Friedensgutachten 2021: Europa kann mehr! 9783839457863

Europa steht vor enormen Herausforderungen: die Gewaltkonflikte in Bergkarabach und der Ukraine bedrohen den Frieden in

202 33 3MB

German Pages 160 Year 2021

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Table of contents :
Inhalt
Empfehlungen
Stellungnahme / Europa kann mehr!
Recommendations
Statement / Europe Can Do Better!
F
Empfehlungen
Fokus / China – Partner, Konkurrent oder Rivale?
1
Empfehlungen
Bewaffnete konflikte / Krieg in Osteuropa
2
Empfehlungen
Nachhaltiger frieden / Covid-19 und der Globale Süden
3
Empfehlungen
Rüstungsdynamiken / Keine Rüstungskooperation ohne europäische Rüstungsexportkontrolle
4
Empfehlungen
Institutionelle Friedenssicherung / Was will Europa? Strategische Autonomie aus friedenspolitischer Perspektive
5
Empfehlungen
Transnationale Sicherheitsrisiken / Demokratien auf der Kippe: Globale Trends und Bedrohungen
Abkürzungsverzeichnis
Impressum
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Friedensgutachten 2021: Europa kann mehr!
 9783839457863

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2021 / Europa

kann mehr! / friedens­g utachten

BICC Bonn International Center for Conversion HSFK Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung IFSH Institut für Friedens­forschung und Sicherheits­politik an der Universität Hamburg INEF Institut für Entwicklung und Frieden, Frieden Universität Duisburg-Essen

STELLUNGNAHME

5

↗ empfehlungen

4



STATEMENT

15

↗ recommendations

14

2021 / friedensgutachten

2

F FOKUS

China – Partner, Konkurrent oder Rivale? / ↗ empfehlungen

27 26

F.1 Europa zwischen den Großmächten

27

F.2 Belt-and-Road-Initiative

31

F.3 Territorialkonflikte

34

F.4 Innerstaatliche Konflikte und Menschenrechte

37

F.5 Stabilisierungseinsätze

39

F.6 Handels- und Technologiepolitik

42

schlussfolgerungen

45

1

BEWAFFNETE KONFLIKTE

Krieg in Osteuropa / ↗ empfehlungen

51 50

1.1 Aktuelle Konflikte und Interventionen

51

1.2 De-Facto-Regime in Osteuropa

62

schlussfolgerungen

71

2

NACHHALTIGER FRIEDEN

Covid-19 und der Globale Süden /

77

↗ empfehlungen

76



2.1  Menschliche Sicherheit und die Resilienz staatlicher Institutionen

79



2.2 Auswirkungen von Covid-19 auf menschliche Sicherheit im Globalen Süden

84

schlussfolgerungen

90 3

3 RÜSTUNGSDYNAMIKEN



Keine Rüstungskooperation ohne europäische Rüstungsexportkontrolle /

97

↗ empfehlungen

96

3.1 Rüstungsdynamiken

97

3.2 Europäische Rüstungskooperation und Rüstungsexportkontrolle

schlussfolgerungen 4

104 112

INSTITUTIONELLE FRIEDENSSICHERUNG

Was will Europa? Strategische Autonomie aus friedenspolitischer Perspektive / ↗ empfehlungen

119 118

4.1 Institutionelle Friedenssicherung: die Trends

119

4.2 Europäische strategische Autonomie friedenspolitisch grundieren

125

schlussfolgerungen 5

133

TRANSNATIONALE SICHERHEITSRISIKEN

Demokratien auf der Kippe: Globale Trends und Bedrohungen / ↗ empfehlungen

139 138

5.1 Trends und Facetten globaler Entdemokratisierung

139

5.2 Bedrohungen und Herausforderungen der Demokratie

144

schlussfolgerungen

153

Abkürzungsverzeichnis 156 Impressum 160

Es sind stets Personen jeden Geschlechts gleichermaßen gemeint; aus Gründen der Lesbarkeit wird im Friedensgutachten nur die männliche Form verwendet.

2021 / Europa kann mehr! / stellungnahme

↓ empfehlungen 4 1     „Strategische Autonomie“ Europas friedenspolitisch ausrichten Globale Heraus­

forderungen wie die Corona-Pandemie oder der Klimawandel verlangen nach nicht-militärischen Antworten. Deswegen sollte die „strategische Autonomie“ Europas die zivilen Komponenten der Außen- und Sicherheitspolitik betonen. 2     Kreative Lösungen für Konflikte in Osteuropa und im Südkaukasus Die EU muss entschlossener

auf Kriege und Konflikte um De-Facto-Regime reagieren. Sie hat das wirtschaftliche Potenzial, Anreize für die Kompromissbereitschaft der Konfliktparteien zu setzen. Sie sollte Verhandlungsspielräume ausloten, bei denen sie zugleich an Russland nicht vorbeikommt. 3     Differenzierte Position gegenüber China In den

schwierigen Beziehungen zu Peking sollte die EU die Kooperationspotenziale in ausgewählten Poli­ tikfeldern nutzen. Zugleich ist die VR China auf Kernnormen und Grundprinzipien der internationalen Ordnung zu verpflichten, zu denen auch die Menschenrechte gehören.

4     Corona-Friedensdividende schaffen: Militär­ ausgaben reduzieren, Pandemie-Bekämpfung finanzieren Wenn die Gewalt in Konflikten ver-

ringert und Militärausgaben reduziert werden, können enorme Summen eingespart werden und in den Abbau von sozialer Ungleichheit und die sozial-ökologische Erneuerung der globalen Ökonomie fließen. So können die Folgen der Pandemie besser bewältigt werden. 5     Solidarität bei Pandemie-Bekämpfung im Globalen Süden Die EU sollte Finanztransfers

leisten, Schulden erlassen, die privatwirtschaftliche Verantwortung für Lieferketten verankern und zu einer gerechten Impfstoffverteilung bei­ tragen. Gesundheitssysteme und soziale Sicherungssysteme müssen über Einzelmaßnahmen hinaus gestärkt werden. 6     Die Demokratie besser schützen Weltweit

erodiert die Demokratie. Polarisierung, der Kampf gegen Terrorismus und die Corona-Politik be­ schleu­nigen diesen Trend. Bürgerliche und poli­ti­ sche Rechte müssen geschützt, Einschränkungen etwa infolge der Pandemiebekämpfung bei Wegfall der Voraussetzungen umgehend zurückgenommen und Parlamente als Orte der Auseinandersetzung wieder gestärkt werden.

friedensgutachten / 2021

stellungnahme /

Europa kann mehr! / 5

Globale Krisen und Herausforderungen können nur durch Kooperation gemei­stert werden. Die Erosion der internationalen Ordnung in den ver­gan­genen Jahren zeigt, dass Europa im internationalen Machtgefüge handlungsfähiger werden muss. Gerade für Friedensförderung und Sicher­ heitspolitik gilt: Europa kann mehr – und muss mehr tun. Die EU sah sich in den vergangenen Jahren einer schwierigen weltpolitischen Gemenge­ lage ausgesetzt: Unter Präsident Donald Trump höhlten die Vereinigten Staaten die trans­ atlantische Partnerschaft aus, die seit Ende des Zweiten Weltkriegs die Politik des „Westens“ geprägt hatte. Zugleich festigte China seine Position als global player. Die Volks­ republik agiert nicht länger zurückhaltend auf der weltpolitischen Bühne, sondern nutzt zunehmend multilaterale Institutionen für sich und vertritt ihre Interessen immer selbst­ bewusster und durchaus aggressiv. Das Verhältnis zu Russland, das lange Zeit zwischen Konkurrenz und Partnerschaft schwankte, ist spätestens mit der Annexion der Krim, dem Syrien-Krieg und der zunehmenden innerrussischen Repression eisig geworden. Der Amtsantritt von Joe Biden hat die Koordinaten verändert. Die EU war in den zurück­ liegenden Jahren in die Rolle gedrängt worden, zusammen mit einer Handvoll weiterer Partner wie Kanada und Japan die Grundprinzipien des Multilateralismus zu verteidigen. Nun sieht sie sich einem US-Präsidenten gegenüber, der eine Doppelstrategie verfolgt: Einerseits bekennt sich Biden zu internationalen Institutionen und Verträgen, anderer­ seits betont er die tiefgreifenden, nicht zuletzt ideologischen Differenzen, die zu China und Russland bestehen. In dieser Situation muss die EU ihre Position bestimmen. Dies wird in Zeiten der Pande­ mie nicht leichter. Denn die EU ist intern durch nationalistische Bestrebungen und Miss­ management geschwächt. Dennoch meinen wir: Europa kann mehr als nur weltpolitischer Zaungast sein. Voraussetzung ist, dass die EU ihre gestalterischen Stärken besser nutzt und konsequent ausbaut. Dazu gehört, dass sie im institutionellen Gefüge der europä­ ischen Friedens- und Sicherheitspolitik an Kontur gewinnt. Eine aktuelle Bewährungsprobe stellen die Krisen und Kriege um sogenannte De-Facto-Staaten in Osteuropa dar (u. a. Donbass und Bergkarabach). Auf diese Konflikte muss die EU Antworten geben, die die politische Kompromissbereitschaft vergrößern, ohne grundlegende Prinzipien preiszugeben.

Europa kann mehr als nur weltpolitischer Zaungast sein

2021 / Europa kann mehr! / stellungnahme

Zu einer stärkeren Profilierung der EU gehört, ihr Verhältnis zu den Großmächten, ins­ besondere zu China, zu bestimmen: Verglichen mit dem amerikanisch-chinesischen Ver­ hältnis, das durch tiefgreifendes, beiderseitiges Misstrauen geprägt ist, existieren zwi­ schen der EU und China größere Spielräume für Kooperation, die Europa nutzen sollte, um friedenspolitische Impulse in der Großmachtrivalität geben zu können.

6

Im Verhältnis zum Globalen Süden muss die EU ebenfalls neue Akzente setzen. Bei allen Schwierigkeiten bietet die alles überschattende Pandemie die Chance, globale Solidarität sowie Gestaltungswillen und -fähigkeit zu demonstrieren. Die EU kann dazu beitragen, Impfstoffe gerecht zu verteilen, die sozioökonomischen Kosten der Pandemie abzumildern oder die Armuts- und Ernährungspolitik neu zu justieren. Nötig ist außerdem ein radikales Umdenken bei den Militärausgaben im Kontext der Vereinten Nationen (VN), der G20 oder auch der NATO. Eine Corona-Friedensdividende würde dringend benötigte Mittel für die globale Bekämpfung der Folgen der Pandemie freisetzen. Auch das Projekt der Demo­ kratie braucht Hilfe, was sich weltweit an Tendenzen von Autokratisierung zeigt. Die EU sollte sich dafür einsetzen, die Demokratie global und gesamtgesellschaftlich neu zu beleben.



ZIVILE KOMPETENZEN NUTZEN UND AUSBAUEN

In der europäischen Friedens- und Sicherheitspolitik fehlt eine funktionierende Arbeits­ teilung zwischen OSZE, EU und NATO. Eine programmatische Neuorientierung der drei Institutionen muss die Profile der Organisationen schärfen und abgestimmt auf übergrei­ fende Herausforderungen fokussieren. Die Architektur europäischer Sicherheit muss daher auf die politische Agenda gesetzt werden, um die europäischen Sicherheitsinstitu­ tionen nachhaltig zur Bearbeitung globaler wie regionaler Herausforderungen zu befähigen. Gegenwärtig dominieren Fragen der Verteidigungspolitik die Debatte um die Entwicklung der strategischen Autonomie der EU. Diese Debatte muss friedenspolitisch erweitert und zugespitzt werden. Denn viele globale und planetare Herausforderungen – wie die Pande­ mie und der Klimawandel – erfordern nicht-militärische Lösungen. Die Entwicklung ziviler Kapazitäten und Instrumente würde daher die Handlungsfähigkeit der EU stärken. Die stra­ tegische Autonomie der EU neu zu denken und dezidiert ihr ziviles und friedenspoliti­ sches Potenzial zu betonen, gäbe der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik dringend benötigte neue Impulse. Zudem muss die Handlungsfähigkeit der EU als Frage europäischer strategischer Autonomie begriffen werden. Die EU muss dafür nicht nur über die eingesetzten Mittel, sondern auch über die anvisierten Zwecke ihres Engagements Klarheit gewinnen. Um Antworten auf das „Wofür“ europäischer strategischer Autonomie zu finden, müssen friedenspolitische Perspektiven und die Notwendigkeit einer eng abgestimmten Entwicklung einer europäischen Sicherheitsarchitektur nicht nur im poli­ tischen Feld, sondern auch gesellschaftlich breiter diskutiert werden.

Debatte um strategische Autonomie Europas friedenspolitisch erweitern

friedensgutachten / 2021



KREATIVE LÖSUNGEN FÜR DIE EUROPÄISCHEN KONFLIKTHERDE –



UND DARÜBER HINAUS

Eine Bewährungsprobe europäischer Friedens- und Sicherheitspolitik sind die Konflikte um die sogenannten De-Facto-Regime im post-sowjetischen Raum. Die Kämpfe zwischen Aserbaidschan und Armenien um Bergkarabach im Herbst 2020 und die russische Truppen­ massierung an der Grenze zum Donbass im Frühling 2021 [Stand 14. April 2021] verdeut­ lichen, welch hohes militärisches Eskalationspotenzial De-Facto-Regime aufweisen. Die EU muss kreative Strategien im Umgang mit den De-Facto-Regimen in Osteuropa und im Südkaukasus entwickeln. Sie sollte überzeugende Anreize für politische Kompromiss­ bereitschaft setzen und pragmatische Lösungen für die Verbesserung der Lebenssituation in De-Facto-Staaten und beim grenzüberschreitenden Austausch finden, ohne diese Ge­ bilde aber völkerrechtlich anzuerkennen.

Konflikte in Osteuropa und im Südkaukasus sind Bewährungsprobe für europäische Friedenspolitik

Die Bundesregierung sollte zudem ausloten, in welchen Bereichen das Mandat der OSZE gestärkt werden kann. Im Verbund mit Partnern wie Frankreich könnte Deutschland eine wichtige Rolle bei Vermittlungsprozessen über De-Facto-Regime wahrnehmen. Dazu muss mit Russland verhandelt werden, das letztlich der Patron der meisten osteuropä­ischen De-Facto-Regime ist – aber zunehmend unter dieser wirtschaftlichen Belastung leidet. Auch jenseits von Osteuropa und dem Südkaukasus verharrt das globale Konfliktgesche­ hen auf hohem Niveau. Zwar hat Covid-19 nicht direkt zu einer Zunahme an weltweiten Gewaltkonflikten beigetragen. Jedoch wirkt sich die Pandemie verschärfend auf die huma­ nitäre Situation in vielen Krisenregionen aus. Die Hälfte aller Gewaltkonflikte wird in Sub­­sahara-Afrika ausgetragen. Der Bürgerkrieg um Selbstbestimmung und territoriale Integri­ tät in Tigray im Norden Äthiopiens stellt den aktuellsten Konflikt dar. Meist sind es jedoch dschihadistische Gewaltakte, die zu einer Destabilisierung der Sahelregion und der Region um den Tschadsee führen. Der Konflikt mit den meisten Gewaltopfern weltweit bleibt allerdings Afghanistan, wo die Bundeswehr seit 2001 stationiert ist und bis zum 11. Septem­ ber 2021 abziehen wird. Die Bundesregierung sollte sich über dieses Datum hinaus mit ihren diplomatischen und entwicklungspolitischen Instrumenten für eine nachhaltige Friedensfindung in Afghanistan einsetzen.

Dschihadisten destabilisieren Sahel- und Tschadseeregionen

7

2021 / Europa kann mehr! / stellungnahme



SPIELRÄUME FÜR KOOPERATION NUTZEN

Eine zentrale Frage ist, wie sich Europa in der Zukunft gegenüber China positionieren wird. Die Zuspitzung des Konflikts zwischen den USA und China avanciert zum bestim­ menden machtpolitischen Spannungsfeld weltweit. Für die EU kann darin auch eine Chance liegen, sich eine friedenspolitische Gestaltungsmacht zu erschließen und zum Ausgleich zwischen den beiden Rivalen beizutragen. 8

Verglichen mit dem amerikanisch-chinesischen Verhältnis, das durch beiderseitiges tiefgreifendes Misstrauen geprägt ist, bieten die Beziehungen der EU mit China Spiel­ räume für Kooperation. Aber auch dieses Verhältnis ist von Widersprüchen und Irrita­ tionen geprägt, wie jüngste Ereignisse zeigen: Nur wenige Monate lagen zwischen der grundlegenden Einigung beider Seiten auf ein gemeinsames Investitionsabkommen im Dezember 2020 und der wechselseitigen Verhängung von Sanktionen im Streit über Chinas Uighuren-Politik im März 2021. Schon 2019 hat die EU in einem Strategiepapier das Modell einer parallelen Koexistenz von partnerschaftlichen, kompetitiven und rivalisierenden Beziehungen zu China entworfen. Angewandt auf aktuelle Themen der Friedens- und Sicherheitspolitik – beispielsweise die Seidenstraßen-Initiative, die Territorial- und maritimen Konflikte Chinas mit seinen Nach­ barstaaten oder die Menschenrechtsverletzungen innerhalb Chinas –, kann dieses Modell Wege aufzeigen, wie sich Europa zwischen den widerstreitenden Impulsen gegenüber China jeweils positionieren sollte. So ergeben sich Spielräume, um europäische friedens­ politische Akzente zu setzen. So könnte Europa in Konflikten zwischen China und seinen Nachbarstaaten vermitteln, die Themen Nachhaltigkeit und Konfliktsensitivität in gemein­ same Projekte der Seidenstraßen-Initiative einbringen oder gemeinsame Interessen in Afrika nutzen, um China stärker multilateral einzubinden. Gleichzeitig ist es wichtig, dass die EU Verstöße gegen Menschen- und Freiheitsrechte im Fall von Hong Kong und der Uighuren unmissverständlich gegenüber Peking anspricht. Diese Doppelstrategie gegenüber der VR China kann nur unter zwei Voraussetzungen geschehen. Zum einen muss anerkannt werden, dass Politikfelder wie wirtschaftliche Koope­ ration oder Menschenrechte von eigenen Dynamiken geprägt werden und keines davon völlig die Beziehungen zu China dominiert. Entsprechend ist in einem ersten Schritt eine getrennte Analyse und politische Bearbeitung notwendig, um kooperative und kon­ fliktträchtige Bereiche besser navigieren und gestalten zu können. Zum anderen besteht die große Herausforderung in der Entwicklung einer Gesamtstrategie, die über eine bloße Segmentierung der Politikfelder hinausgeht – denn partielle Kooperationen mit Europa könnten vom derzeitigen Regime für eigene Zwecke instrumentalisiert werden. Insofern muss Peking nicht nur in einzelnen Politikfeldern, sondern auch in seiner Gesamtaus­ richtung auf Kernnormen und Grundprinzipien der internationalen Ordnung verpflichtet werden.

Verhältnis zwischen USA und China von tiefem Misstrauen geprägt

Friedenspolitische Akzente in den Beziehungen zu China setzen

friedensgutachten / 2021



DIE WELT BRAUCHT EINE CORONA-FRIEDENSDIVIDENDE

2020 sind die Ausgaben für das Militär weltweit gestiegen, nicht nur trotz, sondern auch wegen der Corona-Pandemie. Denn wirtschaftliche Hilfsprogramme kamen auch der Rüstungsindustrie zugute. Die hohen Militärausgaben erschweren jedoch die finanzielle Bewältigung der globalen Folgen der Pandemie gravierend. Ein globales Maßnahmenpaket zur Verringerung der Militärausgaben und zur weltweiten Gewaltreduktion ist notwendig, um die negativen Folgen der Corona-Pandemie umfassender und global gerechter aufzu­ fangen. Andernfalls drohen neue Konflikte. Zudem tragen Fortschritte in der Förderung des weltweiten Friedens unmittelbar zu erheblichen wirtschaftlichen Verbesserungen bei. So werden die negativen wirtschaftlichen Auswirkungen von Gewalt in der Welt allein im Jahr 2019 auf 14,4 Billionen US-$ (oder 10,5 % des internationalen GDP) beziffert (Institute for Economics & Peace 2021: 5). Eine koordinierte Strategie der Gewaltreduk­ tion sowie eine weltweite Senkung der Militärausgaben im Rahmen der VN oder der G20 sind daher von zentraler Bedeutung, um den negativen Auswirkungen der Corona-Pan­ demie zu begegnen. Die eingesparten Mittel werden dringend für die Verringerung globaler sozialer Ungleichheit und für den sozial-ökologischen Umbau der globalen Wirtschaft benötigt. Angesichts der hohen Schuldenlast sollte die Bundesregierung sich dafür ein­ setzen, dass auch die NATO-Staaten ihr Ziel, 2 % des Bruttoinlandsprodukts für das Mili­ tär auszugeben, zumindest für die Zeit der Bekämpfung der Folgen der Pandemie aus­ setzen, um finanzielle Gestaltungsräume zu schaffen.

Hohe Militärausgaben erschweren Bewältigung der Pandemiefolgen

9

Senkung der Militär­ausgaben und Reduktion von Gewalt setzt Mittel frei für sozial-ökologischen Umbau der Weltwirtschaft

Das könnte auch der Rüstungskontrolle zusätzliche Impulse geben, die mit der neuen US-Administration wieder an weltweiter Bedeutung gewinnt: Die Verlängerung des NewSTART-Vertrags muss für einen Neuanfang in der nuklearen Rüstungskontrolle genutzt werden, damit die Überprüfungskonferenz des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrags (NVV) nicht abermals scheitert. Die Bundesrepublik kann mit eigenen Initiativen für ein positi­ ves Klima sorgen, indem sie etwa als Beobachter an der Vertragsstaatenkonferenz des Atomwaffenverbotsvertrags (AVV) teilnimmt oder für ein Moratorium bei der Stationie­ rung von Mittelstreckenraketen wirbt. Im Rahmen des neuen Strategischen Konzeptes der NATO sollte die Bundesregierung die Ankündigung der Biden-Administration nutzen, die Rolle von Atomwaffen in der Sicherheitspolitik zu reduzieren, um die nukleare Teil­ habe einer kritischen Revision zu unterziehen. Die europäische Rüstungskooperation im Rahmen der Ständigen Strukturierten Zusam­ menarbeit (PESCO) und des Europäischen Verteidigungsfonds (EDF) kann dazu führen, die Beschaffung und Entwicklung von Waffensystemen zu reduzieren. Damit würde der wirtschaftliche Druck sinken, Waffen in Drittstaaten und vor allem in Konfliktgebiete zu exportieren. Gleichzeitig droht die europäische Rüstungskooperation, die na­­tionalen Rüs­ tungsexportkontrollen zu unterlaufen. Notwendig – auch im Sinne der globalen Ge­walt­ reduktion – ist es daher, die europäische Rüstungsexportkontrolle auf EU-Ebene zu stärken. Dafür bedarf es einer Präzisierung und strengeren Anwendung der Regeln des Gemein­ samen Standpunkts der EU zu Rüstungsexporten, einer gemeinsamen Risikoeinschätzung aller Mitgliedstaaten und einer stärkeren Kontrolle durch das Europäische Parlament.

Europäische Rüstungskooperation an strengere Rüstungsexportkontrolle koppeln

2021 / Europa kann mehr! / stellungnahme



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EUROPA MUSS GLOBAL DENKEN UND HANDELN

Die EU ist gefordert, über ihre Grenzen hinaus den negativen Auswirkungen der Pandemie zu begegnen – nicht zuletzt im eigenen Interesse, denn Mutationen von Covid-19 wie in Südafrika oder Brasilien stellen auch für Europa eine Bedrohung dar. In den Weltregionen verläuft das Infektionsgeschehen sehr unterschiedlich. Bemerkenswert ist, dass die In­ fektions- und Todeszahlen im ersten Jahr der Pandemie in Subsahara-Afrika insgesamt deutlich hinter den Befürchtungen geblieben sind. Teile Lateinamerikas und Indiens sind hingegen dramatischer betroffen als erwartet. Zusätzlich zu den gesundheitlichen Be­ drohungen durch Covid-19 stellen die indirekten Folgen der Pandemie in Ländern mit schlecht funktionierenden staatlichen Institutionen eine vielschichtige und langwierige Gefahr dar. Die Umsetzung der Sustainable Development Goals (SDGs) in den Ländern des Südens steht auf Messers Schneide. Im Sinne weltweiter Solidarität muss die EU nennenswerte Finanztransfers und Schulden­ entlastungen für den Globalen Süden forcieren, die vor allem den besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen zugutekommen: So müssen der Zugang zu staatlichen Basisdienst­ leistungen (z. B. Gesundheitsversorgung, sauberes Wasser, Energie) verbessert sowie soziale Sicherungssysteme und arbeitsmarktpolitische Instrumente ausgebaut werden. Das Vertrauen zwischen Staat und Bevölkerung muss verbessert werden, um die Pande­ mie erfolgreich zu bekämpfen. Bei der Verteilung der Covid-19 Impfstoffe sollte die EU die COVAX-Initiative (Covid-19 Vaccines Global Access) für den fairen Zugang von Im­ pfungen stärken. Für die globale Pandemiebekämpfung hilfreich wäre das Aussetzen be­ stimmter Aspekte des unter den WTO-Mitgliedern vereinbarten Patentschutzes. Mithilfe dieses sogenannten TRIPS-Waivers sollten auch Hersteller in Ländern des Globalen Südens Covid-19-Impfstoffe produzieren können. Die Pandemie hat zudem die Krisenanfälligkeit globalisierter Lieferketten aufgezeigt. Eine partielle Entkopplung der Lebensmittelmärkte, kürzere Lieferketten und vermehrt lokale Produktion können helfen, zukünftigen Krisen vorzubeugen. Insgesamt müssen globale Lieferketten umgestaltet und reguliert werden. Das Lieferkettengesetz in Deutsch­ land ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Es muss jedoch etwa mit Blick auf zivil­­rechtliche Klagemöglichkeiten weiterentwickelt werden. Nach einem umfassenden Legis­lativvorschlag des EU-Parlaments im März 2021 hat erfreulicherweise auch die EUKom­mission einen weitreichenden Gesetzesentwurf für Juni 2021 angekündigt, der auch kleinere und mittelständische Unternehmen erfassen und zivilrechtliche Klagen ermög­ lichen soll.

Indirekte Folgen der Covid-19-Pandemie gefährden Umsetzung der Nachhaltigen Entwicklungsziele im Globalen Süden

friedensgutachten / 2021



SCHUTZ DER DEMOKRATIE ALS



GESAMTGESELLSCHAFTLICHE AUFGABE VERANKERN

Mit den Auseinandersetzungen um die Präsidentschaftswahlen in den USA, die Anfang des Jahres im „Sturm auf das Kapitol“ mündeten, erreichte die globale Krise der Demo­ kratie einen weiteren Tiefpunkt. Nach Jahrzehnten der globalen Ausbreitung der Demokra­ tie lässt sich seit ungefähr zehn Jahren ein globaler Trend der Entdemokratisierung beob­ achten – eine Entwicklung, die vor Europa nicht Halt macht. Eine wachsende Zahl von De­mokratien rund um die Welt erlebt eine Erosion demokratischer Normen und Institutio­ nen: Brasilien und die USA sowie die EU-Mitgliedstaaten Polen und Slowenien sind Bei­ spiele für einen graduellen Qualitätsverlust. Länder wie Indien, Mali, die Türkei, Ungarn und Venezuela haben bereits die Schwelle zur Autokratie überschritten. Die Machtergrei­ fung des Militärs in Myanmar droht das Land in einen Bürgerkrieg zu stürzen. Die Herausforderungen sind vielfältig: Politische Polarisierung spaltet in vielen Ländern Politik und Gesellschaft in antagonistische Lager. Terroristische Gewalt gefährdet demo­ kratische Systeme, wenn Regierungen entsprechende Bedrohungen zum Vorwand nehmen, bürgerliche Freiheiten und demokratische Verfahren dauerhaft einzuschränken. Auch in Reaktion auf die Covid-19-Pandemie haben Regierungen weltweit demokratische Rechte und Freiheiten substanziell eingeschränkt. Dies betrifft vor allem die Versammlungs­ freiheit und die parlamentarische Kontrolle der Exekutive. Daraus erwächst vielerorts die Sorge, dass diese Rechte und Freiheiten nach der Pandemie nicht wiederhergestellt werden könnten. Die EU ist nicht zuletzt ein normatives Projekt. Vor diesem Hintergrund sollte sie den kollek­ tiven Schutz der Demokratie ins Zentrum ihres Handelns – nach innen wie nach außen – rücken. Nötig ist sowohl der Erhalt von Demokratie innerhalb der EU und im Rahmen der multilateralen Zusammenarbeit demokratischer Staaten als auch die Stärkung demokra­ tischer Institutionen in fragilen Staaten im Globalen Süden, die durch die Corona-Pande­ mie unter zusätzlichen Druck geraten sind. Die Einschränkungen der bürgerlichen und politischen Rechte, die im Zuge der Pandemie-Eindämmung seit 2020 in EU-Staaten ein­geführt wurden, sind gravierend. Sie lassen sich nur über klar abgegrenzte Zeiträume rechtfertigen und unterliegen hohen verfassungsrechtlichen Hürden. Insofern müssen sie so schnell und so weit als möglich zurückgenommen werden, wenn die Voraussetzungen entfallen. Um Demokratie zu erneuern und zukunftsfähig zu machen, müssen Parlamente und die breitere politische Öffentlichkeit wieder verstärkt zu Orten des lebhaften Streits werden.

11 Weltweite Erosion der Demokratie

Einschränkung demokratischer Rechte und Freiheiten in der Pandemie

EU sollte sich für kollektiven Schutz der Demokratie einsetzen

2021 / Europa kann mehr! / stellungnahme

schlussfolgerungen

12

Die EU kämpft nicht nur in der Pandemie mit Missmanagement und Nationalismus. Auch auf friedenspolitische Krisen, Konflikte und Herausforderungen reagiert sie zögerlich – und gibt viel zu häufig ein schlechtes Bild ab. Intern zerstritten, mit unklaren Zuständig­ keiten in der Abgrenzung zu NATO und OSZE, zu zaghaft in der Formulierung einer eigen­ ständigen und klar friedenspolitisch ausgerichteten Position. Doch wir sind der Über­ zeugung: Europa kann mehr! Ein Europa, das sich auf die normativen Grundlagen des europäischen Projekts besinnt, kann der Erosion der Demokratie entgegenwirken – zuallererst im europäischen Rahmen, aber auch weltweit. Das wirtschaftliche Potenzial für eine proaktivere Rolle auf der Bühne der Weltpolitik ist ohnehin vorhanden. In Zeiten der Pandemie kann dieses Kapital für gelebte Solidarität mit dem Globalen Süden einge­ setzt werden, die letztlich auch Europa hilft. Friedens- und sicherheitspolitisch geht es darum, dass Europa seine zivilen Stärken nutzt, seine Kooperationsspielräume gerade auch gegenüber China vergrößert, zur Annäherung zwischen China und den USA beiträgt und kreative Ansätze in der Bearbeitung der Konfliktzonen in Osteuropa und im Süd­ kaukasus entwickelt. Europa kann mehr und es muss mehr können wollen.

Autorinnen und Autoren Dr. Claudia Baumgart-Ochse

Prof. Dr. Nicole Deitelhoff

HSFK – Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung

HSFK – Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung

Prof. Dr. Christopher Daase

Prof. Dr. Conrad Schetter

HSFK – Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung

BICC – Bonn International Center for Conversion

Prof. Dr. Tobias Debiel

Prof. Dr. Ursula Schröder

INEF – Institut für Entwicklung und Frieden

IFSH – Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg

Quellenverzeichnis Institute for Economics and Peace 2021: Economic Value of Peace 2021. Measuring the Global Economic Impact of Violence and Conflict, Sydney, Januar 2021, in: http://visionofhumanity.org/resources, 14.04.2021.

friedensgutachten / 2021

13

2021 / Europe Can Do Better! / statement

↓ recommendations 14 1     Put Peace Policy at the Heart of Europe’s “Strategic Autonomy” Global challenges such

as the Covid-19 pandemic and climate change require non-military responses. That is why Europe’s “strategic autonomy” should stress the civil components of foreign and security policy. 2     Find Creative Ways to Resolve Conflicts in Eastern Europe and the South Caucasus The EU

must respond to wars and conflicts involving de facto regimes with greater determination. It has the economic power to create incentives for conflict parties willing to seek compromise. It should explore the potential for negotiations, which will necessarily require the involvement of Russia. 3     A Multivalent Approach to Relations with China

While relations with Beijing remain difficult, the EU should make use of the potential for cooper­ ation in selected policy fields. At the same time, the People’s Republic must commit to norms and fundamental principles of the international order, including human rights.

4     Create a Covid Peace Dividend: Reduce Military Spending, Finance Measures to Address the Pandemic Reducing levels of violent conflict and

lowering military expenditure can free up enormous sums that can be used to tackle social inequality and reshape the global economy along socially and ecologically sustainable lines. This would make it easier to combat the consequences of the pandemic. 5     Solidarity in Combating the Pandemic in the Global South The EU should provide financial

transfers, cancel debt, make private enterprises responsible for their supply chains, and contribute to the equitable distribution of vaccines. Health­ care and social security systems need to be strengthened in ways that go beyond one-time measures. 6     Defending Democracy Better Democracy is

eroding worldwide. Polarization, efforts to combat terrorism, and policies designed to deal with Covid-19 are accelerating this trend. Civil and political rights must be protected and restrictions due to the pandemic removed as soon and as completely as possible once the requirements do not apply anymore. Parliaments and the public sphere must strengthened as places of debate.

peace report  / 2021

statement /

Europe Can Do Better! / 15

Global crises and challenges can only be overcome by means of cooperation. The erosion of the international order in recent years shows that Europe has to become a more effective actor in global power politics. For peace research and security policy in particular, this means one thing: Europe can – and must – do better. In recent years, the EU has faced a difficult and complex global political situation: Under President Donald J. Trump, the United States hollowed out the transatlantic partnership that has defined “Western” policy since the end of the Second World War. At the same time, China has strengthened its position as a global player. The People’s Republic is no longer a hesitant actor on the international stage but is now willing to use multilateral institutions for its own purposes and has begun to assert its own interests more firmly, even aggressively. Relations with Russia, which have long swayed between competition and partnership have, with the annexation of Crimea, the war in Syria, and the increase in domestic repression, once again frozen over. With the inauguration of Joe Biden, the coordinates have shifted. In recent years, the EU was forced into the role – together with a handful of partners such as Canada and Japan – of defending the fundamental principles of multilateralism. Now it is faced with a US president who is pursuing a double strategy: While Biden affirms international institutions and agreements, he has simultaneously stressed the fundamental differences – including ideological differences – that exist with China and Russia. In this situation, the EU needs to define its position. The ongoing pandemic, which has revealed an EU that is weakened internally by nationalistic tendencies and mismanagement, does not make this any easier. We nonetheless believe that Europe can be more than an onlooker in international affairs. But for this to be the case, the EU needs to make better use of – and to systematically strengthen – its ability to set the agenda. As part of this, it needs to sharpen its profile within the institutional structures of European peace and security policy. One test that must be dealt with immediately concerns the crises and wars around the so-called de facto states in Eastern Europe (including Donbas and NagornoKarabakh). The EU must respond to these conflicts in ways that strengthen the political will to compromise, but without abandoning fundamental principles.

Europe can be more than an onlooker in international politics

2021 / Europe Can Do Better! / statement

To strengthen its profile, the EU must, among other things, clarify its relationship with the major powers, and particularly with China: While Sino-American relations are permeated with deep and mutual mistrust, there is greater potential for cooperation between the EU and China, and Europe should make use of this to push for a greater focus on peace in the rivalry among great powers.

16

The EU also needs to shift focus in its relationship with the Global South. For all the diffi­ culties it causes, the pandemic that is currently overshadowing everything also offers an opportunity to demonstrate global solidarity, as well as the willingness and the ability to shape policy. The EU can contribute to this by, for instance, ensuring equitable distri­bu­t­­ion of vaccines, ameliorating the socioeconomic costs of the pandemic, or reframing its policies for combating poverty and food insecurity in the Global South. It is also necessary to radically rethink military spending in the context of the United Nations, the G20, and NATO. A Covid-19 peace dividend would free up necessary funds for global efforts to combat the consequences of the pandemic. The democratic project also needs help, as the global tendency towards autocracy shows. The EU needs to play a role in reviving democracy globally and at every level of society.



USING AND EXPANDING CIVIL CAPABILITIES

In European peace and security policy there is no effective division of labor among the OSCE, EU, and NATO. A systematic reorientation of these three institutions is necessary to clarify their distinct profiles and focus them in a coordinated manner on common challenges. The architecture of European security must therefore be placed on the political agenda, to empower European security institutions to tackle both global and regional challenges in the long term. The debate over the development of European strategic autonomy is currently dominated by questions of defense policy. This debate must be expanded to include peace policy, which should become a central focus, as many global and planetary challenges – including the pandemic and climate change – require non-military solutions. The development of civil capacities and instruments would therefore strengthen the EU’s ability to act. Rethinking the EU’s strategic autonomy and systematically stressing its civil potential and ability to promote peace would give European security and defense policy a boost that it urgently needs. Furthermore, the ability of the EU to act must be understood as a ques­ tion of European strategic autonomy. To this end, it is vital that the EU achieves clarity regarding not only the means it can deploy, but also the intended goals of its activities. To answer questions regarding the purpose of European strategic autonomy, the potential of a policy oriented towards peace and the necessity of close coordination in the develop­ ment of the European security architecture need to be discussed not only in the political arena but also more broadly in society as a whole.

Expand the debate on Europe’s strategic autonomy to encompass peace policy

peace report  / 2021



CREATIVE SOLUTIONS FOR CONFLICT HOT-SPOTS IN EUROPE –



AND FURTHER AFIELD

The so-called de facto regimes in the post-Soviet space pose a true test for European peace and security policy. The fighting between Azerbaijan and Armenia over Nagorno-Karabakh in autumn 2020 and the massing of Russian troops at the border of Donbas in spring 2021 illustrate clearly just how much potential for military escalation the de facto regimes represent. The EU needs to develop creative strategies to deal with the de facto regimes in Eastern Europe and the South Caucasus. They should be offered convincing incentives in return for a demonstrable willingness to enter into political compromises and to find pragmatic solutions that can improve the situation of people living within the de facto states while facilitating cross-border exchanges. However, the EU should not grant these entities recognition under international law.

Conflicts in Eastern Europe and the South Caucasus are an acid test for European peace policy

In addition, the German government should examine whether there are areas where the mandate of the OSCE could be enhanced. In cooperation with partners such as France, Germany could play a crucial role in mediation processes with respect to the de facto regimes. This will also require negotiations with Russia, which is ultimately the patron of most of the Eastern European de facto regimes – but which is increasingly suffering from the economic burden. Looking further afield, Eastern Europe and the South Caucasus are not the only regions of the world mired in apparently intractable conflicts. While Covid-19 has not directly contributed to an increase in violent conflicts worldwide, the pandemic has intensified the humanitarian situation in many crisis regions. Half of all violent conflicts are being fought in sub-Saharan Africa. The civil war over the self-determination and territorial integrity of Tigray in northern Ethiopia is only the most recent example. Most of this violence, however, consists of acts of jihadist aggression that are destabilizing the Sahel region and the area around Lake Chad. Nevertheless, it is Afghanistan that remains the conflict with the highest number of casualties worldwide. The German armed forces have been deployed there since 2001 and are due to withdraw by 11 September 2021. Beyond this date, the German government should use all the instruments of diplomacy and development policy at its disposal to pursue a sustainable peace in that country.

Jihadists are destabilizing the Sahel and Lake Chad regions

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2021 / Europe Can Do Better! / statement



LEVERAGING POTENTIAL FOR COOPERATION

One central question is how Europe will position itself towards China in the future. The escalating conflict between the USA and China is emerging as the defining source of geopolitical tension. For the EU, this could represent an opportunity to take on a significant and powerful role as an agenda-setting peacemaker, by helping the global rivals to settle their differences. 18

Compared to the Sino-American relationship, which is characterized by deep mistrust on both sides, relations between the EU and China offer scope for cooperation. However, this relationship also suffers from contradictions and irritations, as recent events have shown: Mere months lie between the agreement in principle by both sides on an invest­ ment treaty in December 2020 and the imposition of mutual sanctions in March 2021 as a consequence of China’s treatment of its Uyghur minority.

Relations between the USA and China are characterized by deep mistrust

A 2019 strategy paper already proposed that the EU pursue a model of relations with China in which elements of partnership, competition, and rivalry coexist in parallel. Applying this model to current issues in peace and security policy – for instance, the Belt and Road Initiative, China’s territorial and maritime conflicts with its neighbors, and human-rights violations within the People’s Republic itself – can help Europe to position itself between conflicting impulses with respect to China. This can create opportunities to stress elements of European peace policy. For instance, Europe could mediate in conflicts between China and its neighbors, introduce the topics of sustainability and conflict sensitivity in joint projects within the Belt and Road Initiative, or leverage common interests in Africa to draw China more deeply into multilateral arrangements. At the same time, it is vital that the EU is direct in addressing Beijing regarding its violations of human and civil rights in Hong Kong and with regard to the Uyghurs. This two-pronged strategy towards the PRC is only possible if two prerequisites are in place. First, it is necessary to recognize that policy areas such as economic cooperation and human rights develop each according to its own internal logic and that no single area should entirely determine EU relations with China. To better navigate and frame policy in areas where there might be more potential for cooperation or where conflict is more likely, it is therefore necessary to first perform analysis and policy development in each area separately. Second, the major challenge is to develop a general strategy that goes beyond the mere segmentation of policy areas – because the current regime could instrumentalize partial cooperation projects with Europe for its own purposes. It is there­ fore vital to ensure that Beijing upholds its obligations not merely in relation to specific policy areas, but also in terms of its overall orientation towards core norms and funda­ mental principles of the international order.

Highlighting issues of peace policy in EU-Chinese relations

peace report  / 2021



THE WORLD NEEDS A COVID PEACE DIVIDEND

Military spending rose worldwide in 2020 not only despite, but also because of the Covid-19 pandemic, as government financial assistance also benefited the arms industry. Yet high levels of military expenditure make it significantly harder to deal financially with the global consequences of the pandemic. A global package of measures to cut military expenditure and reduce violence worldwide is necessary to offset the consequences of the coronavirus pandemic more comprehensively and with a greater degree of global justice. Otherwise, new conflicts threaten to emerge. In addition, progress in the promotion of global peace has a powerful and direct beneficial economic effect. The negative effects of violence were calculated to have cost the global economy 14.4 trillion US-$ in 2019 alone (equivalent to 10.5 percent of world GDP, Institute for Economics and Peace 2021: 5). A coordinated strat­ egy for reducing violence and lowering global military expenditures under the aegis of the UN or the G20 is therefore of central significance for addressing the negative effects of the Covid-19 pandemic. The money saved is urgently needed to reduce global social inequality and for the restruc­ turing of the global economy along socially and ecologically sustainable lines. In view of the high levels of debt that countries are currently incurring, the German government should advocate that NATO states suspend their target of spending two percent of gross domestic product on defense, at least while efforts to deal with the consequences of the pandemic are ongoing.

High levels of military expenditure make it harder to combat the effects of the pandemic

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Lowering military expenditures and reducing violence releases funds for restructuring the global economy along social and ecological lines

That could also give a boost to arms control efforts, which the Biden administration has restored to the global policy agenda: The extension of the New START treaty must be used to revive nuclear arms control so that the Review Conference of the Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons (NPT) is not postponed yet again. Germany can introduce initiatives to help create a positive climate, for instance by participating as an observer in the conference of States Parties to the Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons (TPNW) or by advocating a moratorium on the deployment of medium-range missiles. In view of the proposal that NATO develop a new Strategic Concept, the German government should use the Biden administration’s announcement that it seeks to reduce the role of nuclear weapons in security policy to subject the policy of nuclear sharing to a critical review. This would reduce the economic pressure to export weapons to third states and, above all, to conflict regions. At the same time, however, European armaments cooperation also threatens to undermine national arms export controls. It is therefore necessary – also as a means of reducing violence worldwide – to strengthen European arms export controls at EU level. This requires more precise definition and more stringent enforcement of the regulations contained in the EU’s Common Position on arms exports, as well as joint risk assessment of all Member States, and tougher oversight by the European Parliament.

Linking European armaments cooperation to tougher arms export controls

2021 / Europe Can Do Better! / statement



EUROPE NEEDS TO THINK AND ACT GLOBALLY

The EU is faced with the challenge of addressing the negative consequences of the pan­ demic beyond its borders – not least out of self-interest, as Covid-19 mutations, such as those that have already emerged in South Africa and Brazil, pose a risk for Europe.

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Levels of coronavirus infection have varied greatly among the world’s regions. Notably, the number of infections and deaths remained lower than was feared in sub-Saharan Africa in the first year of the pandemic. Parts of Latin America and India, however, have been affected more dramatically than expected. Alongside the health consequences of Covid-19, the indirect effects of the pandemic represent a many-sided and long-lasting danger in countries with ineffective state institutions. Consequently, the implementation of the Sustainable Development Goals (SDGs) in the countries of the Global South is on a knife edge.

Indirect consequences of the Covid-19 pandemic threaten the implementation of Sustainable Development Goals in the Global South

In the name of global solidarity, the EU must push for significant financial transfers and debt relief for the Global South. These measures should specifically target the population groups that find themselves at greatest risk: Access to basic state services (e. g. health­ care, clean water, energy) needs to be improved, and social security systems and policy instruments targeting the job market must be strengthened. Trust between the state and the people has to grow stronger if the pandemic is to be combated effectively. To aid in the equitable distribution of Covid-19 vaccines worldwide, the EU should support the COVAX initiative (Covid-19 Vaccines Global Access). For the global fight against the pandemic it would be helpful to suspend certain aspects of the patent protection agreed upon by WTO-members. By means of the so-called TRIPS-waiver, manufacturers in the Global South should be able to produce Covid-19 vaccines. The pandemic has also demonstrated just how vulnerable globalized supply chains are to crises. Partially decoupling local food markets from the world market, shortening supply chains, and increasing local production could help to prevent future crises. Overall, global supply chains need to be reformed and regulated more tightly. Germany’s new Supply Chain Law is a step in the right direction. Yet it needs to be enhanced, for instance with respect to the possibility of bringing actions under civil law. Following a comprehensive legislative proposal by the European Parliament in March 2021, the European Commission has announced that a far-reaching draft law will be published in June 2021, which will also cover small and midsized enterprises and enable civil suits.

Global supply chains need to be reformed and regulated

peace report  / 2021



ENSHRINE THE PROTECTION OF DEMOCRACY



AS A TASK FOR THE WHOLE OF SOCIETY

In the dispute over the 2020 US presidential election, which culminated in January’s storming of the US Capitol, the global crisis of democracy reached a new low. After decades of global expansion, democracy has now been declining worldwide for around a decade – Europe is no exception. A growing number of democracies around the world have experienced the erosion of democratic norms and institutions: Brazil and the USA along with EU member states Poland and Slovenia are examples of a gradual qualitative decline. Countries such as India, Mali, Turkey, Hungary, and Venezuela have already crossed the line into autocracy. The seizure of power by the military risks hurling Myanmar into civil war. There are many challenges that need to be faced: in many countries, polarization has divided politics and society into antagonistic camps. Terrorist violence also threatens democratic systems when governments use the threat of terrorism as a pretext to per­ manently restrict civil liberties and democratic procedures. Governments worldwide have also substantially restricted democratic rights and freedoms in reaction to the Covid-19 pandemic. The right to assembly and parliamentary oversight of the executive have been particularly affected. In many locations, this has led to concerns that these rights and freedoms may not be restored following the pandemic. Among its many roles, the EU is also a normative project. Against this background, it should give the protection of democracy a central role in its activity – both at home and abroad. It is necessary both to preserve democracy within the EU and the framework of multi­lateral cooperation among democratic states and to strengthen democratic institu­ tions in fragile states in the Global South that have been placed under additional strain by the Covid-19 pandemic. The curtailments of civil and political rights imposed within the EU in the name of managing the pandemic have been severe. They can only be justified for restricted time periods and are subject to high thresholds under constitutional law. Therefore, these curtailments must be reversed as rapidly and as thoroughly as possible once the requirements do not apply anymore. To renew democracy and strengthen it for the future, parliaments and the public sphere in general must again become places of lively debate.

Global erosion of democracy

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Restrictions of democratic rights and freedoms during the pandemic

The EU should support collective efforts for the protection of democracy

2021 / Europe Can Do Better! / statement

conclusions

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It is not only in its efforts to deal with the current pandemic that the EU is struggling with mismanagement and nationalism. It has also reacted hesitantly to crises, conflicts, and challenges that pose a threat to peace – and far too frequently has made a poor impres­ sion: internally divided, with an unclear division of responsibilities in distinction to NATO and the OSCE, timid in formulating an independent position focused clearly on the pur­ suit of peace. And yet we are convinced: Europe can do better! A Europe dedicated to the normative foundations of the European project can combat the erosion of democracy – initially within Europe, but also worldwide. The economic potential for Europe to play a more proactive role on the global political stage certainly exists. In times of pandemic, this capital can be deployed as a sign of living solidarity with the Global South, something that ultimately also benefits Europe. Peace and security policy is a matter of Europe using its civil strengths, enlarging the scope of its potential for cooperation, including with respect to China, contributing to rapprochement between China and the USA, and develop­ ing creative approaches to dealing with conflict zones in Eastern Europe and the South Caucasus. Europe can do better. But it has to want to.

