Teil aufwändige, groß angelegte Werbekampagnen auf dem Lande, die sich insbesondere an die Zielgruppe der Hausfrauen richtete. Man kümmerte sich hier auch in den Programmen stärker um die Hörerinnen, ging auf sie zu, statt nur auf ihre Fragen zu antworten; zugleich nutzte man die technische Unterversorgung als Argument für die Einrichtung von Nebensendern und den beschleunigten Ausbau der Sendertechnik. Mit einer Ausstrahlungsleistung von 1 kW brachten es die Bezirkssender 1924 auf eine technische Reichweite von maximal 150 Kilometer im Umkreis und die Nebensender mit 0,25 bis 0,50 kW auf etwa 100 Kilometer. Entsprechend groß war natürlich in den jeweiligen Randgebieten der Sender die Störanfälligkeit; es kam zu Uberlagerungen mit benachbarten Sendern oder zu technisch unterversorgten Gebieten. Ab Ende 1924 veranstalteten die Programmredaktionen und die von den Sendegesellschaften für ihr Empfangsgebiet herausgegebenen Radio-Zeitschriften sogenannte Hörerforen. Hier wurden Anfragen mit den Antworten der Sender, so weit sie von allgemeinem Interesse waren, veröffentlicht. Sie betrafen zumindest in den Anfangsjahren kaum die Programminhalte, sondern übten vor allem Kritik an den technischen Empfangsbedingungen der Sender und an der technischen Qualität der empfangenen Sendungen. Schon damals spielten Inte-
Deutsches
Rundfunk-Sendenetz.
i •
Hauptsender
I -
Zwischensender
O '
Autnahm.eraumo. Unterirdische Oberirdische
Fernleiiunq Fern/eitunq
Aus einer Werbebroschüre der Reichs-RundfunkGesellschaft für die Landwirtschaft (1927)
19
Weimarer Republik · 1923-1933
ressengruppen weltanschaulicher oder politischer Art als zumeist selbst ernannte „organisierte Anwälte der Kommunikationsinteressen der Hörer" eine dominierende Rolle; vor allem Funkvereine wie der ArbeiterradioBund' und kirchliche Organisationen forderten von Anfang an nicht nur neue Sender und Verstärker fur ihr Sendegebiet, sondern versuchten, die Höhe der Rundfunkgebühr und schließlich die Programminhalte zu beeinflussen. Zwar wurde ,Medienverbund' als Begriff noch nicht verwendet, doch bestand er der Sache nach ziemlich von Anfang an; die Sendegesellschaften nutzten ihn intensiv, um neue Hörer und damit Gebührenzahler zu werben. Etwa 53 Rundfunkzeitschriften mit zum Teil Auflagen von über 20.000 Exemplaren informierten nicht nur über die Sendungen, sondern mindestens ebenso umfassend über Stars und Sternchen, Klatsch und Tratsch aus Bühne und dem neuen Medium. Und sie waren gut besetzt mit Anzeigen für alles, was mit Radio und Zeitgeist zu tun hatte. Diese Zeitschriften waren ein willkommener zusätzlicher Werbeträger für die Verbreitung des Rundfunks und erbrachten den Sendern beträchtliche Nebeneinnahmen. Im Dezember 1924 wurde in Berlin die erste Deutsche Funkausstellung veranstaltet. Sie war als stolze Leistungsschau und Kontaktbörse
WEIHNACHTEN 7a und b
20
1924
Zwei aus über 20 Rundfunkzeitschriften der Anfangsjahre
Programmangebote
fur die boomende Funkindustrie und als Werbeveranstaltung gedacht, mit der man neue Bedürfnisse bei interessierten Besuchern wecken konnte. Der noch junge Wirtschaftszweig der Funkindustrie erhielt auf diese Weise kräftige Umsatzimpulse. In den zehn Tagen dieser Ausstellung auf dem Berliner Messegelände wurden 180.000 Besucher gezählt; die 242 Aussteller sollen Aufträge fur ein halbes Jahr mit nach Hause genommen haben. Auch eine andere Rechnung ging auf: Es gab allein in Berlin gut 106.000 neue Rundfunkteilnehmer und Gebührenzahler sowie zwischen November 1924 und Februar 1925 im übrigen Deutschland eine Zunahme von 100.000. Die .Berliner Funk-Stunde' berichtete übrigens erstmals live von der Funkausstellung über alle angeschlossenen deutschen Sender.
Und was sie hörten: Programmangebote Hörerpost (die damals und bis heute in Deutschland, anders als etwa in den USA, kaum systematisch erfasst bzw. für die Zwecke der Programmverbesserung genutzt wird), Rundfunkzeitschriften, Werbeaktionen und Funkausstellungen sorgten dafür, dass die Bürger als Hörer eine feste Größe in den Konzepten und Kalkulationen der Sendegesellschaften wie der Reichspost wurden; systematisch geschah dies erstmals im Mai und Juni 1924 in einer vierteiligen Anzeigenserie der Zeitschrift ,Der Deutsche Rundflink' unter der Fragestellung: „Was wollen Sie vom Rundfunk hören?" Etwa 8000 Rundfunkteilnehmer antworteten mit 76.000 Einzelangaben. Die Auswertung, am 31. August des gleichen Jahres in derselben Zeitschrift veröffentlicht, erbrachte aus 25 vorgegebenen Programmkategorien als Beliebtheitsskala: 1. 2. 3. 4. 5.
Operette Tagesneuigkeiten Zeitangabe Kammermusik Gemeinschaftskonzerte
6. Wetterdienst 7. Tanzmusik 8. Oper 9. Wissenschaftl. Vorträge 10. Humor. 11. Kabarett
12. Politische Nachrichten 13. Sportnachrichten 14. Unterhaltende Vorträge 15. Chormusik 16. Esperanto
23. Märchen 24. Schauspiel 25. Predigten
17. Unterricht 18. Sprachkurse 19. Börsenberichte 20. Jugendvorträge 21. Politische Vorträge 22. Mode
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Auffallend ist die Dominanz aktueller Informationsangebote neben unterhaltsamer Musik. Beide Kategorien bezeichnen Sendungen, die offenbar fur das Alltagsleben als nützlich und angenehm empfunden wurden. Nützlich, insofern man vor allem vom Tagesgeschehen und von Uhrzeit wie Wetter erfuhr; angenehm, weil Musik den Tag heiter begleitete. Ständig und authentisch informiert zu sein, die faszinierende Möglichkeit, sich das Geschehen in der Welt aktuell verfugbar machen zu können mit Hilfe eines autonom gesteuerten Suchvorgangs am Gerät und später an der Senderskala, machten das Radio attraktiv und für viele auch zum modernen Statussymbol. Nicht weniger trafen die Angebote leichter Unterhaltungsmusik die Grundstimmung der Zeit: Man brauchte nur anzuschalten, um der eignen Stimmungslage aufzuhelfen. Das alles konnte zu dieser Zeit kein anderes Medium bieten, weder Film noch Grammophon mit Schallplatte. Die Beliebtheitsskala der Hörer sagt aber über die Programmangebote der Sender noch etwas anderes aus: Zwischen den Nutzungserwartungen der Hörer und den Programmvorstellungen der Verantwortlichen in den Sendern bestand schon zu Anfang der zwanziger Jahre eine bemerkenswerte Diskrepanz. Die Mehrheit der Teilnehmer an dieser Befragung wünschte sich gleichermaßen eine deutliche Ausweitung der Sendezeiten von bisher durchschnittlich 6 auf täglich 19 Stunden, von 6.00 Uhr morgens bis 1.00 Uhr nachts. Für Unterhaltungssendungen wurde die Zeit von 20.00 bis 22.00 Uhr genannt; Nachrichten erwartete man um 10.00, 12.00 und 20.00 Uhr. In den Sendern wurden diese Ergebnisse höchst unterschiedlich interpretiert und in manchen Redaktionen mit der bis heute noch anzutreffenden Bemerkung abgetan: Wem das Programm nicht gefallt, der kann ja abschalten oder sich das aussuchen, was ihm gefallt.19 Nachfolgende Hörerumfragen, etwa im Vorfeld der zweiten Deutschen Funkausstellung in Berlin von 1925, gerieten in politische Auseinandersetzungen oder ihre Ergebnisse litten unter methodischen Mängeln - man wollte angesichts der Konkurrenz der Sendegesellschaften und der allgemeinen Radio-Euphorie gar nicht genauer wissen, was die Hörer wünschten; die aus dem bildungsbürgerlich-akademischen Milieu hervorgegangenen Verantwortlichen meinten ohnehin, eine ziemlich klare Vorstellung von dem zu haben, was als Kulturangebot dem Volk ziemte. In einer solchen präzeptoralen Rolle wurden sie zumeist nachdrücklich von den Politikern und den Beamten der Reichsregierung unterstützt. (Von den Beamten, die 5,6 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachten, waren 18,1 Prozent Rundfunkteilnehmer; bei den Arbeitern lauteten die Vergleichszahlen 43 zu 22,5 Prozent.) 22
Programmangebote
Vor solchem Hintergrund lässt sich ein anderer Versuch verstehen, mit dem, wenn schon nicht die Meinung der Hörer ermittelt, so doch diese nachhaltig beeinflusst werden sollte. Wieder war es die Zeitschrift ,Der Deutsche Rundfunk', die Ende 1925 an 30 Repräsentanten der damaligen Kulturszene die suggestive Frage stellte: „Was halten Sie vom Rundfunk?" Mit den zumeist positiven Antworten sollten die Hörer bei ihrer eigenen Heraus kam der Schall! „Als ich zum ersten Male Rundfunk hörte: das war mitten auf dem Boulevard des Italiens. Plötzlich, aus dem Getöse der Wagen, der Motore, der Maschinen, hörte ich eine mächtige, melodische Stimme steigen, prophetisch, unwirklich. Es dauerte lange, bis ich verstand, aus welch geheimnisvollem Abgrund sie aufstieg. Die hohe Bretterwand eines Neubaues war mit dem Riesenkopf eines Mannes bedeckt, in dessen Stirn der Name einer Radiofirma brannte. Seine Augen waren hellblau und so groß wie die runden Kirchenfenster in einem gotischen Portal. Wunderbar weiße Zähne hatte er. Und im offenen Mund war eine kleine rote Öffnung angebracht: da heraus kam der Schall! Es war ein unerhörtes Erlebnis, die Stimme der seligen Oberwelt, Töne der Kunst, in dem Geheul dieser städtischen Unterwelt! Es war ein großes Wunder, ein wirkliches, weit unfassbarer als die aus den Legenden. Der sonst unaufhaltsame Strom der Menge stand gebannt, Moses hatte an den Fels geklopft, Gott sprach." Yvan Göll. Antwort auf eine Umfrage. In: Der deutsche Rundfunk, Heft 37/1928.
Meinungsbildung beeinflusst und wohl auch die befragten Prominenten als Autoren für die Programme des Rundfunks gewonnen werden. Ein anderes Problem beschäftigte die Sender und die Reichspost Ende der zwanziger Jahre: das Auftreten eines ,Sommerlochs' bei den angemeldeten Teilnehmerzahlen. In den Monaten Juni bis August eines jeden Jahres ging die Gebühren zahlende Zuhörerschaft über einige Zehntausende zurück, während in den Wintermonaten die Teilnehmerzahlen wieder sprunghaft anstiegen. Aufgrund von Untersuchungen kam man zu der Ansicht, dass in der warmen und helleren Jahreszeit ein verändertes Freizeitverhalten das Interesse der Menschen am Radio reduziere. Berücksichtigte man aber die soziale Komponente der Frage, dann war eher anzunehmen, dass viele Hörer in der Urlaubszeit an den Rundfunkgebühren sparten bzw. auch sparen mussten. Mehr als die Sender für ihre Programmgestaltung war die Industrie für ihre Produktions- und Absatzplanungen an wirtschaftlich verlässlichen 23
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R UND FU NM FÜRS VATER: MUTTER:
HAUS KIND:
Berufsfunk Ratschläge für Jugendfunk Börsen-tiachr. den Haushalt Jugendbühne Steuertermine Marktberichte Märchen Taqes-Nachr. Frauenfragen KinderunterSportberichte Erziehuno ho/tungen 'úesundheitspfiege, allgemein bildende Vorträgejederfirf.
Vnterhaltunqs
Rundfunks:
Konzert. Gesang. Tanzmusik, Literatur. Theaterübertraqunqen. Sendespiele. Sonderi/eranstaltungen bei aktuellen Ereignissen. - Wettermeldungen Zeitansage
Nutzen:
Erholunq. Unterhaftunq, geistige Anregung u. Fortbildung 8
A u s einer Werbebroschüre der Reichs-Rundfunk-
statistischen Angaben interessiert. So wurde schon damals von der 1926 gegründeten Statistik-Abteilung der ,Reichs-Rundfunk-Gesellschaft' wie auch seitens der Wirtschaft in gezielten Umfragen in den Haushalten nach der Ausstattung mit Rundfunkgeräten gefragt, nach Ort, Zeit- punkt und Gründen fur eine Kaufentscheidung. In den Anfangsjahren des Rundfunks fehlten jedoch flir eine wissenschaftlich fundierte Hörerforschung insgesamt Geld und Interesse, zumal die beständig steigenden Teilnehmerzahlen überzeugender als alle Befragungen die Zufriedenheit mit den Programmen zu belegen schienen. In den USA dachte man in dieser Hinsicht anders; dort war damals schon der ausschließlich privatwirtschaftlich organisierte und gebührenfreie Rundfunk viel stärker an der Meinung des Publikums orientiert.
Gesellschaft (1927)
Die Wirtschaft nutzt das neue Medium
Sicherlich war für die rasche Weiterentwicklung des Rundfunks sowohl die funktechnologische Entwicklung als auch ihre Nutzung für Bildung, Information und Unterhaltung von großer Bedeutung. Aber an das ,neue Medium' knüpften sich zudem von Anfang an Hoffnungen wirtschaftlicher Art. Deshalb gründete die Reichspost mit der .Deutschen ReichsPostreklame GmbH' (DRPR) bereits im Juni 1924 eine Tochtergesellschaft, deren Aufgabe die Gewinnerzielung und -abschöpfung aus der Rundfunkwerbung war. Während im zweiten Halbjahr 1924 bei noch minimalen Werbedurchsagen der Reingewinn aus Pachteinnahmen für die Ausstrahlung kommerzieller Sendungen über die posteigenen Sendeanlagen lediglich 60.024,47 Reichsmark betrug, stieg er in den Folgejah-
Die Wirtschaft nutzt das neue Medium
ren stark an. So erzielte die Reichspost fur das Jahr 1929 neben den Einnahmen aus der Rundfunkgebühr von 8,9 Millionen bereits weitere 3,3 Millionen Reichsmark durch die DRPR. Gleichermaßen erwirtschafteten die Sendegesellschaften trotz einer zeitlichen Begrenzung der Sendezeiten für Reklamedurchsagen und -Sendungen Erlöse, die aber gegenüber den Einnahmen der Reichspost eher bescheiden blieben. Die Preise für die normale Werbedurchsage lagen zwischen 200 Reichsmark (Berlin mit Brandenburg und Stettin) und 40 Reichsmark (Freiburg und Köln mit Aachen). Die Anfange der Kommerzialisierung des Rundfunks in Deutschland lagen also im Jahre 1923/24 und nicht im Jahr 1956 mit der Einfuhrung des Fernsehens oder 1964, als der öffentlich-rechtliche .Saarländische Rundfunk' seine .Europawelle' für kommerzielle Werbung öffnete, auch nicht 1984 mit dem Aufkommen des sogenannten .privaten Rundfunks'. Es handelte sich seit 1924 um eine unter staatlicher Aufsicht betriebene Strategie privatwirtschaftlicher Gewinnerzielung. Das war aufmerksamen und kritischen Freunden des Rundfunks durchaus bekannt und wurde schon damals sehr kontrovers diskutiert; so heißt es in einem Kommentar aus dem Jahr 1926: „Die Ausbreitung des Rundfunks hat auch der Industrie ein neues Tätigkeitsfeld erschlossen, dessen sie nach der Umstellung der Kriegs- auf Friedensproduktion dringend bedurfte. Die Einführung des Rundfunks in Deutschland war also sowohl in den wirtschaftlichen Interessen der DRP (Deutsche Reichspost) wie auch in denen der Industrie begründet. Der kulturelle und pädagogische Wert des Rundfunks, von dem später so viel geredet und geschrieben wurde, hat damals jedenfalls keine nennenswerte Rolle gespielt. In der Tat hat der Rundfunk für die DRP und für die Industrie beträchtliche Einnahmen gebracht."20 Hans Bredow, damals Reichsrundfunkkommissar, stellte 1930 fest: „Die Funkwirtschaft ist mit dem Rundfunk wirtschaftlich so eng verbunden, dass die Lage des einen die der anderen widerspiegelt. Die deutsche Funkindustrie hat einen ähnlichen Aufschwung wie der deutsche Rundfunk genommen und sich in den wenigen Jahren zu einem beachtlichen Teil des Wirtschaftslebens entwickelt."21 Die inneren Widersprüche zwischen Rundfunk als Kulturinstitut und Rundfunk als Werbeträger mit Gewinnmaximierung bei den Kapitaleignern war dem System immanent. In den Hörerbriefen an die Rundfunkzeitschriften und die Sender wie in den Kreisen der Ministerien von Post und Finanzen gab es denn auch durchaus heftige Kontroversen über die von vielen als programmstörend empfundene Rundfunkreklame; man stritt insbesondere über Beschränkung oder Ausdehnung der Werbezeiten. Unter Hinweis darauf, dass die von der Wirtschaft und von Vertre25
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Die Situation der Rundfunkwirtschaft Für das Jahr 1928 haben Rundfunkhistoriker die Umsatzzahlen in der Rundfunkwirtschaft auf 405 Millionen Reichsmark errechnet: - 192 Millionen für die Rundfunkindustrie (Empfängerproduktion, Wert der Sendeanlagen, Lagerwerte und Investitionen); - 213 Millionen für Rundfunkhandel und -handwerk; 96 Millionen Reichsmark gaben die Rundfunkteilnehmer aus bei der Neuanschaffung von 626.000 Rundfunkgeräten aus deutscher Produktion; darunter waren 186.000 sogenannte Detektorempfänger zum Preis von 15 bis 40 Reichsmark und 440.000 Röhrenempfänger mit separatem Lautsprecher (davon 293.000 Nahempfänger zu 110 RM und 147.000 Fernempfänger zu 380 RM das Stück.) 14 Millionen Mark wurden mit ausländischen Importgeräten umgesetzt; dazu kamen Betriebskosten mit 35 Millionen, Rundfunkzeitschriften mit 20 Millionen und die Teilnehmergebühren; das ergibt die Summe von nochmals 253 Millionen Reichsmark aus den Taschen der Rundfunkteilnehmer. 1929 löste die sich rapide verschlechternde Wirtschaftslage einen Konzentrationsprozess in der Rundfunkindustrie aus, was auch zur Massenproduktion am Fließband führte: allein die Firma Lorenz produzierte 1929 pro Tag rund 1000 Rundfunkgeräte. Vier von insgesamt 33 Mitgliedern im Verband der Radioindustrie (Siemens und AEG gemeinsam als Telefunken, sowie Lorenz und Huth) erwirtschafteten 50 Prozent des genannten Umsatzes und weitere acht Unternehmen ein weiteres Viertel der verbleibenden 50 Prozent; das restliche Viertel teilten sich 21. Hersteller. Ungeachtet der sich verschlechternden politischen und wirtschaftlichen Situation in Deutschland erwies sich der Aufwärtstrend der Rundfunkhörerentwicklung zunächst als einigermaßen stabil. Noch im Jahr 1930 übersprang die Teilnehmerzahl die 3 Millionen, erreichte das Gebührenaufkommen mehr als 83 Millionen Reichsmark, verzeichnete die Industrie einen Umsatz von über 200 Millionen sowie Rundfunkhandel und -handwerk etwa 120 Millionen Reichsmark. Industrie, Handel und Sender beschäftigten zusammen an die 30.000 Mitarbeiter und alleine bei den Rundfunksendern waren 37.000 Mitarbeiter auf Zeit tätig, zumeist Menschen, die mit der Herstellung der Programme befasst waren und ohne den Rundfunk wahrscheinlich längst arbeitslos gewesen wären. Die technische Weiterentwicklung der Geräte trug ganz wesentlich zum steigenden Absatz bei und garantierte Umsätze aus Ersatzbeschaffungen für die nächsten Jahre; die ersten Autoradios kamen auf den Markt sowie batteriebetriebene Koffergeräte, was - folgt man den Fotos der Zeit - besonders Liebespaare beim Ausflug in die Natur schätzten. In den Haushalten lösten moderne, netzstrombetriebene Geräte mit eingebautem Lautsprecher die Batterieempfänger ab. Bei andauernder Arbeitslosigkeit wurde das Radio für viele Menschen zum bevorzugten Freizeitvergnügen. Ende 1931 stoppte die Wirtschaftskrise auch das bislang scheinbar unaufhaltsame Wachstum dieser Zukunftsindustrie. Teilnehmerzahlen wie Geräteproduktion, Handel und Export stagnierten zunächst und brachen dann vollends ein.
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Der kulturelle Auftrag
tern des Finanzministeriums im Verwaltungsrat der Reichspost geforderte Ausweitung der lukrativen, und das hieß: der besten Sendezeiten für Rundfunkreklame die allgemeine Unzufriedenheit beim Publikum noch steigern würde, verlegte der Reichspostminister 1931 die Werbezeiten auf den Vormittag und beschränkte sie zeitlich. Dadurch, so lauteten die Gegenargumente, würden die Interessen der deutschen Wirtschaft und des Finanzministeriums ernsthaft geschädigt. Schließlich, so der Finanzstaatssekretär Auer im Verwaltungsrat der Reichspost, werde in den USA immerhin der Rundfunk ausschließlich aus Werbeeinnahmen finanziert. Auch die Diskussion um Werbung in den Medien findet somit nicht nur in unseren Tagen statt; sie ist mit dem Rundfunk seit seinen Anfangen geradezu existenziell verbunden. Die seit Gründung der,Reichs-Rundfunk-Gesellschaft' vor allem von den Vertretern der Regierung verfolgte Politik, die Sendegesellschaften in ihrem wirtschaftlichen und damit auch programminhaltlichen Einfluss zu beschränken, zu kontrollieren und am Ende zu verdrängen, hatte mehr mit pragmatischen steuerwirtschaftlichen bzw. ordnungspolitischen Gründen zu tun, als mit der Befürchtung, dem Rundfunkteilnehmer könnte der kulturelle Anspruch an die Programme vorenthalten werden. Jedenfalls wurde so der Instrumentalisierung und Bevormundung des Rundfunks durch den Staat der Weg geebnet, was sich in Hinblick auf den Nationalsozialismus als höchst verhängnisvoll herausstellen sollte.
Der kulturelle Auftrag
Die Erwartungshaltung gegenüber dem Rundfunk war von Anfang an und vielfach bestimmt durch einen enthusiasmierten Glauben, dass das neue Medium alle Grenzen und Schranken überwinden könne. Kosmopolitischer Optimismus sprach aus der Feststellung Rudolf Arnheims, dass der Rundfunk auf unbefangenste Weise allem diene, was die Verbreitung von Gemeinsamkeit bedeute und alle Absonderung und Isolierung schädige. Er rede über die Grenzen hinweg; es werde immer schwieriger, die öffentliche Meinung eines einzelnen Volkes unter geistiger Abschottung vom Ausland in einem bestimmten Sinne zu steuern, was auch den Ausbruch von Kriegen erschwere. Friedrich Bischoff, von 1925 bis 1933 künstlerisch-literarischer Leiter und Intendant der ,Schlesischen Funkstunde' - 1946 bis 1965 war er dann erster Intendant des ,Südwestfunks Baden-Baden' - dichtete damals:
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„Hallo! Hier Welle Erdball! Symphonie der Zeit! aus dem Äther schwingt sie, schwillt sie und donnert heran. Es geht nicht um Himmel, Hölle und Ewigkeit aber euch, die ihr hört, geht es an."22
Johannes R. Becher, der expressionistische Dichter, der 1918 in den Spartakus-Bund und dann in die KPD eingetreten war (nach Ende des Zweiten Weltkrieges der erste Kulturminister der DDR), empfand das Radio als Gesang aus einer guten Welt: „Vogelzwitschern kommt als Pausenzeichen! / Dreh den Knopfl Wen wird dein Ruf erreichen?"23 Der Schriftsteller Robert Seitz sah das, was man seit frühester Jugend ersehnt habe, verwirklicht: „Uber Grenzen zu sein und kleinlichen Staaten, über Hass und Feindschaft zu sein, und jedem Bruder in der Welt die Hand zu geben, über Grenzen und kleinlichen Staaten."24
Der Fabrikschreiner und Arbeiterdichter Karl August Düppengießer (in seinem Gedicht „Radiowelle", das er im Jahrbuch der ,Reichs-Rundfunk-Gesellschaft' veröffentlichte) sah im Rundfunk die große Chance fiir .Menschwerdung': „Mein Arm ist schon Antenne, fühlt das Weben Wunderwellen fühlt das Wollen jener Welt Des nie Geschauten, das zur Hoffnung mich erhellt Zum Glauben an ein menschlich ungebornes Leben."25
Zahllos sind die Zeugnisse, mit denen Schriftsteller den Rundfunk feierten, „dem sie mehr und mehr Arbeit und Brot verdankten, als technisches Fortschritts- und Wunderwerk einer ungeahnten Brüderlichkeit und Universalität der Kulturen und Menschen, als Fest der Welt, als .Botschaft der guten Stunde', ja als .Atem Gottes' oder .Rauschen in Gottes Baum'; .Athersinfonien' hören die Rundfunkhymniker von den .stahlgewordenen Werkgedanken', den Funktürmen, herunter; eine tosend-gigantische Arbeitswelt habe sich den schönsten Ausdruck verschafft in diesem ,Wunder der Alltäglichkeit', das nicht zuletzt das deutsche Wort universell mache und des stolzen .Vaterlands Hochgesang' um den Globus trage."26 Die Programmgestaltung des Rundfunks insgesamt war, bei aller Auffacherung in verschiedene Sparten, überwölbt von der Absicht seiner Ini28
Der kulturelle Auftrag
tiatoren, etwa Hans Bredows, das neue Medium zu einem der Kultur zu machen. Schon im Herbst 1922 hatte er seine später dann gleichsam ,zum Gesetz' erhobenen Vorstellungen über den volksbildnerischen Auftrag des Rundfunks dahingehend formuliert, dass „vor allen Dingen weitesten Kreisen des Volkes gute Unterhaltung und Belehrungsmöglichkeiten in der Weise verschafft werden, daß ... allen Bevölkerungsschichten ... ermöglicht wird, Vorträge künstlerischer, wissenschaftlicher und sozialer Art auf drahtlosem Wege zu hören."27 Schon im November 1924 wurde in Berlin dazu eigens eine ,Hans-Bredow-Schule' gegründet, die sich der Entwicklung und Pflege des Volkswissens im Rundfunk annahm. Der Namenspatron legte persönlich in der ihm zu diesem Anlass gewidmeten Festschrift in markigen, monarchenhaften Wendungen sein Bildungsbekenntnis ab: „Von berufenen Kräften sollen einer möglichst weiten Hörerschaft die Früchte der Wissenschaft und Technik nicht zur Unterhaltung, sondern in wissenschaftlicher Form zur Anregung und Verwendung dargeboten werden. ... Das deutsche Volk, das in seiner Durchschnittsbildung über vielen anderen Nationen steht, wird, wenn erst einmal die riesenhafte Volkshochschule des Rundfunks in alle Kreise und Gegenden unseres Vaterlandes gedrungen ist, den Rundfunk nicht mehr missen wollen."28 Aus der Institution gingen ab 9. November 1924 die ,Hochschulkurse der (Berliner) Funk-Stunde' hervor: Wissenschaftlich-gemeinverständliche Vortragsreihen mit jeweils 4 bis 6 Folgen von je 30 Minuten Länge. Parallel dazu, aber ohne scharfe 9 Albert Einstein hält in Berlin die Festrede für Edison, die direkt nach Amerika übertragen Trennung, doch gleichsam fur die wird (1929) 29
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weniger Gebildeten, gab es entsprechende .Bildungskurse für Belehrung und Fortbildung auf breiterer Basis'. Deshalb, aber auch weil es an funkisch qualifizierten Personen fehlte, wurden oft ausgewiesene Theaterleute, Schriftsteller oder Musiker zu Intendanten der ersten Stunde berufen: In Köln Ernst Hardt (bis 1924 Generalintendant des Deutschen Nationaltheaters in Weimar und Schriftsteller), in Stuttgart Alfred Bofinger (Theaterkritiker und Schriftsteller), in Breslau Fritz W. Bischoff (Schriftsteller), in Berlin Hans Flesch (Musikspezialist). Sie erfüllten ihre Aufgabe hervorragend, da sie nicht nur aktiv als Autoren und Mitarbeiter, sondern durch künstlerische Vorgaben und Akzente ihren Programmen ein eigenes Profil gaben. Zur besten Sendezeit sollte das Beste von Kultur, Wissen und Bildung geboten werden. Das Vorabendprogramm zwischen 19.00 und 20.00 Uhr war überwiegend ein reines Wortprogramm: Es gab einen Vortrag von 30 Minuten Dauer, meistens gefolgt von einem zweiten Vortrag, eingerahmt oder kurz unterbrochen durch Informationen aus Region, Sport, Wirtschaft oder Landwirtschaft. An die Stelle eines Vortrages konnten Sprachkurse für Englisch, Französisch oder Spanisch treten. Die Referenten kamen etwa aus dem akademisch-wissenschaftlichen Umfeld, waren häufig Professoren. Promotion galt als Voraussetzung, wenn ζ. B. Einblicke in „Das Wesen der Gotik" gegeben wurden; wenn über „Bibliotheken und ihre Benutzer" oder „Chinesische Dichtungen und ihre Welt" Belehrung erfolgte oder wenn über das Thema „Was kann das Radio in der Vogelzugforschung leisten?" die Naturwissenschaft zu Wort kam.29 Es gab vereinzelt auch Sendungen „Für den Landwirt", „Für den Kleingärtner" oder „Rechtsfalle aus dem Arbeitsleben der Frau", also Themen mit größerer, auf Lebenspraxis bezogener Alltagsnähe. Insgesamt jedoch folgte das Vorabendprogramm aller Sender bis Anfang der dreißiger Jahre mehr oder weniger dem hochkulturellen Bildungsanspruch. „Eine besonders ausgeprägte Rücksichtnahme auf die Masse der Hörer, die als Lohnabhängige oder Gehaltsbezieher... nach einem langen Arbeitstag zuerst einmal der Erholung bedurften, ist aus diesem Vorabendprogramm nicht abzulesen."30 Natürlich gab es Einwände von Seiten der .bildungsunlustigen Hörer', aber so wenig wie bei der Forderung nach mehr zeitnaher Information wollte man solcher Kritik entsprechen; bestenfalls zeigte man die Absicht, „die große Masse ... durch liebevolles, wenn auch durchaus kritisches Eingehen auf ihre Wünsche, unter Berücksichtigung ihres zunächst noch begrenzten Aufnahmevermögens" zu gewinnen, „um ihr alsdann, wenn wir sie gewonnen und ihre Genuß-
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Der kulturelle Auftrag
fahigkeit entsprechend gesteigert haben, allmählich aber bewußt Höheres und Größeres zuzumuten".31 Zu dem Kanon bildungsbürgerlicher Güter zählte neben dem anspruchsvollen Wort vor allem die klassische Musik.32 Der Rundfunk sei die Verlängerung der großen Musik überall hin, meinte Arnold Zweig. Dementsprechend waren die Abendprogramme in der besten Hörerzeit zwischen 20.00 und 22.00 Uhr besonders in den Anfangsjahren vorwiegend den zeitgenössischen Konzert- und Musiktheaterprogrammen nachgebildet. Man übernahm entweder diese direkt, später auch durch Schallplattenaufzeichnung, aus den Konzertsälen des Landes oder imitierte deren Programme hinsichtlich Repertoire und Mitwirkenden. Allerdings unterschieden sich die Programme aufgrund der .Handschrift' der jeweiligen Intendanten. Während Stuttgart in seinen Konzerten dem Kanon des bürgerlichen Musikgeschmacks folgte, waren im .Berliner Rundfunk' auch Komponisten der klassischen Moderne und der Gegenwart, vor allem aus dem eigenen Sendebereich zu hören. Immerhin traten hier bis 1930 nahezu alle Komponisten und Dirigenten von Rang auf: etwa Hermann Scherchen, Generalmusikdirektor des .Ostdeutschen Rundfunks' in Königsberg, Richard Strauß als Komponist und Dirigent, Edwin Fischer als der große deutsche Pianist seiner Zeit, aber auch Neuerer wie Hans Pfitzner, Arnold Schönberg, Franz Schreker und Max von Schillings. Allerdings erfolgte insgesamt in den Abendprogrammen eine eher vorsichtige Öffnung in die Moderne; wirklich neues Musikleben spielte sich nicht in den Sendesälen des Rundfunks ab und nur selten in den eigenen Orchestern. Gleichwohl vergaben ab Ende der zwanziger Jahre einige Sender,funkspezifische' Aufträge an Komponisten zeitgenössischer Musik (wie Paul Hindemith und Ernst Krenek) oder sie beteiligten sich an avantgardistischen Konzerten, wie etwa bei den jährlichen Baden-Badener Kammermusiktagen. Die Opernsendungen waren in den Programmen häufiger als heute vertreten; aber auch sie folgten dem Kanon der gängigen und bekannten Namen: Von insgesamt rund 400 gesendeten Opern im Jahr 1930 entfielen auf Mozart 35, auf Verdi 39 und Wagner 52.1924 war zum ersten Mal ein Konzert aus der Berliner Philharmonie und eine Oper („Die Zauberflöte") aus der Berliner Staatsoper übertragen worden. Richard Strauss' „Rosenkavalier" und Puccinis Opern wurden wesentlich später als im Theater ins Repertoire aufgenommen; das mag nicht zuletzt auch eine Frage der Kosten und der technischen Möglichkeiten gewesen sein. Manche Sender, wie der Frankfurter SWR, die .Berliner Funk-Stunde' und die Hamburger NORAG (Nordische Rundfunk AG), waren mutiger als andere. Sie nahmen nach der jeweiligen Bühnen-AufRihrung selbst 31
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Ferruccio Benvenutto Busonis „Doktor Faustus" oder Werke von Franz Schreker und Erich Wolfgang Korngold in ihre Programme auf. Die Frage nach der Gewichtung von U- und E-Musik stellte sich bei einem Medium, das Massen bedienen wollte, mit besonderer Deutlichkeit. Der Zwiespalt von Kulturanspruch und Unterhaltungsbedürfnis wurde zumeist noch auf dem Wege des Kompromisses gelöst oder überbrückt. Das bedeutete damals (und bedeutet bis heute) eine beständige Auseinandersetzung um Sendeplätze. Auch die Findigkeit bei dem Bemühen, Kultur unterhaltsam zu machen und Unterhaltung kulturell zu sublimieren, war groß: Man differenzierte nach Tagen und Tageszeiten, wobei man die letzteren nochmals aufgliederte; geteilte Abendprogramme setzten sich bald bei fast allen Sendern durch. Innerhalb der Programme war man um .Ausgleich' bemüht, indem man Konzerte wie noch heute oftmals bunt mischte oder zwischen zwei bekannten Kompositionen ein zeitgenössisches Stück .einschmuggelte' - etwa nach folgender Art: „Ein Marsch, eine klassische Ouvertüre, eine Fantasie aus einer Oper, zwei Lieder von Brahms, ein Walzer, eine Romanze von Beethoven und die Rêverie von Vieuxtemps etc."33 Natürlich war es auch üblich, das Ernste und Anstrengende an den Anfang zu setzen und dann das mehr Unterhaltsame folgen zu lassen; so konnte man vor allem die sich später Einschaltenden besser ,bei der Stange halten'. Mit der Verbesserung der Aufnahmetechnik, im Besonderen der Mikrophone, kam es zu Live- oder aufgezeichneten Außenkonzerten, etwa in Hafen- oder Kuranlagen, Hotels (Tanzmusik zum Five-o-clock-Tea), in Kirchen oder in volkstümlichen Lokalen (wie dem Hofbräuhaus in München). In einem Rückblick auf das sechste Berliner Rundfunkjahr hieß es 1929: „Der große Kampf der musikliebenden Hörer für und gegen ernste Musik, fur und gegen bloße Unterhaltungsmusik ist in diesem Jahr ziemlich abgeflaut, weil eben die beiden Berliner Sender für Abwechslung sorgten und offenbar auch, weil das richtige Gleichgewicht zwischen seriöser Kunst und leichter Unterhaltungsware gefunden worden ist. Dieses Gleichgewicht ist aber in diesem Fall nicht nur eine Frage der Qualität, sondern auch eine Frage der Stundenverteilung. Die Menschen, die zur bloßen Entspannung ohne künstlerische Ambitionen Musik hören wollen, schalten zu anderen Zeiten den Empfanger ein als die Kunstfreunde, die vom Rundfunk musikalische Belehrung, musikalische Erbauung oder intellektuellen Genuß verlangen. Die Musik in ihrer Qualität richtig auf die Hörstunden zu verteilen, war nur auf dem Weg des Experimentes möglich, und es hat viele Jahre gedauert, bis aus Experimenten die richtigen logischen Schlüsse gezogen werden konnten."34 32
Der kulturelle Auftrag
Der Rundfunk trag zwar zunächst die von Hans Bredow aus medienpolitischen Überlegungen verordnete Bezeichnung,Unterhaltungsrundfunk'; Befürchtungen des Innenministeriums, hier könnte unkontrolliert Politisches gesendet werden, wurde so entgegengewirkt; aber auch die Vermittlung von Vergnügen war dem kulturellen Auftrag unterstellt. Wenn in einer Zeit schwerster wirtschaftlicher Not und politischer Bedrängnis der Rundfunk für die Allgemeinheit freigegeben werde, so Bredow in einem Geleitwort zum Beginn des .Deutschen Rundfunks' 1923, so gehe es um Kulturfortschritt. Erholung, Unterhaltung und Abwechslung lenkten den Geist von den schweren Sorgen des Alltags ab, erfrischten und steigerten die Arbeitsfreude. Ein freudloses Volk werde arbeitsunlustig. Hier setze die Aufgabe des Rundfunks ein, der allen Schichten der Bevölkerung künstlerisch und geistig hoch stehende Darbietungen aller Art zu Gehör zu bringen habe. Der 1890 geborene Journalist Rudolf von Scholtz, seit 1926 Schriftleiter der .Bayerischen Radiozeitung' - er übernahm 1930 die aktuelle Abteilung der .Deutschen Stunde' in München, wurde 1933 von den Nationalsozialisten entlassen und 1947 als Intendant des .Bayerischen Rundfunks' eingesetzt, den er fast ein Jahrzehnt leitete - , Scholtz sah Unterhaltung dann gerechtfertigt, wenn sie einen Nützlichkeitsaspekt habe; höre man Rundfunk- oder Schallplattenmusik, werde gleichmäßiger, lieber, länger und lustiger gearbeitet; Unterhaltung schaffe Arbeit, steigere die Wirtschaftsleistung, löse den Frondruck, die Langeweile, das mürrische Einerlei, das Gewissensgedränge des achtstündigen Tags, beseitige Trägheitsfaktoren der sozialen Maschine: „Ist das keine Kulturwirkung?"35 Ansonsten war er, wie Bredow und viele andere Intellektuelle damals und bis heute, auf Unterhaltung nicht gut zu sprechen, zumal sie in ihrer Amerikanisierung infantilem Kitsch nahe komme. Ein Großteil des Bildungsbürgertums in der Weimarer Republik war nach wie vor geprägt durch ein Kulturbewusstsein, das sich im zweiten Kaiserreich entwickelt hatte. Mit herrischem „Sedanlächeln" (Benedetto Croce) hatte man 1870/71 den Sieg der deutschen Kultur über die französische (welsche) Zivilisation gefeiert. Friedrich Nietzsche sprach statt dessen von der „Exstirpation des deutschen Geistes zugunsten des deutschen Reiches". Die Niederlage im Ersten Weltkrieg hatte zwar das deutsche Selbstbewusstsein tief getroffen; mit trotzigem Dennoch vertrat man aber weiterhin die Auffassung, dass Kultur mit deutscher Tiefe verbunden sei - im Gegensatz zu vergnügungssüchtiger westlicher Oberflächlichkeit. Die damit verbundene, von gesellschaftlicher Wirklichkeit abgetrennte Kultur bezeichnete Herbert Marcuse später als „affirmativ".
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10a und 10b Der Dichter Joachim Ringelnatz in einer Rundfunksendung der BerlinerFunkstunde (1930)
Ubertragen auf den Rundfunk der Weimarer Republik, ergab sich ein Antagonismus. Ernst wurde gegen Heiterkeit gesetzt, Anspannung gegen Entspannung, hoher Anspruch gegen niederes Bedürfnis, Tiefgang gegen Oberflächlichkeit. Im Volk glaubte man einen einheitlichen Willen wirksam, nämlich Bejahung des Höheren. Man wollte den in sich geschlossenen, den allgemeinen Bildungsmenschen im Gegensatz zum Fachmenschen.
Lerne lauschen Hörer! Lerne erzählen Dichter! Literatur und Literaten im Pogramm Dennoch haftete dem Rundfunk wegen seiner Modernität der Ruch des Populären und Unernst-Unseriösen an, was zunächst viele Schriftsteller und Dichter abstieß; oder aber sie verhielten sich indifferent bzw. ablehnend, beteiligten sich nicht oder nur zögerlich an den Programmen, obwohl sie im technischen Medium Radio durchaus die Möglichkeit fur die massenwirksame Verbreitung von Literatur erkannten. Auf einer Tagung von Intendanten und Schriftstellern am 30. September und 1. Oktober 1929 in Kassel-Wilhelmshöhe zum Thema „Dichtung und Rundfunk" wurde eine engere Zusammenarbeit diskutiert. Dabei gelang es Hans Flesch und Ernst Hardt, mehr oder weniger elegant die Fragen von Zensur und Freiheit im Rundfunk zu umgehen. Als dann Arnold Bronnen, Schriftsteller und Rundfunkredakteur in Berlin, die
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Literatur und Literaten im Programm
Runde der vornehmen Geister mit nationalsozialistischem Gedankengut provozierte - der Rundfunk sei dem „Dienst an der Nation" zugänglich zu machen, in Ablehnung der „schamlosen Zunft verantwortungsloser, dem eigenen Volk entfremdeter, keiner Rasse, keiner Landschaft verhafteter Literaten" -, nahm das der Kreis der Geladenen, darunter Arnold Zweig, Alfred Döblin, Herbert Ihering, Hermann Kasack, Ina Seidel, Ernst Glaeser, erstaunlicherweise mit lediglich verhaltenem Protest zur Kenntnis; dabei war es ein Menetekel des Kommenden. Alfred Döblin, einer der Wenigen, der in Kassel offen widersprach, gehörte zu jenen zeitgenössischen Schriftstellern, die (neben Bertolt Brecht und Rudolf Arnheim) sich ebenso kreativ wie kritisch mit den Möglichkeiten und Grenzen des neuen Mediums auseinander setzten; er las selbst wiederholt aus seinen Werken in der .Berliner Funk-Stunde' und sah im Rundfunk eine bisher ungenutzte Chance zur Demokratisierung, nicht nur des Literaturbetriebs. In seinem Beitrag auf der Kasseler Tagung sagte Döblin dann auch, dass eine Riesenkluft zwischen der eigentlichen, schon überartistischen Literatur und der großen Volksmasse bestünde (gelegentliche hohe Auflagen könnten darüber nicht wegtäuschen). Das sei ungesund und unzeitgemäß. Der Rundfunk fordere uns auf, die „Drucktype" und damit den kleinen gebildeten Klüngel zu verlassen.36 Den meisten Dichtern und Literaten schien jedoch die in den zwanziger Jahren bestehende Kultur der öffentlichen Lesungen vor allem in Städten wie Berlin, München, Frankfurt, Stuttgart, Hamburg attraktiver. Verlage schickten ihre Autoren auf Lese-Reisen; literarisch engagierte Gesellschaften luden Schriftsteller und Dichter zu Veranstaltungen. Das war fur die Autoren konkret, überschaubar und in ihren Reaktionen erfassbar. Dagegen wurden Einladungen zu Lesungen in einem Rundfunkstudio, ohne Publikum, der Technik des Mikrofons, eines unpersönlichen Apparates ausgeliefert, als störend und verunsichernd empfunden. Selbst Döblin meinte noch 1929: „Ich möchte bemerken, daß ich sowohl beim Vorlesen wie beim .Freisprechen' diesen Mangel an Kontakt am Radio immer sehr als Vakuum empfinde, dieses schauerliche Schweigen jenseits des Mikrofons, - ich sehe fur mich keine andere Rettung als: Hörer, sichtbare, mitfühlende, im Senderaum - und unsichtbare Rundfunkabonnenten, an die ich nicht denken mag." Gleichwohl gehörten seit den Anfangsjahren des Rundfunks monologische Lesungen nicht zuletzt wegen ihres geringen finanziellen und technischen Aufwands zum Repertoire. Für eine Lesung wurden, je nach Bekanntheitsgrad und Popularität des Autors, zwischen 150 und 500 Reichsmark an Honorar gezahlt, für viele Autoren in der damaligen Zeit wirtschaftlicher Wirren eine nicht zu verachtende Nebeneinnahme. 35
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Erstmals hatte der ,Südwestdeutsche Rundfunkdienst' (SWR) in Frankfurt am Main ab 1. Juli 1924 in einer Reihe unter dem Titel „Stunde der Frankfurter Zeitung" Lesungen von überregional bekannten Autoren wie Fritz von Unruh, Rudolf Binding oder Joseph Roth (der damals als Korrespondent für die .Frankfurt Zeitung' arbeitete) ins Programm aufgenommen. Als Sensation wurde die Lesung Thomas Manns aus seinem Roman „Der Zauberberg" für den 13. Juli 1924 angekündigt und in der .Frankfurter Zeitung' vom 16. Juli entsprechend gefeiert. Für die insgesamt 13 Lesungen dieser Sendereihe zwischen Juli und Dezember 1924 übernahm diese die Vorankündigung und den Abdruck der gelesenen Texte. Vor allem für jüngere Autoren bedeutete dies eine große Unterstützung, und für die Zeitung selbst erbrachte solcher .Medienverbund' eine nachhaltige Leser- und Abonnentenwerbung. Auch die anderen Regionalsender im Reich waren bemüht, ihren Kulturanspruch durch literarische Lesungen zu profilieren; so der .Sender Breslau' mit einer Reihe unter dem Titel „Autorenabend der Schlesischen Funkstunde"; in ihr lasen bis März 1926 vorwiegend Autoren aus dem eigenen Sendegebiet, die aber darüber hinaus schon einen Namen hatten, etwa Wilhelm Bölsche, Hermann Stehr, Will Erich Peuckert, Waldemar Bonseis und Walter von Molo. Nach dem Ende dieser Sendereihe initiierte der damalige Intendant der .Schlesischen Funkstunde', Friedrich Bischoff - selbst als Schriftsteller bekannt - eine Folgeveranstaltung; fur die Reihe „Der Dichter als Stimme der Zeit" wurden vorwiegendjüngere Schriftsteller aus Schlesien und dem benachbarten Berlin zu Lesungen eingeladen, so auch Max Herrmann-Neiße, Ernst Toller und Johannes R. Becher. Vermutlich nicht nur aus Gründen der Kosteneinsparung, sondern um zu belegen, dass man beim metropolitanen Literaturniveau mithalten konnte, übernahm die ,Schlesische Funkstunde' Sendungen der .Berliner Funk-Stunde' mit Lesungen von u. a. Alfred Döblin, Gerhart Hauptmann, Georg Kaiser, Heinrich Mann, Stefan George, Robert Musil und Stefan Zweig. Eine Rolle spielte bei diesen Übernahmen aus Berlin nach Breslau zweifellos auch das Prestige durch das gesellschaftliche Ambiente: Der .Verband deutscher Erzähler' lud jeweils als exklusivem Rahmen in den Plenarsaal des Preußischen Herrenhauses (heute Sitz des Bundesrats) ein. In der ab Nov. 1927 bis Anfang 1928 im Programm der .Berliner FunkStunde' laufenden Sendereihe „Stunde der Lebenden" kamen im wöchentlichen Wechsel Schriftsteller und Musiker zu Gehör, beginnend am 18. Oktober mit einer Sendung über Heinrich Mann. Zunächst waren es bekannte und etablierte Autoren aus der Generation der Vierzig- bis 36
Literatur und Literaten im Programm
Sechzigjährigen, dann jüngere Schriftsteller wie Marieluise Fleißer, Carl Zuckmayer, Yvan und Ciaire Göll, Bertolt Brecht. Hermann Kasack, damals Direktor des Kiepenheuer Verlags in Potsdam, und andere Literaturkritiker gaben jeweils eine Einführung zu Biografie und Werk des Autors; ihr folgte eine Lesung aus dem Werk, häufig durch den Autor selbst. Schon damals widerfuhr dieser anspruchsvollen Sendereihe, was bis heute fur solche Programme schicksalhaft zu sein scheint: Hoch gelobt von der Kritik und einer Minderheit interessierter Hörer, gehörten sie bald zur Verfugungsmasse in der Programmplanung; von ihrem sehr guten Sendeplatz am Sonntagvormittag wurde sie bald zugunsten eines leichten Unterhaltungskonzerts für den Geschmack einer Hörermehrheit auf die Mittagszeit, dann in die spätere Abendzeit ver- und schließlich ganz abgelegt. Nicht auszuschließen ist, dass insbesondere die von Alfred Kerr geleiteten Sendungen manchem Hörer und auch Verantwortlichen in den Kontrollgremien nicht gefielen. Denn der wegen seiner intelligentscharfzüngigen Theaterkritiken berühmte Autor sparte auch hier in seiner Präsentation nicht mit ironischer Kritik an den Zeitläuften und den vorgestellten Autoren. Getreu seiner ,Geburtsurkunde', der von den Gründungsvätern festgeschriebenen Verpflichtung zu Bildung, Information und Unterhaltung, hatte der Rundfunk einen ständig wachsenden Bedarf an geeigneten Stoffen und Themen. Dabei war es nahe liegend, sich vor allem am gesellschaftlich etablierten Bildungskanon von Schule und Theater zu orientieren. Die Erfahrung aber machte sehr bald deutlich, dass die szenische Literatur nicht einfach durch die Übernahme von Bühnenauffiihrungen erschlossen und so für Hörer attraktiv gemacht werden konnte. Es waren zumindest redaktionelle Bearbeitungen erforderlich, um die Mehrdimensionalität dramaturgischer Abläufe den engeren Möglichkeiten des Rundfunks anzupassen. Die Bearbeitungen konzentrierten sich zumeist auf die Kürzung oder gänzliche Streichung von Nebenhandlungen, auf die Auswahl einzelner Szenen oder Akte. Dabei wurden Rahmenhandlung, Regienanweisungen, zeitliche Abläufe, Raumvorstellungen oder Personen- und Szenenwechsel zum Beispiel durch erläuternde Texte von zusätzlich eingefügten Sprechern verdeutlicht. Werke der klassischen Literatur kürzte man zumeist auf 60, höchstens 90 Minuten Länge; man nahm an, dass die Zuhörer nicht länger am Radio zu halten seien und längere Produktionen zu teuer kämen; (manche Sender weigerten sich übrigens lange Zeit, für die Übernahme und Sendung von Theaterstücken an die Theaterverbände 37
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und Mitwirkenden überhaupt Tantiemen und Honorare zu zahlen; hier kam es erst zu Beginn der dreißiger Jahre zu ersten Absprachen, bis eine Lösung dann zu Beginn des NS-Rundfunks gefunden wurde).
11 Als die Töne noch Handwerksarbeit waren: Geräusch-Künstler bei der Produktion eines Hörspiels (um 1930)
Man unternahm jedoch schon bald trickreiche akustische Experimente, um mit Hilfe von Geräuschmaschinen etwa einen Szenenwechsel zu markieren. Es gab Versuche, mittels Einsatz eines Soloinstruments einen Klangraum, gleichsam eine akustische Kulisse, zu schaffen, in der sich dann die Handlung entwickeln konnte. Man erprobte, vom Film inspiriert, eine Schnitttechnik, bei der man Szenen ohne Zwischenmoderation ineinander blendete. Die Ergebnisse blieben insgesamt eher unbefriedigend und entbehrten gelegentlich nicht einer gewissen Peinlichkeit oder sogar Komik, etwa wenn ein Bühnentext von hoher Sprachästhetik durch eine eingefugte banale Szenenerklärung unterbrochen wurde. Kurt Weill kritisierte diese Praxis bei Gelegenheit einer radiophonen Aufführung von Hugo von Hofmannsthals „Der Tor und der Tod" im Programm der .Berliner Funk-Stunde' (19.1.1925): „Ein Beispiel: der Dichter läßt während Claudios großem Monolog den Diener hereinkommen und ohne ein Wort oder Gruß die Lampe bringen. Die Wirkung dieser kleinen Szene liegt gerade in ihrer Lautlosigkeit, in der dumpfen, lastenden Stille, 38
Sende- und Hörspiele
die uns mit feinen Strichen Claudios trostlose Einsamkeit schildert. Im Rundfunk hört man das Öffnen der Tür, die Schritte des Dieners und dann die ohne Rücksicht auf das Versmaß hinzugedichteten Worte: ,Ich bringe die Lampe.' Das geht entschieden zu weit."37 Musik erwies sich als ein akzeptiertes, funktional gut einsetzbares Mittel bei der dramaturgischen Gestaltung ansonsten reiner Wortsendungen - zur Uberbrückung von Pausen, als Hintergrundsmusik oder zur Einstimmung (etwa Felix Mendelssohn Bartholdys Bühnenmusik zu Shakespeares „Sommernachtstraum", oder zu Goethes „Egmont" Beethovens gleichnamige Ouvertüre). Für aufwändigere Produktionen wurden in Einzelfallen durchaus entsprechende Musiken bei zeitgenössischen Komponisten in Auftrag gegeben.
Populär oder avantgardistisch? Sende- und Hörspiele
Relativ bald entstand - aus der Bearbeitung der Dramenliteratur hervorgehend - das sogenannte .Sendespiel'. Wie im damaligen Theater waren volkstümlich-unterhaltende Stoffe beim Publikum sehr beliebt. Bei den entsprechenden Sendespielen griffen die Programmverantwortlichen tief in den Fundus der Literaturgeschichte, adaptierten für den Rundfunk mittelalterliche Schwanke ebenso wie bewährte Volksstücke, aber auch klassische Lustspiele und aktuelle Boulevardstücke. Im nord- und süddeutschen Raum mit starker mundartlicher Prägung waren Autoren des regionalen Volkstheaters geradezu programmprägend. So war in Norddeutschland die .Niederdeutsche Bühne' von Richard Ohnesorg schon damals fester Bestandteil des Programms der Hamburger NORAG; aber auch Stücke von Gorch Fock und der niederdeutschen Heimatbewegung hatten einen beachtlichen, festen Programmanteil. Gleiches gilt fur die hessische Mundart beim Frankfurter Sender: Volksstücke von Adolf Stolze und natürlich Elias Niebergalls, bis heute in Hessens Theatern fest verankerter „Datterich". In München spielte man Ludwig Thoma, Ludwig Anzengruber, Johann Nestroy und Ferdinand Raimund. Die .Berliner Funk-Stunde' brachte gerne Einakter im Berliner Volkston; sie waren billiger zu produzieren und leichter in unterhaltsame, mehrstündige Abendprogramme zu integrieren. Zahlen verdeutlichen den Stellenwert, den das Sendespiel vor allem der leichteren, unterhaltsamen Art in den Programmen der ersten Jahre des Rundfunks hatte. Ihm wurden zwischen 1924 und 1929 jährlich immer mehr Sendezeit im Programm eingeräumt: 39
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1924
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1925
640
1926
760
1927
803
1928
897
1929
851 Stunden.
Dann setzte zu Beginn der dreißiger Jahre der Zwang zu finanzieller Einsparung und auch das aufkommende Hörspiel als eigenständige Programmgattung diesem Trend ein Ende. Bei der sogenannten ,klassischen' Bühnenliteratur, die in Bearbeitungen für den Rundfunk im gleichen Zeitraum gesendet wurde, zeigt die Rangfolge, um nicht zu sagen ,Hitliste' der bei Rundfunkredakteuren und dem Publikum besonders beliebten Autoren, dass Goethe, vor allem mit seinem „Faust. Erster Teil" der meist gespielte Autor war; gefolgt von William Shakespeare, vor allem mit dem „Sommernachtstraum". An dritter Stelle der Beliebtheitsskala (mit 7 Sendungen für 1924 und 23 im Jahr 1926) stand Friedrich Schiller, wobei gerne Einzelszenen aus seinen historischen Dramen wie dem „Demetrius" und dem „Wallenstein", hier wiederum „Wallensteins Lager", gesendet wurden. Erstaunlicher Weise waren aber auch die Autoren der .klassischen' Moderne der Jahrhundertwende gut vertreten: etwa Henrik Ibsen, Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler und Gerhart Hauptmann (mit 20 Theaterstücken). Bertolt Brecht wurde zunächst selten gesendet, doch kam sein Stück „Mann ist Mann" nach der Theater-Uraufführung 1926 in Darmstadt in einer vom Autor selbst bearbeiteten Fassung 1927 in die .Berliner Funk-Stunde'. Seine „Heilige Johanna der Schlachthöfe", die 1932 schon nicht mehr auf dem Theater aufgeführt werden konnte, wurde vom Berliner Sender in Auszügen am 4. April 1932 gebracht. Die Suche nach einer neuen, noch zu entwickelnden eigenständigen, die .Sendespiele' hinter sich lassenden .Rundfunkkunst' war dem neuen Medium gleichsam eingeboren. Bereits 1924 hatte die .Berliner Funk-Stunde" in einem Preisausschreiben (freilich mit keinem Ergebnis), nach Autoren für ein rundfunk-adäquates ,Sendespiel' gesucht; denn was im .Lichtspiel' des Kinos zu sehen war, sollte nach Meinung der Verantwortlichen im .Sendespiel' als eine Art .akustischer Film' darstellbar sein. Aus den zumeist wenig überzeugenden Versuchen, die Theaterbühne als Sendespiel in die Studios des Rundfunks zu verlegen, entstand Ende der zwanziger Jahre das Hörspiel. Diese avantgardistische .originäre Rundfunkkunst' galt bei den Hörern keineswegs als esoterisch - angesiedelt in den
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Ein Radio-Lehrstück: Bertold Brecht
Nischen der Minderheitenprogramme, wie es in späteren Jahren der Fall war. Das Hörspiel war durchaus beliebt - ein Gesprächsthema in Büros wie Familien; und es wurde von der Kritik beachtet. In Verschmelzung der literarischen Gattungen (Lyrik, Drama, Epik) mit Musik und unter Nutzung der technischen Möglichkeiten geriet es zum .akustischen Theater'. Der Arzt und Schriftsteller Alfred Döblin, Mitbegründer des .Bundes Freier Rundfunkautoren', sah im Hörspiel gleichsam einen Durchbruch im Verhältnis von Literatur und Rundfunk: „Für die Musik und die Journalistik bedeutet der Rundfunk im wesentlichen kein Novum, er ist da nur ein neues technisches Mittel zur Verbreitung. Für die Literatur aber ist der Rundfunk ein veränderndes Medium. Formveränderung muß oder müßte die Literatur annehmen, um rundfunkgemäß zu werden..." 38 Die Intendanten Hans Flesch, Ernst Hardt und Friedrich Bischoff waren als anerkannte Rundfunkpraktiker ständig auf der Suche nach neuen, eben .rundfunkspezifischen' Sendeformen und Inhalten. Sie wussten zu würdigen, wenn ein Kritiker wie Arno Schirokauer, selber Rundfunk- und Hörspielautor, 1929 in der .Literarischen Welt' davon sprach, dass der Rundfunk „auf die Freuden des Hinterher-Entdeckens, des Nachstammelns, der Nachahmung" doch besser verzichten und seine wahren Chancen nutzen solle. 39 In einem Rückblick auf seine erste aktive Zeit als künstlerischer Leiter am Frankfurter Sender beschreibt Flesch die Programmarbeit selbstkritisch: „Im Anfang des Rundfunks war die Langeweile. D a sie in einer brillanten und reizvoll technischen Maskierung einherging (denn immer wieder blendete das technische Wunder), merkten sie nur wenige. Entsetzliche Dinge wurden damals getrieben. Das Musikprogramm wurde aus vermoderten Konzertsälen bezogen, Literatur aus der .Gartenlaube', der Vortragsteil legte Wert auf die Sitten und Gebräuche der Minnesänger (unter dem Titel .Volksbildung'), Legionen Gurken wurden eingelegt (,Für die Hausfrau')." 40 In theoretischer wie praktischer Auseinandersetzung mit den technischen und dramaturgischen Möglichkeiten des neuen Mediums forderte er, dass der Rundfunk das „Gesendete in seinem Wesen" verändere.
Bertolt Brecht: Ein Radio-Lehrstück Im Rahmen des Festivals „Deutsche Kammermusik Baden-Baden 1929" führte der noch junge, jedoch bereits etablierte und erfolgreiche Bertolt Brecht am 27. Juni das erste seiner Lehrstücke auf, ein Ereignis, das in gewisser Hinsicht Rundfunkgeschichte machte. Brecht hatte vom Intendanten der W R G in Köln, Ernst Hardt, den Auftrag erhalten, ein Hörspiel 41
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fur den Rundfunk zu schreiben. Sein Thema war die erste Überquerung des Atlantiks durch den funfundzwanzigjährigen Amerikaner Charles Lindbergh am 21. und 22. Mai 1927, wobei er dessen im selben Jahr erschienenen Bericht darüber als Vorlage benutzte. Zwei Medien moderner Industriekultur, der Rundfunk und das Flugzeug, wurden miteinander verbunden. Der „Lindberghflug" sollte dem gegenwärtigen Rundfunk nicht dienen, sondern ihn verändern. Notwendig sei der Aufstand des Hörers, seine Aktivierung und seine Wiedereinsetzung als Produzent. Brecht stellte dann freilich aufgrund der gemachten Erfahrungen eher resignierend fest, dass ein Stück, das anstrebe, das Radio zu verändern, selbst verändert, eben doch wieder in der gewohnten Weise .verwertet' werde: „teils der gewohnheit meinesgleichen folgend teils dem auftrag habe ich ein gedieht geschrieben für das radio schildernd den Aug eines fliegers über das atlantische meer im vergangenen jähr ich habe dazu entworfen den genauen plan seiner Verwendung neue aufgaben der apparate im dienste der pädagogik und alles drucken lassen nach meinem recht als schriftsteiler nach wochen das gedruckte durchlesend schien mir der plan undurchführbar die großen Institutionen wurden in ihm angesprochen mit namen der plan entsprach der genauen betrachtung der vorhandenen apparate er deutete kindlich die unverkennbaren anzeichen entstehender bedürfnisse der massen beruhte auf der zunehmenden konzentration der Produktionsmittel und der Spezialisierung der arbeitskräfte der dringenden notwendigkeit geistiger ausbildung möglichst vieler zur bedienung unserer stetig feiner werdenden maschinen und erstrebte zur ermöglichung für die arbeit notwendiger mechanisierung eine einfache Schulung des geistes in der mechanik viele gründe ergaben den plan jener öffentlichen Übung neuer Verwendung der vorhandenen ungenützten apparate und entschuldigten ihn vor den fachleuten aber wieviele gründe immer dafür sprachen einer zumindest fehlte den plan auszufuhren nachdenkend über jenen grund der fehlte vielengründengegenüberdievorhandenwaren."41
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Die Kritik lobte jedoch die öffentliche Baden-Badener Uraufführung in höchsten Tönen. Brechts Radio-Hörspiel, das er selbst im Untertitel als „Ein Radiolehrstück fur Knaben und Mädchen" bezeichnete, galt als wichtigstes Ergebnis der Kammermusiktage. Der Text selbst wie die Musik von Kurt Weill und Paul Hindemith zeichneten sich durch ,eine rundfunkgemäße Form' aus. Die Rundfunkzeitschrift des Kölner Senders - schließlich hatte sein Intendant Hardt das Stück persönlich inszeniert -, meinte: „Ein Meilenstein in der Entwicklung des Rundfunks und seiner Kunstübung. Ein Hörspiel, das kühn einen Stoff zum Vorwurf wählt, wie er nicht zeitgemäßer sein könnte, und das zugleich die schöpferische Phantasie des Wortund Tondichters in neue Bahnen lenkt."42 Drei Jahre später,1932, fasste Brecht in seiner Rede „Der Rundfunk als Kommunikationsapparat" seine Erfahrung mit dem Medium und seine Vorstellung von der Funktion des Rundfunks zusammen: Die Technik habe diesen zu einer Zeit geschaffen, da die Gesellschaft noch nicht so weit gewesen sei, ihn aufzunehmen. „Nicht die Öffentlichkeit hatte auf den Rundfunk gewartet, sondern der Rundfunk wartete auf die Öffentlichkeit, und um die Situation des Rundfunks noch genauer zu kennzeichnen: Nicht Rohstoff wartete auf Grund eines öffentlichen Bedürfnisses auf Methoden der Herstellung, sondern Herstellungsmethoden sehen sich angstvoll nach einem Rohstoff um. Man hatte plötzlich die Möglichkeit, allen alles zu sagen, aber man hatte, wenn man es sich überlegte, nichts zu sagen."43 Der Rundfunk sei in seiner ersten Phase „Stellvertreter" gewesen, nämlich des Theaters, der Oper, des Konzerts, der Vorträge, der Kaffeemusik, des lokalen Teils der Presse usw. Alle bestehenden Institutionen, die irgend etwas mit der Verbreitung von Sprech- oder Singbarem zu tun hatten, habe er imitiert; es sei ein unüberhörbares Durch- und Nebeneinander im Turmbau zu Babel entstanden; oder, mit einem anderen Bild: ein akustisches Warenhaus. Der Lebenszweck des Rundfunks könne aber nicht darin bestehen, das öffentliche Leben lediglich zu verschönen oder gar zu einem Alibi zu werden, indem man etwa in Wärmehallen den Arbeitslosen und in den Gefangnissen die dort Einsitzenden unterhalte. Auch als Methode, das Heim wieder traut zu machen und das Familienleben wieder möglich, genüge der Rundfunk nicht. „Und um nun positiv zu werden, das heißt, um das Positive am Rundfunk aufzustöbern, ein Vorschlag zur Umfunktionierung des Rundfunks: Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheueres Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu
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Vorschläge für den Intendanten des Rundfunks „Meiner Ansicht nach sollten Sie aus dem Radio eine wirklich demokratische Sache zu machen versuchen. In dieser Hinsicht würden Sie zum Beispiel schon allerhand erreichen, wenn Sie es aufgäben, für die wunderbaren Verbreitungsapparate, die Sie zur Verfügung haben, immerfort nur selbst zu produzieren, anstatt durch ihre bloße Aufstellung und in besonderen Fällen noch durch ein geschicktes zeitsparendes Management die aktuellen Ereignisse produktiv zu machen. Es ist ganz verständlich, daß Leute, die plötzlich solche Apparate in die Hand bekommen haben, sofort irgend etwas veranstalten wollen, um ihnen Stoff zu schaffen, und irgendein neues Kunstgewerbe erfinden, das für sie künstlichen Stoff schafft. Ich habe schon im Film immer mit leiser Sorge die ägyptischen Pyramiden und die indischen Radschapaläste nach Neubabelsberg laufen sehen, um von einem Apparat, den ein Mann bequem in den Rucksack schieben konnte, abphotographiert zu werden. Ich meine also, Sie müssen mit den Apparaten an die wirklichen Ereignisse näher herankommen und sich nicht nur auf Reproduktion oder Referat beschränken lassen. Sie müssen an wichtige Reichstagssitzungen und vor allem auch an große Prozesse herankommen. Da dies einen großen Fortschritt bedeuten würde, wird es sicherlich eine Reihe von Gesetzen geben, die dies zu verhindern versuchen. Sie müssen sich an die Öffentlichkeit wenden, um diese Gesetze zu beseitigen. Die Furcht der Abgeordneten, im ganzen Reiche gehört zu werden, darf, da sie sehr berechtigt ist, nicht unterschätzt werden, aber sie müssen sie ebenso besiegen wie die Furcht, die, wie ich glaube, verschiedene Gerichte äußern würden, ihre Entscheidungen vor dem gesamten Volke treffen zu müssen. Außerdem können Sie vor dem Mikrophon an Stelle toter Referate wirkliche Interviews veranstalten, bei denen die Ausgefragten weniger Gelegenheit haben, sich sorgfältige Lügen auszudenken, wie sie dies für die Zeitungen tun können. Sehr wichtig wären Disputationen zwischen bedeutenden Fachleuten. Sie können in beliebig großen oder kleinen Räumen Vorträge mit Diskussion veranstalten. Alle diese Veranstaltungen müßten Sie aber aus dem grauen Einerlei des täglichen Küchenzettels der Hausmusik und der Sprachkurse deutlich durch Vorankündigungen herausheben." Bertolt Brecht, Gesammelte Werke, Band 18 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1967, S. 121 f., Radiotheorie. 1927-1932.
empfangen, also den Zuhörer nicht nur hörend, sondern auch sprechend zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern in Beziehung zu setzen."44 Als Beispiel für die Möglichkeit, den Rundfunk als Kommunikationsapparat zu benutzen, verweist Brecht aufsein Radiolehrstück „Der Lindberghflug" von 1929. In den „Erläuterungen" dazu heißt es: „Auf der linken Seite des Podiums war das Rundfunkorchester mit seinen Apparaten und Sängern, auf der rechten Seite der Hörer aufgestellt, der, eine Parti44
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tur vor sich, den Fliegerpart als den pädagogischen durchführte. Zu der instrumentalen Begleitung, die der Rundfunk lieferte, sang er seine Noten. Die zu sprechenden Teile las er, ohne sein eigenes Gefühl mit dem Gefühlsinhalt des Textes zu identifizieren, am Schluss jeder Verszeile absetzend, also in der Art einer .Übung*. Auf der Rückwand des Podiums stand die Theorie, die so demonstriert wurde."45 Das Radio solle nicht dem Publikum ein Hörspiel bieten, sondern das Publikum die Möglichkeiten des Radios nützen. Mit seinen Ausfuhrungen projizierte Brecht seine Vorstellungen von der Notwendigkeit einer engagierten, die gesellschaftlichen Verhältnisse analysierenden und sie auf diese Weise verändernden Kunst auf den Rundfunk, wobei freilich die postulierte Kommunikation mit dem Publikum scheiterte.
Fotografie in Worten: Die neue Sachlichkeit „... Funken funken Gedanken, Zerreißen Kleinliche Schranken. Tummeln im Äther Sausenden Lauf, Rufen eijauchzend Zum Brudersinn auf. Atherwellen Kreise ziehn Funken Über Berlin."46
Der Rundfunk in der Weimarer Republik war, zumindest in den ersten Jahren, ein vorwiegend städtisches und großstädtisches Ereignis. Einer der Gründe dafür war auch die gute Stromversorgung in den Zentren. Zudem benötigte die Programmgestaltung mit den Schwerpunkten Unterhaltung, Kultur, Information eine urbane Atmosphäre, in der die Stoffe und Themen, denen man sich widmete, besonders üppig gediehen. Der Rundfunk, „in den Asphaltstädten daheim", abgesetzt vom Provinzialismus des „total platten Landes", wobei man gerade dort gern für „Kunden" warb, erwies sich als „Warenhaus", voller faszinierender schillernder Angebote. Oder aber er war, wenn man sich auf den zentralen Topos des damals florierenden „geschäftigen" freien Geistes bezog, ein „drahtloses Kaffeehaus". Was abends in den Berliner literarischen Cafés erörtert 45
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wurde, so Hermann Kesten über die kommunikative Offenheit der damaligen Berliner Szene, war ein paar Tage später Thema in New York, London, Paris und sogar in Rio de Janeiro. Die neuesten Stimmungen und Strömungen hatten hier ihren Ausgangspunkt. Man dachte, fühlte und lebte à la mode, versorgte sich und seinesgleichen mit immer neuen Reizen, nahm immer wieder neue Attitüden ein. Wie schon um die Jahrhundertwende, trafen sich im Café Schriftsteller, Poeten, Feuilletonisten, Kritiker (die von politisch Rechtsstehenden als ,Asphaltliteraten' abgewertet wurden); es kamen dorthin die Bohémiens, die Maler, Schauspieler, Schauspielerinnen, die Theater- und Filmregisseure, die Sterne und Sternchen. Schulreformer saßen neben weltanschaulichen Fanatikern, Revolutionäre neben Taschendieben, Rauschgiftsüchtige neben Vegetariern. Solche Mischungen erzeugten allerhand Verwirrung, wirkten aber auch als starkes Stimulans; Tiefsinn und Charme gingen eine prickelnde Verbindung ein. Man genoss die Freiheit, die freilich mehr in den Feuilletons als in der sozialen und politischen Wirklichkeit zuhause war. „In jenen Jahren war die Literatur freier als j e in Deutschland. Es wohnten Hunderte Literaten in Berlin. Ausländische Schriftsteller kamen aus aller Welt. Die Berliner Theater, Zeitungen, Zeitschriften, Verlage, Universitäten, Museen, Kunsthandlungen und die Filmindustrie florierten."47 Probleme, so schien es, könnten durch Diskussion bewältigt werden; man liebte die Worte, so wie man die Häuser, Plätze, Chausseen, die Großstadt insgesamt liebte. Doch fand man den Weg von den Gipfeln des Geistes in die Niederungen des Wirklichen nur selten; Intellektuelle und Künstler blieben unter sich und versäumten es, ihre .Spekulationen' vom Kopf auf die Füße zu stellen. Diese Atmosphäre des Kaffeehauses war eine Mischung aus linker Melancholie und Lebensfreude, exemplarisch für den .Kulturbetrieb' der Weimarer Republik insgesamt. Ironisch meinte Kurt Tucholsky: „Sie dichten, komponieren, schmieren Papier voll und streiten sich um Richtungen, das muß sein. Sie sind expressionistisch und supranaturalistisch; sie sitzen neben dicken Damen auf dem Sofa, kriegen plötzlich lyrische Kalbsaugen und sprechen mit geziertem Mündchen, und sind feige und lassen sich verleugnen oder lügen telefonisch; sie dirigieren Symphonien und fangen einen kleinen Weltkrieg an, und sie haben für alles eine Terminologie. Welche Aufregung - ! Welcher Eifer - ! Welcher Trubel - ! Horch: sie leben!"48 In Berlin hatte die Geschichte des deutschen Rundfunks begonnen; als vibrierende Metropole blieb die Stadt sein wichtigstes Zentrum. Den Film „Berlin. Die Symphonie der Großstadt" von Walther Ruttmann (1927) charakterisierte Kurt Pinthus als „rapidestes Simultangeschehen, 46
Fotografie in Worten
rapideste Bildfolge, als ineinander-, durcheinanderkopiertes, zuckendes Hin und Her, Querhindurch, Drüberweg"49. Wie sehr diese großstädtische Rasanz die Erwartungen an den Rundfunk prägte, zeigten die ersten expressiv-expressionistischen Gedichte, mit denen man das neue Medium begrüßte. Hans Brennert etwa, Direktor eines Nachrichtenamtes, aber auch Autor zahlreicher Schauspiele, Romane, Aufsätze zu Film und Hörspiel, begrüßte den Rundfunk als „neuen Roland" - in einem langen Poem, das futuristische Technikbegeisterung, euphorischen Metropolismus und leidenschaftliche WeltverbrüderungshofFnung als säkularisierte Unio mystica auf den Rundfunk projizierte. Während einerseits der Wärmestrom einer hehren ,0-Mensch-Gesinnung' auf Ätherwellen heranrauschte, setzte andererseits .technische Vernunft' auf den Rundfunk, weil er die Realität direkt und unverfälscht vermitteln könne. Der Schriftsteller Erich Mühsam (führender Akteur der bayerischen Revolution 1918, nach Abbüßung einer sechsjährigen Festungshaft bis 1933 in Berlin lebend) erläuterte diese Sachlichkeit des Mediums unter Bezug auf Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz", der Geschichte von Franz Biberkopf. Da werde nichts umständlich begreiflich gemacht, da rolle ein Film ab in kurzen Bildern, die sich selbst erklärten, da flute das Dasein vorbei und zwar an der kinematographischen Linse im Hirn Biberkopfs. Da rennen Schaufenster vorbei: Kurse von der Börse, Zigarrenmarken, Schuhe, Delikatessen, statistische Belehrungen. „Das wird gedankenlos wahrgenommen, flattert gleich weiter... Untergrundbahnbau, ein Straßenzug wird sichtbar, Häuser, .Kanalisationsartikel', Fensterreinigungsgesellschaft, Schlaf ist Medizin, Steiners Paradiesbett... Gesehenes, Gehörtes, Vorbeifliegendes mischt sich mit Begriffs- und Wortfetzen." Vom Filmischen springt Mühsam auf das Funkische über; es geht ihm um den „Radiofilm", ein in der Zeit verbreiteter Begriff: „Will der Rundfunk lebendiges Leben an die Ohren der Hörer bringen, so muss er es machen, wie Döblin lebendiges Leben vor die Augen der Leser bringt. Das Mikrophon braucht nur hinzuhorchen, wo gerade eine Szene aus .Berlin Alexanderplatz' ganz ohne Regie gespielt wird."50 Döblins Roman war ein zentrales Werk der neuen Sachlichkeit, die gesellschaftliche, vor allem auch soziale Realität mit kühlem Blick einfing. „Es liegt in der Luft eine Sachlichkeit", so pries ein Schlager die neue Zeit mit ihren Luftschiffen, Flugzeugen, Automobilen, mit Elektrizität, Radio und Schallplatte. Er verspottete die Werte einer vergangenen Epoche, etwa Liebe oder Empfindsamkeit; als Ballast seien sie bei der Bewältigung des Lebens in einer technisierten Welt nur hinderlich: „Weg mit Schnörkel, Stuck und Schaden! / Glatt baut man die Hausfassaden."51 47
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Nach dem Historismus des 19. Jahrhunderts, der sich an .Erbstücke' aus allen Epochen klammerte, um bei den Gefahrdungen des ,Umzugs' in die Moderne an auratischer Vergangenheit Halt zu finden, sollte nun, nach dem verlorenen Krieg, Wahrheit um sich greifen; das bedeutete auch die Betonung von Funktionalität und Materialgerechtigkeit - eine ästhetische Utopie, wie sie das von Walter Gropius 1919 in Weimar gegründete ,Bauhaus' bestimmte. Ahnlich wie bei dieser Institution, deren Dogmatik durch die Individualität der mitarbeitenden Künstler (etwa Wassily Kandinsky, Paul Klee, Johannes Itten, Lyonel Feininger) gebrochen wurde, erweist sich die ,Neue Sachlichkeit' in der Literatur und bildenden Kunst als ein weites, viele Stilformen umfassendes Spektrum. Die .Bildergalerie' der Neuen Sachlichkeit, gleichsam ein visuelles Barometer der Lebensstimmungen und -stile, der Moden und der rasch „wechselnden Objekte der Alltäglichkeit", spiegelt folgerichtig auch die Auseinandersetzung mit der Modernität des Rundfunks, eines Mediums, das die Entgrenzung menschlicher Existenz aus ihren vorgegebenen Beschränkungen ermöglichte; Beispiele hierfür sind Kurt Günthers „Radionist" aus dem Jahre 1927, Kurt Weinholds „Mann mit Radio (Homo sapiens)" 1929 und Max Radlers „Radiohörer" 1930 - Bilder, in denen die Erfahrung des neuen Radiohörens zu emblematischer Aussage komprimiert wird. Die ,Neue Sachlichkeit' fand ihren charakteristischsten Ausdruck in der aktuellen Berichterstattung. Der Journalist, der mit Hilfe der weltumspannenden Drahtnetze von Telefon und Telegraf arbeitete, war eine Leitfigur der Zeit. Er müsse, so Egon Erwin Kisch (1885-1948), als „rasender Reporter" unbefangener Zeuge sein und keine Tendenz zeigen. Reportage sei Fotografie in Worten. In Berlin trug der ehemalige Schauspieler Alfred Braun, das .geschäftige Multitalent' im Rundfunk der frühen Jahre, maßgeblich dazu bei, auch die Rundfunkreportage zu entwickeln. Berühmt wurde seine Reportage von der Ankunft der (gescheiterten) Ozeanflieger Chamberlin und Levine auf dem Tempelhofer Flugfeld 1927. Braun hatte seine Erfahrungen mit dem neuen Medium Rundfunk bei der Bearbeitung klassischer TheaterstofFe für Sendespiele und ihrer Weiterentwicklung zum Hörspiel gesammelt. Nun gelang es ihm als erstem, ein Ereignis nicht nur in seinen Fakten und Abläufen zu schildern, sondern dieses durch Originaltöne vom Ort des Geschehens, welche .Atmosphärisches' einfingen, unmittelbar erlebbar zu machen. Ganz wesentlich, so Braun, hänge die Qualität der Reportage von den Fähigkeiten des berichtenden Reporters ab; da erwarte den Sprecher seine hauptsächlichste Aufgabe,
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nämlich zu versuchen, ob das Wort mächtig genug sei, das äußere Bild zu ersetzen.52 Auch der beim Frankfurter Sender tätige Paul Laven galt als einer der herausragenden Reporter seiner Zeit. „Es begann an der Frankfurter Hauptwache um 20 Uhr. Das Mikrophon in den Wirbel des Verkehrs gestellt, war zum ersten Mal, ohne ein Ereignis festhalten zu wollen, dem Studio, seinem verlesenen Vortragsdienst und Rollenwechsel, allem künstlichen Geräuschzauber fern. Das, was der Zufall vor und hinter erschautem, unmittelbar in Worte gekleidetem Bild herbei- und vorführte, galt es in einem amüsanten Mosaik zusammenzufügen. Zehn Minuten später brauste der Rundfunkwagen zum Hauptbahnhof. Während der Sender, mit dem wir neben der Ubertragungsleitung Verbindung hatten, meldete, daß Anrufe mit Fragen und guten Wünschen sich mehrten, trug ich das Marmormikrophon eilends an die Lokomotive eines einfahrenden Zuges."53 Die Reportage gewann weiter an Farbigkeit, als die Übertragungstechniken sich verbesserten. .Aktualität' musste zudem durch Praxis definiert werden; es waren jeweils passende Themen für Reportagen zu finden. Sportübertragungen, darunter solche von Auto- und Fahrrad-6-TageRennen spielten eine Vorreiterrolle; Berichte über Zeppelin-Flüge, vor allem beim Start, waren beliebt. Döblin, selbst einer der wichtigen und aufgeschlossenen Autoren im Radio, meinte dazu: „Wieviel vernünftiger, statt eines langweiligen doktrinären Vortrags etwa über Geburtenregelung, über .Badeleben in der Reichshauptstadt' - das Mikrofon in das Freibad Müggelsee gestellt und hören lassen oder einen saftigen Diskussionsabend über Geburtenregelung gegeben. Oder das Mikrofon in das Arbeitsgericht Zimmerstraße gestellt und eine dieser originellen Verhandlungen aus dem echtesten Leben übertragen."54 Die These von der Standpunktlosigkeit des Reporters, dessen Tun allein durch Faktizität bestimmt sein müsse, entsprach zwar nicht der Wirklichkeit der Printmedien, erwies sich aber fur die Wiedergabe aktuellen Geschehens im Rundfunk als einer ausdrücklich und nachdrücklich auf Uberparteilichkeit angelegten Institution von wegweisender Bedeutung. Begründet wurde das Gebot .unbedingter Sachlichkeit' unter anderem damit, dass der Rundfunk sich an die Allgemeinheit wende und diese in sich vielfach gespalten sei bzw. viele Meinungen, Haltungen, Strömungen, Parteilichkeiten, Standpunkte (was heute Pluralismus genannt wird) einschließe. Doch werde schließlich, so Hans Bredow, mit zunehmender Toleranz die zunächst zu fordernde politische Abstinenz einer ausgewogenen Politisierung weichen. 49
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Von der langsamen Entdeckung der Wirklichkeit. Reportage und Politik
Bis in die dreißiger Jahre hinein, so berichten Zeitzeugen wie Axel Eggebrecht55, wurde der Rundfunk nicht als ein Medium verstanden, mit dessen Hilfe man sich vorwiegend über die Tagesaktualität informierte; er galt beim Publikum eben als ein Medium der Kultur - im Sinne seiner Gründungsväter. In einem Vortrag vor Beginn der 7. Deutschen Funkausstellung in Berlin, August 1930, konstatierte Hans Bredow jedoch gegenläufige Tendenzen; der Rundfunk betätige sich seit einiger Zeit sehr stark „auch auf dem Gebiet der Reportage und Übertragung von Zeitereignissen"; konkret mag er an die 1929 massiv im Rundfunk geführte Propagandakampagne gegen das Volksbegehren zum amerikanischen Young-Plan gedacht haben. Daraus aber öffentliche Vorwürfe politischer Art abzuleiten, sei falsch, denn schließlich betrachte sich der Rundfunk nur als objektiver Mittler, ohne Stellung zu nehmen. Nur der Regierung stehe das Recht zu, den Rundfunk politisch zu nutzen, keinesfalls aber den Rundfunkanstalten. 56 Die tagesaktuellen Nachrichten- und Kommentarangebote bezog man zumindest in den Anfangsjahren des Rundfunks noch vorzugsweise aus den Zeitungen, die in den größeren Städten oft in mehreren Tagesausgaben erschienen; der Vorteil der raschen drahtlosen Übermittlung ereignis- und zeitnaher Nachrichten wurde, wegen politischer Abstinenz, noch nicht genutzt. Nachrichten gab es relativ selten; Anfang 1928 lag die erste Nachrichtenzeit zwischen 13.00 und 14.00 Uhr; dann gab es nochmals Nachrichten zwischen 22.00 und 23.00 Uhr. Hörernah war dies nicht, denn Arbeiter und Angestellte konnten da kaum Radio hören, bestenfalls Freiberufler, Intellektuelle oder besser gestellte Bürger. Neben den von der Dradag (.Drahtloser Dienst AG') in Berlin zu festen Zeiten zugelieferten und fur alle Sender verbindlichen Nachrichten gab es allerdings zu anderen Tageszeiten eine Vielzahl von regionalen Informationssendungen, also aus dem Nahbereich der Hörer, die von den Sendern in Eigenverantwortung zusammengestellt wurden: Seewetterberichte und Wasserstandsmeldungen im Norden, Wirtschafts- und Börsennachrichten in Berlin und Frankfurt, ferner Nachrichten fur die Landwirtschaft, Sportnachrichten und Wetterberichte. Untersuchungen haben ergeben, dass etwa 10 Prozent der gesamten Programmzeit aller Sender für Informationsangebote genutzt wurden, im Vergleich zu 30 Prozent für Unterhaltung und 60 Prozent für Bildungssendungen.57 Für Meldungen aus Politik und Zeitgeschehen hatte die .Schlesische Funkstunde' in Breslau, obwohl aufgeschlossener für diesen Bereich, da das Sendegebiet an der seit dem Ver-
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Amerikanisiertes Vergnügen
sailler Vertrag im Deutschen Reich politisch heftig umstrittenen polnischen Westgrenze lag, 1929 2,5 Prozent ihres Programms ausgewiesen; die SÜRAG in Stuttgart lag mit 1,3 Prozent im Mittelfeld aller Sender. Aktuelle Sendungen, insbesondere politischer Thematik, wurden zusätzlich zu den Nachrichten aus der Wochen- oder Monatsdistanz geboten, sei es als Ereignis-Ubersicht oder als kontroverse Vertiefung eines aktuellen Themas, in Form von Vortrag oder Gespräch, gerne aus Sicht der politischen Mitte. In jedem Fall wurde peinlich genau auf .Ausgewogenheit' geachtet, etwa durch einen unmittelbar nachfolgenden oder späteren zweiten Beitrag zum gleichen Thema aus anderer Sicht. Als die Dradag ab 1. November 1928 eine wöchentliche „Presse-Umschau" einführte, achtete man ebenfalls penibel darauf, dass die ausgewählten Pressestimmen politisch sich im Gleichgewicht hielten und ohne Kommentar zitiert wurden: eine von links, eine von rechts, eine aus der Mitte! Auch wenn bis gegen Ende der zwanziger Jahre eigene, redaktionell verantwortete politische Sendungen eher selten waren und sich auf Reportagen etwa über Wahlen und politische Großereignisse von überregionaler Bedeutung beschränkten, so hieß das freilich keineswegs, dass die anderen Wortprogramme völlig frei von politischer Meinung waren. Autoren wie der gefiirchtete Theater- und Zeitkritiker Alfred Kerr, der liberale Jurist Herbert Ihering oder der Theater-Revolutionär Bertolt Brecht waren in ihren Rundfunkbeiträgen bzw. -gesprächen alles andere als apolitisch. Schon die Tatsache ihres Auftretens im Programm belegt, dass die Redakteure bei aller auferlegten Neutralität ein Gespür fur die politische Dimension kultureller Themen hatten. Eben hier setzten vor allem national-konservative Kreise mit ihren Vorwürfen an: Gegen eine wenn nicht unbedingt offene, so doch unterstellte einseitig links-intellektuelle Programmgestaltung; sie leiteten daraus ihre Forderung nach Gegendarstellungen oder eigenen Sendungen mit ihnen genehmen Autoren ab: „Die Demokraten verzichteten weitgehend bewusst darauf im Rundfunk zu Wort zu kommen, um den Feinden der Demokratie nicht die gleiche Chance einräumen zu müssen, auf die sie zumindest nach ihrer proportionalen Stärke Anspruch gehabt hätten."58
Amerikanisiertes Vergnügen. Jazz und Swing Der Zeitgeist der zwanziger Jahre stand weitgehend im Zeichen der USA. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten wurde zum Mythos, zum Inbegriff eines die Massen ergreifenden Modernismus. In den USA 51
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ging alles schneller, war alles größer, war alles interessanter. Die dortige Großstadt, vor allem New York mit dem Broadway, erschien als glitzerndes Dorado. Die Entwicklung des Films stand unter dem Einfluss von Hollywood. Der Vergnügungstaumel, der nach dem verlorenen Krieg in Deutschland ausbrach und alle Schichten ergriff, wurde intoniert und angetrieben durch amerikanische Rhythmen. Der Charleston war lange Zeit der beliebteste Tanz; mit seiner exaltierten Beinakrobatik, die den ganzen Körper erschütterte, forderte er erotisierende Enthüllung. Man begeisterte sich fur die Revue (neben ausgeprägter ,Operettenseligkeit'); aus Paris kam die Show der in den USA geborenen Josefine Baker, die dann auch in anderen Revuen und Revuefilmen mitwirkte. Der Amerikanismus stand für die Emanzipation der Geschlechter von prüder Moral, wobei solche Botschaft, etwa im Schlager, mit dem Reiz lasziver Zweideutigkeit versehen wurde. Die stärkste Wirkung ging vom Jazz aus; die .schwarze Subkultur' wurde mit ihrer triebhaft bestimmten Dynamik als Kontrast zum .weißen Amerika' und seiner zivilisatorischen Perfektion empfunden; man genoss ihre Exotik, schreckte aber auch vor ihr zurück. In dem Roman „Der Steppenwolf" von Hermann Hesse - den fiktiven Aufzeichnungen Harry Hallers, eines neurotischen, übersensiblen, in äußerste seelische Vereinsamung getriebenen Mannes mittleren Alters, dessen Selbstanalyse zugleich einen Versuch zur Diagnose der Zeitkrankheit und deren Heilung darstellt -, in diesem bedeutendsten Dokument des Kulturpessimismus der zwanziger Jahre wird die Ursache der ZeitMisere in dem Gegensatz zwischen einer versinkenden alten europäischen Kultur und einer wuchernden modernen amerikanischen Technokratie gesehen; dieser ist in Haller, dem „Steppenwolf", personifiziert. Er ist eine Doppelnatur, in der „Wölfisches" und „Menschliches", Atavistisch-Animalisches und Humanistisch-Geistiges unvereinbar im Streit liegen.59 Denunziert wird in dem Roman der Rundfunk: er sei Zeichen für den Niedergang „edler Kultur". Im „Magischen Theater" des Jazztrompeters Pablo - eine visionäre Rauschgiftorgie - begegnet Haller Mozart, „ohne Zopf, ohne Kniehosen und Schnallenschuhe, modern gekleidet". Dieser stellt einen Radioapparat an: zu hören sei München, das Concerto grosso F-Dur von Händel. Aber der „teuflische Blechtrichter" spuckt als technischer Apparat nur „jene Mischung von Bronchialschleim und zerkautem Gummi aus, welchen die Besitzer von Grammophonen und Abonnenten des Radios übereingekommen sind, Musik zu nennen"; hinter dem „trüben Gekrächze" sei freilich immer noch, „wie hinter dicker Schmutzkruste ein altes, köstliches Bild, die edle Struktur dieser göttlichen Musik zu erkennen, der königliche Aufbau, der kühle weite Atem, der satte, breite Streicherklang". 52
Amerikanisiertes Vergnügen
Was Walter Benjamin analytisch den „Verlust der Aura" nannte, erscheint bei Hesse (im Empfinden des Steppenwolfs) als „Schweinerei"; der scheußliche Apparat stehe für den Triumph der modernen Zeit „ihre letzte siegreiche Waffe im Vernichtungskampf gegen die Kunst". Während Mozart lachend die entstellte, entseelte und vergiftete Musik weiter in den Raum sickern lässt, hält er eine Ansprache an die Verächter des neuen Mediums, wobei er dessen Abfall von der Idee - reine Kunst, zerstört durch Technik - als allgemeines Gleichnis fiir Leben und Welt interpretiert.60 Die Vertreter der .konservativen Revolution', des antidemokratischen Denkens in der Weimarer Republik, stempelten auf noch zugespitztere Weise den amerikanisierten Unterhaltungsrundfunk als Zerstörung nationaler Würde ab. Die „Negermusik" wurde als widerlich bezeichnet; die liberalistische Idee, die solche Entartung hervorbringe, sei Ursprung allen Übels. Doch waren es keineswegs nur reaktionäre Kreise, die das Radio verdammten. Der nach 1933 aus Deutschland vertriebene Dichter Max Herrmann-Neiße zum Beispiel sah im Radio einen Verrat: „Das Buch, in dem ich las, wird stumm und blind, / und was mir Böses je die Menschheit tat, / rauscht jetzt im Radio wie ein schlimmer Wind."61 Doch würde er sich mit dem Medium versöhnt fühlen, wenn es Dichter häufiger zu Wort kommen ließe. Von solcher Kritik konnten sich im Besonderen die meisten Rundfunkverantwortlichen bestätigt fühlen, die den Unterhaltungsfunk ohnehin nur als Zugeständnis an die Masse des Publikums empfanden.62 Ein genauerer Blick auf die entsprechenden Sendungen des Rundfunks macht übrigens deutlich, dass der klassische, der .authentische Jazz' nur in den späten Abend- oder Nachtstunden der Programme vorkam. Seine Kritiker bezeichneten offensichtlich alles, was an kommerzieller Unterhaltungsmusik über den Ozean kam, egal, ob es sich um Foxtrott, Charleston, Shimmy oder Two-Step handelte, als „Negermusik" und stellten sie ahnungslos mit dem Jazz gleich. Auch hierüber hatte der volksbildnerisch bemühte Bredow seine Meinung; so verkündet er im Oktober 1924, dass der Rundfunk „die Negermusik allmählich ausmerzen" werde; mit der Hebung des Geschmacks steige der „Abscheu gegen schlechte ausländische Musik".63 Der Jazz fand Zugang in die Rundfunkprogramme weniger über die späten Nachtsendungen für Minderheiten, sondern über die Sendungen mit den großen Unterhaltungs- und Salonorchestern; sie boten den deutschen Hörgewohnheiten entsprechende gefallige oder für .deutsche Ohren' bearbeitete Melodien, die nicht durch .aggressive' Rhythmen verletzten. 53
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Proletarische Opposition gegen bürgerliche Kultur: Arbeiter-Rundfunk-Bewegung
Der Rundfunk als staatlich kontrolliertes Medium, gegen Ende der Weimarer Republik mit Tendenzen nach rechts, war fur die sozialdemokratisch wie sozialistisch engagierte Arbeiterschaft zunehmend ein Stein des Anstoßes. Das macht exemplarisch das Gedicht einer Arbeiterin aus dem Jahre 1932 deutlich, erschienen in der Zeitschrift ,Arbeitersender', einem Organ des .Freien Radiobundes Deutschland', zu dem werktätige Rundfunkhörer sich zusammengeschlossen hatten: „Ich möcht' einmal am Sender stehn Und sprechen dürfen. - Ohne Zensur. Ein einziges Mal. - Eine Stunde nur .Hetzen' - und Haß und Feuer säen. Laßt einmal mich am Geräte stehn Und nur einen Tag aus meinem Leben Wahrhaft und nüchtern ,zum Besten' geben. - Nichts weiter. - Es würde ein Wunder geschehn. — Ich möchte die wütenden Fratzen sehn Der satten Bürger und lächelnden Spießer, Der Jazz- und Rumba-Radau-Genießer. All derer, die an der Skala kauern Auf Hindenburg-Reden und ,Funkbrettl' lauern, Wenn's hieße: Achtung! - Deutsche Welle! Eine Arbeiterin spricht! - Thema: Die Hölle..." 64
Zur Zeit der Veröffentlichung hatte sich die Arbeiter-Radio-Bewegung bereits gespalten. Im Herbst 1928 hatten auf der 4. Reichskonferenz des Bundes die sozialdemokratischen Delegierten die Machtfrage gestellt. Gegen die Stimmen der Kommunisten nahmen die Delegierten neue Richtlinien an, in denen die alte Hauptforderung nach einem ArbeiterSender nicht mehr vorkam: - „Kein Rundfunkvortrag darf wegen seiner politischen, sozialen, religiösen oder ethischen Weltanschauungstendenz abgelehnt werden. - Die Vorträge können in freier Rede gehalten werden, wenn der Redner schriftliche Richtlinien eingereicht hat. - Beschränkung der Rundfunkgebühr auf das Mindestmaß. - Bereitstellung öffentlicher Mittel zur Einrichtung einer sozialen Blinden- und Schwerbeschädigtenhilfe mit Hilfe der Ortsgruppen."65 54
Arbeiter-Rundfunk-Bewegung
Nach dieser Niederlage erklärte die Kommunistische Partei in einem Rundschreiben ihres Zentralkomitees: „Wir ersuchen die Bezirksleitungen und besonders die Agitpropabteilungen, besondere Aufmerksamkeit dem Rundfunk zuzuwenden, dessen Hörerzahl von Monat zu Monat zunimmt. Die Partei hat sich bisher viel zu wenig um die Zusammenstellung der Rundfunkprogramme, um Vorschläge fur Rundfunkvorträge, den Arbeiter-Radio-Bund und unsere prinzipielle Stellung zum Funkwesen kümmern können. Es wird jedoch bei einer solchen Massenbeeinflussung durch die Bourgeoisie immer klarer werden, daß die Partei dieser Frage die größte Aufmerksamkeit zuwenden muß." Im gleichen Rundschreiben erhob das ZK der KPD die alte Forderung nach einem Arbeitersender, sprach aber dem sozialdemokratisch geführten Arbeiter-Radio-Bund die fuhrende Rolle zu: „Unser gesamter Kampf muß die Schaffung von Arbeiter-Sendern zum Ziele haben. ... Die Bildung von Arbeiter-Funkausschüssen zur Mobilisierung der Rundfunkhörer kann nur ein Mittel sein. Bei dieser Tätigkeit ist die Führerrolle des ARB zu betonen."66 Die Wurzeln der Arbeiter-Radio-Bewegung gingen auf die Zeit zurück, da die ersten Rundfunksendungen in Deutschland stattfanden. In verschiedenen Städten schlössen sich werktätige Hörer und Hörerinnen zusammen, die Kritik am Programm übten und den Versuch unternahmen, Einfluss auf das neue Medium zu nehmen. In der Tradition der Arbeiter-Kulturorganisationen stehend, musste sich der ARB mit einer grundsätzlich neuen Situation auseinander setzen. Es gab eine Arbeiterpresse, es gab Arbeiterverlage, die Arbeiterparteien besaßen eigene Theatergruppen und schließlich auch eine Filmproduktions und -verleihfirma; der Rundfunk jedoch war von Anfang an ein staatliches Monopol. Die organisierte Arbeiterschaft konnte so ihre Vorstellungen von einer eigenständigen, alternativen Arbeiterkultur nicht direkt in die Tat umsetzen. In der Arbeiter-Radio-Bewegung organisierte nicht der Rundfunk seine Hörer - diese organisierten sich selbst. Brechts Forderung nach einer radikalen „Demokratisierung des Rundfunks" wurde ebenso vertreten wie der Anspruch, den zuerst die revolutionären Militärfunker während der Novemberrevolution erhoben hatten: Rundfunksender für die organisierte Arbeiterschaft zu erkämpfen. Zunächst freilich ging es den Mitgliedern der einzelnen Arbeiter-Radio-Klubs, ehe sie sich dann zusammenschlössen, darum, die neuen Töne überhaupt hören zu können. Man tauschte Schaltpläne und Einzelteile aus und wollte die selbst gebauten Geräte gemeinsam benutzen. In den ersten Jahren des Rund55
Weimarer Republik · 1923-1933
funks lieferten die bastelnden Amateure der Industrie eine ganze Anzahl kommerziell verwertbarer technischer Verbesserungen. Anfang 1928 benannte der ,Arbeiter-Radio-Klub' sich um in den ,Arbeiter-Radio-Bund Deutschland e.V.' Seine Zeitschrift .Arbeiterfunk Der neue Rundfunk' veröffentlichte im Mai 1928 anlässlich der bevorstehenden Wahlen zum Reichstag eine Liste von Forderungen: „ 1. Herabsetzung der Rundfunkgebühren auf die Hälfte. 2. Gebührenfreiheit für die Blinden, Schwerbeschädigten und die Erwerbslosen. 3. Äußerste Beschränkung der Vorzensur der Rundfunksprecher. 4. Öffnung des Rundfunks fur die politischen Parteien in paritätischer Weise, Berücksichtigung der Parteien nach ihrer Stärke. Übertragung allgemein interessierender Parlamentssitzungen. 5. Berücksichtigung aller republikanischen Festtage im Rundfunk durch Feiern mit zuverlässig republikanischen Rednern. 6. Abschaffung der kirchlichen Feiern im Rundfunk oder wenigstens paritätische Zulassung der Religionsgemeinschaften und der Freidenker. 7. Ausschluß jeder Reklamedarbietung im Rundfunk während der Hauptsendezeiten. 8. Berücksichtigung besonders erwerbsloser tüchtiger Künstler und Wissenschaftler bei den Darbietungen der Sendegesellschaften, Ausschaltung sogenannter Prominenter mit unverschämten Honorarforderungen. 9. Veröffentlichung des finanziellen Gebarens und Standes der Rundfiinkgesellschaften
in verständlicher Form.
