Frühneuzeitliche Bildungssysteme im interkonfessionellen Vergleich: Inhalte – Infrastrukturen – Praktiken 3515120106, 9783515120104

Die Erforschung der frühneuzeitlichen Bildungsgeschichte hat in den letzten Jahren ein neues Profil gewonnen. Vor allem

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Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
(Christine Freytag und Sascha Salatowsky)
Einleitung
1. KONFESSIONELLE ASPEKTE
(Stefan Ehrenpreis)
Konfessionelles Schulwesen und frühneuzeitliche Bildungsinnovationen
(Martin Holý)
Ähnlichkeit oder Differenz? Bildungssysteme in den Ländern der
Böhmischen Krone im 16. und 17. Jahrhundert
(Andrea Ottens)
Schule im Zeitalter der Konfessionalisierung. Das Beispiel der
Lateinschule und des akademischen Gymnasiums der Grafschaft
Lingen (1680–1702)
(Sascha Salatowsky)
Schule als konfessioneller Resonanzraum? Der Ethikunterricht an
protestantischen Schulen als Beispiel religiöser Orientierung
(Jens Nagel)
Der Streit um die Vergangenheit. Konfessionspolitische Propaganda
in katholischen und protestantischen Schulbüchern für den Geschichtsunterricht
in der Frühen Neuzeit
2. BILDUNGSKONZEPTE
(Corinna Sonntag)
Melanchthons „Schola Domestica“. Wissensdistribution eines
spezifischen Bildungssystems im Zeichen von Reformation
und Späthumanismus
(Christine Freytag)
„Sie sollen sich an eine deutliche/ langsame und richtige Außrede/
wenn sie beten oder recitiren/ gewehnen lassen.“ Die methodische
Vorgehensweise in der Gothaer Schulordnung ab 1642
(Thomas Töpfer)
Veit Ludwig von Seckendorff und die Rezeption der Gothaer
Schulreformen
(Jost Eickmeyer und Reinhard Gruhl)
Argutia und Gesprächsspiel. Pädagogische Reformprogramme
um die Mitte des 17. Jahrhunderts (Jacob Masen SJ und
Georg Philipp Harsdörffer)
3. INSTITUTIONEN UND PRAKTIKEN
(Maike Gauger-Lange)
Funktion und Einbindung der evangelischen Klosterschulen in die
Verwaltung des Fürstentums Braunschweig-Wolfenbüttel (1569–1613)
(Tobias Binkert)
Reichsgrafen als Schüler an akademischen Gymnasien
(Kristina Hartfiel)
Präsenz und Materialität von (Geschichts-)Unterricht? Historiographische
Werke aus dem Altbestand zweier Gymnasialbibliotheken
im Vergleich
PERSONENREGISTER
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Frühneuzeitliche Bildungssysteme im interkonfessionellen Vergleich: Inhalte – Infrastrukturen – Praktiken
 3515120106, 9783515120104

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Frühneuzeitliche Bildungssysteme im interkonfessionellen Vergleich Inhalte – Infrastrukturen – Praktiken Herausgegeben von Christine Freytag und Sascha Salatowsky

Kulturwissenschaften Franz Steiner Verlag

Gothaer Forschungen zur Frühen Neuzeit – 14

Christine Freytag / Sascha Salatowsky (Hg.) Frühneuzeitliche Bildungssysteme im interkonfessionellen Vergleich

gothaer forschungen zur frühen neuzeit Herausgegeben vom Forschungszentrum und der Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt Schriftleitung: Martin Mulsow und Kathrin Paasch Band 14

Frühneuzeitliche Bildungssysteme im interkonfessionellen Vergleich Inhalte – Infrastrukturen – Praktiken Herausgegeben von Christine Freytag und Sascha Salatowsky

Franz Steiner Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2019 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12010-4 (Print) ISBN 978-3-515-12013-5 (E-Book)

INHALTSVERZEICHNIS Christine Freytag und Sascha Salatowsky Einleitung ...........................................................................................................

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1. KONFESSIONELLE ASPEKTE Stefan Ehrenpreis Konfessionelles Schulwesen und frühneuzeitliche Bildungsinnovationen ....... 19 Martin Holý Ähnlichkeit oder Differenz? Bildungssysteme in den Ländern der Böhmischen Krone im 16. und 17. Jahrhundert ................................................ 39 Andrea Ottens Schule im Zeitalter der Konfessionalisierung. Das Beispiel der Lateinschule und des akademischen Gymnasiums der Grafschaft Lingen (1680–1702) .......................................................................................... 53 Sascha Salatowsky Schule als konfessioneller Resonanzraum? Der Ethikunterricht an protestantischen Schulen als Beispiel religiöser Orientierung .......................... 77 Jens Nagel Der Streit um die Vergangenheit. Konfessionspolitische Propaganda in katholischen und protestantischen Schulbüchern für den Geschichtsunterricht in der Frühen Neuzeit ........................................................................ 117

2. BILDUNGSKONZEPTE Corinna Sonntag Melanchthons „Schola Domestica“. Wissensdistribution eines spezifischen Bildungssystems im Zeichen von Reformation und Späthumanismus ......................................................................................... 145

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Einleitung

Christine Freytag „Sie sollen sich an eine deutliche/ langsame und richtige Außrede/ wenn sie beten oder recitiren/ gewehnen lassen.“ Die methodische Vorgehensweise in der Gothaer Schulordnung ab 1642 .................................... 167 Thomas Töpfer Veit Ludwig von Seckendorff und die Rezeption der Gothaer Schulreformen .................................................................................................... 189 Jost Eickmeyer und Reinhard Gruhl Argutia und Gesprächsspiel. Pädagogische Reformprogramme um die Mitte des 17. Jahrhunderts (Jacob Masen SJ und Georg Philipp Harsdörffer) ................................................................................ 213

3. INSTITUTIONEN UND PRAKTIKEN Maike Gauger-Lange Funktion und Einbindung der evangelischen Klosterschulen in die Verwaltung des Fürstentums Braunschweig-Wolfenbüttel (1569–1613) ......... 259 Tobias Binkert Reichsgrafen als Schüler an akademischen Gymnasien .................................... 279 Kristina Hartfiel Präsenz und Materialität von (Geschichts-)Unterricht? Historiographische Werke aus dem Altbestand zweier Gymnasialbibliotheken im Vergleich ...................................................................................................... 297 Personenregister ................................................................................................. 317

EINLEITUNG Christine Freytag und Sascha Salatowsky Das internationale Feld zur Bildungsgeschichte der Frühen Neuzeit hat sich in den letzten Jahren durch multiperspektivische Ansätze aus unterschiedlichen Forschungskontexten heraus entscheidend dynamisiert. So zeichnet sich die historische Bildungsforschung gegenwärtig durch einen grundlegenden methodischen und thematischen Wandel aus. Die traditionell eher institutionen-, personen-, ideen- und disziplingeschichtlich orientierte Bildungsgeschichte hat sich im Zuge der kulturalistischen Wende in den Geisteswissenschaften um sozial- und kulturgeschichtliche Untersuchungsfelder erweitert. Auf internationaler Ebene ist die in dieser Weise neu konturierte, moderne europäische Bildungsgeschichte lange durch den Vorsprung der französischen, anglo-amerikanischen und niederländischen Forschung gekennzeichnet gewesen. Unter Rückgriff auf diese Impulse liegt mittlerweile jedoch auch in der deutschen Forschungslandschaft eine Vielzahl an Forschungen vor allem zum frühneuzeitlichen höheren Bildungswesen vor. Jüngere Forschungen versuchen etwa unter Bezugnahme auf anglo-amerikanische Forschungsperspektiven eine Integration von Spatial Turn, Netzwerk- und Kommunikationsforschung in die Genese spezifischer „Bildungslandschaften“1

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Neben quantitativ orientierten Ansätzen der Bildungsforschung wurde der Begriff von Anton Schindling auch für die konfessionell-territoriale Beschreibung des Alten Reichs verwendet. Er unterschied in diesem Zusammenhang sechs Bildungslandschaften: 1. die habsburgischen Länder, 2. Bayern, Franken und Schwaben, 3. Rheinlande, Hessen und Westfalen, 4. Welfische Lande und Küstenländer, 5. Sachsen, Thüringen und Anhalt und 6. Brandenburg-Preußen; vgl. Schindling: Bildung und Wissenschaft in der Frühen Neuzeit 1650–1800. München 21999, S. 3–44. Zur Debatte vgl. Matthias Asche: „Bildungslandschaften im Reich der Frühen Neuzeit. Überlegungen zum landmannschaftlichen Prinzip an deutschen Universitäten in der Vormoderne“, in: Daniela Siebe (Hg.): Orte der Gelahrtheit. Personen, Prozesse und Reformen an protestantischen Universitäten des Alten Reichs, Stuttgart 2008, S. 1–44, hier: 1–23. Andreas Rutz schlägt vor, diesen Ansatz einer konfessionell geprägten Konstituierung von Bildungslandschaften um das „Verhältnis von Bildungswesen und Landesherrschaft“ (Andreas Rutz: „Bildung und Region. Schul- und Bildungslandschaften als Forschungsaufgabe“, in: Andreas Rutz (Hg.): Das Rheinland als Schul- und Bildungslandschaft (1250–1750). Köln 2010, S. 9– 30, hier: 16) zu erweitern, um auch konkurrierende Bildungssysteme innerhalb eines Territoriums sowie Einflussnahmen der Obrigkeit in den Blick zu bekommen. Er plädiert dafür, den Begriff Bildungslandschaften zunächst für „regionale Phänomene“ (a.a.O., S. 21) vorzusehen und auf schulische Zusammenhänge zu begrenzen. Für diese Fokussierung eignet sich dann freilich der Begriff der Schullandschaften besser. Vgl. hierzu Rolf Kießling: „,Schullandschaften‘ – ein Forschungsansatz für das Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit. Entwickelt anhand süddeutscher Beispiele“, in: Heinz Schilling und Stefan Ehrenpreis (Hg.): Erziehung und

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oder die Anbindung der Bildungs- an die moderne Wissenschaftsgeschichte. Kaum erfolgt ist dagegen bisher eine Erforschung des Realienunterrichts unter Einbeziehung neuerer Ansätze der „Material Culture“-Forschung.2 Fragen kindlicher und jugendlicher Sozialisation3 oder der Konstruktion von Geschlechternormen sind bislang noch nicht erschöpfend an das reich vorhandene frühneuzeitliche Material herangetragen worden.4 Dagegen sind traditionellere Themen wie die Forschung zu Universitätsmatrikeln migrations- und transfergeschichtlich erweitert5 oder auf das niedere Schulwesen übertragen worden. Auch die langjährige Orientierung der deutschen Forschung auf höhere Bildungsinstitutionen wie Universitäten und – in deutlich abgeschwächter Form – auf Gymnasien6 erweitert sich langsam zugunsten der tatsächlichen Schulvielfalt in der frühneuzeitlichen Lebenswelt.7 Vor allem aber rückten in den letzten Jahrzehnten die konfessionellen Aspekte der Erziehungs-, Bildungs- und Schulgeschichte verstärkt in den Blick. Hierbei entwickelten Wolfgang Reinhard und Heinz Schilling aus dem stärker noch auf dog-

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Schulwesen zwischen Konfessionalisierung und Säkularisierung. Forschungsperspektiven, europäische Fallbeispiele und Hilfsmittel. Münster 2003, S. 35–54, hier: 36–41. Vgl. die Ansätze bei Stefan Laube: Von der Reliquie zum Ding. Berlin 2011. Vgl. hierzu Andreas Gestrich: Vergesellschaftungen des Menschen: Einführung in die historische Sozialisationsforschung. Tübingen 1999. Vgl. aber jüngst Juliane Jacobi u.a. (Hg.): Vormoderne Bildungsgänge: Selbst- und Fremdbeschreibungen in der Frühen Neuzeit. Köln 2010; Juliane Jacobi: Mädchen- und Frauenbildung in Europa: Von 1500 bis zur Gegenwart. Frankfurt/Main 2013. Vgl. hierzu Matthias Asche: Neusiedler im verheerten Land: Kriegsfolgenbewältigung, Migrationssteuerung und Konfessionspolitik im Zeichen des Wiederaufbaus. Die Mark Brandenburg nach den Kriegen des 17. Jahrhunderts. Münster 2006. Vgl. z.B. Arno Seifert: Das höhere Schulwesen. Universitäten und Gymnasien, in: Notker Hammerstein (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. 1. Bd. 15. bis 17. Jahrhundert. Von der Renaissance und der Reformation bis zum Ende der Glaubenskämpfe. München 1996, S. 197–374; Schindling: Bildung und Wissenschaft; Notker Hammerstein: Res publica litteraria. Ausgewählte Aufsätze zur frühneuzeitlichen Bildungs-, Wissenschafts- und Universitätsgeschichte. Hrsg. von Ulrich Muhlack und Gerrit Walther. Berlin 2000; Agnes Winter: Das Gelehrtenschulwesen der Residenzstadt Berlin in der Zeit von Konfessionalisierung, Pietismus und Frühaufklärung (1574–1740). Berlin 2008. Vgl. Wolfgang Neugebauer: Absolutistischer Staat und Schulwirklichkeit in BrandenburgPreußen. Berlin 1985; Stefan Ehrenpreis: „Sozialdisziplinierung durch Schulzucht? Bildungsnachfrage, konkurrierende Schulsysteme und der ,deutsche Schulstaat‘ des 17. Jahrhunderts“, in: Heinz Schilling (Hg.): Akteure und Instrumente sozialer Kontrolle im frühneuzeitlichen Europa. Frankfurt/Main 1999, S. 167–185; ders.: „Das Schulwesen reformierter Minderheiten im Alten Reich 1570–1750. Rheinische und fränkische Beispiele“, in: Heinz Schilling u. Stefan Ehrenpreis (Hg.): Frühneuzeitliche Bildungsgeschichte der Reformierten in konfessionsvergleichender Perspektive. Schulwesen, Lesekultur und Wissenschaft. Berlin S. 97–122; Thomas Töpfer: Die „Freyheit“ der Kinder: Territoriale Politik, Schule und Bildungsvermittlung in der vormodernen Stadtgesellschaft. Das Kurfürstentum und Königreich Sachsen 1600–1815. Stuttgart 2012.

Einleitung

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matische und innerkirchliche Entwicklungen abhebenden Konzept der „Konfessionsbildung“ von Ernst Walter Zeeden8 das gesellschaftsgeschichtliche Paradigma der „Konfessionalisierung“. Unter Konfessionalisierung versteht man nach Schilling einen „gesellschaftlichen Fundamentalvorgang“, der erstens das öffentliche und private Leben tiefgreifend umgestaltete, zweitens in der zeitlich und strukturell parallel ablaufenden Herausbildung der Konfessionen bestand und drittens mit der frühmodernen Staatsbildung verknüpft war.9 Vor dem Hintergrund dieses Paradigmas lieferten die drei Sammelbände zur reformierten,10 lutherischen11 und katholischen Konfessionalisierung12 neue Einsichten in den Entstehens- und Verfestigungsprozess der drei großen Konfessionen in Deutschland. Immerhin in zwei Artikeln geriet dabei auch die Schulbildung unter konfessionellen Aspekten in den Blick. Gerhard Schormann hat in seinem Aufsatz zum reformierten Bildungswesen am Beispiel der Elementarschulen sogleich ein „komparatistisches Vorgehen“ angemahnt, d.h. „eine Einbeziehung aller Konfessionen“, um Fragen nach den möglichen konfessionellen Eigentümlichkeiten in Bezug auf das Schulwesen überhaupt angemessen beantworten zu können.13 Diese gewiss richtige und notwendige Forderung nach einer strikt interkonfessionell orientierten Forschung steht freilich oft diametral zu Forschungsfragen, die sich nur mit einem konfessionell homogenen Territorium, einer Stadt oder einer einzigen Schule beschäftigen. Auch zeigt sich bei einem interkonfessionellen Ansatz, wie schwierig es ist, im konkreten Falle das Eigene einer Konfession jeweils herauszuarbeiten. Das eine ist es, was in den Schulordnungen steht, das andere, so betonte schon Schormann, was „vor Ort“ tatsächlich unterrichtet wurde.14 Der Wunsch, „auf die Dörfer zu gehen“, lässt sich freilich nur dann realisieren, wenn hierfür auch Archivalien zur Verfügung stehen. Und selbst die Beschreibung interkonfessioneller Differenzen, wie sie Harald Dickerhof in seinem Beitrag zur katholischen Gelehrtenschule im konfessionellen Zeitalter versuchte, bleibt oft im Ungefähren. Denn was bedeutet es konkret, wenn der Jesuitenorden „an der Nahtstelle von sprachlich8

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Vgl. Ernst Walter Zeeden: „Grundlagen und Wege der Konfessionsbildung in Deutschland im Zeitalter der Glaubenskämpfe“, in: Historische Zeitschrift 185 (1958), S. 249–299. Erneut abgedruckt in: Zeeden: Konfessionsbildung. Studien zur Reformation, Gegenreformation und katholischen Reform. Stuttgart 1985, S. 67–112; ders.: Die Entstehung der Konfessionen. Grundlagen und Formen der Konfessionsbildung im Zeitalter der Glaubenskämpfe. München. Wien 1965. Heinz Schilling: „Die Konfessionalisierung im Reich: Religiöser und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland zwischen 1555 und 1620“, in: Historische Zeitschrift 246,1 (1988), S. 1– 45, hier: 6. Vgl. Heinz Schilling (Hg.): Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland – das Problem der zweiten Reformation. Gütersloh 1986. Vgl. Hans-Christoph Rublack (Hg.): Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland. Gütersloh 1992. Vgl. Wolfgang Reinhard und Heinz Schilling (Hg.): Die katholische Konfessionalisierung. Gütersloh 1995. Gerhard Schormann: „Zweite Reformation und Bildungswesen am Beispiel der Elementarschulen“, in: Die reformierte Konfessionalisierung, S. 308–316, hier: 316. Schormann: „Zweite Reformation“, S. 308.

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gymnasialen studia inferiora und dem philosophischen Kurs […] erheblich von den Usancen protestantischer Universitäten und gymnasia illustria“15 abwich? So zeigt sich, dass beide methodischen Zugriffe – der eine unikonfessionell, der andere interkonfessionell orientiert – ihr Recht haben und zu erhellenden Ergebnissen führen können. Entscheidend ist, wie sehr es gelingt, konfessionelle Muster sichtbar zu machen und dabei ihren lokalen oder sogar überregionalen Bezug zu erweisen. Mikrostudien sind daher genauso notwendig wie Makrostudien. Dies gilt umso mehr, als das Konfessionalisierungsparadigma zwischenzeitlich trotz der beträchtlichen Ausweitung auf politische, gesellschaftliche und kulturelle Wandlungsprozesse im Blick auf Staat und Gesellschaft im Rahmen eines interkonfessionellen Strukturvergleichs einige Kritik erfahren hat. Zum einen setzte sich die Überzeugung durch, dass dieses Paradigma zwar für das Alte Reich plausibel, aber „nicht europäsierbar“16 ist. So spricht Peter Hersche im Blick auf die sehr heterogenen Bedingungen von Religion und Gesellschaft in den katholischen Ländern von verschiedenen nationalen Katholizismen, die sich auf der strukturell-institutionellen Ebene kaum vereinheitlichen ließen. Er kam sogar zu dem Ergebnis, dass sich die Konfessionalisierungsthese „als das größte Hindernis zur adäquaten Erkenntnis des frühneuzeitlichen Katholizismus im Barockzeitalter“17 erweise. Zum anderen wurde kritisch angemerkt, dass beim Konfessionalisierungsparadigma die spezifischen, nicht nur religiösen, sondern auch sozialen und kulturellen Propria der einzelnen Konfessionen, ihre Selbstwahrnehmung und Selbstdeutung, kurzum die Glaubenspraxis ,vor Ort‘ nicht genügend zur Geltung kämen.18 Diese Kritik ist von Joachim Castan in seiner umfangreichen, aus den Quellen gearbeiteten Studie zum reformierten Schulwesen am Gymnasium Illustre in Zerbst auch auf das Bildungswesen übertragen worden. Er stellte die Frage, ob das Paradigma nur Probleme beschreibe, „die lediglich Valenzen bei den Eliten besaßen“,19 den Untertan aber kaum erreichten. Das Beharrungsvermögen sei an vielen Orten

15 Harald Dickerhof: „Die katholische Gelehrtenschule des konfessionellen Zeitalters im Heiligen Römischen Reich“, in: Die katholische Konfessionalisierung, S. 348–370, hier: 361. 16 Andreas Holzem: Christentum in Deutschland, 1550–1850. Konfessionalisierung – Aufklärung – Pluralisierung. 2 Bde. Paderborn 2015, S. 7 und 16. 17 Peter Hersche: Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter. 2 Bde. Freiburg/Breisgau 2006, S. 63. 18 Thomas Kaufmann griff zur Beschreibung dieser Propria auf den Begriff der Konfessionskultur zurück, unter der er den „Formungsprozess einer bestimmten, bekenntnisgebundenen Auslegungsgestalt des christlichen Glaubens in die vielfältigen lebensweltlichen Ausprägungen und Kontexte hinein, in denen der allenthalben wirksame Kirchenglaube präsent war“ (Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Kirchengeschichtliche Studien zur lutherischen Konfessionskultur. Tübingen 1998, S. 7) verstand. Auf diese Weise rückten die kulturellen sowie sozialen und mentalen Implikationen und Konsequenzen der jeweiligen Konfessionalisierung stärker in den Blick, sodass in der Forschung nicht mehr so sehr auf Strukturen als vielmehr auf die Inhalte bzw. auf die Innenperspektive dieser Konfession in ihrer Differenz zu den anderen Konfessionen abgezielt wird. 19 Joachim Castan: Hochschulwesen und reformierte Konfessionalisierung. Das Gymnasium Illustre des Fürstentums Anhalt in Zerbst, 1582–1652. Halle an der Saale 1999, S. 300.

Einleitung

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so groß gewesen, dass es weder durch konfessionellen Zwang noch durch eine umfassende Konfessionalisierung gebrochen werden konnte. Dafür stehe exemplarisch die Hohe Schule in Zerbst, die, obwohl vom philippistischen Fürsten Joachim Ernst (1536–1586) anders intendiert, nicht ohne weiteres als reformierte Ausbildungsstätte bezeichnet werden könne. Gegründet als „Antwort zum gnesiolutherischen Wittenberg“20 belegt sie zwar, so Castan, die alte These, dass die konfessionelle Konkurrenz stimulierend auf die Gründung von (Hoch-)Schulen gewirkt hat, ja, dass die konfessionelle Abgrenzung zum Movens einer Bildungsoffensive werden konnte und sogar konfessionelle Stellvertreterkriege möglich wurden, letztlich aber eine „flächendeckende einheitliche Konfessionalisierung im Grunde genommen“21 misslungen ist. Zu ähnlichen Ergebnissen kam Matthias Asche, der die „humanistische Distanz gegenüber dem ,Konfessionalisierungsparadigma‘“22 dahingehend betonte, dass sich viele Schul- und Studienfächer christlich-humanistischen Ursprungs einer eindeutigen konfessionellen Zuordnung entzogen hätten. Auch Stefan Ehrenpreis arbeitete in einem Aufsatz aus dem Jahre 2003 präzise heraus, dass trotz einer grundsätzlichen Bestätigung der These einer Verbindung konfessionell abgegrenzter Landeskirchen und politisch-staatlicher Zielsetzungen zur Schaffung eines einheitlichen Untertanenverbandes die Frage nach „konfessionelle[n] Spezifika im Bildungs- und Erziehungswesens der deutschen Territorialstaaten“ „bisher nicht eindeutig geklärt“23 sei. Dieser zwiespältige Befund macht klar, dass das Paradigma von der Konfessionalisierung weiter zu verfeinern ist und dass die Theorie noch enger mit der praktischen Arbeit, den empirischen Forschungen, zu verknüpfen ist. Noch komplexer wird der Sachverhalt, wenn man sich vergegenwärtigt, dass einer Zeit der Konfessionalisierung eine solche der „Entkonfessionalisierung“24 bzw. Säkularisierung gefolgt sein soll. Mancher Forscher behauptet sogar, dass diese Säkularisierung vor der Aufklärung in einer gewissen Spannung zum Paradigma von der Konfessionalisierung stehe, lassen sich hier doch moderne Elemente wie die Sozialdisziplinierung im sich entwickelnden frühmodernen, d.h. absolutistischen Staat erkennen. Besonders provokant ist diese Ansicht in der Einleitung von Jean-Luc Le Cam, Hans-Ulrich Musolff und Juliane Jacobi zum Sammelband Sä-

20 Castan: Hochschulwesen, S. 295. 21 Castan: Hochschulwesen, S. 299. 22 Matthias Asche: „Humanistische Distanz gegenüber dem ,Konfessionalisierungsparadigma‘. Kritische Bemerkungen aus der Sicht der deutschen Bildungs- und Universitätsgeschichte“, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 7 (2001), S. 261–282. Als ein Beispiel einer mehr oder wenig konfessionell zu verortenden Disziplin benannte er die Historiographie (vgl. a.a.O., S. 264f.), während die humanistischen Kernfächer wie Rhetorik und Dialektik sich nicht konfessionalisieren ließen. 23 Stefan Ehrenpreis: „Erziehungs- und Schulwesen zwischen Konfessionalisierung und Säkularisierung. Forschungsprobleme und methodische Innovationen“, in: Heinz Schilling und Stefan Ehrenpreis (Hg.): Erziehung und Schulwesen zwischen Konfessionalisierung und Säkularisierung. Forschungsperspektiven, europäische Fallbeispiele und Hilfsmittel. Münster 2003, S. 19– 34, hier: 30. 24 Winter: Gelehrtenschulwesen, S. 44.

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kularisierung vor der Aufklärung? Bildung, Kirche und Religion 1500–1750 vertreten worden, obgleich man auch hier betonte, dass es nicht das Ziel sei, „die Vorstellung von weitgehend in religiöse Deutungshorizonte eingebundenen Bildungsgängen komplett zu revidieren“.25 Legitim sei freilich die Frage, „ob nicht die frühe Neuzeit schon vor dem Durchbruch der Aufklärung etwas anderes aufwies als einen stetigen, umfassenden Einfluss der Religion auf alle Einrichtungen und Niveaus der Bildung“.26 Nur auf diese Weise könne man den raschen Übergang fast aller Bildungseinrichtungen hin zu einer weitgehenden Säkularisierung im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert erklären. So erkennt Le Cam im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel einen „Säkularisierungsschub“,27 den er an den vier Faktoren Generalschulinspektion als weltliche Einrichtung, Aufhebung der Klosterschulen zugunsten der Stadtschulen, Entstehung einer unabhängigen Lehrerschaft und Autonomisierung des Wissens und Säkularisierung der Unterrichtsinhalte festmacht. Der letzte Punkt wird dann freilich mit dem bloßen Hinweis auf die Trennung des Unterrichts der alten Sprachen vom Religionsunterricht begründet. Sollte dies wirklich ein ernsthaftes Kriterium sein, um von einer Säkularisierung sprechen zu können? Überzeugender ist hier Le Cams Nachweis, dass die neue Schulordnung von 1651 sowie der Generalschulinspekteur für das Wolfenbütteler Territorium, eine „Trennung zwischen der religiösen Instruktion und dem humanistischen Unterricht“ als Reaktion auf „die Exzesse der Konfessionalisierung, die die Grundlagen der humanistischen Bildung beschädigen konnten“,28 durchzusetzen versuchten. Damit einher ging die Ablehnung der Inspektionen der städtischen Lateinschulen durch die Geistlichen, wie sie sehr prominent von Konrad Horneius (1590–1649) in seiner kleinen Druckschrift Reifliches und hochvernünftiges Bedenken über das Schulwesen von 1657 vertreten worden ist. Danach sollten die Prediger und Superintendenten den Rektoren nicht mehr vorschreiben können, was den Schülern zu lehren und auf welche Weise es ihnen zu vermitteln sei.29 Horneius betonte ferner, dass die Theologen oftmals weder über das Wissen noch über die Erfahrung verfügten, die Sprachen, die philosophischen Disziplinen und die freien Künste angemessen unterrichten zu können. Le Cam kann so durchaus überzeugend zeigen, dass im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel einerseits die „Schulreform mit ihrer Säkularisierungstendenz durchgesetzt wurde“, anderseits die Schulpolitik Herzog Augusts d. J. (1579–1666) zur selben

25 Jean-Luc Le Cam, Hans-Ulrich Musolff und Juliane Jacobi: „Einleitung“, in: Dies.: Säkularisierung vor der Aufklärung? Bildung, Kirche und Religion, 1500–1750. Köln u.a. 2008, S. 1– 13, hier: 1. 26 Le Cam, Musolff und Jacobi: „Einleitung“, S. 1. 27 Le Cam: „Späthumanismus, ,Helmstedter Konfessionalisierung‘ und Säkularisierung der Schule. Zur Genese der Reform von Schule und Schulaufsicht im Herzogtum BraunschweigWolfenbüttel nach dem 30jährigen Krieg“, in: Le Cam u.a.: Säkularisierung, S. 77–101, hier: 78. 28 Le Cam: „Späthumanismus“, S. 92. 29 Vgl. die Nachweise in Le Cam: „Späthumanismus“, S. 92.

Einleitung

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Zeit mit der Verbreitung der deutschen Katechismusschule klar dem „Konfessionalisierungsprozess“30 zuzurechnen sei. Jene Säkularisierungstendenz betreffe ausschließlich das höhere Schulwesen, der Konfessionalisierungsprozess dagegen die niederen Schulen. Stefan Ehrenpreis hat sich in seinem Aufsatz Erziehungs- und Schulwesen zwischen Konfessionalisierung und Säkularisierung differenziert mit diesem Problemfeld auseinandergesetzt. Für ihn lautet die „wohl wichtigste und umstrittenste Frage“, inwieweit sich die Konfessionen über die Aufgabe einer Ausbildung des eigenen Nachwuchses hinaus „die Verbreitung von Bildung in der Gesamtgesellschaft zum Ziele setzten, welche handlungsleitenden Motive hier eine Rolle spielten und welche Anstrengungen sie unternahmen, um dieses Ziel erreichen zu können“.31 Mindestens genauso klärungsbedürftig sei die Frage nach dem Interesse des Staates an der Bildung, das in den verschiedenen Ländern Europas ganz unterschiedlich ausfallen konnte. Auch sei zu bedenken, dass sich die Vertreter der Ansicht von einer frühen Säkularisierung meist auf „Material aus reformierter Provenienz“ stützten, also keine Allgemeingültigkeit beanspruchen könnten. Schließlich gebe es Grenzen der Konfessionalisierung, also Bereiche in der Bildung, die sich nicht oder nicht eindeutig konfessionell gestalten ließen bzw. wo es gar keinen Bedarf nach Konfessionalisierung gegeben habe. Zu fragen bleibt also: Was heißt Säkularisierung32 im Zusammenhang mit dem Bildungswesen der Frühen Neuzeit? Was als Aufgabe bleibt, sind, wie erwähnt, weitere Mikro- und Makrostudien, die dem Paradigma der Konfessionalisierung bzw. Konfessionskultur ebenso weiter nachgehen wie der These von der Säkularisierung der höheren Schulen. Der vorliegende Sammelband – Resultat der 2014 in Gotha durchgeführten Tagung „Frühneuzeitliche Bildungssysteme im interkonfessionellen Vergleich. Inhalte – Infrastrukturen – Netzwerke“ – widmet sich ausschließlich dem ersten Problemfeld. Ziel 30 Le Cam: „Späthumanismus“, S. 99. 31 Stefan Ehrenpreis: „Erziehungs- und Schulwesen“, S. 29. 32 In seinem einleitenden Beitrag zu dem Sammelband Säkularisierung vor der Aufklärung? hat Hartmut Lehmann sieben Kriterien benannt, die als konstitutiv für eine angemessene Verwendung des Begriffs Säkularisierung gelten können: 1. Rationalisierung als Entzauberung der Welt, 2. funktionale Differenzierung zwischen Religion und Staat, 3. Privatisierung des Glaubens, 4. Individualisierung, Subjektivierung und Autonomisierung des Religiösen, 5. Pluralisierung der religiösen Deutungsperspektiven, einschließlich einer Beendigung des theologischkirchlichen Monopols, 6. Verweltlichung und 7. Marginalisierung des Religiösen („Auf der Suche nach der Säkularisierung vor der Aufklärung“, in: Säkularisierung vor der Aufklärung?, S. 27–37, hier: 28–33). Überall brachte Lehmann allerdings seine Vorbehalte an, so wenn die vermeintliche Rationalisierung der Wissenschaften auch zur Physikotheologie führen konnte, oder wenn die stattfindende Pluralisierung zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen in den europäischen Ländern führte, oder wenn schließlich starke Rückschläge der Rechristianisierung gegen frühaufklärerische Tendenzen festzustellen sind. Lehmann sprach sich deshalb für eine „Unterscheidung von Säkularisierungsprozessen und Säkularisierungspfaden auf der einen Seite und von Prozessen und Pfaden der Rechristianisierung auf der anderen Seite“ (a.a.O., S. 34) aus. Er forderte Mikrostudien, die geeignet seien die epochen- und milieuspezifischen religiösen Veränderungen aufzuspüren. Aus seiner Sicht sind die Schulen jener Bereich, „wo die Suche nach säkularisierenden Tendenzen und Praktiken tatsächlich erfolgreich“ (a.a.O., S. 37) sein könnte.

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ist ein zunächst auf den deutschsprachigen Raum beschränkter Vergleich insbesondere der lutherischen, reformierten und katholischen Bildungssysteme der Frühen Neuzeit, um die strukturellen, methodischen und inhaltlichen Übereinstimmungen, aber auch und vor allem die Unterschiede stärker als bisher herauszuarbeiten. Hierbei dient die bereits oben benannte, noch immer offene Frage, ob das Bildungswesen im frühneuzeitlichen Europa über die unmittelbar religiösen Differenzen hinaus klar aufzeigbare konfessionelle Eigentümlichkeiten aufgewiesen habe, als Ausgangspunkt. Konkret soll nach den spezifisch reformierten, lutherischen und katholischen Implikationen von Bildung gefragt werden. Dabei soll die Untersuchung abweichender Bewegungen nicht ausge-schlossen werden, können doch gerade diese den Blick für die Beantwortung der Frage nach den konfessionellen Bedingungen von Bildung und Erziehung schärfen. Der Fokus liegt auf dem 17. Jahrhundert, wobei natürlich einzelne Aspekte des 16. und 18. Jahrhunderts Berücksichtigung finden. Damit gerät die Zeit nach der Konsolidierung der Reformation in den Blick, in der zugleich der Jesuitenorden seine Tätigkeit an zahlreichen Gymnasien und Höheren Schulen begann. Reformation und „Gegenreformation“ bilden auf diese Weise den Gesamtrahmen der Entwicklung der Erziehungs-, Bildungs- und Schulgeschichte im 16. und 17. Jahrhundert. Pietismus und Frühaufklärung stehen daher nicht im Zentrum des Sammelbandes. Beide Bewegungen sind ungleich besser erforscht als das Zeitalter der Konfessionalisierung. Die erste Sektion widmet sich den konfessionellen Aspekten der frühneuzeitlichen Bildung. Zum einen geht es hierbei um komparatistische Beschreibungen der Situation an den reformierten und katholischen Schulen in Deutschland bzw. in den Ländern der Böhmischen Krone, zum anderen um Detailuntersuchungen anhand ausgewählter Schulen in Deutschland. Bekanntlich prägte die Konfessionalisierung von Kirche, Staat und Gesellschaft die verschiedenen Bildungsinstitutionen, die Unterrichtsprogramme und das Schulpersonal. Diese Thematik greift Stefan Ehrenpreis auf und setzt sich einleitend mit dem „Konfessionellen Schulwesen und frühneuzeitlichen Bildungsinnovationen“ auseinander. Entscheidende Impulsgeber und Entwicklungslinien werden hier aufgezeigt; ebenso werden der Didaktikdiskurs ab Mitte des 17. Jahrhunderts und die Verstädterung als räumlicher Faktor des Bildungswesens ins Zentrum der nachreformatorischen Neuerungen gerückt. Ebenfalls mit regionalen Besonderheiten im Schulwesen befasst sich Martin Holý in seinem Beitrag „Ähnlichkeit oder Differenz? Bildungssysteme in den Ländern der Böhmischen Krone“. Mit verschiedenen Quellen arbeitet er die spezifischen regionalen Bildungsgegebenheiten im Schulwesen in Böhmen, Mähren, in der Lausitz sowie in Schlesien im 16. und 17. Jahrhundert heraus und vergleicht diese miteinander. Weiter werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede der unterschiedlichsten Konfessionen – wie der Utraquisten, der Katholiken, der Brüderunität, der Lutheraner sowie der Calvinisten – in der Schulorganisation, in den Unterrichts- und Bildungszielen, in den geknüpften Netzwerken oder auch in der Infrastruktur von Holý aufgearbeitet und vorgestellt. Wie sich jedoch überhaupt Schule unter konfessionspolitischen Bedingungen entwickelte, zeigt im Anschluss Andrea Ottens am „Beispiel der Lateinschule und

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des akademischen Gymnasiums der Grafschaft Lingen (1680–1702)“ auf. Lingen ist ein besonders interessantes Beispiel, weil sich dort im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts mehrere Herrschaftswechsel mit einem damit jeweils einhergehenden Glaubenswechsel zwischen Katholiken und Reformierten vollzogen haben, ehe ab 1674 mit der Herrschaft von Wilhelm III. von Oranien (1650–1702) die Bevölkerung in Stadt und Land dauerhaft zu einer reformierten Glaubensgemeinschaft umgestaltet werden sollte. Der Beitrag beschreibt, wie diese „Umerziehung“ an der Lateinschule und später der Hohen Schule erreicht werden sollte, welche Konflikte sich mit der überwiegend katholischen Bevölkerung ergaben und warum der hierfür verantwortliche reformierte Theologe und Prediger Henricus Pontanus (1652– 1714) letztlich doch scheiterte. Doch auch in Deutschland hatten ab Mitte des 16. Jahrhunderts die verschiedenen christlichen Konfessionen einen Einfluss auf die Gesellschaft und insbesondere auf die Konstituierung des Schul- und Bildungswesens. Vor diesem Hintergrund geht Sascha Salatowsky der Frage nach, ob Schule dabei ein „konfessioneller Resonanzraum“ sei. Diese klärt er am Beispiel des bisher in diesem Zusammenhang wenig beachteten philosophischen Ethikunterrichts an protestantischen Gymnasien, der neben dem Religionsunterricht aus konfessioneller Sicht als relevant erscheint. In dem Beitrag setzt sich der Autor mit den Ethiklehrbüchern dreier protestantischer Konfessionen, dem Luthertum, Sozinianismus und Reformiertentum, aus dem frühen 17. Jahrhunderts auseinander und prüft, inwieweit sich in der Schulpraxis überhaupt konfessionelle Eigentümlichkeiten feststellen lassen. Im Beitrag von Jens Nagel steht „der Streit um die Vergangenheit“ im Mittelpunkt. Es wird hier exemplarisch die „konfessionspolitische Propaganda in katholischen und protestantischen Schulbüchern für den Geschichtsunterricht in der Frühen Neuzeit“ thematisiert. Mittels fünf ausgewählter protestantischer und katholischer Schulbücher werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Religion und Politik vorgestellt. Eingangs erörtert Jens Nagel die Entwicklungen des Geschichtsunterrichts auf der katholischen wie auch auf der protestantischen Seite in der Zeit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Im Anschluss werden die Autoren der Geschichtsbücher vorgestellt und letztlich zentrale religiöse Narrative sowie die Erzählstrategie herausgearbeitet. Die zweite Sektion rückt die Thematik der „Bildungskonzepte“ in den Fokus. Philipp Melanchthon ist dabei als ein herausragender Vertreter der neuen Bildungsgedanken der Reformation anzusehen. Keiner verbreitete diese so wie er. Corinna Sonntag setzt sich erstmals mit der Bedeutung und den Inhalten von Melanchthons „Schola Domestica“ auseinander und diskutiert diese vor dem Hintergrund „von Reformation und Späthumanismus“. Melanchthons ‚Hausschule‘ ist dabei wegweisend gewesen und gilt als grundlegendes Beispiel einer familialen Wissens- und Bildungsvermittlung. Wissensinhalte, wie Grammatik, Dialektik, Rhetorik und das Studium der Sprachen sind dabei von großer Bedeutung. Darüber hinaus legte Melanchthon jedoch großen Wert auf die sprachlich-kommunikativen Fähigkeiten sowie Rede- und Stilübungen oder auch das Dichten.

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Auch im Beitrag von Christine Freytag stehen die Sprache und das Sprechen im Vordergrund. Sie setzt sich mit der „methodischen Vorgehensweise in der Gothaer Schulordnung ab 1642“ auseinander. Im Elementarschulwesen waren, ganz in der Tradition Wolfgang Ratkes, die Muttersprache, das Zeigen, das Sprechen und die Stimme des Lehrers entscheidende Methoden und Curricula, um christliche Lehrinhalte zu verinnerlichen. Überdies sollten durch einen klar strukturierten Unterrichtsablauf und ein genau festgelegtes Unterrichtprogramm alle Bewohner des Herzogtums zu wahrer Gottesfurcht und Brauchbarkeit erzogen werden. Dies wurde mit einer allgemeinen Schulpflicht in Sachsen-Gotha festgelegt und gesichert. Das Gespräch und die Rede sind ebenfalls Elemente des nachfolgenden gemeinsamen Beitrags von Jost Eickmeyer und Reinhard Gruhl. Beide Autoren skizzieren hier mit „Argutia und Gesprächsspiel. Pädagogische Reformprogramme um die Mitte des 17. Jahrhunderts“ die Theorien des Jesuiten Jacob Masen SJ und des Lutheraners Georg Philipp Harsdörffer. Beide Vertreter waren der Auffassung, dass eine bessere Schulung der individuellen Erfindungsgabe, des scharfsinnigen Denkens und der geselligen Umgangsformen gelehrt werden müsse. Gefragt wird, ob es hier gemeinsame, wenn auch unterschiedlich rezipierte und akzentuierte Vorbilder und Anreger gibt. Welche Methoden wurden hier für eine Popularisierung des Wissens angewandt? Eickmeyer und Gruhl vergleichen hier erstmals die Gedanken von Masen und Harsdörffer miteinander und gehen auf die Entstehungsgeschichte ihrer Werke, deren Topik und die programmatischen Ziele ein. Aktuelle Befunde zu Reformen sowie der regionalen Rezeption und Forschungslage des Herzogtums Sachsen-Gotha werden von Thomas Töpfer vorgestellt und schließen die zweite Sektion ab. Durch die Auseinandersetzung mit „Veit Ludwig von Seckendorff und die Rezeption der Gothaer Schulreformen“ werden dessen Verbindungen zu Gotha, speziell die Kirchen- und Schulreform, in den Blick genommen. Als leitender Beamter unter Herzog Ernst dem Frommen war Seckendorff in sämtliche schulische und kirchliche Reformprogramme eingebunden. Darüber hinaus äußerte er sich als Schriftsteller aktiv zu staatsrechtlichen, pädagogischen und politischen Gegebenheiten im Land. In der dritten Sektion „Institutionen und Praktiken“ stellt Maike Gauger-Lange die „Funktion und Einbindung der evangelischen Klosterschulen in die Verwaltung des Fürstentums Braunschweig-Wolfenbüttel (1569–1613)“ vor. 1568 wurden auf Geheiß des Landesherrn an sechs unterschiedlichen Orten im Fürstentum Klosterschulen eingerichtet. Jungen wurden als Stipendiaten aufgenommen und im Kloster – neben einer grundlegenden Versorgung – auf ihr Theologiestudium oder ein geistliches Amt vorbereitet. Die Klosterschulen hatten somit eine zweifache Funktion inne: einerseits verwalteten sie sich selbst, andererseits bildeten sie zukünftige Amtsinhaber aus. Im vorliegenden Beitrag wird exemplarisch dargestellt, wie die Verwaltung von Klosterschulen organisiert war und in welcher Form die männlichen Stipendiaten als herzogliche Amtsträger in den Dienst des Fürstentums Braunschweig-Wolfenbüttel traten. Im Anschluss werden die Ausbildungsgänge junger Adliger von Tobias Binkert in den Fokus gerückt. Am Beispiel der „Reichsgrafen als Schüler an akademischen

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Gymnasien“ will Binkert deren Ausbildungsweg am Ende des 16. Jahrhunderts aufzeigen. Besondere Berücksichtigung finden hierbei die konfessionellen Aspekte. Weiter werden Gründe für die Wahl dieser Bildungsinstitution vorgestellt, bevor die Bildungsinhalte und die Umsetzung der Wissensvermittlung erörtert werden. Daran anknüpfend wird die Lebenswelt der jungen Adligen an den akademischen Gymnasien nachgezeichnet und Netzwerke aufgeschlüsselt, welche diese nach ihrem Amtsantritt nutzten. Für diesen Beitrag wurden ausschließlich Kostenaufstellungen als auch private Korrespondenzen der Adligen mit ihren Privatlehrern und Eltern als Quellenbasis genutzt. Der abschließende Beitrag von Kristina Hartfiel setzt sich mit „Präsenz und Materialität von (Geschichts-)Unterricht? Historiographische Werke aus dem Altbestand zweier Gymnasialbibliotheken im Vergleich“ auseinander. Lehrbücher vor 1701 aus dem Bestand der Alten Gymnasialbibliothek und Lateinschule Nürnberg des hiesigen Melanchthongymnasiums sowie der Altbestand aus dem Görres-Gymnasium in Düsseldorf werden aus praxeologischer Perspektive vorge-stellt. Dabei wird der Frage nachgegangen, inwieweit sich mit dem vorhandenen Material Aussagen über dessen Gebrauch und Unterrichtspraktiken, also Rezeptionspraktiken, nachvollziehen lassen. Der vorliegende Beitrag gibt darüber hinaus Auskunft, wie Lehrbücher genutzt worden sind – oder eben auch nicht. Der Sammelband ist im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Ausbaus der Forschungsbibliothek Gotha zu einer „Forschungsund Studienstätte für die Kulturgeschichte des Protestantismus in der Frühen Neuzeit“ entstanden. Die Herausgeber bedanken sich bei der Forschungsbibliothek Gotha für die großzügige Unterstützung bei der Drucklegung. Zu großem Dank verpflichtet sind wir auch Louisa-Dorothea Gehrke, Anne Hübner, Henriette Jarke und Luisa Lubrich für die redaktionelle Unterstützung bei der Herstellung des Sammelbandes. Die Herausgeber Gotha und Jena im Juli 2018

KONFESSIONELLES SCHULWESEN UND FRÜHNEUZEITLICHE BILDUNGSINNOVATIONEN Stefan Ehrenpreis Abstract: In the 16th century, each confession established its own school system to create a new social elite of learned scholars and to religiously influence all levels of society. Since the 1980s, such developments of early modern schools have been at the focus of historical research especially in France. A case study on schooling in the Franconian town of Windsbach in the late 17th and early 18th century reveals the significant role of provincial towns in the process of spreading innovative teaching programs and methodological reforms regarding literacy. Teachers of lower level schools (“German schools”) expanded their curriculum in competition with their colleagues at the local Latin schools. Thus, more than in the larger urban areas, small towns prove to be places where different school types tried to increase enrollment by improving quality. Zusammenfassung: Die Konfessionalisierung des Schulwesens, d.h. die Etablierung eines auf den theologischen Wahrheitsanspruch und die alltägliche religiöse Praxis einer der Konfessionskirchen ausgerichteten Bildungssystems, ist seit den 1980er Jahren Gegenstand intensiver Forschung, vor allem in Frankreich. Die Entwicklung eines auf gelehrte Bildung zielenden höheren Schulwesens und eines auf die Alphabetisierung und die religiöse Unterweisung orientierten Volksschulwesens kennzeichnet alle konfessionellen Richtungen seit dem 16. Jahrhundert, die damit soziale Eliten heranbilden und die Gesamtbevölkerung in ihren Haltungen beeinflussen wollten. Anhand des Fallbeispiels Windsbach in Franken lässt sich zeigen, dass sich im 17. und 18. Jahrhundert die typisch kleinstädtische Konkurrenz zwischen den Latein- und den Deutschen Schulen entscheidend auf die Qualität des Unterrichtsangebots für breite Kreise der Bevölkerung auswirkte und innovative Verbindungen religiös-kirchlicher und wirtschaftlich-merkantilistischer Zielsetzungen erlaubte.