Authors Dr. Claudia Baumgart-Ochse

Prof. Dr. Nicole Deitelhoff

PRIF – Peace Research Institute Frankfurt

PRIF – Peace Research Institute Frankfurt

Prof. Dr. Christopher Daase

Prof. Dr. Conrad Schetter

PRIF – Peace Research Institute Frankfurt

BICC – Bonn International Center for Conversion

Prof. Dr. Tobias Debiel

Prof. Dr. Ursula Schröder

INEF – Institute for Development and Peace

IFSH – Institute for Peace Research and Security Policy at the University of Hamburg

References Institute for Economics and Peace 2021: Economic Value of Peace 2021. Measuring the Global Economic Impact of Violence and Conflict, Sydney, January 2021, in: http://visionofhumanity.org/resources, 14 April 2021.

peace report  / 2021

23

F

25

2021 / China –

Partner, Konkurrent oder Rivale? / fokus F.1 ����Europa zwischen den Großmächten F.2 ����Belt-and-Road-Initiative F.3 ����Territorialkonflikte F.4 ����Innerstaatliche Konflikte und Menschenrechte F.5 ����Stabilisierungseinsätze F.6 ����Handels- und Technologiepolitik

2021 / China – Partner, Konkurrent oder Rivale? / fokus

↓ empfehlungen F 26 1     Eine europäische China-Politik entwickeln Im

Konflikt zwischen den USA und China sollte die EU eine Festlegung auf eine Seite vermeiden und eine autonome China-Politik entwickeln, um den eigenen Einfluss zu maximieren und als Mittler wirken zu können. 2     Komplexität und Widersprüche akzeptieren An-

gesichts der Widersprüchlichkeit chinesisch-europäischer Beziehungen bietet sich eine Aufspaltung in Einzelthemen an, was je nach Interessenlage gezielte Kooperation und Konfrontation ermöglicht. 3     Kooperation für nachhaltige und konfliktsensi­­ tive Infrastruktur Bei der Umsetzung der „Belt-

and-Road“-Initiative (BRI) sollte die europäische Seite konkrete Angebote machen, um höhere Standards auf Projektebene zu realisieren. Knowhow könnte gerade in den Bereichen Nachhaltigkeit und Konfliktsensitivität einfließen. 4     Territorialkonflikte konsistent verrechtlichen

In Territorialkonflikten kann Europa vor allem mit Glaubwürdigkeit punkten und sollte sich als neutrale, wertebasierte Kraft etablieren, die auf alle Konfliktparteien gleichermaßen einwirkt. Rechtliche Standards sind nicht nur gegenüber China einzufordern, sondern auch von anderen Parteien.

5     Der Aufweichung von Menschenrechtsstandards entgegenwirken Menschenrechtspolitik bleibt die

wichtigste normative Trennlinie zwischen Brüssel und Peking. Sie darf vor allem auf der Ebene der Vereinten Nationen (VN) nicht Entwicklungsin­te­ ressen untergeordnet werden. 6     Gemeinsam für Stabilität in Afrika In Afrika

haben China und Europa geteilte Sicherheits- und Stabilitätsinteressen, die eine Partnerschaft bei Stabilisierungsmissionen und der Stärkung lokaler Kapazitäten begründen können, idealerweise unter Einbindung Chinas in multilaterale Regelwerke. 7     Wirtschaftliche Verflechtungen vertiefen Im

Interesse einer konflikthemmenden Interdependenz macht die Vertiefung der wirtschaftlichen Verflechtungen mit China Sinn. Wo übergreifende EU-Interessen in den Bereichen Menschenrechte und Sicherheit negativ beeinflusst werden, muss diese Politik jedoch aktiv justiert werden.

friedensgutachten / 2021

fokus /

China – Partner, Konkurrent oder Rivale? / F 27

Der Umgang mit China erfordert von der EU eine grundsätzliche Positio­ nierung, stellt sich aber je nach Einzelthema sehr unterschiedlich dar, was Kooperations- und Konfliktpotenziale angeht. Diese Komplexität sollte berücksichtigt werden und in eine China-Politik münden, die europäische Autonomie und Flexibilität bewahrt, ohne fundamentale Werte zu opfern. Hierfür ergeben sich auf der Ebene friedenspolitisch relevanter Einzelthemen jeweils unterschiedliche Ziele und Handlungsspielräume. F.1 �� Europa zwischen den Großmächten

D

er Aufstieg Chinas ist ein Megatrend, der das weltweite Machtgefüge stärker beeinflusst als irgendein anderes Phänomen seit dem Ende des Kalten Krieges. Während die Etablierung Chinas als neue Supermacht lange als wahrscheinliche, aber dennoch abstrakte Möglichkeit galt, scheint diese Realität inzwischen in greifbare Nähe gerückt: Gemäß einer Umfrage des European Council on Foreign Relations (ECFR) im Januar 2021 erwartet inzwischen eine Mehrheit der europäischen Bürger, dass China bis 2030 die USA als führende Weltmacht ablösen wird (→ Krastev und Leonard 2021). Dieser Prozess der Wachablösung oder zumindest Etablierung auf Augenhöhe ist von zentraler Bedeutung für Fragen der internationalen Friedens- und Sicherheitspolitik, da er zunächst einmal den Konflikt zwischen den beiden Großmächten selbst verschärft. 2020 kam es zu einem rapiden Anstieg der Spannungen, die sich aus fundamentalem strategischem Misstrauen, expansiven sicherheitspolitischen Erwägungen und ideologischen Konflikten speisten. Auf amerikanischer Seite mehren sich Stimmen, die eine „strategische Entkopplung“ beider Staaten fordern und aus sicherheitspolitischen Erwägungen dafür plädieren, die bislang florierenden Wirtschaftsbeziehungen einzuschränken. In China wiederum wachsen der Glaube an die Überlegenheit des eigenen Systems und der Verdacht, dass der eigene Aufstieg durch solche Maßnahmen hintertrieben werden soll. Die neu gewählte US-Regierung könnte eine weitere Eskalation vermeiden und punktuell auf Entspannung setzen, das tiefgreifende beiderseitige Misstrauen wird jedoch eine Konstante bleiben.

Tiefes Misstrauen zwischen China und USA

2021 / China – Partner, Konkurrent oder Rivale? / fokus

F 28

Diese Spannungen erreichen zwar noch nicht das Ausmaß eines neuen „Kalten Kriegs“, begründen aber einen global strukturbildenden Großmachtkonflikt, in dem auch Europa seine Rolle erst noch finden muss. Sowohl China als auch die USA unter der neuen Biden-Regierung werben inzwischen intensiv um europäische Unterstützung, was zuletzt in den Verhandlungen um ein europäisch-chinesisches Investitionsabkommen deutlich wurde. Generell lässt sich raten, diese Position bewusst zu nutzen und so lange wie möglich zu bewahren, anstatt sich vorschnell und vollumfänglich auf eine Seite zu schlagen. Dies sollte nicht als Aufruf zu einer Politik der Neutralität oder „Äquidistanz“ missverstanden werden. Die Beibehaltung einer robust institutionalisierten transatlantischen Partnerschaft ist im europäischen Interesse und wird auch in Zukunft eine größere Nähe begründen. Dem Vorhaben der Biden-Regierung, die unter Trump geschädigte gemeinsame Wertebasis wiederherzustellen, sollte ebenfalls mit Sympathie begegnet werden. Auch wenn sich Europa stärker emanzipiert und sich dadurch die internationale Struktur hin zu einem strategischen Dreieck verschiebt, wird dieses asymmetrisch sein.

Europa muss seine Rolle im Großmachtkonflikt finden

Stärkere europäische Autonomie sollte sich jedoch vor allem in der eigenständigen For­ mulierung chinapolitischer Ziele niederschlagen. Dafür gibt es mehrere Gründe: Erstens maximiert Flexibilität den eigenen Einfluss in separaten Verhandlungen über konkrete Sachthemen und, damit einhergehend, die europäische Gestaltungsfähigkeit im Allgemeinen. Zweitens kann sich Europa so für eine Vermittlerrolle zwischen Washington und Peking anbieten, zur Deeskalation von Spannungen beitragen und ihre besonderen Stärken als Zivilmacht ausspielen. Drittens steht Europa – im Gegensatz zu den USA egal unter welcher Regierung – in China nicht im Verdacht, einen Einhegungskurs zu verfolgen; das daraus erwachsende größere Vertrauen würde sich jedoch schnell verflüchtigen, wenn die EU rückhaltlos auf die US-Linie einschwenkte. Viertens kann diese Wahrnehmung genutzt werden, um gegenüber China robuste Kritik an strittigen Fragen vor allem in der Menschenrechtspolitik zu äußern, die umso glaubwürdiger ist, wenn sie nicht als Vehikel für machtpolitische Interessen abgetan werden kann. Ein solcher Kurs bietet daher zahlreiche Vorteile, um den positiven europäischen Einfluss in einer Welt zu bewahren, die zunehmend von Unsicherheit und Spaltung geprägt ist. Er entspricht den Bemühungen der EU wie auch einflussreicher Mitgliedsstaaten, unter dem Schlagwort der „strategischen Autonomie“ die Stärkung der eigenen Kapazitäten und Handlungsfähigkeit zu forcieren. Dieser Kurs stellt jedoch weitaus größere Ansprüche an die Leistungsfähigkeit europäischer Außenpolitik. Vor allem gilt es, im Verhältnis zu China verschiedene Sachthemen trennscharf voneinander abzugrenzen. Solche Prozesse sind angesichts der Komplexität EU-interner Entscheidungsfindungen langwierig, wurden aber inzwischen angestoßen. Seit 2019 besteht mit dem „EU-China Strategic Outlook“ ein gesamteuropäischer Ansatz, der die Vielschichtigkeit der Beziehungen unterstreicht und sie je nach Thema als partnerschaftlich, kompetitiv oder als Rivalität bezeichnet (→ Europäische Kommission 2019). Eine solch differenzierte Sichtweise ist notwendig und angemessen, gerade weil immer mehr internationale Politikfelder, in denen sich jedoch sehr unterschiedliche Gewichtungen von normativen

Zum Ausgleich zwischen Washington und Peking beitragen

friedensgutachten / 2021

Überzeugungen und Interessen zeigen, von chinesischem Handeln beeinflusst werden. Eine Aufspaltung der China-Politik in verschiedene Felder sollte daher nicht als Zeichen einer prinzipienlosen Beliebigkeit gesehen werden, sondern vielmehr als Möglichkeit, über separate Kanäle genau kalibrierte Botschaften zu senden. Dies erfordert jedoch auch eine klare Sicht auf chinesische Motivationen und ihre Vereinbarkeit mit europäischen Zielvorstellungen.

Europäische China­ politik in verschiedene Felder aufspalten

F

CHINA ALS ILLIBERALE ODER ANTILIBERALE MACHT?

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Die stetige Entfaltung chinesischer Macht in der Welt begründet seit einigen Jahren ein reges Interesse an den dahinterstehenden Visionen und normativen Vorstellungen. Von zentraler Wichtigkeit ist, inwieweit ein stärkeres China bereit ist, die existierende und nicht zuletzt von Europa mitgetragene liberale Weltordnung zu akzeptieren und in welchem Bereich ein fundamentaler Wandel angestrebt wird. Generell lässt sich konstatieren, dass – ebenfalls im Gegensatz zum Kalten Krieg – kein allumfassender Widerspruch zwischen liberalen und chinesischen Ordnungsbildern besteht. China verdankt seinen eigenen Aufstieg einer globalisierten, vernetzten und wirtschaftlich offenen Welt. Auf internationaler Bühne fordert China konsistent, diese Merkmale der internationalen Ordnung zu bewahren, zuletzt in expliziter Abgrenzung zu den protektionis­ tischen Bestrebungen der Trump-Regierung und anderer westlicher Politiker. Insbesondere durch die „Belt-and-Road“-Initiative (BRI), die „Neue Seidenstraße“, die der Globalisierung wortwörtlich neue Wege bahnen soll, wird diese Forderung auch praktisch untermauert. Die Parole von der so entstehenden globalen „Schicksalsgemeinschaft“ spiegelt chinesische Vorstellungen einer von Beziehungen und Verknüpfungen geprägten Welt wider, in der dasjenige Land im Mittelpunkt steht, in dem die meisten Linien zusammenlaufen. Die Konstruktion von Transportkorridoren, die auf China ausgerichtet sind, erfüllt daher neben wirtschaftlichen auch politische Ordnungsziele (→ Rolland 2017). Zusätzlich zur Etablierung eigener, chinesisch geprägter Institutionen wie der Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB) zur Finanzierung der BRI betont Peking seinen Führungsanspruch auch verstärkt innerhalb des Systems der Vereinten Nationen (VN). China beteiligt sich an Friedenssicherungs- und Stabilisierungseinsätzen, betont glo­ bale Entwicklungsziele und den Kampf gegen Herausforderungen wie Klimawandel und Corona-Pandemie. Auf diese Weise macht China zunehmend Einfluss geltend und verwirklicht sein eigenes, lange gehegtes Rollenbild als „verantwortungsvolle Macht“ (→ Foot 2001). Auch in diesem Bereich gelang es in den vergangenen Jahren, von den USA geräumte Bereiche zu besetzen und eigenes Personal in zahlreichen VN-Agenturen zu installieren; VN-interne Diskurse werden parallel immer stärker von chinesischen Konzepten und bevorzugten Redewendungen durchdrungen (→ Fung und Lam 2020).

China profitiert von der globalisierten, vernetzten Welt

Chinesisches Engagement in den Vereinten Nationen

2021 / China – Partner, Konkurrent oder Rivale? / fokus

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Im Gegensatz zu diesen Bereichen, in denen China überwiegend in existierende Weltordnungsstrukturen hineinwächst und diese durchaus auch stärkt, werden andere Elemente des liberalen Modells klar zurückgewiesen. Dies betrifft vor allem die Annahme universell gültiger normativer Prinzipien wie Menschenrechte und politischer Teilhabe sowie die Pflicht zur deren globaler Durchsetzung. Motiviert durch den Erhalt des eigenen Systems, aber auch von genuinen Überzeugungen, stellt Peking dem Status Quo eine zunehmend klare Alternative gegenüber, die vor allem nationalstaatliche Souveränität, Wertneutralität bezüglich politischer Systeme, effektive Staatsgewalt statt indi­ vidueller Rechte sowie das Primat wirtschaftlicher Entwicklung betont. So macht sich China im VN-Menschenrechtsrat stark für eine Interpretation des Begriffs der Menschenrechte, welche die ökonomischen Rechte und insbesondere ein „Recht auf Entwicklung“ ins Zentrum stellt (→ Richardson 2020). Legitim ist nach diesen Kriterien vor allem der wirtschaftlich erfolgreiche Entwicklungsstaat, dessen Souveränität von außen nicht angetastet werden darf – was nicht nur dem Schutz von Chinas eigenem Regime dient, sondern auch ähnlich verfassten Staaten in aller Welt.

China betont „Recht auf Entwicklung“ statt Menschenrechten und politischer Teilhabe

Diese Agenda erfordert jedoch aus chinesischer Sicht keinen Systemwettbewerb durch die Konversion anderer Staaten, sondern sie lässt sich durch die schleichende Schwächung liberaler Ordnungsvorstellungen und ihres weltweiten normativen Druckpotenzials erreichen. Während der Aufbau einer neuen, China-zentrischen Weltordnung ein langfristiges Projekt ist, das bislang kaum Unterstützung erfährt, kann Peking für das Ziel einer nicht-liberalen Ordnung auf deutlich größeren Rückhalt in zahlreichen postkolonialen Staaten und Entwicklungsländern bauen, teils aber auch bei illiberalen Regimen in westlichen Ländern. Eine solche Koalition konnte Peking bereits mobilisieren, um von Deutschland und anderen europäischen Staaten vorgebrachte Kritik am eigenen Vorgehen in Xinjiang und Hong Kong mit Zuspruch aus dem Globalen Süden zu kontrastieren (→ Kinzelbach 2020). Im Umgang mit China stellt sich die Herausforderung, in zahlreichen einzelnen (friedens-) politischen Themenbereichen nicht nur die kurzfristige Interessenlage auszuloten, sondern auch zu überlegen, wie diese Interaktionen die Welt, in der wir leben, und die, in der wir in Zukunft leben wollen, prägen. Eine für alle Politikbereiche verbindliche China-Strategie als Leitschnur kann und wird es angesichts dieser Komplexität nicht geben. Das gleichzeitige Nebeneinander von Partnerschaft, Wettbewerb und Rivalität mit China wird auch in Zukunft widersprüchliche, deshalb aber nicht notwendigerweise falsche Bilder des Landes zeichnen. Dies unterstreicht ein Blick auf fünf Einzelthemen, an der Schnittstelle von China- und Friedensforschung: die Umsetzung der BRI, Territo­ rialkonflikte an Chinas Peripherie, der repressive Umgang mit innerstaatlichen Konflikten, die Teilnahme an internationalen Stabilisierungseinsätzen und die strategische Wirtschafts- und Handelspolitik. Gemein ist diesen Themen, dass sie nicht nur einzelne Dimensionen der chinesisch-europäischen Beziehungen abbilden und daher als Beispiele für „Partnerschaft“ oder „Rivalität“ dienen können – vielmehr zeigen sich selbst innerhalb dieser eng umrissenen Felder diese widersprüchlichen Impulse.

Gleichzeitiges Nebeneinander von Partnerschaft, Wettbewerb und Rivalität mit China

friedensgutachten / 2021

F.2 �� Belt-and-Road-Initiative

D

ie chinesische BRI gilt seit ihrem offiziellen Start 2013 als Ausweis von Chinas globalen Ambitionen. Während das Projekt ursprünglich als reine Infrastrukturmaßnahme galt und vor allem durch das enorme Volumen darunter veranschlagter Investitionen hervorstach, kommt ihm in der öffentlichen Wahrnehmung inzwischen eine weit größere Rolle zu: Vor allem amerikanische Analysen interpretieren die BRI überwiegend als geopolitisches Projekt, mit dem China beabsichtigt, die beteiligten Staaten wirtschaftlich zu durchdringen, in seinen politischen Orbit zu ziehen und schlussendlich eine sinozentrische Weltordnung wiederherzustellen (→ Rolland 2017). In der Umsetzung bleiben chinesische Infrastrukturprojekte oft weit hinter etablierten internationalen Standards für Nachhaltigkeit, Transparenz, Umweltverträglichkeit und Konfliktsensitivität zurück. Zuletzt wurde häufig der Vorwurf laut, Peking betreibe eine „Schuldenfallen-Diplomatie“ und vergebe gezielt Kredite an Staaten, die diese langfristig nicht bedienen können, um sich im Rahmen einer Restrukturierung politischen Einfluss zu sichern.

Die „neue Seidenstraße“: chinesische Infrastrukturprojekte

Vor allem das letzte Argument stützt sich auf eine sehr begrenzte empirische Basis und ignoriert, wie sehr die Implementierung der BRI in lokalen Kontexten von örtlichen politischen Eliten, die eigene Interessen verfolgen und häufig auch durchsetzen können, mitgeprägt wird. Zudem gerät außer Acht, dass zahlreiche BRI-Mitgliedsländer ein herausforderndes Umfeld darstellen, politisch wie wirtschaftlich sehr fragil sind und entsprechend große Risiken für Investitionen bergen. Unter diesen Umständen ist chinesisches Kapital oft die einzige Möglichkeit, ambitionierte nationale Entwicklungsziele umzusetzen. Schließlich punkten chinesische Offerten mit ihrem expliziten Verzicht auf daran geknüpfte politische Reformbedingungen, was in souveränitätsorientierten postkolonialen Staaten auf reges Interesse stößt. Betrachtet man die BRI von der Nachfrageseite, also aus lokaler Perspektive, so müssen sich auch europäische Akteure fragen, ob die eigenen Entwicklungshilfe-Angebote diese Lücke nicht erst offengelassen haben. Welchen Einfluss die BRI letztlich auf die Welt haben wird, wird demnach nicht nur von Strategen in Peking entschieden, sondern ergibt sich aus komplexen und lokal spezifischen Wechselwirkungen. Durch chinesische Investitionen fließen erhebliche Ressourcen in tief gespaltene Gesellschaften und eröffnen ihnen im besten Fall neue, gemeinsame Entwicklungsperspektiven – bergen aber auch das Potenzial, existierende Konflikte zu verschärfen, wenn Kosten und Nutzen sehr ungleich verteilt sind.

Risiken und Potenziale der BRI

F 31

2021 / China – Partner, Konkurrent oder Rivale? / fokus

Der Umgang mit solchen Herausforderungen ist für chinesische Unternehmen Neuland, wie auch für viele der betroffenen Länder selbst. Entsprechend mangelt es an Kapazitäten zur Konfliktanalyse, Stakeholder-Einbindung oder der Wahrnehmung sozialer Verantwortung. Wo in China selbst ein mächtiger Zentralstaat Entwicklungsziele festlegt und Infrastrukturprojekte durchführt, bietet sich in vielen BRI-Mitgliedsländern ein schwer zu durchdringendes Dickicht instabiler Institutionen, miteinander verfeindeter Gruppen und häufig wechselnder politischer Führungen.

F 32

1

Verhältnis zwischen chinesischen Infrastruktur-Investitionen unter der BRI und Konfliktanfälligkeit der Empfängerländer

Quelle → F /47

Infrastruktur-Investitionen in Mrd. US-$

40 Pakistan

30

20 Saudi-Arabien

Nigeria

Bangladesch

10

Malaysia

Indonesien Laos

0

Konfliktanfälligkeit 10 15 20 25 30 5

friedensgutachten / 2021

Diese Tatsachen sollen die bislang verbesserungsfähige Implementierung der BRI nicht entschuldigen, zeichnen jedoch ein differenzierteres Bild als die verbreitete Darstellung eines chinesischen Masterplans zur Erringung globaler Vorherrschaft. Politische Risiken werden auch in China zunehmend erkannt und haben bereits dazu geführt, dass Auslandsinvestitionen in besonders gefährdete Staaten gedrosselt wurden. Das eigene finanzielle Risiko bedingt zudem ein chinesisches Interesse an der Stabilisierung dieser Länder und macht Peking ebenfalls zum Stakeholder. Vor Ort wird mit politischen Strategien zur Einbindung verschiedener politischer Gruppen experimentiert, wenngleich meist auf nationaler Ebene. Als Zukunftsziele wurden eine „grünere“, nachhaltigere BRI und höhere Umweltstandards bei der Projektgestaltung versprochen, was einige der prominentesten Ursachen für lokale Beschwerden aufgreift. Damit bietet sich zudem ein bislang wenig genutztes Potenzial, internationale Expertise insbesondere in den Bereichen Konfliktsensitivität und Nachhaltigkeit einzubinden. Idealerweise könnte dies in eine umfassende Kooperation münden, welche die europä­ ische Entwicklungshilfe, Wissenschaft und auch Zivilgesellschaft einbezieht, die auf diesem Gebiet komplementäre Stärken haben. Entsprechende Angebote sollten daher gemacht werden, von der Mitarbeit in bereits existierenden Kooperationsplattformen wie der „BRI International Green Development Coalition“ bis hin zur aktiven Etablierung neuer Formate, wie sie im Bereich Konfliktsensitivität noch fehlen. Die chinesische Seite müsste jedoch eine größere Bereitschaft zur Öffnung der BRI und Akzeptanz für konstruktive Kritik zeigen.

F 33

BRI konfliktsensitiv und nachhaltig gestalten

2021 / China – Partner, Konkurrent oder Rivale? / fokus

F.3 �� Territorialkonflikte

E F 34

ine sehr unmittelbare sicherheitspolitische Herausforderung durch den Aufstieg Chinas ergibt sich durch die zahlreichen offenen Territorialkonflikte des Landes mit seinen Nachbarn. Obwohl seit 1990 mehrere solche Dispute vor allem mit Staaten der früheren Sowjetunion friedlich beigelegt werden konnten, sind zahlreiche weitere noch offen. Besonders prominent und konfliktträchtig sind Pekings Ansprüche auf die Gesamtheit des Staatsgebiets der Republik China (Taiwan), im Südchinesischen Meer gegenüber insgesamt sechs anderen Anrainerstaaten, im Ostchinesischen Meer gegenüber Japan und auf zwei von Indien gehaltene Gebiete. Entlang dieser Linien kommt es regelmäßig zu Zwischenfällen bis hin zu niederschwelligen militärischen Auseinandersetzungen, zuletzt im Sommer 2020 mit Indien. China hat im Zuge seiner Aufrüstung immer mehr Truppen und militärische Ausrüstung entlang der umstrittenen Gebiete konzentriert, zudem wird die eigene Präsenz durch In­frastrukturbau und Landumgestaltung gestärkt. Diese Maßnahmen werden von den meisten betroffenen Staaten als direkte Bedrohung interpretiert und trugen mehrfach zum Ausbruch von militärischen Auseinandersetzungen bei. Deeskalationsmechanismen existieren zwar, werden aber nicht immer genutzt und sind teils selber Opfer steigender Spannungen. Durch die sicherheitspolitische Kooperation zahlreicher Rivalen Chinas mit den USA schlagen überdies die Spannungen zwischen den beiden Supermächten direkt auf lokale Konflikte durch. Die Aufrüstung und Militarisierung der Grenzkonflikte haben in den vergangenen Jahren verständlicherweise am meisten Aufmerksamkeit erregt, werden jedoch in China selbst nicht als Königsweg zur Lösung der Streitigkeiten im eigenen Sinn gesehen. Vielmehr überwiegt die Erwartung, dass der eigene wirtschaftliche Aufstieg und die immer größere Abhängigkeit der Nachbarn von Chinas Markt diese letztlich zu Kompromissen zwingen wird. Diese Trends würden kleinere Staaten demnach empfänglich für eine „Zuckerbrot-und-Peitsche“-Strategie machen, die Wohlverhalten durch Investitionen und Hilfsleistungen belohnt und umgekehrt Widerstand durch Importbeschränkungen und andere wirtschaftliche Druckmittel bestraft → 2 /35.

Konfliktträchtige Territorialansprüche

friedensgutachten / 2021

Ein Ansatzpunkt für diese Strategie bot sich mit dem Regierungswechsel in den Philippinen 2016, als der neugewählte Präsident Duterte einen Politikschwenk einleitete, der vielen als Paradebeispiel für ein erkauftes Wohlverhalten erscheint. Den Philippinen gelang es, chinesische Finanzierungsversprechen für eine große Zahl von Infrastrukturprojekten zu gewinnen, mit denen Dutertes „build, build, build“-Programm umgesetzt werden sollte. Im Gegenzug verzichteten sie darauf zu versuchen, ein ebenfalls 2016 erfolgtes Schiedsgerichtsurteil durchzusetzen, das die chinesischen zugunsten der philippinischen Ansprüche im Südchinesischen Meer drastisch beschränkt.

Chinesisches Kapital gegen philippinisches Wohlverhalten?

F 35

Ein genauerer Blick zeigt jedoch, dass China nicht eindeutig als Gewinner aus der gekauften philippinischen Nachgiebigkeit hervorging. So vollendete es zwar die Befestigung und die Bewaffnung der künstlichen Inseln, die es in den Jahren davor im Gefolge der einseitigen philippinischen Anrufung des Schiedsgerichts errichtet hatte, versuchte aber nicht, weitere chinesisch kontrollierte Erhebungen auszubauen. Auch sank die Zahl von Zusammenstößen unter Beteiligung von Schiffen der Küstenwache, die zuvor beständig gestiegen war, seit dem Politikschwenk der Regierung Duterte beinahe auf null.

2

Maritime Zusammenstöße im Südchinesischen Meer (2010–2020)

Quelle → F /47

Andere Staaten ohne China China-Taiwan/Indonesien/Malaysia China-Vietnam China-Philippinen

35

30

Aquino

Duterte

25

20

15

10

0 2011 2012 2013 2014 2015 1–6.2016 7–12.2016 2017 2018 2019 2020

2021 / China – Partner, Konkurrent oder Rivale? / fokus

F 36

Die philippinische Nachgiebigkeit lässt sich jedoch nicht auf eine wachsende Abhängigkeit von China zurückführen. So steht China gerade einmal für knapp 3 % der philippinischen Entwicklungshilfe (Japan für 39 %), der 2018 und 2019 sprunghaft angestiegene Anteil Chinas an Direktinvestitionen in den Philippinen nimmt derzeit wieder stark ab, auch hält China ganze 1,5 % der philippinischen Auslandsschulden, ein marginaler Prozentsatz gegenüber den 17 %, die japanische Geldgeber halten. Gleichzeitig gelang es den Philippinen, angesichts der chinesisch-japanischen Sicherheitskonkurrenz große Unterstützungsleistungen von Japan zur Stärkung der eigenen Küstenwache zu erhalten. Den Schiedsspruch kann die philippinische Regierung weiterhin glaubhaft in der Hinterhand halten, um die chinesische Seite in Abständen daran zu erinnern, dass die philippinische Rücksichtnahme ihren Preis hat, der dauerhaft zu entrichten ist (→ Kreuzer 2018). Anhand dieses Beispiels zeigen sich die Grenzen von Chinas wirtschaftlicher Druck­ strategie: Selbst für deutlich schwächere und ärmere Staaten haben die eigenen Souveränitätsansprüche einen so hohen Stellenwert, dass ein Ausverkauf kaum vorstellbar ist. Die Gefahr, durch wirtschaftliche Abhängigkeit in Chinas politischen Orbit zu rutschen, hat in zahlreichen Nachbarstaaten inzwischen zu wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Diversifizierungsbestrebungen geführt, die in Zukunft auch Europa stärker betreffen werden. Dies schlug sich bereits in der Etablierung einer strategischen EU-ASEAN-Partnerschaft und spezieller Indopazifik-Strategien seitens Frankreichs und Deutschlands nieder. In Südostasien gilt die EU als erstrebenswerter Partner, der vor allem durch glaubwürdiges Eintreten für eine regelbasierte und multilaterale Ordnung punktet (→ Seah et al. 2021). Dies ließe sich nutzen, um Europa als neutrale, wertebasierte Kraft zu etablieren, die auf alle Konfliktparteien gleichermaßen einwirkt. Der gute Ruf Europas gebietet jedoch auch, in Bezug auf internationales Recht und konkrete Urteile nicht nur gegenüber China auf Anerkennung zu pochen, sondern gegenüber allen Konfliktparteien mit Territorialansprüchen. Auch externe Akteure wie die USA oder Japan sollten daran erinnert werden, ihre eigenen, andernorts erhobenen Ansprüche auf ausschließliche Wirtschaftszonen entsprechend zu überprüfen.

Europa als Konfliktvermittler

friedensgutachten / 2021

F.4 �� Innerstaatliche Konflikte und Menschenrechte

K

onflikte existieren nicht nur entlang von Chinas Außengrenzen, sondern auch im Land selbst. Dies wurde in den vergangenen Jahren durch die Unruhen in Xin­ jiang und Hong Kong deutlich, auf die der Staat jeweils extrem repressiv reagierte – im Falle Xinjiangs mit einer beispiellosen Inhaftierungs- und Überwachungskampagne, die zu schwersten Menschenrechtsverstößen führte; im Falle Hong Kongs mit einem neuen Sicherheitsgesetz, das dort bislang existierende bürgerrechtliche Freiräume drastisch einschränkt.

Repression und Menschenrechts­ verstöße in China

F 37

Das chinesische Vorgehen in beiden Fällen ist nicht nur durch seine Vehemenz bemerkenswert, sondern auch illustrativ für das zugrundeliegende Denken über Konfliktursachen und deren Beilegung. In chinesischen Auseinandersetzungen mit beiden Themen findet sich eine Fixierung auf wirtschaftliche Ungleichheit als Kernproblem, entweder in Form regionaler Unterentwicklung (Xinjiang) oder einer prekär lebenden Jugend (Hong Kong). Fragen ethnischer Identität und politischer Selbstbestimmung rücken demgegenüber in den Hintergrund. Aus dieser Überzeugung ergeben sich Lösungsansätze, die sich drastisch von westlichen Vorstellungen politischer Konfliktbeilegung unterscheiden. In Xinjiang sollen die „mentalen Viren“ Islamismus und Separatismus durch eine Zwangsmodernisierung ausgerottet werden, die neben den bekannten Umerziehungsmaßnahmen auch die staatlich verordnete Angleichung an Han-chinesische Lebensmuster beinhaltet, vom MandarinGebrauch im Alltag bis hin zur Nutzung von Konsumgütern und Unterhaltungsangeboten (→ Byler 2018). In Hong Kong wurden Programme zur Linderung der Wohnungsknappheit aufgelegt und Studierenden gut bezahlte Arbeitsplätze auf dem boomenden Festland in Aussicht gestellt – zweifellos existierende Probleme, die jedoch bei den Protesten kaum eine Rolle spielten. Die Annahme, dass sich politische Konflikte und Instabilität durch wirtschaftliche Entwicklung lösen lassen, wird in Zukunft auch chinesisches Handeln jenseits der eigenen Grenzen prägen. In den VN, wo China zuletzt wieder in den Menschenrechtsrat gewählt wurde, betonen chinesische Diplomaten das Primat eines „Rechts auf Entwicklung“ und die friedensstiftende Wirkung von Armutsreduktion. Die Notwendigkeit staatlicher Handlungsfähigkeit in diesem Bereich begründet demnach im Zweifelsfall auch deren Vorrang vor individuellen Freiheitsrechten.

Chinesische Fixierung auf ökonomische Ungleichheit als Konfliktursache

2021 / China – Partner, Konkurrent oder Rivale? / fokus

F 38

Dieser Ansatz entspringt nicht nur aus einer opportunistischen Abwehrhaltung gegen internationale Kritik und dürfte sich auch durch Chinas Mitarbeit und Sozialisierung in den entsprechenden internationalen Institutionen nicht ändern. Vielmehr speist er sich direkt aus der eigenen historischen Erfahrung von Konflikt und dessen Überwindung: Im 19. und frühen 20. Jahrhundert wurde das Land Opfer von extremer Gewalt und Staatszerfall, oft herbeigeführt durch die Einwirkung externer Mächte. Dies kon­ trastiert klar mit dem Anbruch des Reformzeitalters Ende der 1970er Jahre und einer dramatischen Wende hin zu Stabilität, Wohlstand, Sicherheit und internationalem Ansehen. Der Begriff der „Entwicklung“ ist für diese Trendwende zentral und seither mit rundum positiven Erwartungen auch im politischen Sinn behaftet. Entwicklung wiederum setzt eine funktionierende, notfalls autoritäre Staatlichkeit voraus – auch wenn diese im Falle Chinas während der Mao-Ära selber zum Quell von ideologisch inspirierter Gewalt und Chaos wurde. Daraus ergibt sich nicht nur ein Verhältnis von Staat und Mensch, das der westlich-liberalen Vorstellung vom unbedingten Vorrang des letzteren entgegensteht, sondern auch ein Ansatz zur Konfliktlösung, dessen Prioritäten in der (Re-)Etablierung des Staatswesens und der Bereitstellung wirtschaftlicher Chancen bestehen (→ Yuan 2020). Das Modell einer Befriedung durch Entwicklung ist dabei nicht auf China begrenzt, sondern wird von einigen chinesischen Experten inzwischen auch zur Nachahmung empfohlen (Kuo 2020); Chinas Diplomaten verbreiten ähnliche Anregungen auch auf VN-Ebene. Der bestehende, unüberbrückbare normative Widerspruch zu europäischen Kernwerten wird sich demnach auch dort und im Umgang mit Drittstaaten niederschlagen, wo Europa bessere Möglichkeiten zum Dagegenhalten hat und diese auch nutzen sollte. Eine Reduktion von Menschenrechten auf ökonomische Teilhabe oder von Konfliktursachen auf Armut ist genauso abzulehnen wie die Verfestigung autoritärer Strukturen im Interesse ungestörter Entwicklung. Dies erfordert ein konzertiertes, einheit­ liches Vorgehen von EU-Repräsentanten in VN-Organen wie dem Menschenrechtsrat, der Peacebuilding-Kommission und den Entwicklungsdepartements, um dem Ein­si­ ckern entsprechender Formulierungen und Politikentwürfe entgegenzutreten.

EU muss der Reduktion der Menschenrechte auf ökonomische Entwicklung entgegentreten

friedensgutachten / 2021

F.5 �� Stabilisierungseinsätze

B

ei dem Ziel der Stabilisierung afrikanischer Staaten scheint es einen recht starken Konsens zwischen China und der westlichen Staatengemeinschaft zu geben. Die weitere Ausbreitung islamistischer Gruppen im Sahel bedroht nicht nur außen-, entwicklungs- und migrationspolitische Ziele der EU, sondern auch die Sicherheit und den weiteren Ausbau der kontinentalen Infrastrukturprojekte im Rahmen der BRI. China betreibt dabei in Afrika – genau wie westliche Führungsmächte – eine Strategie, die multilaterale und bilaterale Komponenten miteinander verbindet. So veröffentlichte China im September 2020 ein Weißbuch, das eine Bestandsaufnahme der chinesischen Beteiligung an den Friedensmissionen der VN seit den 1990er Jahren vornahm. Unter Xi Jinping wurde nicht nur der Aktionsradius der chinesischen Armee durch den Aufbau einer global einsatzfähigen Marine ausgeweitet. Das Mandat wurde generell neu formuliert und reflektiert nun die negativen Effekte von (Bürger-)Kriegen und bewaffneten Konflikten in den Ländern und Weltregionen, in denen chinesische Unternehmen und Banken aktuell den Aufbau der BRI vorantreiben. Piraterie und maritimer Terrorismus in den Gewässern vor Somalia sind auch der chinesischen Regierung ein Dorn im Auge – seit 2009 beteiligt sich China dort an der Eindämmung der Piraterie. Die Eröffnung eines chinesischen Marine-Stützpunktes in Djibouti (2016) ist damit nicht notwendigerweise ein Indiz für eine militärische Dimension der chinesischen Seidenstraßen-Korridore, sondern auch im Lichte der Anti-Piraterie-Mission zu lesen.

3

Chinesische Teilnahme an Friedensmissionen der VN

F 39

Chinesisches Engagement für Stabilisierung in Afrika

Quelle → F /47

UNFICYP Zypern 2011–2014

UNMIS / UNMISS Sudan, Südsudan 2005–2011 / 2011–bis heute UNAMID Sudan (Dafur) 2007–bis heute UNISFA Sudan, Südsudan (Abyei) 2011 MINURSO Westsahara 1991–bis heute MINUSMA Mali 2013–bis heute UNOMSIL / UNAMSIL Sierra Leone 1998–1999 / 1999–2005 UNOMIL / UNMIL Liberia 1993–1997 / 2003–2017 UNOCI Côte d’Ivoire 2004–2017

aktuelle Teilnahme ehemalige Teilnahme

MINUSCA Zentralafrikanische Republik 2020–bis heute

UNTSO Israel, Naher Osten 1990–bis heute UNIFIL Libanon 2006–bis heute UNSMIS Syrien 2012 Volksrepublik China UNIKOM Irak, Kuwait 1991–2003 UNMEE Äthiopien, Eritrea 2000–2008 ONUB Burundi 2004–2006

ONUMOZ Mosambik 1993–1994 MONUC / MONUSCO Demokratische Republik Kongo 2001–2010 / 2010–bis heute

UNAMIC / UNTAC Kambodscha 1991–1992 / 1992–1993

UNMIT Timor-Leste 2006–2012

2021 / China – Partner, Konkurrent oder Rivale? / fokus

F

Die chinesische Regierung begrüßt offiziell den Aufbau afrikanischer Institutionen zur Friedenssicherung und sagte der Afrikanischen Union (AU) 2015 über einen Zeitraum von fünf Jahren 100 Mio. US-$ zum Ausbau der Afrikanischen Friedens- und Sicherheitsarchitektur zu. Auch wenn EU-Zusagen weiterhin sehr viel wichtiger für die Finanzierung der Friedensmissionen sind, kommt der Ankündigung Xis auf dem Forum für China-Afrika-Kooperation (FOCAC) 2018, einen chinesischen Fonds für „Frieden und Sicherheit“ in Afrika aufbauen zu wollen, eine hochgradig symbolische Bedeutung zu, die Chinas globale Statusansprüche als Großmacht untermauert.

40

Zugleich beteiligt sich China an Friedensmissionen der VN in Afrika – und ist derzeit in die MINURSO (westliche Sahara), UNAMID (Darfur), MONUSCO (Kongo), UNMISS (Süd-Sudan), MINUSMA (Mali) und MINUSCA (Zentralafrika) eingebunden → 1 /56. Unter Xi Jinping hat China 2014 zudem erstmals in seiner Geschichte Kampftruppen zur Beteiligung an VN-Missionen entsendet – zunächst zum Einsatz im Süd-Sudan, später erweitert um die VN-Mission in Mali. Parallel hierzu verfolgt das chinesische Verteidigungsministerium eine bilaterale Militärkooperation, zu der hochrangige afrikanische Militärvertreter zu Beratungen über Friedenspolitik und friedenssichernde Maßnahmen für Afrika eingeladen werden. Doch ist Chinas Rolle in den bewaffneten Konflikten und Bürgerkriegen in Afrika nicht unumstritten. Wie Berichte des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI belegen, ist China 2020 zum weltweit zweitgrößten Waffenproduzenten aufgestiegen (nach den USA) und zum weltweit fünftgrößten Rüstungsexporteur (→ SIPRI 2020) → 3 /100. Schätzungen zufolge stammten 17 % der afrikanischen Waffenimporte im Zeitraum 2013-2017 aus China, ein Anstieg von über 50 % verglichen mit den Jahren 2008-2012. Für einige afrikanische Staaten ist China bereits zum wichtigsten Rüstungslieferanten avanciert. Immer wieder kursieren auch Meldungen über weitere, nicht offiziell dokumentierte Rüstungsgeschäfte chinesischer Unternehmen mit Rebellenorga­nisationen und Lieferungen in Bürgerkriegsregionen. Chinesische Unternehmer sehen sich in Afrika mit akuten Sicherheitsbedrohungen konfrontiert und versuchen sich mithilfe privater chinesischer Sicherheitsfirmen zu schützen. Chinesische Kampftruppen könnten zudem in Friedensmissionen eingesetzt werden, bei denen die andere Seite mit chinesischen Waffen aufgerüstet wurde. Diese Dilemmata werden auch in Peking diskutiert. Über kurz oder lang dürfte auch aufseiten Chinas eine Abkehr von der bisherigen nicht-konditionalen, „neutralen“ Außen­ (handels)politik erfolgen – zumal die chinesische Gleichung des „Developmental Peace“, die Reduzierung von Konflikten durch die Bereitstellung von Entwicklungsmöglichkeiten und Armutsbekämpfung, auf dem afrikanischen Kontinent bislang nicht aufgegangen ist.

China ist wichtiger Rüstungslieferant für afrikanische Staaten

friedensgutachten / 2021

Umstritten sind schließlich auch die Effekte des chinesischen Vorgehens für die Regime­ dynamiken in Afrika. Immer wieder wird spekuliert, dass China eine Schlüsselrolle in den dortigen Autokratisierungsprozessen spielen könnte. Peking selbst betont hingegen, einen neutralen außenpolitischen Kurs zu verfolgen und an dem Prinzip der Nichteinmischung festzuhalten. Neben China nehmen aber auch andere Autokratien wie Russland und die Golfstaaten dort größeren Einfluss, und auch westliche Staaten unterstützen seit vielen Jahren autokratische Regime wie Uganda, Ruanda oder Äthiopien. Vor dem Hintergrund der geteilten Sicherheits- und Stabilitätsinteressen in Afrika besteht ein Potenzial zur weiteren Koordinierung gemeinsamer Lösungsmodelle, sowohl im VN-Rahmen als auch bei der Stärkung afrikanischer Kapazitäten. Gerade deshalb ist es wichtig, China als Partner und nicht als Rivalen in der europäischen Afrika-Politik zu begreifen und zugleich auf multilaterale Regelwerke hinzuarbeiten, welche europäische Normen und Ziele langfristig absichern. Bislang gibt es auch keine Belege für eine aktive chinesische Autokratie-Förderung oder Unterhöhlung europäischer Projekte in Afrika. Eine weitere europäische Unterstützung demokratischer Regime und zivilgesellschaftlicher Akteure begründet daher keinen Interessenwiderspruch mit Peking → 5.

F 41

2021 / China – Partner, Konkurrent oder Rivale? / fokus

F.6 �� Handels- und Technologiepolitik

E F 42

in letztes Beispiel für das komplexe Zusammenspiel zwischen geteilten und widerstreitenden Interessen, wie auch deren stetiger Reinterpretation, findet sich in den Handelsbeziehungen der EU mit China. Diese galten lange als harmonischstes Feld und exemplarisch für die vielbeschworene „win-win-Kooperation“. Jedoch beurteilen die EU und China die Handelsbeziehungen zunehmend unter strategischen Gesichtspunkten. Insbesondere die Corona-Pandemie-bedingten Lieferkettenunterbrechungen und die schwerwiegenden Auswirkungen auf Gesundheit und Wirtschaft haben in den vergangenen Monaten Alarmglocken in den Hauptstädten Europas läuten lassen. Die ökonomische Abhängigkeit von China sei schlichtweg zu groß und sollte reduziert werden. Dabei gerät aus dem Blick, dass ökonomische Abhängigkeit beiderseitig verläuft, denn auch China braucht europäische Produkte und Technologie. Wie → 4 /42 zeigt, hat der europäische Anteil von Chinas Industriegüterimporten in vielen Bereichen sogar zugenommen. Diese Abhängigkeit kann konflikthemmend wirken, denn wirtschaftliche Verflechtungen erhöhen die Kosten, einen Konflikt eskalieren zu lassen.

Wechselseitige wirtschaftliche Abhängigkeit zwischen China und Europa kann Konflikte vermeiden

Doch ebendiese bilateralen wirtschaftlichen Beziehungen stehen sowohl in China als auch in der EU zunehmend auf dem Prüfstand. EU-China-Beziehungen sind zwar nach wie vor primär wirtschaftlicher Natur, aber menschenrechtliche, geopolitische und sicherheitspolitische Erwägungen treten zunehmend in den Vordergrund von Handelsund Technologiepolitik. Ökonomische und technologische Abhängigkeiten werden so zum Druckmittel der Durchsetzung nationaler Interessen.

4

EU-Anteil an Chinas Industriemaschinen-Importen, ausgewählte Kategorien

Quelle → F /47

in %

Lebensmittel (industrielle Maschinen)

Textilbearbeitungsmaschinen

Werkzeugmaschinen für Metallbearbeitung Werkzeugmaschinen für die Bearbeitung von Schwermetallen

Kautschuk/Kunststoff Maschinen

Industrieroboter

Halbleiter und Wafer (Industriemaschinen)

2018 2010 0 10 20 30 40 50 60 70 80

friedensgutachten / 2021

Bereits seit Monaten arbeiten China und die EU an neuen Instrumenten, die zu einer wirtschaftlichen Entkopplung und damit zum Wegfall gemeinsamer Interessen beitragen können. Beispiele sind Exportkontrollen und verschärfte Investitionskontrollmechanismen. Noch sind die wirtschaftlichen Konsequenzen kaum spürbar, europäische Unternehmen haben sich nicht aus China zurückgezogen. Im Gegenteil, angetrieben durch Chinas Wirtschaftswachstum steigen bilaterale Handels- und Investitionsvolumen weiterhin an. Aber die neuen Instrumente verschlechtern die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und erhöhen Unsicherheit, was Handel und Investitionen langfristig hemmen kann. Während in Europa die Politisierung von Handel und Technologie erst seit kurzem an Fahrt aufnimmt, unter anderem aufgrund der Lieferkettenunterbrechungen und wertebasierten Differenzen, setzt China schon lange auf ökonomische und technologische Unabhängigkeit. Um nationale Champions zu fördern, beschränkt die Regierung den Marktzugang ausländischer Unternehmen. Das trägt dazu bei, dass geteilte wirtschaftliche Interessen wegfallen. Pekings Strategie „Made in China 2025“ macht das Streben nach Unabhängigkeit explizit, die Kontrollierbarkeit von Technologie rückt in den Fokus von nationaler Sicherheit. Dieser Trend wird sich auch in diesem Jahr fortsetzen. Im vergangenen Dezember hat die chinesische Regierung auf der zentralen Arbeitskonferenz Wirtschaft die Stärkung nationaler Forschung und Technologie als höchste wirtschaftliche Priorität identifiziert. Durch Investitionen in nationale Forschung sollen Lieferketten von Kerntechnologien wie Halbleitern kontrollierbar gemacht und Wertschöpfungsketten nach China verlagert werden. Diese Zielsetzungen erschweren die Mitwirkung ausländischer Unternehmen auf dem chinesischen Markt. US-Sanktionen, gerichtet gegen chinesische Technologiefirmen wie ZTE und Huawei, wirken lediglich als Katalysator für diese wirtschaftliche Entkopplung. In Zukunft soll Sanktionen keine Angriffsfläche geboten werden. Wirtschaftliche Verflechtungen, bei denen China auf Importe angewiesen ist – wie bei Halbleitern und Saatgut –, sind der Regierung deshalb ein Dorn im Auge.

5

Handelsstruktur ausgewählter Länder und Wirtschaftsräume mit China

Anteil Chinas am Gesamthandel von:

F 43

China strebt wirtschaftliche und technologische Unabhängigkeit an

Quelle → F /47

Anteil des jew. Landes am Gesamthandel Chinas

Australien

32,78 %

Australien

EU-27 und Großbritannien

16,27 %

EU-27 und Großbritannien

Südkorea

23,29 %

Südkorea

USA

13,75 %

USA

3,67 % 13,54 % 6,23 % 11,86 %

2021 / China – Partner, Konkurrent oder Rivale? / fokus

Sitzt China dagegen selbst am längeren Hebel, nutzt Peking asymmetrische Handelsbeziehungen immer offensiver, um nationale Interessen durchzusetzen. Staaten wie Südkorea und Australien werden von China bestraft, wenn sie Kritik üben oder als Bedrohung gewertet werden. Ein beliebtes Mittel zur Bestrafung sind dabei Unternehmen des jeweiligen Landes, deren Abhängigkeit von chinesischen Konsumenten zur wirtschaftlichen Waffe wird.

F 44

Zunehmend ist auch Europa betroffen. Nachdem Schweden entschieden hatte, Huawei vom nationalen 5G-Ausbau auszuschließen, drohte Chinas Handelsministerium mit Vergeltung. Bereits im Dezember 2019 drohte der chinesische Botschafter Deutschland mit Konsequenzen für die Autoindustrie, sollte Berlin sich ähnlich entscheiden. Nur wenige Tage vor Abschluss des Investitionsabkommens mit der EU, das den Marktzugang für europäische Unternehmen in China verbessern soll, verschärfte Peking Kon­ trollmaßnahmen für ausländische Investitionen. Das gibt der Regierung ein neues Instrument an die Hand, um unliebsame ausländische Unternehmen und indirekt deren Herkunftsstaaten zu sanktionieren. Noch hat China davon abgesehen, diese Drohungen gegenüber EU-Mitgliedsstaaten umzusetzen. Die gegenseitige ökonomische Abhängigkeit wirkt, der Politisierung von Handel und Wirtschaft zum Trotz, als Konfliktbremse. Die EU beliefert China nicht nur mit wichtigen Maschinen und Technologien, sondern hat im Vergleich mit Südkorea und Australien auch Wirtschaftsbeziehungen mit China, die auf gegenseitiger Abhängigkeit beruhen → 5 /43. Nach Meinung der Autoren ist es angesichts der werte- und sicherheitsbasierten Neubewertung von Handelspolitik im Interesse der EU, wirtschaftliche Verflechtungen mit China zu vertiefen, solange Menschenrechte und nationale Sicherheit nicht beeinträchtigt werden.