10. Freigabe des R u n d f u n k h ö r e r für die Insassen von Strafanstalten.... 11. Freigabe von Versuchssendern auch für ernsthafte Amateurgruppen." 6 7
In der Endphase der Weimarer Republik nahmen die Spannungen zwischen den politischen Lagern und gesellschaftlichen Schichten vehement zu. Die so lange geltende Forderung auf politische Neutralität des Rundfunks wurde ausgehöhlt. Die Auswahl der Nachrichten etwa war durch Rechtslastigkeit bestimmt. Nach Entlassung des als links geltende Chefredakteurs der Dradag, Josef Räuscher, erfolgte die Eingliederung der Nachrichtenzentrale ab 1. Oktober 1932 als Abteilung in die ,Reichs-Rundfunk-Gesellschaft'; es sei, so der deutsch-nationale Journalist Walter Beumelburg, der 1932 die Dradag liquidierte - er war, vom Reichswehrministerium empfohlen, neuer Nachrichtenschef geworden -, im staatspolitischen Sinne unzweckmäßig, „mit der außerordentlichen Vielheit der Meinungen der verschiedenen politischen Lager die Urteilskraft der Hörer noch weiter zu verwirren statt 56
Arbeiter-Rundfunk-Bewegung
zu bilden". „Das Ausgewogenheitsverständnis der Widersacher Räuschers wird an der Nachfolgesendung deutlich. Da ,die Wünsche nach Wiedereinführung der Zeitungsschau einfach nicht mehr überhört werden können', wurde Räuschers Nachfolger Hans Fritzsche, der spätere Propaganda-Chef des Großdeutschen Rundfunks, damit beauftragt, ,die alte Form mit einem neuen Inhalt zu versehen'. Schon am Text von Fritzsches erster Sendung am 29. November 1932 ist abzulesen, wohin sich die Waage nun neigte: Allein drei von 14 Äußerungen sind der NSDAP zuzuordnen, weitere fünf dem eindeutig rechten bürgerlichen Lager, zwei weitere dem Zentrum und eine der DVP, dagegen standen zwei demokratische und eine SPDÄußerung. Nicht nur die .Presse-Umschau' folgte dem neuen Ausgewogenheitsverständnis. Auch die Nachrichten waren nach Räuschers Weggang nicht mehr das .Spiegelbild der im deutschen Volk lebendigen Kräfte', zumindest nach Meinung von Heinz Monzel, der für die Rundfunkarbeitsgemeinschaft der katholischen Verbände im Dradag-Aufsichtsrat saß: ,Wenn man objektiv die letzten Wochen des Nachrichten-Dienstes ohne Dr. Räuschers Mitwirkung betrachtet, so muss man jetzt feststellen, dass diese Idee des Dienstes an allen bereits aufgegeben ist.'"68 Für manchen Verantwortlichen in den Sendern hatte die bis dahin .verordnete' Politikferne den Freiraum geboten, die kulturellen Vorstellungen von der „Erziehung des Menschengeschlechts" zur Humanität, jenseits von „Parteiaugen", verwirklichen zu können; das war nun nicht mehr möglich. Mit der nationalsozialistischen Machtergreifung fanden sowohl die Vision eines proletarischen wie das Faktum eines bürgerlichen Rundfunks ihr Ende. Der Rundfunk solle nun das „Braune Haus deutschen Geistes" sein, tönte 1933 der neue Reichssendeleiter Eugen Hadamovsky auf einer Kundgebung des .Reichsverbandes Deutscher Rundfunkteilnehmer' im Berliner Sportpalast.
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Weimarer Republik · 1923-1933
Die Luft ist frei. Daten zur Geschichte des Rundfunks 1871-1933
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1871
Im Artikel 48 der Reichsverfassung wird die Hoheitsgewalt des Reiches über alle Fernmeldeeinrichtungen festgelegt.
1887
Der Physiker Heinrich Hertz entdeckt die elektromagnetischen Wellen und damit die Grundlagen für die (Rund-)Funktechnik.
1892
6. April: In dem vom Reichstag verabschiedeten „Gesetz betreffend das Telegraphenwesen des Deutschen Reiches" wird die Staatshoheit definiert und ihre Ausübung geregelt.
1897
Guglielmo Marconi erprobt in England den Einsatz der drahtlosen Telegrafie; Adolf Slaby und Georg Graf von Arco fuhren wenig später entsprechende Versuche in Deutschland durch.
1903
27. Mai: Auf Drängen Kaiser Wilhelms II. und der deutschen Militärs Gründung der privatwirtschaftlichen .Gesellschaft für drahtlose Télégraphié mbH.' (TELEFUNKEN) in Berlin, als gemeinsame Tochtergesellschaft von u. a. Siemens und AEG.
1906
Eine Internationale Funkkonferenz in Berlin befasst sich mit Fragen eines „international gültigen juristischen Rahmens" und beschließt ein FunkAbkommen; §1 des Abkommens: „Die Luft ist frei".
1908
7. März: Durch das „Gesetz zur Abänderung des Telegraphengesetzes" erfolgt die Ausweitung der Fernmeldehoheit auf das gesamte Funkwesen: „Elektrische Telgraphenanlagen, welche ohne metallische Leitungen Nachrichten vermitteln, dürfen nur mit Genehmigung des Reiches errichtet oder betrieben werden." Bereits ab 1892 wurde der Reichspost - und für die Dauer des Ersten Weltkrieges den Militärbehörden - das entsprechende Genehmigungsrecht übertragen.
1910
In den USA wird zum ersten Mal aus der New Yorker Metropolitan Opera die Stimme eines Sängers drahtlos übertragen.
1916
In den USA gibt es weit über 10.000 Lizenzen für Radio-Amateure.
1917
Die .Hauptfunkstelle Königs Wusterhausen' bei Berlin strahlt neben dem täglichen .drahtlosen Kriegsnachrichtendienst' auch Musiksendungen und Lesungen aus Literatur und Zeitungen aus. Hans Bredow, Direktor der TELEFUNKEN, erprobt an der Westfront bei Reims den ersten Röhrensender mit unterhaltenden Musiksendungen für die deutschen Soldaten.
Daten zur Geschichte des Rundfunks
1918
9. November: Während des Generalstreiks besetzen in Berlin zunächst linksrevolutionäre Soldaten und Arbeiter der Spartakisten und kurz darauf Abgesandte des im Berliner Reichstag versammelten sozialdemokratisch orientierten Arbeiter- und Soldatenrates die zentrale Nachrichtenagentur im Deutschen Reich, das ,WolfPsche Telegraphen-Bureau' (WTB). Von hier werden vier Wochen lang die Aufrufe, Bekanntmachungen und Anordnungen der Revolutionäre an alle Dienststellen im Reich verbreitet. 3. Dezember: Einrichtung einer .Reichsfunkkommission'. Im Auftrag der Reichsregierung und unter Kontrolle des revolutionären Vollzugsrates sowie unter Beteiligung aller zuständigen Interessengruppen und Ministerien soll sie zur Vereinheitlichung des Funkwesens einen Organisationsplan entwerfen. Bis zum Abschluss des Berichts am 28. Januar 1919 war der Einfluss der politischen Organisationen gegenüber den Interessen der Reichsregierung und der Industrie stark zurückgedrängt. Hans Bredow: Jedenfalls weisen mehrere Anzeichen darauf hin, daß es tatsächlich den der Spartakusgruppe nahestehenden .Unabhängigen' gelungen ist, sich durch eine Art Putsch ... der Funkentelegraphie für ihre eigenen Zwecke zu versichern. ... In Wirklichkeit handelt es sich nur darum, zu verhindern, daß die Funkleitung wieder zu den Regierungsbehörden kommt und daß der Vollzugsrat oder - was noch schlimmer ist - eine bestimmte Partei eine Diktatur über den Regierungsfunkendienst ausüben kann. ... Gegen diese unhaltbaren Zustände muß mit allen Mitteln vorgegangen werden, da die Ausübung des Nachrichtenverkehrs selbstverständlich eine Regierungsmaßnahme ist."69
1919
1. Februar: Bredow, bis dahin Vorsitzender des Direktoriums der TELEFUNKEN, tritt als Ministerialdirektor in den Dienst der Reichsregierung; er übernimmt im Reichspostministerium die Leitung der neu eingerichteten .Abteilung fur Funktelegraphie'. Bredow wird gleichzeitig Leiter der Reichsfiinkbetriebsverwaltung. Somit hat die Reichspost das gesamte Funkwesen einschließlich der entsprechenden militärischen Dienste unter einer Leitung vereinigt und ihre Ansprüche innerhalb der Regierung durchgesetzt. Bredow wird als wichtigste Persönlichkeit in der Entwicklung des Rundfunks die Interessen des Staates wie der Industrie befördern.
1920
22. Dezember: Der Sender Königs Wusterhausen überträgt erstmals drahtlos ein Konzert. 30. Dezember: Gründung der ,VOX-Schallplatten- und Sprachmaschinen AG' in Berlin; Leitung: Walter Vogelsang (Apotheker) und Kurt Magnus (Wirtschaftsjurist)
1921
8. Juni: Aus der Berliner Staatsoper wird Puccinis Oper „Madame Butterfly" übertragen.
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Weimarer Republik · 1923-1933
1922
21. Februar: Mit einer ,Denkschrift' beginnt in Deutschland eine Revolution: das Medien-Zeitalter des Rundfunks. Die Regierung legt auf Antrag des Reichstags vom Dezember 1921 eine „Denkschrift über die Vereinfachung und Verbilligung von Verwaltung und Betrieb der Reichs- Postund Telegraphenverwaltung" vor. Darin wird die Entwicklung des Funkdienstes unter staatlicher Oberhoheit einerseits und einem privatwirtschaftlich orientierten Staatsbetrieb andererseits gesehen, der auch nicht der parlamentarischen Kontrolle unterliegt. 22. Mai: Als erste Rundfunkgesellschaft in Deutschland wird auf privatwirtschaftlicher Basis die .Deutsche Stunde, Gesellschaft fur drahtlose Belehrung und Unterhaltung mbH.' in Berlin gegründet. Ihre Aufgabe war „die gemeinnützige Veranstaltung von öffentlichen Konzerten und Vorträgen, belehrenden, unterhaltenden sowie alle weiteren Kreise der Bevölkerung interessierenden Darbietungen auf drahtlosem Wege im Deutschen Reiche". 7 0 Im Spätsommer leitet das Reichspostministerium die dezentrale Entwicklung des Rundfunks in Deutschland ein: Sowohl aus technischen (0,7kW Sendeleistung und 150 Kilometer Reichweite für die Bezirksender) wie aus regionalpolitischen Gründen wird das Reichsgebiet in 9 Regionalbezirke eingeteilt. In ihnen sollen auf privatwirtschaftlicher Grundlage Bezirkssender gegründet werden, die im Wesentlichen die Programmangebote der .Deutschen Stunde' zur Ausstrahlung übernehmen sollen. Aus diesen Bezirkssendern bilden sich 1923 bis 1924 die regionalen Rundfünkgesellschaften. 1. September: Sendebeginn des ,Wirtschaftsrundspruchs' mit aktuellen nationalen und internationalen Börsen- und Wirtschaftsnachrichten für Banken und Industrie, mit maßgeblicher Unterstützung durch das Auswärtige Amt für die Exportförderung. Er bot die auch vom Reichspostministerium erkannte „... Möglichkeit, ein neues Nachrichtenmittel in größerem Maßstabe zu erproben und die technische Grundlage fur den der Öffentlichkeit versprochenen Unterhaltungsrundfùnk zu schaffen". 71 18. September: Als erste Bezirksgesellschaft wird in München die .Deutsche Stunde in Bayern. Gesellschaft für drahtlose Belehrung und Unterhaltung mbH.' gegründet.
1923
In England und Italien wird die drahtlose Bildtelegraphie, das spätere Konkurrenzmedium des Rundfunks, entwickelt. 16. Mai: Reichs- und Landtagsabgeordnete sowie Politiker und Unternehmer gründen die gemeinnützige Aktiengesellschaft für Buch und Presse'. Ihre Aufgabe: „Verlagsunternehmungen, Presseberichterstattung sowie Erwerb der hierzu erforderlichen und geeigneten Anlagen." In der Folge kommt es über die Sommermonate zu einem ersten, grundsätzlichen Streit über den künftigen Rundfunk und die programminhaltliche Verantwortung Das Innenministerium fordert entscheidende Mitspracherechte bei politischen Nachrichten und Sendungen. Das Postministerium entschei-
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Daten zur Geschichte des Rundfunks
det sich deshalb fur „einen reinen Unterhaltungsrundfunk unter Ausschluß von Pressemeldungen und Verbreitung politischer Nachrichten".72 In einem Kompromiss erteilt dass Reichinnenministerium der Programmgesellschaft ,Buch und Presse' die Konzession fur die Herstellung und Verbreitung von „Tagesnachrichten und Darbietungen politischen Inhalts" unter Aufsicht des Innenministeriums; das Reichspostministerium beauftragt die .Deutsche Stunde' mit der Erstellung der „musikalischen und literarischen Darbietungen" im nicht aktuellen Programmteil.73 16. Oktober: Die Programmgesellschaft .Buch und Presse' firmiert zunächst als .Drahtloser Dienst. Aktiengesellschaft für Buch und Presse', später umbenannt in DRADAG. 1923
29. Oktober, 20.00 bis 21.00 Uhr: Die .Deutsche Stunde' beginnt mit einem Konzert aus dem VOX-Haus in der Potsdamer Straße: Die Geburtsstunde des öffentlichen, allgemein und drahtlos zu empfangenden Rundfunks in Deutschland. 7. Dezember: Gründung der .Südwestdeutschen Rundfunkdienst AG' in Frankfurt am Main. 10. Dezember: Gründung der .Radio-Stunde AG' in Berlin; ab 29. März 1924 als ,Funk-Stunde A.G.' firmierend.
1924
Zwischen Januar und Oktober werden in Deutschland weitere 7 regionale Rundfunksender gegründet und nehmen zumeist auch ihren Sendebetrieb auf. Der Rundfunk, zunächst als Unterhaltungsmedium gegründet, entwickelt im Laufe des Jahres Ansätze zu eigenen, rundfunktypischen Sendeformen: Reportagen zu Themen und Ereignissen, Sendungen über zeitgenössische Entwicklungen in Literatur, Musik, Bildung und Unterhaltung, Live-Konzerte. 1. Januar: Das Reichspostministerium setzt die Rundfunkgebühr von 25 Goldmark im Jahr auf 60 Reichsmark jährlich fest. 1. April: Die Rundfunkgebühr wird auf 2 Reichsmark monatlich zurückgenommen. 4. April: .Notverordnung zum Schutz des Funkverkehrs' von der Reichsregierung erlassen: Schwarzhörern drohen mehrwöchige Gefängnisstrafen, Geldstrafen bis zu 100.000 Goldmark, Beschlagnahme der Empfangsgeräte sowie öffentliche Bekanntgabe der Namen über den Rundfunk. Rundfùnkempfang gilt als staatlicher Hoheitsakt und als Staatsgeschäft. 29. August: Gründung der .Deutsche Welle GmbH, Berlin', eine Gemeinschaftsgründung aller Regionalsender als zentraler Rundfunksender mit ausdrücklicher Verpflichtung zur Ausstrahlung einer im gesamten Reichsgebiet empfangbaren Rundfunk-Volkshochschule: „Die Deutsche Welle will das Volk in Stadt und Land wirtschaftlich fördern und will mit Hilfe der besten Kräfte, der tüchtigsten Köpfe, edelste Volksbildung leisten."74 4.-14. Dezember: Erste Deutsche Funkausstellung in Berlin.
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1925
4. Mai: In Genf wird durch die europäischen Rundfunkstationen und unter Beteiligung der staatlichen Fernmeldeverwaltungen der ,Weltrundfùnkverein' gegründet. Er legt bis heute u. a. die Verteilung der Sendefrequenzen für die nationalen Sender fest. 15. Mai: Unter politischem Druck durch das Reichspostministerium erfolgt die Gründung der .Deutschen Reichs-Rundfünk-Gesellschaft GmbH.' (RRG) durch zunächst fünf regionale Sender zur Vertretung der gemeinsamen Interessen der regionalen Sendegesellschaften (außer Bayern). Geschäftsführer wird Kurt Magnus. Die Reichspost ist mit 51 Prozent, die regionalen Sender mit 49 Prozent der Anteile vertreten; damit erhält der Staat nicht nur auf die technische Entwicklung, sondern über die RRG auch unmittelbar auf die Programme bestimmenden Einfluss. 26. August: Durch die postamtliche Verfugung Nr. 419 .Bekanntmachung über den Unterhaltungsrundfunk' wird dieser Begriff definiert und für das neue Medium offiziell verbindlich gemacht. 14. Oktober: Das Reichsinnenministerium legt, gemeinsam mit dem Reichspostministerium, eine „Denkschrift über den Rundfunk" (Autor: Ministerialrat Erich Scholz) vor. Sie stellt eine Geschichte über die Entwicklung und den Stand der Organisation des Rundfunks in Deutschland dar; ihr Hauptziel ist die Durchsetzung des Anspruchs auf zentrale Überwachung und Kontrolle des Rundfunks durch den Staat. Die Diskussion darüber wird vor allem zwischen den beiden Ministerien und den Ländern geführt. Diese berufen sich in ihrem Kontrollanspruch auf ihre in der Verfassung verbriefte Kulturhoheit, während die Ministerien sich auf die staatliche Funkhoheit berufen. Auch die Frage eines Finanzausgleichs zwischen den regionalen Sendegesellschaften spielt (schon) damals eine Rolle in den Auseinandersetzungen.
1926
7. Januar: Die .Deutsche Welle' nimmt über den Sender Königs Wusterhausen bei Berlin ihren Programmbetrieb auf. 4. März: Rückwirkend zum 1. März erteilt das Reichspostministerium den regionalen Sendegesellschaften, fast zwei Jahre nach Sendebeginn, die Sendegenehmigung. 1. Juni: Hans Bredow, Staatssekretär im Reichspostministerium, wird ,Rundfünkkommissar des Reichspostministers' und zugleich Vorsitzender des Verwaltungsrats der ,Reichs-Rundfunk-Gesellschaft' (RRG). Seine weitgehenden Vollmachten sichern der Regierung die Kontrollfünktionen über den Rundfunk. 24. Juli: Der Reichsminister des Inneren bestimmt die DRADAG (.Drahtloser Dienst AG') zur zentralen Nachrichtenstelle; sie erhält das Monopol auf alle politischen Nachrichten, die von den regionalen Sendern übernommen werden müssen; diese dürfen lediglich ,unpolitische' Meldungen in eigener Verantwortung senden. Zur Vor- und Nachzensur der politischen Programminhalte werden bei den regionalen Sendegesellschaften Überwachungsausschüsse (je ein
Daten zur Geschichte des Rundfunks
Vertreter des Reichsministeriums des Inneren und zwei des Landes) eingesetzt; die Beratung und Überwachung von Kultursendungen (Kunst, Wissenschaft und Volksbildung) obliegt entsprechend zu bildenden Kulturbeiräten, in denen die Länder über die Mehrheit verfugen. Reich und Ländern wird das Recht eingeräumt, in den zuständigen Regionalsendern amtliche Mitteilungen der Regierung zu senden - und eben das sollte ab 1932 Folgen haben. Im Ergebnis kommen 1927 nach Einrichtung aller Kontroll- und Beratungsgremien auf die im Rundfunk fest angestellten etwa 700 Mitarbeiter rund 220 Aufsichts- und Kulturbeiräte.75 17. August: Durch Verfugung Nr. 393 der Reichspost im Amtsblatt des Reichspostministeriums wird „... die bisherige Bezeichnung .Unterhaltungsrundfunk' ... durch die Bezeichnung .Rundfunk' ersetzt". 76 15. November: Der erste .Genfer Wellenplan' des Weltrundfunkvereins für Mittel- und Langwellensender tritt in Kraft. 7. Dezember: Der Reichstag erhält die in seiner Entschließung vom 22. Januar 1926 geforderten „Richtlinien über die Regelung des Rundfunks" durch die Drucksache 2776 zur Kenntnis - nach der bereits weitgehend vollzogenen Neuordnung des Rundfunks. Diese erste umfassende Rundfunkordnung, mehr als drei Jahre nach Beginn des Programmdienstes, unterwirft das neue Medium der staatlichen Verwaltung. Dabei geht es im Kern um die Frage, ob Reich oder Länder die Kontrolle über den Rundfunk ausüben sollen. In zweiter Linie aber auch um die Kompetenzverteilung zwischen Reichspost und Reichsinnenministerium. Gestützt auf seine staatliche Funkhoheit, hat das Reichspostministerium Gesetzgebung, Genehmigungskompetenz, Gebührenerhebung sowie Errichtung, Betrieb der Sendeanlagen und indirekt die Wirtschaftsführung in die Hand bekommen. Das Reichsinnenministerium muss in seinem Bestreben nach politischer Kontrolle des Rundfunks größere Kompromisse insbesondere gegenüber den Ländern eingehen, was bei der Zweiten Rundfunkordnung im Jahr 1932 nicht vergessen ist. Es hat durch seine Vertreter in den Uberwachungsausschüssen die Kontrolle über die politischen Inhalte der Programme erreicht und Einfluss auf die personelle Besetzung der Fuhrungspositionen in der DRADAG und R R G erlangt. Die Länder haben u. a. über die Beteiligung an den entsprechenden Kulturbeiräten ihre Interessen gesichert. Diese Erste Rundfünkordnung legt den Grundstein dafür, dass der Rundfunk in Deutschland 1932 zum Staatsorgan mit verordneten Sendungen und ab 1933 zu einem ideologischen Kampfinstrument der Nationalsozialisten degenerierte. 1927
Der erste öffentliche Bildtelegraph zwischen Berlin und Wien wird in Betrieb genommen. Rundfunkgeräte mit elektrischem Netzanschluss ersetzen die Batterieempfanger.
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Weimarer Republik · 1923-1933
20. Dezember: In Königs Wusterhausen bei Berlin wird von der Reichspost der mit 30 kW Sendeleistung stärkste Sender Europas in Betrieb genommen.
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1928
Während der 5. Deutschen Funkausstellung in Berlin werden die ersten Fernsehversuchssendungen vorgeführt. Eine Funksprechverbindung zwischen Berlin und Buenos Aires wird eingerichtet. Rundfunkempfänger werden mit Leistungsendröhren ausgestattet. Erfindung des Fernschreibers.
1929
Anfang des Jahres sind in Deutschland 27 Haupt- und Nebensender mit 17 Studios ,auf Sendung'. Der Tonfilm setzt sich allgemein durch. Erster deutschsprachiger Tonfilm in den USA gedreht: „Die Königsloge" mit Alexander Moissi und C. Horn. Erster vollständig in Deutschland hergestellter Tonfilm: „Melodie des Herzens" mit Willy Fritsch. 8. März: Die erste drahtlose Fernsehsendung wird von der Reichspost vorgeführt.
1930
1. Juli: Die ,Reichs-Rundfunk-Gesellschaft' (RRG) richtet im Rahmen der Vereinbarungen der Rundfiinkordnung von 1926 eine eigene .Zentralstelle für Schulfunk' ein, ungeachtet der Verfassungsbestimmung, nach der die Kulturhoheit der Länder garantiert ist. 21. November: Der Sender Mühlacker bei Stuttgart nimmt mit 60 kW Sendeleistung als deutscher Großsender seinen Betrieb auf.
1931
Die Reichsregierung Heinrich Brüning beschließt, die Notverordnungen des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg ab sofort nicht mehr im Reichsgesetzblatt, sondern im Rundfunk zu veröffentlichen.
1932
10. März: Erich Scholz wird Ministerialrat im Reichsinnenministerium; er tritt im Juni von der DNVP Alfred Hugenbergs zur NSDAP über, legt dem Reichsinnenminister Überlegungen zur Reform des Rundfunks vor: Ziel ist die Durchsetzung eines in der Rundfiinkordnung vonl926 nicht erreichten stärkeren Einfluss des Reichsinnenministeriums auf den gesamten Rundfunk. 11. Juni: Erlass des Reichsinnenministers zur Einrichtung einer (halben) .Stunde der Reichsregierung' im Berliner ,Deutschlandsender', bisher .Deutsche Welle'; täglich (anfangs) zwischen 18.30 und 19.30 Uhr, also zur besten Abend-Sendezeit fur die Mitglieder der Reichsregierung von Papen. Diese Sendung muss von allen regionalen Sendern im Reich übernommen werden. So spricht Reichskanzler von Papen während der gut sechsmonatigen Regierungszeit seines .Kabinetts der nationalen Konzentration' allein achtzehn Mal über alle Sender in Deutschland - aber nicht einmal vor dem Reichstag. 77
Daten zur Geschichte des Rundfunks
Damit soll die Öffentlichkeit über die Tätigkeit in den Ministerien informiert werden und in den Genuss aller öffentlichen Ministerreden kommen (eine Idee, die, so wird vermutet, zu den Plänen des Rundfunkreferenten Scholz gehörte). 78 14. Juni: Erstmals erhält die NSDAP die Genehmigung des Reichskabinetts, zur Reichstagswahl am 31. Juli sich im Rundfunk mit eigenen Beiträgen vorzustellen. (Am 14. Juli spricht Reichsorganisationsleiter Gregor Strasser und am 18. Juli hat Joseph Goebbels seinen ersten Auftritt im Rundfunk.) 6. Juli: Das Reichsinnenministerium berät einen von Scholz entworfenen ersten Planentwurf zur weiteren Reorganisation des Rundfunks. 29. Juli: Scholz gibt am Abend im Rahmen der .Stunde der Reichsregierung' die am 27. Juli verabschiedeten Beschlüsse über die Reform der Rundfunkordnung über alle angeschlossenen Sender des Reiches bekannt. Die „Leitsätze fur die Neuregelung des Rundfunks" verfolgten drei Hauptziele zur Schaffung eines staatsautoritären Rundfunks in Deutschland: - staatliche Aufsicht - Zentralisierung - Programmkontrolle. Im Einzelnen sehen sie unter anderem vor: - Der Rundfunk ist Eigentum des Reiches (51 Prozent GmbH .-Anteile) und der Länder (49 Prozent Anteile), ohne Beteiligung von Privatkapital. - „Richtlinien fur die Sendungen des deutschen Rundfunks" werden vom Reichsrat erlassen.79 - Die ,Reichs-Rundfunk-Gesellschaft' (RRG) ist die zentrale Organisation aller Rundfunkgesellschaften, 51 Prozent ihrer Geschäftsanteile hält die Reichspost, 49 Prozent die sechs Rundfunk-Länder Bayern, Baden, Hamburg, Preußen, Sachsen und Württemberg. - Dem Rundfunkkommissar der Reichspost, zuständig fur Technik, Organisation und Wirtschaft, wird ein Rundfunkkommissar des Reichsinnenministers an die Seite gestellt, zuständig fiir alle Fragen des Programms. - Die R R G erhält mit dem ,Deutschlandsender' einen eigenen, selbstständigen Sender. - Die DRADAG als zentrale Nachrichtenstelle wird aufgelöst, die R R G erhält eine eigene Nachrichtenabteilung. - Im Übrigen wird die Besetzung der Uberwachungs- und Beratungsgremien in allen Sendern zwischen Reich und Ländern bzw. ihren jeweiligen Staatskommissaren in den Gremien geregelt, so dass auch hier die staatsautoritäre Kontrolle gesichert ist.80 - Die Idee eines staatsfreien Rundfunks ist vorerst, bis zum Jahr 1945 gescheitert. Die Verbeamtung des Rundfunks in Deutschland aber ist erreicht. Diese Rundfiinkordnung wird ohne Beteiligung des Rundfunkkommissars des Reichspostministers Hans Bredow und ohne die zuständigen
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Weimarer Republik · 1923-1933
Intendanten beschlossen. Gleichwohl stimmt Bredow dieser Neuordnung und seiner de facto-Entmachtung schon vor ihrer Verabschiedung öffentlich zu.81 10. August: Ministerialrat Scholz wird zum neuen Rundfünkkommissar des Reichsministers des Inneren ernannt. Damit hat die einsetzende Säuberung und Gleichschaltung des Rundfunks einen Namen bekommen. 13. August: Hans Flesch, Intendant der ,Berliner-Funkstunde' und der wohl begabteste Programm-Pionier des Rundfunks in Deutschland, wird von Scholz „aus kulturpolitischen Erwägungen" zum Rücktritt gezwungen. Die Entlassungen aus politischen und offen als rassistisch benannten Gründen sollten nun für viele Monate bei sämtlichen Rundfiinkgesellschaften nicht mehr aufhören. Ohne Unterbrechung, über den 30. Januar 1933 hinaus, wird nun „mit dem eisernen Besen gekehrt" und dabei auch manche alte personalpolitische „Rechnung bezahlt". An die Stelle der Entlassenen treten zunächst vorwiegend deutschnational Gesinnte wie Dr. Kurt Stapelfeldt, bisher kaufmännischer Vorstand der Hamburger NORAG, der nun zuständig wird für den Aufbau der zentralen Programmabteilung bei der R R G in Berlin und NS-Parteifreunde wie Walter Beumelburg, der in der R R G eine neue Nachrichtenabteilung anstelle der liquidierten DRADAG einrichtet. 19. August: Eröffnung der 9. Deutschen Funkausstellung in Berlin. 21. August: Erste Ernennungen von Staatskommissaren bei den regionalen Rundfunkgesellschaften. 18. November: Erlass der „Richtlinien zur Programmgestaltung des Rundfunks". Damit sind die Grundlagen für eine nationalsozialistische Rundfünkpolitik gelegt, wie sie ab dem 11. März 1933 dann systematisch entwickelt wird. Wie auch auf vielen anderen Gebieten hat sich die Partei Hitlers der Ideen und geistigen Grundlagen ihrer Vorgänger bedient, indem sie diese geschickt, mit großem Aufwand und wenig Zutun als ihre eigenen ausgibt. 22. November: Erich Scholz, Rundfunk-Kommissar des Reichsinnenministeriums, von vielen Seiten heftig wegen Uberforderung kritisiert, tritt zurück.
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Werner Held, Aufmarsch der Nullen
2. Kapitel DRITTES REICH · 1933-1945
Er klage das .System Bredow' vor dem deutschen Volke an, schrieb 1933 Eugen Hadamovsky in der Zeitschrift ,NS-Funk'; es sei schuld an der politischen Verlotterung, der Pfründenwirtschaft, der jüdischen Versippung, der Profitjägerei, der Dividendengesinnung, der Sabotage an der nationalsozialistischen Erhebung - insgesamt am Kulturbolschewismus. Wahrer Rundfunk jedoch sei Propaganda im Dienste des Volkes; Inbegriff des Wortes Propaganda. Solche Formulierungen enthielten im Kern eigentlich alles, was nun in den nächsten zwölf Jahren Politik und Programm des Rundfunks bestimmte; hier benannt von einer Person, die im Auftrag der nationalsozialistischen Führung, im Besonderen von Joseph Goebbels, die Zerstörung eines ursprünglich als Ausdruck menschlicher Freiheit gedachten Mediums betrieb; es sollte nun als wichtigstes Instrument des totalitären Staates der weltanschaulichen Indoktrination dienen. Der 1904 geborene Hadamovsky, schon als Oberrealschüler Mitglied der illegalen .Schwarzen Reichswehr', war nach seinem Eintritt in die NSDAP 1931 von Goebbels, damals NS-Gauleiter von Berlin-Brandenburg, zum Berliner Gaufunkwart ernannt worden; im Juli 1933 wurde er mit 29 Jahren Reichssendeleiter und Direktor der ,Reichs-RundfunkGesellschaft'. Er war innerhalb der nationalsozialistischen Propagandamaschinerie ein zynischer Karrierist von geradezu erbärmlichem Charakter, der nach der Gleichschaltung des Rundfunks rücksichtslos alle politisch und .rassisch' unerwünschten Mitarbeiter entfernte. Seine fachliche Kompetenz galt als gering; selbst von seinem Vorgesetzten immer wieder bloßgestellt, konnte er sich dennoch bis 1942 in wichtigen Funktionen halten, nicht zuletzt deshalb, weil Adolf Hitler von ihm große Stücke hielt. Er fiel 1944 als Panzeroffizier.1
Verführung durch Propaganda
In der Debatte zum „Ermächtigungsgesetz", das am 23. März 1933 gegen die Stimmen der Sozialdemokraten verabschiedet wurde - es gab der
Drittes Reich · 1933-1945
Regierung die Möglichkeit, Verordnungen mit Gesetzeskraft ohne Beteiligung des Parlaments zu erlassen -, hatte Hitler damit gedroht, dass nun die „weltbürgerliche Beschaulichkeit" im raschen Entschwinden begriffen sei. „Der Heroismus erhebt sich leidenschaftlich als kommender Gestalter und Führer politischer Schicksale. Es ist Aufgabe der Kunst, Ausdruck dieses bestimmenden Zeitgeistes zu sein. Blut und Rasse werden wieder zur Quelle der künstlerischen Intuition werden."2 Die nationalsozialistische Weltanschauung, wie sie in ungezählten Publikationen und Reden, zumindest seit der Endphase der Weimarer Republik, deutlich zutage trat, instrumentalisierte Kultur, und hier besonders die Kunst, für die Ziele der Partei. Das bedeutete, dass sie in wahnhafter rassistischer Ausrichtung den Arier als alleinigen Kulturschöpfer herausstellte und den Juden als Vernichter aller Kultur denunzierte. Was von nationalsozialistischer Kulturpolitik zu erwarten war, hatte man bereits aus Hitlers Buch „Mein Kampf" (1925 f.) in unverblümter Offenheit und erschreckender Primitivität erkennen können. „Alles, was wir heute auf dieser Erde bewundern - Wissenschaft und Kunst, Technik und Erfindungen - ist nur das schöpferische Produkt weniger Völker und vielleicht ursprünglich einer Rasse. Von ihnen hängt auch der Bestand dieser ganzen Kultur ab. Gehen sie zugrunde, so sinkt mit ihnen die Schönheit dieser Erde ins Grab ... Was wir heute an menschlicher Kultur, an Ergebnissen von Kunst, Wissenschaft und Technik vor uns sehen, ist nahezu ausschließlich schöpferisches Produkt des Ariers. Gerade diese Tatsache läßt den nicht unbegründeten Rückschluß zu, daß er allein der Begründer höheren Menschentums überhaupt war, mithin den Urtyp dessen darstellt, was wir unter dem Wort .Mensch' verstehen ... Solange er den Herrenstandpunkt rücksichtslos aufrechterhielt, blieb er nicht nur wirklich der Herr, sondern auch der Erhalter und Vermehrer der Kultur. ... Hier freilich kommt der echt judenhaft freche, aber ebenso dumme Einwand des modernen Pazifisten: ,Der Mensch überwindet eben die Natur!'... Mit der Zertrümmerung der Persönlichkeit und der Rasse fallt das wesentliche Hindernis für die Herrschaft des Minderwertigen - dieser aber ist der Jude ... Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn." 3 Die Propaganda, der nun im Staatsapparat höchste Bedeutung zukam, hatte die Massen für solche wahnhaft-verbrecherischen Ideen zu mobilisieren; Vernunft, Persönlichkeit und Individualität waren auszuschalten, die Menschen als Reflexbündel vom Instinkt her zu lenken. Hitler nennt das Volk „Stimmvieh". Wo ICH war, sollte ES werden. Die 70
Verführung durch Propaganda
NS-Propaganda glaubte sich am Schaltbrett der menschlichen Seele; sie laborierte mit den Gefühlen des Volkes, setzte sie in Rage und schürte den Hass, da gerade Hassgefiihle am besten geeignet schienen, die Menschen in ein Kollektiv umzuformen. „Wenn wir die Partei in Takt halten wollen, dann müssen wir jetzt wieder an die primitivsten Masseninstinkte appellieren", notierte Goebbels am 4.9.1932 in seinem Tagebuch. 4 Für Hitler bestand die wirkungsvollste Propaganda darin, dass man sich auf wenige Punkte beschränke und diese unentwegt einhämmere. Der Wille und die Kraft, auch die Hysterie des Propagandisten bestimmten den Elan der Masse. In „Mein Kampf" heißt es: „Gleich dem Weibe, dessen seelisches Empfinden weniger durch Gründe abstrakter Vernunft bestimmt wird, als durch solche einer undefinierbaren, gefühlsmäßigen Sehnsucht nach ergänzender Kraft, und das sich deshalb lieber dem Starken beugt als den Schwächling beherrscht, liebt auch die Masse mehr den Herrscher als den Bittenden und fühlt sich im Inneren mehr befriedigt durch eine Lehre, die keine andere neben sich duldet, als durch die Genehmigung liberaler Freiheit; sie weiß mit ihr meist auch nur wenig anzufangen und fühlt sich sogar leicht verlassen. ... Die Aufnahmefähigkeit der großen Masse ist nur sehr beschränkt, das Verständnis klein, dafür jedoch die Vergeßlichkeit groß. Aus diesen Tatsachen heraus hat sich jede wirkungsvolle Propaganda auf nur sehr wenige Punkte zu beschränken und diese schlagwortartig so lange zu verwerten, bis auch bestimmt der Letzte unter einem solchen Wort das Gewollte sich vorzustellen vermag... Sowie durch die eigene Propaganda erst einmal nur der Schimmer eines Rechtes auch auf der anderen Seite zugegeben wird, ist der Grund zum Zweifel an dem eigenen Rechte schon gelegt. Die Masse ist nicht in der Lage, nun zu unterscheiden, wo das fremde Unrecht endet und das eigene beginnt... Wer die breite Masse gewinnen will, muß den Schlüssel kennen, der das Tor zu ihrem Herzen öffnet. Er heißt nicht Objektivität, also Schwäche, sondern Wille und Kraft ...Je bescheidener dann ihr wissenschaftlicher Ballast ist und je mehr sie ausschließlich auf das Fühlen der Masse Rücksicht nimmt, um so durchschlagender der Erfolg. Dieser aber ist der beste Beweis für die Richtigkeit oder Unrichtigkeit einer Propaganda und nicht die gelungene Befriedigung einiger Gelehrter oder ästhetischer Jünglinge ... Jede Propaganda hat volkstümlich zu sein und ihr geistiges Niveau einzustellen nach der Aufnahmefähigkeit des Beschränktesten unter denen, an die sie sich zu richten gedenkt. Damit wird ihre rein geistige Höhe um so tiefer zu stellen sein, je größer die zu erfassende Masse der Menschen sein soll... "5 71
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Wo man Bücher verbrennt... 10. Mai 1933
Wie der ,neue Staat' Kulturpolitik konkret gestalten würde, konnte man sehr bald und zwar hautnah erleben: Am 10. Mai 1933 loderten in fast allen Universitäts-Städten Scheiterhaufen, auf denen man die Werke unliebsamer Autoren verbrannte. In seinem Epos „Almansor" hatte Heinrich Heine 1821 die prophetischen Verse geschrieben: „Das war ein Vorspiel nur, dort, wo man Bücher / verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen." Initiiert waren die Aktionen von Joseph Goebbels; sie fanden bei der weitgehend dem nationalsozialistischen Ungeist verfallenen Studentenschaft große Resonanz; diese organisierte und bejubelte die von den fanatischen Reden führender deutscher Professoren (wie Hans Neumann, Alfred Bäumler, Gerhard Fricke) begleiteten Autodafés. Die .Feuersprüche' machten deutlich, was in Zukunft als .deutscher Geist' und was als .Ungeist' zu gelten hatte: „Gegen Klassenkampf und Materialismus, für Volksgemeinschaft und idealistische Lebenshaltung! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Marx und Kautsky. Gegen Dekadenz und moralischen Verfall! Für Zucht und Sitte in Familie und Staat! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Heinrich Mann, Ernst Glaeser und Erich Kästner. Gegen Gesinnungslumperei und politischen Verrat, für Hingabe an Volk und Staat! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Friedrich Wilhelm Förster. Gegen seelenzerfasernde Uberschätzung des Trieblebens, für den Adel der menschlichen Seele! Ich übergebe der Flamme die Schriften des Sigmund Freud. Gegen Verfälschung unserer Geschichte und Herabwürdigung ihrer großen Gestalten, fur Ehrfurcht vor unserer Vergangenheit! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Emil Ludwig und Werner Hegemann. Gegen volksfremden Journalismus demokratisch-jüdischer Prägung, für verantwortungsbewußte Mitarbeit am Werk des nationalen Aufbaus! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Theodor Wolff und Georg Bernhard. Gegen literarischen Verrat am Soldaten des Weltkrieges, für Erziehung des Volkes im Geist der Wehrhaftigkeit! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Erich Maria Remarque. Gegen dünkelhafte Verhunzung der deutschen Sprache, für Pflege des kostbarsten Gutes unseres Volkes! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Alfred Kerr. 72
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Gegen Frechheit und Anmaßung, fur Achtung und Ehrfurcht vor dem unsterblichen deutschen Volksgeist! Verschlinge, Flamme, auch die Schriften der Tucholsky und Ossietzky!"6 Niemals, so kommentierte Goebbels die Ausschreitungen, sei eine junge studentische Jugend so berechtigt wie diese, stolz auf das Leben, stolz auf die Aufgabe und stolz auf die Pflicht zu sein. „Und niemals hatten junge Männer so wie jetzt das Recht, mit Ulrich von Hutten auszurufen: O Jahrhundert! O Wissenschaften! Es ist eine Lust zu leben!... Das Alte liegt in den Flammen, das Neue wird aus der Flamme unseres eigenen Herzens wieder emporsteigen! Wo wir zusammenstehen und wo wir zusammengehen, da fühlen wir uns dem Reich und seiner Zukunft verpflichtet.... Das Reich und die Nation und unser Führer Adolf Hitler - Heil! Heil! Heil!"7 Die Durchführung des kulturpolitischen Staatsterrors oblag dem Propagandaministerium. Auf Anregung von Goebbels hatte Hitler im August 1932 den Vorschlag, ein Ministerium für .Propaganda, Volkserziehung und öffentliche Meinungsbeeinflussung' zu schaffen, in die Verhandlungen um seine Regierungsbeteiligung eingebracht. Schon kurz nach seiner Wahl zum Reichkanzler am 5. März wurde die Errichtung eines .Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda' im Kabinett beschlossen, am 12. März 1933 vom Reichspräsidenten Paul von Hindenburg der Gründungserlass unterzeichnet und am 13. März in Kraft gesetzt. Einen Tag später erfolgte die Vereidigung von Goebbels als neuem .Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda'. Offiziell wurde als Zweck des Ministeriums die Aufklärung der Bevölkerung „über die Politik der Reichsregierung und den nationalen Wiederaufbau des deutschen Vaterlandes" angegeben; in Wirklichkeit handelte es sich um eine zentrale Stelle zur Lenkung der öffentlichen Meinung auf der Basis von Zensur und Unterdrückung, ganz wesentlich mitfinanziert durch die Gebühren der Rundfunkteilnehmer.
Das Versagen der Eliten
Der .nationale Aufbruch' von 1933 war als Zerstörung des deutschen Geistes Höhepunkt einer Entwicklung, in deren Verlauf große kulturelle Leistungen zu abgründiger Spießerideologie verfälscht wurden.8 Der Erfolg der .Kulturrevolution' 1933 unter Anleitung .niederer Dämonen' hatte eine lange Entstehungsgeschichte, die Franz Grillparzer bereits 1848 in einem Aphorismus voraus sah: In Deutschland werde der Weg der neueren Bildung von der Humanität über die Nationalität zur Bestia73
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lität fuhren. Und nach dem deutschen Sieg über Frankreich 1870/71, der als Sieg deutscher Kultur über die .welsche' Zivilisation gefeiert wurde, sprach Friedrich Nietzsche von der Exstirpation des deutschen Geistes zugunsten des deutschen Reiches.9 Lange vor dem Dritten Reich, so der Historiker Hans Mommsen, „hatte sich die Abschnürung Deutschlands von den politischen Traditionen des Westens vollzogen und war die Flucht in die .deutsche Innerlichkeit' mit einer tiefgreifenden Desorientierung im politischen Raum erkauft worden".10 Soziale Berührungsängste hätten zwar verhindert, dass sich konservative Kreise vor der nationalsozialistischen Machteroberung in den Dienst der NSDAP stellten, die man als eine noch unvollkommene, von den Parteischlacken nicht hinreichend befreite deutsche Erneuerungsbewegung begriff. „Nach dem 30. Januar entfielen diese Bedenken weithin; die Bereitschaft zur Anpassung und Selbstgleichschaltung wie zur Billigung rassenantisemitischer Maßnahmen war eine allgemeine Erscheinung. Entschlossener und beherzter Widerstand blieb, von wenigen Ausnahmen abgesehen, fast vollständig aus."11 Selbst die Juden, die als Sündenböcke antimodernistischer Ressentiments herhalten mussten, waren als wichtiger und wirtschaftlich einflussreicher Teil des deutschen Bürgertums in erheblichem Maße von nationalem (nationalistischem) Enthusiasmus bewegt. Nach der Verfassung des Zweiten deutschen Reiches von 1871 waren sie zwar gleichberechtigte Staatsbürger geworden; doch blieben ihnen die Offiziersränge der preußischen Armee ebenso verschlossen wie Regierungsämter und die meisten akademischen Positionen. Das berühmte Versprechen des Kaisers im Jahr 1914, von nun an kenne er keine Klassen, Parteien und Religionen mehr, war von der jüdischen Bevölkerung begeistert begrüßt, aber weder im Krieg noch im nachfolgenden Frieden erfüllt worden. Solche Desillusionierung führte zwar zu einer jüdischen kulturellen Renaissance, geprägt von Männern wie Leo Baeck, Martin Buber, Franz Rosenzweig, doch konnte die Wiederaneignung jüdischen Wissens sowie das Ringen um religiöse Authentizität und Identität keine politische Wirkung ausüben, da die immer mehr an Einfluss gewinnende .konservative Revolution' jede Toleranz und jedes Verständnis fur die Artikulationen jüdischer Religion und Kultur vermissen ließ.12 Die Mehrzahl der Universitätsprofessoren, Lehrer, Juristen, Offiziere, Beamten, auch protestantische Theologen widersetzten sich dem in der Weimarer Verfassung postulierten Pluralismus der Werte, den sie als Werterelativismus denunzierten. Die .Spitzen und Stützen' der Gesellschaft sehnten sich nach einem .sinnstiftendem Ganzen', das sie in der nationa74
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len Gemeinschaft sahen. Die Karriere des Staatsrechtlers Carl Schmitt in den zwanziger Jahren (später der fuhrende Rechtstheoretiker des NS-Staates) gründete auf seiner Ablehnung der Weimarer Verfassung; sie habe den Staat geschwächt und sich an einen Liberalismus geklammert, der außer Stande sei, die Probleme einer modernen Massendemokratie zu lösen. Die parlamentarische Demokratie erweise sich als eine „veraltete bürgerliche Regelungsmethode". Der Kulturpessimismus der Rechtsintellektuellen denunzierte zudem Liberalismus als Libertinage. „Wohin ein deutscher Patriot auch blickte, er fand wenig, was ihn hätte trösten können; die nationalen Werte wurden ungeniert untergraben und ins Lächerliche gezogen, der Buchmarkt war von pazifistischen Romanen überschwemmt, die männlichen Tugenden wurden in den Schmutz gezogen; im Theater wurden Inzest, Päderastie oder zumindest eheliche Untreue verherrlicht. Berlin hatte von Paris den Ruf einer Weltmetropole der Laszivität und Obszönität übernommen. Illustrierte und Magazine zeigten nackte Tänzerinnen und internationale Gangster, häufig beide auf einem Bild; das Kino verdarb die junge Generation mit der Verherrlichung von Sadismus und Vergewaltigung, der Prostituierten und deren Zuhältern als Haupthelden. Es schien, als sei nur noch das Kriminelle, Häßliche, das Blasphemische von Interesse fiir die moderne Kunst. Alles übrige stand auf niedriger Kulturstufe und tat es bestenfalls fur den geistigen Normalverbraucher und als Unterhaltung für den Spießer. Uber ganz Deutschland hinweg führten die Literaten das große Wort, Feinde der Ordnung, Profitmacher des Chaos. Wie Tuberkelbazillen infizierten sie alle schwachen Zellen des Gesamtkomplexes Gesellschaft. Selbst halt- und wurzellos, richteten sie ihre heftigen Angriffe gegen jegliche Manifestation eines gesunden Patriotismus. Sie waren schamlos und maßlos, sie waren die Apostel der Sensationsgier, sie suchten ständig nach neuen Trends, neuen Denk- und Lebensformen, mochten diese noch so wertlos sein. Ihr Würgegriff mußte gelöst werden, um eine kulturelle Gesundung zu ermöglichen."13 Die nationalsozialistische Propaganda übernahm eine solche Brandmarkung der Weimarer Kultur fast unverändert; mit deren Hilfe liquidierte sie die Freiheit der Künste. Die diffamierten Linksintellektuellen wiederum hatten meist keine, ihnen Halt und Kraft verleihende politische Heimat (mit Ausnahme der kommunistisch orientierten); sie waren von der Republik nicht begeistert: „man dient der Republik, aber man liebt sie nicht", meinte der Historiker Hans Dellbrück; es fehlte ihnen jeder Verfassungspatriotismus.14 Als das Dritte Reich angebrochen war, zeigte sich allerdings, dass manche der konservativen und rechts orientierten Intel75
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lektuellen sich in die innere Emigration zurückzogen, oder, wie Ernst Jünger, in die Armee emigrierten, da sie die barbarische Verhaltens- und Handlungsweise der Nationalsozialisten ablehnten.
Der Triumph des Volksgenossen
Der .Resonanzboden' der nationalsozialistischen Propaganda war der .Volksgenosse' bzw. die ,Volksgenossin'; (.Volksgenossen und Volksgenossinnen' war die beliebteste Anrede, mit der sich die NS-Führer an die Geführten wandten). Das „Deutschland erwache!" von 1933, als nationale Morgendämmerung enthusiastisch gefeiert - in Wirklichkeit eine „Regression des Menschlichen, ein Kulturschwund der unheimlichsten Art" (Thomas Mann) -, war Folge einer langen Nacht der Aufklärung. Die trübe Suada von Hitlers Buch „Mein Kampf" enthielt bereits all das, was des .Spießers Wunderhorn' (die Pandorabüchse kleinbürgerlicher Traktätchenverfasser) seit langem bereit hielt; Barbarei und ein verlogenes, die Quellen verfälschendes Kulturbewusstsein gingen eine gefahrliche Verbindung ein; es erfolgte die .Asthetisierung der Barbarei' (auch .Barbarisierung der Ästhetik') - mit der Absicht, durch den Kult entleerter .Schönheit' den Blick auf das wahre Wesen des Nationalsozialismus zu verstellen. Die Abdeckung von Gewalt durch .schönen Schein' war insofern im 19. Jahrhundert vorbereitet worden, als die fur ganzheitliche Ästhetik charakteristische ,Schöngutheit' veroberflächlicht und ihres humanen Kerns beraubt wurde; es blieben ,Kulturhülsen', in deren Wert-Vakua die Bösartigkeit sich fest einnisten konnte. Der im NS-Staat vorherrschende Kleinbürger - mit einer Genealogie von über einem Jahrhundert - hatte kein Kulturbewusstsein; aber er fühlte sich als der eigentliche Kulturträger der Nation. Krieg und Kunst, Gemeinheit und Schönheit wurden zu auswechselbaren Begriffen. Geschichte, Kultur, Kunst, Moral, alles, was den .höheren Menschen' ausmacht, wurde dazu verwendet, den .unteren Menschen', den Un-Menschen, zu kaschieren. Auf der einen Seite war das Dritte Reich ein Reich der „niederen Dämonen" (Ernst Niekisch); die niedrigsten menschlichen Existenzen gelangten an die Spitze; sie waren der Tross, der Hitler angemessen war. „Der Polizeiagent, der Falschspieler, der Lügner, der Defraudant, der Hochstapler, der Geldschrankknacker, der schwere Junge, der Ordensschwindler, der Abenteurer, der Quacksalber, der Sektierer, der kitschige Gemütsathlet, der Schauspieler, der Schwätzer, der Folterknecht, der Bauchaufschlitzer: das ist die Personage des Dritten Reiches, die die bür76
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gerliche Gesellschaft aus ihren dunkelsten Löchern zur Hilfe gerufen hat; das ist die Menagerie wilder Tiere, denen sie die antifaschistischen Glaubenszeugen zum Fräße vorwirft."15 Auf der anderen Seite verstanden es die nationalsozialistischen Führer und Verfuhrer, ihren Mitläufern, Jüngern und Mittätern das neue Reich als einen Kulturtempel zu präsentieren und zu suggerieren, in dem die heiligsten und reinsten, die schönsten und erhabensten, die patriotischsten und opferwilligsten Gedanken und Gefühle ihre Heimstatt hatten - was einen ungeheueren wie ungeheuerlichen Identitätsschub bewirkte. Solche Doppelgesichtigkeit war keineswegs Heuchelei im üblichen Sinne: Die Fassade war bereits die Substanz, die Verpackung die Botschaft. Die Schizophrenie wird nicht als eine solche empfunden; das gespaltene Wesen ist das Wesen des Kleinbürgers schlechthin. Man verehrte Goethe, aber er erinnerte an den Soldatenkönig. Man bewunderte das Schöne, aber es war nur muskulöse Nacktheit; man trat fur Sauberkeit ein, hatte aber eine .schmutzige' Seele; man sprach hohe Worte, doch es waren hohle Worte; man strebte nach Idealen, die sich als Idole erwiesen; man pflegte Innerlichkeit - in der Gartenlaube. Die Lieder, die man sang, waren Kitsch. Das Gemüt im Heim lag auf Plüsch. An die Stelle des Logos trat der Mythos. Wirres Geraune wurde zum Religionsersatz. Im Glauben an das Hohe fiel man tief. Brutalität, zunächst rhetorisch propagiert, wurde schließlich praktiziert. Der Intellektuelle geriet zum Antisymbol. Der Volksgenosse als Kleinbürger war asozial, der Mitmensch lediglich Menschenmaterial - verwertbarer Gegenstand. Der Intimbereich des Spießers offenbarte eine heillose innere Leere; das ,Mädel' wurde zum Geschlechtstier, die deutsche Frau zur Gebärmaschine abgewertet; über der Familie thronte der Mann als Patriarch. Minderwertigkeitsgefühle schlugen in bramarbasierende Biermystik um; die Romantik der Horde entlastete von gesellschaftlicher und politischer Verantwortung. Die Triebe wurden nicht absorbiert, geschweige denn sublimiert - sie wucherten zunächst im Verborgenen und traten dann, zum Beispiel als Antisemitismus, aggressiv nach außen. Die Wollust der Grausamkeit galt als nationaler Ehrendienst. Das deutsche Idyll erwies sich als bodenlos; der Grund der Schwermut fiel weg; nicht mehr das Erlebnis innerer und äußerer existentieller Gefährdung ließ die Sehnsucht nach Geborgenheit aufkommen; Schrebergarten-Dasein geriet zum Selbstzweck - eine unheimliche Heimeligkeit. Die Primär- wurden durch Sekundärtugenden ersetzt; die Kirchen erstarrten im .Milieu'.16 77
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Gottfried Benn, regressiven Strömungen gegenüber zunächst selbst anfällig, hat sehr bald die geist- und geschmacklose Dumpfheit der nationalsozialistischen Volksgenossenschaft erkannt: „Ein Volk in der Masse ohne bestimmte Form des Geschmacks, im ganzen unberührt von der moralischen und ästhetischen Verfeinerung benachbarter Kulturländer, philosophisch von konfuser idealistischer Begrifflichkeit, prosaistisch dumpf und unpointiert, ein Volk der Praxis mit dem - wie seine Entwicklung lehrt - alleinigen biologischen Ausweg zur Vergeistigung durch das Mittel der Romanisierung oder der Universalisierung, läßt eine antisemitische Bewegung hoch, die ihm seine niedrigsten Ideale phraseologisch verzaubert, nämlich Kleinbausiedlungen, darin subventionierten, durch Steuergesetze vergünstigten Geschlechtsverkehr; in der Küche selbstgezogenes Rapsöl, selbstbebrütete Eierkuchen, Eigengraupen; am Leibe Heimatkurkeln, Gauflanell und als Kunst und Innenleben funkisch gegrölte Sturmbannlieder."17
Der Rundfunk gehört uns und wird gereinigt Die nationalsozialistische Unkultur, aufgeladen mit rassistischen Ressentiments, die wahren Leistungen des deutschen Geistes verachtend und pervertierend, bestialische Praxis mit einer Fassade kultischer Inszenierungen verbergend, glich einem düsteren Mosaik, in dessen Gefuge Film und Rundfunk zwei zentrale Steine bilden. Auch bei diesen beiden Sparten, deren Bedeutung bei der Massenbeeinflussung die Nationalsozialisten früh erkannten, ist fur den raschen Erfolg bei Gleichschaltung und Indienstnahme die Vorgeschichte von Bedeutung. Wie in den USA war es in der deutschen Filmindustrie, vor allem seit Einfuhrung des Tonfilms, zu einem Konzentrationsprozess auf wenige große Firmen gekommen. Alfred Hugenberg (1865-1951), u. a. Vorsitzender des Direktoriums der Firma Krupp und über reichhaltige Industriegelder verfugend, war es gelungen, ein Medienimperium zu schaffen, das Film und Presse gleichermaßen umfasste. Er betätigte sich in der konservativen .Deutschnationalen Volkspartei' und bereitete als deren Vorsitzender das Zusammengehen mit der NSDAP vor, was in der .Harzburger Front' 1931 deutlich sichtbar wurde. Da er zudem die .TelegraphenUnion' (TU), die zweitgrößte Nachrichtenagentur neben dem offiziösen .Wolff's telegraphischen Büro' (WTB) finanzierte, hatten die Nationalsozialisten bei der Machtergreifung mit einem Schlag durch ihn ein wichtiges propagandistisches Instrument in die Hand bekommen - auch die 78
Der Rundfunk gehört uns
Ufa (,Universum-Film AG'), ein Unternehmen, das die wichtigsten Filmproduzenten in einem Kartell zusammenschloss. (Schwieriger war die Gleichschaltung bei den Zeitungen, da sich deren Anzahl zu Beginn des Dritten Reichs immerhin auf rund 4000 belief.) Den Rundfunk der Weimarer Republik hatten die Nationalsozialisten als ,Systemrundfunk' abgelehnt; dessen Bedeutung für Massenpropaganda hatte Hitler zunächst überhaupt nicht erkannt; nur an zwei Stellen erwähnt er ihn in „Mein Kampf". Doch hinderte dies seine Paladine in der Münchener Reichspropagandaleitung der NSDAP nicht, schon bald die unterschiedlichsten Versuche zu unternehmen, Einfluss auf den Rundfunk zu gewinnen. So drängte die Partei in bereits bestehende Rundfunkverbände, trat mit eigenen Vereinsgründungen hervor und rief verschiedene kulturelle Organisationen ins Leben, die jede für sich die rundfunkpolitische Usurpation planten. „Zur zentralen Koordination der nationalsozialistischen Rundfunkpolitik in einer Hand kam es erst in den letzten Monaten des Jahres 1932. Bis dahin verfolgten viele sich kompetent dünkende nationalsozialistische Reichsleiter, Gauleiter und Gaufunkwarte durchaus eigene Interessen. Es verwundert nicht, daß eine der frühesten Äußerungen eines Nationalsozialisten über den Rundfunk mit einem antisemitischen Ausfall verbunden war. Anläßlich der Beratungen des Postetats im Reichstag polemisierte der Abgeordnete Gregor Strasser von der erst vierzehn Mitglieder zählenden Nationalsozialistischen Freiheitsbewegung, wie sich die Partei damals noch nannte, am 29. April 1925 ,gegen die Bestrebungen..., aus dem Rundfunk ein letztes Glied der jüdischen Beeinflussungsmaschinerie zu machen'. Geradezu idyllisch mutet hingegen Joseph Goebbels' offenbar erste Begegnung mit dem Rundfunk im Dezember 1925 an, die dennoch eines gewissen Zynismus nicht entbehrte. In sein Tagebuch schrieb er zu diesem Zeitpunkt: .Radio im Hause! Der Deutsche vergisst über Radio Beruf und Vaterland! Radio! Das moderne Verspießungsmittel! Alles zu Hause! Das Ideal des Spießers!' Die propagandistischen Möglichkeiten des Rundfunks sah der damals kaum bekannte Chefredakteur eines nationalsozialistischen Provinzblättchens [wie Hitler] offenbar noch nicht. Die nationalsozialistische Reichstagsfraktion, der der spätere Propagandaminister erst seit 1928 angehörte, entfaltete eine um so größere propagandistische Aktivität. Sie zog gegen den von ihr verabscheuten Rundfunk, der sie aus Gründen verordneter politischer Enthaltsamkeit in seinem Programm nicht zu Wort kommen ließ, zu Felde."18 Bei ihrer Regierungsübernahme kam den Nationalsozialisten zugute, dass in der letzten Phase der Weimarer Republik der Rundfunk immer 79
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häufiger zur Propagierung der Reichspolitik genutzt worden war. So erhielten Verordnungen nach Artikel 48 der Verfassung gerade dadurch Gesetzeskraft, dass sie auf Beschluss der Regierung im Rundfunk verkündet wurden. Und in der regelmäßigen Sendung .Stunde der Reichsregierung' wurden, bei Bedarf auch täglich, Reden von Politikern wie Verlautbarungen zur Regierungspolitik über alle deutschen Sender verbreitet. Reichskanzler Heinrich Brüning, den die Kommunisten „Hungerkanzler" nannten, weil er in seiner Amtszeit Löhne, Gehälter und Sozialleistungen dramatisch senkte - die Zahl der Arbeitslosen stieg auf 6 Millionen -, stützte sich auf die Ausnahmegesetzgebung nach Artikel 48, was zur Aushöhlung der Verfassung auf scheinbar legalem Wege führte. Brüning war vom Reichspräsidenten Paul von Hindenburg am 30. März 1930 berufen worden - mit dem ausdrücklichen Auftrag, ohne Rücksicht auf die Mehrheitsverhältnisse im Reichstag ein ganz auf dessen Vertrauen gestütztes, rechts gerichtetes Kabinett unter Ausschaltung der Sozialdemokraten zu bilden. Er ließ schon nach vier Monaten den Reichstag auflösen; es kam zur .Katastrophenwahl· im September 1930, in der die Nationalsozialisten ihren ersten großen Wahlerfolg auf Reichsebene erzielten und so zu einem gewichtigen politischen Faktor wurden. Als Brüning den von Hindenburg geforderten strikten Rechtskurs nicht im gewünschten Maße steuerte, entließ ihn dieser im Mai 1932. Unter der nun folgenden Regierung mit dem Zentrumspolitiker Franz von Papen an der Spitze - er trat wenig später aus seiner Partei aus wurde in der Rundfiinkreform vom Juni 1932 die Zugriffsmöglichkeit der zentralen Exekutive verstärkt; sie sah eine Strafiung durch Zentralisierung der Organisation, ferner eine Übernahme der privaten Geschäftsanteile an den regionalen Sendern durch die Reichsregierung vor. Einheitliche Programmrichtlinien sollten eingeführt werden und Parteipropaganda im Rundfunk auch weiterhin verboten bleiben; auf politischen Druck hin wurde sie am 7. Juni vom Reichskabinett für alle Parteien, mit Ausnahme der Kommunisten, in Hinblick auf die bevorstehende Reichstagswahl doch zugelassen. Insgesamt hatte sich am Vorabend des Dritten Reiches eine Situation ergeben, die es den Nationalsozialisten ermöglichte, unmittelbar nach der Machtübernahme sich eines Mediums zu bemächtigen, das ihnen bis dahin weitgehend verschlossen geblieben war; davon machten sie erstmals und mit großem Aufwand im Vorfeld der Reichstagswahlen vom 5. März 1933 und unmittelbar danach Gebrauch.19 Die .Machtergreifung' im Rundfunk betrieb Goebbels rasch und mit ideologischer Konsequenz. Am 16. März wurde vom zuständigen Reichs-
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Chefpropagandist und Kulturdiktator Goebbels wurde am 29.Oktober 1897 als Sohn eines streng katholischen Buchhalters in Rheydt geboren und besuchte eine katholische Schule. Er studierte Philosophie, Literaturgeschichte sowie Germanistik in Bonn, Freiburg, Würzburg und an der Universität Heidelberg - u. a. bei Professor Friedrich Gundolf, einem als hervorragender Goethekenner berühmten jüdischen Literaturgeschichtler, der ein begeisterter Anhänger von Stefan George war. Im Ersten Weltkrieg befand man G. wegen eines verkrüppelten Fußes (vermutlich Folge einer im Kindesalter überstandenen Kinderlähmung) als nicht militärdiensttauglich. G. war sich seiner Körperbehinderung schmerzlich bewußt und voller Furcht, für einen bürgerlichen Intellektuellen gehalten zu werden. Seit er 1924 der NSDAP beigetreten war, kompensierte er die Tatsache, daß er so ganz und gar nicht dem gern gesehenen starken, gesunden, blonden, nordischen Idealtyp entsprach, durch besondere ideologische Linientreue und Radikalismus. Die antiintellektuelle Haltung des „kleinen Doktors", seine Verachtung für die Menschen im allgemeinen und für die Juden im besonderen sowie schließlich sein hemmungsloser Zynismus entsprangen wohl seinem Selbsthaß und seinem Minderwertigkeitskomplex, der ihn dazu trieb, geradezu zwanghaft alles, was anderen heilig war, zu zerschlagen und in seinen Zuhörern die gleichen Wut-, Verzweiflungs- und Haßgefühle auszulösen, die ihn selbst ständig peinigten. Zunächst fand G., der vier Jahre mit einer Halbjüdin verlobt war, für seine innere Unruhe ein Ventil in schriftstellerischer Tätigkeit und einem bohemienhaften Lebensstil. Ausdruck erhielten diese Spannungen in dem expressionistischen Roman Michael. Ein deutsches Schicksal in Tagebuchblättern (etwa 1924). Erst in der NSDAP, der er sich 1924 anschloß, fanden G.s scharfer Intellekt, seine Rednergabe, sein Hang zu theatralischen Effekten und sein ideologischer Radikalismus im Dienst seines unersättlichen Willens zur Macht das ihnen gemäße Betätigungsfeld. 1925 wurde er Geschäftsführer der Partei im Gau Rheinland-Nord, und Ende desselben Jahres war er bereits ein wichtiger Mitarbeiter Gregor Strassers, der den Sozialrevolutionären Flügel der NSDAP anführte. G. war Schriftleiter der Nationalsozialistischen Briefe und anderer Publikationen der Brüder Strasser, teilte deren proletarische, antikapitalistische Weltanschauung und forderte wie sie die Umwertung aller Werte. Seine nationalbolschewistischen Neigungen sprachen aus seiner Einschätzung Sowjetrußlands (das er sowohl für nationalistisch als auch sozialistisch hielt) als Deutschlands natürlichem Verbündeten gegen die teuflischen Versuchungen und die Korruption des Westens. Damals forderte G., der den von der NSDAP-Linken 1926 auf der Hannoveraner Parteikonferenz vorgelegten Programmentwurf mitverfaßt hatte, den Ausschluß des „kleinen Bourgeois Adolf Hitler" aus der nationalsozialistischen Partei. Doch sein wacher politischer Instinkt ließ ihn noch im selben Jahre zu Hitler umschwenken - ein Kurswechsel, der schon im November 1926 durch G.s Ernennung zum Gauleiter von Berlin-Brandenburg belohnt wurde. An der Spitze eines kleinen, an inneren Konflikten reichen Zweiges der NS-Bewe-
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gung gelang es ihm rasch, die Zügel fest in die Hand zu nehmen und die Vormachtstellung der Brüder Strasser zu untergraben. Auch deren Parteipressemonopol brach G. und gründete 1927 sein eigenes NS-Wochenblatt: Der Angriff. Er entwarf Plakate, veranstaltete imponierende Parademärsche, organisierte seine Leibwächter als Kampftruppe für Straßenschlachten, Kneipenschlägereien und Schießereien - für ihn die Fortsetzung politischer Agitation mit anderen Mitteln. 1927 war dieser „Marat des roten Berlin", bereits der gefürchtetste Demagoge der Reichs-hauptstadt, der seine volltönende, sonore Stimme, seinen rhetorischen Schwung einsetzte und skrupellos an die primitivsten Instinkte appellierte. Ein unermüdlicher, beharrlicher Agitator mit der Gabe, Gegner mit einer heimtückischen Mischung aus Bosheit, Verleumdung und Unterstellung zu entnerven, verstand G. es meisterhaft, die Ängste der arbeitslosen Massen im Deutschland der Weltwirtschaftskrise zu schüren. Er wußte als eiskalter Rechner, welche Saiten der deutschen Volksseele er zum Klingen bringen mußte. Mit außerordentlichem propagandistischen Geschick machte er aus dem Berliner Studenten und Zuhälter Horst Wessel einen NS-Märtyrer und sorgte immer wieder für neue Schlagworte, Mythen und Symbole - Kürzel, die erheblich dazu beitrugen, daß sich die Doktrin des Nationalsozialismus überall mit Windeseile verbreitete. Hitler war zutiefst beeindruckt, daß es G. gelungen war, aus dem zuvor unbedeutenden Berliner Partei-Ableger einen Zweig der NS-Bewegung zu machen, der sich sehen lassen konnte. 1929 ernannte er G. zum Reichspropagandaleiter der Partei. Sehr viel später (am 24. Juni 1942) bemerkte Hitler rückblickend, Dr. Goebbels verfüge über die beiden Dinge, ohne die man die Berliner Verhältnisse nicht habe meistern können: Redegewandtheit und Intellekt... Denn Dr. Goebbels, der nichts Gescheites an politischer Organisation vorfand, als er anfing, habe im wahrsten Sinne des Wortes Berlin erobert. Tatsächlich hatte Hitler allen Grund, seinem Reichspropagandaleiter dankbar zu sein, hatte dieser doch erst jenen Führermythos geschaffen und ausgeschmückt, der aus Hitler die Idealgestalt eines messiasähnlichen Retters machte. Er kam damit dem theatralischen Element in der Persönlichkeit Hitlers entgegen, während er gleichzeitig die Masse der deutschen Bevölkerung durch geschickte Inszenierungen und Manipulationen zum Schweigen brachte. G. sah seine Hauptaufgabe darin, Hitler der deutschen Öffentlichkeit als Retter zu verkaufen und sich selbst als Hitlers getreuen Schildträger. Dafür zog er sämtliche Register eines pseudo-religiösen Führerkultes, der Hitler als Befreier Deutschlands von Juden, Profitmachern und Marxisten verherrlichte. Als Reichstagsabgeordneter (ab 1928) zeigte er nicht weniger zynisch - in aller Offenheit seine Verachtung für die Republik, als er erklärte, er betrete den Reichstag, um sich aus seinem Arsenal mit den Waffen der Demokratie zu wappnen. Er und seine NS-Kampfgenossen würden Reichstagsabgeordnete, damit der Geist von Weimar selbst helfe, ihn zu vernichten. G.s Meisterschaft der Massensuggestion entfaltete sich voll in den Wahlkämpfen des Jahres 1932, als er entscheidend dazu beitrug, Hitler ins Rampenlicht der politischen Bühne zu
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heben. Er wurde am 13. März 1933 dafür belohnt, indem man ihn zum Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda ernannte (das Ministerium wurde eigens für ihn geschaffen). Damit hatte er sämtliche Kommunikationsmedien - Rundfunk, Presse, Buchwesen, Film und alle anderen Kunstzweige - unter Kontrolle. Mit einer raffinierten Mischung aus Propaganda, Bestechung und Terror brachte er die Gleichschaltung des kulturellen Lebens zustande und säuberte die Kunst im Namen des völkischen Ideals, unterwarf Redakteure und Journalisten staatlicher Kontrolle und entfernte alle Juden und politischen Gegner aus einflußreichen Positionen. Am 10. Mai 1933 war seine Rede der Höhepunkt der rituellen Bücherverbrennung in Berlin, bei der in aller Öffentlichkeit Werke jüdischer, marxistischer und anderer „volksgefährdender" Autoren auf den Scheiterhaufen wanderten. G. entwickelte sich zum gnadenlosen Judenhasser, der die Juden dämonisierte und die stereotype Gestalt des „internationalen Finanzjuden" aus London und Washington schuf, der sich mit den „jüdischen Bolschewiken" in Moskau - den Hauptfeinden des Reiches - verbündet habe. Auf dem "Parteitag des Sieges" 1933 hetzte G. gegen die „jüdische Durchdringung der Berufsgruppen" (wie ζ. B. Rechtswesen, Medizin, Immobilien, Theater usw.) und behauptete, der jüdische Boykott Deutschlands im Ausland habe nationalsozialistische Gegenmaßnahmen provoziert. G.s Judenhaß entsprang - ebenso wie sein Haß auf alle Privilegierten und Erfolgreichen - seinem tiefverwurzelten Unterlegenheitsgefühl. Andererseits war auch Taktik im Spiel, eignete sich ein gemeinsamer äußerer Feind doch ausgezeichnet, öffentliche Vorurteile zu nähren und die Massen zu mobilisieren. Fünf Jahre lang, solange das NS-Regime sich zu konsolidieren und internationale Anerkennung zu gewinnen suchte, wartete G. auf seine Gelegenheit. Seine Chance bot sich beim Reichskristallnacht-Pogrom vom 9./ 10. November 1938, das er inszenierte, nachdem er mit einer demagogischen Rede vor den im Münchener Alten Rathaus versammelten Parteiführern - die dort zusammengekommen waren, um den Jahrestag des Hitlerputsches zu feiern - die Stimmung angeheizt hatte. Ohne daß die Öffentlichkeit dies wußte, war G. auch einer der Helfershelfer bei der Endlösung, indem er 1942 die Deportation der Berliner Juden anordnete und den Vorschlag machte, Juden und Zigeuner seien „unbedingt auszurotten" und entsprechend zu klassifizieren. Hitler schätzte G.s politische Lagebeurteilungen ebenso hoch wie seine Fähigkeiten als Organisator und Propagandist. G.s Frau Magda und ihre sechs Kinder waren gern gesehene Gäste in Hitlers Alpenrefugium, dem Berghof bei Berchtesgaden. Als Magda G. sich 1938 wegen der nicht endenden Liebesaffären scheiden lassen wollte, die G. mit Schauspielerinnen hatte, war es Hitler, der Druck auf G. ausübte und so die Ehe rettete. Im Zweiten Weltkrieg kamen sich Hitler und G. immer näher, besonders als sich die Frontlage verschlechterte und der Propagandaminister die Deutschen zu ständig größeren Anstrengungen anfeuern mußte. Da die Alliierten auf bedingungsloser Kapitulation bestanden, schlug G. selbst daraus noch Profit und suggerierte seinem Publikum, es gebe keine andere Wahl mehr als Sieg oder Untergang. In seiner berühmten Sportpalastrede vom
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18. Februar 1943 erzeugte G. eine Atmosphäre wild entschlossener Begeisterung und putschte seine Zuhörer dermaßen auf, daß sie seiner Forderung nach totalem Krieg vorbehaltlos zustimmten. Geschickt operierte G. mit in Deutschland tiefverwurzelten Ängsten vor „asiatischen Horden", setzte er seine alles durchdringende Kontrolle des Presse-, Film- und Rundfunkwesens ein, um die Kampfmoral aufrechtzuerhalten, und raunte bald von sagenhaften Geheimwaffen, bald von einer uneinnehmbaren Alpenfestung, bei der die letzte Schlacht geschlagen werde. G. verlor niemals die Nerven, sein Kampfwille verließ ihn nie. Sein rascher Entschluß und dessen ebenso rasche Umsetzung in die Tat führten am Nachmittag des 20. Juli 1944 dazu, daß die Verschwörer gegen Hitler durch eine Abteilung Hitler ergebener Soldaten im Oberkommando der Wehrmacht isoliert wurden, so daß das NSRegime noch einmal überlebte. Im Juli 1944 zum Generalbevollmächtigten für den totalen Krieg ernannt, hatte G. sein Traumziel erreicht: Kriegsherr der Heimatfront zu werden. Mit weitestgehenden Vollmachten im zivilen und militärischen Bereich ausgestattet, suchte G. ein Notprogramm durchzuführen und drängte die Zivilbevölkerung zu immer größeren Opfern. Doch da Deutschland ohnehin dem Zusammenbruch nahe war, verschlimmerten seine Maß-nahmen das bereits bestehende Chaos nur noch. Als das Kriegsende in Sicht war, erwies sich G. als Hitlers getreuester Paladin. Seine letzten Tage verbrachte er zusammen mit seiner Familie in Hitlers Führerbunker unter der Reichskanzlei. Er gab sich keiner Täuschung darüber hin, daß er sämtliche Schiffe hinter sich verbrannt hatte, und war mehr und mehr von der apokalyptischen Vorstellung einer NS-Götterdämmerung fasziniert. Nach Hitlers Selbstmord ignorierte G. das politische Testament des Diktators, das ihn zum Reichskanzler machte, denn er beschloß, Hitler in den Tod zu folgen. Am 1. Mai 1945 ließ er seine sechs Kinder von einem Arzt vergiften und beging mit seiner Frau Selbstmord. Mit für ihn typischem Pathos und charakteristischer Selbstüberschätzung hatte er einmal erklärt: „Entweder gehen wir als die größten Staatsmänner oder die größten Verbrecher aller Zeiten in die Geschichte ein." Robert Wistrich: Wer war wer im Dritten Reich? Ein biographisches Lexikon. Frankfurt a. Main 1987, S 110 ff.
Innenminister Frick die politische und administrative Zuständigkeit fur den Rundfunk vom Reichsrundfunkkommissar auf den neuen Minister übertragen; am 22. März durch den Reichspostminister auch die wirtschaftliche Zuständigkeit. Die bis dahin verantwortlichen Reichsrundfunkkommissare der beiden Ministerien wurden entmachtet (wenn auch für eine Übergangszeit weiter beschäftigt) - der neue Minister hatte faktisch zumindest die Reichskompetenz über den Rundfunk in seiner Hand. Einen Tag nach Erlass des „Ermächtigungsgesetzes" am 25. März 1933 schien Goebbels der richtige Zeitpunkt gekommen zu sein, die neue Rundfunkpolitik programmatisch zu erläutern. Er lud zu einer Intendan84
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ten-Konferenz nach Berlin ins Haus des Rundfunks (bis 2003 Sitz des SFB, Sender freies Berlin, heute RBB, Rundfunk Berlin-Brandenburg) ein und erklärte diesen, was ihre künftige Aufgabe in ihren regionalen Sendern sei: „Die geistige Mobilmachung ... ist eine der Hauptaufgaben des Rundfunks. Ich halte den Rundfunk für das allermodernste und für das allerwichtigste Massenbeeinflussungsinstrument, das es überhaupt gibt." Die Nationalsozialisten ließen keinen Zweifel, dass der Rundfunk ihnen gehöre, „und niemandem sonst"; sie würden ihn in den Dienst ihrer Idee stellen, und keine andere Idee solle mehr zu Wort kommen: „Damit ist der Rundfunk wirklicher Diener am Volk. Ein Mittel zum Zweck... Die Sender haben sich dem großen programmatischen Kurs der Regierung einzuordnen." Die Methoden des Rundfunks, die bis zum 30. Januar 1933 gegolten hätten, seien nun ohne jede Zukunft. Weltanschaulich begründete Goebbels dies damit, dass die Zeit des Individualismus beendet und nun das völkische Zeitalter angebrochen sei. Es werde Schluss gemacht mit den „Orgien des Liberalismus" und mit einer Kunst, die keine verantwortliche Bindung mehr gekannt habe. Der Rundfunk wie die Presse, das Kino wie das Theater seien eine Tenne für die geistigen Ausschwitzungen eines vollkommen wurzellos gewordenen Asphalt-Nomadentums gewesen, das seine geistigen Produkte dem Volk aufgezwungen habe. „In dieser Geistigkeit des Asphalts nun tobte sich der Pöbelinstinkt aus, - der Pöbelinstinkt allerminderwertigster Sorte. Alle großen Ideale, die es in Deutschland gab, wurden in den Kot getreten, verzerrt, wurden mit Schmutz beworfen, wurden dem Volke schlechtgemacht. So wurden dem Volke seine Ideale genommen, es sollte nicht mehr an Großes, nicht mehr an Kühnes, nicht mehr an Heroisches, nicht mehr an Gewaltiges glauben." Demgegenüber gebe es nun die geistige Mobilmachung des neuen deutschen Geistes, wie sie vom Rundfunk betrieben werde; er werde auf die Dauer sogar die Zeitung verdrängen. Ohne langweilig zu sein, müsse er eine nationalistische Kunst und Kultur ans Licht der Welt bringen, durchtränkt von Propaganda, die so klug und so virtuos kaschiert sei, dass ihr Adressat es gar nicht merke. Die geistige Mobilmachung sei eine der Hauptaufgaben des Rundfunks. Goebbels endete mit einem Aufruf zur Solidarität, die man auch als Drohung auffassen konnte: „Ich glaube, meine Herren, damit ist Klarheit geschaffen. Das, was wir im Prinzip wollen, das wissen Sie nun. Und nun müssen Sie an die Arbeit gehen. Ich lege Ihnen eine große Verantwortung in Ihre Hand, denn Sie halten in dieser Hand das modernste Massenbeeinflussungsinstrument, was es überhaupt gibt. Mit diesem Instrument machen Sie öffentliche Meinung. Machen Sie das gut, dann werden wir das Volk gewinnen, und machen Sie das schlecht, dann wird das Volk am Ende
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von uns wieder weglaufen. Sie tragen dafür die Verantwortung; ich selbstverständlich fur Sie mit, aber jeder einzelne von Ihnen mir gegenüber. Und ich glaube, wir leben nun in einer Zeit der Verantwortungsfreude. Ich könnte mir ein Leben ohne Verantwortung gar nicht mehr vorstellen. Denn ein Mensch mit Charakter und sittlicher Reife, - der sieht in der Verantwortung nicht eine Last, sondern eine Beglückung. Und je größer die Verantwortung, desto lieber und desto freudiger muß man sie tragen. Lassen Sie aus Ihren Häusern jede Muckerei und jeden MufF, sperren Sie der Reaktion die Türe zu, lassen Sie sie nicht herein, sondern seien Sie wirklich moderne, aufrechte Männer, die dem Zeitgeist dienen, aber dem wirklichen Zeitgeist: dem Zeitgeist, der wider die alten Regierungen und wider das alte System aus den tiefsten Wurzeln des deutschen Volkes herausgesprungen ist und nun das ganze öffentliche Leben durchtränkt. Ich glaube, ich kann alles zusammenfassen, was ich sagen will. Wenn ich über den deutschen Rundfunk eine Parole schreiben möchte, dann die: Wir arbeiten für des Reiches Kraft und Stärke und für des deutschen Volkes Einigkeit!"20 Die programmatische Rede nahmen die Rundfunkvertreter ohne Begeisterung entgegen; der Beifall war kurz, konventionell; allein dies machte deutlich, dass der Geist von Weimar, der für ein freiheitliches Kulturleben stand, noch nicht völlig abgestorben war. Mit dem „Gesetz über die Bildung einer Reichskulturkammer" vom 22.9.1933 wurde die staatliche Überwachung auch des Rundfunks verstärkt; die deutsche Kultur sollte „in Verantwortung für Volk und Reich" gefördert, die wirtschaftlichen und sozialen Angelegenheiten der Kulturberufe geregelt und zwischen allen Bestrebungen der ihr zugehörenden Gruppen „ein Ausgleich" geschaffen werden. Die .Reichskulturkammer' war eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, zu deren Präsidenten sich Goebbels machte. Jeder kulturell Tätige musste einer ihrer sieben Unterkammern angehören: Reichsfilm-, Reichsmusik-, Reichsschrifttums-, Reichspresse-, Reichstheater- und Reichsrundfunkkammer sowie die Reichskammer der bildenden Künste. Man durfte freilich nur bei politischer Zuverlässigkeit und arischer Abstammung Mitglied sein; ohne Mitgliedschaft zu sein bedeutete Berufsverbot. Präsident der .Reichsrundfunkkammer' war der Leiter der Abteilung Rundfunk im Propagandaministerium, Horst Dreßler-Andreß. Ihm unterstanden die Rundfunkmitarbeiter aus Technik, Verwaltung und Programm, sowie die Beschäftigten der Rundfunkpresse und der Rundfunkindustrie, vom Produzenten bis zum Händler und Verkäufer, vom Arbeitgeber bis zum Arbeitnehmer. Aber schon 1934 entschied die Regierung, dass die 86
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Interessen der Hersteller und Verkäufer vom Wirtschafts- und eben nicht vom Propagandaministerium wahrzunehmen seien; sie wurden umgehend aus der Mitgliedschaft entlassen. Der ursprüngliche Gedanke einer berufsständischen Interessenvertretung unter Umgehung der Gewerkschaften geriet schon bald in Vergessenheit; so wurde die Reichsrundfunkkammer zu einer mit erheblichem Aufwand an Mitteln und Personal ausgestatteten Organisation fur eher operative Aufgaben im Umfeld der ,Reichs-Rundfunk-Gesellschaft': Hörerwerbung, Organisation regionaler Funkausstellungen, Wettbewerbe fur Rundfunksprecher und ihre Auswahl. In einer Arbeitsgemeinschaft mit der Industrie plante sie Entwicklung, Werbung und Vertrieb des .Volksempfängers' und den Gemeinschaftsempfang. Am 28. Oktober 1939 wurde sie von Goebbels durch schlichtes Rundschreiben an alle Landesstellen aufgelöst. Die als linksintellektuell bzw. bolschewistisch, jüdisch, materialistisch, liberalistisch verschrienen Künstler wurden nicht in die Reichsrundfunkkammer aufgenommen, sondern systematisch von ihr verfolgt; viele flohen ins Ausland - ein Exodus, welcher der deutschen Kultur eine tiefe Wunde schlug, von der sie sich nach 1945 nicht mehr erholte. „Von den im .Biographischen Handbuch der deutsch-sprachigen Emigration nach 1933' verzeichneten annähernd 8600 Emigranten zählen unter Einschluss der politischen Publizisten ungefähr 5500 Persönlichkeiten im weiteren Sinne zu den verschiedenen Sektoren des kulturellen Lebens, die knappe Hälfte von ihnen, ca. 2400-2500, waren Wissenschaftler, ca. 1600 Emigranten des .Biographischen Handbuches' zählten zu den Schriftstellern und Publizisten."21 Auf d e n kleinen Radioapparat Du kleiner Kasten, den ich flüchtend trug Daß seine Lampen mir auch nicht zerbrächen Besorgt vom Haus zum Schiff, vom Schiff zum Zug Daß meine Feinde weiter zu mir sprächen An meinem Lager und zu meiner Pein Der letzten nachts, der ersten in der Früh Von ihren Siegen und von meiner Müh: Versprich mir, nicht auf einmal stumm zu sein! Bertolt Brecht: Gesammelte Werke, Band 12 © Suhrkamp Verlag Frankfurt 1967, S. 109, Auf den kleinen Radioapparat.
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In einem Jahr, so hatte es Goebbels bei der Intendanten-Konferenz angekündigt, werde man den Rundfunk in Deutschland nicht wieder erkennen können. Und in der Tat war die Säuberung des ,Systemrundfunks' von Weimar durch die neuen Machthaber radikal, wobei man sich legalistisch auf das am 7. April 1933 erlassene „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" stützte, das auf Goebbels' Anordnung auch auf die Rundfunkmitarbeiter angewandt wurde. Mit seinem ,Arierparagraphen' sowie weiteren Bestimmungen ermöglichte es die Entlassung oder Rückstufung unerwünschter Beamter und ihre Ersetzung durch linientreue Personen. „Hitler ist Reichskanzler, im Funk müssen wir fast alle mit unserer Entlassung rechnen, obwohl es schon der reaktionäre Rundfunk war", schrieb der Schriftsteller Jochen Klepper bereits am 31. Januar 1933 in sein Tagebuch.22 Der Säuberung fielen die Direktoren der .Reichs-Rundfunk-Gesellschaft' (RRG), fast alle Intendanten der Rundfunkgesellschaften, jüdische, sozialdemokratische und kommunistische Mitarbeiter und überhaupt alle Personen, die suspekt erschienen, zum Opfer. Verhöre, Denunziationen, Fragebogenaktionen, die Durchforstung und Beschlagnahme von Personal- und anderen Akten, Kündigungen, Versetzungen, fristlose Entlassungen oder auch die Wiedereinstellung mit vermindertem Einkommen gehörten zum Instrumentarium der Unterdrückung. Knapp vier Monate nach Machtantritt der Nazis war von den elf Intendanten der Weimarer Zeit nur noch Alfred Bofinger in Stuttgart im Amt; er hatte sich schon vor 1933 fur die NSDAP eingesetzt und war im April noch rechtzeitig und unüberhörbar der Partei beigetreten. Beim .Westdeutschen Rundfunk' in Köln wurden von den rund 300 Mitarbeitern über 50, also gut zwanzig Prozent entlassen, beim Stuttgarter Rundfunk waren es 35 von etwa 300 Mitarbeitern und bei dem besonders kritisch verfolgten Berliner Sender wurden 40 Prozent der Mitarbeiter auf allen Ebenen entlassen.23 Entlassen oder beurlaubt wurden zum Beispiel Ernst Schön, der Intendant des Frankfurter Senders, Ernst Hardt, der ehemalige Intendant des Kölner Senders und Hermann Schubotz, der Intendant des ,Deutschlandsenders'; aber auch Persönlichkeiten wie Alfred Braun, Chefreporter und Regisseur der .Berliner Funkstunde', Kurt Stapelfeldt, Direktor der Hamburger NORAG, Karl Mayer, Künstlerischer Leiter des .Süddeutschen Rundfunks' in Stuttgart. Die Programmzeitschriften veröffentlichten zunächst Woche für Woche Namenslisten der entlassenen und der neuen Mitarbeiter. Als besonders infame Abschreckung sowie als Demonstration ihrer Macht wurden von den Nationalsozialisten die bekanntesten Rundfunk88
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Politiker und -mitarbeiter der Weimarer Zeit 1933/34 in KZ-Haft genommen, unter ihnen Kurt Magnus, Hans Flesch, Alfred Braun, Heinrich Giesecke, Hans Otto, Fritz Kohl und Georg Knöpfke. Nach langwierigen Vorbereitungen wurden sie wegen Schiebung, Untreue im Amt, Bestechung und Verschwendung in ihren ehemaligen Funktionen am 5. November 1934 vor Gericht gestellt. Mit ihnen wurde, was natürlich besonders spektakulär war, auch Hans Bredow angeklagt, der Gründer und ,Vater' des deutschen Rundfunks. Er hatte am gleichen Tag, an dem Hitler zum Reichskanzler ernannt worden war, sein Amt als Rundfunkkommissar niedergelegt. Ihm wurde bald darauf vorgeworfen, dass er so der ,Berliner Lokal-Anzeiger' vom 3.8.1933 - in „unverantwortlichem Eigennutz seine unter dem marxistischen Regime ausgebaute Machtstellung zu einer Geldmacherei" missbraucht habe; der Wille des Reichsministers Dr. Goebbels sei es hingegen, dass das deutsche Volk einen moralisch einwandfreien Rundfunk erhalte und mit allen Sünden in den Jahren zuvor gründlich aufgeräumt werde. Bredows Bezüge wurden gesperrt; er selbst im Oktober verhaftet; er unternahm zwei Selbstmordversuche, die aber misslangen. Der vor allem von Hadamovsky betriebene Prozess stand juristisch auf so schwachen Füßen, dass nach 89 Verhandlungstagen im Juni 1935 von insgesamt 53 Anklagepunkten nur vier vor Gericht Bestand hatten. Die u. a. gegen Bredow, Magnus und Flesch ausgesprochenen Gefangnisund Geldstrafen galten durch die Untersuchungshaft als verbüßt. In einem Revisionsprozess vor dem Reichsgericht wurde auch dieses Urteil im Februar 1937 teilweise aufgehoben und an die Vorinstanz zurückverwiesen. Auf Vorschlag des Reichsjustizministeriums, dem das GoebbelsMinisterium ausdrücklich zustimmte, wurde unter Hinweis darauf, dass ein staatspolitisches Interesse nicht mehr bestehe, das Urteil 1937 vor dem Berliner Landgericht aufgehoben. Damit war Hadamovskys Kampagne gegen den verhassten .Systemrundfunk' von Weimar nicht nur zusammengebrochen, sondern dieser auch öffentlich rehabilitiert; Goebbels ordnete an, dass die Angriffe gegen den .alten Rundfunk' und auch gegen Bredow nicht weiter fortzusetzen seien.24 Bredow bekam schließlich ab 1939 seine Ruhestandsbezüge zugesprochen. Nach 1945 hat er dann beim Wiederaufbau des deutschen Rundfunks wieder aktiv mitgewirkt. Bei der Amtseinführung des Reichssendeleiters Hadamovsky am 13. Juli 1933 (er war nun in der dreiköpfigen Führungsspitze der RRG, der Dachorganisation .Reichs- Rundfunk-Gesellschaft' für Programmfragen zuständig) stellte Goebbels fest, dass er selbst kein Mittel unversucht 89
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12 „Reichssendeleiter Parteigenosse Hadamowsky führt die Gau-Funkwarte aus Anlass der Reichstagung der Gaufunkwarte der N.S.D.A.P. zum Propagandaministerium" (zeitgenössische Bildlegende 1933)
gelassen habe, um die personelle Reform des Rundfunks an der Spitze erfolgreich durchzuführen. „Ich habe mich letzten Endes entschlossen, und diesen Entschluß schon immer gehabt, die Schlüsselstellungen beim Rundfunk mit 100-prozentigen Nationalsozialisten zu besetzen, Nationalsozialisten, die mit mir lange gekämpft haben, von denen ich weiß, dass sie in der Wolle gefärbt sind, die sich zu uns bekannten in einer Zeit, in der uns die Rundfunkhäuser noch verschlossen waren."25 Und Hadamovsky stellte seinerseits am 12.8.1933 fest: „Nun ist im Rundfunk der größte Dreck ausgeräumt!"26
Der neue Rundfunk und sein NS-Personal Innerhalb weniger Wochen nach seiner Ernennung zum Propagandaminister hatte Goebbels den Aufbau seines neuen Ministeriums zu einem ersten Abschluss gebracht. Bei der Rundfunkabteilung konnte er sich auf Erfahrungen und Vorplanungen sowie den Mitarbeiterstab der Münchener Parteizentrale stützen. Von dort kam auch Horst Dreßler-Andreß als
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Leiter. Er hatte sich bereits seit 1930 in der Partei mit Rundfunkpolitik befasst und kannte den Parteiapparat, auf den er sich in seiner neuen politischen Funktion und bei der praktischen Umsetzung seiner Direktiven stützen konnte, sehr genau. So konnte er sich bei seiner Kontrollfunktion auf insgesamt nur acht Mitarbeiter in fünf Referaten beschränken; (1944, als der Rundfunk vollständig und zentral aus dem Ministerium gelenkt wurde, waren es 19 Mitarbeiter). In München hatte Dreßler-Andreß u. a. Leitlinien für die Aufgaben und Arbeitsgebiete sowie die politischen Aktionen der regionalen, in den NS-Gauen tätigen Funkbeauftragten entwickelt. Aus deren Reihen kamen im Zuge der großen Säuberungswelle ab März 1933 viele der neuen NS-Intendanten und Sendeleiter (wie auch Hadamovsky). Von der Reichspropagandaleitung in München waren in den Kreiswie Ortsgruppen der NSDAP .Funkwarte' eingesetzt worden; ihre Aufgabe bestand bis 1933 in der Förderung bzw. Bestandsaufnahme von Kritik und kritischer Agitation gegen die bestehenden Rundfunkprogramme, mit dem Ziel, unzufriedene Rundfunkhörer als Mitglieder für die NSDAP und ihre Organisationen zu gewinnen, zu betreuen und später auch zu kontrollieren. Im Kriege kam dann die Überwachung der Hörer und die Denunziation jener hinzu, die trotz Verbot sogenannte .Feindsender' hörten. Die Funkwarte waren zudem mit direkten Propaganda-Aufgaben betraut, etwa wenn es galt, vor der Reichstagswahl eine NS-Flugblattaktion mit dem Slogan: „Den Rundflink frei für Adolf Hitler" landesweit durchzuführen oder den rechtskonservativ orientierten .Reichsbund Deutscher Rundfunkteilnehmer' zu unterwandern, um ihn schließlich für eigne Ziele zu nutzen. Funkwarte waren auch rundfunktechnisch ausgebildet, um bei der zu erwartenden Machtübernahme durch die NSDAP notfalls den Sendebetrieb sicherzustellen. Unmittelbar vor der Reichstagswahl vom 30. Januar 1933 wurde die Rundfunkarbeit der NSDAP nochmals konzentriert: Es erfolgte die Einrichtung von zusätzlich zehn Beauftragten der Reichspropagandaleitung bei den Landesrundfunksteilen der Partei. Sie waren Entscheidungsinstanz für die Koordination und Genehmigung aller Aktivitäten in ihrem Sendegebiet, das bis zu acht Gaue umfassen konnte. Mit Hilfe dieser Organisationsstruktur war es den Nationalsozialisten spätestens ab 1932 gelungen, durch die Politisierung des Rundfunks nach der Zweiten Rundfunkreform der Regierung Brüning ihre personellen Ansprüche in den Sendern Schritt für Schritt zu realisieren, nicht zuletzt durch eingeschleuste Anhänger unter den Mitarbeitern auf allen Ebenen. In seinem Tagebuch notierte Goebbels am 20. September 1932: „Unsere 91
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Rundfunkorganisation schreitet mächtig vorwärts; es fehlt nur noch, dass wir die Sender benutzen können." Und am 9. Oktober des gleichen Jahres: „Wir sind schon dabei, eine neue Personalliste fur den Rundfunk aufzustellen für den Fall, dass wir über Nacht an die Macht kommen." Wenn er schließlich am 14. Oktober schrieb: „Wir sind an der Arbeit, ein Programm fur die Übernahme des Rundfunks zu entwerfen" 27 , dann meinte er eben nicht ein inhaltlich neues Rundfunkprogramm, sondern die Besetzung möglichst aller Funktionen von der Spitze bis zur Basis mit den eignen Parteigenossen. Nur so ist erklärbar, dass in den Funkhäusern die Machtübernahme nach der Reichstagswahl vom 5. März 1933 schlagartig vor sich gehen und über allen Sendern sofort die Hakenkreuzflagge gehisst konnte. Um eine „Revolution aus dem Augenblick", wie Hadamovsky 1934 glauben machen wollte, handelte es sich jedenfalls nicht. Zur Kontrolle des Rundfunks wurden weitere Veränderungen vorgenommen. Es erfolgte die Integration der bisher bei der ,Reichs-RundfunkGesellschaft' selbstständigen Nachrichtenabteilung in die Presseabteilung des Propagandaministeriums; von dort wurden bis zum Kriegsende die Nachrichten zentral erstellt - nach Richtlinien, die auf den mittäglichen Pressekonferenzen des Ministers fur verbindlich erklärt wurden. 28 Hadamovsky unterstand zunächst formell der Geschäftsführung der RRG; er besaß aber als Reichssendeleiter ein eigenständiges Weisungsrecht gegenüber den Sendern und Intendanten. Er war der Berater von Goebbels, wobei dieser sich die Entscheidung in wichtigen Personal- und Programmangelegenheiten vorbehielt. In Goebbels' Tagebüchern taucht sein Name bis 1940/41 jedenfalls immer wieder im Zusammenhang mit zentralen Rundfunkangelegenheiten auf. Als Goebbels ihn im Juli 1933 zusätzlich auch zum Direktor der RRG ernannte, war er wohl der mächtigste Mann im Rundfunk - zuständig für alle politischen, künstlerischen und technischen Fragen. Als Verwaltungsdirektor wurde ihm übrigens aus München Hermann Voss zur Seite gestellt, ein altes Parteimitglied seit 1929 und langjähriger Organisator der NSDAP-Sterbegeld-Versicherung. Nachdem die regionalen Sendergesellschaften am 8. Juli 1933 unter Zwang ihre 49 Prozent Geschäftsanteile an die ,Reichs-Rundfunk-Gesellschaft' abgetreten hatten, wurden auch die Länder aufgefordert, ihren jeweiligen Anteil an den regionalen Sendern bis 1. April 1934 auf die Reichsregierung und das hieß: auf die RRG zu übertragen. Damit waren die Regionalsender handelsrechtlich erloschen; die bisherigen Gesellschaften wurden nun als .Reichsender' der ,Reichs-Rundfunk-Gesellschaft' im Besitz des Staates 92
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und das hieß des Propagandaministeriums gefuhrt. Sie hatten sich vorrangig an der Regierungspolitik zu orientieren. So sah Heinrich Glasmeier, der Intendant des .Reichssenders Köln', die Bedeutung seines Senders vorrangig nicht, wie seine Kollegen etwa in Hamburg oder Breslau, in der landsmannschaftlichen, sondern in der nationalen Bindung: „Hauptaufgabe des deutschen Rundfunks ist es ja, den deutschen Menschen in Empfangsbereitschaft zu halten für die Stunden, da der Führer vor das Volk hintritt, um zu ihm zu sprechen. Diese millionenfache unsichtbare Telefonverbindung zum Herzen des Volkes betriebstüchtig und leistungsfähig zu halten, damit im Ernstfall auch wirklich alle den Führer hören, - das ist unsere größte Sorge. Um diese Aufgabe zu erfüllen, brauchen wir ein Programm, das auch wirklich alle Volksgenossen anspricht und in Spannung hält."29 Folgerichtig wurde Glasmeier 1937 denn auch zum General-Intendanten des Reichsrundfunks und damit zum Vorgesetzten aller Sender-Intendanten ernannt. Um die offenen und verdeckten Machtkämpfe zwischen dem Propagandaministerium und der ,Reichs-Rundfunk-Gesellschaft' sowie innerhalb der RRG zu beenden, füngierte er als Generaldirektor und
13 Generaloberst von Brauchitsch, Oberbefehlshaber des Heeres, wird von Reichsintendant Dr. Glasmeier (in SS-Galauniform) nach einem Besuch im Berliner Rundfunkhaus am 24. August 1939 verabschiedet, eine Woche vor dem deutschen Überfall auf den Sender Gleiwitz, der den Zweiten Weltkrieg auslöste
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Hauptgeschäftsfuhrer der drei Bereiche Programm, Technik und Verwaltung, zudem als Vorsitzender des Verwaltungsrats. Dreßler-Andreß, der Leiter der Abteilung Rundfunk im Propagandaministerium, wurde entmachtet, so dass nun auch im Rundfunk das Führerprinzip mit einem Befehlsweg strikt von oben nach unten verwirklicht war.