1. FORSCHUNGSGESCHICHTE UND FORSCHUNGSSTAND In der Geschichte des europäischen Schulwesens sind dem 16. und 17. Jahrhundert als Zeiten einer Umwandlung des höheren Schulwesens und der Verschulung großer Bevölkerungsgruppen schon lange eine bedeutende Rolle zugewiesen worden. Beide Entwicklungen waren Frucht eines umfassenden frühneuzeitlichen Wandlungsprozesses, der immer noch am besten durch den Begriff der Konfessionalisierung von Staat und Gesellschaft bezeichnet werden kann. Die Zusammenarbeit von Obrigkeiten, sozialen Eliten und Kirchenorganisationen zur Durchdringung aller Gesellschaftsbereiche mit christlich-konfessionell geprägten Werthaltungen und Verhaltensweisen hat zwar oft nur Teilerfolge erzielt und wurde durch andersgear-

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tete mentale, kulturelle und soziale Orientierungen konterkariert. Gerade im Bildungsbereich, der stark durch kirchliche Institutionen und konfessionell geschultes Personal geprägt war, wird jedoch der Zusammenhang religiös-kirchlicher, gesellschaftlicher und obrigkeitlicher Maßnahmen deutlich. Zentrale und lokale Obrigkeiten, Kirchenleitungen und Kirchengemeinden sowie die Eltern waren Parteien mit teilweise gemeinsamen, teilweise unterschiedlichen Interessen und Erwartungen an Schule und Unterricht. Die Allianz politischer und kirchlicher Kräfte seit der Reformation knüpfte an schon vorher einsetzende Bildungsbewegungen wie den Humanismus an, um die Schul- und Unterrichtspraxis umzugestalten. Wer hier jeweils entscheidende Impulse setzte und Entwicklungen beeinflusste, ist nur durch konkrete historische Quellenanalyse zu bestimmen. Von einem Gesamtüberblick ist die Forschung, auch international, noch weit entfernt.1 Verschulung als Sonderform von Erziehungspraxis gilt zu Recht als eine der maßgeblichen gesellschaftlichen Entwicklungen im neuzeitlichen Europa und entwickelte sich über Jahrhunderte hinweg in verschiedenen konfessionellen und nationalen Formen. Eine schon im späten 19. Jahrhundert entstandene erziehungsgeschichtliche Interpretation der Anfänge moderner Pädagogik erreichte in der Geschichtsschreibung des Kulturprotestantismus um 1900 einen Höhepunkt. In ihrem Streben, die Vereinbarkeit der Lehre Luthers mit der modernen Welt der Industrialisierung und der Demokratie zu beweisen, verwiesen Theologen wie Ernst Troeltsch und Kulturtheoretiker wie Max Weber auf die Folgen der lutherischen Reformation für die pädagogische Theorie und die institutionelle Ausbreitung des öffentlichen Schulwesens. Die reformatorische Lehre hatte in dieser Sicht eine erste umfassende Vorstellung von der Rolle der Erziehung für die Individuen und die Gesellschaft und von den Mitteln, sie als kollektive Sozialisationsform durchzusetzen. Diese protestantisch-modernistische Sicht konnte sich auf die rege betriebene Erforschung der reformatorischen Bildungspolitik stützen, die sich in den drei Jahrzehnten nach 1517 der Formung einer neuen protestantischen Elite, insbesondere in der Geistlichkeit, gewidmet hat. Die unmittelbaren Wirkungen der Reformation bis ca. 1560 lassen sich im gut untersuchten Universitätssektor nachvollziehen: in den protestantischen Reichsstädten und Territorien wurden die Hochschulen im Lehrprogramm nach dem Wittenberger Vorbild umgewandelt (Trennung der Artes von den oberen Fakultäten) und die Theologie auf das protestantische Bibelverständnis ausgerichtet. In der Jurisprudenz suchte man das kanonische Recht durch ein ius civile zu verdrängen. Philipp Melanchthons praktisch-rhetorische und zugleich pädagogisch-propädeutische Lehrbücher verbreiteten sich rasch als hauptsächliche Studienhilfsmittel. In einigen Territorien wurden speziell auf das Theologiestudium vorbereitende höhere 1

Vergleichende europäische Überblicke liefern Wolfgang Schmale und Nan L. Dodde (Hg.): Revolution des Wissens? Europa und seine Schulen im Zeitalter der Aufklärung (1750–1825). Ein Handbuch zur europäischen Schulgeschichte. Bochum 1991; Robert A. Houston: Literacy in Early Modern Europe. Culture and Education 1500–1800. London 2002. – Die Fußnoten werden im Folgenden auf die unbedingt erforderlichen Nachweise beschränkt und erheben keinen Anspruch auf vollständige Repräsentation des Forschungsfeldes.

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Schulen gegründet (Fürstenschulen, Akademische Gymnasien), die Vorbildfunktion für kommunale Lateinschulen haben sollten.2 Die Auflösung der Klöster bot die Möglichkeit, neue Bildungseinrichtungen zu finanzieren und ein Stipendienwesen aufzubauen. Neben die Fragestellungen zur frühprotestantischen Bildungsgeschichte, die bereits in der historistischen Phase der Bildungsgeschichte um 1900 entwickelt wurden und seitdem bearbeitet werden, trat nach 1945 ein neues Interesse an der frühneuzeitlichen Theorie der Erziehung und ihrer religiösen Grundlagen. Luthers Lehre trat hier wieder neu in den Blick, und man betonte, dass er – neben der Schaffung eines öffentlichen Schulwesens – auch den Hausvätern als Erziehern in der Familie eine große Rolle zugewiesen habe. Dies lässt sich als Antwort auf die nationalsozialistische Vereinnahmung des Schulwesens lesen, dem die Privaterziehung als verantwortete moralische Kommunikation zwischen Kind und Erzieher gegenübergestellt wurde. Insbesondere Ivar Asheim konstatierte unter genauer Lektüre der Schriften Luthers, dieser habe die Familienerziehung als Kern und Zentrum aller Erziehung gesehen. Genau wie gegenüber dem Gesinde hätten die Eltern die Pflicht gesehen, die Kinder durch Zuchtmaßnahmen zum Gehorsam gegen sich, die Obrigkeit und Gott zu erziehen. Die Ziele der Erziehung sind religiös legitimiert; die Formulierung pädagogischer Grundmodelle und -methoden war Luther hingegen eher fremd. Fern jedes christlich-pädagogischen Idealismus verstand er gute Erziehung nicht als Lösung gesellschaftlicher Probleme, sondern als Hilfe gegen die sündhafte Natur des Menschen, der nur von Gott erlöst werden könne.3 An diese Interpretation Luthers anschließend, suchte die Forschung die Bedeutung der Familienerziehung bis ins 18. Jahrhundert hinein nachzuweisen. Die einflussreiche Untersuchung von Hoffmann zur protestantischen „Hausväterliteratur“ legte deren Wurzeln bei Luther und der humanistischen Rezeption der antiken „Ökonomie“Lehre offen.4 Anhand von populären Literaturgattungen suchte er nachzuweisen, dass der Familienvater der wichtigste Adressat pädagogischer Praxisentwürfe gewesen sei und grundlegende, auf das Individuum bezogene Bildungsbemühungen im Rahmen der protestantischen Familienerziehung diskutiert worden seien. Obwohl die These von der führenden Rolle der Reformation bei der Modernisierung des Bildungswesens bis 1970 nicht unwidersprochen blieb, vor allem im Hinblick auf die Einflüsse frühneuzeitlicher katholischer Erziehungspraxis, führte erst die anschließende sozialgeschichtliche Erforschung des Schulwesens zur Relativierung dieser kulturprotestantischen Erfolgsgeschichte. Den Generalangriff bildet die 1978 erschienene Studie des amerikanischen Historikers Gerald Strauss, der der Reformation insgesamt einen Fehlschlag in ihren Bemühungen attestierte, die 2 3 4

Vgl. Sabine Holtz: Bildung und Herrschaft. Zur Verwissenschaftlichung politischer Führungsschichten im 17. Jahrhundert. Leinfelden-Echterdingen 2002. Vgl. Ivar Asheim: Glaube und Erziehung bei Luther: Ein Beitrag zur Geschichte der Verhältnisse von Theologie und Pädagogik. Heidelberg 1961, S. 44–65 und 310f. Diese Lesart von Luthers pädagogischen Ansichten wird heute nicht mehr geteilt. Julius Hoffmann: Die „Hausväterliteratur“ und die „Predigten über den christlichen Hausstand“. Lehre vom Hause und Bildung für das häusliche Leben im 16., 17. und 18. Jahrhundert. Weinheim 1959.

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Gläubigen mittels Schulunterricht und Katechese zu „indoktrinieren“.5 Strauss legte dar, dass weder das öffentliche Schulwesen noch die Katechese den weitverbreiteten Glauben an Wunder, magische Riten und Symbole, Hexerei und Naturgeister beenden und durch protestantische Frömmigkeit und Bibellektüre ersetzen konnte. Die Kenntnis der Gläubigen von Kernelementen protestantischer Lehre blieb auch am Ende des 16. Jahrhunderts noch gering und erschöpfte sich bei den Kindern in der Wiedergabe auswendig gelernter, aber unverstandener Sprüche. Dagegen hat Geoffrey Parker eingewandt, die Komplexität und Genauigkeit protestantischer Theologie wäre nur schwer vermittelbar, aber einfache konfessionelle Grundsätze und abgrenzende Symbole und Rituale seien in weiten Kreisen auch der Landbevölkerung bekannt gewesen. Dort wo alle Kommunikationsformen – Katechese, Druckschriften, Gebete, Gesang, Kunst und Drama – genutzt worden seien, wäre die Beeinflussung durch die geistliche Elite erfolgreich verlaufen.6 Der Einsatz dieser Kommunikationsformen ist jedoch noch zu wenig systematisch untersucht worden, um die Debatte abzuschließen. Auch das zu Ende gegangene Reformationsjubiläum 2017 erbrachte zwar einzelne neue Zugänge zur Bildungsgeschichte, blieb jedoch meist in der Perspektive auf eine isolierte Untersuchung protestantischer Bildungsprofile stecken. Eine zweite Forschungsrichtung formulierte aus der Sicht der spätmittelalterlichen städtischen Verhältnisse Skepsis gegenüber der Modernisierungsthese der Bildungsreformation. Mit Blick auf den Aufschwung des städtischen Schulwesens im 15. Jahrhundert und des genaueren Nachweises von Unterricht auch im ländlichen Raum (in Klöstern und durch lokale Pfarrer) wurde ein reformatorisch induzierter bildungshistorischer Epochenumbruch in Frage gestellt.7 Ähnliche Tendenzen lassen sich auch in der englischen Forschung konstatieren, während die französische Forschung einen Umbruch eher um 1600 ansetzt, als der Aufstieg der Jesuitenkollegien begann und nach den Religionskriegen in den Bistümern Katechese und Schulbesuch wieder gefördert wurden.8 Stattdessen richtet sich seit den 1980er Jahren das Interesse auf langfristige Änderungen in der Bildungs- und Erziehungsgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts, wie sie bereits Philippe Ariès – allerdings

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Gerald Strauss: Luther’s house of learning. Indoctrination of the youth in the German reformation. Baltimore 1978, S. 300–308. Vgl. Geoffrey Parker: „Success or failure during the first Centuries of the Reformation“, in: Past & Present 136 (1992), S. 43–82. Vgl. auch schon Geoffrey Parker: „An educational revolution? The growth of literacy and schooling in early modern Europe“, in: Tijdschrift vorr Geschiedenis 93 (1980), S. 210–220. Siehe zu dieser Debatte Stefan Ehrenpreis und Ute LotzHeumann: Reformation und konfessionelles Zeitalter. Darmstadt 2002, S. 99–111. Vgl. die Beiträge in Helmut Flachenecker und Rolf Kießling (Hg.): Schullandschaften in Altbayern, Franken und Schwaben: Untersuchungen zur Ausbreitung und Typologie des Bildungswesens in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. München 2005. Vgl. etwa Rosemary O’Day: „An Educated Society“, in: John Morill (Hg.): The Oxford Illustrated History of Tudor and Stuart Britain. Oxford 1996, S. 119–138; Marie-Madeleine Compère und Dominique Julia (Hg.): Les colléges francais 16e–18e siècles. 3 Bände. Paris 1984– 1988.

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auf sehr ungenügender Quellenbasis und mit anzweifelbarer Interpretation – angedeutet hatte.9 In Anlehnung an grundsätzliche Problemstellungen der Geschichtswissenschaft, die den Wandel zur Moderne nicht losgelöst von religiösen Entwicklungen beschreiben, richtet sich das Forschungsinteresse auf den Vorgang der Konfessionalisierung von Staat und Gesellschaft im 16. und 17. Jahrhundert. Die unterschiedlichen, sich in Dogma, Kirchenaufbau und religiös-sittlichen Lebensformen verfestigenden Konfessionsgemeinschaften gerieten als Kirchen unter den Einfluss des entstehenden frühmodernen Staates und wurden von ihm mit dem Ziel der Bildung eines homogenen Untertanenverbandes funktionalisiert. Die Mittel, die Staat und Kirche gemeinsam zur Erreichung dieses Zieles einsetzten, waren in allen Konfessionen gleich und funktional äquivalent. Dazu gehörten auch das Schulwesen und die mit ihm verbundene Katechese. Für die Konfessionalisierung des Erziehungs- und Bildungswesens hat die Forschung einige typische Merkmale herausgearbeitet: eine Ausrichtung der christlichen Lehre an den Schulen und Hochschulen auf die konfessionelle Dogmatik, die Ausrichtung der Schulordnungen an den Kirchenordnungen, die enge Verknüpfung von Schule und Kirchengemeinde, die Einführung des Konfessionseides für die Lehrenden u.a.m. Die territoriale Bildungspolitik regelte nur den systematischen Aufbau des Schulwesens, überließ aber dessen Finanzierung und Kontrolle zumeist den kirchlichen Institutionen bzw. Oberbehörden. Ausnahmen bildeten nur die oberste Hierarchieebene des gelehrten Ausbildungswesens, die Universitäten sowie spezielle Elitegymnasien, die den fürstlichen Verwaltungen unterstanden. An der hohen Zahl von nach 1570 gegründeten Jesuitenuniversitäten und Hohen Schulen (protestantische Akademien ohne kaiserliches Vollprivileg) lässt sich ein Schub konfessioneller Bildungspolitik ablesen.10 Ein Fortschritt der Konfessionalisierungsforschung gegenüber der älteren, protestantisch orientierten Bildungsgeschichtsschreibung stellt besonders die gleichberechtigte Berücksichtigung des katholischen Gelehrten- und Hochschulwesens dar. Ein besonderes Augenmerk legt die aktuelle konfessionsgeschichtliche Forschung, die durch die Kritik an einer zu starken etatistischen Ausrichtung des Konfessionalisierungsmodells gespeist wird, auf konfessionsspezifische Ziele und Methoden der Erziehung und des Unterrichtswesens. Während im Bereich der grundlegenden Erziehungsvorstellungen kaum Unterschiede zwischen den Konfessionen auszumachen sind, lassen sich Charakteristika beim Schulangebot, den inhaltlichen Schwerpunkten des Unterrichts und bei der Didaktik feststellen. Zunächst erarbeitete sich der Protestantismus im Reformationszeitalter einen Vorsprung im Bereich der Gymnasien und Lateinschulen, den die Katholiken seit der Ausbreitung der Jesuitenkollegien 1580–1610 wettmachten. Das Niedere Schulwesen wurde zunächst nur in einigen protestantischen Reichsstädten und Territorien wie Nürnberg und Württemberg ausgebaut und blieb in den meisten katholischen wie protestantischen Gebieten lokalen Entscheidungsträgern

9 Vgl. Philippe Ariés: Geschichte der Kindheit. München 1980. 10 Vgl. Notker Hammerstein: Bildung und Wissenschaft vom 15. bis zum 17. Jahrhundert. München 2003, S. 24–35.

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überlassen.11 Von Ausnahmen abgesehen, steigerten sich erst am Beginn des 18. Jahrhunderts allgemein die Schuldichte und wohl auch die Schulbesuchsquote, etwa durch die verpflichtende Einführung der Sommerschule auch auf den Dörfern.12 Die demographische Zunahme am Ende des 18. Jahrhunderts führte dann zu den bekannten Beschwerden über Mängel im Schulwesen, die nicht auf die vorherigen Jahrzehnte zurück projiziert werden sollten. Gegen die These von einer langfristig wirkenden Konfessionalisierung des Bildungs- und Erziehungswesens argumentiert eine Forschungsrichtung, die die fortwirkende humanistisch-überkonfessionelle Haltung der respublica litteraria betont und auf Grenzen der konfessionellen Konfliktlinien unter den Gelehrten und den Studierenden hinweist.13 Die Beibehaltung der vorkonfessionell-humanistischen Lehrinhalte für den höheren Unterricht oder auch die Ausweitung der peregrinationes academiae quer über die National- und Konfessionsgrenzen hinweg werden als zusätzliche Argumente aufgeführt.14 Eine zweite, noch über diese Kritik hinausgehende Gesamtinterpretation frühneuzeitlicher Bildungsgeschichte hat die Entwicklung des Schulwesens vom 16. bis zum 18. Jahrhundert als Fortsetzung sozialgeschichtlicher Entwicklungen unabhängig von der konfessionellen Verfestigung gesehen. Die Erfordernisse einer Alphabetisierung breiter Bevölkerungsschichten hatten ihre Wurzeln in der Handwerkerausbildung in den klein- und großstädtischen Milieus sowie in der Notwendigkeit zum Erwerb der Lesefähigkeit für bäuerliche Schichten, die ihre Produktion überregional vermarkteten.15 Insbesondere Wolfgang Neugebauer vertritt die Ansicht, dass die Ausweitung des Schulnetzes mit zentral- und verkehrsörtlichen Funktionen von Kleinstädten und Dörfern zusammen hing: Dort, wo Wirtschaftsbeziehungen und Verkehrslage eine Marktorientierung begünstigten, war die Schuldichte tendenziell höher. Für Neugebauer ist daher der religiös-kirchliche Faktor, obgleich ebenfalls wichtig, nicht die Hauptursache für die regional unterschiedliche Schuldichte.16

11 Ganz ähnlich wie beispielsweise in England, wo sich selbst das puritanisch-republikanische Parlament in der Herrschaftszeit Cromwells gegen eine zentralstaatliche Kontrolle und Finanzierung des Schulwesens aussprach und dies stattdessen den lokalen Kräften überließ, was die restaurierte Monarchie fortführte, vgl. Lawrence Stone: „Literacy and education in England, 1640–1900“, in: Past & Present 42 (1969), S. 69–139. 12 Vgl. Hermann Ehmer: „Ländliches Schulwesen in Südwestdeutschland während der frühen Neuzeit“, in: Ulrich Andermann und Kurt Andermann (Hg.): Regionale Aspekte des frühen Schulwesens. Tübingen 2000, S. 75–106. 13 Vgl. Matthias Asche: „Humanistische Distanz gegenüber dem ,Konfessionalisierungsparadigma‘. Kritische Bemerkungen aus der Sicht der deutschen Bildungs- und Universitätsgeschichte“, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 7 (2001), S. 261–282. 14 Vgl. Hammerstein: Bildung, S. 100f. 15 Beispielsweise bei Rudolf Endres: „Das Schulwesen in Franken zur Zeit der Reformation“, in: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 63 (1994), S. 13–29. 16 Vgl. Wolfgang Neugebauer: „Niedere Schulen und Realschulen“, in: Notker Hammerstein (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. 2. Bd. 18. Jahrhundert. Vom späten 17. Jahrhundert bis zur Neuordnung Deutschlands um 1800. München 2005, S. 213–261.

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2. DER DIDAKTIKDISKURS DES 17. JAHRHUNDERTS UND SEINE FOLGEN Steht bei den Untersuchungen der nachreformatorischen Neuerungen in der Erziehungs- und Bildungsgeschichte der Aufbau des Schulwesens im Vordergrund, so konzentriert sich die Forschung für die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts auch auf den sich langsam verselbständigenden pädagogischen Diskurs über Erziehungsziele und didaktische Methodik. Bereits in der historistischen Phase der deutschen Erziehungsgeschichtsschreibung um 1900 hatte man die große Vielfalt der erziehungspraktischen Ratgeberliteratur und der schuldidaktischen Lehrhilfen des 17. und frühen 18. Jahrhunderts dargestellt und in Neueditionen wie der Reihe „Monumenta Paedagogica“ oder der „Sammlung selten gewordener pädagogischer Schriften des 16. und 17. Jahrhunderts“ erschlossen. Besondere Aufmerksamkeit schenkte man, den schulpolitischen Diskussionen im Kaiserreich und der Weimarer Republik entsprechend, den historischen Wurzeln der realienkundlichen Fächer und der Realschule. War letztere eine „Erfindung“ des 18. Jahrhunderts, so lässt sich die Diskussion um die schulische Pflege der deutschen Muttersprache und um die Lehre in Rechnen, Erd- und Naturkunde sowie Geschichte bis in die Zeit der Wende zum 17. Jahrhundert zurückverfolgen. In den 1950er bis 1970er Jahren kam es zu einer Renaissance einzelner großer „Klassiker“: in beiden deutschen Staaten vor allem des Jan Amos Comenius. Unterstützt wurde dies durch die umfangreiche Erforschung von Comenius in der ehemaligen CSSR und der DDR, zu der neben marxistischen Werkinterpretationen des „Lehrers der Nationen“ auch intensive Quellenforschung gehörte. Während die marxistische Erziehungswissenschaft Comenius als Vorreiter einer subjektzentrierten Pädagogik und eines realienkundlichen Unterrichtskanons feierte, interessierte man sich in der westlichen Forschung auch für die religionsgeschichtliche Einordnung seiner Ideen. Die umfassende Studie des Bochumer Pädagogen Klaus Schaller hat die Verwurzelung der Comenianischen Ideen im pansophischen Neuplatonismus aufgezeigt, die eine universalistische gesellschaftliche Harmonie durch vernünftige Erkenntnis der von Gott eingerichteten Natur herbeiführen wollte. Die Gegenstände der Welt galten Comenius hingegen nicht als für den Menschen verfügbar, sondern waren im göttlichen Kosmos eingeordnet. Nach Schaller wurden die Anfänge des pädagogischen Realismus erst in der Rezeption der Comenianischen Schriften am Ende des 17. Jahrhunderts begründet, als der Mensch als Subjekt des Wissens angesehen und der Zugang zu Weltwissen als entscheidender Inhalt von Erziehung etabliert wurde.17

17 Vgl. Klaus Schaller: Die Pädagogik des Johann Amos Comenius und die Anfänge des pädagogischen Realismus im 17. Jahrhundert. Heidelberg 1967, S. 474–479. Allerdings lässt sich die Durchsetzung dieses Gedankens nicht auf Comenius konzentrieren, wie die Forschung dies lange Zeit tat. Das Besondere an Comenius ist vor allem seine europäische Dimension: Er war sowohl bei protestantischen Ländern als auch im katholischen Frankreich als Schulreformer gefragt.

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In der jüngeren Forschung ist man bestrebt, ergänzend auch die Pädagogen „aus der zweiten Reihe“ in die Erforschung der pädagogischen Ideenentwicklung des 17. Jahrhunderts zu integrieren. So betont etwa eine neuere Studie über den vor allem im mitteldeutschen Raum tätigen Wolfgang Ratke (1571–1635), dass dessen Reformideen über eine allgemeine Schulpflicht und den Vorrang des muttersprachlichen Unterrichts Reaktionen auf eine als Krise empfundene Stagnation kirchlicher Frömmigkeit und auf eine gesellschaftlich-kulturelle Erstarrung gewesen seien.18 Zur Umsetzung der Reformideen gibt es allerdings noch kaum Studien. Das Reformwerk Herzog Ernst des Frommen von Sachsen-Gotha in der Mitte des 17. Jahrhunderts, das auf den Ideen Ratkes, Sigismund Evenius’ und Andreas Reyhers beruhte, gipfelte in einem bei den Zeitgenossen berühmten „Gothaer Schulstaat“.19 Hier gelang es, fast alle Kinder dieses kleinen lutherischen Territoriums zum Schulbesuch zu bringen. Das Anliegen der Bildungsreformen war es, zu einer grundlegenden Erneuerung der Gesellschaft durch eine „Reformation des Lebens“ beizutragen. Die pädagogischen Maßnahmen gingen von einer umfassenden erzieherischen Formung des Menschen aus, die durch Kontrolle und Bestrafung aller Untertanen komplettiert werden sollte. Im Unterricht spielte die Katechese die wichtigste Rolle, unterstützt von der Herausgabe eigener Schulbücher mit ABC-Leseübungen, Bibelauszügen, moralischen Sprüchen etc. Didaktisch wurde auf die Syllabiermethode zurückgegriffen, dem Singen wurde durch das Erlernen des Notenlesens eine theoretische Basis unterlegt. Im Ergebnis der durch Visitationen überprüften Umsetzung der Reformen stieg die Alphabetisierungsrate bis ca. 1660 in vielen Dörfern auf 80 %.20 Das Beispiel Gotha zeigt, dass Initiativen der kirchlichen und weltlichen Obrigkeiten entscheidend für eine Verbesserung der Schulbesuchsquote sein konnten, wenn sie gemeinsam agierten. Dies ist jedoch in zahlreichen Territorien des Reiches kaum der Fall gewesen, da die Regierungen, insbesondere aus finanziellen Gründen, ein solches Engagement verweigerten. Mit dem didaktischen Diskurs des 17. Jahrhunderts kam jedoch eine Erweiterung der Konfessionalisierungsforschung weit über die Kernphase 1517–1650 hinaus in den Blick. Einen besonders wichtigen Beitrag zu dieser Debatte leistete Johannes Kistenich, der die vorherrschende Konzentration der Forschung auf die protestantischen Gebiete korrigierte. Seine Untersuchung zur Rolle der Bettelorden im öffentlichen Schulwesen der Erzdiözese Köln wies nach, dass im 17. und 18. Jahrhundert nicht der Territorialstaat, sondern die nichtstaatlichen unabhängigen Orden die größte Gruppe der Schulträger und Schullehrer stellten. Dies traf nicht nur auf die Jesuiten zu, die in Frankreich, Österreich und Bayern das katholische Gelehrtenschulwesen dominierten und schon lange im Fokus der Forschung stehen, sondern auch auf die Bettelorden (Kapuziner, Minoriten und Franziskaner). Anders 18 Vgl. Uwe Kordes: Wolfgang Ratke (Ratichius, 1571–1635). Gesellschaft, Religiosität und Gelehrsamkeit im frühen 17. Jahrhundert. Heidelberg 1999, S. 145–151. 19 Vgl. Veronika Albrecht-Birkner: Reformation des Lebens. Die Reformen Herzog Ernsts des Frommen von Sachsen-Gotha und ihre Auswirkungen auf Frömmigkeit, Schule und Alltag im ländlichen Raum (1640–1675). Leipzig 2002. 20 Vgl. Albrecht-Birkner: Reformation des Lebens, S. 424–429 und 511–528.

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als die Jesuiten engagierten sich diese auch in erheblichem Umfang im ländlichen Niederen Schulwesen. Die Initiative zur Schulgründung ging meist von lokalen Repräsentanten der Gemeinden oder der Amtsverwaltungen aus. Im Lehrangebot folgten die Höheren Schulen der Bettelorden dem Vorbild des „christlichen Humanismus“, verbunden mit einer strengen Disziplin. Die Niederen Schulen zeigen, wie auch bei den Protestanten, eine enge Verbindung mit der Gemeindekatechese.21 Eine besondere Beachtung, gerade in der deutschsprachigen Forschung, hat für diese Zeitphase auch die Beteiligung von Mädchen am Bildungsprozess gefunden. Gegenüber der protestantischen weiblichen Bildungsbeteiligung, wie sie sich vor allem an den koedukativen protestantischen Niederen Schulen zeigt, hatte das katholische Mädchenschulwesen eine eigenständige institutionelle Stärke. Zahlreiche speziell für Mädchen eingerichtete städtische Schulen, in denen auch europäische Fremdsprachen gelernt wurden, haben von Italien ausgehend im 17. Jahrhundert einen eigenen Zweig des Schulwesens begründet. Vor allem das Engagement der weiblichen Schulorden, die katholischen Schülerinnen auch höhere Bildung erlaubte, hat im Protestantismus kein Pendant.22 Die Neigung in der deutschsprachigen Forschung, den Didaktikdiskurs des 17. Jahrhunderts nur in den Kontext von eng gezogenen Unterrichtsverbesserungen zu stellen, kann mit Blick auf die internationale Forschung relativiert werden. Vor allem im niederländischen und angelsächsischen Raum sind auch neue gesellschaftliche Kräfte identifiziert worden, die Veränderungen im Unterrichtsangebot förderten und nutzten. Dazu gehörten zahlreiche Fach- und Militärschulen, die Knaben vorbehalten waren und spezielle mathematische, naturwissenschaftlich-technische, ökonomische oder auch nautische Kenntnisse vermittelten und als eigenständiger Mittelschultypus anzusehen sind. Diese Spezialschulen, wie etwa das Gresham College in London, waren vor allem in den Hauptstädten und großen Hafenstädten etabliert. Dies verweist auf die bildungsgeschichtliche Rolle der frühneuzeitlichen Großstädte, die meist besonders anerkannte höhere Schulen in ihren Mauern besaßen, die enge Bindungen an die Universitäten des jeweiligen Landes pflegten. Dies gilt insbesondere für Residenzstädte, da der Hofadel eine Klientel für angesehene Schulen darstellte.23 Es kann daher nicht bestritten werden, dass die europäischen Großstädte für Teile des frühneuzeitlichen Bildungssystems wichtige Innovationszentren waren. Allerdings fällt auf, dass bei den oben genannten Veränderungen durch den didaktischen Diskurs im späten 17. Jahrhundert gerade kleinere Territorien des Reiches eine besondere Innovationskraft und Ausstrahlung besaßen. Die Frage nach der lokalen Prägung des Schulwesens muss daher neu gestellt werden.

21 Vgl. Johannes Kistenich: Bettelmönche im öffentlichen Schulwesen. Ein Handbuch für die Erzdiözese Köln 1600 bis 1850. 2 Bde. Köln 2001, hier: 1. Bd., S. 267–275. 22 Vgl. Elke Kleinau und Claudia Opitz (Hg.): Geschichte der Frauen- und Mädchenbildung. 1. Bd.: Vom Mittelalter bis zur Aufklärung. Frankfurt am Main u.a. 1996; Andreas Rutz: Bildung – Konfession – Geschlecht: Religiöse Frauengemeinschaften und die katholische Mädchenbildung im Rheinland (16.–18. Jahrhundert). Mainz 2006. 23 Vgl. etwa Agnes Winter: Das Gelehrtenschulwesen der Residenzstadt Berlin in der Zeit von Konfessionalisierung, Pietismus und Frühaufklärung (1674–1740). Berlin 2008.

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3. KLEINSTÄDTE ALS SCHULISCHE INNOVATIONSORTE: DAS FRÄNKISCHE WINDSBACH In der Diskussion um religiös-kirchliche und/oder gesellschaftlich-ökonomische Gründe für einen höheren Schulbesuch ist bisher ein Faktor kaum systematisch untersucht worden: die Bedeutung der Urbanisierung. Mit einer stärkeren Betonung dieses Faktors soll nicht behauptet werden, dass ein einfacher Zusammenhang zwischen Urbanisierungsgrad und Alphabetisierung oder Schulbesuch bestünde. Bei den oben genannten Beispielen von Initiativen in der Schulpolitik lässt sich vielmehr kein substantieller Unterschied zwischen Regionen unterschiedlicher Bevölkerungsdichte feststellen. Einen weiterführenden Ansatz schlug daher der schwäbische Landeshistoriker Rolf Kießling mit dem Terminus der „Schullandschaften“ vor. Eine Analyse von regionalen historischen Raumbeziehungen von Städten und Marktorten ergibt ein Netzwerk, durch das auch die Verbreitung besonderer Charakteristika des regionalen Bildungswesens erklärt werden können.24 Fraglich ist allerdings, ob dieses Konzept für Regionen gelten kann, die weniger abgeschlossen als Landschaften im Alten Reich gewesen sind – schon für das Rheinland sind Bedenken angemeldet worden.25 Stärker als die Suche nach Landschaften kann eine nähere Untersuchung der urbanen Städtetypen Aufschlüsse über Faktoren der Schulentwicklung geben. Daher wird im Folgenden vorgeschlagen, den Typus der Kleinstadt als einen Ort besonderer schulischer Konkurrenzsituationen in den Blick zu nehmen. Im europäischen Vergleich sind Kleinstädte im Alten Reich besonders zahlreich und ausgeprägt gewesen. Von den ca. 3.000 Städten im Reich um 1800 hatten nur fünf Prozent mehr als 2.000 Einwohner, mehr als 90 Prozent hatten weniger als 1.000 Einwohner.26 Die Kleinstädte hatten allerdings trotzdem zentralörtliche Funktionen für ihr ländliches Umland, und dies auch in Bezug auf die kirchlichen Hierarchien.27 Für die schulgeschichtliche Entwicklung ist bedeutsam, dass in den Klein- anders als in den Großstädten eine Konkurrenzsituation unter örtlichen Schulen bestand: es fehlte oft ein starkes Bürgertum, das das Potential für eine höhere Schule dargestellt hätte. Seit dem 15. Jahrhundert waren aber Lateinschulen als Kennzeichen städtischer Autonomie durch die kleinstädtischen Magistrate geschaffen worden, die im Laufe des wirtschaftlichen Niedergangs durch den Dreißigjährigen Krieg oftmals in eine existentielle Krise gerieten und als deren Folge „gemischte“ Schulen mit Latein- als auch deutschem Unterricht entstanden. Für die 24 Vgl. Rolf Kießling: „Schullandschaft Schwaben: Überlegungen zu einer räumlichen Strukturierung von Bildungsgeschichte“, in: Helmut Flachenecker (Hg.): Schule, Universität und Bildung. Regensburg 2007, S. 49–66. 25 Vgl. Andreas Rutz (Hg.): Das Rheinland als Schul- und Bildungslandschaft (1250–1750). Köln 2010. 26 Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 1. Bd. Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700–1815. München 1996, S. 180. 27 Vgl. Katrin Keller: Kleinstädte in Kursachsen: Wandlungen einer Städtelandschaft zwischen Dreißigjährigem Krieg und Industrialisierung. Köln 2001.

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seit dem späten 17. Jahrhundert typische Weiterentwicklung der Deutschen Schulen zu „gemischten Schulen“ mit erweitertem Unterrichtsprogramm bietet die ansbachische Kleinstadt Windsbach einen gut überlieferten Fall. Die besondere Dokumentation der Ereignisse beruht auf der Form des Rechtsstreits, der zwischen dem lateinischen und dem deutschen Schulmeister im dritten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts ausgetragen wurde. Die zweite Besonderheit an diesem Fall ist die direkte Verbindung zwischen dem didaktischen Diskurs und der Schulpraxis, die an einem Einzelbeispiel nachzuvollziehen hier möglich ist. In Windsbach,28 einer Kleinstadt mit ca. 600 Einwohnern um 1700, wurde 1537 durch den Rat eine Lateinschule eingerichtet, der 1563 ein neues Schulhaus zugewiesen wurde. Sie wurde durch einen Rektor geleitet, der zumindest 1725 gleichzeitig Pfarrer im benachbarten Berchtoldsdorf war und aus Windsbach eine jährliche Besoldung von 78 Gulden bezog, aber kein Schulgeld.29 Ein ebenfalls an der Lateinschule beschäftigter Kantor, vermutlich für die Unterklasse zuständig, erhielt nur ca. 50 Gulden jährlich. Das Interesse des Rates an der Lateinschule zeigte sich 1701 im Erlass einer neuen Schulordnung. Die Deutsche Schule war, wie in der Markgrafschaft Ansbach üblich, eine Einrichtung der Pfarrgemeinde und wurde nicht immer von einem Schulmeister geführt, sondern zeitweise vom Inhaber der Kaplanstelle.30 Dieser wurde angemessen bezahlt: 1725 erhielt er eine jährliche Besoldung von 97 Gulden plus die Nutzung einiger Morgen Ackerland sowie Holzeinschlagrechte.31 1654 heißt es in einem Bericht des Oberamtmanns, dass das Schulhaus in einem schlechten baulichen Zustand sei und wegen der Schulden der Gemeinde nicht repariert werden könne.32 In einer knappen Beschreibung von 1689 wird das Inventar der nun vermutlich renovierten Schule aufgeführt, u.a. ein „klein wandkästlein, woran der catalogus angeklebt“.33 Die Schüler beiderlei Geschlechts sangen in der Pfarrkirche unter Leitung des Schulmeisters und wurden auch gelegentlich in benachbarten Dorfgemeinden zum Gesang beim feiertäglichen Gottesdienst eingesetzt.34 Die spätestens nach 1648 eingeführte Kinderlehre zwischen Ostern und Pfingsten wurde ebenfalls in Zusammenarbeit von Pfarrer, Kaplan und Schulmeister durchgeführt: der Pfarrer examinierte die älteren Kinder, die zum

28 Windsbach liegt ca. 10 km östlich von Ansbach an der Grenze des Territoriums zum Gebiet des Hochstifts Eichstätt. 29 Vgl. Staatsarchiv Nürnberg [im folgenden StAN], Ansbacher Oberamtsakten Nr. 1721, Tl. 1: Übersicht zu den Ein- und Ausgaben der Pfarre von 1725. 30 In den Akten wird 1654 und 1663 ein zur Pfarrschule gehörender Schulmeister genannt. 31 Vgl. StAN, Ansbacher Oberamtsakten Nr. 1721, Tl. 1: Übersicht zu den Ein- und Ausgaben der Pfarre von 1725. Der Pfarrer erhielt eine jährliche Besoldung von 150 Gulden plus Ackerlandnutzung. 32 Vgl. StAN, Ansbacher Oberamtsakten Nr. 1721, Tl. 1: „Specificatio“ zu den Einkommen der Pfarrei Windsbach (1654). 33 StAN, Ansbacher Oberamtsakten Nr. 1721, Tl. 1: „Kopie der 1689 in die fürstl. Cammer eingesandte Consignationen“ (1689). Mit dem „catalogus“ war die auf einem Plakat angebrachte Darstellung der in der Schule gelehrten Schriftformen gemeint. 34 Vgl. StAN, Ansbacher Oberamtsakten Nr. 1721, Tl. 3: Bericht des Dekans von 1663.

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Nachtmahl gehen wollten, der Kaplan die mittleren und der Schulmeister die kleinen.35 Das Verhältnis des Pfarrers zum Schulmeister der deutschen Pfarrschule war Gegenstand eines 1616 erlassenen fürstlichen Rezesses, der vermutlich auf Grund von Konflikten zwischen der Pfarre, dem Rat und den lokalen Beamten verhandelt worden war. Hierin wurde u.a. dem Pfarrer die Inspektion über beide Schulen und alle Schulmeister zugestanden, wobei die Kompetenzen über die „Lectiones“ und die „Disziplin“ ausdrücklich erwähnt werden. Die fürstlichen Beamten durften sich hier nicht einmischen, sondern bei größeren Problemen blieb die Entscheidung dem Dekan überlassen.36 Dieser Erlass hat jedoch die Streitigkeiten nicht auf Dauer beenden können. Die ersten Konflikte zwischen dem Rektor der städtischen Lateinschule und dem Leiter der deutschen Schule datieren nach den Akten der Oberamtmannschaft aus dem Jahr 1665.37 Damals beklagte sich der Rat, dass der Deutsche Schulmeister der Lateinschule die Schüler abspenstig mache. Aus einem beiliegenden Fragekatalog, den der Oberamtmann an den Rektor richten wollte, geht hervor, dass er von der Qualität dessen lateinischer Bildung wohl nicht überzeugt war. Der Hauptgrund, so der Oberamtmann, liege aber bei den Eltern, die eine gelehrte Bildung ihrer Kinder nicht für vordringlich hielten. Der Streit schwelte über einige Jahre weiter, bis es 1677 unter Vermittlung des Oberamtmanns und des Rates zu einem Vergleich zwischen beiden Lehrern kam. Man verabschiedete eine Vereinbarung, die das Lehrangebot der Lateinschule auch auf den deutschen Unterricht ausweitete und einigte sich auf die Nutzung eines kleinen Guts, die Vorbereitung des Kirchengesangs durch die Schüler beider Schulen und das abwechselnde Orgelspielen der Lehrer am Sonntag und bei Hochzeiten, um die Zusatzeinkünfte hieraus zu teilen.38 Ausdrücklich wurde das Recht der Eltern bestätigt, ihre Kinder in die Schule ihrer Wahl zu entsenden; die Mädchen sollten allerdings weiter nur die Deutschen Schule besuchen. 1689 entschied das Landeskonsistorium nach einem Bericht des Dekans, das alte Herkommen zu beachten, sodass der Privatunterricht im Singen und der Erlös des Weihnachtssingens nur dem deutschen Schulmeister zustünde. Es stützte also den kirchlichen Angestellten gegen den städtischen.39 Der deutsche Schulmeister, der sich über Windsbacher Bürger beschwerte, die ihm das Schulgeld kürzen wollten, musste diese Klage erneut beim Konsistorium erheben, obwohl ein Bescheid zu seinen Gunsten ergangen war. Es wurde nun überdeutlich, dass der Rat den Rektor ermunterte, im Streitpunkt des Singunterrichts und den sich 35 Vgl. StAN, Ansbacher Oberamtsakten Nr. 1721, Tl. 3: Fragepunkt 7 aus dem Bericht des Dekans von 1663. 36 Vgl. StAN, Ansbacher Oberamtsakten Nr. 1721, Tl. 3: „Kopie des fürstlichen Rezesses anno 1616“. 37 Vgl. StAN, Ansbacher Oberamtsakten Nr. 1721, Tl. 5: „Bedenken“ des Oberamtmanns an Rat und Pfarrer Windsbach, 13. Nov. 1665. 38 Vgl. StAN, Ansbacher Oberamtsakten Nr. 1721, Tl. 5: Kopie des „Entscheids“ vom 23. Juli 1677. 39 Vgl. StAN, Ansbacher Oberamtsakten Nr. 1721, Tl. 5: Bescheid des Konsistoriums, Ansbach 11. Nov. 1689. Dort auch die undatierte Beschwerde des Deutschen Schulmeisters, der angab, vor fünf Jahren nach Windsbach berufen worden zu sein.

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daraus ergebenden Einkünften bei kirchlichen Veranstaltungen auf seiner Auslegung des Herkommens zu beharren. Über die Fortentwicklung des Streits zwischen den Personen geben die Akten keine Auskunft. Erst 1701 kam es zu einem grundsätzlichen Versuch, die Funktionen der beiden Schulen deutlich gegeneinander abzugrenzen und die Zusatzeinkünfte zu verteilen. Von den verordneten „Inspectores“ beider Schulen wurde eine neue Ordnung der Lateinschule und der Deutschen Schule entworfen, die den gelehrten Charakter der ersteren betonte und auch den Arithmetik-Unterricht anmahnte.40 Die Inspektoren rügten auch die überlangen Schulferien des Rektors im Sommer. Hartes Schlagen und andere körperliche Attacken, wohl ein Grund von elterlichen Klagen, wurde ihm zukünftig verboten, im Gegenzug sollten die Kinder ihm alle Ehren erweisen. Deutlich werden in der Ordnung auch die Probleme, die sich aus der Kombination der Rektorstelle mit der Pfarrstelle in Berchtoldsdorf ergaben: Abwesenheiten des Rektors, Streit mit den Berchtoldsdorfern über Stolgebühren etc.41 Zum Unterrichtsprogramm der Deutschen Schule wurde auch das Rechnen und Briefschreiben gezählt, und der deutsche Schulmeister wurde ermahnt, auf gute Aussprache bei den Kindern zu achten. Die Lese-, Schreib- und Rechenbücher sollten sauber gehalten werden. Mit dem Brieflesen sollte der Lehrer sie nicht zu lange aufhalten. Wert legten die Inspektoren auf den richtigen Gebrauch des Katechismus, der in der Kinderlehre sonntags abgefragt wurde und die Lektüre der Sonntagsevangelien. Beim Lernen der Psalmen solle der deutsche Schulmeister das Alter und intellektuelle Fassungsvermögen der Kinder berücksichtigen und den älteren Schülern auch Zeichenunterricht erteilen. Sobald Kinder aus der Schule fortbleiben, sollte er die Eltern deshalb befragen. Vier Wochen vor Festtagen sollte der Lehrer mit der Übung der Gesänge anfangen und die Schüler der Lateinschule davon nicht ausschließen. Insgesamt zeigt sich hier, dass die Deutsche Schule ein über die Grundlagen des Lesens und Schreibens hinausgehendes Programm verfolgte, das sie auch attraktiv für Bürger machte. Abschließend geben die Inspektoren zu verstehen, wenn beide Schulmeister eine exemplarische Amtsausübung an den Tag legten, würden auch keine Konflikte mehr entstehen. Der Rektor beschwerte sich hingegen, dass sowohl die Bauern aus den umliegenden eingepfarrten Dörfern als auch die Bürger ihre Kinder zum Lesen und Schreiben lernen nur auf die Deutsche Schule gäben. Das alte Herkommen sei jedoch gewesen, dass man bei hoher Kinderzahl in der Deutschen Schule einige auf die Unterklasse der Lateinschule geschickt habe. Dies verweigere jetzt der Deutsche Schulmeister. Der Grundkonflikt, die durch den mangelnden Bürgerwillen zur gelehrten Bildung hervorgerufene Krise der Lateinschule, durchzieht auch die folgenden Jahr-

40 Vgl. StAN, Ansbacher Oberamtsakten Nr. 1721, Tl. 5: Konzept der Ordnung, datiert 2. Oktober 1701. Beigelegt ist ein Lektionsplan der Lateinschule, der zeigt, dass die Lateinschüler Comenius’ Orbis pictus zweimal wöchentlich behandeln sollten. – Um wen es sich bei den „Inspectores“ genau handelte, ist den Akten nicht zu entnehmen. Zweifelsohne waren der Pfarrer und Vertreter des Rates sowie der Oberamtmannschaft beteiligt; ob auch Vertreter des Konsistoriums ist unklar. 41 Berchtoldsdorf liegt von Windsbach 5 km entfernt in nördlicher Richtung.

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zehnte. 1704 mahnte das Landeskonsistorium, der zuständige Dekan müsse öffentlich von der Kanzel verkünden lassen, dass die Jugend zur Schule gehalten werden solle. Es schlug vor, dass der Pfarrer eine Liste aller Kinder bis zwölf Jahre erstellen und die Eltern zukünftig Schulgeld zahlen sollten, auch wenn ihre Kinder nicht zur Schule gingen.42 Damit war erstmals der individuelle Windsbacher Konflikt auf eine allgemeine Ebene gehoben. Den Hintergrund dieses Vorgehens bildet die fürstliche Verordnung vom 7. Oktober 1704, die allen Schulverantwortlichen des Territoriums befahl, auf die Abhaltung des Unterrichts von Michaelis bis Ostern zu achten und auch von Eltern Schulgeld zu verlangen, die ihre Kinder nicht zur Schule schickten. In einem Schreiben an das Konsistorium berichteten die geistlichen und weltlichen Vertreter von Bürgerschaft und Verwaltung sieben Jahre nach der Ankunft eines neuen Rektors in Windsbach über die „ohnedeme fast zu grund gegangene lateinische Schuel“.43 Der Rektor habe sich zwar verpflichtet, vormittags eine und nachmittags eineinhalb Stunden Unterricht zu erteilen, was zu wenig sei, wolle diesen aber überdies in seinem „Musaeo“ und nicht in der Schulstube halten. Sie erläuterten weiter, auch der neue Rektor vernachlässige seine Lehrpflichten. Seine Gehaltszulage für die Bedienung der Orgel werde vom Pfarrer bezahlt, aber der Rektor käme den daraus resultierenden Pflichten ebenfalls kaum nach. Die Lage war unverändert geblieben, als sich die Inspektoren 1716 entschlossen, detailliertere Informationen über die Verhältnisse an der deutschen Schule zu erheben, vermutlich um gegenüber der Regierung und dem Konsistorium ihren Einsatzwillen zur Lösung der Probleme zu demonstrieren. Insbesondere ließen die Inspektoren vierteljährlich Schülerlisten anlegen mit Namen und Alter der Schüler. Diese Quelle zeigt, dass immer mehr Knaben als Mädchen in die Schule gingen und dass die Gesamtzahl der Schüler im 3. Quartal (Sommer und Erntezeit) immer dramatisch sank. Zu den guten Schulbesuchszeiten kamen auch immer ältere Schüler, jedoch auch zu den schlechtbesuchten 3. Quartalen. Die Aufstellungen zum Kenntnisstand der Schüler zeigen, dass sich 1711 das Niveau der deutschen Schule verschlechtert hatte: Rechenunterricht wurde anscheinend gar nicht erteilt. Von 48 Kindern hatten nur 13 das Stadium des Schreibens erreicht, alle anderen, darunter auch fünf Zehnjährige, beherrschten nur das Lesen. Nach einem Bericht des Kastners von 1735 machte sich bei der Deutschen Schule Schülermangel bemerkbar, der Rat unternahm aber keine Anstrengungen, die Eltern zum Schulbesuch der Kinder anzuhalten.44 Ob überhaupt noch eine Lateinschule bestand, ist unsicher. Eine Schülerliste von 1738 zeigt dann aber eine Verbesserung an: es besuchten 132 Kinder die Deutsche Schule, darunter fünf „Allmosen-Kinder“ sowie 25 Kinder aus den eingepfarrten Dörfern. 42 Vgl. StAN, Ansbacher Oberamtsakten Nr. 1721, Tl. 5: Konsistorialbeschluß Ansbach 10. Oktober 1704. 43 StAN, Ansbacher Oberamtsakten Nr. 1721, Tl. 5: Oberamtmann, Pfarrer, Stadtvogt und Bürgermeister von Windsbach an das Konsistorium, Windsbach 23. März 1711. Der neue Rektor Johannes Mötsch wird hier als ehemaliger „bayreuthischer Staabsprediger“ bezeichnet, d.h. er war vermutlich ein studierter Theologe. 44 Vgl. StAN, Ansbacher Oberamtsakten Nr. 1721, Tl. 5: Kopie eines Berichts des Kastners, Windsbach 7. November 1735.