China sanktioniert indirekt durch schärfere Kontrollen für ausländische Investoren

friedensgutachten / 2021

schlussfolgerungen Europa muss sich in einer Welt orientieren, die in jeder Dimension tiefgreifend von Chi­ na mitgeprägt wird – nicht immer im europäischen Sinn, aber auch nicht im fundamen­ talen Widerspruch dazu. Wie dieser Überblick zeigt, existieren in mehreren friedenspoli­ tisch relevanten Feldern Interessenüberschneidungen und Kooperationsmöglichkeiten. In an­deren Bereichen wird die Entfaltung chinesischer Macht eher zu einer Zunahme oder Zuspitzung von Konflikten führen, wie dies auch schon bei früheren globalen Machtver­ schiebungen der Fall war. Europäisch-chinesische Beziehungen lassen sich vor diesem Hintergrund nicht eindimensional als „gut“ oder „schlecht“ bezeichnen, sondern sind selbst auf der Ebene von Einzelthemen noch komplex und widersprüchlich. Handlungsempfehlungen für die Politik lassen sich daher vor allem auf thematisch eng begrenzter Basis ableiten, wo sich die Möglichkeiten und Grenzen von Kooperation ver­ gleichsweise gut abschätzen lassen. Eine solche Aufspaltung trägt nicht nur der auf­ge­zeig­ ten Komplexität Rechnung, sondern hat zudem mehrere praktische Vorzüge: Es können konsistente und glaubwürdige Botschaften gesendet werden, die Identifizierung konsens­ fähiger Positionen innerhalb der EU wird vereinfacht und es werden Brandmauern geschaf­ fen, die angesichts vorhersehbarer Streitpunkte trotzdem noch Räume für Koo­peration bewahren. In Fragen der fundamentalen politischen Ausrichtung und mit Blick auf den Umgang mit einem sich verschärfenden Konflikt zwischen China und den USA stellt sich für Europa eine nochmals kompliziertere Herausforderung. Als generelles Prinzip sollte gelten, sich nicht in ein Lager drängen zu lassen, sondern konstruktive Beziehungen zu beiden Seiten zu unterhalten. Ein Einschwenken auf die zuletzt in Washington forcierte Linie einer „strategischen Entkopplung“ oder gar Einhegung Chinas dient weder europäischen Sach­ interessen noch dem Wunsch nach einer friedlichen, offenen und nicht in Lager getrenn­ ten Welt. Die fundamentalen normativen Trennlinien zwischen Brüssel und Peking sind ebenfalls nicht zu übersehen und werden ein Element der Rivalität bleiben. Eine Poli­ tik der strategischen Autonomie und der kritischen, aber nicht gleichen Distanz zu bei­ den Seiten bietet daher die besten Chancen, diesen Differenzen Rechnung zu tragen. Auf diese Weise kann Europa eine eigenständige Entspannungspolitik betreiben und das Ver­ trauensdefizit zwischen den beiden Supermächten als Mittler überbrücken. Die Wahr­ nehmung einer solchen Rolle ist aus friedenspolitischer Verantwortung dringend geboten und dürfte auch auf rege Unterstützung zahlreicher anderer Staaten treffen, die sich eben­ falls keinen Rückfall in ein starres Blockdenken wünschen.

F 45

2021 / China – Partner, Konkurrent oder Rivale? / fokus

Autorinnen und Autoren Dr. Pascal Abb

Prof. Dr. Dr. Nele Noesselt

HSFK – Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung

INEF – Institut für Entwicklung und Frieden

Prof. Dr. Christof Hartmann

Gregor Sebastian

INEF – Institut für Entwicklung und Frieden

MERICS – Mercator Institute for China Studies

Dr. Peter Kreuzer

F

HSFK – Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung

46

Quellenverzeichnis Abb, Pascal 2016: Punish the Philippines, Forgive Vietnam? The South China Sea Disputes in the Eyes of Chinese Experts, in: Fels, Enrico/Vu, Truong Minh Huy (Hrsg.): Power Politics in Asia’s Contested Waters. Territorial Disputes in the South China Sea, Wiesbaden, 139–157. Byler, Darren 2018: China’s Nightmare Homestay, in: Foreign Policy, 26. Oktober 2018, in: https://foreignpolicy.com/2018/10/26/china-nightmarehomestay-xinjiang-uighur-monitor/; 23.03.2021. Europäische Kommission 2019: EU-China – A Strategic Outlook, Brüssel, in: https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/communication-eu-china-astrategic-outlook.pdf; 29.03.2019. Foot, Rosemary 2001: Chinese Power and the Idea of a Responsible State, in: The China Journal 45, 1–19. Fung, Courtney/Lam, Shing-hon 2020: Chinas „bürokratischer Fußabdruck“ in den UN, in: Vereinte Nationen 68: 6, 243–248. Kinzelbach, Katrin 2020: Was will China im UN-Menschenrechtsrat? in: Vereinte Nationen 68: 6, 255–260. Krastev, Ivan/Leonard, Mark 2021: The Crisis of American Power: How Europeans see Biden’s America, European Council on Foreign Relations (ECFR), Policy Brief, Januar 2021, in: https://ecfr.eu/wp-content/uploads/ The-crisis-of-American-power-How-Europeans-see-Bidens-America.pdf; 11.03.2021.

Kreuzer, Peter 2018: Dealing with China in the South China Sea. Duterte Changing Course, in: PRIF Report 3/2018, Frankfurt/M. Kuo, Steven C.Y. 2020: Chinese Peace in Africa: From Peacekeeper to Peacemaker, London/New York. Richardson, Sophie 2020: China’s Influence on the Global Human Rights System, Washington, DC, (September 2020), in: https://www.brookings.edu/ research/chinas-influence-on-the-global-human-rights-system/; 23.03.2021. Rolland, Nadège 2017: China’s Eurasian Century? Political and Strategic Implications of the Belt and Road Initiative, Seattle. Seah, Sharon/Ha, Hoang Thi/Martinus, Melinda/Pham, Thi Phuong Thao 2021: The State of Southeast Asia. 2021 Survey Report (ASEAN Studies Centre at ISEAS-Yusof Ishak Institute), in: https://www.iseas.edu.sg/wp-content/ uploads/2021/01/The-State-of-SEA-2021-v2.pdf; 11.03.2021. SIPRI 2020: New SIPRI Data Reveals Scale of Chinese Arms Industry, in: https://www.sipri.org/media/press-release/2020/new-sipri-data-revealsscale-chinese-arms-industry; 27.1.2020. Yuan, Xinyu 2020: Chinese Pathways to Peacebuilding. From Historical Legacies to Contemporary Practices, Genf, in: https://repository. graduateinstitute.ch/record/298467; 23.03.2021.

friedensgutachten / 2021

Abbildungen / Grafiken / Tabellen 1 /32 Verhältnis zwischen chinesischen Infrastruktur-Investitionen der BRI und Konfliktanfälligkeit der Empfängerländer Scissors, Derek (2019). China Global Investment Tracker. American Enterprise Institute, 2019, in: https://www.aei.org/china-global-investment-tracker/. Fund for Peace (2020). Fragile States Index 2020, in: https://fragilestatesindex.org/data/.

3 /39 Chinesische Teilnahme an Friedensmissionen der VN The State Council Information Office of the People's Republic of China 2020: China’s Armed Forces: 30 Years of UN Peacekeeping Operations, September 2020, Annex 1 und 2., in: http://english.www.gov.cn/archive/ whitepaper/202009/18/content_WS5f6449a8c6d0f7257693c323.html Layout: Harald Krähe 2021

Die Abbildung zeigt chinesische Infrastruktur-Investitionen in BRI-Staaten (Investitionen in den Sektoren Konnektivität, Energie, Versorgung und Telekommunikation) sowie die Konfliktanfälligkeit dieser Staaten anhand der sozialen Kohäsion.

4 /42 EU-Anteil an Chinas Industriemaschinen-Importen, ausgewählte Kategorien UN comtrade database, comtrade.un.org

2 /35 Maritime Zusammenstöße im Südchinesischen Meer (2010–2020) Center for Strategic and International Studies 2020. South China Sea Incident Data. CSIS China Power, 2020, in: https://chinapower.csis.org/ data/raw-incident-data/.

5 /43 Handelsstruktur ausgewählter Länder und Wirtschaftsräume mit China UN comtrade database, comtrade.un.org

F 47

1

49

2021 / Krieg

in Osteuropa /

bewaffnete konflikte 1.1 ����Aktuelle Konflikte und Interventionen 1.2 ����De-Facto-Regime in Osteuropa

2021 / Krieg in Osteuropa / bewaffnete konflikte

↓ empfehlungen 1 50 1     Lebenssituation in De-Facto-Staaten ver­bes­sern

Die Bundesregierung sollte die völkerrechtliche Nichtanerkennung von De-Facto-Staaten (unter anderem Donbass, Bergkarabach) aufrechterhalten, sich aber dafür einsetzen, die Lebenssituation der Menschen in De-Facto-Regimen zu verbessern. 2     Verhandlungsprozesse stärken Die Bundes­re­gie­

rung sollte innerhalb der OSZE und der EU eine Führungsrolle bei Verhandlungsprozessen über De-Facto-Regime im postsowjetischen Raum wahrnehmen. Dabei ist der Verbund mit Frankreich und anderen interessierten Staaten zu suchen. 3     Evaluation der OSZE Die Bundesregierung sollte

eine Gesamtevaluation der OSZE-Instrumente auf den Weg bringen, die Reformvorschläge für die Stärkung des Mandats und den Aufbau von Kapazitäten und Fähigkeiten enthält. 4     Anreize schaffen Im Rahmen bestehender Pro-

­gramme kann die EU ökonomische und politische Anreize für Kompromisslösungen setzen. Die Koo­peration mit De-Facto-Regimen sollte krite­ riengeleitet sein (Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenschutz, Gewaltverzicht) und in Abhängigkeit davon die Sanktions- und Blockade­ politik sukzessive überwinden.

5     Internationalisierung von Missionen Die EU

sollte Möglichkeiten zur Kooperation zwischen der OSZE und der russischen Mission in Berg­ karabach ausloten, darunter eine Internationalisierung der Kontrolle über den Latschin-Korridor und der Kontrollpunkte zu Aserbaidschan. 6     EU-Sonderbeauftragter für die Ukraine Die EU

sollte einen Sonderbeauftragten für die Ukraine benennen, um die europäischen Maßnahmen effektiv zu koordinieren und um in den Verhandlungen zum Donbass ein Gegengewicht zu Russland zu bilden. 7     Frühwarnung stärken Die Bundesregierung und

die EU müssen ihre Frühwarnsysteme verbessern, um Eskalationspotenziale in De-Facto-Regimen besser einschätzen zu können. Dafür ist eine kontinuierliche Informationssammlung unter den Nachrichtendiensten und eine Berichterstattung über die Lage in De-Facto-Regimen notwendig. 8     Friedensprozesse in Afghanistan stärken Die

Bundesregierung sollte sich proaktiv in die Friedensverhandlungen einbringen und – trotz des Abzugs der Bundeswehr – langfristig den zivilen Wiederaufbau des Landes unterstützen.

friedensgutachten / 2021

bewaffnete konflikte /

Krieg in Osteuropa / 1 51

Weltweit verharrt das Konfliktgeschehen auf hohem Niveau. Vor allem in der Sahelregion nehmen Gewaltkonflikte mit dschihadistischem Hintergrund zu. Doch der Krieg ist auch zurück in Europa. Bergkarabach und Donbass stellen De-Facto-Regime dar, in denen die Gewalt jüngst eskalierte oder stets zu eskalieren droht. 1.1 �� Aktuelle Konflikte und Interventionen

D

ie Anzahl an Gewaltkonflikten im Nahen Osten ist erstmals seit Jahren rückläufig. Gegenwärtig prägen gewaltsame Konflikte in Afrika, das Wiederaufflammen der Konflikte in Afghanistan und Libyen sowie die anhaltenden Kartellkonflikte in Mexiko das Konfliktgeschehen. Zudem wird Osteuropa durch die ungelösten Konflikte in Bergkarabach und dem Donbass destabilisiert. Auch die Covid-19 Pandemie verschärfte Konfliktverläufe. COVID-19 UND GEWALTKONFLIKTE

In vielen Staaten erhöht die Covid-19-Pandemie die Gefahr eines gewaltsamen Konfliktaustrags oder beeinträchtigt Friedensbemühungen. Welchen Anteil sie an der Verschär­ fung von Konfliktlagen hat oder ob sie möglicherweise auch Auslöser für Gewaltkonflikte ist, lässt sich erst sagen, sobald eine zuverlässigere Datenbasis zur Verfügung steht. Erste Studien liefern Hinweise, dass der Grad der Fragilität eines Staates vor dem Ausbruch der Pandemie, das Ausmaß des Covid-19-Schocks und die bestehende Konfliktkonstellation entscheidend sind (→ Polo 2020; Bloem & Salemi 2020; Mehrl & Turner 2020; MSC 2020; Crisisgroup 2020). Zwei konfliktverschärfende parallele Prozesse lassen sich derzeit beobachten: einerseits die Zunahme sozialer, ökonomischer und politischer Ungleichheiten in bereits zuvor fragilen Kontexten, die das Risiko eines gewaltsamen Konfliktaustrags erhöhen; andererseits der Fokus der politischen Akteure auf die Eindämmung der Pandemie, der sowohl laufende Friedensmissionen als auch in­ternationale Friedensverhandlungen beeinträchtigt. Daten des Armed Conflict Location & Event Data Projektes (→ ACLED 2021; Raleigh et al 2010) zeigen einen deutlichen Rückgang des Konfliktgeschehens → 6 /52 nach Ausruf der Pandemie durch die WHO am 11. März 2020.

Corona-Pandemie verschärft Ungleichheiten in fragilen Kontexten und erschwert Friedens­bemühungen

2021 / Krieg in Osteuropa / bewaffnete konflikte

Dieser ist fast ausschließlich auf ein Lockdown-bedingtes, weltweites Nachlassen öffentlicher Demonstrationen und Proteste zurückzuführen. Wurden für Januar 2020 insgesamt rund 9.400 Proteste weltweit (ausgenommen USA, Kanada, Australien, Neuseeland) verzeichnet, so sank dieser Wert bis April auf rund 3.800 pro Monat, mit einem globalen Minimum von 630 Protesten in der zweiten Aprilwoche, stieg aber in der zweiten Hälfte des Jahres kontinuierlich auf monatlich über 10.000 Proteste an, mit einem Maximum im Oktober von rund 15.400. Ein Großteil der Proteste der zweiten Jahreshälfte wurde durch die Covid-19 Pandemie ausgelöst und richtete sich gegen in einzelnen Ländern getroffene Covid-19 Maßnahmen → 5 /152. Viele dieser Proteste ereigneten sich in Ländern ohne größere laufende bewaffnete Konflikte wie in Algerien, Brasilien, Iran, Marokko, Peru, Serbien, Südafrika oder Venezuela (→ Polo 2020).

1 52

Aus den ACLED Daten → 6 /52 lassen sich Covid-19 Auswirkungen auf Gewaltkonflikte nicht direkt ableiten. Es gab weder einen zwischenzeitlichen Einbruch noch einen signifikanten Anstieg. Fallstudien zu Afghanistan, Nigeria und Libyen (→ Polo 2020) zeigen jedoch, wie Covid-19 auf verschiedenen Ebenen bestehende Konfliktlagen verschärft oder Friedensbemühungen ausbremst: Einrichtungen der Gesundheitsversorgung wurden angegriffen (Afghanistan, Libyen); die Durchsetzung von staatlichen Lockdown-Maßnahmen durch das Militär wurde verhindert, weil dieses verstärkt in gewalt­­same Auseinandersetzungen mit Boko Haram hineingezogen wurde (Nigeria); oder Friedensverhandlungen wurden aufgrund der Pandemie unterbrochen (Libyen).

6

6.000

Gewalt und Covid-19

Gewalt gegen Zivilisten Gewaltlose, strategisch signifikante Ereignisse Aufstand Explosionen/Distanzgewalt Kämpfe Proteste

Quelle → 1 /73

Ausruf der Pandemie durch WHO am 11. März 2020

5.000

4.000

3.000

2.000

1.000

0 Jan Feb Mrz Apr Mai Jun Jul Aug Sep Okt Nov Dez

friedensgutachten / 2021

GLOBALE KONFLIKTTRENDS

Mit insgesamt 121 Fällen im Jahr 2019 ist die Zahl gewaltsamer Konflikte entgegen steigen­der Zahlen in den Vorjahren auf ein Fünfjahrestief (2018: 132 Gewaltkonflikte) gefallen. Im Vergleich zum vorherigen Jahrzehnt mit durchschnittlich 69 und maximal 85 Konflikten ist die Zahl jedoch weiterhin anhaltend hoch → 8 /54. Sieben der Konflikte erreichten das Niveau eines Krieges (2018: sieben) (→ UCDP 2020b) mit mehr als 1.000 Kriegstoten → 7 /53: zwei Konflikte in Afghanistan (Regierung vs. Taliban; Regierung vs. Islamischer Staat) und jeweils einer in Libyen, Jemen, Nigeria, Somalia und Syrien. Für 2020/21 muss diese Liste um die Konflikte in Tigray/Äthiopien und in Bergkarabach erweitert werden; letzterer erforderte mit über 4.000 Toten in kürzester Zeit mehr Tote als der Konflikt in Syrien im ganzen Jahr 2020. Zwischenstaatliche Gewaltkonflikte → 8 /54 (Trendlinie zwischenstaatliche Konflikte) bleiben mit zwei Konflikten auch 2020/21 die Ausnahme: Zum einen handelt es sich um die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Nuklearmächten Indien und Pakistan um den strittigen Grenzverlauf in Kaschmir; zum anderen um die militärischen Auseinandersetzungen zwischen Israel und dem Iran auf syrischem Territorium. 7

1 Konflikte in Äthiopien und Bergkarabach überschreiten Schwelle zum Krieg

Daten zu Gewaltkonflikten

Die nachfolgende Analyse globaler Konflikte stützt sich auf Definitionen und Daten des Uppsala Conflict Data Program (UCDP). Die aktuellsten vorliegenden Daten­ sätze dokumentieren Kriege, Konflikte, Konfliktakteure und Kriegsopfer der vergangenen Jahrzehnte bis ein­ schließlich 2019. Daten für das Jahr 2020 werden erst im Sommer 2021 veröffentlicht.

Die hier verwendeten Daten enthalten Informationen über Kriege (gemäß UCDP: Beteiligung mindestens eines Staates am Konflikt und jährlich mehr als 1.000 durch Kampfhandlungen Getötete) und kleinere Ge­ waltkonflikte (gemäß UCDP: im Jahresverlauf mehr als 25 durch Kampfhandlungen Getötete).

Wie in den vergangenen Jahren geht mit dem zahlenmäßigen Rückgang von Konflikten im Jahr 2019 → 8 /54 auch eine Abnahme der Konfliktintensität (gemessen an der Zahl der Kriegstoten) einher – vor allem bei Konflikten, an denen mindestens ein staatlicher Akteur als Konfliktpartei beteiligt ist (Trendlinien innerstaatliche Konflikte und zwischenstaatliche Konflikte). Die Anzahl an Konflikten zwischen nichtstaatlichen bewaffneten Gruppen (Rebellen, Milizen, Drogenkartelle) → 8 /54 (Trendlinie nichtstaatliche Konflikte) fällt gegenüber dem Vorjahr von 80 auf 67 Konflikte. Jedoch sind diese noch immer sehr gewaltintensiv; trotz zahlenmäßigem Rückgang der Konflikte steigen hier die Opferzahlen. Mit fast 19.000 Gefechtstoten sind diese höher als im Vorjahr (2018: 18.300) (→ UCDP 2020b). Damit setzt sich der Trend der Gewaltzunahme bei nichtstaatlichen Konflikten gegenüber Konflikten mit staatlicher Beteiligung weiter fort.

Nichtstaatliche Konflikte werden weniger, aber gewaltintensiver

53

2021 / Krieg in Osteuropa / bewaffnete konflikte

8

Globales Konfliktgeschehen

in Mio.

Anzahl konfliktbedingt geflüchteter Personen

Quelle → 1 /73

40 Binnenvertriebene Flüchtlinge

30

1 54 20

10

0 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019

Anzahl der Konflikte 80

nichtstaatliche Konflikte innerstaatliche Konflikte internationalisiert innerstaatliche Konflikte zwischenstaatliche Konflikte

70 60 50 40 30 20 10 0

1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019

in Tausend

100

80

Anzahl durch Kampfhandlung Getöteter nichtstaatliche Konflikte innerstaatliche Konflikte inklusive internationalisierte innerstaatliche Konflikte zwischenstaatliche Konflikte

60

40

20

0 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019

friedensgutachten / 2021

Kennzeichnend für viele nichtstaatliche Konflikte → 8 /54 (Trendlinie nichtstaatliche Konflikte) bleibt neben dem hohen Maß der Gewalt ihre oft kurze Dauer. Erneut war die Anzahl der vom UCDP für 2019 erfassten Konflikte, die es im Vorjahr noch nicht gab, mit 39 von 67 insgesamt erfassten Konflikten recht hoch (2018: 49 von 76) (→ UCDP 2020c). Auffallend ist, dass sich von diesen 39 neuen nichtstaatlichen Konflikten im Jahr 2019 erneut 33 in Afrika ereigneten (in 2018: 34 von 49). Demgegenüber wurden vier neue Konflikte auf dem amerikanischen Kontinent und jeweils ein neuer Konflikt in Asien und im Nahen und Mittleren Osten verzeichnet. Das Gesamtbild nichtstaatlicher Konflikte wird weiterhin geprägt von den gewaltsamen, teils expansionistischen Bestrebungen dschihadistischer Gruppen in fragilen Staaten Afrikas (u. a. Südsudan, Mali, Niger, Nigeria) sowie der Drogen- und Bandengewalt in Lateinamerika. So bleibt Mexiko mit allein elf nichtstaatlichen Konflikten im Jahr 2019 weiterhin das Land mit der höchsten Gesamtzahl aktiver Konflikte. In Syrien hingegen setzt sich der rückläu­ fige Trend der Vorjahre fort. Infolge der fortgeführten Offensive der syrischen Regierung gegen die von den Rebellen kontrollierten Gebiete verringerte sich die Zahl von elf Konflikten 2018 auf nur noch vier im Jahr 2019 (→ UCDP 2020c). Bewaffnete Konflikte unter Beteiligung mindestens eines staatlichen Akteurs → 8 /54 (Trendlinien innerstaatliche Konflikte und zwischenstaatliche Konflikte) sind 2019 mit insgesamt 54 Konflikten (→ UCDP 2020c) gegenüber dem Vorjahr erneut gestiegen (2018: 52 Konflikte) und erreichen damit, wie schon 2016, den höchsten Stand seit 1946. Die Anzahl innerstaatlicher Konflikte → 8 /54 (Trendlinien innerstaatliche Konflikte), in denen mindestens ein Drittstaat militärisch interveniert, ist im Jahr 2019 mit nunmehr 22 der 52 innerstaatlichen Konflikte auf einem neuen Höchststand seit 1946. Wie schon in den Vorjahren waren die USA mit Interventionen in zehn innerstaatlichen Konflikten der aktivste Akteur. Die USA reduzierten ihr militärisches Engagement zwar in einigen Ländern (Afghanistan, Irak, Syrien), verlagerten aber auch einen Teil ihrer Anti-ISOperationen nach Afrika. Erneut sind es transnationale Gewaltakteure wie Al-Kaida, der Islamische Staat und verbündete dschihadistische Gruppen, die Konflikte und Kriege 2019 prägen: Sie waren an mehr als der Hälfte der Konflikte mit mindestens einem staatlichen Akteur (28 von 54) beteiligt (→ UCDP 2020c). Bewaffnete Konflikte, in denen dschihadistische Gruppen kämpften, waren in sieben der letzten zehn Jahre für die meisten gefechtsbedingt Getöteten in der Welt verantwortlich. Betrachtet man nur die Kerngruppen Al Kaida und den Islamischen Staat, ist der Anteil von einem Höchststand von 44 % im Jahr 2017 auf 14 % der weltweit gefechtsbedingten Todesopfer in 2019 deutlich gesunken. Bezieht man jedoch die mit dem Islamischen Staat und Al-Kaida verbundenen dschihadistischen Gruppen ein, waren 73 % aller Kriegstoten im Jahr 2019 auf Kämpfe zurückzuführen, an denen Dschihadisten beteiligt waren (→ Petterson/Öhberg 2020).

1 55 Dschihadistische Gruppen sind Konflikt­treiber in fragilen afrikanischen Staaten

Interventionen in innerstaatliche Konflikte nehmen zu

2021 / Krieg in Osteuropa / bewaffnete konflikte

Dass die Gewalt in Afghanistan wieder zunimmt, gilt als Beleg dafür, dass die Interna­ tionalisierung innerstaatlicher Konflikte diese anheizt und verlängert. Das zweite Jahr in Folge war Afghanistan, trotz der Friedensverhandlungen zwischen den USA und den Taliban, das am stärksten von Gewalt betroffene Land.

1 56

In Afrika fanden mit 67 Konflikten im Jahr 2019 deutlich mehr als die Hälfte aller aktiven Konflikte statt → 9 /56. Der Nahe und Mittlere Osten, immer noch die Region mit den höchsten Opferzahlen, verzeichnet einen Rückgang von 26 Konflikten 2018 auf 18 im Jahr 2019. Alle anderen Regionen → 10 /57 erfahren in der Summe keine (Europa und Asien) oder nur geringfügige Änderungen (Amerika).

9

Gewaltkonflikte und multilaterale Militär- und Beobachtungsmissionen 2019/2020 Haiti

Mexiko

Serbien

Honduras

BIH Montenegro Albanien

Kolumbien

Ukraine

Kosovo Mazedonien

Zypern

Syrien

Libanon Israel Sinai

Russland (Nord-Kaukasus)

Quelle → 1 /73

Paläst. Gebiete

Irak

Jordanien

Moldawien Georgien Türkei

Aserbaidschan Armenien Afghanistan

Libyen

WestSahara

Pakistan Ägypten

Mali

Indien

Sudan

Niger

Jemen Burkina Nigeria Faso

Gambia

Thailand

Philippinen

Äthiopien

ZAF

Guinea-Bisseau

Myanmar

S-Sudan Kenia Dem. Rep. Kongo

Somalia

Burundi

Multilaterale Militärund Beobachtermissionen

VN

NATO

OSZE

EU Weitere

Konflikte Mosambik (AU, ECOWAS u. A.)

Länder, in denen im Jahr 2019/2020 mind. ein Gewaltkonflikt/Krieg ausgetragen wird Zugunsten der besseren Lesbarkeit sind einige Ländernamen nicht dargestellt. Die dargestellten Grenzen und Namen entsprechen nicht der offiziellen Auffassung des BICC.

friedensgutachten / 2021

Der globale Rückgang gefechtsbedingter Todesopfer → 8 /54, → 11 /58 setzt sich trotz eines anhaltend hohen Niveaus an Gewaltkonflikten im nunmehr sechsten Jahr in Folge fort und erreichte mit fast 71.000 Gefechtstoten 2019 den niedrigsten Stand seit 2012 (→ Pettersson/Öberg 2020). Dies ist auf die fortgesetzte Deeskalation in Gewaltkonflikten mit Beteiligung mindestens eines staatlichen Akteurs und auf den Rückgang der Anzahl umkämpfter Gebiete in Syrien, im Jemen und im Irak zurückzuführen.

1

Mit 7.300 Kriegstoten 2019 erreichten Syrien und mit etwa rund 500 Kriegstoten der Irak den jeweils niedrigsten Stand seit Beginn ihrer Konflikte. Hatte sich die Zahl der Kriegstoten im Jemen im Jahr 2018 binnen eines Jahres nahezu verdoppelt, hat sie sich gegenüber dem Vorjahr von 4.500 auf 1.700 in 2019 deutlich reduziert. Dies ist sowohl auf die Friedensverhandlungen durch Vermittlung der VN zurückzuführen als auch darauf, dass die von Saudi-Arabien geführte Koalition weniger Luftangriffe geflogen hat (→ UCDP 2019b).

10

120

Globale Gewaltkonflikttrends im regionalen Vergleich

57

Quelle → 1 /73

Amerika Afrika Asien Naher und Mittlerer Osten Europa

90

60

30

0 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019

2021 / Krieg in Osteuropa / bewaffnete konflikte

11

1 58

Opferzahlen

Bei den genannten Opferzahlen handelt es sich um kon­ servative Näherungswerte. Es besteht eine hohe Dunkel­ ziffer, da nur Opfer erfasst werden, die mindestens zwei voneinander unabhängige Quellen bestätigen. Je nach gewählter Methodik und in Abhängigkeit von der zu Grunde gelegten Konfliktdefinition finden zudem Opfer­ zahlen unterhalb eines Schwellwertes (im Falle der UCDP Daten 25 durch Kampfhandlungen Getötete) keinen Eingang in die Berechnungen. Die Opferzahlen von Kampf­ handlungen allein beschreiben zudem nicht das tatsäch­

liche Ausmaß der Gewaltintensität und indirekte Folgen der Konflikte, wie etwa Hungersnöte und Krankheiten. Zahlen über das Ausmaß dieser Opfer sind jedoch nicht valide, zumal mit Blick auf Verwundete oft nur diejeni­ gen erfasst werden, die eine medizinische Versorgung erhalten. Schließlich wirken sich Konflikte auch auf die langfristige Lebenserwartung betroffener Gesellschaften aus. Im Irak ist etwa ein Drittel des Anstiegs der Sterblich­ keitsrate auf die Folgen des Krieges zurückzuführen.

Dieser rückläufige Trend gilt leider nicht für andere Regionen. Vor allem Afghanistan ist nach wie vor von einem hohen Maß an Gewalt und einer hohen Anzahl Kriegstoter betroffen. Mit annähernd 30.000 gefechtsbedingt Getöteten im Jahr 2019 erreichte die Zahl der Todesopfer in Afghanistan den Höchststand seit dem Ende der sowjetischen Intervention im Jahr 1989 (→ Pettersson et al. 2020). Afghanistan verzeichnet damit 40 % aller Kriegsopfer im Jahr 2019. Die Eskalation des Konfliktes in Libyen führte zu einem sprunghaften Anstieg der Opferzahlen von nur 40 in 2018 auf 1.700 Gefechtstote in 2019; damit erreicht der Konflikt seit 2016 erneut das Niveau eines Krieges. Im Jahr 2019 gab es in allen nichtstaatlichen Konflikten 19.500 Kriegstote, 19 % weniger als im Jahr 2018 (24.200); dennoch zählt auch 2019, gemessen an der Zahl gefechts­ bedingter Todesopfer, zu den drei gewaltsamsten Jahren nichtstaatlicher Konflikte seit 1989 (→ UCDP 2020b).

Viele Kriegstote und ein hohes Maß an Gewalt in Afghanistan

friedensgutachten / 2021

KONFLIKTBEDINGTE FLUCHT UND VERTREIBUNG

Dem zahlenmäßigen Rückgang von Gewaltkonflikten und Opferzahlen steht 2019 eine Zunahme konfliktbedingt Geflüchteter und Vertriebener → 8 /54 gegenüber. Im Vergleich zum Vorjahr stieg die Gesamtzahl Geflüchteter weltweit um 8,5 Mio. auf 79,5 Mio. Mit 45,7 Mio. Menschen ist der Anteil der Binnenvertriebenen so hoch wie nie zuvor und fast doppelt so hoch wie die Zahl der Menschen, die über Staatsgrenzen fliehen (26 Mio.). 78 % oder 34,5 Mio. der weltweit konfliktbedingten Binnenflüchtlinge sind in nur zehn Ländern zu finden: Syrien, Kolumbien, Demokratische Republik Kongo, Jemen, Afghanistan, Somalia, Nigeria, Sudan, Irak und Äthiopien (→ IDMC 2020a); die Zahlen in Äthiopien schnellten durch den Konflikt zwischen der Tigray People’s Liberation Front und der äthiopischen Zentralregierung jüngst in die Höhe. Gegenüber dem Vorjahr sank im Jahr 2019 die Gesamtzahl neuer konfliktbedingt Geflüchteter von 13,6 Mio. auf rund elf Mio. weltweit (→ UNHCR 2020; IDMC 2020a). Erneut waren die DR Kongo (1,7 Mio.), Syrien (1,8 Mio.), Äthiopien (1 Mio.) und Afghanistan (0,46 Mio.) unter den Ländern mit der höchsten Anzahl neuer Vertreibungen. Neue Wellen von Gewalt lösten zudem Vertreibungen in Burkina Faso (0,51 Mio.), Jemen (0,4 Mio.) und Libyen (0,22 Mio.) aus. Bezeichnend ist, dass Syrien trotz eines Rückgangs an Gewaltkonflikten mit fast 1,8 Mio. Menschen die höchste Anzahl neuer interner konfliktbedingter Vertreibungen aufweist und mit einer Gesamtzahl von 6,6 Mio. Geflüchteten weiterhin die Liste der am stärk­ sten betroffenen Länder anführt. In vielen der oben genannten Länder setzte sich der Trend konfliktbedingter Vertreibungen ungebrochen fort. Bis Mitte 2020 wurden 4,8 Mio. neue inländische konfliktbedingte Vertreibungen erfasst, davon unter anderem in Syrien (2020/1 +1,47 Mio.), in der DR Kongo (2020/1 +1,42 Mio.), in Burkina Faso (2020/1 +0,41 Mio.) und im Südsudan (2020/1 +0,23 Mio.) (→ IDMC 2020b).

1 59

2019 flüchteten weniger Menschen vor Konflikten als in den Vorjahren

2021 / Krieg in Osteuropa / bewaffnete konflikte

12

Fußabdruck Deutschlands in Gewaltkonflikten (2019–2021)

Quelle → 1 /73

UNIFIL /132

COUNTER DAESH /239

Syrien Libanon

Irak

1 60

EUPOL COPPS /2 Paläst. Gebiete

EUAM UKRAINE /5

EUBAM MOLDAWIEN/UKRAINE /7

EUAM IRAK /2

Jordanien

Ukraine UNMIK /1 KFOR EULEX /66 KOSOVO SEA GUARDIAN Kosovo /10 /85 Türkei

EUMM GEORGIEN /16

RESOLUTE SUPPORT /1.068 Afghanistan

EUNAVFOR MED /8 Tunesien MINURSO /3 WestSahara

Algerien Ägypten Mali

Senegal

Kuwait Katar

EUCAP SAHEL NIGER /4

MINUSMA Niger /893 EUTM MALI /93 Burkina Nigeria Faso

UNAMID /1 Tschad

UNMISS /10

VAE

Äthiopien

Indien

Oman Jemen

Sudan

S-Sudan Ghana

SaudiArabien

Somalia

EUNAVOR SOMALIA /50

UNSOM /2

Kamerun Kenia

Sri Lanka

EUCAP SOMALIA /3

Tansania

Angola

Namibia

Südafrika

Deutsche Beteiligung an Missionen Missionstitel/Personenstärke (Stand: März 2018) VN UNIFIL /131

NATO KFOR /406

EU EULEX /14

Sonstige COUNTER DAESH /301 (Anti-IS-Einsatz)

Partnerland Ertüchtigungsinitiative 2020 Partnerland Ausstattungshilfeprogramm Genehmigte Rüstungsexporte 2019* Genehmigte Rüstungs- und Kriegswaffenexporte 2019*

2013–2016

2017–2020

2013–2024

2021–2024

* Inklusive Lieferungen für VN-Missionen Zugunsten der besseren Lesbarkeit sind einige Ländernamen nicht dargestellt. Die dargestellten Grenzen und Namen entsprechen nicht der offiziellen Auffassung des BICC.

friedensgutachten / 2021

FRIEDENSMISSIONEN UND DEUTSCHE BETEILIGUNG

Die Zahl multilateraler Friedensmissionen, die vor allem von den VN, der NATO, OSZE, EU oder der Afrikanischen Union mandatiert sind, ist im Jahr 2020 von 64 auf 65 gestiegen. Die Anzahl der Friedenssicherungseinsätze der VN bleibt seit der im Januar 2020 beendeten Mission zur Unterstützung der Justiz in Haiti (MINUJUSTH) bei 13 Missionen. Die USA werden ihren militärischen Einsatz in Afghanistan zum 11. September 2021 beenden; die US-Mission in Syrien wird dagegen weitergeführt werden.

1 61

Das Engagement Deutschlands an internationalen Friedenseinsätzen bleibt mit insgesamt 13 Beteiligungen → 13 /61 auf dem Niveau des Vorjahres. Aktuell liegt der regio­ nale Fokus deutscher Auslandseinsätze auf der MENA-Region (Mittlerer Osten und Nordafrika) und auf Subsahara-Afrika → 12 /60. Deutschland beteiligt sich (Stand Januar 2021) mit einer Truppenstärke von 3.191 Personen an den Missionen, wobei nach Mandatsobergrenzen eine Stärke von 5.320 zulässig wäre. Nach fast 20 Jahren militä­ rischer Präsenz wird Deutschland– in Abstimmung mit den USA – bis zum August 2021 den Bundeswehreinsatz in Afghanistan beenden. Der Truppenabzug ist eher Ausdruck von Zermürbung als von Erfolg. So droht in Afghanistan eine Eskalation der Gewalt. Aufgrund ihres politischen Gewichts und der hohen Anerkennung in der Region sollte sich die Bundesregierung proaktiv als Vermittlerin in den festgefahrenen Friedensgesprächen einbringen.

13

Deutschland ist an 13 internationalen Friedenseinsätzen beteiligt – Einsatz in Afghanistan nochmals verlängert

Aktuelle Einsätze der Bundeswehr (2018–2021)

Einsatz

Quelle → 1 /73

Kürzel

Einsatzgebiet

Resolute Support (RSM)

Afghanistan

1068

1300

KFOR

Kosovo

66

400

UNMISS

Südsudan

10

50

UN Interim Force in Lebanon

UNIFIL

Libanon

132

300

EU Training Mission in Mali

EUTM

Mali

93

350

MINUSMA

Mali

893

1100

Atalanta

Horn von Afrika

50

400

Sea Guardian

Mittelmeer

85

650

EUNAVOR MED Irini

Mittelmeer

8

300

Anti-IS-Einsatz/ Fähigkeitsaufbau Irak

Jordanien/ Syrien/Irak

239

500

STRATAIRMEDEVAC

Deutschland

51

MINURSO

Westsahara

3

UNMHA

Jemen

1

Resolute Support Mission Kosovo Force UN Mission in South Sudan

UN Multidimensional Integrated Stabilization Mission in Mali EUNAVOR Somalia – Operation Atalanta NATO-Mission EUNAVOR MED Irini Unterstützung der Anti-ISKoalition, Stabilisierung Irak Strategical Air Medical Evacuation UN Mission for the Referendum in Western Sahara UN Mission to Support the Hudaydah Agreement

Stärke Obergrenze

6

2021 / Krieg in Osteuropa / bewaffnete konflikte

1.2 �� De-Facto-Regime in Osteuropa

B 1 62

etrachtet man die Bedingungen für die Entstehung von Gewaltkonflikten, spielen – neben fragiler Staatlichkeit, sozialer Ungleichheit und gesellschaftspolitischen Differenzen – De-Facto-Regime eine zentrale Rolle. De-Facto-Regime sind relativ dauer­ hafte Formen des Regierens über separatistische Gebiete, denen die internationale Gemeinschaft die Anerkennung verwehrt. Ihnen liegen eingefrorene Konflikte zugrunde, die stets wieder aufbrechen können. Das verdeutlichte der Konflikt um Bergkarabach, der im Herbst 2020 zu einem Krieg eskalierte. De-Facto-Regime sind aus verschiedenen Gründen konfliktträchtig: Sie basieren auf einer Politik der „ethnischen Homogenisierung“ und Vertreibung; häufig beherrschen paramilitärische Verbände ihre Regierungen; zudem entstehen Schattenökonomien für Geldwäsche sowie illegalen Waffen-, Drogenund Menschenhandel. Von den seit Ende der 1940er Jahre bekannten 43 De-Facto-Regimen → 14 /63 existieren heute noch 24; die meisten entstanden in den 1990er bzw. den 2010er Jahren. Die 19 nicht mehr existenten wurden entweder gewaltsam oder friedlich in den Staat integriert, aus dem sie herausgetrennt worden waren (parent state), oder selbst als Staat anerkannt. Ein Großteil bestehender De-Facto-Regime befindet sich in unmittelbarer Nachbarschaft zu Europa oder innerhalb Europas. Aufgrund ihrer Bedeutung für die EU und Deutschland gehen wir auf ausgewählte De-Facto-Regime in Osteuropa ein. Diese sind das Ergebnis einer gewaltsamen Abtrennung von international anerkannten Staaten und tragen erheblich zur Destabilisierung Osteuropas bei.

De-Facto-Regime bergen die Gefahr, dass eingefrorene Konflikte wieder aufbrechen

Hohes Maß an Militarisierung in osteuropäischen De-Facto-Regimen

Betrachtet man die De-Facto-Regime in Osteuropa – Abchasien, Bergkarabach, Donbass, Südossetien und Transnistrien –, sind diese durch ein hohes Maß an Militarisierung geprägt; illegaler Kleinwaffenbesitz ist weit verbreitet; die Demarkationslinie zum parent state ist weiträumig vermint. Einige De-Facto-Regime existieren bald 30 Jahre lang – sie sind beständig, und zwar unbeschadet dessen, dass sie völkerrechtlich nicht anerkannt sind. Blockade und Nicht-Anerkennung tragen wiederum dazu bei, den Status quo zu zementieren. Je länger der Zustand anhält, umso mehr wachsen Generationen heran, für die die Zugehörigkeit zum parent state nur noch eine ferne Erinnerung der Großeltern ist. Die Angst vor ethnischer Zwangsassimilation stand am Anfang aller osteuropäischen De-Facto-Regime. Mit dem Zerfall der Sowjetunion gab es für Autonomien keinen Schutz mehr durch die Zentralmacht. Föderalismus oder Autonomie wollten die nationalistisch aufgeheizten Nachfolgestaaten wiederum nicht gewähren. Eine Reihe früherer Sowjetrepubliken erlangte ihre Unabhängigkeit so mit tiefen inneren Spaltungen – Ressentiments, die russische Nationalisten, Sowjetnostalgiker sowie Ethnonationalisten schürten. Die Legitimation der De-Facto-Regime speist sich aus den Gewalterfahrungen, welche die antagonistischen Identitäten verhärtet haben.

De-Facto-Regime spiegeln ethnische und nationalistische Konflikte

friedensgutachten / 2021

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De-Facto-Regime im Spiegel der Zeit*

in Jahren De-Facto Staat Parent state

Afrika

Quelle → 1 /73

gewaltsame Reintegration Staatlichkeit friedliche Reintegration existent

Anjouan Komoren

11

Biafra Nigeria

3

Cabinda Angola

46

Casamance Senegal

39

Eritrea Äthiopien

29

Tobruk Regierung Libyen

6

Katanya Kongo (DRK)

63

3

Puntland Somalia

30

Königreich Rwenzururu Uganda

19

Somaliland Somalia

30

Südsudan Sudan

55

West Sahara Marokko

47

Asien Abchasien Georgien

30

Aceh Indonesien

4

Ajaria Georgien

13

Gebiete kontrolliert Jemen von den Houthis

6

Autonome Administration von Nordsyrien Syrien

8 27

Osttimor Indonesien

14

Gaza Palästina 3

Islamischer Staat (ISIS) Syrien / Irak Kachin-Staat Burma / Myanmar

60

Karen-Staat Burma / Myanmar

72 30

Kurdistan Irak Mindanao / Bangsamoro Philippinen

48

Bergkarabach Aserbaidschan

30

Palästina Israel

26

Südossetien Georgien

30

Syrische Übergangsregierung Syrien

8

Syrische Erlösungsregierung Syrien

4

Taiwan China

50

Taliban Afghanistan

25

Tamil Eelam Sri Lanka

25

Wa-Staat Burma / Myanmar

32

Europa Tschetschenien Russland

8

Donbass Ukraine

7

Ostslowenien Kroatien

3

Gagauzia Moldawien

4

Kosovo Serbien

10

Krajina Kroatien

4

Republik Srpska Bosnien

3

Transnistrien Moldawien

30

Türkische Republik Nordzypern Zypern

47

Ozeanien 22

Bougainville Papua-Neuguinea 1950

1960

1970

1980

1990

2000

2010

2020

* Nur unbestrittene De-Facto-Regime sind dargestellt.

1

2021 / Krieg in Osteuropa / bewaffnete konflikte

1 64

De-Facto-Regime resultieren aus einer Pattsituation. Der jeweilige sowjetische Nachfolgestaat, aus dem sie hervorgingen – Georgien im Fall Abchasiens und Südossetiens, Moldawien im Fall Transnistriens, Aserbaidschan im Fall Bergkarabachs und die Ukraine im Fall des Donbass –, ist nicht mehr in der Lage, die Souveränität über die Bevölkerung und das Territorium des De-Facto-Regimes auszuüben. Russland wiederum sichert direkt oder im Falle Bergkarabachs indirekt das Überleben des De-Facto-Regimes ab und erkannte Abchasien und Südossetien sogar als unabhängige Staaten an. In allen De-Facto-Regimen stimmte Moskau einem Waffenstillstand unter der Bedingung zu, dass es eigene Truppen stationiert und internationale Truppen fernhält. Russland schreckt selbst vor Revisionskriegen zurück, hat aber zugleich kein Interesse an transformativen Regelungen. Denn die Sonderrolle Russlands ergibt sich aus seiner militä­ rischen Präsenz sowie seiner politischen und wirtschaftlichen Unterstützung der DeFacto-Regime. Mittels Subventionen, Medienpolitik, Beteiligungen an Schlüsselindustrien und der Vergabe russischer Pässe sowie durch Sonderbeauftragte macht Russland diese Regime von sich abhängig. Gleichzeitig stellen De-Facto-Regime eine große ökonomische Belastung für Russland (bzw. für Armenien im Fall Bergkarabachs) dar.

Russland stationiert Truppen in De-Facto-Regimen und bindet sie ökonomisch an sich

Nach Phasen intensiver Kampfhandlungen normalisierte sich in allen fünf osteuropä­ ischen Fällen das Alltagsleben, selbst wenn der ungeklärte Status eine dauerhafte Belastung für Handel, Investitionen und Reisen darstellt. Immer wieder versucht die eine oder andere Konfliktpartei, den Status quo militärisch zu ändern. Die Gewalt schwelt auf einem niedrigen Niveau und flammt periodisch wieder auf – etwa indem Waffenstillstandsabkommen bewusst verletzt werden. Auf diese Weise soll die eigene Verhandlungsposition verbessert und die Eskalationsbereitschaft des Gegners getestet werden. Sofern weder eine Rückkehr zum parent state noch volle staatliche Unabhängigkeit erlangt werden können, stabilisieren sich De-Facto-Regime. Russland hat bisher keines der Gebiete integriert, selbst wenn Transnistrien, Abchasien, Südossetien und die Donbass-Volksrepubliken darauf hofften. Die annektierte Krim existierte nie als De-FactoRegime. De-Facto-Regime sind zu einer Ressource des Machterhalts sowohl des parent state als auch des Patronstaats geworden: Im parent state, der ein Gebiet verloren hat, wird der Nationalismus gehegt; der Patronstaat wiederum kann sich als mächtiger Beschützer geben. De-Facto-Regime dienen als Kristallisationspunkt für nationalistische Mobilisierung und liefern eine Ablenkung von eigener schlechter Regierungsführung.

De-Facto-Regime stabilisieren sich, weil sie Russland und den parent states nutzen

friedensgutachten / 2021

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OSZE

Zusätzlich zu den Beziehungen zwischen den Konflikt­ parteien spielt die 1975 gegründete Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in allen De-Facto-Regimen eine wichtige Rolle. Die OSZE umfasst 57 Mitgliedsstaaten in Europa, Nordamerika und Zentralasien. Seitdem sich die Beziehungen zwischen den westlichen Staaten und Russland seit den 2000er Jahren zunehmend verschlechterten, avancierte die OSZE zu einer der wenigen verbliebenen Regionalor­ga­nisationen, in der eine Zusammenarbeit nach wie vor stattfindet. Dies lässt sich mit den Grundprinzipien der OSZE erklären, die auf Freiwilligkeit und den guten

Willen der beteiligten Staaten setzen. Die OSZE sieht zwar politisch bindende Verpflichtungen vor, verzichtet aber auf politischen Druck auf einzelne Mitgliedsstaaten oder gar weiterführende Sanktionen (cooperative sec­u­ rity approach). Die Kehrseite dieses Ansatzes ist, dass die OSZE über keine Instrumente verfügt, um Beschlüsse und Vereinbarungen umzusetzen oder Verstöße zu ahn­ den. Insofern dokumentiert sie lediglich die Verletzung von Waffenstillständen und verkörpert eine Organisa­ tion, deren Mandat vom kleinsten gemeinsamen Nenner der Mitgliedsstaaten abhängig ist. Ohne deren Rückhalt ist sie selbst ohne Durchschlagskraft.

Der jeweilige parent state kann sich mit dem De-Facto-Regime arrangieren, indem Verkehrsverbindungen aufrechterhalten, humanitäre Erleichterungen und Zugänge gewährt, Renten gezahlt, Abschlüsse anerkannt und grenzüberschreitende Kontakte gepflegt werden. Die entgegengesetzte Strategie besteht darin, den Preis der Separation zu erhöhen, Kommunikations- und Verkehrsverbindungen zu kappen, Sanktionen zu verhängen und eine militärische Rückeroberung vorzubereiten. Aserbaidschan, die Ukraine und Georgien optierten für Abstrafung, während Moldawien eher auf einen Modus vivendi setzt. Eine Rückkehr zum Status quo ante vor der Separation ist in allen Fällen eine juristische Fiktion. Sofern sich Diplomatie an dieser Fiktion ausrichtet, ist sie schon vom Ansatz her zum Scheitern verurteilt. DONBASS

Die Kinder, die am 1. September 2021 in Donezk und Luhansk eingeschult werden, gehören zur ersten Generation, für welche die Ukraine bisher ein „fremdes Land“ gewesen ist. Die militärische Auseinandersetzung zwischen der Ukraine und prorussischen Sepa­ ratisten im Donbass hält schon mehr als sieben Jahre an; eine Lösung für den festgefahrenen Konflikt ist nicht in Sicht. Trotz der vereinbarten Waffenruhe, welche von der OSZE-Sonderbeobachtungsmission dokumentiert wird, verstoßen beide Seiten regelmäßig gegen diese – und zwar folgenlos. Im Jahr 2020 gingen die Verstöße gegen die Waffenruhe zwar um 55 % zurück; jedoch verschärfte sich die Lage im April 2021 dramatisch. Allein am 5. April registrierte die Sonderbeobachtungsmission fast 1.500 Verstöße gegen die Waffenruhe – genauso viel wie im gesamten November und Dezember 2020. Laut der OSZE gibt es aktuell vier Brennpunkte im Konfliktgebiet, in denen es immer wieder zu kriegerischen Handlungen kommt und in denen die Konfliktparteien Geländegewinne anstreben: Svitlodarsk, die Gebiete nordöstlich von Mariupol, der Donezker Flughafen sowie Solotoe-Pervomaisk.