Inszenierte Staatsakte: Der Tag von Potsdam. Die Olympischen Spiele Joseph Goebbels fühlte sich als höchst befähigter Journalist, was er auf dem ihm eigenen Niveau des .rhetorischen Bauchaufschlitzers', zynisch-hasserfüllten Agitators und suggestiven Sprachrabauken durchaus war. Dementsprechend wollte er sich auch im Rundfunk erproben - eben dem Medium, das fiir ihn das „allermodernste und allerwichtigste Massenbeeinflussungsinstrument" war. Seine die Massen enthusiasmierende Stimme kam drahtlos schon am 30. Januar 1933 offiziell zur Geltung, als der Reichspräsident Paul von Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannte: Von dem Funkreporter Wulf Bley ans Mikrophon gerufen, kommentierte Goebbels persönlich den Fackelzug, mit dem am Abend durch Vorbeimarsch an der Reichskanzlei - Hitler stand grüßend am offenen Fenster - die SA sowie andere Verbände und Organisationen, vornehmlich ehemalige Frontsoldaten, ihrem Führer huldigten. „Das, was wir da unten erleben, diese Tausende und Tausende und Zehntausende und Zehntausende von Menschen, die in einem besinnungslosen Taumel von Jubel und Begeisterung der neuen Staatsführung entgegenrufen, - das ist wirklich die Erfüllung unseres geheimsten Wunsches, das ist die Krönung unserer Arbeit. Man kann mit Fug und Recht sagen: Deutschland ist im Erwachen."30 Die eine Fehlleistung á la Freud bekundende Formulierung .sinnloser Taumel' verweist auf das Psychogramm der nun anhebenden Zeit: Sehr viele und dann immer mehr identifizierten sich auf geradezu hysterische Weise mit dem .Führer', eine Bindung, die als pseudoreligiöse ,unio mystica' bis in die letzten Tage des Zweiten Weltkrieges Bestand hatte. Wer Adolf Hitler liebe, liebe Deutschland; wer Deutschland liebe, liebe Gott, lautete eine Eloge des Reichsjugendführers Baidur von Schirach, der aus einer alten Wiener aristokratischen Offiziersfamilie stammte. Damit diese Vereinigung der deutschen Seele mit dem zum Gott stilisierten Führer möglichst fest und haltbar blieb, setzte Goebbels sehr stark auf den Rundfunk; seine Unmittelbarkeit bei perfekt inszenierten Staatsspektakeln verbreitete eine Aura, die bestens geeignet schien, kritische Differenzierung zu verhindern. 94
Inszenierte Staatsakte
14 Der ,Tag von Potsdam': Staatsakt in der Potsdamer Garnisonkirche am 21. März 1933. Vor Reichskanzler Hitler die Mikrophone des deutschen Rundfunks und Reichspräsident Hindenburg
Der ,Tag von Potsdam' sollte in diesem Sinne zum ersten Mal den „Stil nationalsozialistischer Formgebung" demonstrieren, so Goebbels in seinem Tagebuch; er hatte fiir die Eröffnung des ersten Reichstages des Dritten Reiches den 21. März 1933 gewählt. An diesem Tag vor zweiundsechzig Jahren hatte Bismarck den ersten Reichstag des Zweiten Reiches eröffnet. An die altpreußische Tradition sollte dadurch angeknüpft werden, dass die Abgeordneten in der Potsdamer Garnisonskirche zu einem Staatsakt zusammenkamen. Mit einer von Glockengeläut begleiteten, lakaienhaft-devoten Verbeugung Hitlers, der in einem Cutaway als Zeichen bürgerlicher Honorigkeit erschienen war, vor dem Reichspräsidenten Hindenburg (einschließlich Händedruck), sollte die Vermählung von alter Größe und neuer Kraft demonstriert und gefeiert werden. Hitler legte dem greisen Feldmarschall am Grabe Friedrichs II. mit einer Rede voller pathetischer Genitive, Konjunktive und Inversionen „seine Ehrfurcht zu Füßen": „In unserer Mitte befindet sich heute ein greises Haupt. Wir erheben uns vor Ihnen, Herr Generalfeldmarschall ... Sie erlebten einst des Reiches Werden, sahen vor sich noch des großen Kanzlers Werk, den wunderbaren Aufstieg unseres Volkes, und haben uns endlich gefuhrt in der großen Zeit, die das Schicksal uns selbst miterleben 95
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und mit durchkämpfen ließ. Heute, Herr Generalfeldmarschall, läßt Sie die Vorsehung Schirmherr sein über die neue Erhebung unseres Volkes. Dieses Ihr wundersames Leben ist fur uns alle ein Symbol der unzerstörbaren Lebenskraft der deutschen Nation. So dankt Ihnen des deutschen Volkes Jugend und wir alle mit, die wir Ihre Zustimmung zum Werk der deutschen Erhebung als Segnung empfinden. Möge sich diese Kraft auch mitteilen der nunmehr eröffneten neuen Vertretung unseres Volkes. Möge uns dann aber auch die Vorsehung verleihen jenen Mut und jene Beharrlichkeit, die wir in diesem fur jeden Deutschen geheiligten Räume um uns spüren, als für unseres Volkes Freiheit und Größe ringende Menschen zu Füßen der Bahre seines größten Königs."31 Der ,Tag von Potsdam' zeigte erstmals im Großen die nationalsozialistische Fähigkeit, Barbarei als erhabenes und erhebendes Schauspiel zu präsentieren. Die aus dem ,Äther' in die kleinbürgerlichen Wohnzimmer und national erbebenden Spießerherzen gesendeten Phrasen eines sich als arisch erklärenden Führertums waren darauf angelegt, die Menschen zu einem unteilbaren Volkskörper zusammenzuschließen - in einem, wie Hitler es am 10. Februar 1933 im Berliner Sportpalast religiös überhöht ausdrückte, auf tausend Jahre angelegten deutschen Reich „der Größe und der Ehre und der Kraft und der Herrlichkeit und der Gerechtigkeit. Amen".32 Faszination und Gewalt waren die tragenden Säulen des Nationalsozialismus. Der schöne Schein überglänzte die banale und grauenvolle Wirklichkeit; Inszenierung und Mythisierung verhalfen wesentlich dazu, dass sich die Volksmassen mit dem Regime identifizierten. „Die Regisseure dieser Scheinwirklichkeit wollten die Massen eine von der empirischen Wirklichkeit weit anschaulich abweichende Sicht der Dinge glauben machen. Sie konnten das um so leichter, weil sie selbst in einer Welt voller Mythen und Fiktionen lebten. Und sie waren mit der Erzeugung von schönem Schein wohl auch erfolgreich - jedenfalls bis weit in die Kriegsjahre hinein -, weil sie die verfugbaren technischen Mittel differenziert und professionell zu nutzen verstanden. Insofern wird man hier zumindest von einer instrumentellen Rationalität sprechen müssen. Zudem hatten es die NS-Regisseure mit einem Publikum zu tun, das - je nach Geschmack und Bildung - lieber unterhalten oder erbaut als politisiert oder gar indoktriniert werden wollte. Es gab sich dabei einer doppelten Selbsttäuschung hin. Es täuschte sich nicht nur in seinem Glauben an die Autonomie der schönen Künste, sondern vor allem über das politische Programm Hitlers."33 Gleiches traf dann auch fur die Olympischen Spiele zu, die zu einem .Triumph des neuen Reiches' stilisiert wurden. Bereits 1928 und 1932 96
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hatte auf Vorschlag der deutschen Regierung das Olympische Komitee beschlossen, die Olympischen Spiele 1936 nach Berlin und GarmischPartenkirchen zu vergeben. Auch diese .Idee' war, wie so manche andere, von den neuen Machthabern aus der verhassten Weimarer Zeit übernommen; ihre Ausfuhrung wurde von den Nationalsozialisten propagandistisch geschickt und lautstark begleitet. Schon im Vorfeld war die Presse vom Propagandaministerium angewiesen worden, nicht über die Diffamierung von Ausländern oder antijüdische Vorfalle zu berichten schließlich befand sich in der deutschen Mannschaft auch ein Halbjude; die Zeitungen wurden aufgefordert, „entgegen einer bereits eingerissenen üblen Angewohnheit, ihn weder als Juden noch als Halbjuden zu bezeichnen". Da die Sommerspiele in Berlin nur wenige Monate nach der deutschen Rheinlandbesetzung stattfanden, sollten Presse und Rundfunk die Gelegenheit nutzen, mit Hilfe des entsprechenden, vom Ministerium zur Verfugung gestellten Pressematerials „die Olympischen Spiele und die Vorbereitungen dazu zu einer ausfuhrlichen Propaganda für Deutschland auszunutzen".34 Zu diesem Zeitpunkt hatte der Rundfunk auf dem Gebiet der Übertragungstechnik bereits beachtliche Fortschritte gemacht, die vom Propagandaministerium und der RRG fur die Selbstdarstellung Deutschlands voll eingesetzt wurden: 67 Rundfunksprecher aus 19 europäischen und 13 überseeischen Staaten sendeten direkt aus Berlin 2500 Berichte, Kommentare und Live-Reportagen von den Olympischen Sommerspielen (287 Sendungen in 14 Sprachen von 37 Reportern aus 21 Ländern waren es bei den Winterspielen in Garmisch-Partenkirchen).35 Das Fernsehen, das seit März 1935 in Berlin Versuchssendungen ausstrahlte, erweiterte jetzt seine Sendezeiten von zwei auf acht Stunden täglich. In 25 öffentlichen Fernsehstuben in Berlin, Potsdam und Leipzig konnten 160.000 Zuschauer die Wettkämpfe über Gemeinschaftsempfang verfolgen.36 Der gewünschte Erfolg dieser .Schaufensterdiplomatie' schlug sich in Dankadressen des Auslands für beeindruckende, perfekt organisierte und rundftinktechnisch hervorragend begleitete Spiele nieder. Und als der .concours hippique', der Reiterwettbewerb, unter Teilnahme deutscher, polnischer, italienischer und japanischer Reiter, mit einer deutschen Kavallerie-Parade endete, an die sich unmittelbar ein Vorbeimarsch von SS-Einheiten mit motorisierten Geschützen, Panzern und Maschinengewehren anschloss (einschließlich einer Scheinschlacht), war dies eine gelungene Überraschung fur 20.000 applaudierenden Zuschauer; die Welt hatte zudem einen nachhaltigen Eindruck von der militärischen Stärke des neuen Regimes bekommen. 97
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Als „achte Großmacht" des 20. Jahrhunderts, so Goebbels, sollte der Rundfunk einflussreichster Mittler zwischen geistiger Bewegung und Volk, zwischen Idee und Menschen sein. Die Forderung „Rundfunk in jedes Haus!" diente dazu, auf der nationalen Wellenlänge, bald hämmernd, bald einschmeichelnd das Wohnzimmer mit den Schaltstellen der Macht zu vernetzen; der Richtstrahl der nationalsozialistischen Weltanschauung und Weltdeutung erwies sich von größter Penetranz. „Das ist das Wunder unserer Zeit, daß ihr mich gefunden habt - daß ihr mich gefunden habt unter so vielen Millionen! Und daß ich euch gefunden habe, das ist Deutschlands Glück", sagte Hitler am 13. September 1936 auf dem Parteitag in Nürnberg.37 Der Rundfunk förderte in einem bisher ungekannten Maße solche .Vereinigung': Hitler als Laut-Sprecher vermittelte sich über den Lautsprecher. Die Stimme des Führers sei das Wichtigste am ganzen Rundfunk, orakelte denn auch Eugen Hadamovsky; allein im Jahr 1933 wurden fünfzig Hitler-Reden übertragen. Doch scheute der Diktator das Studio; nur einmal, am Abend des 1. Februar 1933, hielt er als Reichskanzler eine Direktrede im Rundfunk über ein Mikrofon vor der Reichskanzlei; er verlas seinen , Aufruf an das deutsche Volk', mit dem er den Wahlkampf für die Wahlen am 5. März eröffnete. Offenbar wenig zufrieden mit seiner ersten (und deswegen auch einzigen) Live-Rede im Rundfunk, musste sie doch noch einmal aufgenommen werden; sie wurde erst am 2. Februar als Aufzeichnung, aber dann gleich dreimal über alle deutsche Stationen gesendet. Hitler sei, meinte der Tiefenpsychologe C. G.Jung 1938, „der Lautsprecher, der das unhörbare Wispern der deutschen Seele verstärkt, bis er vom bewußten Ohr der Deutschen gehört werden kann. Er ist der erste Mensch, der jedem Deutschen sagt, was er die ganze Zeit, besonders seit der Niederlage im Weltkrieg, in seinem Unbewußten über das deutsche Schicksal gedacht und gefühlt hat."38 Die Zuhörer erwiesen sich als Hörige eines Mannes, dessen halluzinierter Auftrag es war, die deutsche Niederlage von 1918 rückgängig zu machen und die Wiedergeburt nationaler Weltgeltung zu ermöglichen. Um die Deutschen zu einem Volk der Radiohörer zu machen, wurde seit Sommer 1933 der .Volksempfänger' verkauft, ein preiswertes Gerät, dessen Typenbezeichnung VE 301 an den Tag der Machtergreifung der Nationalsozialisten am 30.1. erinnern sollte. Dabei hatte schon Ende der zwanziger Jahre die Rundfunkindustrie angesichts der wirtschaftlichen 98
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Lage und des stagnierenden Absatzes gefordert, einen Rundfunkempfänger zu entwickeln, der in Großserie und deshalb zu erschwinglichem Preis auf dem Markt angeboten werden sollte; die Produzenten hatten sich damals jedoch nicht einigen können. Mit der Verpflichtung, „Arbeit und Brot" sowie ein Sprachrohr fur Partei und Regierung zu schaffen, setzte nun das Goebbels-Ministerium den Zusammenschluss von 28 Unternehmen durch. Diese produzierten gemeinsam, je nach Leistungsfähigkeit und neben ihren anderen, teueren Geräten, zunächst bis 1938 den VE 301. Dass der neue Massenempfanger - mit seinem Preis von 76 Reichsmark nur halb so teuer wie technisch gleichartige Markengeräte (je nach Typ Bakelit- oder Holzgehäuse) unter das Volk kam, dafür sorgte Goebbels mit seinen Reichsfunkwarten und sogar mit Unterstützung des Militärs. Mit entsprechenden Plakat- und Verpflichtungsaktionen unter Slogans wie Jeder Deutsche hört den Führer' oder ,Der Rundfunk als Lebensbegleiter' warb die Partei; und die Industrie folgte mit Anzeigen wie: „Im Gleichschritt unserer Zeit: AEG. 1933/34 Rundfunk-Geräte" oder „Kauft! Schafft deutschen Arbeitern Brot! SABA". Auch der Handel ließ sich von der Aussicht auf gute Geschäfte durch zwar billige, jedoch umsatzstarke Geräte in Hochstimmung versetzen; in einem Großhandelskatalog für 1933/34 heißt es unter anderem: „Die nationale Erhebung mit ihren gewaltigen geschichtlichen Vorgängen, deren Zeugen wir sein durften, hat uns auch endgültig den wahrhaft deutschen Rundfunk gebracht."39 Jedenfalls versöhnten die rasch steigenden Teilnahmerzahlen unter den Radiohörern rasch Handel wie Industrie mit dem niedrigen Preis
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Propagandablatt für die Reichstagswahl 1936
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und den geringen Gewinnspannen; zumal der VE 301 in Modellvarianten und dann auch mit beleuchteter Senderskala sowie größerer Lautsprecherdynamik produziert wurde und fur die Industrie bald Aufträge für große Lautsprechersäulen zur Beschallung öffentlicher Plätze hinzu kamen. So marschierten denn auch Partei, Industrie und Handel im .Gleichschritt der Zeit' gemeinsam in die neue Rundfunk-Zukunft. Ebenso wie schon dem von den Nationalsozialisten gedemütigten Hans Bredow war den neuen Machthabern das Wort,Radio' nicht deutsch genug, weshalb sie nur noch vom .Rundfunk' sprachen und sprechen ließen. Der Volksempfänger war übrigens zur Eröffnung der 10. Großen Funkausstellung am 18. August 1933 in Berlin vorgestellt worden. Am ersten Tag, so Reichssendeleiter Hadamovsky, seien bereits 100.000 und in den nachfolgenden achtzehn Monaten 830.000 Stück verkauft worden. Ab 1938 wurde eine verbesserte und verbilligte Ausfuhrung des Volksempfänger für 65 Reichsmark angeboten: der DAF1011 (eine Bezeichnung, die auf die .Deutsche Arbeitsfront' und den 10. November 1933 verwies, den Tag, an dem Hitler erstmals in Berlin vor Arbeitern der Siemens-SchuckertWerke gesprochen hatte). Es war ein Gerät, das speziell für die Werktätigen in den Betrieben bestimmt war - mit einem Erscheinungsbild von strenger Sachlichkeit, das seine Funktion als Arbeitsgerät für den deutschen Werktätigen symbolisieren sollte. Daneben gab es aus Anlass der Olympiade 1936 in Berlin ein Koffergerät, den .Deutschen Olympia-Koffer', das zum Preise von 138 Reichsmark den mobilen Rundfunkempfang, also die allgegenwärtige Erreichbarkeit des Hörers garantierte. Höhepunkt dieser Model- und Marktpolitik war der, ebenfalls seit 1938 in den Handel gebrachte .Deutsche Kleinempfanger' DKE 1938, hinter dessen Typen-Bezeichnung sich kein Gedenktag verbarg. Im Volkswitz wurde er als .Goebbelsschnauze' bezeichnet, wobei solcher Spott auch das Wissen um die ideologische Funktion des Rundfunks einschloss. Zum Preis von 35 Reichsmark war das Gerät weniger als halb so teuer wie der VE 301 und aus wohl überlegten Gründen nicht so empfangsstark wie dieser, dafür aber für minderbemittelte Volksgenossen erschwinglich. Die Zahl der Rundfunkhörer in Deutschland stieg von 4 Millionen im Jahr 1933 auf 12 Millionen im Jahr 1938 und auf 16 Millionen im Jahr 1943. Das war in einem gewissen Ausmaß die Folge staatlich gelenkter Produktions- und Verkaufspolitik. Insgesamt war der Erfolg der politischen Geräte'jedoch keineswegs so überwältigend wie es offiziell dargestellt wurde. So waren 1933/34 von insgesamt etwa 1,6 Millionen verkauften Radios 600.000 Volksempfänger vom Typ VE 301 und 1934/35 100
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von 1,9 Millionen Verkäufen 810.000. Es waren also immer noch zwei Drittel der Verkäufe teuerere Radios; denn es ging der Bevölkerung in diesen Jahren nach der Wirtschaftkrise materiell besser. Die technische Novität, die Empfangsmöglichkeit für ausländische Programme und das höherwertige Design (als Statussymbol) waren zumeist für den Kauf entscheidender als die Möglichkeit, auf .billige Weise' den Führer reden zu hören. Das aber war, je näher der Krieg heranrückte, für die NS-Ideologen und den Reichspropagandaminister ein Problem, das nur dadurch zu lösen war, dass man dem Radio hörenden Volksgenossen teilweise das Vertrauen entzog, indem man das Abhören ausländischer Sender unter die Androhung drakonischer Strafen stellte. Demgegenüber galt das Hören des deutschen Rundfunks geradezu als eine nationale Pflicht. So wandte sich die Rundfunkkammer bereits 1933 an alle deutschen Volksgenossen, die noch nicht Rundfunkhörer seien und forderte sie auf, sich nicht länger von den großen Gegenwartsereignissen, die das Schicksal des Volkes bestimmten, abzuschließen. Der Aufgabe, jeden Volksgenossen zu einem Rundfunkhörer zu machen, widmete sich anfangs vornehmlich der ,Reichsverband Deutscher Rundfunkteilnehmer' (RDR), ein von zumeist deutschnationalen
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16 W e r b u n g für den Rundfunk in der N S - Z e i t
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Journalisten und Politikern betriebenes Unternehmen aus dem Umkreis des politisch stark rechts stehenden Alfred Hugenberg, das gegen den angeblich marxistischen Einfluss auf die Programme gerichtet war. Schon früh von der NSDAP unterwandert, wurde der RDR, als Interessenvertretung der Rundfunkhörer deklariert, im Oktober 1932 unter seinem neuen Vorsitzenden Joseph Goebbels und seinen Beisitzern Horst Dreßler-Andreß und Eugen Hadamovsky in die NSDAP übernommen - und 1935 aufgelöst. Die Interessen der Hörer vertrat jetzt ja die NSDAP mit ihren Funktionären direkt. Die Reichsrundfiinkkammer und die Funkwarte der Partei sorgten dafür, dass „deutsche Menschen in ständiger Empfangsbereitschaft gehalten" wurden. Zusätzlich propagierte der Staat den Gemeinschaftsempfang auf öffentlichen Plätzen, in Schulen, Betrieben und Institutionen; dafür sorgte ein Netz von etwa 6000 im Freien aufgestellten Lautsprechersäulen. Dem gleichen Zweck diente die .Reichsrundfunksäule', ein hoher, sechseckiger Turm, bestückt mit mehreren Großlautsprechern, der fur weiträumige Areale in den Städten geeignet war; die ersten 100 Exemplare wurden im Juni 1938 in Breslau der Öffentlichkeit übergeben. Die Finanzierung sollte übrigens durch Vermietung der großen beleuchteten Seitenwände als Werbeflächen erfolgen. Geldmangel im Vorfeld des geplanten Krieges und der Krieg selbst verhinderten dann den weiteren Ausbau des Projektes.
17 Werbeveranstaltung für den Rundfunk in der niedersächsischen Kleinstadt Bergen, Kreis Celle mit dem örtlichen Kreisfunkwart (1934)
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Mit Musik geht alles besser
Ein die neuen Machthaber entschieden ablehnender Zeitzeuge notierte 1940 in seinem Tagebuch über einen solchen Gemeinschaftsempfang im Freien: „Oh, ich vergesse ihn nicht, diesen glutheißen, im sommerlichen Rosenheim erlebten Julinachmittag, da die öffentlichen Lautsprecher Hitlers Triumphrede mit dem,letzten Friedensangebot an England' in den glühenden Abend brüllten und auf Deutschland ein sanfter Landregen von neukreierten Marschällen niederging. Eine stickige Luft, vollgestopft mit der geilen Begehrlichkeit einer erfolgberauschten Menge ... alte Spießer, die da drohten, ,man werde demnächst die Engländer mit dem Staubsauger einkassieren', obwohl sie sicherlich in ihrem Leben nie einen Engländer in freier Wildbahn gesehen hatten ... am Arm der obligaten Büromamsell der bramabarsierende Etappenurlauber, der hier als strategischer Experte galt und, England zu besiegen, nur mehr .höchstens vierzehn Tage' benötigte..."40
Die Gesinnung nicht auf den Präsentierteller legen. Mit Musik geht alles besser Bereits 1933/34 hatten die Nationalsozialisten erkannt, dass eine totale Politisierung der Programme bei der Bevölkerung eine Ubersättigung und dadurch eine Abkehr vom Rundfunk bewirken würde. So setzte man zum Ausgleich .deutsche kulturelle Höchstleistungen' in Szene. Das deutsche kulturelle Erbe sollte im Geist der NS-Ideologie interpretiert und auf diese Weise legitimiert werden. Den Anfang machte 1934 ein Beethoven-Zyklus. Innerhalb von 12 Tagen strahlten alle deutschen Sender die Oper „Fidelio" und die neun Beethoven-Sinfonien aus. Die Rundfunkpresse lobte pflichtschuldig dieses Unternehmen als „gigantische, nationalsozialistische Kulturleistung". Ein Wagner-Schiller-Chamberlain-Zyklus folgte und fand seinen abschließenden Höhepunkt mit einer Übertragung von Wagners „Ring des Nibelungen", die von vielen ausländischen Sendern übernommen wurde. In einem Aufsatz unter dem Thema „Von Beethoven zu Hitler. Geistige Wegbereiter der nationalsozialistischen Erhebung" aus dem Jahr 1934 stellte Eugen Hadamovsky einleitend fest: „Der nationalsozialistische Rundfunk hat mit dem Januar 1934 Aufgaben in Angriff genommen, die in großer Linie daraufhinausgehen, das nationalsozialistische Gedankengut im Volk zu verankern und der Welt verständlich zu machen. Der Januar 1934 begann mit der Beethoven-Dekade, der Sendung der einzigen Oper Beethovens und seiner neue [: neun] herrlichen Symphonien.... Die geistige Linie der nationalsozialistischen Rundfunkgestaltung geht bewusst von Beethoven zu Wag103
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ner, zu Nietzsche, Houston Stewart Chamberlain, dem Bayreuther Kreis des zwanzigsten Jahrhunderts und dem Ideengut des Führers."41 Im Winterhalbjahr 1935/36 gab es einen großen Mozart-Zyklus und 1936/37 einen Schubert-Zyklus: Jeweils donnerstags zur besten Abendsendezeit zwischen 20.10 und 21.00 Uhr wurden über mehrere Wochen Leben und Werk der Komponisten in ansprechender, leicht verständlicher und keineswegs penetrant ideologisierter Weise vorgestellt. Wichtig war der Schein von kultureller Kompetenz und der Beweis nach draußen, dass die deutsche Kultur nicht nur reich und geschichtsmächtig, sondern in den Händen der neuen Macht auch gut aufgehoben sei. Goebbels hoffte so, jene anzusprechen, die der NS-Bewegung noch skeptisch gegenüber standen; zudem wollte er das ,Ohr der Welt' gewinnen. Die nahe liegende Vermutung, dass der Rundfunk in der Zeit der NSDiktatur seinen Hörern vor dem Krieg fortwährend oder zumindest überwiegend Propaganda und deutsche Volksweisen, während des Krieges dann Marschmusik und Wagner-Opern angeboten habe, ist ebenso irrig wie die Annahme, dass das Programm zwischen 1933 und 1945 eine unveränderte Größe im ideologischen Arsenal der Machthaber gewesen sei. Auch Diktaturen müssen, wenn sie dem Rundfunk eine machterhaltende Funktion zuerkennen, den Erwartungen und Stimmungswandlungen der Nutzer, die keineswegs immer freudige Zwangshörer sind, Rechnung tragen. Das Werben der neuen Machthaber um Rundfunkhörer hatte einen zusätzlichen handfesten Grund: Aus den monatlichen Rundfunkgebühren von seit 1924 unverändert zwei Reichsmark erhielt das Propagandaministerium bis zum Kriege 1,35 und im Kriege 1,62 Mark zugewiesen, die nur zu einem geringen Teil fur Rundfunk-Zwecke verausgabt wurden. In seiner Rede vor den Intendanten am 25. März 1933 hatte Goebbels im Hinblick auf die Sendungen und Programme des Rundfunks gewarnt, die Gesinnung auf den Präsentierteller zu legen.42 Zeitnah-aktuell, interessant und unterhaltend sollte das modernste Medium der Zeit sein, um auf Umweg die Hörerschaft für politische Indoktrinierung zu gewinnen. Schon wenige Monate nach der Übernahme des Rundfunks sah sich Goebbels veranlasst, die Intendanten zu ermahnen, in nächster Zeit die politischen Reden und Übertragungen auf ein Mindestmaß zu beschränken und die Programme statt dessen stärker auf Unterhaltung auszurichten. Das war 1933/34 allerdings kaum machbar, denn die zahllosen politischen Ereignisse und Großveranstaltungen des neuen Regimes hatten ja ihren Niederschlag in politischen Sendungen und Sondersendungen zu finden, was zu ständigen Programmänderungen führte. Themen waren 104
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etwa: Die politische Gleichschaltung der Länder und vieler Organisationen, die Verabschiedung immer neuer Gesetze (wie ζ. B. des „Ermächtigungsgesetzes" und des „Gesetzes über die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums"), Boykott-Tage gegen jüdische Geschäfte, der Führergeburtstag, der neu eingeführte 1. Mai als ,Tag der nationalen Arbeit', der Nürnberger Reichsparteitag im Herbst und die Reichstagswahlen im November. Solcher Eifer seiner neuen, sowohl unerfahrenen als auch übereifrigen Partei-Intendanten war dann selbst Goebbels zuviel. Er untersagte nach der Reichstagswahl vom März 1933 alle Übertragungen politischer Ereignisse, soweit sie nicht von überregionalem, allgemeinem Interesse waren und verfugte, monatlich nicht mehr als zwei politische Reden ins Programm zu übernehmen. „Aus dem Volk - für das Volk" sollte der Rundfunk seine Sendungen gestalten, nicht vorrangig belehren, sondern erst dann und dort offen indoktrinieren, wenn die Hörer von den Sendungen überzeugt waren. Hadamovsky stellte 1934, ganz im Sinne seines Ministers, fest: „Künstlerische Erziehung durch den Rundfunk und kulturelle Hebung des allgemeinen Volksniveaus kann nur bei Beobachtung der psychologischen Aufnahmebedingungen des Rundfunkhörers erfolgen.... Wollen wir unseren Rundfunk nicht durch verkehrte reaktionäre Tendenzen zugrunde richten und unsere Hörer zum regelmäßigen Auslandsempfang erziehen, dann muß das gesamte Programm auf der Grundlage der leichten Musik und der aktuellen Nachrichten aufbauen. Erreichen wir das, dann können wir darüber hinaus das große musikalische Kunstwerk und das große wortgestaltende Kunstwerk von Zeit zu Zeit in unserem Programm bringen. Dann aber muß es sorgfaltig und umfassend vorbereitet werden. Es muß schon lange vorher sichtbar werden und dann künstlerisch so reif und vollendet zur Sendung kommen, dass es im Range hinter keiner anderen Kunstgattung zurücksteht und als Höchstleistung einfach nicht zu übertreffen ist."43 Bei der offiziellen Eröffnung des Reichssenders Saarbrücken am 4. Dezember 1935 verkündete Goebbels persönlich den dabei anwesenden Intendanten als neue Programmrichtlinie vermehrte Angebote von Unterhaltungssendungen in Musik und Wort. Die Sender hätten eigene Abteilungen für Unterhaltung und Unterhaltungsmusik einzurichten, wobei die Reichssendeleitung in die Programmgestaltung einzubeziehen sei. In Saarbrücken waren die Intendanten übrigens das letzte Mal zu einer eigenständigen Konferenz zusammengetroffen; von nun an erhielten sie ihre Weisungen wenn nicht direkt vom Reichssendeleiter, dann auf den jährlichen Konferenzen im Propagandaministerium oder indirekt 105
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bei Gelegenheit der Funkausstellungen durch die öffentlichen Reden des Ministers. Bei der Eröffnung der 13. Deutschen Funkausstellung 1936 in Berlin mahnte Goebbels erneut die Befriedigung der Unterhaltungsbedürfnisse an, „weil die weitaus überwiegende Mehrzahl aller Rundfunkteilnehmer meistens vom Leben sehr hart und unerbittlich angefasst wird, in einem nerven- und kräftezehrenden Tageskampf steht und Anspruch daraufhat, in den wenigen Ruhe- und Mußestunden nun auch wirklich Entspannung und Erholung zu finden. Demgegenüber fallen die wenigen, die nur von Kant und Hegel ernährt werden wollen, kaum ins Gewicht."44 Eine der wenigen Hörerumfragen aus dieser Zeit wurde 1935 von der Rundfunkfirma TELEFUNKEN unter 1000 Hörern in Berlin, Brandenburg und Frankfurt am Main durchgeführt.45 Die sowohl regional wie auch sozial recht differenziert aufgebaute Befragung galt sicherlich vorrangig der Absatz- und Produktpflege der eigenen Geräte. Interessant ist, dass 76 Prozent der Befragten ihren Wunsch nach Unterhaltung und Allgemeinbildung als Kaufgrund für ein neues Radio nannten; der technische Fortschritt der Geräte stand mit 14 Prozent an zweiter Stelle (dabei war störungsfreier Empfang wichtigstes Kriterium). Bei den beliebtesten Sendungen hatten leichte Unterhaltungsmusik und Tanz insbesondere unter Arbeitern und Angestellten eine hohe Präferenz. („Höre gern Unterhaltungsmusik, Tanzmusik, schöne Schlager, bloß keine so langweilige Musik mit Schis-Moll und Allegro".) In den sozial besser gestellten Kreisen wurde klassische, anspruchsvollere Musik, auch als Anregung fiir eigenes Musizieren, gerne gehört; man ziehe sich abends zum Hören von Rundfunkkonzerten oder Opern schön an und trinke manchmal Wein dabei, um ein festliches Fluidum zu schaffen. „Wie Unterhaltungsmusik zu definieren sei, war Gegenstand vieler Überlegungen, die sich bis zum Ende des Dritten Reiches hinzogen. Die meisten Hörer, konstatierten die ,Schlesischen Monatshefte' im August 1935, verlangten nach .Charakterstücken' und das gerade, meinte die Zeitschrift, seien Kompositionen,,deren Charakter es ist, keinen Charakter zu haben'. Ihre Titel sind eine einzige Wachtparade der Niedlichkeiten. Angefangen von .Leuchtkäferchens Liebesreigen' und ,Froschkönigs Brautwerbung' bis zu .Heuschrecks Abendständchen' wird das ganze Reich der Entomologie und der Amphibien bemüht, um dem Hörer diese musikalische Sülze schmackhaft zu machen. Daß eine Einschränkung dieser Kompositionen, wenn man sie zunächst auch nicht ganz ausschalten kann, dem .Niveau' des Programms nur zum Vorteil gereichen kann, liegt auf der Hand. Das gleiche gilt von der Schlager- und Tonfilm106
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musik. Auch hier wird ein Zuviel stets von Übel sein. Aber auch der Arbeiter der Stirn wird sich von Zeit zu Zeit willig einem Konzert hingeben, das sich nicht in den olympischen Bezirken der Kunst bewegt. Seien wir ehrlich: Ertappten wir uns nicht mitunter selbst beim Pfeifen eines banalen Schlagers, wenn wir mal besonders gut gelaunt waren?"46 Im Sommer 1939 fragte die Rundfunkzeitschrift .Deutsche RadioIllustrierte' ihre Leser: „Was hören Sie am liebsten?" Es gingen 9500 Zuschriften ein, deren Auswertung aber, wohl wegen des Kriegsbeginns, erst 1941 veröffentlicht werden konnte. Von „Hörspiel" (Platz 1 der Vorgaben) bis „Dichterstunden" (Platz 17) und „Sonderwünsche" konnten die Hörer ihre Vorlieben benennen. An erster Stelle der Beliebtheitsskala lagen mit 87 Prozent der Teilnehmer „Lustige bunte Abende", gefolgt von Militärmusik (84,5 Prozent), Alte Tanzmusik (82,5 Prozent) und Volksmusik (80 Prozent). Das Hörspiel mit 50,5 Prozent der Nennungen nahm Rang 5 ein; dann kamen Sportübertragungen (40 Prozent) und leichte Unterhaltungsmusik (35 Prozent). Symphoniekonzerte mit 8 Prozent, Kammermusik mit 7 Prozent und Dichterstunden mit 6 Prozent standen am Ende der Nennungen. Die Aufschlüsselung der Ergebnisse ergab, dass die Programmvorlieben der sozialen Zusammensetzung der Hörerschaft folgten. Insgesamt konnte sich die Führung des Rundfunks, konnten sich Goebbels, Glasmeier und Hadamovsky in ihrer Programmlinie also voll bestätigt fühlen. Nachdem die erste Phase des indoktrinierenden Rundfunks bzw. die Zeit der Inbesitznahme des einst verhassten ,Systemrundfunks' vorüber war, lässt sich für die Zeit etwa ab 1935 feststellen, dass das Programm deutlich erkennbare Veränderungen erfuhr: Der Musikanteil am Gesamtprogramm stieg von 61 Prozent 1935 bis 1937 auf über 72 Prozent. Solche Gewichtsverschiebung wurde ganz wesentlich durch die drastische Rücknahme aller Wortsendungen, vor allem solcher mit bildenden und belehrenden Themen, erreicht: Literatur-Sendungen waren noch mit 4,7 Prozent, Vorträge mit 8,5 Prozent und Nachrichten mit 11,8 Prozent der Sendezeit im Programm vertreten.47 Wichtiger als die Zahlen waren wohl die inhaltlichen Veränderungen der Sendungen und ihre Platzierung im Programm. So wurden (schon damals) die Wortsendungen mit bildenden und belehrenden Inhalten während der besten Vorabendzeit zwischen 19.00 und 20.00 Uhr gänzlich aus dem Programm genommen, Vorträge und Literatursendungen reduziert und (wie heute) nur noch am späteren Abend angeboten. Sendungen fur bestimmte Zielgruppen, wie Frauenfunk, Schulfunk und Landfunk, verlegte man auf den Vormittag in die regionalen Programme. In 107
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den Musik- und gemischten Wort-Musiksendungen dominierten Volksmusik, gehobene Unterhaltungs- und Militärmusik; klassische Musik fand sich zumeist im Kontrastprogramm des .Deutschlandsenders' oder in den Abendprogrammen, dann meist als .populäre, leichte Klassik', gemischt mit anspruchsvoller Unterhaltungsmusik. Sinfonische Konzerte oder Opernsendungen gab es nur noch selten, und dann nur bei besonderen Programmschwerpunkten. In die beste Hörerzeit des Vorabendprogramms zwischen 19 und 20 Uhr setzte Goebbels an die Stelle der bisherigen Bildungssendungen eine Belehrung neuer Art: Ab 1. April 1933 musste hier von allen Sendern im Reich die tägliche .Stunde der Nation' als Pflichtsendung übernommen werden. In ihr wurden Themen aus Geschichte und Gegenwart, aus Politik und Kultur behandelt - historische Darstellungen aus dem Geiste der NS-Ideologie; der Hörer sollte sich hier „als Teil der Gesamtheit, der Einheit des Volkes" und als „Glied einer Erlebnisgemeinschaft großen Umfangs" fühlen. Doch gab es auf diesem Sendeplatz gelegentlich durchaus Beiträge ohne weltanschauliche Indoktrination, etwa Konzerte von Hans Pfitzner mit eigenen Werken und Beethovens 8. Sinfonie, literarische Themen aus der klassischen Literatur und sogar Humorvolles. Die Reichssender verloren aufgrund dieser gemeinsamen Sendung ein weiteres Stück ihrer Programmautonomie; damit begann schon früh ein Weg, der direkt in ein Gemeinschaftsprogramm führte. Im Zuge der weiteren ,Entwortung' und Auflockerung des Programms zugunsten der Unterhaltungsmusik zu bester Sendezeit, wurde allerdings selbst .Die Stunde der Nation' zunächst auf drei Tage in der Woche reduziert, dann zu einer späteren Zeit am Abend gesendet und Ende 1935 eingestellt. Die Programme nach den Abendnachrichten, zwischen 20.10 bis 22 Uhr folgten wie diejenigen am Tage den gleichen Vorgaben: keine Belehrung, wenig Anspruchsvolles, gehobene Unterhaltung in Wort und Musik. Ausnahmen gab es etwa zu besonderen Anlässen und Feiern, zu Gedenktagen und bei politischen Aktionen. .Volksnähe' bestand darin, dass etwa ein Abendprogramm von der Hitlerjugend oder der Wehrmacht gestaltet wurde. Anders als 1933/34 unterließ man nun stundenlange Übertragungen von Reden und Gedenkstunden; bei solchen Anlässen wurde eine flexiblere Programmstruktur praktiziert. So bestand am 30. Januar 1938, dem fünften Jahrestag der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, das reichsweite Sonderprogramm vornehmlich aus vier großen Konzertblöcken von insgesamt 10 Stunden und nur drei Wortsendungen mit insgesamt 2 Stunden Dauer. Ahnliche Sonderprogramme gab es jedes Jahr zum 1. Mai, dem von der NSDAP eingeführten ,Tag der nationalen 108
Der Rundfunk wird zur Waffe
Arbeit' und zum 9. November, zur Erinnerung an Hitlers gescheiterten Münchener Putsch von 1923. Im Rahmen dieser reichsweit übertragenen Feierstunden wurde nachts ab 23.30 Uhr das Gelöbnis junger Rekruten der SS-Totenkopfverbände und der SS-Verfugungstruppe gesendet. Den 20. April, Hitlers Geburtstag, konnten die Reichssender bis 1940 in eigener Regie, aber nicht nach eigenen Vorstellungen gestalten.
Auf dem Weg zum Krieg: Der Rundfunk wird zur Waffe
Schon im September 1936 hatte Hitler in einer Denkschrift zum ,Vieijahresplan der Wirtschaft' die Parole ausgegeben, sich in diesem Zeitraum auf einen Krieg einzustellen - mit dem Ziel, auf solche Weise die deutschen Rohstoff- und Nahrungsmittelprobleme zu lösen. Am 5. November 1937 traf er dann mit den Oberbefehlshabern von Heer, Luftwaffe und Marine zusammen; anwesend waren auch der Reichswehrminister Werner von Blomberg und der Außenminister Konstantin Freiherr von Neurath; bei dieser Besprechung, die Friedrich Hoßbach, damals General und Wehrmachtsadjutant bei Hitler, protokollierte, erklärte er mit einer gewissen Feierlichkeit seine Expansionsziele; zunächst wären bei günstiger Konstellation, vielleicht schon 1938, Osterreich und die Tschechoslowakei dem Deutschen Reich einzuverleiben; Lebensraum sollte im Osten gewonnen und der Kampf um die Weltmacht vorbereitet werden. Blomberg und der Oberbefehlshaber des Heeres brachten Einwände gegen Tempo und Zeitpunkt der geplanten Aktionen vor; bestürzt war auch von Neurath, doch konnte Hitler sich bald des Reichswehrministers wie auch des Außenministers entledigen. Die Vorbereitungen auf den Krieg sollten intensiv propagandistisch begleitet werden und fur den Ernstfall waren umfangreiche Maßnahmen zu treffen. Dabei kam es zu Kompetenzstreitigkeiten zwischen Wehrmacht, Propagandaministerium und Auswärtigem Amt. Goebbels schuf in seinem Ministerium das Reichsverteidigungsreferat, dessen Arbeitsgebiet alle Fragen der Wehrmachtspropaganda und der Propaganda im Krieg umfasste; desgleichen sollte beobachtet werden, wie der Gegner seine Propaganda gestaltet, etwa seinen Rundfunk benutzen werde. Rundfunkabhörstellen müssten zum Zeitpunkt der Mobilmachung zur Verfugung stehen. Auch die Wehrmachtsfuhrung entfaltete Aktivitäten, um ihre künftige Propagandaarbeit mit Blick auf den Rundfunk effektiv zu organisieren. Dazu gehöre das Steuern von Nachrichten, Anregungen fur Reportagen, mehr noch die Pflege des Wehrgedankens (unter anderem durch Sendungen wie dem zweistündigen Programm „Garnisonen an Großdeutschlands Grenzen", die vom 109
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,Deutschlandsender' und sechs Reichssendern gestaltet wurden). Im Winter 1938 einigten sich das Propagandaministerium und das Oberkommando der Wehrmacht über die Aufstellung von sogenannten Propagandakompanien bei den Armee-Oberkommandos, die aus militärisch und journalistisch geschulten Kriegsberichterstattern bestanden. Bei Kriegsausbruch gab es bei Heer, Luftwaffe und Marine bereits vierzehn solcher Einheiten, die mit Geräten für Film- und Rundfunkaufnahmen ausgestattet waren. Ab Sommer 1938 wurde die Presse und ab Anfang 1939 auch das Radioprogramm musikalisch .eingetrübt'. Statt des .Immer fröhlich' gab es nun häufiger Sendungen mit ruhigerer, auch ernster Musik; Wort- und Informationsprogramme, insbesondere politische Nachrichten, wurden häufiger, und immer wieder konnte man Sendungen fur und mit Soldaten (als offene Sympathiewerbung für die Wehrmacht) hören. Der Krieg stand bevor und die Bevölkerung war darauf einzustimmen. Doch ehe Hitler den Krieg begann, traf Goebbels vorbereitende Maßnahmen. So brachten die Reichssender Hamburg und Köln seit dem 21. April 1939 täglich um 20.15 Uhr Nachrichten in englischer Sprache, einen Monat später noch zusätzlich um 22.15 Uhr eine zwanzigminütige Sendung. Essendete Stuttgart fünfmal wöchentlich Nachrichten auf Französisch und einmal aufSpanisch, Königsberg und Breslau fünf- beziehungsweise sechsmal in der Woche in polnischer Sprache. Diese Informationsoffensive war zum einen die Antwort auf die Londoner BBC, die nach dem Münchener Abkommen vom September 1938 mit ihrem deutschen Programm begonnen hatte; man wollte aber vor allem dem Ausland den deutschen Friedensstandpunkt vermitteln und den eigenen Hörern beweisen, dass man die ausländische .Hetzpropaganda' offensiv beantwortete. Die Bedeutung des Rundfunks bei der Durchsetzung revisionistischer Außenpolitik mit dem erfolgreichen Versuch, die Festlegungen des Versailler Vertrages aufzuheben, hatte sich erstmals 1935 gezeigt; die Entscheidung der Saarländer für die Rückkehr ins Deutsche Reich - das Gebiet stand nach dem Versailler Vertrag von 1920 unter Völkerbundsverwaltung - war ganz wesentlich von der NSDAP und dem GoebbelsMinisterium gesteuert worden. Da dieser Fall beispielhaft die Wechselbeziehungen von NS-Außenpolitik und Rundfunk aufzuzeigen vermag, sei er ausführlicher dokumentiert. Nach den Bestimmungen des Sonderstatuts für das Saargebiet war durch Erlass vom 6.12.1923 die Einrichtung und der Betrieb von Funksprechanlagen untersagt; es bestand seitens des alliierten Hochkommissars für das besetzte Rheinland außerdem bis 1928 ein vollständiges Funkverbot. In Verhandlungen mit der Interalliierten Rheinlandkommis110
Der Rundfunk wird zur Waffe
sion erreichte das Reichspostministerium, dass ab Februar 1928 der .Rundfunksender Kaiserslautern' aus der angrenzenden bayerischen Pfalz das Programm der .Deutschen Stunde in Bayern' aus München auch fur das Saarland senden durfte; nur in Notfallen, etwa bei Senderausfall in München, war es erlaubt, eigene Musiksendungen auszustrahlen. Immerhin meinte man in Berlin, dass auf diese Weise der Sender der Bevölkerung im Saargebiet „Trost und Stärkung in ihrem Kampf gegen die Fremdherrschaft bringen" könne.48 Forderungen aus dem Saargebiet auf Einrichtung eines eigenen Senders wurden noch Ende 1930 von der deutschen Regierung unter gesamtpolitischen Aspekten abgelehnt; allerdings müsse dafür gesorgt werden, dass ein deutscher Sender im Saarland zu hören sei, denn Reich und Staat bräuchten im Falle eines Abstimmungskampfes ein wirksames Mittel der Beeinflussung.49 Dementsprechend versuchte zunächst die Reichspost, die Sendeleistung und die technische Reichweite der Sender in Frankfurt, Stuttgart und Mühlacker in Richtung Saargebiet zu verbessern. Aber die Klagen der Hörer über schlechte Empfangsqualität und fehlende Sendungen aus der eigenen Region hörten nicht auf. Um den französischen Einfluss generell einzudämmen sowie als Gegengewicht zu einem von französischer Seite in Luxemburg geplanten Sender zu konterkarieren, wurde sogar der Bau eines Senders in Trier geplant. (In Straßburg hatte Frankreich bereits 1929 einen starken Sender aufgebaut, der mit seinem deutschsprachigen Programm im Saargebiet besser zu empfangen war als jeder deutsche Sender.) Auf eine solche Situation traf die Regierung Hitlers bei den Vorbereitungen fur die Propaganda zur Saarabstimmung. Am 14. November 1933 wurde der frühere Reichs- und damalige Vizekanzler Franz von Papen zum Saarbevollmächtigten der Reichsregierung ernannt; ihm wurde ein ,Saarpropagandaausschuss' an die Seite gestellt, den Goebbels allerdings, weil er dafür nicht zuständig war, als Provokation empfand. Der Gauleiter der Pfalz, Josef Bürkel, seit 1934 auch Nachfolger von Papens als Saarbevollmächtigter, entwickelte seinerseits rege Aktivitäten. Er forderte den Ausbau des zu seinem Gau gehörenden Senders Kaiserslautern und eine zusätzliche Sprechstelle an seinem Wohnsitz Neustadt, um auf die besonderen Fragen und Bedürfnisse der Saarpropaganda rascher eingehen zu können. Zwar fand er mit seinen Vorstellungen in Berlin bei der Reichspost kein Gehör, dafür aber bei seinem Parteigenossen im Frankfurter Sender: Intendant Beumelburg sicherte ihm im Auftrag der,Reichs-RundfunkGesellschaft' den Ausbau in Kaiserslautern innerhalb von sechs Wochen zu. Nun griff das Propagandaministerium in Berlin das Thema Saarabstimmung 111
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auf und gründete auf Goebbels' Veranlassung Anfang 1934 den Westdeutschen Gemeinschaftsdienst' (WGD) mit Sitz beim ,Reichssender Stuttgart'. Zum Leiter wurde Adolf Raskin berufen, der zwischen 1924 und 1929 bei der ,Saarbrücker Zeitung' Feuilletonredakteur, seit 1933 Parteigenosse und zuletzt Abteilungsleiter Musik beim Westdeutschen Rundfunk' war. Der W G D unterstand direkt dem Propagandaminister und wurde die zentrale Koordinations- und Verantwortungsinstanz für alle propagandistischen Sendungen und Aktionen: Sowohl die Programmorganisation als auch die inhaltliche Ausrichtung aller mit der Saargebietsabstimmung befassten Sendungen in den Reichssendern wurden unter Ausschaltung der Berliner RRG von Raskin verantwortet und gesteuert. Die deutsche Propaganda zur Saarabstimmung erreichte 1934 ihren Höhepunkt. Die Beiträge der Reichssender nahmen ein bisher unvorstellbares Ausmaß an: 1220 Sendungen, davon 73 über alle Sender ausgestrahlt; dabei waren alle Programmsparten, vom politischen Kommentar bis zum Kinderfunk, vom Hörspiel bis zur Übertragung von Großkundgebungen vertreten.50 Hitlers Reden zum Thema Saarabstimmung am 27. August 1933 am Niederwalddenkmal bei Rüsselsheim und nochmals am 26. August auf der Festung Ehrenbreitstein bei Koblenz wurden direkt vom Rundfunk übertragen; ebenso die Rede von Goebbels am 6. Mai 1934 beim ,Tag der Saar' im pfalzischen Zweibrücken; und auch Gauleiter Bürkel erfüllte sein Pensum überreichlich mit viel gehörten regelmäßigen Sendungen (jeweils sonntags um 15 Uhr). Die Funkwarte der NSDAP sorgten nahezu unbehelligt dafür, dass die mit Radiogeräten unterversorgte Bevölkerung die Propaganda der Reichssender empfangen konnte: 14.000 Volksempfänger wurden 1934 im Lande verteilt, so dass bis Ende 1934 an die 40.000 Saarländer angemeldete Rundfunkhörer waren. Auch der Gemeinschaftsempfang wurde im Saarland erprobt und nicht weniger als 325 Werbeveranstaltungen von dem durch die NSDAP beherrschten .Verband deutscher Rundfunkteilnehmer an der Saar' durchgeführt. Die Partei sammelte hier Erfahrungen, die sie bei späteren Propaganda-Aktionen ähnlicher Art, ζ. B. in Kampagnen gegen Osterreich und die Tschechoslowakei, voll nutzen konnte. Goebbels und Raskin war es propagandistisch darum zu tun, im gesamten Reich und in Europa eine,Saaratmosphäre' zu schaffen. Bei dieser verbanden sich nationale Töne mit nationalsozialistischer Ideologie, fröhlichbiedere Heimattümelei mit übler Hetze gegen linke Emigranten, die vor Hitler an die Saar geflüchtet waren und sich im deutschsprachigen Programm des französischen Senders Straßburg engagierten. Bewusst schürte man auch antifranzösische Ressentiments, denn aus Straßburg wurden in 112
Der Rundfunk wird zur Waffe
der täglich ausgestrahlten ,Saar-Chronik' die deutschen Propagandameldungen vom Vortag Punkt für Punkt kommentiert, überprüft und korrigiert. So waren diplomatische Verwicklungen und wechselseitige offizielle Proteste vorprogrammiert. Am 30 April 1934 schaltete der Präsident der Regierungskommission deswegen den Völkerbundsrat ein, aber das Auswärtige Amt war eigenständig nicht mehr handlungsfähig. Erst sechs Wochen vor der Abstimmung kam es zu Gesprächen auf diplomatischer Ebene zwischen den Kontrahenten und am 8. Dezember 1934 zu einem von deutscher und französischer Seite vereinbarten .Waffenstillstand im Äther'. Aber die Polemik setzte sich in manchen Sendungen fort; obwohl von Seiten der Deutschen am 28. Dezember zugesagt wurde, alle Angriffe auf die französische Regierung und ihre Organe zu unterlassen, erklärte Gauleiter Bürkel sich nicht daran gebunden: Er könne als Saarbevollmächtigter keiner Abmachung zustimmen, in der die deutschen Sender zu Vertragspartnern der französischen Sender gemacht würden. So startete nun der W G D zu einer letzten, uneingeschränkten Propagandakampagne. „1935 - Noch 13 Tage - Die Saar kehrt heim" war das Motto, unter dem zu Jahresende die letzten 20 Sendeminuten standen. Und am 6. Januar, dem ersten Sonntag des neuen Jahres, dem ,Tag der Saar', begannen alle Reichssender mit einem „Morgenruf von der Saar" um 6.35 Uhr und endeten um 24 Uhr mit der bunten Stunde „Fröhliche Saar" aus Stuttgart. Noch am Tag der Abstimmung, am 13. Januar 1935, unterbrachen die Sender im Reich wiederholt ihre Musiksendungen für Stimmungsberichte aus Saarbrücken, St. Wendel und Neunkirchen; die entsprechenden Schallplattenaufnahmen dafür waren von Motorradfahrern der NSDAP über die Grenze gebracht und von Frankfurt an alle Reichssender überspielt worden. Das Ergebnis der Abstimmung wurde zwei Tage später deutschlandweit übertragen; anschließend meldete Gauleiter Bürkel seinem Führer den .Abstimmungssieg an der Saar'; Hitler dankte den Saarländern in einer Rede vom Obersalzberg, so wie auch Goebbels aus dem Propagandaministerium in Berlin. Dann gab es am 1. März 1935 noch einen .Tag der Saarheimkehr', an dem der Rundfunk wieder als Instrument der NS-Propaganda freudig sich missbrauchen ließ. Anschließend machte sich Raskin mit seinen Mitarbeitern ans Werk, um den Reichssender Saarbrücken aufzubauen. Diesen .schenkte' Josef Goebbels bei der feierlichen Eröffnung am 4. Dezember 1935 den Saarländern, wobei er in einer programmatischen Rede neuen Aufgaben des Rundfunks in Deutschland umriss. (Von Adolf Hitler erhielten die Saarländer als Dankgeschenk ein Staatstheater an den Ufern der Saar, das noch heute bespielt wird. Immerhin hatten sich über 90 Prozent der Saarländer für die Rückkehr nach NaziDeutschland entschieden.) 113
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18 Saarkundgebung auf der Berliner Funkausstellung (1934)
Das .Lehrstück Saar', als Beispiel fiir die nationalsozialistische Instrumentalisierang des Rundfunks im Dienste außenpolitischer Expansionspolitik, fand bald eine Fortsetzung. Denn auch dem Einmarsch deutscher Truppen am 12. März 1938 in Osterreich und dem zwei Tage später erfolgenden Anschluss an das Deutsche Reich - unter dem brausenden Jubel der Bevölkerung - war ein Rundfunkkrieg vorangegangen, der durch die süddeutschen Sender, insbesondere den .Bayerischen Rundfunk' seit 1933 gefuhrt wurde. Dabei spielte ein Theo Habicht, Landesinspekteur der österreichischen NSDAP, eine besondere Rolle. Er war nach Deutschland abgeschoben worden und seine Hetze dort, auch im Radio, bewirkte verschiedene Demarchen der österreichischen Regierung. Im Hochsommer 1934 unternahmen er und seine Gefolgsleute einen Umsturzversuch, der im Sendegebäude des österreichischen Rundfunks begann. Der Nachrichtensprecher wurde gezwungen, den Rücktritt der Regierung unter Engelbert Dollfiiß, der bald danach von österreichischen Nazis ermordet wurde, bekannt zu geben; der Putsch wurde jedoch niedergeschlagen, da die Polizei in kurzer Zeit das Funkhaus besetzen konnte. Habicht wurde auf Anweisung Hitlers entlassen und den deutschen Reichssendern Zurückhaltung auferlegt; es kam sogar zu einem Abkom114
Der Rundfunk wird zur Waffe
men zwischen Deutschland und Österreich, wonach die Rundfunkpropaganda eingeschränkt werden sollte. Nach der Annexion wurde der österreichische Rundfunk zerschlagen, ein Teil der Mitarbeiter entlassen und nationalsozialistische Vertrauensleute mit den Führungsaufgaben im neu gebildeten .Reichssender Wien' betraut. In Vorbereitung der Auseinandersetzung mit der Tschechoslowakei stellten in Deutschland die Massenmedien, wieder an erster Stelle der Rundfunk, die Lage der Sudetendeutschen als unerträglich dar; zudem sollte deren Zusammengehörigkeitsgefühl mit den Deutschen im Reich gestärkt werden. Dem Versuch des tschechoslowakischen Rundfunks, durch Verstärkung des deutschsprachigen Programms, das seit Oktober 1925 bestand, den nationalsozialistischen Einfluss zu mindern, war kein großer Erfolg beschieden. „Sendereihen und einzelne Programme der grenznahen Reichssender Breslau, Leipzig, München und Wien putschten durch Nachrichten, Dichtervorlesungen, Vorträge und Beiträge sudentendeutscher Komponisten die Emotionen weiterhin auf. Aus den sich häufenden Zusammenstößen zwischen Deutschen und Tschechen hatten die deutschen Massenmedien das Gegensatzpaar zwischen tschechischem Terror und sudetendeutscher Disziplin zu konstruieren. Die Nachrichten in Presse und Rundfunk bewirkten, was sie bewirken sollten; eine weitere Verschärfung der Krise in der Tschechoslowakei, die allerdings auch die sudentendeutsche Bevölkerung in Mitleidenschaft zog und sie des SolidarisierungsefFektes wegen auch besonders treffen sollte. So klagten die sudentendeutschen Kurorte Karlsbad und Marienbad über ausbleibende oder plötzlich abreisende Kurgäste, die ,aus heftigen deutschen Presse- und Rundfunkmeldungen auf unmittelbare Kriegsgefahr' schlössen."51 Am 29./ 30.9.1938 wurde im .Münchner Abkommen' zwischen Deutschland, Italien, Großbritannien und Frankreich der Tschechoslowakei auferlegt, das Grenzgebiet von mehr als 28.000 qkm, ein Fünftel der Gesamtfläche der Tschechoslowakei, zu räumen und an Deutschland abzutreten. Der Rundfunk wurde auch hier zum Reichssender; der Reichsrundfùnk insgesamt führte von nun an die Bezeichnung .Großdeutscher Rundfunk'. Für den Einmarsch in Polen, der den Zweiten Weltkrieg auslöste, brauchte Hitler einen unmittelbaren Anlass. So führte der Sicherheitsdienst der SS, der schon vorher Grenzzwischenfalle inszeniert hatte, am 31. August 1939 einen fingierten Uberfall mit Hilfe verkleideter, polnisch sprechender SS-Leute auf den deutschen Rundfunksender Gleiwitz durch; die 20-Uhr-Nachrichten wurden unterbrochen und im Namen polnischer .Aufständischer' antideutsche Parolen verlesen. Um 6 Uhr am 115
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darauf folgenden Tag verbreitete der ,Großdeutsche Rundfunk' dann als Sondermeldung einen Aufruf des Führers an die deutsche Wehrmacht, dass nach dieser Verletzung der Reichsgrenze kein anderes Mittel als „Gewalt gegen Gewalt zu setzen" übrig bleibe. Wenig später erklärte Hitler im eilig zusammengerufenen Reichstag: „Polen hat heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch durch reguläre Soldaten geschossen. Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen! Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten." 52 Wahrscheinlich erschien selbst den Nationalsozialisten die Gleiwitzer Aktion zu lächerlich, als dass sie propagandistisch weiter ausgeschlachtet wurde, zumal bald die Sondermeldungen über die Erfolge der Truppen die Programme beherrschten. Festzuhalten aber bleibt: Der Rundfunk war Auslöser und zugleich ,Waffe' des nun einsetzenden furchtbaren Krieges; das modernste Medium der Zeit übernahm damit eine völlig neue Funktion - eine Funktion freilich, die schon im Ersten Weltkrieg erprobt worden, aber von seinen Gründungsvätern 1923 so nie beabsichtigt gewesen war.
Wir siegen uns zu Tode. Wehrmachtberichte und Sondermeldungen Der erste Wehrmachtbericht wurde am Freitag, 1. September 1939, um 11.35 Uhr ausgegeben: „Auf Befehl des Führers und Obersten Befehlshabers hat die Wehrmacht den aktiven Schutz des Reiches übernommen. In Erfüllung ihres Auftrages, der polnischen Gewalt Einhalt zu gebieten, sind Truppen des deutschen Heeres heute früh über alle deutsch-polnischen Grenzen zum Gegenangriff angetreten. Gleichzeitig sind Geschwader der Luftwaffe zum Niederkämpfen militärischer Ziele in Polen gestartet. Die Kriegsmarine hat den Schutz der Ostsee übernommen." 53 Bis zum katastrophalen Ende konnte man nun im .Großdeutschen Rundfunk' täglich, zumeist nach den 14 Uhr-Nachrichten, die stereotype Ankündigung des „Wehrmachtberichts" hören: „Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt". Hinzu kamen das laufende Programm jeweils unterbrechende aktuelle Sondermeldungen, eingeleitet mit Fanfaren, zeitweise auch mit den Anfangstakten aus Franz Liszts „Les Préludes"; an deren Ende wurde entweder Marschmusik oder später, bei eingestandenen Niederlagen (wie bei der verlorenen Schlacht um Stalingrad), Trauermusik gespielt. Durch Sondermeldung wurde zum Beispiel auch der Beginn der alliierten Invasion in der Normandie am 6. Juni 1944 angekündigt: „Der seit langem erwartete Angriff der Briten und Nordamerikaner gegen die 116
Wehrmachtbericht und Sondermeldungen
nordfranzösische Küste hat in der letzten Nacht begonnen. Wenige Minuten nach Mitternacht setzte der Feind unter gleichzeitigen heftigen Bombenangriffen im Gebiete der Seinebucht starke Luftlandeverbände ab. Kurze Zeit später schoben sich, geschützt durch schwere und leichte Kriegsschifteinheiten, zahlreiche feindliche Landungsbote auch gegen andere Abschnitte der Küste vor.... Der Kampf gegen die Invasionstruppen ist in vollem Gange." 54 Schließlich wurde mit einer Sondermeldung am 1. Mai 1945 der Tod Hitlers bekannt gemacht: „Aus dem Führerhauptquartier wird gemeldet, dass unser Führer Adolf Hitler heute Nachmittag in seinem Gefechtsstand in der Reichskanzlei, bis zum letzten Atemzug gegen den Bolschewismus kämpfend, fiir Deutschland gefallen ist." Am 2. Mai hieß es: „An der Spitze der heldenmütigen Verteidiger der Reichshauptstadt ist der Führer gefallen. Von dem Willen beseelt, sein Volk und Europa vor der Vernichtung durch den Bolschewismus zu erretten, hat er sein Leben geopfert. Dieses Vorbild .getreu bis zum Tode' ist fiir alle Soldaten verpflichtend."55 Hitler hatte sich in der Nacht vom 28. auf den 29. April mit seiner Geliebten, Eva Braun, die er kurz vorher noch heiratete, vergiftet. Goebbels, der .Schöpfer' und Herrscher über den .Großdeutschen Rundfunk', von Hitler testamentarisch zu seinem Nachfolger bestimmt, verweigerte seinem Führer zwar den Gehorsam, das Amt zu übernehmen, aber seinem Idol nicht die Gefolgschaft: Noch am gleichen Abend ließ er zunächst seine sechs Kinder durch einen Arzt umbringen, dann befahl er (wahrscheinlich) einem SS-Mann, seine Frau und ihn durch Schüsse in den Hinterkopf zu töten. Ausgegeben wurden die Wehrmachtberichte, die mehrere Instanzen durchlaufen mussten, vom Oberkommando der Wehrmacht, genauer: von der .Abteilung fur Wehrmachtspropaganda im Wehrmachtsfuhrungsstab des OKW', die vom 1. April 1939 bis zum Mai 1945 unter der Leitung des Generalstabsoffiziers Hasso von Wedel stand. Der Text, auf den einlaufenden Meldungen von Heer, Marine und Luftwaffe beruhend, wurde vom Chef des Wehrmachtsflihrungsstabes, Generaloberst Alfred Jodl (engster militärischer Berater Hitlers) Tag um Tag nach Form, Inhalt und Intention redigiert. Hitler selbst, als Oberbefehlshaber der Wehrmacht, gab ihn dann frei; anschließend wurde er unverändert über den Reichspressechef Otto Dietrich an die Zeitungen und über das Reichspropagandaministerium an den Rundfunk weitergegeben. Die Wehrmachtberichte sollten grundsätzlich der Wahrheit entsprechen und zugleich der Propaganda dienen. „Von Wedel sagte noch nach dem Krieg: ,Ich habe den Wehrmachtbericht immer als wohl das wert117
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vollste Propagandainstrument der Wehrmachtspropaganda betrachtet, allerdings unter der einen unabänderlichen Voraussetzung, dass er nur die Wahrheit bringen durfte und sich niemals der Lüge bediente', und fugt hinzu: ,In dieser Auffassung war ich auch einig mit dem Chef des Wehrmachtsfuhrungsstabes, einem Fanatiker der Wahrheit.' Der wiederum äußerte einmal unmutig: ,Es ist traurig genug, dass ich dem stellvertretenden Chef der Amtsgruppe Wehrmachtspropaganda erst klarmachen muß, dass auch der OKW-Bericht ein Propagandamittel ist.' In einem Geheimerlaß vom 18. Juni 1941 schärfte Jodl den Berichterstattern ein, dass die Wahrheit ,der Grundsatz fur die gesamte deutsche militärische Berichterstattung' sei, daß Erfolge erst dann veröffentlicht werden könnten, wenn sie bestätigt seien und: .Einige Mißerfolge sind hierbei in dem Umfang zu veröffentlichen, in dem sie vom Gegner und vom neutralen Ausland nachgeprüft werden können. Für die deutsche Öffentlichkeit ist mit der vorstehenden Einschränkung die Veröffentlichung auch von Misserfolgen erwünscht, um das eigene Volk zur notwendigen Härte zu erziehen.'"56 So gaben die täglichen Wehrmachtberichte ein ziemlich vollständiges Bild des Kriegsablaufs. Sicherlich wurden die Erfolge mit Übertreibungen gemeldet, die Rückschläge und eigenen Verluste euphemistisch kaschiert; dennoch konnte man, trotz der Verharmlosungen, Beschönigungen, Verzögerungen und Verschleierungen, die Realität verhältnismäßig leicht erkennen. Die Sondermeldung etwa, welche die Kapitulation der Reste der 6. Armee in Stalingrad am 3. Februar 1942 bekannt gab, lautete: „Der Kampf um Stalingrad ist zu Ende. Ihrem Fahneneid bis zum letzten Atemzug getreu, ist die 6. Armee unter der vorbildlichen Führung des Generalfeldmarschalls Paulus der Ubermacht des Feindes und der Ungunst der Verhältnisse erlegen. Ihr Schicksal wird von einer Flakdivision der deutschen Luftwaffe, zwei rumänischen Divisionen und einem kroatischen Regiment geteilt, die in treuer Waffenbrüderschaft mit den Kameraden des deutschen Heeres ihre Pflicht bis zum äußersten getan haben."57 Die Wahrheit war: Hitler und seine Wehrmachtsfuhrung hatten die Truppen sinnlos .verheizt' und hatten in Friedrich Paulus einen ehrgeizigen, zudem feigen Vollstrecker ihrer Verantwortungslosigkeit gefunden. In der Bevölkerung wurde den Wehrmachtberichten jedenfalls mehr Glaubwürdigkeit und deshalb auch größere Aufmerksamkeit geschenkt als den Nachrichtensendungen aus dem Ministerium Goebbels oder anderen Informationen und Kommentaren im Rundfunk. Der letzte Wehrmachtbericht wurde am 9. Mai 1945 um 20.30 Uhr, nach der bedingungslosen Kapitulation, ausgegeben. An diesem Tag war vom einstigen .Großdeutschen Rundfunk' nur noch der Nebensender 118
Botschaften von draußen
Flensburg des Reichssender Hamburg in Betrieb, mit einer auf das nördlichste Norddeutschland beschränkten Empfangbarkeit. Deshalb konnten nur wenige Hörer diese letzte Meldung über den verlorenen Krieg hören: „Seit Mitternacht schweigen nun an allen Fronten die Waffen. Auf Befehl des Großadmirals hat die Wehrmacht den aussichtslos gewordenen Kampf eingestellt. Damit ist das fast sechsjährige heldenhafte Ringen zu Ende. Es hat uns große Siege, aber auch schwere Niederlagen gebracht. Die deutsche Wehrmacht ist am Ende einer gewaltigen Übermacht ehrenvoll unterlegen. Der deutsche Soldat hat, getreu seinem Eid, im höchsten Einsatz für sein Volk für immer Unvergeßliches geleistet. Die Heimat hat ihn bis zuletzt mit allen Kräften unter schwersten Opfern unterstützt. Die einmalige Leistung von Front und Heimat wird in einem späteren gerechten Urteil der Geschichte ihre endgültige Würdigung finden. Den Leistungen und Opfern der deutschen Soldaten zu Lande, zu Wasser und in der Luft wird auch der Gegner die Achtung nicht versagen. Jeder Soldat kann deshalb die Waffe aufrecht und stolz aus der Hand legen und in den schwersten Stunden unserer Geschichte tapfer und zuversichtlich an die Arbeit gehen für das ewige Leben unseres Volkes. Die Wehrmacht gedenkt in dieser schweren Stunde ihrer vor dem Feind gebliebenen Kameraden. Die Toten verpflichten zu bedingungsloser Treue, zu Gehorsam und Disziplin gegenüber dem aus zahllosen Wunden blutenden Vaterland."58 Diese Phrasen, die den totalen Zusammenbruch Deutschlands im Stil einer Oper von Richard Wagner (dessen Musik in der letzten Kriegsphase bevorzugt über den Rundfunk verbreitet wurde) zu kaschieren suchten, zeigten noch einmal auf eklatante Weise die Heuchelei und Verlogenheit der NS-Führung, der auch der Rundfunk als propagandistische Waffe bis zuletzt willig gedient hat.
„Hier spricht London!" Botschaften von draußen
Der Rundfunk als grenzüberschreitendes Medium konnte den Nationalsozialisten und ihrer Propagandamaschinerie auch gefahrlich werden, dann nämlich, wenn Botschaften der Wahrheit, die Grenzen der Isolierung überspringend, ins .Nationalzuchthaus' eindrangen. Rudolf Arnheims Vision, dass es durch den Rundfunk immer schwieriger werde, die öffentliche Meinung eines einzelnen Volkes in einem bestimmten Sinne zu steuern, traf selbst für den NS-Staat zu. Zwar war der Volksempfänger nicht geeignet, Sender des Auslands zu empfangen, doch gab es Geräte, mit denen man dies konnte. (An deutschen Störsendern waren zu wenige und zu schwache vorhanden, um den Empfang zu behindern.) 119
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Freilich war die Möglichkeit, über Sender des Auslandes an objektive Informationen zu gelangen, fur viele zusätzlich erschwert aufgrund fehlender Sprachkenntnisse. Immerhin sendeten jedoch Radio Moskau seit 1929 (76 Stunden wöchentlich), Radio Straßburg seit 1930, Radio Vatikan seit 1931 und Radio Luxemburg seit 1932 deutschsprachige Programme. Und schließlich war der Schweizer Rundfunk, vor allem mit .Radio Beromünster', eine wichtige ,Wahrheitsverbreitungsquelle'. Im Laufe des Zweiten Weltkrieges dürfte die Zahl der ausländischen Einrichtungen, die deutschsprachige Sendungen ausstrahlten - häufig mit einem breit gefächerten Spektrum der Darbietungsformen (Nachrichten, Aufrufe, Reden, Interviews, Features, Hörspiele, Kabaretts, Unterhaltungsmusik, moderne Tanzmusik mit Swing und Jazz) -, bis auf 120 angestiegen sein. Besonderen Erfolg hatten dabei die von den Briten betriebenen Tarnsender (wie .Gustav' oder .Siegfried 1'), die sich mit ihren subversiven Programmen im Jargon der deutschen Kriegsberichterstattung vorwiegend an Wehrmachtsangehörige wandten. Auch bot der sogenannte .Deutsche Kurzwellensender Atlantik' von Februar 1943 bis 1. Mai 1945 zwischen 17.30 und 8 Uhr morgens (in der Zeit bester technischer Reichweite) fur die deutschen Fronttruppen in live-Sendungen Unterhaltung an. Ab 1942, nach Kriegseintritt der USA, brachte die .Voice of America' ein Programm mit 65 Sendungen am Tag, das vom .Office of War Information' verantwortet wurde. Ab Ende 1944 - die Alliierten waren mit ihrer Offensive in Frankreich bis weit nach Lothringen hinein vorgestoßen - tauchte in den späten Abend- und Nachtstunden plötzlich ein leistungsstarker Mittelwellensender auf, der allerdings seine Empfangsfrequenz in der Nacht ständig änderte. Dieser Sender war mit seiner Leistung von 600 kW auf Mittelwelle bis weit in das Reichsgebiet hinein hörbar. Hinter seinem geheimnisvollen Decknamen .Aspidistra' verbarg sich ein amerikanischer Geheimsender, der zu eben jenen Zeiten tätig war, in denen die Reichssender wegen der alliierten Luftangriffe auf deutsche Städte ihr Programm einstellten, um den feindlichen Bomberverbänden die Navigation zu erschweren. So benutzte er die Frequenzen der abgeschalteten Reichssender und war auf den Frequenzen von Köln, Frankfurt, Leipzig und Dresden empfangbar.,Aspidistra' brachte ein Programm, das denjenigen der Reichssender zum Verwechseln ähnlich war, wobei auch die Sprecher bis in die sprachlichen Nuancen hinein ,echt' klangen. Zur besseren Tarnung wurden Aufzeichnungen von Sendungen wiederholt, die am Tage von den Deutschen schon einmal gebracht worden waren. Unterbrochen wurden die Sendungen durch gleichfalls täuschend echt imitierte Luftschutzmeldungen und Durchsagen, etwa der NS-Gauleitungen an 120
Botschaften von draußen
die Bevölkerung. Beispielsweise wurde befohlen, dass alle Frauen und Kinder sofort und noch in dieser Nacht, nur mit dem Nötigsten versehen, ihre Wohnungen zu verlassen und sich zu bestimmte, oft abgelegene Orte zu begeben hätten, weil feindliche Truppen im Anmarsch seien. Solche Falschmeldungen hatten zur Absicht, die ohnehin entnervte und verunsicherte Bevölkerung weiter in Panik zu versetzen und vor allem auf den Straßen Chaos zu erzeugen. Urheber dieser Idee zur subversiven Nutzung des Radios will der britische Premierminister Winston Churchill gewesen sein, der bei einem Besuch im Hauptquartier des Oberkommandierenden der alliierten Truppen, General Eisenhower, vor Reims über die Programme der Frontsender gesagt habe: „... wir müssen sie auf alle Haupt- und Nebenstraßen jagen, damit sie die strategischen Bewegungen der Hunnen behindern, genau wie die französischen Zivilisten 1940 die Verbindungsstraßen der französischen Armee verstopften."59 Auf deutscher Seite hatte man dem nichts entgegen zu setzen und wich für die Luftlagemeldungen und andere wichtige Bekanntmachungen deshalb bis Kriegsende auf den über Telefon zu empfangenden Drahtfunk aus. Als eigentliches Zentrum funkischer Aufklärung fur Deutschland erwies sich der britische Rundfunk, die BBC (.British Broadcasting Corporation') in London. Dort begann man in Zusammenhang mit der Sudetenkrise 1938 in deutscher Sprache über Kurz-, Mittel und Langwelle jeweils auf mehreren Frequenzen zu senden. Für die Einrichtung des Programms hatte es einen besonderen Grund gegeben. Die Rede des britischen Premiers Houston Stewart Chamberlain, bis dahin ein Vertreter einer Appeasement-(Beschwichtigungs-)Politik, sollte in deutscher Übersetzung verbreitet werden, um den Deutschen klar zu machen, dass Großbritannien Hitlers imperialistische Maßlosigkeit in Zukunft nicht mehr hinnehmen werde. Der Ubersetzer der Chamberlain-Rede war Robert Lucas (eigentlich Robert Ehrenzweig), ein Chemiker aus Wien, Sozialist und Jude. Nach Errichtung der Dollfuß-Diktatur im April 1934 war er nach England geflüchtet und in London zunächst als Korrespondent für die Wiener .Neue Freie Presse' tätig. Bald umfasste die Sendezeit des deutschsprachigen BBC-Dienstes, mit Nachrichten als Schwerpunkt, dreiunddreißig Stunden wöchentlich. Eingeleitet durch die markanten Paukenschläge der ersten Takte aus Beethovens fünfter Symphonie, erwies sich das Programm bald als ein wirksames Instrument gegen die Nazipropaganda. Hier (wie bei den Rundfunkstationen anderer Länder) waren Journalisten und Autoren, die aus Deutschland und Osterreich vertrieben worden waren, wesentlich beteiligt. Einer von ihnen bei der BBC war Martin Esslin: „Es war eine 121
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bunt zusammengewürfelte Gesellschaft. Berühmte Schriftsteller, Schauspieler, Regisseure aus Deutschland, Politiker, Journalisten. Und dann wieder ganz unbekannte Leute wie ich selbst, die noch als Studenten in die Emigration verschlagen worden waren. Und diesen heterogenen, in einem fremden Land im Krieg die Sprache des Feindes sprechenden Menschen gegenüber die verantwortlichen Engländer. Auch sie eine höchst heterogene Gruppe. BBC-Leute, deren eigene Arbeit, zum Beispiel im Fernsehen während des Kriegsausbruchs aufgehört hatte. Philologen von Universitäten, die eben besonders gut deutsch sprachen. Was in England eine Seltenheit war und ist. Und wieder Politiker und Journalisten. Irgendwie gelang es, aus diesen so grundverschiedenen Elementen eine wirkliche Einheit zu machen. Leute, die schon sehr bald, nach einigen Monaten, in den gleichen Begriffen dachten, einen Gruppensinn, einen Gruppen-Instinkt entwickelten. Zum Teil war dieses Verdienst der Lage selbst. Der Krieg stellte an alle eine so eindeutige, eine so dringliche Forderung, daß die durchaus existierenden kleinlichen und egoistischen Gesichtspunkte der eigenen Karriere, des eigenen Einflusses doch sehr bald in den Hintergrund traten. Zum Teil war es aber das Verdienst der leitenden Persönlichkeiten dieses Teams. Vor allem Hugh Carleton Greenes und Lindley Fräsers, Richard Crossmans und Marius Gorings." 60 Der 1910 geborene Greene (Bruder des englischen Schriftstellers Graham Greene), der schon 1929, um die Sprache zu lernen, sich mehrere Monate in Deutschland aufgehalten hatte, war Zeitungskorrespondent in Berlin gewesen; kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde er des Landes verwiesen. Dieser exzellente Kenner innerdeutscher Verhältnisse übernahm 1940 die Leitung des Deutschen Dienstes der BBC, die er dann bis zum Ende des Krieges inne hatte. (Von 1946 bis 1948 wurde er im Auftrag der britischen Besatzungsmacht wichtigster Mit-Urheber der Rundfunkordnung im westlichen Nachkriegsdeutschland wie auch des ,Nordwestdeutschen Rundfunks'; von 1960 bis 1969 fungierte er als BBCGeneraldirektor - der beste, den die Einrichtung wohl je hatte.) Als eine besonders erfolgreiche Programmsparte des .Deutschsprachigen Dienstes der B B C war die Satire „Frau Wernicke", eine ,Volksjenossin' aus der Großen Frankfurter Allee in Berlin, die mit flottem Mundwerk über Versorgungsengpässe und Kriegsopfer plauderte, Nazi-Größen lächerlich und deren Gegnern auf hintersinnige Weise Mut machte. Der Autor dieser Sendereihe war Bruno Adler, mit dem Pseudonym Urban Rödl, der 1936 nach England geflüchtet war. Er zeichnete auch als Autor fur die Satire-Reihe „Kurt und Willi" - Dialoge von zwei Berliner Freunden, die zumeist im Kaffeehaus am Potsdamer Platz über die aktuelle 122
Botschaften vori draußen
Lage schwadronierten; der eine, Ministerialrat im Propagandaministerium, verkörperte einen hundertprozentigen, zynischen Parteigenossen, der andere, Lehrer von Beruf, stand für eine nüchterne Realitätssicht. Die Satire „Briefe des Gefreiten Hirnschal" war das Werk von Lucas; an sein „geliebtes Weib, die teure Amalia" gerichtet, schrieb sie der fingierte Landser aus Frankreich, dann Russland und auf der Flucht nach dem Westen. Die Figur hatte der Autor bereits 1929/30 erfunden, damals einer der maßgeblichen Initiatoren des Wiener .Politischen Kabaretts', das der sozialdemokratischen Partei nahe stand. „Die BBC-Figur Hirnschal ist - wie Jaroslav Haseks Schwejk - ein kunstvolles Beispiel für die subversive Kraft der menschlichen Einfalt. Adolf Hirnschal, ein fortwährendes Echo der offiziellen Parolen und Verlautbarungen, ist wie Josef Schwejk ein Mensch, der von den Ereignissen scheinbar hilflos und ohne Widerstand getrieben wird. Hirnschal und Schwejk nehmen die politische Entwicklung hin und richten sich in den vorgegebenen Verhältnissen ein. Indem sie die herrschenden Autoritäten konsequent beim Wort nehmen, werden sie jedoch zu Sandkörnern im Getriebe. Ihre Einfalt erweist sich als höchst wirksame Form des Widerstands."61 Dass die von Auslandssendern wie BBC übermittelte Wahrheit über den Nationalsozialismus die Deutschen zunächst weniger erreichte, lag nicht an der Qualität der Sendungen, sondern an der Wirkung der NSVerdummungsstrategie, die dazu führte, dass die Mehrheit des Volkes fast bis zum verheißenen .Endsieg', der sich schließlich in der Wirklichkeit als totale Niederlage einstellte, an jede noch so absurde Lüge zu glauben bereit war. Doch traten, als die militärischen Niederlagen spätestens nach Stalingrad einsetzten, bei manchen Menschen erste Zweifel hinsichtlich der NS-Propaganda auf. Ein furchtbarer Indikator dafür, dass eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Menschen .Feindsender' hörte - bei der BBC vermutete man bis zu drei Millionen -, bestand in der äußersten Härte, mit der man gegen diese Schwarzhörer vorging. Mit Kriegsbeginn am 1. September 1939 war eine .Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen' erlassen worden (unterzeichnet von Hermann Göring als Vorsitzendem des Ministerrats für Reichsverteidigung, Rudolf Heß als Stellvertreter des Führers, Wilhelm Frick als Generalbevollmächtigtem für die Reichsverwaltung und Dr. Hans Heinrich Lammers als Reichsminister und Chef der Reichskanzlei). Im modernen Krieg, so hieß es, kämpfe der Gegner nicht nur mit militärischen Waffen, sondern auch mit Mitteln, die das Volk seelisch beeinflussen und zermürben sollten; eines dieser Mittel sei der Rundflink - jedes Wort, das der Gegner herübersende, sei selbstverständlich verlogen und 123
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dazu bestimmt, dem deutschen Volk Schaden zuzufügen; deshalb erwarte die Reichsregierung, dass das deutsche Volk diese Gefahr erkenne und aus Verantwortungsbewusstsein heraus es zur Anstandspflicht erhebe, grundsätzlich das Abhören ausländischer Sender zu unterlassen. Für diejenigen Volksgenossen, denen dieses Verantwortungsbewusstsein fehle, gelte nun diese Verordnung. „Paragraph 1: Das absichtliche Abhören ausländischer Sender ist verboten, Zuwiderhandlungen werden mit Zuchthaus bestraft. In leichteren Fallen kann auf Gefängnis erkannt werden; die benutzten Empfangsanlagen werden eingezogen. Paragraph 2: Wer Nachrichten ausländischer Sender, die geeignet sind, die Widerstandskraft des deutschen Volkes zu gefährden, vorsätzlich verbreitet, wird mit Zuchthaus und in besonders schweren Fallen mit dem Tod bestraft. ..."62 Bereits vor dieser Verordnung war es, gestützt auf das sogenannte ,Heimtückegesetz' von 1934, zu Gerichtsverfahren wegen .Abhörens deutschsprachiger Programme' gekommen; (insgesamt etwa 1000 Verhaftungen, mehr als 500 Strafanträge und 36 Verurteilungen); nun erfolgte eine wesentliche Verschärfung, wie sie nachdrücklich auch Goebbels gefordert hatte. Im Namen des Volkes verurteilten Gerichte nach offiziellen Angaben vom 1. September 1939 bis Ende 1943 insgesamt 3450 Personen. Diese Zahl erhöhte sich noch beträchtlich durch Verurteilungen in den letzten Kriegsjahren (wohl bis auf 5000) und um viele Verhaftete, die ohne Gerichtsurteil in ein Konzentrationslager eingeliefert wurden. Auf Anordnung von Goebbels durften nur Gerichtsurteile über mehr als vier Jahre Zuchthaus veröffentlicht werden, um die abschreckende Wirkung nicht durch eine Vielzahl von Meldungen zu unterlaufen. Mitte 1941 kam es zum ersten Todesurteil, das von einem Sondergericht (später waren dann die sogenannten .Volksgerichtshöfe' zuständig) in Nürnberg-Fürth gegen einen kommunistischen Arbeiter verhängt wurde; unter anderem wegen Verbreitung von abgehörten feindlichen Lügenmeldungen gegenüber seiner Ehefrau. Es wurden siebzehnjährige Lehrlinge zum Tode oder zu langjährigen Zuchthausstrafen verurteilt, deren vorrangiges Interesse sicherlich nicht die Information über Frontverläufe in Afrika oder Russland, sondern das Hören .anderer' Musik war. Der Flüsterwitz reimte: „Drei kleine Meckerlein, / die hörten Radio, / der eine stellte England ein / da waren's nur noch zwo." Ganz besondere Härte zeigte man, und deshalb waren die BBC-Satire-Reihen so brisant, wenn die NS-Führungselite dem entlarvenden Spott ausgesetzt wurde. Strengste Sanktionen gegen Witzemacher forderte Goebbels - waren diese doch, weil sie die Lächerlichkeit des Regimes aufzeigten, von besonderer Gefährlichkeit. Das Lachen, das die Nationalsozialisten wünschten, sollte, 124
Botschaften von draußen
wie es Julius Streichers Absicht mit seiner Zeitschrift ,Der Stürmer' demonstrierte, bewirkt werden durch die zynische Verspottung der Juden, der Schwachen und der .Rassisch-Minderwertigen'. In diesem Sinne freute sich der Propagandaminister, dass es in Deutschland Humor genug und übergenug gebe; es sei jene Art von Humor, wie sie seit ewigen Zeiten in den breiten Massen des Volkes gepflegt werde, ein Humor der gutmütig, anständig und sauber sei und wenn nötig auch derb und zugreifend sein könne.63 Seit Stalingrad, so heißt es in einem geheimen Lagebericht des Sicherheitsdienstes der SS, habe jedoch das Erzählen von staatsabträglichen und gemeinen Witzen, selbst über die Person des Führers erheblich zugenommen, was eine Schwächung der Kriegsbegeisterung zeige. „Beim Einzug des Führers in eine Stadt stehen kleine Mädchen mit Blumen Spalier. Eines davon streckt dem Führer ein Grasbüschel entgegen. ,Was soll ich denn damit tun', fragt Hitler.,Essen', antwortet die Kleine. ,Die Leute sagen jeden Tag, erst wenn der Führer ins Gras beißt, kommen bessere Zeiten'."64 Auch das nahende Ende der NS-Herrschaft wurde nach der Lili-Marleen-Melodie thematisiert: „An der Laterne, vor der Reichskanzlei, Hängen unsere Bonzen, Der Führer ist dabei. Da woll'n wir beieinander stehn, Wie einst im Mai."65
Um das Verbrechen des Abhörens von Feindsendern und der Verbreitung ausländischer Rundfunknachrichten besonders verächtlich und die Strafe (ausgesprochen zum „Schutz der bedrohten Volksgemeinschaft") gerechtfertigt erscheinen zu lassen, wurde es verschiedentlich auch als „Vorbereitung zum Hochverrat" bewertet. Dennoch nahm das Interesse an Auslandssendungen ständig zu, sonst hätten auch nicht die Funkwarte der Partei 1941 den Volksempfängern der Volksgenossen höchst persönlich „Denke dran"-Zettel angeheftet, auf denen eindringlich vor einem „Verbrechen gegen die nationale Sicherheit" gewarnt wurde. Schließlich wusste die Truppenfuhrung spätestens seit 1940, dass bei den deutschen Soldaten im Westen und Norden sich die BBC-Sendungen mit leichter Unterhaltungsmusik und Nachrichten großer Beliebtheit erfreuten und über militärische Empfangsgeräte abgehört wurden. Verbote, die sich an der Front nicht durchsetzen ließen, mussten aber auch in der Heimat ihre Wirkung verlieren. Von amerikanischen Offizieren 1944 und 1945 im Raum Aachen befragt, ob und warum sie trotz Verbot während des Krieges sich durch Abhören ausländischer Sen125
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Unter der Bettdecke Am 1. September 1939 war ich krank und lag auf der Couch vor dem Radiogerät. Selbst an diesem Tag gab es noch das eine oder andere Unterhaltsame zu hören; (aber natürlich war alles überlagert von dem Siegestaumel, in dem Hitler mit tobender Stimme den Beginn des Krieges verkündete). Meine Eltern kamen immer wieder zum Radiogerät, um mit zornigem und schmerzvollem Gesicht das lautsprechende Unheil über sich ergehen zu lassen. Nachts dann der verdeckte Empfang ausländischer Nachrichten: Angesichts der Schwäche der demokratischen Staaten hoffnungslose Informationen. Für diejenigen, die sich zum Wider- stand oder zur inneren Emigration zählten und eigentlich pazifistisch gesonnen waren, wurde der Ausbruch des Krieges als einzige Möglichkeit für eine Beendigung des Nationalsozialismus empfunden. Das Radiogerät im Wohnzimmer hat uns bei solcher Hoffnung begleitet. Keine Tonkombination hat sich in meinem Bewusstsein seit dieser Zeit so tief eingekerbt wie das Pausenklopfzeichen von B B C / London. Als meine Mutter und ich wegen der Bombenangriffe aus der Großstadt aufs Land evakuiert wurden, hatten wir „Doppelempfang": Mein Vater, der in der Stadt bleiben musste, verkroch sich, das Ohr am Radiogerät, zu bestimmten Abendstundenzeiten weiterhin unter der Bettdecke, ich selbst hatte es etwas schwieriger, da wir in unserem kombinierten Schlaf-Wohnraum kein Rundfunkgerät hatten, ich das meiner benachbart wohnenden Tante benutzen musste. Sie hatte die angenehme Eigenschaft, sehr früh zu Bett zu gehen. Das Gerät stand in der Küche, oben auf dem Küchenschrank. Der Mann war NS-Funktionär, aber während der Woche auswärts beschäf- tigt. Aus irgendeinem Anlass kam sie gelegentlich nachts in die Küche zurück und fand mich dann auf dem Küchenstuhl stehend, mit dem Ohr an dem ganz leise eingestellten Radio. In ihrer Naivität nahm sie meine wohl ziemlich phantastisch klingenden Begründungen für meine „abgehobene" Position unbefragt hin; vielleicht schöpfte sie auch Verdacht, ohne der Sache weiter nachzugehen. Gelegentlich Wiederholungen waren d a gefährlich - konnte man auch offen Feindsender „abhören"; dann freilich nicht B B C / L o n d o n , sondern einen der alliierten Soldatensender, die den NSPropagandaton raffiniert imitierten, aber immer wieder Wahrheiten einstreuten. Ich erinnere mich an eine makaber-komische Szene in der großväterlichen Wirtschaft: Der Honoratiorenstammtisch, zu dem auch der Ortsgruppenleiter gehörte, hatte das Kartenspiel unterbrochen, um die Nachrichten zu hören. Mein Großvater drehte das Gerät an, und, wie üblich, gleich laut auf; ich hatte jedoch die Einstellung in Richtung eines alliierten Soldatensenders verschoben, so dass er in den falschen Kanal geriet. Das fiel zunächst nicht auf, denn im frisch-fröhlich-siegessicheren Stark-Deutsch verkündete der Nachrichtensprecher den Rückzug an allen Fronten. Betretenes Schweigen, rasches Weiterdrehen, bis man wieder bei einem großdeutschen Lügensender angelangt war.
Hermann Glaser: Wie der Rundfunk ins Wohnzimmer kam. Saarländischer Rundfunk, Radioessay.