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Es ist bezeichnend, dass das Konsistorium 1738 der Berufung eines Mannes auf die Kaplanstelle nach Windsbach zustimmte, der wie kein anderer Theologe der Region reformerische Konzepte für den Schulunterricht auf dem Land vertrat. Seine Berufung zementierte die wiedererlangte besondere Qualität der Windsbacher Deutschen Schule. Mittels seiner Schulaufsichtspflicht schuf er sich in den Jahrzehnten seiner Tätigkeit einen eigenen Gestaltungsraum: Johann Friedrich Supf (1689–1764) war Pfarrersohn aus dem Rothenburgischen, der vor seiner Ordination 1715 in Jena und Gießen studiert hatte. Nach drei Jahren Pfarrdienst in Stierhöfstetten im Steigerwald, der im Streit mit den Bauern in einem Eklat endete, wirkte er von 1723 bis 1736 im ansbachischen Waldthann. Nach erneuten langwierigen Streitigkeiten, u.a. mit der katholischen Nachbarschaft, verließ Supf freiwillig diese Pfarrstelle und hielt sich in Ansbach und Halle auf. Nach seiner Berufung 1738 versah er in Windsbach bis zu seinem Tod 26 Jahre die Kaplanstelle. Überregional bekannt machte ihn sein dortiger erfolgreicher Unterricht taubstummer Kinder.45 Bereits während der Amtsjahre in Waldthann kümmerte sich Supf intensiv um die dortige Deutsche Schule, u.a. durch einen neuen Schulbau. In Windsbach pflegte er die vernachlässigte Katechese, obwohl sich seine Zuständigkeit als Kaplan eigentlich nur auf den Privatunterricht in Latein erstreckte. Sofort nach seinem Amtsantritt beschwerte sich der Windsbacher Pfarrer beim Konsistorium, Supf beanspruche die Mitinspektion über die Deutsche Schule und wolle die Eltern zwingen, die Kinder bei ihm Privatunterricht nehmen zu lassen. Im ländlichen Kontext wurzelte auch der spätere Vorwurf des Pfarrers, Supf verführe die Jugend zu unrealistischen Plänen. So lege er den Bauernknaben am ersten Schultag eine Landkarte vor mit den Worten: „Wenn Du einmal ein Postknecht wirst, so darfst Du nicht lange fragen: wie weit ist᾽s von einem Ort zum andern? Du kannst es hier gleich sehen.“46 Die Ansbacher Kirchenbehörde unterstützte Supf allerdings bis zu seinem Tod gegen Anfeindungen, auch als diese direkt an den Markgrafen gerichtet wurden. Aus Supfs Gegenberichten wird deutlich, dass ihn die lokalen Amtleute nicht unterstützten und weder auf die Einhaltung der Regierungsdekrete zum Schulbesuch achteten noch Amtshilfe gegen säumige Eltern leisteten.47 Hieran wird klar, dass sich seit dem späten 17. Jahrhundert die Fronten zwischen Stadt, Kirchenleitung und lokaler Verwaltung nicht geändert hatten: Lokal hätte man gerne einen Ausgleich zwischen Latein- und Deutscher Schule gesehen, die Ambitionen der letzteren störten hierbei. Supfs theologische Haltung wird aus den überlieferten Quellen nicht ganz deutlich: zwar hat er einige Ideen des Halleschen Pietismus über Erziehung und sozialkaritative Einstellungen übernommen, steht aber sonst eher einer orthodox-lutherischen Richtung nahe. Besonders sein scharfer Antikatholizismus, der sich in Warnungen vor den zeitgenössischen europäischen Fortschritten Roms äußerte, führte 45 Vgl. Christoph Beck: „Der Windsbacher Kaplan und Rektor Johann Friedrich Supf (1689– 1764), ein Schulmann und Volkswirtschaftler des Merkantilismus“, in: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 19 (1950), S. 17–62, hier: 17–22 und 40–42. 46 Zitiert aus der Beschwerdeschrift des Windsbacher Pfarrers von 1755, in: Beck: „Der Windsbacher Kaplan“, S. 26. 47 Vgl. Beck: „Der Windsbacher Kaplan“, S. 28–30.

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ihn zur Ablehnung jeder Form eines überkonfessionellen Christentums. Eine zweite Gefahr für die wahre Religion sah er im Rationalismus eines Thomasius.48 Seine pädagogischen Anschauungen fußten auf dem Grundgedanken, durch Unterricht sowohl die religiöse Rechtschaffenheit der Kinder als auch den – merkantilistisch verstandenen – Wohlstand des Landes zu erreichen. Auf der einen Seite berichtete er stolz, seine Schulkinder hätten den Eltern zuhause die Kinderlehrpredigten erklärt und ihnen keine Ruhe gelassen, bis diese Bibeln gekauft hätten.49 Auf der anderen Seite richtete er sein Unterrichtsprogramm konsequent auf berufliche Nützlichkeit aus. 1761 formulierte er programmatisch, die Windsbacher Lateinschule solle auch für Handwerkerkindern attraktiv sein und müsse ihren Lehrplan durch Realienkunde erweitern.50 Die größte Aufmerksamkeit widmete er der Deutschen Schule, die er als Hauptansatzpunkt für die höhere Wirtschaftskraft eines Landes ansah. Von dem merkantilistischen Grundgedanken einer besseren Nutzung aller volkswirtschaftlichen Ressourcen mittels Bildung ist sein handschriftlicher Entwurf für eine umfassende Elementarschule geprägt, den er um 1734 im Ansbacher Konsistorium unter dem Titel Gründlicher Beweiß, daß durch bessere Bestellung der teutschen Schulen das Aufnehmen des gesamten Teutschen Lands, und die Vermehrung der Macht und Einkünfte hoher und niederer Herrschaften am ersten und leichtesten zu wegen gebracht werden könnte einreichte.51 Der größere zweite Teil der Schrift behandelt die Verbesserung aller Bereiche des Wirtschaftslebens, vom Handel über das Handwerk bis zum Ackerbau. Supf empfiehlt die Lektüre von Pufendorf, Becher u.a. Theoretikern, die ökonomische Orientierung an Ländern wie Holland und die Einführung von Seidenraupen und Porzellanherstellung. Daneben schlägt er allen Berufsgruppen detaillierte spezifische Tätigkeitsausweitungen vor und will zahlreiche neue Berufe einführen.52 Im ersten, auf die Schulreform bezogenen Teil nennt Supf drei Anregungen für die zeitgenössische Pädagogik: 1. der Gothaer „Schulmethodus“ Reyhers für Herzog Ernst den Frommen von 1643, 2. die Francke᾽schen Anstalten in Halle und 3. die pädagogischen Ideen des Grafen Zinzendorf. Die Empfehlung verschiedener Schulbücher zeigt, dass er sich intensiv mit schulpraktischen Fragen beschäftigt hatte. Besonderen Wert legte er in der Methode auf die Anknüpfung an alltägliche Lebenssituationen der Kinder, beispielsweise in biblischen Geschichten, im Rechnen durch „Haushaltungskunst“, in der Naturlehre durch einen Schulgarten. Als Unterrichtsziele nennt er: 1. Lesen lernen, 2. Verständnis des Katechismus, 3. Beherrschung der Rechtschreibung und des Briefschreibens (auch für „Handelschaft und profession“), 4. Rechnen inklusive Bruchrechnen, 5. Kenntnis der Moral zur „Bezähmung der Affecten“. Um das Buchstabieren-Lernen zu erleichtern, sollte 48 49 50 51

Vgl. Beck: „Der Windsbacher Kaplan“, S. 35–37. Vgl. Beck: „Der Windsbacher Kaplan“, S. 38f. Vgl. Beck: „Der Windsbacher Kaplan“, S. 46. Die Schrift liegt in einer Edition vor, siehe Christoph Beck: „Eine fränkische schulgeschichtliche Handschrift des Merkantilismus“, in: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 13 (1938), S. 1–34 und 175–193. 52 Vgl. Beck: „Handschrift des Merkantilismus“, S. 18–34 und 175–193.

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nicht jedes Kind das eigene ABC-Buch benutzen, sondern eine Wandtafel zum Einsatz kommen. Dadurch könne auch eine größere Gruppe innerhalb von sechs Wochen das Buchstabieren beherrschen: Der vortheil der gemeldten Methode aber bestehet sonderlich darin, daß bey einer aufgehängten grossen ABC und Buchstabier tafel alle Kinder zu gleich angewiesen werden, das zu begreifen, was gesagt wird, da sonsten die Schulmeister einem jeden insonderheit es haben sagen müssen, wodurch ungemein viel zeit verderbt und andere gehindert würden.53

Auch im Verse-Lesen und Katechismus-Aufsagen empfiehlt Supf die Gruppenmethode. Neben der Wandtafel solle jede Schule ein „Cabinet“ haben, in dem die Kupferstiche einer großformatigen Bibel, auf Holzrahmen montiert, den Schülern als Anschauungsmaterial für biblische Geschichten dienen können.54 Kopfrechnen solle mit den 11 bis 12jährigen Kindern nach lebensnahen Beispielen geübt werden, ohne eines der dicken Rechenbücher zu gebrauchen. Die Benutzung von Rechnungsformularen für Kirchen-, Kaufmanns- oder Baurechnungen würde zeigen, „wie sich solche Dorff-Leuthe in alles finden, und zu aller Hand Gewerben und Handlungen Lust und Courage bekommen würden“.55 Die für eine solche Methodik offenen und geschickten Lehrer wären nicht einfach zu finden, daher müsse jeder Pfarrer für die entsprechende Anleitung des Schulmeisters sorgen, indem er selbst einige Stunden vorbildhaften Unterricht halte. Die verbesserte Qualität des Schulunterrichts würde die Eltern bewegen, ihre Kinder länger in die Schule zu schicken und damit zu einem besseren Schulgeldeinkommen beizutragen, was wiederum die Schulmeisterstellen attraktiver für geeignete Bewerber mache.56 Schulische Konkurrenz und unterschiedliche Bildungsniveaus werden von Supf also durchaus produktiv gesehen und der Gewinn, den eine besser ausgebildete Bevölkerungsgruppe erfährt, als Anreiz verstanden. Die Schrift von Supf ist ein Beleg für die gewachsene gesellschaftliche Diskussion um grundlegende Veränderungen im Schulwesen. Im protestantischen Mittelund Oberfranken waren es um 1730 nicht mehr nur Vertreter der Regierungen, die sich von kameralistischen Ideen her einem neuen Zugang zur Pädagogik öffneten. Die soziale Rolle der Pfarrgeistlichkeit, die seit der Mitte des 17. Jahrhunderts einen enormen Bedeutungszuwachs erfuhr, war in der Diskussion um kirchliche und weltliche Belange der Gemeinde vielgestaltiger, als es das Bild vom Pfarrer als Agent der Obrigkeit ausmalt. Bemerkenswert ist auch die Konzentration Supfs auf die vollständige Alphabetisierung der bäuerlichen Schichten, die ausdrücklich nicht nur als agrarische Produzenten angesprochen werden:

53 Beck: „Handschrift des Merkantilismus“, S. 8f. 54 Vgl. Beck: „Handschrift des Merkantilismus“, S. 14f. 55 Beck: „Handschrift des Merkantilismus“, S. 12. Supf empfahl hierzu Jacob Döpler: Neu vermehrter Getreuer und Ungetreuer Rechnungs-Beamter, oder ausführlicher Bericht, wie ein jedweder Beamter und Verwalter, der auf Rechnung angenommen worden, nicht allein seiner Herrschafft treulich dienen, sondern auch richtige Rechnungen thun und ablegen solle. 3 Teile, Hannover 1724. 56 Vgl. Beck: „Handschrift des Merkantilismus“, S. 15f.

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Stefan Ehrenpreis Zum dritten wird das, daß die Verbeßerung der teutschen Schulen die Vermehrung der Handelschafften und Hand Wercker nach sich ziehe, offenbar, wenn man betrachtet, wie viele Gelegenheiten Bauers-Leute zu Aufrichtung einer manufaktur und Nützlichen gewerbe haben, die in Standt kämen, wenn sie oder ihre Kinder die Sach und hand Werck verstünden, welche gelegenheit man in Städten nicht hat, und daran auch niemandt gedencket.57

4. ZUSAMMENFASSUNG Die lange Geschichte der Windsbacher Konflikte eröffnet die Perspektive auf Grundprobleme der Schulstrukturen in ländlich geprägten Territorien. Ständig mussten Lehrer und Schulverantwortliche um den Schulbesuch der Kinder kämpfen, weniger aus grundsätzlicher elterlicher Distanz zur Bildung, sondern eher aus Gründen des wirtschaftlichen Niedergangs ländlicher Gebiete durch die Folgen des Dreißigjährigen Krieges. Die sich in den Kleinstädten hieraus entwickelnden Konflikte zwischen den Schultypen der Deutschen und der Lateinischen Schule hatten ihren Kern in dem Bestreben einiger deutschen Schulmeister, ihr Unterrichtsprogramm realienkundlich auszuweiten oder ihre Anstalt in eine „gemischte Schule“ umzuwandeln, die Teile der Aufgabe der Lateinschule übernahm. Hier waren gerade die Kleinstädte Vorreiter, da sich hier durch Verkehrs- und Marktbeziehungen mit der dörflichen Umgebung leicht die Schülerzahlen erhöhen ließen. Treibende Kräfte der Aufwertung mancher Deutschen Schulen waren einzelne, von der Kirchenleitung unterstützte Pfarrer, die allerdings nur höchst selten ihre Vorstellungen in der Form des Windsbacher Kaplans Supf theoretisch begründeten. Das Beispiel Windsbach zeigt jedoch, dass eine Unterscheidung zwischen religiös-kirchlichen und ökonomisch-gesellschaftlichen Einflüssen auf Veränderungen der Funktion von Schule und Bildung an den frühneuzeitlichen Verhältnissen vorbeigeht, für die vielmehr oft eine Kombination beider Gestaltungskräfte charakteristisch ist. Seit dem 16. Jahrhundert waren in den Territorien des Alten Reiches beide Ebenen des Schulwesens, die höheren Lateinschulen als auch die muttersprachlichen Niederen Schulen, konfessionell beeinflusst: Die Gymnasien und Lateinschulen unterstanden einer kommunalen Aufsicht, die von Angehörigen sozialer Eliten ausgeübt wurde, die (mehr oder weniger stark) konfessionell ausgerichtet waren; ihr Personal rekrutierte sich in hohem Maße aus den Theologischen Fakultäten. Die Niederen Schulen unterstanden meist direkt der Kontrolle durch den lokalen Geistlichen der jeweiligen Konfession. Im katholischen Bereich hatten die männlichen und weiblichen Bildungsorden eine Sonderstellung, da sie von den jeweiligen Ordensleitungen überwacht wurden. Diese Konfessionalisierung des Schulwesens hielt auch im späten 17. und 18. Jahrhundert tendenziell noch an. Durch Erweiterungen von Schultypen und Unterrichtsangeboten wurden aber schon seit der Mitte des 17. Jahrhunderts Innovationen verwirklicht: zunächst in einzelnen Regionen durch dortige kirchliche und/oder staatliche Träger, meist angestoßen durch individuelles Engagement von Pädagogen, die sich mit dem entstandenen didaktischen Diskurs um Lernen und Unterricht beschäftigten und daraus Konsequenzen zogen. 57 Beck: „Handschrift des Merkantilismus“, S. 21.

Konfessionelles Schulwesen

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Die in der Konfessionalisierungsphase etablierten Strukturen bildeten also auch im 18. Jahrhundert noch einen Rahmen, in dem sich die direkt Verantwortlichen für die Schule bewegten: Lehrer, Geistliche, Obrigkeiten, Eltern. Äußere Umstände und die immer wieder virulenten Herausforderungen kirchlicher Katechese führten zu einem Veränderungsdruck, der mindestens gelegentlich auf ein frühaufklärerisches Bildungsangebot einging.

ÄHNLICHKEIT ODER DIFFERENZ? Bildungssysteme in den Ländern der Böhmischen Krone im 16. und 17. Jahrhundert* Martin Holý Abstract: Based on an analysis of various types of sources (administrative, literary, personal, etc.), this paper outlines the basic features of the education system in Bohemia, Moravia, Silesia and Lusatia in the 16th and 17th centuries. It does not only compare the individual lands mentioned, but also the school systems of the various confessions, i.e. the Utraquists, the Catholics, the Unity of the Brethren, the Lutherans and the Calvinists. In the context of the process of confessionalisation, it not only examines certain differences in teaching, the organization of education, infrastructures, connections to contemporary intellectual networks, educational patronage etc., but also reveals numerous common elements. At the same time, key developmental trends are presented. Zusammenfassung: Die vorliegende Studie versucht, anhand einer Analyse von Quellen verschiedenster Art (administrativer, literarischer, persönlicher und weiterer Quellen) die grundlegenden Konturen des Bildungssystems in Böhmen, Mähren, in der Lausitz und in Schlesien während des 16. und 17. Jahrhunderts komparativ zu skizzieren. Dabei werden nicht nur die erwähnten Länder untereinander verglichen, sondern auch das Schulwesen der einzelnen Konfessionen – der Utraquisten, Katholiken, der Brüderunität, der Lutheraner sowie der Calvinisten. Im Kontext des Konfessionalisierungsprozesses verfolgt die Studie nicht nur Unterschiede im Unterricht bzw. in dessen Hauptzielen, in der Organisierung des Schulwesens, in dessen Infrastruktur, den Anschluss an zeitgenössische intellektuelle Netzwerke, das Bildungsmäzenatentum u. dgl., sondern verzeichnet auf den genannten Gebieten auch zahlreiche gemeinsame Elemente. Zugleich werden zentrale Entwicklungstrends präsentiert.

1. EINLEITUNG Im 16. und 17. Jahrhundert existierte in den Ländern der Böhmischen Krone, die Böhmen, Mähren, Schlesien und die Ober- und Niederlausitz umfasst, sowohl katholisches als auch protestantisches Schulwesen verschiedenster Art. Gerade das nichtkatholische Bildungswesen war dabei vor allem bis zum Anfang des Dreißigjährigen Krieges außerordentlich weit gefächert. Neben Lateinschulen, die von der Tradition des heimischen Utraquismus ausgingen, der in jenem Zeitraum trotz deutlicher Offenheit gegenüber ausländischen Reformationsströmungen gewisse spezi-

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Die vorliegende Studie entstand im Rahmen des Forschungprojektes Vzdělanostní mecenát v zemích České koruny v raném novověku / Bildungsmäzenatentum in den Ländern der Böhmischen Krone (GAČR, Grantagentur der Tschechischen Republik; P405/12/P422).

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fische Züge behielt, entwickelten auch die Böhmischen Brüder sowie die Lutheraner, Calvinisten und in sehr begrenztem Maße auch die Wiedertäufer ihr eigenes Bildungssystem. Ein bemerkenswertes Phänomen stellen auch einige konfessionell offene bzw. gemischte Bildungsstätten dar. Die vorliegende Studie, die von der Analyse privater, administrativer, literarischer und weiterer Quellen ausgeht, versucht vor allem eine Antwort auf folgende Fragen zu bieten: Kann auf die Verhältnisse in den Ländern der Böhmischen Krone das Konzept der Konfessionalisierung1 angewandt werden? Wenn ja, in welchem Maße? Kam die Stärkung der Rolle einzelner Konfessionen, ihre Abgrenzung und ihr gegenseitiges Wetteifern in den einzelnen Kronländern auf unterschiedliche Art und Weise zum Ausdruck? Wurde lediglich die schulische Bildung beeinflusst oder kann man dies auch im Bereich des Privatunterrichts verzeichnen? Worin konkret unterschieden sich die Bildungssysteme auf dem Gebiet der Böhmischen Krone in einzelnen Konfessionsbereichen voneinander? In welchen Unterrichtsfächern zeigten sich diese Unterschiede? Auf welche Art und Weise setzten sich die konfessionell offenen bzw. gemischten Schulen mit den Unterschiedlichkeiten und Gemeinsamkeiten auseinander? Können auch gewisse Differenzen in anderen Bereichen verzeichnet werden? Welche Elemente hatten hingegen die einzelnen Bildungssysteme gemein?

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Vgl. hierzu im Einzelnen Wolfgang Reinhard: „Konfession und Konfessionalisierung in Europa“, in: Ders.: Bekenntnis und Geschichte. Die Confessio Augustana im Zusammenhang. München 1981, S. 165–189; Winfried Eberhard: Konfessionsbildung und Stände in Böhmen 1478–1530. München u.a. 1981; Ernst Walter Zeeden: Konfessionsbildung. Studien zur Reformation, Gegenreformation und katholischen Reform. Stuttgart 1985; Heinz Schilling (Hg.): Die Reformierte Konfessionalisierung in Deutschland – Das Problem der ,Zweiten Reformation‘. Gütersloh 1986; Heinz Schilling: „Die Konfessionalisierung im Reich. Religiöser und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland zwischen 1555 und 1620“, in: Historische Zeitschrift 246 (1988), S. 1–45; Harm Klueting: Das Konfessionelle Zeitalter 1525–1648. Stuttgart 1989; Hans-Christoph Rublack (Hg.): Die Lutherische Konfessionalisierung in Deutschland. Gütersloh 1992; Heinrich Richard Schmidt: Konfessionalisierung im 16. Jahrhundert. München 1992; Wolfgang Reinhard und Heinz Schilling (Hg.): Die katholische Konfessionalisierung. Münster 1995; Joachim Bahlcke und Arno Strohmeyer (Hg.): Konfessionalisierung in Ostmitteleuropa. Wirkungen des religiösen Wandels im 16. und 17. Jahrhundert in Staat, Gesellschaft und Kultur. Stuttgart 1999; Matthias Asche: „Humanistische Distanz gegenüber dem ,Konfessionalisierungsparadigma‘. Kritische Bemerkungen aus der Sicht der deutschen Bildungs- und Universitätsgeschichte“, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 7 (2001), S. 261–282; Stefan Ehrenpreis und Ute Lotz-Heumann: Reformation und konfessionelles Zeitalter. Darmstadt 2002; Anna Ohlidal: „,Konfessionalisierung‘: Ein historisches Paradigma auf dem Weg von der Sozialgeschichte zur Kulturwissenschaft?“, in: Acta Comeniana 15–16 (2002), S. 327– 342; Harm Klueting: „,Zweite Reformation‘ – Konfessionsbildung – Konfessionalisierung. Zwanzig Jahre Kontroversen und Ergebnisse nach zwanzig Jahren“, in: Historische Zeitschrift 277 (2003), S. 309–341; Anna Ohlidal: „,Konfessionalisierung‘ – ein Paradigma der historischen Frühneuzeitforschung und die Frage seiner Anwendbarkeit auf Böhmen“, in: Studia Rudolphina 3 (2003), S. 19–28; Stefan Plaggenborg: „Konfessionalisierung in Osteuropa im 17. Jahrhundert. Zur Reichweite eines Forschungskonzeptes“, in: Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Böhmischen Länder 44,1 (2003), S. 3–28.

Ähnlichkeit oder Differenz

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2. BILDUNGSSYSTEME: STRUKTUREN, TENDENZEN, DIFFERENZEN, GEMEINSAMKEITEN Bevor ich zur Beantwortung der einzelnen Fragen komme, möchte ich in Kürze die Bildungsmöglichkeiten skizzieren, die in den Ländern der Böhmischen Krone während des 16. und 17. Jahrhunderts zur Verfügung standen. Wenn wir die Studia Generalia der Dominikaner und Franziskaner beiseitelassen,2 wurde – bis auf Prag und Olmütz, wo es zwei funktionierende Hochschulen gab3 – vor allem Elementarund sogenannte Partikularbildung angeboten.4 Diese machte während des untersuchten Zeitraums eine relativ markante Entwicklung durch. Gewisse Unterschiedlichkeiten bzw. Spezifika können auch in den einzelnen Ländern verzeichnet werden. Während in der Zeit vor der Schlacht am Weißen Berg die städtischen Lateinschulen das Rückgrat der voruniversitären Bildung der Einwohner der böhmischen Länder bildeten,5 spielten in diesem Bereich nach der Schlacht am Weißen Berg kirchliche Gymnasien eine dominante Rolle. Dabei handelte es sich sowohl um Jesuitenschulen, deren Anzahl im Vergleich mit der Zeit vor dem böhmischen Ständeaufstand von 1618–1620 um ein Mehrfaches zunahm, als auch um Lateinschulen 2 3

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Vgl. die Hinweise in Anm. 6. Zu beiden Einrichtungen vgl. auch mit Hinweisen auf die ältere Literatur zumindest Václav Nešpor: Dějiny university olomoucké. Olomouc 1947; Jan Navrátil (Hg.): Kapitoly z dějin olomoucké univerzity 1573–1973. Ostrava 1973; Michal Svatoš u.a. (Hg.): Dějiny Univerzity Karlovy. 1. Bd. 1347/48–1622. Prag 1995; Ivana Čornejová u.a.: Dějiny Univerzity Karlovy. 2. Bd. 1622–1802. Prag 1996; Jiří Fiala u.a. (Hg.): Univerzita v Olomouci (1573–2009). Olomouc 2009. Partikularschulen (studia particularia) waren solche Bildungseinrichtungen, die im Unterschied zu den Universitäten jener Zeit (studia generalia) lediglich eine Teilbildung (also die Partikularbildung) angeboten haben. Auch wenn sie sich untereinander individuell unterscheiden konnten, war das Hauptziel aller Partikularschulen, den Schülern aktive Lateinkenntnisse beizubringen (also die lateinische Bildung) und daneben auch solchen Stoff, dessen Beherrschung eine Voraussetzung für das weitere Studium an Schulen vom universitären Typus war. Dabei handelte es sich vor allem um einen Teil von den sogenannten septem artes liberales (siehe hierzu Anm. 17); vgl. Zikmund Winter: Život a učení na partikulárních školách v Čechách v XV. a XVI. století. Kulturně-historický obraz. Prag 1901, S. 24–28. Vgl. hierzu im Einzelnen Winter: Život a učení na partikulárních školách v Čechách, hier vor allem S. 3–35; Jiřina Holinková: Městská škola na Moravě v předbělohorském období. Prag 1967; dies.: Čtyři kapitoly z dějin městské školy u sv. Mořice v Olomouci. Olomouc 1970 František Palacký: „Obyvatelstvo českých měst a školní vzdělání v 16. a na začátku 17. století“, in: Československý časopis historický 18 (1970), S. 345–368 Josef Hejnic: Českokrumlovská latinská škola v době rožmberské, Rozpravy ČSAV – Řada společenských věd 82, Heft 2 (1972); ders.: Latinská škola v Plzni a její postavení v Čechách (13.–18. století), Rozpravy ČSAV – Reihe Řada společenských věd 89,2 (1979); Jiří Pešek: „Univerzitní správa městských latinských škol v Čechách a na Moravě na přelomu 16. a 17. století“, in: Acta Universitatis Carolinae – Historia Universitatis Carolinae Pragensis 30 (1990), fasc. 2, S. 41–58; ders.: „Pražská univerzita, městské latinské školy a měšťanské elity předbělohorských Čech (1570– 1620)“, in: Český časopis historický 89 (1991), S. 336–355; ders.: Měšťanská vzdělanost a kultura v předbělohorských Čechách 1547–1620 (Všední dny kulturního života). Prag 1993, S. 30–58.

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weiterer Orden, vor allem der Piaristen und in geringerem Maße auch der Prämonstratenser und Benediktiner. Während die Jesuiten vor allem das Mittel- und Hochschulwesen beherrschten, spielten die Piaristen eine zentrale Rolle in der Elementarschulbildung.6 Bei der Betrachtung von regionalen Differenzen im Bildungsangebot finden wir in der untersuchten Region sehr markante Unterschiede, vor allem, wenn wir Böhmen und Mähren mit den sogenannten Nebenländern der Böhmischen Krone vergleichen. Dort war das Netz von Lateinschulen viel spärlicher: besonders in der Niederlausitz und in Oberschlesien. Andererseits befanden sich hier jedoch auch Gymnasien, deren überregionaler Ruhm viel größer war als jener der Bildungsstätten in den böhmischen Ländern: z.B. die Schulen in Brieg, Goldberg, Breslau, Görlitz und Zittau. Neben den bedeutenden Pädagogen, die dort wirkten (von den bekanntesten seien zumindest Valentin Trotzendorf (1490–1556)7 oder Petrus Vincentius (1519–1581)8 genannt), war dies vor allem durch die engere Verknüpfung mit dem Milieu des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gegeben, die während des gesamten betrachteten Zeitraums bestand. Wenn wir die Situation in den böhmischen Ländern mit der Lausitz und Schlesien unter dem Aspekt der Langzeitentwicklung vergleichen, wird offensichtlich, dass trotz eines gewissen Wandels, zu dem es im Bereich des Schulwesens vor allem durch die Expansion der Societas Jesu während des Dreißigjährigen Krieges 6

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Zum Kirchenschulwesen im 16. und 17. Jahrhundert in den böhmischen Ländern vgl. Kateřina Bobková-Valentová, Martin Holý und Martina Ondo Grečenková: „Církve, vzdělávání a věda“, in: Jiří Mikulec u.a.: Církev a společnost raného novověku v Čechách a na Moravě. Prag 2012, S. 211–268, hier vor allem 211–238. Siehe auch Jan Bombera: „Piaristisches Schulwesen in Böhmen und Mähren im 17. Jahrhundert“, in: Archivum Scholarum Piarum 14 (1990), S. 167– 192; Metoděj Zemek, Jan Bombera und Aleš Filip: Piaristé v Čechách na Moravě a ve Slezsku 1631–1950. Prievidza 1992, S. 95–124; Hedvika Kuchařová: „Abriss der Organisation der Ordensstudien bei den Dominikanern in der böhmischen Provinz im 17. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts“, in: Acta Comeniana 14 (2000), S. 133–160; Václav Bartůšek: „Šíření piaristických kolejí a škol v Čechách, na Moravě a ve Slezsku v 17. a 18. století“, in: Paginae historiae 11 (2003), S. 32–68; Tomáš Černušák: „Proměny řádového školství dominikánů v českých zemích (nástin vývoje ve 14. – 18. století)“, in: Sborník prací Pedagogické fakulty Masarykovy univerzity, Reihe Řada společenských věd 21 (2006), S. 3– 10; Hedvika Kuchařová: Premonstrátská kolej Norbertinum v Praze. Alternativy univerzitního vzdělání v 17. a 18. století. Prag 2011. Vgl. Gustav Bauch: Valentin Trotzendorf und die Goldberger Schule. Berlin 1921, S. 52–169; Karl Weidel: „Valentin Trozendorf“, in: Schlesische Lebensbilder IV. Breslau 1931, S. 99– 101; Arno Lubos: Valentin Trozendorf. Ein Bild aus der schlesischen Kulturgeschichte. Ulm 1962; Alfred Michler: Valentin Trotendorf. Nauczyciel Śląska. Złotoryja 1996; Elke Axmacher: „Trozendorf, Valentin“, in: BBKL 12 (1997), Sp. 618–623. Robert Tagmann: Petrus Vincentius, der erste Schuleninspector in Breslau. Breslau 1857; Gustav Bauch: „Petrus Vincentius, der Schöpfer des Görlitzer Gymnasiums und erste Breslauer Schuleninspektor“, in: Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte 19 (1909), S. 269–330; Hartmut Freytag: „Vincentius (Vietz), Petrus (Peter)“, in: Biographisches Lexikon für Schleswig-Holstein und Lübeck 11 (2000), S. 362–366; ders.: „Petrus Vincentius (1519–1581)“, in: Schlesische Lebensbilder. 8. Bd. Neustadt an der Aisch 2004, S. 60–68.

Ähnlichkeit oder Differenz

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und danach in Schlesien kam, in den Nebenländern der Böhmischen Krone das Bildungsangebot doch stabiler war – vor allem im Bereich der voruniversitären Bildung.9 Die wiederholten Bemühungen, im 16. und 17. Jahrhundert in Schlesien eine Universität zu gründen (Breslau, Liegnitz, Beuthen an der Oder, Neiße), waren hingegen erfolglos, was unter anderem zu einer für europäische Verhältnisse äußerst starken Bildungsmigration von Schlesiern an ausländische Hochschulen führte.10 Wenn wir die Frage beantworten wollen, in welchem Maße das Konzept der Konfessionalisierung, das bislang vor allem auf die Verhältnisse im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation angewandt wurde, bei der Untersuchung der Geschichte des Schulwesens und der Bildung in den Ländern der Böhmischen Krone verwendet werden kann, muss zumindest kurz die konfessionelle Struktur des Landes dargestellt werden. Sie war in den böhmischen Ländern in der Zeit vor der Schlacht am Weißen Berg viel komplizierter als im Reich. Bei einer gewissen Vereinfachung der örtlichen konfessionellen Entwicklung kann gesagt werden, dass es hier vor dem Dreißigjährigen Krieg mindestens sechs verschiedene Konfessionen gab, die das Aussehen des Schulwesens im untersuchten Zeitraum beeinflussten. In Böhmen und Mähren waren dies der katholische Glaube, ferner der Utraquismus, das Luthertum, das Bekenntnis der Böhmischen Brüderunität und in geringerem Maße auch der Anabaptismus. In den Nebenländern der Böhmischen Krone war es ab dem Ende des 16. Jahrhunderts neben dem überwiegenden Luthertum auch der Calvinismus. Bis auf die Wiedertäufer11 hat jede der erwähnten Konfessionen nach und nach das humanistische Bildungsmodell angenommen. Das Maß und Tempo der Rezeption des Humanismus und das Bestreben, ihn mit weiteren und gewissermaßen spezifischen Bildungszielen zu integrieren, waren in den einzelnen konfessionellen Milieus zumindest teilweise verschieden. Bevor ich die einzelnen Unterschiede schildere, oder auch viele gemeinsame Elemente feststelle, möchte ich darauf hinweisen, dass im ersten Jahrhundert der Neuzeit die meisten Schulen in dem untersuchten Gebiet keine kirchlichen Bildungsstätten waren, sondern Stadtschulen, in Schlesien auch Fürstenschulen. 9

Zum frühneuzeitlichen Schulwesen in den Nebenländern der Böhmischen Krone vgl. auch mit Hinweisen auf ältere Literatur Bogumiła Burda: Szkolnictwo średnie na Dolnym Śląsku w okresie wczesnonowożytnym (1526–1740). Zielona Góra 2007; Martin Holý: Zrození renesančního kavalíra. Výchova a vzdělávání šlechty z českých zemí na prahu novověku (1500– 1620). Prag 2010, hier vor allem S. 200–239; Christine Absmeier: Das schlesische Schulwesen im Jahrhundert der Reformation. Ständische Bildungsreformen im Geiste Philipp Melanchthons. Stuttgart 2011; Lars-Arne Dannenberg und Tino Fröde (Hg.): Bildung und Gelehrsamkeit in der frühneuzeitlichen Oberlausitz. Görlitz 2011. Zum jesuitischen Schulwesen in Schlesien vgl. auch Lucyna Harc: „Szkoły jezuickie na Śląsku. Zarys problematyki“, in: Marek Derwich und Anna Pobóg-Lenartowicz (Hg.): Klasztor w mieście średniowiecznym i nowożytnym. Opole und Warschau 2000, S. 295–308. 10 Martin Holý: „Silesia fere academica. Vergebliche Bemühungen um die Gründung einer Universität in Schlesien im 16. und 17. Jahrhundert und ihre Folgen“, in: Acta Universitatis Carolinae – Historia Universitatis Carolinae Pragensis 49,2 (2009), S. 243–256. 11 Vgl. hierzu auch mit weiteren Hinweisen Bobková-Valentová/Holý/Grečenková: „Církve, vzdělávání a věda“, S. 223.

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Vor allem bei den Stadtschulen ist aber fraglich, ob man hier überhaupt ihren konfessionellen Charakter bestimmen kann, sowohl während des untersuchten Zeitraums insgesamt, als auch zu einem konkreten Zeitpunkt. Auch wenn der Träger darauf einen gewissen Einfluss hatte – bzw. vor allem in Böhmen die Utraquistische Universität in Prag, von der bereits ab dem Spätmittelalter ein Großteil der Stadtschulen verwaltet wurde12 –, hatten viele Schulen keinen monokonfessionellen Charakter. Dies galt sowohl für den Unterricht als auch für weitere Bereiche (z.B. die Zusammensetzung des Lehrkörpers, der Schüler und dgl.). In welchem Maße es sich hier um „konfessionsübergreifendes Christentum“ handelte, um eine einfache Widerspiegelung der multikonfessionellen Situation, die an vielen Orten herrschte, oder in einigen Fällen auch um einen gewissen Synkretismus mehrerer Bekenntnisse, kann nicht eindeutig gesagt werden.13 Hiermit will ich nicht sagen, dass die einzelnen Kirchen nicht bestrebt gewesen wären, an einem konkreten Ort oder in einer konkreten Region ihre eigenen Vorstellungen über die Bildung der Bevölkerung durchzusetzen. Aber in einem Milieu, das nur in begrenztem Maße ihrer Kontrolle unterlag und oft langzeitig multikonfessionell war, waren ihre diesbezüglichen Möglichkeiten sehr eingeschränkt. Bei nichtkonfessionellen Schulen können wir den Einfluss eines bestimmten Bekenntnisses auf den Unterricht im untersuchten Zeitraum nur schwer beziffern, vor allem wegen der mangelhaften Quellenlage, besonders bezüglich der Überlieferung von Schulordnungen.14 Aber auch dort, wo z.B. die Schulordnungen erhalten sind, zeigt sich, dass es sich in der Regel um ein Resultat vieler regionaler und überregionaler Einflüsse handelt, die oft quer durch mehrere Konfessionen gingen. Dies gilt dabei nicht nur für „öffentliche“ Schulen, sondern auch für einige private Lateinschulen, die in manchen Fällen absichtlich als konfessionell offen konzipiert waren. In den böhmischen Ländern ist dies am Beispiel der Schule von Matthaeus von Chotěřina, des 12 Vgl. hierzu vor allem die Arbeiten von Jiří Pešek zitiert in Anm. 5. 13 Vgl. hierzu Válkas Thesen zum überkonfessionellen Christentum jener Zeit: Josef Válka: „Politika a nadkonfesijní křesťanství Viléma a Jana z Pernštejna“, in: Petr Vorel (Hg.): Pernštejnové v českých dějinách. Sborník příspěvků z konference, konané v Pardubicích 8.–9.9.1993. Pardubice 1995, S. 173–183. Siehe auch Thomas Winkelbauer: „Überkonfessionelles Christentum in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts in Mähren und seinen Nachbarländern“, in: Libor Jan u.a. (Hg.): Dějiny Moravy a Matice Moravská. Problémy a perspektivy. Sborník příspěvků z vědecké konference konané ve dnech 24.–25. listopadu 1999 v Brně. Brno 2000, S. 131–146; Petr Maťa: „Vorkonfessionelles, überkonfessionelles, transkonfessionelles Christentum. Prolegomena zu einer Untersuchung der Konfessionalität des böhmischen und mährischen Hochadels zwischen Hussitismus und Zwangskatholisierung“, in: Joachim Bahlcke u.a. (Hg.): Konfessionelle Pluralität als Herausforderung. Koexistenz und Konflikt in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Leipzig 2006, S. 307–331. 14 Allgemein zu den Schulordnungen in den böhmischen Ländern des 16. und des frühen 17. Jahrhunderts vgl. Winter: Život a učení na partikulárních školách, S. 608–658. Einige Schulordnungen wurden auch herausgegeben. Siehe Anm. 21. Im Unterschied zu den böhmischen Ländern ist der Überlieferungsstand dieser Quellen in der Ober- und Niederlausitz sowie in Schlesien wesentlich besser (Dutzende von Schulordnungen). Es kann auf sie also nicht einzeln verwiesen werden.

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Gymnasium Illustre in Groß Meseritsch oder des rosenbergischen Gymnasiums in Sobieslau zu sehen.15 Unterschieden sich aber die Bildungsziele in den einzelnen konfessionellen Milieus überhaupt voneinander? Und wenn ja, in welchem Maße? Wenn wir den Inhalt der Partikularbildung betrachten, die der Großteil der lese- und schreibkundigen Bevölkerung jener Zeit absolvierte, kann gesagt werden, dass die Lateinschulen, ob sie nun direkt einer Kirche unterstanden oder sich in einem Milieu befanden, wo eine bestimmte Konfession überwog, im Prinzip eine sehr vergleichbare Bildung boten. Viele verwendeten auch ähnliche Schulbücher. In konkreten Fällen stellen wir häufig fest, dass Lehrmittel verwendet wurden, die von einem Angehörigen einer anderen, nicht gerade sehr nahe stehenden Konfession zusammengestellt worden waren.16 An allen genannten Schulen ging es vor allem um das Beherrschen von Latein in Wort und Schrift. Und zwar nicht nur unter dem Aspekt der Grammatik oder Rhetorik, sondern es ging auch um die Rezeption antiker und auch jüngerer lateinisch schreibender Autoren bzw. ihrer Werke. Daneben waren weitere Unterrichtsfächer wichtig, die entweder von der einstigen mittelalterlichen Definition der sieben freien Künste ausgingen17 oder im Laufe der Zeit später in den Unterricht integriert wurden – je nach den aktuellen Vorstellungen zeitgenössischer pädagogischer Autoritäten, die zum Teil die wirklichen und wechselhaften Bedürfnisse der Gesellschaft widerspiegelten. Es handelte sich z.B. um Geschichte, die Grundlagen der Jurisprudenz, der Ethik und dgl. Ein wichtiger Bestandteil des Lehrstoffs an allen Lateinschulen war der Religionsunterricht. Während er an Kirchenschulen vor allem anhand der Katechismen der jeweiligen Konfession abgehalten wurde (so setzten sich auf dem untersuchten Gebiet im 15 Vgl. zumindest Augustin Kratochvíl: „Luteránská škola ve Velk. Meziříčí“, in: Časopis Matice moravské 29 (1905), S. 197–201; Josef Lintner: „Škola Rožmberská v Soběslavi“, in: Sborník historického kroužku 8,1 (1899), S. 77–84; Martin Holý: „Soukromá škola Matouše Kollina z Chotěřiny v Praze a její šlechtičtí žáci“, in: Eva Semotanová (Hg.): Cestou dějin 2. K poctě prof. PhDr. Svatavy Rakové, CSc. Prag 2007, S. 159–184; Dalibor Hodeček u.a. (Hg.): Velké Meziříčí v zrcadle dějin. Brno 2008, S. 131–135; Martin Holý: „Bildungsmäzenatentum und Schulgründungen des Adels für Protestanten in Böhmen und Mähren (1526–1620)“, in: Joachim Bahlcke und Thomas Winkelbauer (Hg.): Schulstiftungen und Studienfinanzierung. Bildungsmäzenatentum in den böhmischen, österreichischen und ungarischen Ländern 1500– 1800. Wien u.a. 2011, S. 93–107. 16 Vgl. hierzu in Bezug auf die böhmischen Länder Martin Holý: „Schulbücher und Lektüren in der Unterrichtspraxis an böhmischen und mährischen Lateinschulen des 16. und frühen 17. Jahrhunderts“, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 15 (2012), S. 105–119. 17 Die sieben freien Künste (septem artes liberales) wurden bereits ab dem Mittelalter in das sogenannte Trivium (Grammatik, Rhetorik, Dialektik) und Quadrivium (Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musik) aufgeteilt. Otakar Kádner: Dějiny pedagogiky I–II. Prag 1923; Josef Koch (Hg.): Artes Liberales. Von der antiken Bildung zur Wissenschaft des Mittelalters. Leiden u.a. 1959; Heinrich Schipperges: „Artes liberales“, in: Lexikon des Mittelalters I. München u.a. 1980, S. 1058–1063; David L. Wagner (Hg.): The Seven Liberal Arts in the Middle Ages. Bloomington (Indiana) 1983; Walter Rüegg (Hg.): Geschichte der Universität in Europa II: Von der Reformation zur Französischen Revolution (1500–1800). München 1996; Michael Stolz: Artes-liberales-Zyklen. Formationen des Wissens im Mittelalter. Tübingen 2004.