Eskalation im Dobass: Verstöße gegen die Waffenruhe

1 65

2021 / Krieg in Osteuropa / bewaffnete konflikte

Moskau kontrolliert mittlerweile umfassend das politische und das militärische Gesche­ hen in den abtrünnigen Regionen (→ Fischer 2019) und hat dort autokratische Regime

1 66

installiert. Obwohl beide Republiken, die Donezker (DNR) und Luhansker (LRN) Volksrepubliken, Regierungen und Verfassungsorgane haben und Wahlen stattfinden, werden politische und wirtschaftliche Konflikte informell und häufig mit Gewalt geregelt. Die Führungen der Volksrepubliken werden oft gewechselt – nicht selten aufgrund von Ermordungen – und von Moskau inoffiziell ernannt (→ Adomeit 2020). Dabei streben beide Republiken keine Vereinigung an. Vielmehr gibt es Grenzen mit Zollkontrollen zwischen beiden. Laut der jüngsten Befragung vertrauen die Bewohner der DNR der Füh­­­rung in Moskau mehr als ihrem eigenen Staatsoberhaupt Denis Puschilin (→ Тест на совместимость 2019). Diese starke Anbindung an Russland kommt auch darin zum Ausdruck, dass bis Ende 2020 400.000 Ukrainer aus dem Donbass russische Pässe erhielten.

Bevölkerung in Donezker Volksrepublik orientiert sich an Moskau

Die irregulären bewaffneten Bataillone in den beiden Volksrepubliken wurden seit 2015 sukzessive in eine staatliche, von Russland kontrollierte Armee umgewandelt. Die Militär- und Sicherheitskräfte rekrutieren sich nicht nur aus ehemaligen Kämpfern, sondern bilden einen wichtigen Arbeitsmarkt für das Gros der arbeitslosen Jugendlichen. Wirtschaftlich sind beide De-Facto-Regime auf Russland angewiesen: Bis zu 90 % des Budgets der beiden Volksrepubliken (ca. drei Mrd. US-$ pro Jahr) finanziert Moskau (De Waal 2018). Nachdem die Ukraine 2017 eine Handelsblockade über den Donbass verhängte, zahlt Moskau auch Renten und andere Sozialleistungen, wenngleich Löhne oft nicht in voller Höhe oder gar nicht ausgezahlt werden. Auch werden viele Rohstoffe und Lebensmittel aus Russland importiert. Um Zahlungen „legal“ abzuwickeln, erfolgen diese über den De-Facto-Staat Südossetien, der die beiden Volksrepubliken im Donbass offiziell anerkannte. Schmuggel und Kriminalität florieren in beiden Regionen. Die Bevölkerung des Donbass ist seit 2014 um die Hälfte geschrumpft. Die Ukraine beherbergt insgesamt etwa 1,5 Mio. Binnenflüchtlinge aus dem Donbass. Das 2016 in der Ukraine eingerichtete „Ministerium für die zeitweise besetzten Gebiete und Binnenvertriebene“ ist politisch wie finanziell schwach aufgestellt. Dabei sehen viele in der ukra­ inischen Regierung den Donbass als wirtschaftliche Belastung und seine Bevölkerung als politisch unzuverlässig an. Die ukrainische Regierung wäre gut beraten, die gesellschaftlichen Beziehungen über die Kontaktlinie hinweg zu erleichtern, um ein weiteres Auseinanderdriften der Gesellschaft zu verhindern.

De-Facto-Regime im Donbass wirtschaftlich abhängig von Russland

friedensgutachten / 2021

Die zentralen Vereinbarungen, die der letzte Normandie-Gipfel im Dezember 2019 traf, wurden bis dato nicht umgesetzt: Ein Austausch von Gefangenen findet seit einem Jahr nicht mehr statt und die Öffnung neuer Grenzübergänge ist nicht mehr auf der politischen Agenda. Kiew versucht zwar, die Stagnation zu überwinden, erzielt aber keine Erfolge. Die trilaterale Kontaktgruppe unter dem Vorsitz der OSZE konnte im Jahr 2020 keine sub­ stanziellen Fortschritte verzeichnen und avancierte zu einer Plattform für gegenseitige Schuldzuweisungen. Das liegt auch daran, dass die USA den Posten des Sondergesandten Kurt Walker nicht wieder besetzten und Russland somit ein Partner im Westen fehlt, um strategische Fragen vertraulich zu besprechen und bilaterale Kompromisse zu erzielen. Die EU könnte diese Rolle übernehmen, indem sie einen Sondergesandten ernennt.

Diplomatie und Friedensgespräche stocken

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Die wichtigsten Streitfragen sind: wer bei den Kommunalwahlen in den russisch kontrollierten Gebieten kandidieren darf; wie eine unvoreingenommene Medienberichterstattung über den politischen Prozess sichergestellt werden kann; was die militärischen separatistischen Formationen nach einer Wiedervereinigung mit der Ukraine erwarten würde; und unter welchen Bedingungen die Ukraine wieder die Kontrolle über die Grenze zu Russland erhält (Robinson 2016). Je länger der Konflikt niedrigschwellig gehalten werden kann, umso eher wird der Donbass dem Modell der übrigen De-Facto-Regime folgen – der Druck auf Veränderung des Status quo nimmt bei allen Beteiligten ab. 16

Diplomatische Foren Normandie Format

Quelle → 1 /73

Trilaterale Kontaktgruppe

Sondergesandte

unter Vorsitz der OSZE- Sondergesandten Heidi Grau

EU/Westen

Kanzlerin

Sondergesandter des USAußenministeriums

Angela Merkel

Bis 2019: Kurt Walker

Deutschland

Außenminister

Heiko Maas Frankreich Präsident

Emmanuel Macron Außenminister

Jean-Yves Le Drian Ukraine

Präsident

Wolodymyr Selenskyj

Leiter der ukrainischen Delegation bei der TCG

Assistent des Präsidenten der Ukraine

Außenminster

Leonid Kravchuk

Andrij Jermak

Wladimir Putin

Bevollmächtigter Vertreter des Präsidenten für die Ukraine

Beauftragter der Präsidialverwaltung für die Ukraine

Außenminister

Boris Gryzlow

Dmitrij Kosak

Dmytro Kuleba Russland

Präsident

(bis 2020: Wladislaw J. Surkow)

Sergei Lawrow De-Facto-Regime in der Ukraine

DNR Außenministerin

Natalia Nikonorova (inoffiziell)



LNR Außenminister

Wladislaw Dainego (inoffiziell)



2021 / Krieg in Osteuropa / bewaffnete konflikte

BERGKARABACH

1 68

Der sechs Wochen andauernde Krieg in und um das Gebiet von Bergkarabach im Herbst 2020 brachte eine Wende in den seit 1994 ungelösten Territorialkonflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan. Er schuf mit militärischen Mitteln neue Tatsachen, eine dauerhafte russische Militärpräsenz in Bergkarabach, und verursachte Tausende Todes­ opfer auf beiden Seiten. Seit dem Waffenstillstand von 1994 sicherte Armenien die völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehörende Region Bergkarabach militärisch ab, die sich 1991 als Republik unabhängig erklärt hatte. International anerkannt wird die Unabhängigkeit nicht einmal von Armenien. Ebenfalls seit 1994 kontrollierte Armenien sieben weitere aserbaidschanische Regionen rund um Bergkarabach, maßgeblich den LatschinKorridor, der das Gebiet mit Armenien verbindet. Trotz mehrerer Resolutionen der VN und des im Rahmen der Minsker Gruppe der OSZE verhandelten Fahrplans zur schrittweisen Rückgabe der armenisch kontrollierten Gebiete prägte diplomatischer Stillstand die vergangenen Jahre, während regelmäßige Scharmützel und größere Eskalationen an der Kontaktlinie – besonders im Jahr 2016 – auf die Fragilität der Situation verwiesen. Angesichts des blockierten Verhandlungsprozesses und vor dem Hintergrund einer Verschiebung der ökonomischen und militä­ rischen Kräfteverhältnisse zugunsten des Ölstaats Aserbaidschan erschien die Sorge vor einer militärischen Eskalation immer begründeter. Armenien und Aserbai­d­schan gehören laut GMI kontinuierlich zu den am stärksten militarisierten Ländern der Welt (→ BICC div.). Im September 2020 begann Baku eine Offensive und konnte schnell deutliche Landgewinne verzeichnen. Dies traf die internationale Gemeinschaft über­ raschend. So liefen die Vorbereitungen dieses Krieges unter dem Radar der interna­ tionalen Frühwarnsysteme. Es dauerte mehrere Wochen, bis ein Überblick über das Kon­flikt­geschehen, die Grenzverschiebungen und die Opferzahlen gewonnen werden konnte und Initiativen zur Vermittlung zwischen den Konfliktparteien anliefen. Das am 10. Novem­ber 2020 in Moskau unterzeichnete Waffenstillstandsabkommen em­ pfanden viele Armenier als eine Kapitulation von Premierminister Nikol Paschinjan (→ Meister 2020). Spontane Proteste in der Hauptstadt Jeriwan und der Sturm auf das Parlament konnten zunächst zwar eingehegt werden; die langfristigen innenpolitischen Folgen der Niederlage sind aber nicht absehbar. Dies belegen der Konflikt zwischen Mitgliedern der Militärführung und der Regierung im Februar 2021, der für April angekündigte Rücktritt des politisch schwer angeschlagenen Premierministers und die für Juni geplanten Neuwahlen. Neben den sieben Regionen, die Armenien als Pufferzone besetzt hatte, hält Aserbai­ dschan nun erstmals auch Teile des Kernlands von Bergkarabach, maßgeblich die Stadt Schuscha. Russische Friedenstruppen mit einer Truppenstärke von rund 2.000 Mann kontrollieren den verbleibenden Teil Bergkarabachs sowie den Latschin-Korridor, was zumindest eine teilweise Rückkehr der auf dem Gebiet lebenden armenischen Bevöl­ kerung ermöglichte.

Folgen des Kriegs in Bergkarabach: Tausende Todesopfer, dauerhafte russische Militärpräsenz

Armenien und Aserbaidschan zählen zu den am stärksten militarisierten Ländern weltweit

Waffenstillstandsabkommen vom November 2020 löste Proteste in Armenien aus

friedensgutachten / 2021

Von den etwa 150.000 Menschen, die vor Ausbruch der Kampfhandlungen in der selbsterklärten Republik lebten, war zunächst fast die Hälfte geflohen. Laut dem Amt der VN für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) fielen dem Konflikt fast 150 Zivilisten zum Opfer sowie mehr als 2.300 Militärangehörige auf armenischer und mehr als 2.780 auf aserbaidschanischer Seite (→ OCHA reliefweb 2020). Berichte über Kriegsverbrechen wie die Tötung von Zivilisten oder die Zerstörung von Gräbern unter­ streichen die immensen menschlichen Kosten des Konflikts, die es in Debatten über den völkerrechtlichen Status von Territorien nicht zu vergessen gilt.

Berichte über Kriegsverbrechen

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Die Konfliktdynamik lässt sich nur verstehen, wenn die internationalen Gegebenheiten einbezogen werden. Russland galt lange als Garantiemacht Armeniens. Russische Waffenlieferungen und Militärpräsenz verhinderten eine einseitige Konflikteskalation seitens Bakus. Wie der Krieg vom Herbst 2020 demonstrierte, ging diese Unterstützung jedoch nicht so weit, militärisch auf der Seite Jerewans einzugreifen. Offiziell ist Russland als Mitglied der Minsker Gruppe im Rahmen der OSZE neutral und daran interessiert, 17

Russland gibt sich als neutraler Vermittler

Bergkarabach

Quelle → 1 /73

Aserbaidschan

Rückzug der Armenischen Streitkräfte im Rahmen des Waffenstillstandsabkommens bis zum 15. Nov. 2020 bis zum 20. Nov. 2020 bis zum 1. Dez. 2020 Von Aserbaidschan eroberte Gebiete während des Krieges Gebiete der ehemaligen Oblast Bergkarabach, kontrolliert durch Artsakh

Region Kelbadschar

Durch Artsakh beanspruchte Gebiete, kontrolliert von Aserbaidschan Latschin-Korridor

Armenien

Region Latschin

Stepanakert

Grenze der ehemaligen Oblast Bergkarabach

Die dargestellten Grenzen und Namen sowie die auf dieser Karte verwendeten Bezeichnungen bedeuten keine offzielle Billigung oder Anerkennung durch die Autoren.

2021 / Krieg in Osteuropa / bewaffnete konflikte

die Konfliktparteien zu einem Friedensprozess und einer dauerhaften Kompromiss­ lösung im Rahmen eines multilateral abgesicherten Mechanismus zu bewegen. In gemeinsamen Erklärungen mit den anderen Mitgliedern der Minsker Gruppe, Frankreich und den USA, rief Moskau im September und Oktober 2020 die Kriegsparteien mehrfach auf, die Kriegshandlungen einzustellen und an den Verhandlungstisch zurückzukehren.

1 70

Aserbaidschan hatte die militärischen Operationen in Bergkarabach von langer Hand vorbereitet: So bezog Aserbaidschan in den vergangenen Jahren moderne Waffentechnologien (u. a. Drohnen) aus der Türkei und Israel. Türkische Militärausbilder und die Na­ch­ richtendienste Bakus und Ankaras bereiteten gemeinsam die Offensive vor. Die direkte militärische Beteiligung der Türkei am Konflikt – über den Umweg der Rekrutierung syrischer Söldner – untermauert die starke Rolle Ankaras als Partner Aserbaidschans. Dass im Herbst 2020 mehrere im Rahmen der Minsker Gruppe der OSZE vereinbarte Waffenruhen scheiterten, ist symptomatisch für die Rolle, die bestehende multilaterale Formate für eine dauerhafte Konfliktlösung in Bergkarabach spielten: Die Minsker Gruppe fungiert zwar seit 1992 als offizielles, multilaterales Gesprächsforum. Auch sorgten regelmäßige Beobachtungsmissionen an der Kontaktlinie unter Leitung des OSZE-Repräsentanten Botschafter Andrzej Kasprzyk für ein Mindestmaß an Transparenz, indem sie Todesopfer, Verletzungen des Waffenstillstandsabkommens oder Grenzverschiebungen dokumentierten. Jedoch fehlte es seitens der externen Akteure USA, Frankreich und Russland an Interesse, die Initiative zur Konfliktlösung zu ergreifen und wenn nötig auch Druck auf die beiden Konfliktparteien auszuüben (→ de Waal 2010). Für Russland war eine Fortführung des Konflikts bei geringer Intensität von Nutzen. Denn aufgrund des Konflikts banden sich sowohl Armenien als auch Aserbaidschan sicherheitspolitisch an Moskau, wodurch sich Russland seinen Status als Ordnungsmacht im postsowjetischen Raum sichern konnte. Auf westlicher Seite fehlte es dagegen an Einflussmöglichkeiten. Sowohl Armenien als auch Aserbaidschan sind zwar Länder der Östlichen Partnerschaft der EU, streben jedoch keine EU-Mitgliedschaft an. Vereinzelte Projekte zur Förderung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit oder des zivilgesellschaftlichen Austauschs konnten der Eskalation zwischen den Konfliktparteien kaum etwas entgegensetzen. Gleichzeitig besteht in Armenien, Aserbaidschan und auch unter der in Bergkarabach lebenden Bevölkerung kaum der Wille zu einer Verhandlungslösung, da diese unweigerlich einen Kompromiss erfordern würde. Die stark historisch und ideologisch aufgeladene Sicht auf Bergkarabach sowie die traumatischen Gewalterfahrungen auf beiden Seiten führen zu großen innenpolitischen Widerständen für einen umfassenden Friedensprozess, ohne den eine dauer­ hafte Konfliktlösung jedoch nicht gelingen kann (→ Babayev/Schoch/Spanger 2020).

Die im Rahmen der Minsker Gruppe vereinbarten Waffenruhen scheiterten

EU hat kaum Einfluss in Armenien und Aserbaidschan

friedensgutachten / 2021

Der Krieg im Herbst 2020 demonstrierte die Bedeutungslosigkeit westlicher Staaten für die (sicherheits-)politische Entwicklung in der Region. Mit Russland, der Türkei und Aserbaidschan bestimmten drei autoritär regierte Staaten das Geschehen, während das demokratische Armenien, eine passive EU und die abwesenden USA lediglich auf Beobachterrollen reduziert wurden. Das Waffenstillstandsabkommen vom 10. November 2020 kam in Moskau und nicht in Brüssel oder Dayton zustande. Mit der unilateralen Friedensmission in Bergkarabach steigt Russland für die nächsten fünf Jahre – und möglicherweise darüber hinaus – in einem weiteren Konflikt im postsowjetischen Raum offiziell zu einer Macht auf, die die Ordnung vor Ort bestimmt. Jedoch kann in der veränderten militärischen und politischen Situation auch eine Chance liegen, neue Bewegung in den Konflikt um Bergkarabach zu bringen. Für Moskau bedeutet die umfassende Friedensmission eine ökonomische Belastung und eine politische Verantwortung, die es nicht unbe­ dingt alleine tragen möchte. Hier könnten sich Möglichkeiten der Kooperation ergeben, die die neue US-Regierung, die EU oder auch die Bundesregierung aktiv suchen sollten. In der OSZE sind entsprechende multilaterale Formate und Instrumente vorhanden, sie müssen jedoch unter der Führung einzelner Staaten mit hinreichendem politischem Gewicht ausgefüllt werden.

schlussfolgerungen In der Hoffnung, den Konflikt „einfrieren“ zu können, arrangieren sich parent states, Patron­ staaten und die internationale Gemeinschaft mit dem Status quo von De-Facto-Regimen. Jenseits der Bewahrung des Status quo investiert die internationale Gemeinschaft kaum in die Konfliktregelung – solange Geflüchtete nicht Europa erreichen, die Kriege auf Sparflamme kochen und sich die Konfliktparteien nicht nur an den schwelenden Konflikt gewöhnt haben, sondern von ihm innenpolitisch profitieren. Die Desillusionierung über die EU-Politik führte insbesondere im Südkaukasus und in Moldawien zum Einflussge­ winn Russlands und der Türkei. Diplomatische Bemühungen kreisen um den Status, den Abzug von Truppen und die Rück­ kehr von Geflüchteten. Dabei ist keine Seite zu Kompromissen bereit, die von der eigenen Wählerklientel als Verrat angesehen werden könnten. Für Russland, das den Patron der meisten De-Facto-Regime im postsowjetischen Raum darstellt, steht der politischen Ein­ flussnahme die zunehmende wirtschaftliche Belastung gegenüber. Um aus der politischen Stagnation der De-Facto-Regime herauszukommen, bedarf es daher internationaler Akteure mit Führungsfähigkeit, die auf die Konfliktparteien Einfluss ausüben. Sie dürfen das Risiko politischer Rückschläge nicht scheuen und sollten zugleich attraktive Angebote unterbreiten können. So kann es gelingen, Waffenstillstände oder Friedensabkommen verbindlich zu gestalten und, wenn nötig, Verstöße zu sanktionieren. Tatsächlich beschränken sich OSZE-Missionen im postsowjetischen Raum auf Beobach­ tung und humanitäre Erleichterungen.

Russland als Ordnungsmacht im Konflikt um Bergkarabach

1 71

2021 / Krieg in Osteuropa / bewaffnete konflikte

Damit Regionalorganisationen wie die EU oder die OSZE Konflikte regeln können, braucht es die politische Führung einzelner Staaten. Als europäisches „Schwergewicht“ eignet sich Deutschland für diese Rolle, wenn es diese in geteilter Verantwortung mit anderen interessierten Mitgliedsstaaten wahrnimmt. Nach den Bundestagswahlen 2021 sollte die neu gewählte Regierung etwa zusammen mit Frankreich initiativ werden und die beteilig­ ten Parteien – insbesondere Russland – davon überzeugen, in Verhandlungen zu treten.

1 72

Die EU sollte pragmatische Lösungen für die Verbesserung der Lebenssituation in De-FactoStaaten und beim grenzüberschreitenden Austausch anstreben, aber die Anerkennung der De-Facto-Regime konsequent verweigern. Sie sollte Anreize setzen, um die Kompro­ missbereitschaft zu erhöhen, innenpolitische Widerstände zu überwinden und nationalistischer Mobilisierung entgegenzuwirken. Dazu gehören der Wiederaufbau, grenz­ überschreitende Infrastrukturprojekte, horizontale Austauschprogramme, die Anerkennung von Abschlüssen, Visaerleichterungen und vertrauensbildenden Maßnahmen an der Demarkationslinie.

Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Andreas Heinemann-Grüder

Prof. Dr. Conrad Schetter (Koordination)

BICC – Bonn International Center for Conversion

BICC – Bonn International Center for Conversion

Mikhail Polianskii

Lars Wirkus

HSFK – Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung

BICC – Bonn International Center for Conversion

Vera Rogova HSFK – Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung

Quellenverzeichnis ACLED 2021: The Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED), in: https://acleddata.com/data-export-tool/; 30.03.2021.

de Waal, Thomas 2010: Remaking the Nagorno-Karabakh Peace Process, in: Survival. Global Politics and Strategy, 52: 4, 159–176.

Adomeit, Hannes 2020: Russlands subversive Kriegsführung in der Ukraine, in: SIRIUS–Zeitschrift für Strategische Analysen, 4:2, 195–206.

de Waal, Thomas 2018: Uncertain Ground. Engaging with Europe’s De Facto States and Breakaway Territories, Carnegie Europe, 03.12.2018.

Babayev, Azer/Schoch, Bruno/Spanger, Hans-Joachim 2020: The NagornoKarabakh Deadlock. Insights from Successful Conflict Settlements, Wiesbaden.

Fischer, Sabine 2019: Der Donbas-Konflikt. Widerstreitende Narrative und Interessen, schwieriger Friedensprozess, in: SWP-Studie 2019/S 03, in: https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/ 2019S03_fhs.pdf; 08.04. 2021

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friedensgutachten / 2021

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Abbildungen / Grafiken / Tabellen 6 /52 Gewalt und Covid-19 Konfliktverlauf Januar – Dezember 2020 nach ACLED ACLED 2021 Layout: Vincent Glasow, Lars Wirkus. BICC, Februar 2021.

12 /60 Fußabdruck Deutschlands in Gewaltkonflikten 2018–2021 ACLED 2021, AKUF 2020, NATO 2020, Natural Earth 2020, UCDP/PRIO 2020, UN Peacekeeping 2020, UN DPPA 2020, ZIF 2021 Kartenlayout: Vincent Glasow, Lars Wirkus. BICC, Februar 2021.

8 /54 Globales Konfliktgeschehen Eigene Darstellung/BICC UCDP 2020; IDMC 2020; UNHCR 2020

13 /61 Aktuelle Einsätze der Bundeswehr 2018–2021 Bundesministerium der Verteidigung, Einsatzzahlen 1. Januar 2021

Layout: Vincent Glasow, Lars Wirkus. BICC, Februar 2021.

14 /63 De-Facto-Regime Eigene Erhebung und eigene Dartstellung/BICC Layout: Vincent Glasow, Lars Wirkus. BICC, März 2021

9 /56 Gewaltkonflikte und multilaterale Militär- und Beobachtermissionen ACLED 2021, AKUF 2020, NATO 2020, Natural Earth 2020, UCDP/PRIO 2020, UN Peacekeeping 2020, UN DPA 2020, ZIF 2021 Layout: Vincent Glasow, Lars Wirkus. BICC, Februar 2021. 10 /57 Globale Gewaltkonflikttrends im regionalen Vergleich UCDP 2020 Layout: Vincent Glasow, Lars Wirkus. BICC, Februar 2021.

16 /67 Diplomatische Foren Eigene Darstellung 17 /69 Bergkarabach Wikimedia 2020 user: Emrecuha, BBC 2020. Layout: Vincent Glasow. BICC, März 2021.

1 73

2

75

2021 / Covid-19

und der Globale Süden / nachhaltiger frieden 2.1 ����Menschliche Sicherheit und die Resilienz staatlicher Institutionen 2.2 ����Auswirkungen von Covid-19 auf menschliche Sicherheit im Globalen Süden

2021 / Covid-19 und der Globale Süden / nachhaltiger frieden

↓ empfehlungen 2 76 1     Globale Solidarität Globale Solidarität sollte

die Reaktionen auf Covid-19 anleiten. Es bedarf nennenswerter Finanztransfers und Schuldener­ leichterungen für den Globalen Süden, die den schwächsten Teilen der Bevölkerung zugute­kom­ men. Covid-19-Impfstoffe müssen weltweit gerecht verteilt werden.

6     Aufmerksamkeit für neue Armutsgruppen

Neue Armutsgruppen in den städtischen Gebieten benötigen höhere Aufmerksamkeit. Neben Einzel­­­­­­­­­ pro­jektförderung sollte die Entwicklungszusam­­ men­arbeit den Auf- und Ausbau sozialer Sicherungssysteme unterstützen. 7     Partielle Entkopplung der Lebensmittelmärkte

2     Fokus auf gute Regierungsführung Die Qualität

staatlicher Institutionen ist gerade in Zeiten der Pandemie zentral für die Entwicklungszusammenarbeit. Besonderes Augenmerk verdient die Bereitstellung öffentlicher Güter im lokalen Raum. 3     Vertrauen zwischen Staat und Bevölkerung stärken Pandemiebekämpfung gelingt am besten,

wenn die Bevölkerung sich auf den Staat verlassen kann. Entwicklungsprogramme sollten sich besonders auf jene Gebiete konzentrieren, in denen der Staat nur eine schwache Kontrolle hat und mit tra­ ditionellen oder religiösen Autoritäten konkurriert. 4     Stärkung von Gesundheitssystemen Wichtiger

als Einzelprojekte ist der Ausbau einer flächen­ deckenden Gesundheitsversorgung im Globalen Süden. Sicherungssysteme müssen diejenigen erreichen, die am Rande der Gesellschaft stehen. 5     Präventionsmaßnahmen gegen geschlechts­ spezifische Gewalt Präventionsmaßnahmen gegen

geschlechtsspezifische Gewalt müssen in nationa­ len Aktionsplänen zur Pandemiebekäm­pfung vor­gesehen werden. Die EU sollte an bewährte Praktiken (Hilfetelefone, Frauenhäuser oder gerichtliche Schutzanordnungen) anknüpfen.

Eine partielle Entkopplung der Lebensmittelmärkte wirkt der Krisenanfälligkeit globaler Lieferketten entgegen. Die EU sollte weltweit verstärkt darauf achten, dass Grundnahrungsmittel lokal produziert werden und dies auch auf dem eigenen Binnenmarkt umsetzen. 8     Ausweitung des Lieferkettengesetzes Das künf-

tige deutsche Lieferkettengesetz muss auch für mittelständische Unternehmen gelten, die gesamte Lieferkette erfassen und zivilrechtliche Klagen ermöglichen. Diese Aspekte sind ebenfalls relevant für den entsprechenden Gesetzesvorschlag, den die EU-Kommission für Juni 2021 angekündigt hat.

friedensgutachten / 2021

nachhaltiger frieden /

Covid-19 und der Globale Süden / 2 77

Die Corona-Pandemie bedroht die menschliche Sicherheit und ist eine große Herausforderung für die Umsetzung der Sustainable Development Goals (SDGs). Es bedarf funktionsfähiger Institutionen auf allen staatlichen Ebenen in den Bereichen Gesundheit, Soziales und Wirtschaft, um dieser Gefahr zu begegnen. Die internationale Gemeinschaft sollte neben direkter Unterstützung für Länder des Globalen Südens auch die aktuellen Abhängigkeiten im globalen Wirtschaftssystem kritisch hinterfragen. Covid-19 löst keine unmittelbare Kriegsgefahr aus. Aber die Pandemie verschärft bestehende Konfliktlagen → 1 /51–52, und sie bedroht die menschliche Sicherheit, also die Unversehrtheit und Würde der Menschen. „Leave no one behind“ – die Leitlinie der SDG-Umsetzung, niemanden zurückzulassen – steht aktuell vor neuen Herausforderungen. Für eine erfolgreiche Umsetzung der SDGs sind funktionsfähige staatliche Institutionen in den Bereichen Gesundheit, Soziales und Wirtschaft auf der lokalen wie nationalen Ebene von zentraler Bedeutung. Die Pandemie und die globale wirtschaftliche Vernetzung setzen diese einem Stresstest aus. Bei den Infektions- und Todeszahlen sind Europa und Nordamerika im Vergleich der Regionen → 18 /78 sehr stark betroffen. In diesem Kapitel konzentrieren wir uns jedoch auf Länder des Globalen Südens, da diese Regionen in nennenswerten Teilen nur über schwache Gesundheitssysteme verfügen und besonders unter den sozialen und ökonomischen Auswirkungen der Pandemie leiden. Das Fehlen einer verlässlichen und vergleichbaren Datengrundlage lässt derzeit keine allgemeingültigen Vergleiche zwischen einzelnen Regionen und Ländern zu. Gerade in Ländern mit fragiler Staatlichkeit ist davon auszugehen, dass die Statistiken nur ein sehr unvollständiges Bild der tatsächlichen Lage widerspiegeln. Nach dem ersten Pandemiejahr lassen sich trotzdem erste Tendenzen ausmachen → 18 /78.

2021 / Covid-19 und der Globale Süden / nachhaltiger frieden

2 78

Innerhalb der verschiedenen Weltregionen und zwischen ihnen verläuft das Infektionsgeschehen sehr unterschiedlich. Ein Blick auf die traurigen Spitzenreiter vermittelt erste Eindrücke: In Europa und Nordamerika sind Tschechien und die USA besonders betroffen. Bemerkenswert ist, dass in Subsahara-Afrika die Infektions- und Todeszahlen im ersten Jahr der Pandemie insgesamt deutlich hinter den Befürchtungen geblieben sind. Das ist nicht allein auf Schwächen der Datenerfassung zurückzuführen. Gründe sind vermutlich auch frühere Erfahrungen mit Epidemien, die zum Teil frühe und entschlos­ sene Umsetzung von Eindämmungsmaßnahmen (wie in Ruanda) sowie die junge Al­ters­ struktur der Bevölkerungen und der relativ späte Zeitpunkt, an dem die Pandemie den Kontinent erreicht hat. In relativen wie absoluten Zahlen führte Südafrika Anfang März 2021 die Liste der afrikanischen Länder mit den meisten Covid-19-Infizierten pro 100.000 Einwohner an, gefolgt vom Nachbarstaat Namibia. In Asien/Ozeanien standen Russland und Kasachstan an der Spitze. Im April 2021 gab es eine dramatische Zuspitzung der Situation in Indien. In Lateinamerika, das vor allem in den ersten Wellen der Pandemie stark betroffen war, stachen Panama und Brasilien besonders negativ in der Statistik hervor. Covid-19 bedroht nicht allein die Gesundheit. In Ländern mit schlecht funktionie­ren­ den staatlichen Institutionen gefährden die indirekten Folgen der Pandemie auch die menschliche Sicherheit. Eine Studie der Münchner Sicherheitskonferenz bezeichnet die gegenwärtige Situation folgerichtig als „Polypandemie“, denn die durch Corona hervorgerufene Gesundheitskrise droht viele Entwicklungsfortschritte der vergangenen Jahre zunichte zu machen und bereits fragile Staaten weiter zu destabilisieren. (→ Eisentraut et al. 2020).

18

Besonders stark von Covid-19 betroffene Länder nach Regionen

Quelle → 2 /93

Länder mit mehr als 1 Mio. Einwohner Region

Land

Europa/ Nordamerika

Tschechien

Sub-Sahara Afrika

MENA

Asien/ Ozeanien

Lateinamerika und Karibik

pro 100.000 Einwohner Covid-19-Fälle Todesfälle

Total Todesfälle

11.579,54

191,14

20.469

USA

8.533,04

153,65

508.584

Südafrika

2.551,72

84,29

49.993

Namibia

1.528,86

16,69

424

Israel

8.835,86

65,50

5.669

Bahrain

7.193,04

26,39

449

Russland

2.917,51

59,24

86.455

Kasachstan

1.399,21

18,05

3.389

Panama

7.890,23

135,14

5.831

Brasilien

4.947,90

119,60

254.221

Stand: 01.03.2021 16.03 Uhr

friedensgutachten / 2021

2.1 �� Menschliche Sicherheit und die Resilienz staatlicher Institutionen

D

ie multidimensionalen Bedrohungen für den schwächsten Teil der Bevölkerung werden durch das Konzept der menschlichen Sicherheit, das den Schutz von vulnerablen Menschen und Gruppen in jeder Lebenslage fordert, gut erfasst (→ Commission on Human Security 2003). Im Kern gilt es, der Furcht vor politischer Repression und Gewalt („freedom from fear“) ebenso vorzubeugen wie wirtschaftlicher und sozialer Not („freedom from want“). Hierfür bedarf es rechtsstaatlicher Kontrolle und ziviler Mechanismen der Konfliktbeilegung sowie staatlicher Institutionen, die funktions- und anpassungsfähig sind (→ SDG 16: Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen). TRENDS UND FACETTEN MENSCHLICHER SICHERHEIT

Wie war es um die Entwicklung menschlicher Sicherheit kurz vor der Pandemie bestellt? „Freedom from want“ wird recht gut durch Fort- und Rückschritte bei ausgewählten SDGs erfasst. Dabei ist die Bilanz bei Gesundheit (SDG 3), Armut (SDG 1), Nahrungsmittelsicherheit (SDG 2) und menschenwürdigen Arbeitsbedingungen (SDG 8) sehr durchwachsen, wie weiter unten näher ausgeführt wird. Der Global Peace Index (GPI) erfasst demgegenüber „freedom from fear“. Ihm zufolge kam es 2019 zur neunten Verschlechterung der entsprechenden Werte innerhalb von zwölf Jahren (→ Institute for Economics and Peace 2020: 6–7). Gegenüber 2008 ist das Friedensniveau um 2,5 % gesunken. Das liegt zum einen am nach wie vor hohen Niveau von Gewaltkonflikten → 1 /54. Doch auch die Sicherheit des Einzelnen hat sich verschlechtert, was sich unter anderem daran zeigt, dass schwere Menschenrechtsverletzungen und Inhaftierungen zugenommen haben. Auch die Entwicklungen von Demokratiequalität, staatlicher Re­ pression und die Einschränkung zivilgesellschaftlicher Freiräume weisen für die letzten Jahre in eine negative Richtung → 5 /143–144. Positive Entwicklungen dokumentiert der GPI 2020 unter anderem für Mordraten und terroristische Attentate → 19 /80. Allerdings erfassen die entsprechenden Statisti­ ken nicht die Verbrechen, die im Verborgenen stattfinden. So hat geschlechtsbezogene Gewalt insbesondere im privaten Bereich in der Pandemie zugenommen, da Frauen – gerade auch gegenüber gewaltbereiten Partnern – an Schutz und Ausweichmöglichkeiten verloren haben → 20 /81.

Die Corona-Krise droht Entwicklungsfortschritte der letzten Jahre zu vernichten

2 79

2021 / Covid-19 und der Globale Süden / nachhaltiger frieden

2 80

19

Entwicklung des Friedensniveaus in ausgewählten Dimensionen (Veränderungen 2019 gegenüber dem Vorjahr)

Quelle → 2 /93

in %

Durchschnittliche Abweichung Verschlechterung → Geflüchtete und Binnenvertriebene Interne Gewaltkonflikte Index zu politischem Terror Intensität interner Gewaltkonfikte Externe Gewaltkonflikte Anteil an Polizeikräften Militärausgaben (% BIP) Inhaftierungsrate Gewaltsame Demonstrationen Gewaltverbrechen Politische Instabilität Relative Personalstärke der Streitkräfte keine Veränderung Nukleare und schwere Waffen Beziehungen zu Nachbarländern Wahrnehmungen von Kriminalität ← Verbesserung Zugang zu leichten Waffen Tode durch externe Gewaltkonflikte Mordrate Auswirkungen von Terrorismus Tode durch interne Gewaltkonflikte Waffenexporte Finanzierung von VN Friedenssicherung Waffenimporte -3 -2 -1 0 1 2 3 4

friedensgutachten / 2021

20

Geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen in Pandemiezeiten

Bereits vor Eintritt der Pandemie erlebte eine von drei Frauen weltweit körperliche oder sexuelle Gewalt – oft mit tödlichen Folgen. Mehr als die Hälfte aller Morde an Frauen werden von einem Familienmitglied oder einem männlichen (Ex-)Partner in der privaten Sphäre began­ gen (Femizide). Infolge der Pandemiebekämpfung haben die teils strikten Lockdowns und Ausgangssperren dazu geführt, dass häusliche Gewalt weltweit drastisch ange­ stiegen ist. Die Bedrohung finanzieller Existenzen und ein daraus resultierendes gesteigertes Frustrations- und Aggressionspotenzial sind erweiterte Risikofaktoren. In Simbabwe haben 2020 beispielsweise 55 % mehr Frauen den Notruf bedient als im Vorjahr, während der Anstieg in Kolumbien sogar bei 153 % lag (→ UNHCR 2020).

Die Vereinten Nationen (VN) sprechen daher von einer Schattenpandemie, die die Agenda 2030 und das in SDG 5.2 festgelegte Ziel, Gewalt gegen Frauen zu beseitigen, in weite Ferne rücken lässt. Aktuelle Studien zeigen, dass 41 Staaten keine Gender-Perspektive in ihre nationalen Aktionspläne zur Bekämpfung der Pandemie integriert haben (→ UNDP 2020: 5). Dort, wo geschlechtsspezifi­ sche Maßnahmen existieren, sind diese meist ein­seitig und unterfinanziert. In einigen Ländern, wie zuletzt Mexi­­ko, wurden außerdem Gender-Budgets gekürzt und essen­zielle öffentliche Dienstleistungen (wie Hilfetele­­­fo­­ne, Frauenhäuser oder gerichtliche Schutzanordnun­ gen) eingeschränkt, um allgemeine Covid-19-bedingte Notstände zu priorisieren.

RESILIENZ STAATLICHER INSTITUTIONEN IM GLOBALEN SÜDEN

Für „freedom from fear“ spielen rechtsstaatlich verfasste Institutionen und der Regime­ typ eine wesentliche Rolle → 5. Hinsichtlich von Not und Mangel („freedom from want“) ist die Qualität staatlicher Institutionen zentral, um Informationen zu teilen, Dienstleistungen bereitzustellen sowie Hilfsprogramme zu gestalten und zu implementieren. Diese Faktoren sind zugleich Eckpfeiler einer erfolgreichen kurz- und langfristigen Pandemiebekämpfung, die direkte und indirekte Folgewirkungen im Blick hat. Für alle Staaten, ob demokratische oder autokratische, gilt gleichermaßen: Schwache staatliche Institutionen erschweren neben schlechten Politiken die Pandemiebekämpfung. Besonders vorteilhaft sind funktionierende Institutionen mit demokratischer Kontrolle. Aber auch Autokratien mit hoher Governance-Qualität können Erfolge bei der Pandemiebekämpfung vorweisen. Es rächt sich insgesamt, dass in vielen Ländern die Leistungsfähigkeit der lokalen staatlichen Institutionen in den vergangenen Jahrzehnten eher ausgezehrt als ausgebaut wurde und so dem neoliberalen Diktum des „schlanken Staats“ folgte. Eine weitere Ursache waren problematische politische Prioritätensetzungen. Ein zunehmender Fokus auf Militärausgaben hat in einigen Ländern die fiskalischen Spielräume für Governance-Reformen und soziale Sicherungssysteme eingeschränkt – auch in Bezug auf den Gesundheitssektor → 21 /82. So ist es nicht verwunderlich, dass es vor der Pandemie in allen Regionen laut Daten der Weltbank große Unterschiede in der Effektivität von staatlicher Governance gab → 22 /82.

Schwache staatliche Institutionen erschweren neben schlechten Politiken die Pandemiebekämpfung

2 81

2021 / Covid-19 und der Globale Süden / nachhaltiger frieden

21

2 82

Militarisierung bindet wichtige Ressourcen

Ausgaben für das Militär stehen nicht für den zivilen Be­ reich und damit auch nicht für den Gesundheitssektor zur Verfügung. Ein Abgleich des Global Health Security (GHS) Index mit dem Globalen Militarisierungsindex (GMI) des Bonn International Center for Conversion (BICC) legt nahe, dass hoher Ressourcenaufwand für das Militär in manchen Fällen zulasten der Gesundheitssicherheit gehen kann – also der Kapazitäten eines Landes, mit denen die Bevölkerung vor Gesundheitsgefahren, wie zum Beispiel Pandemien, geschützt werden könnte (→ Mutschler/Bales 2020)1. Die Gruppe der am wenig­ sten militarisierten Länder schneidet mit einem GHS Durchschnittswert von 38,2 von 100 Punkten schlechter ab als die am höchsten militarisierten Länder (44,3 Punkte im GHS). Bei ersteren handelt es sich überwie­ gend um arme und sehr arme Staaten, die wenig Geld für das Militär ausgeben, aber dennoch nicht genügend

22

Mittel in ihren Gesundheitssektor investieren können. Es sind die Länder mit mittlerem Militarisierungsgrad, die mit 48,4 Punkten im GHS am besten abschneiden. In Ländern wie Algerien, dem Irak, oder Botswana, die sehr hoch militarisiert, aber hinsichtlich der Gesund­ heitssicherheit schlecht vorbereitet sind, könnten die hohen Investitionen ins Militär zulasten der Gesund­ heitssicherheit gehen. Einige Länder haben das Militär zur Pandemie-Bekäm­pfung eingesetzt. Wenig proble­ matisch ist dabei etwa logistische Hilfe für Gesundheits­ ämter, wie sie auch in Deutschland zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie geleistet wurde. Allerdings lassen sich mit derartigen Maß­nahmen fehlende Investitionen im Gesundheitssektor nicht kompensieren. Zudem wird es politisch und rechtsstaatlich problematisch, wenn Staaten das Militär zur Überwachung der Bevölkerung bei einem Lockdown einsetzen.

Große Unterschiede bei der Governance-Qualität weltweit (2019)

Quelle → 2 /93

2,50 – 1,50 = sehr hohe Governance-Qualität 1,50 – 0,51 = hohe Governance-Qualität 0,50 – -0,50 = mittlere Governance-Qualität -0,51 – -1,50 = niedrige Governance-Qualität -1,51 – -2,50 = sehr niedrige Governance-Qualität keine Daten

Die dargestellten Grenzen bedeuten keine offizielle Billigung oder Anerkennung durch die Autoren.

friedensgutachten / 2021

Informelle lokale Institutionen, wie religiöse und indigene Gemeinschaften, haben in den vergangenen Jahren in vielen Ländern des Globalen Südens wichtige Aufgaben vom Staat übernommen, jedoch wird der Staat als Akteur in der Pandemie vor Ort gebraucht. In Krisenzeiten kann eine Zersplitterung der Zuständigkeiten die Schnelligkeit und Qualität des Informationsflusses beeinträchtigen. Es bestehen beim Zugang zu staatlichen Dienstleistungen in vielen Ländern beachtliche Unterschiede, die auch die Pandemiebekämpfung erschweren. So sind ländliche und schwer erreichbare Regionen seit Jahren gegenüber urbanen Regionen beim Zugang zu staatlichen Basisdienstleistungen (beispielsweise sauberes Wasser, Energie, Sicherheit) benachteiligt (→ Coppedge et al. 2020). Besonders besorgniserregend ist die Lage in vielen Ländern Subsahara-Afrikas. Aber auch der Zugang zum Gesundheitssystem steht nicht allen Gruppen gleichermaßen offen. Beispielhaft hierfür stehen indigene Volksgruppen in Bolivien, Peru, Bangladesch oder Tansania, die oft keinen Zugang zu Informationen haben und staatliche Gesundheitsinstitutionen nur schwer erreichen (→ ILO 2020). Ein weiteres wichtiges Hindernis für eine erfolgreiche Pandemiebekämpfung ist das Misstrauen, das die Bevölkerung dem Staat entgegenbringt. Eine mögliche Folge sind nur schleppende oder gar ausbleibende Informationen über das Infektionsgeschehen vor Ort, was die Bekämpfung der Pandemie erschwert. Es gibt jedoch Möglichkeiten für den Staat, das Vertrauen (teilweise) zurückzugewinnen. Neben wirtschaftlichen Maßnahmen kann dies auch durch Projekte erreicht werden, in denen staatliche Stellen mit lokalen Vertretern in direkten und längerfristigen Austausch treten. Eine Studie in umkämpften Gebieten auf den Philippinen in den ersten Monaten der Corona-Pandemie kam zu folgendem Ergebnis: Die Wahrscheinlichkeit, dass die lokalen Eliten Informationen über das Infektionsgeschehen zeitnah mit den regionalen staatlichen Behörden teilen, erhöht sich bei Teilnahme an einem gemeinsamen vertrauensbildenden Projekt um 20 % (→ Haim et al. 2021). Diese Projekte bestanden aus einer Serie von Treffen zwischen lokalen Autoritäten und der staatlichen Seite, wobei die Umsetzung öffentlicher Programme (zum Beispiel Berufstraining) gemeinsam besprochen wurde. Es bestand auch die Möglichkeit für die lokalen Eliten, Probleme in anderen Bereichen (wie Gesundheit, Bildung, öffentliche Sicherheit, Elektrizität) anzusprechen.

2 83

Das Vertrauen der Bevölkerung in staatliche Stellen kann rückgewonnen werden

2021 / Covid-19 und der Globale Süden / nachhaltiger frieden

2.2 �� Auswirkungen von Covid-19 auf menschliche Sicherheit im Globalen Süden

D 2 84

ie menschliche Sicherheit und die Umsetzung der SDGs in den Bereichen Gesundheit, Soziales und Wirtschaft sind durch nur bedingt funktionsfähige Institutionen auf allen staatlichen Ebenen in der Pandemie bedroht. In vielen Fällen müssen Gesundheitsdienstleistungen privat finanziert werden und sind daher für marginalisierte Gruppen kaum zugänglich. Steigende Armutszahlen, aber auch die Zunahme von Hunger und Unterernährung wirken sich zusätzlich negativ auf den Gesundheitszustand der Menschen aus. Hinzu kommt, dass die Menschen am Anfang der globalen Wertschö­pfungs­ ketten besonders gefährdet sind, sozial und ökonomisch weiter ins Abseits gedrängt zu werden. Es ist davon auszugehen, dass insbesondere im Globalen Süden deutlich mehr Menschen aufgrund indirekter Folgen von Covid-19 erkranken oder sterben werden, als allein die direkten Folgen der Krankheit nahelegen (→ Frieden/Nkengasong 2020). Im Folgenden diskutieren wir die bereits beobachtbaren und befürchteten Auswirkungen der Pandemie(-bekämpfung) im Globalen Süden und wie diesen begegnet werden kann. DIE GESUNDHEITSSYSTEME IM STRESSTEST

Das Erreichen des SDG 3, Gesundheit und Wohlergehen für alle Menschen zu gewährleisten und zu fördern, steht auch wegen der Pandemie unter starkem Druck. Gesundheitlich besonders von der Pandemie betroffen sind Bevölkerungsgruppen, die in Slums und anderen informellen Siedlungen im urbanen Raum, aber auch in Flüchtlingslagern oder als Wanderarbeiter in Massenunterkünften leben. In derartig beengten Wohnverhältnissen kann Kontaktvermeidung nicht gelingen. Verstärkt wird die hohe Infektionsgefahr durch mangelnde Hygiene und fehlende sanitäre Einrichtungen, die in der Regel mit fehlendem Zugang zu Wasser und Abwasserentsorgung einhergehen. Laut VN lebten 2019 mehr als eine Mrd. Menschen in slum-ähnlichen Behausungen, mehr als drei Mrd. Menschen fehlte die grundlegende Ausstattung zum Händewaschen, in den am wenigsten entwickelten Ländern sind es 75 % der Bevölkerung (→ UNICEF 2020). Rasches und konsequentes Handeln von Regierungen sowie die transparente Kommunikation der Maßnahmen hatten geringe Infektionszahlen zur Folge. Vietnam wird weltweit als Beispiel für frühzeitiges und umfassendes Handeln gelobt. In der ersten Welle der Pandemie haben Beispiele wie der indische Bundesstaat Kerala gezeigt, dass Abstand­ halten, Maskentragen und andere Vorsichtsmaßnahmen neben umfangreichem Testen, Nachverfolgen und der Isolation von Infizierten einen harten Lockdown ersetzen können. Unter den afrikanischen Staaten sticht Ruanda durch eine Gesundheitsversorgung, die zugänglich und erschwinglich ist, hervor (→ Binagwaho/Mathewos 2020).

friedensgutachten / 2021

In Staaten des Globalen Südens, die lediglich über schwache Gesundheitssysteme verfügen, kann bereits ein leichter Anstieg an Infektionszahlen zu einer Überlastung der Gesundheitssysteme führen. Afrika ist davon besonders stark betroffen, wie folgende Zahlen verdeutlichen: In Afrika kommen durchschnittlich drei Ärzte und zehn Pflegekräfte auf 10.000 Einwohner. Im Vergleich dazu sind es im weltweiten Durchschnitt 15 Ärzte und 27 Pflegekräfte pro 10.000 Einwohner, in Europa gar 34 Ärzte und 81 Krankenpfleger und Hebammen (→ WHS 2020: 64). Auch die durchschnittlich nur ca. fünf Krankenhausbetten auf Intensivstationen pro eine Mio. Einwohner, wie es in 43 von 55 afrikanischen Staaten für April 2020 gemeldet wurde (→ WHO 2020), verdeutlichen die große Herausforderung für die Gesundheitssysteme in Afrika. Zwar setzten zahl­ reiche afrikanische Länder im Frühjahr 2020 sehr zügig und entschlossen Maßnahmen zum Testen, Nachverfolgen und der Isolierung Erkrankter um. Doch muss davon ausgegangen werden, dass die Dunkelziffer an Infektionen deutlich höher ist. Das liegt an mangelnden Testkapazitäten, asymptomatischen Krankheitsverläufen gerade in der jüngeren Bevölkerung und an bewusst nicht gemeldeten Krankheitsverläufen. In Einzelfällen mangelt es auch an politischem Willen, wie beispielsweise in Tansania.