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Der totale Krieg
der informiert hätten, bekundeten viele Deutsche ihre Vorliebe für den britischen Rundfunk. „Die Engländer wußten, wie man die Leute anspricht. Ihre Nachrichtensprecher waren immer ruhig und besonnen und vertrauenserweckend. Die BBC hat besonders während der Kriegsjahre viel bewirkt. Besonders interessant waren die Radioansprachen von Thomas Mann an die Deutschen. So jemand fehlt uns heutzutage in Deutschland, eine aufrichtige Persönlichkeit. Gut fand ich auch Peter Peterson. Bei ihm hatte ich das Gefühl, daß er in meinem Zimmer saß und zu mir sprach. Wir Deutschen hatten die Nase voll von Propaganda, wir wollten Tatsachen und Anregungen. Nur die Engländer haben unsere Bedürfnisse verstanden."66 Nicht nur die einfache Bevölkerung unterwarf Goebbels seinem strikten Abhörverbot, auch den höchsten Staats- und Parteiführern wurde die Genehmigung zum Empfang von Sendungen des Auslandsrundfunks nur in seltenen Ausnahmefallen erteilt; die Delegation dieses Rechts, das bis dahin von vielen Reichsministern beansprucht wurde, wollte Goebbels im Oktober 1941 drastisch eingeschränkt wissen; nur noch von ihm selbst als Propagandaminister sollte die Ermächtigung zum Abhören gegeben werden dürfen. Da er den Widerstand einiger Ressortchefs einkalkulierte, ließ er Hitler entscheiden, ob grundsätzlich alle Reichsminister, Reichsleiter und Gauleiter die Abhörbefugnis weiterhin behalten sollten; er argumentierte, dass Feindnachrichten oft unüberprüfbar seien. Die Führeranordnung vom 19. November 1941 beschränkte dann die Abhörberechtigung auf zehn Personen, darunter vier Militärs. Bei allen dabei namentlich nicht erwähnten Reichsministern behielt sich Hitler eine zu erteilende Genehmigung persönlich vor. Goebbels zeigte sich in einer Tagebucheintragung vom 23. Januar 1942 mit dem Erreichten sehr zufrieden. Er sprach von der Ordnung, die nunmehr einkehren werde, und davon, dass „die Gerüchtemacherei vor allem im Berliner Regierungsviertel nach und nach abgestoppt wird ..., denn gerade in den sogenannten Regierungskreisen zählen die Miesmacher und Meckerer Legion".67
Der Verlust der Wirklichkeit oder: Der totale Krieg
Mit Beginn des Krieges, zumindest über die ersten drei Wochen hinweg, war das Programm von Nachrichten und Frontberichten, also von der Aktualität des Krieges und seinen unmittelbaren Folgen für die Bevölkerung geprägt: Es gab keine festen Programmzeiten mehr, denn die einzelnen Reichssender bekamen täglich, wenn nicht stündlich neue Vorgaben aus Berlin und mussten deshalb immer wieder improvisieren, statt planen zu können. 127
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Auch der durch Kriegsdienst verursachte Personalschwund in den Sendern stellte sich als ein Problem für das Programm heraus. Gut 25 Prozent der etwa 5000 Mitarbeiter in den Reichssendern (1250 Männer) waren zum Kriegsdienst eingezogen oder fur den Betrieb der nun als Gegenpropaganda aufgebauten Militär- und Auslandssender abkommandiert. So ergab sich von selbst ein Zwang zur Rationalisierung und damit zur Zentralisierung von Produktion und Ausstrahlung. Diese Einschränkungen ermöglichten, was die Politik bisher nicht geschafft hatte: die endgültige Beseitigung des föderalen, regionalisierten Rundfunks zugunsten eines einheitlichen Gemeinschaftsprogramms. Dazu erfolgte die Einrichtung einer .Zentralstelle für Rundfunk' in der Rundfunkabteilung des Propagandaministeriums, in der wichtige Kompetenzen der .ReichsRundfunk-Gesellschaft' und solche gegenüber den Sendern konzentriert wurden. Schon seit Mai 1940 wurden alle Reichssender des öfteren zusammengeschaltet, um jederzeit aktuelle Sondermeldungen von Berlin aus zu verbreiten. So war es nur konsequent, dass Goebbels mit der Begründung, auf diese Weise eine „straffere Programmsteuerung" erreichen zu können, am 9. Juni unter der Schlagzeile „Hier sind alle deutschen Sender" die Hörer über das nunmehr reichseinheitliche Gemeinschaftsprogramm im .Großdeutschen Rundfunk' informieren ließ. Nun entfielen die vormittäglichen Sendepausen im Programm. Musik (ca. 13 Stunden), Nachrichten und aktuelles Zeitgeschehen (ca. 8 Stunden) bestimmten die 21 Programmstunden eines Sendetages zwischen 5.00 Uhr morgens und 2.00 Uhr nachts. Markant verändert, nun ausschließlich am aktuellen Zeitgeschehen orientiert, wurde das Vorabendprogramm, die Zeit mit den meisten Hörern: 18.20 Uhr 18.30 Uhr 19.00 Uhr 19.30 Uhr 19.45 Uhr
20.00 Uhr 20.15 Uhr 22.00 Uhr 128
Ruf in die Zeit Aus dem Zeitgeschehen Frontberichte: Augenzeugenberichte von Kriegsberichterstattern Marschmusik Militärischer Vortrag: Kommentare der Wehrmacht (Mo., Mi., Fr.) Politische Rundfunk- und Presseschau Hans Fritzsche (Di., Do., Sa.) Nachrichten Musik Nachrichten
Der totale Krieg
Ab Oktober 1942, als die deutschen Siege an den Fronten seltener wurden, war es dann mit der Marschmusik vorbei; man umrahmte die von 30 auf 15 Minuten verkürzten Frontberichte mit gefallig-beschwingter, aufmunternd gemeinter Unterhaltungsmusik. Das allgemeine .Tanzverbot', mit Beginn des Krieges durch Hitler verordnet, war inzwischen wieder aufgehoben und ebenfalls fur den Rundfunk ausdrücklich zurückgenommen worden. Am 12. Juni 1941 notierte Goebbels in sein Tagebuch: „Jetzt ganz auf Unterhaltung eingestellt. Auch Tanzverbot aufgehoben. Das geschieht alles zur Tarnung."68 Die Frage, ob diese Tarnung lediglich dem leichteren Transport der üblichen Propaganda oder anderen Zwecken diente, ließ Goebbels nicht lange unbeantwortet. Am 15. Juni 1941 erschien in der Wochenzeitung ,Das Reich', dem liberal auftretenden anspruchsvollen Vorzeigeblatt im Dritten Reich, ein Leitartikel von ihm unter dem Titel „Der Rundfunk im Kriege" mit dem erhellenden Satz: „Wir gebrauchen (sie!) zum Kriegfuhren ein Volk, das sich seine gute Laune bewahrt." Was er im Detail meinte, erklärte er in diesem Artikel, der am Vorabend seiner Veröffentlichung bereits im Rundfunk, unmittelbar im Anschluss an die 20-Uhr-Nachrichten, gesendet wurde: Es bedürfe noch mehr entspannender Musik, noch mehr leichter und gefalliger Unterhaltung als eines gewissen Gegengewichts zu den harten Anforderungen der Zeit. (Eine Woche vor dem Überfall auf die Sowjetunion war es wohl besonders angebracht, der Bevölkerung ,gute Laune' zu senden.) Nachdem schon im Frühjahr 1941 aus den „Geheimen Lageberichten" des .Sicherheitsdienstes' (SD) der SS hervorgegangen war, dass die Hörer die Tanzabende mit Polka und Rheinländer eher langweilig fanden und lieber rhythmisch stärker betonte Musik wünschten, hatte Goebbels mit einer Anweisung an den Reichsintendanten Heinrich Glasmeier zugunsten solcher Hörerwünsche reagiert. Nach dem Vorbild der Presse wurden nun die Bereiche Politik und Unterhaltung in einer gemeinsamen Programmredaktion innerhalb des Ministeriums zusammengefasst. Im Zuge dieser Neuorganisation erhielten die beiden ,Musik Unterhaltungs-Chefs' Franz Grothe und Georg Haentzschel den Auftrag zur Gründung eines .Reichsorchesters flir Unterhaltungsmusik'; es wurde am 23. Oktober 1941 von Goebbels als ,Das Deutsche Tanz- und Unterhaltungsorchester' eingeführt. Beiden gelang es, einen eigenen Stil von deutschem Swing zu entwickeln, indem sie deutsche Schlager unter Nutzung jazznaher Elemente arrangierten, die einen durchaus neuen Klang in die Unterhaltungsmusik einbrachten. (Grothe und Haentzschel waren so erfolgreich, dass sie bis weit in die Nachkriegszeit hinein durchaus stilbildend beim NWDR und später im 129
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Programm des WDR präsent blieben.) Auf ausdrückliche Anordnung von Goebbels kam Anfang 1942 sogar eine eigene „Schlagerparade" ins Programm. Solche Bemühungen, das deutsche Volk mit guter Stimmung zu versorgen, bestimmten auch in den weiteren Kriegsjahren das Programm (wobei der ,Deutschlandsender' seit 1940, zumindest zeitweise, ein Doppelbzw. Kontrastprogramm zu dem vorwiegend auf leichte Unterhaltung ausgerichteten Gemeinschaftsprogramm anbot). Aber die .harten Anforderungen der Zeit' waren doch mächtiger als die Fähigkeiten der NS-Propaganda, sie mit Hilfe der leichten Muse zu verdrängen. Zu Beginn des Krieges .erfand' so das Radio einen Sendungstyp, der Wirklichkeit mit Gefiihlsseligkeit verband: das „Wunschkonzert fur die Wehrmacht". Bei dem bis dahin unbekannten, aber bis heute noch beliebten Genre konnten die Hörer 19 Die Französin Lucienne Boyer singt für das Winterhilfswerk im Wunschkonzert; an ihrer Seite durch Musikwünsche und Grüße der Moderator der Sendereihe Heinz Goedecke den Ablauf der Sendung mit gestal(27.2.1938) ten; zudem wurde durch die Funkverbindung zwischen den Wehrmachtsangehörigen an der Front und ihren Familien in der Heimat eine unüberhörbare propagandistische Wirkung erzielt. Die Hoffnungen, Ängste, Sehnsüchte und Sorgen der Soldaten, Frauen und Kinder wurden durch das NS-System instrumentalisiert und missbraucht: Der Krieg erschien als eine heldisch-frohe Verteidigung der Heimat, die sich ihrerseits an den Taten ihrer Söhne erfreuen sollte. Das „Wunschkonzert" wurde sonntags, jeweils vier Stunden zwischen 16 und 20 Uhr, live aus dem Großen Sendesaal des Berliner Funkhauses oder der Berliner Philharmonie übertragen; nach der ersten Sendung sol130
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20 50. Wehrmachts-Wunschkonzert: Josef G o e b b e l s bei seiner Ansprache: im Hintergrund stehend der Moderator Heinz G o e d e c k e
len 23.117 Feldpostbriefe mit Musik- und Durchsagewünschen eingetroffen sein. (Ungemein publikumswirksam war 1940 ein Film gleichen Titels mit Karl Raddatz und Ilse Werner, den bis Kriegsende 20 Millionen Menschen sahen.) Von Heinz Goedecke moderiert, war das Motto der Sendung: „Die Front reicht ihrer Heimat jetzt die Hände, die Heimat aber reicht der Front die Hände." Sie begann zumeist mit Fanfarenmusik und endete mit Hitlers Lieblingsmarsch, dem „Badenweiler"; dazwischen lag ein Potpourri aus Opern- und Operettenarien, Volksliedern und Chören, Märschen, Ouvertüren und Kammermusiksätzen. Eingeblendet war der Austausch von Wünschen, Grüßen und Mitteilungen zwischen den Soldaten im Feld und den Angehörigen daheim; auch gab es ein von Babygeschrei eingeleitetes Geburtenregister, aus dem mancher Soldat erfuhr, dass er Vater geworden war. Besonders oft verlangt wurde der Schlager „Heimat, deine Sterne". Die Sendung sollte, so Goedecke, die „deutschen Brüder und Schwestern" zu einer einzigen großen Familie zusammenschweißen. „Das große gemeinsame Erlebnis der Menschen muß hinzukommen, um den Beweis zu erbringen, dass jeder einzelne in dieser Gemeinschaft gleichzeitig ein Sender und ein Empfanger ist - ein Glied in einer geschlossenen Kette, das den Strom verstärkt und weiterleitet an den nächsten und übernächsten."69 Dazu gehörte durchaus die Inszenie131
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rung von Trauer. Da hieß es etwa: „Beim gefallenen Soldaten Karl Lehmann wurde eine Karte ans Wunschkonzert gefunden. ... Und dann erklang das bittersüße Lied vom letzten Brief der Mutter: ,Weil diesen Brief / Den du mir schriebst / Dir eine Träne netzte / Fühl ich: dies Wort / Daß du mich liebst / Dies Wort war wohl das letzte.'" Auf diese Weise hörten viele Frauen und Mädchen im Wunschkonzert zum ersten Mal vom Tod ihres Sohnes, Mannes, Bruders, Vaters oder Freundes - oft lange bevor die offizielle Todesnachricht eintraf. So vereinten sich in den Kriegsjahren viele Familien vor dem Volksempfänger weniger zur Unterhaltung als viel mehr zum gemeinsamen Weinen. Goebbels ließ sich persönlich vor jeder Sendung den Sendeplan zur Genehmigung vorlegen; er manipulierte eigenmächtig Musikwünsche und setzte Musik nach seinem Gutdünken ein. Als die Kriegslage im Laufe des Jahres 1941 nicht mehr nur deutsche Siege brachte, wurden die Grüße von der Front in die Heimat aus kriegstaktischen Gründen („Feind hört mit!") eingestellt und so grüßte bis zur Einstellung der Sendung am 25. Mai 1941 nur noch die Heimat ihre Frontsoldaten. Mit Hilfe der weltumspannenden Radiotechnik kam es 1942 zu einem der wohl größten Triumphe des nationalsozialistischen Rundfunks. „Nach enormen technischen Vorbereitungen, die bis aufs Kleinste aufeinander abgestimmt waren, wurden am 24. Dezember zur Weihnachts-
21 Soldaten der Wehrmacht beim Gemeinschaftsempfang in der Kaserne (August 1941)
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ringsendung 30 Übertragungsstellen in Hitlers Machtbereich über den Äther angerufen - vom Eismeer bis nach Nordafrika, von der Wolga bis zur Atlantikküste. Und alle Stationen meldeten sich: .Achtung, an alle! Noch einmal sollen sich nun unter dem Eindruck dieser Stunden, die wir gemeinsam miteinander erlebten, alle Kameraden an den entferntesten Ubertragungsstellen melden und Zeugnis ablegen durch ihren Ruf von dem umfassenden Erlebnis dieser, unserer Ringschaltung. Achtung, ich rufe noch einmal den Eismeerhafen! Achtung, ich rufe noch einmal Stalingrad! Hallo, hier ist Stalingrad, die Front an der Wolga ..., noch einmal der Ruf an die Atlantikküste, die Biskaya,... Leningrad, die Kaukasusfront, die U-Bootfahrer im Atlantik, Achtung Catania!... Achtung, noch einmal der Schwarzmeerhafen! Hier ist noch einmal der Schwarzmeerhafen auf der Halbinsel Krim! Wir bitten euch, Kameraden, jetzt in das schöne, alte deutsche Weihnachtslied .Stille Nacht' einzustimmen.... Diesem spontanen Wunsch unserer Kameraden fern drunten im Süden, am Schwarzmeer, schließen sich nun alle Stationen an. Jetzt singen sie schon am Eismeer und in Finnland, ... und jetzt schalten wir dazu all die anderen Stationen, Leningrad, Stalingrad. Und jetzt kommt dazu Frankreich, kommt dazu Catania, kommt dazu Afrika, und nun singen alle mit. Singt alle mit uns gemeinsam in dieser Minute, das alte deutsche Weihnachtslied .Schlaf in himmlischer Ruh'! Es war der Triumph des simultanen, akustischen Mediums, das die Hörer in seinen Bann zog - ein bisher nie dagewesenes Medienereignis. Das deutsche Fernweh und der Wille zur Expansion hatten sich versöhnt - und das mit Hilfe des modernsten Massenkommunikationsmittels."70 Konkurrenz erwuchs den Reichssendern mit ihrem Bemühen um leichte oder sentimentale Unterhaltung schon früh mit den deutschen Soldatensendern. Diese auf Führerbefehl nicht dem Propagandaministerium und dem Reichsrundfunk unterstellten Truppensender wollten eben Musik bringen, die den Geschmack der Soldaten traf. Und der hatte sich in großem Ausmaß an den Angeboten der gegnerischen Sender orientiert, die man in Flugzeugen, auf Schiffen und in Frontnähe gut empfangen konnte. Beispielsweise hatte der .Soldatensender Belgrad' einen geradezu legendären Ruf. Denn er spielte in seinem Programm flotte, swingende und durchaus auch englische Tanzmusik, Titel aus dem Platten-Archiv, das ein Mitarbeiter aus Wien mit eigenen Beständen ergänzt hatte und die im Reichssender nicht gehört werden durften. So gelang es dem damaligen Leiter des .Soldatensenders Belgrad', Karlheinz Reintgen (er war nach dem Krieg lange Jahre noch Stellvertretender Intendant und Chefredakteur beim .Saarländischen Rundfunk'), zum Beispiel, das von 133
Drittes Reich · 1933-1945 Laie Andersen gesungene Lied über die vor dem Kasernentor wartende ,Lili Marleen' bei Freund und Feind zwischen Afrika und dem Nordpol zu einem populären Schlager zu machen: Zunächst auf Wunsch seiner Hörer immer wieder ins Programm genommen, wurde es schließlich jede Nacht zum Sendeschluss gespielt - was es zur Erkennungsmelodie für den deutschen .Soldatensender Belgrad' machte; es wurde nach seiner englischen Ubersetzung beiderseits der Fronten zum Hit. Mit dem Rückzug der Wehrmacht auf die deutschen Grenzen kamen die Soldatensender schließlich immer näher an das Sendegebiet des Reichsrundfunks heran. Nun bot sich (ab 1944) den Hörern eine realistische Alternative, eine weniger durch Propaganda bestimmte radiophone Rückzugszone. Versuche von Goebbels, die Wehrmacht auf den Kurs und die Programme des .Großdeutschen Rundfunks' zu verpflichten, schlugen gründlich fehl. (Ab Ende 1944 folgten den abziehenden deutschen Soldatensendern die alliierten Militärsender - herausragend Luxemburg - mit eigenem Programm für ihre Truppen, das aber auch von den deutschen Soldaten und Zivilisten gehört werden konnte und wollte.) Als wichtigster Propagandist in der Endphase des .Großdeutschen Rundfunks' fungierte neben Goebbels Hans Fritzsche (1900-1953), der die Abteilung Rundfunk im Propagandaministerium im November 1942 übernommen hatte. Rundfunk, meinte er, sei eine Kanone, die durch jede Mauer schieße, auch wenn ihre Projektile nur aus einsilbigen Worten bestünden. Der ursprünglich konservative Nationalist (1932 war er Leiter des .Drahtlosen Nachrichtendienstes' beim ,Deutschen Rundfunk') war ab Mai 1933, als er der NSDAP beitrat, ein treuer Diener seines Herrn. Im Auftrag von Goebbels hatte er als Chef der für die deutsche Presse zuständigen Abteilung die Gleichschaltung sämtlicher Nachrichtenkanäle in Deutschland besorgt; er instruierte die Schriftleitungen der deutschen Blätter jeweils über das, was veröffentlicht werden durfte und überwachte den Informationsfluss ins Ausland. „Bereits seit 1937 einer der führenden deutschen Rundfunkkommentatoren, sprach Fritzsche seine zahlreichen Hörer vor allem dadurch an, dass er einen maßvollen, argumentativen Ton den sonst üblichen demagogischen Phrasen vorzog. Dennoch enthielten auch seine damaligen Kommentare die offizielle NS-Propaganda und trugen um so wirksamer zu Hitlers Ruf bei, ein politisches und militärisches Genie zu sein, dem sich niemand widersetzen könne und der die deutsche Nation auf den höchsten Gipfel ihrer Macht und ihres Ruhmes gefuhrt habe."71 Zuletzt Generalbevollmächtigter für die politische Organisation des .Großdeutschen Rundfunks', konzentrierte sich Fritzsche gemeinsam mit Goebbels ganz darauf, angesichts der immer schwe134
Der totale Krieg
reren militärischen Rückschläge insbesondere den Durchhaltewillen der deutschen Bevölkerung zu stärken. (Deshalb saß Fritzsche 1945 im ersten Nürnberger Kriegsverbrecherprozess stellvertretend fur seinen ehemaligen Minister Goebbels auf der Anklagebank. Er wurde freigesprochen.) Den makabren Höhepunkt bei der ,Aufputschung der Heimatfront' stellte die Direktübertragung der Goebbels-Rede im Berliner Sportpalast am 18. Februar 1943 dar, in der dem deutschen Volk die Notwendigkeit des .totalen Krieges' suggeriert wurde. Der NS-Demagoge war von seinem vier Tage vorher diktierten und in den Tagen danach noch mehrmals überarbeiteten Manuskript so begeistert, dass er es als „sehr gut gelungen" und als „Meisterstück der Redekunst" bzw. „einen großen Wurf" einstufte und größten Erfolg erwartete. Auch wenn wahrscheinlich eine instruierte Claque den Beifall anheizte, war die Ekstase und Hysterie des allerdings sorgfältig ausgewählten und eingeladenen Publikums spontan; eine ähnlich begeisterte Resonanz konnte man im ganzen Reich feststellen, Symptom fur die immer noch ungebrochene Wahnhaftigkeit, mit der die Mehrzahl der Deutschen sich dem Nationalsozialismus verschrieben hatte. Der fanatisch bejahende Antworten hervorrufende Fragenkatalog gipfelte in dramaturgischer Steigerung in der geradezu ritualisierten Beschwörung: „Ich frage Euch: Wollt Ihr den totalen Krieg? Wollt Ihr ihn, wenn nötig, totaler und radikaler, als wir ihn uns heute überhaupt erst vorstellen können?".72 Doch kehrte sich bald der .totale Krieg' als totaler Bombenkrieg der Engländer und Amerikaner gegen die Deutschen. Dabei wurde auf makabre Weise Wirklichkeit, was Reichsintendant Glasmeier schon 1933 vorgeschwebt hatte - nämlich „das deutsche Volk restlos mit Rundfunk zu durchdringen". Dies erfolgte jetzt durch die täglichen, oft mehrmaligen Rundfùnkmeldungen zur Luftlage - wenn „feindliche Bomberverbände über der deutschen Nordseeküste im Raum Emden ... sich im Anflug auf..." etwa Hamburg, Hannover, Berlin oder ein anderes Ziel befanden. (In Norddeutschland wurden die Sender übrigens nach Einbruch der Dunkelheit abgeschaltet, um den feindlichen Bombern die Funkpeilung zu erschweren.) „Das Dritte Reich bringt sich um, doch die Leiche heißt Deutschland", notierte am 27. Februar 1945 Erich Kästner in sein Tagebuch.73 Mit den deutschen Rückzügen an allen Fronten gingen viele Reichssender durch Kampfhandlungen oder gegnerische Eroberung verloren. Auch im Reich selbst wurden die Verluste von Sendern und Sendeanlagen immer zahlreicher. Was dabei nicht ,νοη oben' durch Luftangriffe in Trümmer gelegt wurde, das besorgte vielfach die flüchtende Wehrmacht selbst. 135
Drittes Reich · 1933-1945
Noch am 20. März hatte Hitler angeordnet (ein Befehl, der freilich nicht überall befolgt wurde): „1. Alle militärischen Verkehrs-, Nachrichten-, Industrie- und Versorgungsanlagen sowie Sachwerte innerhalb des Reichsgebietes, die sich der Feind für die Fortsetzung seines Kampfes irgendwie sofort oder in absehbarer Zeit nutzbar machen kann, sind zu zerstören. 2. Verantwortlich für die Durchführung dieser Zerstörung sind die militärischen Kommandobehörden für alle militärischen Objekte einschl. der Verkehrs- und Nachrichtenanlagen; die Gauleiter und Reichsverteidigungskommissare für alle Industrie- und Versorgungsanlagen sowie sonstigen Sachwerte. Den Gauleitern und Reichsverteidigungskommissaren ist bei der Durchführung ihrer Aufgabe durch die Truppe die notwendige Hilfe zu leisten."74 Am 28. Februar 1945 sprach Goebbels länger als eine Stunde im Rundfunk über die Kriegslage, wobei er wohl nur noch wenige mit seinen Durchhalteparolen überzeugen konnte. Dem zu einer Partisanenarmee hochstilisierten .Werwolf' wollte er einen leistungsstarken Rundfunksender verschaffen; dessen Leitung sollte Hans Slesina übernehmen, ein treuer Parteigenosse, der sich in der NS-Rundfunkkampagne zur Saarabstimmung 1935, dann als Gründungsintendant des .Reichssender Saarbrücken' und im Kriege als Leiter der Feindpropaganda innerhalb der deutschen Auslandssender bewährt hatte. Zwischen dem 1. und 5. April kam es über die Frequenz des Berliner .Deutschlandsenders' zu einigen .Werwolf'-Aufrufen und Meldungen, die aber, so ist anzunehmen, von Goebbels verfasst und eher an die Adresse der Alliierten gerichtet waren, als dass sie den Widerstandswillen der Bevölkerung hätten anstacheln können. Gleichzeitig machte Goebbels noch Pläne für eine totale Neuorganisation des Rundfunks, der sich als .Kampfinstrument' künftig noch besser der jeweiligen Kriegslage anpassen müsse. Schließlich hielt er am 19. April, am Vorabend von Hitlers 56. Geburtstag, seine letzte Rede im Rundfunk; er erreichte nur noch eine begrenzte Öffentlichkeit: Außer Berlin, München, Hamburg und einigen kleineren Nebensendern gab es lediglich den ,Deutschlandsender', der am gleichen Tag ausfiel, sowie den ,Reichssender Berlin', der bis zum 24. April auf Sendung blieb. Hamburg stellte am 3. Mai kurz vor der Besetzung durch englische Truppen seinen Betrieb ein. Mit der totalen Kapitulation am 8. und 10. Mai 1945 war das Dritte Reich und damit auch sein Rundfunk zu Ende gegangen. Mit seherischer Kraft hatte 1848 ein Gedicht Gottfried Kellers („Die öffentlichen Verleumder") die Unkulturgeschichte des Dritten Reiches vorweg genommen: „ein Volk in Blödigkeit". Das Gesamtwerk des Schweizer Dichters 136
Der totale Krieg
war im Dritten Reich zwar nicht verboten, wer aber dieses Gedicht, das hektographiert in Kreisen der inneren Emigration zirkulierte, verbreitete oder gar mit Hintersinn zitierte, konnte leicht von der Volksgerichtsbarkeit belangt werden. Die Verse erweisen sich als dichterisches Vademekum bei dem erinnernden Gang durch eine Phase deutscher Geschichte, bei deren Bilanzierung Ein- und Hellsichtige zu der bitteren Feststellung glaubten kommen zu müssen, dass nun deutsche Kultur an ihrem Ende angekommen sei. „Auschwitz habe das Misslingen der Kultur unwiderleglich bewiesen", so Theodor W. Adorno, der sich freilich später auch zu einer hoffnungsvolleren Einschätzung durchrang. „Daß es geschehen konnte inmitten aller Tradition der Philosophie, der Kunst und der aufklärenden Wissenschaften, sagt mehr als nur, daß diese, der Geist, es nicht vermochte, die Menschen zu ergreifen und zu verändern."75 Und dennoch erhob sich die deutsche Kultur danach wieder wie Phönix aus der Asche, nicht zuletzt auch beflügelt von einem demokratischen Rundfunksystem, das an seine eigentliche Bestimmung, die der Erziehung des Menschengeschlechts, wieder anknüpfte. Die Guten sind verschwunden
„Ein Ungeziefer ruht
Auf einen Kehricht stellt
Hoch schießt empor die Saat, Verwandelt sind die Lande,
in Staub und trocknem Schlamme
Er seine Schelmenfüße
Verborgen, wie die Flamme
Und zischelt seine Grüße
Die Menge lebt in Schande
In leichter Asche tut.
In die verblüffte Welt.
Und lacht der Schofeltat. Jetzt hat sich auch erwahrt,
Ein Regen, Windeshauch Erweckt das schlimme Leben,
Gehüllt in Niedertracht
Was erstlich war gefunden:
Und aus dem Nichts erheben
Gleichwie in einer Wolke,
Die Guten sind verschwunden,
Sich Seuchen, Glut und Rauch.
Ein Lügner vor dem Volke,
Die Schlechten stehn geschart!
Ragt bald er groß an Macht Aus dunkler Höhle fährt
Mit seiner Helfer Zahl,
Wenn einstmals diese Not
Ein Schacher, um zu schweifen,
Die hoch und niedrig stehend,
Lang wie ein Eis gebrochen,
Nach Beuteln möcht' er greifen
Gelegenheit erspähend,
Dann wird davon gesprochen
Und findet bessern Wert:
Sich bieten seiner Wahl.
Wie von dem schwarzen Tod; Und einen Strohmann bau'n
Er findet einen Streit Um nichts, ein irres Wissen,
Sie teilen aus sein Wort,
Die Kinder auf der Heide
Ein Banner, das zerrissen,
Wie einst die Gottesboten
Zu brennen Lust aus Leide
Ein Volk in Blödigkeit.
Getan mit den fünf Broten,
Und Licht aus altem Grau'n."
Das klecket fort und fort! Er findet, wo er geht,
Erst log allein der Hund,
Die Leere dürft'ger Zeiten,
Nun lügen ihrer tausend;
Da kann er schamlos schreiten,
Und wie ein Sturm erbrausend,
Nun wird er ein Prophet;
So wuchert jetzt sein Pfund.
Gottfried Keller: Die öffentlichen Verleumder. In: Gesammelte Gedichte. Neunter Band. Gesammelte Werke. Stuttgart, Berlin 1911, S. 283 f.
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Drittes Reich · 1933-1945
Ein Mittel zum Zweck. Daten zur Geschichte des Rundfunks 1933-1945 1933
30. Januar: Adolf Hitler wird zum Reichskanzler ernannt. Die Nationalsozialisten übernehmen die Macht im Staat und im Rundfunk. 28. Februar: Die Verordnung des Reichspräsidenten Hindenburg „Zum Schutz von Volk und Staat" (,Reichstagsbrandverordnung') setzt Grundrechte außer Kraft, darunter auch die Meinungs- und Pressefreiheit. 2. und 4. März: Adolf Hitler spricht „auf Veranlassung der Reichsregierung" zu den Reichstagswahlen am 5. März über alle deutschen Sender. 11. März: Unmittelbar nach den Reichstagswahlen vom 5. März beschließt das Kabinett Hitler die Bildung eines .Reichsministeriums fur Volksaufklärung und Propaganda' (RMVP). 12. März: Reichspräsident Hindenburg unterzeichnet den Gründungserlass für das neue Ministerium. 13. März: Der Erlass tritt in Kraft; er bestimmt die Aufgabe des Ministeriums: „... Aufklärung und Propaganda unter der Bevölkerung über die Politik der Reichsregierung und den Wiederaufbau des deutschen Vaterlandes .,."76 14. März: Joseph Goebbels, Gauleiter von Berlin und Reichspropagandaleiter der NSDAP, wird als .Minister für Volksaufklärung und Propaganda' vereidigt. 16. März: Reichsinnenminister Frick überträgt die Zuständigkeit für Rundfünkpolitik, Programmkontrolle und Personal dem Propagandaministerium. 21. März: Die Eröffnung des neuen Reichstags wird von der Regierung zum ,Tag von Potsdam' erklärt und programmatisch umfunktioniert. Auf Veranlassung der Regierung wird die Veranstaltung von allen Sendern des Reichs übertragen. Der Rundfunk, so notiert Goebbels in seinem Tagebuch, sei „für ganz Deutschland eingeschaltet" und „befindet sich ausschließlich in den Händen des Reiches. Die ewige Zwischenschaltung ist abgestellt; somit haben wir eine klare Führung gewährleistet". 77 22. März: Goebbels übernimmt vom Reichspostminister auch die wirtschaftliche Zuständigkeit für den Rundfunk, der sich damit fest in der Hand der Nationalsozialisten befindet. 25. März: Goebbels legt auf der Intendantenkonferenz in Berlin die Grundzüge seiner Personal- und Rundfunkpolitik dar. Im Juli war - mit einer Ausnahme - keiner der Intendanten aus der Weimarer Zeit mehr im Amt. 1. April: Boykottaktion der N S D A P gegen jüdische Geschäfte. Die Sendung .Stunde der Nation' wird auf Goebbels' Veranlassung reichsweit von allen Sendern zur besten Vorabend-Sendezeit (in der Regel zwischen
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Daten zur Geschichte des Rundfunks
19 und 20 Uhr) ausgestrahlt. Ihre Aufgabe war eine im Sinne der NSIdeologie verstandene politische Erziehung aller Volksgenossen mit dem Ziel einer geistigen Uniformierung des ganzen Volkes.78 7. April: Das Gesetz zur „Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" schließt alle ,Nichtarier' aus. 1. Mai: Der .Drahtlose Dienst', seit 1932 zentrale Nachrichtenredaktion in der ,Reichs-Rundfunk-Gesellschaft', wird der Presseabteilung des Propagandaministeriums integriert; dort werden nun die Rundfünknachrichten erstellt. 10. Mai: Bücherverbrennung in den größeren, vor allem den Universitätsstädten. Sommer: Das Radiogerät wird zum .politischen Gerät': Der .Volksempfänger 301' ( = 30. 1. 1933: Tag der NS-Machtübernahme) kommt zum Preis von 76 Reichsmark auf den Markt. Damit wird eine von der Rundfunkindustrie schon Ende der zwanziger Jahre erhobene Forderung bereits 1926 hatte sie einen .Volksempfänger' unter diesem Namen propagiert - von den Nationalsozialisten aufgegriffen und ideologisch verbrämt: nämlich die Produktion eines Rundfunkempfängers in großen Stückzahlen zu geringem Preis zwecks Belebung der Umsätze und Verbreitung des Rundfünkhörens. So konnte Hitlers Forderung erfüllt werden: „... das deutsche Volk restlos zu durchdringen und durch den Rundfunk eine geschlossene Einheit zwischen Staatsfuhrung und Volksgemeinschaft zu schaffen". 8. Juli: Die regionalen Rundfünkgesellschaften müssen ihre Geschäftsanteile an der .Reichs-Rundfiink-Gesellschaft' der Regierung und damit dem Propagandaministerium übertragen. 14. Juli: Die NSDAP wird Staatspartei. August: Leitende Mitarbeiter und ehemalige Intendanten aus Rundfunk und zuständigen Behörden der Weimarer Zeit werden unter dem Vorwurf u. a. der Korruption von der SS verhaftet und in das KZ Oranienburg eingeliefert. 22. September: Die Regierung erlässt das „Reichskulturkammergesetz"; Goebbels erhält den Auftrag, alle kulturell Tätigen, die zur Verbreitung von .Kulturgut' beitragen, in berufsspezifischen öffentlich-rechtlichen Kammern zu organisieren. Präsident der Reichskulturkammer: Joseph Goebbels; Vizepräsident: Walter Funk; Reichspressekammer: Max Ammann; Reichsrundfunkkammer: Horst Dreßler-Andreß; Reichsschrifttumskammer: Hans Friedrich Blunck; Reichsfilmkammer: Fritz Scheuermann; Reichstheaterkammer: Otto Laubinger; Reichsmusikkammer: Richard Strauß; Reichskammer der bildenden Künste: Eugen Honig. 25. Oktober: Verhaftung Hans Bredows und Einlieferung in das Untersuchungsgefängnis Moabit.
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Drittes Reich · 1933-1945
1. November: Gründung der ,Reichsrundfunkkammer': Die Mitgliedschaft ist verpflichtend für alle beim Rundfunk Beschäftigten; Ausschluss oder Verweigerung bedeutet Berufsverbot.
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1934
1. April: Auch die regionalen Sendegesellschaften müssen ihre 49 Prozent Geschäftsanteile an der .Reichs-Rundfunk-Gesellschaft' dem Propagandaministerium übertragen. Sie werden zu ,Reichssendern' und direkt abhängig von der ,Reichs-Rundfunk-Gesellschaft' und dem Propagandaministerium. Hitlers Forderung aus seinem Erlass vom 15. Juli 1933, die kulturelle Führung des Rundfunks in eine politische umzuwandeln, ist vollzogen.79 5. November bis Juni 1935 findet vor dem Berliner Landgericht der sogenannte ,Rundfùnkprozess' gegen Hans Bredow, Hans Flesch, Kurt Magnus und andere Rundfünkmitarbeiter u. a. wegen Untreue, Urkundenfälschung, Parteiverrat und Unterschlagung statt. Nach einem Revisionsverfahren 1937 endet der von Reichssendeleiter Eugen Hadamovsky initiierte Schauprozess gegen das Rundfunksystem von Weimar mit rehabilitierenden Freisprüchen für die Angeklagten.
1935
März: Beginn eines regelmäßigen Fernsehversuchsprogramms aus Berlin von 20.30 bis 22.00 Uhr, an drei Tagen in der Woche. 9. April: Die erste .Fernsehstube' für einen öffentlichen Gemeinschaftsempfang des Versuchsprogramms wird in Berlin eröffnet. 15. September: Die „Nürnberger Gesetze" sowie das „Gesetz zum Schutz der Erbgesundheit des deutschen Volkes" werden erlassen. 4. Dezember: Eröffnung des Reichssenders Saarbrücken mit einer programmatischen Rede von Joseph Goebbels: Noch mehr Unterhaltung im Radioprogramm !
1936
14. Januar: Die Sendung „Wunschkonzert für das Winterhilfswerk", eine beliebte Unterhaltungssendung mit ideologischer Funktion, findet bis Frühjahr 1939 statt. 23. November: Carl von Ossietzky erhält den Friedensnobelpreis, darf ihn jedoch nicht annehmen.
1937
19. März: Heinrich Glasmeier, seit 1933 Intendant des .Westdeutschen Rundfunks'/ Reichssender Köln, wird im Zuge einer weiteren Zentralisierung neuer Generaldirektor der ,Reichs-Rundfunk-Gesellschaft' sowie Reichsintendant des .Deutschen Rundfunks' und damit Vorgesetzter der Intendanten aller Reichssender. 23. Juni: Ubergabe der ersten 100 ,Reichslautsprechersäulen' in Breslau; mittels solcher öffentlicher Großlautsprecher sollte reichsweit bis in die Gemeinden (.Gemeinderundfunk') der Gemeinschaftsempfang insbesondere politischer Reden sichergestellt werden. Man erwartete, dass die Wirtschaft diese Säulen als Werbeträger nutze und so finanziere.
Daten zur Geschichte des Rundfunks
1938
Der .Deutsche Kleinempfänger' DKE 1938, im Volksmund .Goebbelsschnauze' genannt, kommt zum Preis von 35 Reichsmark auf den Markt; es handelt sich um einen über 50 Prozent billigeren Empfanger als der größere, bessere Empfangsqualität aufweisende Volksempfänger VE 301. 13. März: Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich. 5. August: Eröffnung der 15. Großen Deutschen Funkausstellung in Berlin; Goebbels fuhrt den .Deutschen Kleinempfanger' ein. 9.-10. November: .Reichskristallnacht' - ein staatlich organisierter Pogrom gegen Juden; danach u. a. Verbot aller jüdischen Publikationsorgane.
1939
1. Januar: Nach der Eingliederung der Reichssender Wien und Böhmen firmiert künftig der Reichsrundfunk als .Großdeutscher Rundfunk'; der Machtbereich des Propagandaministers erfährt erheblichen Zuwachs. 5. Juli: Die Reichssender Königsberg und Breslau senden erstmals Nachrichten in polnischer Sprache, der Reichssender Wien in ukrainischer Sprache. 14. August: Die Reichssender Frankfurt, Saarbrücken und Stuttgart bringen erstmals Nachrichten in französischer Sprache. 1. September: Beginn des Zweiten Weltkriegs. Mit Kriegsbeginn verbietet eine .Verordnung über außerordentliche Rundfünkmaßnahmen' unter Androhung strengster Strafen bis zur Todesstrafe das Abhören von Feind- und Auslandssendern. Bis Ende des Jahres gibt es bereits 1100 entsprechende Verhaftungen, bis 1940 weitere 2400; von Sondergerichten werden 741 Urteile gesprochen: Gefängnis bis zu 2 Jahren in 209 Fällen, Gefängnis über 2 Jahre 32-mal, 290-mal Zuchthaus bis zu 2 Jahren und 92-mal über 2 Jahre.80 20. September: Juden müssen ihre Rundfunkempfänger abliefern. 1. Oktober: Beginn des bis 25. Mai 1941 regelmäßig stattfindenden „Wunschkonzerts für die Wehrmacht" als Gemeinschaftssendung aller Anstalten. Die Sendung - jeweils sonntags von 16.00 bis 20.00 Uhr - soll die Verbindung zwischen Front und Heimat, Soldaten und ihren Familien gewährleisten; sie war im Rundfunk der NS-Zeit eines der populärsten Programme und wurde durch Buch wie Film unter dem gleichen Titel breit vermarktet; nach der 75. Folge Ende Mai 1941 wird sie, wahrscheinlich auch aus militärischen Gründen, eingestellt.81
1940
1. Mai: Eine Statistik zählt 14.327.918 Rundfunkteilnehmer(= Gebührenzahler) im Sendebereich des .Großdeutschen Rundfunks' gegenüber 9 Millionen im Jahr 1938; somit verfugen 60 Prozent aller Haushalte über ein Rundfunkgerät. 26. Mai: Die Wochenzeitung ,Das Reich' erscheint erstmals. 9. Juni: Einfuhrung des .Reichsprogramms' als .Gemeinschaftsprogramm' aller Reichssender; diesen verbleiben in eigener Verantwortung nur kurze Programmstrecken am Vormittag (ζ. B. für Frauen- und Schulfunk). 141
Drittes Reich · 1933-1945
Damit ist das föderale Rundfunksystem unter den Bedingungen des Krieges endgültig beseitigt.
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1941
10. Februar: Der Anspruch des Propagandaministers auf Kontrolle und Zuständigkeit für den Wehrmachtsrundfiink wird durch Führer-Entscheid abgewiesen: „In Fragen der Propaganda ... ist die Vertretung der Gesamtwehrmacht... ausschließlich Aufgabe des OKW" (Oberkommando der Wehrmacht). Heimat-, Front- und Truppenpropaganda, darunter Wehrmachtberichte, Sondermeldungen und Kriegskommentare, bleiben somit in der direkten Zuständigkeit der Wehrmacht. Oktober: Organisations- und Programmreform sowie neue Programmrichtlinien fur den Rundfunk.
1942
15. Februar: Goebbels erlässt eine .Anordnung zur Neugestaltung des Rundfünkprogramms': weitere Zentralisierung der Programmarbeit mit verstärkter Akzentuierung von Sendungen der sogenannten .gehobenen Unterhaltung'. 17. Februar: Juden dürfen keine Zeitungen und Zeitschriften mehr abonnieren. März: Der .Deutschlandsender' sendet als Alternative zum .Einheitsprogramm' wieder ein .Doppelprogramm' mit ernster und klassischer Musik. Das Gemeinschaftsprogramm des Reichsenders ist zuständig für Nachrichten, Kommentare und leichte Unterhaltung.
1943
Der .Großdeutsche Rundfunk' verfügt einschließlich der Sender in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten über 107 Mittel- und Langwellensender sowie 23 Kurzwellensender. 18. Februar: Nach der Niederlage von Stalingrad am 2. Februar hält Goebbels eine fanatisierende Rede im Berliner Sportpalast („Wollt Ihr den totalen Krieg?") 1. September: Führererlass „über den totalen Kriegseinsatz": Schließung aller kulturellen Einrichtungen wie Theater, Ausstellungen, Kunsthochschulen. Allein Rundfunk und Film sollen für Entspannung und „kulturelle Werte" sorgen.
1945
30. Januar: Hitler hält seine letzte Rede im Rundfunk. Uraufführung des Durchhaltefilms „Kolberg" in Berlin und in der .Atlantikfestung' L a Rochelle. 1. Mai: Der Rundfunk verkündet Hitlers .Heldentod'; Goebbels und seine Frau begehen Selbstmord und lassen vorher ihre Kinder umbringen. 2. Mai: Die sowjetische Armee besetzt das Funkhaus an der Berliner Masurenallee. 4. Mai: .Radio Hamburg' nimmt um 19.00 Uhr als britischer Militärsender im Hamburger Funkhaus den Sendebetrieb auf. 8. Mai: In Reims Unterzeichnung der Urkunde, mit der die deutsche Wehrmacht bedingungslos kapituliert.
Daten zur Geschichte des Rundfunks
9. Mai: Um 20.30 Uhr wird über den Reichssender Flensburg der letzte Wehrmachtbericht verlesen: „Seit Mitternacht schweigen an allen Fronten die Waffen." 12. Mai: .Radio München' nimmt als Sender der amerikanischen Militärregierung den Betrieb auf. Gemäß der von den Alliierten erlassenen .Bestimmungen über Nachrichtenkontrolle' Verbot jeglicher publizistischen Tätigkeit fur Deutsche. 13. Mai: Der Reichssender Flensburg stellt seine Sendungen, in denen bis zuletzt noch nationalsozialistische Propaganda verbreitet wurde, ein.
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Trümmerfrauen
3. Kapitel BESATZUNGSZEIT · 1945-1949
„Heute über Tag war der Münchner Sender stundenlang still. Es war, als sende er Schweigen. Abends zehn Uhr, wir saßen im Waldcafé, rührte er sich plötzlich wieder. Und was brachte er?,Heiße' Musik! Erst unkommentierte Funkstille, dann undeutschen Jazz ohne Worte, was ist geschehen? Liegt der Münchner Sender im Niemandsland? Liebt der Nachtportier amerikanische Platten?"1 Am 29. April 1945 notierte dies Erich Kästner - der im Dritten Reich durch Verfolgung gefährdete Dichter hatte sich gegen Ende des Krieges nach Mayrhofen (Tirol) abgesetzt - in seinem Tagebuch; das war eine Beobachtung, die wohl auch an anderen Orten Deutschlands zu dieser Zeit möglich war: das Kriegsende durch Jazz-Melodien angezeigt. Durchaus symptomatisch, denn während mit dem Zwei-Viertel-Rhythmus des Marsches Staatsgewalt zum Gehorsam einschüchtert, verpufft beim Vier-Viertel-Rhythmus, in dem man aus dem Zwei-Viertel-Rhythmus nahezu unbemerkt hinübergleiten kann, jeder Kampfgeist, „entkrampft sich der Mensch und schwingt brüderlich mit allen andern im Kollektiv". So schrieb Oliver Hassencamp über die unmittelbare Zeit nach Kriegsende in einem Buch, das den aufschlussreichen Titel „Der Sieg nach dem Krieg. Die gute schlechte Zeit" trägt.2 Eine solche musikalische Intonation der deutschen Schicksalsstunde vollzog sich aber keineswegs abrupt; sie war insofern gleitend, als sehr viele deutsche Landser und Zivilisten den Jazz in Auslandssendern, überwiegend alliierten Soldatensendern, gehört hatten und bekanntlich auch der .Großdeutsche Rundfunk' unter Goebbels die verzweifelte Kriegslage mit leichten Rhythmen zu kaschieren versuchte. Das Entscheidende bestand jedoch nun darin, dass man wieder ungestraft alles hören durfte, was man mit seinem Radiogerät hören wollte, sofern es technisch geeignet war und elektrischer Strom zur Verfugung stand. Die sogenannte .Stunde Null' bot also gleich zu Beginn die Möglichkeit eines geistig-kulturellen, Neuanfangs - zumindest im Radio. Die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reiches wurde am 8. Mai, früh um 2.41 Uhr in einem Verhandlungszimmer eines Schulhauses in Reims vollzogen, wo der Oberbefehlshaber der westalliierten Streitkräfte, General Dwight D. Eisenhower, sein Hauptquartier aufge-
Besatzungszeit · 1945-1949
schlagen hatte. Alle vier Siegermächte, die Amerikaner, Briten, Russen und Franzosen, waren vertreten. Nachdem das Dokument unterzeichnet war, erhob sich Alfred Jodl (Chef des Wehrmachtsfuhrungsstabes und einer von Hitlers engsten militärischen Ratgebern) und bat ums Wort: In dem über funfjahre andauernden Krieg hätten das deutsche Volk und die deutsche Wehrmacht mehr geleistet und mehr gelitten als vielleicht irgendein anderes Volk der Welt. „In dieser Stunde bleibt mir nichts anderes übrig, als auf den Großmut des Siegers zu hoffen." Er erhielt keine Antwort und verließ mit seiner Delegation den Raum. Am 9. Mai, 0 Uhr 16, wurde die Unterzeichnung im sowjetischen Hauptquartier Berlin-Karlshorst ein zweites Mal vollzogen.
Auf Ehre und Gewissen: Entnazifizierung Die nationalsozialistischen Machthaber aller hierarchischen Ebenen wurden bei der Besetzung Deutschlands durch die alliierten Truppen ausgeschaltet; sie waren umgekommen, versuchten zu fliehen oder wurden gefangen gesetzt. In einer Reihe von Prozessen, vor allem im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess und den dreizehn Nachfolgeverfahren, belangten die Sieger die Haupttäter. Die breite Masse der NS-Funktionäre zog man in sogenannten Spruchkammerverfahren zur Verantwortung. Die von den Alliierten verfugte und geregelte, später deutschen Stellen übertragene Entnazifizierung sollte zusammen mit der Re-education (Umerziehung), die als Rückkehr zu dem von den Nationalsozialisten zerstörten Wertesystem gedacht war, die Deutschen wieder auf den Weg individueller wie kollektiver Moral bringen. Im Mittelpunkt der fiir den Westen vor allem von den Amerikanern konzipierten Säuberung vom Nationalsozialismus stand der .Fragebogen' als Instrument der weltanschaulichen Erfassung. Beabsichtigt war eine geradezu gigantische .Revolution durch Papier', und zwar mit Hilfe von 131 Fragen. Es handelte sich um den Versuch, den Einzelnen zu veranlassen bzw. zu zwingen, seine eigene Identität zu überprüfen, um so im Sinne puritanischen Bilanzierens zur inneren Einsicht zu gelangen und die ihm eventuell auferlegte Bestrafung willig auf sich zu nehmen. Kritiker meinten, dass die Entnazifizierungsverfahren einer bürokratischen Inquisition zur Überprüfung politischer Gesinnung glichen. Die Ausfüllung des Fragebogens, der mit persönlichen Angaben begann und mit Punkt 131 .Kenntnis fremder Sprachen und Grad der Vollkommenheit' endete, war die Voraussetzung fur jede Tätigkeit. Als 146
Auf Ehre und Gewissen: Entnazifizierung
zum Beispiel die Journalistin Ursula von KardorfF sich Ende Juli 1945 bei der .Augsburger Zeitung' bewarb, musste sie zunächst zu einem amerikanischen Major, um „einen grotesken Fragebogen mit 148 Fragen" auszufüllen (bei der Zahl täuschte sie sich). „Unter anderem, wieviel man wiegt, was für Narben man hat, die Farbe der Augen und der Haare, ob und welchen Adelstitel die Vorfahren gefuhrt haben, welcher Religion man angehört, ob man aus der Kirche ausgetreten ist, wieviel man verdient hat, ob man in einem der besetzten Gebiete eine Funktion gehabt hat, ob man verhaftet war. Besonders absurd fand ich die Frage, was man 1933 gewählt hatte. Erstens, weil man bei ihrer Beantwortung mühelos lügen kann, und zweitens, weil ich mir bisher eingebildet hatte, das Wahlgeheimnis gehöre zu den grundlegenden Gesetzen der Demokratie. Uberhaupt erschien uns das Ganze so lächerlich, daß wir in eine übermütige Laune gerieten, als wir den Bogen ausfüllten. Früher war es die jüdische, nun ist es offenbar die adlige Großmutter, die einem schaden kann."3 Bis zum 15. März 1946 wurden in der US-Zone etwa 1,4 Millionen Fragebogen eingereicht, etwa 742.000 bearbeitet. „Die Notwendigkeit, .einwandfreie Gutachten' als Leumundszeugnis bei den Entnazifizierungsstellen vorzulegen, führte alsbald zu einer Überflutung der Ausschüsse mit sogenannten Persilscheinen, die unbelastete Deutsche ihren Landsleuten, oft auch aus Mitleid und Gefälligkeit, ausstellten. Vielfach waren ideelle Beziehungen persönlicher Art oder materielle Korruption in Form von Bestechung mit im Spiel. 19 Prozent der Untersuchten waren aus ihren Stellen zu entlassen, bei 7 Prozent wurde Entlassung empfohlen, bei 25 Prozent anheim gestellt, bei 49 Prozent lagen keine Anzeichen für nationalsozialistische Aktivitäten vor, 0,4 Prozent konnten Widerstand nachweisen, was sie für eine Anstellung empfahl. Bei der überwiegenden Mehrzahl der Internierten in der US-Zone handelte es sich um .Funktionäre der Ortsebene, kleine Angestellte der öffentlichen Hand' und Angehörige mittelständischer Berufsgruppen. Von .konzentrierten Maßnahmen gegen die deutsche Elite konnte nicht die Rede sein'. Die planlose Ausuferung dieser Politik hemmte den Aufbau des neuen Verwaltungsapparats und paralysierte das Management der stagnierenden Wirtschaft, was letztlich dem amerikanischen Steuerzahler zur Last fiel, von dem ganz und gar unbeabsichtigten Solidarisierungseffekt in Deutschland zu schweigen." 4 Nach alliierter Beurteilung erwies sich die Entnazifizierung jedoch als großer Erfolg. In einem .Frontbericht der Säuberung' vom 8. November 1945 zitierte die von den Amerikanern in München unter der Verantwortung Eisenhowers herausgegebene .Neue Zeitung' eine Bilanz der Mili147
Besatzungszeit · 1945-1949
tärregierung fìir die amerikanische Zone, wonach die Säuberung der deutschen Behörden, Betriebe und freien Berufe von Nationalsozialisten beinahe vollendet sei. 166.401 Deutsche seien aus ihren Stellen entfernt worden; es handele sich dabei um Angestellte von Behörden und Verwaltungen, um wichtige Stellen in Handel und Industrie, aber auch um Angehörige freier Berufe. Weniger als 70.000 Deutsche befanden sich weiterhin in Stellungen, aus denen sie aufgrund ihrer politischen Unzuverlässigkeit noch entlassen werden müssten. Politische Säuberung heiße nicht nur Wiedergutmachung; sie bedeute zugleich Wiederaufbau, erklärte der fìir Fragen politischer Säuberung zuständige bayerische Staatsminister Heinrich Schmitt. Es genüge nicht, die Nationalsozialisten aus allen Posten der Wirtschaft und des öffentlichen Lebens zu entfernen; sie sollten mit Hacke und Spaten die Trümmer beseitigen helfen, die das Hitlerregime hier und jenseits der Grenzen hinterlassen habe. Man wolle nicht Rache üben, müsse aber hart und gerecht sein, um nicht die verhängnisvollen Fehler der Weimarer Republik zu wiederholen.5 Am 12. November 1945 machte dann die ,Neue Zeitung' mit Nachdruck darauf aufmerksam, dass die Beseitigung des nationalsozialistischen Einflusses auf das öffentliche Leben nicht nur eine der dringlichsten Aufgaben sei, die sich die Besatzungsmächte gestellt hätten; sie habe auch als eine der größten Aufgaben der neu gebildeten deutschen Länderregierungen zu gelten. Die bisher von der Militärregierung getroffenen Maßnahmen - die Verhaftung der Kriegsverbrecher, die Reinigung des Beamtenkörpers, die Säuberung der Wirtschaft, die Beschlagnahme der Parteivermögen - zeigten die Richtung, die einzuschlagen sei. „Die Durchführung der begonnenen Maßnahmen, ihre Verbreiterung und Vertiefung wird später mehr und mehr von den Deutschen selbst übernommen werden müssen."6 Das „Gesetz der Befreiung vom Nationalsozialismus und Militarismus", das am 5. März 1946 von den inzwischen durch die US-Militärregierung eingesetzten Ministerpräsidenten der Länder Bayern, Württemberg-Baden und Großhessen (die den ,Länderrat' bildeten) unterzeichnet wurde, sah eine Einstufung der Betroffenen in fünf Gruppen vor: Hauptschuldige, Belastete, Minderbelastete, Mitläufer, Entlastete. Von den 13 Millionen in der US-Zone ausgegebenen Fragebogen waren 3 Millionen weiter zu bearbeiten. Es gab 545 Spruchkammern mit 22.000 Bediensteten; sie konnten, weil es an Personal, Möbeln, Büromaschinen, Büromaterial einschließlich des Papiers fur die ungeheuren Mengen von Formularen fehlte, vielfach erst verspätet beginnen. Die Kammermitglieder hatten oft keine juristische Vorbildung. Korruption war nicht auszuschließen; Falschaussa148
Auf Ehre und Gewissen: Entnazifizierung
gen, vor allem bei Belastungs- und Entlastungszeugen, führten laufend zu Ungerechtigkeiten. Dazu kam, dass die Amerikaner viel schärfer als Engländer und Franzosen die Entnazifizierung betrieben, allerdings durch zwei Amnestien ungefähr 3 Millionen Menschen entlasteten (solche, die nach dem 1. Januar 1919 geboren oder körperbeschädigt waren und solche, deren Steuerpflicht das Jahreseinkommen von 3630 Reichsmark nicht überstieg). Im Bereich der amerikanischen Besatzungsbehörde war gegen ein gutes Viertel der 13 Millionen Fragebogenpflichtigen zumindest Anklage erhoben worden: 950.000 Verfahren wurden durchgeführt, 600.000 Personen bestraft, davon 500.000 mit einer Geldstrafe. Hauptschuldige der Gruppe I gab es 1549, Belastete der Gruppe II 21.600. Die Entnazifizierung, so Lutz Niethammer in seiner umfassenden Untersuchung „Die Mitläuferfabrik", habe das deutsche antifaschistische, Selbstorganisation anstrebende Säuberungskonzept im Keim erstickt. Denn die Ausschaltung deutscher Antifaschisten und die Heranziehung konservativer Kreise zum Wiederaufbau einer funktionsfähigen und unpolitischen Verwaltung sei im Trend der Entstehungsgeschichte des „Befreiungsgesetzes" gelegen. In seiner endgültigen Fassung, entpolitisiert und allein auf administrative Umsetzung der Entnazifizierung zugeschnitten, wurde es, wie der bayerische Ministerpräsident Wilhelm Hoegner (SPD) voraussah, zum entscheidenden Instrumentarium der Massenrehabilitation ehemaliger NS-Mitglieder: „Die Entnazifizierung drängte einen großen Teil insbesondere der Mittelschichten und der öffentlichen Bediensteten unmittelbar nach dem Dritten Reich in eine Abwehrhaltung und verschüttete Motive einer aktiven politischen Umorientierung bei der Masse der ehemaligen NS-Anhängerschaft, bestärkte diese vielmehr in ihrer Neigung, sich an die jeweils herrschende Ordnung anzupassen, solange diese privaten Erfolg ohne öffentlichen Konflikt ermöglicht. Als steckengebliebene Maßnahme einer liberalen Besatzungsdiktatur hat sie zugleich autochthone Alternativen zum Faschismus paralysiert, indem sie auf der Rechten die Ansätze zu einem autoritären Rechtsstaat unterhöhlte und auf der Linken antifaschistischen Strukturreformen mit dem Ziel einer gesellschaftlichen Umschichtung den Wind aus den Segeln nahm. Noch bevor sich der Kalte Krieg dramatisch zuspitzte, wurden damit in der Entnazifizierung amerikanischer Prägung unter dem Vorzeichen radikaler Maßnahmen gegen den Nationalsozialismus soziale Grundlagen für die Westintegration gelegt, die dazu beitrugen, die tiefgehende gesellschaftliche Krise nach dem Zusammenbruch des Faschismus durch stabilisierende Eingriffe der Besatzungsmacht im Sinne weitgehender Kontinuität der Gesellschaftsordnung und ungehinderter Etablierung liberaler 149
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politischer Institutionen zu überwinden. Zugleich forderte die Entnazifizierung jedoch auch Abstriche an diesem liberalen Ziel. Denn im Zuge der Eindämmung autoritärer und sozialistischer Alternativen zum Faschismus mußte die Wiedergewinnung der Rechtssicherheit ebenso vertagt werden, wie das Interesse an politischer Teilnahme bei großen Gruppen nicht geweckt werden konnte." 7 Im August 1947 gab die amerikanische Regierung unter General Lucius D. Clay die Anweisung - da man ja nun Westdeutschland in ein antisowjetisches Bündnissystem einbeziehen wollte -, die Entnazifizierung bis zum 31. März 1948 zu beenden. Dagegen wehrten sich die deutschen Stellen, denn sie hatten bislang erst die leichteren Falle abgeurteilt und die schwierigen zurückgestellt: „Die Kleinen hängt man, die Großen läßt man laufen", das war damals eine in der Öffentlichkeit weit verbreitete Meinung. In einem Brief an Walter Dorn (amerikanischer Historiker und Zivilbeamter der Militärregierung) schrieb Hoegner, der das „Befreiungsgesetz" befürwortet hatte, dass der Wechsel in der Entnazifizierungspolitik die Folge habe, „daß die kleinen Leute am Anfang von der ganzen Schwere des Gesetzes getroffen wurden, während die wahren Schuldigen, die jetzt erst an die Reihe kommen, in den Genuß der milderen Praxis gelangen. Die Zeit heilt eben alle Wunden ... In wenigen Jahren werden die ehemaligen Nationalsozialisten die deutsche Verwaltung wieder beherrschen, das ist keine Übertreibung." 8
Der Nürnberger Lehrprozess und die Umerziehung Re-education war das positive Gegenstück zur Entnazifizierung durch Strafverfahren. Den seit dem 19. Jahrhundert durch eine .schwarze Pädagogik' geformten Deutschen kam ein solches Wechselspiel verhältnismäßig vertraut vor: das durch demokratische .Dressur' zu erziehende Volk musste zunächst einmal mit Sanktionen .geschunden' werden. Trotz der viele Familien belastenden Entnazifizierung verlief somit die Umerziehung, die für die Jüngeren und Jungen eine Neuerziehung war, relativ erfolgreich. Im Vorfeld der amerikanischen Besatzungs- und Nachkriegspolitik gab es eine Reihe von zumeist durch Emigranten erstellten Studien und Untersuchungen, die sich mit dem deutschen Nationalcharakter beschäftigten. Sigrid Schultz - norwegischer Herkunft, in Amerika geboren, in Deutschland aufgewachsen, wo sie auch zur Schule ging und studierte, von 1919 bis 1941 in Deutschland als Korrespondentin der .Chicago Tri150
Der Nürnberger Lehrprozess
bune' und als Radiokommentatorin tätig - kam in ihrem Buch „Germany will try it again" zu dem Ergebnis, dass die Deutschen trotz ihrer hohen Kultur nicht im Stande seien, ihren die Welt bedrohenden Militarismus zu bändigen. Da sie an eine autoritäre Herrschaft gewohnt seien, müsse man sie nach dem Krieg unter strenger Kontrolle halten, nur so könne man ihre negativen Eigenschaften bändigen. - Der 1881 in Breslau geborene Dichter Emil Ludwig (vor allem bekannt als Autor von Biographien), der 1932 Schweizer Bürger geworden war und während des Krieges in den USA lebte, schrieb zwei einflussreiche Bücher über Deutschland: „How To Treat The Germans" und „The Moral Conquest of Germany". Er charakterisierte den typischen Deutschen als unharmonisch und unzufrieden; er könne nicht lachen, strebe nach Macht und finde eigentlich nie, was er suche. In seiner Unsicherheit wolle er stets Eindruck auf andere machen; Resultat sei die typisch deutsche Zwieschlächtigkeit von Arroganz und Servilität. Vor allem aber gelte: „From ancient times the Teutons were a military race, and so they were easily trained into efficient soldiers, strong and obedient." (Die Teutonen waren seit Urzeiten eine kriegerische Rasse und deshalb ließen sie sich leicht zu tüchtigen Soldaten abrichten, robust und gehorsam.) Die Vertikale bestimme das soziale Leben, nicht Gleichheit. Die deutsche Gesellschaft sei wie eine Pyramide und Misstrauen herrsche in den hierarchischen Beziehungen. Der Geist des Gehorsams, die Identifizierung mit der Autorität, sei vorherrschend. Von der harten Disziplin im Dienst erhole sich der Deutsche in der Gemütlichkeit und in Träumen, und zu diesen Traum-Opiaten gehöre die Musik. Frauen hätten nie eine gesellschaftliche Rolle gespielt. Ganz besonders beklagt Ludwig die scharfe Trennung von Macht und Geist. Liberalität werde von den Deutschen als Schwachheit ausgelegt werden, nur wer sich als Sieger aufführe, erhalte Respekt.9 Das alles war zwar plakativ formuliert, konnte aber durch die deutsche Mentalitätsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts in vielem verifiziert werden. „Von wem mag der Gedanke ausgegangen sein, das so tief gesunkene deutsche Volk in der Niederlage .umerziehen' zu wollen?" fragt Hans Mayer in seinem Buch „Die umerzogene Literatur". Der Gedanke mute wunderlich an; aber eine wohlbekannte Theorie des bürgerlichen Strafrechts liege dem zugrunde. Nachdem man die anachronistisch gewordenen Prinzipien einer Vergeltungstheorie, also das „Auge um Auge, Zahn um Zahn" nicht mehr habe praktizieren wollen, auch kaum mehr habe festhalten können am Grundgedanken einer sogenannten Vergeltung, weil dadurch der Staat immer noch vergöttlicht erscheine, sei man bei einer Besserungstheorie gelandet. Dabei müsse man dem Delinquenten helfen, um ihn wieder zu 151
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einem ordentlichen Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft zu machen. „Sich selbst überlassen durfte man die Deutschen auf keinen Fall. Nunmehr wurden sie, je nach Besatzungszonen, folglich vier durchaus divergierenden Methoden einer politischen Erziehungswissenschaft unterworfen. ,Re-education' hieß das in der amerikanischen Besatzungszone, also im südlichen Deutschland: von Rosenheim bis Heidelberg. Gemeinsam war allen vier Besatzungsmächten das Prinzip einer Koppelung der Entnazifizierung mit einer Politik der Umerziehung. Die Austreibung und die Reinigung. Wer ausgetrieben werden mußte, durfte nicht mithelfen bei der Erziehung und Reinigung. Nach diesem Grundsatz hat dann vor allem die amerikanische Besatzungsmacht vorerst folgerichtig gearbeitet."10 Für den Historiker John Gimbel beruhte der Glaube der Amerikaner an die Kraft der Umerziehung nicht auf einer naiven und eitlen Hoffnung, sondern auf einer tief verwurzelten und allgemein akzeptierten Ansicht, dass die demokratischen Institutionen und demokratischen Gepflogenheiten Amerikas sich auf natürlichem Wege aus dem Erlebnis der .frontier' (der Grenze) entwickelt hätten. Als die Besiedlungsgrenze auf dem nordamerikanischen Kontinent sich im 19. Jahrhundert allmählich nach Westen vorschob, legten die neuen Gemeinwesen die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Gewohnheiten der Vergangenheit ab, um in der neuen Umwelt einen neuen Anfang zu machen - einen Anfang frei von den Torheiten und Fehlern der Vergangenheit. Der amerikanische Grenzer sei vermutlich Rousseaus Ideal des Menschen, der zurück zur Natur finde, näher als irgendjemand vor ihm gekommen. „Er hatte das zivilisierte Europa und den amerikanischen Osten hinter sich gelassen und lebte nun in enger Verbindung mit der Natur. Bei der Schaffung einer neuen Gesellschaft im Westen konnte er sich von seinen natürlichen Impulsen leiten lassen. Was diese Leute schufen, waren die Einrichtungen, Ideale und Gepflogenheiten, die die Amerikaner mit dem Begriff .Demokratie' verbinden." 11 Die amerikanischen Anstrengungen, Deutschland zu demokratisieren, spiegelten deutlich dieses vorgegebene Bild von den Ursprüngen der amerikanischen Demokratie wider. Entnazifizierung, Demontage, Entmilitarisierung, Bodenreform, Reform des Beamtentums - das negative oder destruktive Programm der Militärregierung - würden einen ähnlichen Effekt haben wie der Entschluss der amerikanischen Pioniere, den Ballast einer alten Kultur abzuwerfen. „Das reformierte Beamtentum, die reformierten Schulen, die örtliche Selbstverwaltung mit ihren Bürgerversammlungen und Forumsdiskussionen und die verantwortlichen, verfassungsmäßigen, direkt gewählten örtlichen Verwaltungen und Landesregierungen sind den neuen Einrichtungen verwandt, die amerikanische Pioniere in den Gemeinden der fron152
Der Nürnberger Lehrprozess
tier schufen. Die Deutschen, die weder Nazis, Militaristen, Monarchisten oder Anhänger eines autoritären Systems waren, ähnelten den Pionieren, die lieber den natürlichen Antrieben des Menschen folgten, anstatt sich an die Vorschriften künstlich geschaffener Institutionen zu halten oder überkommenen Ideologien anzuhängen. Kurz, die Amerikaner glaubten, daß der demokratische Impuls der Menschennatur angeboren sei und daß es nur erforderlich sei, die richtige Atmosphäre zu schaffen, um die bösen Kräfte zu vertreiben oder auszuschalten, damit sich die Demokratie in einem natürlichen Prozeß von selbst entwickle."12 Auch die Briten, ansonsten der amerikanischen engagiert-systematischen Besatzungspolitik ferner stehend, haben - so Kurt Koszyk - die Umerziehung des deutschen Volkes als wichtigen Teil ihrer Deutschlandplanung betrachtet und schon seit 1943 vorbereitet. In einer Erklärung des .Foreign Office' vom 8. August 1943 heißt es, dass die einzige Politik, die vor der Zukunft bestehen könne, diejenige sei, die - unter Beachtung aller Vorsicht - letztlich auf die Wiederzulassung eines reformierten Deutschlands zum Leben Europas abziele. „Diesen Satz wählte John Troutbeck von der German Advisory Section im Foreign Office am 3. Dezember 1943 als Motto einer Niederschrift über die .Regeneration of Germany'. Er bezog sich zudem ausdrücklich auf die bereits zitierten Äußerungen Edens aus dem Jahre 1941, an deren Formulierung Troutbeck möglicherweise beteiligt war. Er befürwortete wegen der Notwendigkeit, Deutschland im Interesse seiner Nachbarn vor dem Bankrott zu bewahren, daß der Nachdruck auf die .Umerziehung' des deutschen Volkes - eine Aufgabe von Jahrzehnten - gelegt werden müsse."13 In seiner politischen Autobiographie „Aufgeräumte Erfahrung" bemerkt Hartmut von Hentig, dass er zwar über die verständnislose und unwürdige Behandlung, die sein Vater durch die Besatzungsmächte erfahren habe, bekümmert gewesen sei; das habe ihn aber nicht an der Richtigkeit und Notwendigkeit der Re-education, der Entnazifizierung und der Nürnberger Gerichtsbarkeit zweifeln lassen.14 Damit ist die Trias des alliierten Umerziehungskonzeptes benannt; denn die Abrechnung mit dem nationalsozialistischen Massenmördern in Nürnberg hatte auch eine volkspädagogische Absicht, die insbesondere dem Umerziehungskonzept der amerikanischen und in gewisser Weise auch der britischen Politik in ihren Besatzungszonen zugrunde lag. Jörg Friedrich spricht sogar davon, dass die Nürnberger Prozesse „in erster Linie" solche Gedanken verfolgt hätten. Die Eliten des Reiches sollten verschwinden, indem ihr elitärer Rang verschwand. Das Nürnberger Tribunal sei eine Tribüne gewesen, aufgeschlagen, um den Bürgern des künf153
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tigen deutschen Staates die Verworfenheit des verflossenen vorzustellen. Nationalsozialismus, das Bündnis zwischen Partei-Mob und Elite, wäre alsdann keine Veranstaltung der Nation gewesen, sondern die Verschwörung einer Outlaw-Kaste, der Kriegsverbrecher. Die Beseitigung des Nationalsozialismus habe sich mittels Achtens dieser Kaste vollzogen, ihr physischer oder moralischer Untergang die nunmehr Demokratie, Menschenrecht und Völkerversöhnung pflegende Gesellschaft geläutert.15 Welche Bedeutung alle vier Besatzungsmächte dem Prozess gegen die in Nürnberg angeklagten 21 führenden Hauptkriegsverbrecher des Dritten Reiches beimaßen, ist schon aus dem Aufwand ersichtlich, mit dem sie die Berichterstattung für ihre Zonen sicherstellten. Nicht nur, dass der Sender Nürnberg für die Zwecke des Prozesses bevorzugt wieder in Betrieb gesetzt wurde; für die Dauer fast eines Jahres waren 250 Journalisten und Rundfunkberichterstatter, elf Photographen und Filmoperateure aus allen Teilen der Welt sowie allen vier deutschen Besatzungszonen beim Tribunal für Rundfunk und Presse tätig.16 Innerhalb der vier Besatzungszonen berichtete zum Beispiel der NWDR bis zu dreimal täglich, jeweils im Anschluss und zusätzlich zu den aktuellen Nachrichten um 6.45,13.00 und 21.45 Uhr. Ahnliches traf zu für Radio München und für Radio Frankfurt (mittags mit einem 15-minütigen „Bericht aus Nürnberg", abends mit einem 10 bis 15 Minuten langen „Kommentar aus Nürnberg"). Im Durchschnitt nahmen bei den Sendern Berichte und Kommentare zu Nürnberg bis zu 3.5 Prozent bzw. etwa 3 Stunden der wöchentlichen Sendezeit ein. Der ,Berliner Rundfunk' in der sowjetischen Besatzungszone hatte schon ab Mai 1945 immer wieder über die Verbrechen und Opfer unter der NSHerrschaft ausführlich berichtet, vor allem über Greueltaten in der Sowjetunion und in den Ländern Osteuropas. Den Nürnberger Prozess behandelte hauptsächlich Markus Wolf (damals Mitarbeiter des Senders und Berichterstatter aus Nürnberg), und zwar innerhalb der täglichen Nachrichtensendungen. Bereits in der kurzen Spanne zwischen Kriegsende und dem Beginn des Kalten Krieges verfolgten die vier alliierten Siegermächte sowohl mit dem Prozess als auch mit seiner publizistischen Aufarbeitung ihre jeweils eigenen politischen Vorstellungen, auch wenn sie zunächst davon nach außen wenig verlauten ließen.17 Da manche Berichte von aus dem Ausland zurückgekehrten Emigranten stammten, die in alliierter Militäruniform auftraten und von den Alliierten akkreditiert worden waren, blieb ein Teil der erwarteten Wirkung auf das deutsche Publikum aus - eine Folge der Debatte um das Exil wie der Ablehnung, die viele Deutsche gegenüber dem Prozess der Sieger über die Besiegten zeigten. Immerhin ergaben Befragungen, dass der 154
Leutnant Habe und Sergeant Heym
Kriegsverbrecherprozess in der deutschen Öffentlichkeit am Ende doch überwiegend Zustimmung fand (obgleich noch 50 Prozent der Befragten Sympathien für die NS-Ideologie und -Herrschaft einräumten). Alfred Döblin, in französischer Uniform ein Beobachter des Nürnberger Prozesses, war der Meinung, dass dieser die Deutschen „etwas lehren" solle; so verfasste er unter dem Pseudonym Hans Fiedeler eine kleine Broschüre, der er den treffenden Titel „Der Nürnberger Lehrprozeß" gab. Sie wurde Ende 1946, in der papierarmen Zeit, mit der erstaunlichen Auflage von 200.000 Exemplaren gedruckt und rasch verkauft. Aber, so schrieb er einige Jahre später: „Hatten diese Hefte eine Wirkung? Mir scheint: kaum. Sie hatten vielleicht eine entgegengesetzte Wirkung und wurden darum so gekauft, nämlich wegen ihrer Bilder, der Photos der Hauptakteure in diesem Prozeß."18
Leutnant Habe und Sergeant Heym
Innerhalb des Re-education-Programms spielte neben dem Rundfunk das gedruckte Wort, vor allem in Form von Zeitungen und Zeitschriften, eine große Rolle. Seit die Alliierten die deutsche Grenze erreicht hatten, gaben sie jeweils in den eroberten Gebieten Armeegruppenzeitungen in deutscher Sprache heraus. So entstand die paradoxe, geradezu surreale Situation, dass zum Beispiel in München und Berlin noch der nationalsozialistische .Völkische Beobachter' mit fanatischen Durchhalteparolen erschien, während in den bereits der Militärverwaltung unterstellten Städten und Regionen sich die Bevölkerung durch Zeitungslektüre ein objektives Bild der Lage machen konnte. Die Heeresgruppenblätter - insgesamt 16 amerikanische (die dann im Herbst 1945 eingestellt wurden) und 21 britische Blätter, die bis zum Frühjahr 1946 erschienen - waren weitgehend das Werk Hans Habes, des Leiters der „Publicity and Psychological Warfare Division" der 12. Armeegruppe. Seit Sommer 1944 hatte eine amerikanisch-britische Expertengruppe im alliierten Hauptquartier in Paris über das Mediensystem für Deutschland nach Hitler beraten. Sie war sich völlig im Klaren darüber, wie wichtig eine grundlegende Erneuerung des gesamten Pressewesens für die Entwicklung einer demokratischen Gesellschaft sein würde. „Die Eliminierung des nationalsozialistischen Propagandaapparates und die Zerschlagung des NSDAP-eigenen EherPressetrusts, in dem mehr als vier Fünftel der gesamten deutschen Zeitungsauflage auch wirtschaftlich gleichgeschaltet waren, mußte jedem 155
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Versuch von .Re-education' und .Reorientation' vorangehen. Dem entsprach das Gesetz Nr. 191, mit dem der Oberste Befehlshaber der alliierten Truppen bereits am 24. November 1944 ein totales Verbot fur deutsche Publikationen innerhalb des besetzten Gebiets verhängte."19 Es sei ein abenteuerliches Unterfangen gewesen, in diesem zertrümmerten Land Zeitungen zu machen. Allein schon die Tatsache, dass es keine exakte Planung, keine durchdachten Direktiven, keine Politik auf lange Sicht gegeben habe, erschwerte die Sache. „Und die materiellen Voraussetzungen waren erbärmlich." So der 1913 in Chemnitz geborene, 1933 in die Tschechoslowakei, dann in die USA emigrierte Schriftsteller Stefan Heym, der als Spezialist für psychologische Kriegsfiihrung zur Habe-Gruppe gehörte; (später wurde Heym als Angehöriger der Besatzungstruppe wegen prokommunistischer Einstellung in die USA zurückversetzt und aus der Armee entlassen, worauf er Offizierspatent und Kriegsauszeichnungen zurückgab und 1952 nach Ostberlin übersiedelte).20 Was die Zulassung deutscher Zeitungen betraf, so herrschte bei den Westmächten Einigkeit darüber, dass eine Neuauflage der opportunistischen und sensationshungrigen .Generalanzeigerpresse' der Weimarer Zeit ebenso verhindert werden müsse, wie die Neuentstehung großer Zeitungsmonopole nach dem Muster Hugenberg. Betont werden sollte außerdem die Unabhängigkeit der Presse gegenüber Regierungsstellen. In Fragen der Organisationsform und der detaillierteren Gestaltung der Presselandschaft bestand jedoch zwischen den westlichen Alliierten nicht immer Einvernehmen. Anders als in Berlin und in der sowjetischen, englischen und französischen Zone, wo die Parteien an der Zeitungsherausgabe beteiligt wurden, vergaben zum Beispiel die Amerikaner ZeitungsLizenzen nur an Herausgeberkollegien von drei und mehr Männern unterschiedlicher politischer, weltanschaulicher Orientierung, die gemeinsam die Verantwortung übernehmen mussten. Als Ergebnis dieser Lizenzpolitik entstanden zwischen Juli 1945 und September 1949 auf der Basis der westalliierten Nachrichtenkontrollvorschrift Nr. 1 vom 12. Mai 1945 155 neue Tageszeitungen (bei den Amerikanern und Briten je 61, bei den Franzosen 33); darunter waren die .Frankfurter Rundschau' und die .Süddeutsche Zeitung'. Als Vorbild für die nun wieder sich formierende deutsche Presse fungierte die von den Amerikanern herausgegebene .Neue Zeitung', in der die Erfahrungen der Heeresgruppenzeitungen (Auflage bis zu 4,6 Millionen Exemplare), aber auch der noch zusätzlich herausgegebenen .Organe der Militärregierungen' einflössen. Die Qualität der in der ehemaligen Druckerei des .Völkischen Beobachters' in München gedruckten .Neuen 156
Leutnant Habe und Sergeant Heym
Zeitung' - acht Monate nach ihrer Gründung hatte sie eine Auflage von 1,3 Millionen erreicht - war so herausragend, dass sie zum Orientierungsmuster und Vorbild für die deutsche Lizenzpresse werden konnte. Hans Habe war zunächst Chefredakteur, mit Stefan Heym als Stellvertreter; ab Januar 1946 übernahm diese Funktion Hans Wallenberg, ein gebürtiger Berliner mit US-Staatsbürgerschaft, der zuvor in seiner Geburtsstadt die als amerikanische Konkurrenz zur sowjetischen .Täglichen Rundschau' entstandene .Allgemeine Zeitung' geleitet hatte. Hervorragende deutsche Mitarbeiter wie Erich Kästner (Leiter des Feuilletons), Robert Lembke, Werner Finck, Friedrich Luft, Alfred Kerr und Walter Kiaulehn wurden gewonnen. Die .Schule' der .Neuen Zeitung' prägte im besonderen Maße auch junge deutsche Journalisten und Journalistinnen; außerdem konnte sie, nicht zuletzt wegen ihrer Ressourcen und Beziehungen, die besten Autoren des In- und Auslandes verpflichten. Mit ihrem Niveau lag die .Neue Zeitung' bald über den von den anderen Besatzungstruppen herausgebrachten überregionalen Blättern; (von den Briten wurde seit dem 2. April 1946 ,Die Welt' ediert; in der französischen Zone erschien seit dem 26. September 1945 die .Nouvelles de France', zunächst in französischer Sprache für die Besatzungssoldaten, dann aber bald in deutsch; die Sowjets hatten am 15. Mai 1945 die .Tägliche Rundschau' gegründet).21 Die Habe-Gruppe war auch auf dem Gebiet des Rundfunks tätig; ihre ersten Erfahrungen für die Vorbereitung ihrer Tätigkeit im bald vollständig besetzten Deutschland konnte sie in Luxemburg sammeln; denn dort waren die Sendeanlagen, die von ihrer Leistung her tief nach Deutschland hinein ausstrahlen konnten, erhalten geblieben. Heym berichtet in seiner Autobiographie „Nachruf" über die Schwierigkeiten, aber auch das Engagement und die Improvisationsgabe der Beteiligten bei dieser für den Neubeginn des Rundfunks so wichtigen Phase. „Habes Truppe ist ein buntgescheckter Haufen, zusammengeklaubt aus Mannschaften der 2. und der inzwischen in Frankreich angelangten 3. Mobile Radio Broadcasting Company und aus irgendwelchen anderen Organisationen, dem Amt für Kriegsinformation oder dem Amt für Strategische Dienste vor allem; der innere Kern, der die eigentliche Arbeit leistet, besteht aus Literaten und Journalisten, Universitätsprofessoren und Germanistikstudenten; Flüchtlinge aus Deutschland und Osterreich, die meisten von ihnen wurden kürzlich erst in den USA eingebürgert. Die einen besitzen mehr, die anderen weniger Fertigkeit als Schriftsteller, einige auch haben das Handwerk noch nie ausgeübt, sie arbeiten sich aber schnell ein. Um diesen Kern herum schart sich eine Unzahl von Typen, Offizieren hauptsächlich, die vorgeben, Fachleute zu sein, in Wahrheit aber nach einem ruhigen 157
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Posten mit dem Glorienschein geistigen Schöpfertums streben; hier kann man sich als intellektueller Gigant ausgeben, selbst wenn man nur ein paar unglücklichen Untergebenen befohlen hat, eine von vornherein überflüssige Statistik zusammenzustellen. Auch der Sergeant S. H. hat ja noch nie für den Rundfunk gearbeitet; ein- oder zweimal hat er, vor Hitlers Machtantritt, in einem Literaturprogramm des Berliner Senders eigene Gedichte gelesen, das ist die Summe seiner Erfahrungen auf dem Gebiet. Was ist das, eine Sendung, wie baut man so etwas auf? Wie erfüllt man die nüchternen Meldungen, hier ein Bataillon vernichtet, dort eine Stellung genommen, mit Leben? Was teilt man dem Ansager zu, welches Gewicht gibt man welchen Stimmen, wie verbindet man mehrere Informationen, ohne daß dem Hörer die Nahtstellen auffallen? Wie fugt man die Originalaufnahmen ein, die Stimmen von Gefangenen, von Bürgern in den befreiten Ortschaften, so daß das Ganze im Zusammenhang steht und der Hörer auch ohne gereckten Zeigefinger zu den richtigen Schlußfolgerungen gelangt? Für Schulung ist keine Zeit vorhanden, und wer sollte die Kunst wohl auch lehren? Das Programm muß von heute auf morgen beginnen, die Sprecher warten am Mikrophon, Soldaten die einen, Zivilisten die anderen, Luxemburger, aber auch schon Deutsche, deren Lebenslauf und Charakter mehr oder weniger gründlich überprüft worden sind. Nur die Praxis kann ergeben, wie's gemacht wird, und so läßt sich in der Folge der Skripts des Sergeanten S. H. eine ganze Skala ablesen, die von plumpen Anfängen bis fast zur Perfektion reicht. Das Material? Die Nachrichten sind das eine, die in ständigem Fluß aus den amerikanischen und englischen Pressediensten und von den Armeestäben einkommen, und vom OKW, dem Oberkommando der Wehrmacht, dessen Heeresberichte gewissenhaft abgehört werden. Aber das ist nur der Hintergrund: vor diesem spielen sich die Einzelschicksale ab, die der eigentliche Stoff der Sendungen sind, die Schicksale von Einheiten, die zerrieben, von Menschen, die geopfert werden in einem Kampf, der längst verloren ist. Solche Schicksale erfährt man zu Tausenden in den Lagern der Kriegsgefangenen, aus Verhören und Berichten über Verhöre, oder man liest sie ab aus den Papieren, die die deutschen Stäbe zurückgelassen haben beim Rückzug, aus den vergeblichen Rufen nach Verstärkung, Munition, Lebensmitteln, den dürren Angaben der Ärzte in den Sanitätsstellen und Feldhospitälern. Und dann die Briefe: Briefe, die die an der Front nach Hause schicken an Frau und Mutter und Kind, und Briefe, die von zu Haus gesandt wurden an die Männer vorn, Briefe, die sämtlich ihre Adressaten nicht mehr erreichten - jeder Brief ein Schicksal."22 158
„This is Radio Hamburg"
„This is Radio Hamburg" - und nun senden sie wieder Das drahtlos verbreitete Wort hatte bei der .Re-education' obersten Stellenwert: wegen der Allgegenwärtigkeit des Mediums, aber auch wegen der Tatsache, dass man hier nicht Druckmaschinen brauchte, die oft zerstört waren, und nicht Papier, bei dem große Knappheit herrschte. Das Radio ermöglichte eine schnelle und von Verkehrswegen unabhängige Verbreitung. In den Planungen der Besatzungsmächte fur die Zeit nach der deutschen Kapitulation schien der Rundfunk am ehesten und wirkungsvollsten geeignet, nicht allein das Entstehen eines publizistischen Vakuums zu verhindern, sondern vor allem die Bevölkerung mit Anordnungen und Informationen, bald auch mit politischen und allgemeinen Sendungen zu erreichen, in denen alle vier Siegermächte die Deutschen zunächst mit ihrer jeweils eigenen Nationalkultur .beschallten'. „Das Radio ist der demokratische Apparat par excellence", schrieb Alfred Döblin Anfang 1947. „Es belehrt auf verschiedenem Niveau ... Es nähert Millionen einander an, indem in sie ähnliche Ideen infiltriert werden, und macht sie ähnlich. Demokratie, dein Mund heißt Radio."23
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22 Die amerikanische Sendermannschaft von , Radio Stuttgart 1 (1945)
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23 Fahrbarer 20 k W Mittelwellensender mit fünf Fahrzeugen. Baujahr 1940. Er wurde unmittelbar nach 1945 in Norden-Osterloog für den Sendedienst der B B C und des N W D R genutzt
Voraussetzung fur den neuen Rundfunk war eine tabula rasa, das heißt die Unterbindung jeglicher deutscher Sendedienste. Die Funkhoheit des Deutschen Reichs war auf die alliierten Siegermächte übergegangen und wurde, wie die gesamte Staatsgewalt, durch die Militärgouverneure ausgeübt. Diese veranlassten, dass die meisten der eroberten bzw. besetzten Sendeanlagen möglichst rasch wieder in Betrieb genommen werden konnten. Am 4. Mai 1945 um 10 Uhr, bereits vier Tage vor der Kapitulation, hatten die Engländer das unzerstörte Funkhaus an der Rothenbaumchaussee in Hamburg übernommen; um 19 Uhr, als der Nebensender in Flensburg noch NS-Propaganda ausstrahlte, erklang im .Sender Hamburg' die englische Nationalhymne, gefolgt von der Ansage: „This is Radio Hamburg, a station of the Allied Military Government". Die dort nun eingezogene .Information Control Unit', bestehend aus drei Offizieren und ein paar Mannschaftsdienstgraden, stand vor der Frage: „Wie sollen wir ohne deutsche Mitarbeiter und mit sehr wenig Gerät Sendungen machen? Reporter, Redakteure, Sprecher waren in alle Winde zerstoben. Wären sie zur Stelle gewesen, hätte man sie nicht ans Mikrophon gelassen. Aber die Techniker waren da. Sie standen am 4. Mai aufgereiht, als 160
„This is Radio Hamburg"
die drei englischen Offiziere vorfuhren. Nun sollten sie Anweisungen und Verlautbarungen durchgeben. Die deutsche Zivilbevölkerung sollte unterrichtet werden über das, was ihr bevorstand. Es galt, die durcheinanderlaufenden Flüchtlingsströme zu ordnen und die zum Stillstand gekommene Wirtschaft in Gang zu setzen. Das alles erforderte eine verläßliche Informationsquelle. Es wurden zunächst Sendungen eingespeist, die aus Luxemburg kamen. In Luxemburg saß eine amerikanisch-englisch-französische Militärrundfunk-Organisation, die den intakten Sender 1944 vorgefunden hatte. Dort wurde an Nachrichten, Kommentaren, Features und Musik produziert, was in Hamburg ausgestrahlt werden konnte. Außerdem wurde der deutsche Dienst der BBC übernommen." So Peter von Zahn, der zu den deutschen Mitarbeitern der .ersten Stunde' gehörte. Er hatte aus seiner eingekesselten Heeresgruppe in Kurland in die britischbesetzte Zone fliehen können. Als Dolmetscher einer Gefangenendivision in Schleswig-Holstein machte er den Engländern den Vorschlag, per Rundfunk aus dem Lager zu berichten. „Es gab keine Zeitungen, kein Telefon, keine Post. Die Angehörigen wußten nicht, wo Väter, Brüder, Söhne waren. Die Söhne, Brüder, Väter wußten nicht, wo sich Mütter, Schwestern, Frauen und Töchter befanden. Wir wollten Verbindungen schlagen und hofften, daß ein paar Namen genannt würden oder jemand in einer Reportage hätte sagen können: Wir sind hier 150.000 gefangene Soldaten. Es geht uns gut oder weniger gut. Wir haben überlebt." Das wurde zwar von den Engländern nicht erlaubt, doch wurde Peter von Zahn aufgefordert, einen Kommentar zum Kriegsgefangenenleben zu sprechen. Daraufhin bot man ihm einen Job an: „Möchten Sie lieber den Landfunk machen oder lieber die Wortprogramme leiten?" Er entschied sich fur den Landfunk, doch wurde ihm dann die Abteilung Wort zugewiesen. „Da saß ich nun als einer der ersten deutschen Angestellten dieses Senders und versuchte, in einem zerstörten und verstörten Land ein deutsches Programm aufzubauen. Warum war das einfach? Warum war das schwierig? Einfach war es, weil der Nationalsozialismus und die Niederlage in der Publizistik ein tabula rasa geschaffen hatten. Man konnte von vorn anfangen, ohne Rücksicht auf geheiligte Traditionen oder ihre Pervertierung. Man konnte sich, wie sich herausstellte, die besten journalistischen Traditionen der Briten und Amerikaner zu eigen machen und vier Jahre lang in Zeitung und Rundfunk neue Formen der Informationsvermittlung aufbauen, ohne laute Zwischenrufe deutscher Autoritäten. Die gab es ja nicht; sie bildeten sich nur allmählich."24 Zur Hamburger Rundfunkmannschaft stieß bald Axel Eggebrecht, der von den Nazis 1933 verhaftet worden, dann wieder frei gekommen war 161
Besatzungszeit · 1945-1949
und als Drehbuchautor für unpolitische Filme einen Unterschlupf finden konnte. Von einem holsteinischen Ort, wo er im Haus seiner Tante das bevorstehende Ende des Dritten Reiches erwartet hatte, holte ihn ein Jeep ab und brachte ihn in die nächste britische Kommandantur. „Uber Leute meiner Art hatten emigrierte deutsche Schriftsteller Beurteilungen geliefert; mit einigen von ihnen wechselte ich Briefe bis in den Krieg hinein."25 Eggebrecht sollte die Herausgabe einer kleinen Zeitung vorbereiten; dafür fühlte er sich nicht geeignet; doch konnte er Kontakt mit dem Hamburger Sender aufnehmen, der ihn dann einstellte. Das Hamburger Funkhaus war überhaupt für Männer von Talent sehr attraktiv; aus allen Teilen Deutschlands habe es solche nach Hamburg gezogen, „weil sie wussten, dass sie dort sagen konnten, was sie dachten, auch wenn das, was sie zu sagen hatten, Kritik an der Militärregierung bedeutete", meinte der als Kontrolloffizier wirkende Hugh Carleton Greene; (ein Bruder des englischen Schriftstellers Graham Greene). Zu diesen Rundfunkpionieren gehörte auch Ernst Schnabel. Der 1913 geborene Schriftsteller war von 1931 an Seemann, zwischendurch Dramaturg, im Zweiten Weltkrieg Marineoffizier gewesen; er wurde schließlich, 1951^1955, Intendant des ,Nordwestdeutschen Rundfunks'; literarisch trat er vor allem als Autor von Kurzgeschichten und Hörspielen hervor. Wie die Engländer in Hamburg machten auch die Sowjets bereits am 4. Mai 1945 in Berlin die ersten Rundfunk-Durchsagen - aus einem Übertragungswagen; die Stadt war seit dem 2. Mai vollständig in russischer Hand. Am 18. Mai wurde dann schon das erste öffentliche SymphonieKonzert aus dem Funkhaus an der Masurenallee übertragen, gespielt vom Orchester der Städtischen Oper Berlin. Das Gebäude hatte den Krieg völlig unversehrt überstanden. Da das technische und ein größerer Teil des Sprecher-Personals im Bunker des Hauses geblieben war - es galt als besonders sicher (zudem hatte die Belegschaft den Befehl zur Selbstzerstörung sabotiert) -, konnte der Sendebetrieb aus dem Funkhaus über den ,Sender Tegel' rasch aufgenommen werden. Von hier aus wurde unter sowjetischer Kontrolle von deutschen Mitarbeitern, die meistens zu der aus Moskau eingeflogenen .Gruppe Ulbricht' gehörten, das Programm des .Berliner Rundfunks' für die sowjetisch besetzte Zone gesendet. Die Umstellung des Münchner Senders erfolgte nach dem von Erich Kästner beobachteten Jazz-Interregnum am 30. April 1945, da die amerikanischen Truppen die Anlagen in Ismaning und die Funkhausruine in München besetzten. Zunächst hatte am 28. April die Widerstandsgruppe .Freiheitsaktion Bayern' eine Proklamation an das bayerische Volk über Ismaning verbreitet; dann war die Sendeanlage von der SS nochmals 162
Der Rundfunk als Helfer und Erzieher
zurückerobert worden, was die Möglichkeit bot, eine Rede des Münchner Gauleiters und Reichsverteidigungskommissars Wiesler zu übertragen; es war die letzte nationalsozialistische Funkbotschaft fur Bayern. Mit amerikanischer Organisationshilfe wurden die gravierendsten technischen Hindernisse für einen geregelten Sendebetrieb beseitigt; am 21. Mai konnte bereits ein provisorisch installiertes kleines Studio im Keller des Münchner Funkhauses in Betrieb genommen werden. Am 8. Juli erfolgte eine Übertragung aus dem Prinzregententheater, wo die Münchner Philharmoniker unter dem Dirigenten Eugen Jochum das Konzertleben nach Kriegsende eröffneten. „Nach und nach wurden die Sendezeiten immer länger und die Programme vielseitiger, denn Hand in Hand mit dem technischen Wiederaufbau ging der Aufbau der Programmabteilungen vor sich. Vor allem die Bildung einer Hörspielgruppe und eines Orchesters trug wesentlich zur Bereicherung der Sendefolgen bei. Man baute zwei Übertragungswagen mit .Magnetophon'-Aufnahmegeräten, um größere Reportagen zu ermöglichen, und richtete in der Aula der Universität eine feste Übertragungsstelle ein. Im Funkhaus selbst waren nach einem Jahr der technischen Reparaturen und Neuinstallierungen vier Studios wieder in Betrieb. Als Radio München am 6. Juli 1946 Richtfest feiern konnte, war das Programm bereits auf werktags elfeinhalb, sonntags funfzehneinhalb Stunden angewachsen." 26 Etwa 35 Amerikaner hatten im Mai das Münchner Funkhaus übernommen; sie waren häufig nicht ,vom Fach', agierten aber mit großem Geschick. Sie stützten sich bald auf deutsche Mitarbeiter, da sie die Verhältnisse im NSDeutschland nur aus zweiter oder dritter Hand kannten, und weil sie mit dem politischen Vorsatz angetreten waren, möglichst bald die Sendeanstalt in deutsche Selbstverantwortung zu übergeben. Dazu mussten sie so schnell wie möglich eine genügende Zahl von geeigneten deutschen Mitarbeitern finden und ihnen die Arbeit in einem demokratisch verfassten Rundfunk überzeugend nahe bringen. So waren ein Jahr nach der Besetzung im Münchner Funkhaus nur noch sieben Amerikaner, aber 370 Deutsche, ab Januar 1949 vier Amerikaner und 700 Deutsche tätig.