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katholischen Milieu beispielsweise die Katechismen von Petrus Canisius durch, während es an den Schulen der Brüderunität die Katechismen der Böhmischen Brüder waren),18 stützte man sich in den nichtkirchlichen Schulen häufig auf mehrere Quellen. So finden wir in den nichtkatholischen Stadtschulen der böhmischen Länder, von denen sich die meisten in überwiegend utraquistischen Städten befanden, neben Luthers Handbüchern auch einige weitere Katechismen, z.B. von Hieronymus Nopp oder von David Chyträus.19 In überwältigender Mehrheit handelt es sich dabei um lutherische – und nicht um utraquistische – Katechismen. In einigen Schulen, auch in Privatschulen, finden wir dann ein direkt für die betreffende Bildungsstätte verfasstes Handbuch für den Religionsunterricht.20 Der war natürlich, ebenso wie die anderen Unterrichtsfächer, sehr stark vom konkreten Lehrer abhängig. Kam jedoch die konkrete Konfession auch im Unterricht außerhalb der Katechese zum Ausdruck? Leider kann diese Frage nicht einmal für jene Bildungsstätten eindeutig beantwortet werden, von denen sowohl zentral konzipierte als auch lokale Schulordnungen überliefert sind. Auch hier muss man sich dessen bewusst werden, dass sie vor allem den idealen Unterrichtszustand darstellen. Der reale Unterricht wich davon sicherlich, zumindest zum Teil, ab. Wir können ihn leider nur sehr beschränkt näher kennenlernen, z.B. anhand der Korrespondenz der Schüler oder anhand ihrer Unterrichtsnotizen. Aus den böhmischen Ländern haben sich jedoch nur sehr wenige erhalten. Wenn wir die am häufigsten vertretene Art der Lateinschulen in den böhmischen Ländern des 16. und frühen 17. Jahrhunderts betrachten, also die Stadtschulen, so ist hier die Quellenlage ziemlich schlecht. Die wenigen, in einigen Fällen nur zum Teil erhaltenen,21 Schulordnungen bzw. weitere Werke, die für die Bedürf-

18 Joseph Müller (Hg.): Die deutschen Katechismen der Böhmischen Brüder. Kritische Textausgabe mit kirchen- und dogmengeschichtlichen Untersuchungen und einer Abhandlung über das Schulwesen der böhmischen Brüder. Berlin 1887; Paul Begheyn: Petrus Canisius en zijn catechismus. De geschiedenis van een bestseller. Nijmegen 2005; Bobková-Valentová/Holý/Grečenková: „Církve, vzdělávání a věda“, S. 239f. 19 Luthers Katechismen sind in vielen Auflagen erschienen – deutsch, lateinisch und sogar auch tschechisch. Siehe beispielsweise Martin Luther: Enchiridion. Der kleine Catechismus für die gemeine Pfarherr und Prediger. Marburg 1529; ders.: Deutscher Catechismus. Marburg 1529; ders.: Katechysmus, to jest kratičké obsazení a výklad předních článků víry a náboženství křesťanského. Bardejov 1581. Vgl. auch Hieronymus Nopp: De summa Christianae religionis brevia quaedam axiomata olim ab Hieronymo Noppo tradita ac eadem nunc versibus illigata a Mathaeo Collino Gurimeno. Nürnberg 1543; David Chyträus: Catechesis in academia rostochiana ex praelectionibvs Davidis Chytraei collecta. Rostock 1554. 20 Vgl. beispielsweise das Buch Matouš Collinus z Chotěřiny: Elementarius libellus in lingua Latina et Boiemica pro novellis scholasticis. Knížka začátkův v jazyku latinském a českém pro nové žáčky. Prag 1550 (Národní knihovna ČR (Nationalbibliothek der Tschechischen Republik, im Folgenden als NK bezeichnet), Sign. 65 E 1895), das eine gewisse Kombination von Fibel, Katechismus und Schulordnung (für Collinus’ Schule) darstellt. 21 Vgl. Schola Zatecensis Iacobi Strabonis Glatovini […]. Prag 1575 (KNM Prag, Sign. 49 E 16, Adligat 1); Classes quinque in Academia Pragensi pro pueris et adolescentibus cujusvis conditionis ac dignitatis, domesticis et peregrinis erectae. Prag 1609 (herausgegeben im 18. Jahrhun-

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nisse der Schulen entstanden sind (ich meine hier vor allem die überlieferten Lehrbücher), können uns keine eindeutige Antwort bieten. Es bleibt die Frage, inwiefern in diesem Fall die zentralen Vorschriften verwendet werden können, um deren Durchsetzung sich auf dem von ihr kontrollierten Gebiet die Prager utraquistische Universität bemühte. So erlangten beispielsweise weder die Schulordnung von Petrus Codicillus aus dem Jahre 1586, noch weitere Normen, die während des untersuchten Zeitraums im Milieu der Karlsuniversität entstanden waren, allgemeine Anerkennung. Trotzdem ist es nicht uninteressant, gerade in jenem Fall zu versuchen, die konfessionellen Einflüsse aufzudecken. Sie ermöglichen uns zudem zumindest teilweise die Rolle des Religionsunterrichts im gesamten System der voruniversitären Bildung kennenzulernen.22 So zeigt beispielsweise die Schulordnung des Rektors der Prager Universität Petrus Codicillus23 – der die Ansicht vertrat, dass die Schulen nicht nur „Hüterinnen der freien Kunst“, sondern auch der „himmlischen Lehr“ sein sollen, ohne die kein Seelenheil zu erlangen ist –, dass der Religionsunterricht kein eigenständiges Lehrfach war, dass er aber den Unterricht von Anfang an durchdrang. Er war dabei nur zum Teil deutlich konfessionell geprägt. So lernten die Schüler bereits in der ersten Klasse nicht nur verschiedene Gebete für den Alltagsgebrauch auswendig, sondern auch verschiedene Passagen aus der Bibel (Psalmen, Evangelien, Episteln). Sie me-

dert von Adauctus Voigt: Acta litteraria Bohemiae et Moraviae I. Prag 1775, S. 321–336); Petrus Ailberus: „Ratio docendi et discendi in singulis Instituti Paedagogii Evangelici Nationis germanicae Palaeo Pragae Classibus“, in: Ders.: Oratio Panegyrica […] dicta 14. Novembr. […], S. l, Faszikel O1b-R2b (NK, Sign. 35 D 119, Adligat 11); Jan V. Novák: „Studijní řád katedrální školy Olomoucké“, in: Věstník Královské české společnosti nauk, třída filosofickohistoricko-jazykozpytná. Prag 1898, S. 1–12; ders.: „Die Schulordnung des deutschen „Gymnasium illustre“ bei St. Salvator in Prag“, in: Jahrbuch der Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Österreich 27 (1906), S. 123–150; Holý: „Soukromá škola Matouše Kollina z Chotěřiny“, S. 159–184 (Edition der Schulordnung aus dem Jahre 1550, hier auf S. 172–183). Zu der teilweise überlieferten Schulordnung aus Königgrätz aus dem Jahr 1566 und zu ihren eventuellen Inspirationsquellen vgl. Martin Holý: „Johannes Sturm, das Straßburger Gymnasium (Akademie) und die Böhmischen Länder in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts“, in: Arnold Matthieu (Hg.): Johannes Sturm (1507–1589). Rhetor, Pädagoge und Diplomat. Tübingen 2009, S. 303–319, hier: 309. 22 Vgl. Petrus Codicillus: Ordo studiorum docendi atque discendi literas, in scholis civitatum Regni Boemiae […]. Prag 1586 (NK, Sign. 45 A 11, Nr. 9); Nicolaus Albertus a Kamenek: Intimatio paedagogii academici, trilinguis. Prag 1612 (NK, Sign. 45 A 11, Adligat 8); František Jan Zoubek (Hg.): M. Petra Codicilla z Tulechova Řád školám městským v Čechách a na Moravě léta 1586 akademií pražskou vydaný. Prag 1873; Antonín Truhlář: „M. Vavřince Benedikta z Nudožer školní řád z r. 1607“, in: Časopis českého musea 65 (1891), S. 67–74. 23 Zu dieser bedeutenden Persönlichkeit der Geschichte der Prager Utraquistischen Universität in der Zeit vor der Schlacht am Weißen Berg vgl. im Einzelnen Josef Král: „Filologická činnost Mistra Petra Codicilla z Tulechova“, in: Listy filologické 18,6 (1891), S. 401–413; Josef Hejnic und Jan Martínek: Rukověť humanistického básnictví v Čechách a na Moravě od konce 15. do začátku 17. století. Prag 1968, S. 389–40; Dějiny Univerzity Karlovy, 1. Bd.; Biografický slovník českých zemí 9. Prag 2008, S. 441f.; Václav Pumprla: Knihopisný slovník českých, slovenských a cizích autorů 16.-18. století. Prag 2011, S. 577–580; Martin Holý: Ve službách šlechty. Vychovatelé nobility z českých zemí (1500–1620). Prag 2011, S. 208f.

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morierten auch Teile des Katechismus, die sie zugleich schreiben lernten, wiederholten Teile der Sonntagspredigten und dergleichen. Dies geschah mit nur kleinen Abänderungen in Latein (und später Griechisch) auch in den darauffolgenden Klassen. Im Gegensatz zu den Anfängen des Unterrichts, wo es eher um das erwähnte Auswendiglernen ging, widmete man sich in den höheren Klassen auch der Interpretation von ausgewählten Passagen, und zwar sowohl von Predigten, als auch von verschiedenen Stellen aus der Bibel und aus dem Katechismus. In Codicills Fall wird der Katechismus vom langjährigen Rektor der Universität Rostock David Chyträus genannt, der ursprünglich Philippist, später Gnesiolutheraner war.24 Ein eigenständiges Kapitel stellte der Kirchengesang dar, der in allen Klassen ein untrennbarer Bestandteil des Unterrichts war. Codicills Schulordnung regelt ihn, ebenso wie auch weitere Bestandteile des praktischen Religionsunterrichts, in einem eigenständigen Kapitel, das mit Gesetze der Frömmigkeit betitelt ist.25 Wenn wir zeitgenössische konfessionelle Einflüsse auf den Hochschulunterricht in der untersuchten Region aufdecken wollen, vor allem an den niederen Fakultäten (die höheren Fakultäten waren übrigens während des gesamten untersuchten Zeitraums praktisch monokonfessionell), dienen hier, neben anderen Quellen, als kostbare Grundlage vor allem die überlieferten Universitätsthesen. Auf den Einfluss dieser oder jener Konfession können dabei die Wahl des Themas und vor allem die Art seiner Aufarbeitung hinweisen. Eine systematische Analyse der Universitätsthesen in Bezug auf die untersuchte Thematik würde jedoch den Rahmen dieses Beitrags völlig sprengen und kann daher nicht vorgenommen werden.26 Der Einfluss einer bestimmten Konfession zeigte sich in dem untersuchten Territorium im Zusammenhang mit dem Schulwesen und mit dessen Entwicklung, aber auch in vielen weiteren Bereichen. Dabei meine ich sowohl solche Bereiche, die ein direkter Bestandteil der Jugenderziehung waren – wie zum Beispiel die Teilnahme am lokalen religiösen Leben, die stets ein wichtiger Bestandteil des Alltagslebens der Schüler und Lehrer der partikularen Lateinschulen war, oder das sich intensiv entwickelnde lateinische Schuldrama27 –, als auch jene Bereiche, die das 24 Zu dieser bedeutenden Persönlichkeit vgl. auch mit weiteren Hinweisen Friedrich Wilhelm Bautz: Art. „Chytraeus, David“, in: BBKL 1 (1990), Sp. 1021–1122. 25 František Jan Zoubek (Hg.): M. Petra Codicilla z Tulechova Řád. Prag 1873, S. 10f., 14–19, 24f. 26 Für die Prager Utraquistische Universität in den letzten Jahrzenten des 16. und in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts vgl. Karel Beránek: Bakaláři a mistři Filosofické fakulty Univerzity Karlovy v Praze v letech 1586–1620. Prag 1988, S. 111–197. Zu den jesuitischen Thesen vgl. Anna Fechtnerová: Katalog grafických listů univerzitních tezí uložených ve Státní knihovně ČSR v Praze. Prag 1984; Pavel Preiss: „Hrst poznámek k typologii a ikonografii univerzitních tezí“, in: Miscellanea 15 (1998), S. 248–268; Jan Štěpán: „Olomoucké univerzitní teze a archivní fond Univerzita Olomouc“, in: Olomoucké baroko. Výtvarná kultura z let 1620– 1780. Olomouc 2010, S. 382–384; Petra Zelenková: „Universitní these pražské a olomoucké university ze 17. století uložené v Staats- und Stadtbibiliothek Augsburg“, in: Petronilla Čemus (Hg.), Bohemia Jesuitica 1556–2006. Tom. 2. Prag 2010, S. 1255–1277. 27 Zum Schultheater an Lateinschulen in den Ländern der Böhmischen Krone während der Frühen Neuzeit vgl. Winter: Život a učení na partikulárních školách, S. 727–756; Maria Michalkówna: Dramat szkolny na Śląsku w XVII i XVIII wieku. Opole 1958; Jozef Budzynski: Dramat i teatr szkolny na Śląsku: XVI-XVIII wiek. Warschau 1996; Kateřina Bobková: „Jezuitské školské

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zukünftige intellektuelle und religiöse Profil der Absolventen des zeitgenössischen Bildungssystems nur indirekt mitprägten. Als zentral müssen hier vor allem die auf verschiedenen Grundlagen entstehenden Netze von Kontakten im In- und Ausland betrachtet werden, die die einzelnen Schulen bzw. deren Lehrer aufbauten. So können spezifische Netze bei katholischen und utraquistischen Bildungsstätten, bei Schulen der Böhmischen Brüder oder den städtischen und fürstlichen Gymnasien der Lausitz und Schlesiens verzeichnet werden. Auch wenn solche Netze in hohem Maße von praktizistischer Art waren, wurden sie nicht selten von der konkreten Konfession ihrer Schöpfer und Teilnehmer mitgeprägt. Bei der Herausbildung des intellektuellen und religiösen Profils der Schüler und Studenten spielten, ebenso wie die Kontakte ihrer Eltern und weiterer Verwandter, natürlich auch ihre eigenen Kontakte, die sie häufig auch als Erwachsene weiterentwickelten, eine wichtige Rolle. Man kann aber keineswegs davon ausgehen, dass die Konfession bei der Auswahl der konkreten Bildungsstätte für die Kinder bzw. anvertrauten Personen eine ausschließliche Rolle gespielt hätte. Es müssen hier auch viele weitere Faktoren in Betracht gezogen werden: die Qualität der Bildungsstätte, ihre materielle Situation, die Entfernung vom Wohnort und ähnliches. In einem multikonfessionellen Land, das der böhmische Staat auch in der Zeit nach der Schlacht am Weißen Berg zum Teil war, finden wir ohne weiteres Angehörige einiger Konfessionen an Schulen eines anderen Bekenntnisses. Dies war nicht nur im Rahmen der nichtkatholischen Denominationen typisch. Im 16. und im frühen 17. Jahrhundert war es absolut üblich, dass Sprösslinge protestantischer Eltern jesuitische Gymnasien besuchten. Neben der Qualität dieser Schulen konnte hier auch eine gewisse Rolle gespielt haben, dass sie im Vergleich mit einigen protestantischen Schulen materiell besser abgesichert waren. Gerade das frühneuzeitliche Bildungsmäzenatentum stellt in Bezug auf das untersuchte Thema ein eigenständiges Kapitel dar. Auch wenn es zumindest zum Teil einen überkonfessionellen oder außerkonfessionellen (z.B. wohltätigen) Charakter haben konnte, kam darin während des untersuchten Zeitraums nicht selten gerade der Einfluss der einzelnen Konfessionen zum Ausdruck. Andererseits kann auch hier ein gewisser Synkretismus beobachtet werden, und zwar sowohl bei großen Schulstiftungen – in Böhmen beispielsweise das bereits erwähnte Gymnasium Rosenbergense in Sobieslau – als auch bei vielen Stipendiatsstiftungen. Die machten übrigens oft im Laufe der Zeit eine bemerkenswerte konfessionelle Entwicklung durch.28 divadlo v pražské klementinské koleji ve dvacátých letech 18. století“, in: Pražský sborník historický 32 (2003), S. 105–168; Kateřina Bobková-Valentová: Každodenní život učitele a žáka. Duben 2006, S. 86–119, 222–230; Magdalena Jacková: Divadlo jako škola ctnosti a zbožnosti: jezuitské školské drama v Praze v první polovině 18. století. Prag 2011; Petr Polehla: Jezuitské divadlo ve službě zbožnosti a vzdělanosti. Červený Kostelec 2011. Für das Breslauer Schultheater ist die seit 1994 erscheinende Reihe „Das Breslauer Schultheater im 17. und 18. Jahrhundert“, die von Konrad Gajek herausgegeben wird, von grundlegender Bedeutung (I. Teil Tübingen 1994). 28 Von der neueren Literatur zum Bildungsmäzenatentum in Mitteleuropa vgl. Milan Moškoř: „Studentské nadace a jejich zakladatelé v Čechách (1583–1754)“, in: Folia Historica Bohemica

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Was die Schulinfrastruktur allgemein anbelangt, können einerseits einige gemeinsame Charakterzüge beobachtet werden, andererseits aber auch zahlreiche Spezifika. Wie einige bis heute existierende Gebäude (Eibenschütz, Groß Meseritsch, Brieg usw.) oder auch Berichte über den Bau von neuen Schulen aus dem 16. und 17. Jahrhundert zeigen, war die räumliche Gestaltung der meisten protestantischen Schulen ähnlich konzipiert. Bei bedeutenden und weiträumigen höheren Lateinschulen wurde nicht nur mit dem Maßhaus und mit einem oder zwei Klassenzimmern bzw. mit einem großen Auditorium gerechnet, sondern zugleich auch mit Wohnungen für die Lehrkräfte (vor allem für den Rektor) und das Hilfspersonal, mit einer bescheidenen Unterkunftsmöglichkeit für auswärtige, vor allem unbemittelte Schüler und auch mit Räumlichkeiten für Bibliothek, Refektorium, Küche und ähnliches. Die Schulspitäler waren hingegen meist in einem anderen Gebäude untergebracht. In gewissem Maße anders waren die Räumlichkeiten einiger privater Bildungsstätten konzipiert. Dies galt auch für die Gebäude von jesuitischen Gymnasien bzw. Konvikten sowie für Schulgebäude weiterer katholischer Kirchenorden. Viele Unterschiede können dann bei den einzelnen Konfessionen in der personellen Absicherung des Unterrichts gefunden werden. Dies gilt sowohl für die Art der Anwerbung der Lehrkräfte, ihre Organisierung bzw. Beaufsichtigung, ihre Klassifizierung und auch Spezialisierung, ihre Entlohnung, die Dauer ihres Wirkens an den einzelnen Schulen und für ihre weitere Laufbahn. 3. SCHLUSSFOLGERUNGEN Abschließend möchte ich noch einige allgemeine Punkte formulieren, aber auch kurz auf einige eingangs gestellte Fragen eingehen, die bislang ohne Antwort geblieben sind. 1. Die Stärkung des Einflusses einzelner Konfessionen auf die verschiedenen Bestandteile des Lebens in der frühneuzeitlichen Gesellschaft lässt sich zwar auch in den Ländern der Böhmischen Krone beobachten, im Bereich der Bildung kam sie jedoch – verglichen mit dem Reich – weniger intensiv, und zum Teil auch anders, zum Ausdruck. Neben weiteren Gründen (z.B. der spezifischen Form des Schulwesens, vor allem in den böhmischen Ländern) können meines Erachtens als Hauptursache dieses Phänomens einerseits die kompliziertere konfessionelle Zusammensetzung der Gesellschaft und andererseits die andersartige Struktur des Staates all-

14 (1990), S. 229–255; Jonas Flöter und Christian Ritzi (Hg.): Bildungsmäzenatentum. Privates Handeln – Bürgersinn – kulturelle Kompetenz seit der Frühen Neuzeit. Köln u.a. 2007; Ivan Hlaváček: „Zum universitären Mäzenatentum des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit (am Beispiel der Prager Universität)“, in: Acta Universitatis Carolinae – Historia Universitatis Carolinae Pragensis 49,2 (2009), S. 169–184; Joachim Bahlcke und Thomas Winkelbauer (Hg.): Schulstiftungen und Studienfinanzierung (hier auch einige Studien zu den böhmischen Ländern); Martin Holý: Vzdělanostní mecenát v zemích České koruny (1500–1700). Prag 2016.

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gemein angesehen werden. Während das im Reich herrschende Ius reformandi unter anderem auch rasante Eingriffe in den Bildungsbereich ermöglichte, war in den Ländern der Böhmischen Krone und vor allem in Böhmen und Mähren die Gesellschaft langfristig multikonfessionell. Die Durchsetzung des Prinzips cuius regio, eius religio war in größerem Maße erst nach der Schlacht am Weißen Berg möglich. 2. Gewissermaßen spezifisch war die Lage in den Nebenländern der Böhmischen Krone. Vor allem in Schlesien können gewisse Parallelen mit der Entwicklung im Reich beobachtet werden. Aber auch hier setzte sich das Ius reformandi nicht auf einmal, geschweige denn überall, durch, selbst nicht nach der Schlacht am Weißen Berg. 3. Wenn wir vergleichen, in welchem Maße die einzelnen Konfessionen Einfluss auf den Bereich der Bildung der Bevölkerung hatten, dessen Bedeutung für die Festigung ihrer Glaubenslehre und ihrer eigentlichen Macht sie sich zweifellos bewusst waren, können eher Parallelen als deutliche Unterschiedlichkeiten beobachtet werden. Und dies sowohl unter dem Aspekt des Bildungsinhalts, als auch der Methoden, die bei der Ausbildung der Kinder dieses oder jenes Glaubens angewandt werden sollten. 4. Bemerkenswert am Wetteifern der einzelnen Konfessionen ist, dass es eine beschleunigende Wirkung hatte. Auch wenn es eine permanente Quelle individueller und kollektiver Spannungen darstellte, wirkte es sich im Bereich des Bildungswesens häufig eher positiv aus. Es trug beispielsweise nicht nur zur Intensivierung der Aktivität von bestehenden Bildungsstätten bei, die vor allem in einigen Regionen und Städten einer starken Konkurrenz ausgesetzt waren, sondern auch zur Gründung vieler neuer Schulen. Das eben Konstatierte gilt dabei nicht nur im Verhältnis katholisch/nichtkatholisch, sondern auch quer durch die protestantischen Konfessionen hinweg.

SCHULE IM ZEITALTER DER KONFESSIONALISIERUNG Das Beispiel der Lateinschule und des akademischen Gymnasiums der Grafschaft Lingen (1680–1702) Andrea Ottens Abstract: The essay shows a section of the development of the Latin School and the academic high school of the former County of Lingen (1680–1702) under sectarian conditions. Tied to a reformed territorial ruler and without a constitutional stipulation of the practiced Catholic faith, there were some conflicts in the county. As an example, the history of the school system is shown here and the particular situation of Lingen under the transformation of the Reformed preacher Henricus Pontanus (1652–1714) is explained. Zusammenfassung: Der hier vorliegende Aufsatz zeigt einen Ausschnitt der Entwicklung der Lateinschule und des akademischen Gymnasiums der ehemaligen Grafschaft Lingen (1680–1702) unter konfessionspolitischen Bedingungen. Angebunden an einem reformierten Landesherrn und ohne reichsrechtliche Festschreibung des praktizierten katholischen Glaubens ergaben sich in der Grafschaft einige Konflikte. Exemplarisch wird hier die Geschichte des Schulwesens aufgezeigt und die besondere Situation Lingens unter der Umgestaltung des reformierten Predigers Henricus Pontanus (1652–1714) erläutert.

„Die reformierte Kirche in der niederländischen Republik betrachtete von Anbeginn an die Schule als ein wichtiges Mittel zur ,Calvinisierung‘ der Bevölkerung.“1 So stellte es der niederländische Pädagogikhistoriker Leendert F. Groenendijk2 in seinem Aufsatz über die reformierte Kirche in den Niederlanden während des 16. und 17. Jahrhunderts heraus. Wohl nicht ganz zufällig fällt also, neben den Ausbau und die Erweiterung der Lateinschule der Grafschaft Lingen im Jahre 1680, die Gründung des von Wilhelm III. von Nassau-Oranien approbierten akademischen Gymnasiums in das Jahr 1697 und somit genau in die Zeit, in der sich Henricus Pontanus um Lingen verdient machte.

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Leendert F. Groenendijk: „Die reformierte Kirche in den Niederlanden während des 16. und 17. Jahrhunderts“, in: Stefan Ehrenpreis und Heinz Schilling (Hg.): Frühneuzeitliche Bildungsgeschichte der Reformierten in konfessionsvergleichender Perspektive. Schulwesen, Lesekultur und Wissenschaft. Berlin 2007, S. 47–74, hier: 47. Vgl. hierzu Fred van Lieburg: „Wege der niederländischen Pietismusforschung. Traditionsaneignung, Identitätspolitik und Erinnerungskultur“, in: Rudolf Dellsperger u.a. (Hg.): Pietismus und Neuzeit 37 (2011), S. 211–256, hier: 249.

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Auch wenn man sich 1674 nicht ganz einig war, ob die Grafschaft Lingen nun zum Reich gehörte oder als Teil der Niederländischen Republik aus dem Reich ausgeschieden war3 – denn der Westfälische Friede beinhaltete keine Bestimmung zur staatsrechtlichen Stellung der Grafschaft4 –, so darf trotzdem von einem außergewöhnlichen Beispiel von Konfessionalisierung im Reich auf mikrohistorischer Ebene gesprochen werden. Das Normaljahr 1624 wurde nicht auf den Herrschaftsbereich Lingen angewendet, was zur Folge gehabt hätte, dass der katholische Glaube reichsrechtlich festgeschrieben worden wäre.5 Stattdessen kam es, nach bereits sechs gescheiterten Versuchen zur Einführung bzw. Manifestation einer einheitlichen Konfession, zu einem erneuten, nun massiv einsetzenden Reformationsversuch, in der von Wilhelm III. regierten Grafschaft. Die Redewendung cuius regio, eius religio trifft es wohl am ehesten, wenn man von Lingen spricht. Im Jahre 1543 erließ Graf Konrad Karl von Tecklenburg, der während seiner Ausbildung zum Junker mit der reformatorischen Bewegung Luthers in Berührung gekommen war, eine Kirchenordnung zur Einführung und Untermauerung der lutherischen Konfession in der Grafschaft Lingen, die damals noch zu Tecklenburg gehörte.6 Der katholische Glaube, der in dieser Region am Ende des 8. Jahrhunderts durch die Siege Karls des Großen und die missionarischen Bemühungen des Hl. Bonifatius fast gänzlich durchgesetzt werden konnte, wurde durch den Erlass der Kirchenordnung allerdings nicht per se verboten. Im Jahre 1548 fiel Lingen an Kaiser Karl V. und wurde als Lehen an Maximilian von Büren übergeben, der das Land vollständig rekatholisieren ließ.7 Im niederländisch-spanischen Unabhängigkeitskrieg eroberte dann Moritz von Oranien 1597 die Festung Lingen und führte das reformatorische Bekenntnis ein. Große Teile der Bevölkerung schlossen sich den Ideen des Oraniers an – als 1605 der Landstrich von den Spaniern erobert wurde. Dies hatte eine erneute Rekatholisierung zur Folge. Priester, die auf den Geist des Trienter Konzils eingeschworen waren, sollten dabei helfen, den katholischen Glauben erneut durchzusetzen.8 Im Jahre 1633 rückten dann die niederländischen Truppen des Prinzen Friedrich Heinrich von Nassau-Oranien in Lingen ein, und nur von den sogenannten „Bischofsjahren“ unter Fürstbischof Bernhard von Galen (1672– 1674) wurde diese zweite, oranische Herrschaftsperiode unterbrochen.9

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Vgl. Karl Amon u.a.: Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650. Münster 1995, S. 194. Vgl. Amon u.a.: Die Territorien des Reichs, S. 194. Vgl. Amon u.a.: Die Territorien des Reichs, S. 194. Vgl. Hans Taubken: Niederdeutsch, Niederländisch, Hochdeutsch. Die Geschichte der Schriftsprache in der Stadt und in der ehemaligen Grafschaft Lingen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Köln u.a. 1981, S. 5. Vgl. Ludwig Remling: „Konfessionswandel und Konfessionsstabilisierung. Landesherr und Kirchenvolk in der Grafschaft Lingen“, in: Verein für Geschichte und Landeskunde von Osnabrück. Bramsche 2001, S. 125–154, hier: 132. Vgl. Remling: „Konfessionswandel“, S. 130–132. Vgl. Bernhard Anton Goldschmidt: Geschichte der Grafschaft Lingen und ihres Kirchenwesens insbesondere. Osnabrück 1850. Neudruck Osnabrück 1975, S. 155–160.

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Die Bemühungen, die Bevölkerung der Stadt und des Landes Lingen zu einer reformierten Glaubensgemeinschaft zu modellieren, wurden ab 1674 von einem ganz besonderen Mann vorangetrieben – Henricus Pontanus.10 Der in Burgsteinfurt geborene Geistliche, der sich schon in jungen Jahren um die Reformation verdient gemacht hatte, wurde von Wilhelm III. beauftragt, das reformierte Kirchwesen in der Grafschaft Lingen zu reorganisieren – „um de Reformatie te bevoerderen“ – wie die zeitgenössischen Quellen über Pontanus berichten. Schon hier wird durch den Sprachgebrauch der Reformierten deutlich: die Konfessionalisierung (zumindest auf mikrohistorischer Ebene) war noch nicht abgeschlossen. Die halbherzigen Bemühungen seiner Vorgänger versuchte Wilhelm III. nun mit Hilfe des Reformators Pontanus zu überwinden und den reformierten Glauben zum Landesbekenntnis zu manifestieren. Trotz aller Bemühungen ist es Pontanus und Wilhelm III. von Nassau-Oranien nicht gelungen, den seit dem Ende der spanisch-habsburgischen Zeit so fest verwurzelten, katholischen Glauben zu verdrängen. Der vorliegende Aufsatz soll einen Überblick über die Entwicklung des Schulwesens in der ehemaligen Grafschaft Lingen geben und insbesondere darstellen, wie eine Lateinschule und im weiteren eine Hohe Schule konzipiert wurden, die ursprünglich dazu gedacht waren, den reformierten Glauben voranzutreiben. 1. DIE VORGESCHICHTE DES SCHULWESENS IN DER GRAFSCHAFT LINGEN Schon aus dem Jahre 1602 gibt es erste Hinweise auf eine Schule, in der zumindest die lateinische Sprache unterrichtet wurde. Vermutlich handelte es sich hierbei um eine Art Elementarschule, in welcher nach einer Verfügung von Moritz von Oranien auch die lateinische Sprache gelehrt wurde. Goldschmidt schreibt in seiner Geschichte der Grafschaft Lingen, dass laut einer Ordonanz vom 29. Juli 1602 die Schule verbessert und die Schüler in der lateinischen Sprache „instruiert“ werden sollten.11 In den Niederlanden war die lateinische Schule aus der sogenannten „Groote School“ entstanden, die auch den „nederduitse onderbouw“, also lesen,

10 Vgl. zu Pontanus im Einzelnen Johann Gottlob Wilhelm Dunkel (Hg.): Historisch-kritische Nachrichten von verstorbenen Gelehrten und deren Schriften. Dessau und Köthen 1757, S. 837–841; Friedrich Karl Gottlob Hirsching und Johann Heinrich Martin Ernesti (Hg.): Historisch literarisches Handbuch berühmter und denkwürdigen Personen, welche in dem achtzehnten Jahrhundert gelebt haben. Leipzig 1806, S. 250; Barend Glasius (Hg.): Biographisch Woordenboek van Nederlandsche Godgeleerden. ’s-Hertogenbosch 1856, S. 114; Abraham Jakob van der Aa (Hg.): Biographisch Woordenboek der Nederlanden. Haarlem 1872, S. 403; Knipscheer: Art. „Pontanus (Henricus)“, in: Philipp Christiaan Molhuysen und Petrus Johannes Blok (Hg.): Nieuw Nederlandsch Biografisch Woordenboek. Leiden 1937, S. 748; Paul H.A.M. Abels: Art. „Pontanus, Henricus“, in: Doede Nauta (Hg.): Biografisch lexicon voor de geschiedenis van het Nederlandse protestantisme. Kampen 1988, S. 297. 11 Vgl. Goldschmidt: Geschichte der Grafschaft Lingen, S. 84.

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schreiben, rechnen und elementare Kenntnisse der lateinischen Sprache, unterrichtete.12 Die „Verbesserung“ der bestehenden Schule durch die Ordonanz des Oraniers kam nicht von ungefähr. Die zwei katholischen Schulen im benachbarten Meppen, von der die lateinische Schule schon seit dem fünfzehnten Jahrhundert Bestand hatte,13 wurde im Jahre 1602 durch den dortigen Stadtrat zu einem Gymnasium erhoben, welches fortan aus drei Klassen bestand und neben dem klassischen Lateinunterricht auch noch Unterricht in der griechischen Sprache, in Poetik, Dialektik und Rhetorik beinhaltete.14 Wenn Andreas Rutz also davon spricht, dass „konfessionelle Konkurrenz ein entscheidender Motor der bildungsgeschichtlichen Entwicklung“15 sei, dann finden wir hier ein erstes Beispiel. Es ist offensichtlich, dass Moritz von Oranien mit seiner Anweisung zumindest einen Teil des deutlichen Defizits gegenüber den Meppenern beheben wollte. Doch von einem qualifizierten Unterrichtsangebot wie dem in Meppen war man in der Grafschaft noch weit entfernt. Dass man das Meppener Gymnasium schon 1607 aus finanziellen Gründen wieder schließen musste, konnte 1602 schließlich niemand voraussehen.16 Für 1611 findet sich bei Schriever17 der Hinweis auf ein Gesuch des Landdechanten Vogelius an Erzherzog Albrecht VII., der zu dieser Zeit Statthalter der spanischen Niederlande war. Der Erzherzog sollte Mittel zur Verfügung stellen, um in der Grafschaft Lingen den Unterricht der jungen Menschen zu ermöglichen, nachdem die Reformierten im lingenschen Schulwesen angeblich eine große Misswirtschaft betrieben hatten.18 Dieser versprach sofort, auf drei Jahre jährlich 500 Florint zu diesem Zwecke auszahlen zu lassen, woraufhin die Schulen alsbald wieder mit Lehrkräften besetzt werden konnten.19 Ein jähes Ende dieses katholischen Schulunterrichts fand, so Schriever, im Jahre 1649 statt, nachdem seit 1633 die Grafschaft wieder von den Oraniern regiert wurde.20 Diese untersagten den Eltern strengstens, ihre Kinder auf papistische Schulen oder Universitäten zu entsenden:

12 Vgl. Petrus Th.F.M. Boekholt und Engelina Petronella de Booy: Geschiedenis van de School in Nederland vanaf de middeleleeuwen tot aan de huidige tijd. Assen und Maastricht 1987, S. 60. 13 Vgl. J. Bernhard Diepenbrock: Geschichte des vormaligen münsterschen Amtes Meppen oder des jetzigen Hannoverschen Herzogthums Arenberg-Meppen mit besonderer Berücksichtigung der frühern Völkersitze und Alterthümer zwischen der Ems und Hase, der Einführung des Christenthumes. Münster 1838, S. 372. 14 Vgl. Diepenbrock: Geschichte des Amtes Meppen, S. 373. 15 Andreas Rutz: „Territoriale Integration durch Bildung und Erziehung? Brandenburg und PfalzNeuburg als schulpolitische Akteure im Rheinland und in Westfalen nach 1609“, in: Manfred Groten u.a. (Hg.): Der Jülich-Klevische Erbstreit 1609. Seine Voraussetzungen und Folgen. Düsseldorf 2011, S. 337–357, hier: 337. 16 Vgl. Diepenbrock: Geschichte des Amtes Meppen, S. 374. 17 Vgl. Ludwig Schriever: Geschichte der Schulen und des Schulwesens im Dekanate und Kreise Lingen. Lingen an der Ems 1896. 18 Vgl. Schriever: Geschichte der Schulen und des Schulwesens, S. 24f. 19 Schriever formuliert hier lautmalerisch, dass die Bedürfnisse auf katholischer Seite vom Erzherzog „als gleich schreiend anerkannt wurden“ (Geschichte der Schulen und des Schulwesens, S. 25). 20 Schriever: Geschichte der Schulen und des Schulwesens, S. 25.

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Vorder dat Niemant eenige Conventiculen der Papisten sal mogen frequenteren, ofte eenige Pauselicke superstitien exerceren, noch oock geene Kinderen ter Schole of ter Studie te senden of te leggen in eenige Universiteijten, Scholen of Collegien van Jesuiten […].21

Mehr noch – speziell jesuitische Schulen, Universitäten und Kollegien sollten gemieden werden. Ein klares Verbot, das sich vor allem gegen das neu gegründete, jesuitische Gymnasium in Meppen gerichtet haben muss: Im Jahre 1642 erreichte die Meppener das kurfürstliche Dekret, dass den „Vätern der Gesellschaft Jesu im Emslande“22 die Errichtung eines Gymnasiums gestattete. Die Jesuiten bauten eben dieses kontinuierlich weiter aus, indem sie in den folgenden Jahren weitere Klassen einrichteten.23 Auch mehrere Brände konnten den Erfolg des jesuitischen Gymnasiums nicht mindern – im Gegenteil. Gerade im Jahre des Verbotes für die Lingener, konnte man neben einer vierten Klasse für das Gymnasium auch noch eine weitere Trivialschule in Meppen eröffnen.24 Die Probleme mit der Durchsetzung des reformierten Glaubens begannen nicht erst im „vierten Versuch zur Einführung der Reformation“.25 Schon Diepenbrock berichtet 1838 in seiner Geschichte des vormaligen münsterschen Amtes Meppen von den Problemen, die sich in der Zeit um 1655 unter oranischer Herrschaft abgespielt haben müssen. Diepenbrock schreibt, dass die Schule der Grafschaft Lingen mit einem reformierten Lehrer besetzt worden war, dieser aber aus Angst, dass die katholischen Eltern ihre Kinder dem Schulunterricht fern halten könnten, den Schülern die katholischen Schulbücher nicht versagte.26 Weiterhin habe dieser sogar die Kinder an Sonn- und Feiertagen dem „Missionaer zum Religionsunterrichte“27 zugeführt – gemeint ist hiermit wohl der Christenlehre-Unterricht eines jesuitischen Paters aus Meppen, den man laut Goldschmidt eigens hierfür nach Bawinkel berufen hatte.28 Ein solches Zugeständnis sowie weitere Nachlässigkeiten von reformierter Seite veranlassten die Katholiken, ihren Glauben freier zu leben. In einem Edikt von 1655, dass der damalige Drost Haersholte im Namen seiner Majestät erließ, wird allerdings die Verärgerung auf reformierter Seite deutlich.29 So schreibt er, dass „alle papsche schoelmeisteren van haeren Schoeldienst haer sullen hebben te ontholden, bij poene arbitraele Correctie“.30 Weiterhin merkt das Edikt an, dass die Katholiken „tegens de expresse Ordre van sijn Hoochheijt lofflijker gedachtnusse 21 Zitiert nach der Edition der Urkunde bei Goldschmidt: Geschichte der Grafschaft Lingen, S. 588: „Zukünftig soll niemand weder Zusammenkünfte der Papisten frequentieren mögen, päpstlichen Aberglauben durchführen, noch Kinder zur Schule oder zum Studium senden oder jesuitischen Universitäten, Schulen oder Kollegien zuführen“. 22 Diepenbrock: Geschichte des Amtes Meppen, S. 378. 23 Vgl. Diepenbrock: Geschichte des Amtes Meppen, S. 381. 24 Vgl. Diepenbrock: Geschichte des Amtes Meppen, S. 382. 25 Vgl. Goldschmidt: Geschichte der Grafschaft Lingen, S. 11. 26 Vgl. Goldschmidt: Geschichte der Grafschaft Lingen, S. 371. 27 Goldschmidt: Geschichte der Grafschaft Lingen, S. 371. 28 Vgl. hierzu auch Goldschmidt: Geschichte der Grafschaft Lingen, S. 146. 29 Vgl. Goldschmidt: Geschichte der Grafschaft Lingen, S. 589. 30 Goldschmidt: Geschichte der Grafschaft Lingen, Urkunde Nr. 21, S. 589: „alle papistischen Schulmeister sollen sich bei willkürlicher Strafe ihrem Schulunterricht enthalten“.

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Prince Willem de tweede in den Jahre 1648, als Graff van Lingen genadelick verleent“31 verstoßen haben und weist damit auf einen Beschluss von 1648 hin, in welchem bereits die Ausübung des katholischen Glaubens sowie der katholische Schulunterricht verboten worden sein musste. Goldschmidt und das Edikt von 1648 geben zwar Hinweis auf den Beschluss Wilhelms II., jedoch bleibt ungeklärt, was genau in diesem Beschluss gestanden hat, oder wo dieser zu finden ist. Inwieweit sich die katholische Gemeinde wirklich daranhielt, ist fraglich, denn Goldschmidt berichtet erneut von der Problematik des Privatunterrichtes der Katholiken und zitiert, wiederum ohne Beleg, aus einer Auseinandersetzung um die Kinder des katholischen Küsters Ham zu Lengerich aus dem Jahre 1664. Der Vater habe in dem „Untersten theil der Vorkammer des Winters die Schule halte[n]“.32 Das in dieser Zeit durchaus verbreitete Problem der sogenannten Winkelschulen umschreibt Groenendijk in seinem Aufsatz wie folgt: „Hier und anderswo ließ die Bevölkerung merken, dass sie bei weitem nicht immer bereit war, sich damit zufrieden zu geben, dass der geschätzte katholische Schulmeister durch einen reformierten ersetzt wurde.“33 Groenendijk schreibt weiterhin von Kontrollen gegenüber katholischen, aber auch nicht konfessionell gebundenen Winkelschulen, die zwar entdeckt wurden, aber meist unbestraft blieben.34 Die (heute noch vorhandene) Quellenlage hierzu ist für die Grafschaft Lingen kaum zu greifen – Fakt bleibt aber dennoch, dass es diese Problematik gegeben hat. Auch wenn die reformierte Gemeinde dem unkontrollierbaren Schulunterricht der „Papisten“ nicht Herr werden konnte, wurde zumindest 1661 durchgesetzt, dass ein zweiter reformierter Prediger angestellt werden durfte. Zwar konnte man auf keine monetäre Zuwendung seitens des Statthalters hoffen, denn dieser stellte weiterhin nur das Gehalt für einen Prediger zur Verfügung, das zweite Gehalt sollten Stadt und Gemeinde selbst aufbringen.35 Der Gewinn aber, nicht nur für die reformierte Religion, sondern auch für das reformierte Schulwesen, war enorm. Schon im Jahre 1663 wurde auf Anregung der ernannten Prediger Westerhoff und Steenbergen, in Verbindung mit den Obersten der Stadt, die Errichtung einer (reformierten) höheren Schule initiiert, da die von Graf Arnold III. in Steinfurt gestiftete Schule, gemeint ist hier die Hohe Schule in Steinfurt, „täglich in Verfall gerathe“.36 Letztlich wurde durchgesetzt, dass ein lateinischer Schulmeister (gleichzeitig Rektor der Anstalt) sowie zwei weitere Lehrer (Konrektor sowie dritter Schulmeister) angestellt wurden.37 Der Rektor dieser Anstalt bezog aus den Einkünften einer Vicarie etwa 350 Gulden jährlich.

31 Goldschmidt: Geschichte der Grafschaft Lingen, S. 589: „gegen die eilige Anordnung von seiner Hoheit löblichen Angedenkens Prinz Wilhelm II. im Jahre 1648 als Graf von Lingen gnädig verliehen“. 32 Goldschmidt: Geschichte der Grafschaft Lingen, S. 146. 33 Groenendijk: Die reformierte Kirche in den Niederlanden, S. 57f. 34 Vgl. Groenendijk: Die reformierte Kirche in den Niederlanden, S. 58. 35 Vgl. Groenendijk: Die reformierte Kirche in den Niederlanden, S. 147. 36 Goldschmidt: Geschichte der Grafschaft Lingen, S. 148. 37 Vgl. Goldschmidt: Geschichte der Grafschaft Lingen, S. 148.

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Den weiteren Lehrern wurden jährlich 200 Gulden aus der Gutskasse zugesprochen.38 In einer von der Classis Lingensis39 verfassten Adresse an den jungen Prinz Heinrich Wilhelm III., anlässlich seines Besuches der Grafschaft Lingen im Jahre 1669, bat man erneut um ein Verbot papistischer Schulen, welche immer noch in Stadt und Grafschaft zu finden waren.40 Auch die katholischen Prediger verfassten im selben Jahr ein Schreiben an den Prinzen und baten darum, dass man ihnen Religionsfreiheit zumindest in Bezug auf den Gottesdienst und die Schulen gewähren möge.41 Der Prinz kam den Katholiken natürlich nicht entgegen und ließ mitteilen, dass er auf ihr Schreiben nicht eingehen könne.42 Gleichzeitig verwies er auf eine Ordre vom 31. Januar 1659, in der es heißt: „voor het beste hebben angesien, dat alles aldaer int stücke van Religie gelaeten werde“.43 Eine Veränderung der Verhältnisse war also nicht beabsichtigt und sollte für die Katholiken erst in den sogenannten Bischofsjahren von 1672–1674 eintreten. Doch nach der Belagerung durch den Fürstbischof von Münster beschreibt Schriever die Situation der Katholiken wie folgt: da nahm dieser Prinz […] mit solcher Heftigkeit das Reformationswerk in die Hand, daß von dieser Zeit an das gänzliche Aufhören des katholischen Gottesdienstes und des katholischen Unterrichts in den Schulen datiert.44

Anlass für diese harten Worte darf dem Osnabrücker Domkapitular wohl die Kirchenordnung von 1678 gewesen sein, in der neben der generellen Regulierung der Religionsausübung auch erste allgemeingültige Regeln für das Schulwesen festgesetzt wurden. Zuallererst findet man den Hinweis auf die auf der Dordrechter Synode beschlossene Regelung, dass alle Pastoren, Konsistorialen und Schulmeister die drei Formulare der Einigkeit, also sowohl den Heidelberger Katechismus, das Niederländische Glaubensbekenntnis als auch die Canones der Synode von Dordrecht zu unterzeichnen hatten.45 Auch in den Schulregeln der Lateinschule wird auf die Wichtigkeit dieser Formulare bzw. die Unterzeichnung dieser, und die unerlässliche Zugehörigkeit der Schulmeister zur reformierten Kirche hingewiesen. Interes-

38 Vgl. Goldschmidt: Geschichte der Grafschaft Lingen, S. 148. 39 Die sogenannte Classis Lingensis war das Presbyterium der reformierten Gemeinde – ihr unterstanden drei weitere Konsistorien. Die Classis Lingensis war der Synode von Overijssel untergeordnet. 40 Vgl. Goldschmidt: Geschichte der Grafschaft Lingen, S. 147. 41 Vgl. Schriever: Geschichte der Schulen und des Schulwesens, S. 26. 42 Goldschmidt: Geschichte der Grafschaft Lingen, S. 147. 43 Goldschmidt: Geschichte der Grafschaft Lingen, Urkunde Nr. 23, S. 590: „dass wir es für das Beste angesehen haben, alles im Stücke der Religion zu lassen“. 44 Schriever: Geschichte der Schulen und des Schulwesens, S. 27. 45 Vgl. Kirchenordnung der Grafschaft Lingen, Artikel IV, 1. Staatsarchiv Osnabrück (StA Osn.), Departement 64b, Nr. 151, Aktenstück 45. Vgl. auch die Edition der Kerkenordre der Graefschap Lingen, donum dedit 9. November 1678 bei Wilhelm Cramer: Geschichte der Grafschaft Lingen im 16. und 17. Jahrhundert besonders in wirtschaftskundlicher Hinsicht. Oldenburg 1940, S. 92. Vgl. zu diesem Sachverhalt auch Groenendijk: Die reformierte Kirche in den Niederlanden, S. 57.

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santerweise entschieden die ehrwürdigen Brüder aber in der ordentlichen Versammlung der Classis Lingensis, die vom 6. bis 8. Dezember 1678 in Lingen stattfand, dass sie, zumindest für die Schulmeister, eine andere Regelung für sinnvoller erachteten. Om dat Schoolmeesters niet alle so ervaeren sijn, dat se van de Nederlandsche geloofs=belijdeniss en de Canones van de Synode te Dordreght weten, is haer seecker formulier (waerin alleen van den Heidelberghischen Catechismus gwagh word gemaeckt) voorgeschriven, om in de Consistoriale Protocollen achter de Kercken-Ordre geschreven en van elck in sijn Consistorie enderschreven te worden.46

Hier geht es um die Unterschrift, die Pastoren, Konsistoriale und Schulmeister unter ein Formular, dass der Kirchenordnung angehängt wurde, zu setzen hatten. Da die Brüder nicht glaubten, dass die Schulmeister sich mit dem Niederländischen Glaubensbekenntnis und den Canones der Synode von Dordrecht auskannten bzw. diese überhaupt kannten, mussten sie lediglich ein Formular unterzeichnen, in welchem sie nur auf den Heidelberger Katechismus, aber nicht auf alle drei Formulare der Einigkeit schworen. Die weiteren Formulierungen blieben gleich und hatten in den jeweiligen Konsistorien der Kirchspiele von den dort tätigen Schulmeistern unterschrieben zu werden. Aus diesem Zusatz im Protokollbuch der Classis kann man folgern, dass die Brüder sich auch mit weniger gut ausgebildeten Lehrern für die deutschen Schulen der Kirchspiele zufriedengaben. Die Rekrutierung besonders gut ausgebildeter Lehrer war auch zu dieser Zeit schlichtweg nicht möglich – schließlich wurden die meisten reformierten Schulanstalten nur zur dem Zweck errichtet, gute Lehrer auszubilden. Um die Besetzung der Lehrerstellen in der Grafschaft zu sichern, rekrutierte man schon früh Waisenkinder im sogenannten Kinderhaus, das 1685 zu dem Zwecke errichtet wurde, um katholische Kinder im reformierten Glauben zu erziehen und zu unterrichten. Diese Zöglinge, auf deren Dankbarkeit man nun vermutlich setzte, sollten die geringe Zahl der reformierten Schullehrer aufstocken. Der Lingener Geschichtsschreiber und Osnabrücker Domkapitular Schriever berichtet sogar davon, dass die Reformierten den verarmten katholischen Eltern die Kinder abkauften, um sie für den reformierten Glauben und das Kinderhaus zu gewinnen.47 Inwieweit diese Information glaubhaft erscheint, sei dahin gestellt. In Artikel 23 der Lingener Kirchenordnung wurde weiterhin spezifiziert, dass die Schulen der Kirchspiele mindestens einmal in der Woche besucht werden sollten, um dort den Katechismus-Unterricht abzuhalten. Denn an der guten Ordnung der Schulen hänge der „weltstand“, das Vermögen und der Wohlstand der reformierten Kirche.48 Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die Lehrer durch die Kirchenordnung angewiesen wurden, ihre Schulklassen in guter Ordnung in die Kirche zu führen, um sie nach getaner Predigt über diese zu unterrichten und sie darüber

46 StA Osn., Dep. 64b, Nr. 141, S. 36–37. 47 Vgl. Ludwig Schriever: Geschichte des Kreises Lingen. 1. Theil: Die allgemeine Geschichte. Lingen 1905, S. 256f. 48 Vgl. KO Grafschaft Lingen, Art. XXXIII, 1 & 2. StA Osn., Dep. 64b, Nr. 151, Aktenstück 45.