Schwache Gesund­ heitssysteme im Globalen Süden erschweren die Pan­ demiebekämpfung

Wenn staatliche und externe Gesundheitsgelder in die Bekämpfung der Covid-19-Pan­ demie umgeleitet werden, verzögert und unterbricht dies die Basisversorgung in den Gesundheitssystemen. Fortschritte, die in den letzten Jahren mit Blick auf Mütter- und Kindersterblichkeit verzeichnet werden konnten, sind seit dem Pandemieausbruch rückläufig. 29 Länder stellten in den ersten Monaten bis Juli 2020 ihre Masern-Impfprogramme ein; eine Krankheit, die 2018 noch zu 140.000 Todesfällen geführt hatte und für eines von vier mangelernährten Kindern tödlich verläuft. Massiv eingeschränkt wurden auch die Diagnose und Behandlung von Tuberkulose, wovon 2019 geschätzt zehn Mio. Menschen betroffen waren und 1,5 Mio. Menschen starben. Testverfahren und die Versorgung mit Medikamenten bezüglich HIV/AIDS blieben für viele Menschen unerreichbar und auch das Ziel der globalen Ausrottung von Polio ist in weite Ferne gerückt. Diese bereits kurzfristig ablesbaren, dramatischen Effekte auf Verläufe von übertrag­baren Krankheiten in Ländern des Globalen Südens werden verstärkt durch weitere, indirekte Folgen der Pandemie, wie Mangelernährung, psychische Belastungen und zunehmende häusliche Gewalt → 20 /81.

Die Basisversorgung der Gesundheits­­sys­teme darf nicht vernachlässigt werden

All diese Punkte zeigen: Investitionen in eine flächendeckende allgemeine Gesundheitsversorgung und in resiliente, also widerstandsfähige Gesundheitssysteme sind zwingend notwendig. Externe Corona-Sofortprogramme, wie das des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung vom April 2020, sind notwendige erste Schritte. Darüber hinaus wurden bestehende Programme in Partnerländern, etwa zur Gesundheitsversorgung und Sicherung von Ernährung und Arbeitsplätzen, aufgestockt, aber auch Soforthilfen zur Finanzierung nationaler Bekämpfungsprogramme geleistet. Die EU-Kommission engagiert sich dabei verstärkt global, etwa was die Frage der Entwicklung von und des Zugangs zu Impfstoffen gegen Covid-19 anbelangt. Der Zugang der Länder des Globalen Südens zu Impfstoffen entwickelt sich dabei zum

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2021 / Covid-19 und der Globale Süden / nachhaltiger frieden

Lackmus-Test für die Glaubwürdigkeit, gibt es doch unter den EU-Mitgliedsstaaten Tendenzen zum „Impfnationalismus“. Der Verbreitung hoch ansteckender Virusmutationen kann jedoch nur durch globale Bemühungen begegnet werden. AN DER BEKÄMPFUNG VON ARMUT UND UNGLEICHHEIT FESTHALTEN

2 86

Die relativen, zum Teil durchaus sehr umstrittenen Erfolge der vergangenen Jahre bei der Armutsbekämpfung (SDG 1) drohen, sich durch die Pandemie umzukehren. Dieser Negativtrend geht einher mit wachsender sozialer Ungleichheit. Oxfam-Daten zeigen, dass die Ungleichheit weltweit bereits in den Jahren vor der Pandemie gestiegen ist. Beispielsweise verfügen die reichsten 1 % der Weltbevölkerung mittlerweile über so viel Kapital, wie die restlichen 99 % insgesamt (→ Oxfam 2018). Weil Sozialversicherungen im Gesundheitsbereich und Arbeitsmarktinstrumente wie das Kurzarbeitergeld fehlen, geraten prekär Beschäftigte in der Pandemie in eine aussichtslose Situation. Dies betrifft vor allem, aber nicht allein, informell Beschäftigte. Unter den Pandemiefolgen leidet insbesondere die schon bisher arme städtische Bevölkerung, die ohne die übliche Selbstversorgung der ländlichen Haushalte auskommen muss. Diese Gruppen müssen alles Notwendige für ihren Lebensunterhalt auf dem Markt kaufen, obwohl sie ihre Einkommensquellen durch die Pandemie größtenteils eingebüßt haben. Eine breit gestreute Gruppe von Haushalten in der Stadt und auf dem Land ist zudem durch deutlich verminderte Auslandsüberweisungen von Arbeitsmi­gran­ten (remittances) besonders stark betroffen. Oxfam nennt Rückgänge von 20 bis 23 % bei den Auslandsüberweisungen für ausgewählte Länder Afrikas und Asiens (→ Oxfam 2020: 25, 42). In Tadschi­kistan, zu dessen Bruttonationaleinkommen diese Überweisungen zu einem Drittel beitragen, dürfte der Rückgang bis Ende 2020 sogar deutlich mehr als 30 % betragen haben (→ World Bank 2020). Damit könnte eine Instabilität einhergehen, die das ohnehin große Konfliktpotenzial in dem Land weiter erhöht. Die Weltbank prognostizierte im Oktober 2020, dass durch die Covid-19-Pandemie im Jahr 2021 rund 150 Mio. Personen zusätzlich in extreme Armut (weniger als 1,90 US-$ Einkommen pro Kopf und Tag) fallen würden. Internationale Geber reagierten bereits mit beachtlichem Mitteleinsatz: Die Weltbank kündigte im Mai 2020 an, innerhalb von 15 Monaten 160 Mrd. US-$ zur Verfügung stellen zu wollen. Die Mittel sollten an rund 100 Staaten mit 70 % der Weltbevölkerung gehen, allein 39 Länder davon in SubsaharaAfrika. Die EU hat bereits im April 2020 15,6 Mrd. € für besonders vulnerable und von Covid-19 betroffene Partnerländer verfügbar gemacht, als eine Sofortmaßnahme zum Beispiel 100 Mio. € für medizinische Unterstützung über die WHO und VN-Organi­sa­ tionen (EU 2020).

Die arme städtische Bevölkerung, ohne die Möglichkeit zur Selbstversorgung, leidet besonders unter der Pandemie

friedensgutachten / 2021

Wichtig in der Zeit nach der akuten Pandemiebekämpfung wird sein, schnell nachhaltige soziale Sicherungssysteme unter Einbeziehung des informellen Sektors aufzubauen, um von der Not- und Übergangshilfe wegzukommen. Wie die Internationale Arbeits­ organisation (ILO) in ihrem Social Protection Report bestätigt, ist dies finanzierbar – zunächst mit externer Unterstützung für die ärmsten Länder, später über Beiträge und gerechtere Steuern.

2

ERNÄHRUNGSSICHERHEIT IN PANDEMIEZEITEN

87

Eng mit Armut verbunden ist die Ernährungsunsicherheit, also SDG 2, bei dessen Umsetzung es in den zurückliegenden Jahren nur wenige Fortschritte gab. Bereits vor Auftreten der Corona-Pandemie galten fast 690 Mio. Menschen, das sind 8,9 % der Weltbevölkerung, als unterernährt (→ FAO 2020: viii). Sollte dieser Trend nicht umgekehrt werden, wird die Zahl der unterernährten Menschen laut entsprechenden Prognosen bis zum Jahr 2030 840 Mio. übersteigen. Das übergeordnete SDG-Ziel „zero hunger“ scheint daher in weiter Ferne. Die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung im Jahr 2020 haben die gefährliche Ab­ hängigkeit einzelner Länder vom globalen Nahrungsmittelmarkt offengelegt. Die Maßnahmen zur Viruseindämmung führten in vielen Ländern zu verringertem Zugang zu Nahrungsmitteln. Ausschlaggebend hierfür ist das System eines globalisierten und standardisierten Nahrungsmittelmarktes. So sind 80 % der Weltbevölkerung von Nahrungsimporten abhängig – und damit hochgradig krisenanfällig (→ Economist Editorial Board 2020). 2020 wurden aufgrund von Lockdowns, Grenzschließungen und insbesondere der ökonomischen Rezession schätzungsweise 30 % weniger für diese Importe ausgegeben als 2019, was insbesondere den Bevölkerungen armer Länder den Zugang zu Nahrungsmitteln erschwert. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass im Vergleich zum Vorjahr laut der VN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) bis zu 130 Mio. Menschen mehr an akutem Hunger litten. Zu diesem Anstieg trug unter anderem eine Heuschreckenplage in Ostafrika bei; der entscheidende Faktor war allerdings die Pandemiebekämpfung. Global wird genügend Nahrung hergestellt, der Zugang zu Nahrung ist aber nicht für alle im gleichen Maße gewährleistet. Dieses Problem hat sich aufgrund der verschiedenen Lockdowns und Grenzschließungen 2020 erheblich verschärft. In vielen Ländern des Globalen Südens hatte die globalisierte landwirtschaftliche Marktstruktur bei gleichzeitigem Mangel an transnationaler landwirtschaftlicher Planung schwerwiegende Auswirkungen. Während der ersten Wochen der Lockdowns mussten, insbesondere in Südasien, hunderttausende Arme aus den Städten fliehen und tagelang in ihre Heimatdörfer laufen, um nicht zu verhungern. In den Städten gab es kein Angebot mehr für sie, da informelle Märkte aufgrund von Maßnahmen der Kontaktvermeidung (social distancing) schließen mussten. Supermärkte sind für diese Menschen entweder zu teuer oder konnten mit ihrem Angebot den Bedarf nicht decken.

Die internationale Vernetzung des Nahrungsmittelmarktes hat die Auswirkungen der Pandemie für einige Länder negativ verstärkt

2021 / Covid-19 und der Globale Süden / nachhaltiger frieden

2

Die hochgradig vernetzte Nahrungsmittelindustrie basiert auf enorm fragilen Lieferketten, wie der teilweise Zusammenbruch des internationalen Nahrungsmittelmarktes in der Pandemie gezeigt hat. Jahrzehntelang benachteiligte die Wirtschafts- und Fiskalpolitik systematisch kleine Höfe und beförderte große Agrarkonzerne – mit Just in timeLieferungen rund um die Welt. Diese Massenproduktion hat zwar die allgemeine Kalorienzufuhr erhöht, doch ging die Biodiversität zurück. Zudem wurden Lebensmittel zu Spekulationsobjekten und die Ernährungssicherheit der eigenen Bevölkerung geriet in den Hintergrund.

88

So ergeben sich enorme Risiken durch das globale System des Nahrungsmittelmarktes für Länder, deren Wirtschaftsleistung stark auf Exporten basiert und die sich auf ein Produkt spezialisiert haben. Kenia beispielsweise liefert 80 % des dort produzierten Gemüses in die EU. Durch die Grenzschließungen 2020 erlebte die kenianische Wirtschaft eine starke Rezession, die langfristig Arbeitsplätze kosten dürfte und damit den Nahrungsmittelzugang für arbeitslos Gewordene aus der Lebensmittelindustrie und ihre Angehörigen erschweren könnte (→ Clapp/Moseley 2020: 1401). Die starke Konzentration der Märkte für grundlegende Nahrungsmittel wird in Krisenzeiten zum Risiko. So importiert zum Beispiel Botswana ca. 95 % des Getreides aus drei Ländern und ist damit in Krisenzeiten den internationalen Lieferketten ausgeliefert. Sobald ein Erzeuger ausfällt oder die gesamten Lieferketten ins Stocken geraten, ist die Versorgung der Bevölkerung mit Getreide in Gefahr. Die teilweise Entkopplung der Lebensmittelmärkte, kürzere Lieferketten, ein deutlich höherer Anteil lokaler Produktion und das Prinzip der Nahrungsmittel-Souveränität sind mögliche Auswege aus dieser Abhängigkeit. Dieses wird von Kleinbauern seit Langem gefordert und wurde mittlerweile in der VN-Deklaration für die Rechte von Kleinbauern aufgenommen. GLOBALE LIEFERKETTEN UNTER DRUCK

Die Pandemie hat globale Lieferketten auch jenseits der Landwirtschaft massiv beeinträchtigt. Dies trifft marginalisierte Bevölkerungsgruppen besonders stark, wie sich am Beispiel Indiens illustrieren lässt → 23 /89. Globale Lieferketten sind heute zwar essenziell für die Versorgung mit notwendigen Gütern und für die Generierung von Einkommen, sie erhöhen aber auch globale Krisenanfälligkeit: Beeinträchtigungen der Arbeit, der Produktion, der Logistik oder des Konsums in einer Region werden dadurch schnell in anderen Teilen der Welt spürbar. So kam es bereits Anfang 2020 zu einer Import­ krise für viele Länder, die Rohstoffe und Komponenten aus China beziehen. Weltweit waren Produktionsbetriebe vom Einbruch der Nachfrage vor allem in den Konsumländern sowie von den teils kurzfristig angekündigten Lockdown-Maßnahmen betroffen.

friedensgutachten / 2021

23

Marginalisierung von Wanderarbeitern: ein Blick auf Indien

Indien ist eines der am schwersten von der Pandemie betroffenen Länder weltweit. Der erste sehr kurzfristig an­ gekündigte staatliche Lockdown im März 2020 führte zu chaotischen Migrationsbewegungen. Millionen Saisonund Wanderarbeiter versuchten, in ihre Dörfer zurück­ zukehren, und waren dabei mit Stigmatisierung, Hunger und Gewalt konfrontiert. In den Städten waren Fabrik­ arbeiter zusätzlich zu der katastrophalen sozialen und ökonomischen Situation einem verstärkten Infektionsri­ siko ausgesetzt (→ Nagaraj 2020) und wurden teilweise

gar in den Fabriken festgehalten. In diversen Bundesstaa­ ten wurden Arbeitsschutzgesetze außer Kraft gesetzt, was zu einer drastischen Verschlechterung der Arbeits­ bedingungen führte. Konflikte und Rechtsverletzungen sind in der Folge vielfältig: Massenentlassungen, unbe­ zahlte Löhne und Abfindungen, fehlende soziale Siche­ rung, mangelnder Gesundheitsschutz, Gewalt gegen Frauen, Kinderarbeit und neue Zwangsverhältnisse ge­ hören zu den dramatischen Auswirkungen der Pandemie.

In stark exportorientierten Produktionsländern brachen Grundpfeiler der nationalen Wirtschaften ein, wie etwa die Bekleidungsindustrie in Bangladesch. Besonders labil ist die Lage, wenn ein Land stark vom globalen Tourismus abhängig ist und in bestimmten Regionen kaum alternative Einkommensmöglichkeiten existieren → 24 /89.

24

Der Einbruch des globalen Tourismus

Der weltweite Tourismus ist seit Pandemiebeginn etwa um 70–75 % zurückgegangen. Hiervon sind alle Teile der touristischen Wertschöpfungskette und vermutlich über 100 Mio. Arbeitsplätze betroffen (→ UNWTO 2020). Allein für Europa schätzte die EU-Kommission bereits im Mai 2020 die Zahl der verlorenen Arbeitsplätze auf 6 Mio. Die Branche hat eine große Wirkung auf andere Sektoren, die direkt oder indirekt vom Tourismus abhän­ gig sind – etwa Luftfahrt, Kunsthandwerk und Gaststät­ tengewerbe. In vielen Ländern macht der Tourismus einen großen Teil der Gesamtwirtschaft aus und hängt neben Arbeitsplätzen und Einkommen auch eng mit der Finanzierung von Maßnahmen zum Schutz der Natur

und Biodiversität zusammen. Dies ist vor allem in kleinen Inselstaaten (Small Island Developing States, SIDS) oder in einigen afrikanischen Staaten der Fall, in denen der sogenannte Wildlife-Tourismus eine entschei­dende Ein­ nahmequelle ist. Es tut sich darüber hinaus in globaler Betrachtung eine zunehmende Ungleichheit auf, da die Länder, für die lang anhaltende und besonders starke Reisebeschränkungen gelten, vor allem Schwellen- und Entwicklungsländer mit schwachen Gesundheits­syste­ men sind, etwa SIDS, die somit massive touristi­sche Um­ satz­einbußen verzeichnen. Auch sind im Tourismus Frauen und migrantische Beschäftigte besonders stark von den Pandemiefolgen betroffen.

2 89

2021 / Covid-19 und der Globale Süden / nachhaltiger frieden

2 90

Am schwersten betroffen sind Beschäftigte am Anfang der Wertschöpfungsprozesse, die häufig ohne Kündigungsschutz und informell arbeiten. Für sie hat die Pandemie weitreichende Folgen für die menschliche Sicherheit. Auch steht damit in Frage, ob SDG 8, die Sicherstellung menschenwürdiger Arbeit und Wirtschaftswachstum, erreicht werden kann. Frauen, Tagelöhner und Wanderarbeiter tragen dabei besonders hohe Lasten und Risiken. So sind viele Frauen mit der Mehrdimensionalität der Krise konfrontiert, etwa wenn ihr Arbeitsplatz gefährdet ist, ihr Einkommen ausfällt und sie gleichzeitig für die Versorgung und Gesundheit der Kinder zuständig sind, die nicht zur Schule gehen können. Auch gender-basierte Gewalt → 20 /81, Kinderarbeit und Zwangsarbeit haben während der Pandemie zugenommen (→ Global Labor Justice 2020).

schlussfolgerungen Es sollte alles dafür getan werden, um die anfänglich isolationistischen Haltungen zur Pandemie durch globale Solidarität zu ersetzen. Andernfalls ist zu befürchten, dass menschliche Sicherheit in ihren vielfältigen Dimensionen eingeschränkt wird und vulner­ able Gruppen existenziell gefährdet werden. Außerdem wird eine effektive Pandemiebe­ kämpfung in den westlichen Industrieländern nur gelingen, wenn es auch in an­deren Welt­­regionen keine größeren Verwerfungen gibt. Die EU ist gefordert, nennenswerte Finanz­ transfers für den Globalen Süden auf den Weg zu bringen, die den vulne­rablen Teilen der Bevölkerung zugutekommen. Schuldenerleichterungen sind die Voraussetzung, dass arme Länder des Globalen Südens zusätzliche Mittel für die Bekämpfung der direkten und indirekten Pandemiefolgen mobilisieren können. Ein wichtiger Bestandteil einer erfolgreichen Pandemiebekämpfung sind funktionieren­ de staatliche Institutionen gerade auf lokaler Ebene und in entlegenen Gebieten. Kurzfris­ tig wirkende Hilfe darf nicht aus dem Blick rücken, dass ein Ausbau und eine Reform von Governance-Förderung zentral sind. Erforderlich sind dabei nicht zuletzt weiche Maß­ nahmen der Vertrauensbildung zwischen Staat und Bevölkerung, ohne die Transparenz, Informationsaustausch und Akzeptanz von Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung nicht gelingen können. Im Gesundheitsbereich geht es darum, die Grundversorgung aufrechtzuerhalten und den Zugang zu den staatlichen Gesundheitssystemen für alle Bevölkerungsgruppen auszu­ weiten. Für die notwendigen Investitionen sind die Regierungen im Globalen Süden auf internationale Unterstützung angewiesen. Es gilt daher, bestehende Initiativen, wie etwa die Zusammenarbeit der EU mit der Afrikanischen Union (AU), auszubauen. Auch bei der Versorgung mit Covid-19 Impfstoffen ist der Globale Süden auf internationale Solida­ rität angewiesen. Hier gibt es mit der COVAX-Initiative der VN (Covid-19 Vaccines Global Access) einen Ansatz für den fairen Zugang zu Impfstoffen, den es gegenüber der Tendenz zu bilateralen Verträgen reicher Staaten mit den Impfherstellern zu stärken gilt.

friedensgutachten / 2021

Ein Rückschlag in der Armutsbekämpfung lässt sich im Zeichen der Pandemie nur ab­ federn, wenn die Marginalisierten im urbanen Raum mitberücksichtigt werden und soziale Sicherungssysteme sowie arbeitsmarktpolitische Instrumente ausgebaut werden. Diese strukturellen Maßnahmen sollten in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit die ihnen gebührende Priorität erhalten. Die Pandemie hat die Gefahr internationaler Abhängigkeiten und die Krisenanfälligkeit globalisierter Lieferketten aufgezeigt. Eine partielle Entkopplung der Lebensmittelmärkte, kürzere Lieferketten, vermehrt lokale Produktion und das Prinzip der NahrungsmittelSouveränität können helfen, zukünftigen Krisen vorzubeugen. Die Industrieländer müssen auch jenseits der Landwirtschaft die Lieferketten umgestalten und regulieren. Das künf­ tige Lieferkettengesetz in Deutschland muss auch für mittelständische Unternehmen gelten, die gesamte Lieferkette erfassen und zivilrechtliche Klagen ermöglichen. Die EU-Kommis­ sion hat einen entsprechenden Gesetzesvorschlag für Juni 2021 angekündigt.

1

Der Global Health Security Index (GHS) ist vorwiegend „input-orientiert“ und misst dabei unter anderem die Ressourcen, die für Gesundheit aufgewendet werden. Er spiegelt also gut wider, welche Priorität die Kapazitätsbildung im Gesundheitssektor hat. Zugleich ist der GHS ein nur sehr begrenzt aussagekräftiger Anhaltspunkt für die allgemeine Gesundheitslage. Der GHS kann keine Aussage dazu machen, wie Länder die Covid-19-Pandemie gemeistert haben.

2 91

2021 / Covid-19 und der Globale Süden / nachhaltiger frieden

Autorinnen und Autoren

2 92

Dr. Felix Anderl

Dr. Max Mutschler

HSFK – Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung

BICC – Bonn International Center for Conversion

Marius Bales

Dr. Christian Scheper

BICC – Bonn International Center for Conversion

INEF – Institut für Entwicklung und Frieden

Prof. Dr. Frank Bliss

Elena Sondermann

Institut für Ethnologie, Universität Hamburg, und freier entwicklungspolitischer Gutachter

INEF – Institut für Entwicklung und Frieden

Laura Isabella Brunke

INEF – Institut für Entwicklung und Frieden

Associate Fellow des INEF – Institut für Entwicklung und Frieden

Prof. Dr. Tobias Debiel (Koordination) INEF – Institut für Entwicklung und Frieden

Dr. Cornelia Ulbert PD Dr. Johannes Vüllers (Koordination) INEF – Institut für Entwicklung und Frieden

friedensgutachten / 2021

Quellenverzeichnis Binagwaho, Agnes/Mathewos, Kedest 2020: Opinion: Why Universal Health Coverage is the Key to Pandemic Management, in: https://www.devex.com/ news/opinion-why-universal-health-coverage-is-the-key-to-pandemicmanagement-98345; 04.02.2021. Clapp, Jennifer/Mosely, William G. 2020: This Food Crisis is Different: COVID-19 and the Fragility of the Neoliberal Food Security Order, in: The Journal of Peasant Studies 47: 7, 1393–1417. Commission on Human Security 2003: Human Security Now: Protecting and Empowering People, New York. Coppedge, Michael/Gerring, John et al. 2020: V-Dem Codebook v10. Varieties of Democracy Project.

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Economist Editorial Board 2020: The World’s Food System Has So Far Weathered the Challenge of Covid-19. But Things Could Still Go Awry, in: https://www.economist.com/briefing/2020/05/09/the-worlds-foodsystem-has-so-far-weathered-the-challenge-of-covid-19; 20.01.2021. Eisentraut, Sophie/Miehe, Luca/Hartmann, Laura/Kabus, Juliane 2020: Polypandemie. Sonderausgabe des Munich Security Report zu Entwicklung, Fragilität und Konflikt in der Covid-19-Ära, München: Münchner Sicherheitskonferenz (MSC), in: https://doi.org/10.47342/WOJX4826; 22.03.2021. European Union 2020: EU Global Response to Coronavirus: Supporting Our Partner Countries, Brussels. FAO 2020: State of Food Security and Nutrition in the World. Transforming Food Systems for Sustainable Healthy Diets, in: http://www.fao.org/3/ ca9692en/CA9692EN.pdf; 01.02.2021. Frieden, Tom/Nkengasong, John 2020: The Double Threat of COVID-19 in Africa, in: https://www.thinkglobalhealth.org/article/double-threat-covid19-africa; 04.02.2021. Global Labor Justice 2020: Advancing Gender Justice on Asian Fast Fashion Supply Chains Post COVID-19. Learning from ILO’s Convention 190 on its First Anniversary, in: https://globallaborjustice.org/advancing-genderjustice-on-asian-fast-fashion-supply-chains-post-covid-19/; 22.03.2021. Haim, Dotan/Ravanilla, Nico/Sexton, Renard 2021: Sustained Government Engagement Improves Subsequent Pandemic Risk Reporting in Conflict Zones, in: American Political Science Review (online first).

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ILO 2020: https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/---dgreports/ ---gender/documents/publication/wcms_757475.pdf; 22.03.2021.

Abbildungen / Grafiken / Tabellen 18 /78 Besonders stark von Covid-19 betroffene Länder nach Regionen WHO Coronavirus Disease (Covid-19) Dashboard: https://covid19.who.int/, 2.3.2021. 19 /80 Entwicklung des Friedensniveaus in ausgewählten Dimensionen Institute for Economics and Peace 2020: 11, Figure 1.2

22 /82 Große Unterschiede bei der Governance-Qualität weltweit (2019) World Bank, Worldwide Governance Indicators, https://info.worldbank.org/ governance/wgi/, 2.3.2021. Layout: Vincent Glasow. BICC, März 2021.

2 93

3

95

2021 /Keine

Rüstungskooperation ohne europäische Rüstungsexportkontrolle / rüstungsdynamiken 3.1 ����Rüstungsdynamiken 3.2 ����Europäische Rüstungskooperation und Rüstungsexportkontrolle

2021 / Keine Rüstungskooperation ohne europäische Rüstungsexportkontrolle / rüstungsdynamiken

↓ empfehlungen 3 96 1     Drastische Einschränkung europäischer Rüstungsexporte Die Mitgliedstaaten der EU

sollten Rüstungsexporte an Drittstaaten auf transparent begründete Ausnahmen begrenzen.

6     Rolle von Atomwaffen in der NATO reduzieren

Die Bundesregierung sollte dafür eintreten, dass die Allianz die Rolle von Atomwaffen auf die nukleare Abschreckung beschränkt und auf den Erst­ einsatz von Kernwaffen verzichtet.

2     Strengere Regeln der EU für Rüstungsexporte

Die Bundesregierung sollte sich auf EU-Ratsebene 7     Keine Mittelstreckenwaffen in Europa Die Bundafür einsetzen, dass alle Kriterien des Gemeinsadesregierung sollte für ein Moratorium bei der men Standpunkts für Rüstungsexporte überprüfStationierung von Mittelstreckenwaffen in Europa bare Tatbestände benennen, bei denen Rüstungseintreten. exporte zu verweigern sind. 3     Mehr Europa in der Rüstungsexportkontrolle

Die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten sollten zu gemeinsamen Risikoeinschätzungen von Rüstungsexporten kommen und das Europäische Parlament in diese Bewertung einbeziehen. 4     Rechtsverbindlichkeit des Gemeinsamen Stand­ punkts durch Rüstungsexportkontrollgesetz stärken Bundesregierung und Bundestag sollten

die Regelungen des Gemeinsamen Standpunkts in Form eines Rüstungsexportkontrollgesetzes in nationales Recht überführen. 5     Initiative für Reduzierung der weltweiten Militärausgaben Die Bundesregierung sollte sich

in den Vereinten Nationen (VN) und den G20 dafür einsetzen, dass Militärausgaben umgewidmet werden, um die Pandemiefolgen zu bewältigen. In der NATO sollte sie auf eine Abkehr vom 2 %-Ziel drängen.

8     Vertrag über den Offenen Himmel am Leben erhalten Deutschland sollte alle diplomatischen

Mittel nutzen, um den USA eine Rückkehr in den Vertrag zu erleichtern und Russland vom Verbleib zu überzeugen. 9     Stärkeres Engagement für die Regulierung unbemannter und autonomer Waffen Bevor die

Bundesregierung bewaffnete Drohnen beschafft, sollte sie strenge Einsatzregeln erlassen. In den Gesprächen über autonome Waffensysteme in Genf sollte sie die sicherheitspolitischen Vorteile eines Verbots dieser Waffen herausstellen, um Gegner und Unentschlossene zu überzeugen.

friedensgutachten / 2021

rüstungsdynamiken /

Keine Rüstungskooperation ohne europäische Rüstungsexportkontrolle /

3 97

Die globale wirtschaftliche Belastung durch Militärausgaben erreicht einen Höchststand. Die Bundesregierung sollte 2021 die Gelegenheiten nutzen, um der Erosion der Rüstungskontrolle entgegenzuwirken. Die geplante europäische Rüstungskooperation setzt die Rüstungsexportkontrolle unter Druck, bietet aber auch eine Chance für dringend notwendige Reformen. Dieses Kapitel gibt zunächst einen Überblick über wichtige Entwicklungen im Feld der Rüstungs- und Rüstungskontrollpolitik, bevor es im zweiten Teil auf die europäische Rüstungskooperation und Rüstungsexportkontrolle fokussiert.

3.1 �� Rüstungsdynamiken MILITÄRAUSGABEN

D

ie weltweite wirtschaftliche Belastung durch Militärausgaben hat 2020 einen neuen Höchststand erreicht. Der Anteil der Militärausgaben am globalen Einkommen stieg auf 2,4 %, mehr als je zuvor seit den frühen 1990er Jahren. Dies hatte vor allem zwei Gründe, die beide mit der durch die Corona-Pandemie ausgelösten Krise zusammenhingen. Nach Angaben des schwedischen Friedensforschungsinstituts SIPRI erreichten die globalen Militärausgaben 2020 fast 2.000 Mrd. US-$ (1.750 Mrd. €) (→ SIPRI 2021). Der Anstieg war auch darauf zurückzuführen, dass ein Teil der finanziellen Mittel aus Konjunkturprogrammen zur Milderung der Corona-Krise in Rüstungsprojekte floss. Die Ausgaben stiegen besonders stark in Nordamerika und Ostasien, vor allem aufgrund des Anwachsens der Militärhaushalte der USA und Chinas → 25 /98. Der zweite Grund: Während die Militärausgaben um 2,6 % wuchsen, sank das globale Einkommen um 3,5 % (→ IMF 2021a). Nach Schätzung des Internationalen Währungsfonds (IWF) wurden 14.000 Mrd. US-$ für Staatshilfen ausgegeben, um die Auswir­kun­ gen der Krise zu mildern. Dadurch stieg die globale Staatsverschuldung stark an. Die Schuldenquote (Schulden im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt, BIP) stieg zwischen Oktober 2019 und Januar 2021 von 84 % auf 98 % (→ IMF 2021b).

Weltweite wirtschaft­ liche Belastung durch Militärausgaben erreicht 2020 einen neuen Höchststand

2021 / Keine Rüstungskooperation ohne europäische Rüstungsexportkontrolle / rüstungsdynamiken

Wahrscheinlich steigen die globalen Militärausgaben kurzfristig weiter an, denn die Ausgaben für Personal und laufende Beschaffungen lassen sich nur mit Zeitverzug umsteuern. Das dürfte die finanzielle Bewältigung der Krise zusätzlich belasten und Auseinandersetzungen um die richtige Verwendung öffentlicher Gelder verschärfen. Daher sollten die Militärausgaben so schnell wie möglich deutlich reduziert werden. Weltweit müssen hohe Schulden abgebaut werden. Das gilt für die Mitgliedstaaten der NATO, deren öffentliche Schuldenquote im Jahr 2020 um fast 26 % gewachsen ist, aber auch für Russland mit einem Zuwachs um 36 %.1 Besonders gravierend sind die wirtschaft­

3 98

lichen Folgen der Pandemie in vielen Staaten des Globalen Südens → 2 /84–88. Eine internationale Verpflichtung, Militärausgaben zu reduzieren, könnte dazu beitragen, die Folgen der Pandemie zu bewältigen.

25

Militärausgaben reduzieren, um Pandemiefolgen zu bewältigen

Globale Militärausgaben und ausgewählte Anteile

Quelle → 3 /115

Weltweite Militärausgaben in Mrd. €

1750 1710 1670 1630 1590

1550 2016 2017 2018 2019 2020

Den Berechnungen liegen internationale Wechselkurse zugrunde, die die nationalen Kostenstrukturen von Militärausgaben nur beschränkt abbilden.

Anteile in % (2020)

Ze nt ra W la es si ten

8,7

un d

ur op a

13,7

W es te

O Ze st n eu tr ro alpa

5,6

un d

un d un Sü d do O st ze as an ie ie n n

8,5

Sü d-

st as ie n

17,9

O

na m er ik a

3,1

La te i

m er ik a

40,3

N or da

A

fr

ik a

2,2

friedensgutachten / 2021

Im Globalen Militarisierungsindex (GMI) 2020, der sich auf Daten für das Jahr 2019 stützt, liegt Deutschland auf Rang 106 von 151 Staaten (→ Mutschler/Bales 2020)2 → 27 /100. Die Militärausgaben in Deutschland stiegen 2020 nach NATO-Angaben real um 10 % auf 51,5 Mrd. € (→ NATO 2020). Insgesamt sind sie seit 2016 um fast 30 % angewachsen. Der Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP) stieg auf 1,57 %. Damit wurde ein Wert erreicht, der über dem liegt, was die Bundesregierung der NATO 2019 erst für das Jahr 2024 signalisiert hatte. Zusätzlich zur hohen Steigerungsrate war der Rück­ gang des deutschen BIP um 5 % allerdings ein wesentlicher Grund für diesen vergleichsweise hohen Wert. Dieser Wert soll bis 2024 mit steigendem BIP wieder sinken (→ Deutscher Bundestag 2020) → 26 /99. Das gilt trotz einer gesonderten Finanzspritze in den Jahren 2021-2023 von 3,2 Mrd. € für Rüstungsprojekte aus dem Konjunkturprogramm für die Überwindung der Corona-Krise (→ Heiming 2020). In der NATO wurde vereinbart, dass der Anteil der Militärausgaben am BIP 2 % betragen soll. Doch dafür wären erhebliche zusätzliche finanzielle Mittel erforderlich. Sollte die Bundesregierung dies im Jahre 2024 erreichen wollen, wären gegenüber der aktuellen Finanzplanung zusätzliche 25 Mrd. € an Ausgaben notwendig. Angesichts der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie sollte sich die Bundesregierung in der NATO für eine Abkehr vom 2 %-Ziel einsetzen. Wenn die Corona-Krise überwunden ist, sollte eine Neubewertung erfolgen, die sich dann an den realen Erfordernissen der Streitkräfte orientiert.

26

3 99

Abkehr vom 2 %-Ziel der NATO

Tatsächliche (2020) und gemäß Bundeshaushaltsplan geplante deutsche Militärausgaben nach NATO-Kriterien

Quelle → 3 /115

Deutsche Militärausgaben nach NATO-Kriterien

14

M rd .€

M rd .€

52 ,0

Mrd. €

52

13,15

13,62

12

12,75

10

52 ,3

M rd .€

52 ,7

M rd .€

52 ,7

M rd .€

51 ,5

46 ,

%

9

M

rd .€

Anteil am Bundeshaushalt Anteil am Bruttoinlandsprodukt

13,51

13,22

Angaben für 2020 vorläufig; für 2021ff: 50 48

10,13

8

46

6

44

4

42

2

1,36

1,57

1,54

1,46

1,41

1,36

0

40 38

2019 2020 2021 2022 2023 2024

Fortschreibung der NATO-Angabe für 2020 mit Zuwachsraten für Verteidigungsausgaben, Bundeshaushalt und Bruttoinlandsprodukt aus Finanzplan des Bundes 2020–2024.

2021 / Keine Rüstungskooperation ohne europäische Rüstungsexportkontrolle / rüstungsdynamiken

RÜSTUNGSHANDEL

Der internationale Handel mit Großwaffen sank 2016 bis 2020 im Vergleich zum Zeitraum 2011–2015 um 0,5 % (→ Wezeman et al. 2021). Die fünf größten Exporteure sind die USA, Russland, Frankreich, Deutschland und China. Deutschland liegt auf Platz vier mit einem Anteil von 5,5 % am weltweiten Waffenhandel → 28 /100.

3 100

Die Bundesregierung hat 2019 Rüstungsexporte im Wert von 8,02 Mrd. € – ein neuer Rekordwert bei den Einzelausfuhrgenehmigungen – an insgesamt 126 Staaten genehmigt; 3,5 Mrd. € davon (44 %) für Drittstaaten (außerhalb der EU, NATO und gleichgestellten Ländern) (→ BMWi 2020). 2020 genehmigte die Bundesregierung Rüstungsexporte in Höhe von 5,82 Mrd. €; gut die Hälfte davon für Drittländer. Mit über 763 Mio. € liegt Ägypten auf Platz zwei der Empfängerliste. Bei den Genehmigungen für Ägypten

27

Rang Deutschlands für verschiedene Indikatoren von Militarisierung und Friedlichkeit 2020 Quelle → 3 /115

Rang unter allen in den jeweiligen Quellen erfassten Staaten. Indikator

Rang Deutschlands unter erfassten Ländern

Militärausgaben

7 von 150 Staaten

Exporte von Großwaffen

4 von 189 Staaten

Militärausgaben als Anteil am Bruttoinlandsprodukt

90 von 149 Staaten

Militärausgaben als Anteil an Staatsausgaben

121 von 150 Staaten

Global Militarisation Index (GMI)

106 von 151 Staaten

Global Peace Index (GPI), invertiert

147 von 163 Staaten

28

Anteile an globalen Exporten von Großwaffen (2016–2020)

Quelle → 3 /115

in %

USA

Russland

Frankreich

Deutschland

China

Großbritannien

Alle anderen

37

20

8,2

5,5

5,2

3,3

20,8

friedensgutachten / 2021

handelt es sich zu 99 % um maritime Rüstungsgüter (→ BMWi 2021). Darunter fällt auch das letzte von vier U-Booten, die von ThyssenKrupp in Kiel gebaut wurden. Bis 2024 soll Ägypten zudem drei Fregatten aus Deutschland erhalten. Das ist höchst problematisch, denn das al-Sisi Regime ist keineswegs „Stabilitätsgarant“, sondern trägt durch seine Beteiligung am Jemen-Krieg – einschließlich einer Seeblockade mit katastrophalen humanitären Folgen – und an der militärischen Unterstützung der Milizen von General Haftar in Libyen zur Destabilisierung der Region bei; ganz zu schweigen von den massiven Menschenrechtsverletzungen der Militärdiktatur im eigenen Land.

Rüstungsexporte an Ägypten stabilisieren nicht die Region – im Gegenteil

3 101

Deutsche Rüstungsexporte an autoritäre Regime und in Spannungsgebiete stellen leider keine Ausnahme dar. Nach Berechnungen des BICC hat die Bundesregierung 2019 Rüstungsexporte an 55 Staaten genehmigt, deren Menschenrechtssituation als sehr schlecht eingestuft wird. In 33 Empfängerländern gab es interne Gewaltkonflikte, und bei 18 Empfängerländern sind Frieden und Sicherheit in der jeweiligen Region gefährdet. Insgesamt hat die Bundesregierung 2019 Rüstungsexporte im Gesamtwert von knapp 1,2 Mrd. € an 22 Länder genehmigt, die mindestens hinsichtlich vier der acht Kriterien des Gemeinsamen Standpunkts der EU zu Rüstungsexporten problematisch sind (→ BICC 2020; GKKE 2021) → 29 /101. Positiv zu vermerken ist lediglich, dass 2020 kaum Kleinwaffenexporte an Drittstaaten genehmigt (→ BMWi 2021) und der Exportstopp nach Saudi-Arabien bis Ende 2021 verlängert wurde; auch wenn nach wie vor Rüstungsgüter aus Deutschland in Form von Re-Exporten über Länder wie Frankreich nach Saudi-Arabien gelangen (→ GKKE 2021).

29

Deutsche Rüstungsexporte

Quelle → 3 /115

in Mrd. €

Gesamtexport Exportanteil an Drittländer Exportanteil an hochproblematische Länder

8 7

8,0

6,8 6,2

6

5,8

5

4,8

4 3

3,8 61 %

3,7 54 %

3,5 44 %

2,7 40 %

2

2,9 50 %

2,6 53 % 1,5 24 %

1

1,2 15 %

0,9 19 %

0 2016

2017

2018

2019

2020

2021 / Keine Rüstungskooperation ohne europäische Rüstungsexportkontrolle / rüstungsdynamiken

RÜSTUNGSKONTROLLREGIME

3 102

Nuklearwaffen Nach vier Jahren des Stillstands und der Rückschritte in der nuklearen Rüstungskontrolle eröffnen sich 2021 wieder Chancen, Rolle und Anzahl von Atomwaffen zu reduzieren. Deutschland kann dazu beitragen, diese Gelegenheiten zu nutzen. Am 22. Januar trat der Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) in Kraft. Der Vertrag verbietet seinen Mitgliedstaaten unter anderem Besitz, Produktion und Einsatz von Atomwaffen. Derzeit gibt es 54 Mitgliedstaaten, weitere Beitritte werden für 2021 erwartet. Kernwaffenstaaten und NATO-Staaten sind dem Vertrag bisher nicht beigetreten. Die erste Vertragsstaatenkonferenz des AVV wird in Jahresfrist nach Inkrafttreten stattfinden. Durch eine Teilnahme als Nichtmitglied mit Beobachterstatus würde Deutschland das positive Signal senden, dass es zu einem konstruktiven Engagement mit den AVV-Unterstützern bereit ist.

Atomwaffenverbotsvertrag in Kraft

Ende Januar einigte sich die neu gewählte US-Regierung unter Präsident Joe Biden mit Moskau auf eine Verlängerung des New-Start-Abkommens um fünf Jahre. Damit ist der Weg frei für Folgeverhandlungen. Die Zukunft des Atomabkommens mit Iran bleibt in der Schwebe. Alle Teilnehmer sind sich darin einig, dass eine Diskussion über eine Erweiterung der Vereinbarung erst erfolgen soll, wenn die USA und Iran zur vollständigen Einhaltung zurückkehren. Die EU hat den Vorsitz der Gemeinsamen Kommission inne, in der die Teilnehmerstaaten die Umsetzung des Joint Comprehensive Plan of Action (JCPOA) koordinieren. Dort könnte sie einen Vorschlag machen, in welcher Abfolge Washington die Aufhebung der nuklear­ bezogenen Iran-Sanktionen mit einer schrittweisen Rücknahme der Verletzungen der Atomvereinbarung durch Teheran abstimmen könnte. Diese Themen werden zentral sein für den Erfolg der für August 2021 angesetzten Überprüfungskonferenz des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages (NVV). Deutschland sollte mit eigenständigen Initiativen vorangehen. Nach dem Ende des INF-Vertrages 2019 ist die Vermeidung eines neuen Rüstungswettlaufs bei Mittelstreckenwaffen ein wichtiges Ziel. Deutschland sollte in der NATO und gegenüber Russland für ein Moratorium bei der Stationierung neuer Mittelstreckenwaffen eintreten. Die Biden-Administration erwägt zudem, die Rolle von Atomwaffen auf die nukleare Abschreckung zu begrenzen. Diesen Vorstoß sollte Berlin offen und konstruktiv in der NATO unterstützen. Biowaffen Die für 2020 geplanten Experten- und Staatentreffen des Biowaffen-Übereinkommens (BWÜ) wurden pandemiebedingt auf 2021 verschoben, was die Vorbereitung der ursprünglich für 2021 geplanten 9. Überprüfungskonferenz (ÜK) ebenso erschwert wie die Differenzen der BWÜ-Mitglieder zu Verifikation und internationaler biotechnologischer Entwicklungszusammenarbeit. Die ÜK sollte hier Wege zur Verständigung suchen und auf weniger strittigen Gebieten Einigungen anstreben, z. B. zu Hilfeleistungen

Initiativen ergreifen, um die Bedeutung von Atomwaffen zu reduzieren

friedensgutachten / 2021

nach Biowaffen-Angriffen oder beim Umgang mit relevanten technologischen Entwicklungen. Das deutsche Engagement für letzteres ist zu begrüßen. Chemiewaffen Das Chemiewaffen-Übereinkommen (CWÜ) wird noch immer durch frühere Einsätze von Chemiewaffen belastet. Ein Team der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OVCW) benannte im April 2020 die syrische Luftwaffe als Urheberin dreier Einsätze. Syrien, Russland und einige andere akzeptieren nach wie vor weder die Untersuchungsergebnisse noch die Konsequenzen für Syrien. Deutschland initiierte mit 39 anderen Staaten dagegen die Anwendung von vertraglich vorgesehenen Mechanismen, um einen Vertragsbruch zu ahnden. Westliche Staaten machen zudem Russland für das Atten­tat auf Alexei Nawalny mit einem Nervenkampfstoff verantwortlich. Um das Chemie­ waffenverbot zu stärken, müssten die Polarisierung der Vertragsgemeinschaft verringert und gleichzeitig das Verbot konsequent durchgesetzt werden. Der Vertrag über den Offenen Himmel Der Vertrag über den Offenen Himmel droht zu scheitern. Am 23. November 2020 trat der bereits im Mai angekündigte Austritt der USA in Kraft. Russland hat im Gegenzug seinen Verbleib im Vertrag von juristisch verbindlichen Garantien der anderen Mitgliedstaaten abhängig gemacht. Sie sollen erklären, keine Flugdaten an Drittstaaten weiterzugeben und Überflüge über ihr gesamtes Staatsgebiet, auch über amerikanische Militäranlagen, weiterhin zu gewähren. Die Mitgliedstaaten haben dies mit Verweis auf bereits bestehende Zusagen abgelehnt. Am 15. Januar 2021 kündigte Russland an, das innenpolitische Verfahren zum Vertragsaustritt ein­ zuleiten. Sollten die USA signalisieren, in den Vertrag zurückkehren zu wollen, wäre eine Rücknahme dieser Entscheidung möglich. Ohne eine russische Beteiligung würde der Vertrag über den Offenen Himmel seine sicherheitspolitische Relevanz verlieren. Unbemannte Waffensysteme Aufmerksamkeit erregten Drohnen 2020 im Konflikt um Bergkarabach, in dem sie vielfach eingesetzt wurden, sowie durch die US-Entscheidung, Drohnenexporte aus dem strengen Missile Technology Control Regime (MTCR) herauszunehmen. Trotz ihrer Verbreitung ist eine internationale Regulierung von Drohneneinsätzen aber nicht absehbar. Auch in Deutschland standen Drohnen nach der Entscheidung von 2018, bewaffnungsfähige Drohnen zu leasen, wieder einmal im Fokus. Nun galt die Debatte der Frage, ob diese Drohnen tatsächlich bewaffnet werden sollten. Am Ende lehnte der Koalitionspartner SPD die Beschaffung bewaffnungsfähiger Drohnen für diese Legis­laturperiode ab. Die Debatte um eine Regulierung oder ein Verbot letaler autonomer Waffen stockte 2020. Das seit 2017 laufende internationale VN-Expertentreffen in Genf wurde pandemiebedingt zunächst reduziert abgehalten und dann verschoben. Die Eini­gung auf ein normatives und operationelles Rahmenwerk steht weiter aus. Cyber Im März 2020 befasste sich der VN-Sicherheitsrat erstmals mit einem Cyberangriff (2019 auf Ziele in Georgien) als separatem Thema. Im Sommer reagierte der Rat der EU zum ersten Mal mit Sanktionen auf Cyberangriffe. Betroffen waren Personen und Einrichtungen in Russland, China und Nordkorea. Anfang Dezember 2020 wurde

3 103

Vertrag über den Offenen Himmel droht zu scheitern

Internationale Regu­ lierung unbemannter und autonomer Waffen steht weiterhin aus

2021 / Keine Rüstungskooperation ohne europäische Rüstungsexportkontrolle / rüstungsdynamiken

Russland die Verantwortung für den SolarWinds-Hack gegen hunderte amerikanische Behörden und Unternehmen zur Last gelegt. Derweil stagnierte die Debatte über globale Normen und völkerrechtliche Fragen. Der im Oktober 2020 von mehr als 40 Staaten eingebrachte Vorschlag eines Aktionsplanes soll die derzeit konkurrierenden VN-Arbeitsgruppen (GGE und OEWG) wieder zusammenführen und die Umsetzung der bereits 2015 anvisierten Normen verantwortlichen Staatenverhaltens voranbringen.

3 104

3.2 �� Europäische Rüstungskooperation und Rüstungsexportkontrolle

S

trategische Autonomie zu erlangen, ist ein zentrales außenpolitisches Ziel der EU. Auch wenn die genaue Bedeutung des Konzepts der strategischen Autonomie vage bleibt → 4 /125–132, haben die EU-Mitgliedstaaten klar gemacht, dass sie die Erhöhung ihrer militärischen Fähigkeiten als eine Grundlage dafür sehen und eine engere Rüstungs­ ko­operation untereinander anstreben. Sie wollen ihre Streitkräfte besser koordinieren und insbesondere bei der Entwicklung und Beschaffung neuer Waffensysteme enger kooperieren. Mit der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit zur Stärkung der Sicherheit und Verteidigung in Europa (Permanent Structured Cooperation, PESCO) und dem Europäischen Verteidigungsfonds (EDF) hat die EU zwei neue Instrumente errichtet, die zusammen mit bi- und multilateralen Vereinbarungen die europäische Rüstungskooperation vorantreiben sollen. So könnten Kosten eingespart und die Zusammenarbeit der Streitkräfte bei gemeinsamen Einsätzen (Interoperabilität) verbessert werden. Ob eine Erhöhung der militärischen Schlagkraft den Menschen in der und außerhalb der EU mehr Frieden oder zumindest Sicherheit bringt, ist angesichts der durchwachsenen Bilanz militärischer Missionen äußerst fraglich (→ Daase et al. 2020, Bethke et al. 2019, von Boemcken et al. 2018). Besonders problematisch ist, dass eine Fahrt aufnehmende europäische Rüstungskooperation die nationale Rüstungsexportkontrolle auszuhebeln droht und europäische Instrumente der Kontrolle zahnlos sind. Zählt man die Rüstungsexporte der Mitgliedstaaten zusammen, dann ist die EU der zweitgrößte Exporteur nach den USA und vor Russland. Allein auf Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien entfallen im Zeitraum 2016-2020 22 % der weltweiten Waffenexporte (→ Wezeman et al. 2021). Der Großteil der Rüstungsexportlizenzen der EU-Mitgliedstaaten (2019 waren es über 75 %) entfällt auf Exporte an Länder außerhalb der EU (→ European External Action Service 2020). Hauptabnehmer sind die Staaten des Nahen und Mittleren Ostens; darunter auch Staaten mit autoritären Regimen, die selbst Krieg führen und Kriegsparteien mit der Weitergabe von Waffen unterstützen → 30, 31/105.