Der Rundfunk als Helfer und Erzieher Unmittelbar nach Kriegsende, inmitten der Trümmerwelt, hatte der Hörfunk die vorrangige Aufgabe, die Gestaltung des Alltagslebens zu unterstützen und Orientierungshilfe zu leisten. Bald jedoch knüpfte er wieder an die Rolle an, die er in der Weimarer Republik in den Berei163
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chen von Bildung, Erbauung und Unterhaltung gespielt hatte. Dazu kam nun als besonderer Schwerpunkt die Aufklärungsarbeit über den Nationalsozialismus, wie sie ausdrücklich von den Alliierten gefordert wurde. Die Versorgung mit Rundfunkgeräten war in den westlichen Zonen wie in der sowjetisch besetzten Zone zunächst schlecht, nicht zuletzt wegen Beschlagnahmungen, Diebstählen und Plünderungen. Zwar gab die britische Militärregierung Firmen wie Blaupunkt und Siemens den Auftrag, ein einfaches, billiges Produkt zu entwickeln - doch verhinderten vorerst Engpässe bei den Zulieferern und der extrem kalte Winter von 1946/47 die Herstellung. TELEFUNKEN begann 1945 wieder ,νοη ganz unten' und entwickelte einen Detektorapparat mit Kopfhörern in einem Bakelitgehäuse - ohne Firmenbezeichnung. Auch der .Deutsche Kleinempfanger' (DKE) aus der NS-Zeit, die .Goebbelsschnauze', wurde als einfacher Geradeaus-Empfanger von TELEFUNKEN, AEG und anderen Firmen unter Verwendung der alten Gehäuse weiter gebaut; statt des Reichsadlers mit Hakenkreuz waren die Firmenembleme unter dem Lautsprecher angebracht. Die Produktionszahlen blieben jedoch gering. So gehörten Radios auf dem Schwarzmarkt zu den begehrtesten Artikeln. Es schien, als ob Industrie und Hörerschaft noch einmal die rundfunktechnische Entwicklung aus den Anfangsjahren des Rundfunks durchlaufen müssten. Angesichts der herrschenden Materialknappheit war die Eigeninitiative und das Können von Radiobastlern gefordert; zudem setzten die Verordnungen der alliierten Militärregierungen der Herstellung und dem Betrieb leistungsfähiger Geräte enge Grenzen. (Erst im Frühjahr 1947 kamen die ersten ,Standard-Supers' auf den Markt; und es gab sie sogar ohne Bezugscheine.) Die geniale Idee des Fürther Kaufmanns und Radiohändlers Max Grundig bestand nun darin, ein betriebtüchtiges Radio als Baukastensatz zum Selberbauen zu produzieren. Da Grundig bald über die Grenzen der amerikanischen Zone hinaus seinen als .Spielzeug' deklarierten Radioempfanger, der das Markenzeichen ,Heinzelmann' trug, verkaufen konnte, stellte sich ein großer Erfolg ein. Der Erlös aus dem hohen Absatz des Einkreiser-Geradeaus-Empfangers schuf die finanzielle Grundlage fur ein Unternehmen, das bald Radios (dann auch Fernseher) mit modernster Technik preiswert anbot und sich so zum großen Kommunikationskonzern (größten Radiohersteller Europas) entwickelte. Doch schon vor dem Tod Grundigs (1989) geriet das Unternehmen auf die abschüssige Bahn, die zu dessen Auflösung führte. 164
Der Rundfunk als Helfer und Erzieher
Effective Jane 17 tOj i t f
- Kaslkprogram 0630 - Baohriehten lu deut«oher Sprach· 06+5 - Amtliche Bekanntmachungen « e r HilitBrregierung u. Kaaik 0700 - Buasiach 0715 - Polnisch 0730 - Muaikprogramo 0750 - Buaikprograme über Badio Frankfurt 0800 - Haohrichten "Die Stimme Amerikas". 0815 - Xaallcprograse 0830 - Te ohe ehi eoli 0845 - Italienisch 0600
1200 - Nachrichten in deutscher Sprach«
1215 1230 1245 1300 1515 1330 1345
+
+
-
Amtliche Bekanntmachungen der Militärregierung u, Muaik, Bachrichten in englischer Sprache Buaaiaeh Mualkprogrami «her Badlo Frankfurt Kachrichten in deutscher Sprache, Presses timber, ana Eewyork Polnisch Franiösiahe
1800- Baohriehten in deutscher Sprache / 1815 - Tsoheohisch 1830 - Polnische 18*5 - Bueeiach 1900 • Kaahriohten in engliecher Sprache 1915 - Italienisch« 1930 - Kachrichten in deutscher Spraohe 1945 • Baohriohtenprogrsmm ans Frankfurt und Umgebung Uber Bad. 7/r*t ,-tart, 2000 - Kursberichte in deutacher Spraohe y• 2ol5 - Muaikprograma y· * ' 2030 - Nachrichten in deutacher Sprache u. Kommentare, 2100 - Hnaikprogramm über Badio Frankfurt 2115 - Fremdarbeiter Programm 2200 - Symphonie Konzert. * Programme aber Radio Frankfurt. A l l e Sua Ikprograame werden in deuteeher Spreche
24 Das Programm von .Radio Frankfurt' am 17. Juni 1945
Die Sendungen des Nachkriegs-Hörfunks bestanden unmittelbar nach Kriegsende meist nur aus Verlautbarungen der Militärregierung oder Anordnungen und Aufrufe der Behörden; etwa sich freiwillig zur Trümmerbeseitigung zu melden oder die Kinder zum Schulunterricht anzumel165
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den. Es erfolgten Mitteilungen zur Versorgungslage (noch gab es Lebensmittel nur rationiert auf Karten), über öffentliche Verkehrsmittel, die nicht mehr oder wieder in Betrieb waren; dazwischen gab es Nachrichten (auf Russisch, Polnisch, Italienisch, Englisch), im Besonderen fur .Fremdarbeiter', die von den Nationalsozialisten aus allen Ländern Europas nach Deutschland verschleppt worden waren; ,Radio Frankfurt' sendete zum Beispiel im Juni 1945 dreizehn Mal täglich Programme in sechs verschiedenen Sprachen. Suchmeldungen des Deutschen Roten Kreuzes nach vermissten oder in Gefangenschaft geratenen Angehörigen der Wehrmacht, nach vermissten Familienangehörigen, nach Kindern und Eltern, die auf der Flucht oder in den Bombenangriffen verschollen waren, wurden durchgegeben; Deutschlands Lage und die Lebensumstände der Bevölkerung wurden so auf grauenvolle Weise enthüllt. Während die westlichen Alliierten bis 1947 fast alle ihre deutschen Kriegsgefangenen entlassen hatten, verblieben Millionen deutscher Soldaten bis Mitte der fünfziger Jahre in den sibirischen Lagern der Sowjetunion. Das brachte besonders den .Berliner Rundfunk' in der Sowjetzone in Schwierigkeiten, nämlich dann, wenn die Hörer fragten, warum man dort keine Kontakt- und Suchmeldungen sowie keine Nachrichten über die Situation der von der .brüderlichen Sowjetunion' weiterhin festgehaltenen deutschen Kriegsgefangenen sende. Direkte oder indirekte Kritik an der Besatzungsmacht, auch schon die Erörterung des Problems waren tabu. Zum Abventilieren des Unmuts bei den Betroffenen entwickelte man eigene Sendungen mit tröstlichen Titeln wie „Gruß aus der Gefangenschaft", „Kriegsgefangenen-Sonderdienst", „Grußübermittlung deutscher Kriegsgefangener aus der UdSSR"; in diesen wurden Meldungen verlesen, dass es den Gefangenen gut gehe und es ihnen an nichts fehle. Da solche Meldungen sich bis zur Unglaubwürdigkeit wiederholten, kam man auf den Gedanken, die Richtung umzukehren; nun hieß die Sendung „Die Heimat ruft" und schickte Grüße aus der Sowjetzone nach Sibirien. (Goebbels stand da mit dem so überaus beliebten sonntäglichen „Wunschkonzert der Wehrmacht" indirekt Pate.) Die Musik in den Programmen der alliierten Militärsender wurde anfangs zumeist von Schallplatten oder Tonbändern eingespielt, sofern sie nicht von .Radio Luxemburg', der „Stimme Amerikas", der BBC oder .Radio Paris' direkt übernommen wurde. Relativ bald kam es wieder zu Kultursendungen (etwa Hörspielen und Literaturbetrachtungen), zu Kinder- und Frauenfunk, Sportreportagen und Meinungskommentaren, welche die Aktualitäten des Tages wie die allgemeine Zeitlage behandelten. Es fehlten auch nicht die Parteipolitiker, Verbandsvertreter und Oberbürgermeister mit Ansprachen und in Interviews bzw. Diskussionsrunden; 166
Der Rundfunk als Helfer und Erzieher
kritische Stellungnahmen zur Politik der Besatzungsmächte wurden (vorsichtig) artikuliert. Die in der NS-Zeit verbotene Literatur und die in Deutschland bis dahin kaum bekannte Musik der Gegenwart fand besonderes Augenmerk. Umfangreiche Schulfunkangebote waren in einer Zeit, in der es kaum geeignete Lehrbücher gab, besonders wichtig und wurden von den Lehrern, wenn nicht direkt im Unterricht, so doch zu seiner Vorbereitung intensiv genutzt; das erbrachte dem Schulfunk, meist mit je einer Stundensendung am Vormittag und Wiederholung nachmittags, eine hohe Akzeptanz; davon zehrte er bis weit in die achtziger Jahre hinein; manche Redakteure der Sender schwärmen bis heute noch von den damaligen bildungswilligen Zeiten. Unter der Prämisse der .Reeducation' erwiesen sich die Sendungen als ausgesprochen .wortlas25 Auch das gab es wieder: .Einladung beim tig'. Bei einem Sendeumfang von Märchenonkel': Die Märchenstunde des SWF durchschnittlich zwanzig Stunden Baden-Baden pro Tag bestanden zum Beispiel beim NWDR 54 bis 58 Prozent der Sendezeit aus Wortsendungen aller Art und nur 42 bis 46 Prozent aus Musik. So erfreuten sich - angesichts des aus dem Dritten Reich in der Trümmer-Tristesse weiterwirkenden, nun in Hoffnung auf schönere Zeiten noch verstärkten Unterhaltungsbedürfnisses - die neuen .Militärsender' keineswegs besonderer Beliebtheit bei der Bevölkerung. Dabei gaben sie sich durchaus Mühe, mit amerikanischer und britischer Unterhaltungsmusik, etwa mit Glenn Miller, Duke Ellington, Bing Crosby, Andrew Sisters, vor allem mit Jazz Neues zu bieten. Allerdings wollten große Teile des Publikums abends anstelle .schräger Rhythmen' erhebende Sinfonik hören; und die Abneigung gegenüber dem Jazz als .Niggermusik' saß tief und fest - in West wie Ost.
in
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Im März 1946 führten Mitarbeiter der amerikanischen Militärregierung zum ersten Mal eine Umfrage zu Radioausstattung und -nutzung durch. Von den 964 in der amerikanischen Zone herangezogenen Haushalten verfugten 42 Prozent über ein funktionierendes Gerät und nutzten es vorwiegend abends zwischen 18 und 22 Uhr, vor allem Männer zwischen 18 und 29 Jahren mit höherer Bildung - und frühere NSDAP-Mitglieder.27 Als gleichfalls im Jahre 1946 die Zeitschrift .Radiowelt' ihre Leser nach gerne gehörten Sendungen befragte, stand der Wetterbericht an der Spitze der Nennungen, zusammen mit Nachrichten, Kabarettsendungen und Tanzmusik. Den Wetterbericht hatte man vorher so nicht gekannt; den Nachrichten wurden inzwischen mehr Glaubwürdigkeit als in der NS-Zeit zugebilligt. Aber dass die Bemühungen um ,Re-education' populär gewesen wären, kann man weder diesen frühen Befragungen noch den Hörerzuschriften entnehmen; die letzteren zeigten viel Negativität. Es war durchaus symptomatisch fur diese Zeit, wenn ein Hörer ironisch an ,Radio Stuttgart' schrieb: „Das Programm von Radio Stuttgart ist so trocken. Der Hörer muß erzogen werden. Wir sollen erzogen werden zu neuer Musik, zu politischem Denken, zu Kenntnissen über Amerika, zu einer festen Meinung über den Expressionismus in der Malerei, zu demokratischen Anschauungen , zu einer Stellungnahme zum Nürnberger Prozeß und noch zu viel mehr. Dies alles am zweckmäßigsten abends zwischen 8 und 10 Uhr, wenn wir müde zuhause am Lautsprecher sitzen und uns ein bißchen gehenlassen wollen."28 Die Ausrichtung der Programme insgesamt überwachten die alliierten Kontrolloffiziere nach Maßgabe der von den Militärregierungen ausgegebenen Leitlinien, hießen diese nun im Westen .democratization',,re-education' oder .réorientation'. Dabei richteten sie ihr Augenmerk auf bestimmte Sendungen und Sendeinhalte, die ihnen wichtig erschienen. Dazu gehörten vornehmlich Kommentare, Diskussionsrunden und aktuelle Magazine. Doch ging der Einfluss der Kontrolloffiziere auf die Programme etwa ab Ende 1947 bis zur Ubergabe der Sender in deutsche Verantwortung 1949/50 deutlich zurück. Die von den Alliierten besonders bevorzugten Sendungen wurden nun weniger ,wortlastig'; der Anteil der Musik stieg deutlich an. Der skizzierten Entwicklungslinie folgten nach der deutschen Kapitulation nahezu alle unter alliierter Verantwortung arbeitenden Sender in den Westzonen. Zur detaillierteren Illustration kann man die Programmgestaltung von ,Radio München', des späteren .Bayerischen Rundfunks', heranziehen.29 Mit politischen Wortsendungen versuchte man, die deutschen Informationsgrenzen nach elfjähriger NS-Propaganda zu öffnen; 168
Der Rundfunk als Helfer und Erzieher
dazu gehörte bei den deutschen Beiträgen die „Weltpolitische Umschau" und bei den amerikanischen die viermal täglich ausgestrahlte „Stimme Amerikas", ab 1947 „Stimme der Vereinigten Staaten"; sie behielt bis Anfang der fünfziger Jahre bei allen Sendern der US-Zone ihren festen Programmplatz; (ein sowjetisches Gegenstück gab es beim .Berliner Rundfunk'). Was die Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Vergangenheit betraf (in klarer Frontstellung gegen Nationalsozialismus und Militarismus), so nahmen am Anfang die Berichte und Kommentare von den Verhandlungen der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse einen großen Raum ein; dazu kamen Reportagen unter dem Titel „Die Spruchkammer tagt", später „Prozesse der Zeit". Es entstanden Sendereihen wie „Unter dem Stiefel der Gestapo", „Widerstand, Opfer, Ansporn", „Nie wieder Krieg". Eine Jugendsendereihe wurde in jeder Folge mit der Frage „Wisst ihr das eigentlich?" eingeleitet. Um die Möglichkeiten neuer Meinungsfreiheit zu demonstrieren und den Begriff Demokratie mit Inhalten zu füllen, auch um den Prozess der Demokratisierung kritisch zu begleiten, gab es innen- wie außenpolitische Kommentarreihen, etwa Herbert A. Gessners „Kommentar zur Zeit" und „Worüber man spricht" von Alfred Klotz; ferner Sendereihen wie „Die Gewerkschaft ruft. Eine Hörfolge für die Werktätigen", von den Gewerkschaften selbstständig gestaltet, und „Die Tribüne der Parteien". Einen besonderen Erfolg hatte die Sendereihe „Die Situation", unter redaktioneller Federführung und maßgeblicher persönlicher Beteiligung des im Juni 1946 ernannten Chefredakteurs Felix Buttersack. Es war ein Diskussionsforum bekannter internationaler und deutscher Wissenschaftler, Erzieher, Politiker und Publizisten. Schließlich enthielt das Programm Beiträge zu Tagesfragen, so die Folgen „Der Bürgermeister spricht", ursprünglich auf München beschränkt, dann ganz Bayern erfassend; „Bayern baut auf"; „Radio München besucht...". Zu dem im engeren Sinne kulturellen Bereich gehörten literarische Hörfolgen („Aus Büchern vom Reisen", „Aus Dichtungen der Welt"), zum guten Teil orientiert an diversen Jubiläen oder etwa an der Ahnenreihe der Nobelpreisträger. In „Das Wort der Verfolgten" wurden Dichter wie Heinrich Mann, Max Herrmann-Neiße, Stefan Zweig, Hermann Hesse, Herbert Eulenburg, Franz Werfel mit Leseproben und Essays gewürdigt; auch die ältere deutschsprachige literarische Tradition fand Beachtung (Goethe, Heine, Hofmannsthal, Rilke, C.F. Meyer). Im Juli 1947 wurde mit Rudolf Alexander Schröder erstmals ein Autor vorgestellt, der während der Diktatur in Deutschland geblieben war. Ebenfalls 169
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bis zu diesem Zeitpunkt dauerte es, bis Essays zur deutschen Lyrik der Gegenwart und zur jungen deutschen Lyrik gesendet wurden. Hörspiele brachte man am Sonntagabend - begonnen am 17. November 1945 mit „Das Märchen" von Curt Goetz; es folgten weitere Komödien (von Goetz, Georg Kaiser, Johann Nepomuk Nestroy, Ludwig Thoma). Die Funkinszenierungen von Dramen lehnten sich, wie schon in den Anfangsjahren des Rundfunks 1923/24, zumeist an Theater-Auffiihrungen an. Neben Klassiker-Sendungen bezog man sich vorwiegend auf das literarische Leben der zwanziger und dreißiger Jahre, die Emigration und die Nachkriegszeit (mit den ersten aktuellen Dramen). Hier fanden, was die deutschen Autoren betraf, wie beim Hörspiel zunächst nur solche Zeitgenossen Berücksichtigung, deren antifaschistische Haltung durch Emigration oder aktiven Widerstand ausgewiesen war. Im August 1946 kam mit der Bearbeitung von Werner Bergengruens Novelle „Die Feuerprobe" einer der Repräsentanten der inneren Emigration zu Wort; es folgten eine frühe dramatische Ballade von Manfred Hausmann und später Ernst Wiecherts „Totenmesse". Man war in München durchaus experimentierfreudig, was dazu führte, dass zum Beispiel der Hamburger Chefdramaturg Ernst Schnabel Radioinszenierungen wie Thornton Wilders „Die Brücke von San Luis Rey" oder Theodor Pliviers „Stalingrad" fiir den NWDR übernahm. Der Hörspiel-Krimi unter dem Motto „Licht aus, Vorhang auf!" erfreute sich besonderer Beliebtheit; als Autor, Bearbeiter und Regisseur zeichnete in erster Linie der überaus rührige und vielseitige Helmut M. Backhaus, der zudem als Texter, Conférencier und zeitweiliger Leiter der Kabarett-Abteilung mit Produktionen und Sendereihen wie „Das Zehnerkabarett", „Menschliches - Allzumenschliches", „Kleines Gedeck" hervortrat. Was das Bayerisch-Volkstümliche und spezifisch Münchnerische betraf, so wurde dieser Programmteil durch Alois Johannes Lippl betreut („Münchner Profile", „Das geistige München"); auch Karl Valentin war wieder zu hören, doch klappte die Zusammenarbeit nicht so recht. „Die Leitung des .Radio München' meinte es mir gut und engagierte mich als ständigen Mitarbeiter fur humoristische Sendungen. Nun machte sie einen Fehler. Ich wurde gezwungen, meinen angeborenen Münchner Volkshumor abzulegen und neue zeitgemäße Vorträge zu bringen. Ich ging schon an diese Aufgabe heran, aber diese Aufgabe - aktuell zu wirken - konnte ich nicht lösen, daher löste ich meine Mitarbeit."30 Am populärsten war die bajuwarisch eingefarbte Unterhaltungsserie „Brummel-G'schichten" von Kurt Wilhelm. Das Konzept, sehr zeitgemäß, 170
Der Rundfunk als Helfer und Erzieher
mischte „ein Stückchen Menschlichkeit, ein Stückchen Alltag, eine Charakterkomödie". Schließlich gab es Sprachkurse nur für deutsche Hörer („Englisch macht Spaß", später „Jeder lernt Englisch"). Neben Zielgruppensendungen wie dem Kinder- und Jugendfunk wurde ein engagierter Frauenfunk geschaffen. Ihm kam - wie beim .Bayerischen Rundfunk' auch bei den anderen westlichen und östlichen ,Besatzungssendern' - eine besonders wichtige Funktion zu: In einer Zeit, da viele Männer gefallen, vermisst oder in Gefangenschaft, weite Teile des Landes verwüstet und die Ausprägungen sozialer Infrastruktur zerstört waren, bildeten die Frauen das Fundament und die Stützen des gesellschaftlichen Wiederaufbaus. Zunächst standen allerdings die Sorgen um die Bewältigung des alltäglichen Lebens und akute Existenzprobleme im Mittelpunkt der Frauenfiinksendungen. Vor allem der sozialistische Frauenfunk der S B Z wollte dagegen von Anfang an die Notwendigkeit des Uberbau-Denkens herausstellen. Die erste Leiterin des Frauen-Redaktion im Ost-Berliner Rundfunk meinte 1945/46: „Das war unser Hauptproblem, auch den schon sehr belasteten Frauen klar zu machen: Es gibt keinen anderen Weg - erst besser arbeiten, dann besser leben! Wir halfen mit unseren Sendungen die Aktivistenbewegung vorzubereiten, die diesen Weg dann mit heroischem Elan praktisch beschritt."31 Auch in den Programmen der westlichen,Militärsender' war man sich der Verpflichtung bewusst, die man grundsätzlich gegenüber Frauen hatte. In einer Studie für die Militärregierung in der US-Zone (1948) wurde deren Situation geradezu als Bedrohung der Demokratie angesehen. In ihrer zeitbedingten Uberforderung und Unzufriedenheit, in ihrer gesellschaftlichen Isolation, materiellen Notlage und bei fehlender Anerkennung benötigten sie besondere Aufmerksamkeit und Zuwendung, damit sie nicht einer der vielen gefahrlichen Ideologien verfielen, die ihnen Gleichheit, Übermenschentum, Unterordnung, bequemes Leben usw. versprechen würden. In Anbetracht ihres häufig sehr geringen Verständnisses und Interesses für politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Angelegenheiten „stellen die Frauen eine der größten Gefahren fur Deutschland dar, eine Gruppe, die für Propaganda und Unbeständigkeit am anfalligsten ist." Also, folgerte der Autor der Studie, müsse der Frauenfunk sich um diese Zielgruppe stärker bemühen - mit den besten Sendungen, Themenangeboten und Mitarbeitern; daran aber scheine es zu fehlen, aber auch an der Einsicht, dass „das Bestehen einer unaufgeklärten und desinteressierten weiblichen Bevölkerung ein schwerer Vorwurf gegen die Leistungen zu sein (scheine), die die für den Rundfunk Verantwortlichen mit den ihnen verfugbaren Mitteln vollbracht haben".32 171
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Hauptsache demokratisch: Das neue Personal Angesichts der Wichtigkeit des Rundfunks fiir ihre Besatzungspolitik nahmen die alliierten Militärbehörden eine genaue politische Überprüfung der einzustellenden Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen vor. Berufliche Qualifikationen waren weniger wichtig als eine politisch ,weiße Weste'; weder Mitglieder noch Sympathisanten der NSDAP wurden von den Amerikanern akzeptiert; sie folgten, darin konsequenter als die Briten und Franzosen, ihrer „White, Grey and Black List for Information Control Purposes" und selbst,Graue' hatten bei ihnen vorerst keine journalistische Chance. Das führte dazu, dass talentierte Seiteneinsteiger, vor allem wenn sie jung waren, eine Chance bekamen und rasch Karriere machten. 33 Einige der Eingestellten hatten zwar eine gewisse Funkerfahrung, so in München der Sportfunk-Moderator Josef Kirmaier und Felix Buttersack, bald schon Chefredakteur; entscheidend waren jedoch die Bereitschaft und Fähigkeit, sich wirkungsvoll für die Erziehung der Deutschen zur Demokratie und fur die Abschaffung militaristischer wie nationalsozialistischer Relikte einzusetzen. Fritz Benscher, ein junger Schauspieler aus Hamburg, war im Mai 1945 in KZ-Sträflingskleidung zum Funk gekommen, um eine Suchanzeige nach seiner Familie aufzugeben; er wurde sofort als .Oberspielleiter' engagiert und war bald unter den Sprechern und Redakteuren eine zentrale Figur. Der innenpolitische Hauptkommentator des Senders, Herbert A. Gessner, war bei seiner Einstellung im August 1945 25 Jahre alt - ein politisch leidenschaftlich agierender Mann, der im Dritten Reich nach kurzer HJ-Zeit sich einem katholisch geprägten Antifaschistenkreis zugewandt, dann Studienverbot erhalten und nach seiner Einberufung 1944 Fahnenflucht begangen hatte; zudem war er am Aufstand der ,Freiheitsaktion Bayern' beteiligt gewesen. In einem Schreiben an die B B C hatte er die Kommentare zur Weltlage von Lindley Fraser kritisiert; der Brief fiel in die Hände von Field Horines, dem Leiter des Münchner Senders, der ihn daraufhin sofort als zweiten deutschen Redakteur engagierte. Jimmy Jungermann wiederum hatte im Mai 1945 der Sendeleitung von ,Radio München' einen recht deutlichen kritischen Brief geschrieben und Vorschläge unterbreitet, wie man es besser machen könne. „Daraufhin", so berichtete die Zeitschrift .Radiowelt' im April 1946, „hupte ein Jeep vor seiner Tür und holte ihn ab, nicht ins Sammellager, sondern direkt an einen Schreibtisch von Radio München. Man dekorierte Papier und Stenotypistin um ihn herum und überließ ihn sich selbst. So entstanden die Sendereihen ,Dies ist Jazz', ,Gute alte Bekannte', .Filmmusik' und, zusammen mit Dirk Kep172
Das neue Personal
1er, ,Die Zehn der Woche', eine Sendung, die ein durchschlagender Erfolg geworden ist. Neuerdings betreut Jimmy auch die,Musik zum Wachwerden' ..." Natürlich gab es bei dieser wagemutigen Personalpolitik auch Fehlgriffe; manche der Eingestellten wurden später aus dem Funkhaus als Verhaftete abgeführt, andere verschwanden rasch wieder stillschweigend, weil sie politisch belastet waren oder den Anforderungen nicht entsprachen. Ein Fall erregte besonderes Aufsehen: nämlich der des Gaston Oulmàn.34 Es handelte sich um einen in Wien geborenen Walter Uhlmann, der angab, als Theaterdirektor in Berlin, Verleger in Paris, Berichterstatter im Spanischen Bürgerkrieg gewirkt zu haben. Er war im Dritten Reich wegen Betrugs zu fiinfjahren Haft verurteilt worden; von US-Soldaten wurde er als .politisch verfolgter Journalist' aus dem Lager Moosburg .befreit'. Als Gaston Oulmàn machte er sich nun zum Chef eines Pressebüros, in selbst entworfener Khaki-Uniform mit Baskenmütze; fünf Sprachen soll er fließend beherrscht haben. Der hoch intelligente Hochstapler wurde im Nachkriegs-München zu einer Schlüsselfigur, versiert im Schwarzhandel en gros und beim Ausräumen von leer stehenden Wohnungen ehemaliger NS-Größen. Mit amerikanischen und einheimischen Persönlichkeiten feierte er große Feste. Die US-Behörden machten ihn zum Leiter des bei den Nürnberger Prozessen etablierten Studios, wo er auch als Kommentator wirkte. Seine Berichte, die mit einem ganz charakteristischen französischen Akzent gesprochen wurden, gingen jeden Abend zumindest über alle Sender der amerikanischen Besatzungszone; in ihnen vertrat er deutlich die These von der deutschen Kollektivschuld, was ihn bei den Alliierten besonders überzeugend erscheinen ließ. Er nahm an allen 218 Sitzungstagen des Prozesses vom 20.11.1945 bis 1.10.1946 teil. Kollegen bescheinigten ihm eine scharf antifaschistische, aber absolut sachliche und exzellent formulierte Berichterstattung. Zu dieser Zeit kamen jedoch Zweifel an seiner Rechtschaffenheit auf; die Hinweise auf eine Doppelrolle mehrten sich auch bei den US-Verantwortlichen in München; um einen offenen Skandal zu vermeiden, gaben sie ihm eine .Galgenfrist' bis zum Ende des Nürnberger Prozesses und versuchten anschließend, Beweisgründe gegen ihn zu sammeln. Das gelang offenbar erst im Laufe des Jahres 1947. Oulmàn konnte sich rechtzeitig in die französische Besatzungszone absetzen. In Saarbrücken nahmen ihn die Zuständigen der französischen Militärregierung und der französische Generaldirektor von .Radio Saarbrücken' mit offenen Armen auf. Dort war auf Anordnung von General Pierre Koenig, dem Chef der Militärverwaltung für die französische Zone, am 173
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16. November 1947 die .Saarländische Rundfunkverwaltung' eingerichtet worden. Deren Leitung übernahm der nun mit einem Doktortitel sich schmückende Gaston Oulmàn mit dem Türschild .Directeur politique'. In Saarbrücken betrieb er seinen Schwarzhandel weiter, einschließlich der Vermittlung von Passierscheinen. In der Woche vor Pfingsten 1948 protestierten die saarländischen Studenten in Homburg gegen die mangelnde Besetzung des Lehrkörpers, Ausschluss von deutschen Studenten und Professoren, sowie eine exorbitante Erhöhung der Studiengebühren von 2000 Fr. auf 10.000 Fr. Oulmàn, der wusste, dass Gilbert Grandval, der Militärgouverneur des Saarlandes, die Universität als sein Lieblingskind betrachtete, übernahm einen Reporter-Beitrag über den Streik unzensiert in das Rundfunkprogramm und schon am selben Nachmittag stand die Nachricht auf Seite 1 der Pariser Tageszeitung ,France Soir'. Oulmàns Vorliebe fur Schlagzeilen manifestierte sich auch hier: „Saarstudenten verlangen deutsche Professoren". Die Sûrété schlug zu. Er wurde zunächst im Saarbrücker Rathaus inhaftiert, konnte aber entkommen. Die zwei dabei tätigen Polizisten wurden später gemaßregelt. In Paris hatte Oulmàn offensichtlich gute Beziehungen, bis in die Ministerebene. Dort betrieb er als Exilschriftsteller ein Pressebüro, wobei er sich des UNO Briefkopfes in seiner Korrespondenz bediente. In der Tageszeitung ,Le Monde' erschien im Februar 1949 ein Artikel von ihm über die Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Vertrags von 1939. Einige Monate später soll er gestorben und auf dem Pariser Friedhof Pantin begraben sein. Unabhängig von solchen zeittypischen Einzelfallen kann man aber wohl mit Hans Bausch - Jahrgang 1921, seit 1948 als Journalist tätig, 1958 zum Intendanten des .Süddeutschen Rundfunks' gewählt - insgesamt für diese ersten Jahre der Nachkriegszeit feststellen, dass die deutschen Rundfunkjournalisten dem Radio seine Glaubwürdigkeit wiedergegeben haben, „obwohl er im Bewusstsein der Hörer nur allmählich die Rolle des offiziellen Sprachrohrs verlor, an die sich die Bevölkerung in den Jahren der nationalsozialistischen Diktatur gewöhnt hatte ... Selbst wenn man sich über die Zensur der Kontrolloffiziere dann und wann ärgern mußte, bedeuteten solche Eingriffe nur einen bescheidenen Wermutstropfen im großen Kelch der freien Meinungsäußerung, deren Wert nur empfinden kann, wer zwölfJahre den Mund halten mußte. Es galt, den Wiederaufbau nach den Spielregeln einer freien publizistischen Arbeit kritisch zu verfolgen. Ein ungeheurer internationaler kultureller Nachholbedarf war abzudecken. Die Rundfunkjournalisten der ersten Stunde betätigten sich als Ratgeber in allen Lebenslagen, als Anwälte in Not und Bedrängnis, als Ankläger gegen Mißstände, als Anreger zu kritischem Nachdenken über 174
Remigranten im Rundfunk
die Vergangenheit. In einer Zeit, in der Zeitungen nur einmal oder zweimal wöchentlich erschienen, die zerstörten Konzertsäle und Theater noch nicht wieder aufgebaut waren, begleitete das Radio den Alltag des verunsicherten Bürgers intensiver als in den späteren Jahren des aufblühenden Wohlstands. Nicht nur die Klänge klassischer sinfonischer Kompositionenjüdischer Komponisten, sondern auch jene Musik drang in die Wohnungen, die als ,Nigger-Jazz' im Tausendjährigen Reich aus dem Rundfunk verbannt war. Die Hörer des Jahres 1945 sind froh gewesen, aus dem Radio keine ,Luftwarnmeldung' mehr zu hören und erlebten im .Schlager-Cocktail' inmitten ihrer bescheidenen materiellen Umgebung wieder einen Hauch des internationalen Show-Business. Hörspiele fanden eine wachsende Gemeinde, Kommentare lösten Kontroversen aus, wenn sich die Ideologie der ,re-education' in dieser oder jener Sendung allzu akzentuiert artikulierte. Zeitgenössische Musik erhielt ihr erstes öffentliches Forum; doch konnte es geschehen, daß demokratische Gewerkschaftsfunktionäre als Anwälte der arbeitenden Massen dagegen glaubten protestieren zu müssen."35
Rückkehr in die Fremde. Remigranten im Rundfunk
Neben den alliierten Rundfunkoffizieren und den aus Deutschland stammenden Mitarbeitern bzw. Mitarbeiterinnen gab es eine dritte Gruppe, deren Verdienste bei der Schaffung eines freien Rundfunkwesens einer besonderen Würdigung bedarf. Es handelt sich um Remigranten. Sie hatten die Weimarer Republik erlebt, waren dann von den Nationalsozialisten vertrieben worden und nun, zwischen gestern und morgen stehend, in das Land der Not zurückgekehrt. Sowohl insgesamt wie auf den Rundfunk bezogen, war freilich die Zahl der Rückkehrer relativ gering. Von den geschätzten 2000 aus Deutschland geflohenen Journalisten und Publizisten kehrten bis 1949 etwa 677 in ihre Heimatländer zurück, unter ihnen 474 (= 70 Prozent) nach Deutschland; von diesen waren zwischen 60 und 70 als Journalisten im engeren Bereich des Rundfunks tätig.36 Der quantitative Aspekt war jedoch weniger entscheidend als die Uberzeugungskraft, mit der die Remigranten die Weichen fur eine demokratische Entwicklung stellten und somit zumeist zum Vorbild für diejenigen wurden, die auf einen radikalen Wechsel und Wandel hofften. Manche Rückkehrer kamen in der Uniform oder im Auftrag der Sieger, wie etwa Alfred Döblin, Norbert Gruenfeld, Stephan Hermlin, Golo Mann, Hans Mayer, Anna Seghers, Heinrich Strobel, Carl Zuckmayer. Einige 175
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von ihnen waren an der Gestaltung des Rundfunks beteiligt: Gruenfeld fungierte als Kontrolloffizier und technischer Betriebsleiter in München; Golo Mann arbeitete als stellvertretender Leiter der deutschsprachigen Abteilung der .American Broadcasting Station in Europe', danach bei ,Radio Luxemburg', schließlich bei ,Radio Frankfurt'; dort war Mayer Leiter der Nachrichtenabteilung; Strobel fungierte als Leiter der Abteilung Musik beim .Südwestfunk Baden-Baden*. Die Remigranten verkörperten das .andere Deutschland'; und sie gaben ihre demokratischen Ideen wie ihre Lebenserfahrung zwischen den Kulturen weiter, vermittelten auch die Mentalitäten der Besatzer. Freilich wurden sie eher mit Misstrauen oder gar Ablehnung aufgenommen; sie galten als .Handlanger' der Besatzung und als Agenten der wenig beliebten Umerziehungspolitik. Nicht selten mussten sie sich gegen Kollegen durchsetzen, die dem NS-Regime gedient hatten; für diese waren sie, wie die Widerstandskämpfer, Verräter. Entsprechende Befragungen in allen politischen Lagern ergaben, dass Remigranten, zumal jene, welche die Uniform der Sieger trugen, kein sehr großes Ansehen in der deutschen Bevölkerung genossen. Die Verdächtigungen wurden oft sehr subtil vorgebracht. Da las zum Beispiel der damals wohl nur wenigen bekannte Albert Vigoleis Thelen in der ,Gruppe 47' bei deren Herbsttagung 1953 in Babenhausen aus seinem noch nicht erschienenen Roman „Die Insel des zweiten Gesichts"; er war jüngst aus der Emigration in Portugal nach Amsterdam zurückgekehrt und von holländischen Freunden zur Lesung vorgeschlagen worden. Darnach applaudierten zwar einige anwesende Kollegen, doch fand der Text bei Hans Werner Richter, dem Präzeptor der .Gruppe 47', keine Gnade; seine Kritik soll erbarmungslos gewesen sein: Ohne starke Überarbeitung könne er sicher nicht erscheinen und - so erinnerte sich der verbitterte Thelen später an Richters Schlusspointe - stilistisch sei das doch eher .Emigrantenprosa'.37 Von den remigrierten Journalisten und Publizisten waren etwa 40 Prozent in der amerikanische Besatzungszone tätig - vor allem im Bereich Presse und Rundfunk. Es waren überwiegend ältere Personen, die ihre berufliche Prägung zumeist in der Zeit der Weimarer Republik erfahren und ihr Land als bereits Erwachsene verlassen hatten. Auf diesem Hintergrund arbeiteten sie nun zumeist in der Militärregierung, an den Schnittstellen zwischen ziviler und militärischer Verwaltung, oftmals um den Preis einer gespaltenen Identität. Obwohl sie alle den Auftrag, demokratische Werte zu vermitteln, aktiv erfüllten, misstrauten ihnen am Ende beide Seiten. In den Augen ihrer einstigen Landsleute hatten sie ihre Kultur verraten und sich in das sichere Amerika geflüchtet, um nun ,ameri176
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kanischer als die Amerikaner' in der Uniform der Sieger die .moralische Keule' zu schwingen. Den Amerikanern hingegen schienen sie in ihrer europäisch geprägten Liberalität nicht .amerikanisch genug' zu sein, so dass man sich ihrer Loyalität zu Amerika oft nicht sicher zu sein glaubte. (Als die ,Neue Zeitung' in das Visier amerikanischer antikommunistischer Kritik geriet, wurden ihre deutschstämmigen US-Mitarbeiter besonders intensiv .linker' Bestrebungen verdächtigt und im Zweifelsfall schneller als andere entlassen.) Auf Seiten der Remigranten kam es oftmals zu bitteren Enttäuschungen, nicht selten auch zu erneuter Auswanderung. Grundsätzlich skeptisch bis hin zum Misstrauen war die britische Besatzungsmacht gegenüber jenen Journalisten und Publizisten, die schon in der Zeit von Weimar erfolgreich gewesen waren, selbst wenn sie seither längere Zeit in England gelebt hatten. Im Außenministerium argumentierte man an höchster Stelle, unter Bezug auf das einmütige Urteil führender deutscher Politiker, dass „die Emigranten zu lange fort gewesen und deshalb nicht mit den deutschen Verhältnissen, Bedürfnissen oder Leiden vertraut" seien.38 Hingegen verließ man sich lieber auf die ehemaligen deutschen Kriegsgefangenen, die man während des Krieges in Wilton-Park - einer durch den emigrierten, nun im Dienste der britischen Armee stehenden SPD-Politiker Waldemar von Knoeringen in Gang gesetzten Prisoner-of-War-University - bereits zu Demokraten und Kennern der englischen Kultur herangebildet hatte. Eines der vorrangigen Ziele der britischen Kulturpolitik war es, den Einfluss des Staates auf die Medien auszuschalten; Kultur sei nicht von der Politik, sondern von denen zu verantworten, die sie schaffen würden. Deshalb wollten die Briten eine zwar zentrale, jedoch von staatlicher Aufsieht freie Rundfunkanstalt nach dem Vorbild der Londoner BBC - was am Ende und trotz deutscher Widerstände in wesentlichen Punkten gelang. Die Remigranten sollten sich aktiv einsetzen für die Verbreitung britischer Kultur in Deutschland; denn eine solche Kultur-Offensive war für die Briten in ihrem Verhältnis zu den USA und der Sowjetunion eine Art .Macht-Ersatzpolitik', durch die sie zumindest ihre kulturelle Überlegenheit demonstrieren konnten. Ahnlich wie in der französischen Besatzungszone wurde den Deutschen, insbesondere der jüngeren Generation, durch Theatergastspiele, Filme, Literatur und Musik ein prägendes Bild vom Reichtum der britischen Kultur und des .British way of life' vermittelt. In der französischen Besatzungszone hatte man zumal mit den Landsleuten aus dem grenznahen Elsass und Lothringen, die zum Teil über vorzügliche Kenntnisse von deutscher Politik und Kultur verfugten, mehr qualifiziertes Personal als die Amerikaner und Engländer zur Verfügung. 177
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Auch den Franzosen waren aber die Verhältnisse wie das Personal der Weimarer Zeit in vielerlei Hinsicht suspekt. So war das vorrangige Ziel ihrer Medienpolitik, nicht nur den NS-Ungeist zu eliminieren, sondern alles zu unternehmen, um einen neuen Zentralismus beim Rundfunk in Deutschland zu verhindern. Für die Remigranten aus Frankreich war jedoch die französische Besatzungszone aufgrund ihrer geographischen und kulturellen Gegebenheiten nicht sonderlich attraktiv; nur 7,6 Prozent der in den Medien Arbeitenden kehrten dorthin zurück, davon allein ein Drittel in das unter Sonderstatus gestellte Saargebiet. Die Vermittlung französischer Kultur spielte - wie bei den Briten die englische - eine zentrale Rolle; sie sollte nicht nur ein Mittel der Umerziehung sein, sondern, neben der Sicherheits- und der Außenpolitik, die dritte Säule der französischen Deutschlandpolitik bilden. Auf diese Weise wollte man gleichsam einen Vorposten der als vorbildhaft verstandenen eigenen Kultur etablieren. Hierbei kam dem Saarland unter den Sonderbedingungen seiner Existenz unter französischer Besatzung und wiederum vor allem .Radio Saarbrücken' mit seinem Programm eine zentrale Rolle zu - eine Funktion, die dem Sender bis heute seine Existenz innerhalb der Medienpolitik und der ARD wesentlich mit gesichert hat. Im Personal des Saarbrücker Senders versammelten sich denn auch, wie in Baden-Baden, deutsche Remigranten und naturalisierte Franzosen zusammen mit Besatzungsoffizieren; sie boten dem kleinen Sendegebiet ein Rundfunkprogramm, in dem die Spitzenkräfte der Pariser Kulturszene wie selbstverständlich zu Gast waren. Doch nicht nur bei der Bevölkerung des Saarlandes, sondern in der gesamten französischen Besatzungszone und darüber hinaus fanden diese Bemühungen nicht die erhoffte Begeisterung oder auch nur Anerkennung. „Die meisten Südwestdeutschen nahmen die Besatzungsjahre aus der drückenden Hungerperspektive wahr, Kultur und Medien fungierten bei ihnen allenfalls als Trostspender in schlechter Zeit. Angesichts der länger als in den beiden anderen Westzonen dauernden existentiellen Alltagsnot haftete der Kulturmission Frankreichs - anders als dem .American way of life' - ein schaler Beigeschmack an und für die Franzosen arbeitende Remigranten mußten mit diesem Makel leben, als Diener einer unbeliebten Besatzungsmacht angesehen zu werden."39 Beispielhaft und mit geradezu tragischen Zügen hat diese Situation Alfred Döblin durchlebt. Nicht gerufen, aber durch Vermittlung von französischen Freunden (darunter der Germanist Robert Minder) und aus materieller Existenznot war er aus dem amerikanischen Exil nach Europa zurückgekehrt. Der schon 1936 in Frankreich naturalisierte Dichter trat 178
Remigranten im Rundfunk
nun in der Uniform eines französischen Offiziers als Angestellter der französischen Militärregierung auf. „Der Mann, der dort an der Tür erschien, hatte das Gesicht Döblins, aber es war ein französischer Major in Uniform ... War dies eine Heimkehr, oder war es der flüchtige Besuch eines alliierten Offiziers?... Döblin wirkte als fremder Gast, und er reiste bald wieder ab", so erinnerte sich an ihn der Publizist Ernst Weisenborn zu Beginn der sechziger Jahre.40 Döblins Aufgabe war es, bei der französischen Militärbehörde zum Druck eingereichte deutsche Manuskripte zu lektorieren und zu begutachten, also fur eine Veröffentlichung zu prüfen - allerdings ohne eigene Entscheidungskompetenz. Außerdem gab er eine literarische Zeitschrift (,Das Goldene Tor') heraus, betätigte sich als Kommentator in einer zunächst eigenen Sendereihe beim .Südwestfunk' in Baden-Baden und auch als Vortragender wie Autor von Aufsätzen zu Literatur und Zeitfragen. Als er sich schließlich auf eine unselige Polemik mit Thomas Mann einließ, geriet er zwischen die Fronten der literarischen Auseinandersetzungen über die Emigration; er wurde öffentlich verleumdet und unterschwellig abgelehnt; seine Konversion als Jude zum katholischen Glauben spielte dabei sicherlich eine Rolle. Als man seines Engagements fur die Umerziehung überdrüssig zu sein glaubte, wurde seine regelmäßige Sendung beim,Südwestfunk' auf die bis heute noch immer übliche öffentlich-rechtliche Art .entsorgt': Man verkürzte die Sendezeit von 15 auf 10 Minuten, setzte den einen oder anderen Beitrag aus dem Programm ab, weil er der politischen Abteilung nicht passte, sendete seine Beiträge nur noch unregelmäßig und teilte ihm, einem Autor hohen Ranges, durch einen subalternen Redakteur mit, dass man statt seiner künftig Kommentare ausgerechnet von Friedrich Sieburg zu bringen gedenke; das war jener Publizist, den Döblin wiederholt und entschieden kritisiert hatte, weil er während der Besetzung Frankreichs bei der deutschen Botschaft in Paris offen fur die Kollaboration eingetreten war. So verließ Döblin ein zweites Mal Deutschland, gescheitert, verbittert und existenziell tief verletzt: „Meine Ausreise aus diesem Land nähert sich. Ja, wir werden wieder dieses Land verlassen, und das Ganze sollte keine Heimkehr sein, das wurde mir nicht gegeben, es wurde ein verlängerter Besuch. Es ist geblieben, wie es war: Ich finde hier keine Luft zum Atmen. Es ist kein Exil, aber etwas, was daran erinnert. Nicht nur ich, sondern meine Bücher haben es auch erfahren."42 Und in einem Brief an den Schriftsteller-Kollegen Peter Hüchel schrieb Döblin am 30. September 1954: „Das Lesepublikum wollte also nichts von mir kaufen, weil ich ein Emigrant sei, und noch dazu einer, der jetzt in französischen Diens179
Besatzungszeit · 1945-1949 ten stünde. Aber ich wußte, sie mochten mich nicht eben aus Antipathie gegen das Antihitlerische."43 War die Umerziehung insgesamt ein schwieriges Geschäft - in den Medien erwies sie sich vielfach als vergebliches Bemühen. Denn am Ende waren sie alle wieder da, jene publizistischen .Talente', die unter Goebbels oft mehr geredet, gesendet und geschrieben hatten als die von ihnen erwarteten, selten jedoch geforderten Lippenbekenntnisse bzw. Pflichtartikel.44 In der sowjetischen Besatzungszone waren die mit den russischen Truppen aus Moskau zurückgekehrten Remigranten, vor allem die .Gruppe Ulbricht', für ihren Einsatz im besetzten Deutschland ideologisch gut vorbereitet. Und es gab auch eine nennenswerte Zahl von Remigranten, die entweder über die Westzonen oder direkt aus dem westlichen Ausland in die SBZ gingen und sich dort auf Dauer niederließen. Für die Zeit 1945 bis 1949 ist ermittelt worden, dass im Medienbereich, also bei Presse, Verlagen und Rundfunk, immerhin 75 Remigranten aus westlichen Ländern bei lediglich 34 aus der Sowjetunion tätig waren.45 Zu den Politikern der ersten Stunde gehörten in der Sowjetzone zum Beispiel die Remigranten Paul Wandel, Johannes R. Becher, Erich Weinert und Hans Mahle; sie saßen an wichtigen Schaltstellen der neuen Macht, etwa in der .Zentralverwaltung für Volksbildung', die auch für den Rundfunk als Entscheidungs- und Aufsichtsinstanz zuständig war. Sie galten als verlässliche und bewährte Vertrauensleute der Militärregierung. „Mindestens ebenso wichtig aber und in der Hierarchie gegenüber den Remigranten bevorzugt, waren die in ihrer Kriegsgefangenschaft zu .AntifaKadern' umgeschulten Deutschen; sie waren zumeist jünger an Jahren und auch nicht durch bürgerliche Prägungen aus der Weimarer Zeit beeinflusst. Insgesamt jedoch gehörten nicht mehr als ein bis zwei Prozent aller im Bereich des Rundfunkwesens Beschäftigten zur Gruppe der Remigranten. Sie waren also nicht bevorzugt, aber ,sie wurden wie alle anderen Gruppen instrumentalisiert, solange sie systemkonform funktionierten'."46 Die nicht selten anzutreffende Meinung, die Sowjetzone und spätere DDR sei für die Remigranten damals der bessere Hort gewesen, lässt sich aus den Zahlen nicht belegen; sie war Teil des antifaschistischen Mythos, aus dem man die staatliche Existenzberechtigung bis zum Schluss mit zu begründen suchte. Anfang der fünfziger Jahre, im Zuge der umfassenden Stalinisierung und des sich entwickelnden Kalten Krieges, entfernte man radikal die .Westler' aus allen wichtigeren Positionen; man misstraute ihrer Herkunft und ihrer Loyalität. 180
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Was die in den Westzonen öffentlich geführte Kontroverse über die Emigration betraf, so war sie geprägt von moralischer Selbstgerechtigkeit. Den Emigranten lastete man ihre .Logenplätze' an, während man selbst gelitten habe. An Thomas Mann, dem wichtigsten Repräsentanten des vertriebenen deutschen Geistes, entzündete sich vor allem der Streit, weil er nicht bereit war, sich in Deutschland wieder dauerhaft anzusiedeln. Am 10. Mai, also zwei Tage nach Kriegsende, hatte er sich aus dem amerikanischen Exil an seine deutschen Rundfunkhörer gewandt (in einer Sendereihe der BBC, die seit Oktober 1940 den Dichter regelmäßig zu Wort kommen ließ). Diese Stunde sei hart und traurig, weil Deutschland sie nicht aus eigener Kraft herbeifuhren konnte. Furchtbarer, schwer zu tilgender Schaden sei dem deutschen Namen zugefügt und die Macht verspielt worden. „Aber Macht ist nicht alles, sie ist nicht einmal die Hauptsache, und nie war deutsche Würde eine bloße Sache der Macht. Deutsch war es einmal und mag es wieder werden, der Macht Achtung, Bewunderung abzugewinnen durch den menschlichen Beitrag, den freien Geist."47 Kurz danach, im August 1945, forderte ihn Walter von Molo Autor geschichtlicher Romane, vor 1933 Präsident der .Preußischen Dichterkammer' - auf, seinen Wohnsitz wieder in der alten Heimat zu nehmen. „Bitte, kommen Sie bald und geben Sie den zertretenen Herzen Trost durch Menschlichkeit und den aufrichtenden Glauben zurück, daß es Gerechtigkeit gibt, man nicht pauschal die Menschheit zertrennen darf, wie es so grauenvoll hier geschah. Dieser Anschauungsunterricht entsetzlicher Art darf für die ganze Menschheit nicht verloren gehen, die nach Glauben und Wissen in einer dämonischen und höchst unvollkommenen Welt zu existieren versucht, mit dem in unserer Epoche die Blutrache beendenden, nach fester Ordnung suchenden Flehen: .Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Erlöse uns von dem Übel!' Wir nennen dies Humanität."48 Molos Brief, der nach seiner Veröffentlichung großes Aufsehen erregte, veranlasste den Schriftsteller Frank Thieß zu einem Beitrag, in dem er für die Einheit von innerer und äußerer Emigration plädierte: „Auch ich bin oft gefragt worden, warum ich nicht emigriert sei, und konnte immer nur dasselbe antworten: Falls es mir gelänge, diese schauerliche Epoche (über deren Dauer wir uns freilich alle getäuscht hatten) lebendig zu überstehen, würde ich dadurch derart viel für meine geistige und menschliche Entwicklung gewonnen haben, daß ich reicher an Wissen und Erleben daraus hervorginge, als wenn ich aus den Logen und Parterreplätzen des Auslands der deutschen Tragödie zuschaute.... Wir erwarten dafür keine Belohnung, daß wir Deutschland nicht verließen. Es war für uns natür181
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lieh, daß wir bei ihm blieben. Aber es würde uns sehr unnatürlich erscheinen, wenn die Söhne, welche um es so ehrlich und tief gelitten haben wie ein Thomas Mann, heute nicht den Weg zu ihm fänden und erst einmal abwarten wollten, ob sein Elend zum Tode oder zu neuem Leben führt. Ich denke, nichts ist schlimmer fur sie, als wenn diese Rückkehr zu spät erfolgt und sie dann vielleicht nicht mehr die Sprache ihrer Mutter verstehen würden."49 Schließlich antwortete Thomas Mann (Oktober 1945). Mit einer gewissen Ironie konstatierte er, dass es ihn natürlich freue, wenn Deutschland ihn als Mensch und Person, und nicht nur seine Bücher, wiederhaben wolle. Aber: „Sind diese zwölfjahre und ihre Ereignisse denn von der Tafel zu wischen und kann man tun, als seien sie nicht gewesen? Schwer genug, atembeklemmend genug war, Anno dreiunddreißig, der Choc des Verlustes der gewohnten Lebensbasis, von Haus und Land, Büchern, Andenken und Vermögen, begleitet von kläglichen Aktionen daheim, Ausbootungen, Absagen ... Schwer genug war, was dann erfolgte, das Wanderleben von Land zu Land; die Paßsorgen, das Hoteldasein, während die Ohren klangen von den Schandgeschichten, die täglich aus dem verlorenen, verwildernden, wildfremd gewordenen Land herüberdrangen. Das haben Sie alle, die Sie dem charismatischen Führer' (entsetzlich, entsetzlich die betrunkene Bildung!) Treue schworen und unter Goebbels Kultur betrieben, nicht durchgemacht. Ich vergesse nicht, daß Sie später viel Schlimmeres durchgemacht haben, dem ich entging: aber das haben Sie nicht gekannt: das Herzasthma des Exils, die Entwurzelung, die nervösen Schrecken der Heimatlosigkeit." Thomas Mann rechnete ab mit der „Verleugnung der Solidarität", die er erfahren habe. „Heute bin ich amerikanischer Bürger, und lange vor Deutschlands schrecklicher Niederlage habe ich öffentlich und privat erklärt, daß ich nicht die Absicht hätte, Amerika je wieder den Rücken zu kehren.... Ich sehe nicht, warum ich die Vorteile meines seltsamen Loses nicht genießen sollte, nachdem ich seine Nachteile bis zur Hefe gekostet. Ich sehe das namentlich darum nicht, weil ich den Dienst nicht sehe, den ich dem deutschen Volke leisten - und den ich ihm nicht auch vom Lande California aus leisten könnte. Daß alles kam, wie es gekommen ist, ist nicht meine Veranstaltung. Wie ganz und gar nicht ist es das! Es ist ein Ergebnis des Charakters und Schicksals des deutschen Volkes - eines Volkes, merkwürdig genug, tragisch-interessant genug, daß man manches von ihm hinnimmt, sich manches von ihm gefallen läßt. Aber dann soll man die Resultate auch anerkennen und nicht das Ganze in ein banales ,Kehre zurück, alles ist vergeben!' ausgehen lassen wollen."50 182
Kriegsheimkehrer zwischen Hoffnung und Verlorenheit
Auf großartig-fragwürdige Weise blieb sich so Thomas Mann seiner Rolle treu: derjenigen eines .komfortablen Märtyrertums'. In seiner Innenstruktur ein sensibler, zerrissener .Schwieriger', war er im bürgerlichen Dasein stets darauf aus, sein von Unsicherheit und Angst zerquältes Leben mit Erfolg vor jeder Fatalität abzuschirmen - mit Hilfe relativierender Reflexion, distanzierender Ironie und schwindelsicherer Solidität. Als er sich dann doch, nach längerem Zögern, 1952 in der deutschsprachigen Schweiz niederließ (seit 1954 in Kilchberg am Zürichsee), waren junge Publizisten wie Ulrich Sonnemann, Walter Boehlich, Hans Egon Holthusen über diesen .Dichter ohne Transzendenz' enttäuscht; sie wandten sich von ihm ab. Die Aufbruchsbegeisterten und Umkehrwilligen sahen in ihm, dem alles zum .gesitteten Abenteuer' geriet, keinen Mentor; sie wollten und forderten leidenschaftliches Engagement. Diese Debatten über die innere und äußere Emigration in Deutschland waren jedenfalls die erste große Auseinandersetzung mit der jüngsten deutschen Geschichte, vergleichbar in ihrer Heftigkeit und Grundsätzlichkeit dem Historikerstreit der späten neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts (entstanden über apologetische Tendenzen in der Zeitgeschichtsschreibung). Sie wurden zumeist in den politisch-kulturellen Zeitschriften und den Feuilletons der überregionalen Zeitungen geführt und waren auch in den kulturellen Sendungen aller deutschen Radioprogramme das große und beherrschende Thema.
Kriegsheimkehrer zwischen Hoffnung und Verlorenheit Unerhörte Menschenopfer hatte der Zweite Weltkrieg gekostet; die Bilanz der Katastrophe ergab, wobei man auf Schätzungen angewiesen ist, dass weltweit ca. 55 Millionen Menschen ihr Leben verloren hatten (darunter etwa 6 Millionen von den Nationalsozialisten ermordete Juden); nun aber war für die Uberlebenden ein wundervoller Mai gekommen; er war übrigens so sonnig und warm, dass man sich wie im Sommer fühlte. Was Erich Kästner am 27. Februar 1945 in sein Tagebuch notiert hatte, dass es schön sein müsste, auch einmal einen Frühling der Geschichte zu erleben, schien Wirklichkeit geworden. Die Stille (das Ende des Kriegslärms) erschien als ein fast unglaubliches Geschenk. Wenn ich an den frühen Mai 1945 denke, so Arnulf Baring, dann zunächst an diese Lautlosigkeit, diese Ruhe - Tag für Tag unter einem blauen Himmel. In der warmen Sonne sitzen und kaum noch Angst haben.51 Und neues Leben blühte aus den Ruinen. Die Stunde Null gab sich als .panisches Idyll', Stunde des Atemholens, umstellt 183
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freilich weiter von Schrecknissen. Ungleichzeitigkeit prägte individuelles wie kollektives Schicksal. Neben den Enklaven ländlicher, friedlicher Abgeschiedenheit die Zonen verbrannter Erde; intakte Kleinstädte, die sich vom Flüchtlingsstrom irritiert sahen, Konzentrationslager, die, nun geöffnet, den Abgrund nationalsozialistischen Terrors offenbarten. Großstädte als Schuttberge, die verbliebene Bevölkerung meist in Kellern hausend. Das Chaos aber trug die Freiheit in sich. Der Kriegsheimkehrer Hartmut von Hentig, junger Offizier, auf Anraten des Vaters in die Armee emigriert, empfand die Rückkehr in die Heimat, nach rascher Entlassung aus einem Gefangenenlager, als die große Befreiung seines Lebens. „Ein strahlender Sommer, in dem man zu Fuß über Land ging wie hunderttausend andere, hinter Hecken und in Scheunen schlief sich ein Stück Brot erbettelte und Fallobst am Wegrand auflas - und kein Mensch etwas von einem wollen konnte. 1945 - die Jahreszahl, die in den Geschichtsbüchern fur Elend, letzte sinnlose Zerstörung, nationale Erniedrigung, persönliche Vergewaltigung steht oder für die Abstraktion ,Ende des Naziregimes', des tausendjährigen Reiches - markiert eines der köstlichsten Jahre meines Lebens."52 Diejenigen, deren Leben aufs Elementare reduziert war, die etwa noch in der Kriegsgefangenschaft dahinvegetierten, machten da eine andere Inventur - eine, bei der fast nichts mehr zu .bilanzieren' war: „Dies ist meine Mütze, dies ist mein Mantel, hier mein Rasierzeug im Beutel aus Leinen. Konservenbüchse : Mein Teller, mein Becher, ich hab in das Weißblech den Namen geritzt. Geritzt hier mit diesem kostbaren Nagel, den vor begehrlichen Augen ich berge..."
Die schöpferische Kraft war zwar verdorrt, aber nicht erstorben. Eine Bleistiftmine wird dem im Gefangenenlager isolierten Dichter Günter Eich zum Instrument der Hoffnung; sie liebt er am meisten - „Tags 184
Kriegsheimkehrer zwischen Hoffnung und Verlorenheit
schreibt sie mir Verse, / die nachts ich erdacht". Als die Welt endete, fing sie auch wieder an.53 Dem lebensbejahenden und lebensfreudigen Gefühl, dass der Stunde Null nun eine Stunde Eins folgen könne, dieser Hoffnung auf ein glücklicheres Dasein, stand ein Lebensgefühl gegenüber, das inmitten der Trümmerwüsten und des durch den Nationalsozialismus bewirkten ethischen Kahlschlags keine Chance mehr sah. Es war der Rundfunk, der solcher Verzweiflung und Weltendstimmung Gehör verschaffte. Am 13. Februar 1947 brachte der .Nordwestdeutsche Rundfunk' die Uraufführung von Wolfgang Borcherts Kriegsheimkehrerstück „Draußen vor der Tür" als Hörspiel. 1921 in Hamburg geboren, zunächst Buchhändler, dann Schauspieler, war Borchert im Dritten Reich wegen ,staatszersetzender' brieflicher Äußerungen mit dem Todesurteil bedroht, dann aber zwecks Bewährung an die Ostfront verschickt und dort verwundet worden. Schwerkrank kehrte er nach Kriegsende in die Heimat zurück, wo er als Regieassistent und Kabarettist tätig war. Er starb am 20. November 1947 in Basel; einen Tag später kam das Drama, nun für die Bühne eingerichtet, an den Hamburger Kammerspielen in der Inszenierung von Wolfgang Liebeneiner heraus. „Ein Mann kommt nach Deutschland. Er war lange weg, der Mann. Sehr lange. Vielleicht zu lange. Und er kommt ganz anders wieder, als er wegging. Äußerlich ist er ein naher Verwandter jener Gebilde, die auf den Feldern stehen, um die Vögel (und abends manchmal auch die Menschen) zu erschrecken. Innerlich - auch. Er hat tausend Tage draußen in der Kälte gewartet. Und als Eintrittsgeld mußte er mit seiner Kniescheibe bezahlen. Und nachdem er nun tausend Nächte draußen in der Kälte gewartet hat, kommt er endlich doch noch nach Hause. Ein Mann kommt nach Deutschland."54 Dem Kriegsheimkehrer Beckmann ist die Frau untreu geworden; sie liegt mit einem andern im Bett. Das Söhnchen wurde von einer Bombe zerrissen. Da wirft er sich in die Elbe; aber diese weist ihn ab. Beckmann humpelt ins Leben zurück. Eine Frau nimmt ihn auf - ihr Mann ist vermisst; er kommt in dem Augenblick zurück, als Beckmann sie umarmen will. Das Leid, das er selbst erlitt, fiigt er jetzt einem andern zu. Nun will er seinem Vorgesetzten aus dem Krieg die Verantwortung für die Toten zurückgeben, denn er fühlt sich von den furchtbaren Erlebnissen belastet. Doch der Oberst sitzt wieder gemüdich in seiner Stube bei Frau und Kind, hat Geld und Essen. Beckmann steht draußen vor der Tür. Am Ende seines Leidensweges, als er hört, dass seine Eltern in ihrer Verzweiflung Selbstmord begangen haben, wird er wieder in die Elbe gehen, die aller Not ein Ende bereitet. 185
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Staatsferner Rundfunk im Westen - parteiischer Rundfunk im Osten
Borcherts Hörspiel, ein Markstein in der Programmgeschichte des Radios, wurde zu einem Zeitpunkt gesendet, da der Ausbau der Rundfunkanstalten in einem erstaunlichen Maße vorangekommen war - mit dem .Nordwestdeutschen Rundfunk' als wegweisendem .Leuchtturm'. Die Entwicklung dieses Senders unter britischer Kontrolle war weitgehend Hugh Carleton Greene zu danken. Er hatte seit Oktober 1940 die deutsche Abteilung der BBC geleitet, ehe er am 1. Oktober 1946 nach Hamburg geschickt wurde, um dort als .Chief Controller' zu wirken. Nach dem Vorbild der BBC gab er der zentralen Rundfunkstation für die gesamte britische Zone einen öffentlich-rechtlichen Status, um auf diese Weise die Politik- und Staatsferne des Rundfunks zu gewährleisten. Greene war sicherlich der herausragendste und kompetenteste Verfechter eines neuen, demokratischen Rundfunks, wie ihn insgesamt die westlichen Alliierten vorsahen. Zwar verfugten sie dafür nicht über ein einheitliches, detailliertes Konzept; doch waren sie strikt gegen die Wiederherstellung einer Rundfunkstruktur wie in der Weimarer Republik, bei der am Ende die Sender der Reichspost und die Funkhäuser der Reichsrundfiinkgesellschaft gehört hatten sowie die führenden Positionen in den Sendegesellschaften durch die Politik besetzt wurden. Viele deutsche Politiker der ersten Nachkriegsjahre blieben jedoch dem Geist der Weimarer Rundfunktradition mit Staatsnähe und Staatskontrolle verhaftet, wobei selbst aufrichtige Demokraten sich als weitgehend blind für die Wichtigkeit einer freien Presse und eines freien Rundfunks erwiesen. Man hing weiterhin der Uberzeugung an, dass allein die Politik berechtigt und in der Pflicht sei, demokratische Öffentlichkeit herzustellen und zu bewahren. Der Staat müsse sich über die Besetzung der Aufsichtsorgane seinen Einfluss bis in die Programme hinein sichern, meinte etwa der württembergisch-badische Ministerpräsident Reinhold Maier (CDU; vor 1933 in Württemberg Wirtschaftsminister) am 8. Januar 1946: „Ich habe mir gedacht, dass sich die Sache ungefähr so regeln müsste: Der rein technische Betrieb des Radios ist Sache der Post. Die Sendestationen gehen in das Eigentum des Reiches zurück, die politische Verantwortung trägt das Staatsministerium, und es wird j e eine Intendantur oder Direktion für die Programmgestaltung unter einer zentralen Überwachung eingerichtet ..., der Aufbau eines Propagandaministeriums soll aber vermieden werden. Es ist dann noch die Frage aufgetaucht, ob sich der Staat ganz aus der Sache heraushalten soll, oder Stadt und Gemeinde sich 186
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beteiligen, ob eine Radiogenossenschaft gegründet werden soll, also eine Privatgesellschaft." 55 Und noch bei der Übergabe des nunmehr öffentlich-rechtlichen .Süddeutschen Rundfunks' in deutsche Verantwortung konnte Maier es in seiner Rede den Amerikanern nicht verzeihen, dass sie anderer Meinung als die Landesregierung und prinzipienfest geblieben waren: „Der deutsche Standpunkt konnte sich nur unter Bedenken der Auffassung anschließen, daß eine Radiostation im Grunde genommen niemand gehöre, daß niemand eine Verantwortung trage, und daß niemand einen Einfluß auszuüben habe. Wir waren der Ansicht, daß irgend jemand der Träger eines solchen Unternehmens sein müsse. Wir haben uns der höheren Einsicht gefugt und warten nunmehr das Ergebnis des Experiments ab. Die Bevölkerung hält die Regierung, wie wir immer wieder erfahren, für das verantwortlich, was beim Stuttgarter Rundfunk vorgeht. Die Bevölkerung möge davon Kenntnis nehmen, daß seit 1945 bis heute und wiederum von heute an die Regierung keine Mitwirkungsrechte auszuüben hat, daß sie in den Gremien des Rundfunks nicht aktives, nicht einmal passives Mitglied ist. Die Regierung ist einfacher Zuhörer wie das Volk und freut sich dieser demokratischen Rolle.... So kommen wir als im Gewände unerschütterlicher Neutralität einherschreitende Gratulanten und hoffen nur das eine, daß unsere sehr herzlichen Glückwünsche nicht als unerwünschte Einmischung in die Freiheit des Rundfunks aufgefaßt werden." 56 (In einer Umfrage der amerikanischen Militärregierung vom März 1947 hatten sich immerhin 83 Prozent der Deutschen fiir einen unabhängigen und nur 15 Prozent für einen staatlich verantworteten Rundfunk ausgesprochen. 57 Zudem weitete die Landesregierung bis in die achtziger Jahre hinein ihren Einfluss auf den Rundfunk über die Besetzung der Gremien ständig aus, u. a. mit der Forderung auf Ausgewogenheit der Sendungen operierend; wenn die Verfassung des S D R dennoch bis heute als eine der liberalsten in der ARD gilt, dann vor allem dank der Rechtsprechung deutscher Gerichte.) Die Westalliierten forderten in den Jahren der Uberleitung auf deutsche Verantwortung, dass der neue Rundfunk in ihren Zonen jeglichem Regierungseinfluss entzogen und dezentralisiert aufgebaut werden müsse. Er dürfe nicht das Sprachrohr einer Regierung oder der Politik sein, sondern müsse alle Schichten des Volkes vertreten sowie allen Gruppen und Parteien die Möglichkeit geben, ihre Meinung zu sagen. Auch sollte Berlin nicht wieder Zentrum des deutschen Rundfunks werden; der Post, als staatlicher Behörde, war das Monopol bei Technik und Finanzen zu entziehen. 187
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Bei den unterschiedlichen Vorstellungen zwischen deutschen Politikern und insbesondere amerikanischen Besatzungsoffizieren über die künftige Organisation eines politisch weitestgehend unabhängigen, öffentlich-rechtlich verfassten und damit demokratischen Rundfunks ging es um nicht weniger als um die Frage: Konsequenter Neuanfang oder Kontinuität auf den Spuren von Weimar - oder sogar später; entweder gäbe es in Zukunft einen wirklich demokratischen oder wieder einen staatlich verantworteten und parteipolitisch beeinflussten Rundfunk. Der Prozess einer mentalen Neuorientierung der Deutschen war aber nach Uberzeugung der westlichen Alliierten nur mit Hilfe einer freien Presse und eines freien Rundfunks zu erreichen. Hans Bredow, der ,Vater des Rundfunks' in Deutschland, nahm an dieser Auseinandersetzung wieder teil. Er repräsentierte mit seiner Person und mit seinen Ansichten in Rückbindung an Weimar einen Standpunkt, der das „Uberspringen und Verdrängen der Zeit des Dritten Reiches" beinhaltete.58 Als Berater der Briten wurde er beim Aufbau des NWDR hinzugezogen; er war zwar konservativ, aber eindeutig antinationalsozialistisch eingestellt und verfugte über große Sachkenntnis. Zunächst zeigte er Offenheit für die neuen Konzepte und fügte sich weitgehend den Vorstellungen der Engländer und später, als Vorsitzender des Verwaltungsrats im .Hessischen Rundfunk', auch denjenigen der Amerikaner. Dann jedoch propagierte er im Kreise der neu eingesetzten und auf ihre Selbstständigkeit bedachten Intendanten einen kooperativen Zusammenschluss der Rundfunkanstalten nach den Prinzipien der ehemaligen ,Reichs-Rundfunk-Gesellschaft' (wobei er wohl gerne selbst die Funktion eines Vorsitzenden in einer entsprechenden Organisation übernommen hätte); weder die britische und amerikanische Besatzungsbehörde noch die Intendanten stimmten dem zu. Bredow hatte sich erneut als machtbewusster Bürokrat gezeigt, „dessen konservative Gesinnung gleichwohl unpolitisch erscheinen mochte, da sie sich an weiterhin herrschenden Vorstellungen über Gemeinwohl orientieren konnte. ... Die soziokulturelle Reichweite des neuen Mediums hat Bredow ebenso falsch eingeschätzt wie er die Notwendigkeit übersehen hat, die technologische Entwicklung an das politische System und seine demokratischen Entstehungsmechanismen anzukoppeln".59 Dass die auf deutscher Seite politisch konservativen Auffassungen, die es versäumten, notwendige Lehren aus der Geschichte generell und der Geschichte des Rundfunks im Besonderen zu ziehen, sich nicht durchsetzen konnten, war der Vorsicht der Briten und Amerikaner zu danken, die strikte Anordnungen, um nicht zu sagen .Befehle' im Sinne ihrer Vorstellungen 188
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Hans Bredow: Das Regiment der Schlauheit Musterfall einer öffentlichen Biografie? Der 2 4 jährige H a n s Carl A u g u s t B r e d o w tritt 1 9 0 3 eine Stelle bei der Allgemeinen-Elektric i t ä t s - G e s e l l s c h a f t ( A E G ) an und w i r d zunächst einmal als S t a r k s t r o m m o n t e u r zu russischen Niederlassung nach Riga g e s c h i c k t . Die e x p a n d i e r e n d e Elektroindustrie - heute vielleicht vergleichbar mit der Datenindustrie - hält für d e n eher kaufmännisch-organisatorisch als technisch-konstruktiv b e g a b t e n p o m m e r s c h e n B e a m t e n s o h n mehr als eine C h a n c e bereit.
Einem S t u d i e n f r e u n d , d e m G r a f e n G e o r g von A r c o , verdankt er d e n Tipp, sich für das zukunftsträchtige G e b i e t der Télégraphié, das elektrische F e r n m e l d e w e s e n , zu interessieren. Der zehn Jahre ältere Graf A r c o , W i s s e n s c h a f t l e r und Entwicklungsingenieur bei der A E G , ist seit Mai 1 9 0 3 G e s c h ä f t s f ü h r e r einer auf politischen Druck von A E G und S i e m e n s & H a l s k e ( S & H ) g e g r ü n d e t e n g e m e i n s a m e n V e r w e r t u n g s g e s e l l s c h a f t für f u n k t e c h n i s c h e Patente unter der Firma „ G e s e l l s c h a f t für drahtlose Télégraphié m b H " , mit der Telegrammanschrift „Telefunken". Der Graf holt seinen j u n g e n S t u d i e n f r e u n d im Mai 1 9 0 4 aus Riga nach Berlin. Für Hans B r e d o w beginnt eine knapp 15 jährige Karriere als Planungsingenieur für Fernmeldeanlagen u n d Leiter der „Verkehrsabteilung" bei Telefunken. Seine Tätigkeit g e w i n n t bald alle Merkmale d e s s e n , w a s man heute mit d e m Begriff d e s M a r k e t i n g bezeichnet.
Seit 1 9 0 5 sorgt er für einträgliche V e r b i n d u n g e n zum Heer u n d zur Marine mit d e m Ziel, sie für d e n A u f b a u eines reichsweiten Militärfunknetzes zu g e w i n n e n ; er verhandelt mit den zuständig e n R e i c h s b e h ö r d e n 1910 über ein interkontinentales Kolonialfunknetz u n d erreicht noch kurz vor A u s b r u c h d e s Ersten W e l t k r i e g s die postalische V e r s u c h s g e n e h m i g u n g für einen transatlantischen Funkverkehr, der als öffentlicher Dienst für W i r t s c h a f t u n d Presse g e d a c h t ist.
Publikumswirksam und des kaiserlichen W o h l w o l l e n s sicher, setzte B r e d o w s Verkehrsabteilung eine die antibritischen Affekte geschickt nutzende Marktnahme in G a n g : Mit d e m Schlagwort der „ B r e c h u n g des M a r c o n i - M o n o p o l s " gelingt Telefunken, seit 1911 über eine eigene Tochtergesellschaft, die Ausrüstung deutscher Handelsschiffe mit Bordfunkgeräten ihres technischen S y s t e m s ; zuvor waren deutsche Schiffe und Küstenfunkstellen mit Geräten nach d e m britischen Marconi-System ausgestattet. Das bringt B r e d o w seine erste staatliche Auszeichnung ein: Er erhält einen der 1401 im Jahre 1911 verliehenen Preußischen Roten Adlerorden.
Nach vier Jahren rückt der „ O b e r i n g e n i e u r " , w i e B r e d o w genannt w i r d , in die G e s c h ä f t s l e i t u n g von Telefunken auf. In den V o r s t ä n d e n mehrerer unter seiner M i t w i r k u n g g e g r ü n d e t e n Telefunken-Töchter - auch im A u s l a n d - vertritt er die Interessen der G e s e l l s c h a f t für drahtlose Télégraphié in einem Elektrokonzern, der zu d e n S c h l ü s s e l i n d u s t r i e n d e s H o c h k a p i t a l i s m u s zählt.
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Der dem Automobilsport zuneigende Jungmanager lernt rasch die lebenswichtige Kontaktpflege zum kaiserlichen Hof und zu den wichtigen Reichsämtern, den Ministerien, nicht zuletzt zu dem allerdings in Funkfragen immer etwas schwierigen Reichspostamt, wo das „Telegraphenregal", die Fernmeldehoheit, gehütet wird. Unmittelbare Eindrücke von der Funkpolitik des Deutschen Reichs holt er sich als Mitglied der Telefunken-Delegation bei den internationalen Funkkonferenzen 1906 in Berlin und 1912 in London. Hier beobachtet er, wie außenpolitische Sicherheiten ausgehandelt werden zur wirtschaftlichen Ausdehnung des Marktes der deutschen Funkindustrie, zur größeren Ehre des Reichs als weltpolitischem Faktor. Er wird Zeuge der für den Imperialismus charakteristischen Entwicklung von der Volkswirtschaft zur Weltwirtschaft, einer Entwicklung, wie er erkennt, die ohne das neue Medium der drahtlosen Zeichenübermittlung, der Télégraphié, nicht möglich sein würde. Der 30jährige Telefunken-Direktor weiß nun, weshalb er ein Weltfunknetz als wirksame wirtschaftliche Gegenindikation zum britischen Weltkabelnetz anbieten muß. Dabei kann er von der vordergründig „völkerverbindenden" Schauseite internationaler Kommunikation profitieren, die ohne Säbelrasseln außenpolitische Prestigeziele medienwirtschaftlich meist unauffälliger zu erreichen pflegt als jede Kanonenbootpolitik. Die moderne Formel vom Free Flow of Information ist offenbar so alt wie das Weltfunk-Konzept, und dieses entspricht maßgerecht dem Weltmarkt-Konzept. Im August 1914 meldet sich Hans Bredow freiwillig zum Kriegsdienst wie Tausende andere deutscher Männer seines Alters, seiner Herkunft und seiner gesellschaftlichen Stellung. Gleichwohl ist er in seiner Firma nun nicht auf einmal entbehrlich geworden. Im Gegenteil: ein uniformierter Direktor erreicht in heroischen Zeiten gewöhnlich mehr als ein Zivilist.(...) Der 1917 zum Leutnant der Landwehr beförderte und mit dem E.K.I ausgezeichnete Offizier ist bei Versuchssendungen mit drahtloser Telephonie (Sprechfunk) dabei, mit Vorlesungen und Musikdarbietungen aus Unterständen, die er später gern und oft als Rundfunkvorläufer angeben wird. Immerhin besteht der Funk im Ersten Weltkrieg eine erste Bewährungsprobe als taktisches und strategisches Medium. (...) Die These, daß die Industrie ein Produkt des Marktes und nicht der Technik sei, findet am Ende des Ersten Weltkriegs eine Bestätigung. Die Funktechnik ist gegen Kriegsende rasch in ihrer Entwicklung vorangekommen. Die militärische und kriegspublizistische Verwendung des neuen Mediums hatte beträchtlich zugenommen. Die Funkindustrie konnte liefern. In der Nachrichtentruppe, bei anderen Waffengattungen des Heeres und bei der Marine waren ungefähr 20 000 Soldaten zu Funkern ausgebildet worden. Doch die Entlassung der Funkindustrie aus der kriegsbedingten Planwirtschaft zurück in die Wettbewerbswirtschaft bringt sie noch keineswegs an den Markt, sondern mit ihren volks- und weltwirtschaftlichen Hoffnungen an den Rand des Abgrunds. Die Militärfunker stehen gleichfalls vor dem Nichts. Eine Industrie ohne Markt, doch mit einer hochentwickelten Medientechnik, dazu Medienangestellte ohne Arbeitsplatz, doch mit einer hochspezialisierten Ausbildung: alles in allem eine bilderbuchartige revolutionäre Situation. Unter diesen Umständen ist der emsige und einfallsreiche Funkindustrie-
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manager Hans Bredow gefragt, - nicht so sehr von seiner Firma, sondern - wir sind in Deutschland - vom Staat. Viel wichtiger als die Wiedergewinnung des Marktes ist die Rettung der diesen Markt sichernden Hoheitsgewalt, die Fernmeldehoheit der Reichspost. Beim Soldatenrat einer Berliner Nachrichteneinheit entsteht schon am 9. November 1918 eine „Zentralfunkleitung (ZFL)" mit dem Ziel, das innerdeutsche Funknetz mit den Militärfunkern als postunabhängige Dienstleistungsgenossenschaft zu betreiben. Nach wenigen Wochen wird die ZFL in ein interministerielles Gremium einbezogen, als dessen Leiter Ende Januar 1919 unvermittelt Hans Bredow auftritt. (...)Unter seiner maßgeblichen Beteiligung entsteht eine Denkschrift über die Zukunft des Funks, die vom Reichspostamt Mitte Januar 1919 der Regierung, dem Vollzugsrat und bestimmten Ministerien zugeleitet wird.(...) Zum 1. März 1919 tritt Bredow als Ministerialdirektor in den Reichsdienst; der Reichspostminister überträgt ihm Aufbau und Leitung der neuen „Abteilung für Funktelegraphie" im Reichspostministerium (RPM). Die Reichsregierung bestimmt am 9. April 1919 in einem förmlichen Erlaß das RPM zur „Zentralbehörde für das gesamte Funkwesen". Das Funkmonopol des Reiches ist wieder an seinem Platz, und ein industrieerfahrener und staatstreuer Fachbeamter muß sich etwas einfallen lassen. Im August 1919 verleiht ihm die Technische Hochschule Danzig die erste akademische Würde, den Titel eines Dr.Ing.E.H. Was vor dem Krieg im Weltmaßstab geplant war, was man während des Krieges als amtliche Funkdienste betrieben hat, die Organisation eines Funknachrichtendienstes, wird nun von Bredow und seiner Abteilung im RPM vorbereitet. Aber weder die Nachrichtenagenturen, noch die Verleger und Journalistenverbände möchten mitspielen. Zwar laufen einige Versuchsprogramme, doch das von Bredow immer wieder vorgeschlagene funkpublizistische Gemeinschaftsunternehmen der Agenturen und Verlage wird nicht gegründet; ein im Hugenberg-Konzern gegründetes Funkbetriebsunternehmen will er nicht lizenzieren lassen. Mehr Erfolg hat er dagegen im Auswärtigen Amt, das 1920 eine eigene Wirtschaftsnachrichtenagentur vorweisen kann, mit der Bredow schließlich ins Geschäft kommt. Diese „Eildienst GmbH" verbreitet ab Juli 1920 einen telegraphischen „Funkwirtschaftsdienst" und ab September 1922 sogar einen funktelephonischen „Wirtschaftsrundspruchdienst". Hier werden Gebühren bezahlt, und Bredow kann seinem Minister wie der skeptischen Presse zeigen, daß sein Medium, der Funk, nicht nur Geld kosten muß. Zum 1. April 1921 wird er zum technischen Staatsekretär im RPM ernannt, behält aber gleichzeitig die Leitung der Funkabteilung. Die hoheitsrechtlichen und betrieblichen, die technischen und wirtschaftlichen Erfahrungen, die in Deutschland mit dem Wirtschaftsfunk der Eildienst GmbH gemacht werden, sind wertvolle Voraussetzungen für die nächste Entwicklungsstufe des Funkmediums, für den Rundfunk.
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Zweifellos ist der Staatsekretär im RPM sehr genau darüber informiert, was seit 1920 beispielsweise in den Vereinigten Staaten und seit 1922 in Großbritannien geschieht: die Gründung privater Betriebsunternehmen , die mit staatlicher Genehmigung Funkprogramme „An alle" verbreiten. Nicht anders sieht Bredows Rohentwurf für die deutsche Rundfunkorganisation, für einen „Vergnügungsrundspruch" oder „Unterhaltungs-Rundfunk", im Jahre 1922 aus. Als 1926 dann die Reinzeichnung der ersten deutschen Rundfunkorganisation vorliegt, wird erkennbar, welche Ziele er erreicht, welche Kompromisse er angesichts der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit gemacht hat und schließlich, welche publizistischen Geburtsfehler des neuen Funkmediums er wahrscheinlich nicht einmal zu erkennen vermochte (...) Die wirtschaftliche Rundfunkorganisation von 1926 ist Bredows Idee. Das Programm interessiert ihn wenig, solange es nicht zu teuer und „kulturell wertvoll" ist und der Post keinen politischen Ärger bereitet. Bredow setzt seine in der Industrie gelernte Aktivität im Staatsdienst beinahe ungebrochen fort. Aber als seine Rundfunkorganisation perfekt ist, tut er einen Schritt, den zu jener Zeit zahlreiche seiner Kollegen unter den hohen Reichs- und Landesbeamten gleichfalls unternehmen: er verlässt im Mai 1926 den Staatsdienst und übernimmt die Leitung eines staatlichen Unternehmens. Bredow wird Verwaltungsratsvorsitzender der Postholding „Reichs-Rundfunk-Gesellschaft mbH. (RRG)", Aufsichtsratsvorsitzer der beiden Berliner Rundfunkgesellschaften „Funk-Stunde AG" und „Deutsche Welle G m b H " sowie stellvertretender Vorsitzer der Aufsichtsräte bei den übrigen Rundfunkgesellschaften im Reich. Unter den relativ normalen Bedingungen der Rundfunkentwicklung in den folgenden sechs Jahren genügt der gleichwohl noch beträchtliche Einfluß Bredows, um seinen .Stamofunk' [im Sinne: staatsmonopolistischer Rundfunk] in Ordnung zu halten, der Post mehr Gebühren hereinzuholen, die Privataktionäre im Zaum zu halten, die Intendanten an die R R G zu gewöhnen und sogar dieser seiner RRG ganz unauffällig einen direkten Programmzugang zu verschaffen. Hierzu hatte das RPM den Vorsitzer des Verwaltungsrats seiner Rundfunkholding mit einem Delegationsvertrag ausgestattet und ihm den gewichtigen Titel eines „Rundfunk-Kommissar des Reichspostministers" verliehen. Die ersten zaghaften medienpolitischen Auseinandersetzungen und ein wachsendes Interesse am Rundfunk im Reichsinnenministerium gegen Ende der zwanziger Jahre berühren Bredow mit seinem problematischen Politikverständnis und einem entsprechend unausgebildeten Publizistikverständnis überhaupt nicht. Darum darf Bredows Verhalten im Sommer 1932 nicht verwundern, als er fast wort- und tatenlos zusieht, wie eine kräftig zulangende Staatsautorität die von ihm geschaffenen Strukturen beutelt, personelle Säuberungen befiehlt, Programme
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verkommen läßt und sich das Medium zur Selbstdarstellung herrichtet. Noch bleibt der wirtschaftliche Besitzstand der Post unangetastet, wenngleich die letzten Privataktionäre ausbezahlt werden und Bredow einen „Rundfunk-Kommissar des Reichsinnenministers" neben sich hinnehmen muß. Im Preußischen Landtag fordert die N S D A P wiederholt seinen Rücktritt; mit dieser Partei kann und will Bredow also nicht mehr rechnen. Noch am Nachmittag des 30. Januar 1933 erfährt er von der Bildung des Kabinetts Hitler. Vom gleichen Tag datiert sein Schreiben, mit dem er den Reichspostminister um Entlassung aus seinem Vertrag als Rundfunkkommissar bittet, dem am 15. Februar zum 1. März 1933 stattgegeben wird. Als er im August gegen die Verhaftung ehemaliger Mitarbeiter öffentlich protestiert, werden ihm seine Bezüge gesperrt, und weil der neue Reichminister für Volksaufklärung und Propaganda einen Schauprozeß will, um mit dem „System-Rundfunk" der Republik abzurechnen, braucht er auch die Vaterfigur dieses Systems auf der Anklagebank. Mit einem richterlichen Haftbefehl wird Bredow am 25. Oktober 1933 festgenommen und für 15 Monate in das Untersuchungsgefängnis Berlin-Moabit gebracht; beschuldigt wird er der „Verschleuderung von Geldern" als Mitglied der Aufsichtsräte der Rundfunkgesellschaften. Der Rundfunk-Prozeß (November 1934 bis Juni 1935) erweist sich als juristische und publizistische Seifenblase: Die Strafe für Bredow und die übrigen Angeklagten fällt so aus, daß sie propagandistisch nichts hergibt und im übrigen durch die Untersuchungshaft verbüßt ist. 1937 hebt das Reichsgericht in der Revision das Urteil teilweise auf und ordnet neue Verhandlung der Erstinstanz an; diese stellt allerdings im März 1938 das Verfahren ein.
Hans Bredow lebt seit 1937 in Wiesbaden. Selbständige Wirtschaftstätigkeit und Auslandsreisen sind ihm untersagt. Seit Oktober 1939 erhält er eine Ministerialrats-Pension. Noch vor der Kapitulation und dem Ende des Zweiten Weltkriegs setzt die amerikanische Militärverwaltung Bredow als Regierungspräsident von Hessen ein; vier Monate, von Mai bis August 1945, nimmt er dieses Amt wahr. Die Industrie holt ihn in ihre Aufsichtsorgane. Die Buderus-Werke in Wetzlar ernennen ihn zu ihrem Aufsichtsratsvorsitzer. Doch energisch schaltet er sich in den Wiederaufbau des Rundfunks ein, besonders in der amerikanischen und der britischen Besatzungszone. Er schreibt zahlreiche Gutachten und Memoranden und wird häufig um Rat angegangen; doch seine Vorstellungen sind rückwärtsgerichtet und am Weimarer Staatsrundfunk orientiert. Durchsetzungsversuche seiner Vorstellungen als Verwaltungsratvorsitzender des Hessischen Rundfunks Frankfurt seit Januar 1949 scheitern. Der Siebzigjährige beginnt - zwar hochgeehrt - seine fachlichen und politischen, nicht zuletzt auch seine gesundheitlichen Möglichkeiten zu überschätzen, - wahrscheinlich zum zweiten Mal in seinem Leben. 1951 zieht er sich deshalb verbittert vom Rundfunk zurück. Er schreibt seine Erinnerun-
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gen; eher eine ganz auf seine Person zugeschnittene Funkgeschichte als wirkliche Memoiren, die Rechtfertigungsschrift eines nicht ganz schuldlos unpolitischen Medienpolitikers und Rundfunkpublizisten: "Im Banne der Ätherwellen". Hans Bredow stirbt am 9. Januar 1959 in Wiesbaden. Winfried B. Lerg: Zum 100. Geburtstag von Hans Bredow. In: Kirche und Rundfunk, epd, 24. November 1979, S. 16-20.