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zu examinieren.49 Um den Kindern die Grundlagen der „wahren reformierten“ Religion und die „Praktiken der Gottseligkeit“ beizubringen,50 sollte die Arbeit der Schulmeister am Morgen mit Gesang begonnen, am Abend damit geschlossen werden. Der Samstag und der Mittwoch-Vormittag standen ganz im Zeichen des Glaubensunterrichtes, was auch später in der Schulordnung der Lateinschule 1686 fest verankert wurde. Das Hauptaugenmerk sollte aber auf die fünf Hauptstücke der Dordrechter Synode51 und den Heidelberger Katechismus gelegt werden. Über den Fortschritt der Schüler sollte einmal jährlich an das jeweilige Konsistorium und die Eltern Bericht gegeben werden, wofür die Schulmeister ein Examen abzuhalten hatten, um den Fortschritt der Schüler zur überprüfen.52 Insgesamt waren die Schulmeister in diesen Dingen den Anordnungen der Classis Lingensis oder der entsprechenden Konsistorien unterlegen. Damit alles seinen rechten Gang nahm, wurde weiterhin bestimmt, dass „twee van de erfaerendste, geleerteste ende aensienlyckste uyt de classe gekoren worden, eenmal jaerlycx de visistatie van alle kercken, capellen ende schoelen te doen“53 – also einmal im Jahr eine Visitation durch die erfahrensten, gelehrtesten und angesehensten zwei Vertreter der Classis stattfinden sollten. Neben den allgemeinen Regelungen zum Schulwesen der Grafschaft Lingen, in der 1678 erlassenen Kirchenordnung, erfolgten weitere Ausführungen der ehrwürdigen Brüder, welche im Protokollbuch der Classis Lingenesis für die Sitzung vom 7. Dezember 1678 nachzulesen sind.54 Hier bezog man sich auf den Artikel 38 der Kirchenordnung, in dem es heißt, dass niemand zum Schuldienst zugelassen werden solle, der nicht vorher von der Classis Lingensis als „düchtigh verklaert ende bevonden“ wurde.55 Mit dieser Regelung wollte man Klagen besorgter Eltern vorgreifen, die sich seit Einführung der Kirchenordnung nun in der Pflicht sahen,

49 Vgl. KO Grafschaft Lingen, Art. XXXVII, StA Osn., Dep. 64b, Nr. 151, Aktenstück 45: „alle haere schoolkinderen in goede order nae de kercke te leyden ende nae gedaene predicatie daeruit onderrichten ende examineeren“. 50 KO Grafschaft Lingen, Art. XXXVII, StA Osn., Dep. 64b, Nr. 151, Aktenstück 45: „Dartoe de kinderen leeren niet alleen leesen, schriven, reckenen, spraacken ende vrye konsten, maer de fundamenten van de waere religie en de practycke der godtsaligheyt“. 51 Die fünf Hauptstücke der Lehre: „Von der göttlichen Erwählung und Verwerfung“; „Vom Tode Christi und der Erlösung des Menschen durch ihn“; „Von der Verderbnis des Menschen, seiner Bekehrung zu Gott und der Art und Weise derselben“ (drittes und viertes Lehrstück) sowie das fünfte Lehrstück „Von der Beharrlichkeit der Heiligen“ sind nachzulesen im: Urtheil deß Synodi Nationalis Der reformierten Kirchen in den vereinigten Niderlanden, Gehalten in Dordrecht im Jahre 1618. Und 1619. Bey welchem gewesen viel trefflich Theologen auß den reformierten Kirchen, auß groß Britannien, Churfürstlicher Pfalz, Hessen, Schweitzerland, Wedderawischen Correspondentz, Genff, Bremen und Embden. Über die bekannten fünff Hauptstücke der Lehre, darvon in reformierten Kirchen der vereinigten Niderlanden uneinigkeit entstanden. Ausgesprochen den 6. Maij Anno 1619. Aus dem Lateinischen und Niederländischen ins hochteutsche treulich ubersetzt. Getruckt im Jahre Christi, 1620. 52 Vgl. KO Grafschaft Lingen, Art. XXXVII, StA Osn., Dep. 64b, Nr. 151, Aktenstück 45. 53 KO Grafschaft Lingen, Art. LXVI, StA Osn., Dep. 64b, Nr. 151, Aktenstück 45. 54 Vgl. StA Osn., Dep. 64b, Nr. 141, S. 32f. 55 KO Grafschaft Lingen, Art. XXXVIII, StA Osn., Dep. 64b, Nr. 151, Aktenstück 45.

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ihre Kinder zur Schule zu schicken und sie eventuell „onbequaeme subjecten“ anzuvertrauen. Denn in Art. 38 wurde auch bestimmt, dass alle Kinder ab sechs Jahren am Schulunterricht teilzunehmen hatten.56 Im Protokollbuch wurde daraufhin festgehalten, dass die Kinder nicht mit den Religionskonflikten beschwert werden sollten57 und niet anders sall leeren als het Vaeden onse, de Twaelf Artickelen des Algemeenen geloofs, de Thien gebooden, en dese of gheene passagien uijt de Wegh wijsen the Hemel van den Cardinal Bona ofte de naevolginghe Christi van Thomas À Kempis […].58

Der Unterricht der „ABC-Schützen“ sollte also daraus bestehen, dass sie das Vaterunser, die zwölf Artikel des gemeinen Glaubens, die zehn Gebote, und Passagen aus dem „Wegweiser zum Himmel“ (Manuductio ad coelum) des Cardinal Bona sowie „Die Nachfolge Christi“ (De imitatione Christi) des Thomas von Kempen erläutert bekommen sollten. Die Toleranz und das Bemühen um die katholisch Gläubigen ist hier unverkennbar, da sowohl Bona als auch Thomas von Kempen „de gemeene approbatie door Roomsch-Catholijcke selfs“59 bekommen haben, wie es im Protokollbuch formuliert wurde. Armen Familien sollten die Zahlungen für das Schulgeld ihrer Kinder erlassen werden. Eltern, die ihre Kinder außerhalb des Landes auf eine Schule schickten „sullen deselve voor ijeden kind, t`welck boven de Sess jaeren oudt is, verbeuren thien goltgl“60 – sie hatten also für jedes schulpflichtige Kind zehn Goldgulden zu zahlen. Diese Regelung sollte aber nur dann greifen, wenn die Möglichkeit, eine der Schulen in der Grafschaft zu besuchen, gegeben war. So heißt es weiterhin, dass Eltern ausgenommen waren, in deren Kirchspiel sich keine Schule befand, sie ergo keine andere Wahl hatten, als eine Schule in den umliegenden Dörfern oder Städten außerhalb der Grafschaft zu wählen. Aber auch diese Ausnahme galt nur so lange, wie ihre Hoheit das betreffende Kirchspiel nicht „met en bequaemen Schoole“ versehen hatte.61 2. DIE GRÜNDUNG DER LATEINSCHULE Die Lateinschule in Lingen ist diejenige der beiden hier zu untersuchenden Schulen, mit der sich die Forschung bis heute am wenigsten befasst hat. Bis auf die allgemeine Geschichtsschreibung und die in Aufsätzen zur Hohen Schule kurze Erwähnung der Lateinschule, gibt es keine explizite Forschung zu eben dieser. Dabei bildete sie überhaupt erst das Fundament, auf dem die Hohe Schule später errichtet

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Vgl. KO Grafschaft Lingen, Art. XXXVIII, StA Osn., Dep. 64b, Nr. 151, Aktenstück 45. Vgl. StA Osn., Dep. 64b, Nr. 141, S. 32. StA Osn., Dep. 64b, Nr. 141, S. 33. Vgl. StA Osn., Dep. 64b, Nr. 141, S. 33: „die gemeine Approbation der römisch-katholischen selbst“. 60 StA Osn., Dep. 64b, Nr. 141, S. 33. 61 StA Osn., Dep. 64b, Nr. 141, S. 33.

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werden konnte.62 Schon Hans Taubken stellte heraus, dass die „eigentliche Geschichte der Lateinschule“63 erst durch die Bestrebungen Wilhelm III. und des Henricus Pontanus begann. Die Gründung wurde für den September 1680 datiert.64 Wilhelm Heinrich von Oranien wies 167865 an, dass die verfallene Kapelle, welche im Jahre 1606 dem italienischen Kriegsvolk zur Verfügung gestanden hatte, mit Hilfe einiger monetärer Zuwendung durch die Verwaltung des Landrentmeisters wieder nutzbar und „ansienlijck“ gemacht werden sollte.66 Für den Schulbetrieb wurden zwei Gebäude errichtet – zunächst ein Schulgebäude mit Auditorium und vier Klassenräumen, die nun dem Rektor, den Lehrern und den Schülern für ihre Schularbeit zur Verfügung standen. Jegliche Schularbeit sollte im Auditorium mit Gebet und Gesang begonnen und beschlossen werden.67 Des Weiteren entstand im Jahre 1685 ein großzügiges Seminargebäude „bestaende uijt eene Burse van allerhande jonge Studenten, ende een kinderhuis tot opqueckinge der Roomsgesinde in den waaren gereformerden Godsdienst“,68 in welchem bis zu fünfzig Schüler untergebracht werden konnten, die in den oberen Räumen unter besonderer Aufsicht eines Ökonomen standen. Den unteren Teil bewohnten die Lehrer. Die Aufnahme der Schüler in das Seminar erfolgte nach der Reihenfolge der eingehenden Anmeldungen – jedoch so, dass Katholiken und Auswertige bevorzugt wurden. Diese Regelung war wohl mit der unausgesprochenen Hoffnung verbunden, die Katholiken zum Übertritt zum reformierten Glauben zu bewegen, wenn diese unter ständigem Einfluss der Reformierten standen – aber natürlich auch, um einer möglichst breiten Schülerschar den Zugang zur lateinischen Schule zu ermöglichen. Die Hausregeln waren christlich-reformiert ausgerichtet – morgens und abends Gesang, Lesungen aus der Bibel sowie morgendliches und abendliches Gebet.69 Weiterhin orientierte sich die Hausordnung an den Schulregeln. Die Lateinschule sollte aus vier Klassen bestehen, zu welchem Zweck vier Lehrer benannt wurden. Somit war die Lingener Lateinschule eine eher kleine Schule.

62 Vgl. hierzu auch den Aufsatz von Alfred Mengel: „Die reformierte Hohe Schule zu Lingen“, in: 300 Jahre Gründung der Hohen Schule Lingen 1697–1997. Lingen 1997, S. 9–22. Auch Boekholt und De Booy stellen in ihrer Geschiedenis van de School in Nederland heraus, dass viele lateinische Schulen in den Niederlanden die Grundlage für Gymnasien bildeten. Vgl. a.a.O., S. 61. 63 Taubken: Niederdeutsch, Niederländisch, Hochdeutsch, S. 327. 64 Vgl. StA Osn., Rep. 729, Akz. 39/97, Nr. 864. 65 Vgl. Goldschmidt: Geschichte der Grafschaft Lingen, S. 202. StA Osn., Rep. 729 Akz. 39/97 Nr. 864. StA Osn. Dep. 64b, Nr. 141, S. 32. 66 StA Osn., Rep. 729, Akz. 39/97, Nr. 864. 67 Vgl. Carl Winkelmann: „Beiträge zur Geschichte des Gymnasiums Lingen“, in: Fest-Programm zum zweihundertjährigen Jubiläum des königlichen Gymnasium Georgianum zu Lingen am 22. Januar 1880. Lingen 1880, S. 1–32, hier: 1. 68 StA Osn., Rep. 729, Akz. 39/97, Nr. 864: „Ein Seminargebäude, bestehend aus einer Burse, in der allerhand junge Studenten untergebracht werden, und ein Kinderhaus, um dem ,Roomsgesinde‘ im wahren reformierten Gottesdienst zu unterrichten.“ 69 Vgl. Winkelmann: „Beiträge zur Geschichte des Gymnasiums Lingen“, S. 7f.

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In den Niederlanden gab es meist sechs Klassen70 – es gab aber auch Schulen mit mehr als zehn Lehrern.71 Die höchste Klasse war die vierte Klasse und der Lehre und Aufsicht des Rektors unterstellt,72 zu welchem der aus Neuenhaus stammende Lambertus Lanckhorst ernannt wurde. Dieser hatte sich bereits in der Vergangenheit als ein guter Schulmeister erwiesen. Zum Konrektor ernannte man Konrad Brumleve, welcher aus dem niederländischen Oldenzaal stammte. Die dritte Klasse übernahm der aus Gildehaus, in der Grafschaft Bentheim, stammende Johannes Wilhelm Schrader. Die letzte Klasse sollte von einem eingesessenen Lingener, Johannes Probstinck, unterrichtet werden.73 Der Praeceptor Probstinck und alle nachfolgenden Lehrer auf seinem Posten sollten von der Stadt bezahlt werden, welche sich auch um seinen Unterhalt zu kümmern hatte.74 Die drei weiteren Schulmeister sollten ihre Traktamente aus der geistlichen Güterkasse beziehen – dem Rektor sollten 450, dem Konrektor 250 und dem dritten Lehrer 200 Gulden ausbezahlt werden.75 Goldschmidt gibt hierzu an, dass Vizedrost und Richter Tollius auf das Geheiß Wilhelms III. einen Vorschlag über die Höhe der Traktamente gemacht hatten, welche dieser 1679 bestätigte.76 Bereits im Jahre 1679 gab Wilhelm III. dem Bürgermeister der Stadt Lingen schriftlich die Anweisung, um die Schule gleich zu Beginn attraktiver zu machen und zum Florieren zu bringen,77 auf Kosten des Hauses Oranien für gute Unterschulmeister zu sorgen und eine gute „Fransche Matresse“ anzustellen.78 „Denn er hat unser Volk lieb und die Schule hat er uns erbauet“,79 spricht der Geistliche Steenbergen am 22. Januar 1680 während seiner Predigt zu den Eröffnungsfeierlichkeiten der Lateinschule.80 Nach dem Gottesdienst versammelten sich

70 Vgl. Boekholt/De Booy: Geschiedenis van de School in Nederland, S. 62. 71 Vgl. Jens Bruning, Art. „Lateinschule“, in: EdN Online. Brill Online, 2014. URL: http://dx.doi.org/10.1163/2352-0248_edn_a2418000 (letzter Zugriff: 15. November 2017) 72 Vgl. das Regelwerk StA Osn., Rep. 729, Akz. 39/97, Nr. 864. Vgl. zu dieser Thematik auch Boekholt/De Booy: Geschiedenis van de School in Nederland, S. 62. 73 Vgl. StA Osn., Rep. 729, Akz. 39/97, Nr. 864. 74 Vgl. StA Osn., Rep. 729, Akz. 39/97, Nr. 864. Schriever schreibt zu diesem Sachverhalt fälschlicherweise, dass die Stadt auch für die Ernennung des vierten Lehrers zuständig war. Zumindest in der Anfangszeit wird aus den Quellen deutlich, dass dem nicht so war. Ob die Stadt möglicherweise in späteren Zeiten das Recht hatte, den vierten Lehrer zu benennen, ist nirgends ersichtlich. 75 Vgl. Schriever: Geschichte der Schulen und des Schulwesens, S. 46; Goldschmidt: Geschichte der Grafschaft Lingen, S. 202. 76 Vgl. Goldschmidt: Geschichte der Grafschaft Lingen, S. 202. StA Osn., Dep. 64b, Nr. 141, S. 35. 77 Vgl. StA Osn., Rep. 729, Akz. 39/97, Nr. 864: „an te queecken, en te doen floreren“. 78 StA Osn., Rep. 729, Akz. 39/97, Nr. 864. 79 Gemäß Lk 7,5. 80 Vgl. StA Osn., Dep. 64b, Nr. 141, S. 49f.: „predicatij in de Parochialkercke gedaen door de Heer Steenbergen, uijt Luc 7 & 4,5“. Vgl. auch Winkelmann: „Beiträge zur Geschichte des Gymnasiums Lingen“, S. 2.

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die Anwesenden, „groote menigte van allerhande menschen, Vremdelingen en Inboorlingen“,81 im Auditorium der Schule, welche der Richter mit einer lateinischen Ansprache feierlich eröffnete.82 Nach der Ansprache übergab der Syndicus, die sogenannten „Wetten“, das Regelwerk der Lateinschule, erlassen von seiner Majestät Wilhelm III., allerdings unter Vorbehalt beliebiger Erweiterungen, Restriktionen oder Veränderungen.83 Die „Wetten“ wurden verlesen und dann von dem Rektor und den Lehrern der neuen Lateinschule unterzeichnet. Unter „het geklanck van Basuinen en Trompeten, en alle hande musicale Instrumenten“84 zog die Festgemeinschaft dann feierlich ins Stadthaus um, wo es ein großes Gastmahl geben sollte.85 Die opulenten Feierlichkeiten, mit einer großen Besucherschar, Gottesdienst und der Ansprache des Richters zeigen, was für eine Bedeutung die Eröffnung der Lateinschule für die Stadt und Grafschaft Lingen hatte. Auch die extraordinäre Versammlung der Classis Lingensis zur „Inauguratio scholae Lingensis“ am 22. und 23. Januar 1680,86 die nur bei besonderen Ereignissen kurzfristig einberufen wurde, deuten auf die enorme Wichtigkeit des Ereignisses hin. Am nächsten Tag stattete man der neuen Schule wiederum einen Besuch ab und fand mit „bliedtschap“ eine stattliche Anzahl Schüler vor, mit welchen man die vier Klassen der neuen Lateinschule füllen konnte.87 Weiterhin heißt es, dass selbst die katholischen Eltern, die ihre Kinder bisher auf die Schulen in die benachbarten Ortschaften Meppen, Rheine, Osnabrück und Steinfurt geschickt hatten, diese von den dortigen Schulen abgezogen hatten und sie nun die Lateinschule in Lingen besuchen ließen.88 Was sich nach glücklicher Fügung oder bekehrtem „Roomsgesinde“ anhören mag, ist wohl nichts weiter als die Reaktion der Katholiken auf das Edikt des Statthalters vom August 1679 in dem es heißt: de Ingesetenen die hare kinderen buijten Landts ter Scholen hebben gesonden […] deselve binnen sess weecken weder in te roepen ende binnen s Landes, en in de Stadt ter Schole te brengen […], bij poene dat ijder Contraventeur bij provisie en voor deerste reijse 100 ggulden [sic!] Straffe verbeuren, en na de tweede Gerichtltelijcke gedaene denuntiatie dubbelt, en ten derdemale arbitralijck sal gestraffet worden […].89

81 StA Osn., Rep. 729, Akz. 39/97, Nr. 864: „eine große Menge allerhand Menschen, Fremde sowie Eingesessene“. 82 Vgl. StA Osn., Dep. 64 b, Nr. 141, S. 50. 83 Vgl. StA Osn., Rep. 729, Akz. 39/97, Nr. 864. 84 StA Osn., Rep. 729, Akz. 39/97, Nr. 864: „Unter dem Klang von Posaunen und Trompeten und allerhand Musikinstrumenten“. 85 Vgl. Goldschmidt: Geschichte der Grafschaft Lingen, S. 203. 86 Vgl. StA Osn., Dep. 64b, Nr. 141, S. 49-54. 87 Vgl. StA Osn., Rep. 729, Akz. 39/97, Nr. 864. 88 Vgl. StA Osn., Rep. 729, Akz. 39/97, Nr. 864. 89 StA Osn., Rep. 729, Akz. 39/97, Nr. 864: „Die Einheimischen, die ihre Kinder außerhalb des Landes zur Schule geschickt haben, […] haben dieselben innerhalb von sechs Wochen und innerhalb des Landes und der Stadt zur Schule zu bringen. […] Gesetzesübertreter werden für die erste Reise (über die Grenzen der Grafschaft) mit 100 Gulden bestrafft, bei einer zweiten, gerichtlich bestätigten, zahlen sie doppelt und bei einem dritten Übertritt werden sie willkürlich bestraft […].“

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Wenn die katholischen Eltern ihre Kinder nun also auf die Lateinschule in Lingen schickten, hatte das wohl wenig damit zu tun, dass sie diese Anstalt für besser geeignet hielten. 3. DAS KURATORIUM DER LATEINSCHULE Im Jahre 1686 berief Wilhelm III. ein Kuratorium für die Lateinschule ein. Die „van dagh te dage meer en meer anwassende Schole“90 machte es nötig, ein Kollegium von Kuratoren zu stellen, welches fortan aus dem Landdrosten, dem Rentmeister und Richter, den zwei ersten Predigern und dem Syndicus des Landes bestehen sollte.91 Es fand seine Aufgabe darin, Rektor, Schulmeister und Schüler zu ihrer Pflicht anzuhalten, die Schlechten zu strafen sowie die Guten zu belohnen. Aus diesem Kuratorium sollte monatlich ein Präsident und jährlich ein Sekretär erkoren werden. Der Präsident kümmerte sich um die Beschwerden von Lehrern und Schülern, welche in der Versammlung der Kuratoren besprochen werden sollten und war dazu angehalten, die Schule mindestens einmal in der Woche zu visitieren, sowie in der Versammlung darüber zu berichten. Diese Zusammenkünfte hatten immer am zweiten Mittwoch des Monats um zwei Uhr am Nachmittag stattzufinden, aber auch so oft, wie es der Präsident für nötig erachtete. Der Sekretär hatte alle Privilegien zu unterschreiben und alle Papiere sorgfältig und vertraulich aufzubewahren. Auch war es seine Aufgabe, die Versammlungen zu protokollieren, sowie davor und danach das Gebet zu Gott zu sprechen. Winkelmann sieht die Zuweisung dieser Aufgabe an den Sekretär in der Problematik der häufigen Wechsel des Vorsitzenden der Kuratoren.92 Üblicherweise waren die Gebete vor solchen Versammlungen den Predigern vorbehalten.93 Den Zusammenkünften hatten die Mitglieder unter Strafe von Abwesenheit oder Unpünktlichkeit beizuwohnen, wobei man „tres faciunt collegium“, schon zu dritt beschlussfähig war. Bei unentschuldigtem Fehlen oder bei Verspätung hatten die Kuratoren einen Schilling als Strafe zu zahlen.94 Eine der Haupttätigkeiten des Kuratoriums war jedoch die „opsigt in´t gemeen“,95 verbunden mit der Aufgabe „de quaade [te] straffen“.96 Die Lateinschule in Lingen hatte ihre eigenen Regeln und somit eine eigene Gerichtsbarkeit.97 Zwar wurde auf der Synode von Dordrecht der Wunsch nach einer einheitlichen Regelung für alle niederländischen Schulen laut, dennoch vermochte der damalige Plan

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StA Osn., Rep. 729, Akz. 39/97, Nr. 864: „die von Tag zu Tag mehr anwachsende Schule“. Vgl. StA Osn., Rep. 729, Akz. 39/97, Nr. 864. Vgl. Winkelmann: „Beiträge zur Geschichte des Gymnasiums Lingen“, S. 3. Vgl. StA Osn., Dep. 64b, Nr. 141. Vgl. StA Osn., Rep. 729, Akz. 39/97, Nr. 864. StA Osn., Rep. 729, Akz. 39/97, Nr. 864: „die Aufsicht im Allgemeinen“. StA Osn., Rep. 729, Akz. 39/97, Nr. 864: „die Bösen [zu] strafen“. Vgl. Kirchenordnung der Grafschaft Lingen, Art. XXXIX, StA Osn., Dep. 64b, Nr. 151, Aktenstück 45: „De latynsche schoolen sullen nae haer eygen wetten leven“.

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nicht umgesetzt zu werden. Somit hatte jede Stadt ihre eigenen Regeln und Schulverordnungen,98 auch wenn sich diese nicht wesentlich unterschieden.99 Die Schulstatuten der Lateinschule in Lingen wurden in die Hände der Kuratoren übergeben – so heißt es in den Akten: „neen maer oock tot sulcke wetten en ordinantien te maecken, als her E. souden nodigh achten“.100 Die Kuratoren hatten also die Befugnis, je nach Problematik, die in der Schule auftrat, die Regeln zu verändern und neue Anordnungen zu erlassen. Der Präsident war weiterhin dazu angehalten, alle Klagen von Lehrern und Schülern in die Versammlung des Kuratoriums zu tragen. Die durch Mehrheitsabstimmung gefällten Urteile hatte der Sekretär zu verlesen und der Schuldiener sollte nach Notwendigkeit bei der Ausführung der Strafen helfend zur Seite stehen.101 Neben der schulischen Gerichtsbarkeit hatte das Kuratorium auch an allen schulischen Veranstaltungen, namentlich Reden, Disputationen, Examen und der Promotion, teilzunehmen und im Falle von Tod oder Wegfall von Lehrpersonen die vakanten Stellen mit einem „duchtig subjekt“ zu versehen.102 Ein solches „tüchtiges Subjekt“ sollte neben seiner Funktion als Lehrer auch Mitglied der reformierten Kirche sein und sich vor allem dadurch auszeichnen, dass er sich frei von jeder Sünde hielt. Genannt sind Trunkenheit, Würfel- oder Kartenspiele sowie Lästereien.103 Schon in der Kirchenordnung von 1678 war festgeschrieben worden, dass die Schulmeister den reformierten Glauben zu leben und zu praktizieren hatten. 4. DIE SCHULGESETZE DER LATEINSCHULE Das Wissen über die genaueren, zumindest normativen, Abläufe der Lateinschule stammt aus den sogenannten „Wetten“, dem Regelwerk der Lateinschule. Ein provisorisches Regelwerk gab es bereits zur Inauguration im Jahre 1680. Voraussetzung für den Besuch der Lateinschule war nicht nur die Anerkennung der „Wetten“ durch Eltern und Schüler, sondern auch annehmbare Kenntnisse der Schüler im Lesen und Schreiben der lateinischen Sprache. Unter Strafe war es den Lehrern verboten, den Schülern neben dem regulären Unterricht das Lesen und Schreiben beizubringen bzw. Nachhilfe zu geben. Die „Wetten“ schilderten vor allem aber die grundlegenden Abläufe: Im Sommer sollten täglich sieben Stunden, im Winter sechs Stunden Unterricht stattfinden – ausgenommen waren hiervon die Nachmittage am Mittwoch und am Samstag, an denen unterrichtsfrei war. Zwischen Michael und Paschen, also dem St. Michaelstag am 29. Dezember und vor Ostern, sahen die Statuten vor, dass der Unterricht von acht bis elf Uhr morgens und am Nachmittag willkürlich nach dem Ermessen 98 Vgl. Engelina Petronella De Booy: Kweekhoven der Wijsheid. Basis- en vervolgonderwijs in de steden van de provincie Utrecht van 1580 tot het begin der 19e eeuw. Zutphen 1980, S. 70f. 99 Vgl. Boekholt/De Booy: Geschiedenis van de School in Nederland, S. 62. 100 StA Osn., Rep. 729, Akz. 39/97, Nr. 864. 101 Vgl. StA Osn., Rep. 729, Akz. 39/97, Nr. 864. 102 Vgl. StA Osn., Rep. 729, Akz. 39/97, Nr. 864. 103 Vgl. StA Osn., Rep. 729, Akz. 39/97, Nr. 864.

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des jeweiligen Lehrers abgehalten werden konnte. In der restlichen Zeit des Jahres war vorgeschrieben, dass die Schule von sechs bis acht, von neun bis elf und am Nachmittag von ein Uhr bis um vier Uhr stattzufinden hatte.104 Die Einhaltung der Schulzeiten war streng geregelt – der Unterricht sollte „noijt oock niet“105 ausfallen – weder bei der Ankunft fremder Heere, neuer Schüler, oder was die Natur sonst bereit zu halten habe.106 Wenn Lehrer eigenmächtig Unterrichtsstunden ausfallen ließen oder diese verkürzten, ohne wichtigen Grund oder die vorherige Zustimmung des Rektors, sollten diese einen Gulden als Strafe zahlen. Sollten sie erst nach dem Glockenschlag im Unterrichtsraum erscheinen, hatten sie einen Schilling zu zahlen. Wurden die Strafen nicht pünktlich oder gar nicht gezahlt, hatten sich entsprechende Personen vor dem Kuratorium zu verantworten. Ähnliches galt für den Rektor, der sich allerdings vor dem Präses des Kuratoriums zu verantworten hatte. Übertrat der Rektor die Regeln, so hatte er das Doppelte der festgesetzten Strafe zu zahlen. Ferien sollten nur im Monat August sein – alle Weihnachts-, Pfingst- und Osterferien waren strengstens untersagt. Damit sich diese auch nicht einschlichen, wurden den auswärtigen Schülern jegliche Besuche in der Heimat verboten. Die freien Vormittage am Mittwoch und am Samstag waren lediglich Dingen vorbehalten, die „tot oeffeninge van Devotie en religie“107 also der Übung von Andacht und Religion dienten. Wie schon in der Kirchenordnung von 1678 festgeschrieben, nahm man besondere Rücksicht auf die katholisch-gläubigen Schüler. Während die höheren Klassen im Heilberger Katechismus unterwiesen wurden und die Lehrer der unteren Klassen das „ein oder andere erbauliche Fragebüchlein“ heranziehen sollten, hatte diese „met dat onderscheet, dat men Roomsgesinde kinderen […] van Controverse boecken sall verschoonen“108 zu erfolgen. Die katholischen Kinder wurden also gesondert behandelt – es war nicht vorgesehen, ihnen während des Unterrichts den reformierten Glauben näher zu bringen. Am Katechismus-Unterricht und den reformierten Gottesdiensten hatten sie allerdings dennoch teilzunehmen. An allen Predigttagen sollten die Schüler von ihrem Lehrer in den Gottesdienst geführt werden. Zurück im Klassenzimmer erfolgte dann die Examinierung über die gehörte Predigt – von einer Ausnahme für katholische Kinder ist hier im Weiteren nichts zu erfahren.109 Der Gottesdienst fand zusammen mit der Gemeinde statt und um die Gläubigen nicht in ihrer Andacht zu stören, sollten die Schüler nur für das gelesene und gesprochene Gebet in der Kirche anwesend sein. Bei Missachtung drohte den Schülern eine Strafe von zwei Schilling.110 104 Vgl. StA Osn., Rep. 729, Akz. 39/97, Nr. 864. 105 Vgl. StA Osn., Rep. 729, Akz. 39/97, Nr. 864: „nie und nimmer“. 106 Vgl. StA Osn., Rep. 729, Akz. 39/97, Nr. 864: „noch door authoriteit en intercessie van ijmend noch bij de ankomst van vreemde Heere of nieuwe Schoolieren, offwat der van die nature anders kann bedacht worden“. 107 StA Osn., Rep., 729, Akz. 39/97, Nr. 864. 108 StA Osn., Rep. 729, Akz. 39/97, Nr. 864. 109 Vgl. StA Osn., Rep. 729, Akz. 39/97, Nr. 864. 110 Vgl. StA Osn., Rep. 729, Akz. 39/97, Nr. 864.

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In der letzten Woche des Monats Juli fanden die öffentlichen Examen statt. Nach der Überprüfung (welche im Weiteren nicht näher erläutert wurde) der Schüler beschlossen sowohl Kuratoren, Lehrer und auch der Rektor über die Versetzung der einzelnen Schüler. Der Tag der Promotion fiel jährlich auf den ersten Freitag im September – erst an diesem Tag erfuhren die Schüler, ob sie in die nächsthöhere Klasse versetzt wurden. Das heißt, dass die Schüler erst nach den Ferien erfuhren, ob sie das Schuljahr wiederholen mussten oder nicht. Dieser Vorgang war vermutlich politischer Natur und trug dazu bei, dass Schüler die Schule nach den Ferien wieder aufsuchten und somit die Einnahmen weiterhin sichergestellt waren. Der Rektor war dazu angehalten, die Schüler jährlich zu zählen und ein Register anzulegen, in welchem Namen und Heimatort zu finden sein sollten. Dies diente dazu, einen schnellen Überblick der Schulentwicklungen zu ermöglichen: „[…] ten inde men altijdt moege weeten, wat der voor vermeerderinge of verminderinge an de Schole is.“111 Am Tag der Promotion wurden auch die guten Leistungen des besten Schülers mit einem Buch belohnt: der „aller bequaemste daer beneven met een Boeck toet en praemie beschonken“.112 Der Rektor oder einer der anderen Lehrer war laut Statuten verpflichtet, an diesem Tag eine Ansprache zu halten – danach begann man mit dem Unterricht des nächsten Schuljahres. 5. DER LEHRPLAN Die „Wetten“ regelten auch den Lehrplan der jeweiligen Klassen: In der ersten Klasse sollte grundsätzlich das Notwendigste der Grammatik gelehrt und gemäß der Nomenclator des Junius auswendig gelernt werden. Man bediente sich in der Lateinschule der Sprachlehrbüchlein von Johann Amos Comenius für die verschiedenen Alters- bzw. Wissensstufen der Schüler. Somit sollte in der ersten Klasse das Vestibulum herangezogen werden. Weiterhin wurden die Disticha Catonis interpretiert und analytisch durchgenommen, ferner mussten die Colloquia von Sebastian Heiden sowie die ersten und kleineren Schriften von Mathurin Cordier im Unterricht verwendet werden. Ziel am Ende des Schuljahres war es, dass die Schüler ohne Hilfe deklinieren und konjugieren konnten sowie den Nomenclator auswendig beherrschten, um in die nächste Klasse versetzt zu werden. In der zweiten Klasse sollten Syntax und Grammatik der Sprache abgeschlossen werden – zunächst anhand des zweiten Büchleins des Comenius, die Janua benannte Schrift, von der man zumindest den ersten Teil interpretieren und auswendig lernen sollte. Des Weiteren wurde je nach Maßgabe der Zeit mit dem von Cordier verfassten Werk Colloquiorum scholasticorum libri quatuor gearbeitet und/oder Briefe und Schriften des Cicero übersetzt. In den zwei ersten Klassen sollten die Kinder wöchentlich mindestens drei exercitia stili schreiben müssen. 111 StA Osn., Rep. 729, Akz. 39/97, Nr. 864: „damit man zu jeder Zeit weiß, welche Vermehrungen oder Verminderungen die Schule erfährt“. 112 StA Osn., Rep. 729, Akz. 39/97, Nr. 864.

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Am Ende des Schuljahres der dritten Klasse mussten die sprachlichen Fähigkeiten der Schüler in der lateinischen Sprache gänzlich ausgebaut worden sein, dennoch nicht ohne dabei „de Grammatica uit de handt te leggen“ und unter Zuhilfenahme des letzten Teils der Janua. Dieses Büchlein sollte nicht nur interpretiert und besprochen, sondern auch auswendig gelernt werden.113 Auf dem Lehrplan standen auch „nae tijdts gelegenheit“ Schriften, wie die des Cornelius Nepos, die Fabeln des Phaedrus, die Colloquia des Erasmus von Rotterdam, Vergils Hirtengedichte oder die Klagelieder des Ovid. Auch sollten die grundlegendsten Dinge der griechischen Grammatik gelehrt und gelernt werden – genau so, wie die Schüler der ersten Klasse Kenntnisse in der lateinischen Sprache zu haben hatten. Die Schüler der dritten Klasse hatten ebenso die in den vorangehenden Klassen üblichen exercitia stili zu bearbeiten, außerdem eine griechische Analysis aus dem Neuen Testament sowie einen lateinischen Brief und ein „latijns versje“ zu verfassen.114 In der Klasse des Rektors, also der vierten und somit der höchsten Klasse, sollten die Sprachkenntnisse zur Perfektion gebracht werden. Neben der „reinigkeit en cierlichkeit“ in der Aussprache sollte nun darauf geachtet werden, dass die Kinder auch einen Überblick über die Geschichte bekommen. Mit Hilfe der vier Monarchien des Johannes Sleidan und der Chronologica Heinrich Gutberleths sollte der Rektor sie darin unterweisen. Es sollten auch Logik, Rhetorik und Oratoria eifrig betrieben werden. Auf der Literaturliste der vierten Klasse standen Werke wie die Komödien des Terenz, Ciceros Orationes sowie Epistulae ad familiares, Werke von Horaz und Vergils Georgica und Aeneis. Im Griechischunterricht sollte die Grammatik erläutert und von den Schülern auswendig gelernt werden – nach Gelegenheit unter Anwendung Isocratischer Reden oder Schriften des Aelian. Auch die Werke des in Herborn und Franeker tätigen und reformierten Professors für Sprachen und Theologie, Georg Pasor (1570– 1637), sollten verwendet werden.115 Aus den „Wetten“ wird nicht ganz klar, ob alle zwei Jahre das Neue Testament mit Hilfe der Grammatik oder der Lexika Pasors durchgenommen werden musste, oder ob eine generelle Besprechung genügte.116 Zusätzlich zu den schon in der dritten Klasse abverlangten Aufgaben wurden den Schülern in der vierten Klasse eine griechische Inhaltsangabe, ein lateinisches Gedicht sowie monatlich eine lateinische Rede abverlangt. Auf Wunsch von Rektor oder Kuratorium wurden diese sogar öffentlich verlesen. Weiterhin wurde die Predigt vom Mittwochmorgen am Sonnabend disputiert und darüber hinaus „men dann bij de Theses Catacheticae, somtijdts oock eenige Logica en Philologica voegen“.117 Den religiösen Thesen sollten also zuweilen noch einige der Logik und der Philologie hinzugefügt werden.

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StA Osn., Rep. 729, Akz. 39/97, Nr. 864. Vgl. StA Osn., Rep. 729, Akz. 39/97, Nr. 864. Vgl. Karl Friedrich Ulrichs: Art. „Pasor, Georg“, in: BBKL XVII (2000), Sp. 1055–1059. Vgl. StA Osn., Rep. 729, Akz. 39/97, Nr. 864. StA Osn., Rep. 729, Akz. 39/97, Nr. 864.

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Einen genauen Stundenplan konnten die „Wetten“ nicht vorschreiben. Dies sollte durch die Hand der Kuratoren geschehen, denen durch die Statuten aufgetragen war, jedes Jahr zum Zeitpunkt der Promotion nach Absprache mit Rektor und Lehrern ein Register zu erstellen, welches die Stunden regeln sollte. Somit konnten die Lehrpersonen auch Einfluss auf die Zeit und die Reihenfolge der Unterrichtsfächer bzw. des Unterrichtsstoffes nehmen.118 Der Lehrplan der reformierten Lateinschule stellt sich als ein sehr offener dar, der die gebräuchlichen Werke einer typischen Lateinschule dieser Zeit bedient. Die Hirtengedichte Vergils sowie die Fabeln des Phaedrus, aber auch Cicero und Cornelius Nepos wurden selbst in den Lateinschulen des 19. Jahrhunderts noch gelesen. Lediglich durch die Verwendung von Comenius᾿ Lehrbüchlein sowie den Schriften von Cordier ließe sich eine Nähe zu spezifisch reformierten Inhalten erahnen. Sein zeitgenössischer Ruf als Didaktiker und die christlich-humanistische Lebensgestaltung, die in seinen Werken im Mittelpunkt stehen, täuschen nicht darüber hinweg, dass Comenius Bischof der Unität der Böhmischen Brüder war. Comenius selbst bezeichnete in seinem religiösen Testament die lutherische und die reformierte Kirche als evangelische Schwestern. Und auch Cordier, der zwar in erster Linie Lehrer und Verfasser vieler Bücher war, die über drei Jahrhunderte in verschiedensten Schulen verwendet wurden, war dennoch Anhänger von Johannes Calvin. 6. REGELUNG BEI VERGEHEN GEGEN DIE SCHULORDNUNG Wenn das jährliche Unterrichtspensum der Klassen durch den Rektor oder die Lehrer nicht absolviert wurde, lag es an dem Kuratorium, unter Berücksichtigung der Umstände, über betreffende Personen Strafen zu verhängen. Aber auch den Schülern waren durch die „Wetten“ einige Regeln aufgetragen worden. Am Morgen und am Abend sollten sie mit Gott und Gottesdienst beginnen bzw. schließen, vor allem aber vor und nach ihren Studien. Dies war durch den Rektor und die Praeceptoren zu kontrollieren. Die Schüler durften auch nicht ohne die Genehmigung des Rektors in Schule oder Kirche abwesend sein. Verspätungen waren nicht erwünscht und die Schüler hatten ihre gewohnten Plätze beizubehalten (vermutlich damit es direkt auffiel, wenn jemand verspätet oder gar nicht erschien). Innerhalb der Klassen bzw. Klassenräume gab es ebenfalls feste Plätz, die nicht verlassen oder vertauscht werden durften. Mehr noch: Die Ordnung in den Schulbänken war strikt geregelt. Es sollte einen Custos oder Bankvorsteher geben, der für die jeweilige Bank verantwortlich war und die Untugenden seiner Mitschüler anzeigte oder zumindest dafür einzustehen hatte. Die eifrigen Schüler spielten sogar um die Reihenfolge der Plätze. Gegenseitig forderten sie sich in ihrem Schulwissen heraus. Der Klügste von allen durfte dann nicht nur auf dem begehrten vorderen Platz sitzen, sondern die guten Leistungen wurden auch vermerkt und für die Promotion angerechnet.119

118 Vgl. StA Osn., Rep. 729, Akz. 39/97, Nr. 864. 119 Vgl. StA Osn., Rep. 729, Akz. 39/97, Nr. 864.

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Die Schüler hatten sich gut auf den Unterricht vorzubereiten. Dies betraf nicht nur die gestellten Aufgaben, die verantwortungsvoll zu erledigen waren, sondern auch die Dinge, die zum Unterricht mitgebracht werden mussten. So ist in den „Wetten“ zu lesen, dass jeder Schüler „versien met pen, inket, schoon papier, en alle noodige school gereetschap“ zu sein hatte.120 Nicht nur die Schulsprache, sondern auch die Sprache im Allgemeinen sollte „binnen en buiten“ immer die Lateinische sein. Wobei auch vermerkt ist, dass dies nur nach Möglichkeit geschehen konnte. Die einfachen Lingener Bürger waren natürlich nicht allesamt der lateinischen Sprache mächtig. Weiterhin wurde von den Schülern ein sauberes Erscheinungsbild gefordert. Leib und Kleidung hatten sauber und rein zu sein; sie sollten weder ungekämmt noch ungewaschen vor ihren Lehrer treten. Auch im Umgang miteinander (aber natürlich auch gegenüber den Lehrern und den weiteren Schuloberen) hatten sie sich zivil und manierlich zu verhalten. Schändlichkeiten wie Fluchen oder Lästereien, Würfel- oder Kartenspiele waren bei höchster Strafe verboten. Auch sollten sich die Schüler weder betrinken noch mit Frauen einlassen. Sie durften weder fischen, jagen noch Vögel fangen und auch das Schießen war ihnen untersagt. Die nahe gelegene Ems verlockte die Schüler im Sommer zum Baden – aber selbst das war ihnen nicht ohne die Aufsicht eines Lehrers erlaubt. Ebenso verhielt es sich mit dem Eislaufen auf dem zugefrorenen Gewässer.121 Zum einen passten diese Dinge nicht zu dem frommen Lebenswandel der Reformierten, zum anderen, und das war in diesem Falle noch viel schlimmer, hielten solche Dinge von den wichtigen Studien ab. Interessant sind hierbei auch die Strafen für die verschiedenen Vergehen – das Strafmaß reichte von einfachen Geldbußen über Züchtigung bis hin zum Schulverweis. Es gab die sogenannte nota Linguae für sprachliche Vergehen sowie die nota petulantiae, die alle weiteren „Frechheiten“ bestrafen sollte. Das Vorgehen bei einem sprachlichen Verstoß hatte denunziatorische Züge: Der, der als erstes beim Sprechen der verpönten Umgangssprache ertappt wurde, bekam ein zusammengefaltetes Blatt Papier, auf das er seinen Namen zu schreiben hatte. Den nächsten, den er nicht Latein sprechen hörte, durfte er auf das Papier über seinen Namen schreiben. Je schneller es dem betreffenden Schüler gelang, einen Namen über den seinen zu schreiben, umso milder fiel das Strafmaß aus – beginnend mit einem Schlag auf die Hand nach der ersten abgelaufenen Stunde.122 Die Strafen sind recht ausführlich in den „Wetten“ beschrieben, durften aber auch zum Teil willkürlich von den Lehrern verhängt werden. Das Strafmaß (falls nicht anders geregelt) war der Umsichtigkeit und Weisheit des Rektors und der Lehrer überlassen. Diese sollten die Kinder lieber durch Güte als durch Härte regieren. Den Lehrern war es untersagt, auf die Köpfe der Kinder einzuschlagen, an 120 StA Osn., Rep. 729, Akz. 39/97, Nr. 864: „versehen mit Stift, Tinte, sauberem Papier und allen nötigen Gerätschaften für die Schule“. 121 Vgl. StA Osn., Rep. 729, Akz. 39/97, Nr. 864. 122 Vgl. StA Osn., Rep. 729, Akz. 39/97, Nr. 864.

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ihren Haaren zu ziehen, sie mit dem Stock oder dergleichen zu schlagen. Am Ende sollten die Kinder so behandelt und erzogen werden, dass sie in ihrem Schulmeister den eigenen Vater sahen und ihn achteten wie eben diesen. Das entspricht auch dem, was Groenendijk für die reformierten Schulen in den Niederlanden bereits herausgearbeitet hat. Da die Schüler täglich dem Einfluss der Lehrer ausgesetzt waren (sogar verstärkt, wenn sie im Seminargebäude untergebracht wurden), hatten die Schulmeister ihr Amt „als Fortsetzung des elterlichen Auftrags aufzufassen“.123 7. DAS AKADEMISCHE GYMNASIUM BZW. DIE HOHE SCHULE ZU LINGEN Ein reformierter Charakter ist der Lateinschule in der Grafschaft Lingen keineswegs abzusprechen. Das bezeugen die Predigttage und der reformierte Katechismus-Unterricht sowie die reformiert-gläubigen Schulmeister. Ein gezwungen reformierter Lehrplan oder eine Art Glaubenszwang ist hier allerdings nicht zu erkennen. Mehr noch ist die Lateinschule der Grafschaft Lingen durchaus ein gutes Beispiel für religiöse Toleranz. Dennoch lässt sich der Wunsch nach einer Fortführung der Reformation in der Gründungsurkunde des akademischen Gymnasiums aus dem Jahre 1697 deutlich erkennen: Wilhelm Hendrik durch die Gnade Gottes König von Großbritannien, Prinz von Oranien und Nassau etc., Graf von Lingen etc. […] Es wird bekannt gemacht: Da die von unseren Vorfahren hochseligen Angedenkens in der Stadt Breda, insbesondere um das Papsttum zu schmälern, gestiftete illustre Schule den gewünschten Fortgang nicht gehabt hat, und dem entgegen die guten Erfolge der Trivialschule in Lingen glauben lassen, dass an diesem Ort die Errichtung einer öffentlichen akademischen Schule glücken und gute Früchte tragen soll, zum Besten des Gemeinwesens, aber insbesondere zur Fortsetzung des angefangenen Werkes der Reformation […] so errichten wir hiermit ein öffentliches, akademisches Gymnasium.124

Henricus Pontanus war bereits 1693 von Wilhelm III. damit beauftragt worden, die notwendigen Vorbereitungen für die Errichtung einer Hohen Schule zu treffen. Die Schüler der Lateinschule wechselten gewöhnlich nach Beendigung ihrer Ausbildung in Lingen auf katholische Universitäten in den umliegenden Ländern. Der gewünschte Erfolg der reformatorischen Bemühungen, nämlich die Ausbildung eines

123 Groenendijk: Die reformierte Kirche in den Niederlanden, S. 67. 124 StA Osn., Rep. 729 Akz. 39/97 Nr. 864: „Wilhelm Hendrick bij der Gnade Gods Koning van Groot Brittagne, Prince van Orange ende van Nassau etc. […] Doen te weeten, Alsoo de illustre Schoole tot Breda van Onze voor Ouders Loff:mem inzonderheijt gestige om het pausdom afbreuke te doen, den gewensten voortgang niet heft gehad, en daar en teegen de geode sucessen van de trivial Schoole in Onze Stad Lingen beloonen, dat aldaar de oprigtinge van eene publicque Academische Schoole beeter zal gelukken, en goede vrugten uijtleveren, ten beste van het gemeen, en wel insonderheijt tot voortsettinge van het aangevangene werk der Reformatie […] al Wij fundeeren en oprigten […].“

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zuverlässigen „Stabspersonals für Kirche und Staat“,125 blieb somit in den meisten Fällen aus. Wohl auch deshalb legte Wilhelm III. in den Statuten für die Hohe Schule fest, dass alle Studenten je nach ihrem Betragen und den Zeugnissen entsprechend, für Ämter in Kirche und Politik erwogen werden sollten.126 Die Hohe Schule, das Akademische Gymnasium oder das Gymnasium Illustre – man bediente sich in den Akten gerne verschiedener Begrifflichkeiten – hatte ihren Ort zwischen Lateinschule und Universität. Im Gegensatz zur klassischen Universität fehlte hier das kaiserliche oder päpstliche Stiftungsprivileg, sodass die Hohe Schule in Lingen keine akademischen Titel verleihen durfte. Trotzdem sei sie „angesichts der Abseitslage unseres Gebietes […] ein Kultur= und Bildungs- zentrum ersten Ranges“127 gewesen. Das Kuratorium der Lateinschule war nun ebenfalls zuständig für die aus vier Fakultäten bestehende Lingener Hochschule – mit dem Unterschied, dass der Hohen Schule nun ein Rector Magnificus vorstand. Dieser sollte zwar jährlich aus „Hand und Siegel“ des Landesherrn bestimmt werden, blieb aber in der Regel gleich zwei Jahre im Amt. Das Amt des obersten Rektors konnte zunächst auch nur der Professor der Theologie bekleiden, womit klar wird, dass die theologische Fakultät als die höchste der vier Fakultäten angesehen wurde. Diese setzen sich zusammen aus der Professur für Theologie, die der Rechtswissenschaften, einer Professur für Medizin und Philosophie sowie einem Professor Philologia Sacra et Profana. Letzterer sollte zugleich Rektor der Lateinschule sein und dort den Titel Rector Extraordinarius in Philologia profanem innehaben. Der Rector Magnificus übernahm fortan die Einschreibung der Studenten – ihnen wurde bei der Immatrikulation per Handschlag abgefordert, sich den Regeln und der Ordnung des akademischen Gymnasiums zu beugen. Die Professoren der Hohen Schule sollten vor Beginn ihrer Amtszeit vor den Kuratoren geloben, dass sie weder von häretischen Werken gegen die Heilige Schrift noch von Lehren Gebrauch machten, die gegen die Einheit der Niederlande formuliert waren. Ein mehrmaliger Verstoß konnte zur Amtsenthebung führen.