EU ist weltweit zweitgrößter Rüstungsexporteur

friedensgutachten / 2021

Eine Reduzierung europäischer Rüstungsexporte an Staaten, die Krieg führen und systematische Menschenrechtsverletzungen begehen, kann nur gelingen, wenn Rüstungsko­ operation und Rüstungsexportkontrolle zusammengedacht werden. Hierfür müssen die Mechanismen der Rüstungsexportkontrolle auf EU-Ebene dringend verbessert werden.

30

Europäische Rüstungsexporte nach Regionen (Genehmigungswerte 2015–2019)

Quelle → 3 /115

in Mrd. €

3 105

200

Subsahara-Afrika Nordafrika Mittlerer Osten Europäische Union Andere europäische Staaten

150

Südostasien Südasien Nordostasien Zentralasien Ostasien

100

Südamerika Nordamerika Zentralamerika und die Karibik

50

0 2015

31

2016

2017

2018

2019

Europäische Rüstungsexporte an Drittstaaten (Genehmigungswerte 2015–2019)

Quelle → 3 /115

in Mrd. €

Dargestellt sind die zehn Hauptempfängerländer von Rüstungsexporten aus der EU unter den Drittstaaten. Saudi-Arabien Ägypten Indien Vereinigte Arabische Emirate (VAE) Katar Brasilien Singapur Kuwait Indonesien Malaysia

0

20

40

60

80

2021 / Keine Rüstungskooperation ohne europäische Rüstungsexportkontrolle / rüstungsdynamiken

DIE EUROPÄISCHE RÜSTUNGSKOOPERATION NIMMT FAHRT AUF

Die Idee einer engeren europäischen Rüstungskooperation ist nicht neu. Schon in den 1980er und 1990er Jahren wurde eine Öffnung der westeuropäischen Rüstungsmärkte diskutiert. Die Förderung einer engeren Rüstungskooperation war 2004 eines der Hauptziele bei der Gründung der Europäischen Verteidigungsagentur (EVA). Unterschiedliche nationale Rüstungspolitiken und der Wunsch der Regierungen, die nationale Rüstungsindustrie zu protegieren, standen dem jedoch im Wege. Auch wenn dieser Rüstungsprotektionismus nicht verschwunden ist, nimmt die Idee einer engeren europäischen Rüstungskooperation seit einigen Jahren wieder Fahrt auf. Im Dezember 2017 riefen die EU-Mitgliedstaaten PESCO ins Leben. Außer Dänemark und Malta sind alle EUMitgliedstaaten daran beteiligt. Hauptziel ist die gemeinsame Entwicklung militärischer Fähigkeiten über eine Vielzahl an bi- und multilateralen Kooperationsprojekten. So sollen Kosten bei der Entwicklung und Produktion von Waffensystemen und der Operation von Streitkräften gespart werden. Auch die Interoperabilität der Streitkräfte soll befördert werden durch gemeinsame technische Standards und kooperative Beschaffungsprogramme unter dem Dach der EVA. Ziel ist es, die momentan etwa 180 in Europa gebräuchlichen Typen von großen Waffensystemen auf 30 zu reduzieren. Gegenwärtig beläuft sich die Gesamtzahl der PESCO-Projekte auf 47. Laut EU sollen 26 Projekte bis 2025 konkrete Ergebnisse liefern oder die volle Einsatzfähigkeit erreichen. Geplant sind etwa die Weiterentwicklung des Kampfhubschraubers Tiger sowie die Entwicklung eines unbemannten Landfahrzeugs und eines neuen Schützenpanzers (→ Dossi 2019).

3 106

32

Beteiligung an PESCO-Projekten

Durch die gemeinsame Entwicklung militä­rischer Fähigkeiten sollen Kosten gespart werden

Quelle → 3 /115 Beteiligung an PESCO-Projekten davon Federführung

30

25

20

15

10

5

Fr an k

re ic h Ita lie n Sp an D ie eu n ts ch G l an rie d ch en la nd Ru m än N ie ie n de rla nd e Po le n Be lg ie n U ng ar n P Ts ort ch ug ec a h l Re isc pu he bl i Zy k pe rn Sc hw ed en K ro at ie n Sl ow ak ei Bu lg ar ie Ö n st er re ic Lu h xe m bu rg Es tla nd Fi nn la nd Le ttl an Sl d ow en ie n Li ta ue n Ir la nd

0

friedensgutachten / 2021

Alle Mitgliedstaaten sind zur Teilnahme an mindestens einem Rüstungsprojekt verpflichtet → 32 /106. Eines der gegenwärtig bekanntesten ist die (vermutlich bewaffnete) Eurodrohne, die unter deutscher Führung gemeinsam mit Spanien, Frankreich, Italien und Tschechien entwickelt wird und 2027 fertiggestellt werden könnte. Zwei große Rüstungsprojekte, die bislang nicht Teil von PESCO sind, sind das geplante Luftkampfsystem der Zukunft (Future Combat Air System, FCAS) und der europäische Kampfpanzer (Main Ground Combat System, MGCS). FCAS – ein Kooperationsprojekt von Frankreich, Deutschland und Spanien, das von Dassault Aviation, Airbus und Indra Sistemas koordiniert wird – ist ein vernetzt operierender Verbund verschiedener Waffensysteme, dessen Kernelement ein neu zu entwickelndes Kampfflugzeug der nächsten Generation ist, das von bewaffneten Drohnen begleitet wird. Die Inbetriebnahme ist für 2040 geplant → 33 /107. Der von Deutschland und Frankreich gemeinsam entwickelte Kampfpanzer der Zukunft soll 2035 fertiggestellt werden.

33

Das Future Combat Air System (FCAS) und die nukleare Teilhabe Deutschlands

Das im Zuge von FCAS entwickelte Kampfflugzeug der nächsten Generation ist zurzeit das ambitionierteste europäische Rüstungsprojekt. Unklarheit besteht noch über die Nuklearfähigkeit dieses Next Generation Figh­ ters (NGF). Für Frankreich muss das Kampfflugzeug als Nachfolger der Rafale zwingend in der Lage sein, nukle­ are Marschflugkörper zu tragen. In Deutschland, wo im Rahmen der nuklearen Teilhabe der NATO bis zu 20 amerikanische Freifallbomben stationiert sind, wird diese Fähigkeitsanforderung kontrovers diskutiert. Die für den Einsatz der Kernwaffen vorgesehenen Tornado PA-200 nähern sich dem Ende ihrer Einsatzzeit. Das Ver­ teidigungsministerium plant die Beschaffung 30 ameri­ kanischer F/A-18 E/F, um die Zeit zu überbrücken, bis frühestens 2040 der NGF zur Verfügung steht. Die F-18 sind teuer und nicht für den Einsatz der in Deutschland stationierten Nuklearwaffen zertifiziert. Eine solche Zertifizierung dauert mehrere Jahre. Auch beim Kauf von F-18 ist eine technisch bedingte „Pause“ der deutschen Nuklearfähigkeiten möglich. Unabhängig von der Frage des Trägersystems gilt: Ein Einsatz, bei dem die deutsche Luftwaffe Verfügungs­ gewalt über Kernwaffen erlangt, wäre ein Bruch des

nu­klearen Nichtverbreitungsvertrages. Die Stationie­ rung der Waffen selbst wird von vielen Mitgliedern des Vertrages, insbesondere den „Blockfreien Staaten“, schon jetzt als Vertragsverletzung angesehen. Sinnvoller als der Kauf neuer Trägersysteme wäre das mittelfristige Ende der nuklearen Teilhabe, wie von der Mehrheit der Bevölkerung, Teilen der SPD und Opposi­ tion bereits gefordert. Ein langsamer Abzug findet ohne­ hin statt: Experten der Federation of American Scien­ tists schätzen den derzeitigen Bestand der in Europa stationierten Kernwaffen auf 100 – eine Reduktion um ein Drittel gegenüber den vorigen Jahren. Deutschland sollte einen solchen Ausstieg im Rahmen der aktuellen Diskussion um ein neues Strategisches Konzept der NATO einbringen. Durch einen Ausstieg aus der Teilhabe entfiele dann auch die nukleare Zertifizierung des NGF und die hierfür notwendige Offenlegung der technischen Dokumenta­ tion des Kampfflugzeugs gegenüber den USA. Eine fran­ zösische Zustimmung zu einer solchen Datenweiter­ gabe ist ohnehin fraglich.

3 107

2021 / Keine Rüstungskooperation ohne europäische Rüstungsexportkontrolle / rüstungsdynamiken

3 108

Um zusätzliche Anreize für europäische Rüstungsprojekte zu schaffen, haben die EUMitgliedstaaten 2017 den EDF eingerichtet. Dessen Mittel stammen aus dem EU-Haushalt und sollen zur Finanzierung von Forschung und Entwicklung militärischer Technologien sowie zur Kofinanzierung von PESCO-Projekten verwendet werden. In seiner ersten Phase (2017–2020) bestand der Fonds noch aus 590 Mio. €, von denen 575 Mio. € verwendet wurden. 2021-2027 stehen dem Fonds hingegen knapp 8 Mrd. € zur Verfügung (→ Council of the European Union 2020). Knapp 2,7 Mrd. € sind für die Rüstungsforschung vorgesehen. Mit 5,3 Mrd. € ergänzt der Fonds die Investitionen der Mitgliedstaaten in die Entwicklung um bis zu 20 % – bei PESCO-Projekten sogar um bis zu 30 %. Um den Kooperationscharakter sicherzustellen, müssen mindestens drei PESCO-Staaten sowie drei in der EU ansässige Firmen an einem Projekt beteiligt sein.

Der Europäische Verteidigungsfonds soll gemeinsame militärische Forschung und Entwicklung fördern

Zu den längerfristigen Zielen von PESCO und EDF zählt, die Fragmentierung des europäischen Verteidigungsmarktes zu überwinden. Wettbewerb und Produktion sollen nicht länger durch nationale Grenzen behindert werden. Denn die Folgen der ungenutzten Skaleneffekte und steigenden Entwicklungskosten sind hohe Stückpreise, welche die nationalen Verteidigungshaushalte belasten. Eine bei Unternehmen (Profitmaximierung) wie Regierungen (Entlastung des Verteidigungsetats trotz Protektionismus) beliebte Strategie, diesem Effekt entgegenzuwirken, ist der Export der betreffenden Rüstungsgüter. Durch die so gesteigerten Losgrößen werden eine bessere Auslastung der Produktion und eine raschere Amortisierung der Entwicklungskosten möglich. Diese Anreizstrukturen tragen dazu bei, dass die europäischen Rüstungsunternehmen mittlerweile den größeren Teil ihrer Produkte ins Ausland exportieren – einschließlich höchst problematischer Drittstaaten. Eine engere europäische Rüstungskooperation, der es gelingt, die rüstungspolitische Kleinstaaterei zu überwinden, könnte folglich nicht nur die Wettbewerbsfähigkeit der Rüstungsunternehmen in Europa verbessern, sondern auch dabei helfen, Rüstungsexporte an Drittstaaten zu reduzieren. Denn die geringeren Stückkosten, die infolge der gemeinsamen Entwicklung und koordinierten Beschaffung von Waffensystemen entstehen, entlasten die nationalen Verteidigungshaushalte und erleichtern es den Regierungen, problematische Drittlandexporte zu untersagen. Von daher kann es auch aus Sicht der Rüstungsexportkontrolle Sinn machen, dass Großwaffensysteme wie der MGCS oder das FCAS in Kooperation mit europäischen Partnern geplant werden.

Europäische Rüstungskooperation könnte helfen, Rüstungsexporte an Drittstaaten zu reduzieren – aber nur mit verschärfter Rüstungs­export­kon­trolle

Dies gilt allerdings nur unter der Bedingung, dass diese Kooperation ausdrücklich an das Ziel gekoppelt ist, Rüstungsexporte an problematische Drittstaaten zu vermeiden. Dafür braucht es klare europäische Regelungen. Andernfalls besteht die Gefahr, dass die europäische Rüstungsindustrie die durch Kostensenkung gewonnene Wettbewerbsfähigkeit nutzt, um ihre Exporte auszuweiten und ihre Anteile am globalen Rüstungsmarkt zu erhöhen. Um einer solchen Entwicklung zu begegnen, bedarf es einer Harmonisierung und Verschärfung der europäischen Rüstungsexportkontrolle.

friedensgutachten / 2021

DIE EUROPÄISCHE RÜSTUNGSEXPORTKONTROLLE BLEIBT SCHWACH

Der Gemeinsame Standpunkt der EU zur Rüstungsexportkontrolle umfasst acht Kri­ terien, die bei Rüstungsexportentscheidungen berücksichtigt werden müssen. Hierzu zählen etwa die Menschenrechtssituation, interne Gewaltkonflikte sowie Frieden, Sicherheit und Stabilität in der Region. Die Wirksamkeit dieses Instruments ist jedoch sehr begrenzt. Von Harmonisierung kann keine Rede sein. Die Genehmigung von Rüstungsexporten liegt in der Hand der Regierungen und wird als Teil der nationalstaat­lichen Souveränität betrachtet. Gerade in strittigen Fällen von Exporten an Drittstaaten, etwa nach Saudi-Arabien oder an die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), gibt es deutliche Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten in der Auslegung der acht Kriterien des Gemeinsamen Standpunkts der EU. Die mehr als eineinhalb Jahre dauernde, im September 2019 abgeschlossene Überprüfung des Standpunkts blieb im Ergebnis bescheiden. So sind neue Verträge und Regelungen, wie der internationale Waffenhandelsvertrag (ATT), aufgenommen worden. Zudem haben die Mitgliedstaaten neue Transparenzmaßnahmen beschlossen. Auch wenn nach wie vor die mangelhafte und unterschied­ liche Datenlage der nationalen Rüstungsexportberichte kritisiert werden muss, gibt es nun immerhin eine gemeinsame, öffentlich zugängliche Datenbank zu den Genehmigungen und Ausfuhren von Rüstungsexporten und die nationalen Berichte sollen zeitnäher veröffentlicht werden.

Die Wirksamkeit des Gemeinsamen Standpunkts der EU zur Rüstungsexportkon­trolle ist begrenzt

3 109

Darüber hinaus sind jedoch kaum Verbesserungen festzustellen. So bemängelt das Europäische Parlament (EP) im September 2020 zu Recht Defizite in der Umsetzung des Gemeinsamen Standpunkts der EU (→ Europäisches Parlament 2020). Das EP empfiehlt unter anderem, dass die Mitgliedstaaten ein gemeinsames Verständnis der Anwendung der acht Kriterien entwickeln und zu einheitlichen Risikobewertungen im Hinblick auf Exportgenehmigungen an Drittstaaten gelangen. Auch das EP betrachtet es als Problem, dass die Rüstungskooperation auf europäischer Ebene weiter voranschreitet, die Genehmigungsverfahren und Auslegung der Kriterien aber auf nationaler Ebene verbleiben. Als Schwachstelle benennt der Bericht auch den mangelhaften staatlichen Austausch über Genehmigungen und Ablehnungen, der in der Ratsarbeitsgruppe COARM (Conventional Arms Export), die für die Regierungen die Ausfuhr konventioneller Rüstungsgüter auf EU-Ratsebene koordiniert, stattfinden soll. Die Schwäche der Rüstungsexportkontrolle auf EU-Ebene zeigte sich zuletzt insbesondere auch an den unterschiedlichen Rüstungsexportpraktiken der Mitgliedstaaten in den Fällen Saudi-Arabien und VAE. Beide Staaten sind seit der von ihnen angeführten Militärintervention im Jemen durch ihre Luftangriffe auf zivile Ziele und die Seeblo­ ckade vor der jemenitischen Küste für die humanitäre Katastrophe in diesem Land mitverantwortlich. Dennoch erhalten sie weiterhin Rüstungsexporte aus der EU. Erst nach der Ermordung des saudi-arabischen Journalisten Khashoggi im Oktober 2018 hatten Dänemark, Finnland, die Niederlande und Deutschland einen Exportstopp gegen SaudiArabien verhängt. Andere EU-Staaten, unter ihnen Italien, Frankreich und Großbritannien

Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien und in die VAE zeigen die Schwäche der europä­ischen Rüstungsexport­kontrolle

2021 / Keine Rüstungskooperation ohne europäische Rüstungsexportkontrolle / rüstungsdynamiken

3 110

(damals noch in der EU), haben weiterhin Rüstungsgüter nach Saudi-Arabien geliefert. Doch auch das deutsche Waffenembargo ist lückenhaft. Rüstungsgüter aus Deutschland gelangten 2019 als Re-Export über Frankreich nach Saudi-Arabien (→ GKKE 2021). Deutschland, wie auch andere EU-Staaten, liefern weiterhin Kriegswaffen und Rüstungsgüter an die VAE, die wie Saudi-Arabien Luftschläge gegen die Huthi-Milizen im Jemen führen, bei denen auch immer wieder zivile Ziele bombardiert werden. Allein in 2020 zählte die Nicht-Regierungsorganisation Mwatana 26 Luftangriffe der beiden Staaten auf jemenitisches Territorium, bei denen 99 Zivilisten getötet und 81 verletzt wurden, darunter 41 getötete und 42 verletzte Kinder (→ Mwatana 2020). Diese Rüstungsexporte haben in zahlreichen europäischen Staaten zu zivilgesellschaftlichen Protesten und Gerichtsverfahren geführt. Schiffe der saudi-arabischen Bahri-Linie, die regelmäßig auch Häfen in der EU ansteuern, um von dort Rüstungsgüter nach SaudiArabien zu transportieren, sind von Nicht-Regierungsorganisationen in Großbritannien und in Frankreich mit Protesten empfangen worden. In Belgien erreichten die selbsternannten „zivilgesellschaftlichen Waffeninspektoren“, dass die Bahri Yanbu nicht in Antwerpen anlegte. In Italien weigerten sich die Hafenarbeiter von Genua, elektrische Generatoren auf die Bahri Yanbu zu verladen (→ Amnesty International 2020). Nach weiteren zivilgesellschaftlichen Protesten hat die italienische Regierung im Januar 2021 die bereits erteilten Exportlizenzen für über 12.000 Fliegerbomben nach Saudi-Arabien und in die VAE widerrufen. Zudem haben Nicht-Regierungsorganisationen in verschiedenen EU-Staaten Klage gegen Genehmigungen von Rüstungsexporten nach Saudi-Arabien eingereicht, so beispielsweise in Belgien, Frankreich, Großbritannien und Italien. Im März/August 2020 sowie im März 2021 errangen belgische Nicht-Regierungsorganisationen Siege vor Gerichten der Provinz Wallonien. Das höchste belgische Regionalgericht urteilte, es bestünde ein eindeutiges Risiko, dass die Militärgüter zur Verletzung des humanitären Völkerrechts im Jemen-Krieg beitragen könnten. Die britische Nicht-Regierungsorganisation „Cam­ paign Against the Arms Trade“ (CAAT) hat im Oktober 2020 erneut Klage gegen britische Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien eingereicht und auf den Bericht des VNExpertenpanels verwiesen, wonach der von Saudi-Arabien angeführten Kriegskoalition weiterhin schwere Verletzungen des humanitären Völkerrechts vorgeworfen werden (→ United Nations Security Council 2020). Verschiedene Nicht-Regierungsorganisa­ tionen stellten im Dezember 2019 Strafanzeige beim Internationalen Strafgerichtshof. Darin geht es um die Frage der Unternehmensverantwortung von europäischen Rüstungsfirmen und staatlichen Akteuren im Hinblick auf eine mögliche Beihilfe zu Kriegsverbrechen, die Saudi-Arabien und die VAE im Jemen-Konflikt begangen haben (→ European Center for Constitutional and Human Rights 2020).

Zivilgesellschaftliche Proteste in mehreren europäischen Staaten

Gerichtsverfahren gegen Rüstungsexportgenehmigungen

friedensgutachten / 2021

RÜSTUNGSKOOPERATION UND RÜSTUNGSEXPORTKONTROLLE ZUSAMMEN DENKEN

Die europäische Rüstungskooperation birgt neben den ökonomischen und sicherheitspolitischen Chancen auch die Gefahr, die Schwäche der europäischen Rüstungsexportkontrolle auszunutzen und die nationale Rüstungsexportkontrolle auszuhebeln. Es ist abzusehen, dass der Export von Waffensystemen, an deren Fertigung Rüstungsunternehmen aus mehreren EU-Staaten beteiligt sind, nicht mehr der Entscheidung aller beteiligten Staaten obliegt. Vielmehr wird die Endfertigung – und damit die Entscheidung über den Export – dorthin verlagert, wo die rüstungsexportpolitischen Restriktionen am geringsten sind. Dadurch droht ein Unterbietungswettbewerb zwischen den Staaten, bei dem die Rüstungsindustrie profitiert, die Regierungen aber verlieren, weil sich ihre politischen Steuerungsmöglichkeiten verringern. Die Folge davon wären noch mehr Rüstungsexporte an problematische Empfängerländer. Dass sich ein solches Szenario bereits sehr konkret abzeichnet, zeigt die im November 2019 getroffene deutsch-französische Vereinbarung über Exportkontrollen im Rüstungsbereich. Demnach verzichten beide Regierungen wechselseitig auf Mitsprache bei Rüstungsexportentscheidungen, wenn der Anteil der zugelieferten Rüstungskomponenten aus dem eigenen Land unter 20 % liegt (→ Ministère de l’Europe et des Affaires étrangères 2019). Solche bilateralen Vereinbarungen könnten im Zuge zunehmender Europäisierung der Rüstungsproduktion Schule machen. Je mehr Unternehmen aus unterschiedlichen Staaten beteiligt sind, desto seltener werden Zulieferungen aus einem Land über eine solche Prozent-Marke kommen. Wenn die Regierungen der EU-Staaten ihre rüstungsexportpolitische Steuerungsfähigkeit nicht verlieren wollen, müssen sie dringend das Instrumentarium der Rüstungsexportkontrolle auf EU-Ebene stärken. Dafür gibt es verschiedene Ansatzpunkte. Zum einen könnten die Regeln des Gemeinsamen Standpunkts präzisiert und erweitert werden. Notwendig wären zum Beispiel einheitlich strenge Formulierungen („eine Ausfuhrgenehmigung wird verweigert, wenn…“) bei allen acht Kriterien. Außerdem müsste eine Klärung des Risiko-Konzepts erfolgen: Anstatt nur festzuhalten, dass eine Regierung ein „eindeutiges Risiko“ feststellen muss (um etwa beim Risiko von Menschenrechtsverletzungen einen Export zu untersagen), müsste der Gemeinsame Standpunkt für alle acht Kriterien Hinweise enthalten, wann ein entsprechendes Risiko besteht. Die Ausführungen im „User’s Guide“ zum Gemeinsamen Standpunkt sind hierfür zu ungenau und unverbindlich. Zudem sollte die Risikoabwägung europäisiert werden, indem die Regierungen im Rahmen von COARM zu gemeinsamen Einschätzungen kommen. Die dafür nötigen Informationen könnten beim Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) zusammenfließen. Zusätzlich könnte die Rechtsverbindlichkeit des Gemeinsamen Standpunkts deutlich gestärkt werden, wenn alle Mitgliedstaaten seine Regelungen direkt in nationales Recht überführen würden. Dies könnte zum Beispiel in Form eines eigenen Rüstungsexportkontrollgesetzes geschehen, wie es für Deutschland unter anderem von den Grünen, Greenpeace und der Gemeinsamen Konferenz Kirche und Ent-

Ohne strengere Kontrolle droht ein Unterbietungswettbewerb und der Verlust politischer Steuerungsmöglichkeit

3 111

Regeln des Gemeinsamen Standpunkts verbessern

Eine Europäisierung der Risikoabwägung

2021 / Keine Rüstungskooperation ohne europäische Rüstungsexportkontrolle / rüstungsdynamiken

wicklung (GKKE) gefordert wird (→ GKKE 2021). Die bloße Übernahme des Gemeinsamen Standpunkts in die rechtlich unverbindlichen Politischen Grundsätze der Bundesregierung für Rüstungsexporte genügt nicht.

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Aber selbst wenn alle EU-Staaten bereit wären, diese Reformen umzusetzen, läge die Entscheidungskompetenz weiterhin bei den nationalen Regierungen. Die Gefahr der Aushebelung der Rüstungsexportkontrolle durch europäische Rüstungskooperation wäre zwar reduziert, aber längst nicht gebannt. Dazu müssten nicht nur die Regeln und ihre Verbindlichkeit gestärkt werden, sondern auch der institutionelle Rahmen, um die Einhaltung zu gewährleisten. Insbesondere eine Stärkung des Europäischen Parlaments als politische Kontrollinstanz gegenüber den Mitgliedstaaten ist wichtig. Das EP hat dies selbst schon in mehreren Resolutionen gefordert, zuletzt in seiner Entschließung zu Waffenexporten vom 17. September 2020 (→ Europäisches Parlament 2020). Die Tatsache, dass über den EDF nun EU-Gelder in die Rüstungsforschung und -produk­ tion fließen, verleiht dieser Forderung Nachdruck und zusätzliche Legitimität. Die Einrichtung eines von den Regierungen unabhängigen, sanktionsbewehrten Aufsichtsgremiums muss das mittel- bis langfristige Ziel sein. Um den Weg dorthin zu ebnen, sollte ein regelmäßiger Austausch zwischen der Rats-Arbeitsgruppe COARM und dem Parlament institutionalisiert werden. Das EP könnte hierfür einen eigenen Unterausschuss (des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten) für Rüstungsexportkontrolle etablieren (→ Kehne 2019). Die Regierungsvertreter aus COARM sollten diesem Unterausschuss gegenüber rechenschaftspflichtig sein. Das könnte etwa so aussehen, dass die COARM-Vertreter dem Unterausschuss einmal pro Quartal über die jüngsten Rüstungsexportentscheidungen der EU-Mitgliedstaaten berichten und auf Nachfrage für einzelne Fälle darlegen, warum der jeweilige Export im Einklang mit den Vorgaben des Gemeinsamen Standpunkts ist. Eine solche Begründungspflicht sollte insbesondere für Rüstungsexporte an Drittstaaten gelten. Selbst eine solch „weiche“ Form der parlamentarischen Kontrolle, bei der die Regierungen keine Entscheidungskompetenzen abgeben müssten, würde vermutlich auf den Widerstand vieler Regierungen treffen. Dennoch sollte sich die Bundesregierung im Rahmen von COARM für einen engeren Austausch mit dem EP einsetzen. Und natürlich hat es das EP selbst in der Hand, einen solchen Unterausschuss einzusetzen und so Druck für eine parlamentarische Kontrolle euro­ päischer Rüstungsexporte aufzubauen.

schlussfolgerungen Rüstungskooperation und Rüstungsexportkontrolle stehen in einem engen Zusammen­ hang und müssen auch politisch so behandelt werden. Bislang geschieht das nicht. Wäh­ rend mit PESCO, dem EDF und weiteren Abkommen Strukturen geschaffen werden, um die europäische Rüstungskooperation voranzutreiben, bleibt die Rüstungsexportkontrolle auf EU-Ebene schwach. Es drohen eine Aushebelung der nationalen Rüstungsexportkont­ rolle und ein Unterbietungswettbewerb um den exportfreundlichsten Standort.

Stärkung des Europä­ ischen Parlaments als Kontrollinstanz

Begründungspflicht für Rüstungsexporte an Drittstaaten

friedensgutachten / 2021

Das Resultat wären noch mehr Rüstungsexporte aus der EU an Kriegsparteien und Staaten, die systematische Menschenrechtsverletzungen begehen. Bereits jetzt tragen Rüstungs­ exporte aus den EU-Staaten weltweit zu Gewalt und Unterdrückung bei. Die Regierungen erfüllen ihre selbst gesetzten Standards nicht. Damit schwächen sie ihre eigene Glaub­ würdigkeit und auch diejenige der EU – nicht nur in der internationalen Politik, sondern auch mit Blick auf die zivilgesellschaftlichen Proteste in den eigenen Gesellschaften. Als viertgrößter Rüstungsexporteur weltweit ist Deutschland ganz besonders in der Pflicht, einen Reformprozess der Rüstungskontrolle auf EU-Ebene anzustoßen und voranzutreiben. Dies wäre keinesfalls ein deutscher „Sonderweg“. Auch in anderen Staaten, selbst in Frankreich, werden die rüstungsexportkritischen Stimmen lauter. Die Regierungen der Mitgliedstaaten sollten sich zum Ziel setzen, die Rüstungsexporte aus der EU an Drittstaaten drastisch zu reduzieren und auf transparent begründete Aus­ nahmen zu begrenzen. Die europäische Rüstungskooperation bietet dafür eine zusätz­ liche, ökonomische Chance. Sie muss aber zwingend von einer Stärkung der Rüstungs­exportkontrolle flankiert werden. Die Bundesregierung sollte sich deshalb auf EU-Rats­ ebene für eine Präzisierung und strengere Anwendung der Regeln des Gemeinsamen Standpunkts zu Rüstungsexporten einsetzen. Alle acht Kriterien des Gemeinsamen Stand­ punkts müssen klare, objektiv überprüfbare Tatbestände benennen, bei denen Rüstungs­ exporte zu verweigern sind. Die Risikoabwägung sollte europäisiert werden, indem die Regierungen im Rahmen der für Rüstungsexporte zuständigen Ratsarbeitsgruppe COARM zu gemeinsamen Risikoeinschätzungen kommen. Die dafür nötigen Informationen könnten beim EAD zusammenfließen. Um die Rechtsverbindlichkeit des Gemeinsamen Standpunkts zu stärken, sollten Bundesregierung und Bundestag ihre Regelungen in Form eines Rüs­ tungsexportkontrollgesetzes in nationales Recht überführen. Schließlich bedarf es einer stärkeren Kontrolle des Regierungshandelns auf EU-Ebene. Für diesen Zweck sollte die Rolle des Europäischen Parlaments bei Fragen von Rüstungsexporten aufgewertet werden. Dies kann zunächst auch ohne Änderungen der europarechtlich festgeschriebenen Kom­ petenzen geschehen. So könnte sich die Bundesregierung, zusammen mit anderen Regie­ rungen, für einen engeren Austausch zwischen COARM und dem Europäischen Parlament einsetzen. Das Parlament selbst könnte einen eigenen Unterausschuss für Rüstungsex­port­ kontrolle etablieren.

1 Berechnet aus IMF 2021c. 2 Der GMI des BICC bildet das relative Gewicht und die Bedeutung des Militärapparats eines Staates im Verhältnis zur Gesellschaft als Ganzes ab. Dazu setzt er die Militärausgaben in Relation zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) eines Staates und zu den staatlichen Gesundheitsausgaben und berücksichtigt weitere Indikatoren wie das Verhältnis der Soldaten zur Gesamtbevölkerung.

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2021 / Keine Rüstungskooperation ohne europäische Rüstungsexportkontrolle / rüstungsdynamiken

Autorinnen und Autoren

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Marius Bales

Dr. Max Mutschler (Koordination)

BICC – Bonn International Center for Conversion

BICC – Bonn International Center for Conversion

Prof. Dr. Michael Brzoska

Dr. Oliver Meier

IFSH - Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg

IFSH - Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg

Anna-Katharina Ferl

Dr. Niklas Schörnig

HSFK – Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung

HSFK – Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung

Dr. Mischa Hansel

Dr. Jantje Silomon

IFSH – Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik

IFSH – Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik

Dr. Una Jakob

Dr. Simone Wisotzki

HSFK – Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung

HSFK – Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung

Dr. Moritz Kütt

Prof. Dr. Herbert Wulf

IFSH - Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg

BICC – Bonn International Center for Conversion

Quellenverzeichnis Amnesty International 2020: Saudi Arabian Arms Ship Bahri Yanbu Faces Growing Opposition in European Ports, 31. Januar 2020, in: https://www.amnesty.org/en/latest/news/2020/01/saudi-arabian-armsship-bahri-yanbu-faces-growing-opposition-in-european-ports/; 09.03.2021. Bethke, Felix et al. 2019: Stabilisierung darf keine Interessenpolitik sein, in: BICC/HSFK/INEF/IFSH (Hrsg.): Friedensgutachten 2019. Vorwärts in die Vergangenheit? Frieden braucht Partner, Bielefeld, 47–67. Boemcken, Marc von et al. 2018: Kriegerischer Zerfall im Nahen und Mittleren Osten, in: BICC/HSFK/INEF/IFSH (Hrsg.): Friedensgutachten 2018. Kriege ohne Ende. Mehr Diplomatie - weniger Rüstungsexporte, Münster, 21–63. Bonn International Center for Conversion (BICC) 2020: Datenbank zu Rüstungsexporten, in: http://ruestungsexport.info; 09.03.2021. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) 2020: Bericht der Bundesregierung über ihre Exportpolitik für konventionelle Rüstungsgüter im Jahr 2019, in: https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Publikationen/ Aussenwirtschaft/ruestungsexportbericht-2019.html; 09.03.2021. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) 2021: Rüstungsexportpolitik der Bundesregierung im Jahr 2020 – vorläufige Genehmigungszahlen, Pressemitteilung vom 07.01.2021, in: https://www.bmwi.de/ Redaktion/DE/Pressemitteilungen/2021/01/20210107ruestungsexportpolitik-der-bundesregierung-im-jahr-2020-vorlaeufigegenehmigungszahlen.html; 09.03.2021. Council of the European Union 2020: Provisional Agreement Reached on Setting-Up the European Defence Fund, Presseerklärung vom 14. Dezember 2020, in: https://www.consilium.europa.eu/en/press/press-releases/2020/ 12/14/provisional-agreement-reached-on-setting-up-the-european-defencefund/; 09.03.2021. Daase, Christopher et al. 2020: Friedensmissionen müssen neu austariert werden, in: BICC/HSFK/INEF/IFSH (Hrsg.)Friedensgutachten 2020. Im Schatten der Pandemie: letzte Chance für Europa, Bielefeld, 45–69.

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friedensgutachten / 2021

International Monetary Fund (IMF) 2021b: Fiscal Monitor Update, January 2021, in: https://www.imf.org/en/Publications/FM/Issues/2021/01/20/fiscalmonitor-update-january-2021; 09.03.2021.

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Wezeman, Pieter D. et al. 2021: Trends in International Arms Transfers, 2020, SIPRI Fact Sheet, in: https://www.sipri.org/sites/default/files/2021-03/fs_ 2103_at_2020_v2.pdf; 09.03.2021.

Mutschler, Max/Bales, Marius 2020: Globaler Militarisierungsindex 2020, in: https://www.bicc.de/uploads/tx_bicctools/BICC_GMI_2020_DE.pdf; 09.03.2021.

Abbildungen / Grafiken / Tabellen 25 /98 Globale Militärausgaben und ausgewählte Anteile SIPRI Military Expenditure Data Base. Layout: Vincent Glasow. BICC, März 2021. 26 /99 Tatsächliche (2020) und gemäß Bundeshaushaltsplan geplante deutsche Militärausgaben nach NATO-Kriterien Defence Expenditure of NATO Countries (2014–2020), in: https://www.nato.int/cps/en/natohq/news_178975.htm; Deutscher Bundestag, Finanzplan des Bundes 2020–2024, Drucksache 19/22601; Deutscher Bundestags, Bundeshaushaltsgesetz 2020, Drucksache 19/22600. Layout: Vincent Glasow. BICC, März 2021. 27 /100 Rang Deutschlands für verschiedene Indikatoren von Militarisierung und Friedlichkeit 2020 Militärausgaben und Exporte von Großwaffen: SIPRI Datenbanken; GPI 2020, in: https://visionofhumanity.org/wp-content/uploads/2020/10/ GPI_2020_web.pdf; BICC GMI 2020. 28 /100 Anteile an globalen Exporten von Großwaffen (2016–2020) SIPRI Arms Transfer Database. Layout: Vincent Glasow. BICC, März 2021.

29 /101 Deutsche Rüstungsexporte GKKE Rüstungsexportberichte. Die Angaben für hochproblematische Länder erfolgen auf Grundlage der Einstufung der Rüstungsexportdatenbank des BICC (ruestungsexport.info). Als „hoch problematisch“ werden Länder eingestuft, die mindestens im Hinblick auf vier der insgesamt acht Kriterien der Datenbank als „kritisch“ eingestuft werden. Die acht Kriterien der Datenbank orientieren sich dabei an den acht Kriterien des Gemeinsamen Standpunkts der EU zu Rüstungsexporten. Hierzu zählen etwa die Menschenrechtssituation im Land, innere Gewaltkonflikte oder die regionale Stabilität. Aufgrund der seit 2017 geänderten methodischen Grundlagen der Rüstungsexportdatenbank sind diese Angaben nur bedingt von Jahr zu Jahr vergleichbar. Layout: Vincent Glasow. BICC, März 2021. 30 /105 Europäische Rüstungsexporte nach Regionen (Genehmigungswerte 2015–2019) Online-Datenbank der EU zu Rüstungsexporten, in: https://webgate.ec.europa.eu/eeasqap/sense/app/75fd8e6e-68ac-42dd-a078-f616633118bb/sheet/ ccf79d7b-1f25-4976-bad8-da886dba3654/state/analysis. 31 /105 Europäische Rüstungsexporte an Drittstaaten (Genehmigungswerte 2015–2019) Online-Datenbank der EU zu Rüstungsexporten, in: https://webgate.ec.europa.eu/eeasqap/sense/app/75fd8e6e-68ac-42dd-a078-f616633118bb/sheet/ ccf79d7b-1f25-4976-bad8-da886dba3654/state/analysis. 32 /106 Beteiligung an PESCO-Projekten https://pesco.europa.eu/.

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4

117

2021 / Was will

Europa? Strategische Autonomie aus friedens­ politischer Perspektive / institutionelle friedenssicherung 4.1 ����Institutionelle Friedenssicherung: die Trends 4.2 ����Europäische strategische Autonomie friedenspolitisch grundieren

2021 / Was will Europa? Strategische Autonomie aus friedens­politischer Perspektive / institutionelle friedenssicherung

↓ empfehlungen 4 118 1     Europas Sicherheit weiterhin auch trans­atlan­ tisch denken Im laufenden Strategieprozess der

EU müssen die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) und der Strategieprozess der NATO zusammen entwickelt werden. 2     Die OSZE besser nutzen Deutschland sollte auf

ein OSZE-Gipfeltreffen 2025 mit der Perspektive hinarbeiten, dort ein Programm pragmatischer Kooperation zur Stabilisierung der europäischen Ordnung zu verabschieden. Mit gleichgesinnten Staaten sollte die Bundesregierung eine „Group of Friends of the OSCE“ gründen, um ein solches Programm voranzutreiben. 3     Den strategischen Kompass der EU friedenspoli­ tisch ausrichten Die Bundesregierung sollte sich

für die Entwicklung eines kohärenten Rahmens für den strategischen Kompass der EU einsetzen, der stärker auf zivile und friedens­politische Ziele auszurichten ist.

4     Den „Pakt für die zivile GSVP“ umsetzen Die

Bundesregierung muss sich dafür einsetzen, dass zivile GSVP-Strukturen und Fähigkeiten bis 2023 gestärkt und mit den militärischen Fähigkeiten der EU besser verzahnt werden. 5     Das europäische Ziel der „digitalen Sou­ve­rä­­­­­­ni­tät“ zur demokratischen Gestaltung nutzen

Die EU sollte keine digitalen Überwachungstechnologien an autoritäre Staaten liefern und ausgewogene Standards zur Regulierung digi­taler Hassrede verabschieden. 6     Maßnahmen und Strukturen der EU-Terro­ris­ musbekämpfung systematisch evaluieren

Die EU sollte nicht immer weitere Maßnahmen und Strukturen aufbauen, sondern sich auf die Implementierung und Evaluierung der vorhandenen konzentrieren.

friedensgutachten / 2021

institutionelle friedenssicherung /

Was will Europa? Strategische Autonomie aus friedenspolitischer Perspektive / 4 119

In den Turbulenzen der letzten Jahre haben Debatten um Europas Rolle in der Friedens- und Sicherheitspolitik zugenommen. Die Diskussion über die häufig geforderte europäische strategische Autonomie sollte sich vorrangig an dreierlei orientieren: an nicht-militärischen Herausforderungen innerer und äußerer Sicherheit, zivilen Instrumenten, um diese zu bearbeiten, und nicht zuletzt einem klaren sicherheitspolitischen Kompass.

4.1 �� Institutionelle Friedenssicherung: die Trends Die europäische Friedens- und Sicherheitspolitik ist eingebettet in ein komplexes System multilateraler Friedenssicherung (→ Coni-Zimmer et al. 2018). Die Vereinten Nationen (VN) spielen aufgrund ihrer Verantwortung für den Weltfrieden eine zentrale Rolle, sind aber aktuell durch die Blockade wichtiger Mitgliedsstaaten, eine anhaltende Finanzkrise und die offene Infragestellung von Grundpfeilern der regelbasierten internationalen Ordnung, auch durch westliche Staaten, in ihrem Handlungsspielraum ein­ geschränkt (→ Bethke et al. 2019; Lupel 2019). Der Beitrag von Regionalorganisationen für eine effektive und erfolgreiche Friedenssicherung wird zukünftig also noch wichtiger. Regionalorganisationen führen bereits einen Großteil der laufenden Friedensmissionen aus. Zwar erfolgen nahezu alle Missionen mit VN-Autorisierung und die VN stellen deutlich mehr Personal, insgesamt ist das Engagement von Regionalorganisationen aber unverzichtbar geworden (→ Smit et al. 2020: 2) → 1 /56. Regionale Sicherheitsorganisationen weisen große Unterschiede in ihren Mandaten, Arbeitsweisen und dem Grad der Integration auf. Diese Unterschiede beeinflussen beispielsweise, ob Entscheidungsprozesse Einstimmigkeit verlangen und inwieweit die Organisationen militärisches oder ziviles Personal in Friedenseinsätze entsenden. Militärisch ist vor allem die NATO aktiv, während insbesondere EU und OSZE auch in größerem Umfang ziviles Personal entsenden (→ Smit et al. 2019: 8-9). Daneben betreibt die EU etwa in Afrika auch Kapazitätsentwicklung und unterstützt seit vielen Jahren den Auf- und Ausbau der afrikanischen Friedens- und Sicherheitsarchitektur. Mit einzelnen

Regionalorganisationen werden wichtiger für die Friedenssicherung

2021 / Was will Europa? Strategische Autonomie aus friedens­politischer Perspektive / institutionelle friedenssicherung

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Regionalorganisationen pflegen die VN eine gute Zusammenarbeit, etwa über regelmäßige Briefings mit der OSZE oder jährliche Treffen mit der EU. Gemeinsame Missionen, wie die 2020 nach 13 Jahren beendete Hybridmission von VN und Afrikanischer Union (AU) in Darfur (UNAMID), zeigen, dass die Zusammenarbeit auch auf operativer Ebene erfolgreich sein kann. Erforderlich ist aber eine stärkere Koordination zwischen VN und Regionalorganisationen. Die Schwerpunkte der jeweiligen Organisationen sollten enger aufeinander abgestimmt werden. Durch eine verbesserte Koordination zwischen den Organisationen lassen sich die Wirksamkeit und Leistungsfähigkeit multilateraler Friedensicherung stärken.

Koordination zwischen VN und Regionalorganisationen verbessern

Die europäische Sicherheitsarchitektur galt lange Zeit als Erfolgsmodell gelungener regionaler Friedenssicherung (→ Coni-Zimmer et al. 2018: 113). Sie war und ist durch ein dichtes und komplexes Netz von Sicherheitsorganisationen mit überlappenden Mitgliedschaften und Verantwortlichkeiten geprägt. Dies hat in der Vergangenheit zu Konkurrenz und gegenseitigen Blockaden geführt, aber auch Kooperation und eine in Teilen funktionale Arbeitsteilung ermöglicht, bei der die jeweiligen Schwerpunkte von OSZE, NATO und EU komplementär zueinander existierten.

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Personalumfang regionaler und internationaler Friedensoperationen

Quelle → 4 /134

Bei der EU können die Zahlen für ziviles Personal auch uniformierte Polizei beinhalten.

VN Peacekeeping Missionen VN Sondermissionen VN gesamt

Hybridmission UNAMID (VN/AU)

Afrikanische Union

Militär

Polizei

Zivil

Gesamt

68.677

6.877

3.807

79.361

1.180

97

1.099

2.376

69.857

6.974

4.906

81.737

4.332

2.150

630

7.112

19.586

718

66

20.370

ECOWAS

1.248

410

0

1.658

EU

1.612

/

1.073

2.685

NATO

20.624

0

0

20.624

IGAD

0

0

86

86

OAS

0

0

29

29

OSZE

0

0

1.117

1.117

43.070

1.128

2.371

46.569

2.235

3

125

2.363

119.494

10.255

8.032

137.781

Regionalorganisationen gesamt

Ad-hoc Koalitionen

friedensgutachten / 2021

In den vergangenen Jahren haben sich die Rahmenbedingungen für die gesamteuropä­ ische Sicherheitslandschaft jedoch grundlegend geändert. Die Beziehungen zu Russland sind so schlecht wie nie zuvor seit dem Kalten Krieg. Russland hat die Krim annektiert, fördert den Krieg in der Ostukraine und zielt offen darauf ab, die EU zu schwächen. Andererseits hat der Westen es nicht vermocht, Russland in europäische Sicherheitsstrukturen einzubinden → 1 /62–71. Die transatlantischen Beziehungen wiederum haben nicht erst seit der Präsidentschaft von Donald Trump massiv unter einem lahmenden Interesse der USA an einer engen und vertieften Zusammenarbeit im Bündnis sowie divergierenden Vorstellungen über das Engagement der europäischen Staaten gelitten. Die Diskussion um die Verteidigungsausgaben der NATO-Mitglieder wird auch unter Präsident Biden das transatlantische Verhältnis prägen, ebenso Differenzen im Umgang mit China → F /28, Iran, oder Russland. Schließlich stellt auch die derzeitige Krise der EU, intensiviert durch den Austritt Großbritanniens und den anhaltenden Erfolg populistischer Regierungen, das Friedensprojekt Europa vor ungeahnte Herausforderungen.

35

Organisationslandschaft institutioneller Friedenssicherung in Europa

4 121

Quelle → 4 /134

Vereinte Nationen OSZE

EU NATO Andorra

Finnland

Belgien

Luxemburg

Albanien

Armenien

Irland

Bulgarien

Niederlande

Island

Aserbaidschan

Malta

Dänemark

Polen

Kanada

Belarus

Österreich

Deutschland

Portugal

Montenegro

Bosnien & Herzegowina

Schweden

Estland

Rumänien

Nordmazedonien

Zypern

Frankreich

Slovakei

Norwegen

Griechenland

Slovenien

Türkei

Italien

Spanien

Vereinigtes Königreich

Kroatien

Tschechien

Vereinigte Staaten

Lettland

Ungarn

Georgien Heiliger Stuhl Kasachstan Kirgistan Liechtenstein

Litauen

Moldawien Monaco Mongolei

Schweiz

Turkmenistan

Russland

Serbien

Ukraine

San Marino

Tadschikistan

Usbekistan

2021 / Was will Europa? Strategische Autonomie aus friedens­politischer Perspektive / institutionelle friedenssicherung

4 122

Die europäischen Sicherheitsinstitutionen müssen darum ihre jeweiligen Aufgaben und Rollen klären und gemeinsam neue Mechanismen für eine funktionierende und kohärente Kooperation entwickeln. Aus den Erfahrungen der vergangenen 30 Jahre ließe sich lernen, wie Organisationen stärker kooperieren und Konflikte vermeiden können. Gelingt eine programmatische Neuorientierung von OSZE, NATO und EU, die individuelle Profile stärkt und gemeinsame Herausforderungen fokussiert, lässt sich eine (neue) funktionale Arbeitsteilung für die europäische Sicherheit erreichen. In diesem Kapitel analysieren wir zunächst, wie die Aufgabenprofile von OSZE und NATO künftig gestaltet werden sollten. Daran schließt eine ausführliche Diskussion der europäischen strategischen Autonomie und ihrer friedenspolitischen Ausrichtung an.

Profile von OSZE, NATO und EU schärfen und Arbeitsteilung verbessern

DIE OSZE FÜR DEN DIALOG MIT RUSSLAND NUTZEN

Als die einzige inklusive und konsensbasierte europäische Sicherheitsorganisation leidet die OSZE besonders unter den Spannungen in Europa. Routineartige gegenseitige Anschuldigungen durch Russland und westliche Staaten vergiften die Atmosphäre in der Wiener Hofburg. Hinzu kommt, dass viele Staaten östlich wie auch westlich von Wien kurzsichtig ihre eigenen Interessen verteidigen und die Fähigkeit der OSZE untergraben, Beschlüsse zu fassen. 2020 erlebte die OSZE eine ihrer schwersten Krisen. Von Juli bis Dezember blieben die vier exekutiven Spitzenpositionen der OSZE – Generalsekretär, Direktor des Büros für Demokratische Institutionen und Menschenrechte (BDIMR), Hoher Kommissar für nationale Minderheiten (HKNM) und Beauftragter für die Medien­ freiheit – unbesetzt. Erst auf dem Ministerratstreffen Anfang Dezember 2020 konnte man sich auf eine neue Besetzung einigen, unter anderem auf die deutsche Spitzendiplomatin Helga Schmid als neue Generalsekretärin und den ehemaligen kasachischen Außenminister Kairat Abdrachmanow als HKNM. Dennoch kann die OSZE dazu beitragen, die Spannungen abzubauen. So wäre derzeit keine andere internationale Organisation in der Lage, die Besondere Beobachtungsmission (SMM) in der Ukraine zu betreiben. Um die OSZE als Forum für Verhandlungen insbesondere zwischen westlichen Staaten und Russland besser zu nutzen, bedarf es einer Abkehr von der Devise „No business as usual“. Schweden, Polen, die baltischen Staaten oder die USA unter Präsident Trump haben nach der Krim-Annexion und dem russischen Eingreifen in der Ostukraine ihre Kommunikation mit der russischen Regierung auf Kritik und Sanktionen reduziert. Die Rückgabe der Krim an die Ukraine zur Voraussetzung für Verhandlungen zu machen wird aber keine Probleme lösen, sondern erhöht das Risiko, dass militärische Spannungen zwischen NATO und Russland zu einer ungewollten Eskalation führen. Zielführender ist eine pragmatische Politik, die Realitäten anerkennt, ohne die Kritik an der Verletzung von Normen aufzugeben. Westliche Staaten sollten mit Russland dort kooperieren, wo gemeinsame Interessen dies erlauben. Die Ergebnisse einer Verständigung zwischen den westlichen Staaten und Russland könnten am besten auf

Pragmatische Politik gegenüber Russland ohne eigene Normen aufzugeben

friedensgutachten / 2021

einem Gipfeltreffen 2025, also 50 Jahre nach der Verabschiedung der Schlussakte von Helsinki, angenommen werden. Eine solche Verständigung sollte einschließen: ·

eine Formel, die den grundlegenden Dissens über den Status der Krim festhält, ohne Kooperation in anderen Fragen unmöglich zu machen;

·

eine Entschärfung des Konflikts in der Ostukraine gemäß der beiden Minsker Abkommen vom September 2014 und Februar 2015;

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·

neue vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen, um militärische Zwischenfälle insbesondere in der Ostsee- und Schwarzmeerregion zu verhindern;

·

eine Formel zum Verhältnis zwischen den beiden Integrationsorganisationen EU und Eurasische Wirtschaftsunion;

·

und schließlich ein Dialog über jene Normen, die für eine kooperative europäische Sicherheitsordnung konstitutiv sind. Dies betrifft insbesondere den Gewaltverzicht sowie das Verhältnis zwischen der Freiheit, die jeweilige (Sicherheits-)Organisation wählen zu können, und der Berücksichtigung der legitimen Sicherheitsinteressen anderer Staaten.