erließen. So wurde durch General Lucius D. Clay, Militärgouverneur der amerikanischen Besatzungszone, im November 1947 die Zuständigkeit der Post für Nachrichtenübermittlung - die Sender waren Eigentum der deutschen Post und damit der Staatsverwaltung zugeordnet - aufgehoben. „Es ist die grundlegende Politik der US Militärregierung, daß die Kontrolle über die Mittel der öffentlichen Meinung, wie Presse und Rundfunk, verteilt und von der Beherrschung durch die Regierung freigehalten werden muß. Demgemäß ist der Deutschen Post die Beteiligung am Rundfunk in der US-Besatzungszone mit Ausnahme der folgenden Funktionen verboten worden: a. Einziehung der Rundfunkempfangsgebühren im Auftrag der Landesregierung als zentraler Gebührenstelle; b. Zurverfügungstellung der für den Rundfunkbetrieb notwendigen Kabel; c. Unterhaltung eines Rundfunk-Entstörungsdienstes."60 Bis 15. Dezember des gleichen Jahres sollten alle Rundfunksender und -studios der Post der jeweiligen Landesregierung zu Besitz und Benutzung durch die gegenwärtigen Landesrundfunkorganisationen, unabhängig von ihrer zukünftigen Rechtsform, übergeben werden. Damit aber war das Problem keineswegs gelöst, denn die Länderregierungen waren darauf aus, den Rundfunk in den Griff zu bekommen. In der britischen Besatzungszone ging es dem,Foreign Office' und der Militärregierung, in Anlehnung an das Modell der BBC darum, den in Hamburg ansässigen N W D R als eine durch Gebühren finanzierte öffentliche Körperschaft in Form einer möglichst zentralen und daher leistungsfähigen Einrichtung zu erhalten; diese schien am besten geeignet, sich staatlicher Kontrolle zu widersetzen, also die Unabhängigkeit des Rundfunks gegenüber einzelnen Parteien und gegenüber etwaigen Regierungsstellen sicherzustellen. „Ein Hauptproblem dieses Ziels bestand darin, eine vom britischen Modell abgeleitete Organ- und Kompetenzkonstruktion für die unabhängige gesellschaftliche Kontrolle der Körperschaft zu finden. Den ersten Entwurf dazu legte Greene der Militärregierung schon am 6. Dezember 1946 vor. Danach sollte an der Spitze des N W D R ein Generaldirektor stehen, dessen Geschäftsführung durch ein kompetenz194
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starkes Organ, den Verwaltungsrat, kontrolliert werde und dem es oblag, die Autonomie des Rundfunks nach außen zu sichern. Bei den sieben oder acht Mitgliedern des Gremiums sollte es sich um urteilsfähige, weisungsunabhängige Persönlichkeiten handeln, die die Interessen der gesamten NWDR-Hörerschaft zu repräsentieren hatten. Die Wahl der Verwaltungsräte sollte durch einen Treuhänderausschuß erfolgen, dessen Mitglieder kraft ihres eigenen Amtes garantierten, daß die Wahl der Verwaltungsräte von (partei-) politischen Einflüssen frei blieb. Für die Besetzung dieses Wahlgremiums sah Greene neben den Vorsitzenden gesellschaftlicher Organisationen die Regierungschefs der drei Zonenländer und den Bürgermeister von Hamburg, mithin staatliche Repräsentanten, vor, und konstruierte dadurch eine spezifische föderale Kompetenzverteilung für den Rundfunk. Um die Unabhängigkeit des Mediums gegenüber einer möglichen gesamtdeutschen Regierung zu sichern, schlug Greene endlich vor, die Kontrollmöglichkeit der Post als zentralstaatlicher Institution dadurch zu begrenzen, daß die Sendeanlagen in das Eigentum des NWDR zu übertragen waren."61 Der Zentralismus des NWDR trat besonders in Erscheinung, als von den Briten die bisher preußischen Provinzen, die innerhalb ihrer Besatzungszone lagen, aufgelöst und am 23.8.1946 die Länder Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Hannover, ab November zusammen mit Braunschweig, Oldenburg und Schaumburg-Lippe als Niedersachsen geschaffen wurden. Die US-Militärregierung hatte bereits im September 1945 die Länder Bayern, Württemberg-Baden und Groß-Hessen errichtet; das Land Bremen, wegen seines Nachschubhafens amerikanische Enklave, entstand im Januar 1947; Frankreich schuf die Länder Rheinland-Pfalz, Baden, Württemberg-Hohenzollern. Vor allem Nordrhein-Westfalen fühlte sich rundfunkpolitisch benachteiligt. Das Funkhaus Köln hatte zwar einen von den Briten ernannten Intendanten (Hanns Hartmann), aber dieser war von der Hamburger Zentrale abhängig. Trotz des relativ hohen, stark wachsenden Kölner Anteils am Gesamtprogramm des NWDR kam das Gros der Nachrichtensendungen aus Hamburg. Nachdem schon 1946 Presse und politische Parteien, dann vor allem der Ministerpräsident Karl Arnold (CDU) im August 1950, anlässlich der Eröffnung der ersten Funkausstellung nach dem Kriege in Düsseldorf, den Anspruch auf eine eigene Rundfunkanstalt für NordrheinWestfalen erhoben hatten, kam es 1955 zur Teilung des NWDR, mit Köln als Sitz des neu geschaffenen WDR. Damit war das Ende der fast zehnjährigen britischen Rundfunkpolitik gekommen, waren ihre Garantien für Bestand und Verfassung des NWDR hinfallig geworden. 195
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Ein solcher Vorgang setzte eine Tendenz zur Regionalisierung des Rundfunks frei, so dass dieser am Ende der Besatzungszeit in allen vier Zonen sich dort wieder befand, wo er schon zur Weimarer Zeit gewesen war - mit eigenen Landessendern, Sendeanlagen, Nebenstellen und Redaktionen. Die Entwicklung zur Regionalisierung wurde in den Folgejahren nicht nur politisch, sondern auch technisch durch die Einführung des UKW-Rundfunks mit seinen neuen Frequenzen, die zumeist nur eine auf 70 bis 80 Kilometer begrenzte technische Reichweite hatten, weiter beschleunigt. Hugh Carleton Greene hatte während seiner Amtszeit versucht, die gegen den Hamburger Zentralismus gerichteten Bestrebungen der norddeutschen Länder dadurch abzuwehren, dass er den Landesregierungen und den sie tragenden Parteien größeren Einfluss auf die Personalpolitik in den Funkhäusern einräumte; so sollten im Verwaltungsrat, ursprünglich als Gremium politischer Unabhängigkeit gedacht, von den sieben Sitzen zwei an Personen mit politischem Hintergrund gehen. Die in der Satzung getroffene Festlegung, dass der Rundfunk in voller Unabhängigkeit von Einflüssen des Staates und parteipolitischer Richtungen betrieben werde, wurde nun von deutscher Seite immer häufiger durchbrochen bzw. umgangen. Auch in der amerikanischen Besatzungszone zeigten sich schon Ende 1945 Bestrebungen der .Information Control Division' (der ICD, damals unter der Leitung von Robert McClure), die eine rasche Übergabe des Rundfunks in deutsche Verantwortung vorsahen. Man erwartete, dass der Länderrat, das Koordinierungsgremium der im Besatzungsgebiet ernannten Ministerpräsidenten, zu einer einheitlichen Gesetzesvorlage hinsichtlich der Struktur der Rundfunkeinrichtungen in Frankfurt, Stuttgart und München gelangen würde. Die Militärregierung war bemüht, den Gesetzgebungsprozess zu forcieren, indem sie die Regierungen und Landtage der drei Besatzungsländer durch Fristvorgaben unter erheblichen Zeitdruck setzte. Als die zuständigen Staatskanzleien in München, Stuttgart und Wiesbaden der amerikanischen Militärregierung schließlich ihre gemeinsam abgestimmten Gesetzentwürfe für die künftige Verfassung des Rundfunks vorlegten, zeigten sich die Probleme erneut in aller Deutlichkeit: sie waren mit den amerikanischen Vorstellungen eines dezentral-föderativen und staatsfernen Rundfunks in grundsätzlichen Positionen nicht vereinbar, sie waren zu einseitig an der Weimarer staatsnahen Organisation des Rundfunks orientiert. Folgerichtig enthielten sie im Besonderen ungenügende Richtlinien für die demokratische Gestaltung der Programmarbeit. 196
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Solche wurden schließlich von amerikanischer Seite zugeliefert. Informationsoffiziere formulierten und verabschiedeten auf einer Konferenz am 14. Mai 1946 in Berlin einen „Entwurf zu einer Erklärung über Rundfunkfreiheit in Deutschland". Die - wie sie bald genannt wurden - „Zehn Gebote" wurden dann mehr oder weniger in gleicher Fassung fester Bestandteil eines jeden neuen Rundfunkgesetzes. (Vgl. S. 233) Den äußerst zähen Prozess der Gesetzesformulierung und -Verabschiedung beeinflusste die Militärregierung zwar teilweise massiv; infolge der Demokratisierungsmaxime blieben jedoch die Möglichkeiten, amerikanische Auffassungen durchzusetzen, letztlich begrenzt. „Das Dilemma der Militärregierung wurde noch komplizierter, da sich die Amerikaner durch den seit Frühjahr 1947 verschärften Ost-West-Konflikt immer mehr auf deutsche Unterstützung angewiesen fühlten. Mit der Änderung der politischen Großwetterlage und der engeren Koordination der amerikanischen und britischen Deutschlandpolitik setzte sich in der ICD die Uberzeugung durch, daß eine öffentlich-rechtliche Organisation des Rundfunks nach dem Vorbild des NWDR am ehesten die Unabhängigkeit des Mediums vom Staat und seine gesellschaftlich-pluralistische Kontrolle gewährleiste. Doch bedurfte es Ende November 1947 eines Erlasses der Militärregierung zur .Klarstellung der Rundfunk-Uberwachungs-Politik', bis diese Form in der widerspenstigen Ministerialbürokratie und den Landtagen der drei US-Zonenländer akzeptiert wurde. Die drei abermals korrigierten Gesetzentwürfe fanden aber nicht die Zustimmung der Militärregierung, weil sie der Landesregierung, dem Landtag oder den politischen Parteien durch die Sitzverteilung im Rundfunkrat oder durch die Art der Wahl (bzw. Delegation) seiner Mitglieder zu große Kontrollmöglichkeiten einräumten. Die gleiche Kritik traf auch den Entwurf des Bremer Senats. Diesen hatte die Militärregierung trotz der gravierenden Finanzprobleme von Radio Bremen am 9. August 1948 aufgefordert, ein Rundfunkgesetz zu erlassen. Die von den Parlamenten in Stuttgart und Bremen bereits verabschiedeten und veröffentlichten Gesetze annullierten die Amerikaner sogar, weil sie meinten, daß jene zu undemokratisch seien oder die Politisierung dés Mediums ermöglichten. In Bayern und Hessen konnten dagegen die Gesetze noch 1948 parlamentarisch verabschiedet werden. Radio München ging am 25. Januar 1949 als Bayerischer Rundfunk in deutsche Verantwortung über; drei Tage später wurde Radio Frankfurt als Hessischer Rundfunk in deutsche Hände übergeben. Am 15. März trat das Gesetz über Radio Bremen in Kraft, und weitere zwei Monate später, am 12. Mai, verabschiedete auch der Landtag in Stuttgart, wo man den amerikanischen Forderungen den 197
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größten Widerstand entgegengesetzt hatte, das Gesetz über den Süddeutschen Rundfunk (SDR)." 62 In vielen Parteien dachte man zu dieser Zeit wohl ähnlich wie der Abgeordnete Josef Ersing (CDU) im Stuttgarter Landtag; er meinte: „Da wir auch nicht dauernd unter einer Militärregierung leben müssen, wird, wie jedem Negerstaat, auch uns die Freiheit der Selbstbestimmung gegeben."63 Kaum ein halbes Jahr nach Gründung des SDR war es eben dieser Abgeordnete, der dem Landtag eine Novelle zum Rundfunkgesetz vorlegte, mit der unter anderem die Kompetenzen des Intendanten Fritz Eberhard zugunsten der Aufsichtsgremien drastisch eingeschränkt werden sollten. Aber auch in den anderen Beatzungszonen war und blieb die Unabhängigkeit des, wie er genannt wurde, .Besatzungsrundfunks' vielen deutschen Politikern ein Dorn im Auge - selbst noch nach Gründung der ARD im Jahre 1950. Für die französische Zone hatte der Chef der provisorischen Regierung in Paris, Charles de Gaulle, Mitte Juni 1945 angeordnet, dass auf dem Gebiet der französischen Besatzungszone eine zentrale Rundfunkstation geschaffen werden solle. Die neue Zonenanstalt .Südwestfunk' (SWF) wurde von Anfang an von Deutschen unter französischer Kontrolle geleitet. Nach einer Übergangslösung in Koblenz, erhielt sie ihren Sitz in Baden-Baden, dem Ort des französischen Hauptquartiers, zunächst in einem beschlagnahmten Hotel. Zur Verfugung standen mehr oder minder zerstörte Nebensender und Studios der nun von den Amerikanern betriebenen ehemaligen Reichssender Frankfurt und Stuttgart (nämlich Freiburg, Koblenz, Kaiserslautern), die auch eigenständige Regionalsendungen produzierten. Der ehemalige Intendant der .Schlesischen Funkstunde', Friedrich BischofF, übernahm im März 1946 die künstlerische Leitung; ein anderer erfahrener Rundfunkmann, Lothar Hartmann, wurde Sendeleiter (ab 1947 erhielten sie den Titel Generalintendant bzw. Generaldirektor). Als ein besonderer Glücksfall erwies sich die Berufung von Heinrich Strobel. Der 1898 Geborene war nach dem Studium der Musikwissenschaft von 1922 bis 1938 Musikkritiker bei Berliner Zeitungen gewesen; in der Zeitschrift .Melos', die 1933 verboten wurde (1946 von ihm neu gegründet), hatte er sich konsequent der Avantgarde der deutschen und internationalen Musik gewidmet. 1939 emigrierte er nach Paris, durfte allerdings unter der deutschen Besetzung publizistisch tätig sein, was ihm in den fünfziger Jahren von Seiten einiger emigrierter Komponisten zum Vorwurf gemacht wurde. In Baden-Baden hatte Strobel ein kleines Archiv von Schellack-Platten und die Reste eines Kurorchesters vorgefunden; in kürzester Zeit entstand ein leistungsfähiges Orchester, 198
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das unter dem aus der Emigration zurückgekehrten Otto Klemperer bereits 1946 sein erstes Konzert gab. Er sei sich von Anfang an darüber im Klaren gewesen, so Strobel im März 1947 über die Arbeit und Aufgabe der Musikabteilung des ,Südwestfunks', dass deren Programme mit einer eindeutigen Zielsetzung und einer europäischen Perspektive aufgebaut werden müssten: „Vom ersten Tage an habe ich daher den faulen Kompromiß mit der Mittelmäßigkeit zu vermeiden gesucht und schwammige Epigonen aus den ernsten Sendungen ausgeschaltet.... Generalmusikdirektor Lessing und ich haben dem wesentlichen Schaffen der Gegenwart einen breiten Platz eingeräumt.... Nach unserer Auffassung (die sich allerdings grundsätzlich von der des verflossenen Regimes unterscheidet) ist der Rundfunk ein Kulturinstrument. Er muß es gerade in einer Zeit sein, in der die materiellen Wirren fast nur mehr Wunschträume für uns sind. Wenn man sich so gern (und oft so emphatisch) auf die Kultur beruft, die uns als Letztes und als Einziges aus dem .totalen' und selbst verschuldeten Zusammenbruch blieb, dann muß man in dieser Zeit vom Rundfunk die Erfüllung dieser kulturellen, völkerverbindenden Aufgaben verlangen."64 Im Zuge der französischen Saar-Politik wurden am 15. September 1946 Verwaltung und Programm des Senders .Radio Saarbrücken' abgetrennt und etwa ein Jahr später dem Leiter der französischen Militärregierung im Saarland unterstellt, so dass die Entwicklung dieses Senders, dessen Programm die zwischen beiden Ländern bestehenden Freundschaftsbeziehungen widerspiegeln sollte (vom französischen Standpunkt aus war dies eine .pénétration culturelle'), eine eigene rundfunkpolitische Entwicklung nahm - bis 1957, als durch den deutsch-französischen SaarVertrag das Gebiet wieder zur Bundesrepublik kam. Ansonsten wurde in der französischen Zone fiir den .Südwestfunk' unter Ausschluss der Regierungen und Landtage der drei Zonenländer eine Rechtsgrundlage geschaffen, die diesen als Anstalt des öffentlichen Rechts mit dem Recht auf Selbstverwaltung sowie als unabhängige Organisation im Dienste der Allgemeinheit, eingegrenzt durch die französische Kontrolle, konstituierte. Das entsprach im Wesentlichen (auch darin, dass die Sendeanlagen von der Post auf den Sender übertragen wurden) dem britischen und amerikanischen Vorbild; ebenfalls wurde ein Kontrollorgan, der Rundfunkrat, geschaffen; er vertrat die allgemeinen Interessen der Hörergemeinschaft des SWF und war als gesellschaftlich-pluralistische Repräsentanz an Weisungen nicht gebunden. Wiederum waren es Landespolitiker und gesellschaftliche Gruppierungen, die Ansprüche auf stärkeren Einfluss erhoben, was dazu führte, dass die Militärregierung von ihrem strikten Kurs abwich. 199
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So waren zwischen Ende 1947 und Mitte 1949 in den drei westlichen Besatzungszonen sechs öffentlich-rechtlich verfasste Anstalten neu gegründet worden: durch Verordnung am 1. Oktober 1948 in Hamburg der,Nordwestdeutsche Rundfunk' (NWDR) und in Baden-Baden der .Südwestfunk' (SWF); durch Gesetze der zuständigen Landtage am 1. Oktober 1948 der .Bayerische Rundfunk' (BR) in München und der .Hessische Rundfunk' in Frankfurt am Main, am 15. März 1949 .Radio Bremen' (RB) und am 12. Mai 1949 der .Süddeutsche Rundfunk' (SDR) in Stuttgart. Ein Jahr später schlössen sich diese Sender auf eigene Initiative hin zur .Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten in der Bundesrepublik Deutschland' zusammen, der sie erst einige Jahre später den Namen ,ARD' gaben. Die .Öffentlichkeit' war in den Kontrollgremien durch Delegierte sogenannter .relevanter Gruppen' vertreten; sie kamen aus den Bereichen des Sports, der Kultur, der Gewerkschaften, der Kirchen, der Regierung und der im Parlament vertretenen Parteien. Hinsichtlich der Programme durfte der jeweilige .Rundfunkrat' keine Vorzensur ausüben; er wählte und wählt bis heute - den Intendanten als den allein Verantwortlichen für das Programm des Senders; dieser wird dabei von einem ,Programmbeirat' aus Mitgliedern des Rundfunkrats unterstützt, während ihn bei seiner Geschäftsführung, einschließlich seiner Personalentscheidungen auf der Leitungsebene, ein ,Verwaltungsrat' überwacht. Dieses Modell hat sich wohl bewährt, selbst wenn inzwischen der Einfluss der Parteien in grundsätzlichen Fragen weit über die vom Gesetz zugebilligten Mitwirkungsrechte hinausgeht. Das trifft insbesondere fiir die Besetzung von Personalstellen im Führungsbereich zu, die nicht immer vorrangig nach Merkmalen der Kompetenz, sondern nach Kriterien des Parteienproporz in der amtierenden Landesregierung erfolgt. Vor allem in den letzten Jahren hat sich hier ein eher paralysierender Gewöhnungseffekt herausgebildet, ein ,stilles' Geben und Nehmen; denn schließlich sind manche Sender in Fragen ihrer finanziellen und programmlichen Selbstständigkeit auf die Unterstützung vor allem der Politik geradezu existenziell angewiesen. Dass dieser Proporz-Schacher inzwischen nicht mehr nur auf die Leitungsebene begrenzt, sondern tief in die Redaktionsbereiche eingedrungen ist, war letztlich wohl in dem Preis dafür enthalten, dass die Politik sich seit einiger Zeit mit ihrer Kritik wegen fehlender .Ausgewogenheit' der Programme auffällig zurückhält. Das „Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland" hat in Artikel 5. äußerst knapp, formuliert, dass für die Presse wie den Rundfunk die „Freiheit der Berichterstattung" zu garantieren ist, jedoch nicht ausdrücklich die Verfasstheit des Rundfunks angesprochen. Einerseits mag dabei der Gedanke 200
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mitgespielt haben, dass dieser unter die Kulturhoheit der Bundesländer fallt; andererseits spiegelt die knappe Formulierung eben jene kritische Einschätzung, mit der Politiker im Parlamentarischen Rat die Verfassung des Rundfunks als eine von den Alliierten aufgezwungene ansahen, die man ohnehin, und zwar im deutschen Sinne, zu ändern gedachte. Solche Zusammenhänge und die Vorbehalte vieler deutscher Politiker gegen einen unabhängigen, staatsfreien, nur von der Öffentlichkeit kontrollierten Rundfunk klar erkennend, verfugten nur wenige Tage nach der Wahl des ersten deutschen Bundestags die Alliierten Hohen Kommissare in ihrem Gesetz Nr. 5: „Die Freiheit der deutschen Presse, des deutschen Rundfunks und anderer deutscher Mittel der Berichterstattung sind gewährleistet, wie im Grundgesetz vorgesehen. Die Alliierte Hohe Kommission behält sich das Recht vor, jede von der Regierung auf politischem, verwaltungsmäßigem oder finanziellem Gebiet getroffene Maßnahme, die diese Freiheit bedrohen könnte, für ungültig zu erklären oder aufzuheben.... Ohne Genehmigung der Alliierten Hohen Kommission dürfen neue Rundfunk-, Fernseh- oder Drahtfunksender nicht eingerichtet noch Anlagen dieser Art einer anderen Verfügungsgewalt unterstellt werden." Diese gesetzliche Festlegung ist bis 1955 gültig gewesen und hat dem Rundfunk bis heute ganz wesentlich - wohlgemerkt: als ein Geschenk der westlichen Siegermächte - die Freiheit erhalten. Und mit dem ,Kulturauftrag' als gültige Grundlage für alle Sender und Programme der A R D dazu beigetragen, dass der Rundfunk nicht nur Vermittler von Kultur ist, sondern mäzenatisch, mit Hilfe der Rundfunkgebühren, Kultur auf vielerlei Weise überhaupt erst ermöglicht. Allerdings erfolgte ein erster, großer Einschnitt in der Rundfünkentwicklung der Bundesrepublik, als am 5. Mai 1955 die .Pariser Verträge' in Kraft traten und die nun souveräne Bundesrepublik in die .Westeuropäische Union' (WEU) wie in die NATO aufgenommen wurde; das Besatzungsstatut erlosch, die Alliierte Hohe Kommission löste sich auf; das Rundfunksystem hatte seine mächtigen alliierten Protektoren verloren. In der sowjetisch besetzten Zone (SBZ) nahm die rundfunkpolitische Entwicklung einen völlig anderen Verlauf als in den Westzonen. Sie vollzog sich nach dem Motto, das Walter Ulbricht als Statthalter Moskaus im Mai 1945 ausgab: „Es muß demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben." 65 Mit dem von russischen Truppen besetzen, unversehrt gebliebenen ,Haus des Rundfunks' in der Berliner Masurenallee, bis dahin Sitz der ,Reichs-Rundfiink-Gesellschaft', konnte innerhalb kürzester Zeit, nämlich bereits am 13. Mai 1945, auf direkten Befehl des sowjetischen Stadtkommandanten Nikolai Bersarin, der Sendebetrieb wieder aufgenommen werden -
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in Form eines zunächst einstündigen Programms. Am 18. Mai erfolgte die Übertragung des ersten öffentlichen Symphoniekonzerts mit dem Orchester der Städtischen Oper Berlin und wenig später gab es, über die Sendeanlagen in Tegel ausgestrahlt, ein vollständiges Tagesprogramm. Anders als die Westalliierten konnten sich die Russen fur ihre Besatzungszone auf ein von deutschen Antifaschisten ausgearbeitetes Rundfunkkonzept stützen. Zu diesen Experten gehörten Hans Mahle, damals 34 Jahre alt, kein Funktionärstyp und deshalb von Walter Ulbricht eher skeptisch beurteilt, sowie Matthäus Klein, ein ehemaliger Pfarrer, der als Soldat in russischer Kriegsgefangenschaft Mitglied des Nationalkomitees ,Freies Deutschland' geworden war. Der 1911 in Hamburg geborene Mahle, eigentlich Heinrich August Ludwig Mahlmann, war 1926 dem ein Jahr zuvor gegründeten .Kommunistischen Jugendverband Deutschlands' beigetreten und dort bald in die Führung aufgestiegen. Nach illegaler Arbeit in Berlin, Sachsen und im Ruhrgebiet, emigrierte er 1935 über Paris nach Prag und dann in die UdSSR. Er arbeitete u. a. in der deutschen Redaktion des Moskauer Rundfunks, später auch im Sender .Freies Deutschland'. Im Mai 1945, so berichtet er selbst, wurde er mit dem Aufbau des Rundfunks in Berlin beauftragt: „Ich wurde am 13. Mai 1945 früh vom Genossen Walter Ulbricht beauftragt, mich der Rundfùnkarbeit zu widmen. Das ging ganz unbürokratisch vor sich. Genosse Walter Ulbricht erklärte:,Genosse Mahle, du hast am Sender .Freies Deutschland' und vorher am Moskauer Rundfunk Erfahrungen gesammelt und kennst die Politik des Nationalkomitees Freies Deutschland. Diese Politik ist im Rundfunk durchzusetzen. Also fahr zum Rundfunk, du hast für diese Aufgabe vorläufig ganz wenige Genossen zur Verfügung."66 Als sich wenig später die sowjetische Militäradministration fur Deutschland (SMAD) in Berlin konstituiert hatte, gab sie, im Juli 1945, den Befehl, den Rundfunkbetrieb fur ihre Zone der .Deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung' (DZVfV), einer der insgesamt elf Verwaltungseinheiten zu unterstellen. Das war immerhin bereits zu einer Zeit, als im Westen die Militärsender der alliierten Militärverwaltungen aufgebaut wurden. Die DZVfV war zuständig für die Bereiche Volksbildung, Kultur, Kunst und Medien in der sowjetischen Besatzungszone, einschließlich Ost- Berlin, ab Ende Dezember 1945 für die gesamte Arbeit und Leitung des Rundfunkwesens (sowohl für die bereits in Betrieb befindlichen Sender als auch für diejenigen, die später hinzukamen). Die sowjetischen Behörden konzentrierten sich offiziell lediglich auf die Manuskriptkontrolle und gemeinsam mit der KPD bzw. ab April 1946 mit der SED auf die Personalpolitik, im Besonderen, was die Leitungspositionen betraf. 202
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Ab 1946/47 wechselten vor dem Hintergrund des sich verschärfenden Kalten Krieges und des Antikommunismus in den Westzonen eine Reihe politisch links stehender Rundfunkmitarbeiter aus dem Westen in den Osten. So quittierte der als Kommunist verdächtigte Herbert A. Gessner, innenpolitischer Hauptkommentator von .Radio München', der bei seinen Hörern ein hohes Ansehen genoss, seinen Dienst und siedelte in die sowjetische Besatzungszone über, wo er bis zu seinem Tode 1956 beim Rundfunk arbeitete. Zum Berliner Rundfunk ging Ende März 1948 auch Karl-Georg Engel, der sich beim NWDR Köln mit Diskussionssendungen am .runden Tisch' und im Schulfunk einen Namen gemacht, dann in München für ein halbes Jahr die Position des Chefredakteurs und Leiters der Abteilung,Zeitfunk' inne hatte. Vom NWDR kam Karl Eduard von Schnitzler, der als Leiter der Abteilung .Politisches Wort' tätig gewesen war. Der spätere Chefkommentator des DDR-Fernsehens warf nach seiner Ubersiedlung übrigens Hugh Carleton Greene in einem offenen Brief vor, dass der NWDR bei den Geburtswehen der deutschen Demokratie versagt, das heißt, seine historische Aufgabe der Völkerversöhnung und des sozialen wie geistigen Wiederaufbaus nicht erfüllt habe. Der Literaturwissenschaftler Hans Mayer, 1945 nach der Rückkehr aus dem Schweizer Exil zunächst Kulturredakteur und dann politischer Chefredakteur bei .Radio Frankfurt', verließ wegen seiner KPD-Mitgliedschaft und seiner marxistischen Grundposition den Sender und ging 1948 als Professor für Geschichte der Nationalliteratur an die Universität Leipzig, wo er 1950 Ordinarius für Kultursoziologie und Literaturgeschichte wurde. Ahnlich verhielt sich Stephan Hermlin, ebenfalls1945 aus der Schweiz nach Frankfurt zurückgekehrt und dort als Rundfunkredakteur tätig; ab 1947 war er in der S B Z / D D R als freischaffender Autor tätig. Schließlich wurde der erste deutsche Intendant des Kölner Funkhauses, der Kommunist Max Burckhardt veranlasst, im März 1947 seinen Abschied zu nehmen; später war er Generalintendant der Leipziger Bühnen. Dem raschen Start des Rundfunks in Berlin folgte in der sowjetisch besetzten Zone ein zügiger Ausbau der regionalen Sendestationen. Im Hinblick auf die bevorstehende Viermächteverwaltung Berlins wollte man seitens der SED-Parteiführung einen von den westlichen Alliierten unabhängigen Sender-Verbund; deshalb baute man vorrangig den im März 1945 zerstörten Sender in Leipzig wieder auf; er ging am 1. September auf Sendung, zunächst mit dem Programm des Berliner Rundfunks und am 20. November mit eigenen Programmen. Im Dezember folgten dann die Landessender Schwerin, Potsdam, Weimar und Halle, wobei diese zunächst gleichfalls, zumindest weitgehend, das Programm aus Berlin übernahmen.
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26 Der erste Übertragungswagen ,Ü1 ', sog. .Blutblase', vor dem Sender in Leipzig (1946)
Als Reaktion auf die Niederlassung des N W D R in Berlin und die Gründung des DIAS/RIAS durch die Amerikaner wurde am 15. August 1946 in der sowjetischen Besatzungszone aus dem Rundfunk-Referat der DZVfV eine ,Generalintendanz des deutschen demokratischen Rundfunk' gebildet. Unter ihrer Leitung wurde in der DDR bis Oktober 1949 ein Rundfunksystem geschaffen, das sich unter zentraler Leitung in drei teilweise länderübergreifende Sendergruppen gliederte: - die .Norddeutsche Sendergruppe', mit dem Berliner Rundfunk als Zentrum und den Landessendern Potsdam, Schwerin sowie dem Studio Rostock; - die .Mitteldeutsche Sendergruppe', mit dem zentralen Sender Leipzig und den Landessendern Dresden, Halle, Weimar sowie den Studios in Chemnitz und Magdeburg; 204
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- der ,Deutschlandsender' in Berlin, der seit dem 1. Mai 1949 ein speziell auf die Bundesrepublik orientiertes Programm verbreitete. Somit waren zumindest bis Ende der vierziger Jahre, also bis zum Ende der Besatzungszeit, in der Sowjetzone die Senderstrukturen aus der Endzeit der Weimarer Republik wieder hergestellt: nämlich ein System regionaler Sender unter zentraler Lenkung. Diesem Auf- und Ausbau waren jedoch aufgrund der technischen Möglichkeiten und vor allem wegen des Mangels an Sendefrequenzen enge Grenzen gesetzt. Man behalf sich zunehmend dadurch, dass man vorhandene Frequenzen aufteilte, stundenweise zwischen den Sendern wechselte oder aber West-Frequenzen .anzapfte' und sie mit eigenen Programmen belegte; das hatte auch den kalkulierten Nebeneffekt, dass die ungeliebten Westsender, wenn nicht durch spezielle Störsender behindert, allein schon wegen des eigenen Programms nicht oder nicht gut empfangen werden konnten. Wie schon in der Weimarer Republik und dann vor allem zu Zeiten des Dritten Reiches besaßen in der DDR die Landessender nur eine sehr begrenzte Eigenständigkeit. Erst im Zuge des Ausbaus eines eigenen UKW-Netzes in den fünfziger Jahren erhielten sie nennenswerte eigene Programmplätze. Die Intendanten der Landessender waren direkt der Generalintendanz unterstellt, welche die Richtlinien fur das Programm ausgab. Von der ,Zentralverwaltung fiir Volksbildung' wurden monatlich die Finanzmittel zugewiesen. Die Post blieb allein zuständig fur Aufbau und Betrieb der technischen Sendeanlagen, einschließlich der Studios. Die Besatzungsmacht und die deutschen Kommunisten zielten insgesamt auf einen Rundfunk, dem sie als Machtinstrument in der Hand von Staat und Partei bei der Erzie-
2 7 Der S e n d e r Lejpz|g d e s Mitte|deutschen R u n d .
funks unter neuem Polizeischutz (1946)
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hung zum sozialistischen Menschen eine wichtige Funktion beimaßen. Zunehmend schaltete sich die Parteiführung in die Rundfunkpolitik ein, indem sie unter anderem einen Sekretär für Agitation im Zentralkomitee einsetzte. Bei der Schaffung des linientreuen SED-Parteirundfunks kam es im Rahmen der Selbstfindungsprozesse über einige Jahre hinweg zu ideologischen Richtungsänderungen, die mit der Gründung der DDR 1949 und der Entlassung des Rundfunks aus der Kontrolle der SMAD keineswegs beendet waren. So blieb in den Jahren der Stalinisierung nur eines beständig: der Wechsel in den Führungspositionen. Leo Bauer, 1945 aus der Schweiz nach Frankfurt am Main gekommen und dann zum Berliner Rundfunk (,Deutschlandsender') gewechselt, wurde als Chefredakteur entlassen - wie die meisten aus dem Westen stammenden Remigranten bzw. Kommunisten. Max Seydewitz verlor im August 1947 seinen Posten als Intendant des Berliner Rundfunks und Hans Mahle, der Mann der ersten Stunde, wurde im Juni 1951 wegen mangelnder .ideologischer Klarheit' als Generalintendant durch Kurt Heiss abgelöst, der ein Jahr später zum Vorsitzenden des nunmehr .Staatlichen Rundfunkkomitees' ernannt wurde.
Im Land der SED: Programm als Agitation Auch in der Sowjetzone - auf ihrem Territorium waren früher bis zu 80 Prozent aller Rundfunkgeräte für Deutschland hergestellt worden - war die Produktion von Radios unterbrochen; man musste sich mit DetektorEmpfangern und Selbstgebasteltem behelfen. Als die Produktion wieder anlief kam - wie in den Westzonen - als eines der ersten Geräte ein Nachbau der .Goebbelsschnauze', des kleinen Volksempfängers aus der NS-Zeit, auf den Markt - nun der Verbreitung antifaschistischer Kultur und Lehre dienend (natürlich ohne die Embleme von Reichsadler und Hakenkreuz). Diese Geräte waren in Ost-Berlin auf Anordnung der Behörde streng reglementiert: „Die Abgabe vom Einzelhandel an Bedarfsträger darf nur gegen Bezugschein erfolgen und zwar nur an Bedarfsträger, die ihren Wohnsitz im russischen Sektor haben.... Aussicht auf Erteilung eines Bezugscheines haben zur Zeit nur Personen, die Opfer des Faschismus oder blind sind oder ein Gerät aus beruflichen Gründen dringend brauchen." 67 Das über die neuen Volksempfänger im alten Gehäuse und andere, oft selbst gebastelte Geräte verbreitete Programm stand explizit wie implizit unter dem Gebot des .Antifaschismus'. Die aus Moskau und später aus anderen Ländern heimgekehrten Remigranten lieferten schon bald Beiträge mit Berichten aus ihren Exilländern bzw. über ihre eigenen Erfah206
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rungen, Erlebnisse und politischen Ansichten. Voraussetzung dafür, dass sie gesendet wurden, war eine indoktrinierende Tendenz. Hinzu kam der Bezug zur Arbeiterkultur. Texte linker, während der NS-Zeit verbotener Autoren wurden genauso geschätzt wie Stoffe und Themen der marxistisch-leninistischen Geschichtsphilosophie, im Besonderen, wenn in diesen sozialistische Lebenserfahrung und heldisches Kämpfertum eine gesellschaftliche Vorbildfunktion ausüben konnten. Musikalisch dominierten Volksmusik, Musik der sozialistischen Völker, Kampflieder der Arbeiterbewegung und der FDJ. Auch hier war weniger an Unterhaltung und Entspannung als vielmehr an die Heranbildung eines sozialistischen Hör-Erlebens gedacht; es galt „den Geschmack des einfachen Hörers zu formen, seinen Sinn fur melodische, klangliche und rhythmische Feinheiten zu entwickeln und seine Empfänglichkeit gegen alles Unechte und Kitschige zu steigern".68
Ein nächtliches Ereignis Meine Vorstellungen vom Radio sind sehr genau, sehr konkret, sehr differenziert. - Ich behaupte sogar, daß das Radio in einer bestimmten Phase einer der wichtigsten Gegenstände meines Lebens war. - Zeit und Ort sind dabei von allergrößter Bedeutung: zwischen 1947 und 1953, in Thüringen, in der DDR. Das war die Zeit meiner ersten Bekanntschaft mit dem Jazz, in einer Gegend, in der der Jazz zwar nicht ausdrücklich verboten war, aber doch allgemein als anstößig galt, als etwas, das gegen die Gesundheitsvorstellungen einer sehr mürrischen, ungemein langweiligen Kulturideologie verstieß. Diese Musik konnte ich nur im Radio kennenlernen und nur mit Hilfe des Radios hören. Schallplatten gab es kaum. - Wir alle wissen, daß eine Mangelsituation die Zuneigung zu den Objekten der Leidenschaft verstärkt: die Neigung zum Radio ist also zugleich die Neigung zum Jazz - und umgekehrt. Radio. Jazz. - Ich spreche da nicht von Radio Leipzig; ich spreche selbstverständlich von den Sendungen aus der Fremde; von Sendungen, die an den äußersten Rand des Programms gedrängt waren: Jazz war damals auch im westlichen Teil Deutschlands etwas eigentlich Unfeines, etwas leicht Verruchtes, Unanständiges. - Immerhin: Gegen Mitternacht war es möglich. Und aus diesem Grund ist das Radiohören bis heute für mich verbunden mit einer schönen einsamen Dunkelheit: mit der Nacht. Radio war ein nächtliches Ereignis. Es hatte etwas angenehm Gefährliches, etwas zart Unerlaubtes. Und die Dunkelheit war gewissermaßen Voraussetzung für ein konzentriertes und zugleich sinnliches Hörabenteuer.
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Ich glaube nicht, daß ich mich täusche, wenn ich behaupte: das Radiohören war ein besonderer Entzündungszustand; es vermittelte ein schwebendes Gefühl von Unabhängigkeit und von - verzeihen Sie bitte: von Freiheit. Ich meine nicht diesen aufgeschwemmten Feiertagsbegriff. Ich meine eine ganz kleine, beinahe rührend kleine Freiheit. Und ich meine einen sehr glücklichen Zustand im Kopf. Diese Radio-Knöpfe waren die wunderbarsten Knöpfe der Welt, mit denen man sich mühelos etwas Unerhörtes direkt aus der Luft ins Ohr drehen konnte: Charlie Parker, King Oliver, Stan Kenton oder Duke Ellington. Ror Wolf: Leben und Tod des Kornettisten Bix Beiderbecke aus Nord-Amerika. © 2002 by Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung GmbH, Frankfurt am Main, S. 271 f.
Musik der Moderne, soweit nicht als antifaschistisch klassifiziert, amerikanischer Jazz oder leichte Tanzmusik gehörten nicht zum bevorzugten Kulturgut. Die Programme ab Anfang der fünfziger Jahre standen im Zeichen der großen Debatten um .formalistische Kunst' und .sozialistischen Realismus'. Wie beim NS-Rundfunk der Frühzeit überwogen Ideologie und Politik; man nahm wenig Rücksicht auf die Erwartungen der Hörer. Selbst die Abendprogramme bestanden 1948 zu etwa 50 Prozent aus Wortsendungen; (1950 waren es .nur' noch 33 Prozent).69 Die Zeit zwischen 19 und 20 Uhr, in der am intensivsten Radio gehört wurde (ζ. B. im Programm des .Mitteldeutschen Rundfunks'), war durch Nachrichten, Tageskommentare, Programmhinweise bestimmt und wurde lediglich durch kurze Musikbrücken aufgelockert; um 21.30 Uhr folgten dann weitere Nachrichten und anschließend (sechs Mal in der Woche) ein viertelstündiger Beitrag „Probleme der Zeit". Alle Sendeformen politischer Information und Belehrung ließen journalistische Objektivität nach westlichem Maßstab vermissen; sie folgten in Auswahl, Diktion und Wertung einem von der Partei und den Zensoren vorgegebenen Grundmuster, nämlich der „Leitlinie sozialistischer Informationspolitik". .Parteilichkeit' war dafür der zentrale Begriff. Auch an Nachrichten wurde die Linie der Partei und deren marxistisch-leninistische Geschichtsauffassung demonstriert. Hörer und Hörerin sollten jeweils das in den einzelnen Ereignissen liegende ideologisch Exemplarische vermittelt werden. „Während der fünfziger Jahre wurde dann die sowjetische Formel der .Agitation durch Tatsachen' rezipiert, wie sie wohl durch Walerian Kujbyschew, einen engen Mitarbeiter Stalins geprägt worden und dann später gängig war: .Nachrichten sollen nicht nur diese oder jene Tatsache, dieses oder jenes Ereignis beleuchten, sondern sie müssen einen bestimmten 208
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Zweck verfolgen. ... Nachrichten sind Agitation mit Hilfe von Tatsachen'."70 Alle Nachrichten und Kommentare für die Landessender wurden zentral in Berlin erstellt; sie mussten unverändert übernommen werden. (Die Produktion erfolgte übrigens bis 1948 im britischen Sektor, im Funkhaus Masurenallee, später dann im Ostsektor, in Grünau.) Während die Westalliierten, ihrer demokratischen Grundüberzeugung entsprechend, großen Wert auf die Binnenpluralität der Meinungskommentare legten, also die Meinungsvielfalt bewusst förderten, war der SBZ-Rundfunk autoritär auf die kommunistische Ideologie ausgerichtet. Zu den derart geprägten Sendungen bzw. Programmangeboten gehörte die Flut von Beiträgen aller .Formate' und Längen, die sich mit der .vorbildlichen' Sowjetunion, der .musterhaften' deutsch-sowjetischen Brüderschaft, der kollektiven Planerfüllung, mit westlichen Kriegstreibern und ihren (west)deutschen Handlangern, mit der sozialistischen Abwehrbereitschaft und dem nimmermüden Kampf aller Werktätigen für Frieden und Gerechtigkeit in der Welt befassten. Dabei waren die jeweils aktuellen Parolen und Themen durch .Perspektivpläne' vorgegeben, die auf Beschlüssen von Parteitagen oder Sitzungen des ZK beruhten und jeweils sechs Wochen vor Sendung als verbindlich für die Redaktionen festgelegt wurden. Auf aktuelle Ereignisse konnte man somit kaum in einer dem Medium angemessenen Weise reagieren, doch war die Einheitlichkeit der Argumentation garantiert. Diesem Ziel diente zudem, dass - wie am Ende der Weimarer Republik der Reichsregierung - den Organen der deutschen Selbstverwaltung eine tägliche Sendezeit reserviert war, in der sie über die Ergebnisse ihrer Arbeit, über Anordnungen und vor allem über ihre Leistungen berichten konnten. Solche Selbstdarstellungen wurden in den ersten Monaten ergänzt durch eine regelmäßige Sendung, in der unter dem Titel „Was wir wissen müssen" die jüngsten Anordnungen der Alliierten Kontrollkommission für Berlin oder der SMAD verbreitet wurden. Der .Berliner Rundfunk' bot allerdings schon im Juli 1945 auch wieder Hörspiele an und engagierte sich seitdem - freilich keineswegs jenseits aller ideologischen Vorgaben - für diese radiotypische Sendeform. Als er am 8. Mai 1947 das eindeutig amerikafeindliche Hörspiel „Mister Smith schreibt ein Buch" ausstrahlte, beging er insofern einen sicherlich politisch abgestimmten Tabubruch, als es zu dieser Zeit in der Viersektorenstadt noch als ungehörig galt, einseitig Kritisches über eine der Besatzungsmächte zu veröffentlichen. Die sowjetische Besatzungsmacht versuchte - wie es auch die wesdichen Alliierten in ihren Sendern taten - das Radio-Publikum mit der Kul209
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tur ihres Landes vertraut zu machen. So war in den Programmen viel an Literatur und Dichtung, Musik und Folklore aus Russland zu finden. In der Sendereihe „Musik und Dichtung der Alliierten Nationen" wurde vor allem über russische und slawische Kultur gehandelt - aber zum Beispiel nie über die neuesten Entwicklungen in der amerikanischen Jazzszene. Die anfangs eher seltenen Dichterlesungen und Gespräche über Literatur stellten überwiegend ältere, zumeist weniger bekannte Autoren vor; alles, was der Moderne des 20. Jahrhunderts und erst recht dem Kreis der jungen Nachkriegsautoren im Westen, später etwa der .Gruppe 47', zuzurechnen war, fand keinen Platz. Der Rundfunk in der S B Z bot zudem Bildungsprogramme an, wie es sie schon im Rundfunk der Weimarer Republik gegeben hatte, etwa Sprachkurse fiir Russisch, Kurse für Stenographie, fur Briefmarkenfreunde oder Schachspieler; es gab Landfunksendungen, jedoch keinen Schulfunk. Und es gab Sendungen für die Kinder; Pfingsten 1947 veranstaltete der Kinderfunk die erste Ringsendung nach dem Kriege, an der sich 13 deutsche Rundfunkanstalten in allen vier Besatzungszonen beteiligten; sie war zugleich die letzte. Die sowjetische Rundfunkpolitik und bald auch die der S E D war als Teil eines kulturpolitischen Gesamtkonzepts zu sehen, das auf Antifaschismus' basierte und sich darin, zumindest verbal, nicht wesentlich von der westalliierten Doktrin unterschied. In der S B Z (und dann DDR) geriet Antifaschismus jedoch bald zur magischen Formel, mit deren Hilfe die Gesellschaft auf solidarisches Verhalten und den Kampf gegen den Klassenfeind eingeschworen werden sollte. Die Redeweise über den Antifaschismus trug die Merkmale des Mythos. „Der antifaschistische Mythos errichtet metasprachlich ein eigenes System: Aussagen zur Politik der SPD und KPD vor 1933, zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus, zu den .Lebensverhältnissen in den Konzentrationslagern' ... gerinnen im Mythos zur bloßen Form, die von einem Begriff, eben dem des .Antifaschismus', regiert wird. Dieser Begriffkann mit Roland Barthes als eine .unstabile, nebulose Kondensation' beschrieben werden, deren .Einheitlichkeit' und Kohärenz mit ihrer .Funktion', eben der Stiftung eines Mythos, zusammenhängen."71 In linken bzw. linksliberalen Kreisen des Westens fand die Energie, mit der in der S B Z die Uberwindung faschistischer Strukturen betrieben wurde, zunächst durchaus Anerkennung, zumal die bürgerlichen Parteien der S B Z den antifaschistischen Kurs mit großem Elan zu unterstützen schienen. So schrieb in Heft 2/1946 des .Aufbau', der vom .Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands' herausgegebenen Mo210
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natsschrift, der Ost-CDU-Politiker Ernst Lemmer - später in der BRD in verschiedenen Ministerämtern tätig -, dass sich unter den vier antifaschistisch-demokratischen Parteien eine Solidarität entwickelt habe, ohne die der Aufbau eines neuen Deutschland nicht möglich sei. Sozialistisch, aber mit gleichem Nachdruck demokratisch engagierten Kräften wurde jedoch bald klar, dass der Antifaschismus in der S B Z den Weg der Rechtsstaatlichkeit verließ und die Methoden stalinistischer Säuberungen übernahm. .Faschismus' wurde als Sammelbegriff verwendet: als Grund für die Ausschaltung oder Verfolgung Oppositioneller und Abweichler in den eigenen Reihen und generell für die Beseitigung der .Klassenfeinde'. Die Behauptung, es würden nur ehemalige Funktionäre der NS-Organisationen (also SS-Angehörige, HJ-Führer, Ortsgruppenleiter der NSDAP etc.) belangt oder Personen wegen Waffenbesitz, Anschlägen gegen die Besatzungsmacht und illegaler Mitgliedschaft verfolgt, entsprach nicht den Tatsachen; von Anfang an wurde systematisch die als potentieller Feind empfundene bürgerliche Elite isoliert und .dezimiert'. Die unter Anleitung der sowjetischen Geheimpolizei (NKWD) eingerichteten Lager glichen in vielem den früheren nationalsozialistischen Konzentrationslagern. „Die ersten KZs in Deutschland 1933 und die elf sowjetischen Speziallager, die es in der Zeit von 1945 bis 1950 mit ungefähr 240.000 .Klassenfeinden' gegeben hat, von denen schätzungsweise 95.000 während der Haft umgekommen sind, waren Institutionen einer vergleichbaren totalitären Mentalität. Je mehr über die sowjetischen Speziallager bekannt wird, umso brüchiger wird das kommunistische Erbe des Antifaschismus."72 Buchenwald etwa wurde einerseits als Ort heroischen Leidens und Widerstandes gefeiert, wobei man die Rolle der ,roten Kapos', die nach Meinung der das Lager befreienden Amerikaner direkt für einen großen Teil der Brutalitäten als verlängerter Arm der KZLeitung verantwortlich gewesen waren, ins Positive uminterpretierte; andererseits nutzte man das Lager bis 1950 für die neuen Staatsfeinde (13.000 Tote). Wie im Westen spielten auch im Osten die Kulturoffiziere - tätig in der Abteilung .Informationsverwaltung der sowjetischen Militäradministration in Deutschland', anfanglich .Abteilung für Propaganda' genannt eine wichtige Rolle. Dabei handelte es sich häufig um kompetente Persönlichkeiten, die der deutschen Kultur sehr nahe standen; man nannte sie die .Leningrader Fraktion' (in Hinblick auf Leningrad als Russlands herausragend westliche Stadt). Auf kulturellem Gebiet, so formulierte es Sergej Tulpanow, der Leiter der Kulturabteilung, „sehe ich unser Ver211
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dienst darin, daß wir dem deutschen Volk sowohl eine eigene progressive Kultur als auch die der ganzen Welt wieder erschließen oder - was die bürgerlich-humanistische und vor allem die sozialistische Literatur der Zeit zwischen 1930 und 1945 angeht - überhaupt kennenzulernen halfen".73 In ganz besonderer Weise sollte die humanistische Erneuerung Deutschlands durch den Ende Juni auf Antrag des Dichters Johannes R. Becher von der sowjetischen Militärkommandantur in Berlin genehmigten .Kulturbund' gefördert werden; (Becher hatte 1933 Deutschland verlassen und in der Tschechoslowakei, Frankreich und von 1935 bis 1945 in der Sowjetunion gelebt). Diese .Vereinigung der deutschen Intelligenz' in allen Zonen war von der Uberzeugung bestimmt, dass die deutsche Kultur unerschüttert sei und jeden bei seiner Arbeit zu stützen vermöge. Das Manifest des Kulturbundes sei, so Heinrich Mann, erfüllt von einem Geist, der an der alten Größe Deutschlands niemals gezweifelt und niemals nachgelassen habe, sie zu grüßen. Becher, als dem ersten Präsidenten, gelang es - in Absprache mit den sowjetischen Kulturoffizieren -, „die wohldurchdachte Konzeption für den Umgang mit den bürgerlichen deutschen Künstlern und Gelehrten in eine zunächst recht erfolgreiche Praxis umzusetzen".74 Das Schild .Uberparteilichkeit' sei, so Manfred Jäger, den traditionellen deutschen Vorstellungen vom Wesen der Kultur entgegen gekommen; der Schlüsselbegriff .Erneuerung' zielte zum einen auf die Wiedergewinnung guter Traditionen, auf die Wiederherstellung einer humanistischen Grundsubstanz; zum anderen wurde damit auf etwas Neues hin orientiert, etwa auf die Uberwindung des Widerspruchs zwischen Geist und Macht.75 Zu der ersten öffentlichen Kundgebung des Kulturbundes, am 3. Juli 1945 im großen Sendesaal des Berliner Rundfunkhauses an der Masurenallee, waren etwa 1500 Berliner und Berlinerinnen (vor allem Bewohner aus den westlichen Bezirken) gekommen; die Berliner Philharmoniker spielten Beethovens Egmont-Ouvertüre und das verabschiedete Manifest sprach von der „großen deutschen Kultur", die als „Stolz unseres Vaterlandes" wiedererweckt werden solle. Dazu müsse das deutsche Volk von allem reaktionären Unrat seiner Geschichte befreit und ihm die Möglichkeit gegeben werden, in die Gemeinschaft der Völker zurückzukehren. Es gelte, die besten Deutschen aller Berufe und Schichten in dieser schweren Notzeit deutscher Geschichte zu sammeln, um eine deutsche Erneuerungsbewegung zu schaffen und auch auf geistig-kulturellem Gebiet ein neues, sauberes, anständiges Leben aufzubauen. Ein kämpferischer Tenor - expressiv formuliert - bestimmte lediglich die Rede des Schriftstellers Bernhard Kellermann: Der Kulturbund werde alle, die fur die deutsche 212
Programm als Agitation
Fehlentwicklung verantwortlich seien, zu finden wissen, Dichter, Publizisten, Beamte, hohe Offiziere, Generäle, Bankiers oder allmächtige Industrielle. „Er wird euch an der Brust packen und die fürchterliche Frage ins Gesicht schreien: ,Warum habt ihr Deutschlands Ehre in den Schmutz getreten? Warum? Warum? Antwortet. Und seid verflucht." Demgegenüber forderte der Schauspieler Paul Wegener dazu auf, den „Geist Goethes wiederzubringen".76 Bei den Vorbereitungen zur Gründung des Kulturbundes in Frankfurt am Main - und das machte exemplarisch die Zustimmung weiter Kreise über die Zonengrenzen hinweg deutlich - beteiligten sich neben den Herausgebern der .Frankfurter Rundschau' der damalige Kommunist und spätere Sozialdemokrat Leo Bauer, der Germanist Professor Emst Beutler und der katholische Publizist wie Mitherausgeber der .Frankfurter Hefte', Walter Dirks. Johannes R. Becher reiste, für sein Projekt werbend, durch Deutschland; er war glücklich, seine Vaterstadt München wieder sehen zu können; in Oberbayern besuchte er Ernst Wiechert auf dessen Bauernhof. Der von Becher gleichfalls gegründete .Aufbau-Verlag' in Berlin publizierte bald darauf Wiecherts Buchenwald-Erzählung „Der Totenwald". Bei der Gründung des Kulturbundes in Stuttgart hielt Becher das einleitende Referat. Leiter der Veranstaltung dort war Theodor Heuss, der spätere erste Präsident der Bundesrepublik Deutschland. Unter den Bedingungen des Kalten Krieges sei der Kulturbund im Westen vor allem von den Amerikanern abgewürgt worden, konstatiert Frank Trommler.77 Das übersieht freilich - die Öffnung der sowjetrussischen Archive ermöglicht diese neuere Einsicht -, dass der Kulturbund von den führenden Kommunisten von vorneherein als .trojanisches Pferd' gedacht war. Walter Ulbricht hatte mit Stalin selbst dessen Gründung besprochen; die beabsichtigte Camouflage sollte kritische Einwände gegen den Kommunismus mit Hilfe einer Solidarisierungsstrategie ausschalten. „Dieser Kulturbund soll eine breite Massenorganisation sein, die nicht parteipolitisch abgestempelt ist. Wir haben also kein Interesse daran, wenn irgendwo ein solcher Kulturbund sich unter einem klar kommunistischen Firmenschild aufmacht. Damit ist uns gar nicht gedient... Der Kulturbund hat offiziell direkt mit der kommunistischen Partei nichts gemeinsam ..."78 Die erste zentrale Kulturtagung veranstaltete die .Kommunistische Partei Deutschlands' vom 3. bis 5. Februar 1946. Die Reden von Wilhelm Pieck, Vorsitzender der KPD (von 1949 bis zu seinem Tod 1960 Präsident der DDR) und Anton Ackermann, Mitglied des Zentralkomitees der KPD, propagierten im Geiste des Kulturbundes und seines sehr weit 213
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gefassten KulturbegrifFs die Notwendigkeit der freien Entfaltung wissenschaftlicher Forschung und künstlerischen Schaffens im Interesse des Volkes, sowie die Unterstützung aller, die zur demokratischen Erneuerung beizutragen gewillt seien; es gehe um die Brechung des Bildungsmonopols der besitzenden Klassen, die Erschließung aller Bildungsmöglichkeiten für das gesamte Volk und um die Veränderung der Bildungsinhalte im Rahmen einer demokratischen Schulreform. Doch konnte man den Nebentönen der Reden bereits entnehmen, dass die KPD eine hegemoniale Kultur anstrebte. Dies wurde dann bei der ersten Kulturtagung der S E D im Mai 1948 deutlich: man sprach von der Verschärfung der Klassenauseinandersetzung und setzte sich dezidiert mit der .bürgerlichen Ideologie' auseinander. „Otto Grotewohl hielt das Hauptreferat ,Die geistige Situation der Gegenwart und der Marxismus'. Er ging auf die wirtschaftlichen Grundlagen und die geistigen Wurzeln der faschistischen Ideologie ein, insbesondere auf die Rassenlehre, Nietzsches Herrenmoral und Spenglers .Untergang des Abendlandes'. Als Kriterium für den Wert einer Geisteshaltung bezeichnete er ihre Beziehung zu der geschichtlichen Wirklichkeit und damit zu den realen Kräften, die das Leben des Volkes gestalten. Otto Grotewohl wandte sich gegen den Existentialismus, weil dieser jede soziale Bindung ablehne und damit gewollt oder ungewollt zu Nietzsche zurückführe. Auf dem Kulturtag ging es also nicht mehr nur um eine Abrechnung mit der faschistischen Ideologie, sondern auch und vor allem um die nun dominierend gewordenen Strömungen der bürgerlichen Ideologie."79 Vor allem Walter Ulbricht erwies sich als ein Oberlehrer-Diktator, der Kunst und Kultur den eigenen Geschmack aufzuzwingen suchte. Sein Kleinbürgertum war bestimmt von einem Kulturbegriff, der sich zwar gegen Bürgertum und Faschismus wandte, aber mit deren Spießertum eine große Schnittfläche zeigte. Beim Kult des schönen neuen sozialistischen Menschen, der dem,Guten, Schönen und Wahren' verpflichtet sei, wurde das einer solchen marxistischen Heilslehre widersprechende ,Hässliche' bzw. .Entartete' abgewertet. Fortschrittsfroh sollten Künstler und Intellektuelle dafür sorgen, dass das Bild des Sozialismus in leuchtender Helle, in Kontrast zur dunklen, verderbten Welt des Kapitalismus, erstrahle. Als man in einer Dresdner Ausstellung für Industrie und Formgestaltung (1962) Vasen von Hubert Petras in der Bauhaus-Tradition ausstellte - das Beispiel ist symptomatisch für den Kunstbegriff Ulbrichts und seiner Gefolgschaft -, intervenierte er als Zentralsekretär der S E D wie Vorsitzender des Staatsrats unmutig, da die Kunstobjekte ohne Dekor und 214
Programm als Agitation
noch dazu weiß bzw. grau eine schreckliche Verarmung darstellten, also nicht dem sozialistischen Frischwärts und Vorwärts entsprachen; die Werktätigen wollten so etwas nicht. „Vor allem die Mitglieder des Berliner Ensembles entgegneten dem Staatsratsvorsitzenden mit Schärfe, was Ulbricht noch mehr empörte. Brecht hatte sie empfanglich gemacht fur die Schönheit des Einfachen. Der Dichter behauptete gern von sich, ihm seien alle Farben recht, wenn sie nur grau seien. Die Schauspielerin und Sängerin Gisela May meldete sich im ,Neuen Deutschland' zu Wort, weil sie einfache Formen schön finde. Sie schrieb: ,Wir alle lieben den Sozialismus. Ihm gehört unsere Kraft, unsere Begabung und das, was wir gelernt haben. Aber laßt uns auch graue und weiße Vasen und asketische Stühle'. Ulbricht fand das ganz und gar unmöglich und sah in dieser Diskussion eine Beeinflussung der Werktätigen durch die Intelligenz. In einer Rede brachte er das Vasenthema zur Sprache. Jetzt verstehen wir erst, daß es Kunstschaffende gibt, die die Kunstentwicklung standardisieren wollen, die bei der Gestaltung der Räume der Werktätigen auf graue Vorhänge u. a. orientieren wollen. Die Mehrheit der Werktätigen wird nicht in solchen langweiligen Räumen wohnen wollen. Sie wollen helle, freundliche Farben und geschmackvolle Vasen! Selbst Ernst Wollweber, bis 1957 Minister fur Staatssicherheit, sah einen typischen Charakterzug Ulbrichts darin, daß er dem Apparat eine Tendenz aufzwang, ,den Menschen sozusagen auf der Seele zu knien', ihnen alle möglichen Vorschrift ten zu machen, wie sie sich kleiden sollen, welche Haarfrisuren, wie sie tanzen sollen, wie sie ins Theater gehen und Ferien machen sollen, und das alles wurde firmiert als Erziehung. Ob die Ablehnung der grauen Vasen zu den Versuchen Ulbrichts zählte, die Intellektuellen zu disziplinieren, oder ob er hier einmal seinen persönlichen Geschmack zur Geltung bringen wollte, sei dahingestellt.''80 Eigenständig war Walter Ulbrichts kleinbürgerliche Kunst- und Kulturauffassung natürlich nicht; er war eben auch hier Statthalter der UdSSR, das heißt des dort dekretierten Menschenbildes; dieses sollte dem .formalistischen', dekadenten des Westens entgegen gestellt werden. Die Künstler, die Stalin als „Ingenieure der Seele" bezeichnete, hatten dementsprechend zu parieren und das bedeutete, zu .agitieren': in aggressiver Weise für das vorgegebene politische Ziel tätig zu sein. Trotz der Bemühungen von Johannes R. Becher, 1954 bis zu seinem Todesjahr 1958 der erste Kulturminister der DDR, eine gewisse Offenheit zu ermöglichen, war die strategische Linie durch die Intransigenz der Russen bestimmt. Als oberster Diplomat im Nachkriegs-Deutschland dirigierte Wladimir S. Semjonow, selbst im Hintergrund bleibend, die .Formalis215
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mus'-Attacken, die in Moskau von dem Kulturpolitiker Andrej A. Shdanow veranlasst wurden. Für diesen gab es nur zwei Kunst-Richtungen: Realismus und Formalismus; der letztere wurde mit westlicher Entartung gleichgesetzt. Was damit gemeint war, konnte man unzähligen offiziellen und offiziösen Stellungnahmen entnehmen. „Wir brauchen weder die Bilder von Mondlandschaften noch von faulen Fischen und ähnliches", erklärte Ulbricht in einer Rede am 1. November 1951; „die Grau-in-GrauMalerei, die ein Ausdruck des kapitalistischen Niedergangs ist, steht im schärfsten Widerspruch zum neuen Leben in der Deutschen Demokratischen Republik."81 Auch sozial engagierte Künstler, wie Käthe Kollwitz, verfielen dem Verdikt; sie hätten in ihrer Düsternis den Sozialismus nicht verstanden und seien somit kein Vorbild, meinte Shdanow. Mit besonderem Hass wurde der Expressionismus bedacht, da man hier den Ausdruck eines negativen, durch Pessimismus und Defaitismus geprägten deutschen Wesens zu erkennen glaubte - dem Verfall des alten Rom ähnlich. Demgegenüber erfuhr der .sozialistische Realismus' Lobpreisung: Er bedeute eine .wahrheitsgetreue', geschichtlich konkrete Darstellung der Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung. Der Künstler müsse sich zu Aufbau und Fortschritt bekennen und aller Melancholie eine Absage erteilen. Der sozialistische Realismus, mit dem Staat als Zensor, der durch ,Auftragskunst' die ihm huldigenden Künstler belohnte, erfuhr seit 1959 weiteren doktrinären Nachdruck. Auf dem sogenannten .Bitterfelder Weg' sollten die Künstler zusammen mit der Arbeiterklasse die Höhen der Kultur erstürmen und von ihr Besitz ergreifen. In einer Rede im Elektrochemischen Kombinat Bitterfeld verkündete nämlich Walter Ulbricht, dass die neue Form der sozialistischen Nationalkultur darin bestehe, dass Schriftsteller sich in den Betrieben auf Stoffsuche begäben, während der Platz der Arbeiter auch am Schreibtisch sei. („Greift zur Feder, Kumpel!") Freilich stellte selbst Ulbricht auf der zweiten Bitterfelder Konferenz im April 1964 fest, dass das Ringen um eine höhere Qualität nicht immer erfolgreich gewesen sei. Zudem bot der Bitterfelder Weg Schriftstellern und Intellektuellen die Möglichkeit, .abwegige' Gefilde zu erkunden. Loyal äußerte man, beim Sozialismus mitzumarschieren, schlug sich dann aber seitwärts in die Büsche. Im Januar 1963 veröffentlichte Günter Kunert in der Zeitschrift, Weltbühne' ein Gedicht, das lapidar die kulturpolitische Situation der SBZ/ DDR unter Walter Ulbricht umriss: nämlich „Erhellungsverbot". „Als unnötigen Luxus / herzustellen verbot was die Leute / Lampen nennen / König Tarsos von Xantos der / von Geburt / Blinde."82 216
Kulturfrühling in der Vier-Sektoren-Stadt
Berliner Luft - Kulturfrühling in der Vier-Sektoren-Stadt Berlin als eine in vier Zonen geteilte, dann zunehmend zwischen Ost und West aufgeteilte Stadt, wurde von den vier Besatzungsmächten (den Russen, Amerikanern, Engländern, Franzosen) kulturell als ein Aushängeschild bzw. Schaufenster von besonderer Art und Bedeutung empfunden. Das manifestierte sich zum einen im Rundfunk, fur den die konkurrierenden Systeme rasch optimale Sendemöglichkeiten schufen, und zum anderen in einem sehr anregenden und reichen Kulturleben, das wiederum viel Stoff fiir die Rundfunkberichterstattung bereit hielt.83 Wer Berlin 1945 erlebte, müsse sich wundern, wie schnell die Kultur dieser so schwer angeschlagenen Stadt ihre Sprache wieder fand: „Berlin ist nicht tot. In mancher Hinsicht ist es sogar lebendiger als Paris" notierte der im Juli 1945 gerade mit der amerikanischen Armee eingetroffene ehemalige Berliner Literat Peter de Mendelssohn; er fühlte sich „durch die Atmosphäre künstlichen Amüsements und hektischer Fröhlichkeit inmitten von Tod und Trümmern sehr an die Inflationszeit" erinnert. Die Intellektuellen in den Kulturabteilungen der westlichen Militärverwaltungen hätten neben den materiellen Vorteilen, die sie genossen, genügend Grund gehabt, die Berliner Besatzungszeit als die „reichste, vielfaltigste, spannendste" Phase ihres Lebens zu betrachten. Junge Männer, seltener Frauen, die am Anfang ihrer zivilen beruflichen Laufbahn standen und vielleicht nie über eine mittlere Position hinausgelangt wären, fanden sich nun in Leitungspositionen, von denen sie früher nur hätten träumen können. Statt als Redakteure waren sie als Zeitungsgründer tätig. Statt Buchmanuskripte zu lektorieren, vergaben sie Verlags-Lizenzen. Fünfundzwanzigjährige, die kaum Theatererfahrung besaßen, entschieden, wer eine Theaterlizenz erhalten sollte.84 Dazu kam die Gruppe der nun mit den westlichen alliierten Streitkräften zurückkehrenden Emigranten. Viele von ihnen waren in Berlin geboren und aufgewachsen. Im täglichen Umgang mit antifaschistischen deutschen Intellektuellen und aufgrund wieder angeknüpfter Kontakte zu Jugendfreunden und früheren Kollegen entwickelten sie konstruktives Verständnis für die Uberlebenden des Nazismus und eine besondere Behutsamkeit bei deren Beurteilung. Zudem trugen der Berliner Geist (,Herz mit Schnauze') und die in der ehemaligen Reichshauptstadt besonders ausgeprägte kulturelle Offenheit wie Neugier dazu bei, die Kreuzzugs-Mentalität abzubauen. Die kulturelle Amerikanisierung wurde im US-Sektor wie überhaupt im Westen der Stadt in ausgeprägtem Maße durch den Import von Holly217
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wood-Filmen befördert; und natürlich, angesichts der physischen Not, durch materielle Hilfsaktionen, allen voran durch die von den Vereinigten Staaten initiierte und zusammen mit den Engländern eingerichtete Luftbrücke während der sowjetischen Blockade Berlins vom Juni 1948 bis Mai 1949 (277.264 Flüge mit 1,83 Millionen Tonnen Gütern). Kultureller Frühling erblühte auch im russischen Sektor Berlins. Die noch lange nachwirkende Panik, verursacht durch die russischen Plünderungen und Vergewaltigungen - sie zittere noch nach drei Jahren unter den Arbeitern, notierte Bert Brecht im Oktober 194885 -, sollte durch kulturelle Aufbruchsstimmung überspielt werden. Orientiert an Stalins Leitspruch: „Die Hitler kommen und gehen, das deutsche Volk wird bleiben", bekam die sowjetische Besatzungspolitik unerwartet freundliche, fast könnte man sagen deutsch-freundliche Akzente. Im Wetteifer um den kulturellen Wiederaufbau dominierten sogar bis zur Teilung der Stadt die Russen, zumal sie in den zwei Monaten ihrer Alleinherrschaft von Mai bis Juli 1945 die Weichen für das künftige Geschehen gestellt hatten.86 Ein wichtiger Grund für den Erfolg ihrer Kulturpolitik war die Liberalität und der Pragmatismus, mit denen sie vorgingen. Von ihrer Strategie des „opening up instead of restricting" sprach Peter de Mendelssohn; zudem legten sie großen Wert auf eine enge Zusammenarbeit mit der kommunistischen Intelligenz, sowohl auf der Ebene des Parteiapparats als auch mit einzelnen Persönlichkeiten. „Da der aktivste Teil der Intelligenz in Berlin wie in ganz Westeuropa 1945 dem Kommunismus aufgeschlossen gegenüberstand, verfügten die Russen über einen Kreis hochqualifizierter Kollaborateure, wie keine der anderen Besatzungsmächte."87 Mit Geschick berücksichtigten sie das weite Spektrum zwischen konservativ-bürgerlicher Hochkultur und revolutionär-proletarischer Agitation. „Von den Nazis zum Sterben verurteilt, wurde uns Kultur zur größten Lebenshilfe", erinnert sich der 1929 geborene Manfred Wekwerth, später Regieassistent und Regisseur in Bertolt Brechts .Berliner Ensemble' (das er dann von 1977 bis 1991 leitete). „Es war eine zweite Menschwerdung, die viele meiner Generationen 1945 durchmachten. Dieses Erlebnis von der veränderten Macht der Kultur, wenn es um Überleben und mehr noch, wenn es um Leben geht, hat mich in meinem Glauben an die Vernunft sicherer gemacht."88 Gab es beim Kulturleben, zumindest in den ersten Jahren des Aufbruchs und Neubeginns, durchaus Gemeinsamkeiten zwischen Ost und West, so zeichnete sich im politischen Bereich bereits kurz nach Kriegsende die Verhärtung der Situation deutlich ab, besonders was die Organisation des Rundfunks betraf. Nachdem die Erwartungen der Briten 218
Kulturfrühling in der Vier-Sektoren-Stadt
und Amerikaner hinsichtlich der Mitgestaltung beim Programm des .Berliner Rundfunks' oder der Einrichtung eines gemeinsamen Senders der vier Alliierten sich nicht erfüllten - das Rundfunkgebäude in der Masurenallee hielt eine Spezialeinheit der Roten Armee bis Anfang der fünfziger Jahre besetzt -, verfestigte sich vor allem bei den amerikanischen Medienkontrolleuren die Auffassung, dass man sich mit den Sowjets kaum auf eine gemeinsame Rundfunkpolitik werde einigen können. Immer massiver nahm zudem die KPD, dann die S E D Einfluss auf die einzige in der Vier-Sektoren-Stadt vorhandene Rundfunkeinrichtung, eben den .Berliner Rundfunk'. Das führte dazu, dass die Westalliierten Gegenmaßnahmen ergriffen. Die Amerikaner eröffneten am 7. Februar 1946 in ihrem Sektor eine eigene Rundfunkeinrichtung, den .Drahtfunk im amerikanischen Sektor GmbH' (DLAS); technisch bedeutete dies, dass man nun ein siebenstündiges gemischtes Programm (täglich von 17 bis 24 Uhr), „mit nur geringer Vorbereitung", empfangen konnte. Im .Technischen Merkblatt' hieß es dazu: „Besitzen Sie noch Ihr Telefon? Nein? Schadet nichts. Ziehen Sie einen isolierten Verbindungsdraht, zum Beispiel Klingeldraht, von der Antennenbuchse Ihres Rundfunkgeräts zum Kabel des früheren Fernsprechanschlusses (falls der Telefonapparat noch vorhanden, zu einem seiner blanken Metallteile). Waren Sie nicht selbst Fernsprechteilnehmer, so war es vielleicht ein anderer Hausbewohner oder ein Nachbar, dann müssen Sie den Draht mit dessen Kabel verbinden. Wenn nötig, holen Sie sich beim nächsten Funkhändler, Techniker oder Bastler Rat." 89 DIAS konnte man etwas später auch über Langwelle empfangen. Das Programm bot eine beeindruckende Fülle: Zwischen regelmäßigen „Nachrichten aus aller Welt" und dem „SchauBoot auf der Spree" gab es viel Musik, von leicht bis klassisch, und auch Wortsendungen wie „Hörschule", „Sendespiel" und „Funkbretd". Nur bei zwei Angeboten war deutlich zu merken, dass sie das Ziel der .Umerziehung' durch Rundfunk verfolgten: „Die Stimme Amerikas" und „Das verbotene Buch". Wegen der empfangstechnischen Problematik des Drahtfunks und weil weitere Bemühungen um eine Vier-Mächte-Kontrolle des .Berliner Rundfunks' scheiterten, stellte die amerikanische Militärregierung ihr Drahtfunksystem um; das Programm konnte ab 5. September 1946 nun unter der Bezeichnung .Rundfunk im amerikanischen Sektor' (RLAS) über einen ehemaligen Militärsender auf Mittelwelle empfangen werden. Immer mehr wurden der RLAS (wie das Berliner Programm des NWDR) als freiheitliche Stimme gegen die Propaganda der „demokratiefeindlichen Kräfte" - gemeint waren die Sowjets und die S E D - ver219
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standen. Es begann über Berlin ein .Ätherkrieg'; da die Amerikaner ,RIAS Berlin' als Ausdruck ihres Beharrens auf dem Vier-Mächte-Status der Stadt begriffen, .legalisierten' sie den Sender nicht als deutsche Rundfunkeinrichtung. Unter den Bedingungen der zum Kalten Krieg eskalierenden Konfrontation gewann die Rundfunkpolitik der Westalliierten eine eigene Dialektik. Während sie den Rundfunk in ihren Besatzungszonen entpolitisierten, wiesen sie ihm in Berlin eine eminent politisch-kämpferische Funktion zu. Insbesondere der RIAS führte vor, dass auch in einer freiheitlich verfassten Gesellschaft der Rundfunk im Krieg der Ideologien nicht nur ein Schaufenster der Demokratie, sondern gleichermaßen ihr schärfstes Kampf- und Propagandawerkzeug sein konnte. Die Sendungen des RIAS waren dementsprechend an die Hörerschaft der gesamten SBZ/DDR gerichtet; (dort aber durch sowjetische Störsender oder DDR-Sender, ungenehmigt auf gleicher Frequenz, stark überlagert). Vorrangig ging es jedoch um die Menschen in West-Berlin; ihren Widerstandswillen galt es unter drastisch erschwerten Lebensbedingungen besonders zu unterstützen. Die Berliner waren herausgefordert, sich ihre Freiheit und ihren Mut zum Durchhalten zu bewahren, Optimismus inmitten der Trümmer ihrer Stadt zu zeigen und trotz der Versorgungsprobleme nicht in Resignation und Selbstmitleid zu verfallen. „Der Insulaner verliert die Ruhe nich, Der Insulaner liebt keenjetue nich!"
Mit diesem Refrain aus dem Titelsong, dem „Insulaner-Lied", schloss am 25. Dezember 1948 im RIAS die erste Sendung des Funkkabaretts „Günter Neumann und seine Insulaner". Aus den ursprünglich geplanten drei Folgen wurden in den nächsten Jahren einhundertneununddreißig im Hörfunk; (später kamen etliche im Fernsehen hinzu); nahezu alle westdeutschen Sender übernahmen sie. Es war die wohl populärste Sendung des RIAS, denn mit diesem intelligent-unterhaltsamen, durchaus auch aggressiven Kabarett im typischen Tonfall der .Berliner Schnauze', das seine Zeit treffsicher reflektierte und genau das aussprach, was die Menschen bewegte, identifizierten sich Berliner und Westdeutsche gleichermaßen. In der Geschichte des Rundfunks in Deutschland dürfte schwerlich eine andere Sendereihe zu finden sein, die so eindeutig einer politisch orientierten Funktion unterworfen und gleichwohl beim Publikum so populär war. 220
Radio für die Gis und deutschen Jazz-Fans
AFN - das Radio für die Gls und deutschen Jazz-Fans Ein ganzseitiger Einspalter auf der Titelseite der ,Stars and Stripes. Die Tageszeitung der US Armee auf dem europäischen Kriegsschauplatz' kündigte für den Sonntag, den 4. Juli 1943, den Programmstart der .American Forces Network' (AFN) an - eines Senders, der dann über Jahrzehnte auch in Deutschland sehr erfolgreich war. Pünktlich um 17.45 Uhr ging mit der amerikanischen Nationalhymne das Programm auf Sendung. Es sollte für die inzwischen 1,7 Millionen US-Soldaten, die sich in Großbritannien auf den D-day (die Invasion in Frankreich) vorbereiteten, ein „back home radio program" sein: Mit regelmäßigen aktuellen Nachrichten aus der Politik (von der britischen BBC und der Redaktion der Armeezeitung ,The Stars and Stripes' beigesteuert), mit Sportsendungen und vor allem mit vielen unterhaltsamen Radioshows, in denen die bekanntesten Stars der Heimat auftraten (von Bing Crosby bis Bob Hope). Und natürlich reichlich mit ganz auf den Geschmack der Gls ausgerichteter amerikanischer Musik. Zwar bot bis dahin schon die BBC an den Wochenenden spezielle Sendungen für die amerikanischen Soldaten an, gleichfalls mit Nachrichten, Sport und Musik. Aber diese lediglich halbstündigen Sendungen reichten nicht aus; weder befriedigten sie das Bedürfnis der Soldaten nach Neuigkeiten aus den USA, noch stillten sie deren Heimweh. Die Abneigung gegen den britischen Rundfunk war so ausgeprägt, dass nicht wenige Soldaten damals ihre Radios auf die deutschen NS-Propagandasender eingestellt haben sollen, weil sie durchaus viel aktuelle amerikanische Musik und damit ein wenig Heimatgefühl vermittelten. Die Frequenzen von AFN wurden zügig erweitert, so dass er bald nahezu überall für die auf der Insel stationierten US-Truppen zu empfangen war - außer in London selbst. Die Redaktion bestand zumeist aus Gls, die in ihrem Zivilleben schon einmal irgend etwas mit Radio zu tun gehabt hatten. Die technischen Einrichtungen, soweit nicht direkt aus Amerika bezogen, wurden durch ein Pacht- und Leihabkommen von der BBC gestellt. Schon ein Jahr später, nur vier Wochen nach dem D-day, gleichsam mit der kämpfenden Truppe, fasste im Juli 1944 A F N auf dem europäischen Festland Fuß und rückte dann mit der Front nach Osten vor. Nun waren die Programme auch von den deutschen Soldaten, die vor allem die Musik attraktiv fanden, zu hören. Bei Kriegsende hatte AFN eigene Sender in Frankreich, den Niederlanden, Italien, Osterreich und Deutschland installiert; sie waren zumeist als fahrbare Einrichtungen einer US-Armee zugeteilt. Daraus entstanden dann in der amerikanischen Besatzungszone für die Besatzungsstreitkräfte 221
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und ihre Familienangehörigen eigene AFN-Sender mit eigenen Frequenzen und eigenen Sendestudios. In Deutschland hatte wie in keinem anderen Land AFN mit seinen Stationen und Programmen durchschlagende Bedeutung und Langzeitwirkung.90 Im US-Besatzungsgebiet waren mit Bremen, Berlin, Frankfurt, Kassel, Nürnberg und München am Ende des Krieges sechs Armeesender tätig. Von diesen gewannen vor allem AFN München, AFN Frankfurt und AFN Berlin eine anhängliche Hörerschaft unter den jungen Deutschen; zudem beeinflussten sie mit ihren Programmen die Entwicklung der deutschen Sender. In München nahm AFN am 10. Juni 1945 seinen Betrieb auf. Der Sendemast war in der Kaulbachstraße 15, direkt neben der requirierten historischen Villa Kaulbach aufgestellt. In diesem aus jüdischem Besitz stammenden Gebäude hatte von 1937 bis Kriegsende der NS-Gauleiter Adolf Wagner seine Residenz gehabt; sie war mit einem eigenen Studio ausgerüstet, das eine Direktverbindung zu einem Außensender hatte, um Fliegeralarmmeldungen durchgeben zu können. „Guten Morgen. Hier ist AFN München, die Stimme der Siebenten Armee!" lautete die erste Ansage. Da in der Nacht zuvor aber General Patton mit seiner Dritten Armee die Kontrolle in der Stadt übernommen hatte, soll dieser deshalb beim Rasieren einen Wutanfall bekommen haben: Man müsse, tobte er, den Ansager vor ein Kriegsgericht stellen.91 AFN München zeichnete sich vor den anderen AFN-Sendern durch die überragende Qualität seiner Tonaufnahmen aus; denn im Studio des ehemaligen Gauleiters hatte die US-Mannschaft eines der neuen, in Deutschland entwickelten Oxyd-Tonbandgeräte gefunden, die eine wesentlich bessere Klangqualität als die bis dahin gebräuchlichen DrahttonAufnahmegeräte aufwiesen. Die wohl wichtigste Aufgabe von AFN München bestand in der Berichterstattung über die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse. Uber die Außenstelle Nürnberg wurde zwischen dem 20. November 1945 und dem 1. Oktober 1946 der gesamte Prozessverlauf übertragen und auf insgesamt 1970 Schallplatten, die heute im Nationalarchiv in Washington aufbewahrt sind, gespeichert. Auch die Amerikaner in Berlin ließen mit einem Sender nicht lange auf sich warten. Neben Frankfurt war AFN Berlin, der am 17. Juli 1945 die 27-Zimmer-Villa des ehemaligen Reichsaußenministers von Ribbentrop im vornehmen Dahlem bezog, der wohl populärste amerikanische Sender. Dazu trug insbesondere seine konsequent an den Unterhaltungs- und Informationsbedürfnissen seiner Hörer orientierte Programmkonzeption 222
Radio für die Gis und deutschen Jazz-Fans
bei. Aber auch seine geopolitische Lage, an einem der wichtigen Brennpunkte des Kalten Krieges, verschaffte ihm Gewicht dies- und jenseits des Eisernen Vorhangs. In den Zeiten der Luftbrücke von 1948/49 wurde der Sender wegen seiner aktuellen Informationen und des unbeugsamen Optimismus' seiner Sprecher wie Autoren fur Amerikaner und Deutsche zu einer wichtigen medialen Instanz moralischer Unterstützung. Von den Piloten der Tag und Nacht einfliegenden Militärmaschinen, denen der Sender bei der Orientierung half bis hin zu denjenigen, die ihn auch im Osten hörten, vom Flug-Bodenpersonal in Tempelhof bis zu den amerikanischen Präsidenten, die zu Wort kamen, von Elvis Presley bis Bing Crosby, die fur die Gis ein Stück Heimat und fur die Deutschen Öffnung in die Welt bedeuteten - AFN hatte als Repräsentant der westlichen Demokratien eine eminent politische Rolle übernommen, die weit über die Aufgaben der anderen Stationen in der US-Zone hinausging und bis zu seiner letzten Sendung am 15. Juli 1994 um 13 Uhr anhielt; (am selben Tag stellte auch der BFBS, der britische Militärsender in Berlin, sein Programm ein). Die deutsche Hörerschaft dankte den Gis hinter den Mikrofonen bei ihrem Abschied mit Hunderten von Briefen und Telefonanrufen. AFN Frankfurt, der am 15. Juli 1945 auf Sendung ging, war Hauptquartier für die Sender in Europa. Von hier aus ging die Berichterstattung über wichtige Ereignisse in Amerika über alle andere AFN-Sender, so über die Ermordung von John F. Kennedy 1963, von Martin Luther King und Senator Bob Kennedy 1968; zahlreiche Sendungen und Sendereihen, die in den USA beliebt waren, wurden von AFN Frankfurt direkt übernommen. Durchschnittlich 300.000 Hörerzuschriften im Jahr erhielt der Sender; seine Hörerschaft in aller Welt wurde auf über 50 Millionen geschätzt. Die fünfziger und beginnenden sechziger Jahre bezeichnet man ganz allgemein als die .goldene Ära' des Radios; das gilt auch für die AFN Programme. Damals kamen stilbildende Sendereihen in das Programm, die sich mehrere Jahre bzw. Jahrzehnte hielten. Die wohl populärste Sendung war „Music in the Air", die von 1945 bis 1976, also 31 Jahre im Programm war und zu Recht einen Platz in der Rundfunkgeschichte einnimmt. Auch die „Golden Days of Radio", eine andere beliebte Unterhaltungssendung, hat bis heute deutliche Spuren in deutschen Programmen hinterlassen. Für die amerikanischen wie zumeist jungen deutschen Hörer war das eigentlich Entscheidende der AFN-Programme ihre zweifellos stilbildende Musik und die Art ihrer Präsentation. Eine unverwechselbare, nur scheinbar improvisierte Leichtigkeit im Sprechstil charakterisierte die Moderatoren und gab den Sendungen ein klar erkennbares akustisches Profil, das sich von anderen Sendern deutlich abhob. Die Hörer wurden informiert und 223
Besatzungszeit· 1945-1949
nicht belehrt, ohne peinliche Anbiederung auf eine Weise angesprochen, die zeigte, dass Radio hinter dem Mikrofon ebenso viel Spaß wie vor dem Lautsprecher machte. Sympathisch-fröhlich und zwanglos-locker sprachen Soldaten über Rundfunk zu ihren Kameraden und deren Angehörige: Sie vermittelten Nähe statt Distanz und schufen zwischen Sender und Hörern das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Der AFN-Stil wurde auch für eine jüngere Generation von Moderatoren in den deutschen Sendern prägend; bald war es zu ersten Imitationen gekommen, die freilich bei manchen Sendern peinlich (da zu „gewollt", allzu „verkrampft") daneben gingen. An sich waren die Deutschen als Hörergruppe durch AFN gar nicht direkt angesprochen. Dies war Aufgabe der ,Voice of America' und von .Radio Free Europe' als von der Regierung geführte Auslands-Propagandasender; diese verfügten über wesentlich größere Geldmittel, hatten jedoch deutlich weniger Hörer. AFN brachte mit seinen vielen Musik- und Unterhaltungssendungen den Jazz nach Deutschland zurück, machte zudem Blues und Country, Western und Rock' n' Roll bekannt. Die Bedeutung von AFN Frankfurt in diesem Zusammenhang war vor allem dadurch gegeben, dass in der Rhein-Main-Region viele amerikanische Militärstützpunkte sich befanden, so die ,US Rhein-Main-Air-Base', und die Stadt selbst Standort des Hauptquartiers der amerikanischen Truppen in Deutschland (unter dem Befehl von Dwight D. Eisenhower) sowie Sitz der 5. amerikanischen Armee war untergebracht im ehemaligen Verwaltungsgebäude der IG Farben, das deshalb .europäisches Pentagon' genannt wurde. Im Umfeld der Kasernen gab es an die 25 US-Army-Clubs. In diesen kam es zur direkten Begegnung deutscher Jazzmusiker mit der amerikanischen Musikkultur. Für viele Frankfurter Musiker „war die Nähe der Amerikaner ein Glücksfall, die Chance, amerikanische Kultur hautnah zu erleben. Der deutsche Jazz ist nicht denkbar ohne die Kontakte, die Deutsche und Amerikaner insbesondere in der direkten Nachkriegszeit zusammenbrachten und die deutschen Musiker durch eine Art musikalische Lehre gehen ließ."92 .Entwicklungshilfe' für den Jazz ergab sich ferner durch die Zusammenarbeit von AFN und dem .Hessischen Rundfunk'. So spielte .Radio Frankfurt', der spätere ,Hessische Rundfunk' - neben .Radio Munich' - seit Programmbeginn eine zentrale Rolle bei der Begegnung zwischen deutschen und amerikanischen Jazzmusikern. Schon am 17. Mai 1945 hatte AFN Frankfurt ein erstes Jazzkonzert ausgerichtet und startete anschließend die Sendung „Der Jazzclub von Radio Frankfurt". Dass sich angesichts solcher günstigen äußeren Rahmenbedingungen Frankfurt zum Zentrum des neuen Jazz im Nachkriegsdeutschland entwickeln konnte, war schließlich einer 224
Radio für die Gis und deutschen Jazz-Fans
Gruppe junger Jazzmusiker zu danken; (schon in der NS-Zeit, seit 1941, hatte es eine eigene Formation, die sich „Hot-Club Combo" nannte, gegeben). Zu ihr gehörten die Pianisten Hans-Otto Jung und Günter Boas, die Brüder Carlo und Albert Mangelsdorffj der Trompeter Carlo Bohländer, der Saxophonist Paul Martin und der Schlagzeuger Horst Lippmann; sie halfen nicht nur, den Jazz in Deutschland durchzusetzen, sondern entwickelten einen eigenen, später weltweit anerkannten Jazz-Stil. In unterschiedlichen Formationen und Besetzungen wurden sie und ihre Freunde als deutsche Jazzmusiker aus dem Rhein-Main-Gebiet in die amerikanischen GI-Clubs eingeladen und dort auch eingesetzt. In der Begegnung mit amerikanischen Ensembles und Stars erarbeiteten sich die deutschen Musiker ihre Professionalität und ihren Ruf. „Die GI-Clubs waren wie eine Schule, in der man nachweisen musste, daß man die Sprache des authentischen Jazz beherrschte, bevor man als Jazzmusiker ernst genommen werden konnte."93 Die Zusammenarbeit des .Hessischen Rundfunks' mit AFN führte dazu, dass der HR etwa Material fur seine Jazzsendungen in Form von Mitschnitten oder Live-Ubertragungen aus den GI-Clubs bezog; oder es spielten amerikanische Musiker im Programm des HR (und deutsche Musiker bei AFN). Aus solcher Kooperation ging 1953 das erste Deutsche Jazzfestival in Frankfurt hervor, das heute als das weltweit älteste Jazzfestival gilt. In den damals noch nach Rang und Rassen getrennten Clubs der Armee hörten freilich die Offiziere in ihren Casinos lieber schnulzige Oldies und Tanzmusik. So konzentrierte sich die Begeisterung fur Jazz, seinen Wurzeln entsprechend, denn wohl eher auf die für farbige Gis reservierten Clubs; von hier gingen zumeist die Impulse aus. Bei den Programmverantwortlichen in den deutschen Sendern gab es keineswegs einhellige Begeisterung fur eigene Jazzsendungen; diese galten als Störfaktoren im Programm, da man mit ihnen nur eine kleine Minderheit ansprechen, aber die Mehrheit der Hörerschaft leicht verlieren konnte. Andererseits bestand zu jener Zeit des Neuanfangs ein Mangel an politisch unverdächtigen Programmbeiträgen. So konnte man sich mit den als unbedenklich eingestuften Jazzsendungen bei den Kontrolloffizieren zumindest beliebt machen; und es bestand beim Jazz - ebenso wie bei moderner Kunst und Musik - nach den Jahren des Verbots ein .Wiedergutmachungszwang'. Jüngere Musikredakteure in den Sendern, wie Olaf Hudtwalcker beim HR, und Joachim Ernst Berendt beim SWF in Baden-Baden, zeigten freilich mehr Mut und vertrauten den jüngeren Hörern. Sie boten zu Zeiten regelrechte Einfiihrungskurse fur den Jazz an, mit Sendungen über seine Geschichte, seine Spielarten und Gattungen, seine Interpreten und kom225
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positorischen Grundlagen. Schließlich unterstützte sogar der Intendant des .Hessischen Rundfunks', Eberhard Beckmann, öffentlich den Jazz, als er bei Gelegenheit des 6. Deutschen Jazzfestivals die „German Allstars" als das künftige Jazzensemble des HR unter Albert Mangelsdorff vorstellte. Dieses Ensemble besteht übrigens noch heute unter gleicher Leitung; Mangelsdorff gilt inzwischen auch als der international berühmteste deutsche Jazzposaunist. Den Erfolg von AFN spiegelt ein Bericht an den amerikanischen Kongress vom April 1962 über die amerikanischen Radioprogramme in Ubersee; die Ansager und Discjockeys dieses Senders würden einen stärkeren und nachhaltigeren Eindruck auf die ausländischen Hörer erzielen als die , Voice of America'. „Der human touch ist einer der häufig genannten Gründe fiir die Popularität, die AFN bei seinen Randhörern genießt. Eine deutsche Quelle charakterisierte ihn als ,den einzigen Sender, der sich am bereitwilligsten den besonderen Wünschen seiner Hörer öffnet. Er reagiert wesentlich schneller und mit weniger Einschränkungen als deutsche Sender'."94 Vor allem drei Gründe können rückblickend fiir die nachhaltige, auch kultur- und rundfunkgeschichtliche Bedeutung von AFN bis in die Gegenwart hinein angeführt werden: Die jungen Deutschen verstanden die englische Sprache besser als ihre Eltern; angeboten wurde ein leicht zugängliches Programm mit sehr viel Improvisation und einer unverbildeten Moderation; das Programm enthielt weder Werbung noch Propaganda oder Zensur. Hinzu kam, dass AFN seit den sechziger Jahren auf den Programm-Skalen der Rundfunkgeräte aufgeführt war und viele deutsche Rundfunkzeitschriften seine Programme ausgedruckten. Als Mitte der achtziger Jahre in Deutschland die ersten kommerziellen Radios auf Sendung gingen, zielten sie mit ihren Programmen vor allem auf die von den öffentlich-rechtlichen Sendern eher vernachlässigten jüngeren Hörer, die von AFN noch musikalisch sozialisiert und geprägt waren und inzwischen zu der fiir die Werbung interessanten Zielgruppe gehörten. Sie übernahmen weitgehend den charakteristischen AFN-Stil mit der breiten Palette populärer Musik, zumeist aus Charts und Hitparaden, und die lockere Ansage bei Nachrichten, Verkehrsmeldungen, Unterhaltung. Gleichsam zur AFN-Hinterlassenschaft kann man zählen, dass verschiedene deutsche Sender bis heute Sendeformen in ihren Programmen pflegen, die AFN eingeführt und bis zum Ende im Programm hatte; so zum Beispiel hr4 mit „Musik liegt in der Luft"; diese Sendung ist bis in die Titelübersetzung eine Fortsetzung der über Jahre erfolgreichen AFN-Schau „Music in the Air". Und nahezu alle deutschen Sender folgen mit ihren sogenannten „Jungen Wellen" dem Präsentationsstil und Musikkonzept von AFN. 226
Daten zur Geschichte des Rundfunks 1945-1949
Keine Zeit für Sendepausen. Daten zur Geschichte des Rundfunks 1945-1949 1945
2. Mai: Die sowjetische Armee besetzt das ,Haus des Rundfunks' an der Masurenallee in Berlin-Charlottenburg, im späteren britischen Sektor der Stadt. 8. Mai: Kapitulation der deutschen Wehrmacht in Reims; am 9. Mai in Berlin-Karlshorst. In den folgenden Monaten nahmen in den Besatzungszonen zumeist Militärsender der Westalliierten Siegermächte den Sendebetrieb auf: 4. Mai:,Radio Hamburg. Ein Sender der britischen Militärregierung'. 12. Mai: .Radio München. Ein Sender der amerikanischen Militärregierung'. 13. Mai: .Berliner Rundfunk' im sowjetisch besetzten Großberlin. 3. Juni:,Radio Stuttgart' (Amerikanische Zone). 4. Juni: .Radio Frankfurt' (Amerikanische Zone). 22. September: .Sender Leipzig' als Relaissender des .Berliner Rundfunks'. 25. September: .Nordwestdeutscher Rundfunk' (Britische Zone) mit den Sendern Hamburg (4. Mai), Köln (26. September), Hannover (21. Januar 1946), Berlin (8. Juni 1946). 14. Oktober: .Radio Koblenz' (Französische Zone). 21. November: Gründung des .DIAS Berlin' (.Drahtfunk im amerikanischen Sektor'). Sendebeginn am 7. Februar 1946. 22. November: .Sender Nürnberg' (Amerikanische Zone). 1. Dezember: .Landessender Weimar' (Sowjetische Zone). 7. Dezember: .Landessender Dresden (Sowjetische Zone). 23. Dezember: .Radio Bremen' (Amerikanische Enklave in der Britischen Zone). 24. Dezember: .Landessender Schwerin' (Sowjetische Zone). 17. März 1946: .Radio Saarbrücken' (Französische Zone). 31. März 1946: .Südwestfunk' in Baden-Baden (Französische Zone) mit den Sendern in Koblenz und Saarbrücken. 5. Juni: Die Regierungen der vier alliierten Siegermächte übernehmen die oberste Regierungsgewalt in Deutschland. Artikel 9 der alliierten „Erklärung in Anbetracht der Niederlage Deutschlands" tritt in Kraft: u. a. Verbot jeder Art eines deutschen Sendedienstes. Die Zonenbefehlshaber übernehmen auch die Rundfunkhoheit. 9. Juni: Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) fur die sowjetische Besatzungszone. 11. Juni: Der amerikanische Armeesender .American Forces Network* (AFN) eröffnet in München seine erste deutsche Rundfunkstation. Juli: Die deutsche Post zieht wieder die Rundfunkgebühr von 2 Mark ein. 7. Juli: Alliierte Kommandantur für Berlin. 30. August: Alliierter Kontrollrat für Deutschland konstituiert sich in Berlin.
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20. November: Der ,Sender Leipzig' firmiert - wie in der Weimarer Republik - als .Mitteldeutscher Rundfunk · Gesellschaft mbH' (Mirag) und nimmt seinen Sendebetrieb über die Landesstudios in Sachsen, SachsenAnhalt und Thüringen auf. 20. November: Vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg beginnt der Prozess gegen die NS-Hauptkriegsverbrecher; er wird aufgrund der täglichen Berichterstattung in allen deutschen wie internationalen Sendern und Zeitungen zu einem Medienereignis. 21. November: In Berlin gründet die amerikanische Militärregierung den DIAS, nachdem ihr die sowjetische Militärregierung eine eigene Sendezeit im .Berliner Rundfunk' verweigert hatte und Verhandlungen über ein gemeinsames, einheitliches Rundfankprogramm der Alliierten für Berlin gescheitert waren. 22. November: Der .Sender Nürnberg' beginnt unter amerikanischer Leitung auf der Frequenz von .Radio München' mit der Berichterstattung vom Nürnberger Kriegsverbrecherprozess. 21. Dezember: In Berlin wird der Rundfunk von der Abteilung Propaganda der SMAD an die .Deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung' (DZVfV) übergeben; die Zensur durch die S M A D bleibt (bis 1949) bestehen. 23. Dezember: .Radio Bremen' nimmt als Sender der amerikanischen Militärregierung mit einer zweistündigen Übernahme von AFN, dem Armeesender der US-Streitkräfte, als Abendprogramm seinen Betrieb auf. Infolge andauernder Auseinandersetzungen mit der britischen Militärregierung über den Status des Senders in ihrem Besatzungsgebiet bleibt dieser bis auf weiteres unter amerikanischer Militärverwaltung. 24. Dezember: Der .Sender Schwerin' wird in Betrieb genommen. 1946
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7. Februar: Die Amerikaner eröffnen den Berliner DIAS über das Berliner Telefonnetz mit einem siebenstündigen Programm, das 13 Prozent der Radiohörer erreicht. 17. Februar: Gründung des .Bayerischen Rundfunks'. Der Entwurf eines Rundfankgesetzes mit stark zentralistischen Zügen wird von der amerikanischen Militärregierung abgelehnt. Erst im Herbst 1948 verabschiedet der Landtag in München das „Gesetz über den Bayerischen Rundfunk als Anstalt des öffentlichen Rechts". 17. März: .Radio Saarbrücken' beginnt unter französischer Leitung seinen Sendebetrieb fur das von Deutschland abgetrennte Saargebiet mit einem Programm, zunächst (für das Militär der Besatzungsmacht) in französischer, später auch in deutscher Sprache. 31. März: Der ,Südwestflmk' in Baden-Baden mit den Sendern in Koblenz und Saarbrücken beginnt - als letzter Besatzungssender - seinen regelmäßigen Programmdienst fur die gesamte französische Zone in Deutschland. 14. Mai: Amerikanische Informationsoffiziere legen einen „Entwurf zu einer Erklärung über Rundfünkfreiheit in Deutschland" vor, nachdem
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erste Entwürfe von deutscher Seite für neue Rundfünkrichtlinien von der Militärregierung abgelehnt worden waren. 4. Juni: Der ,Sender Leipzig' sendet ein eigenes Programm. 8. Juni: Auf Beschluss der britischen Besatzungsmacht geht der NWDR Berlin auf Sendung, zunächst über Drahtfunk und ab 17. August über Mittelwelle. Ab Februar 1948 sendet er ein Sonderprogramm für Berlin. 20. Juni: Der .Landessender Potsdam' nimmt als Zweigstelle des .Berliner Rundfunks' seinen Betrieb auf. 15. August: Gründung der .Generalintendanz des Deutschen Demokratischen Rundfunks' für die Sender in der sowjetischen Besatzungszone; Generalintendant wird der Intendant des .Berliner Rundfunks', Hans Mahle. 5. September: Der DIAS wird als RIAS (.Rundfunk im amerikanischen Sektor') ausgebaut, nachdem im August ein weiterer Versuch der Amerikaner gescheitert war, den .Berliner Rundfunk' unter Vier-Mächte-Kontrolle gemeinsam zu führen. 15. September: .Radio Saarbrücken' wird im Zuge der französischen Saarpolitik aus dem .Südwestflink' ausgegliedert. Ein eigener Verwaltungsrat mit 9 Mitgliedern französischer Staatsangehörigkeit wird eingerichtet; (er bestand bis 1948). Auf Befehl der französischen Militärregierung (Verordnung Nr. 46 vom 24. Juni 1946) wird für das Saargebiet ein selbstständiges .Rundfünkamt' geschaffen, dem die Leitung des Senders und aller Rundfiinkeinrichtungen sowie die Hoheitsrechte der Post übertragen wird. 30. September-1. Oktober: Urteilsverkündung beim Nürnberger Prozess gegen die NS-Hauptkriegsverbrecher. 21. Oktober: Das erste Originalhörspiel der Nachkriegszeit wird vom NWDR Hamburg gesendet: Otto Starckes „Der Held". 24. Dezember: Der .Landessender Halle' des .Mitteldeutschen Rundfunks' geht auf Sendung. 1947
1. Januar: Bildung der .Bizone' durch Vereinigung der britischen und der amerikanischen Besatzungszone. Der NWDR eröffnet eine .Rundfunkschule' zur Ausbildung von Rundfunkredakteuren. 13. Februar: Der NWDR sendet Wolfgang Borcherts Heimkehrerstück „Draußen vor der Tür". 8. Mai: Mit der Hörspielfassung des antiamerikanischen Theaterstücks „Mister Smith schreibt ein Buch" verletzt der .Berliner Rundfunk' die ungeschriebene Vereinbarung der vier Mächte, sich gegenseitig zu respektieren. 9. Juni: Erste gemeinsame Tagung der Rundfunkintendanten der drei westlichen Besatzungszonen in Stuttgart; Beginn der regelmäßigen Sitzungen. Themen: Urheberverträge, Beziehung zur Post. 8. September: Der .Bayerische Rundfunk' beginnt mit der Ausstrahlung von Schulfunksendungen.
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12. September: Die amerikanische und britische Militärregierung beschließen gemeinsam, die Sender von der Post den Rundfiinkanstalten zu übergeben; der NWDR übernimmt das Sendernetz der Post in Eigenregie. 16.-18. September: Rundfunkvertreter aller deutschen Sender tagen in München; zum ersten und letzten Mal nehmen Vertreter der sowjetischen Besatzungszone an der Sitzung teil. 20. September: Hans Bredow, bis 1933 Reichsrundfunkkommissar des Postministeriums, schlägt als Vorsitzender des HR-Verwaltungsrats die Gründung einer „Arbeitsgemeinschaft Deutscher Rundfunk" vor. Auf einer gemeinsamen Tagung von Intendanten und Gremienvorsitzenden am 7. und 8. Dezember stellt Bredow seinen Entwurf vor, der von den Intendanten entschieden abgelehnt wird. 4.-8. Oktober: Erster Deutscher Schriftstellerkongress nach Kriegsende in Berlin. 15./ 16. Oktober: Die britische Militärregierung legt einen Entwurf für Statut und Satzung des NWDR vor. 16. November: ,Radio Saarbrücken' wird durch Verordnung Nr. 124 des französischen Oberkommandos dem Oberbefehl des französischen Generalgouverneurs für das Saargebiet, Gilbert Grandval, direkt unterstellt. 21. November: Lucius D. Clay, Militärgouverneur fur die amerikanische Besatzungszone, verbietet der Post die Beteiligung am Rundfunk, ausgenommen den Gebühreneinzug, die Bereitstellung von Kabeln und das Betreiben eines Entstördienstes. Sender und Studios der Post müssen bis zum 15. Dezember (später verlängert bis 15. März 1948) entschädigungslos an die Landesregierungen fur deren Sender übergeben werden. 9. Dezember: Hans Bredow verhandelt als Vermittler der Post zusammen mit Kurt Magnus, Ministerialdirektor im hessischen Wirtschafts- und Verkehrsministerium, mehr als ein Jahr lang mit den Landesregierungen über die Ausfuhrung des Clay-Befehls vom 21. November. 1948
Nach Aufforderung durch die Militärgouverneure verabschieden die meisten Landesparlamente zwischen Januar 1948 und Oktober 1949 in den westlichen Besatzungszonen eigene Rundfankgesetze, durch die ihre Sender den Status von unabhängigen .öffentlich-rechtlichen Anstalten' unter deutscher Verantwortung erhalten. 1.1.1948 1.10.1948 1.10.1948 30.10.1948 15.3.1949 12.5.1949
Nordwestdeutscher Rundfunk (NWDR) Hessischer Rundfunk (HR) Frankfurt Bayerischer Rundfunk (BR) München Südwestfunk (SWF) Baden-Baden Radio Bremen (RB) Süddeutscher Rundfunk (SDR) Stuttgart
Übergabe: 30.12.1947 Übergabe: 28.1.1949 Übergabe: 25.1.1949 Übergabe: 16.7.1949 Übergabe: 5.4.1949 Übergabe: 22.7.1949
1. Januar: Hugh Carleton Greene, im Krieg Leiter des .Deutschen Dienstes' der BBC und bisher .Chief Controller' des Senders, wird erster Generaldirektor des NWDR. 230
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1. Januar: Der .Südwestfunk' in Baden-Baden erhält eine Geschäftsordnung als „für die gesamte französische Besatzungszone Deutschlands eingesetzte Rundfunkstation"; dem zufolge gehörte der Sender an der Saar nicht zur Besatzungszone. 1. Februar: Der RIAS Berlin beginnt als erster Sender in Deutschland nach dem Krieg mit Werbesendungen. 20. März: Die Sowjetunion stellt ihre Arbeit im .Alliierten Kontrollrat' ein. 1. April: Beginn der Berlin-Blockade wegen der Einführung der Deutschen Mark auch in West-Berlin. Die Sowjets sperren den Personen- und Güterverkehr zwischen Berlin und den westlichen Besatzungszonen. 24. Juni: Der RIAS weitet wegen der Berlin-Blockade seine Sendezeit auf 22 Stunden täglich aus. 25. Juni: Auf der .Kopenhagener Wellenkonferenz' (bis 15. September) behält Deutschland, vertreten durch die Besatzungsmächte, nur ein .technisches Minimum' an Frequenzen auf der Mittel- und Langwelle; die Leistung der verbleibenden Sender wird eingeschränkt. Zum Ausgleich erfolgt die Entwicklung und der verstärkte Ausbau der UKW-Sender in den Westzonen. 26. Juni: US-General Lucius D. Clay organisiert auf eigene Initiative eine englisch-amerikanische Luftbrücke, die West-Berlin mit Lebensmitteln und Kohlen versorgt. 6. Juli: Der RIAS bezieht in Berlin-Schöneberg ein eigenes Funkhaus als ein amerikanischer Sender auf deutschem Boden, unter einem amerikanischen Aufsichtsgremium und mit einem deutschen Intendanten. Nach Ausbau des Senders kann sein Programm in ganz Berlin und der Sowjetischen Besatzungszone gehört werden. 13. August: Der NWDR-Verwaltungsrat beschließt die Aufnahme des Fernsehversuchsbetriebs; seine Finanzausstattung ermöglicht dem Sender die entsprechende Forschungs- und Entwicklungsarbeit. 8. September: Adolf Grimme, Kultusminister in Niedersachsen, wird in der Nachfolge von Hugh Carleton Greene Generaldirektor des N W D R . 3. Oktober: Der .Deutschlandsender' (DS) beginnt als drittes Hörfiinkprogramm in der sowjetischen Besatzungszone seine Sendungen. 30. Oktober: Der .Südwestfunk' erhält - zum 25-jähirgen Jubiläum des Rundfunks in Deutschland - von der französischen Militärverwaltung ein Statut als öffentlich-rechtlicher Sender „unter der Kontrolle der Organe des französischen Oberkommandos in Deutschland", mit dem Recht auf Selbstverwaltung und auf den Betrieb von Rundfunkeinrichtungen. 16. Dezember: Der französische Stadtkommandant lässt die Sendetürme des Ost-Berliner Rundfunks in Tegel wegen Behinderung der Luftbrücken-Flüge sprengen. 25. Dezember: Im Berliner RIAS beginnt die Kabarett-Sendereihe „Günter Neumann und seine Insulaner", die der Berliner Bevölkerung in Zeiten der Blockade Mut machen soll; sie ist Teil der amerikanischen psychologischen Strategie angesichts des West-Ost-Konflikts.
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28. Februar: Der erste UKW-Sender in Europa wird vom .Bayerischen Rundfunk' in München-Freimann in Betrieb genommen. 1. März: Der UKW-Sender des NWDR geht in Betrieb. 8. April: Die ,Bizone' wird durch Einbeziehung der französischen Besatzungszone zur .Trizone' erweitert. 20. April: Die amerikanische Militärregierung verfugt mit ihrem Gesetz Nr. 19 für ihre Beatzungszone die entschädigungslose Enteignung der Postsender. 1. Mai: Wenige Tage vor Gründung der Bundesrepublik beginnt der .Deutschlandsender' in Ost-Berlin mit einem fur die westlichen Zonen bestimmten Programm. 8. Mai: Der Parlamentarische Rat verabschiedet das „Grundgesetz fur die Bundesrepublik Deutschland", das am 12. Mai von den Militärgouverneuren der westlichen Besatzungszonen genehmigt wird. 14./ 24. Mai: Der NWDR und die .Deutsche Post' schließen einen .Freundschaftsvertrag' über gegenseitige Unterstützung und Zusammenarbeit, durch den die britische Verordnung Nr. 118 .verändert' wird. 24. Mai: Um Null Uhr tritt das „Grundgesetz fur die Bundesrepublik Deutschland" in Kraft. In Artikel 5 wird erstmals in einer deutschen Verfassung die Meinungsfreiheit garantiert; diese umfasst auch die Presse-, Rundfunk- sowie Filmfreiheit und als Grundrecht die Informationsfreiheit. Für den Rundfunk gelten alliierte Vorbehaltsrechte bis zum Abschluss des Deutschlandvertrages 1955 fort. 1. August: Die sowjetische Militäradministration übergibt die Kontrolle über den Rundfunk in ihrer Besatzungszone an die deutschen Behörden; sie behält sich die Zensur der Berichterstattung über die Sowjetunion und Jugoslawien vor (bis 1951). 14. August: In den drei Westzonen Wahl des ersten Deutschen Bundestages. 6. September: Nach der amerikanischen enteignet auch die britische Militärregierung die Postsender im Bereich ihrer Besatzungszone entschädigungslos zugunsten der Länder. 12. September: Konstituierung der Bundesrepublik Deutschland. Konrad Adenauer wird Bundeskanzler. 21. September: Das von der'Alliierten Hohen Kommission für die Bundesrepublik erlassene „Gesetz über Presse, Radio, Informationsdienste und Unterhaltung" tritt in Kraft: Presse- und Rundfunkfreiheit werden garantiert; jedoch dürfen neue Rundfunk-, Fernseh- und Drahtfunksender nur mit Genehmigung der Alliierten geschaffen und betrieben werden (Funkhoheit der Alliierten verbleibt unter Besatzungsrecht bis 1955). 7. Oktober: Gründung der .Deutschen Demokratischen Republik'. 12. Oktober: Die Regierung der DDR übernimmt von der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) die Verantwortung für alle den Rundfunk betreffenden Verwaltungsangelegenheiten; eine Vorzensur durch die Militärbehörde bleibt bis 1951 bestehen.