8. DIE VIER FAKULTÄTEN Die Professoren der vier Fakultäten waren – zumindest laut den Schulregeln – relativ eigenständig darin, wie sie den Studenten die Lehre vermittelten. Es war le-

125 Stefan Ehrenpreis: „Einleitung: Das Erziehungswesen der Reformierten im Kontext frühneuzeitlicher Kultur und Wissenschaft“, in: Ders. und Heinz Schilling (Hg.): Frühneuzeitliche Bildungsgeschichte der Reformierten in konfessionsvergleichender Perspektive. Schulwesen, Lesekultur und Wissenschaft. Berlin 2007, S. 2–17, hier: 8. 126 Vgl. StA Osn., Rep. 729, Akz. 39/97, Nr. 864. 127 Anton Rosenboom: „Die ehemalige reformierte Akademie in Lingen/Ems (1697–1820) und ihre Bedeutung für die Grafschaft Bentheim“, in: Jahrbuch des Heimatvereins der Grafschaft Bentheim 1965, S. 23–24, hier: 28.

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diglich festgeschrieben, dass sie Montag, Dienstag, Donnerstag und Freitag öffentliche Vorlesungen zu halten hatten, daneben sollten je nach Bedarf der Studenten weitere, private Vorlesungen gehalten werden, welche meist in den Räumlichkeiten des entsprechenden Professors stattfanden. Der Professor der Theologie sollte einmal im Jahr die gesamte „Godt-gelehrtheit“ erläutern und diskutieren, desgleichen einmal im Jahr die gesamte Kirchengeschichte. Der Professor des Rechts war gehalten, in sechs Monaten die Instutitiones Juris zu absolvieren, sie zu erklären und abzufragen. Je nach Studien-schwerpunkt sollte innerhalb eines Jahres das Collegium Pandectarum gelehrt werden. Der Professor der Medizin sollte die Studenten innerhalb eines Jahres in der gesamten Heilkunst unterweisen, der Professor Philologia sacra et profana insbesondere Vorlesungen in der hebräischen, der griechischen und lateinischen Sprache halten und andere östliche Sprachen unterrichten. Der Professor der Philosophie sollte den „ganzen Kurs der Philosophie“ innerhalb des Jahres in seinen Stunden und Vorlesungen absolvieren. Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass wenige Jahre nach der Gründung der Hohen Schule ein französischer Sprachlehrer und ein Tanz- und Fechtmeister angestellt wurden.128 Auch wurden die kombinierten Professuren schon 1700 wieder aufgehoben und mit Genehmigung König Wilhelms III. eine neue Professur für Geschichte und Beredsamkeit, eine weitere für Philosophie eingerichtet.129 Eine eigens für die Hohe Schule eröffnete Bibliothek sollte vornehmlich den Studenten zur Verfügung stehen. Die Bücher wurden teilweise aus verpflichtenden Spenden der Professoren, Schulmeister und allen anderen Amtsträgern der Grafschaft zusammengetragen sowie aus den Einnahmen der gemeinen Kasse finanziert. Auch gab es für die Hohe Schule eine Druckerei, in der die eigenen Schriften gedruckt werden konnten. Weiterhin hervorzuheben ist die erweiterte Gerichtsbarkeit des Kuratoriums. Professoren und Studenten unterstanden den Beschlüssen des Kuratoriums und keinem weltlichen Gericht – ausgenommen jener groben Verbrechen, die die „poenam corporis inflectivam“ verdienten. Die Strafen, die das Kuratorium verhängen konnte, sollten gemeinhin Geldbußen sein. Der ein oder andere böswillige Student konnte aber auch von dem Pedell in das der Akademie zugehörige Gefängnis geworfen werden – den Professoren drohte an dieser Stelle eine Suspendierung des Amtes.130 Das in den Regeln überschriebene „Capittel van de Studenten“ enthält überwiegend Artikel zu den Dingen, die Studenten nicht tun durften. Weder nüchtern noch betrunken sollten sie „Gekreisch“ oder laute Geräusche bei Tag oder Nacht von sich geben und somit die Anwohner der Stadt stören. Gleiches galt für Vandalismus jeder Art: Wenn einer der Studenten nachweislich „het vier ujts de straatsteenen

128 Vgl. Mengel: Die reformierte Hohe Schule zu Lingen, S. 17. 129 Vgl. Bernhard Beestermöller: Geschichte des Akademischen Gymnasiums in Lingen 1697– 1820. Lingen (Ems) 1914, S. 29–31. 130 Vgl. StA Osn., Rep. 729, Akz. 39/97, Nr. 864.

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slaat“,131 Fenster, Bäume oder andere Dinge beschädigte, den Degen zog, um sich zu duellieren oder jemanden zu bedrohen, wurde er vom Kuratorium mit Geldstrafen belegt. Zum rechten Leben eines reformierten Studenten gehörten weder Trunksucht noch Spiele um Geld und schon gar keine Hurerei. Wobei vorsichtshalber in den Regeln festgehalten wurde, dass missbrauchte Frauen im Fall des Falles keine Ansprüche auf Alimente haben konnten – und auch Treuegelöbnisse, die Studenten ihnen gegenüber ausgesprochen hatten, ungültig seien.132 Alle Forderungen aus Würfel- und Kartenspiel sowie Wirtshauszechen waren ebenfalls nicht einklagbar. 9. ERGEBNISSE Schon Stefan Ehrenpreis stellt in seiner Einleitung zur Frühneuzeitlichen Bildungsgeschichte der Reformierten heraus, dass bei dem Ausbau des ländlichen Schulwesens in den reformierten Reichsterritorien oftmals eine enge Zusammenarbeit zwischen der fürstlichen Politik und den lokalen Gemeindeleitungen zu erkennen sei.133 Die historiographische Tradition, die dem Reformiertentum eine besondere Nähe zu Bildung und religiöser Erziehung zuschreibt, kann für das vorliegende Beispiel bejaht werden, allerdings liegt das Hauptaugenmerk, mit Ausnahme der kleineren Bestimmungen und der Errichtung des Kinderhauses, auf der Ausbildung und Reform des höheren Schulwesens. Beide Schulen waren trotzdem nicht zwanghaft kirchlich gestaltete Schulen, was auch die Zusammensetzung des Kuratoriums bezeugt. Allerdings waren es Schulen mit einem konfessionellen Charakter, wie sich unter anderem an Hand der Verknüpfungspunkte mit der Dordrechter Synode erkennen lässt (Katechismus-Unterricht an zwei Tagen in der Woche, die Allerärmsten werden kostenlos unterrichtet, es gibt reformierte Schulleiter). Auch wenn es sich mit den vorliegenden Akten um eine rein normative Beschreibung der Verhältnisse in der Lateinschule und der Hohen Schule handelt, so entspringt sie doch einer reformierten Feder. Da man in der niederländischen Republik auch keiner nationalen Schulordnung unterlag,134 war es an Henricus Pontanus durch seine eigene reformierte Schulbildung und sein Wissen als Theologe, im Auftrage Wilhelms III. die schulischen Einrichtungen ganz nach dem reformierten Vorbilde zu konstruieren.

131 StA Osn., Rep. 729, Akz. 39/97, Nr. 864: „das Feuer aus den Straßensteinen schlägt“. 132 Vgl. StA Osn., Rep. 729, Akz. 39/97, Nr. 864: „Ondertussen zullen de misbruijkte vrouws=personen, schoon zij zwanger waaren, geene actie op de persoonen of goederen van de Studenten hebbe, nog trouwbeloften schoon die al gegeeven waaren, kunnen pratendeeren.“ 133 Vgl. Ehrenpreis: „Einleitung“, S. 9. 134 Vgl. Groenendijk: Die reformierte Kirche in den Niederlanden, S. 53.

SCHULE ALS KONFESSIONELLER RESONANZRAUM? Der Ethikunterricht an protestantischen Gymnasien als Beispiel religiöser Orientierung Sascha Salatowsky Abstract: Despite various studies, the question regarding the ways in which schools in the Early Modern Period were subject to the pressure of confessionalisation has not yet been convincingly answered. Too many scholastic-humanist traditions were cross-confessional. However, one would assume that confessional imprints in the discipline of philosophical ethics – alongside religion and (church) history – were apparent due to its practical significance for daily life. This study examines the teaching of philosophical ethics at a number of Protestant secondary schools in German-speaking areas from a multi-demoninational approach and pursues the question of whether and if so, in what way the school can be regarded as a confessional “resonance space”. The paper focuses on the positions of the Lutherans, the Reformed, and the Socinians as different parts of the Protestant movement. Zusammenfassung: Die Frage, in welcher Weise die Schulen in der Frühen Neuzeit einem Konfessionalisierungsdruck unterlagen, ist trotz verschiedener Studien noch nicht überzeugend beantwortet worden. Zu viele scholastisch-humanistische Traditionen galten konfessionsübergreifend. Jedoch könnte die philosophische Ethik – neben der Religion und (Kirchen-)Geschichte – eine Disziplin sein, bei der aufgrund der lebenspraktischen Ausrichtung eine konfessionelle Prägung zu erwarten ist. Die vorliegende Studie untersucht in konfessionsvergleichender Perspektive den philosophischen Ethikunterricht an einigen protestantischen Gymnasien im deutschsprachigen Raum und fragt, ob und wenn ja, in welcher Weise die Schule als ein konfessioneller „Resonanzraum“ anzusehen ist. Die Abhandlung beschreibt die Positionen der Lutheraner, Reformierten und Sozinianer als verschiedene Teile der protestantischen Bewegung.

1. DIE AUFGABE Das 16. und 17. Jahrhundert gelten im Blick auf West- und Mitteleuropa als das Zeitalter der Konfessionalisierung. Mit diesem Epochenbegriff umschreibt man die Tatsache, dass die Konfessionen einen bestimmenden Einfluss auf das gesamte gesellschaftliche Leben ausgeübt haben. Nicht ohne Grund entstand in dieser Zeit auf protestantischer Seite eine Vielzahl von Bekenntnissen, in denen der Glaube dogmatisch fixiert wurde. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Forschung nicht nur mit dem Phänomen der Konfessionalisierung in Bezug auf Gesellschaft, Politik und

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Religion beschäftigt,1 sondern zunehmend auch mit der Frage, inwieweit sie die Wissenschaften, vor allem die Naturwissenschaften,2 beeinflusst hat. Diese Frage ist umso bedeutender, da selbst innerhalb des Aristotelismus, der im 16. und frühen 17. Jahrhundert das westeuropäische Wissenschaftssystem bestimmte, konfessionelle Ausdifferenzierungen stattfanden, sodass man neuerdings von Calvinist Physics3 und Catholic Physics4 bzw. allgemeiner von Confessional Physics5 auf aristotelischer Grundlage spricht. Gleiches hatte die Forschung schon zuvor für die Logik und Metaphysik gezeigt, die ebenfalls spezifischen Änderungen im Zusammenhang mit konfessionellen Eigentümlichkeiten unterlagen.6 In meiner Studie Die Philosophie der Sozinianer habe ich nachzuweisen versucht, dass auch die Sozinianer eine konfessionsspezifische Metaphysik, Physik und Anthropologie entwickelt haben, die sich als ratio philosophandi Sociniana beschreiben lässt.7 Ohne Zweifel sind all dies komplexe und nur mühsam zu rekonstruierende Debatten, die ganz überwiegend in den gelehrten Zirkeln an den Universitäten und höheren Akademien stattfanden. Gleichwohl ist der Gedanke sehr naheliegend, dass 1

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Die Literatur zu diesem Forschungsansatz ist zwischenzeitlich sehr umfangreich. Ich erwähne hier nur: Ernst Walter Zeeden: Die Entstehung der Konfessionen. Grundlagen und Formen der Konfessionsbildung im Zeitalter der Glaubenskämpfe. München 1965; Heinz Schilling (Hg.): Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland. Das Problem der „Zweiten Reformation“. Gütersloh 1986; Hans-Christoph Rublack (Hg.): Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland. Gütersloh 1992; Wolfgang Reinhard und Heinz Schilling (Hg.): Die katholische Konfessionalisierung. Gütersloh 1995. Jüngst hat Andreas Holzem eine Gesamtbeschreibung der drei genannten orthodoxen Konfessionen vor dem Hintergrund des Konfessionalisierungsparadigmas vorgenommen. Vgl. ders.: Christentum in Deutschland, 1550–1580. Konfessionalisierung, Aufklärung, Pluralisierung. 2 Bde. Paderborn 2015. Hier findet man auch die neuere Forschung nachgewiesen. Mit diesem Paradigma kamen freilich die abweichenden Bewegungen wie der Antitrinitarismus nicht in den Blick. Zur Neujustierung vgl. den Sammelband Heinz Schilling (Hg.): Konfessioneller Fundamentalismus. Religion als politischer Faktor im europäischen Mächtesystem um 1600. München 2007. Kontrovers diskutiert wird die Frage, inwieweit das Paradigma als eine europäische Kategorie taugt. Vgl. hierzu jüngst Matthias Pohlig: „Konfessionalisierung und frühneuzeitliche Naturwissenschaft“, in: Heinz Schilling und Stefan Ehrenpreis (Hg.): Frühneuzeitliche Bildungsgeschichte der Reformierten in konfessionsvergleichender Perspektive. Schulwesen, Lesekultur und Wissenschaft. Berlin 2007, S. 229–268. Vgl. Cees Leijenhorst: „Place, Space and Matter in Calvinist Physics“, in: The Monist 84 (2001), S. 520–541. Vgl. Marcus Hellyer: Catholic Physics. Jesuit Natural Philosophy in Early Modern Germany. Notre Dame (Indiana) 2005. Vgl. Cees Leijenhorst und Christoph Lüthy: „The Erosion of Aristotelianism. Confessional Physics in Early Modern Germany and the Dutch Republic“, in: Cees Leijenhorst, Christoph Lüthy and Johannes M.M.H. Thijssen (Hg.): The Dynamics of Aristotelian Natural Philosophy from Antiquity to the Seventeenth Century. Leiden u.a. 2002, S. 375–411. Zur konfessionell geprägten Logik und Metaphysik der Lutheraner vgl. grundlegend Walter Sparn: Wiederkehr der Metaphysik. Die ontologische Frage in der lutherischen Theologie des frühen 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1976. Vgl. Sascha Salatowsky: Die Philosophie der Sozinianer. Transformationen zwischen Renaissance-Aristotelismus und Frühaufklärung. Stuttgart-Bad Cannstatt 2015, bes. S. 76–90, 130– 163, 292–327 und 419–427.

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auch die Bildung an den Schulen einem solchen Konfessionalisierungsdruck unterlag. Hierzu gibt es leider bis jetzt keine ausgeprägte Forschung. Bereits 2007 hat Stefan Ehrenpreis festgestellt, dass eine Verbindung der historischen Erziehungsforschung (als Untersuchung von Erziehungslehren und Erziehungs-praxis) mit Untersuchungen „zu den kulturellen Wirkungen des Konfessionalisierungsprozesses“ zwar „wünschenswert, aber bisher kaum geleistet worden“8 sei. Besonders fruchtbar wäre eine solche Verbindung aus seiner Sicht erstens für eine Prüfung der Tragfähigkeit der umstrittenen Begriffe ,Konfessionalisierung‘, ,Sozialdisziplinierung‘ und ,Absolutismus‘ zur Beschreibung der Eigenart der Frühen Neuzeit im Vergleich zu anderen historischen Epochen, zweitens für eine genauere Bestimmung der Wirkungen der Konfessionalisierung von Staat und Gesellschaft auf individuelle Lebens- und Erfahrungswelten und schließlich drittens für eine umfassendere Erkenntnis der Prägungen der Erziehungslehren durch konfessionelle und nationale Besonderheiten. Alle drei Punkte ließen sich am besten in einer konfessionsvergleichenden Perspektive klären. Genau diesen Ansatz wählt die vorliegende Studie. Sie tut dies aber nicht im Blick auf den Katechismusunterricht, der sich gewiss für einen solchen Vergleich anbieten würde. Einzelstudien haben jüngst dessen hohe Bedeutung für die konfessionell geprägte Bildung der Schülerinnen und Schüler im Luthertum, Calvinismus und Katholizismus umfassend beschrieben, wenn auch gerade nicht in konfessionsvergleichender Perspektive.9 Auch wenn hier also noch Handlungsbedarf besteht, möchte ich mich gleichwohl einem anderen Unterrichtsbereich widmen, der bisher überhaupt nicht im Fokus der Forschung gestanden hat, nämlich dem philosophischen Ethikunterricht. Ich möchte damit meine These stützen, dass man die Schule der Frühen Neuzeit einen konfessionellen Resonanzraum nennen kann.

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Stefan Ehrenpreis: „Einleitung: Das Erziehungswesen der Reformierten im Kontext frühneuzeitlicher Kultur und Wissenschaft“, in: Frühneuzeitliche Bildungsgeschichte der Reformierten, S. 1–17, hier: 4. Vgl. zum Katechismusunterricht im Luthertum Julius Sieden: Katechismen und KatechismusUnterweisung in Mecklenburg seit der Reformation bis zu Anfang des 18. Jahrhunderts. Schwerin 1930. Umfassend und aktuell Andreas Ohlemacher: Lateinische Katechetik der frühen lutherischen Orthodoxie. Göttingen 2010, bes. S. 27–43 und 89–92. Für die Reformierten vgl. den bereits erwähnten Sammelband von Schilling/Ehrenpreis (Hg.): Frühneuzeitliche Bildungsgeschichte der Reformierten. Darin besonders die Aufsätze von Leendert F. Groenendijk: „Die reformierte Kirche und Schule in den Niederlanden während des 16. und 17. Jahrhunderts“, S. 47–74; Dirk Van Miert: „The Reformed Church and Academic Education in the Dutch Republic (1575–1686)“, S. 75–95; Stefan Ehrenpreis: „Das Schulwesen reformierter Minderheiten im Alten Reich 1570–1750: Rheinische und fränkische Beispiele“, S. 97–124. Für den Unterricht im Katholizismus im deutschsprachigen Raum vgl. Gabriele Pieri: „Obrigkeitliche Erziehungsbemühungen auf der Grundlage des Katechismus“, in: Katholische Schulbildung in der Frühen Neuzeit, S. 71–108. Für Frankreich vgl. Karen E. Carter: Creating Catholics. Catechism and Primary Education in Early Modern France. Notre Dame 2011. Ferner Sylvia Schraut: „Mädchenbildung im katholischen Raum“, in: Sylvia Schraut und Gabriele Pieri (Hg.): Katholische Schulbildung in der Frühen Neuzeit. Vom „guten Christenmenschen“ zu „tüchtigen Jungen“ und „braven Mädchen“. Darstellung und Quellen. Paderborn 2004, S. 13–70.

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Die Ethik als eine konfessionell relevante Disziplin springt schon allein wegen der in der Frühen Neuzeit gängigen Unterscheidung zwischen einer theologischen und philosophischen Ethik ins Auge. Denn hieran wird deutlich, dass die Ethik sozusagen zwischen zwei Reichen vermittelt: Auf der einen Seite gibt es das durch den christlichen Glauben geprägte religiöse Leben mit seinen spezifischen Tugenden Glaube, Liebe, Hoffnung und einem „jenseitigen“ Ziel (das ewige Leben). Auf der anderen Seite steht das an dieser „irdischen“ Welt orientierte Leben mit seinen „weltlichen“ Tugenden Tapferkeit, Gerechtigkeit, Besonnenheit und einem „diesseitigen“ Ziel (tugendhaft zu leben). Wie die Ethik zwischen diesen beiden Reichen vermittelt, lässt, so lautet meine These, die konfessionellen Differenzen sichtbar werden. Genau an dieser Stelle stellt sich nämlich die alte Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Theologie bzw. von theologischer und philosophischer Ethik.10 Praktisch jede Ethik dieser Zeit setzte sich einleitend mit dieser Frage auseinander. Aus heutiger Sicht lässt sich die Frage so formulieren: Welche Funktion gestanden die Konfessionen der Ethik – und hier muss man konkreter von der aristotelischen als der führenden Ethik sprechen – zu? Dahinter stand das alte Problem von Athen und Jerusalem: Kann die heidnische Ethik Grundlage des Unterrichts an den christlichen Schulen sein, oder ist sie nicht vielmehr – in den Worten Martin Luthers – der „Gnade schlimmster Feind“ und damit zu verwerfen?11 Jede Ethik, die für den Schul- oder Universitätsunterricht verfasst wurde, musste eine Antwort auf diese Frage geben. Nachfolgend soll gezeigt werden, dass sich hierbei spezifische Unterschiede ausbildeten, die es gerechtfertigt erscheinen lassen, von konfessionell geprägten Ethiken zu sprechen. Ziel meines Beitrags ist also ein Vergleich der Ethiklehrbücher verschiedener protestantischer Konfessionen des frühen 17. Jahrhunderts zur 10 Eine Übersicht der philosophischen Ethik der Lutheraner an den Universitäten bietet Salatowsky: „Dic cur hic? Die philosophische Ethik der Lutheraner im frühen 17. Jahrhundert“, in: Bochumer Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter 11 (2006), S. 103–158. Vgl. ferner grundlegend Ottmar Dittrich: Geschichte der Ethik. Die Systeme der Moral vom Altertum bis zur Gegenwart. 4. Bd., Teil I: Die Reformatoren und der lutherisch-kirchliche Protestantismus. Leipzig 1932, bes. S. 285–292. Dort wird auch der Zusammenhang zur theologischen Ethik ausführlich dargestellt (a.a.O., S. 292–460). Der geplante zweite Teil zum Katholizismus der Frühen Neuzeit ist nicht mehr erschienen. Eine knappe Übersicht für die in Frage stehende Epoche bietet Jan Rohls: Geschichte der Ethik. Tübingen 21999, S. 291–316. Zum humanistischen Verständnis der Ethik vgl. Thomas Leinkauf: Grundriss der Philosophie des Humanismus und der Renaissance (1350–1600). Hamburg 2017, S. 605–795. Für die Renaissancephilosophie vgl. Jill Kraye: „Moral Philosophy“, in: Charles B. Schmitt u.a. (Hg.): The Cambridge History of Renaissance Philosophy. Cambridge 1988, S. 303–386. 11 Martin Luther: „Disputatio contra scholasticam theologiam“ (1517), in: WA 1, S. 226,10: „Tota fere Aristotelis Ethica pessima est gratiae inimica.“ Diese Ansicht führte wenig später in der Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung (1520) zur Verwerfung der aristotelischen Ethik. Vgl. WA 6, S. 457,35–458,17: „Hie were nu mein rad, das die bucher Aristoteles, Phisicorum, Metaphysice, de Anima, Ethicorum, wilchs biszher die besten gehalten, gantz wurden abthan mit allen andern, die von naturlichen dingen sich rumen […]. Desselben gleichen, das buch Ethicorum, erger den kein buch, stracks der gnaden gottis und Christlichen tugenden entgegen ist, das doch auch der bestenn einis wirt gerechnet. O nur weyt mit solchen buchern von allen Christen!“

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Beantwortung der Leitfrage, ob und wenn ja, in welcher Weise die frühneuzeitliche Schule als konfessioneller Resonanzraum anzusehen ist. Ich beschränke mich in diesem Vortrag auf die Gymnasien bzw. Höheren Schulen im deutschsprachigen Einzugsgebiet. Zu den Protestanten rechne ich hierbei neben den Lutheranern und Reformierten auch die Sozinianer. Dass die Katholiken hier unberücksichtigt bleiben, ist allein der Tatsache geschuldet, dass die Ethik bei ihnen kein Teil des philosophischen Curriculums an den Schulen gewesen ist. Dies belegt z.B. der Cursus philosophicus Thomisticus des Dominikaners Johannes A Sancto Thoma (Jean Poiset, 1589–1644), der aus dem Aristotelesʼ Gesamtwerk nur die Logik, Physik, Himmelskunde (De coelo & mundo), Naturkunde (De generatione & corruptione) und Psychologie, nicht aber die Ethik und in diesem Falle auch nicht die Metaphysik umfasste.12 Dieser Sachverhalt gilt auch für den Jesuitenorden. So hat Ulrich Leinsle im Blick auf Dillingen festgestellt: „Die Ethik fällt in den Dillinger akademischen Disputationen kaum ins Gewicht. An Jesuitenuniversitäten galt sie – im Unterschied zur humanistischen Hochschätzung – zumindest ab der Ratio studiorum von 1599 offiziell als Nebenfach, das in Dillingen meist vom Mathematiker mitversorgt wurde und – von Ausnahmen abgesehen – nicht das Recht eigener Disputationen hatte.“13 Dieser Befund gilt nicht nur für Dillingen, sondern gleichermaßen für Ingolstadt, Mainz, Erfurt und andere katholische Territorien, und er macht verständlich, warum sich im Katholizismus praktisch keine für den Schulunterricht verfassten Lehrbücher bzw. Disputationsreihen zur Ethik finden lassen. Immerhin bietet uns die von Leinsle erwähnte Studienordnung der Jesuiten einen Anhaltspunkt, in der der Unterricht für die Schulen und Hochschulen verbindlich geregelt wurde. In der Ausgabe von 1599 heißt es zum Beispiel, dass der Ethikprofessor nicht zu den theologischen Fragen abschweifen dürfe, sondern kurz, gelehrt und gründlich die Hauptstücke der Moralwissenschaft anhand der Nikomachischen Ethik des Aristoteles erklären solle.14 Diese Vorgabe bestätigt die Vermutung, dass die philosophische Ethik an den katholischen Schulen wenn überhaupt, dann nur sehr rudimentär unterrichtet wurde und stets von der Moraltheologie abhängig blieb.15 Für diese Entscheidung spielten sicherlich zwei Gründe eine

12 Vgl. Johannes A Sancto Thoma: Cursus philosophicus Thomisticus secundum exactam, veram & genuinam Aristotelis & Doctoris Angelici mentem, & in diversas partes distributas. Lyon 1678. Neue Ausgabe: Turin 1930. 13 Ulrich Leinsle: Dilinganae Disputationes. Der Lehrinhalt der gedruckten Disputationen an der Philosophischen Fakultät der Universität Dillingen 1555–1648. Regensburg 2006, S. 464. 14 Vgl. Georg Michael Pachtler S.J. (Hg.): Ratio Studiorum et Institutiones Scholasticae Societatis Jesu. Tomus II. Ratio Studiorum ann. 1586. 1599. 1832. Berlin 1887, S. 344: „Regulae Professoris Philosophiae Moralis. 1599. Intelligat, sui instituti nequaquam esse, ad Thelogicas quaestiones digredi, sed progrediendo in textu breviter, docte et graviter praecipua capita scientiae moralis, quae in 10 libris Ethicorum Aristotelis habentur, explicare.“ Zur Ratio Studiorum vgl. Paul Richard Blum: Philosophenphilosophie und Schulphilosophie: Typen des Philosophierens in der Neuzeit. Stuttgart 1998, S. 146–158. 15 So auch Blum: Philosophenphilosophie, S. 164: „[…] die schwache Auseinandersetzung [der katholischen Orden] mit der Nikomachischen Ethik, der Ökonomik und der Politik ist durch

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Rolle: Zum einen gab es seit Aristoteles Diskussionen darüber, ob die Jugend aufgrund ihrer affektiven Grundstimmung überhaupt der geeignete Zuhörer für die Ethik sei. Zum anderen war die christliche Ethik mit ihrem Dekalog und der Bergpredigt, dem Gottesdienst und der Beichte sowie der Kirche als Institution so präsent, dass man die Notwendigkeit eines Unterrichts einer eigenständigen philosophischen Ethik an den Schulen gar nicht erkannte.16 Ganz anders sahen dies die Protestanten. Seit der Wiedereinführung der aristotelischen Ethik durch Philipp Melanchthon (1497–1560) in den 1520er Jahren17 war und blieb sie ein fester Bestandteil des Unterrichts an den Schulen und Universitäten auf reformierter, lutherischer und sozinianischer Seite. Überall wurde man nicht müde, den unschätzbaren Wert der Ethik für das menschliche Leben zu betonen. So hat der reformierte Philosoph und Theologe Markus Friedrich Wendelin (1584– 1652), der seit 1612 als Rektor am Gymnasium Illustre in Zerbst18 tätig war, in seiner 1646 veröffentlichten voluminösen Philosophia moralis alle gängigen Bilder zusammengeführt, mit denen man die Ethik gemeinhin auszeichnete: Sie sei die Führerin und Lenkerin des menschlichen Lebens, die Erforscherin der Tugend und Vertreiberin der Laster, die Lehrerin der Sitten und Disziplin, das Tor der Gestrandeten usw.19 Stets hob man ihre Bedeutung für das Leben des Einzelnen und für die

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die Ausgrenzung aus der Philosophie zu erklären: Der Standard-Kursus der katholischen Philosophie enthält diese Fächer nicht, sie werden als Moraltheologie und anlässlich der Kommentierung der Summe des Thomas von Aquin in der Theologie behandelt, sofern sie nicht der Seelenlehre zugeordnet werden.“ Das bedeutet natürlich nicht, dass nicht viele Katholiken gerade im 16. und frühen 17. Jahrhundert bedeutende Werke zur philosophischen Ethik veröffentlicht hätten. Ich erwähne hier nur Francesco Piccolominis Universa philosophia de moribus von 1583, die auch im Protestantismus zu einem Standardwerk avancierte. Seit 1527/28 hielt Melanchthon Vorlesungen zur aristotelischen Ethik, ehe er später auch eigene systematische Abhandlungen – teils in mehreren Überarbeitungen – veröffentlichte. Vgl. u.a. Philipp Melanchthon: Enarrationes aliquot librorum Ethicorum Aristotelis. Wittenberg 1529. Hier wurden zunächst nur die ersten beiden Bücher der Nikomachischen Ethik kommentiert, später (ab 1532) kamen noch das dritte und fünfte Buch hinzu. Ders.: Philosophiae moralis epitome. Wittenberg 1538; ders.: Ethicae doctrinae elementa. Wittenberg 1550. Eine knappe Beschreibung der verschiedenen Ausgaben bietet Jill Kraye: „Melanchthons ethische Kommentare und Lehrbücher“, in: Jürgen Leonhardt (Hg.): Melanchthon und das Lehrbuch des 16. Jahrhunderts. Rostock 1997, S. 195–214. Vgl. Joachim Castan: Hochschulwesen und reformierte Konfessionalisierung. Das Gymnasium Illustre des Fürstentums Anhalt in Zerbst, 1582–1652. Halle an der Saale 1999. Castan beschreibt sehr anschaulich unter Berücksichtigung einer reichen Quellenbasis die Schulbildung in Zerbst im Spannungsfeld von Politik und Konfessionalisierung. Vgl. Markus Friedrich Wendelin: Philosophia moralis, praeceptis succinctis methodice comprehensa. Frankfurt am Main [11647] 1665, dedicatio, S. 6: „Quanta enim ista [sc. philosophia moralis] vitae humanae ducem & moderatricem, virtutis indagatricem & vitiorum expultricem esse: urbes peperisse: dissipatos homines in vitae societatem convocasse: leges invenisse; magistram morum & disciplinae, asylum periclitantium & portum naufragorum esse, animum firmare & fabricare: facienda & omittenda demonstrare: ad gubernaculum sedere & per ancipitia fluctuantium cursum dirigere.“ Wendelin wurde von Fürst Johann Georg I. von Anhalt-Dessau (1567–1618) berufen, um dessen „reformierte Konfessionalisierungspolitik“ (Castan: Hochschulwesen, S. 99) am Gymnasium durchzusetzen. Das bedeutete im Einzelnen: „Wendelin

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Gesellschaft im Ganzen hervor. Gerade im Blick auf die Schüler sprach man von der Ethik als alma mater, die sie in allen Tugenden unterrichte.20 Dieser Nutzen ließ auch keinen Zweifel daran aufkommen, dass die Jugend tatsächlich in der Ethik zu unterrichten sei. Gegen die Ansicht von Aristoteles, die Jugend wegen ihrer Unreife und fehlenden Erfahrung vom Ethikunterricht auszuschließen, hielten Wendelin und die meisten Lehrer dieser Zeit daran fest, dass ihr zum Zwecke der Übung und Schulung nichts notwendiger sei als eben dieser Unterricht.21 Gerade sie sei in das theatrum virtutum einzuladen, in dem sie nicht nur die Theorie, sondern auch die Praxis, die Handlungen und Taten der Heroen aus der Geschichte in lebendigen Farben geschildert und zur Nachahmung empfohlen bekomme. Denn leicht, um noch einmal Wendelin zu zitieren, fließt die Tugend in die Seelen der Schüler, wenn sie durch Lehren und zugleich durch Beispiele von tugendhaften Personen anempfohlen wird. Die Protestanten bewahrten damit die wichtige Erkenntnis, dass die ethische Ausbildung der Schüler der Schlüssel für eine funktionierende Gesellschaft sei. Auf dieser ganz basalen Ebene waren sich alle Protestanten über den Wert der Ethik einig. Die konfessionellen Differenzen zwischen ihnen werden erst dann sichtbar, wenn man sich der Verhältnisbestimmung von Theologie und Ethik zuwendet, was der eigentliche Gegenstand meines Beitrags ist. Zuvor gilt es, die Auswahl der Quellen, bei denen es sich, wie gesagt, ausschließlich um für den Schulunterricht verfasste Werke handelt, zu begründen. 2. QUELLEN UND METHODIK Ich beginne mit den Reformierten. Ich stütze mich hier insbesondere auf die Schrift Philosophiae practicae systema methodicum22 von Clemens Timpler (1563/4– bereitete dem irenischen Philippismus und den vagen reformierten Ansätzen unter [Gregor] Bersman ein jähes Ende. Er brachte neuen calvinistischen Kampfgeist in die Schule […].“ (Ebd.) Dazu gehörte vor allem die Einführung des Heidelberger Katechismus, aber auch der ramistischen Methodik im Rahmen der Dialektik und Logik (vgl. a.a.O., S. 277–293). Melanchthon sollte dagegen mit seinen Schriften aus dem Unterricht verschwinden. Dies scheint allerdings nicht konsequent durchgesetzt worden zu sein, denn seine Ethik blieb zusammen mit der Nikomachischen Ethik von Aristoteles weiterhin Grundlage des Unterrichts (vgl. a.a.O., S. 247). Wendelins eigene philosophische Ethik kam zu spät. Über ihre Wirkungen äußert sich Castan nicht, da sie außerhalb seines Untersuchungszeitraums liegt. 20 Vgl. Daniel Halbach: Collegium ethicum doctrinam Aristoteleam de moribus viginti quatuor disputationibus succincte comprehendens. Königsberg 1618, praef., S. A2v: „Haec [sc. philosophia practica] enim est alma ista mater, quæ liberis, id est, cultoribus suis, justitiam, mansuetudinem, comitatem, caeterasque virtutes instillat: haec beate vivere docet, haec homines conjungit, civitates instituit, regna stabilit; nec quicquam boni aut sancti cogitari potest, quod non ex hac Philosophia, tanquam e perenni fonte, in societatem humanam sese diffundat: haec sola humanae vitae vere vitam reddit, hancque a brutorum animantium vita separat ac discernit.“ 21 Vgl. Aristoteles: NE I 3, 1095a2–13. Dagegen Wendelin: Philosophia moralis, ep. ded., S. 20f. Gleichlautende Begründungen findet man in nahezu allen Disputationsreihen. 22 Vgl. Clemens Timpler: Philosophiae practicae systema methodicum; in tres partes digestum: In quo universa probe honesteque vivendi ratio tam generatim, quam speciatim per praecepta & quaestiones breviter ac perspicue explicatur & probatur, pars prima; complectens ethicam

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1624),23 die er 1608 in seiner Funktion als Professor der Philosophie am Gymnasium Illustre Arnoldinum in Steinfurt24 publiziert hat. In der Widmungsepistel betonte er, dass er hier den Lesern dieselbe Lehre präsentiere, die er in seinen Vorlesungen den Schülern am Gymnasium vorgetragen habe.25 Daneben werde ich das Werk Systema ethicae26 von Bartholomäus Keckermann (1572/3–1609)27 berücksichtigen, das er 1607 im Nachgang zu seinen am Danziger Gymnasium28 gehaltenen Vorlesungen zur Ethik veröffentlichte. Wir haben damit zwei wichtige reformierte Werke zur philosophischen Ethik vorliegen, die aus dem Schulunterricht und für ihn verfasst worden sind.

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generalem, libris IV. pertractatam. Hanau 1608. Weitere Auflagen folgten 1612 in Hanau und 1625 in Frankfurt am Main. Timpler besuchte zunächst die Schule in seinem Geburtsort Stolpe, ehe er um 1580 für kurze Zeit auf die Landesschule in Pforta wechselte. Noch im selben Jahr begann er ein Studium der Philosophie und Philologie in Leipzig, das er 1589 mit dem Abschluss eines Magisters beendete. Zwischendurch studierte er sowohl am Gymnasium Illustre Anhaldinum in Zerbst als auch in Italien. Anschließend war er an der philosophischen Fakultät in Leipzig als Privatlehrer beschäftigt, ehe er 1592 wegen seiner Weigerung, die Konkordienformel zu unterschreiben, entlassen wurde. Er ging daraufhin an die reformierte Hochschule in Heidelberg, wo er Theologie studierte, aber auch an der philosophischen Fakultät unterrichtete. Einer seiner Schüler war Bartholomäus Keckermann. Schließlich wurde er 1595 Philosophieprofessor am Gymnasium Illustre Arnoldinum in Steinfurt, wo er bis zum Lebensende tätig war. Zu Timplers Leben und Werk vgl. umfassend Freedman: European Academic Philosophy in the Late Sixteenth and Early Seventeenth Centuries. The Life, Significance, and Philosophy of Clemens Timpler (1563/4–1624). 2 Vols. Hildesheim u.a. 1988, S. 7–45, zur Ethik S. 326–350. Zur Schule vgl. Willem Frijhoff: „Die Bedeutung der Hohen Schule zu Steinfurt im Universitätsraum der östlichen Niederlande im 16. und 17. Jahrhundert“, in: Symposion 400 Jahre Hohe Schule Steinfurt. Steinfurt 1991, S. 18–35. Vgl. Timpler: Philosophiae practicae systema, epist. ded., S. 6r. Vgl. Bartholomäus Keckermann: Systema ethicae, tribus libris adornatum & publicis praelectionibus traditum in Gymnasio Dantiscano. Hanau 1607. Weitere Auflagen folgten 1610, 1613, 1619 sowie 1625. Keckermann besuchte zunächst in seiner Heimatstadt Danzig eine Lateinschule, ehe er 1587 auf die dortige Akademie wechselte. Seit 1590 studierte er Philosophie in Wittenberg, ab 1592 in Leipzig. Im Zuge der Auseinandersetzungen um den Kryptocalvinismus in Sachsen wechselte er an die Universität nach Heidelberg, wo er 1595 den Abschluss erwarb. Anschließend folgten wechselnde Funktionen in Heidelberg. So wurde er 1597 Lehrer am dortigen Collegium Sapientium, wenig später Professor für Hebräisch. Schließlich berief man ihn 1602 als Professor für Philosophie an das akademische Gymnasium in seiner Heimatstadt. Zu Keckermanns Leben und Werk vgl. Joseph S. Freedman: „The Career and Writings of Bartholomew Keckermann (d.1609)“, in: Proceedings of the American Philosophical Society 141, no. 3 (1997), S. 305–364. Erneut abgedruckt in: Freedman: Philosophy and the Arts in Central Europe, 1500– 1700. Teaching and Texts at Schools and Universities. Aldershot 1999, Text VIII. Anlässlich des 450. Jubiläums des Gymnasiums erschien ein mehrbändiges Werk zur Geschichte: Edmund Kotarski (Hg.): Gdańskie Gimnazjum Akademickie. Danzig 2008–2012. Vgl. ferner den knappen Artikel von Dariusz M. Bryćko: „The Danzig Academic Gymnasium in Seventeenth-Century Poland“, in: Jordan J. Ballor u.a. (Hg.): Church and School in Early Modern Protestantism. Studies in Honor of Richard A. Muller on the Maturation of a Theological Tradition. Leiden u.a. 2013, S. 339–346.

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Für Timplers Ethik29 sprechen die folgenden Gründe: Sie diente nicht nur in Steinfurt, sondern auch am Hanauer Gymnasium als Grundlage des Unterrichts, wo Timplers ehemaliger Schüler Johann Rudolf Lavater (1579–1625) als Rektor tätig war.30 Auch die Tatsache, dass diese Ethik bis 1625 insgesamt drei Auflagen erlebte, spricht dafür, dass wir es hier mit einem reformierten Standardwerk zu tun haben. Schließlich war Timpler mit seiner Ethik einer der Hauptgegner der lutherischen Philosophen, sodass an ihr die konfessionellen Differenzen des Unterrichts verdeutlicht werden können. Der Konflikt entzündete sich hierbei gerade an der Frage nach dem Verhältnis von Ethik und Theologie. Insbesondere die Tugendlehre sowie die Bestimmung des summum bonum sorgten für interkonfessionelle Differenzen, und zwar nicht nur zwischen den Reformierten und Lutheranern, sondern auch zwischen den Protestanten und Katholiken. Hierauf werde ich weiter unten zurückkommen. Nach meinen Recherchen stammt der größte Quellenbestand zur philosophischen Ethik an den Schulen im deutschsprachigen Raum von den Lutheranern, was auf eine entsprechend hohe Bedeutung dieser Disziplin für die Gesellschaft schließen lässt. Ich nenne nachfolgend einige Beispiele von gedruckten Disputationsreihen zur Ethik an deutschsprachigen Gymnasien: Die Theses de principiis philosophiae moralis von 1606 sowie weitere Disputationen31 unter dem Präses Zacharias

29 Nachfolgend eine Übersicht des Inhalts von Timplers Ethik, wie er sich so oder auf ähnliche Weise in den meisten aristotelischen Schulbüchern der Zeit findet: Liber primus: De natura partim philosophiae practicae, partim ethicae, partim virtutis moralis in genere. [Cap.] I. De natura philosophiae practicae. II. De natura ethicae, & virtutis moralis in genere. III. De causis virtutis moralis. IV. De subiecto virtutis moralis. V. De adjunctis virtutis moralis. VI. De effectis virtutis moralis in genere. VII. De iis, quae virtuti morali sunt opposita. Liber secundus: De virtutibus moralibus, quas homo partim erga Deum, partim erga seipsum principaliter exercere debet. I. De divisione virtitus moralis, & speciatim de pietate. II. De probitate. III. De autarkeia. IV. De temperantia. V. De fortitudine. VI. De modestia. VII. De parsimonia. VIII. De vigilantia. IX. De sedulitate. Liber tertius: De virtutibus moralibus, quas homo erga alios homines potissimum exercere debet, itemque virtus heroica. I. De mansuetudine. II. De humilitate. III. De concordia. IV. De sinceritate. V. De civilitate & gravitate. VI. De humanitate & urbanitate. VII. De taciturnitate. VIII. De verecundia. IX. De liberalitate. X. De justitia. XI. De virtute heroica. Liber quartus: De actionibus hominum moralibus, quatenus sunt morales. I. De definitione actionum moralium. II. De principiis actionum moralium. III. De distributione actionum moralium. 30 Vgl. Timpler: Philosophiae practicae systema, epistola dedicatoria, S. 6r und 7r. Dort der Hinweis auf Lavater. Ob Timplers Ethik auch an anderen reformierten Schulen Verwendung fand, bedarf noch weiterer Untersuchungen. 31 Vgl. Zacharias Schefter: Theses de principiis philosophiae moralis, seu lege naturae & ratione practica. Coburg 1606; ders.: Corona virtutum moralium. Coburg 1607; ders.: Theses de felicitate hominis in hac vita. Coburg 1607; ders.: Theses de iure in genere ad V. Ethicorum. Coburg 1607. Alle vier Exemplare der FB Gotha (Sign.: P 8° 3928 (8-12)) enthalten persönliche Widmungen an den Gothaer Schuldirektor Andreas Wilke (1562–1631). Ab 1608 hielt Schefter eine weitere Disputationsreihe zur Ethik: Exercitationum ethicarum prima (-duodecima). Coburg 1608. Schließlich folgte 1617 eine letzte Übungsserie: Exercitationum ethicarum prima (-quinta). Coburg 1617/18.