Ein pragmatischer Kurs, der Gespräche über diese Punkte ermöglicht, wird derzeit eher von einer relevanten Minderheit der westlichen OSZE-Staaten vertreten, zu der Deutschland, Österreich, die Schweiz und südliche EU- und NATO-Staaten zählen, während eine Mehrheit noch am Krim-Junktim festhält. In Deutschland gibt es einen breiten Konsens im Bundestag, die OSZE zu stärken und besser zu nutzen. Ein gemeinsamer Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen vom November 2020 fordert die Bundesregierung auf, sich für ein OSZE-Gipfeltreffen 2025 einzusetzen und unterstützt Initiativen in den zentralen Aufgabenfeldern der OSZE → 1 /72. BIDEN UND DIE ZUKUNFT DER NATO

Innerhalb der NATO verbesserte sich die Tonlage mit der Wahl Joe Bidens. Die Krisenanfälligkeit der Allianz aber bleibt. Der französische Präsident Emmanuel Macron hatte sie deshalb schon für hirntot erklärt. Sie könne die „neo-osmanischen“ Alleingänge der Türkei nicht eindämmen und leide grundsätzlich unter großer Heterogenität der normativen Orientierungen und Interessen zwischen ihren nach Osten und nach Süden blickenden Mitgliedsstaaten. Im Zentrum der Krise standen aber Trump und seine Weigerung, die Lasten der Führungsmacht weiterhin zu schultern. Nicht überraschend also, dass die europäischen Bündnispartner hohe Erwartungen an Biden knüpfen. Rhetorisch erfüllt er diese. In einer Grundsatzrede auf der Münchener Sicherheitskonferenz bekannte er sich uneingeschränkt zur NATO, fügte dann aber hinzu, die USA begrüßten wachsende europäische Investitionen in militärische Kapazitäten und die gemeinsame Verteidigung.

Europäische Bündnispartner setzen hohe Erwartungen in neuen US-Präsidenten

2021 / Was will Europa? Strategische Autonomie aus friedens­politischer Perspektive / institutionelle friedenssicherung

Kritischer als der bleibende Streit um die Lastenteilung sind zwei strukturelle Trends: die Erosion des internationalistischen Konsenses in den USA und der beginnende Großmachtkonflikt mit China, der absehbar mit einer Verlagerung der US-amerikanischen Kapazitäten einhergehen wird → F.

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Vor diesem Hintergrund hatte die NATO eine „Reflexionsgruppe“ eingesetzt. Ihr Bericht vom November 2020 soll die Grundlage für ein neues strategisches Konzept legen. Allerdings spiegelt der Bericht eher den kleinsten gemeinsamen Nenner der Autoren aus zehn NATO-Staaten wider. Die 138 Empfehlungen lassen sich in drei zentralen Punkten zusammenfassen: Erstens solle sich die NATO globaler ausrichten, um den vielfältigen Bedrohungen durch ein aggressives Russland, ein als systemischer Rivale charakterisiertes China und durch Instabilität an der südlichen Flanke zu begegnen. Um die Zustimmung der Bürger zu sichern und hybride Herausforderungen quer über die Felder Sicherheit und Wirtschaft hinweg zu beantworten, solle sie sich zweitens stärker um Themen wie die Resilienz demokratischer Gesellschaften kümmern → 5. Drittens solle sie politischer werden, indem sie ihre Mitglieder mittels eines „code of good conduct“ auf demokratische Prinzipien verpflichtet und darauf dringt, dass sie die NATO wieder als zentrales Forum für die sicherheitspolitische Konsultation begreifen.

NATO soll globaler werden, gesellschaftliche Resilienz stärken und Mitglieder auf demo­ kratische Prinzipien verpflichten

Das dritte Empfehlungsbündel fordert ein, was jahrzehntelang als Erfolgsrezept der NATO galt. Der Reflexionsgruppe ist darin zuzustimmen, dass es aufgrund der unterschiedlichen Erfahrungen und Interessenlagen der Mitgliedsstaaten bestenfalls darum gehen kann, durch frühzeitige Konsultation Kompromisse zu ermöglichen. Dazu bedarf es aber entschlossener Führung, und die kam traditionell von den USA. In der zweiten Empfehlung klingt das Interesse von Organisationen an, ihre Aufgaben auszuweiten. Die NATO kann sich durchaus um die Klimabilanz militärischer Einrichtungen kümmern oder russische Propaganda über ihre Rolle richtigstellen. Darüber hinaus wäre aber zu fragen, worin der komparative Vorteil einer militärischen Allianz bei der Sicherung gesellschaftlicher Resilienz besteht. Das erste Empfehlungsbündel ist das kritischste. Russland gegenüber soll die Strategie von Abschreckung und Dialog fortgeführt werden. Abgesehen vom Bekenntnis zur Rüstungskontrolle wird jedoch nicht dargelegt, worin der Dialog bestehen sollte. Das Papier befürwortet regelmäßige Konsultationen über chinesische Aktivitäten mit sicherheitspolitischer Relevanz. Die beiden Vorsitzenden der Gruppe schlagen zudem ein gegen China gerichtetes Exportkontrollregime vor, ähnlich dem früheren Koordinationsausschuss für Ost-West-Handel (COCOM), und wecken so die Erwartung, dass dieses Vorgehen in den Zuständigkeitsbereich der NATO fällt. Damit droht nicht nur ein sicherheitspolitisch verengter Blick auf Themenfelder wie industriepolitische und digitale Regulierung, sondern auch eine Marginalisierung der für diese Themen zuständigen EU. Statt innerhalb der NATO über China zu reden, wäre es angemessener, den europäisch-amerikanischen Dialog zu führen → F /45. Schließlich bestimmt der Bericht den Kampf gegen den Terrorismus als Kernaufgabe des Bündnisses, ohne das Phänomen Terrorismus zu definieren.

Empfehlungen der Reflexionsgruppe überdehnen Zuständigkeit der NATO

friedensgutachten / 2021

Zu der eigentlichen Herausforderung, dem partiellen Rückzug der USA und dessen Folgen, sagt der Bericht wenig. Wenn die sicherheitspolitische Stabilität in Westeuropa in der Vergangenheit von der Führungsleistung der USA abhing, geht es in Zukunft um stärkere europäische Eigenverantwortung. Die Krise der NATO wird so zur Chance der EU, Sicherheit und Frieden nach innen und außen besser zu organisieren.

4

4.2 �� Europäische strategische Autonomie friedenspolitisch grundieren

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Europa muss in Zukunft autonomer und strategischer handeln, um seine innere und äußere Sicherheit zu gewährleisten. Damit europäische strategische Autonomie aber mehr ist als nur der Aufbau militärischer Kapazitäten, muss Deutschland in dieser Debatte klare friedenspolitische Akzente setzen. Dafür ist in einem ersten Schritt die kontroverse Diskussion zur europäischen strategischen Autonomie zu entgiften und europäische Sicherheit auch weiterhin transatlantisch zu denken. Die Debatten der vergan­genen vier Jahre waren wenig zielführend und hatten mehr Zerwürfnis als Konsens zur Folge. Die Wahl Donald Trumps und die Abkehr vom transatlantischen Verhältnis unter seiner Regierung hat in Europa die Frage nach unabhängigen Handlungsmöglichkeiten neu entfacht. Vor diesem Hintergrund ging es bislang jedoch weniger darum, ein gehaltvolles Verständnis des europäischen Gestaltungsanspruches zu definieren. Vielmehr gab es eine toxische Debatte darüber, ob man für oder gegen „strategische Autonomie“ der EU sei. Zugrunde lagen dabei zwei unterschiedliche Konzeptionen von Autonomie: Während Befürworter in erster Linie argumentieren, die EU müsse mehr Autonomie gewinnen, um handlungsfähiger zu werden, warnten die Gegner vor Autonomiebestrebungen, die eine Entkopplung europäischer von der US-amerikanischen Sicherheit anvisieren. In beiden Strängen unterscheidet sich folglich – und durchaus paradoxerweise – auch der angenommene Referenzpunkt für europäische strategische Autonomie. Befürwortern geht es um mehr Handlungsfähigkeit für die EU innerhalb des in Artikel 42 des Lissabonner Vertrages definierten Rahmens der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP). Die Abkopplung von den USA gehörte somit nie zu den Zielen der Befürworter, ebenso wenig wie eine Rolle für die EU in der kollektiven Verteidigung. Gegner jedoch unterstellen in erster Linie Bestrebungen zu genau dieser Entkopplung und gehen in ihrer Argumentation daher weit über die GSVP hinaus (→ Kunz 2020; Major/ Mölling 2020). Seit 2017 war vor allem Frankreichs Präsident Macron Taktgeber der Debatte und erklärte Frankreich selbstbewusst zum „Motor“ der europäischen strategischen Autonomie. Nicht nur in Deutschland stieß das französische Werben auf taube Ohren. Ins­ gesamt lässt sich in Europa eine Spaltung der EU-Mitgliedsstaaten in grob zwei Lager beobachten. Der entscheidende Faktor ist dabei die Bedrohungswahrnehmung, die

Vergiftete Debatte über strategische Autonomie der EU

In der Frage der gemeinsamen Verteidigungspolitik ist die EU gespalten

2021 / Was will Europa? Strategische Autonomie aus friedens­politischer Perspektive / institutionelle friedenssicherung

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bestimmend ist für die Bereitschaft zu ambitionierterer Verteidigungszusammenarbeit in der EU. So sind diejenigen Staaten, die vor allem eine Bedrohung aus Russland wahrnehmen, gleichzeitig die überzeugtesten Transatlantiker. Aus ihrer Perspektive kann eine stärkere Sicherheitskooperation im Rahmen der EU die Sicherheitsgarantien der USA nicht ersetzen. Ihre Bereitschaft, knappe Ressourcen in die GSVP zu investieren, deren Auftrag gerade nicht die kollektive Verteidigung ist, ist folglich begrenzt. Dieser Gruppe gehören in erster Linie die nördlichen und östlichen EU-Mit­gliedsstaaten an. Die zweite Gruppe der EU-Mitglieder sieht Frieden und Stabilität vor allem durch die Herausforderungen in Europas südlicher Nachbarschaft geprüft – durch die Kriege in Syrien und Libyen, durch die Herausforderungen des islamistischen Terro­ris­mus und durch die anhaltende Spannung im Mittelmeer. Diesen Staaten geht es vor allem darum, der EU Handlungsfähigkeit zu verschaffen. Der lauteste Vertreter dieses Lagers ist Frankreich, doch auch Italien oder Spanien teilen viele der französischen Sichtweisen. Deutschland hat in dieser konzeptionellen Debatte keine Partei ergriffen. Pragmatismus und Brückenbildung innerhalb Europas war das oberste Motto deutscher Friedensund Sicherheitspolitik. Zum einen steht deutsche Verteidigungspolitik für die andauernde Einbindung der USA. Zum anderen wusste man in Berlin, dass das Konzept der europäischen strategischen Autonomie im Osten und Nordosten Europas auf vehemente Ablehnung stoßen würde. Gleichzeitig bleibt Berlin grundsätzlich gewillt, in die GSVP zu investieren. Unter der Präsidentschaft von Joe Biden stehen amerikanische Sicherheitsgarantien nicht länger zur Disposition und die Debatte um die Bedeutung von Europas strategischer Autonomie kann entgiftet werden, wenn sie nicht im Widerspruch zum transatlantischen Verhältnis gedacht wird. Für die Bundesregierung ist das eine Möglichkeit, sich mit der eigentlichen Frage zu beschäftigen, wie sich mehr unabhängige Handlungsfähigkeit erreichen lässt und welche Balance zwischen institutioneller, militärischer und ziviler Friedenssicherung nötig ist. Dafür muss die Bundesregierung zusammen mit europä­ ischen Partnern die Architektur gesamteuropäischer Sicherheit auf die politische Agenda setzen. Die bisherige Fokussierung auf Verteidigungspolitik hat den politischen Blick stark auf das zukünftige Ver­hältnis zwischen EU und NATO gerichtet. Zweifelsohne sind auch nach Jahrzenten der Kooperation noch Potenziale zu schöpfen. Doch die Rolle der EU für das Gefüge ko­o­perativer Sicherheit in Europa bleibt so völlig unterbelichtet. Ohne eine langfristige Einbindung Russlands ist keine nachhaltige Sicherheit in Europa zu erreichen. Die Bundesregierung muss diese institutionellen Fragen gesamteuropäischer Sicherheit stärker in den Blick nehmen.

Europas Sicherheitsarchitektur muss auf die politische Agenda

friedensgutachten / 2021

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Brexit: Auftakt oder Ende für die europäische strategische Autonomie?

Großbritannien, ein sicherheitspolitisches Schwerge­ wicht, hat 2020 die EU verlassen. Das wird Auswirkungen auf die Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU haben. Großbritannien ist nicht nur Ständiges Mitglied im VN-Sicherheitsrat und Nuklearmacht, sondern ver­ fügte auch über rund 25 % der strategischen Schlüssel­ fähigkeiten in der EU und stellte rund 20 % des Streit­ kräftekatalogs für EU-Einsätze. Allerdings hatte Großbritannien schon bisher diese Fähigkeiten kaum in den Dienst der EU gestellt. Bis 2015 entsandte die EU über 12.000 Militärangehörige in Ein­ sätze, davon waren aber nur 110 aus Großbritannien. Die britische Regierung widersetzte sich auch symbolträch­ tigen Projekten für eine größere Eigenständigkeit der EU, wie der Schaffung eines eigenen Operationshaupt­ quartiers und der Stärkung der Europäischen Verteidi­ gungsagentur (EVA). Ohne Großbritannien wird es für die verbliebenen EUMitglieder zukünftig leichter, sich auf eine Vertiefung der Kooperation zu einigen. Die seit 2016 erreichten Fortschritte in der verteidigungspolitischen Zusammen­ arbeit wurden nicht zuletzt dadurch möglich, dass die britische Regierung ihren Widerstand nach dem BrexitReferendum aufgab. Obwohl die Sicherheitspolitik immer als Bereich galt, in dem beide Seiten ein hohes Interesse an einer engen Partnerschaft haben, muss diese Zusammenarbeit nun eben auf die britischen

Re­s­sourcen verzichten. Großbritannien gilt jetzt als Drittland. Es kann keine EU-Einsätze mehr führen, und auch die britische Rüstungsindustrie, eine der stärksten Europas, lässt sich nur noch eingeschränkt in gemein­ same Projekte einbeziehen. Dennoch existieren Möglichkeiten für eine künftige Zu­ sammenarbeit zwischen EU-Mitgliedern und Großbri­ tannien. Die ständige strukturierte Zusammenarbeit (PESCO) sieht die Möglichkeit vor, auch Drittstaaten in Projekte einzubinden. Die von Macron ins Leben geru­ fene Europäische Interventionsinitiative, die der Entwick­ lung einer gemeinsamen strategischen Kultur dienen soll, schließt Großbritannien ein und wurde darum außer­ halb des EU-Rahmens angesiedelt. Auch hat Frankreich seine bilaterale Verteidigungskooperation mit Großbri­ tannien weiter intensiviert, und Deutschland, Frankreich und Großbritannien haben in jüngerer Zeit den im Zuge des Iran-Abkommens entwickelten E3-Rahmen erprobt, um in der Sicherheitspolitik gemeinsam aufzutreten. Außerdem bleibt Großbritannien NATO-Mitglied. Auf diesen Wegen lässt sich von Fall zu Fall Kooperation organisieren. Dem Ziel einer eigenständig handlungsfä­ higen EU dienen sie allerdings bestenfalls indirekt. Eine gemeinsame Handlungsfähigkeit europäischer Staaten ist auch nach dem Brexit nicht völlig undenkbar geworden. Aber sie wäre wohl stärker außerhalb der EU anzusiedeln.

FRIEDENSPOLITISCHE PRIORITÄTEN EUROPÄISCHER STRATEGISCHER AUTONOMIE

Die Debatte um europäische strategische Autonomie war bislang zu sehr auf klassische verteidigungspolitische Fragen fokussiert. Neben der Entwicklung militärischer Kapazitäten sind weitere zentrale Facetten strategischer Autonomie zu diskutieren, die außerhalb des verteidigungspolitischen Spektrums liegen. Insbesondere drei Prioritäten können die Debatte sinnvoll erweitern: Eine umfängliche Diskussion sollte nicht-militärische Herausforderungen innerer und äußerer Sicherheit viel stärker als bisher in den Blick nehmen, ebenso wie zivile Instrumente, diese zu bearbeiten. Nicht zuletzt braucht das Konzept der europäischen strategischen Autonomie einen klaren sicherheitspolitischen Kompass.

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2021 / Was will Europa? Strategische Autonomie aus friedens­politischer Perspektive / institutionelle friedenssicherung

DEN STRATEGISCHEN KOMPASS EUROPAS ENTWICKELN

Das Ziel strategischer Autonomie Europas setzt nicht nur eine klare Definition des europäischen Anspruchsniveaus voraus, sondern auch eine stärkere Balance von militä­rischen und zivilen Mitteln in Europas sicherheitspolitischem Instrumentenkasten.

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Zwar hat Rüstungskooperation in Europa zunehmend an Fahrt aufgenommen → 3 /106– 108, aber bislang fehlt hier die Zielorientierung. Anstatt eine eigene Konzeption vorzu­ legen, hat Deutschland lange auf einen Kurs gesetzt, der die europäische Verteidigungs­ zusammenarbeit im Rahmen vieler einzelner Projekte weiterentwickelt und dabei mög­­lichst viele Länder der EU an diesen konkreten Vorhaben beteiligt. Damit hat Deutschland einen Kurs verfolgt, der dem französischen teilweise diametral gegenüberstand. Für die Weiterentwicklung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik fehlte der EU demnach die Führung durch das deutsch-französische Tandem. Seit 2016 bestimmt weniger die Vision europäischer Autonomie die Verteidigungspolitik der EU, sondern das Klein-Klein verschiedener Initiativen zur vertieften verteidigungspolitischen Zusammenarbeit. Diese stehen nicht zwangsläufig im Zusammenhang mit der Debatte um die strategische Autonomie, sondern stellen unter anderem Reaktionen auf das britische Brexit-Referendum dar. PESCO, der Europäische Verteidigungsfonds (EDF), zu großen Teilen die European Peace Facility (EPF) sowie diverse Maßnahmen im Bereich Ver­teidigungsplanung wie die Koordinierte Verteidigungsplanung für Europa (CARD) und der erstmals mit dem NATO Defence Planning Process abgestimmte EU Capability Development Plan haben jedoch eines gemeinsam: Sie sind Mittel zu einem Zweck, der nicht näher definiert ist. Dies soll sich nun ändern.

Statt einer übergreifenden Vision dominieren einzelne Initiativen die europäische Verteidigungspolitik

Dass Deutschland seine Rolle in erster Linie im pragmatischen Zusammenführen unter­ schiedlicher Standpunkte sieht, wurde auch im Rahmen seiner EU-Ratspräsidentschaft deutlich, während der es das Projekt des strategischen Kompasses lanciert hat. Dessen Ziel ist nicht nur, die unterschiedlichen strategischen Kulturen in Europa in einem zwei Jahre währenden Prozess zumindest anzunähern. Vor allem soll die EU sich auf konkrete Ziele im Rahmen ihrer Verteidigungspolitik festlegen. Dass die Bundesregierung die De­ finition eines Anspruchsniveaus für die GSVP und eine Grundlage für die weitere Verteidigungsplanung im EU-Rahmen anstrebt, ist grundsätzlich der richtige Schritt. In der Entwicklung des strategischen Kompasses wird es besonders darauf ankommen, sowohl der zivilen als auch der militärischen Konfliktbearbeitung den jeweils richtigen Stellenwert einzuräumen. Denn den meisten sicherheitspolitischen Herausforderungen Europas wird mit militärischen Fähigkeiten allein nicht beizukommen sein. Dies zeigt exemplarisch eine Analyse der Herausforderungen und Bedrohungen, denen die EU im nächsten Jahrzehnt gegenüberstehen dürfte und die den Auftakt zur Ausarbeitung des strategischen Kompasses darstellt. Im November 2020 wurde dieser Bericht vorgelegt, mit dem die EU-Mitgliedsstaaten wichtiges Neuland betreten. Auch wenn der genaue Inhalt des Papiers nicht öffentlich ist, so ist doch bekannt, dass bestimmte Herausfor-

Zivile und militärische Konfliktbearbeitung müssen im strategischen Kompass ihren Platz haben

friedensgutachten / 2021

derungen nach Ansicht der EU prägend für ihr Sicherheitsumfeld sind. Genannt werden zum einen regionale sowie gegen die EU gerichtete Bedrohungen: Dazu zählen Konflikte in der Nachbarschaft, aber auch Russland, China und angeblich die Türkei werden als Bedrohung gewertet, obwohl letztere offiziell immer noch den Status eines Beitrittskandidaten hat. Zum anderen wurden Querschnittsbedrohungen wie Terrorismus, ABCWaffen, Desinformation und Radikalisierung identifiziert. Diese erste gemeinsame Bedrohungsanalyse soll dazu dienen, eine strategische Kultur in der EU zu entwickeln. Mit der Fertigstellung dieses Berichts konzentriert sich die Arbeit bis 2022 auf die vier sogenannten Körbe des Kompasses: Krisenmanagement, Resilienz, Fähigkeitenentwicklung und Partnerschaften.

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Damit der strategische Kompass der EU tatsächlich die nötige sicherheitspolitische Orientierung geben kann und nicht nur auf verteidigungspolitische Zusammenarbeit abstellt, muss die Bundesregierung sich stark mit eigenen Akzenten einbringen. Zeit ist genug: Erst unter der französischen Ratspräsidentschaft im Jahr 2022 soll der Kompass abgeschlossen sein. Der Anspruch an diesen neuen strategischen Prozess, kon­krete militärische Kooperation (im Rahmen von PESCO, EDF etc.) und industriepolitische Grundlagen zu verbinden, ist grundsätzlich richtig → 3 /108. Jedoch ist die Entwicklung einer Zielvision für die GSVP nur schwer möglich, solange die Arbeitsteilung zwischen EU und NATO nicht geklärt wird. Die Bundesregierung muss sich in den kommenden Jahren für eine klare Arbeitsteilung einsetzen und die Prozesse der programmatischen Fortentwicklung beider Institutionen zusammendenken (→ Kunz 2021). Und gerade weil die von der EU beschriebenen Herausforderungen sich kaum ausschließlich durch mehr militärische Kapazitäten bearbeiten lassen, muss die Bundesregierung in den Bereichen zivile GSVP und gesellschaftliche Resilienz deutliche Akzente setzen. GSVP-MISSIONEN ALS BAUSTEIN STRATEGISCHER AUTONOMIE VERSTEHEN

Die GSVP-Missionen der EU sind der aktuell sichtbarste Beitrag der EU zur Förderung von Frieden und Sicherheit in der Welt. Sie stellen damit einen zentralen Baustein euro­ päischer strategischer Autonomie dar. Sie sind so auszugestalten, dass die EU in der internationalen Friedensförderung eigenständig handlungsfähig und wirkmächtig wird. Eine Stärkung insbesondere der zivilen GSVP-Strukturen und -Fähigkeiten wird allerdings bislang abgekoppelt von der Debatte um militärische Fähigkeiten und Fragen euro­ päischer strategischer Autonomie. Zivile und militärische Fähigkeiten der EU müssen besser verzahnt und in der Entwicklung strategischer Handlungsfähigkeit in der Friedensförderung gleichberechtigt sein. Denn zivile Einsätze zur Friedensförderung und Stabilisierung machen aktuell den Löwenanteil laufender GSVP-Missionen aus. Der „Pakt für die zivile GSVP“ von 2018 sollte die EU durch die Entwicklung zusätzlicher ziviler Fähigkeiten bis spätestens 2023 in die Lage versetzen, umfassend und gut abgestimmt in Krisensituationen zu handeln. Die Umsetzung des Pakts geht allerdings nur schleppend voran und der

Militärische und zivile Fähigkeiten der EU in GSVP-Missionen besser vernetzen

2021 / Was will Europa? Strategische Autonomie aus friedens­politischer Perspektive / institutionelle friedenssicherung

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Anteil des von den EU-Mitgliedsstaaten gestellten zivilen Personals sinkt weiter (→ Smit 2020: 7). Um insbesondere die zivile Komponente strategischer Autonomie der EU in der Friedenssicherung zu stärken, ist es geboten, den Pakt für die zivile GSVP in den kommenden zwei Jahren vollständig umzusetzen. Eine große Heraus­for­derung für die Bundesregierung ist insbesondere die Verfügbarkeit hochqualifizierten Personals zur Entsendung in zivile Missionen, beispielsweise in Missionen mit einem Mandat zur Rechtsstaatsförderung oder Sicherheitssektorreform (SSR). Ein weiterer zentraler Diskussionspunkt in der Entwicklung der GSVP ist die für 2021 geplante Einführung der EPF zur Finanzierung außenpolitischer Maßnahmen mit verteidigungspolitischen Bezügen. Bei der Umsetzung der EPF muss die EU sicherstellen, dass Finanzierungsentscheidungen in diesem Rahmen kohärent mit entwicklungspolitischen Aktivitäten zusammengeführt werden. Zudem ist der Übergang von der bisherigen African Peace Facility (APF) zur EPF so zu gestalten, dass die regionale Afrikanische Friedens- und Sicherheitsarchitektur keinen Schaden nimmt. Während die bisherige APF nur für Afrika und regionale Maßnahmen zuständig war, ist die EPF weltweit einsetzbar. In der Folge der Umstellung stehen aktuell deutlich weniger Mittel für die Unterstützung von Vorhaben der AU zur Verfügung. Auch institutionell ist die AU momentan Verliererin der Neustrukturierung. Bislang wird sie nicht, wie bisher, strukturell in die Verhandlungen zwischen EPF und Empfängerstaaten eingebunden, ihre bisherige Aufsichtsfunktion entfällt daher. Die Bundesregierung sollte bei den aktuellen Verhand­ lungen und der Implementierung darauf hinwirken, dass die neue EPF die afrikanische Friedens- und Sicherheitsarchitektur stärkt und nicht schwächt. Die Entwicklung grundlegender friedensfördernder ziviler und militärischer Fähigkeiten kann aber nur in einer Debatte über europäische strategische Autonomie angestoßen werden. Letzten Endes bemessen sich der zukünftige Erfolg und die Glaubwürdigkeit der EU in dieser Frage an der Wirksamkeit der getroffenen Maßnahmen. Um die Effektivität bisheriger GSVP-Missionen zu erhöhen ist es erforderlich, ihre Ergebnisse stärker als bisher zu reflektieren und zu evaluieren. Dies muss mit einem verstärkten Risikomanagement einhergehen, um insbesondere im Feld der wachsenden polizeilichen und militärischen Ausbildungs- und Ausrüstungsmissionen nicht unbeabsichtigt die Akti­ vitäten repressiver staatlicher Organe zu stärken. Ertüchtigungsaktivitäten, die zukünftig im Rahmen der neuen EPF auch die Weitergabe letaler Waffen zulassen, sind in den europäischen strategischen Rahmen für SSR-Maßnahmen einzubetten. Die Bundesregierung sollte die eigenen Leitlinien dafür nutzen, um die politischen Ziele und die Umsetzung solcher Maßnahmen auf EU-Ebene breiter zu diskutieren.

Afrikanische Friedensund Sicherheitsarchitektur darf durch Neugestaltung der EU-Finanzierung von Maßnahmen keinen Schaden nehmen

GSVP-Missionen evaluieren, Risikomanagement verbessern

friedensgutachten / 2021

GESELLSCHAFTLICHE RESILIENZ UND INNERE SICHERHEIT ZUM BESTANDTEIL EUROPÄISCHER AUTONOMIE MACHEN

Die Diskussion um europäische strategische Autonomie hat sich in der Vergangenheit meist auf Fragen klassischer Sicherheits- und Verteidigungspolitik nach außen konzentriert. In den letzten Jahren hat sich die EU aber im Rahmen der sogenannten „Sicherheitsunion“ auch nach innen vermehrt als Garantin umfassender Sicherheit für ihre die Bürger präsentiert. Jean-Claude Juncker griff dies während seiner Zeit als Kommissionspräsident in der Vorstellung eines „Europa, das schützt“ auf. Europas Handlungsund Gestaltungsfähigkeit beruht zu einem wesentlichen Teil auf funktionierenden demo­ kratischen Institutionen und einem Mindestmaß an Zusammenhalt in und zwischen europäischen Gesellschaften. Gleichzeitig lassen sich diese Güter in Zeiten verbreiteter Verunsicherung und Polarisierung immer weniger einfach voraussetzen → 5 /144–147. Die Erfahrung der Covid-19-Pandemie zeigt, wie schnell die Handlungsfähigkeit Europas beim Schutz der eigenen Bevölkerung an ihre Grenzen kommt: Vertiefte Spaltungen und beschädigtes Vertrauen können die Folge sein, etwa bei der Beschaffung von Impfstoffen → 2 /85-86. Fragen gesellschaftlicher Resilienz und innerer Sicherheit sind daher wesentliche Bestandteile europäischer Autonomie und reflektieren zentrale Erwartungen vieler Bürger. Eine solche umfassende Sicherheits- und Schutzfunktion nach innen kann allerdings auch problematische Nebenwirkungen haben, die es zu beachten gilt. Dies zeigt sich in den drei Schwerpunkten der Sicherheitsunion. Zum einen arbeitet die EU nach wie vor an der Stärkung institutioneller, rechtlicher und operativer Fähigkeiten im Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität als traditionellem Kern innerer Sicherheit. Sie kann inzwischen auf eine Fülle regulativer Kompetenzen sowie ein breites Netzwerk unterschiedlicher Institutionen zurückgreifen. In diesem Bereich sollte die EU endlich altbekannte Probleme in Fragen der Kohärenz, Legitimität und Effektivität angehen, anstatt Autonomie vor allem in Kategorien operativer und regulativer Kapazitäten zu denken und immer neue Maßnahmen, Datenbanken und Agenturen einem zunehmend unübersichtlichen Geflecht hinzuzufügen. Die Bundesregierung sollte daher auf eine systematische Evaluierung sowie verbesserte Umsetzung vorhandener Maßnahmen drängen, die dann – wo notwendig – punktuell zu ergänzen sind. Ein zweiter Schwerpunkt betont die Resilienz besonders verwundbarer Gesellschaften und Infrastrukturen in Zeiten der Krise. Die Covid-19-Pandemie hat dabei den Schutz von Gesundheitsinfrastrukturen und globalen Lieferketten als Aspekt umfassender Sicher­heit in den Fokus gerückt → 2 /80–90. Im Zentrum stehen aber Fragen der Digitalisierung und die Bedrohung durch hybride Gefahren, insbesondere im Kontext des Großprojektes einer „digitalen Souveränität“ Europas. Bedroht sind hier nicht nur kritische Infrastruk­turen im engeren Sinne, sondern auch demokratische Institutionen und Verfahren, etwa durch digitale Desinformation. Wichtig ist daher, Autonomie und Resilienz nicht nur technologisch zu denken. Sie dürfen sich nicht im Aufbau technologischer Fähigkeiten, der Errichtung einer Cybersicherheitsagentur oder einer gemeinsamen

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Innere Sicherheit und gesellschaftliche Resilienz sind Kernaufgaben Europas

2021 / Was will Europa? Strategische Autonomie aus friedens­politischer Perspektive / institutionelle friedenssicherung

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Industriestrategie erschöpfen. Die EU sollte die angestrebte Unabhängigkeit von ame­ rikanischen Tech-Giganten zur demokratischen, rechtsstaatlichen und sozialen Gestaltung des digitalen Raumes nutzen. Selbst in vielen EU-Ländern werden digitale Über­ wachungstechnologien an autoritäre Staaten geliefert, und manche illiberalen Regime innerhalb der EU stützen sich selbst auf digitale Technologien. Zudem stellt sich die Herausforderung, einen europäischen Weg aufzuzeigen, um im digitalen Raum Hass­ rede zu regulieren und Meinungsfreiheit zu gewährleisten. Ein dritter Bereich bezieht sich auf die Bewahrung von Sicherheit in einem noch umfassenderen Sinne. Die EU-Kommission unter Ursula von der Leyen betont den Schutz der „europäischen Lebensweise“ als ein zentrales Ziel. Inhaltlich gefüllt wird dieser Begriff allerdings meist eher lose mit allgemeinen Verweisen auf liberale Werte wie Rechtsstaatlichkeit oder Menschenrechte. Dieses Selbstbild wird aber angreifbar, wenn die EU oder einzelne Mitgliedsländer sich selbst nicht daran orientieren, etwa mit Blick auf illiberale Tendenzen in Ländern wie Ungarn und Polen oder die europäische Asylpolitik. Die hier vorgenommene Verknüpfung von Sicherheit und Identität ist aber auch grundsätzlich ambivalent. Die zu bewahrende „europäische Lebensweise“ bleibt schnell entweder sehr allgemein oder sie erfolgt in strikter Abgrenzung von bestimmten Gruppen und Überzeugungen, was in pluralistischen Demokratien Exklusion und Polarisierung befördern kann. Entscheidend wäre daher, eine inklusive, Vielfalt ermöglichende Vorstellung von Sicherheit innerhalb europäischer Gesellschaften zu entwickeln.

Eine inklusive, Vielfalt ermöglichende Idee von Sicherheit für Europa entwickeln

friedensgutachten / 2021

schlussfolgerungen Die skizzierten Debatten verweisen auf eine zentrale ungelöste Herausforderung für die europäische strategische Autonomie, denn nach wie vor sind die Parameter einer zukünf­ tigen europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung ungeklärt. Dies liegt auch daran, dass Europa zentrale Eckpfeiler nicht alleine gestalten kann: sei es das transatlantische Verhältnis und die Frage der Emanzipation europäischer Handlungsfähigkeit von den USA, oder sei es die Frage der Einbindung Russlands in eine gesamteuropäische Sicherheitsord­ nung. Nicht zuletzt zeigt die akute Relevanz neuer Herausforderungen im Feld der Cyber­ sicherheit, der globalen Gesundheit oder der gesellschaftlichen Resilienz, dass Fragen europäischer Autonomie auch jenseits der Entwicklung verteidigungspolitischer Kapazi­ täten an Relevanz gewinnen. In der globalen Pandemie wurde dies zuletzt in der Frage der Lieferketten bei der Bereitstellung von medizinischem Material und Impfstoffen deutlich. Die Debatte um die Entwicklung militärischer Fähigkeiten für die EU ist folglich um friedensund sicherheitspolitische Prioritäten zu erweitern. Zunächst muss es darum gehen, nicht nur das „Wie“ – also die spezifischen Fähigkeiten –, sondern auch das „Wofür“ europäischer Autonomie zu schärfen. Der laufende Prozess der Entwicklung eines strategischen Kompas­ ses ist richtig und muss im kommenden Jahr zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht werden. Hier sollte sich die Bundesregierung mit konzeptionellen Vorschlägen einbringen, die über das reine Zusammenführen von Positionen hinausgehen. Eine weitere klare friedens­­ politische Forderung ist die schnelle Erweiterung auch der zivilen Kapazitäten der GSVP, um das in die Krise geratene globale System der Friedenssicherung der VN nachhaltig unterstützen zu können. Nicht zuletzt muss die EU Fragen der gesellschaftlichen Resilienz und der inneren Sicherheit als Feld europäischer Autonomie begreifen. In einer global verflochtenen Welt muss die EU ihre Autonomie in den Feldern der Cyber- und der Wirt­ schaftspolitik ausbauen, um auch im Inneren handlungsfähig zu bleiben und eine Schutz­ funktion für die Bürger zu übernehmen. Die strategische Autonomie Europas neu zu denken und dabei dezidiert auch ihr friedens­ politisches Potenzial zu betonen, kann der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik neue Impulse geben. Gerade die Verflechtung unterschiedlichster Krisenkonstellationen unterstreicht aber die Komplexität dieses Unterfangens. Um Erfolge zu erzielen, bedarf es nicht nur gezielter Überlegungen über Instrumente und Maßnahmen. Vielmehr ist es ebenso notwendig, eine gemeinsame politische Vision zu entwickeln. Dies ist bereits zwi­ schen den europäischen Staaten keine Selbstverständlichkeit, sollte aber auch die Bürger Europas stärker einbeziehen. Denn das Friedensprojekt Europa bedarf einer breiten ge­ sellschaftlichen Unterstützung. Die Bundesregierung sollte sich daher für eine konzeptio­ nelle Debatte über Ziele und Ideale der strategischen Autonomie Europas einsetzen und die friedenspolitischen Perspektiven sowie die Notwendigkeit einer eng abgestimmten Entwicklung der europäischen Sicherheitsarchitektur betonen.

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2021 / Was will Europa? Strategische Autonomie aus friedens­politischer Perspektive / institutionelle friedenssicherung

Autorinnen und Autoren Dr. Matthias Dembinski

Dr. Holger Niemann

HSFK – Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung

IFSH – Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg

Dr. habil. Cornelius Friesendorf

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IFSH – Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg

Dr. Dirk Peters

Dr. Pia Fuhrhop

Prof. Dr. Ursula Schröder (Koordination)

IFSH – Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg

IFSH – Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg

Dr. Hendrik Hegemann

Dr. Wolfgang Zellner

IFSH – Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg

IFSH – Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg

HSFK – Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung

Dr. Barbara Kunz IFSH – Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg

Quellenverzeichnis Coni-Zimmer, Melanie et al. 2018: Wozu Institutionen? Friedensarchitektur in der Krise, in: Friedensgutachten 2018, 105–123. Bethke, Felix et al. 2019: Vereinte Nationen unter Druck: Wo sich ein deutsches Engagement lohnt, in: Friedensgutachten 2019, 115–135. Deutscher Bundestag 2020: 45 Jahre Schlussakte von Helsinki, 30 Jahre Charta von Paris – Die OSZE für künftige Aufgaben stärken. Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen, Drucksache 19/24390, angenommen am 20.11.2020 (19. Wahlperiode). Europäische Kommission 2020: EU-Strategie für eine Sicherheitsunion. COM (2020) 605 final. 24.07.2020. Kunz, Barbara 2021: Time for Big Picture Thinking, Internationale Politik Quarterly, in: https://ip-quarterly.com/en/time-big-picture-thinking; 05.03.2021.

Lupel, Adam 2019: Two Tasks to Get Past the Crisis of Multilateralism, in: https://theglobalobservatory.org/2019/08/two-tasks-get-past-crisismultilateralism, 05.03.2021. Major, Claudia/Mölling, Christian 2020: „Strategische Autonomie Europas: Toxische Wortklauberei“, Spiegel Online, 29. November, in: https://www.spiegel.de/politik/ausland/eu-und-die-strategische-autonomietoxische-wortklauberei-a-77a58db9-6dac-48c9-8aa0-8073215234f2; 05.03.2021 Smit, Timo/Sacks Ferrari, Sofía/van der Lijn, Jaïr 2020: Trends in Multi­ lateral Peace Operations, 2019, in: SIPRI Fact Sheet, May. Smit, Timo 2020: Increasing Member State Contributions to EU Civilian CSDP Missions, in: SIPRI Policy Brief, November 2020.

Kunz, Barbara 2020: The Evolving Transatlantic Link: What European Response? Disentangling the European Security Debate, in: Maus Quessard, Frédéric Heurtebize, Frédérick Gagnon (Hrsg.): Alliances and Power Politics in the Trump Era. America in Retreat? London, 33–52.

Abbildungen / Grafiken / Tabellen 34 /120 Personalumfang regionaler und internationaler Friedensoperationen Smit, Timo/Sacks Ferrari, Sofía/van der Lijn, Jaïr 2020: Trends in Multi­ lateral Peace Operations, 2019, in: SIPRI Fact Sheet, May.

35 /121 Organisationslandschaft institutioneller Friedenssicherung in Europa Eigene Darstellung/BICC.

friedensgutachten / 2021

4 135

5

137

2021 / Demokratien

auf der Kippe: Globale Trends und Bedrohungen / transnationale sicherheitsrisiken 5.1 ����Trends und Facetten globaler Entdemokratisierung 5.2 ����Bedrohungen und Herausforderungen der Demokratie

2021 / Demokratien auf der Kippe: Globale Trends und Bedrohungen / transnationale sicherheitsrisiken

↓ empfehlungen 5 138 1     Kollektiver Demokratieschutz als Priorität, nach innen wie außen Die Bundesregierung sollte

gemeinsame Anstrengungen verstärken, um demo­kratische Erosionsprozesse zu verhindern – und dies nicht nur in den Beziehungen zum Globa­len Süden, sondern auch innerhalb der EU sowie im Rahmen des von US-Präsident Biden vorgeschlagenen globalen „Demokratie-Gipfels“. 2     Die Attraktivität der Demokratie erneuern

Als Idee genießt die Demokratie weltweit hohe Attrak­tivität, die Unzufriedenheit mit den realexistierenden Demokratien ist allerdings ebenso groß. Als Antwort auf die Krise der Demokratie und politische Polarisierung sollten Parlamente und politische Öffentlichkeit als Orte des lebhaften Streits zur Erneuerung von Demokratie gestärkt werden. 3     Politische Polarisierung und demokratische Erosionsprozesse nicht verschärfen Die Erosion

der Demokratie unter Bedingungen scharfer Pola­ risierung macht die Entwicklung gesellschaftlicher Gegenstrategien schwierig und Versuche der Einwirkung von außen riskant. Außen- und entwicklungspolitische Maßnahmen sollten deshalb stets auf potenziell konfliktverschärfende Wirkungen abgeklopft werden.

4     Pandemie- und Terrorbekämpfung dürfen nicht zulasten parlamentarischer Kontrollen und öffentlicher Debatten gehen Jenseits zwingend

zu befristender, kurzfristiger Krisenreaktionsmaßnahmen sind Parlamente, zivilgesellschaftliche Organisationen und die Öffentlichkeit einzube­ ziehen, wenn im Namen der Pandemie- oder der Terrorbekämpfung Entscheidungen getroffen werden. Die Evaluation der Maßnahmen sollte stets institutionell verankert und finanziell abgesichert werden. 5     20 Jahre nach „9/11“ bedarf es einer Über­prü­ fung der Anti-Terror-Gesetzgebung Eine solche

Evaluierung sollte demokratische und menschenrechtliche „Kollateralschäden“ systematisch in den Blick nehmen und selbst Anlass einer breiten, öffentlichen Debatte sein. 6     Aus Corona lernen Deutschland und die EU soll-

ten sich um eine systematische Auswertung der internationalen Erfahrungen demokratischer Pandemiebekämpfung bemühen. Alle dauerhaften Einschränkungen, die in Reaktion auf Covid-19 ergriffen wurden, müssen auf den Prüfstand gestellt werden.

friedensgutachten / 2021

transnationale sicherheitsrisiken /

Demokratien auf der Kippe: Globale Trends und Bedrohungen / 5 139

Seit ungefähr zehn Jahren lässt sich ein globaler Trend der Entdemokrati­sie­ rung beobachten: In zahlreichen Ländern zeigt sich eine Erosion der Demo­ kratie, bis hin zum offenen Zusammenbruch. Das Kapitel zeichnet diesen Trend nach und analysiert drei konkrete Bedrohungen der Demokratie: Po­larisierung, Terrorismus und Covid-19. Politische Antworten sollten kollektive Bemühungen um den Schutz der Demokratie mit Initiativen zu ihrer Erneu­erung verbinden. 5.1 �� Trends und Facetten globaler Entdemokratisierung

M

it den Präsidentschaftswahlen in den USA und den sich anschließenden Versuchen des abgewählten Amtsinhabers, die Machtübergabe mit nahezu allen Mitteln zu verhindern, erreichte die globale Krise der Demokratie zum Jahreswechsel 2020/ 2021 ihren bisherigen Höhepunkt. Nach Jahren der graduellen Erosion demokratischer Normen und Institutionen schien ein Zusammenbruch der ältesten Demokratie der Welt im Bereich des Möglichen. Schon bevor vom Präsidenten persönlich aufgehetzte TrumpAnhänger das Kapitol stürmten, ließ der Polity-Demokratieindex verlauten, dass die USA im Jahr 2020 nicht mehr als Demokratie eingestuft werde.1 Diese Einschätzung ist sicherlich umstritten, aber allein die Tatsache, dass die Demokratie in den USA zumindest auf der Kippe stand, stellt eine dramatische Entwicklung dar. Die USA sind dabei kein Einzelfall. Seit Jahren verzeichnet die vergleichende Demokratieforschung wahlweise eine „demokratische Rezession“, eine „Erosion der Demokratie“ oder eine „Welle der Autokratisierung“ (→ Diamond 2021; Przeworski 2020; V-Dem 2021). Geht man nach den Daten des V-Dem-Instituts, die → 37 /1412 zugrunde liegen, ist die

demokratische Qualität der politischen Regime der Welt im Durchschnitt seit einigen Jahren rückläufig, und dies sowohl mit Blick auf liberal-demokratische Standards als auch gemäß eines minimalen, auf Wahlen fokussierten Demokratieverständnisses. Ein ähnliches Bild ergibt sich bei der Betrachtung des weltweiten Anteils der Länder, die V-Dem als Demokratien einstuft. Vor allem der Anteil liberal-demokratisch verfasster Staaten ist demnach seit 2006 rückläufig und hat 2020 wieder in etwa das Niveau des Jahres 1990 erreicht. Diese Entwicklung steht in deutlichem Kontrast zu den 1980er

Demokratische Qualität politischer Regime seit Jahren rückläufig

2021 / Demokratien auf der Kippe: Globale Trends und Bedrohungen / transnationale sicherheitsrisiken

und 1990er Jahren, die durch einen klaren Trend globaler Demokratisierung gekennzeichnet waren.

5 140

Blickt man auf die Entwicklungen in den einzelnen Ländern, die sich hinter diesem globalen Trend verbergen, so lassen sich drei Formen der Entdemokratisierung unterschei­ den → 38 /142.3 Erstens beobachten wir demokratische Regime, die graduell an Qualität verlieren. Nach V-Dem-Einstufungen fallen in diese Kategorie für den Zeitraum 2010 bis 2020 sechs Länder, darunter Brasilien und die USA sowie mit Polen und Slowenien zwei EU-Mitgliedsstaaten. Während diese Länder (noch) demokratisch verfasst sind, kommt es in einer zweiten Gruppe zum Zusammenbruch der Demokratie. Im Zeitraum seit 2010 betrifft dies elf Länder, darunter Indien, Mali, die Türkei und Ungarn. Bereits vor 2010 hatten Bangladesch, Nicaragua, Thailand und Venezuela den V-Dem-Status als Demokratie verloren (wobei Thailand 2012 kurzzeitig erneut als Demokratie geführt wurde). Wie die Beispiele Mali (2012, 2020) und Thailand (2006, 2014) zeigen, gehört der klassische Militärputsch dabei keineswegs der Vergangenheit an. In den allermeisten Fällen beobachten wir allerdings eine schrittweise Erosion demokratischer Institutionen und eine schleichende Zunahme autoritärer Politikmuster.

friedensgutachten / 2021

37

Globale Entwicklung der Demokratie 1990–2020

Quelle → 5 /155

Demokratiequalität Globaler Durchschnitt

Elektorale Demokratiequalität Liberale Demokratiequalität

5

0,6

141 0,5

0,4

0,3

0,2

0,1

0

1990 1995 2000 2005 2010 2015 2020

Globaler Anteil an Regimeformen

Autokratie Elektorale Autokratie

Anteil in %

Elektorale Demokratie Liberale Demokratie

100

75

50

25

0 1990

1995

2000

2005

2010

2015

2020

2021 / Demokratien auf der Kippe: Globale Trends und Bedrohungen / transnationale sicherheitsrisiken

5 142

Ob und wann der Punkt erreicht ist, an dem Entdemokratisierung die Gestalt eines Zusammenbruchs der Demokratie annimmt, ist dabei in der Regel umstritten. V-Dem etwa führt die Türkei, nach Jahren gradueller Erosion unter Recep Tayyip Erdoğan, seit 2013 nicht mehr als Demokratie, der EU-Mitgliedsstaat Ungarn gilt seit 2018 als „elektorale Autokratie“, Bolivien verlor mit dem putschähnlichen Sturz von Präsident Evo Morales 2019 den Demokratiestatus. Ebenfalls 2019 überschritt nach jahrelangen, graduellen Abstufungen Indien als die bis dato bevölkerungsreichste Demokratie der Welt die Schwelle zur Autokratie. Die USA hingegen führt V-Dem weiterhin als „liberale Demokratie“. Der Übergang von der graduellen Erosion zum Zusammenbruch der Demokratie ist mithin fließend, und wenn im Folgenden von Entdemokratisierung die Rede ist, beziehen wir uns auf beide Phänomene. Nicht weiter thematisiert wird hingegen eine dritte Gruppe von Ländern, in denen eine weitere Verhärtung und Schließung – sprich eine weitere Autokratisierung – durchgehend autoritärer Regime zu verzeichnen ist.