Daten zur Geschichte des Rundfunks 1945-1949
1. November: In West-Berlin beschließt die Stadtverordnetenversammlung die Einrichtung eines eigenen, vom NWDR und RIAS unabhängigen Senders fur den Westteil der Stadt.
Anhang: Amerikanischer Entwurf zu einer Erklärung über Rundfunkfreiheit in Deutschland, Mai 1946 (gekürzt) Auf dem Wege zur Schaffung eines freien, demokratischen und friedliebenden Deutschlands, das wiederum seinen Platz in der Familie der Nationen als geachtetes und sich selbst achtendes Mitglied einnehmen wird, muß das deutsche Rundfunkwesen mit allen Kräften bemüht sein, ohne Kompromisse sich der Förderung der menschlichen Ideale von Wahrheit, Toleranz, Gerechtigkeit, Freiheit und Achtung vor den Rechten der individuellen Persönlichkeit zu widmen. Zu diesem Zweck wird und muß das Rundfunkwesen seine nunmehr hergestellte Unabhängigkeit aufrechterhalten. Es wird sich nicht den Wünschen oder dem Verlangen irgend einer Partei, irgend eines Glaubens oder irgend eines Bekenntnisses unterordnen. Es wird weder direkt noch indirekt eine Schachfigur der Regierung werden, noch wird es das Werkzeug einer besonderen Gruppe oder Persönlichkeit sein, sondern es wird in freier, gleicher, offener und furchtloser Weise dem ganzen Volke dienen. Die einzige Sache, die der deutsche Rundfunk verfechten wird, wird die Sache der Gerechtigkeit und die gemeinsame Sache der Menschheit sein. Bei gewissenhafter Einhaltung dieser allgemeinen Grundsätze verpflichtet sich die Leitung jedes einzelnen Senders und auch jeder zukünftigen Rundfunkgesellschaft: Den Vertretern der hauptsächlichsten religiösen Bekenntnisse, die den Wunsch äußern, gehört zu werden, eine angemessene Sendezeit einzuräumen. Den Vertretern der verschiedenen Richtungen bei strittigen Fragen von allgemeinem öffentlichen Interesse die gleiche Länge der Sendezeit einräumen. Den Vertretern der gesetzlich zugelassenen Organisationen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber das Recht auf gleiche Länge der Sendezeit zu garantieren. Allen politischen Parteien, die auf regionaler oder breiterer Basis zugelassen sind, während ihrer Beteiligung an örtlichen sowie Landes- oder zukünftigen Reichswahlen die gleiche Länge der Sendezeit einzuräumen ... Die ganze Berichterstattung auf ein hohes Niveau wahrheitsgetreuer Objektivität an Inhalt, Stil und Wiedergabe einzustellen und bei Nachrichtensendungen jede offenbare oder versteckte Kommentierung zu unterlassen ... Keine Sendung zu gestatten, die irgendwie Vorteile oder Diskriminierung gegen Einzelpersonen oder Gruppen wegen ihrer Rasse, Religion oder Farbe verursachen könnte. Zu verhindern, daß der Sender Gedanken oder Begriffe verbreitet, die in grober Weise gegen die moralischen Gefühle großer Teile der Zuhörerschaft verstoßen würden. Zit. nach Hans Bausch: Rundfunkpolitik nach 1945. Erster Teil: 1945-1962. Rundfunk in Deutschland, Band 3. Deutscher Taschenbuch Verlag. München 1980, S. 72 f.
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Wolfgang Mattheuer, Zwiespalt
4. Kapitel DAS GETEILTE DEUTSCHLAND · 1949-1990
4.1 BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND Die von den westlichen Alliierten am 20.6.Í948 in ihren Besatzungszonen vollzogene Währungsreform schuf das wirtschaftliche Fundament für die etwa ein Jahr später sich konstituierende Bundesrepublik Deutschland. Da die Einigung mit der Sowjetunion über eine gemeinsame Deutschlandpolitik gescheitert war - die Außenminister der Siegerstaaten hatten sich seit September 1945 darum bemüht -, gingen die Westmächte daran, die völlig zerrüttete deutsche Finanzwirtschaft zu sanieren. Der Geldüberhang aufgrund der Rüstungsfinanzierung stand in einem grotesken Missverhältnis zum Warenangebot. Die zwangswirtschaftliche Verwaltung mit Preiskontrolle hatte zwar bislang eine inflationäre Entwicklung verhindert, doch war zu den staatlich fixierten Preisen so gut wie nichts zu beziehen. Die wahren Wertverhältnisse spiegelte der Schwarze Markt. Durch die Währungsreform wurde eine drastische Verminderung des Geldumlaufs und eine radikale Entschuldung des Staates erreicht. Jeder Einwohner erhielt am Stichtag 40 Deutsche Mark und zwei Monate später nochmals 20 Deutsche Mark ausgezahlt. Alle Bargeldrückstände wurden auf ein Zehntel ihres ursprünglichen Wertes zusammengestrichen; für 100 Reichsmark auf einem Bankkonto gab es nur 6,50 Mark. Gleiches passierte mit allen Schuldverhältnissen - mit Ausnahme von Hypotheken, die im Verhältnis 1:1 umgestellt wurden, weil man die Eigentümer von Sachwerten nicht über Gebühr begünstigen wollte. Das Wunder geschah: Die Menschen vertrauten dem neuen Geld; lange zurückgehaltene Güter kamen plötzlich auf den Markt; die Schaufenster zeigten von einen Tag auf den anderen ein Warenangebot, das zuvor niemand für möglich gehalten hätte. Professor Ludwig Erhard, 1948 bis 1949 Direktor der Verwaltung für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebietes und in dieser Funktion maßgeblich an der Währungsreform beteiligt - ihm war es auch zu danken, dass die Preiskontrolle und die Bewirtschaftung vieler Verbrauchsgüter sofort aufgehoben wurde -, behielt recht mit der Auffassung, dass die Stabilisierung der Währung und die Etablierung freier Marktwirtschaft untrennbar zusammenhingen; das eine hätte ohne das andere nicht gelingen können.
Das geteilte Deutschland · 1949-1990
Als dann das „Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland" - vorbereitet von dem seit 1948 auf Schloss Herrenchiemsee tagenden Verfassungskonvent - am 24. Mai 1949 in Kraft trat, erlebten die Westdeutschen zumindest tendenziell, dass Demokratie durchaus mit wirtschaftlicher Blüte einhergehen konnte; (während in der Weimarer Republik ökonomische und politische Misere miteinander verbunden waren). Im Dezember 1949 wurde der damals 73-jährige Konrad Adenauer (CDU) nach vorausgegangenen Wahlen im August mit der Mehrheit von einer, seiner eigenen Stimme zum ersten Bundeskanzler gewählt; in sein erstes Kabinett, eine Koalitionsregierung mit Ministern von CDU/CSU, FDP und DP (Deutsche Partei), berief er Ludwig Erhard als Wirtschaftsminister; (1945-1946 hatte dieser die gleiche Funktion in Bayern ausgeübt). Im Rückblick nannte der Soziologe Ralf Dahrendorf den beleibten, aber geistig sehr beweglichen Mann, der seine freien Tage nicht so gern im .Treibhaus Bonn', sondern lieber im südbayerischen Voralpenland (Tegernsee) verbrachte, einen „sozialen Revolutionär": „Mit dem Namen Erhard verbindet sich für mich die radikalste Veränderung der deutschen Gesellschaft in diesem Jahrhundert, radikaler als alles, was vorher erfolgt ist - wenn man an die Gesellschaft denkt und nicht etwa nur an politische Strukturen."1 Erhard war Bahnbrecher für eine Marktwirtschaft, die auf Freiheit und sozialer Verantwortung gründete. Nicht der Neoliberalismus kehrte zurück, sondern es entstand etwas völlig Neues. Im Gegensatz zur Sozialdemokratie und den Gewerkschaften, die erst langsam ihre planwirtschaftliche Fixierung aufgaben und zögerlich die humanen Möglichkeiten der sozialen Marktwirtschaft als .ethischen Utilitarismus' (größtmögliches Glück für die größtmögliche Zahl) begriffen, gelang es Erhard, mit der ihm eigenen, in mancher Hinsicht naiven Dynamik, gesellschaftliche Moral und ökonomischen Erfolg miteinander zu verbinden. Die sozialdarwinistisch bestimmten Gesetze des kapitalistischen Dschungels sollten nicht mehr gelten. Der Geist eines .realistischen Humanismus' prägte auch das von Erhard forcierte „Lastenausgleichsgesetz" (August 1952). Im Rahmen volkswirtschaftlicher Möglichkeiten sollten die Schäden und Verluste reguliert werden, die durch Zerstörungen und Vertreibungen in der Kriegs-/Nachkriegszeit entstanden waren. Das bedeutete, dass durch eine Reihe staatlicher Maßnahmen die finanziellen Folgen des verlorenen Krieges auf die Gesamtbevölkerung verteilt wurden und damit die Voraussetzungen für einen „Wohlstand für alle", Titel von Erhards weit verbreitetem Buch (1957), auf der Basis sozialer Gerechtigkeit geschaffen wurde. 236
Jetzt kommt das Wirtschaftswunder
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Die Illustrierte .Quick' brachte in Nr. 1 ihres 3. Jahrgangs (1. Januar 1950) - sie kostete damals 40 Pfennig - ein Titelbild, das den Aufbruch in die fünfziger Jahre und darüber hinaus signalisierte: Eine junge Mutter, adrett gekleidet, hebt ihren nackten Säugling hoch; hinter ihr, mit gepflegtem Haarschnitt, freilich etwas salopp gebundener Krawatte, ihr Mann; links und rechts Großmutter und Großvater (er noch mit .Vatermörder'); mit dem Sektglas in der Hand blicken alle, glücklich und strahlend lächelnd, auf das Kind, das freilich sein Gesicht zum Weinen verzieht. „Prost den zweiten 50! Du sollst das Jahr 2000 erleben!" Emblematisch wird dadurch aufgezeigt, welche Erwartungen die überwiegende Zahl der Deutschen bestimmte: Sie waren hoffnungsvoll vorwärts gerichtet, auf eine bessere Zukunft, die es mit großem Fleiß und persönlichen Opfern zu erarbeiten galt. Die Ausgangslage war freilich noch in düstere Schatten gehüllt. Von zehn jungen Menschen hatte einer den Vater oder die Mutter oder beide Elternteile verloren. Nach einer Erklärung der Bundesregierung vom 20. Oktober 1953 bezog jeder dritte Einwohner der Bundesrepublik Unterstützung von irgendeiner Sozial- oder Fürsorgeversicherung. Noch eineinhalb Millionen Deutsche wurden in sowjetischem Gewahrsam vermutet, als Moskau im Mai 1950 mitteilte, die Entlassung der Kriegsgefangenen sei abgeschlossen. Dazu kam die Massenflucht aus der DDR, die bis zum Bau der Mauer 1961 anhielt und die Arbeitslosigkeit verschlimmerte. Mangel- und Infektionskrankheiten waren weit verbreitet; die Antibiotika aus den USA kamen allerdings zunehmend zur Anwendung; die erste Massenimpfung mit dem neuen Salk-Serum gegen die Kinderlähmung wurde erstmals im April 1957, in Oberhausen, durchgeführt. Zu den schlimmsten Kriegsfolgen gehörte das Schicksal der Schwerkriegsbeschädigten, der Kriegerwitwen, der Angehörigen der 3,5 Millionen Vermissten, die in den meisten Fällen immer noch auf ein .Wunder' (nämlich die glückliche Rückkehr des Sohnes, Bruders, Vaters, Verwandten oder Bekannten) hofften. Um 1950 arbeiteten in der Landwirtschaft 23,2 Prozent, 1960 14,1, 1970 8,5 der Erwerbstätigen; in der Industrie 1950 42,3, 1960 47,8, 1970 48,8; im Dienstleistungssektor und öffentlichen Dienst 1950 32,3, 1960 37,1,1970 42,7. Fast die Hälfte aller Lohn- und Gehaltsempfänger brachte im Monat nur 250 DM netto nach Hause. Mitte der fünfziger Jahre jedoch vollzog sich ein entschiedener Wandel zur .prosperierenden Mittelstandsgesellschaft'. Begriffe wie .Proletarier' oder .Proletariat' spielten nur noch eine geringe Rolle; der Lebens237
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Standard verbesserte sich erheblich. Hatte das monatliche Durchschnittseinkommen der Arbeitnehmer 1950 noch 243 DM betragen, was etwa dem Realeinkommen der Vorkriegszeit entsprach, so belief es sich 1960 auf 512 DM; das war ein nominaler Anstieg um 111 Prozent beziehungsweise ein realer Anstieg, unter Berücksichtigung der gestiegenen Lebenshaltungskosten, um 76 Prozent. „Das wirtschaftliche Wachstum schlug sich nieder in besserer Ernährung, besserer Kleidung und besseren Wohnungen, in den Anfangen einer Motorisierungswelle und einer Reisewelle, im Wiederaufbau und Neubau der Städte." 2 Die soziale Marktwirtschaft erfuhr breite Zustimmung; das sozialistische Engagement ging zurück. Auch die Gewerkschaften schwenkten von der Forderung auf Sozialisierung in der Trümmerzeit allmählich auf die Partizipation am kapitalistischen Wirtschaftswachstum ein. An die Stelle der alten Klassengesellschaft trat ein Leitbild, das die Aufhebung sozialer Gegensätze avisierte. Üppiger Konsum sollte allen ermöglicht werden. Fühlte man sich hinsichtlich der eigenen Wohlfahrt begünstigt, nahm man die Herrschaft der Mächtigen (der Industriellenfamilien wie der Verbände) weitgehend kritiklos hin. Da man nun nicht mehr .drunten in der Tiefe' vegetieren musste, ließ man die ,da droben' schalten und walten. Solcher proletarischer Bewusstseinsverlust wurde zudem durch den weiteren Aufstieg der politikfernen Angestelltenschaft gefördert, mit der sich Teile der Arbeiterschaft amalgierten; 1953 kamen vier Millionen Angestellte auf 12 Millionen Arbeiter. Im Zuge der Industrialisierung war der eigentliche Mittelstand zurückgedrängt worden. Ökonomisch war er aufgrund seines Besitzes zureichend selbstständig und in der Arbeitsweise weitgehend autonom; soziologisch gesehen erkannte die Gesellschaft den Angehörigen des Mittelstandes mannigfache Privilegien zu; sie galten als die wahren Stützen der Gesellschaft, wobei ihr Wertsystem sich zunehmend ins Spießbürgerliche verzerrte. Die neue Mittelschicht der Wirtschaftswunderzeit war weniger auf Besitz ausgerichtet, als auf ein steigendes Einkommen, das ein .Schöner leben' ermöglichte; sie erwies sich als vorbildlicher Verbraucher, die den Trivialmythen der Werbung begierig folgte. Als in dem Roman „Hundejahre" von Günter Grass Walter Matern, einer der drei fiktiven Erzähler, Freunde und Feinde im Westen besucht, stellt er fest, dass die bundesrepublikanische Konjunktur auf Hochtouren läuft. Sein Vater, der Müller aus Nickelswalde in der Nähe der Weichselmündung, hat ein Säckchen mit Mehlwürmern in die Bundesrepublik hinübergerettet - kostbarer Besitz, denn diese weissagen die Zukunft. Viele kommen und erhalten die Tipps, die ihnen Erfolg bringen: die Pres238
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seleute, die Finanzexperten, die Kapitalisten, die Politiker; die Würmer haben nicht Rast noch Ruh. In Deutschlands Aufstieg ist der Wurm drin „im Wurm sitzt der Wurm".3 Grass brachte damit auf literarische Weise die Meinung einer Minderheit, der vor allem Intellektuelle angehörten, zum Ausdruck - gerichtet gegen die restaurative Erstarrung der Bundesrepublik in der Regierungszeit Konrad Adenauers. Der Rhythmus des Wandels fehle, so Ralf Dahrendorf in seinem Buch „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland" 1965. Durch .Versäulung' werde der Weg zu beweglichen liberalen Strukturen versperrt. Niemand wünsche die Instabilität der politischen Verfassung, welche die Auflösung der Weimarer Republik gekennzeichnet habe. Die Starre einer Gesellschaft, in der jede Verschiebung parteipolitischer Kräfteverhältnisse und politischer Herrschaft durch die blinde Entscheidung traditionsverhafteter Menschen aufgrund von Zugehörigkeiten, die sich ihrer Kontrolle entziehen, unmöglich gemacht werde, berge freilich kaum weniger Gefahren; denn der Wandel müsse ein ständiger Gast in menschlichen Gesellschaften sein; werde er aufgehalten, dann schlössen sich nicht nur die Tore des Fortschritts, sondern es würden auch Energien aufgestaut, die sich später dann in unkontrollierbaren und explosiven Veränderungen Luft verschafften. „Stabilität ist eine gute Sache; aber wenn sie zur Starre ausartet, produziert sie ihren inneren Widerspruch, die Revolution." 4 Die Kritiker des Wirtschaftswunders sprachen von materialistischer .Verfettung' bzw. ethischer Verwahrlosung. Die Sehnsüchte nach einem materialistisch ausgerichteten Glück würden sich oft genug in Verhaltensritualen festlaufen oder verdinglichten sich in Oberflächengehabe. Die Schwerkraft des Provinziellen im ,Land der großen Mitte' erschwere das Transzendieren des Bürgers aufs .Höhere'; herausfordernde Kultur sei nicht gefragt. Statt eines psychodynamischen Aufbruchs dominiere .Automobilismus': „Mercedes-Benz: Ihr guter Stern auf allen Straßen." Der Wirtschaftswunder-Phönix, welcher der Trümmerwelt-Asche entstiegen war, erwies sich als smarter Aufsteiger, der fleißig und ohne Anfechtungen sich seinen Platz an der Sonne sicherte. Die ehemaligen Kellerkinder richteten sich in der Beletage ein. Die neue Jugendgeneration, die „skeptische Generation" (Helmut Schelsky) war am Machen mehr interessiert als an Sinnfindung.5 Eine Quintessenz der Wirtschaftswunderwelt in Form eines .sozialkritischen Höllenspuks' enthielt Friedrich Dürrenmatts .Tragische Komödie' „Der Besuch der alten Dame". Sie wurde am 29. Januar 1956 im Schauspielhaus Zürich unter der Regie von Oskar Wälterlin, mit Therese Giese 239
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und Gustav Knuth in den Hauptrollen, uraufgeführt; die deutsche Erstaufführung erfolgte im Mai 1956 in den Münchner Kammerspielen unter der Regie von Hans Schweikart, wiederum mit Therese Giese als ,alter Dame'. Der Erfolg war sehr groß; in den nachfolgenden zwei Jahrzehnten wurde das Stück rund 115mal inszeniert; im Ausland erwies es sich als das erfolgreichste deutschsprachige Bühnenstück seit dem Kriege. Die Szene mit dem Satz: „Der Wohlstand steht auf1.", empfand der Münchner Kritiker Hanns Braun als den „flehendsten, bestürzendsten, zentralsten Satz des ganzen Werkes". 6 In dem Kleinstädtchen Güllen ( = Jauche) hat der von seinen Mitbürgern gehetzte Krämer Alfred III in der Kirche Schutz gesucht. Vor funfundvierzig Jahren hat er seine Geliebte Kläre Wäscher, die ein Kind von ihm erwartete, auf schmähliche Weise in Stich gelassen und die Krämerstochter Mathilde geheiratet. Als Ciaire Zachanassian - durch Heirat mit einem Multimillionär zur reichsten Frau der Welt geworden kehrt sie nach Güllen zurück, bereit, der Stadt Wohlstand zu verschaffen. Für den Gegenwert einer Milliarde, davon 500 Millionen verteilt auf alle dortigen Familien, soll ihr ehemaliger Geliebter bestraft, das heißt von den Einwohnern umgebracht werden. Diese weisen zunächst das Ansinnen entrüstet zurück, beginnen aber unter dem Eindruck des angebotenen Geldes immer mehr Schulden zu machen. In Erwartung des Reichtums moralisch korrumpiert, fordern sie dann doch - mit dem Vorwand der Gerechtigkeit - den Tod Ills. Das Kesseltreiben gegen ihn endet mit seinem Sterben. „Der Arzt: Herzschlag. Der Bürgermeister: Tod aus Freude. Pressemann: Das Leben schreibt die schönsten Geschichten." Ciaire erhält den Leichnam, die Güllener bekommen ihren Scheck. „Die einst graue Welt hat sich in etwas technisch Blitzblankes, in Reichtum verwandelt, mündet in ein Welthappy-End ein." Die Bürger jubilieren und bitten, dass „in stampfender, rollender Zeit" ein Gott ihnen den Wohlstand bewahre. „Die Frauen: Z i e m e n d e Kleidung umschließt den zierlichen Leib nun Der Sohn: E s steuert der Bursch den sportlichen Wagen Die Männer: D i e Limousine der Kaufmann Die Tochter: D a s M ä d c h e n j a g t nach d e m Ball auf roter Fläche Der Arzt: Im neuen, grüngekachelten Operationssaal operiert freudig der Arzt Alle: D a s A b e n d e s s e n D a m p f t im Haus. Zufrieden wohlbeschuht Schmaucht ein jeglicher besseres Kraut Der Lehrer: Lernbegierig lernen die Lernbegierigen. Der Zweite: Schätze auf Schätze türmt der emsige Industrielle
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Alle: Rembrandt auf Rubens Der Maler: Die Kunst ernähret den Künstler vollauf. Der Pfarrer: Es berstet an Weihnachten, Ostern und Pfingsten Im Andrang der Christen das Münster Alle: Und die Züge Die blitzenden hehren Eilend auf eisernen Gleisen Von Nachbarstadt zu Nachbarstadt, völkerverbindend, Halten wieder."7
Im Rückblick auf die Epoche des Wirtschaftswunders haben Alexander und Margarete Mitscherlich in ihrem Buch „Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens" (1967) davon gesprochen, dass die Bundesdeutschen, erst indem sie sich der Auseinandersetzung mit der eigenen, nationalsozialistischen Vergangenheit entzogen hatten, zur materialistischen Expansion fähig wurden. Der Verlust des historischen Gewissens entband von der melancholischen Selbstanklage (der Selbstzerfleischung wie dem Selbsthass der Melancholie). Unbekümmert von der Notwendigkeit der .Bewältigung' von Vergangenheit im Sinne des Freudschen Erinnerns, Wiederholens, Durcharbeitens, empfand die große Majorität der Deutschen die Periode der nationalsozialistischen Herrschaft retrospektiv wie die Dazwischenkunft einer Infektionskrankheit in Kinderjahren. Hatte man die Regression, die man unter der Obhut des .Führers' kollektiv vollzogen hatte, zwar lustvoll erlebt - es war herrlich, ein Volk der rassisch Auserwählten zu sein -, mit der Stunde Null, vor allem aber nach der Währungsreform und der Gründung der Bundesrepublik ging man rasch, mit großer Verdrängungsenergie, zur Normalität über; als habe sich Auschwitz nicht ereignet. „Alle Vorgänge, in die wir schuldhaft verflochten sind, werden verleugnet, in ihrer Bedeutung umgewertet, der Verantwortung anderer zugeschoben, jedenfalls nicht im Nacherleben mit unserer Identität verknüpft. Die siegreichen Vormärsche werden glorifiziert, der Verantwortungslosigkeit, mit der auch Millionen Deutscher in einem Größenrausch geopfert wurden, wird selten gedacht." Alle Energie werde vielmehr mit einem Bewunderung und Neid erweckenden Unternehmungsgeist auf die Wiederherstellung des Zerstörten, auf Ausbau und Modernisierung des industriellen Potentials bis zur Kücheneinrichtung hin konzentriert. Die Restitution der Wirtschaft erweise sich als Lieblingskind; man widme sich ihr mit .monomanischer Ausschließlichkeit'.8 241
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28 Zelturlauber mit Lambretta (1956)
Das Lebensgefühl der überwältigenden Mehrheit der Deutschen blieb von vergangenheitsbezogenen Skrupeln völlig ungetrübt. Nach den Schrecknissen der Kriegs- und Nachkriegszeit verbreitete sich ein Gefühl der Zufriedenheit gerade deshalb, weil man nun in einem lockeren, harmonisch-farbigen Ambiente domizilierte. Man kann davon ausgehen, so der Publizist Karl Markus Michel, dass die Deutschen mit ihrem Land nie so einverstanden waren wie damals. Nie wieder habe es ein derartiges Gefühl der Zufriedenheit gegeben. „Uberall Kurven, Bauchiges, Schwingendes. So als sollte die böse Zackigkeit von Hakenkreuz, Hitlergruß und SS-Rune durch die Gnade von Käfer, Muschel, Niere vergeben und vergessen werden. In diesen Formen fühlten wir uns versöhnt."9 Die Modernisierungsschübe der fünfziger und frühen sechziger Jahre bewegte der Drang zu Verschönerung: Man wollte schöner leben, schöner wohnen, schöner speisen, schöner sich kleiden, schöner reisen. Der amerikanisch life-style sollte adopiert werden. Aber auch das nationale Empfinden kam zu seinem Recht: Das „Wunder von Bern" (der Sieg bei der Fußballweltmeisterschaft von 1954) verstärkte das Gefühl ,Wir-sind-wieder-wer'. 242
Nachtstudio und Hörspiel als linkes Refugium
Nachtstudio und Hörspiel als linkes Refugium
Gegenüber der geistig erstarrten Wirtschaftswunderwelt und Adenauers Konservativismus („Keine Experimente!") empfand eine beträchtliche Minderheit den Rundfunk als .linkes' Refugium; das zeigte allein schon der Massenerfolg der im Funk, später auch im Fernsehen übertragenen Kabarett-Sendungen. Die 1956 von Dieter Hildebrandt und Sammy Drechsel gegründete „Lach- und Schießgesellschaft" galt als das politischste Kabarett-Ensemble; aktuelle Probleme wurden direkt angegangen, Skandale und das Fehlverhalten der Politiker konkret aufs Korn genommen. Adenauer gegenüber, „dem siegreichen Pferd", empfand das „nüchtern zupackende, fröhlich Attacke reitende Quartett" (Dieter Hildebrandt, Klaus Havenstein, Hans J. Diedrich und Ursula Noack) „ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit"; denn eine bessere aktuelle Zielscheibe könne man sich nicht vorstellen.10 Die Westberliner „Stachelschweine", die im Oktober 1949 zum ersten Mal auftraten, hoben mehr auf unmittelbare Verständlichkeit und humorvolle Präsentation ab, um möglichst volkstümlich zu wirken. „Tatsächlich stiegen sie auf diese Weise zu einem außerordentlich populären Kabarett auf, wobei erstmals das Phänomen auftrat, daß geradezu erdrückende Publikumsmehrheiten die Programme positiv beurteilten und sich offenbar kaum mehr schockiert, getroffen oder angegriffen fühlten."11 Bei dem 1947 von Kay und Lore Lorenz in Düsseldorf gegründeten „Kom(m)ödchen" verstärkte sich in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre - nach einer Phase der scharfen Auseinandersetzung mit wachsendem Opportunismus und befürchtetem Militarismus - die Tendenz zur indirekten .literarischen' Verklausulierung der Satire und damit zu einer gewissen Distanzhaltung, was von Kritikern häufig als besonderes Markenzeichen dieses Kabaretts empfunden wurde. Die .staatserhaltende' und gegen .intellektualistische Zersetzung' angehende konservative Publizistik sah in den Abendstudios und Nachtprogrammen der Rundfunkanstalten pensionsberechtigte Stützpunkte der literarisch artikulierten Unbotmäßigkeit. Wolfjobst Siedler, damals Feuilletonchef des .Berliner Tagesspiegel', meinte: „Die sich da ihrer Schwachheit rühmen, sind die Mächtigen im Lande. Wenn ein junger Literat Karriere machen will, tut er gut, sich mit der deutschen Linken zu arrangieren."12 Auch die Dramaturgien der deutschen Theater seien, von Ausnahmen abgesehen, von der Linken besetzt; die Feuilletonredaktionen der meisten wichtigen deutschen Zeitungen befanden sich in der Hand 243
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von Publizisten, die mit Heinrich Mann mehr als mit Reinhold Schneider anfangen könnten; die Lektorate fast aller bedeutender Verlage würden von Leuten verantwortet, deren Namen unter keinem der Schriftstellermanifeste der letzten Jahre fehlten. Neben Alfred Andersch, der erst in Hamburg und dann in Stuttgart für den Funk tätig war, verkörperte vor allem Gerhard Szczesny, von 1947 bis 1962 Leiter des Nachtstudios, dann (1963-1969) des Sonderprogramms im .Bayerischen Rundfunk', die aufklärerische Avantgarde. Er gründete die .Humanistische Union' (1961) und war bis 1969 ihr Vorsitzender; zudem baute er einen Verlag mit emanzipatorischem Programm auf. Am .Bayerischen Rundfunk' wirkte auch Walter von Cube als Kommentator („Ich bitte um Widerspruch"), Chefredakteur, Hörfunkdirektor und stellvertretender Intendant - ein liberaler Konservativer mit subtilem Sprachgefühl, der sich als Anwalt des freien Geistes empfand. Als die Bonner Regierungspolitiker in zunehmendem Maße versuchten, den unabhängigen Rundfunk als Waffe im Kalten Krieg einzusetzen, dies auch zu einer gemeinsamen Sendereihe der ARD-Anstalten unter dem Titel „Hier spricht Deutschland" (im Vorfeld der DDR-Wahlen Oktober 1950) führte und Cube sich davon distanzierte, hielt ihm der Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, Jakob Kaiser, im Bundestag vor, er entziehe sich lebensentscheidenden Aufgaben; bei diesen sollten doch alle Deutschen einig sein. Zwei Jahre später attackierte Bundesinnenminister Robert Lehr, der auch sonst massive Interventionsversuche (etwa beim NWDR) unternahm, Cube wegen einseitiger Stellungnahmen. Ernst Schnabel war von 1947 an Chefdramaturg und später Leiter der Abteilung ,Wort' am damaligen ,Nordwestdeutschen Rundfunk' in Hamburg, den er von 1951 bis 1955 als Intendant leitete. Zusammen mit Alfred Andersch, den er anfangs der fünfziger Jahre nach Hamburg holte, entwickelte Schnabel für den westdeutschen Rundfunk eine Vielzahl von journalistischen, essayistischen und erzählerischen Formen, die dem Rundfunk seine hervorragende Stelle im öffentlichen Bewusstsein der Nachkriegszeit sicherten. Es gab kaum einen freien Schriftsteller in den fünfziger und sechziger Jahren, der nicht für den Rundfunk arbeitete - was auch ökonomisch wichtig war, da auf diese Weise jenseits des Massengeschmacks selbständiges, nonkonformistisches Denken .honoriert' wurde. „Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt", hieß es in Günter Eichs Hörspiel „Träume".13 Das in den Rundfiinkanstalten intensiv gepflegte Hörspiel vermittelte in einer gefährdeten Welt eine Vorstellung von dem, was Ernst Bloch 244
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das „Prinzip Hoffnung" nannte. Es bot keine billigen Lösungsmöglichkeiten von Krisen an, hoffte aber doch, das Menschliche im Menschen zu erwecken. Ausgehend von Wolfgang Borcherts Hörspielfassung „Draußen vor der Tür" (1947) fand das Genre wichtige Autorinnen und Autoren, darunter Günter Eich, Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann, Fred von Hoerschelmann, Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt, Heinrich Boll, Gerd Oelschlegel, Leopold Ahlsen, Wolfgang Hildesheimer, Wolfgang Weyrauch. Nach dem eigentlichen Durchbruch ab 1950 im ,Nordwestdeutschen Rundfunk' (mit Eichs „Träume") war das Hörspiel von besonderer Attraktion fur fast alle Autoren der jüngeren und mittleren Generation. Eine große Resonanz war ihnen sicher; inmitten .materieller Vordergründigkeit', welche die Entfaltung von Phantasie weitgehend unterband, liebte man die im .Hallraum' sich entfaltende Kunstart „einerseits als Mischung von lautwerdenden und zugleich verlöschenden Worten und Klängen durch das Mittel der technisch-elektrischen Produktion, andererseits als ganz unkörperliche, bloß spirituelle .Anschauung' im Innern des Zuhörers" (Heinz Schwitzke im Vorwort zu der Hörspielsammlung „Sprich, damit ich dich sehe").14 Ein feinfühliges Publikum, des grob-realen Lärms überdrüssig, genoss die .Stille' dieser .inneren Bühne', auf der Andeutungs- und Aussparungstechnik vorwalteten. Zu .Szenen', wie sie Ilse Aichinger entwickelte, meinte Schnabel, dass außerhalb der Finsternis eigentlich keine dieser Geschichten möglich und nötig wären; sie würden augenblicklich erlöschen wie ein Filmbild in der Dunkelkammer, fiele der schwächste Lichtstrahl ein. Die 1940 geborene Filmautorin Helma Sanders-Brahms schrieb in Erinnerung an die .Hörspielenklaven' im damaligen Wirtschaftswunderland: „Hörspiele sind das Schönste, was man zu Hause haben kann. Die Geschichten von den Termiten, die Gebäude von innen annagen, bis sie zusammenfallen, von den Biedermännern und den Brandstiftern, vom Tiger Jussuf, von der Brandung von Setubal, die bis an das Bügelbrett rauscht, das ist die Wahrheit, so ist die Welt. Wenn ich im Bett liege, spreche ich die Texte, soweit ich sie behalten habe, und ahme die Stimmen der Schauspieler nach. Sie sind so schön, diese Stimmen und die Menschen, die dazugehören und die man im Radio nicht sehen kann, müssen so schön sein, wie diese unendlich entfernten Städte mit den leuchtenden Namen auf der schwarzen Glasscheibe: Rom Amsterdam Paris Warschau Prag."15 Es gab freilich auch eine ganz andere Stille in den Rundfunkanstalten, Ausdruck des ebenfalls verbreiteten, sich immer mehr ausbreitenden Opportunismus. In der Satire „Dr. Murkes gesammeltes Schweigen" hat 245
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sie Heinrich Boll beschrieben. Murke muss in der Abteilung „Kulturelles Wort" einer Rundfunkanstalt dem intellektuellen Starautor Bur-Malottke die Vortragsbänder zurechtstutzen. Wegen des Umschwungs des politischen Klimas schneidet er siebenundzwanzigmal „Gott" heraus und ersetzt die Lücke durch „höheres Wesen". Doch ist deshalb Gott nicht überflüssig geworden; er kann in eine andere Sendung einmontiert werden. Der ermattete Murke (sicherlich einer der vielen vom .AnpassungsBetrieb' und ,Ausgewogenheits-Prinzip' Zermürbten und Entmutigten) sammelt privat ,Leer-Stellen', die Pausen zum Gesamt-Schweigen zusammenlügend. Der Rundfunk war dennoch von seiner Gewichtigkeit her und was den MultiplikatorenefFekt betraf ein wichtiges Element des allgemeinen kulturellen .Uberbaus', der mit seiner Liberalität, Dynamik, Weltoffenheit und seinem kulturmäzenatischen Engagement den .Unterbau' in seinem praktizierten Materialismus und seiner Geistferne positiv zu beeinflussen vermochte. Auch mit dem Mittel der Show. Am Hofe der Restauration spielte der Intellektuelle die Rolle des Hofnarren und er tat dies mit /glitzernd-feuilletonistischem Geschick - er war immer .dabei', immer im Gespräch, manchmal auch im Gerede, einflussreich, was die peripheren Probleme anging; insgesamt jedoch .durchschlagend wirkungslos'. Der Oberflächenglanz und die Reizwelt des wieder erstandenen, neu entstehenden Intellektualismus (viele seiner Repräsentanten wie Gottfried Benn, Hermann Kesten, Erich Kästner, Alfred Polgar blickten auf ein Wirken im Kaiserreich und in der Weimarer Republik zurück) hatte schon 1927 Kurt Tucholsky charakterisiert: „Welche Aufregung - ! Welcher Eifer - ! Welcher Trubel - ! Horch: sie leben."16 Aus der .kastalischen Ferne' seines Schweizer Dichterexils hatte Hermann Hesse in dem Roman „Das Glasperlenspiel" schon in den vierziger Jahren den feuilletonistischen Kulturbetrieb, in dem er eine Entwürdigung und Selbstaufgabe des Geistes sah, kritisiert - und damit die Zustimmung vor allem derjenigen gefunden, die sich dem .TiefgründigWesentlichen' verpflichtet fühlten (wobei sie gerne ihre ambivalente Haltung im Dritten Reich als .innere Emigration' hochstilisierten). Feuilletons waren, nach Hesse, ein besonders beliebter Teil im Stoff der Tagespresse, zu Millionen erzeugt, Hauptnahrung der bildungsbedürftigen Leser. Die Hersteller dieser .Tändeleien', industriemäßig erzeugter Artikel (die durchaus Ironie und Selbstironie enthielten), „gehörten teils den Redaktionen der Zeitungen an, teils waren sie .freie' Schriftsteller, wurden oft sogar Dichter genannt, aber es scheinen auch sehr viele von ihnen dem Gelehrtenstand angehört zu haben, ja Hochschullehrer von 246
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Ruf gewesen zu sein ... Es wurden von Fachleuten sowohl wie von geistigen Buschkleppern den Bürgern jener Zeit, welche noch sehr an dem seiner einstigen Bedeutung beraubten Begriff der Bildung hingen, außer den Aufsätzen auch Vorträge in große Zahl geboten, nicht etwa nur im Sinne von Festreden bei besonderen Anlässen, sondern in wilder Konkurrenz und kaum begreiflicher Masse.... Man hörte Vorträge über Dichter, deren Werke man niemals gelesen hatte oder zu lesen gesonnen war, ließ sich etwa dazu auch mit Lichtbildapparaten Abbildungen vorführen und kämpfte sich, genau wie im Feuilleton der Zeitungen, durch eine Sintflut von vereinzelten, ihres Sinnes beraubten Bildungswerten und Wissensbruchstücken."17 Tagungen, Kongresse, Wochenendseminare, Hörfunk-Serien, um Schwerpunktthemen gruppiert und zu Großveranstaltungen gebündelt, boten in der Wirtschaftswunderzeit den Intellektuellen öffentlichkeitswirksame Auftrittsmöglichkeiten. Auf der einen Seite: der konkretistische Lapidarstil einer Politik, die den,Intellektuellenzirkus' ablehnte (von Adenauers Zweihundert-Worte-Vokabular sprach Rudolf Augstein, worauf Gerd Bucerius konterte, dass dessen deutscher Bierernst für die intellektuelle Schärfe dieses Mannes kein Organ besäße); auf der anderen die rhetorische Üppigkeit einer intellektuellen Star-Equipe (darunter François Bondy, Hans Magnus Enzensberger, Walter Jens, Joachim Kaiser, Hans Mayer, Marcel Reich-Ranicki, Alfred Andersch, Heinrich Boll, Hans Werner Richter, Wolfgang Hildesheimer, Helmut Heißenbüttel, Wolfgang Koeppen, Günter Grass) die, wie es einer ihrer Angehörigen, Horst Krüger, formulierte, jeden Versammlungssaal zu einem Pfingstfest der rosaroten Geistausgießung machten. Die Podiumsdiskussion wiederhole Elemente des öffentlichen Spiels und der Theaterszene, halb sportlicher Wettkampf, halb Schauspielbühne; Geistesgegenwart, Präsenz der Argumente, Ensemblegeist seien notwendig, auch ein leichter Sinn für Massenführung. „Die Leute sind unglaublich leicht zu handhaben. Als Kollektiv können sie nur mit ganz elementaren und ambivalenten Emotionen reagieren. Sie können nur buhen und klatschen, eine eindeutige und simple Kindersprache, bestehend aus zwei Worten. Die idealen Diskutierer wissen damit zu spielen. Es sind beschlagene und gebildete Intellektuelle, mit einem heimlichen, lange unterdrückten Hang zur Bühne. Wären sie nicht so verteufelt gescheit, so wären sie vielleicht erste Liebhaber oder Heldentenor an der Oper geworden. Sie führen sich jetzt selber als Rolle vor. Sie setzen eine Stegreifkomödie in Gang. Die heißt: Seht mich als Schauspieler meiner selbst. Ich spiele jetzt mich selber als fragendes, denkendes, argumentierendes Wesen."18 247
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Eine wundersame Vermehrung der Programme Die Alliierten hatten dem besiegten Deutschland auf der Kopenhagener Wellenkonferenz vom 15. September 1948 bis auf wenige Ausnahmen wichtige, weil weitreichende Hörfunkfrequenzen entzogen; insbesondere jene, über die man die benachbarten Länder hätte stören oder durch Programme beeinflussen können. Gleichzeitig aber war ihm die Entwicklung einer Übertragungstechnik gestattet worden, mit deren Hilfe es innerhalb kurzer Zeit gelang, die Frequenzverluste durch neue Ultrakurzwellen-Frequenzen zumindest für das Inland mehr als nur zu kompensieren. So konnte der NWDR als erster Sender in Deutschland bereits am 30. April 1950 ein zweites Hörfunkprogramm anbieten, dem im gleichen Jahr noch der BR, der H R und der S D R folgten. Als dann am 28. Mai 1952 der Bundesrepublik trotz des restriktiven Kopenhagener Wellenplans 31 Fernseh- und 246 UKW-Frequenzen zugebilligt wurden, waren die Voraussetzungen nicht nur für die Schaffung eines Fernsehprogramms, sondern auch für den enormen Ausbau der regionalen Hörfunknetze geschaffen. Nun konnten die Sendungen des Hörfunks in wesentlich besserer Tonqualität angeboten und die zusätzlichen Programmketten sukzessive zu eigenen Vollprogrammen ausgebaut werden. Den zweiten folgten dann über weitere, zusätzlich Frequenzen auch bald dritte Programme, so dass die Möglichkeit für Differenzierung geboten war. In den Sendern herrschte noch der Geist der Pionierzeit aus den frühen zwanziger Jahren, nun allerdings im Gewände eines neuen gesellschaftlichen Aufbruchs. Da es in den ersten Nachkriegsjahren praktisch an allem fehlte, waren auch geeignete Materialien für einen Schulunterricht im Geiste demokratischer Umerziehung nicht vorhanden. Daraus bezogen, über ihren gesetzlichen Auftrag hinaus, viele Redaktionen den Anspruch, als Hauslehrer' des Volkes sich zu verstehen und ihre Programme entsprechend auszurichten. Der Jugend aller Schularten und Altersstufen Bildung zu vermitteln, war die überwölbende Idee - Bildung verstanden als Vermittlung von Wissen, als Förderung des seelischen wie geistigen Wachstums und des geistigen Erlebnisses. Die Schulfunkredaktionen hatten somit eine Hoch-Zeit; jeder Sender brachte entsprechende Sendungen am Vormittag und am Nachmittag, von Montag bis Samstag, mindestens jeweils dreißig, wenn nicht sechzig Minuten lang. Und es war die Blütezeit der Kulturredaktionen schlechthin, denn es galt, dem großen Nachholbedarf an Neuem, an ideologiefreien Programmangeboten zu entsprechen. Gesendet wurden etwa Lesungen aus Werken der klassischen Literatur und Besprechungen der Bücher zeitge248
Eine wundersame Vermehrung der Programme
nössischer Autoren. Bevorzugte Themen in den fünfziger Jahren waren die Auseinandersetzung mit aktuellen Werken der Literatur und Berichte über die großen Kontroversen der Gegenwart; (etwa über äußere und innere Emigration in der NS-Zeit, mit Protagonisten wie Thomas und Heinrich Mann, Gottfried Benn, Bertolt Brecht, Hermann Hesse). Zu den .anspruchsvollen' Sendungen dieser Zeit gehörten weiterhin, wie schon vor dem Kriege, Hörspiele, die einzige genuine Sendeform für den Hörfunk; dieser öffnete sich jetzt auch den aktuellen Problemen der Zeit. Populäres stand neben Experimentellem, Unterhaltsames neben Bewährtem. Allerdings befanden sich damals schon viele der Programme im Widerspruch zu den Erwartungen der Hörer. Wie in der NS-Zeit waren diese in den Jahren des Aufbaus mit schwerer, häufig körperlicher Arbeit nicht unbedingt daran interessiert, gemeinsam mit den Redakteuren in den Funkhäusern sich den Schätzen christlich-abendländischer Kultur zuzuwenden. Das Bedürfnis an aktuellen Informationssendungen war größer, am größten jedoch der Wunsch nach Unterhaltung jeden Genres. So gaben im Jahre 1951 auf die Frage „Was hören Sie am liebsten im Programm Ihres Senders?" 42,2 Prozent die Antwort „Musik"; für Nachrichten und Wetterberichte stimmten 19,5 Prozent und nur knapp 5 Prozent gaben Politik, Wirtschaft und Kommentare zur Antwort. Alle anderen Programmsparten erreichten Werte nicht über drei Prozent. Vor diesem Hintergrund muss man den geradezu riesigen Erfolg der Sendereihe „Die Familie Hesselbach" sehen - die erste soap-opera im Hörfunk, Vorbild für alle nachfolgenden Familienprogramme; sie war nicht zuletzt deshalb so erfolgreich, weil sowohl bei den Themen als auch in den Personen (,Babba' und .Mamma' Hesselbach mit ihren Kindern Willi und Annelies) die Hörer ihre Alltagsprobleme und sich selbst wieder erkannten. Als im März 1956 der HR die Sendereihe aus dem Hörfunk in das Fernsehen verlegte, gab es einen Sturm entrüsteter Proteste; nicht nur die Verlegung in das andere, immerhin auch populäre neue Medium wurde kritisiert, sondern vor allem das gesunkene Niveau, was Themen und Dialoge betraf. - Fast alle Sender entwickelten, wenn sie die „Familie Hesselbach" nicht direkt in ihre Programme übernahmen, eigene Familienreihen, oft im regionalen Idiom. Die zahlreichen Quiz- und Spielsendungen waren bestimmt von zwei großen .Machern': Peter Frankenfeld und Hans Joachim Kulenkampf. Ihre Sendungen waren öffentliche Veranstaltungen auf Marktplätzen oder aus großen Sälen. Kulenkampf, damals ein junger Schauspieler, wurde mit „Heiß oder Kalt" zum unbestrittenen Vorbild und Maßstab aller Quizmaster. Der „Frankfurter Wecker", 15 Jahre lang von 1952 bis 1977 im Programm des HR, 249
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gehörte zu den erfolgreichsten Unterhaltungsmagazinen mit Leitfunktion fur andere. Peter Frankenfeld war im Hörfunk erfolgreich und stilbildend mit seiner Spiel-Reihe „Wer zuletzt lacht..."; hier konnten Hörer mitmachen und sich als Kandidaten bei oft skurrilen Denk- oder Erlebnisaufgaben beteiligen. Es winkten attraktive wertvolle Sach- und Geldpreise. Schulfunk am Morgen und Nachmittag, Unterhaltung in Wort und Musik fur die ganze Familie am Abend, Literatur, Hörspiel und Anspruchsvolles am späteren Abend oder nachmittags, Sport am Wochenende und dazwischen Informationen vielfaltigster Art mit Musik vom Morgen bis Mitternacht: Vieles fur viele - so sahen die Grundstrukturen im Hörfunk aus, bevor ihn die erste, wirklich grundlegende Krise erfasste.
Die Geburt des Fernsehens aus dem Geiste des Radios
Am ersten Weihnachtsfeiertag 1952 nahm der NWDR seinen regelmäßigen Fernsehdienst auf; am 1. Oktober 1954 begann das gemeinsame ARD-Programm. Zunächst war das Interesse an dem neuen Medium verhältnismäßig gering; bei Umfragen äußerte ein Drittel der Befragten, dass sie sich kein Fernsehgerät ins Wohnzimmer stellen würden. Das änderte sich rasch; während 1955 nur 100.000 Fernsehteilnehmer registriert waren, wurde im Oktober 1957 bereits die Einmillionengrenze, Ende 1958 die Zweimillionengrenze erreicht. Ende 1960 gab es vier Millionen Fernsehteilnehmer, Oktober 1963 acht Millionen. Die Anschaffung eines Gerätes war am Anfang mit hohen Kosten verbunden. Auf der Zweiten Deutschen Industrieausstellung 1951 in Berlin zeigten sechzehn Firmen dreißig TV-Modelle, und zwar jeweils in zwei Ausfuhrungen: als Tischgerät fur 1200 bis 1500 Mark; und als Fernsehtruhe oder Fernsehschrank mit entsprechendem Aufschlag - am Sozialprestige der Wohnzimmereinrichtung ausgerichtet, oft .abendländischer Tradition* verpflichtet; mit Namen wie .Tizian', ,RafFael',,Leonardo',,Leonardo Luxus'. Bald wurde deutlich, dass mit dem Fernsehen dem Hörfunk ein mächtiger, unter Umständen diesen gefährdender Publikumskonkurrent erwuchs. „So bekundeten vor allem diejenigen Radiohörer großes Interesse am Fernsehen, die auch das Radio intensiv nutzten. Nach einer Umfrage im SDR-Gebiet aus dem Jahr 1955 war jeder dritte Viel- oder Langhörer (mit einer Hördauer von vier Stunden und mehr) am Fernsehempfang in den eigenen vier Wänden stark interessiert, von den Wenig- oder Kurzhörern (Hördauer bis zu zwei Stunden) waren es nur 16 Prozent. Wichtigster Grund fiir die Anschaffung eines Fernsehgeräts war die Unterhal250
Die Geburt des Fernsehens
tung; zwei Drittel der Befragten nannte sie als Hauptmotiv. Die Teilnahme am Zeitgeschehen, aber auch der Reiz des neuen Mediums, spielten mit 12 bis 13 Prozent eine untergeordnete Rolle." 19 Die Ansprüche an die Sendungen des Fernsehens zeigten jedoch keinen großen Unterschied zu denen an die Programme des Hörfunks. Und die Verantwortlichen für das ,Radio mit Bildern' bekannten sich zu der Prämisse, wie sie seit Entstehen des Hörfunks und dann vor allem nach 1945 galt: nämlich dass der Rundfunk insgesamt eine .moralische Anstalt' zu sein habe, die der Erziehung des Menschengeschlechts diene. Die aufklärerischen Blütenträume, die man mit dem neuen Medium verband, reiften freilich nicht so, wie die Optimisten unter den Präzeptoren es erhofft hatten; das lag vor allem daran, dass die neue .Bildersprache' eine so große Sogwirkung ausübte, dass alle guten pädagogischen Vorsätze rasch .hinweggespült' (.hinweggespielt') wurden. Nach dem ersten halben Jahr Sendezeit erregte ein Telegramm des damaligen Bundestagspräsidenten Hermann Ehlers an den NWDR-Intendanten Pleister Aufsehen: Er habe gestern ferngesehen und nur bedauert, nicht auf das Programm schießen zu können.
29 Am 16. Januar 1952 wird erstmals Werner Höfers .Internationaler Frühschoppen' im Hörfunk des WDR Köln gesendet und bis Ende 1987 fortgeführt, seit 30. August 1953 auch im Fernsehen
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Die Konsum-Mentalität der Wirtschaftswunderkinder stand zudem nicht auf der Seite derjenigen, die eine asketische Nutzung des Fernsehens anstrebten. Fernseherziehung spielte keine Rolle in den Bildungsplänen; auch bei curricularen Reformen blieb sie weitgehend unbeachtet. Schließlich versäumte es die Journalistik, so wie sie auch die Architekturkritik vernachlässigte, regelmäßig das Fernsehen zu .rezensieren'; ein eigenes Genre dafür bildete sich nicht oder erst später und dann oft nur als .Berichterstattung' auf einer eigenen Rundfunk- und Fernsehseite heraus; es gab freilich Ausnahmen: So etwa erschien in den fünfziger Jahren in den regionalen, aber auflagenstarken .Nürnberger Nachrichten' jeden Tag eine Fernsehkritik (von Wolfgang Buhl) und in der .Zeit' wöchentlich eine solche von Momos (Walter Jens). Das schnell ansteigende Interesse am Fernsehen führte dazu, dass immer mehr Menschen abends zuhause blieben, auch Gäste einluden und überhaupt die Familie sich um den Fernsehschirm versammelte, anstatt anderen Aktivitäten nachzugehen. Dazu kam, dass man länger aufblieb. Lag vom Radiopublikum werktags fast jeder vierte um 21 Uhr schon im Bett, so war es von den Fernsehteilnehmern eine Minderheit von 4 Prozent; um 22 Uhr hatten sich bereits Zweidrittel der Radiohörer zur Ruhe begeben, von den Fernsehteilnehmern waren es 29 Prozent. Das .Institut für Demoskopie Allensbach' prognostizierte, dass dem Hörfunk bei Vollausstattung der Haushalte mit Fernsehgeräten in den Abendstunden zwischen 20 und 22 Uhr nur noch 5 Prozent seines Publikums verbleiben würden. 1975 gab es 21,1 Millionen Radioapparate und 19,2 Millionen Fernsehgeräte; 1984 saßen die Bundesdeutschen pro Tag 1 Stunde und 10 Minuten vor dem Fernseher, 1990 waren es in nahezu allen Haushalten 2 '/4 Stunden. Eine Studie in den sechziger Jahren „Zur Bedeutung des Fernsehens im Leben der Erwachsenen" arbeitete fünf psychologische Funktionen des Mediums heraus: -
aktuelle Orientierung ablenkende Unterhaltung Entlastung von den alltäglichen Beanspruchungen Ersatz für fehlende Kontakte und Mittel gegen Einsamkeit Gesprächsstoff, der die allgemeine Kommunikation erleichtere und befördere.
Alle diese Attraktoren bestimmten auch die Beliebtheit des Rundfunks seit seinem Entstehen, doch war eine audiovisuelle Vermittlung vor 252
Die Geburt des Fernsehens
allem dann wesentlich verführerischer, wenn sie, entgegen programmatischer Erklärungen, ein auf leichte Unterhaltung zielendes .Mischgericht' anbot. Immer mehr setzte sich die Absicht der Programmplaner durch - der Entwicklung der Hörfunkprogramme in den zwanziger Jahren ähnlich - , „der Menge zu behagen". Als der NWDR mit dem täglichen Fernsehen am 25. Dezember 1952 begann, gab man im Hamburger Senderaum, damals nur von wenigen TV-Besitzern auf winzigen, in große Holzkästen eingelassenen Bildschirmen verfolgt, das „Vorspiel auf dem Theater" aus Goethes „Faust" zum Besten: „Gebt ihr ein Stück, so gebt es gleich in Stücken! / Solch ein Ragout, es muß euch glücken." Bei dem visuellen .Mischgericht', zu dem von Anfang an die in hoher Gunst stehenden Spielfilme sowie Sport- und kabarettistische Veranstaltungen gehörten, wurden geistige Schärfe und Würze aufs Milde hin abgeschmeckt. Nach der von Adolf Grimme, Generalsekretär des NWDR, bei der Eröffnung des ersten Fernseh-Nachkriegsstudios in Hamburg-Lokstedt, Oktober 1953, ausgegebenen Devise „Freude schenken!" erfolgte vorrangig, nicht anders als zur Entstehungszeit des Rundfunks, der Ausbau der Unterhaltung. Immerhin gab es, anders als beim Hörfunk der Weimarer Republik, widerborstige Magazinsendungen, die dann vom Hörfunk übernommen wurden. Sie gerieten bald unter politischen Druck von oben. Als zum Beispiel das .Norddeutsche Fernsehen' im Rahmen der Sendung „Panorama" im November 1964 einen Beitrag von Lutz Lehmann zeigte, der die Strafverfolgung politischer Vergehen in der Bundesrepublik kritisierte, musste der Sender wegen des Protests der Behörden sich sechs Wochen später davon distanzieren. Eugen Kogon, angesehener Moderator der Sendung, legte die Leitung nieder, nachdem schon einige Zeit vorher der streitbare Chefredakteur Gert von Paczensky ausgeschieden war. In seiner Abschiedsansprache warnte Kogon vor der wachsenden .Autokratisierung' des öffentlichen Lebens in der Bundesrepublik. Das Magazin „Monitor" des .Westdeutschen Rundfunks* wurde seit 1965 (unter Klaus Hinrich Cassdorf) ausgestrahlt. Es war gleichermaßen in Kontroversen verstrickt und wurde - wie auch andere Informationsund Diskussionssendungen - von der Politik mit dem Vorwurf der .Unausgewogenheit' bedacht. Die Sündenregister der .Mattscheiben-Störenfriede' sahen jeweils ziemlich ähnlich aus: Die Sendungen seien „manipuliert", subjektiv „einseitig", „unwahr", „halbwahr", „unfair", „zweifelhaft". Was von den Fernsehsittenrichtern als „Gemeinwohl" ausgegeben wurde, bezog sich in den meisten Fallen nur auf das Wohl der eigenen Partei oder Parteiung. 253
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Der Siegeszug des Fernsehens war semantisch allein schon daran ablesbar, dass man bei dem Oberbegriff .Rundfunk' vorrangig an den Bildschirm dachte dachte und Hörfunk als Quantité négligeable empfand; solche Abwertung versetzte ihn in einen Zustand des Defaitismus, aus dem er sich nur langsam befreien konnte. Lange Zeit folgte er noch dem nach 1945 eingeschlagenen Weg, der freilich gerade wegen des in den verschiedenen Programmsparten und Sendeformen entwickelten hohen Niveaus in die .innere Medienemigration' führte (die vielfach von den Redaktionen und Redakteuren als Gegenposition zum Quotendruck mit selbstbewussten Stolz vertreten wurde). Der entgegengesetzte Versuch, die Isolierung zu zerbrechen, wurde ebenfalls gemacht: Hatte bislang das Fernsehen sich am Hörfunk orientiert, so ging man nun daran, den Hörfunk fernsehgerecht zu gestalten: zum Beispiel durch .Entwortung', Musikberieselung und rasche Schnittfolgen; es entstand der „Dudelfunk mit hirnlosem Moderatorengequassel". Erst mit der Einfuhrung des dualen Systems in den achtziger Jahren, dem der Fernsehcoup Konrad Adenauers, auch wenn er in seiner ursprünglichen Intention zunächst misslang, den Weg ebnete, verstärkte sich die Herausforderung des Hörfunks so, dass dieser die Kraft zu einer Neupositionierung fand.
Oer misslungene Coup Adenauers Die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs hinterließen, nachdem sie sich aus der übernommenen Regierungsgewalt zurückgezogen hatten, zwei diametral entgegengesetzte Rundfunkordnungen: Die Sowjets schufen einen mit der Gründung der D D R staatsrechtlich etablierten zentralistischen Staatsrundfunk - unter der Hegemonie der SED. Die westlichen Besatzungsmächte verwirklichten ein föderalistisches Rundfunkwesen mit sechs öffentlich-rechtlichen Anstalten. Die Dezentralisierung war abgeleitet von dem Beschluss der .großen Drei' (USA, Großbritannien, UdSSR) auf der Potsdamer Konferenz im Juli/ August 1945, Deutschland zu entmilitarisieren, zu entnazifizieren und zu demokratisieren. Die Briten und Franzosen präferierten mit dem N W D R und S F W Mehrländeranstalten, die Amerikaner eigenständige Landesrundfunkanstalten (insgesamt vier). Eine besondere Situation hatte sich in Berlin ergeben. Die von den Westalliierten geschaffene öffentlich-rechtliche Rundfunkorganisation bedeutete, wie schon mehrfach herausgestellt, fur Deutsch-
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Der missiungene Coup Adenauers
3 0 A F N Berlin: Tag der Offenen Tür für die deutschen Hörer
land einen tiefen Einschnitt. Bestimmt von der Idee einer gesellschaftlichpluralistischen Kontrolle, wurde auf diese Weise eine bis 1945 nicht gekannte Unabhängigkeit des Rundfunks vom Staat erreicht. Bei der Konstruktion der Kontrollgremien mussten jedoch die Besatzungsmächte den deutschen Begehrlichkeiten in einem Ausmaß entgegenkommen, dass es schon bald zu einem empfindlichen Substanzverlust bei postulierter Staatsferne kam. Deshalb warnte Hugh Carleton Greene wie manch anderer seiner alliierten Kollegen immer wieder eindringlich vor den Gefahren eines durch die Politik gelenkten Rundfunks: „Es gibt wahrscheinlich in allen Parteien kurzsichtige Menschen, die fur ihre eigene Partei die Vorherrschaft im Rundfunk wünschen."20 Die Sorge war berechtigt; schon kurz nach der Gründung der Bundesrepublik kündigte Bundeskanzler Konrad Adenauer die Absicht einer Neuordnung des Rundfunkswesen an; über Jahre hinweg verfolgte er hartnäckig das Ziel, den Einfluss der Bundesregierung zu verstärken. Er stieß dabei auf einen gestärkten Gegner - hatten doch die Rundfunkanstalten sich zum Zweck gemeinsamer Interessenwahrnehmung und der Zusammenarbeit (etwa beim Programmaustausch) einen organisatorischen Rahmen geschaffen: die .Arbeitsgemeinschaft der öffendich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland' (ARD). Auch 255
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wenn es sich um keine eigene Rechtspersönlichkeit handelte, wuchs die Bedeutung dieses losen Zusammenschlusses vor allem dann, als wegen der Einführung des Fernsehens erhebliche Investitionen notwendig wurden und Kooperation schon aus wirtschaftlichen Gründen angebracht erschien. 1953 kam es zum sogenannten ,Fernsehvertrag', der das Gemeinschaftsprogramm der ARD festlegte; und am 17. April 1959 zu zwei Staatsverträgen der Länder, die der Arbeit der ARD zu einer sicheren normativen Basis verhalfen. Das Abkommen über die Koordinierung des Fernsehprogramms ermächtigte und verpflichtete die Landesrundfunkanstalten, gemeinsam ein Fernsehprogramm zu gestalten; der andere Vertrag sah einen angemessenen Finanzausgleich zwischen den Landesrundfunkanstalten vor. Die Bundesregierung wiederum ergriff verschiedene Gesetzesinitiativen, die bundesunmittelbare Sendeanstalten ermöglichen sollten, was jedoch der föderalen Struktur der Bundesrepublik widersprach. Wegen des zunehmenden großen Einflusses des Fernsehens verstärkte Adenauer seine Bemühungen, da er Rundfunk als politisches Führungsmittel der Regierung begriff; die Einflusslosigkeit des Bundes auf die Rundfunkprogramme der Landesrundfunkanstalten empfand er als geradezu .peinigend'.
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Bundeskanzler Adenauer und sein Finanzminister Fritz Schäffer unterzeichnen am 25. Februar 1969 den Vertrag für das neu zu gründende Deutschland Fernsehen
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Nachdem der 1953 durch CDU und FDP eingebrachte Initiativantrag fur ein Gesetz zur „Wahrnehmung gemeinsamer Aufgaben auf dem Gebiet des Rundfunks" sowohl von der Alliierten Hohen Kommission wie von den Ministerpräsidenten der Länder abgelehnt worden war, sah Adenauer 1959, als die Bundespost unter Berufung auf die Fernmeldehoheit des Bundes das Sendernetz für ein zweites Fernsehprogramm auszubauen begann - und zwar auf zwei neuen Frequenzen, die sie der ARD verweigerte -, eine neue Chance für seine zentralistischen Intentionen. Die Schaffung einer vom Bund bestimmten Fernsehanstalt lehnten die Ministerpräsidenten jedoch entschieden ab. Bei dem nun folgenden Rundfunk- bzw. Fernsehstreit deckten sich bei den sozialdemokratischen Regierungschefs jeweils das Interesse ihres Landes mit der Auffassung ihrer Partei; die Ministerpräsidenten der von der CDU und CSU regierten Länder befanden sich allerdings wegen der von ihnen erwarteten parteipolitischen Solidarität in einem Interessenkonflikt, den sie zugunsten der Verteidigung der verfassungsrechtlichen Position der Länder entschieden. Das .Bubenstück', das Grundgesetz durch die Gründung einer privatrechtlichen Gesellschaft mit beschränkte Haftung (.Deutschland-Fernsehen GmbH') zu umgehen - denn das Zweite Programm sollte noch vor den Bundestagswahlen 1961 sendefahig sein -, scheiterte am Bundesverfassungsgericht, bei dem die SPD-Länder Hamburg, Hessen, Bremen und Niedersachsen Klage eingereicht hatten. Dieses verbot zunächst durch einstweilige Verfügung im Dezember 1960 die Ausstrahlung eines Zweiten Programms sowohl durch die ,Deutschland-Fernsehen GmbH' als auch durch die ARD. Mit Urteil vom 28. Februar 1961 (dem sogenannten .Ersten Fernsehurteil') wurde den Ländern die volle Rundfunkkompetenz zugesprochen; der Rundfunk falle als .kulturelles Phänomen' unter die im Grundgesetz festgelegte Kulturhoheit der Länder. Ferner müsse bei jeder denkbaren Organisationsform Gewähr gegeben sein, dass in ihr in ähnlicher Weise wie bei den öffentlich-rechtlichen Anstalten alle gesellschaftlich relevanten Kräfte zu Wort kämen und die Freiheit der Berichterstattung unangetastet bleibe. Die Gründung der .Deutschland Fernsehen GmbH' verstoße gegen Artikel 30 in Verbindung mit dem VIII. Abschnitt des Grundgesetzes sowie gegen den Grundsatz bundesfreundlichen Verhaltens und gegen Artikel 5 des Grundgesetzes. In Artikel 30 heißt es: „Die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben ist Sache der Länder, soweit dieses Grundgesetz keine anderen Regelung trifft oder zulässt." Der VIII. Abschnitt des Grundgesetzes, Artikel 83 bis 91, regelt die Ausführung der Bundesgesetze und die Bundesverwaltung. Artikel 5 besagt: „1. Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allge257
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mein zugänglichen Quellen umgehend dazu zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt." Mit Befriedigung kommentierte Willibald Hilf damals SWF-Intendant und ARD-Vorsitzender, das Urteil: „Diese Funktionsgarantie [des öffentlich-rechtlichen Rundfunks] ist in einem erfreulich starken Maß herausgestellt worden und kann von der Tagespolitik nicht länger in dem zuletzt häufig geschehenen Maß in Frage gestellt werden. Die Feststellung, daß nur ein ungeschmälerter öffentlich-rechtlicher Rundfunk als Rundfunk für alle Bürger eine Konstruktion privaten Rundfunks mit zwangsläufig minderen Anforderungen an Meinungs- und Programmvielfalt überhaupt möglich sein läßt, kann man als eine .Magna Charta' des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ansehen." 21 Mit dem ,Fernseh-Urteil' war klargestellt, dass die Nutzung einer weiteren Fernsehfrequenz in der Hand der Länder lag; doch erfüllten sich die Erwartungen der ARD-Rundfunkanstalten nicht, dass sie nun das weitere Fernsehprogramm selbst betreiben könnten. (56 Prozent der Bevölkerung wünschten sich einen zweiten Kanal, der sich inhaltlich vom ersten Fernsehen unterschied und so eine Wahl von zwei Programmen ermöglichte.) Mit dem „Staatsvertrag über die Errichtung der Anstalt des öffentlichen Rechts Zweites Deutsches Fernsehen", der am 6. Juni 1961 beschlossen wurde und am 1. Januar 1962 in Kraft trat, wurde als Gegenpol zur ARD eine rechtsfähige Körperschaft geschaffen, die also unabhängig von den bereits existierenden Landesrundfunkanstalten ihr Programm anbot. Vorgesehen wurde, dass dem Fernsehrat dieser Anstalt elf Vertreter der Landesregierungen, drei der Bundesregierung, zwölf aus den Vorständen der Bundesparteien und vierzig der gesellschaftlich relevanten Gruppen angehörten. Eine solche Zusammensetzung stellte nach Hans Bausch „das Musterbeispiel eines Kompromisses zwischen staatlichem Kontrolleinfluss, parteipolitischem Ausgleichsbemühungen und Beachtung des verfassungsrechtlichen Gebots" dar.22 Trotz solche Zugeständnisse der Länder, die jedoch inzwischen ihre Zuständigkeit durch Schaffung des ZDF dokumentiert hatten, war der Coup Adenauers insgesamt gescheitert. Allerdings nahm der Bund aufgrund seiner Zuständigkeit für die auswärtigen Beziehungen und für Gesamtdeutschland in Anspruch, Rundfunksendungen für das Ausland und für die nicht in der Bundesrepublik lebenden Deutschen veranstalten zu dürfen, was zur Gründung der .Deutschen Welle' und des .Deutschlandfunks' führte. Die dagegen erhobenen verfassungsrechtlichen Zweifel wurden vom Bundesverwaltungsgericht ausgeräumt. Dementsprechend erfolgte 1962 die Aufnahme dieser beiden Bundesrundfiinkanstalten in die ARD.
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Obwohl inhaltlich vorwiegend ein ,Fernseh-Urteil\ war die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1961 strukturell auch ein Markstein für den Hörfunk - ging es doch den Karlsruher Richtern (unabhängig vom konkreten Streitfall) „um eine grundsätzliche Klärung der Position des Rundfunks im Staats- und Verfassungsgefiige der Bundesrepublik Deutschland. Anhaltspunkte fand das Gericht in den historischen Erfahrungen mit dem Rundfunk in der Weimarer Republik und im Dritten Reich sowie vor allem in den Beratungen über das Grundgesetz im Parlamentarischen Rat. Nach seinen Feststellungen hatten die Verfassungsväter 1949 die Rundfunktechnik dem Fernmeldewesen und damit der Gesetzgebungskompetenz des Bundes zugeschlagen und die inhaltlich-programmliche Ausgestaltung der Sendungen den Ländern als Träger der Kulturhoheit übertragen. Für die Verfassungshüter war der Rundfunk ein eminent wichtiger ,Faktor' der Meinungsbildung; sie stellten fest: ,Der Rundfunk gehört ebenso wie die Presse zu den unentbehrlichen modernen Massenkommunikationsmitteln, durch die Einfluß auf die öffentliche Meinung genommen und diese öffentliche Meinung mitgebildet wird. Der Rundfunk ist mehr als nur .Medium' der öffentlichen Meinungsbildung. Diese Mitwirkung an der öffentlichen Meinungsbildung beschränkt sich keineswegs auf die Nachrichtensendungen, politischen Kommentare, Sendereihen über politische Probleme der Gegenwart, Vergangenheit oder Zukunft; Meinungsbildung geschieht ebenso in Hörspielen, musikalischen Darbietungen, Übertragungen kabarettistischer Programme bis hinein in die szenische Gestaltung einer Darbietung. Jedes Rundfunkprogramm wird durch die Auswahl und Gestaltung der Sendungen eine gewisse Tendenz haben.' Nach Meinung der Karlsruher Richter gab es einen Unterschied zwischen Rundfunk und Presse. Obwohl Zeitungen nicht beliebig gegründet und unterhalten werden könnten, gebe es eine relativ große Zahl selbständiger und nach ihrer Tendenz, politischen Färbung oder weltanschaulichen Ausrichtung miteinander konkurrierender Presseerzeugnisse. Im Gegensatz dazu müsse aus technischen und finanziellen Gründen die Anzahl der Rundfunkanbieter klein sein. Daraus folgerten die Richter: ,Die Veranstalter von Rundfunksendungen müssen ... so organisiert werden, daß alle in Betracht kommenden Kräfte in ihren Organen Einfluß haben und im Gesamtprogramm zu Wort kommen können, und daß für den Inhalt des Gesamtprogramms Leitgrundsätze verbindlich sind, die ein Mindestmaß von inhaltlicher Ausgewogenheit, Sachlichkeit und gegenseitiger Achtung gewährleisten. Das läßt sich nur sicherstellen, wenn diese organisatorischen und sachlichen Grundsätze durch Gesetze allgemein verbindlich gemacht werden.' Für die Anhänger privaten Hörfunks bzw. Fernsehens hielten die Richter ein
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Trostpflaster bereit: Aus dem Grundgesetz gehe nicht hervor, daß der Rundfunk ausschließlich öffentlich-rechtlich organisiert sein müsse. Auch Gesellschaften privaten Rechts könnten Rundfunksendungen veranstalten vorausgesetzt, sie ließen alle gesellschaftlich relevanten Kräfte zu Wort kommen und tasteten die Freiheit der Berichterstattung nicht an. Generell verlange Artikel 5 des Grundgesetzes, daß der Rundfunk als .modernes Instrument der Meinungsbildung weder dem Staat noch einer gesellschaftlichen Gruppe ausgeliefert wird.'"23 Nach der Niederlage Konrad Adenauers kam es dann zu weiteren sieben Rundfunk-Urteilen des Bundesverfassungsgerichts, die gewissermaßen eine Exegese des Artikel 5, Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes („Die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk wird gewährleistet") darstellen. So erfreulich es ist, dass die ,Hüter der Verfassung' auch hinsichtlich des Rundfunks ihres Amtes mit entschiedener Klarheit walteten, so negativ ist es zu bewerten, dass die Politik offensichtlich wegen mangelnden Handelns im Geiste des Grundgesetzes solcher Korrekturen bedurfte. Nur in Karlsruhe ist somit nach Beendigung der westalliierten Funkhoheit deutlich beschrieben worden, was Rundfunk sein soll - in seiner Funktion fiir Demokratie und Kommunikation sowie in seiner Organisation und ,Figur' zur Gewährleistung eben dieser Funktionsfahigkeit, desgleichen in seiner Zugehörigkeit zu den Ländern. „Im immerwährenden Streit und Kampf um und gegen ihn, der schon bald nach seiner Errichtung einsetzte, klärten sich von Urteilsspruch zu Urteilsspruch die Eckwerte sowohl der Rundfunkfreiheit wie des Programmauflrages im Sinne auch seiner medialen und mitwirkenden Einbindung in die Kultur. Dem Umstand, daß Rundfunkentwicklung hierzulande weitgehend immer auch Streit- und Prozessgeschichte war und wohl auch bleiben wird, verdanken wir ein dichtes, normatives Geflecht dessen, was seine Aufgabe ist und was er nicht und nie mehr sein oder werden sollte."24
Chancen für neue Programmformen Die Bonner Regierungspolitik hatte um Einfluss auf das Fernsehen gekämpft: vor allem wegen der immer wichtiger werdenden Funktion des neuen Mediums bei Machterhalt und Machtgewinn; sie hatte sich (vorerst) mit zwei Hörfunksendern, dem .Deutschlandfunk' in Köln (als gesamtdeutscher Informationssender) und der .Deutschen Welle' (als deutscher Sender fur das Ausland) begnügen müssen. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk, wollte er sich bei den Gebühren zahlenden Rundfunkteilnehmern nicht in 260
Chancen für neue Programmformen
Hinblick auf das Fernsehen überflüssig machen, musste aus eigener Kraft eine neue Strategie fiir die Gestaltung seiner Zukunft entwickeln. In dem einen Falle handelte es sich um einen medienpolitischen Grundgesetzkonflikt; im anderen fand eine gleichsam innerfamiliäre Auseinandersetzung um die Gunst der Rundfunknutzer statt. Bei beidem ging es um die Rolle des Bürgers in der sich herausbildenden Mediengesellschaft; zusammengenommen stellten sie die bis dahin schwerste Herausforderung des Rundfunks dar. Indem das Fernsehen die Programmstrukturen und Formate des Hörfunks übernahm, was anfangs allerdings oftmals nur zu schlecht abfotografiertem Hörfunk führte, wurden aus Zuhörern rasch Zuschauer. Der Hörfunk verlor drastisch an Publikum, und zwar bei allen Altersgruppen und zu allen Programmzeiten. So nahm die durchschnittliche tägliche RadioNutzungsdauer von 2 Stunden 49 Minuten im Jahr 1958 auf 2 Stunden und 12 Minuten im Jahr 1960 ab. Auch die Hörer anspruchsvoller Sendungen in den zweiten Programmen liefen zum Fernsehen über, wo man immerhin zur besten Abendzeit OpernaufRihrungen, gute Spielfilme und Konzerte sehen konnte. Diese Hörerbewegungen wurden dadurch mit herbeigeführt, dass die besten Rundfunkjournalisten kaum dem Reiz des Visuellen, den hohen Honoraren, aber auch der kreativen Herausforderung, die das Fernsehen mit sich brachte, widerstehen konnten. So tauchten die großen Namen des Radios bald im Fernsehen auf: Peter von Zahn ebenso wie Thilo Koch, Peter Frankenfeld ebenso wie Hans Joachim Kulenkampf, und schließlich Werner Höfer mit seinem „Internationalen Frühschoppen". Der Hörfunk musste reagieren. Dabei stand er, wie einige Jahre später auch in der DDR, vor dem Problem, dass sich qualifizierte Mitarbeiter für neue Sendungen und Produktionen nicht so leicht finden ließen. Das führte dazu, dass geeignete Redakteure und Redakteurinnen bi-medial eingesetzt wurden. Auch erfolgte eine erste Abkehr von dem bisher als ,heilig' geltenden Prinzip, wonach jede Redaktion und jede Sparte quasi Anspruch auf ihr ,Programm-Kästchen' in der Woche hatte. Nun ging man dazu über, Sendeformen zu entwickeln, an denen mehrere Redaktionen beteiligt waren. Es gab zu verschiedenen Tageszeiten größere Programmflächen und, vor allem am Abend, Mischformate: Musik und Wort, Politik und Kultur arbeiteten an einem Thema zusammen; die ,Themenabende' liefen über drei bis vier Stunden und beleuchteten jeweils verschiedene Aspekte. Die Hörer konnten auswählen, hineinhören und .aussteigen', ohne den ,roten Faden' zu verlieren. Damit kam man auch einem Trend entgegen, den entsprechende Untersuchungen der Hörerforschung ausfindig gemacht hatten: Radio wurde während des Tages oft wenig bewusst, etwa wegen einer bestimm261
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ten Sendung, eingeschaltet; man nutzte es mehr als .Begleitmedium', zu der Ausfuhrung anderer Tätigkeiten. Hatten 1952, also vor Einführung des Fernsehens, noch 36 Prozent der Hörer ihr Radio eingeschaltet, weil sie sich in einer ausgedruckten Programmvorschau informiert hatten, so waren es 1960 nur noch 18 Prozent. Das Radio war, evt. unumkehrbar, von einem Primär- zu einem Sekundärmedium geworden. Folgerichtig ging man ab dem Ende der sechziger Jahre bei den Uberlegungen, wie man die Hörer beim Radio halten, sie fürs Medium zurückgewinnen könne, einen Schritt weiter: Waren die Hörer am Abend nicht längere Zeit zu interessieren, so musste man sie künftig umso intensiver durch Programme am Tage ansprechen. Ein Weg dorthin schien besonders viel versprechend: nämlich sich an den Erwartungen und Interessen der Hörer zu orientieren. Der Begriff .Zielgruppenprogramme' hat hier seinen Ursprung. Er wurde in den kommenden Jahren maßgebend für alle Strukturreformen. „Dichter ran an den Hörer!" war eines der Schlagworte in den Redaktionen. Das bedeutete auch die Entdeckung des Rundfunks als Service für die Hörer, erkennbar an den in den siebziger Jahren - an sich das Zeitalter des Fernsehens - allenthalben aufblühenden Service-Wellen und Service-Sendungen des Hörfunks. Unter programmlicher Schwerpunktbildung verstand man nun vorwiegend: - Aktualisierung: durch mehr Nachrichten und Informationen sowie durch Magazinierung bestimmter, programmprägender Sendungen; - Typisierung: indem man jedem Programm ein nach Inhalt und Präsentationsform durchgehendes, leicht erkennbares Profil gab; - Personalisierung: indem man Sendungen durch die gleiche Moderatorenstimme zusammenhielt und damit ebenfalls für den Hörer gut erkennbar machte; - Spezialisierung: als Angebot von Servicesendungen und -Programmen für bestimmte Minderheiten. Auf diese Weise erhielten die meist drei und mehr Hörfunkprogramme der ARD-Sender spezifische Konturen: - Als Tagesbegleitprogramme: mit meist stündlichen und in den Tageseckzeiten (am Morgen und frühen Abend) halbstündlichen Nachrichten; mit Verkehrs- und anderen Informationen und viel leichter Musik, oft in Form von Wort-/Musikmagazinen, darunter großflächige Morgen- und Mittagsmagazine. Dafür standen vor allem die ersten Programme auf Mittelwelle und UKW zur Verfügung. 262
Das duale System entsteht
- Als Kulturprogramme: mit anspruchsvollen Sendungen für wechselnde Minderheiten; zumeist klassische, aber auch moderne Musik; Literatur, Hörspiel, Feature und Reste von .reformresistenten' Kästchensendungen der einzelnen Fachredaktionen; fast ausschließlich auf UKW mit Stereoqualität. - Als Servicewellen: mit Sendungen für Hörergruppen mit klar umgrenzten Interessen; z.B. Gastarbeiter, Autofahrer; dazu die Übertragung großflächiger Veranstaltungen; zumeist auf UKW und bezogen auf die engere Region des Sendegebietes.
Der mediale Urknall: Das duale System entsteht
Hatte das Bundesverfassungsgericht auch auf eindeutige Weise die Staatsferne des Rundfunks postuliert, so hatte es jedoch auch festgestellt, dass es vom Grundgesetz nicht verboten sei, wenn private Gesellschaften Rundfunk betrieben (soweit sie nicht vom Staat beherrscht seien). Das gab den Bemühungen um einen kommerziellen Rundfunk Aufwind, für dessen Verwirklichung sich der .Markenverband', die Interessenvertretung der 400 größten Markenartikelhersteller der Bundesrepublik, schon seit 1952 eingesetzt hatte. Zudem entwickelten Teile der Zeitungsverlegerschaft Pläne für eigene gewerbliche Hörfunk- und Fernsehprogramme, wobei beide Interessentengruppen sich jedoch nicht auf eine gemeinsame Strategie einigen konnte. Versuche wiederum, die wirtschaftlichen Absichten mit den politischen der Bundesregierung zu verbinden - in einem Schreiben vom 7. Juli 1959 an den Bundeskanzler sprach der damalige Präsident des .Bundesverbandes der Deutschen Industrie', Fritz Berg, von der Interessenidentität zwischen Bundesregierung und breiter Kreise der gewerblichen Wirtschaft sowie der Verlegerschaft bei der Beseitigung des Monopols der Rundfunkanstalten -, solche Versuche scheiterten am .Adenauer-Urteil' des Bundesverfassungsgerichtshofes. Der Widerspruch aus Karlsruhe gegenüber privaten, vornehmlich kommerziellen Absichten, ein duales System zu etablieren, verschaffte den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten eine Schonfrist von nahezu einem Vierteljahrhundert, von 1961 bis zum Beginn des .Kabelprojekts' von 1984; so war zum Beispiel das saarländische Rundfunkergänzungsgesetz von 1964, das die Möglichkeit einer Konzession privat-kommerziellen Rundfunks vorsah, für nichtig erklärt worden. In den siebziger Jahren gaben jedoch die technologische Entwicklung einerseits und der politische Machtkampf andererseits dem Diskurs über die Zukunft des westdeutschen Mediensystems neue Nahrung. „Die sozial263
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liberale Bundesregierung setzte am 2. November 1973 eine Kommission für den Ausbau des technischen Kommunikationssystems (KtK) ein, um den Bedarf und die Bedürfnisse an neuer Rundfunk-Kommunikation, die Möglichkeiten der Breitband-Kabeltechnik, die finanziellen und zeitlichen Dimensionen sowie die potentiellen technischen Betreiber zu ermitteln. Entsprechend der Zuständigkeit des Bundes standen technologische und technische Fragen im Vordergrund der Kommissionsarbeit. Wie immer in der Mediengeschichte liefen auch hier die technischen Parameter den programmlichen Implikationen voraus; beides ließ sich aber nicht voneinander trennen. Die Breitbandkabel-Technologie wurde zum Einstieg in das duale Rundfunksystem - allerdings erst mit großer Zeitverzögerung.... CDU und CSU drängten in Bund und Ländern auf ein Aufbrechen des öffentlichrechtlichen Systems. In medienpolitischen Thesen kritisierte die CDU 1978 die Verkrustung, mangelnde Flexibilität, Verfestigung der Personalstrukturen und administrative Zwänge, die sich in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten breitgemacht hätten. Die ,Rotfunk'-Kampagne der Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein gegen den Norddeutschen Rundfunk war ein Ausdruck für die Position, die der medienpolitische Sprecher der CDU 1978 auf den Punkt brachte: ,Mit der Okkupation der elektronischen Medien durch die Linke und Ultralinke büßt der Rundfunk seine Fähigkeit ein, die ihm zugewiesene Integrationsfunktion in unserer Gesellschaft wahrzunehmen. ... Der Programmauftrag des Rundfunks pervertiert zunehmend, je mehr Redakteure den Rundfunk als den Ort ihrer politischen Selbstverwirklichung sehen.'"25 So bahnte sich eine medienpolitische Wende mit großer kultureller Auswirkung an, eingeleitet durch Kabelfernseh-Pilotprojekte und unterstützt durch eine Kampagne von Wirtschaftskreisen, die eine Multiplizierung der Werbemöglichkeiten vehement einforderten; Verkabelungsgegner, die ihre Stimme gegen ein Mehr an Fernsehen erhoben, fanden immer weniger Gehör. Bundeskanzler Helmut Kohl (ab 1982), befreundet mit dem Filmkaufmann Leo Kirch, der dem Privatfernsehen dann seinen kometenhaften Aufstieg verdankte, gab den kommerziellen Intentionen eine staatsbürgerliche .Weihe' als Verpackung: „Es geht um die geistige Orientierung, die unsere Gesellschaft prägt; es geht darum, daß unsere politische und kulturelle Ordnung vom zentralen Gedanken der Freiheit bestimmt bleibt."26 Die Voraussetzung für die Zulassung privater Anbieter wurde in den Ländern mit CDU bzw. CSU Mehrheit zügig vorangetrieben; zögerlicher ging man in den SPD-regierten Ländern vor; doch gab man auch hier die Bedenken, die noch den SPD-Medienparteitag von 1971 bestimmt hatten („gesellschaftliche Meinungsvielfalt und kultureller Standard der Programmgestaltung dürfen nicht den Profitinteressen kommerzieller Veran264
Das duale System entsteht
stalter geopfert werden"), bald auf - wesentlich beeinflusst von dem Kommunikationswissenschaftler und Bundestagsabgeordneten Peter Glotz. Unterstützt durch Klaus von Dohnany, auch er eine anerkannte Autorität in der SPD, trat er in der Debatte nicht nur als einflussreicher Funktionär der Partei, sondern auch als herausragender Intellektueller hervor. Glotz, erst gegen, dann fur das Privatfernsehen - auch bei anderen Fragen war seine geistige Wendigkeit notorisch - meinte rückblickend („Nachtgedanken zum zehnjährigen Geburtstages des privaten Fernsehens"), dass der erhoffte Qualitätswettbewerb durch einen Preiskampf um Billigprodukte ersetzt worden sei. Auf die selbst gestellte Frage, ob die Liberalisierung nicht Simplifizierung, Narkotisierung, Euphorisierung, Brutalisierung bewirkt habe, antwortete er: „Zum Teil. Aber das reiche, große, mächtige Deutschland war nicht als medienökologische Insel in einem Meer kapitalistischer Modernisierung haltbar. Dieselben Konzerne und Konsorten, die heute Bayern und Nordrhein-Westfalen zu wirksamen Medienstandorten gemacht haben, säßen bei Fortsetzung einer blockierenden Medienpolitik in Deutschland heute in Luxemburg, und saugten mit deutschsprachigen Programmen den Werbemarkt der Bundesrepublik ab."27
32 Unterzeichnung des ersten Medienstaatvertrags über die Zulassung von kommerziellen Femseh- und Rundfunkprogrammen am 12. Mai 1986 durch (von links, neben Edmund Stoiber): Lothar Späth (Baden-Württemberg), Bernhard Vogel (RheinlandPfalz) und Franz Josef Strauß (Bayern)
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Nachdem eilig - außer in Nordrhein-Westfalen - in den Landesrundfunk- und Landesmediengesetzen die Voraussetzungen fur den Start des privat-kommerziellen Rundfunks geschaffen worden waren (mit Landesmedienanstalten als Lizenzierungs- und Aufsichtsbehörden), vollzog schließlich auch das Bundesverfassungsgericht die Kehre zum dualen Rundfunksystem: Mit seinem Urteil vom 4. November 1986 über das niedersächsische Landesrundfunkgesetz stellte es fest, dass wegen der direkt empfangbaren Satellitenprogramme aus ganz Europa eine „gleichgewichtige Vielzahl" und „Ausgewogenheit" im gesamten Programm nicht mehr uneingeschränkt zu erreichen sei. Allerdings wurde in diesem sogenannten .Dritten Fernseh-Urteil' der Gesetzgeber daraufhingewiesen, dass er Vorkehrungen treffen müsse, um sicherzustellen, dass der Rundfunk nicht einer einzelnen gesellschaftlichen Gruppe ausgeliefert werde, dass die in Betracht kommenden gesellschaftlichen Kräfte im Gesamtprogramm zu Wort kommen und dass die Freiheit der Berichterstatter unangetastet bleiben müssten. Neu eingeführt wurde der Begriff .kulturelle Grundversorgung', der freilich zweischneidig verstanden werden konnte; einerseits schienen die öffentlich-rechtlichen Anstalten dadurch einen Zusatz an Legitimation und eine Entwicklungssicherung, vor allem beim Prinzip der Gebührenfinanzierung, erfahren zu haben; andererseits gilt diese Aufwertung (bis heute) nur „ .solange und soweit' der öffentlich-rechtliche Rundfunk .die essentiellen Funktionen des Rundfunks fur die demokratische Ordnung ebenso wie fur das kulturelle Leben in der Bundesrepublik' erfüllt. Wenn einige privat-kommerzielle Anstalten, so ist zu schlussfolgern, diese .essentiellen Funktionen' im Zuge einer Konvergenz ebenfalls erfüllen, dann ist es mit dem ,je spezifischen Status' der privat-kommerziellen und der öffentlich-rechtlichen Anstalten vorbei, und es entfallt die besondere Legitimation der einen Seite zur kommerziell eher mäßig erfolgreichen Grundversorgungs-^7/cÄiwie der anderen Seite zur weitgehend freien, kommerziell erfolgreichen -Kür. Mit dem Wegfall ihrer Sonderstellung und damit letztlich auch des Gebührenprivilegs wäre die Existenz der öffentlich-rechtlichen Anstalten ernsthaft bedroht." 28 Dem Start des ersten Kabel-Pilotprojekts in Ludwigshafen am 1. Januar 1984 (mit 8 Fernseh- und 4 Hörfunkkanälen) folgten drei weitere Projekte am 1. April 1984 in München (mit insgesamt 39 Kanälen), 1. Juni 1985 in Dortmund (44 Kanäle) und 29. August 1985 Berlin (17 Kanäle). Bei der offiziellen Einweihung in Ludwigshafen wurde das Ereignis von Bernhard Vogel, damals Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz, euphorisch als .Urknall' des dualen Rundfunksystems, als Beginn einer neuen schönen Medienwelt bezeichnet. Die Verunsicherung angesichts der rasanten
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technologischen Entwicklungen, insbesondere der neuen Verteiltechniken mit Kabel und Satellit, durch die das bisherige Monopol der öffentlich-rechtlichen Sender zunehmend gefährdet war, zwang zum Handeln. Hinzu kam, dass nun auch zusätzliche Frequenzen im UKW-Bereich zwischen 104 und 108 MHz zur Verfügung standen, womit die Frequenzknappheit als Abwehrargument gegenüber kommerziellen Sendern hinfallig wurde. In dieser Situation sollten die Kabelpilotprojekte auf wesentliche Fragen Antwort geben: - Wären die zusätzlichen, fast unbegrenzten Angebote zu bezahlen? - Welche Programminhalte könnten angeboten werden? - Wie seien die Bedürfnisse und Interessen der Zuhörer und Zuschauer als Mediennutzer zu definieren und wie zu sichern? Doch schufen die Länder eilig, ohne die Ergebnisse der kostspieligen Kabelpilotprojekte abzuwarten, durch Verabschiedung eigener Mediengesetze wesentliche Rahmenbedingungen für die Zulassung neuer privatkommerzieller Rundfunkveranstalter. Von den in der Folge unter maßgeblicher Beteiligung von großen Verlagen und Mediengesellschaften gegründeten privat-kommerziellen Sendern reüssierten die meisten. 1989 entfielen im Bundesdurchschnitt 75 Prozent der Fernsehzeit auf die öffentlich-rechtlichen Programme (1987: 94 Prozent) und auf die privaten 25 Prozent (1987: 6 Prozent). Darnach - nun aufs vereinte Deutschland bezogen - nahm „der besinnungslose Wettkampf um den Zuschauer" noch weiter zu; er veränderte den deutschen Rundfunk binnen dreier Jahre mehr als in den fünfundzwanzig Jahren zuvor. Die privaten Sender erkannten, dass durch Absenken des Niveaus die Einschaltquoten und damit auch der Eingang von Werbegeldern (1995 etwa 2,6 Milliarden, beim ZDF nur 400 Millionen) zu steigern seien. Zehn Jahre nach Beginn des dualen Rundfunk-Systems zog man öffentlich eine kritische Bilanz. Während Fritz Pleitgen, Intendant des WDR, im Jahrbuch 94 der ARD den Politikern vorhielt, dass sie gewusst hätten, was sie taten, bekannte Bundesarbeitsminister Norbert Blüm (CDU) schlicht: „Das haben wir nicht gewollt!" Nicht eingetreten war das, was Blüms damals verantwortlicher Kabinettskollege Schwarz-Schilling apologetisch als „Freiheit der elektronischen Medien" rühmte: Statt Einfalt Vielfalt; (die Realität werde die Einsicht wachsen lassen, dass 30 Programme nicht eine Einengung, sondern eine Vergrößerung der Meinungsvielfalt erbrächten). 267
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Sicherung gleichgewichtiger Vielfalt Solange und soweit die Wahrnehmung der genannten Aufgaben durch den öffentlichrechtlichen Rundfunk wirksam gesichert ist, erscheint es gerechtfertigt, an die Breite des Programmangebots und die Sicherung gleichgewichtiger Vielfalt im privaten Rundfunk nicht gleich hohe Anforderungen zu stellen wie im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Die Vorkehrungen, welche der Gesetzgeber zu treffen hat, müssen aber bestimmt und geeignet sein, ein möglichst hohes Maß gleichgewichtiger Vielfalt im privaten Rundfunk zu erreichen und zu sichern. Für die Kontrolle durch die zur Sicherung der Vielfalt geschaffenen (externen) Gremien und die Gerichte maßgebend ist ein Grundstandard, der die wesentlichen Voraussetzungen von Meinungsvielfalt umfaßt: die Möglichkeit für alle Meinungsrichtungen - auch diejenige von Minderheiten - , im privaten Rundfunk zum Ausdruck zu gelangen, und den Ausschluß einseitigen, in hohem Maße ungleich-gewichtigen Einflusses einzelner Veranstalter oder Programme auf die Bildung der öffentlichen Meinung, namentlich die Verhinderung des Entstehens vorherrschender Meinungsmacht. Aufgabe des Gesetzgebers ist es, die strikte Durchsetzung dieses Grundstandards durch materielle, organisatorische und Verfahrensregeln sicherzustellen.
Leitsätze aus dem vierten Rundfunkurteil des Bundesverfassungsgerichts, 4. November 1986.