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Schefter (1568–1626)32 in Coburg; die Disputatio praeambularis, Ethica, Oeconomica, et Politica aus den Jahren 1624/2533 unter dem Vorsitz von Andreas Frommann (1592–1666)34 ebenfalls in Coburg; die Disputationes ethicae von 162935 unter dem Präses Martin Leuschner (1598–1641)36 in Stettin; das Gymnasium ethicum von 1632/3337 unter dem Vorsitz von Georg Andreas Fabricius (1589–1645)38 in 32 Der in Schwaan (Mecklenburg) geborene Schefter hat Philosophie, Philologie und Theologie u.a in Jena bei Georg Mylius (1548–1607) studiert. Dort präsidierte er 1602 eine Disputation De actione morali in genere. Im selben Jahr wurde er Conrektor in Coburg. 1605 ernannte man ihn zum Professor am neugegründeten Gymnasium Illustre, dem Casimirianum, unter Herzog Johann Casimir von Sachsen-Coburg (1564–1633). Er unterrichtete vor allem die Ethik. 1616 wurde er dort Direktor und war auch verantwortlich für die Durchführung der Feierlichkeiten zum ersten Reformationsjubiläum 1617. Später unterrichtete er daneben Physik und Astronomie. 1620 folgte er einem Ruf als Professor für Ethik an das Akademische Gymnasium nach Hamburg. Auch hier unterrichtete er weitere Fächer wie Physik, Metaphysik und Mathematik. Er verstarb 1626. Unter Schefter entwickelte sich das Coburger Gymnasium zu einem Ort bedeutender Pädagogen, unter ihnen die später berühmten Theologen Johann Gerhard (1582– 1637) und Johann Matthäus Meyfart (1590–1642). 33 Vgl. Andreas Frommann: Disputatio praeambularis, Ethica, Oeconomica, et Politica. Coburg 1624–1625. 34 Frommann, in Coburg geboren, besuchte zunächst die dortige Schule, ehe er 1607 auf das neugegründete Gymnasium wechselte. 1611 begann er sein Studium der Philosophie und Medizin noch in Coburg. 1612 wechselte er nach Jena, wo er bereits ein Jahr später Bakkalaureus und 1615 Magister wurde. Anschließend begab er sich auf eine kleine peregrinatio academica nach Gießen. 1616 erhielt er den Ruf als Professor der Logik ans Casimirianum. Später unterrichtete er auch Ethik und Physik. 1633 wurde er zum Direktor des Gymnasiums ernannt. Nach dem Weggang von Meyfart unterrichtete er auch Theologie. Er verstarb 1666 in Coburg. Die Leichenpredigt hielt Johann Hoffmann: Verorum christianorum hujus et illius vitae clarissima nec non certissima conditio […] bey gar volckreicher und ansehlicher Leich-Begängnis des weiland […] hochgelahrten Herrn M. Andreae Frommanns. Coburg 1666. 35 Vgl. Martin Leuschner: Disputationum ethicarum prima (-nona). Stettin 1629; ders.: Tetras disciplinarum philosophicarum, hoc est, Logicae, Physicae, Ethicae, et Politicae; ut et aliae nonnullae quaestiones & controversiae Philosophicae, ex varijs Disciplinis desumptae. Stettin 1633. 36 Von Leuschners Biographie ist nur noch wenig bekannt. In Meißen geboren, wurde er 1621 Professor der Rhetorik, später dann der Philosophie und schließlich Rektor am Gymnasium in Stettin. In dieser Eigenschaft unterrichtete er alle philosophischen Disziplinen mit Ausnahme der Metaphysik. Er verstarb 1641. 37 Vgl. Georg Andreas Fabricius: Gymnasium ethicum, viro bono cuilibet vitae praeparando, quindecim exercitationibus instructum, et nobilium atque ingenuorum juvenum industria perpentatum frequentatumque. Mühlhausen 1632–1633. Das Gothaer Exemplar (FB Gotha, Theol. 4° 617/1 (3-3p)) ist mit einer persönlichen Widmung an Johann Gerhard versehen. 38 In Herzberg geboren, ging Fabricius am Pädagogium in Göttingen zur Schule und studierte anschließend in Jena und Wittenberg Philosophie und Theologie. 1607 respondierte er zweimal unter Heinrich Velsten (1580–1611) bei Disputationen zur Ethik (De liberalitate et magnificentia. De obiecto virtutum moralium, videlicet affectibus in genere). Von 1612 bis 1626 war er Direktor am Pädagogium in Göttingen. Dort verfasste er die Schrift Thesaurus philosophicus sive tabulae totius philosphiae systema (Braunschweig 1624). Auf dem Titelkupfer sind neben Platon und Aristoteles von den neueren Philosophen sehr bezeichnend Melanchthon und Petrus Ramus (1515–1572) abgebildet. Der Thesaurus umfasst 376 Tabellen für den Unterrichtsgebrauch im Sinne des mnemotechnisch geprägten Ramismus. Überhaupt scheint Fabricius dieser

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Mühlhausen; die erstmals 1635 in Schleusingen veröffentlichte und aus Disputationen hervorgegangene Enzyklopädie Margarita philosophica39 von Andreas Reyher (1601–1673)40 und schließlich die Exercitationes ethicae von 1647/4841 unter dem Vorsitz von Adam Spengler (1612–1665)42 in Berlin. Da ich hier nicht alle

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Art von Philosophie zugeneigt gewesen zu sein. So definierte er die Ethik ganz im Sinne von Ramus als „ars bene beateque vivendi“ (Exercitationes I. De generali ethices constitutione. Mühlhausen 1632, S. A3r). Ich komme auf diesen Sachverhalt gleich im Zusammenhang mit Timpler zurück. – 1626 übernahm Fabricius das Rektorat des Gymnasiums in Mühlhausen. 1633 kehrte er als Rektor ans Pädagogium in Göttingen zurück, wo er 1645 verstarb. Die Leichenpredigt hielt Heinrich Friedekind: Leich-Sermon/ Bey ansehnlicher und Volckreicher Begräbniß des […] Herrn Georg Andreae Fabricii. Goslar 1650. Vgl. Andreas Reyher: Margarita philosophica. Leipzig 51695, S. 657–704. Frühere Auflagen waren in Schleusingen (1635), Nürnberg (1636) und Gotha (1654 und 1669) erschienen. Reyher besuchte bis zum 13. Lebensjahr die Elementarschule in seinem Geburtsort Heinrichs, anschließend die Lateinschule in Suhl. Von 1616 bis 1621 war er Schüler des Hennebergischen Gymnasiums in Schleusingen. Ende 1621 begann er ein Studium der Philosophie in Leipzig, das er 1627 mit dem Magistergrad abschloss. Daneben studierte er auch Altphilologie und Theologie. Nach dem Abschluss arbeitete er als Privatlehrer, ehe er in das philosophische Kollegium der Leipziger Universität aufgenommen wurde. Von 1632 bis 1639 war er Rektor am Gymnasium in Schleusingen. Kurz davor, an das Johanneum nach Lüneburg überzusiedeln, nahm er den Ruf des Herzogs Ernst des Frommen nach Gotha an das dortige Gymnasium Illustre an. Unter ihm wurde die Schule zu einer der innovativsten und angesehensten Bildungsstätten im mitteldeutschen Raum. Er verstarb 1673. Die Leichenpredigt hielt Johann Christian Gotter: Die gewüntschte Veränderung/ Welche sich mit den gläubigen Christen in ihrem Tode zuträget. Gotha 1675. Zu Reyher als Philosophielehrer vgl. einleitend Salatowsky: „Was soll man wissen? Ratke, Reyher und Vockerodt über den Wert des Philosophieunterrichts“, in: ders. (Hg.): Gotha macht Schule. Bildung von Luther bis Francke (Ausst.-Kat.). Gotha 2013, S. 60– 68, insbes. 63–65; ders.: „Zwischen altem und neuem Wissen. Der Astronomieunterricht an den protestantischen Schulen im frühen 17. Jahrhundert“, in: ders. und Karl-Heinz Lotze (Hg.): Himmelsspektakel. Astronomie im Protestantismus der Frühen Neuzeit (Ausst.-Kat.). Gotha 2015, S. 96–105, insbes. 100–103. Vgl. Adam Spengler: Exercitationes ethicae, olim in Gymnasio Berlinensi ventilatae, sive: Ethica exemplaris. Berlin 1647/48. Es handelt sich um insgesamt 14 Disputationen. Weitere Auflagen erschienen 1650 ebendort sowie 1663 in Leipzig. Spengler, in Siebenbrunn bei Markneukirchen im Vogtland geboren, besuchte zunächst eine Schule in Kron-Weissenburg im Elsass, anschließend für drei Jahre das Gymnasium in Speyer, ehe er schließlich in Wittenberg seit 1632 Philosophie und Theologie studieren konnte. Zu seinen Lehrern zählten u.a. Johannes Hülsemann (1602–1661), Jacob Martini (1570–1649), Paul Röber (1587–1651) und Johann Scharff (1595–1660), dessen Lehrbücher Spengler später seinem eigenen Unterricht zugrunde legte. Nachdem er 1641 Adjunkt der philosophischen Fakultät in Wittenberg geworden war, erhielt er noch im selben Jahr den Ruf als Rektor an das berühmte Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin. Dort unterrichtete er in der Prima u.a. auch die Ethik „nach einem von ihm selbst zusammengestellten Vademecum, welches er den Schülern diktierte“ (Lothar Noack: Art. „Spengler, Adam“, in: Ders. und Jürgen Splett: Bio-Bibliographien. Brandenburgische Gelehrte der Frühen Neuzeit. Berlin-Cölln 1640–1688. Berlin 1997, S. 422–430, hier: 424). Auch seine eigenen veröffentlichten Schriften zur Ethik „waren in ersten Linie für den Unterrichtsgebrauch bestimmt“ (ebd.). 1651 übernahm Spengler das Pfarr- und Inspektorenamt zu Wriezen an der Oder. Dort verstarb er 1665. Die Leichenpredigt hielt Christoph Gromann: O Jova Juva! Christlicher Leich-Sermon/ über die wunderschönen Worte Königs Davids. Frankfurt an der Oder 1665.

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Disputationsreihen umfassend vorstellen kann, beschränke ich mich nachfolgend insbesondere auf jene von Frommann, Fabricius und Spengler gehaltenen Übungen, die ein hohes inhaltliches und methodisches Niveau bieten und für die vorliegende Fragestellung einschlägig sind. Mit diesen Übungen, bei denen nicht zuletzt auch die Kunst des Disputierens erlernt wurde, beendeten die Schüler ihre Schullaufbahn, um anschließend an der Universität weiter zu studieren. Ein qualitativer Unterschied zu den Universitäten lässt sich hier kaum feststellen. Auch die konfessionellen Unterschiede werden hier schon bedacht, was für den vorliegenden Zusammenhang natürlich von großer Bedeutung ist. So begann Frommann seine einführende Disputation in die praktische Philosophie mit einer Frage, deren Beantwortung sogleich eine klare Differenz zu Keckermann markierte. Denn auf die Frage, ob die praktische Philosophie der Theologie untergeordnet sei, heißt es: „Wir verneinen das gegen Keckermann.“43 Damit wollte Frommann die Differenz beider Disziplinen besonders betonen, um sogleich jeden Gedanken an eine Angleichung beider zu unterbinden, wie wir später sehen werden. Auch Fabricius stellte in seiner ersten Disputation De generali ethices constitutione von 1632 den alten Verfälschungen der Ethik durch die Stoiker und Epikureer die neuen Verfälschungen durch die Katholiken und Zwinglianer (also den Reformierten) an die Seite. Die Katholiken würden die Ethik mit der Theologie vermischen, woraus ein monströses Ungeheuer von Gesetz und Evangelium entstanden sei. Hinter diesem alten, bereits von Luther geäußerten Vorwurf verbirgt sich der Gedanke, dass die Katholiken das religiöse Feld soweit ausgedehnt hätten, dass kein Platz mehr für weltliches Handeln geblieben sei. Faktisch hat ja die Theologia moralis zumindest an den katholischen Schulen eine Philosophia moralis überflüssig gemacht. Ein ganz anderer, wenn in der Konsequenz auch ähnlicher Vorwurf traf die Reformierten. Sie würden, so Fabricius, sich zu sehr an der heidnischen Ethik orientieren und glauben, dass die Heiden aufgrund der Tugendhaftigkeit ihres Lebens das ewige Leben erreichen würden.44 Hier geht es um den Vorwurf, dass die Reformierten die Ethik zu weit ins Feld der Theologie ausgedehnt hätten, sodass das Eigentümliche der christlichen Ethik überhaupt nicht mehr zum Tragen käme, stattdessen eine Angleichung von Ethik und Theologie zu verzeichnen wäre. Ich werde diese Haltung gleich im ersten Abschnitt anhand von Timplers und Keckermanns Ethik näher beschreiben, die Fabricius hier gewiss im Blick hatte. Ganz selbstbewusst verkündete er dagegen die Haltung der Lutheraner: „Wir versprechen, dass unsere Ethik eine mit diesen Verfälschungen ganz unvereinbare 43 Frommann: Disputatio praeambularis, Corollaria [ohne Paginierung]: „An practica Philosophia subordinata sit Theologiae? Negamus contra Keckerm. […].“ Zum Nachweis vgl. Anm. 66. 44 Vgl. Fabricius: Exercitationum ethicarum prima, de generali ethices constitutione, in Gymnasio Mulhusino proposita. Mühlhausen 1632, S. B4r–v: „Corruptelas Doctrinae qui admiserunt, sunt vel Veteres vel Recentiores. Veteres: ut Stoici cumprimis & Epicuraei. […] Recentiores, sunt Pontificii cumprimis & Zvvingliani. Illi. 1. Philosophiam moralem confundunt cum SS. Theologia: unde monstrosa Chimaera Legis & Evangelij nata est. 2. Hominis Statum fingunt, sine ullo peccato, quem appellant Statum in puris naturalibus: unde Liberum arbitrium in spiritualibus natum est. Hi vero Ethnicos Saniores & Virtutum studiosos, ex eadem vitae Honestate, vitam aeternam consecutos fuisse opinantur.“

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Ordnung hat, und wir verkünden es an dieser Stelle noch einmal ganz laut.“45 Bereits hier wird sichtbar, dass das konfessionelle Moment auch ein Gegenstand der ethischen Ausbildung an den Schulen war. Bei der dritten und letzten Gruppierung handelt es sich um die Sozinianer. Sie waren Anhänger des Antitrinitariers Fausto Sozzini (1539–1604), die später nach seinem Namen benannt wurden, obgleich sie sich selbst lieber polnische Brüder und ihre Bewegung ecclesia reformata minor nannten. Die Sozinianer hatten in Polen ihren Schwerpunkt, wurden allerdings wegen ihrer vermeintlich häretischen Ansichten von den großen Konfessionen verfolgt.46 In Raków verfügten sie über ein eigenes Gymnasium, an dem sie ihren Nachwuchs ausbildeten. Auch hier war die Ethik ein fester Bestandteil des Unterrichts. Leider ist die Quellenlage zu diesem Gymnasium sehr schlecht.47 Ich beschränke mich daher nachfolgend auf die ethischen Schriften des Philosophen und Theologen Johann Crell (1590–1633), der dort von 1616 bis 1621 Schulleiter gewesen ist und neben Logik, Physik und Rhetorik auch Ethik unterrichtete.48 Aus diesem Zusammenhang stammen die für den Schul-

45 Fabricius: Exercitationum ethicarum prima, S. B4v: „A quibus corruptelis ethicam nostram institutionem alienissimam profitemur, & hoc semel hoc loco protestamur.“ 46 Vgl. die beiden jüngsten Publikationen von Salatowsky: Die Philosophie der Sozinianer, und Kęstutis Daugirdas: Die Anfänge des Sozinianismus. Genese und Eindringen des historischethischen Religionsmodells in den universitären Diskurs der Evangelischen in Europa. Göttingen 2016. Als ältere Darstellung ist immer noch lesenswert Otto Fock: Der Socinianismus nach seiner Stellung in der Gesamtentwicklung des christlichen Geistes, nach seinem historischen Verlauf und nach seinem Lehrbegriff. Kiel 1847. ND Aalen 1970. 47 Eine Übersicht des Schulsystems bietet Stanislaw Tync: „Wyzsża Szkoła Braci Polskich w Rakowie: Zarys jej dziejów (1602–1638)“, in: Ludwig Chmaj (Hg.): Studia nad Arianizmem. Warschau 1959, S. 333–389. Zur Pädagogik der polnischen Brüder vgl. Łukasz Kurdybacha: Z dziejów pedagogiki ariańskiej. Warschau 1958. 48 Im Alter von zehn Jahren besuchte Crell von 1600 bis 1603 eine öffentliche Schule in Nürnberg, ehe er dann für zwei Jahre in Stolberg im Harz und anschließend kurze Zeit in Marienberg bei Meißen zur Schule ging, jeweils begleitet von seinem Verwandten und Mentor Johannes Klingius. Von 1606 bis 1612 studierte er Philosophie an der Hohen Schule in Altdorf. Hier besuchte er u.a. die Vorlesungen bei Georg Queccius (1561–1628) zur Ethik, wie aus der Lebensbeschreibung von Joachim Pastorius hervorgeht: „Vita Joannis Crellii Franci“, in: Crell: Opera omnia exegetica. Eleutheropoli [=Amsterdam] 1656 [=1668], S. *1r–*4v, hier: *1v. Zur Ethik in Altdorf im Allgemeinen und zu Queccius im Besonderes vgl. Wolfgang Mährle: Academia Norica. Wissenschaft und Bildung an der Nürnberger Schule in Altdorf (1575– 1623). Stuttgart 2000, S. 316–327. Unter dem Verdacht stehend, dem Calvinismus zuzuneigen, entschloss sich Crell Ende 1612 Altdorf zu verlassen und nach Rákow zu gehen, wo er sich eine größere Gewissensfreiheit erhoffte. Hier wurde er dann 1616 im Alter von nur 26 Jahren zum Rektor der Schule ernannt. Was Crell dort im Einzelnen unterrichtete, lässt sich einem Brief von 1621 an seine Mutter entnehmen: „Denn […] ich muss meinen Discipuln proponirn, Logica, Ethica, Physica, Graeca, Orationes Ciceronis cum analysibus Logicis, auch die Woche zweymahl disputiren, einmahl in Philosophicis, das andermahl in Philologicis […].“ Zitiert nach Gustav Georg Zeltner: Historia Crypto-Socinismi Altorfinae quondam Academiae infesti arcana. Ex documentis maximam partem Manuscriptis ita adornata ut cum historiae illorum hominum illustrandae tum dogmatibus in universum refellendis inservire possit. Leipzig 1729, c. II, § XI, 192. Zu Leben und Werk Crells vgl. Christoph Sand d.J.: Bibliotheca Anti-

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unterricht verfassten, jedoch erst posthum 1635 veröffentlichten Prima ethices elementa in gratiam studiosae juventutis,49 „eine Art ethischer Katechismus in Fragen und Antworten“,50 wie Fock anmerkte. Auffällig ist hier – wie auch in den beiden erst 1650 veröffentlichten Schriften Ethica Aristotelica bzw. Ethica Christiana – das Fehlen jeglicher Diskussionen über das Verhältnis von Theologie und Ethik. Dies überrascht umso mehr, als die Ethica Aristotelica den Untertitel trägt „ad Sacrarum Literarum normam emendata“.51 Ein zweiter Blick zeigt aber, dass für Crell hier gar kein Handlungsbedarf bestand: Die aristotelische Ethik ist für ihn das Fundament der christlichen Ethik. Beide Disziplinen ergänzten sich aufs Beste, sodass es zu gar keinen Konflikten kommen könne. Crell ließ gleichwohl keinen Zweifel, dass erst die christliche Ethik das wahre Ziel des menschlichen Lebens bestimme. Trinitariorum, sive Catalogus Scriptorum, & succincta narratio de vita eorum Auctorum, qui praeterito & hoc seculo, vulgo receptum dogma de tribus in unico Deo per omnia aequalibus personis vel impugnarunt, vel docuerunt solum Patrem D.N.J. Christi esse illum verum seu altissimum Deum. Freistadii [=Amsterdam] 1684. ND Warschau 1967, S. 115–121. Friedrich Samuel Bock: Historia Antitrinitariorum, maxime Socianismi et Socinia-norum. 2 Bde. Leipzig 1774–1784. ND Leipzig 1978, hier: 1/1 Bd., S. 116–158. 49 Vgl. Johann Crell: Prima ethices elementa in gratiam studiosae juventutis. Rakow 1635. Erneut abgedruckt in: Ders.: Opera didactica & polemica. Tomus quartus Irenopoli [=Amsterdam] 1656 [=1668], S. 119–148. Nach dieser Ausgabe wird zitiert. Der in der Regel gut informierte Bock merkte zu dieser Schrift an: „Liber lectionibus Scholasticis destinatus, iam ante eius editionem huic usui inserviit.“ (Historia I 1, S. 156f.) Aus der Vorrede von Petrus Morscovius kann man die Umstände der Entstehung dieser Schulethik entnehmen: „Crellius augustam Ethicae faciem juventuti effigaturus, non unius aut alterius in ponendis ejus lineamentis judicio stetit, sed quod in unoquoque illorum, qui ingenii sui penicillo ipsam depinxerunt, eximium animadvertit, id hîc sibi ponendum & sub uno velut obtutu exhibendum censuit. Atque utinam ille ipse libelli hujus editionem adornasset aut relegisset saltem, & recognoscendo sub incudem decumati judicii sui revocasset omnia, fallor aut habuissent hîc tyrones illud, quod alibi frustra requiras: viam videlicet quae sine ambagibus duceret, & manuductorem, qui ad ipsa divinae Ethices adyta sine nausea perduceret. Sed enim ille faetum hunc, quem ante multos annos effuderat verius, quam enixus erat, vix pro suo agnovit; ut vero tolli curaret nullis amicorum precibus & persuasionibus adduci potuit; certe vitalem futurum, nunquam animo concepit.“ (Morscovius: „Praefatio“, in: Crell: Prima ethices elementa, S. 117) 50 Vgl. Fock: Socinianismus, S. 571. 51 Vgl. Cirelli [=Crell]: Ethica Aristotelica, ad Sacrarum Literarum normam emendata. Ejusdem Ethica Christiana, seu explicatio virtutum et vitiorum, quorum in Sacris Literis fit mentio. Selenoburgi [= Amsterdam] [1650]. Im Anhang wurden noch drei öffentliche Reden Crells abgedruckt: I. De honestatis natura & fonte. II. Cur nec Moses nec Philosophi perfectam virtutem praescribere & constanter urgere potuerint. Et, Cur quaedam ad virtutis perfectionem spectantia non ita praescripserit Deus per Christum, ut ea non assequi cum certa pernicie sit conjunctum. III. De amore sui. Eine weitere Auflage aller Texte erschien 1681 ebenfalls in Amsterdam zusammen mit der letzten Fassung des Rakower Katechismus. Alle Texte wurden auch abgedruckt in: Ders.: Opera IV, S. 149–229 sowie 230–437. Nach dieser Ausgabe wird zitiert. Nach Sand: Bibliotheca, S. 115, wurde die Ethica Christiana 1622 begonnen, bis zu Crells Tod 1633 aber nicht vollendet. 1651 erschien eine holländische Übersetzung unter dem Titel Christelycke Zeede-Konst in Lüneburg. Die Ethica Aristotelica ist die ausführlichere Fassung der Prima ethices elementa. Hier werden ganze Passagen übernommen. Es lässt sich vermuten, dass die Prima ethices elementa für die unteren Schulklassen, die Ethica Aristotelica dagegen für die oberen Schulklassen verfasst worden sind.

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Hieraus ergibt sich die Gliederung des Aufsatzes. Ich beginne mit der Beschreibung der wesentlichen Grundlagen der reformierten Schulethik, ehe ich im zweiten Abschnitt die der lutherischen und im dritten die der sozinianischen Schulethik folgen lasse. Mit dieser dreifachen Dar-, aber auch Gegenüberstellung sollen die charakteristischen Unterschiede der konfessionell geprägten Ethiken dieser protestantischen Bewegungen herausgearbeitet werden. In diesem Zusammenhang werde ich die bereits skizzierten Probleme rund um die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Theologie ausführlicher diskutieren. Nur exemplarisch kann ich hier das weite Feld der Tugenden vorstellen, das einer eigenen Untersuchung wert wäre. Obgleich der Tugendkatalog in den philosophischen Ethiken mehr oder minder gleich ausfällt – man vergleiche nur Timplers und Crells Ethiken miteinander –, so ließe sich gleichwohl fragen, ob die Konfessionen jeweils bestimmte Tugenden besonders betonten oder ihnen eine spezifische Fassung gaben. Da ich diese umfassende Aufgabe hier aus Platzgründen nicht bewältigen kann, beschränke ich mich exemplarisch auf die Tugend der pietas. Gewiss, diese Tugend ist in der Regel überhaupt kein Bestandteil der philosophischen Ethik, handelt es sich doch um eine christliche Tugend, die in der theologischen Ethik zu verhandeln wäre. So hielten es auch die Lutheraner. Keiner der hier berücksichtigen Traktate thematisierte die pietas als Teil der philosophischen Ethik. Auch Crell, der die pietas ausschließlich und hierbei sehr umfassend in seiner Ethica Christiana erörterte, folgte dieser Einschätzung.52 Warum sie dennoch hier verhandelt wird, liegt an Timpler, der sie gleich einleitend im Zusammenhang mit der Einteilung der philosophischen Tugenden zum Gegenstand seiner Überlegungen machte.53 Hier stellt sich die Frage nach Timplers Begründung für diese Abweichung. Zugleich ergibt sich die Möglichkeit einer vergleichenden Analyse des Verständnisses dieser christlichen Kardinaltugend bei den protestantischen Konfessionen. Dies erscheint umso sinnvoller, als der Lutheraner David Vogel (1674–1736) noch 1718 in Königsberg gegen Crells Verständnis der pietas disputierte.54 Auch bei der Beschreibung der einzelnen Tugenden im Rahmen des Schulunterrichts sind also konfessionelle Unterschiede feststellbar. Damit lässt sich ein weiteres Mal die These von der Schule als einem konfessionellen Resonanzraum bestätigen. 3. ANGLEICHUNG VON ETHIK UND RELIGION: DIE REFORMIERTE SCHULETHIK Die reformierte Schulethik knüpfte in ihren frühen Anfängen an Melanchthon und Aristoteles an. Ein Beispiel hierfür liefert der reformierte Philosoph und Theologe Peter Martyr Vermigli (1499–1562), der in seinen Ethik-Vorlesungen zwischen 1554 und 1556 an der Hohen Schule in Straßburg umfassend die ersten drei Bücher 52 Vgl. Crell: Ethica Christiana, l. II, c. VI & VII, S. 294b–300b sowie l. III, c. I–III, S. 301a–316b. 53 Vgl. Timpler: Philosophiae practicae systema, l. II, c. I, q. 10, S. 133f. 54 Vgl. David Vogel: De pietatis fuco et candore, ex 2. Tim. III.1. seqq. Dissertatio secunda exhibens fictitios pietatis gradus unitariorum adversus Crellium. Königsberg 1718.

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der Nikomachischen Ethik kommentierte.55 Hierbei betonte er die Differenzen zwischen den ethischen und theologischen Gründen, Eigenschaften und Prinzipien, insbesondere was das Verständnis des summum bonum betrifft, auch wenn sich hieraus kein direkter Widerspruch ergebe.56 Nicht anders verfuhr der Genfer Gelehrte Lambertus Danaeus (ca. 1535–1590) in seinen Ethices christianae libri tres von 1577, in denen er die christliche Ethik deutlich von der heidnischen Ethik des Aristoteles unterschied, indem er sie von Anfang an im Wort Gottes verortete und so das Spannungsfeld zwischen Gesetz und Ethik markierte.57 Während also die Heiden keinen gewissen Ausgangspunkt für ihre Ansichten finden und im Streit über alles liegen, gründet sich das Urteil des bereits „reformierten und gereinigten“ christlichen Gewissens auf den festen Glauben und im Wort Gottes, aus dem dessen Erkenntnis erwächst. Nur der Christ kennt daher die wahren Tugenden und Laster bzw. Sünden (während der Philosoph nur den Schatten nachjagt), kennt das wahre summum bonum (nämlich das zukünftige Leben) und kann die Affekte angemessen gebrauchen.58 Ähnlich wie Vermigli betonte also auch Danaeus das Eigene der christlichen Ethik, die sich durch die Grundlegung im Wort Gottes in wesentlichen Punkten von der heidnischen Ethik des Aristoteles unterscheide. Es ist interessant zu sehen, dass Clemens Timpler diese schroffe Gegenüberstellung von christlicher und heidnisch-aristotelischer Ethik nicht beibehielt, sondern eine deutliche Annäherung beider Ethiken vornahm. Dies wird schon daran ersichtlich, dass er die Philosophie insgesamt für ein „Geschenk Gottes“59 hielt, das 55 Der Kommentar wurde erst posthum ediert. Peter Matyr Vermigli: In primum, secundum et initium tertii libri Ethicorum Aristotelis ad Nicomachum […] commentarius doctissimus. Zürich 1563. 56 Vgl. hierzu die Nachweise und die Darstellung bei Luca Baschera: Tugend und Rechtfertigung. Peter Martyr Vermiglis Kommentar zur Nikomachischen Ethik im Spannungsfeld von Philosophie und Theologie. Zürich 2008, S. 132–142. 57 Vgl. Lambertus Danaeus: Ethices christianae libri tres, in quibus de veris humanarum actionum principiis agitur. Genf 1577, hier: l. I, c. I, S. 3: „Quanquam autem per universum Dei verbum Ethices Christianae doctrina latissime diffusa est, tamen in lege Dei, quae a veteribus & Graecis Christianis ἠθικη sive φυσικὴ dicta, & a ceremoniali […] itemque a iudiciali […] distinguitur, decemque tantum praeceptis constat, tota haec cognitio continetur. Est autem Ethice Christiana, qualem hîc querimus, qualisque Dei verbo comprehenso est, tum internae, tum externae nostrae sanctitatis i.e. totius vitae nostrae reformationis, qualis esse debet, plena perfectaque institutio & doctrinae.“ Auch diese Schrift entstand als Folge des Unterrichts an der Genfer Akademie, diente also der Unterrichtung der reformierten Studenten. Zur Ethik des Danaeus vgl. umfassend Christoph Strohm: Ethik im frühen Calvinismus. Humanistische Einflüsse, philosophische, juristische und theologische Argumentationen sowie mentalitätsgeschichtliche Aspekte am Beispiel des Calvin-Schülers Lambertus Danaeus. Berlin u.a. 1996, insbes. S. 79–116. Strohm diagnostiziert bei Danaeus einen starken stoischen Einfluss, was hier nicht weiter verfolgt zu werden braucht. 58 Vgl. Danaeus: Ethices christianae libri tres, l. I, c. II, S. 3–7. 59 Timpler: Philosophiae practicae systema, Epist. ded., 2r: „Utraque [sc. theoretica & practica philosophia] eximium & praeclarum Dei immortalis donum est.“ Anschließend folgt eine wahre Lobeshymne auf die Philosophie: „Utraque cultura & medicina animi est perfectionisque humanae dux & magistra: utraque honestissimarum voluptatum nectare mentem hominis perfundit: utraque digna est, in qua excolenda omnes ingenii nervi intendantur plurimumque curae

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der Mensch weder entbehren könne noch dürfe. Mag dies auch eine von den meisten Philosophen und Theologen der Zeit geteilte Ansicht gewesen sein, so gewann sie bei Timpler – wie auch bei Keckermann60 – doch eine eigentümliche Wendung. Sichtbar wird dies an einer strukturellen Gleichbehandlung von Philosophie und Theologie im Rahmen des vorgegebenen Bildungssystems an den Schulen und Universitäten. Dies geschah vor allem durch die Verwendung einer sehr ähnlichen, von der aristotelischen Philosophie her geprägten Begrifflichkeit in beiden Disziplinen. Während Luther eine vorherige „Reinigung“ der philosophischen Begriffe bei ihrer Verwendung in theologischen Zusammenhängen forderte,61 liest man hierüber bei Timpler nichts. Stattdessen heißt es lapidar: Wie die Philosophie ein Streben nach der natürlichen und weltlichen Weisheit ist, so ist die Theologie ein Streben nach der übernatürlichen und himmlischen Weisheit.62 Timpler ging sogar soweit, die Theologie zu den artes liberales zu zählen, zu denen von ihm alle Wissenschaften und Künste gerechnet worden sind. Denn die Theologie bestimmte er teils als System gewisser, aus der Hl. Schrift gesammelter und methodisch angeordneter Vorschriften, teils als eine auf gewöhnlichem Wege, durch das Hören und Lesen des Wortes Gottes gewonnene Kenntnis der heiligen Dinge. Mögen auch ihre Prinzipien sowie die Offenbarung übernatürlich sein, so wird sie dennoch von uns auf ähnliche Weise erworben wie die übrigen Künste. Timpler leugnete also nicht den

& operae collocetur: utraque laudem & gloriam immortalem suis cultoribus conciliat.“ (A.a.O., S. 2r–v) Die Hochschätzung der praktischen Philosophie im Allgemeinen und der Ethik im Besonderen ergibt sich bei Timpler vor allem daraus, dass er sie nachfolgend der theoretischen Philosophie voranstellt: „Iam autem nemo negare potest, nisi rerum notissimarum ignarus sit, Philosophiam practicam magis, quam theoreticam homini esse necessarium & utilem. Haec enim contemplatur res, quae liberae hominis voluntati ac operationi non sunt subiectae […]. Illa vero versatur circa ea, quae homini sunt bona vel mala; non, ut ea homo tantum cognoscat: sed ut mala quidem cognita aversetur & fugiat; bona vero appetat & persequatur.“ (A.a.O., S. 3r) Ohne sie wäre niemand ein guter Mensch, ein guter Familienvater, ein guter Bürger. Keine Familie, keine Gesellschaft und kein Staat könnten ohne sie bestehen. 60 Zum Verhältnis von Philosophie und Theologie bei Keckermann vgl. knapp Salatowsky: Philosophie der Sozinianer, S. 117–121. 61 Vgl. WA 39 I, S. 226,6–19 (Promotionsdisputation von Palladius und Tilemann, 1537): „Scitis, quod physica semper attulit et affert aliquid mali et incommodi theologiae, propterea, quia una quaeque ars habet suos terminos et sua vocabula, quibus utitur, et ea vocabula valent in suis materiis. Iuristae sua habent, medici sua, physici sua. Haec si transferre ex suo foro et loco in aliud volueris, erit confusio nullo modo ferenda. Nam tandem obscurat omnia. Si tamen vultis uti vocabulis istis, prius quaeso illa bene purgate, füret sie mal zum Bade.“ Dahinter stand das Konzept einer neuen, rein biblisch geprägten theologischen Sprache. Zum Zusammenhang vgl. Stefan Streiff: ,Novis linguis loqui‘. Martin Luthers Disputation über Joh 1,14 ›verbum caro factum est‹ aus dem Jahr 1539. Göttingen 1993; Salatowsky: Philosophie der Sozinianer, S. 100f. 62 Vgl. Timpler: Metaphysicae systema methodicum, libris quinque per theoremata et problemata selecta concinnatum. Cui προπαιδείας ἕνεκα in principio accessit eiusdem Technologia; hoc est tractatus generalis et utilissimus de natura & differentiis artium liberalium. Hanau 1612, hier: Technologia, c. III, probl. IV, S. 26 [eigene Paginierung]: „Per Philosophiam vero intelligunt studium sapientiae naturalis & terrenae, qua homo disponitur ad bene contemplandum & agendum. Per Theologiam intelligunt studium sapientiae praeternaturalis & caelestis, per quam homo disponitur ad bene beateque vivendum.“

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übernatürlichen Charakter der Inhalte der Theologie, lehnte aber – anders als die Lutheraner – einen besonderen Habitus für sie ab.63 In seinem berühmten Systema metaphysicae von 1604 hat er den „wesentlichen“ Unterschied64 zwischen Theologie und Metaphysik wie folgt bestimmt: 1. Hinsichtlich der betrachteten Dinge (res considerata): Jene beschäftigt sich mit den heiligen Dingen, diese mit schlechthin allen Dingen. 2. Hinsichtlich der Betrachtungsweise (modus considerandi): Jene betrachtet die heiligen Dinge, insofern sie ein „frommes und glückliches Leben“ bewirken. Diese betrachtet dieselben heiligen Dinge, insofern sie erkennbar sind im Blick auf die Allgemeinbegriffe wie Seiendes, Substanz etc. 3. Hinsichtlich der Prinzipien: Die eigentümlichen Prinzipien der Theologie werden allein durch die göttliche und übernatürliche Offenbarung bekannt. Die eigentümlichen Prinzipien der Philosophie werden durch das natürliche Licht der menschlichen Vernunft erkannt. 4. Hinsichtlich des eigentümlichen Ziels: Während die Theologie auf die Praxis abzielt, d.h. nicht bei der Erkenntnis stehenbleibt, sondern ein frommes und glückliches Leben realisieren will, verharrt die Metaphysik bei der nackten Erkenntnis der heiligen Dinge, wodurch ihr Wissensdrang zur Ruhe kommt.65 Was Timpler hier als eine „wesentliche“ Differenz beschreibt, entpuppt sich gerade nicht als eine strukturelle Differenz zwischen beiden Disziplinen, sondern als eine bloß graduelle. Metaphysik und Theologie bleiben hier so eng miteinander verwoben, dass ein direkter Gegensatz gar nicht vorstellbar ist. Aus Timplers Sicht konnte dies auch nicht anders sein, da ansonsten die Gefahr einer doppelten Wahrheit drohte, die damals immer wieder die Gemüter erhitzte und das Verhältnis zwischen Philosophie und Theologie bedrohte.66 63 Zur Frage nach einem besonderen theologischen Habitus vgl. Salatowsky: „Dic cur hic“, S. 143–148. 64 Vgl. Timpler: Metaphysicae systema, l. I, c. I, probl. 12, S. 16: „An Metaphysica essentialiter differat a Logica, Physica & Theologia sacra?“ Die Frage wird nachfolgend von Timpler bejaht. Zu beachten ist freilich, dass Timpler auch zwischen der Metaphysik auf der einen und der Logik und Physik auf der anderen Seite einen „wesentlichen“ Unterschied sah. 65 Vgl. Timpler: Metaphysicae systema, l. I, c. I, probl. 12, S. 17f.: „Denique a Theologia sacra & supernaturali differt Metaphysica; 1. Re considerata. Illa enim versatur tantum circa res sacras & divinas: Haec vero circa omnes simpliciter res. 2. Modo considerandi. Illa enim res divinas considerat, quatenus faciunt pie beateque vivendum: Haec vero easdem [sic!], quatenus sunt intelligibiles sub conceptu entis, substantiae & similium attributorum. 3. Ratione principiorum. Illius enim principia propria per solam revelationem divinam & hyperphysicam innotescunt. Huius vero naturali rationis humanae lumine cognoscuntur. 4. Fine proprio. Illa enim sua praecepta tradit, non propter solam cognitionem rerum sacrarum & divinarum; sed potius, ut illa cognitione ad pie beateque vivendum utamur: Haec vero in nuda rerum divinarum cognitione, qua naturale sciendi desiderium ex[s]atiatur, acquiescit.“ 66 Vgl. Timpler: Exercitationum Philosophicarum Sectiones X. In quibus quaestiones selectae et utiles, praesertim Metaphysicae, ultra quadringentas, accurate & dilucide discutiuntur & enodantur. Hanau 1618, s. II, qu. XII, S. 51f.: „Cum igitur satis iam probatum sit, Philosophiam veram cum Theologia non pugnare: hinc necessario iam colligitur: verum Philosophicum cum vero theologico ita connexum esse: ut quicquid sit in Philosophia verum, idem etiam in Theologia sit verum: & vice versa: atque ita ex natura oppositorum, quicquid falsum sit, in alterutra etiam in alia sit falsum: denique ut quicquid pugnet cum Theologia, id etiam pugnet cum vera Philosophia: & contra.“ So lautet ganz ähnlich auch Keckermanns Position. Sie schildert

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Ganz ähnlich im Sinne einer bloß graduellen Differenz bestimmte Timpler nun das Verhältnis von philosophischer Ethik und christlicher Theologie. Das wird bereits an ihren beiden Definitionen ersichtlich, die begrifflich ganz ähnlich ausfallen. Die praktische Philosophie bzw. Ethik definierte Timpler als eine „Kunst rechtschaffen und tugendhaft zu leben“ bzw. als Lehre (doctrina), welche die Art und Weise dieses probe et honeste vivere erkläre.67 Damit entfernte sich Timpler von der gängigen Genusbestimmung der Ethik, die von den Aristotelikern in der Regel als ein praktischer Habitus, nämlich als Klugheit (prudentia), und nicht als ein herstellender Habitus, d.h. als Kunst (ars), bestimmt worden ist.68 Die Betonung bei der prudentia liegt auf dem Sich-Eingewöhnen in die ethische Praxis, die nicht in einem einmaligen Akt des Gut-Handelns liegt, sondern in einer feststehenden Haltung, aus der heraus man die einzelnen Handlungen vollzieht. Timpler versuchte dagegen alle Disziplinen unter dem ramistisch verstandenen ars-Begriff zu sammeln, um den System- und Praxischarakter des Philosophierens deutlich zu machen. Die Theologie definierte er wiederum als eine Weisheit (sapientia), die lehrt, wie man auf gottesfürchtige, fromme, christliche und geistige Weise lebt.69 Entscheidend ist hierbei, dass Timpler auch die Theologie als ein habitus moralis acquisitus verstand, d.h. als einen Habitus, der nicht etwa vom Heiligen Geist geschenkt wird, wie die Lutheraner betonten, sondern den man sich durch moralische Handlungen erwirbt. Die Theologie erscheint hier erneut als eine Disziplin, der keine strukturelle Differenz zur Ethik zukommt. In der Tat lässt sich zeigen, dass diese Parallelisierung nachfolgend zu einer Angleichung beider Disziplinen führt, wie sie charakteristisch für Timpler – und auch Keckermann70 – ist. Das belegt zum einen der Vergleich beider Disziplinen, die Timpler wie folgt voneinander unterschied: 1. Hinsichtlich des adäquaten Gegenstands (subiectum tractationis): In der Ethik ist Gegenstand die bereits erwähnte Weise, rechtschaffen

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ausführlich Richard A. Muller: „Vera Philosophia cum sacra Theologia nusquam pugnat: Keckermann on Philosophy, Theology, and the Problem of Double Truth“, in: The Sixteenth Century Journal 15 (1984), S. 341–365. Die Lutheraner, insbesondere Balthasar Meisner, entwickelten – gerade in Auseinandersetzung mit Keckermann und Timpler, aber auch mit dem Helmstedter Daniel Hofmann – eine differenziertere Haltung. Vgl. hierzu Sparn: Wiederkehr der Metaphysik, S. 164–169; ders.: „Doppelte Wahrheit?“; Markus Friedrich: Die Grenzen der Vernunft: Theologie, Philosophie und gelehrte Konflikte am Beispiel des Helmstedter Hofmann-Streits und seiner Wirkungen auf das Luthertum um 1600. Göttingen 2004; Salatowsky: Philosophie der Sozinianer, S. 104–115. Timpler: Philosophiae practicae systema, S. 1: „Philosophia practica est ars probe honesteque vivendi.“ A.a.O., S. 13: „Ethica […] fuit definita, quod sit doctrina modum probe honesteque vivendi in genere explicans.“ Zur habituellen Fassung der Wissenschaften im Aristotelismus vgl. Salatowsky: Philosophie der Sozinianer, S. 62f. Timpler war Aristoteliker genug, um selbst den Habitus-Begriff für die Strukturierung der geistigen Fähigkeiten des Menschen zu verwenden. So verfasste er im Rahmen seiner Exercitationum Philosophicarum Sectiones X eigens eine „Hexiologie“: „Exercitationum philosophicarum sectio III. In qua Hexiologia, hoc est, doctrina generalis, de Habitibus, per quaestiones declaratur.“ (A.a.O., s. III, S. 83) Auch die ars ist in diesem Sinne ein Habitus. Vgl. Timpler: Philosophiae practicae systema, l. I, c. I, S. 7f. Vgl. hierzu Keckermann: Systema ethicae, praec., S. 10–15.

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und tugendhaft zu leben, in der Theologie die Weise, fromm und heilig zu leben. Auffällig ist hierbei, dass Timpler diese Differenz zwischen den beiden Gegenständen nur im Sinne von ,allgemeiner‘ und ,enger‘ verstand, wobei der umfassendere Gegenstand auf Seiten der Ethik liegt: So ist die Rechtschaffenheit (probitas) als Oberbegriff der Frömmigkeit (pietas) zu beschreiben. Für Timpler ist also die Frömmigkeit nicht kategorial verschieden von der heidnischen Weise des Lebensvollzugs, bildet keine eigene Gattung, obgleich er betont, dass die pietas nur den Christen zukomme, die probitas dagegen allen Menschen, selbst den Atheisten. 2. Hinsichtlich des Gegenstands, an dem gehandelt wird, d.h. am Subjekt (subiectum informationis): In der Ethik ist es der tugendhafte Mensch (homo probus & honestus), in der Theologie der fromme Mensch (homo pius & religiosus). Auch hier wird nicht der Eindruck einer kategorialen Differenz erweckt, handelt es sich doch für Timpler um ein und denselben Menschen, an dem gehandelt wird, mag er sich auch verändern. 3. Hinsichtlich des eigentümlichen Ziels (finis proprius & adaequatus): In der Ethik ist das Ziel, rechtschaffen und tugendhaft zu leben (probe honesteque vivere), in der Theologie dagegen, gottesfürchtig und fromm zu leben (pie sancteque vivere). 4. Hinsichtlich des letzten Ziels (finis ultimus): In der Ethik ist das letzte Worumwillen die irdisch-zeitliche Glückseligkeit (felicitas terrena & temporis), in der Theologie die himmlisch-ewige Glückseligkeit (felicitas coelestis & aeterna). 5. Hinsichtlich der eigentümlichen Prinzipien (principia propriae): In der Ethik sind es das Naturgesetz und die Vernunft, in der Theologie die Hl. Schrift als Wort Gottes und der Glaube.71 Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Timpler nicht nur betont, dass die praktische Philosophie den Menschen auf das Studium der wahren Frömmigkeit vorbereite, sodass sie „Erziehung zur christlichen Religion“ genannt werden könne,72 sondern dass er auch die Ansicht, sie könnte der Theologie widerstreiten und den Menschen von der wahren Frömmigkeit wegführen, als „vollkommen 71 Vgl. Timpler: Philosophiae practicae systema, l. I, c. I, S. 8: „His ita praemissis sciendum est Philosophiam practicam differre a Theologia sacra. 1. subjecto proprio & adaequato tractationis, quod in illa est modus probe honestque vivendi praeceptis explicatus; in hac modus pie sancteque vivendi. Haec enim duo subiecta differunt inter se tanquam communius & angustius, non secus ac probitas generaliter accepta, & pietas. Licet enim omnis pietas sit probitas; tamen non omnis probitas est pietas: cum probitas cadat etiam in homines ethnicos & verae religionis ignaros; pietas autem Evangelica & Christiana minime. 2. subiecto informationis, quod in Philosophia practica est homo probus & honestus, sive absolute, sive in societate humana consideratus. In Theologia vero sacra est homo pius & religiosus. 3. fine proprio & adaequato, qui in Philosophia practica est probe honestque vivere, aut saltem explicare modum probe honestque vivendi; in Theologia vero sacra, pie sancteque vivere, aut saltem explicare modum ita vivendi. 4. fine ultimo, qui in Philosophia practica est felicitas terrena & temporalis hominis; in Theologia vero sacra felicitas coelestis & aeterna. 5. principiis propriis, quae in Philosophia practica sunt lex naturae & recta ratio: in hac sola scriptura θεόπνευστος seu verbum Dei in libris Prophetarum & Apostolorum comprehensum nobisque patefactum.“ 72 Vgl. Timpler: Philosophiae practicae systema, l. I, c. I, S. 12: „[…] quia Philosophia practica hominem praeparat ad studium verae pietatis. Unde etiam a quoddam Philosopho vocatur paedagogia ad Christianam religionem.“ Hier ist vermutlich Justin der Märtyrer (um 100–165) gemeint. Vgl. hierzu Jacob Brucker: Historia critica philosophiae. Tomus tertius. Leipzig 1743,

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falsch“ verwarf. Ganz im Gegenteil: Wie das tugendhafte Leben nicht dem gottesfürchtigen Leben widerspricht, sondern jenes auf dieses vorbereitet und von ihm vervollkommnet wird, so widerstreitet auch nicht die praktische Philosophie der Theologie, sondern bereitet den Menschen auf diese vor.73 Auch wenn die Differenz zwischen Philosophie und Theologie bzw. zwischen Ethik und christlicher Religion also in gewisser Weise gewahrt bleibt, so ist die Parallelisierung beider Disziplinen doch beachtlich. Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn man sich der in dieser Zeit wiederholt diskutierten Frage zuwendet, ob sich die heidnisch-philosophischen Tugenden wesentlich von den christlichen Tugenden unterscheiden. Diese Frage wurde von vielen protestantischen Dissidenten, den von den orthodoxen Theologen sogenannten Spiritualisten oder neuen Theosophen, – oft unter Berufung auf entsprechende Äußerungen bei Augustinus und Hieronymus74 – mit einem klaren Ja beantwortet. Sie verwarfen daher ganz im Sinne des frühen Luther die heidnische Ethik und forderten eine rein christliche Ethik, die den Bedingungen und Anforderungen eines christlichen Lebens besser entspreche.75 Begründet wurde diese radikale Haltung insbesondere mit dem Sündenfall, der die Vernunft und damit das Urteilsvermögen des Menschen so sehr geschädigt habe, dass aus einer Tugend eine Untugend werde. Der Umgang mit dem Sündenfall ist damit der wesentliche Punkt, an dem über das Für und Wider einer heidnischen Ethik an christlichen Schulen und damit über das konfessionelle Gepräge einer solchen Ethik entschieden wurde. Dieser Zusammenhang wird auch bei Timpler deutlich, der die Haltung der Spiritualisten letztlich verwarf. Es heißt: „Eher ist die Ansicht jener anzunehmen, die behaupten, dass die heidnischen Tugenden sich von den christlichen Tugenden nur in den Graden der Vollkommenheit voneinander unterscheiden, nicht anders

period. II, p. II, l. 1, c. III, S. 368: „Is [sc. Justinus] cum mature literis esset institutus, philosophiae studia feliciter attigit, quae ei viam ad amplectandam Christianam religionem paravit.“ 73 Timpler: Philosophiae practicae systema, l. I, c. I, S. 13: „Quod autem quidam obijciunt Philosophiam practicam, praesertim Ethicam generalem, repugnare Theologiae sacrae, & a verae pietatis studio homines abducere: id omnino falsum est & erroneum. Sic enim proba & honesta vita non repugnat vitae piae & sanctae, neque probitas morum pietati Christianae; sed potius illa ad hanc praeparat, & ab hac perficitur: ita neque Philosophia practica repugnat Theologiae sacrae, sed potius hominem ad hanc discendam praeparat.“ Unter Hinweis auf Keckermann: Systema ethicae, praec., S. 15f. 74 Vgl. Augustinus: De civitate Dei, l. XIX, c. XXV (= CCSL XLVIII, S. 696,7–13): „Proinde virtutes, quas habere sibi [sc. mens] videtur, per quas imperat corpori et vitiis, ad quodlibet adipiscendum vel tenendum rettulerit nisi ad Deum, etiam ipsae vitia sunt potius quam virtutes. Nam licet a quibusdam tunc verae atque honestae putentur esse virtutes, cum referuntur ad se ipsas nec propter aliud expetuntur: etiam tunc inflatae ac superbae sunt, ideo non virtutes, sed vitia iudicanda sunt.“ Hieronymus: In epistolam Pauli ad Galatas commentariorum libri tres, l. II, c. III (= PL 26, Sp. 359B): „[…] ut sciant, nullum absque Christi vivere, sine quo omnis virtus in vitio est.“ 75 Vgl. hierzu Salatowsky: „Dic cur hic“, S. 153–156.