38

Staaten mit substanziellem Demokratieverlust (2010–2020) Politisches Regime 2010 → 2020

Quelle → 5 /155

Index Index Liberaler Demokratie Elektoraler Demokratie Veränderung 2010–2020 Veränderung 2010–2020

Graduelle Erosion der Demokratie Botswana

Liberale Demokratie → Elektorale Demokratie

-0.14

-0.12

Brasilien

Elektorale Demokratie

-0.27

-0.19

Mauritius

Liberale Demokratie → Elektorale Demokratie

-0.23

-0.20

Polen

Liberale Demokratie → Elektorale Demokratie

-0.34

-0.26

Slowenien

Liberale Demokratie → Elektorale Demokratie

-0.15

-0.12

Liberale Demokratie

-0.13

-0.09

Benin

Elektorale Demokratie → Elektorale Autokratie

-0.26

-0.23

Bolivien

Elektorale Demokratie → Elektorale Autokratie

-0.20

-0.41

Indien

Elektorale Demokratie → Elektorale Autokratie

-0.23

-0.25

Komoren

Elektorale Demokratie → Elektorale Autokratie

-0.15

-0.17

Mali

Elektorale Demokratie → Elektorale Autokratie

-0.11

-0.14

Philippinen

Elektorale Demokratie → Elektorale Autokratie

-0.13

-0.09

Sambia

Elektorale Demokratie → Elektorale Autokratie

-0.16

-0.19

Serbien

Elektorale Demokratie → Elektorale Autokratie

-0.27

-0.29

Tansania

Elektorale Demokratie → Elektorale Autokratie

-0.09

-0.09

Türkei

Elektorale Demokratie → Elektorale Autokratie

-0.29

-0.27

Ungarn

Elektorale Demokratie → Elektorale Autokratie

-0.32

-0.34

USA Zusammenbruch der Demokratie

Weitere Autokratisierung in Ländern mit Zusammenbruch der Demokratie vor 2010 Bangladesch

Elektorale Demokratie bis 2002 → Elektorale Autokratie

-0.09

-0.18

Nicaragua

Elektorale Demokratie bis 2006 → Elektorale Autokratie

-0.15

-0.22

Thailand

Elektorale Demokratie bis 2005, 2012 → Elektorale Autokratie

-0.17

-0.22

Venezuela

Elektorale Demokratie bis 2002 → Elektorale Autokratie

-0.09

-0.22

friedensgutachten / 2021

Entdemokratisierung ist ein globales Phänomen, das alle Weltregionen erfasst. Betroffen sind nicht nur relativ junge Demokratien, sondern auch Länder wie Indien, die USA, Botswana oder Venezuela, die zur Jahrtausendwende auf mehrere Jahrzehnte demokratischer Herrschaft zurückblicken konnten. Allerdings ist das Gros demokratisch verfasster Staaten bisher nicht von substanziellen Verschlechterungen der Regimequalität betroffen. Zudem erinnern Beispiele wie Tunesien daran, dass es nach wie vor auch zu erfolgreichen Demokratisierungsprozessen kommt. Allgemein zeigen globale Protestdaten einen Anstieg pro-demokratischer Massendemonstrationen – und dies sowohl in demokratischen als auch in autoritär verfassten Staaten (→ Debiel et al. 2020). Trotz der schwierigen Bedingungen für Protestbewegungen aufgrund der Corona-Pandemie war das Jahr 2020 auch hier keine Ausnahme. Besonders bemerkenswert sind die Massenproteste in Belarus, die das Land seit der umstrittenen und offensichtlich mani­ pulierten Wiederwahl des langjährigen Diktators Alexander Lukaschenko vom August 2020 erschüttert haben, sowie der Widerstand gegen den Militärpusch in Myanmar vom Februar 2021.

5 143

Pro-Demokratische Massenproteste nehmen weltweit zu

Entdemokratisierung ist ein komplexer Prozess, es lassen sich aber typische Elemente identifizieren (→ V-Dem 2021). Erstens werden bürgerliche Rechte und Freiheiten eingeschränkt. Zweitens weitet die Exekutive, häufig ein dominantes Staatsoberhaupt, die Macht gegenüber den anderen Staatsgewalten aus, wobei demokratische Kontrollinstanzen zunehmend ausgehebelt werden. Judikative und das Parlament transformieren sich dabei tendenziell von Institutionen, die die Regierung zu Rechenschaft und Transparenz verpflichten, zu Instrumenten im politischen Machtkampf. Drittens wird in extremen Fällen auch der Wahlprozess weitgehend ausgehöhlt, sodass selbst der Kern der Demokratie – die Möglichkeit eines friedlichen Machtwechsels durch kompetitive, freie und faire Wahlen – substanziell Schaden nimmt. Die Einschränkung bürgerlicher Rechte und Freiheiten betrifft insbesondere zivilgesellschaftliche Handlungsspielräume (shrinking civic spaces) sowie Eingriffe in die Medienfreiheit. Seit 2005 verschärft eine wachsende Anzahl von Regierungen weltweit die lega­ len und administrativen Regeln, denen zivilgesellschaftliche Organisationen unter­­worfen sind, schränkt ihre Finanzierungsmöglichkeiten ein und schikaniert bzw. attackiert „unliebsame“ Aktivisten. Bedrohungen der Pressefreiheit äußern sich insbesondere in der Zunahme an Drohungen und gewaltsamen Attacken auf Journalisten. Die Beispiele Polen und Ungarn verdeutlichen zudem, wie Regierungen systematisch versuchen, die Medienlandschaft Schritt für Schritt unter ihre Kontrolle zu bringen und kritische Berichterstattung zu unterbinden. Zugleich haben sowohl die polnische als auch die unga­ r­ische Regierung in den vergangenen Jahren versucht, parlamentarische Kontrollmechanismen abzubauen und die Unabhängigkeit der Gerichte zu unterwandern. Dass Ent­demokratisierung inzwischen auch die Kerninstitutionen in etablierten Demokratien betrifft, zeigen insbesondere die umstrittenen Präsidentschaftswahlen 2020 in den USA. Zwar scheiterte Präsident Trump letztlich mit seinem Versuch, Wahl und Amtsantritt seines Konkurrenten zu verhindern. Allerdings war die Delegitimierung des Wahlpro-

Zivilgesellschaften und Medien geraten unter Druck

2021 / Demokratien auf der Kippe: Globale Trends und Bedrohungen / transnationale sicherheitsrisiken

zesses durch den Präsidenten bei weiten Teilen seiner Anhänger durchaus erfolgreich – mit der Folge eines substanziellen Vertrauensverlusts in die US-Demokratie.

5 144

Die Ursachen, die den gegenwärtigen Dynamiken der Entdemokratisierung zugrunde liegen, sind vielfältig. Die Forschung betont hier insbesondere die Bedeutung von Wirtschaftskrisen und wachsenden sozialen Ungleichheiten, den Verfall etablierter Parteiensysteme sowie laufende geopolitische Machtverschiebungen, in denen sich der relative Abstieg des liberal-demokratischen „Westens“ mit dem Aufstieg und wachsenden weltpolitischen Engagement autoritärer Regime wie China und Russland verbindet (→ Diamond 2021; Przeworski 2020) → F, → 1. Im Folgenden wollen wir unser Augenmerk auf drei konkrete Herausforderungen legen, mit denen demokratische Regime aktuell unmittelbar konfrontiert sind: das Phänomen sich zuspitzender politischer Pola­ risierung, das dem demokratischen Wettbewerb zentrale normative Grundlagen zu entziehen droht; den Terrorismus, der insbesondere in Gestalt der Terro­ris­musbekäm­ pfung zur konkreten Bedrohung liberaler Demokratien werden kann; und die Covid-19Pandemie, die jedenfalls temporär zu einer beispiellosen globalen Welle von Einschränkungen demokratischer Rechte und Institutionen geführt hat.

5.2 �� Bedrohungen und Herausforderungen der Demokratie POLITISCHE POLARISIERUNG

P

olitische Polarisierung bezeichnet die Zuspitzung politischer Debatten in Richtung zweier sich gegenüberstehender Positionen. Eine solche Zuspitzung ist per se kein Problem für die Demokratie, sondern kann das politische Engagement in Parteien oder die Teilnahme an Wahlen erhöhen und so durchaus demokratiefördernd wirken. Zur ernsten Herausforderung für die Demokratie wird Polarisierung dann, wenn sie Politik und Gesellschaft in zwei antagonistische Lager spaltet und die jeweilige Lagerzugehörigkeit zur übergeordneten kollektiven Identität wird. An die Stelle einer pluralistischen Auseinandersetzung tritt dann die Konfrontation zweier Blöcke, die sich wechselseitig die Legitimität absprechen (→ McCoy/Somer 2020). Eine wachsende Zahl von Demokratien ist seit der Jahrtausendwende von einer solchen extremen Polarisierung geprägt. Prominente Beispiele wie die USA, Brasilien, Indien und in Europa Polen oder Ungarn unterstreichen die Dringlichkeit des Problems. Mitunter befördert durch populistische Bewegungen und Regierungen, die die Spaltung der Gesellschaft nutzen und weiter vertiefen, bildet extreme politische Polarisierung einen wichtigen Bestandteil des beschriebenen Trends der Entdemokratisierung. Historisch spielt die sich zuspitzende Polarisierung entlang sozioökonomischer Konfliktlinien eine bedeutsame Rolle für das Scheitern der Demokratie. Exemplarisch hierfür steht die Geschichte konservativer Militärputsche in Lateinamerika. Aber angesichts

Extreme Polarisierung in immer mehr Demokratien

friedensgutachten / 2021

extremer sozialer Ungleichheit sind Polarisierungstendenzen in Lateinamerika auch heute häufig sozioökonomisch konnotiert. Beim graduellen Niedergang der Demokratie in Venezuela unter Hugo Chávez und seinem Nachfolger Nicolás Maduro spielte die Spaltung der Gesellschaft in das „chavistische“ Lager der sozioökonomisch benachteiligten Massen und das „anti-chavistische“ Lager der traditionellen Mittelschichten und Eliten eine zentrale Rolle. Eine ähnliche Konfliktkonstellation prägte auch die schwere Krise der Demokratie, die Bolivien in den Jahren 2019 und 2020 durchlief. Außerhalb Lateinamerikas bildet Thailand einen prominenten Fall, in dem eine scharfe Polarisierung entlang sozioökonomischer Konfliktlinien bereits zwei Mal zur Machtübernahme durch das Militär beigetragen hat. In anderen Fällen ist Polarisierung primär ethnisch oder religiös konnotiert. Prominente Fälle religiös geprägter Polarisierung bilden die Türkei unter Präsident Erdoğan und Indien unter Premierminister Narendra Modi. Erdoğan füllt einen stark populistischen Dis­ kurs mit einer konservativ-islamistischen Agenda, die die bis in die türkische Staatsgrün­ dung zurückreichende Konfliktlinie zwischen religiösen und säkularen Kräften aktiviert und vertieft hat. In ähnlicher Weise zeigt sich der radikal-hinduistische Diskurs Modis in Indien als zugleich die eigenen Anhänger mobilisierend und das Land tief spaltend. Sozioökonomische, ethnische und religiöse Differenzen spielen auch in den aktuellen Krisen der Demokratie in Ländern wie Brasilien, den USA, Polen oder Ungarn eine Rolle. Hier folgt die Lagerbildung aber insbesondere soziokulturell geprägten, politisch-ideologischen Identitäten. In unterschiedlichen Ausprägungen und Mischungsverhältnissen treffen kosmopolitische und nationalistische, (post-)moderne und traditionelle, liberale und konservative, menschenrechtlich progressive und regressive Einstellungen aufei­ nander – und manifestieren sich in konkreten Kontroversen über Gleichberechtigung, Abtreibung und LGBTIQ-Rechte, über Fragen von Integration, Rassismus und Einwanderung oder zum Verhältnis nationaler Souveränität und internationaler Verpflichtungen. Wie gefährlich politische Polarisierung ist, zeigt der Zusammenbruch der Demokratie in Ländern wie Thailand, der Türkei und Venezuela, aber auch die fortschreitende Erosion der Demokratie in Ungarn und Indien. In den USA konnte ein offener Zusammenbruch der Demokratie, der im Vorfeld der Wahlen im November 2020 durchaus möglich schien, vorerst abgewendet werden. Die anhaltende Polarisierung stellt das demokratische Regime der Vereinigten Staaten aber weiterhin vor ernste Herausforderungen. Generell zeigen die V-Dem-Daten, dass das Niveau politischer Polarisierung in der Mehrzahl der Länder, in denen jüngst eine signifikante Entdemokratisierung zu beobachten waren, hoch und seit der Jahrtausendwende spürbar angestiegen ist. Dies gilt konkret für Bolivien, Brasilien, Indien, Nicaragua, Polen, Sambia, Thailand, die Türkei und die USA. Die Mechanismen, über die eskalierende Polarisierung demokratische Institutionen und Normen unterminiert, sind vielfältig. Wie die scharfen Kontroversen um die Besetzung nationaler Gerichtshöfe in Polen und Ungarn aber auch in den USA zeigen, wird die

5 145

Sozioökonomische, ethnische oder religiöse Polarisierung schwächt Demokratien

2021 / Demokratien auf der Kippe: Globale Trends und Bedrohungen / transnationale sicherheitsrisiken

5 146

Judikative schnell zu einem Spielball der polarisierten politischen Auseinandersetzung. Das Parlament wird entweder – bei klarer Regierungsmehrheit wie in Ungarn – zum Erfüllungsgehilfen der Exekutive, oder es kommt zur wechselseitigen Blockade wie zuletzt regelmäßig in den USA. Extreme Polarisierung verringert dabei auch die Akzeptanz basaler Normen, die das Überleben der Demokratie sicherstellen, darunter insbesondere die wechselseitige Anerkennung als legitime politische Kontrahenten. In Folge sinken die Bereitschaft, einen (knappen) Wahlsieg der anderen Seite anzuerkennen, sowie die Fähigkeit zu lagerübergreifenden politischen Debatten, während Misstrauen und Intoleranz, im Extremfall auch Gewaltbereitschaft zunehmen.

Parlamente und Gerichte im Sog extremer Polarisierung

Extreme politische Polarisierung spaltet, wie gesagt, ebenfalls die Bevölkerung – und erhöht auch dort die Toleranz für Verstöße gegen demokratische Regeln. In polarisierten Gesellschaften zeigen sich Wähler, die die Demokratie grundsätzlich unterstützen, eher bereit, offen undemokratisches Verhalten zu tolerieren, wenn es von Repräsentanten des eigenen Lagers ausgeht (→ Svolik 2019). Im Extremfall führt dies dazu, dass selbst ein Militärputsch (wie in Thailand 2006 und 2014), die Aushebelung eines demokratisch gewählten Parlaments (wie in Venezuela 2016/2017) oder die massive Repression oppositioneller Gruppen (wie in der Türkei seit 2016) im eigenen Lager als legitimer Akt zur Verteidigung der Demokratie angesehen wird. Demokratische Kernprinzipien sind auch häufig selbst Gegenstand von Polarisierung. So herrschen in den antagonistischen Lagern mitunter konkurrierende Demokratievorstellungen vor, wenn etwa liberale, auf checks-and-balances und institutionelle Machtbegrenzung fokussierte Vorstellungen plebiszitären, mehrheits- und/oder direktdemokratischen („populistischen“) Vorstellungen gegenüberstehen. Noch schwieriger wird es, wenn eine Seite offen undemokratische Lösungen und/oder gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit propagiert und so der demokratischen Auseinandersetzung zwischen den Lagern die Grundlage entzieht. Wie der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro, aber auch Erdoğan, Trump und der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán zeigen, ist der Übergang zwischen illiberalen Kräften, die demokratische Kernprinzipien weiterhin zumindest im Grundsatz achten, und autoritären Positionen fließend. Die Unterscheidung ist aber gleichwohl zentral, spätestens wenn es um Empfehlungen zum Umgang mit Polarisierung geht. So argumentiert V-Dem in einem Handbuch zur Verteidi­­­­gung der Demokratie, dass Reaktionen auf „illiberale Herausforderer“, die unterschiedslos auf Exklusion, Verbote und Dämonisierung zielen, dazu tendieren, Polarisierung weiter zu vertiefen. Eine Strategie des „critical engagements“, des kritischen Dialogs, differenziert hingegen zwischen illiberalen, aber demokratiekompatiblen Forderungen, Positionen und Kräften und solchen, die extremistisch oder autoritär sind. Ziel ist es, die „Wir-gegen-sie-Logik“ zu durchbrechen und so zugleich Polarisierung zu reduzieren und autoritäre Strömungen zu marginalisieren (→ V-Dem 2020). Politische Antworten, so die aktuelle Forschung zum Thema, sollten darüber hinaus auf die strukturellen Ursachen extremer Polarisierung zielen. Allgemein geht es insbesondere um Antworten auf die Krise politischer Repräsentation, den laufenden Strukturwandel

Kritischer Dialog mit illiberalen Kräften statt Konfrontation, Verbot und Exklusion

friedensgutachten / 2021

öffentlicher Meinungsbildung (Stichworte: „Soziale Medien“ und Verschwörungsideologien → 39 /147 sowie auf sozioökonomische Ungleichheiten.

39

Verschwörungsideologien

Verschwörungsideologien treten vor allem in Krisensitu­ ationen in Erscheinung. Sie signalisieren und befördern eine Zunahme gesellschaftlicher Unsicherheit. Insbe­ sondere in extremistischen und terroristischen Diskur­ sen spielen Verschwörungsideologien oft eine zentrale Rolle. Da sie sich häufig auf Glaubenssysteme stützen, in denen Antisemitismus, Muslimfeindlichkeit und Frem­­denfeindlichkeit fest verankert sind, lassen sich Ver­ schwörungsideologien von rechtspopulistischen und rechtsextremen Akteuren gezielt nutzen, um gesellschaft­ liche Polarisierungen und die Delegitimierung der demokratischen Ordnung sowie ihrer politischen Re­ präsentanten voranzutreiben. In der Folge sind Bürger desorientiert, koppeln sich vom demokratischen Dis­kurs ab und billigen oder gebrauchen Gewalt gegen ver­ meintliche Bedrohungen. Die rechtsextremen Anschläge von Christchurch, El Paso und Halle im Jahr 2019 sind Beispiele für Gewalttaten, die sich auf verschwörungs­ ideologische Narrative des „großen Bevölkerungsaus­ tauschs“ oder einer „jüdischen Weltverschwörung“ stützen. Der Täter von Hanau (2020) bezog sich eben­ falls auf rassistische und verschwörungsideologische Versatzstücke.

Durch die Digitalisierung hat das Phänomen eine neue Dynamik erlangt: Verschwörungsideologien verbreiten sich schneller und werden von der Öffentlichkeit stärker wahrgenommen. In den sozialen Medien können sie in kürzester Zeit Mobilisierungsdynamiken in Gang setzen, die sich in Form von Protesten äußern und mitunter in Gewalttaten entladen. Wiederum sind es insbesondere rechtspopulistische und rechtsextreme Akteure, die in den sozialen Medien Verschwörungs­ideologien aufgrei­ fen, sie verändern oder neu kombi­nieren und aktiv ver­ breiten. Den jüngsten Höhepunkt dieser Entwicklung bildet der sogenannte „Sturm auf das Kapitol“ durch Unterstützer des abgewählten US-Präsidenten Donald Trump. Diesem Angriff auf die demokratischen Institu­ tionen der USA ging die Verschwörungserzählung der „gestohlenen Wahl“ voraus, die Trump selbst über Twitter befeuert hatte. In Deutschland hat die CoronaPandemie zu einem massiven Aufschwung von Ver­ schwörungsideologien geführt. Neben unzähligen On­­ line-Kanälen werden dabei auch die Anti-Corona-Pro­­teste als Plattform für antidemokratisch und antiplu­ ralistisch ausgerichtete verschwörungsideologische Agitation genutzt.

TERRORISMUS UND TERRORISMUSBEKÄMPFUNG

Terroristische Gewalt bedroht demokratische Systeme nicht unmittelbar, sondern wirkt über die Reaktionen, die sie beim Staat und in der Gesellschaft hervorruft. Terrorismus trägt zu Entdemokratisierung bei, wenn etwa Regierungen unter Verweis auf (vermeintliche) terroristische Bedrohungen bürgerliche Freiheiten und demokratische Verfahren einschränken. Ob Demokratien in besonderer Weise von terroristischer Gewalt betroffen sind, ist eine alte Debatte. Die aktuelle Forschung deutet eher darauf hin, dass terroristische Anschläge weniger wahrscheinlich sind, wenn das politische System gewaltfreie Möglichkeiten pluralistischer Partizipation bereithält (→ Gaibulloev et al. 2017). Seit dem 11. September 2001 (9/11) hat sich das terroristische Anschlagsgeschehen zunehmend in nicht-demokratische Staaten verlagert, auch wenn etablierte Demokratien weiterhin Anschläge

5 147

2021 / Demokratien auf der Kippe: Globale Trends und Bedrohungen / transnationale sicherheitsrisiken

5 148

erleben. Der eindeutige Schwerpunkt liegt jedoch in Regionen mit akuten bewaffneten Konflikten, die 96 % aller Todesfälle durch terroristische Gewalt im Jahr 2019 verzeichneten (→ Institute for Economics & Peace 2020: 14). Mehr als die Hälfte aller Anschläge fand in fünf Ländern statt und dabei in der Regel im Kontext laufender Bürgerkriege oder bewaffneter Aufstände: Afghanistan (21 %), Jemen (9 %), Irak (8 %), Indien (7 %) und Nigeria (6 %). Weltweit sind die Anzahl der Terroranschläge und die Zahl ihrer Opfer 2019 im sechsten Jahr in Folge zurückgegangen. Seit 2014 ist die jährliche Zahl der Anschläge um 50 % gesunken, die der zu beklagenden Toten um 54 % auf nun 14.840 (ohne getötete Täter). In Westeuropa ist vor allem die Zahl der Opfer terroristischer Anschläge seit 2015 massiv zurückgegangen. 2019 kam es zu 191 Anschlägen mit 18 Toten (→ Miller 2020: 2–3). Gegen diesen allgemeinen Trend ist in Nordamerika, Westeuropa und Ozeanien allerdings seit 2014 ein Anstieg rechtsterroristischer Taten um 250 % zu verzeichnen ( → Ahmed et al. 2020).

Zahl der Terroranschläge geht zurück

Terrorismus als Gewaltstrategie zielt darauf ab, Angst und Schrecken zu verbreiten. Insbesondere in Demokratien sollen so staatliche Repressionsmaßnahmen provoziert werden, die die Legitimität des Staates unterminieren oder gesellschaftliche Spaltungen vertiefen. Terrorismus profitiert dabei von den oben diskutierten Herausforderungen der Demokratie. So können Hassrede und extreme Polarisierung Radikalisierungsprozesse vorantreiben und das Risiko terroristischer Anschläge signifikant erhöhen (→ Piazza 2020). Dies gilt insbesondere für den in vielen demokratischen Ländern erstarkenden Rechtsterrorismus, der auch durch rechtspopulistische Akteure in und außerhalb von Regierungen angetrieben wird. Für die Frage, ob und wie Terrorismus demokratische Institutionen und Verfahren beschädigt, ist zunächst die unmittelbare Reaktion von Staat und Gesellschaft auf terroristische Akte von Bedeutung. Seit dem 11. September 2001 haben eine ganze Reihe demokratischer Staaten mit der Verabschiedung umfangreicher Maßnahmenpakete auf Terroranschläge reagiert. In vielen Fällen wurden dabei auch Kernelemente der de­mo­ kratischen Ordnung eingeschränkt oder suspendiert: Gesetzgebungsverfahren beschleunigt, Grund- und Menschenrechte beschränkt, staatliche Überwachungsmöglichkeiten ausgebaut. Einschränkende Maßnahmen ließen sich nicht nur unmittelbar nach „9/11“ beobachten oder nach den Anschlägen von Madrid (2004) und London (2005), sondern etwa auch in Frankreich nach den islamistischen Anschlägen in Paris im Jahr 2015. In vielen Fällen schränkten Regierungen nicht nur die Freiheit gravierend ein, sondern auch den demokratischen Prozess. So unterhielten zahlreiche westliche Nachrichtendienste Programme zur Telekommunikationsüberwachung, die an Parlamen­ten und Gerichten vorbeigeführt und mit denen teilweise sogar internationale Organisationen ausspioniert wurden. Einige demokratische Regierungen riefen den Ausnahmezustand aus, wodurch in der Regel repressive Maßnahmen verstärkt und die Hand­lungs­ spielräume der Exekutive erweitert wurden. Das eigentliche Ziel wird dabei aber kaum erreicht, insofern Staaten, die einen Ausnahmezustand erklären, ein erhöhtes Risiko weiterer Anschläge aufweisen (→ Bjørnskov/Voigt 2020).

Regierungen schränken Freiheit und Demokratie im Kampf gegen Terrorismus ein

friedensgutachten / 2021

Das Narrativ des „Kriegs gegen den Terror“ diente zudem vielen Staaten als Rechtfertigungsrahmen sowie als Vorwand zur Einschränkung der Handlungsspielräume, wenn nicht zur offenen Verfolgung unliebsamer politischer Gegner und zivilgesellschaftlicher Aktivisten. Unter dem Stichwort der Terrorismusbekämpfung ergriffen seit 2001 auch zahlreiche demokratische Staaten Maßnahmen, die zivilgesellschaftliche Organisationen verstärkten Kontrollen unterwarfen und konkret ihren Zugang zu finanzieller Unterstützung aus dem Ausland beschränkten. Internationale Unterstützung fanden sie dabei nicht nur bei der US-Regierung, sondern auch bei der von den G7 gegründeten Financial Action Task Force (FATF). Die FATF setzte sich nach „9/11“ weltweit für verschärfte Regeln der NGO-Finanzierung ein, ohne dabei hinreichend darauf hinzuwirken, dass das Ziel, Terrorismusfinanzierung und Geldwäsche zu verhindern, nicht für breitere, politisch motivierte Einschränkungen missbraucht wurde. Entsprechend hat die Anti-Terror-Politik nach 2001 zu dem oben diskutierten Phänomen der shrinking civic spaces beigetragen (→ Bethke/Wolff 2020: 365). Besonders in stark polarisierten Gesellschaften, in denen Regierungen an der Konsolidierung der eigenen Macht zulasten demokratischer Gegengewichte arbeiten, bietet die Terrorbekämpfung regelmäßig ein willkommenes Motiv. Dies ließ sich seit dem Putschversuch 2016 besonders deutlich in der Türkei beobachten, wo eine Vielzahl an Journalisten, Wissenschaftlern und Regierungsgegnern wegen der vermeintlichen Unterstützung terroristischer Gruppen vor Gericht gestellt worden ist. In Ungarn rechtfertigte Viktor Orbán die Einschränkung zivilgesellschaftlicher Handlungsspielräume unter anderem damit, dass diese Gruppen die Zuwanderung beförderten und so die Terrorgefahr steige, etwa im Rahmen der Kampagne „Nationale Konsultation über Einwanderung und Terrorismus“. Die Ausei­nandersetzung mit Flucht und Migration erscheint in Ungarn aber von ungleich größerer Bedeutung als der Einfluss staatlicher Terrorismusbekämpfung, und der Prozess der Entdemokratisierung war bereits vorher im Gang. Auch dort, wo Terrorismusbekämpfung nicht direkt zu Entdemokratisierung führt, kann eine Serie jeweils begrenzter Maßnahmen kumulativ bedenkliche Entwicklungen auslösen. In Deutschland zeigen dies etwa die inzwischen kaum noch überschaubaren rechtlichen und technologischen Kompetenzen der Nachrichtendienste, die aktuellen Diskussionen um die Reform des BND-Gesetzes sowie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Telekommunikationsüberwachung im Ausland. Die demokratische und rechtsstaatliche Kontrolle moderner Nachrichtendienste kommt dabei nicht nur rechtlich und personell an ihre Grenzen. Ihr fehlen auch das Wissen und die Technik, um der wachsenden Menge immer komplexerer Überwachungstätigkeit begegnen zu können. Das Risiko einer schleichenden Ausweitung staatlicher Kontroll- und Repressionsmöglichkeiten verweist schließlich auf die zentrale Frage, ob Maßnahmen, die in Reaktion auf eine konkrete Terrorbedrohung ergriffen werden, befristet bleiben oder auf Dauer gestellt werden. In Deutschland wurde das nach „9/11“ verabschiedete Terrorismusbekämpfungsgesetz zunächst befristet, um die Notwendigkeit und Wirksamkeit der ergriffenen Maßnahmen nach einer gewissen Zeit zu überprüfen. Nach mehreren Verlängerungen wurde das Gesetz schließlich am 5. November 2020 vom Bundestag

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Anti-Terror-Politik als Vorwand, um zivilgesellschaftliche Spielräume zu begrenzen

2021 / Demokratien auf der Kippe: Globale Trends und Bedrohungen / transnationale sicherheitsrisiken

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entfristet. Diese grundlegende Entscheidung, die ohne größere öffentliche Diskussion über die Bühne ging, stützte sich auf eine methodisch fragwürdige Evaluierung, in der die Bundesregierung vor allem selbst überprüfte, wie regelmäßig die Maßnahmen angewendet und als wie sinnvoll sie von den Sicherheitsbehörden eingeschätzt wurden. Dies bedeutet noch keine Krise der Demokratie, es verweist aber darauf, dass sich auch weitgehend funktionierende Demokratien, die nur sehr begrenzt von terroristischer Gewalt bedroht sind, äußerst schwer damit tun, einen demokratischen Umgang mit dem Terrorismus zu entwickeln, der die ergriffenen Maßnahmen befristet, sie trans­ parent und systematisch evaluiert und generell der öffentlichen Debatte aussetzt.

Maßnahmen gegen Terrorismus befristen, evaluieren und öffentlich debattieren

COVID-19 UND DIE POLITIK DER PANDEMIE-EINDÄMMUNG

Ähnlich wie beim Terrorismus bedroht nicht die Covid-19-Pandemie die Demokratie, sondern die politische Reaktion darauf. Zur Eindämmung der Pandemie riefen seit März 2020 weltweit Regierungen den Ausnahmezustand aus und beschlossen umfangreiche Maßnahmen wie Ausgangs- oder Kontaktsperren, die demokratische Rechte und Freiheiten substanziell eingeschränkt haben. In diesem Kontext kam es auch vielfach zur Verschiebung von demokratischen Wahlen. Nach Angaben des Institute for Demo­ cracy and Electoral Assistance (IDEA) wurden im Jahr 2020 in insgesamt 75 Ländern Wahlen verschoben, wobei 40 davon nationale Wahlen und Referenden betrafen. Allerdings wurden die meisten Wahlen innerhalb kürzester Zeit unter Pandemiebedingungen nachgeholt.4 Insofern ist nicht davon auszugehen, dass die Pandemie dauerhaften Schaden an diesem Kernelement der Demokratie hinterlassen wird. In anderen Bereichen gibt es jedoch Grund zur Sorge, dass demokratische Rechte und Freiheiten nachhaltig beeinträchtigt werden könnten (→ zum Folgenden auch Bethke/ Wolff 2020). Dies betrifft erstens das Grundrecht der Versammlungsfreiheit: Innerhalb eines kurzen Zeitraums von März bis April 2020 wurde dieses in praktisch allen Ländern der Welt massiv eingeschränkt, die Restriktionen um die Jahresmitte nur geringfügig gelockert und schließlich zum Ende des Jahres wieder verschärft. Zweitens ging der Gesundheits­not­stand rund um den Globus mit einer spürbaren Machtkonzentration in der Exeku­tive und einer zumindest temporären Einschränkung parlamentarischer Kontrollen einher. Weltweit wurde 2020 vielfach im Ausnahmezustand an den Parlamenten vorbei und ohne eine breitere politische und gesellschaftliche Debatte regiert. Die Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19 haben somit zumindest temporär zu massiven Beeinträchtigungen demokratischer Rechte und Verfahren geführt. Inwieweit diese Einschränkungen in Reaktion auf die gesundheitliche Bedrohung angemessen waren, ist aber deutlich schwieriger zu sagen. Grundsätzlich besteht kein ernster Zweifel, dass die exponentielle Ausbreitung des Coronavirus drastische Maßnahmen wie Versammlungs- und Kontaktbegrenzungen verlangte, um Risikogruppen zu schützen und einen Zusammenbruch der öffentlichen Gesundheitssysteme zu verhindern. Auch eine von der Exekutive dominierte Krisenpolitik, die die Möglichkeiten zur parlamentarischen

Einschränkung der Versammlungsfreiheit, mehr Macht für Exekutiven in CoronaPandemie

friedensgutachten / 2021

Deliberation und Kontrolle temporär reduziert oder gar aussetzt, war jedenfalls in der ersten Reaktion auf das weitgehend unbekannte Virus noch gut begründet. Mit anhaltender Dauer der Pandemie stellte sich aber zunehmend die Frage nach der Vereinbarkeit der Restriktionen mit grundlegenden demokratischen Rechten und Freiheiten. Zur Gefahr für die Demokratie wird die Pandemie dann, wenn Regierungen ihre durch den Gesundheitsnotstand hinzugewonnene Macht für politische Zwecke missbrauchen, indem exekutive Kompetenzen dauerhaft zulasten parlamentarischer und juristischer Kontrollinstanzen ausgeweitet und zivilgesellschaftliche Handlungsspielräume dauerhaft eingeschränkt werden. Eine zentrale Frage ist deshalb, inwieweit die von demokratischen Regierungen erlassenen Maßnahmen der Pandemiebekämpfung grundlegenden demokratischen und menschenrechtlichen Vorgaben folgten. Mit Blick auf internationale Menschenrechtsstandards ist dabei von besonderer Bedeutung, dass die Maßnahmen im Rahmen der Gesetze erfolgen, transparent und nicht-diskriminierend ausgestaltet sind, einer zeit­li­ chen Befristung unterliegen und in regelmäßigen Abständen hinsichtlich ihrer Verhältnismäßigkeit im Parlament und von unabhängigen Gerichten überprüft werden. Inwieweit Regierungen im Rahmen der Pandemiebekämpfung 2020 diese Grundsätze res­­pektiert haben, lässt sich mit Daten des Pandemic-Backsliding-Projekts nachvollziehen → 38 /142. Das Projekt identifiziert entsprechende Verstöße in autokratischen Regimen wie Russland oder China, vor allem aber in solchen Ländern, die in den vergangenen zehn Jahren bereits von Entdemokratisierung betroffen waren: Aus dieser Gruppe verletzten knapp 90 % aller Regierungen bei der Pandemiebekämpfung demokratische Kernstandards substanziell oder gar massiv. So suspendierte sich in Indien das Parlament für mehrere Monate selbst, während die Regierung politischen Einfluss auf Presseberichterstattung nahm und Einschränkungen mit Polizeigewalt durchgesetzt wurden. In Brasilien erklärte die Regierung den Gesundheitsnotstand ohne Zustimmung des Parlaments und ohne zeitliche Befristung und unterbrach zeitweise die offizielle Bericht­ erstattung über die nationale Pandemiesituation. In Serbien wurden im Zusammenhang mit der Pandemiebekämpfung die Rechte des Parlamentes beschnitten, Presseberichterstattung eingeschränkt und systematisch Geflüchtete und Migranten diskriminiert. In den USA rief die Trump-Regierung den Ausnahmezustand ebenfalls ohne Zustimmung des Parlaments aus und verweigerte Teilen der Presse systematisch den Zugang zu Regierungsinformationen. Das Beispiel Ungarn illustriert, wie im Kontext der Pandemie langfristig die Weichen gestellt wurden, um Regierungskompetenzen auszuweiten. So nutzte die Regierung Orbán die Pandemiebekämpfung Ende März 2020 zur Verabschiedung eines Gesetzes, das es ihr ermöglichte, den nationalen Notstand unbefristet zu verlängern und per Dekret ohne das Parlament zu regieren. Mit diesen Vollmachten ausgestattet, erließ die Regierung über 100 Dekrete, die zum Teil ohne Bezug zur Pandemiebekämpfung weitreichend in Bürgerrechte eingreifen. Die Corona-Sondervollmachten wurden zwar im Juni 2020 vom Parlament wieder aufgehoben, allerdings wurde der Regierung dabei gleichzeitig

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Trend zur Entdemo­ kratisierung wird durch Maßnahmen der Pandemiebekämpfung verstärkt

2021 / Demokratien auf der Kippe: Globale Trends und Bedrohungen / transnationale sicherheitsrisiken

die Möglichkeit zugesprochen, die Sondervollmachten aufgrund eines nationalen medizinischen Notstands jederzeit erneut in Anspruch zu nehmen. Im November 2020 wurde der Notstand schließlich erneut ausgerufen und in diesem Zusammenhang auch das Wahlrecht zugunsten der Regierungspartei geändert sowie eine Verfassungsänderung durchgesetzt, die den Modus des wiederkehrenden Ausnahmezustandes lega­lisiert und der Regierung noch mehr Macht zusichert.

5 152

Demgegenüber zeigen sich in zahlreichen anderen Demokratien im Rahmen der Pan­ de­miebekämpfung keine oder nur geringfügige Verstöße gegen demokratische und menschenrechtliche Mindeststandards. Dies gilt für mehr als die Hälfte der im Pandemic-Backsliding-Projekt erfassten Demokratien. Eine Ausnahme in Westeuropa bildet Spanien, dessen Regierung einige Maßnahmen ohne zeitliche Begrenzung veranlasste. In der Summe bestätigen die Daten die Vermutung, dass die Pandemie vor allem bereits laufende Prozesse der Entdemokratisierung verschärft. Ein Vergleich der Protestentwicklungen zeigt, dass die Corona-bedingten Einschränkungen zivilgesellschaftlicher Handlungsspielräume – zumindest mit Blick auf die Versammlungsfreiheit – in der überwiegenden Zahl der Länder lediglich temporärer Natur bleiben dürften: Nach einem spürbaren Rückgang der globalen Proteste zu Beginn des Jahres nahmen sie nach wenigen Monaten bereits wieder deutlich zu – teilweise zusätzlich angeheizt durch die Maßnahmen der Pandemiebekämpfung und ihre sozioökonomischen Folgen (→ Bethke/Wolff 2020: 369–370). 40

Verletzung demokratischer Standards im Rahmen der Pandemiebekämpfung

Quelle → 5 /155

keine Verletzungen geringe Verletzungen substanzielle Verletzungen massive Verletzungen keine Daten

Die dargestellten Grenzen und Namen sowie die auf dieser Karte verwendeten Bezeichnungen bedeuten keine offzielle Billigung oder Anerkennung durch die Autoren.

friedensgutachten / 2021

Noch lässt sich nicht abschließend sagen, inwieweit die andauernde Covid-19-Pandemie den in diesem Kapitel analysierten Trend zur Entdemokratisierung nachhaltig vorantreiben wird. Einzelne Fälle wie Ungarn zeigen, dass die Pandemiebekämpfung als weiterer Schritt eines laufenden, graduellen Prozesses der Schließung eines politischen Systems wirken kann. Generell sollten die massiven Einschränkungen der Versammlungsfreiheit jedoch nicht zu einer dauerhaften Schließung zivilgesellschaftlicher Handlungsspielräume führen, wie das schnelle Wiederaufleben von Protesten rund um die Welt zeigt. Das Risiko ist hier vielmehr, dass ohnehin bestehende soziale Konflikte durch die Corona-Maßnahmen und ihre sozioökonomischen Folgen weiter eskalieren. Gemeinsam mit der wachsenden Kritik an der Corona-Politik (auch) demokratischer Regierungen und dem weiteren Aufschwung von Verschwörungsideologien → 39 /147 dürfte dies die politische Polarisierung in zahlreichen Ländern weiter verschärfen und zu einem (weiteren) Rückgang der Legitimität demokratischer Institutionen beitragen.

schlussfolgerungen Die jüngsten politischen Entwicklungen verdeutlichen die gegenwärtige Fragilität demo­ kratischer Regierungssysteme. Nach Jahrzehnten der globalen Ausbreitung der Demokra­ tie sehen wir zurzeit eine Phase der Entdemokratisierung, die auch vor altgedienten De­ mokratien keinen Halt macht. Dass Entdemokratisierung dabei zumeist als graduelle Erosion demokratischer Normen und Institutionen in Erscheinung tritt, sollte nicht beru­ higen. Gerade die schleichende Aushöhlung der Demokratie durch gewählte Regierungen macht es innergesellschaftlichen wie externen Akteuren schwer, frühzeitig und entschieden Gegenstrategien zu entwickeln. Dies gilt umso mehr bei zunehmender politischer Pola­ri­ sierung. Terrorismus und die Corona-Pandemie wirken in diesem Kontext als Katalysatoren. Dementsprechend muss der kollektive Schutz der Demokratie ins Zentrum der gesellschaft­ lichen Aufmerksamkeit rücken. Dies betrifft sowohl die Unterstützung fragiler Demokrati­ en im globalen Süden, die durch die Corona-Pandemie unter zusätzlichen Druck geraten sind, als auch gemeinsame Anstrengungen für den Erhalt von Demokratie innerhalb der EU sowie im Rahmen der multilateralen Zusammenarbeit demokratischer Staaten. Im Un­­terschied zum EU-Rechtsstaatsmechanismus, der reaktiv darauf zielt, bereits offensicht­ liche Probleme in Mitgliedstaaten rückwirkend zu sanktionieren, geht es kollektivem De­ mokratieschutz um die Prävention zukünftiger Verstöße. Ziel ist es, über wechselseitige Selbstverpflichtungen (mit Überprüfungsmechanismen und gegebenenfalls Sanktionen) weitere Erosionsprozesse zu verhindern. In diesem Sinne sollte sich auch der von USPräsident Joe Biden vorgeschlagene globale „Demokratie-Gipfel“ nicht als Bollwerk der „freien Welt“ gegen externe Bedrohungen stellen, sondern eine gemeinsame, nach innen gerichtete Agenda ins Zentrum rücken (→ Leininger/Lindberg 2021). Dabei geht es nicht nur darum, fortgesetzte Erosionsprozesse und eine sich weiter verschärfende Pola­ri­sie­rung zu verhindern. Insbesondere mit Blick auf die Folgen von Terrorbekämpfung (seit „9/11“)

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2021 / Demokratien auf der Kippe: Globale Trends und Bedrohungen / transnationale sicherheitsrisiken

und Pandemie-Eindämmung (seit 2020) für Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrech­ te gilt es, erfolgte Einschränkungen nach Möglichkeit zu revidieren. Ergriffene Maßnahmen müssen systematisch überprüft werden, eingebettet in eine breite öffentliche Debatte – in Deutschland, EU-weit und auf globaler Ebene.

5 154

Die ungebrochene Dynamik, mit der Menschen weltweit für (mehr) Demokratie auf die Straße gehen, ist ein Beleg dafür, dass die Idee der Demokratie nach wie vor hohe Attrak­ tivität genießt. Die zunehmende Unzufriedenheit, die auch die Bürger in Demokratien mit dem bestehenden System artikulieren, verweist jedoch darauf, dass deren aktuelle Form, Funktionsweise und Performance Teil des Problems ist. Es kann deshalb nicht nur darum gehen, die Demokratie vor Polarisierung, „Populismus“ und den (vermeintlichen) Sach­ zwängen der Terrorismus- und Pandemiebekämpfung zu schützen. Eine strukturelle Ant­ wort auf die aktuellen Erosionsprozesse und Polarisierungsdynamiken verlangt zugleich, die Demokratie zu erneuern. Dafür gibt es keine Patentrezepte. Vielmehr geht es darum, die Parlamente und die breitere politische Öffentlichkeit wieder verstärkt zu Orten des leb­haften Streits über die Gestalt und Zukunft der Demokratie zu machen – in der Sache durch­ aus scharf, aber in den Grenzen eines zivilen, demokratiekompatiblen Konfliktaustrags.

1 Center for Systemic Peace, Notice, http://www.systemicpeace.org; 2.2.2021. 2 In der oberen Grafik sind der Liberal Democracy Index und der Electoral Democracy Index abgebildet. Die Indizes sind kontinuierlich von 0 bis 1 skaliert, wobei hohe Werte eine höhere bzw. bessere Qualität des jeweiligen Indikators implizieren. Für die untere Grafik wurde die „Regimes of the world“-Klassifizierung verwendet.

3 Unter den insgesamt 25 Ländern, für die V-Dem im Zeitraum 2010-2020 einen substanziellen Rückgang des Liberal Democracy Index verzeichnet, finden sich auch vier (Burundi, Hong Kong, Jemen und Kambodscha), die hier nicht aufgeführt werden, da sie nie als Demokratien geführt wurden, von Entdemokratisierung also schlecht gesprochen werden kann. 4 https://www.idea.int/news-media/multimedia-reports/ global-overview-covid-19-impact-elections

friedensgutachten / 2021

Autorinnen und Autoren Stephen Albrecht

PD Dr. Martin Kahl

IFSH – Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg

IFSH – Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg

Dr. Felix Bethke (Koordination)

Dr. Janina Pawelz

HSFK – Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung

IFSH – Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg

Dr. Hendrik Hegemann IFSH – Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg

PD Dr. Jonas Wolff (Koordination) HSFK – Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung

Dr. Julian Junk HSFK – Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung

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Abbildungen / Grafiken / Tabellen 37 /141 Globale Entwicklung der Demokratie, 1990–2020 V-Dem 2021: V-Dem Dataset – Version 11, in: https://www.v-dem.net/en/ data/data/v-dem-dataset-v11/. 38 /142 Staaten mit substanziellem Demokratieverlust 2010–2020 V-Dem 2021: V-Dem Dataset – Version 11, in: https://www.v-dem.net/en/ data/data/v-dem-dataset-v11/.

40 /152 Verletzung demokratischer Standards im Rahmen der Pandemiebekämpfung V-Dem 2021: PanDem Index, März-Dezember 2020, in: https://www.v-dem. net/en/analysis/PanDem/. Layout: Vincent Glasow. BICC, März 2021.

5 155

2021 / Europa kann mehr!

Abkürzungsverzeichnis

156

A

E

ABC-Waffen Atomare, biologische und chemische Waffen

EAD

Europäischer Auswärtiger Dienst

ACLED

Armed Conflict Location & Event Data Project

ECFR

European Council on Foreign Relations

AIIB

Asian Infrastructure Investment Bank

ECOWAS

Economic Community of West African States

APF

African Peace Facility

EDF

European Defence Fonds

ASEAN

Association of South East Asian Nations

EP

Europäisches Parlament

ATT

Arms Trade Treaty

EPF

European Peace Facility

AU

Afrikanische Union

EU

Europäische Union

AVV Atomwaffenverbotsvertrag

EVA

Europäische Verteidigungsagentur

B

F

BDIMR

Büro für demokratische Institutionen

FAO

Food and Agriculture Organization



und Menschenrechte der OSZE



of the United Nations

BIP Bruttoinlandsprodukt

FATF

Financial Action Task Force

BND Bundesnachrichtendienst

FCAS

Future Combat Air System

BRI Belt-and-Road-Initiative

FDP

Freie Demokratische Partei

BWÜ

Übereinkunft über das Verbot

FOCAC

Forum on China-Africa Cooperation



biologischer Waffen (Biowaffen-Konvention) G

C

GASP

Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik

CAAT

Campaign Against the Arms Trade



der EU

CARD

Coordinated Annual Review on Defence der EU

GGE

Group of Governmental Experts

CDU/CSU

Christlich Demokratische Union Deutschlands/

GHS

Global Health Security Index



Christlich Soziale Union

GKKE

Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung

COARM

Conventional Arms Export Control

GMI

Globaler Militarisierungsindex

COCOM

Coordinating Committee



for Multilateral Export Controls

GPI

Global Peace Index

COVAX

Covid-19 Vaccines Global Access

GSVP

Gemeinsame Sicherheits-



und Verteidigungspolitik

CWÜ

Übereinkunft über das Verbot chemischer Waffen G7 (Chemiewaffen-Konvention)

Gruppe der Sieben

H HKNM

Hoher Kommissar für nationale Minderheiten



der OSZE

friedensgutachten / 2021

O

I IDMC

Internal Displacement Monitoring Center

OAS

Organisation Amerikanischer Staaten

IGAD

Intergovernmental Authority on Development

OEWG

Open-Ended Working Group

INF

Intermediate Range Nuclear Forces

OSZE

Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit

IWF

Internationaler Währungsfonds



in Europa

INEF

Institut für Entwicklung und Frieden

OVCW

Organisation für das Verbot chemischer Waffen

INF

Intermediate Range Nuclear Forces

IS

Islamischer Staat

ISAF

International Security Assistance Force

ISF

Irakische Streitkräfte

P PESCO

Permanent Structured Cooperation on Security



and Defence

S

J JCPOA

157

Joint Comprehensive Plan of Action

M

SDGs

Sustainable Development Goals

SIDS

Small Island Developing States

SIPRI

Stockholm International Peace Research Institute

MENA

Middle East & North Africa Region

SMM

Special Monitoring Mission der OSZE

MGCS

Main Ground Combat System

SPD

Sozialdemokratische Partei Deutschlands

MINUJUSTH VN-Mission in Haiti

SSR Sicherheitssektorreform



(Mission des Nations Unies pour l’Appui à la



Justice en Haïti)

U

MINURSO

VN-Mission in der westlichen Sahara



(Mission des Nations Unies pour l`organisation

UCDP

Uppsala Conflict Data Program



d’un référendum au Sahara occidental)

UNAMID

VN/AU-Mission im Sudan/Darfur

MINUSCA

VN-Mission in der Zentralafrikanischen Republik



(United Nations –



(United Nations Multidimensional Integrated



African Union Hybrid Operation in Darfur)



Stabilization Mission in the Central African

UNHCR

United Nations High Commissioner for Refugees

Republic)

UNMISS

VN-Mission im Südsudan



(United Nations Mission in South Sudan)

UNOCHA

United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs

MINUSMA

VN-Mission in Mali



(Mission multidimensionnelle intégrée



des Nations Unies pour la Stabilisation au Mali)



MONUSCO

VN-Mission in der Demokratischen Republik

ÜK Überprüfungskonferenz



Kongo (Mission de l`Organisation des Nations



Unies en République Démocratique du Congo)

V

MTCR

Missile Technology Control Regime

VAE

Vereinigte Arabische Emirate

VJTF

Very High Readiness Joint Task Force

N NATO

North Atlantic Treaty Organization

NGO

Non-governmental Organization

NGF

Next Generation Fighter

NVV

Nuklearer Nichtverbreitungsvertrag

2021 / Europa kann mehr!

158

friedensgutachten / 2021

159

2021 / Europa kann mehr! / friedensgutachten

→ pdf www.friedensgutachten.de

160

BICC Bonn International Center for Conversion Prof. Dr. Conrad Schetter Director for Research Pfarrer-Byns-Straße 1, 53121 Bonn www.bicc.de HSFK Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung Prof. Dr. Nicole Deitelhoff Geschäftsführendes Vorstandsmitglied Prof. Dr. Christopher Daase Stv. Geschäftsführendes Vorstandsmitglied Baseler Straße 27–31, 60329 Frankfurt www.hsfk.de IFSH Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg Prof. Dr. Ursula Schröder Wissenschaftliche Direktorin Beim Schlump 83, 20144 Hamburg www.ifsh.de INEF Institut für Entwicklung und Frieden Universität Duisburg-Essen Prof. Dr. Tobias Debiel Stv. Direktor Lotharstraße 53, 47057 Duisburg www.inef.de Redaktionsleitung

Visuelle Konzeption und Gestaltung

Produktion

Dr. Claudia Baumgart-Ochse, HSFK

Diesseits – Kommunikationsdesign,

Sieprath GmbH | marketingservices

Düsseldorf

& printmanagement, Aachen Übersetzung Graeme Currie

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