Dem Qualitätsverlust, von der Politik weitgehend ignoriert oder resignativ hingenommen, versuchte das Bundesverfassungsgericht gegenzusteuern, indem es immer wieder auf die Notwendigkeit der ,Grundversorgung' durch die öffentlich-rechtlichen Anstalten hinwies. So bekräftigte es im Februar 1986 durch sein Viertes Rundfunkurteil, dass diese als Versorgung aller Bürgerinnen und Bürger mit Informationen, Bildung, Kultur und Unterhaltung zu verstehen sei; deren Programme erreichten, technisch gesehen, fast die gesamte Bevölkerung; dank der Finanzierung durch Gebühren seien sie nicht wie private Veranstalter auf Einschalt quoten angewiesen. „Solange die Anstalten diese Aufgabe erfüllten, sei es gerechtfertigt, an die Breite des Programmangebots und die Sicherung gleichgewichtiger Vielfalt im privaten Rundfunk nicht gleich hohe Anforderungen zu stellen. Diesen Gedanken nahm das Bundesverfassungsgericht 1991 in seinem sechsten Fernsehurteil wieder auf. Darin hob es hervor, es sei ein falscher Schluss anzunehmen, dass der Gesetzgeber die Vielfalts-Anforderungen in gegenständlicher und meinungsmäßiger Hinsicht an private Rundfunkveranstalter senken müsse'. Diese Anforderungen dürften allerdings nicht so hoch sein, dass sie die Veranstalter privaten Hörfunks und Fernsehens ausschließen würden."29 268
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Im Februar 1994 schließlich wurde durch Karlsruhe das bisherige Verfahren zur Festsetzung der Rundfunkgebühren fur verfassungswidrig erklärt; bis dahin hatte aufgrund der finanziellen Anforderungen der Rundfunkanstalten die .Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten' (KEF) Vorschläge gemacht, in welchem Umfang die Gebühren jeweils erhöht werden sollten. Da aber diese Kommission aus Vertretern der Staatskanzleien und der Rechnungshöfe bestand, sei sie als bloßes Hilfsmittel der Ministerpräsidentenkonferenz zu begreifen, so dass diese in Wirklichkeit über die Gebühren entscheide, wenngleich formal die Landtage das letzte Wort hätten. Seit diesem Urteil hat die KEF einen engeren Spielraum bei den Entscheidung über die Wünsche der ARD und ZDF, Gebühren zu erhöhen; sie teilt nach wie vor ihre Vorschläge den Regierungschefs der Länder mit, die darüber in einem Staatsvertrag entscheiden, der von den Landtagen angenommen werden muss. Auf die zuweilen von Politikern vorgetragene Kritik an der Praxis, dass auch diejenigen Rundfunkgebühren entrichten müssten, die nur die Programme der privaten Veranstalter einschalteten, antwortete das Bundesverfassungsgericht, dass die derzeitigen Defizite des privaten Rundfunks an gegenständlicher Breite und thematischer Vielfalt nur hingenommen werden könnten, so weit und so lange der öffentlich-rechtliche Rundfunk im vollen Umfang funktionsfähig bleibe; deshalb sei die Gebührenpflicht ohne Rücksicht auf die Nutzungsgewohnheiten der Empfanger allein an den Teilnehmerstatus zu knüpfen, der durch die Bereithaltung eines Empfangsgerätes begründet werde. Das Urteil griff das Verhältnis Staat Rundfunk wiederum auf. (Für 2005 ist, da die Politik der Empfehlung der KEF auf Gebührenerhöhung nur teilweise folgte, ein neuer Rechtsstreit zu erwarten.) „So unverzichtbar der Staat damit als Garant einer umfassend zu verstehenden Rundflinkfreiheit ist, so sehr sind seine Repräsentanten doch selber in Gefahr, die Rundfunkfreiheit ihren Interessen unterzuordnen. Gegen die Gängelung der Kommunikationsmedien durch den Staat haben sich die Kommunikationsgrundrechte ursprünglich gerichtet, und in der Abwehr staatlicher Kontrolle der Berichterstattung finden sie auch heute ihr wichtigstes Anwendungsfeld."30 Jede politische Instrumentalisierung des Rundfunks müsse ausgeschlossen werden. Dieser Schutz beziehe sich jedoch nicht nur auf die manifesten Gefahren unmittelbarer Lenkung oder Maßregelung; er umfasse auch die subtileren Mittel indirekter Einwirkung, mit denen sich staatliche Organe Einfluss auf das Programm verschaffen oder Druck auf die im Rundfunk Tätigen ausüben könnten. Der Staat besitze solche Mittel, weil er es sei, der im Interesse des Normziels von Art. 5 Abs. 1 GG den Rundfunk organisiere, 269
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konzessioniere, mit Übertragungskapazitäten versehe, beaufsichtige und zum Teil auch finanziere. Die durch die Bundesverfassungsgerichtsurteile gesetzten Normen bedeuten freilich keineswegs, dass die Bestimmungen in den einzelnen Rundfunkgesetzen diesen auch wirklich entsprechen; und noch weniger, dass die Praxis sich an sie hält. So meinte der Göttinger Professor für öffentliches Recht, Christian Starck bereits 1973, in seiner Schrift „Rundfunkfreiheit als Organisationsproblem", dass im Rundfunk unter dem eskalierenden Proporzgedanken bereits eine so beträchtliche Landnahme der beiden großen Parteien stattgefunden habe, dass eine kritische Analyse der derzeitigen Rundfunkorganisation in der Bundesrepublik in Gegnerschaft zumindest mit diesen Parteien geraten müsse. „Damit ist zugleich gesagt, wie aussichtslos es ist, auf Änderung der Verhältnisse zu hoffen, wenn nicht ein Weg gefunden wird, das Bundesverfassungsgericht mit der Rundfunkorganisation zu befassen. Die Parteien müßten sich medienpolitisch in Zucht nehmen und sich aus den Rundfunkanstalten zurückziehen, sonst bestehe die Gefahr, dass sich Rundfunkjournalisten auf die Dauer einübten, ihr Lied nach dem jeweiligen Parteienproporz gestimmt zu singen und daß die .Parteiendemokratie' weiterhin diskreditiert werde. Im Hinblick auf die Zusammensetzung der Aufsichtsgremien urteilte Starck: .Parlamentarisch beherrschte oder weitgehend beeinflußte Rundfunkgremien zerstören das verfassungsrechtlich System von Herrschaft und Kritik. Das gleiche gilt für die Besetzung der Rundfunkgremien mit Regierungsmitgliedern und weisungsgebundenen Beamten ... Sind die Parteien in den Rundfunkgremien ... stark repräsentiert, so verkümmert der Meinungsmarkt und verengt sich die politische Willensbildung auf wenige ohnehin schon bekannte vorprogrammierte Alternativen.'"31 Seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland herrschte - im Gegensatz zur westalliierten Konzeption - bei den Führungsspitzen aller großen Parteien die sehr ausgeprägte Meinung vor, dass die politischen Kräfte den Rundfunk bestimmen müssten. Dabei übersah man, dass auch das Parlament ein Organ des Staates ist und dass die Parteien nach Art. 21 Abs. 1 des Grundgesetzes an der politischen Willensbildung des Volkes lediglich .mitwirken'. Auch anderen gesellschaftlichen Kräften war eine echte Möglichkeit zur Partizipation einzuräumen. Die entscheidende Frage lautet also nicht, ob die Parteien in den Rundfunkgremien repräsentiert sind - selbstverständlich müssen sie es sein -, sondern ob die Parteien allein oder überwiegend den Rundfunkrat kontrollieren dürfen mit der Konsequenz, dass die parteipolitische Konfrontation und Polarisation im Staate sich auf den Rundfunk überträgt. Deshalb fragte schon 1958 Hans Bausch in einem 270
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Zeitschriftenaufsatz unter Hinweis auf die Verhältnisse in der Weimarer Republik: „Was hat sich geändert? Statt .Regierung' sagt man heute .Parlament' und meint .Parteien'." Während alle Welt von Unabhängigkeit des Rundfunks spreche, „handeln die vom Fraktionsvertrauen delegierten Mitglieder der Aufsichtsgremien entsprechend der Fraktionsstärke und der landespolitischen Konstellation die Positionen nach den Spielregeln der .Parität' aus, womit sich ein weiterer, höchst verschwommener Begriff eingeschlichen hat. Ausnahmen können die Überfülle von Erfahrungen nur bestätigen."32 Ob die Unabhängigkeit des Rundfunks wie die Rundfunkfreiheit organisatorisch, selbst durch ein fein justiertes System von „check and balance" (als kritisches Wechselspiel zwischen Aufsichtsgremien, Rundfunk- wie Verwaltungsräten, Intendanz und Redaktionen), ermöglicht werden kann, ist zumindest solange zu bezweifeln, bis ein kulturell fundierter Konsens darüber hergestellt ist, dass Demokratie durch den absoluten Primat geistiger Freiheit bestimmt sein muss (lediglich begrenzt durch die Grundwerte des Grundgesetzes). Die sich daraus ergebenden .Ligaturen' - nach Ralf Dahrendorf ungeschriebene, aber essentielle .Verbindlichkeiten' werden wirksam durch den Mut und die Entschlossenheit der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Rundfunks, sich nicht gängeln zu lassen. Das Programm, so Klaus Bresser, Chefredakteur des ZDF, sei so, wie es ist, nicht dem Einfluss der Politiker anzulasten; trotz der Proteste von draußen, trotz der Einmischung in Personalpolitik und Programmhoheit der Sender gäbe es durchaus einen Freiraum für unabhängige Journalisten; er werde jedoch nicht genügend genutzt. „Diese Form der vorgezogenen Selbstanpassung, dieser Hang zum Konformen, zum Sichabsichern und Nichtauffallen sind es, die - wenn wir nicht aufpassen - aus unserm Programm politisches Werbefernsehen machen."33
Die 68er Bewegung und der Rundfunk
Die hier von ,oben', von dem Chefredakteur Klaus Bresser ausgehende Aufforderung, die Freiräume, welche die Rundfunkprogramme böten, auch wirklich wahrzunehmen, hätte es zu Zeiten der Protestbewegung, deren Wirkungen in den neunziger Jahren längst abgeklungen oder vergessen waren, nicht gegeben; im Gegenteil: hier waren die Hierarchen des Rundfunks darum bemüht, selbstständige Bestrebungen der Redakteure und Mitarbeiter bzw. Mitarbeiterinnen zu dämpfen oder zu unterbinden. 271
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Von 1967 an hatten die Aktionen und Agitationen der .Außerparlamentarischen Opposition' (APO) und die Studentenunruhen auch einige Irritationen in der Organisationsstruktur des Rundfunks hervorgerufen, die freilich so fest gefugt und verfugt war, dass es zu schwerwiegenden Erschütterungen nicht kam. Während die aufmüpfige akademische Jugend mit einem Repertoire von Protestformen wie go-ins, teach-ins, sit-ins, also mit einer .Ästhetik des Widerstands', die aus ihrer Sicht .besinnungslos' gewordenen etablierten Ordnungen (Normen, Regulationen, Attitüden, Tabus, Stereotypen) aufzubrechen suchten, vollzogen sich die Bemühungen einer aktiven Minderheit von Redakteuren und Redakteurinnen um mehr Mitwirkung bzw. Mitbestimmung bei den Programm- und Personalentscheidungen auf sehr gesittete Weise, die allerdings zu einer härteren Konfrontation führten, als man am Intendanten-Prinzip rüttelte. Erhoben wurde der Ruf nach mehr .innerer' Rundfunkfreiheit, analog zu der Forderung der Kollegen bei den Zeitungen, welche die ,innere' Pressefreiheit anmahnten; es bildeten sich Redakteursausschüsse mit dem Ziel, durch Statuten die gültigen Personalvertretungsrechte zu erweitern. „Bis zum Herbst 1973 erbrachte die .Statutenbewegung' in sieben der zwölf Rundfunkgebiete in der Bundesrepublik und Westberlin .Beteiligungspapiere' verschiedenster Art. Rechtlich verankert wurde der Redakteursausschuß lediglich beim NDR. Soweit es das Personalvertretungsrecht zuließ, wurden spezielle Vertretungen der Redakteure später beim SWF und HR (1978) eingerichtet. Das neue Radio Bremen-Gesetz (1979) setzte nach der SFB-Lösung eines Berufsgruppenstatuts einen neuen, freilich umstrittenen Mitbestimmungsmaßstab. Otto Wilfert hat sich am Beispiel des ZDF für die Zeit von 1968 bis 1974 mit dem Thema RFFU, Redakteursausschiisse und Personalräte im Auftrag der RFFU, befaßt und es kommentiert. Sein Rückblick will .eine praktische Anschauung vermitteln, wie im ZDF die Forderung nach speziellen Schutzrechten fur die redaktionelle Arbeit entstanden ist, welche Aktionen und Reaktionen sie hervorgebracht und welche Entwicklung diese Forderung durchgemacht hat'. Wilfert berichtete von einer Mitbestimmungskommission, die 1967/68 .versuchte, Forderungen nach weitergehenden Mitspracherechten fur die Mitarbeiter des ZDF zu formulieren. Dort stand die Frage .Was darf der Intendant, was dürfen seine Beauftragten?' sowieso auf der Tagesordnung ... Die Mitbestimmungskommission der RFFU bildete einen Ausschuß, der einen Entwurf für ein Redakteursstatut erarbeiten sollte... Man stellte fest, dass ein Redakteursstatut nicht reichte. Das Personalvertretungsgesetz war so lückenhaft, daß diese Lücken auch Redakteuren schadeten. Und die Vollmachten des 272
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Intendanten - die stehen im Staatsvertrag! Sollte man sich auch daran wagen? Es herrschte Aufbruchsstimmung in jenen Jahren .,.'"34 Demgegenüber war es das Ziel des Rundfunk-Establishments, die .innere' Rundfunkfreiheit, die sowieso nur wenig entwickelt war, weiter zu beengen. So forderte der Vorsitzende des WDR-Verwaltungsrats, Josef-Hermann Dufhues am 28. März 1969 indirekt zur Denunziation auf, kaschiert als Appell an das „demokratische Verantwortungsbewusstsein der Mitarbeiter des WDR gegenüber den vielfaltigen Erscheinungen der Unruhe und der Störung der öffentlichen Ordnung durch einzelne radikale Gruppen": „Falls ein Mitarbeiter des WDR von der Absicht einer ernsthaften Störung Kenntnis erhält, soll er nach Meinung des Verwaltungsrates in besonders schwerwiegenden Fallen den Intendanten unterrichten. Der Intendant entscheidet in eigener Verantwortung, ob und in welchem Umfang er seinerseits staatliche Stellen informiert."35 Inhaltlich gesehen war das Konfliktfeld vor allem dadurch umrissen, dass die Protestbewegung, die quantitativ in Relation zur Gesamtbevölkerung nur eine verschwindend kleine und noch dazu akademische Minderheit darstellte, auf die Unterstützung der Massenmedien angewiesen war, um zur Bedeutsamkeit zu gelangen. .Sympathisanten' in den Redaktionen waren somit sehr wichtig. Dazu kam allerdings, dass die Aktionen für .virtuelle' Verwertung bestens geeignet waren; ihre .Darbietung' drängte sich Fernsehen und Hörfunk geradezu auf. Den Massenmedien ist es eben immanent, jede Sensation und jedes Sensatiönchen begierig aufzugreifen und quotensteigernd auszubreiten; im Hörfunk ist vor allem der Reporter mit dem Mikrofon in der Hand darauf aus, aktuelle .ungewöhnliche Begebenheiten' (und seien sie noch so peripher) direkt in die Wohnzimmer zu übertragen. Mit relativ geringem Aufwand, aber provokanter Phantasie, einschließlich eines aggressiven Jargons und obszöner Regelverletzungen, waren die Protestaktionen auf die Störstellen komplexer und darum besonders anfalliger Kommunikationsnetze gerichtet. Der Trick der Popkultur, ins Halbbewusstsein abgeglittene Alltagsbilder in Größe, Farbe oder Kontur zu übertreiben, zu verdoppeln bzw. zu multiplizieren und sie damit ins volle Bewusstsein zurückzuholen, charakterisierte auch die Demonstrationstechniken, die auf diese Weise vor allem Statussymbole der Lächerlichkeit preisgaben. Eine bis dahin unbekannte politische Clownerie, verbunden mit sexueller Emanzipation bzw. Enthemmung, erschütterte die auf gesittete äußere Form sehr bedachten bürgerlichen Vorstellungen zutiefst. Exemplarisch, wie leicht die erstarrten Verhältnisse zum Tanzen gezwungen werden konnten, war die Resonanz, die Fritz Teufels .Kommune 1'. zusammen mit Dieter Kunzelmann und Rainer 273
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Langhans in der alsbald demolierten Berliner Dachwohnung des nach Amerika gereisten Schriftstellers Uwe Johnson gegründet, mit Hilfe der Medien, vor allem von Fernsehen und Rundfunk, fand. Die Aktionen richteten sich im Laufe der Protestbewegung auch gegen deren geistige Ziehväter. Als am 31. Januar 1969 die Besetzung des Frankfurter .Instituts fur Sozialforschung' drohte, ließen die drei Leiter, neben Adorno waren das Ludwig von Friedeburg und Rudolf Gunzert, die Polizei kommen; diese nahm einige Studenten fest, darunter den Adorno-Doktoranten und SDS-Führer Hans-Jürgen Krahl. Bald darauf wurden Adornos Vorlesungen gestört, u. a. durch Studentinnen, die im Hörsaal einen Striptease veranstalteten. In einem ,Spiegel-Gespräch meinte Adorno, der gegenüber der außerparlamentarischen Opposition zwischen Sympathie und Abneigung schwankte, dass er in seinen Schriften niemals ein Modell für irgendwelche Handlungen und zu irgendwelchen Aktionen gegeben habe. Er starb wenig später, verletzt von den studentischen Anfeindungen, die er als einen Rückfall ins Unaufgeklärte empfand und betroffen von den Angriffen einer breiten Öffentlichkeit, die ihn der geistigen Urheberschaft an der eskalierenden Gewalt bezichtigte. Horkheimer zog sich ins Tessin zurück, immer mehr ergriffen von schopenhauerschem Pessimismus, um eine Annäherung an die Theologie bemüht. In einer Notiz des konservativ gewordenen Philosophen, „Gegen den Linksradikalismus", heißt es: „Die Attacke gegen den Kapitalismus heute hat die Reflexion auf die Gefahr des Totalitären in doppeltem Sinn mit aufzunehmen. Ebenso wie der Tendenz zum Faschismus in kapitalistischen Staaten muß sie des Umschlags linksradikaler Opposition in terroristischen Totalitarisme bewußt sein."36 So wie der Protestbewegung nach kurzer Zeit der Atem ausging und ein nicht unerheblicher Teil ihrer Protagonisten statt des langen Marsches durch die Institutionen in diesen selbst sich installierten, bzw. in konservative, selbst reaktionäre Lager abwanderten, so versandete Ende der siebziger Jahre auch die .Statutenbewegung' in den Rundfunkanstalten und hinterließ „nur noch kümmerliche Spuren der Wellen, die ein Jahrzehnt lang so hoch geschlagen hatten".37
Das Radio auf neuem Kurs
Der Einführung des dualen Rundfunksystems waren in den achtziger Jahren ebenso ausfuhrliche wie kontroverse Debatten vorausgegangen, die eine breitere Öffentlichkeit freilich wenig interessierten. Und in den Sen274
Das Radio auf neuem Kurs
dem trafen sie insgesamt auf eher unvorbereitete Mitarbeiter. Unter Rundfunk verstand man gemeinhin das Fernsehen, und nur dieses begriff man als eine nationale Institution, die zu beachten war. Kulturpolitisch aufschlussreich war, dass bis in die Aufsichtsgremien der Sender hinein der Hörflink marginalisiert wurde; er schien seine Identität verloren zu haben. Das zeigte sich zum Beispiel, wenn Mitglieder eines Programmausschusses in Diskussionen über ein Hörfunkprogramm ständig und unwidersprochen davon redeten, man habe es leider nicht gesehen. Die neue privat-kommerzielle Konkurrenz bedeutete fur das öffentlichrechtliche Fernsehen der ARD den Verlust von Werbeeinnahmen und damit erheblicher Etatmittel; aus solchen hatten früher bei manchen Sendern bis zu 30 Prozent des Jahresetats bestanden. Da die Monopolstellung der öffentlich-rechtlichen Anstalten gesetzlich und damit für alle Zeiten garantiert schien, fehlten brauchbare Strategien angesichts der nun gegebenen Lage. In einem ersten Anlauf versuchte man im Hörfunk, statt sich auf die eigene Stärke zu besinnen, den kommerziellen Erfolgen durch Imitation zu begegnen oder sich ihnen formal anzupassen. .Populärsein' war das Schlagwort; populär musste die Unterhaltung sein und die Auswahl der Informationen; populär wurde man durch viel Musik, denn, so das Credo der neuen Radiomacher, Musik entspanne, Worte belasteten; („Entwertung" hieß die Parole). Also wurden anspruchsvollere Wortsendungen gerne auf hörerschwache Zeiten verlegt, solche, in denen die Mehrheit beim Fernsehen war oder doch nur Minderheiten das Radio einschalteten. Kurz war besser als gewissenhaft; mehr als drei Minuten könne ohnehin kein Hörer zuhören - meinten einige Medien-Verhaltensforscher. Die Befreiung aus der selbst auferlegten Entmündigung der Redakteure und ihrer Zuhörer kam ganz wesentlich unter Mitwirkung der Hörerforschung zustande: Indem diese nämlich nicht länger fragte, welche Hörer wann welchen Sender und welche Programme hörten, sondern danach, was Hörer eigentlich von ihrem Radio erwarteten, mit welchen Absichten sie wann und warum ihren Sender einschalteten. So kam man auf ganz neue Hörergruppen; sie unterschieden sich weniger durch Alter, Geschlecht, Bildung und Einkommen, als durch Mentalität und ihr Radio-Nutzungsverhalten. Dabei ergaben sich sechs Typologien: Frühhörer,; die morgens vor der Arbeit hören, durch angenehme Musik in den Tag hinein begleitet werden möchten und vor allem an Informationen über Wetter, Uhrzeit und wichtigen Ereignissen interessiert sind. Vormittagshörer; die zwischen 8 und 12 Uhr hören, das Radio zumeist im Hause als Begleitung zu anderen Arbeiten nutzen, dabei Musik und Ratgebersendungen bevorzugen.
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Wenighörer, die zwar ein Radio besitzen, aber ebenso gut darauf verzichten könnten, jedoch sich gerne über die Programme beklagen. Tagesrandhörer, die das Radio vor allem vor und nach der Arbeit einschalten und zumeist im Auto Radio hören. Morgen- und Vormittagshörer.; die das Radio vornehmlich als Begleitmedium im Haushalt laufen lassen. Ganztagshörer, die das Radio bis zum Beginn des Fernseh-Vorabendprogramms um 18 Uhr gebrauchen. Eine weitere Unterscheidung der Hörerschaft kann man aufgrund ihrer jeweiligen Lebensstile vornehmen; etwa ob jemand sich selbst eher als jung und erlebnisorientiert sieht, ob jemand eher für klassische Musik und Bildung sich interessiert oder sich zur Gruppe der Leistungsorientierten zählt. Auf diese Weise ergeben sich noch einmal zehn verschiedene sozialpsychologisch und mentalitätsmäßig definierte Gruppen. Mittels dieser beiden Kriterienraster meint man heute hinreichend genau sagen zu können, ob und wie ein bestimmter Hörertyp ein bestimmtes Programm in einer bestimmten Region zu einer bestimmten Tagesstunde an einem Wochen- oder Feiertag nutzt und was er von ihm erwartet. Vor dem Hintergrund der Ergebnisse der ARD-Hörerforschung inzwischen auch von der kommerziellen Konkurrenz beachtet - wurden in den Sendern Programme und Organisationsformen strukturell und inhaltlich wesentlich verändert. Im Ergebnis konnten dadurch die etwa 60 öffentlich-rechtlichen Radioprogramme den inzwischen 180 kommerziellen standhalten. Dabei erscheint das Radio nicht mehr als Autorität und publizistische Lehr- bzw. Belehrungsanstalt, sondern als kompetenter, vor allem regionaler Partner seiner Hörer. Seit Einfuhrung des dualen Systems sind die Programme des öffentlich-rechtliche Hörfunks klarer unterscheidbar geworden; und zwar nach Inhalten, Zielgruppen und Hörerinteressen.,Hörerbindung' - aber natürlich nicht als PR-Schlagwort - ist fortan oberstes Prinzip für jeden Sender; er muss sein gebührenzahlendes Publikum jeden Tag und zu jeder Stunde davon überzeugen, dass dieses fur sein Geld auch wirklich das bekommt, was es sucht. Der Rundfunk wird dementsprechend von manchen „Dienstleister" genannt. Die Diversifizierung der Programme kann man in fünf heute üblichen Formate zusammenfassen: Klassische Vollprogramme (meist die Ersten Programme, wie sie jeder Sender ausstrahlt) sind auf das engere Sendegebiet bezogen, zeigen eine starke Komponente in der regionalen Berichterstattung; sie vermitteln 276
Das Radio auf neuem Kurs
praktische Tipps und legen Wert auf Hörerbeteiligung bei Wunsch- und Quizsendungen; sie bringen Live-Ubertragungen von eigenen oder anderen Veranstaltungen. Die Musikfarbe ist eher an den Musikwünschen der mittleren und älteren Generation orientiert. Neben Information und Unterhaltung spielt das Angebot an Bildungssendungen eine gewisse Rolle. Tagesbegleitprogramme sprechen Hörer an, die das Radio neben anderen Tätigkeiten nutzen wollen. Sie lieben angenehme, ,durchhörbare' Musik und sympathische Moderatoren. Die Wortbeiträge sind eher kurz, haben meist die .berüchtigte' 3 Minuten 30 Sekunden (3.30) Länge. Das Programm erstreckt sich über den Tag und ist in Magazin-Blöcke unterteilt, wobei die einzelnen Elemente einer Sendung (Nachrichten, Verkehrsmeldungen, Tipps, Quiz) in einem festen Zeitrahmen platziert sind. Bei den Kulturprogrammen - früher ein Angebot von allem, was gut und teuer war - haben die Redakteure angesichts der heutigen HörerStandards und -Erwartungen meist ihren elitären Kulturbegriff abgelegt. Statt allein jene anzusprechen, die sich einer kulturellen Elite zugehörig fühlen, suchen sie diejenigen zu erreichen, die bisher keine Affinität zu Kultur zeigten. So sind die Sendungen in ihrem Stil hörerfreundlicher geworden, die Hörspiele nicht unbedingt 60 Minuten lang, und in der Musik gilt weniger das Repertoire der Klassiker, als das, was eben in allen Genres gut ist. Der Vorwurf, es handle sich um Programme, bei denen das meiste Geld fur die geringste Zahl ausgegeben werde, ist unberechtigt; meint doch .kulturelle Grundversorgung', dass Minderheiten in ihren Bedürfnissen nicht vernachlässigt werden dürfen. Die Spartenprogrammerichtensich an spezifische Hörergruppen, also an solche mit besonderen Interessen. Sie können deshalb nur von den größeren Sendern mit entsprechender Reichweite angeboten werden. In ihrer Struktur sind sie streng festgelegt (Gleiches zur gleichen Zeit in der gleichen Weise), so dass man sie allein schon an ihren formalen Eigenheiten erkennen kann. In der ARD hat der Bayerische Rundfunk 1991 mit ,B5 aktuell' diesen Programmtyp geschaffen: Nach dem Vorbild von , Fran ce Info', dem Nachrichtensender von ,Radio France', werden alle 15 Minuten kompakte, ständig aktualisierte und ergänzte bzw. veränderte Informationsblöcke gesendet, die aus Schlagzeilen, Nachrichten, O-Ton-Informationen sowie Korrespondentenberichten, Börsen-, Wetter- und Verkehrsmeldungen bestehen. Als Zielgruppenprogramme schließlich gelten Programme, die sich zum Beispiel an junge Hörer wenden. Sie entstanden um die Mitte der neunziger Jahre, wobei gern verschwiegen wird, dass das .Urbild' in dem 277
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DDR-Sender ,DT64' zu sehen ist. Jugendradios kamen in der ARD zum Durchbruch, als man entdeckte, dass es fur junge Hörer eigentlich kein attraktives Angebot gab (so dass die kommerzielle Konkurrenz sich ganz besonders auf diese Zielgruppe einstellte). Unkonventionell sein um fast jeden Preis, einschließlich des Bruchs von Tabus, gilt als Qualität; Widerspruch ist .Pflicht', Frechheit unterhaltsam. Wenn Jugendliche sich mit solchen, meist von jungen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen gemachten Sendungen identifizieren können, so ist dies sicherlich eine gute Möglichkeit, ihnen die Scheu vor dem Radio zu nehmen und sie nachhaltig für das Medium zu gewinnen. Die inzwischen in der BRD bestehenden sechs Jugendprogramme sind nicht zuletzt deshalb der Stolz ihrer Intendanten und genießen auch das Wohlwollen der Gremien, weil sie zudem zeigen, wie preiswert Radio heute gemacht werden kann. Die positive Bilanz eines .Radios auf neuem Kurs' hat freilich eine Kehrseite. Die im dualen System den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten als wesentliche Aufgabe zugewiesene .Grundversorgung' der Bevölkerung mit Informationen, Bildung, Kultur und Unterhaltung leidet in ihrer Qualität zunehmend unter der Konkurrenz mit den privat-kommerziellen Sendern, die rücksichtslos das Niveau der Angebote .primitivisieren' und dabei von der kulturellen Verwahrlosung der Gesellschaft profitieren. Auch beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk (allerdings vor allem beim Fernsehen) setzt man immer mehr auf die Einschaltquote, was den circulus vitiosus nur verstärkt: Der Versuch, aus dem Zustand schleichender Verdummung dadurch herauszukommen, dass man diese noch bedient, ist von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Der ,Urknall' erweist sich als Beginn des Abstiegs ins .mediale Neandertal'. Was den Hörfunk betrifft, so .berieseln' inzwischen mehr als 270 Sender, davon gut 220 im Besitz von Medienkonzernen und Zeitungsverlagen, die Bundesrepublik. Die Kulturkritik hat solche Regression seit längerem vorausgesehen und mit antizipatorischer Vernunft, vielfach gegen Massenkommunikation insgesamt gerichtet, bekämpft - freilich erfolglos. Schon in ihrem 1942 bis 1944 geschriebenen, 1947 veröffentlichten Werk „Dialektik der Aufklärung" stellen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, ausgehend von Erfahrungen und Forschungen während der Emigration in den USA fest, dass in der kapitalistischen und liberalistischen Gesellschaftsordnung die Kulturindustrie, vorwiegend mit den nivellierten und nivellierenden Produkten des Films und des Radios, dafür sorge, dass Aufklärung sich in den totalen Betrug der Massen wandelt.38 Das Hörpublikum etwa sei autoritär den Programmen der Stationen ausgeliefert, deren Vielfalt sich aufgrund ihrer Kommerzialisierung als Lüge erweise. 278
Das Radio auf neuem Kurs
Die kapitalistische Produktion halte die Konsumenten mit Leib und Seele so eingeschlossen, dass sie dem, was ihnen geboten wird, widerstandslos verfielen. ,Fun' sei ein Stahlbad; die Vergnügungsindustrie verordne es unablässig; Lachen werde in ihr zum Instrument des Betrugs am Glück; es mache dumm. Massenmedialem Vergnügen liege Ohnmacht zugrunde. Die Unverschämtheit der rhetorischen Frage: „Was wollen die Leute?" bestehe darin, dass sie auf dieselben Leute als denkende Subjekte sich beruft, die der Subjektivität zu entwöhnen, ihre spezifische Aufgabe darstellt. Die Gesellschaftskritik von Horkheimer/Adorno sieht in Massenmedien - das Fernsehen erwähnen sie, dem damaligen Zustand seiner Entwicklung entsprechend, nur beiläufig - den konsequenten Tiefpunkt einer die Demokratie korrumpierenden ökonomischen Entwicklung, die Werte durch Preise ersetzt; kapitalistischer Kommerz entfremdet die Menschen von ihrem eigentlichen Selbst.
Die Institution Radio verwahrlost Seit meiner Kindheit war mir Radio ein wichtiges Ding. Ich hatte niemanden, der mir Geschichten erzählte, sämtliche Großmütter und Onkel und Tanten waren mir abhanden gekommen, also habe ich mich hingesetzt, das Radio angemacht und solche Sender gesucht, auf denen geredet wurde. Ich war mit Amundsen im ewigen Eis und mit der Stadtreporterin bei Taubenzüchtervereinen; ich war dabei, als Max Schmeling in der Berliner Waldbühne boxte, zusammen mit einem Reporter, dessen Stimme ich heute noch, nach 47 Jahren, unter Hunderten erkennen würde. Ich erinnere mich an Radiogeschichten von Jules Verne, an den unglaublichen Tonfall von Pelz von Felinau, den ich monatelang zu imitieren versuchte. Eine Zeitlang war ich süchtig nach Hörspielen. Ich habe mir die Anfangszeiten in Schulhefte geschrieben und bin selbst vom Fußballplatz nach Hause gelaufen, um bloß keinen Anfang zu verpassen. Als ich elf war, sah es einmal ganz danach aus, als würde ich in der Schule sitzenbleiben. Mein Vater versprach mir ein Geschenk freier Wahl für den unwahrscheinlichen Fall, daß ich doch versetzt würde, ich wurde versetzt, und was wünschte ich mir? Das erste eigene Radio meines Lebens. Ich glaube, das Radiohören hat in meinem Kopf Platz für einen Speicher voller Bilder geschaffen und gleichzeitig das Bewußtsein dafür, daß die Bilder ständig aufgefrischt oder neu erfunden werden müssen. Kürzlich sagte meine Frau, sie habe den Eindruck, die Radiosender würden mehr und mehr von Fast-food-Ketten bewirtschaftet: Überall ähnlich dürftige Zutaten, überall dieselbe Hast, um nur ja nicht die Geduld des letzten Trottels überzustrapazieren. Ich hatte mich noch nie damit beschäftigt, aber als sie das sagte, wußte ich: Es stimmt, die Institution Radio verwahrlost....
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Die Sender gebärden sich, als hätten sie es mit einer Nation von Hilfsschülern zu tun, für die Nachdenken nichts als Folter bedeutet. Ein Programm, das ihnen auch nur eine Spur von Konzentration abverlangt, scheint verloren. Weltnachrichten in drei Minuten, das ist mehr als genug. Die Wetterberichte dürfen um so länger sein, die interessieren die Leute. Dazu Verkehrsmeldungen, Stauwarnungen, Pollenflugreporte, das ist Lebenshilfe, das erhöht unauffällig den Wortanteil und verdirbt nichts. Oft höre ich, wie jemand interviewt wird und wie der Interviewer dem Jemand immer dann das Wort abschneidet, wenn der sich in eine Sache vertiefen will; wie immer dann die Zeit drängt, wenn es aufregend werden könnte; wie der Interviewer eine Frage stellt und dringlich anfügt, er bitte um eine knappe Antwort. ... Damit es kein Mißverständnis gibt, ich spreche von den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, nicht von den Privaten. Ich meine nicht jene Stationen, deren Betreiber schrecklich darunter leiden, daß sie kein Geld drucken dürfen, und die nicht eine Sekunde zögern würden, den Sendebetrieb einzustellen und ihr Kapital in Südfrüchten oder Müllbeseitigung oder Wohnungsbau zu stecken, wenn sich dort eine höhere Rendite erwirtschaften ließe. Nein, die Rede ist von solchen Sendern, die sich freiwillig verstümmeln. Von Sendern, die auf einmal Intelligenz für einen zu tilgenden Makel halten. Von Sendern, die mit ihrer alles in allem glorreichen Vergangenheit gebrochen haben, da sie noch eine Hauptrolle im Prozeß der Alphabetisierung spielten, und die diese Entwicklung allem Anschein nach nun umkehren wollen. Zweifellos lassen sich Programmpartikel auffinden, die solchem Eindruck widersprechen, es ließen sich Redakteure nennen, die zu widerstehen versuchen. Sie verdienen Bewunderung. Aber es ist hier von einer Tendenz die Rede, die unübersehbar ist und der Einzelkämpfer unmöglich gewachsen sind. Ohne Frage ist es ein Wettbewerbsnachteil, nicht Tag und Nacht Werbespots senden zu dürfen, aber es ist nicht einzusehen, daß der ökonomische Schaden sich notwendig in einen intellektuellen verwandeln muß. Die Sender sind bemüht, den Vorteil, den das Fehlen der nervtötenden Werbesprüche bedeuten könnte, durch adäquate Stumpfsinnigkeiten aus der Welt zu schaffen. Warum müssen die Öffentlich-Rechtlichen werden wie diese Delta-Radios und Hundertkommasechsen? Welch eine Strategie steckt dahinter? Glauben sie, daß die UnUnterscheidbarkeit von den Groschensendern - die nicht mehr fern ist - für sie ein Gewinn wäre? Ist es nicht ein verheerender Irrtum anzunehmen, daß ihre Daseinsberechtigung sich vor allem aus Einschaltquoten herleitet? Warum sollen Leute Rundfunkgebühren bezahlen, wenn sie dasselbe auch umsonst haben können, auf der nächsten Frequenz und auf der übernächsten und auf allen folgenden?
Jurek Becker: Die Worte verschwinden. Über den Niedergang des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. In: Der Spiegel, Heft 2/1995, S. 156 ff. © Suhrkamp Verlag Frankfurt.
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Demgegenüber bestand der positiv zu sehende .deutsche Sonderweg' nach 1945 darin, dass .amerikamüde' westalliierte Rundfunkleute beharrlich - unter Anleitung von Hugh Carleton Greene - den Rundfunk als öffentlich-rechtliche Veranstaltung nicht nur staatsfern, sondern auch fern von Kommerz durchzusetzen versuchten. Mit dem dualen System ist jedoch die Amerikanisierung des Rundfunks, seinen Bildungs- und Kulturauftrag beeinträchtigend bzw. gefährdend, fortgeschritten - befördert von mehrheitlicher Akklamation, zumal die als medien-misanthropisch eingeschätzte Kulturkritik auf ein weitgehend comedy-geiles Publikum keinen Einfluss hat. Ein Bericht der .Frankfurter Allgemeinen Zeitung' 1992 über die „Mainzer Tage der Fernsehkritik" - als eines der wenigen Foren der Fernsehkritik konnten sie damals auf eine 25-jährige Tradition zurückblicken - traf den Kern der Misere, als er feststellte, dass den zu einem Ritual der Nachdenklichkeit zusammengekommenen Hierarchen und Machern, Kritikern und Freunden des Rundfunks angesichts der Wirklichkeit nichts anderes übrig bliebe, als sich „in tiefer Gläubigkeit an die Heilkraft der Aufklärung" in ihrem Wahrheitsdrang jeweils jährlich aufs Neue schonungslos den Stachel der Erkenntnis von der Nutzlosigkeit ihres Denkens und Tuns ins Fleisch zu treiben. „Mutig und folgenlos appellieren sie an ,das Fernsehen' und die Gesellschaft, dem Tugendpfad vom Verblendungs- und Verblödungszusammenhang massenmedialer Berieselung zur Utopie des .anderen' Fernsehens, also zu einer anderen Welt zu folgen, in der das Echte keine Ware, sondern das Wahre sei."39
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Ausbau, Umbau, Kontroversen und Vereinigung. Daten zur Geschichte des Rundfunks in der Bundesrepublik Deutschland. 1950-2000 1950
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15. März: Der Kopenhagener Wellenplan vom 15. September 1948 tritt in Kraft. Deutschland verliert 12 Mittelwellen und eine Langwellenfrequenz; die Senderleistungen (und damit ihre technischen Reichweiten) müssen reduziert werden. Deshalb erfolgt beschleunigter Ausbau des UKW-Sendernetzes. 30. April: Der NWDR startet als erster deutscher Sender ein zweites Hörfunkprogramm über die Ultrakurzwelle (UKW). Ab Mitte des Jahres fuhren auch der BR (18.8.), der H R (15.10.) und der SDR (19.11.) ein zweites Programm auf UKW ein. 1. Mai: Bundeskanzler Adenauer kritisiert öffentlich, dass die Sender in der Hand der SPD-Opposition seien, was zu einer „Beeinträchtigung der Arbeit der Bundesregierung" führe. 2. Juni: Meldungen, nach denen die Errichtung eines ,Bundessenders', einer .repräsentativen deutschen Welle', seitens der Regierung geplant sei, werden vom Bundesinnenministerium dementiert. Es bestätigt die Unabhängigkeit des Rundfunks nach Artikel 5 des Grundgesetzes, spricht aber erstmals von einem „Rahmengesetz" des Bundes mit Vorgaben zur Selbstkontrolle der Sender. 10. Juni: In Bremen schließen sich die westdeutschen Rundfunkanstalten zur .Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik' zusammen; sie soll die gemeinsamen Interessen der Sender nach außen vertreten. 12. Juli: Der NWDR sendet aus Hamburg das erste Fernseh-Versuchsprogramm nach dem Kriege. 5. August: Konstituierende Sitzung der sechs ARD-Gründungssender in München (Bayerischer Rundfunk, Hessischer Rundfunk, Nordwestdeutscher Rundfunk, Radio Bremen, Süddeutscher Rundfunk, Südwestflink); der Begriff ARD wird erst 1954 gebräuchlich und beinhaltet die Zusammenarbeit im Fernsehen. 18.-27. August: Die seit Kriegsende erste (seit 1923 die 17.) Deutsche Funkausstellung findet in Düsseldorf statt. 14. September: Rheinland-Pfalz regt einen Staatsvertrag über den Südwestfunk an, um dem Sender eine deutsche Rechtsgrundlage zu geben und seine zentrale Funktion in den drei Ländern seines Sendegebiets (Württemberg-Hohenzollern, Baden und Rheinland-Pfalz) neu zu definieren. 15.-20. Oktober: „Hier spricht Deutschland" - unter diesem Thema senden die ARD-Sender erstmals gemeinsam eine Sendefolge mit Berichten und Kommentaren zur Situation in der DDR aus Anlass der Volkskammerwahlen am 15. Oktober
Daten zur Geschichte des BRD-Rundfunks
10. November: Auf Anregung von Hans Bredow, nun Vorsitzender des Verwaltungsrats beim HR, beschließen die Intendanten der ARD die Einrichtung einer ,Fernsehkommission der Rundfiinkanstalten'. Gleichzeitig laufen beim NWDR in Berlin und Hamburg erste Versuchssendungen. Die A R D unterstützt offiziell die Pläne zur Einrichtung eines Senders mit einem Programm für die Bevölkerung in der DDR. In einem Brief an die Alliierte Hohe Kommission wird dafür eine Langwellenfrequenz beantragt. Das Programm soll die A R D zuliefern; die Bundesregierung unterstützt den Plan. 27. November: Der N W D R sendet sein Fernsehversuchsprogramm nun dreimal wöchentlich. 1951
2. März: Erstes live übertragene Fernsehspiel: „Vorspiel auf dem Theater" aus Goethes „Faust". 9. Mai: Über ein „Bundesrundfunkgesetz", im Innenministerium in Vorbereitung, wird erstmals im Bundestag beraten. Die Parteien erklären, dass die Unabhängigkeit des Rundfunks garantiert bleiben müsse. 21. Juni: Die bis 8. Mai 1945 aktive ,Reichs-Rundfunk-Gesellschaft' wird auf Beschluss ihrer Gesellschafterversammlung aufgelöst; die Liquidation wird 1961 abgeschlossen. 30. Mai: Die Rundfünkhoheit, so Bundeskanzler Adenauer in einem Brief an den amerikanischen Hochkommissar McCloy, solle an die Bundesrepublik zurückgegeben werden. 2. August: Das novellierte Rundfünkgesetz für den .Süddeutschen Rundfunk' (SDR) tritt in Kraft: die Rechte der Aufsichtsorgane werden neu definiert und gestärkt, die des Intendanten zurückgenommen. 27. August: Der Staatsvertrag für den ,Südwestfunk' (SWF) wird von den drei zuständigen Ministerpräsidenten in Freiburg unterzeichnet. Der geheim vorbereitete Text wird öffentlich heftig und kontrovers diskutiert. 24. November: Die ARD kündigt die Gründung der .Deutschen Welle' als Kurzwellensender fur das Ausland an; die Federführung übernimmt der NWDR, die Gestaltung des Programms soll mit der Bundesregierung und den Parteien abgestimmt werden. 24. November: Die A R D legt „Vorschläge fur die Ordnung des Rundfiinkwesens in der Bundesrepublik" vor, nachdem ihr Entwurf für ein Bundesrundfunkgesetz am Einspruch Bayerns gescheitert war. Festgeschrieben wird darin die Zuständigkeit der Länder für die Organisation der vom Staat unabhängigen Rundfunksender.
1952
6. Januar: Der „Internationale Frühschoppen" mit Werner Höfer startet als Sendereihe des N W D R Köln und wird bis 1987 im Radio fortgeführt. (Ab 30.8.1953 wird sie auch im Fernsehen ausgestrahlt.) 15. Januar: Gründung des .Deutschlandfünks' (DLF), nachdem die USA die Errichtung und den Betrieb eines Langwellensenders in ihrer Zone genehmigt haben.
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17. April: Die ARD tritt zum 1. Mai 1952 als Vollmitglied der .Europäischen Rundfunk-Union' ( U E R / E B U ) bei. I. Mai: Der „Staatsvertrag zur Änderung des Staatsvertrags" über den SWR tritt in Kraft; zuvor hatte Frankreich die bis dahin maßgeblichen Verordnungen des Alliierten Hohen Kommissars für den ,Südwestfunk' aufgehoben. Damit erhält der .Südwestfunk' fur seine Satzung eine deutsche Rechtsgrundlage. 28. Mai: Trotz Kopenhagener Wellenplan erhält die Bundesrepublik neue Frequenzen zugeteilt: 31 Fernseh- und 246 UKW- Wellen. Dadurch wird der Aufbau der Fernseh- und der regionalen UKW-Hörfunknetze ermöglicht. II. Juni: Der Betrieb amerikanischer Hörfunk- und Fernsehsender auf deutschem Boden soll in einem Gesetzentwurf der Bundesregierung geregelt werden. Als Begründung wird die Notwendigkeit genannt, auf Propagandasendungen aus dem Ostblock reagieren zu müssen. 18. Juni: Das Rundfunkgesetz für ,Radio Saarbrücken GmbH' wird nach zweijährigen Verhandlungen mit den Franzosen angenommen; es stößt in der Landesregierung auf heftige Kritik wegen seiner .staatstotalitären' Tendenzen. 20 Juni: Eine endgültige, auf deutschem Recht basierende Satzung für den SWR wird von den Gremien des Senders verabschiedet. 7. Oktober: Der NWDR kann auf Langwelle mit Versuchssendungen fur den .Deutschlandfunk' beginnen, nachdem das britische Außenministerium zugestimmt hat. 20 November: Die S P D verlangt von der Regierung Auskunft über die Rechtmäßigkeit fur den Betrieb des amerikanischen Senders .Freies Europa'(Radio Free Europe) auf deutschem Boden. Das Auswärtige Amt verweist auf entsprechende Lizenzverhandlungen mit den USA; der Sender habe zur Auflage, nicht der Politik der Bundesregierung entgegenzuwirken, anderenfalls drohe ein sofortiger Entzug der Lizenz. Im Übrigen gelte fur den Sender das Besatzungsstatut und die weiter bestehende alliierte Rundfunkhoheit. 24. Dezember: Der NWDR beginnt mit Versuchssendungen der d e u t schen Welle' über Kurzwelle. 25. Dezember: Offizieller Start des Nachkriegsfernsehens in Deutschland. Der NWDR beginnt ein regelmäßiges, tägliches Fernsehprogramm zwischen 20 und 22 Uhr mit Sendungen von 30 bis 60 Minuten Länge; vorausgegangen waren vierjährige Versuchssendungen. 1953
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1. Januar: Für den Fernsehempfang wird eine Fernsehgebühr von fünf Mark monatlich eingeführt. 20. Februar: Die Intendanten von RB, HR, SDR und SWF legen einen ersten Entwurf für ein Bundesrundfùnkgesetz vor, nachdem Ende Januar unter den Sendern der ARD eine Einigung nicht zustande gekommen war.
Daten zur Geschichte des BRD-Rundfunks
21. November: Gesetz über die Gründung des .Sender Freies Berlin' (SFB) als Anstalt des öffentlichen Rechts. Der Sender soll den NWDR Berlin ersetzen. 1954
1. April: ARD-internes Abkommen über einen Finanzausgleich zwischen den kleineren, .nehmenden' und den größeren .gebenden' Sendern der ARD. 12. Mai: Das Gesetz über den .Westdeutschen Rundfunk' in Köln (WDR) als Anstalt des öffentlichen Rechts wird vom Landtag in Düsseldorf verabschiedet und am 25. Mai verkündet; es tritt am 1. Februar 1955 in Kraft, nachdem die britische Militärregierung ihre Verordnung 118, die Einheit des NWDR betreffend, am gleichen Tage aufgehoben hat. 1. Juni: Der SFB beginnt seinen Programmbetrieb. 14. September: Der SFB wird Mitglied in der ARD. 3. Oktober: Die .Deutsche Welle' (DW) beginnt mit Fremdsprachensendungen, zunächst mit Nachrichten in Englisch, Französisch, Spanisch und Portugiesisch. 1. November: Das Fernsehprogramm in Westdeutschland firmiert unter dem Namen .Deutsches Fernsehen' als Gemeinschaftsprogramm der ARD und ist bundesweit empfangbar.
1955
16. Februar: Der .Norddeutsche Rundfunk' (NDR), Anstalt des öffentlichen Rechts in Hamburg, wird durch Staatsvertrag zwischen den Ländern Hamburg, Schleswig-Holstein und Niedersachsen gegründet.
1956
1. Januar: Der NWDR ist geteilt, WDR und NDR senden jeweils eigene Programme. 3. Februar: 100.000 angemeldete Fernsehteilnehmer in Deutschland. 10. Februar: WDR und NDR werden Mitglieder der ARD. 27. November: Unmittelbar vor der Rückgliederung an die Bundesrepublik beschließt der Landtag des Saarlandes das Gesetz zur Gründung des .Saarländischen Rundfunks' (SR) in Saarbrücken als Anstalt des öffentlichen Rechts. Durch die Art der Zusammensetzung seiner Gremien ist der SR zunächst in einer Zwischenform sowohl plural wie staatlich-politisch verfasst. Gründungsintendant des SR wird am 5. Juni 1957 der Jurist und Referent Konrad Adenauers, Dr. Franz Mai. 1. Dezember: Der NDR beginnt auf UKW ein regelmäßiges, sein drittes Hörfiinkprogramm.
1957
1. Oktober: Eine Million angemeldete Fernsehteilnehmer.
1958
1. Dezember: Mehr als zwei Millionen angemeldete Fernsehteilnehmer.
1959
21. Mai: Der .Saarländische Rundfunk' wird zwei Jahre nach der Rückgliederung der Saar und nahezu drei Jahre nach seiner Gründung neuntes und jüngstes Mitglied der ARD.
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Das geteilte Deutschland · 1949-1990
1. Juli: „Musik bis zum frühen Morgen" - Beginn eines gemeinsamen Nachtprogramms im Hörfunk der ARD als Reaktion auf entsprechende Angebote des DDR-Rundfunks.
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1960
1. Januar: 16 Millionen Hörfunk- und 3,4 Millionen Fernsehteilnehmer in der Bundesrepublik. 25 Juli: Der Vertrag über die Gründung einer .Deutschland-Fernsehen GmbH' wird von Bundeskanzler Adenauer für die Bundesregierung und Justizminister SchäfFer namens der Länder unterzeichnet: Beginn des so genannten .Fernsehstreits' zwischen Bund und Ländern. 30. August: Die Hörfunk-Stereophonie wird mit einem Konzert im Haus des Rundfunks in Berlin eingeführt. 29. November: Bundesgesetz über die Gründung der .Deutsche Welle' (DW) als Kurzwellensender fur das Ausland und des .Deutschlandfunks' (DLF) als .Wiedervereinigungssender'; sie werden von der Regierung finanziert und verantwortet. 17. Dezember: Das Bundesverfassungsgericht stoppt mit einer einstweiligen Verfügung das .Adenauer-Fernsehen', d.h. den Programmstart der im Juli von der Bundesregierung gegründeten .Deutschland-Fernsehen GmbH'.
1961
28. Februar: In seinem Femseh-Urteil über die Zulässigkeit des so genannten .Adenauer-Fernsehens' erklärt das Bundesverfassungsgericht das Vorgehen der Bundesregierung für verfassungswidrig; das Urteil enthält darüber hinaus weitreichende Definitionen der den Rundfunk betreffenden Grundgesetzartikel, weshalb es bis heute als „Magna Charta" (W. Hilf) des Rundfunks generell gilt. 21. Oktober: Der .Saarländische Rundfunk' sendet die erste (italienische) Gastarbeitersendung von wöchentlich dreißig Minuten im Hörfunk: „Mezz'ora Italiana". 1. Dezember: Gründung des .Zweiten Deutschen Fernsehen', als gemeinsame Fernsehanstalt der Bundesländer.
1962
1. Januar: .Deutsche Welle' (DW) und .Deutschlandflink' (DLF) senden ihre eigenen Programme. 28. März: Der ,Kurt-Magnus-Preis' wird von den ARD-Sendern gestiftet; unter Federführung des HR wird er jährlich an junge Nachwuchskräfte im Hörfunk verliehen. DW und DLF werden als Sender nach Bundesrecht Mitglieder der ARD.
1963
1. April: Das ZDF beginnt seinen regelmäßigen Programmbetrieb. 30. August. Offizieller Beginn der Stereofonie in den UKW-Programmen der ARD.
1964
2. Januar: der SR beginnt sein neu strukturiertes erstes Hörfunkprogramm .Europawelle Saar': großflächige Musik- und Magazinsendungen sowie Informationen zu aktuellen Themen, wobei Wert auf die ,Durch-
Daten zur Geschichte des BRD-Rundfunks
hörbarkeit' und Wiedererkennung des Programms gelegt wird; der Erfolg wirkt stilbildend auf andere Sender. 30. März: Der WDR startet auf UKW sein drittes Hörfunkprogramm als Kulturprogramm für wechselnde Minderheiten. 1. November: Die ARD bietet Sendungen für ausländische Arbeitnehmer (Gastarbeiter) an; einige Anstalten richten dafür eine dritte UKW-Senderkette ein. 1966
5. Mai: Der H R beginnt das „Funkkolleg": Ein Fernstudienlehrgang im Medienverbund, durch den Lehrer im (Manget-)Fach Gesellschaftslehre aus- und fortgebildet werden sowie Teilnehmer ohne Abitur den Zugang zum Hochschulstudium erlangen können. Das „Funkkolleg" wird unter wechselnder Federführung der beteiligten Sender bis 1994 fortgeführt. 3. Juli: Internationale Musikfestspiele finden in den zusammengeschalteten dritten Programmen des Hörfunks von NDR, S F B und WDR statt. Sie werden zu einer festen jährlichen Einrichtung in den Sommermonaten, an denen sich später auch MDR,ORB und SR beteiligen.
1967
25. August: Beginn des Farbfernsehens in Deutschland mit einen Knopfdruck von Außenminister und Vizekanzler Willy Brandt auf der Berliner Funkausstellung.
1968
15. März: Das Bundesverwaltungsgericht stellt in zwei Urteilen fest, dass die Rundfunkgebühren den Rundfunkanstalten für die Herstellung und Ausstrahlung ihrer Programme zustehen. Die Zuständigkeit für die Festsetzung ihrer Höhe obliege den Bundesländern.
1969
21. Juli: Der Hörfunk überträgt (wie das Fernsehen) live die erste Mondlandung des Amerikaners Neil Armstrong.
1970
1. Januar: Zum ersten Mal seit 1924 werden die Rundfunkgebühren erhöht: Die Grundgebühr von 2 auf 2,50 D M und die Fernsehgebühr von 5 auf 6 DM.
1971
14.-25. September: In Darmstadt findet eine internationale Frequenzplanungskonferenz statt. Die ARD kann ihren Wunsch nach einer bundesweiten Frequenz für eine .Autofahrerwelle' nicht durchsetzen. In Konsequenz bauen die Rundfunkanstalten ihren Verkehrsfunk aus und entwickeln eigene regionale Musik- und Verkehrsservice-Wellen im UKW-Bereich, so Bayern 3 und hr3 (ab 23. April 1972).
1973
1. Juli: Ein Volksentscheid in Bayern führt zu einer Verfassungsänderung: Hörfunk und Fernsehen erfordern eine öffentliche Trägerschaft; Regierung, Landtag und Senat dürfen nicht mehr als ein Drittel der Mitglieder im Rundfunkrat stellen.
287
Das geteilte Deutschland · 1949-1990
30. Dezember: N D R und W D R reformieren ihre Hörfunkprogramme: N D R 2 wird zu einer Musik- und Servicewelle, der W D R orientiert seine Programme deutlicher nach Musikfarben und Inhalten. 1974
1. Januar: Nach vier Jahren werden die Rundfunkgebühren von 8,50 auf 10,50 D M erhöht. Die Grundgebühr steigt von 2,50 auf 3,00 DM, die Fernsehgebühr von 6,00 auf 7,50 DM. Der B R reformiert als erster Rundfunksender seine Hörfunkprogramme umfassend, indem er sie deutlicher voneinander unterscheidet: Bayern 1 bietet vor allem populäre Musik, aktuelle Informationen, Unterhaltung und Lebenshilfe, Bayern 2 wird zum Programm für anspruchsvolle Wortsendungen und klassische Musik, Bayern 3 bleibt die Servicewelle des BR. 11. März: Beim H R in Frankfurt wird der „ARD Sternpunkt für den Hörfunk" in Betrieb genommen; alle Programme der A R D sind durch ein computergestütztes Dauerleitungsnetz für gemeinsame Sendungen und den Austausch von Programmen miteinander verbunden. 8. Juli: Die so genannte ,Kunstkopf-Stereophonie' (vorgestellt 1973 auf der Internationalen Funkausstellung in Berlin) kommt erstmals bei einem Sinfoniekonzert im S F B zum Einsatz. Auch im Hörspiel wird diese wesentlich verbesserte Stereotechnik zunehmend genutzt.
1975
31. Januar: Die Intendanten der A R D beschließen eine Erweiterung des gemeinsamen Nachtprogramms durch Einfuhrung der Sendung „Leichte Musik vor Mitternacht" von 22.30 bis 24.00 Uhr. 20. Februar: Auf Beschluss der Ministerpräsidenten der Bundesländer wird eine .Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten' (KEF) eingesetzt; ihre konstituierende Sitzung findet am 2. Juni statt. 11. August-13. September: Auch der B R bietet erstmals während der Sommermonate im Hörfunk aktuelle und repräsentative Übertragungen von Orchesterkonzerten, Opernauffiihrungen und Solistenkonzerten aus aller Welt. 28. Dez.-6. Jan. 1976: „Radio Revue" nennt der .Bayerische Rundfunk' ein thematisch orientiertes Schwerpunktprogramm zum Jahreswechsel, das auch in den kommenden Jahren mit wechselnden Themen fortgesetzt wird.
288
1976
1. Januar: Bei ARD und ZDF übernimmt die ARD-eigene G E Z (GebührenEinzugs-Zentrale) den Einzug der Rundfunkgebühren, die seit 1923 von der Post besorgt wurde; dadurch werden 100 Millionen Mark eingespart.
1977
10.-13. Februar: Beginn des Satellitenrundfunks. In Genf legt eine weltweite Funkverwaltungskonferenz Frequenzen und Orbit-Positionen für Satelliten fest, über die künftig Fernseh- und Hörfunkprogramme übertragen und direkt empfangen werden können. 1. Oktober: Die .Zentrale Fortbildung der Programm-Mitarbeiter' (ZFP) in
Daten zur Geschichte des BRD-Rundfunks
ARD und Z D F nimmt zunächst in Frankfurt am Main (später in Wiesbaden und Hannover) ihre Arbeit auf. 1979
1. Januar: Rundfunkgebühren werden nach fünf Jahren von 10,50 auf 13,00 D M erhöht: Die Grundgebühr (Hörfunk) von 3,50 auf 3,80 D M und die Fernsehgebühr von 7,20 auf 9,20 DM. Die Hörfunkprogramme berücksichtigen stärker die Regionen ihrer Sendegebiete: 1. April: Der S F B bietet mit dem Programm „SFB3" eine Kultur- und Klassikwelle und orientiert seine Programme stärker auf die Berliner Stadtregion. 2. April: Der B R startet ein „City-Programm" für München. 9. Mai: Der S D R beginnt sein „Kurpfalz-Radio". 5. Juli: Für R B tritt ein neues Rundfunkgesetz in Kraft; der Sender wird von einem Direktorium gefuhrt, die Rechte des Intendanten werden eingeschränkt. 1. Oktober: Der S D R ändert sein drittes Hörfunkprogramm in eine Musik- und Servicewelle - „Radio 3 Südfunk Stuttgart".
1980
Thematisch gebundene Schwerpunktsendungen oder -Sendereihen, besondere Programmwochen oder Schwerpunktprogramme insbesondere in den zweiten Hörfunkprogrammen suchen eine Alternative zu den unterhaltenden Begleitprogrammen zu bieten. 6. Januar: Der S W F bietet bis zum Juni in 70 Sendungen seiner drei Programme „Perspektiven für das neue Jahrzehnt". Ab Dezember 1980 bis Juni 1981 folgt das Schwerpunktprogramm „Begegnungen mit dem Judentum". 7. Januar: Mit „SR3 Saarlandwelle" startet der S R das in der A R D erste durchgehende Regionalprogramm als Vollprogramm. 7. Februar: Nachdem Schleswig-Holstein am 8. Juni 1978, u. a. wegen der Berichterstattung über Demonstrationen gegen das Kernkraftwerk Brockdorf, den Staatsvertrag über die Dreiländeranstalt N D R gekündigt hatte, unterzeichnen Niedersachsen und Schleswig-Holstein nun einen Staatsvertrag für eine Fortführung des N D R als Zweiländeranstalt ohne Hamburg. 2. März: Die A R D beginnt ihr zweites Hörfunk-Nachtprogramm, das „ARD-Nachtkonzert" mit zumeist klassischer Musik, das in täglichem Wechsel von den beteiligten Sendern zusammengestellt und gesendet wird. 17. Juli: Am 28. Mai hatte das Bundesverwaltungsgericht den Fortbestand des .Norddeutschen Rundfunks' auch nach der Kündigung des Staatsvertrags durch Schleswig-Holstein festgestellt; nach entsprechenden Verhandlungen einigen sich die drei Ministerpräsidenten nun auf einen neuen Staatsvertrag für die Dreiländeranstalt; die Landesfunkhäuser erhalten eigene Programme und größere Selbständigkeit.
289
Das geteilte Deutschland · 1949-1990
4. Oktober: Der BR beginnt mit „Bayern 4 Klassik" ein reines E-MusikSpartenprogramm, die erste Klassikwelle in Deutschland.
290
1981
1. Januar: Der WDR reformiert seine Hörfunkprogramme umfassend im Sinne einer weiteren Verbesserung der Berichterstattung aus der Region und einer besseren Musik-Profilierung der Programme. 3. Januar: Auf der Basis des neuen Staatsvertrag fuhrt der NDR in seinem ersten Hörfünkprogramm Landesprogramme fur die drei beteiligten Bundesländer ein und positioniert seine anderen beiden Programme neu. 16. Juni: Das Bundesverfassungsgericht erklärt wesentliche Teile des saarländischen Rundfunkgesetzes vom 7. Juni 1967 fur ungültig: Der Gesetzgeber habe vor der Zulassung privat-kommerzieller Rundfùnkanbieter „Vorkehrungen zur Gewährleistung der Freiheit des Rundfunks" zu treffen.
1982
13. Januar: Das Bundesverfassungsgericht erkennt in einem vom WDR geführten Prozess an, dass die Rundfiinkanstalten das Recht haben, Mitarbeiter auf eine bestimmte Zeit oder projektbezogen zu beschäftigen, ohne dass daraus direkt ein Recht auf Festanstellung entsteht. 9. Februar: Das Bundesverfassungsgericht entscheidet, dass die FDP allein aus dem Grundgesetz keinen Anspruch auf ein Mandat im Rundfunkrat eines Senders ableiten könne. 22. März: Aus Anlass des 150. Todestages Goethes erklärt der HR sein zweites Hörfunkprogramm fur diesen Tag zu „Radio Goethe". 4. April: Radio Bremen erweitert sein zweites Hörfünkprogramm zum Vollprogramm. 16. und 17. Juni: Aus Anlass des 100. Geburtstags von James Joyce übernimmt der WDR direkt vom Radio RTE Dublin die 30-stündige englisch-irische Adaption des Romans „Ulysses". 1. November: Der RIAS richtet in seinem zweiten Hörfünkprogramm einejugendwelle ein.
1983
1. Januar: Der SWF positioniert sein erstes Hörfünkprogramm neu, die Landesstudios erhalten 40 Prozent mehr Sendezeit, die Berichterstattung aus den Regionen des Sendegebietes erreicht damit 5 Stunden Sendezeit täglich. 4. April: Der BR sendet am Ostermontag zum ersten Mal ein „Schallplattenkonzert von Compact Disc"; von nun an wird dieses neue digitale Medium nicht nur die Schallplatte verdrängen. I. Juli: Die Rundfunkgebühren werden auf 16,25 DM erhöht. Die Grundgebühr steigt von 3,80 auf 5,05 DM und die Fernsehgebühr von 9,20 auf II,20 DM. Einen Teil dieser höheren Gebühren müssen die Rundfunkanstalten für den technischen Ausbau von insgesamt vier medienpolitisch gewollten .Kabelpilotprojekten' ausgeben. 30. November: Die ARD fordert von der Politik eine Bestands- und Entwicklungsgarantie: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk müsse angesichts
Daten zur Geschichte des BRD-Rundfunks
aggressiver privat-kommerzieller Konkurrenz nicht nur in seinem Bestand, sondern auch in seiner technischen Entwicklung gesichert werden. 1984
1. Januar: Beginn des privat-kommerziellen Fernsehens in Deutschland. Start des ersten von insgesamt 4 beschlossenen Kabelpilotprojekten in Ludwigshafen mit 8 Fernseh- und 4 Hörfunkkanälen, aber vorerst nur wenigen angeschlossenen Teilnehmern. Die weiteren Versuchsprojekte folgen: München am 1. April 1984, mit 16 Fernseh- und 23 Hörfunkkanälen, Dortmund am 1. Juni 1985, 24 Fernseh- und 20 Hörfunkkanäle (wobei auch der WDR mit einem Lokalradio in Dortmund beteiligt ist) und Berlin am 29. August 1985 mit 12 Fernseh- und 5 Hörfunkkanälen. 1. April: Als „medienpolitischer Urknall" wird vom rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Bernhard Vogel der Sendebeginn des privat-kommerziellen Satelliten-Fernsehens bei Gelegenheit der offiziellen Eröffnung des ersten Kabelpilotprojekts in Ludwigshafen bezeichnet. 1. April: In München startet das zweite Kabelpilotprojekt. Der BR ist mit zwei Fernsehkanälen und einem lokalen Hörfunkprogramm auf einem Kanal des Intelsat V beteiligt. 23. Mai: Niedersachsen hat als erstes Bundesland ein Mediengesetz, das die Zulassung privater Rundfiinkveranstalter regelt. 5. Juni: Auch der WDR baut seine regionale Berichterstattung weiter aus: Die Landesstudios erhalten morgens zwischen 6 und 9 Uhr im ersten Hörfunkprogramm eigene Sendungen. 1. Oktober: Fortsetzung der Regionalisierung. Der NDR ersetzt sein erstes Programm praktisch durch drei selbständige Regionalprogramme .Hamburg Welle', „Radio Niedersachsen" und ,Welle Nord', die von den jeweiligen Landesfunkhäusern gestaltet und verantwortet werden. Der HR geht mit seinem ersten Programm in die gleiche Richtung neben dem „Nordhessen Journal" aus Kassel werden Fensterprogramme fur den Rhein-Main-Raum und für Südhessen angeboten. 29. Oktober - 7. Dezember: Internationale Wellenkonferenz in Genf. Die Bundesrepublik erhält neue UKW-Frequenzen im bisher gesperrten Bereich 100 bis 108 MHz; dadurch erhält jedes Bundesland zwei neue UKW-Senderketten zum Ausbau des Hörfunks.
1985
1. Januar: .Radio Bremen' startet sein drittes Hörfunkprogramm „Radio Bremen drei", das vor allem leichte Unterhaltungsmusik bietet. 20. März: Der WDR erhält ein neues Gesetz, das den Aufsichtsgremien mehr und klarere Kompetenzen gibt. Juni: Start des Kabelpilotprojekts in Dortmund, mit WDR und ZDF als Träger; der WDR erprobt dabei ein lokales Hörfunkprogramm. 28. August: Das vierte und letzte Kabelpilotprojekt beginnt in Berlin, ohne Beteiligung von SFB und RIAS. 29. August: Einführung des Stereotons im Fernsehprogramm der ARD auf der Berliner Funkausstellung.
291
Das geteilte Deutschland · 1949-1990
Hörspiel: Heiner Goebbels und Heiner Müller „Die Befreiung des Prometheus" (SWF). 1986
30. April: Das erste privat-kommerzielle und landesweit zu empfangende Hörfunkprogramm geht in Rheinland-Pfalz auf Sendung. Andere Privatsender folgen sehr rasch im regionalen und lokalen Bereich, so dass sich nun auch der öffentlich-rechtliche Hörfunk der Konkurrenz im dualen Rundfiinksystem stellen muss. 6. Oktober: Der hr beginnt mit hr4 ein stark auf die eigene Region orientiertes Hörfiinkprogramm mit populärer Musik, regionalen Informationen und den regionalen Fensterprogrammen aus dem ersten Programm; mit diesem Konzept wird hr4 zum meist gehörten Programm des hr. 4. November: Das Bundesverfassungsgericht erklärt Passagen des niedersächsischen Rundfunkgesetzes von 1984 als verfassungswidrig und definiert für die öffentlich-rechtlichen Sender die „unerlässliche .Grundversorgung'". Sie beinhalte „die essentiellen Funktionen des Rundfunks fur die demokratische Ordnung ebenso wie für das kulturelle Leben"; nur wenn der öffentlich-rechtliche Rundfunk diese Aufgabe wahrnehme, könnten an die Programme der privat-kommerziellen Sender weniger hohe Anforderungen gestellt werden. Das bedeutete eine wesentliche Verstärkung des Urteils vom 28.2.1961. 1. Dezember: ,Radio Bremen Vier' startet mit dem bisher in der ARD wenig erprobten Programmformat einer Jugendwelle: Rockmusik, Informationen fur Jugendliche und kritische Wortbeiträge.
292
1987
1. Januar: Auch der S F B bringt ein viertes Hörfunkprogramm mit Sendungen für ausländische Mitbürger, Übertragung von Parlamentsdebatten und Ubernahmen von WDR 4. 1. Dezember: Ein „Staatvertrag zur Neuordnung des Rundfunkwesens" in den Bundesländern tritt in Kraft. Er regelt das duale Rundfiinksystem nach einheitlichen Kriterien sowie die Einführung und Aufgabenstellung von Landesmedienanstalten; er enthält eine Bestands- und Entwicklungsgarantie für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.
1988
Januar: Die Rundfunkgebühren steigen von 16,25 auf 16,40 DM, vor allem wegen der Finanzierung der Landesmedienanstalten in den Bundesländern (den Aufsichtsbehörden für den privat-kommerziellen Rundfünk). 3. September: .Radio Breisgau' des SWF beginnt das erste subregionale Fensterprogramm im Hörfunk.
1989
1. April: N D R 4 beginnt als ein Programm neuen Typs: überwiegend Wortsendungen für so genannte .wechselnde Minderheiten'. 26. April: Der WDR beteiligt sich an .Radio NRW', einer Gesellschaft, die das Rahmenprogramm für privat-kommerzielle Programmangebote produzieren soll.
Daten zur Geschichte des BRD-Rundfunks
25. August: Beginn des .Digitalen Satellitenradios' ( D S R / Digital Satellite Radio) im Rahmen der Berliner Funkausstellung: zunächst mit 9 Programmen der ARD; der SDR beginnt 1991 mit dem D S R im Regelbetrieb. 1. September: Die .Europäische Rundfunk Union' ( U E R / E B U ) richtet .Euroradio' ein, über das alle Mitglieder ihre Konzerte anbieten und übernehmen können; der Austausch erfolgt über Satellit. 21. Dezember: Auf Beschluss des Ministerrats der D D R werden die Staatlichen Komitees für Rundfunk und Fernsehen aufgelöst. An ihre Stelle treten zwei eigenständige Sender: .Rundfunk der DDR' und .Fernsehen der DDR' unter jeweils einem eigenen Generalintendanten. 31. Dezember: .Radio Salü', das erste privat-kommerzielle Radio im Saarland, geht auf Sendung; Veranstalter ist eine Anbietergemeinschaft, an der auch der öffentlich-rechtliche S R beteiligt ist. 1990
1. Januar: Anhebung der Rundfunkgebühren von 16,60 auf 19,00 DM: 6 D M Grundgebühren (Hörfunk) und 13 D M Fernsehgebühren. Das Programmangebot im Hörfunk betrug 1989 durchschnittlich 18 Stunden am Tag für die zumeist 3 Programme der Rundfunkanstalten; fur die vierten Programme sind es ca. 13 Stunden täglich. 30. April: Der S F B reformiert seine Hörfunkprogramme. S F B 1 wird das Programm für Berlin, SFB2 wird zu einem Informationsprogramm umgestaltet, SFB3 bleibt als Kulturprogramm erhalten und S F B 4 - .radio for you' wird eine Jugendwelle. 28. September: Durch Gesetz wird der S F B zuständig für die Rundfunkversorgung von ganz Berlin. 2.-3. Oktober: Auch die Programme des Hörfunks der A R D stehen zwei Tage lang unter dem Thema der deutschen Einheit; während der Nacht läuft im Gemeinschaftsprogramm über alle Stationen die Sendung „Deutschland am Vorabend der Einheit". 3. Oktober: Gemäß Einigungsvertrag sind Hörfunk und Fernsehen in den neuen Bundesländern bis 31. Dezember 1991 als „gemeinschaftliche, staatsunabhängige, rechtsfähige Einrichtungen" weiter zu fuhren. 4. Oktober: Der N D R kooperiert mit .Radio Mecklenburg-Vorpommern'; in den nächsten Monaten werden auch andere ARD-Sender mit den regionalen Sendern der ehemaligen D D R zusammenarbeiten.
1991
6. Mai: Der B R startet mit dem Programm B5 den ersten Nachrichtenkanal der ARD, ein Spartenprogramm, das viertelstündlich neue Nachrichten mit Hintergrundinformationen aus Politik, Wirtschaft, Sport und Kultur anbietet. 30. Mai: Der .Mitteldeutsche Rundflink' (MDR) wird als gemeinsame Rundfunkanstalt für die Länder Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen mit Wirkung zum 1. Juli gegründet. 31. August: Unterzeichnung des „Staatsvertrags über den Rundfunk im vereinten Deutschland" durch die 16 Ministerpräsidenten der Bundeslän-
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Das geteilte Deutschland · 1949-1990
der. Der Vertrag beinhaltet eine Rahmenordnung fur das duale Rundfunksystem in Deutschland und die Regelung damit zusammenhängender Fragen, sowie einen neuen Staatsvertrag für das ZDF, das Gemeinschaftsprogramm des Fernsehens, das Gebührenwesen und die Finanzierung des Rundfunks betreffend. 25. September: Der (ab 19.12.) .Ostdeutsche Rundfunk Brandenburg' (ORB) wird in Potsdam gegründet. Oktober: Der WDR beginnt ein fünftes Hörfünkprogramm, WDR5, das als ,Nordrhein-Westfalen-Welle' geplant ist; gleichzeitig wird das erste Programm aufjüngere Hörer hin orientiert. 27. November: MDR und ORB werden als neue Mitglieder mit Wirkung zum 1 Januar 1992 in die ARD aufgenommen. Dezember: Der SWF startet mit SWF4 .Rheinland-Pfalz' ein Regionalprogramm für den nördlichen Teil seines Sendegebietes. 31. Dezember: Gemäß Einigungsvertrag Artikel 26 lösen sich Hörfunk und Fernsehen der DDR auf und sind in neuen Anstalten neu organisiert. 1992
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1. Januar: Der „Staatsvertrag über den Rundfunk im vereinten Deutschland" tritt in Kraft. Vor allem für den Aufbau des Rundfunks in den neuen Bundesländern werden die Rundfunkgebühren von im Westen bisher 23,00 auf 23,80 DM erhöht: 8,25 DM Grundgebühr und 15,55 DM Fernsehgebühr. Bis 1995 werden je Gebührenzahler 1 DM für den Ausbau der neuen Sender abgeführt. In den neuen Bundesländern soll die Gebühr schrittweise jährlich bis 1995 von derzeit 19,00 DM aufWestniveau angehoben werden. Die neuen Sender MDR und ORB, sowie der NDR für MecklenburgVorpommern nehmen ihre Programmarbeit auf. Der ORB mit zwei Hörfiinkprogrammen, dem Kultur- und Informationsprogramm ,Radio Brandenburg' und dem Landesprogramm .Antenne Brandenburg' sowie einem Jugendprogramm .RockRadio B'. Besondere Angebote im Programm sind regelmäßige Sendungen in sorbischer Sprache. Der MDR sendet im Hörfunk drei separate Landesprogramme auf MDR1; außerdem ,MDR live' als Musikradio, ,MDR info' als Nachrichten-Spartenprogramm und ,MDR Kultur'; das aus DDR-Zeit stammende Jugendprogramm DT64 wird vorerst fortgeführt. Der SFB positioniert sein erstes Hörfünkprogramm SFB1 neu als .Berlin 88,8', eine Stadtwelle für ganz Berlin. 1. März: Der neue NDR-Staatsvertrag tritt in Kraft, mit dem der Sender zu einer Vierländer-Anstalt wird. 31. Mai: Der RIAS stellt sein beliebtes zweites Hörfünkprogramm ein. 1. September: RB positioniert sein bisheriges Kulturprogramm .Radio Bremen 2' neu mit Schwerpunkt Kultur und Politik; .Radio Bremen 3' wird als Klassik-Welle zum Musik-Spartenprogramm. 31. Dezember: Der SFB stellt Radio4U, seine Jugendwelle, ein und bereitet mit dem ORB ein gemeinsames neues Jugendprogramm vor.
Oaten zur Geschichte des BRD-Rundfunks
Hörspiel: SWF und WDR senden ab 7. Januar in einer Bearbeitung für den Hörfunk J.R.R. Tolkiens „Herr der Ringe"; RB sendet die 15-teilige Hörspielreihe „Big Bang" von Friedrich Bestenreiner und der MDR von Erich Loest „Sondern erlöse uns von dem Bösen". 1993
1. Januar: Die Rundfunkgebühren steigen in den neuen Bundesländern auf20,60 DM. 22. Februar: SFB und ORB beginnen mit .Radio B2' eine gemeinsame Informations- und Servicewelle für Berlin und Brandenburg. 1. März: SFB und ORB schaffen mit .Radio Fritz' eine gemeinsame Jugendwelle. 1. Mai: Der MDR eröffnet, in Ermangelung einer terrestrischen Frequenz, mit Ausstrahlung über Satellit sein neues Jugendprogramm ,MDR Sputnik'; es ersetzt das Programm DT64. 1. Juli: Die DW übernimmt vom DLF die Redaktion und Sendung der elf europäischen Sprachenprogramme. 31. Dezember: RIAS, .Deutschlandfunk' und der ehemalige DDR-Kultursender ,DS Kultur' beenden gemäß Staatsvertrag über die Neuordnung des Rundfunks ihre Programme.
1994
1. Januar: Das neue .DeutschlandRadio', von ARD und ZDF gemeinsam getragen als Anstalt des öffentlichen Rechts, beginnt seinen Sendebetrieb mit zwei Programmen: einem Informationsprogramm aus Köln und einem Kulturprogramm aus Berlin. Die Rundfunkgebühren in den neuen Bundesländern steigen auf 22,20 DM. 22. Februar: Das Bundesverfassungsgericht erklärt mit einem Urteil das bisherige Verfahren zur Festsetzung der Rundfunkgebühren für teilweise verfassungswidrig, da es eine politische Einflussnahme auf die Programme der öffentlich-rechtlichen Sender ermögliche. 4. April: Mit ,N-Joy Radio' beginnt der NDR um 4.44 Uhr mit seinem Jugendradio als fünftem Hörfunkprogramm. 18. September: Der SFB beginnt in seinem Hörfunk ein neues Programmformat: ,SFB 4 MultiKulti' das sich mit Informationen und Musik an die ausländischen Bürger unter seinen Hörern wendet. 31. Dezember: Mit 60 Prozent Höreranteil haben die öffentlich-rechtlichen Sender trotz wachsender Konkurrenz durch freie und privat-kommerzielle Sender weiterhin eine dominierende Rolle auf dem Markt der Anbieter.
1995
1. Januar: Die Rundfunkgebühren in den neuen Bundesländern werden auf das Westniveau von 23,80 DM angehoben. Der SR bietet - nachdem die Kooperation mit dem hr zuvor beendet wurde - mit dem ,SR2 KulturRadio' zum ersten Mal in seiner Geschichte ein eigenes modernes Kulturprogramm an. Das neue Konzept vermeidet bewusst die bisherige kleinteilige Programmstruktur zugunsten groß295
Das geteilte Deutschland · 1949-1990
flächiger Sendungen und besteht zu 70 Prozent aus nicht nur klassischer Musik und 30 Prozent Wortanteilen. 2. Januar: Der WDR verlegt die Berichterstattung aus den Landesstudios vom fünften in das zweite Hörfunkprogramm WDR2 und positioniert WDR5 als ein anspruchsvolles Wortprogramm nach dem Vorbild von .Radio four' der Londoner BBC. 8. Mai: Zum 50 Jahrestag des Kriegsendes senden die Hörfunkprogramme der ARD zum Teil ausführliche Programme von Hörspiel bis Nachrichten. Unter dem Thema „1945 - Deutschland vor 50 Jahren" sendet der SR beispielsweise in seinem Kulturprogramm ,SR2 KulturRadio' von Januar bis Dezember ein Schwerpunktprogramm mit 40 Sendungen zum Thema. 21.-22. Juli: Eine internationale Konferenz in Wiesbaden legt einen Frequenzplan für .Digital Audio Broadcasting' (DAB) fest, der die Basis für die Einführung des digitalen Hörfunks in Europa ist. 25. August: SDR und SWF beginnen für Baden-Württemberg mit einem DAB-Pilotprojekt; es folgen bis 2000 in den Sendern anderer Bundesländer fünf weitere Erprobungen des DAB-Systems. 26. August: Auf der Berliner Funkausstellung werden erstmals Empfangsgeräte für das ,ASTRA-Digital Radio' (ADR) vorgestellt. 28. August: SFB und ORB erweitern ihre Kooperation und bieten gemeinsam das JnfoRadio' als Nachrichten-Spartenprogramm an. 4. September: RB verändert das Profil seines dritten Hörfunkprogramms und bietet dort am Tage unter dem Namen .Radio Bremen 3 Melodie' Musik für ältere Hörer an; in der Abendzeit wird das Konzept der Klassikwelle beibehalten.
296
1996
13. März: ,B5 aktuell', das Nachrichtenprogramm des BR, ist live als erstes Hörfünkprogramm der ARD über das Internet zu empfangen.
1997
1. Januar: Die Rundfunkgebühren steigen von 23,80 auf 28,25 DM; die Grundgebühren von 8,25 auf 9,45 DM und die Fernsehgebühr von 15,55 auf 18,80 DM. 21. Januar: Der KEF (Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs) gehören jetzt 16 unabhängige Sachverständige an; die Umbildung ergab sich aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1994 und einer daraus folgenden Novellierung des Rundfunkfinanzierungsstaatsvertrags der Bundesländer. 17. Mai: „DAS DING" heißt ein neues Jugendprogramm, das von Jugendlichen für Jugendliche vom SDR und SWF sowohl über DAB (Digitalradio) wie über das Internet zu empfangen ist, später auch über ADR (ASTRA-Digitalradio). Der SDR beginnt unter dem Titel ,SDR international' eine multikulturelle Sendung, die über DAB zu empfangen ist.
Daten zur Geschichte des BRD-Rundfunks
31. Mai: Der ,Südwestrundfunk' (SWR) wird als gemeinsame Rundfunkanstalt von den Ländern Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz aus der Fusion von SDR und SWF gegründet. 17. Juni: Die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer in der Europäischen Union verabschieden ein rechtlich verbindliches „Protokoll über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk"; darin wird die Bedeutung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks fur die demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Gesellschaft und fur die Medienvielfalt anerkannt. 3. Oktober: Durch Kooperation und Zusammenlegungen entstehen zwei neue Hörfunk-Kulturprogramme: ,Radio3' als gemeinsames Klassikprogramm von NDR, ORB und SFB, die dafür NDR3 sowie Teile von SFB3 und .Radio Brandenburg' aufgeben; .radio kultur' als gemeinsames Kulturprogramm von ORB und SFB, mit Berichten aus Politik und Kultur sowie den klassischen Kultursparten. 1998
5. Januar: Der hr splittet im Rahmen eines DAB-Pilotprojekts seine Programme und bietet auf diese Weise vier zusätzlich Programme an: ,hrl plus' als Informationswelle, ,hr 2 Plus:Klassik', ,hrXXL' als Jugendwelle und ab April ,hr skyline' als Wirtschaftswelle. Die Programme sind z. T. auch über UKW, über Mittelwelle oder ADR zu empfangen. 16. Januar: Der BR startet gemeinsam mit dem ADAC im Rahmen des DAB-Versuchs den Verkehrskanal .Bayern Mobil'. 24. August: Die .Initiative Digitaler Rundfunk', 1997 von der Bundesregierung gebildet, legt einen Bericht über die Einführung des neuen Systems vor, der von der Bundesregierung zur Kenntnis genommen wird. Nach diesem soll das Fernsehen bis 2010 komplett auf die digitale Sendetechnik umgestellt sein; beim Hörfunk soll zunächst DAB parallel zum bestehenden UKW-System eingeführt und später über den Termin einer generellen Einfuhrung entschieden werden. Zuerst in Bayern, später auch in einigen anderen Bundesländern (Saarland, Nordrhein-Westfalen, Norddeutschland), werden Sendebetriebsgesellschaften fur den DAB-Regelbetrieb gegründet, an denen neben den öffentlich-rechtlichen auch privat-kommerzielle Sender und Interessenten beteiligt sind. 30. August: Die neue Zweiländeranstalt im Südwesten, der ,Südwestrundflink' (SWR) geht auf Sendung. WDR und SFB senden als WDR5 „Funkhaus Europa", ein tägliches zwölfstündiges multikulturelles Programm. 1. Oktober: Der SWR tritt die Rechtsnachfolge von SWF und SDR an, die damit aufgelöst werden; der SWR wird Mitglied der ARD. 21. Oktober: Das Bundesverwaltungsgericht weist eine Klage des Landes Sachsen gegen die Vergabe einer lokalen UKW-Frequenz in SachsenAnhalt an den MDR fur das Jugendradio ,MDR Sputnik' ab.
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1999
1. Januar: Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten haben ihr Programmangebot seit 1989 wesentlich erweitert. Es umfasst 52 Hörfunkprogramme, die zumeist täglich 24 Stunden auf Sendung sind. Auch die Fernsehprogramme (Erstes und Drittes) senden zumeist rund um die Uhr; neu hinzugekommen sind die Spartenkanäle 3SAT (ARD und ZDF), der Kinderkanal KiKa sowie PHOENIX. Im Rahmen der DAB-Pilotprojekte sind neue Hörfiinkprogramme möglich geworden, so beim hr, BR und WDR2. Die ARD positioniert ihr Programmangebot für ausländische Mitbürger neu; zusätzlich werden Sendungen in Polnisch und Russisch angeboten. 15. Januar: Das Bundesverfassungsgericht weist eine Beschwerde des RB gegen das novellierte Rundfunkgesetz zurück. Damit wird ab 1. Mai die Stellung des Intendanten als Hauptverantwortlichem für den Sender gestärkt und das bisherige Direktorium vorzeitig aufgelöst. 1. März: Der SR übernimmt auf eigenen UKW-Frequenzen sowie im Internet auf weiten Strecken des Tages vom SWR die Jugendsendung „DAS DING" und sendet in eigenen Fenstern „UNSER DING" für junge Hörer im Saarland. 1. April: Sachsen-Anhalt beginnt als erstes Land mit DAB im Regelbetrieb. 2. Mai: Der W D R sendet das „Funkhaus Europa" künftig rund um die Uhr. 22. Mai: In Berlin eröffnet die ARD ein neues Hauptstadtstudio. In der voll digitalisierten Anlage produzieren etwa 80 Mitarbeiter von allen Sendern für das Fernsehen (DAS ERSTE, PHOENIX, die Dritten) und die inzwischen 58 Hörfunkprogramme. 12./ 22. November: Die Ministerpräsidenten beschließen eine Reform des Finanzausgleichs zwischen den größeren und den kleineren Sendern; danach wird die Ausgleichssumme bis 2005 um die Hälfte gekürzt. Zur Existenzsicherung der bisher .nehmenden' Sender RB, SR und SFB werden Entlastungsvereinbarungen getroffen. 19.-21. November: Das Projekt „intermedium 1", ein 20-stündiges Programm mit Musik, Dichtung, Sound Performances und Hörstücken wird in der Berliner Akademie der Künste vom BR gemeinsam mit anderen Sendern realisiert und von mehreren Sendern übertragen. 24. Dezember: Der hr schließt die Digitalisierung vor allem seiner Hörfiinkprogramme ab; andere Sender arbeiten weiter verstärkt an der Einführung der neuen Technik sowohl im Produktions- wie auch im Sendebereich. 31. Dezember: Nach einer Kürzung der Finanzmittel durch den Bund muss die .Deutsche Welle' sechs ihrer Fremdsprachenprogramme im Hörfunk einstellen; es gelingt aber, die französischen Sendungen zu erhalten. Eine Marktanalyse für 1999 ergibt, dass die 58 öffentlich-rechtlichen Hörfunkprogramme mit einem Anteil von 55,3 Prozent der Hörer Marktführer bleiben, gegenüber der privat-kommerziellen Konkurrenz, die mit 172 werbefinanzierten Programmen 44,7 Prozent Marktanteil erreicht. Beim Fernsehen hat das ERSTE 1999 einen Marktanteil von 14,2 Prozent; die dritten Programme kommen zusammen auf 12,5 Prozent.
2000
5./ 6. Juni: Die ARD feiert ihren fünfzigsten Geburtstag.
Zentraler SED-Rundfunk
4.2 DEUTSCHE DEMOKRATISCHE REPUBLIK
Mit progressiv-optimistischen Tönen - in einer von Johannes R. Becher gedichteten und von Hanns Eisler komponierten Nationalhymne wurde 1949 die der Konstituierung der Bundesrepublik folgende Gründung des ostdeutschen Staates (DDR: Deutsche Demokratische Republik) intoniert; als ob die in der Besatzungszeit erstarrten deutschen Verhältnisse nun zum Tanzen gebracht würden: „Auferstanden aus Ruinen / und der Zukunft zugewandt / laß uns dir zum Guten dienen, / Deutschland, einig Vaterland." Die erste Verfassung der DDR, von der provisorischen Volkskammer am 7. Oktober 1949 in Kraft gesetzt, galt einer .antifaschistisch-radikaldemokratischen Republik'; sie hielt an Deutschland als einer .unteilbaren demokratischen Republik' fest; es gebe nur eine deutsche Staatsangehörigkeit. Alle Staatsgewalt gehe vom Volke aus; jeder Bürger habe das Recht und die Pflicht zur Mitgestaltung. Doch fehlte eine Verfassungsgerichtsbarkeit, was den lediglich deklamatorischen Charakter solcher Festlegungen deutlich machte. Das Ideologem ,Aufbau des Sozialismus' wurde bald mit Hilfe der verstärkten Verfolgung politisch Andersdenkender sowie Unbequemer aus den eigenen Reihen und der oft willkürlichen Kriminalisierung von Mitgliedern der bürgerlichen Mittelschicht in die Wirklichkeit umgesetzt. Auf dem Dritten Parteitag der SED im Juli 1950 charakterisierte sich die Partei, hervorgegangen aus der Zwangsvereinigung von KPD und OstSPD, die einen opferreichen, aber vergeblichen Widerstand leistete, als bewusster und organisierter Vortrupp der deutschen Arbeiterklasse, geleitet vom Marxismus-Leninismus. Das Zentralkomitee der Partei wählte Walter Ulbricht in das neu geschaffene Amt des Generalsekretärs. Dieser propagierte eine Verschärfung des Klassenkampfes. Bei einer ersten .Parteisäuberung' wurden vor allem ehemalige West-Remigranten entmachtet. Staat und Staatspartei huldigten dem Stalin-Kult. „Gedenke, Deutschland, deines Freunds, des besten / O danke Stalin, keiner war wie er / so tief verwandt dir. Osten ist und Westen / in ihm vereint." (J. R. Becher)40
Zentraler SED-Rundfunk
Der Rundfunk war zu dieser Zeit bereits längst und fest in der Hand der von der SED bestimmten ostdeutschen Verwaltung - ein Staatsrundfunk, bis 1959 unter Aufsicht der .Sowjetischen Kontrollkommission'. Doch 299
Das geteilte Deutschland · 1949-1990
blieb in der Phase seines Aufbaus, bis in die frühen fünfziger Jahre hinein, seine Struktur (zumindest was seine räumliche Gliederung betraf) föderal, also Länder bezogen. Darauf hatten die SMAD (Sowjetische MilitärAdministration) wie auch - vergleichbar mit den westlichen Zonen - die Ministerpräsidenten der vorerst weiter bestehenden fünf Länder gedrungen. Das ähnelte äußerlich dem Rundfunk in der Weimarer Zeit: mit Leipzig und Berlin als den beiden Hauptsendern, die neben ihren Eigenprogrammen die anderen Regionalsender und Studios betreuten. Anders als die Westmächte, hatte die sowjetische Besatzungsmacht jedoch früh aus politisch-strategischen Gründen entschieden, Berlin wieder zum Zentrum des Rundfunks zu machen. Der erste Schritt zu einer eigenständigen Medienpolitik war die Ablehnung des amerikanischen Vorschlags, in Berlin auch den Rundfunk unter Viermächteverwaltung, also gemeinsam, zu betreiben. So blieb bis 1956 das im britischen Sektor gelegene Funkhaus an der Masurenallee von den Sowjets besetzt. Indem diese den Rundfunk formal wieder in deutsche Verantwortung gaben sie konnten sich auf linientreue Parteikader verlassen -, vermieden sie die direkte Konfrontation mit den westlichen Alliierten. Als die Amerikaner auf die Obstruktion der Russen mit der Gründung des RIAS und die Briten mit der Einrichtung eines Berliner Studios des NWDR reagierten, waren es die deutschen Verantwortlichen in der Sowjetzonenverwaltung, die im Gegenzug am 15. August 1946 eine .Generalintendanz des demokratischen Rundfunks' schufen. Nun wurden die Sender in der Zone zumindest dem Namen nach zu „öffentlich-rechtlichen Einrichtungen" erklärt. Von Selbständigkeit oder gar Autonomie konnte jedoch nicht die Rede sein. Die SMAD war ebenso wie die SED bestrebt, den Rundfunk wie in der Sowjetunion zentral zu organisieren und zu lenken, um ihn auf diese Weise besser kontrollieren zu können. Seine künftige Funktion war nun nicht länger mehr .Aufklärung über die Kriegsschuld Deutschlands' und die .Mobilisierung der Massen zur Unterstützung der Maßnahmen der Besatzungspolitik', wie es die Militärverwaltung 1945 formuliert hatte; jetzt sollten die Programme des Rundfunks als .Instrument der herrschenden Klasse' dienen, nämlich den Aufbau des neuen sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaates vorantreiben sowie (bis in die siebziger Jahre) den Kampf um die Einheit Deutschlands unterstützen. Die Funktionen des Rundfunks als Massenkommunikationsmittel wurden dementsprechend genauestens definiert. So stellte das „Kulturpolitische Wörterbuch der DDR" unter anderem fest: „Unter sozialistischen Bedingungen sind die M. [Massenkommunikationsmittel] Mittel der sozialistischen Demokratie und werden deshalb in der DDR durch die 300
Zentraler SED-Rundfunk
Partei der Arbeiterklasse ... sowie durch staatliche Institutionen in ihrer Tätigkeit gefiihrt Die M. der Arbeiterklasse verbreiten auf der Grundlage der Prinzipien der Parteilichkeit, Wissenschaftlichkeit und Massenverbundenheit die marxistisch-leninistische Weltanschauung in vielfaltigen Formen. ... Durch journalistische Informationen und Argumentationen werden parteilich, aktuell, operativ und kontinuierlich Aussagen über Tatsachen, Ereignisse, Zusammenhänge u. a. zur Befriedigung der vielfaltigen Informationsbedürfnisse der Werktätigen verbreitet."41 Die „Verordnung vom 14. August 1952 zur Errichtung einer Generalintendanz", die dann Hans Mahle inne hatte, beschrieb die künftige Struktur wie die Inhalte und Aufgaben der Hörfunkprogramme. Da nach den Beschlüssen der II. Parteikonferenz der S E D vom 9.-12. Juli 1952 zum Aufbau des Sozialismus alle Kräfte in der DDR nach sowjetischem Vorbild gebündelt und das hieß zentralisiert werden sollten, löste man die bestehenden fiinf Länder auf; an ihre Stelle traten 14 Bezirke. Bald wurde die Generalintendanz wieder abgeschafft und der Rundfunk gemäß einer am 14. August 1952 erlassenen Verordnung einem staatlichen Rundfunkkomitee beim Ministerrat der DDR unterstellt; de facto galten jedoch weiterhin die Weisungen des Zentralkomitees der SED. Die Bezirke erhielten zwar eigene Studios, doch verloren die Landessender .Mitteldeutscher Rundfunk' und .Berliner Rundfunk' ihre Eigenständigkeit und die Möglichkeit regionaler Sendungen. Die neuen Bezirkssender und -studios wurden weiterhin aus Berlin finanziert; sie erhielten von dort ihre politischen wie aktuellen Programme zugeliefert; bei Entscheidungen über das Personal hatten sie bestenfalls noch ein Vorschlagsrecht. Die neue zentralistische Ausrichtung auf Berlin fand ihren Niederschlag in den am 14. September 1952 eingeführten nüchtern-funktionalen Programmbezeichnungen : .Berlin I' hatte sich, insbesondere mit seinen politischen Sendungen, an Hörer in Westdeutschland zu wenden; .Berlin II' sollte vorwiegend anspruchsvolle Sendungen mit Themen aus Kultur und Wissenschaft anbieten; (hier stand offensichtlich die Bildungsfunktion des Rundfunks aus der Weimarer Gründungszeit und bei der frühen Arbeiter-Radio-Bewegung Pate); .Berlin III' war als ein eher volkstümliches Programm fur alle Schichten der DDR-Bevölkerung konzipiert. Alle drei Programme hatten, unbeschadet ihrer Ausrichtung auf verschiedene Hörergruppen, nach Maßgabe der S E D vor allem dem Aufbau des Sozialismus und der Gewinnung der Massen für die Ideen des Sozialismus zu dienen. Dabei waren die großen sozialistischen Errungenschaf301
Das geteilte Deutschland · 1949-1990
ten der .brüderlichen Sowjetunion' Vorbild und Maßstab. Walter Ulbricht hatte am Ende der Parteikonferenz vom 9. Juli 1952 die Richtung vorgegeben: „Wir werden siegen, weil uns der große Stalin fuhrt!"42 Im Zuge der allgemeinen Zentralisierung, aber auch, um das ohnehin knappe Fachpersonal effizienter einsetzen zu können, wurden sogenannte Querschnittsredaktionen für alle drei Sender geschaffen, die Intendanten abgeschafft und deren Verantwortung an ,Säulen-Verantwortliche' delegiert, die für die einzelnen Fachgebiete (,Säulen') zuständig waren: das waren .Aufbau des Sozialismus', .Gesamtdeutsche Fragen', .Kulturpolitik', Jugend', .Pädagogik' und .Musik'. Insgesamt konnten solche organisatorischen Maßnahmen aber weder den Rundfunkbetrieb noch die Programme verbessern. Die Mitarbeiter in den Querschnitts-Redaktionen, meist überfordert und desinteressiert, waren nicht in der Lage, die Vorgaben zu erfüllen; beispielsweise die Nachrichtensendungen in den einzelnen Programmen zu differenzieren oder die Wiederholung einer Sendung auf der anderen Welle zu organisieren. Das Ergebnis war Verweigerung von Verantwortung nach innen und Profillosigkeit nach außen. Die Akzeptanz der Programme bei den Hörern ging drastisch zurück. Auch wenn es zu dieser Zeit in der DDR keine systematische Hörerforschung gab, so hätte bei kritischer Auswertung der Hörerzuschriften die Generalintendanz durchaus wissen können, dass das neue Rundfunkkonzept eine weit reichende Ablehnung erfuhr. Die Sendungen seien zu wortlastig und zudem zu sehr politisch-ideologisch eingefärbt. Auch die Musikauswahl (Volksmusik, Klassik, Kampflieder der Arbeiterbewegung) könnte die Menschen in trüber Zeit nicht fröhlich stimmen. Bemängelt wurde vor allem anderen die fehlende Präsenz der Regionen und Bezirke in den Programmen, eben Sendungen aus der Nahwelt der Hörer, mit denen man sich identifizieren konnte.
Erziehungsdiktatur
Die Lage des DDR-Rundfunks war auf ganz besondere Weise signifikant für die vorherrschende, durch die SED und Walter Ulbricht persönlich praktizierte Erziehungsdiktatur. Der Schriftsteller Reiner Kunze, der mit 16 Jahren der SED beigetreten war, nach der Besetzung der CSSR sein Parteibuch zurückgab (seine Frau ist Tschechin) und 1976 in den Westen ging, charakterisierte diese mit dem trefflichen Epigramm: „Unwissende / damit ihr unwissend bleibt, / werden wir euch / schulen."43 302
Erziehungsdiktatur
BERLINI
ΒERL f Ν I I
7 8 2 k H z » 3 8 5 , 6 M. 7 2 8 kHz » 4 1 2 . 1 m 8 0 0 KHZ « 3 7 3 . 0 m 6 1 1 5 kHz « 4 9 . 0 4 . f f l , 7 1 5 0 kHz « 4 1 . 9 6 m 9 4 . 5 MHz - UKW ( U l t r a k u r z w e l l e )
16.00 Literarische Umschau. Sean O'Casey. Scftriftsfclier und Patriot — Pontili eines fortschrittlichen englischen Schriftstellers unserer Tage 1 5 ..Dio s i e b e n S c h ö n h e i t e n " . G a l l e n v o n Karo K a r a t e » 4 5 HINTER DES FASSADE 5 0 Musik z u r U n t e r h a l t u n g 17.00 K e î t K e s e l i e l i e u m » Funk 3 0 Sjíorl 3 5 Das d e u t s c h e Volkslied 18.CO N a c h r i c h t e n Wiiidvoriiersase f ü r die Ostsee 10 ¿ t a x « c s e h e ü e u i m A ü K l u n t l 15 R h y t h m u s und Sehwmig für alt und jiin^ 20.00 Haelirichten. Wetterbericht 10 K o m m e n t a r 20 F o r a t i » d e u t s c h e r Patitoteli 3 0 V o l k s t ü m l i c h e s O r c h s s t e r k o n z e n m i t Werk e n v o n J o s e p h H a y d n unti Lttúwio » a n Beethoven 21.30 W i r K f i r e c l t c n f ü r WcstilentKfiiland 22.00 Nachrichten, Wetterbericht 15 S S f i U | > I ü t z o d e s Friedens S o z i a l i s t i s c h e S t ä d t e in Ungarn 30 W e r s c h a f f e n will. muB f r ö h l i c h Neue d e u t s c h e U n i e r h a i t u n R s m u s i k 24.00 Nachrichten 0.10 Tanzmusik
1 8 5 kHz » 1 6 2 1 , 6 m L a n g w e l l e 9 1 0 kHz =* 3 2 9 , 7 m 1016 k H z « 9.95,3 ni 1 1 9 6 k H z » 2 5 0 , 8 m (Kur b i s 2 3 . 4 0 )
30 A u f d e s P t t w f j a l t r i i i t t n s K ä h n e n 4 0 F ü r den Q p e r n f r e u m i . M e i s t e r d e r d e u t s c h e n r o m a n t i s c h e n O p e r . 1. A u s . . H a n s H c i l i n g " (Heinrich M a r s c h n e r ) : a ) Ouvert ü r e . b ) An i e n e m Taft. A r i e : 2 . O u v e r t ü r e zu „ G e n o v e v a " ( R o b e r t S c h u m a n n ) : 3 . S o v.'issc. d a S in a l l e u l i l e m e n t e » . A r i e a a s . . U n d i n e " (Albert L o r t z i n g ) : 4 . O u v e r l ä r e zu .. fcssotld-t" ( L u d w i g S o o h r ) : 5 . 0 diese Sonne, Terzett a u s „Der Freis c h ü t z " (Carl Maria v o n W e b e r ) : β . O u v e r t ü r e zu „ D e r B a r b i e r von B a g d a d " ( P e t e r Cornelius) 18.30 Nachrichten. Wetterbericht 4 0 Kircbsntrommontdr 50 B e r l i n e r «