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wie sich das Morgenlicht vom Tageslicht bzw. die Wärme von der Hitze unterscheidet.“76 Mit anderen Worten: Die ethischen Tugenden sind ein notwendiger Schritt hin zu den christlichen Tugenden, die jene vervollkommnen. Mit dieser Einschätzung folgte Timpler Keckermann, der ebenfalls betont hatte, dass es nur einen graduellen Unterschied zwischen den heidnischen und christlichen Tugenden geben würde.77 Keckermann ging sogar so weit, von einer Unterordnung der Ethik unter die Theologie zu sprechen, insbesondere unter die zweiten Gesetzestafeln, die wiederum ohne die Tugendlehre der Ethik nicht verstanden werden könnten.78 Timpler begründete seine Haltung mit einer eigentümlichen Sicht auf den Sündenfall, der den Menschen – selbst den noch nicht in Christo wiedergeborenen – weder per se noch per accidens soweit geschädigt habe, dass kein gutes Handeln mehr möglich sei.79 Zu dieser Angleichung von Ethik und Theologie bei Timpler passt auch, dass er die Frömmigkeit (pietas) ausgerechnet unter Berufung auf den Neostoiker Justus Lipsius (1547–1606) mit in die Beschreibung der philosophischen Tugenden aufnahm. Timpler rechtfertigte diese Entscheidung damit, dass die Tugend (virtus moralis) ganz allgemein in pietas (erga Deum) und probitas (erga hominem) unterteilt werden könne, beide daher ein Teil der Ethik seien. Dagegen spreche auch nicht, dass die Frömmigkeit vom Theologen und Ethiker auf unterschiedliche Weise betrachtet würde. Der Ethiker betrachte sie als eine Unterart der ethisch-philosophischen Tugend und als Mittel, das irdische höchste Gut zu erlangen, der Theologe dagegen als eine Unterart der christlichen Tugend und als Mittel, das himmlische und ewige höchste Gut zu erlangen.80 Für Timpler bestand also kein Zweifel, dass

76 Timpler: Philosophiae practicae systema, l. I, c. II, S. 21: „Verum haec opinio videtur approbanda non esse; sed potius amplectenda sententia eorum, qui statuunt, virtutem moralem a Christiana tantum gradibus perfectionis differre; non secus as lucem matutinam a luce meridiana, aut teporem a fervore.“ 77 Vgl. Keckermann: Systema ethicae, praec., S. 15: „Et est inter virtutes Ethicas & Theologicas distinctio graduum, ita ut, quod deest virtutibus Ethicis, id per disciplinam Theologicam addatur & compleatur.“ 78 Vgl. Keckermann: Praecognitorum philosophicorum libri duo, naturam philosophiae explicantes, et rationem eius tum docendae, tum discendae monstrantes. Hanau 1612, l. I, c. V, S. 110f: „Cognatio Philosophiae cum Theologia ex subordinatione in eo consistit, quod doctrina Ethica, Oeconomica, & Politica, id est, tota Philosophia Practica quasi subordinetur doctrinae Theologicae de lege Dei, & inprimis praeceptis secundae tabulae, quae plene intelligi & explicari non potest sine doctrina virtutum & vitiorum, de quibus philosophia Practica tractat.“ (Kursiv im Original) 79 Vgl. Timpler: Philosophiae practicae systema, l. I, c. II, S. 22f: „Neque valet, si quis ulterius obijciat, virtutem moralem, si non per se, saltem per accidens, degenerare in vitium ratione subiecti mali cui inest: ideoque esse damnandam & reiiciendam. Virtus enim moralis, si modo vera est, & non simulata, perficit subiectum cui inest, ideoque ei, quatenus est malum moraliter, inesse non potest. […] Virtus autem & homo non renatus non ita inter de commisceri ac infici possunt, ut illa ab hoc vitiositatem vere contrahat: tametsi imperfectior merito statuatur in homine non renato, quam renato.“ 80 Vgl. Timpler: Philosophiae practicae systema, l. II, c. I, S. 134: „Ethicum enim considerare pietatem, quatenus est species virtutis moralis & medium consequendi temporalem ac terrenam

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die pietas als eine ethische Tugend – die den Menschen auf die religiöse Verehrung Gottes zurichtet81 – zu Recht von heidnischen Philosophen wie Aristoteles, Platon und Seneca zu den ethischen Tugenden gerechnet und deshalb auch in dieser philosophischen Ethik verhandelt werde. Auch an dieser Stelle wird sichtbar, dass Timpler die philosophische und theologische Ethik als zwei Entfaltungen ein und desselben rechtschaffenen und frommen Lebens verstand, die auf grundsätzlich ähnliche Weise vollzogen werden. Er war daher nicht bereit, die Theologie als einen ausschließlich vom Heiligen Geist gewirkten Habitus zu verstehen, der dem philosophischen Habitus gegenübergestellt werden müsse. Dem entspricht es, wenn Keckermann in seinem 1602 veröffentlichten Systema theologiae Ethik und Theologie bis in die Definition hinein einander angleicht. Er bestimmte die Theologie dort gleich einleitend als „religiöse Klugheit, die zum Heil führt“.82 Damit ordnete Keckermann die Theologie nicht nur als einen habitus animi in das gängige aristotelische Gefüge der Wissenschaften und Künste ein – unterstrichen noch durch die Bezeichnung als disciplina operatrix –, sondern schrieb ihr als Genusbestimmung prudentia religiosa zu. Während die prudentia ethica die Lenkerin der ethischen Tugenden sei und die Fertigkeit und Erfahrung kennzeichne, sich jene Mittel zu beschaffen, die zum irdischen Ziel, dem summum bonum, führen, richte sich die prudentia religiosa auf die geistlich-religiösen Tugenden. Allerdings kennzeichne sie eine nur den Auserwählten von Gott eingegebene Fertigkeit und Erfahrung, sich selbst jene Mittel zu beschaffen, die zur Einheit mit Gott führen, in der unser Heil bestehe.83 Man erkennt hier deutlich die ethische Praxis, sich gleichsam selbst zum Heil zu führen, als ob dafür nicht der Theologe und Pfarrer verantwortlich wäre. Wir sehen, wie die Reformierten in ihren für den Schulunterricht verfassten Schriften die reformierte Variante der philosophischen Ethik vortrugen und so die nachfolgende Generation bildeten. Die Schule erweist sich auf diese Weise nicht nur als Resonanz-, sondern auch als Rekrutierungsraum der reformierten Konfession. Aus diesen Beschreibungen lässt sich ferner erkennen, warum Timpler – in etwas geringerem Maße auch Keckermann – seinen Zeitgenossen als ein Neuerer erschienen ist, der, obgleich ein Anhänger der aristotelischen Philosophie, doch entscheidende begriffliche und inhaltliche Veränderungen am philosophischen System vorgenommen hatte. Diese Position soll nun mit den Grundlagen der lutherischen felicitatem: Theologum vero, quatenus est species virtutis Christianae, & medium consequendi aeternam ac caelestem beatitudinem.“ 81 Vgl. Timpler: Philosophiae practicae systema, l. II, c. I, S. 119: „Pietas est virtus moralis, per quam homo promptus redditur ad cultum religiosum Deo praestandum.“ Timpler betonte zugleich, dass die pietas nicht mit der Religion gleichzusetzen ist. Jene bereitet auf den Gotteskult vor, diese ist dieser Kult selbst (vgl. a.a.O., S. 137). 82 Vgl. Keckermann: Systema Theologiae, tribus libris adornatum. Hanau 21607, S. 1: „Theologia est prudentia religiosa ad salutem perveniendi.“ 83 Vgl. Keckermann: Systema Theologiae, S. 4: „Sicut ergo prudentia Ethica est facultas, & peritia comparandi media illa, quae ad finem Ethicum conducunt: ita Theologia est facultas & peritia hominibus electis a Deo infusa, qua possint ea media sibi comparare, quae pertinent ad religionem, id est, unionem cum Deo, in qua consistit omnis nostra salus.“

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Ethik, wie sie an den Gymnasien vermittelt worden ist, verglichen werden. Welche konfessionell geprägte Ethik wird hier sichtbar? 4. TRENNUNG VON ETHIK UND RELIGION: DIE LUTHERISCHE SCHULETHIK Wie bei den Reformierten, so bildeten auch bei den Lutheranern lange Zeit die Lehrbücher von Philipp Melanchthon zur Ethik die Grundlage des Unterrichts an den Schulen und Universitäten. Allerdings nahm ihr Einfluss im Verlauf des späten 16. Jahrhunderts immer stärker ab. Man kann davon ausgehen, dass an den lutherischen Höheren Schulen schon bald Kompendien wie die Dissertatio de summo bono von 1614 des Wittenberger Balthasar Meisner (1587–1626) die Grundlage des Unterrichts bildeten.84 Meisner schuf eine klug durchdachte Zusammenfassung der Ethik auf aristotelischem Fundament und hatte hierbei die aktuellen konfessionellen Differenzen zu den Katholiken, Reformierten und den sog. Spiritualisten – die Meisner „religiosuli“85 nannte – klar im Blick. Sie bietet mit ihren umfangreichen Prolegomena und den beiden Teilen der Eudaimonologia & Aretologia alles, was zu einer zeitgenössischen philosophischen Ethik gehörte. Meisner beantwortete die alte Frage, ob die heidnische Ethik der Philosophen an den christlichen Schulen zu dulden sei, unter Hinweis auf Mt 23,23 eindeutig positiv: Sowohl die Heilige Schrift als auch die heidnische Ethik seien zu gebrauchen, da beide auf das Beste zusammenstimmen würden.86 An diese Bestimmungen knüpften die Übungen zur Ethik an den lutherischen Gymnasien im mitteldeutschen Raum an. Grundsätzlich galt die Überzeugung, dass die heidnische Ethik an christlichen Schulen zu unterrichten sei.87 Dabei sei jedoch darauf zu achten, dass die christliche Lehre stets den Vorrang behalte, während die philosophische Ethik als famula bzw. ancilla nur dienenden Charakter habe.88 84 Vgl. Balthasar Meisner: Dissertatio de summo bono, cui praemissa sunt praecognita ethica, & annexa coronis de virtute. Wittenberg 1614. Eine weitere Auflage erschien 1632. Für eine Zusammenfassung dieses Werks vgl. Dittrich: Geschichte der Ethik IV, S. 285–292. Vgl. auch Salatowsky: „Dic cur hic“. 85 Meisner: Dissertatio de summo bono, p. II, q. VIII, S. 41. 86 Meisner: Dissertatio de summo bono, p. II, q. VIII, S. 41f.: „Fatemur, solam SS. Scripturam esse perfectam normam, ut fidei, sic morum: Fatemur, hanc solam esse illud medium, quo ad veram beatitudinem in coelo perducimur: Non tamen inde sequitur, Ethicam Philosophorum vel minus necessariam, vel prorsus esse infrugiferam. Scripturam quidem consulamus, sed Ethicam non prorsus negligamus. Non enim se invicem tollunt, sed simul optime consistunt.“ 87 Vgl. Spengler: Exercitationum ethicarum prima. De definitione et divisione ethices, s. III, S. B2r–v. Die Ansicht von Clemens von Rom, wonach alle Bücher der Heiden zu verwerfen seien, wird ganz klassisch unter Berufung auf 1. Thess. 5,21 sowie unter Hinweis auf den Jenaer lutherischen Philosophen Johann Michael Dilherr (1604–1669) widersprochen. Vgl. Dilherr: Disputationum Academicarum, praecipue Philologicarum, tomus primus. Nürnberg 1652, hier: disp. I, q. VIII (De usu lectionis scriptorum secularium et antiquitatis), S. 100–299. 88 Vgl. Fabricius: Exercitationes ethicae I, A4r: „Quaertitur hic 1. An ex profanis & ethnicis autoribus ethica doctrina Christianis haurienda & cognoscenda sit? Ita arbitramur: sed tamen hac

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Handlungsleitend war dabei die Maxime: Was nur immer mit dem Naturgesetz übereinstimmt und dabei nicht im Widerspruch zum göttlichen Gesetz steht, kann an den christlichen Schulen gelehrt werden. Schefter hat diesen Zusammenhang in einer Coburger Disputation aus dem Jahre 1617 wie folgt beschrieben: Die Ethik ist von Natur aus bekannt, nicht durch Gott offenbart. Sie ist allen Menschen gemeinsam, nicht der Kirche allein eigen. Sie übersteigt nicht das [höchste] Gut dieses Lebens. Sie ist den Normen der hochheiligen Theologie unterworfen. Sie kann an den christlichen Schulen mit Nutzen beibehalten werden.89

Schefter unterschied hier sorgfältig zwischen dem Buch der Natur (liber naturae), das allen vernünftigen Menschen zugänglich ist und nicht nur die Naturwissenschaften umfasst, sondern alles, was auf natürliche Weise in dieser irdischen Welt gegeben, hergestellt oder von Mensch und Tier verrichtet wird, und dem Buch der Schrift (liber scripturae), das allein die besondere Offenbarung Gottes als Beschreibung des Heilsweges des Menschen hin zum ewigen Leben in der jenseitigen Welt enthält und auf natürliche Weise nicht erkannt werden kann. Auch wenn beide Bücher dem Schöpfungsakt Gottes zugrunde liegen, so sind sie sorgfältig voneinander zu trennen, damit es nicht zu einer unzulässigen Vermischung kommt. Was Schefter hier nur andeutete, hat Spengler in Beantwortung der Frage, ob die Ethik mit der Hl. Schrift zusammenstimmen könne, ausführlicher erklärt. Dabei ging er von der Prämisse aus, dass nur jene Vorschriften und Lehren der Philosophen zu beachten sind, die sowohl aus der rechten Vernunft als auch aus den Resten der Gottebenbildlichkeit (vgl. Gen 1,27) stammen. Damit sei nämlich sichergestellt, dass man zwischen dem Abstrakten und dem Konkreten, d.h. zwischen der grundsätzlich wahren Lehre der Philosophie und der potentiell falschen Lehre des einzelnen Philosophen unterscheiden könne. Irrtümer seien dann nicht der Philosophie zuzuschreiben, sondern diesem oder jenem Philosophen.90 Denn die Philosophie sei an sich nicht stoisch, platonisch oder aristotelisch, sondern nur das, was von diesen Schulen Richtiges gelehrt werde, wie bereits Clemens von Alexandrien betont habe. Auf dieser abstrakten Ebene ist also ein Widerspruch zwischen Theologie und Philosophie, zwischen Glauben und Vernunft bzw. zwischen Heiliger Schrift und Ethik ausgeschlossen, da, wie bereits erwähnt, die Wahrheit nur eine sein kann. Gleichwohl sind beide Sachen nicht beliebig austauschbar. Wir lehren, so Spengler, das

conditione, ut divina seu Christiana ethica, ex sacris Israelis fontibus educta, tanquam Domina praecedat & lucem praeferat; Profana autem illa & philosophica tanquam famula & ministra subsequatur, ac illius lumine regatur.“ 89 Vgl. Schefter: Exercitationum ethicarum prima. De philosophiae moralis definitione & distributione, S. A2r: „2. Qua [sc. Philosophia moralis] philosophia est, ex principiis rationis; non ex verbo Dei, exstructa est. 3. Natura nota; non divinitus patefacta est. 4. Omnibus gentibus communis est: non soli Ecclesiae propria. 5. Bonum hujus vitae non transcendit. 6. Sacro-sanctae Theologiae normis subdita est. 7. Et in Scholis Christianis utiliter retineri potest.“ 90 Diese Unterscheidung ist ganz klassisch und findet sich bei allen Konfessionen, bezeichnet also kein Spezifikum der Lutheraner. Trotzdem hing für sie an der richtigen Unterscheidung, was als philosophia in abstracto und was als philosophia in concreto gelten könne, alles. Dies wird das Nachfolgende verdeutlichen.

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Zusammenspiel beider nicht deswegen, als ob die Ethik die Heilige Schrift auf irgendeine Weise vervollkommnen könnte, „sondern damit zwischen Heiliger Schrift und Ethik, zwischen Gott und Natur eine innige Harmonie hervorleuchten möge“.91 Ziel ist also die Vermittlung einer von Gott so angelegten Harmonie zwischen dem liber naturae und dem liber scripturae an die Schüler, um einer spiritualistischen Verachtung der Bildung am Buch der Natur entgegenzuwirken. In dieser Hinsicht stimmten die Lutheraner mit den Calvinisten und Katholiken überein. Die grundsätzliche Übereinstimmung darf jedoch die Differenz zwischen beiden nicht verdecken. Hierauf richtete sogleich Frommann in seiner Disputationsreihe den Blick, um Nähe und Ferne von Ethik und Theologie zu verdeutlichen: Beide sind als medicina animi zu bestimmen, jedoch mit unterschiedlichen Ausrichtungen: Während die Theologie unsere mit der Sündenlast beschwerte Seele im Trost aufrichtet und zum Heil des ewigen Lebens führt, vervollkommnet die Ethik unsere Seele und heilt sie von ihren Krankheiten in Bezug auf den Intellekt, der von Unwissenheit geplagt wird, und in Bezug auf die Affekte, die zerrüttet sind.92 Beide Disziplinen sind also mit der Beseitigung bzw. Einschränkung der Folgen des Sündenfalls beschäftigt. Man erkennt deutlich: Was für die Reformierten nur ein Nebenaspekt der philosophischen Ethik war, wird für die Lutheraner zu einem zentralen Element: Die Bewältigung der Folgen des Sündenfalls ist auch eine Aufgabe der Ethik, die auf diese Weise in den christlichen Lebensvollzug eingebunden wird, ohne dass sie deshalb zu einer explizit christlichen Ethik wird. Voraussetzung für diese Differenz ist die Bewahrung der Eigentümlichkeiten der beiden Disziplinen, ohne eine Angleichung vorzunehmen. Dies geschieht bei den Lutheranern bereits auf der definitorischen Ebene. Frommann bestimmte die Ethik als „eine Klugheit, die die freien Handlungen des Menschen bildet für ein tugendhaftes Leben in einer bürgerlichen Gesellschaft.“93 Mit dieser Definition, die sich ganz ähnlich auch bei Spengel findet,94 folgte Frommann dem gängigen Verständnis der aristotelischen Ethik, die – als ein Teil der fünf von Aristoteles benannten habitus mentis – wegen ihrer praktischen Ausrichtung als prudentia (und nicht 91 Spengler: Exercitationum ethicarum prima, s. III, S. B4r: „Deine, non eo Ethica docemus cum sacris conferenda & conjungenda, & haec cum illis, quasi scripturae sacrae perfectionis aliquid accederet (haec enim cum sit perfectissima & ad morum informationem & vitam aeternam consequendam, ab Ethica minime perficietur) sed ut harmonicus inter scripturam sacram & Ethicam, inter Deum & naturam elucescat consensus.“ 92 Vgl. Frommann: Disputatio praeambularis, Prooem, S. A1v: „Quaeris contra hos morbos φάρμακον? salutare nobis subministrat Theologia, utile suppeditat Philosophia. Utraque enim est medicina animi. Illa in quantum consolationibus suis saluberrimis animam nostram peccatorum mole pressam erigit, & erectam ad salutis aeternae viam & coelestem vitam ducit; haec vero in quantum animum nostrum perficit, sanando ejus morbos, quorum duo genera sunt […] unum pertinens ad intellectum, quae est ignoratio veri: alterum ad effectum, cujus aegritudo ex vitijs morumque corruptela proficiscitur […].“ 93 Frommann: Disputatio praeliminaris ethica. Disp. II. De natura et constitutione ethicae. Coburg 1625, Disp. II, S. C1r: „Ethica est prudentia, liberas hominis actiones informans, ad honeste vivendum in civili societate.“ 94 Spengel: Exercitationum ethicarum prima, s. I, S. A5v: „Ethica est prudentia hominem virtutibus imbuens, secundum rectae rationis normam, ad consequendam felicitatem civilem.“

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als ars wie bei Timpler) gefasst wird. Mit der Betonung der liberae actiones hominis verwies Frommann implizit auf die von den Lutheranern mit Vehemenz vertretende Differenz zwischen dem freien Willen im Blick auf die ,weltlichen‘ Handlungen und dem geknechteten Willen im Blick auf die ,geistigen‘ Handlungen, die das eigene Seelenheil betreffen.95 Diese Differenz erscheint auch in der Beschreibung des honeste vivere in civili societate: Die (philosophische) Ethik hat ihre Zuständigkeit überhaupt nur im Feld der bürgerlichen Tugenden, die für das Zusammenleben in der christlichen Gemeinschaft erforderlich sind. Die Tugend, die im ersten Teil dieser lutherischen Schulethiken unter dem Begriff der Aretologia verhandelt wird, wird in enger Anlehnung an die Nikomachische Ethik als eine „Haltung des Wählens“ bestimmt, „die in der Mitte in Bezug auf uns liegt, jene Mitte, die durch die rechte Vernunft definiert ist“.96 Auch hier wird sogleich verdeutlicht, in welchem Verhältnis diese weltlichen Tugenden zu Gott stehen. Fabricius beantwortete zunächst die Frage, auf welche Weise Gott als causa remota principalis außerhalb des Menschen die Tugend bewirke, mit dem Hinweis auf das Naturgesetz und die angeborenen Kenntnisse, die ihn als ihren Urheber hätten. Auch habe er dem Menschen eine Neigung zur Tugend eingegeben, deren Realisierung eher fördere und lenke. Interessanterweise bezeichnete auch Fabricius ähnlich wie Timpler die Tugenden der Heiden als Geschenk des Hl. Geistes, die auch Gott gefallen, obgleich sie keine Heilswirkung haben.97 Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass er ganz im Sinne von Meisner die Tugend auch aus theologischer Sicht nicht als Sünde betrachten wollte. Denn auch hier gilt: Als Geschenk Gottes sind sie an sich gut, mag auch ihr Träger schlecht sein. Allein per accidens könnten sie sündig sein, sofern sie im Blick auf den Glauben defizient und nicht auf Gott ausgerichtet seien und sich in einem noch nicht im wahren Glauben an Christus wiedergeborenen Menschen befänden. Auch hier betonte Fabricius jedoch sogleich die Differenz zwischen den heidnischen und christlichen Tugenden, die sich hinsichtlich aller vier klassischen Ursachen (causa efficiens, materialis, formalis & finalis) „im höchsten Grade und auf

95 Ebenso Schefter: Theses de principiis philosophiae moralis, S. A2r: „Haec [sc. principia cognoscendi] in Ethicis duo sunt, Lex Naturae & Ratio practica. Etsi enim homo per naturam suarum actionum dominus est constitutus: Libertatemque in agendo obtinuit, cum contra-dictionis, tum contrarietatis: Adeo ut etiamnum hodie post lapsum, in hujus seculi rebus, agere possit, vel non agere: Et contrarium agere ejus, quod agit. Tamen libertate ista in moralibus, ad libitum, sine culpa uti, nunquam illi a Deo permissum est.“ 96 Fabricius: Exercitationum ethicarum secunda, de virtute in genere: quae est generalis Aretologia. Mühlhausen 1632, S. A2v: „Virtus est habitus electivus, in mediocritate quoad nos, recta ratione definita, positus. Arist. l. 2. Ethic. c. 6 [1106b36–1107a2].“ 97 Vgl. Fabricius: Exercitationum ethicarum secunda, S. A3r–v: „An Virtutes Ethicae in Gentibus sint dona Spiritus Sancti? Sunt; sed communia seu generalia; non sanctificantia. […] An eaedem Virtutes Deo placeant? Placent: nempe per se & sua natura, prout ex ipsa Lege Naturae sunt & cum Divina consentiunt.“

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sehr deutliche Weise“98 voneinander unterscheiden würden. So sind die heidnischen Tugenden natürliche Bewegungen, die Gott zwar auf allgemeine Weise anstößt, die aber mit der Vernunft und dem Naturgesetz übereinstimmen. Die christlichen Tugenden dagegen, die opera bona, sind geistige Bewegungen, die vom Hl. Geist ohne unser Zutun entfacht werden und das Herz des Menschen, ja alle Vermögen und selbst die Gedanken so lenken, dass sie mit dem göttlichen Gesetz übereinstimmen. Und weiter: Die ethischen Tugenden bewahren das durch das Urteil der Vernunft bestimmte Mittelmaß und sie werden vollzogen, damit die Glückseligkeit unmittelbar nachfolgt. Die theologischen Tugenden jedoch, die als gute Werke aus dem Glauben entstehen, stimmen exakt mit der Norm der göttlichen Gerechtigkeit überein, wie sie im Dekalog ausgedrückt ist und wie sie die menschliche Vernunft nicht erreicht; und sie werden vollzogen nicht zu dem Ziel, dass wir die ewige Glückseligkeit erlangen, sondern damit wir, die wir durch den Glauben das Heil bereits erlangt haben, Gott mit guten Werken ehren und verehren sollen.99

Damit lehnte Fabricius die bei Timpler beschriebene Angleichung der beiden Tugendformen im Sinne eines bloßen graduellen Unterschieds ab und bewahrte auf diese Weise die strikte Trennung von Ethik und Religion. Aus diesem Grunde wurde die pietas in den lutherischen Ethiken im Gegensatz zu Timpler auch nicht verhandelt. Früh hatte Meisner in seiner wegweisenden Philosophia sobria gegen Keckermann, der die pietas, überhaupt die Verehrung und Anrufung Gottes durch die Philosophie entfacht sah,100 darauf bestanden, dass die christliche Art der Gottesverehrung den Heiden vollkommen unbekannt war. „Wie kann also die Philosophie die Verehrung und die Frömmigkeit entzünden, da, was die Verehrung und was die Frömmigkeit sei, nicht die Natur, sondern die Schrift allein offenbart?“101 Folglich konnte die pietas kein Gegenstand der philosophi-

98 Fabricius: Exercitationum ethicarum secunda, S. C1r: „Quaeritur: An ex Causis Virtutum, hactenus enumeratis, discrimen Virtutum Ethicarum & Theologicarum, seu Bonorum Operum Christianorum, monstrari possit? Potest vel maxime & evidentissime.“ 99 Fabricius: Exercitationum ethicarum secunda, S. C1r–v: „Virtutes Ethicae Mediocritatem habent, Rationis judicio definitam, & fiunt Consequendae Humanae cujusdam Beatitudinis ac Felicitatis gratia. Virtutes autem Theologicae, seu Bona Opera ex Fide fiunt, habentque congruentiam exactiorem cum norma Justiciae Dei, quae Decalogo expressa est, quamque Ratio humana non assequitur: ac fiunt, non hoc fine, ut Beatitudinem aeternam consequamur: sed ut Salutem Fide jam obtinentes & consecuti, Deum bonis Operibus honorificemus & glorificemur.“ 100 Vgl. Keckermann: Praecognitorum Philosophicorum libri duo, l. I, c. IV, S. 80: „Ex cognitione autem ista Naturae & virtutum divinarum Amor & Dilectio Dei mirifice in nobis accenditur, & augetur per Philosophiam. Hoc praecepto docemur Philosophiam non tantum conducere ad nudam contemplationem Dei, sed etiam efficacissime movere mentes nostrae ad pietatem & cultum Dei, idque per Regulam Theologorum: Tantum diligimus, quantum cognoscimus. Unde sequitur, quia per philosophiam in mentibus nostris exoritur illustris divinae naturae & virtutis cognitio, etiam per eandem in nobis excitari pietatem, cultum, honorem, & invocationem Dei […].“ 101 Meisner: Philosophia sobria. Hoc est: Pia consideratio quaestionum philosophicarum in controversiis theologicis, quas Calviniani moverunt orthodoxis, subinde occurrentium. 3 Bde. Wittenberg 1611, 1613 und 1623. Zitiert nach der Auflage Jena 1655, t. I, Prooem., S. 19: „Quî

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schen Ethik sein, sondern wurde umfassend in den erbaulichen Schriften thematisiert, die die Lutheraner in großer Anzahl publizierten,102 später dann in den Traktaten zur Theologia moralis.103 Auf diese Weise sollte eine erneute Vermischung von philosophischen und theologischen Themen, wie sie nach Ansicht der Lutheraner in der Scholastik üblich gewesen war, verhindert werden. Es überrascht nicht, dass diese Differenz von den Lutheranern auch bei der Frage nach dem summum bonum betont wurde. Fabricius hielt fest, dass das auf das irdische Leben ausgerichtete höchste Gut neben dem auf das ewige Leben ausgerichteten summum bonum Bestand habe, sofern die philosophische Lehre innerhalb der Grenzen ihrer Betrachtung bleibe und sich nicht mit der christlichen Lehre vermische.104 Und um jeden Zweifel auszuschließen, betonte er gleich nachfolgend, dass das philosophische summum bonum rein gar nichts zum christlichen summum bonum beitragen würde. Hier würde allein die Frage zählen, ob jemand im christlichen Glauben erneuert sei oder nicht.105 Vor diesem Hintergrund lässt sich das philosophische summum bonum wie folgt definieren: Das höchste Gut des Menschen in diesem Leben ist der beste Zustand des Menschen in dieser Welt, der nicht in die fleischliche Lust, die Ehre, den Reichtum, den Tugendhabitus oder in irgendeine andere Sache gelegt ist, sondern in jene absolut ungetrübte Lust, die dem mit der Natur dieses Guts übereinstimmenden Leben folgt.106

Das höchste Gut ist in dieser Hinsicht jene höchste Vollkommenheit, die der Mensch in diesem Leben unter idealer Anwendung seiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten erreichen kann.

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ergo Philosophia cultum & pietatem accendere potest, cum quid sit cultus, quid pietas, non natura, sed sola scriptura revelet?“ Zu diesem Werk Sparn: Wiederkehr der Metaphysik. Vgl. hierzu Johannes Wallmann: „Pietas contra Pietismus. Zum Frömmigkeitsverständnis der lutherischen Orthodoxie“, in: Udo Sträter (Hg.): Pietas in der lutherischen Orthodoxie. Wittenberg 1998, S. 6–18. Vgl. z.B. Johann Franz Buddeus: Institutiones theologiae moralis. Leipzig 1727, c. I, s. IV, § CXXXVIII, S. 158. Entscheidend für die lutherische Position ist hierbei, dass der Mensch als Sünder der Erlösung bedarf, die ihm allein durch die Gnade Gottes zuteil wird, dass er folglich in den res sacrae nur der Empfangende, nicht der Handelnde ist. Dergestalt kommt die wahre pietas nur dem bereits Wiedergeborenen zu, die vom Hl. Geist gewirkt wird. Von alledem war bei Timpler nicht die Rede. Vgl. Fabricius: Exercitationum ethicarum duodecima, de summo bono: quae est Eudaemonologia. Mühlhausen 1633, S. A2r: „An sententia illa de Beatitudine Philosophica adversetur Professioni Christianae? Non utique; si intra Cancellos Philosophicae considerationis maneat; nec cum Christiana illa confundatur.“ Vgl. Fabricius: Exercitationum ethicarum duodecima, S. A2r: „An Beatitudo Philosophica quidquam conferre aut facere possit ad Beatitudinem aeternam consequendam? Nihil prorsus. Nam nisi quis renatus fuerit ex Aqua & Spiritu, non potest introire in regnum Dei: inquit Servator, Joh. 3. v. 5. Itaque & nihil Meriti in se continet; adeoque cum hac vita tandem desinit.“ Schefter: Theses de felicitate hominis in hac vita, S. A2r: „Summum bonum hominis in hac vita est optimus hominis in hoc seculo status; qui non in voluptate corporis; aut in honore; aut in divitijs; aut in habitu virtutis; aut in aliqua re positus est, quam in sincerissima illa voluptate, quae vitam naturae illius congruentem sequitur.“

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Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die aus oder für den lutherischen Schulunterricht verfassten Ethiken den Wissensstand und die Inhalte der an den Universitäten veröffentlichten Traktate widerspiegeln.107 Die Schüler wurden hierbei immer wieder an jenen ,dritten Weg‘ erinnert, den die Lutheraner in der philosophischen Ethik für sich in Anspruch nahmen: Während die Katholiken die philosophische Ethik zu wenig praktizierten, übten die Reformierten umgekehrt zu viel davon aus. Letztlich würden beide weder der Theologie noch der Ethik das ihr angestammte Feld lassen, sondern sie miteinander vermischen. Damit gaben die Lehrer ihren Schülern zugleich das Programm an die Hand, das sie mit diesen Disputationen beschreiben wollten: Es galt den mittleren Weg zwischen diesen beiden Extremen zu wählen. Dies markiert den konfessionellen Status der Ethik an den lutherischen Schulen. 5. ETHIK UND RELIGION ALS EINHEIT: DIE SOZINIANISCHE SCHULETHIK Der Sozinianismus als bedeutende antitrinitarische Bewegung der Frühen Neuzeit zeichnet sich durch eine Fundamentalkritik der christlichen Glaubenslehre aus, die zu einer deutlichen Reduzierung spekulativer Elemente in der Religion führte. In der Folge kam es zur Ausprägung einer neuen imitatio Christi im Sinne eines ethisch-praktischen Lebensvollzugs. Kęstutis Daugirdas nennt dies das „ethischreligiöse Religionsmodell“108 der Sozinianer, das sich als neuartige religiöse Sinnfindung beschreiben lasse in Abkehr von jeglicher spekulativer Seinserklärung im Rahmen eines umfassenden metaphysisch-dogmatischen Weltmodells. Die Ethik als praktische Anleitung zur Nachfolge des von Christus exemplarisch gelebten Lebens im Gehorsam der Gebote Gottes, nicht der Glaube an – aus Sicht der Sozinianer: nicht heilsrelevante – Dogmen steht im Mittelpunkt eines Lebens, das aus sich selbst heraus die christlichen Gebote zu erfüllen vermag. Hieraus ergibt sich die eminente Bedeutung der Ethik im Sozinianismus, und zwar nicht nur der weltlichen (aristotelischen) Ethik, sondern auch und vor allem der christlichen Ethik. Otto Fock beschreibt dies wie folgt: „die Frage: was hat der Mensch zu thun, um selig zu werden, steht immer im Vordergrunde; die andere: was hat er zu glauben, kommt immer nur insofern in Betracht, als jenes Thun ohne dieses Glauben nicht möglich ist.“109 Wir finden hier den Grund für das starke Interesse der Sozinianer an der Ethik, und zwar im Blick sowohl auf den Einzelnen als auch auf die Gemeinschaft. 107 Vgl. hierzu Salatowsky: „Dic cur hic“. 108 Daugirdas: Die Anfänge des Sozinianismus, S. 40. 109 Fock: Socinianismus, S. 570. Für Fock „mussten die socinianischen Versuche einer selbständigen Behandlung der Ethik […] ungenügend und unvollkommen bleiben“ (a.a.O., S. 572), kam man doch über eine allgemeine Zusammenstellung der moralischen Vorschriften der Bibel nicht hinaus. Entsprechend ambivalent fällt das Urteil über Crells ethische Schriften aus: Sie „sind, wenn gleich sie für unsere Zeit wenig Genügendes mehr darbieten, doch für jene Zeit ein nichts weniger als unbedeutender Beitrag zur selbständigen Constituierung der Moral“. (A.a.O., S. 571)

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Michael Tworek behauptet sogar: „Ethics was the most important and controversial subject at Raków.“110 Seiner Meinung nach spiegelt der Aufschwung der Ethik bei den Polnischen Brüdern ihre konfessionellen und politischen Bedürfnisse wider, die sie mithilfe eben dieser Disziplin zu klären versuchten. An führender Stelle stand hierbei Johann Crell, der diesem Interesse durch seine drei Schriften Prima ethices elementa, Ethica Aristotelica und Ethica Christiana einen starken Ausdruck verliehen und so die Position der Sozinianer lange Zeit geprägt hat.111 Selbst ein Einfluss dieser Schriften auf Frühaufklärer wie John Locke (1632–1704), Isaac Newton (1643–1727) und Pierre Bayle (1647–1706) wird von der Forschung vermutet.112 Diese drei Werke möchte ich nachfolgend kurz auf ihre konfessionsspezifischen Aspekte hin untersuchen. Über die Rezeption dieser drei Werke innerhalb des Sozinianismus und auch außerhalb bei den anderen Konfessionen ist wenig bekannt.113 Allerdings scheint es so, dass Crell’s „lectures on ethics proved controversial yet influential“, wie jüngst Tworek – leider ohne weiteren Nachweis – betont hat.114 Vermutlich spielt er hiermit auf die Aussage von Morscovius in der Vorrede zur Prima ethices elementa an, der kritisch anmerkte, dass Crell „allzu sehr mit ängstlichem Fuß der Bahn des Aristoteles gefolgt“ sei.115 Was 110 Michael Tworek: „Education: The Polish-Lithuanian Commonwealth“, in: Howard Louthan und Graeme Murdock (Hg.): A Companion to the Reformation in Central Europe. Leiden u.a. 2015, S. 359–389, hier: 380. 111 Zu erwähnen wäre noch, dass Andreas Wissowatius jun. (1608–1678) ein Ethicae sive Philosophiae moralis compendium verfasste, das allerdings unveröffentlicht blieb. Vgl. Bock: Historia I 2, S. 1023. Erst posthum veröffentlicht wurde das kleine Bändchen Stimuli virtutum, fraena peccatorum (Amsterdam 1682). 112 Vgl. Karol Bal: „Ein Weg zur polnischen Aufklärung. Abriß der ethischen Anschauungen Johannes Crells“, in: Karol Bal u.a. (Hg.): Frühaufklärung in Deutschland und Polen. Berlin 1991, S. 136–162, hier: 139. Es ist bekannt, dass Locke 1684 in Amsterdam Crells Ethik erwarb. Auch besaß er alle Bände der Bibliotheca fratrum polonorum. Vgl. hierzu John Marshall: John Locke. Resistance, Religion and Responsibility. Cambridge u.a. 1994, S. 342. 113 Folgende Reaktionen sind mir bekannt: Martin Ruar (1588/90–1658), Crells Nachfolger als Schuldirektor, übersandte die Erstausgabe der Prima ethices elementa an keinen Geringeren als Hugo Grotius (1583–1645), der sich in einem Brief vom 17. Mai 1639 wie folgt darüber äußerte: „In Ethices compendio multa sunt docta, multa ad vitam utilia. Nimis in quibusdam ἀριστοτελίζει. Verum hoc ipsum quoque deprehendisse, sed morte praeventum emendare nequiss, ex praefatione disco.“ (Martin Ruarus: Martini Ruari aliorumque virorum doctorum epistolarum selectarium centuriae duae. Amsterdam 1677. Zitiert nach Zeltner: Historia CryptoSocinismi Altorfinae, 2. Teil, S. 163 [eigene Paginierung]). Der jung verstorbene Magister der Philosophie Johann Gottlieb Möller (1670–1698) veröffentlichte 1697 die Disputation Johannem Crellium ex ethica Aristotelica ad S.S. literarum normam emendata, ceu Socinianismi propugnatorem in disputatione philosophica, die sich leider nicht mehr auffinden lässt. Vgl. hierzu die kurze Beschreibung Jan Gotlieb Moeller: „O Etyce arystotelesowskiej Jana Crella“, in: Zbigniew Ogonowski (Hg.): 700 tat mysli polskie. Filozofia i myśl społeczna XVII wieku. Warschau 1979, S. 152–156. Auf die gegen Crells Ethica Christiana gerichtete Disputation De pietatis fuco et candore von David Vogel aus dem Jahre 1718 komme ich weiter unten zurück. 114 Michael Tworek: „Education“, S. 380. 115 Morscovius: „Praefatio“, in: Crell: Prima ethices elementa, S. 117: „Innuebat videlicet se [sc. Crellius] nimis anxio pede tum Aristotelis orbitam pressisse, qui uniuscujusque virtutis naturam

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Morscovius freilich an dieser Ethik schätzte, war ihre vollkommen praktische Ausrichtung, die sie für die Schule geeignet machte: Nicht eine theoretische Darstellung mit Definitionen und Einteilungen finde man hier vor, sondern eine wirklich praxisorientierte Beschreibung, welche die Quellen von Gesundheit und Krankheit der Seele deutlich benenne.116 Tworek hat diesen Vorrang des ethischen Handelns vor dem theologisch-konfessionellen Wissen wie folgt beschrieben: „Using Aristotle’s Ethics, moral examples from the Bible, and the works of Justus Lipsius and Castellio, Crell made as simple and (at the time) radical argument – how a person lived and acted towards others mattered more than that person’s religious confession or orthodoxy.“117 In der Tat wird hier das Handeln im Angesicht Gottes und nicht der Glaube zum Prinzip erhoben, ein Handeln, das sich nicht an spekulativen Dogmen oder künstlich gesetzten philosophisch-theologischen Grenzen abarbeitet, sondern die Einheit des Menschseins in der diesseitigen Lebensbewältigung betont. Der Topos einer Weltverachtung (contemptus mundi), wie er sich häufig bei den Katholiken und Lutheranern findet, hat hier keinen Ort. Zu Recht hat Karol Bal daher betont, dass es sich bei Crells Ethiken „um eine weltliche Ethik handelt, zumindest aber um eine Denkrichtung, welche eine solche zu begründen strebt“.118 Vor diesem Hintergrund würde ich Martin Schmeissers abschließendes Urteil, Crells Ethica Aristotelica stelle „keine besonders individuelle Schöpfung“119 dar, in Frage stellen. In Kombination mit der Ethica Christiana bietet sie den Entwurf einer vernunftgeleiteten

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in mediocritate positam censuit. Noster autem id non semper ita habere ex divinis oraculis postmodum se comperisse asseverabat.“ Auf diesen Passus bezog sich wohl Grotius mit seiner Kritik. Hier werden die zarten Anfänge des Versuchs sichtbar, eine neue von Aristoteles und allen anderen traditionellen philosophischen Schulen unabhängige Ethik zu begründen. Vgl. Morscovius: „Praefatio“, in: Crell: Prima ethices elementa, S. 117: „Nec enim intra limites theoreticae illius […] praxeos consistit [sc. Crells Ethik], definitiones videlicet, & divisiones solas ad practicae methodi leges exactas, ut fecere nonnulli [sc. wie die Ramisten], qui eandem divam vigiliis suis in lucem produxerunt: sed vere practice, & ut moralem Philosophiam, id est, animi medicum decuit, sanitatis ac morborum animi fontibus commonstratis, quae & illi qua parandae, qua conservandae, & his pellendis faciunt, fideliter aperit & dilucide persequitur.“ Michael Tworek: „Education: The Polish-Lithuanian Commonwealth“, in: Howard Louthan und Graeme Murdock (Hg.): A Companion to the Reformation in Central Europe. Leiden u.a. 2015, S. 359–389, hier: 380. Ich kann allerdings keinen größeren Einfluss von Lipsius und Castellio auf Crells Ethik erkennen. Die Beschreibung der Beständigkeit (constantia) als eine besondere christliche Tugend wird ausschließlich mit biblischen Textstellen begründet. Vgl. Crell: Ethica christiana, l. II, c. VI, S. 294b; c. VII, 299b und l. IV, c. XXII, 394b–395a. Auch das Schicksal (fatum) wird von Crell als bestimmendes Prinzip des Lebens verneint. Gesicherte Aussagen bedürften jedoch einer weiteren Untersuchung. Bal: „Weg zur polnischen Aufklärung“, S. 141. Auch Bal vertritt die Ansicht, dass der Schwerpunkt in Crells Ethik nicht auf transzendente Gebote liege, sondern auf den moralischen Handlungen des Menschen. Dadurch komme es zu einer „Ethisierung des Glaubens“ (a.a.O., S. 142). Martin Schmeisser: „Johann Crells aristotelische Ethik und die Moralphilosophie an der Academia Norica in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts“, in: Friedrich Vollhardt (Hg.): Religiöser Nonkonformismus und frühneuzeitliche Gelehrtenkultur. Berlin 2014, S. 101–119, hier: 111. Zu Recht weist Schmeisser allerdings auf den Aristotelismus als einen „Grundpfeiler und […] Katalysator für die rationalistische Philosophie der Sozinianer“ (a.a.O., S. 103) hin.

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Ethik an, die ohne dogmatische Vorgaben das Angebot an die Schüler macht: Prüft alles, und das Gute behaltet. Crell begann seine philosophische, in vier Abschnitte gegliederte Ethik120 mit ihrer aristotelisch geprägten Definition: Sie „ist eine praktische Disziplin, die darlegt, wie man den Grund der menschlichen Glückseligkeit erlangt“.121 Er stimmte dabei der unter Aristotelikern geläufigen Ansicht zu, dass diese Glückseligkeit in der Tätigkeit der Seele gemäß der vollkommenen Tugend in einem vollen Leben bestehe.122 Interessanterweise hat Crell diese Definition weder in der Ethica Aristotelica noch in der Ethica Christiana durch die Bestimmung einer christlichen beatitudo ergänzt.123 Ihm genügte der Hinweis, dass die erste, jedoch fernere Ursache dieser Glückseligkeit Gott und die zweite, nähere und eigentliche Ursache die Tugend bzw. die Ausübung der Tugend sei.124 Allein die Unterscheidung zwischen 120 Die Prima ethices elementa sowie die Ethica Aristotelica sind in die vier Abschnitte De felicitate, de virtute morali, de voluptate, de amicitia gegliedert. Dies entspricht der in der Zeit gängigen Einteilung solcher Ethiken. 121 Crell: Prima ethices elementa, S. 119a: „Ethica est disciplina Practica, rationem humanae felicitatis consequendae explicans.“ In der Ethica Aristotelica heißt es nach diesem Satz erklärend: „Dicitur autem Ethica, sive moralis disciplina, quia mores hominum, hoc est, actiones virtutum & vitiorum, explicat: actiones quidem virtutum, quae sunt potissimum felicitatis adipiscendae medium, per se, vitiorum vero per accidens.“ (A.a.O., S. 149a) Sie ist für Crell gerade keine Wissenschaft (scientia), wie Bal behauptet (vgl. „Weg zur polnischen Aufklärung“, S. 153). 122 Vgl. Crell: Prima ethices elementa, S. 119a: „Felicitas est actio animi ratione praediti, secundum virtutem perfectissimam, in vita perfecta.“ Crell lehnte ausdrücklich die Bestimmung des höchsten Gutes als Körperlust, Reichtum bzw. Ehre, aber auch als platonische idea bonorum ab. Denn diese Ideen existierten nicht; und selbst wenn sie existierten, könnte der Mensch sie nicht durch sein Handeln erreichen. Darauf käme jedoch alles an. Vgl. Crell: Ethica Aristotelica, p. I, c. III, S. 150a–b. Ich halte es für nicht angemessen, Crell „Elemente eines weit gehenden Hedonismus sowie Spuren utilitaristischer Neigungen“ zuzuschreiben, wie Bal („Weg zur polnischen Aufklärung“, S. 153) es tut. Wenn man das Glück wie Crell als Quelle sehr angenehmer Empfindungen beschreibt, so spiegelt dies nur die allgemeine, bereits von Aristoteles beschriebene Erfahrung wider, dass das Gute von allem erstrebt wird. Dieses natürliche Streben ist in der Ethik als tugendhafte Handlung zu fassen, mit dem das summum bonum erreicht werden soll. Das wird man wohl nicht als Hedonismus beschreiben wollen. 123 Die Ethica Christiana beginnt sogleich mit der Bestimmung der christlichen Tugend, die auf die Vervollkommnung des Christen abzielt im Blick auf die christliche Lehre: „Virtus Christiana est habitus animi, ad hominis perfectionem in Christi doctrina descriptum spectans.“ (Crell: Ethica Christiana, l. I, c. I, S. 230a) Crell betonte ausdrücklich, dass sich die christliche Tugend nicht wesentlich von der heidnischen Tugend unterscheide. Beide seien als eine herausragende Qualität oder gewisse Vollkommenheit zu bestimmen (vgl. a.a.O., 230a–b). Allerdings zeichne sich die christliche Tugend durch die Mithilfe Gottes aus: „Quod ad definitionem attinet Virtutis Christianae, primo vox occurrit Habitus, per quam intelligimus qualitatem acquisitam, firmiterque impressam; acquisitam autem studio ac labore, praecedente tamen divina ope atque auxilio.“ (A.a.O., 230b) Crell setzte sich hier die Bestimmung jener Tugenden zum Ziel, die allen Christen zukommen, nicht bloß den wenigen Auserwählten, wie es einmal in den frühen Zeiten der ersten Kirche bei den Aposteln üblich gewesen sei. 124 Vgl. Crell: Ethica Aristotelica, p. I, c. V, S. 154a: „Causae Beatitudinis, eaeque potissimae […] sunt duplices: una quae est prima, sed remotior: reliquae secundae, propriores tamen, quarum tractatio ad Ethicam proprie pertinet. Causa prima & remota est Deus Optimus Maximus. Nam si Deus ullius boni est auctor, ut certe est, multo magis erit auctor felicitatis, quae bonorum

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einem bonum commune und einem bonum divinum lässt anklingen, dass die aristotelische Ethik durch eine christliche Ethik zu ergänzen sei. Dass hier aber doch mehr auf dem Spiel stand als eine bloße Ergänzung, wird aus einer programmatischen Rede deutlich, die Crell am Rakower Gymnasium gehalten hat. Ihr Titel lautet auf Deutsch: Warum weder Moses noch die Philosophen die vollkommene Tugend beschreiben und beständig dabei verharren konnten.125 Crell ließ auch hier keinen Zweifel daran, dass die Ethik, welche die Sitten der Menschen erörtert, das Wesen der Tugenden und Laster darstellt, die Pflichten vorschreibt und lehrt, wie man die Affekte mäßigt und das eigene Leben lenkt, für den zukünftigen Theologen (und damit meinte er wohl auch viele der anwesenden Schüler) sehr nützlich sei. Nicht zuletzt deshalb, weil die Theologie selbst eine praktische Disziplin sei, die allgemein auf die tugendhafte Handlung, die Heiligkeit des Lebens und die wahre Frömmigkeit bezogen sei.126 Hier sieht man, dass Crell ähnlich wie die Reformierten Ethik und Theologie miteinander parallelisierte, um deren Strukturgleichheit hervorzuheben, ja, um die Einheit der Wahrheit sicherzustellen.127 Zugleich machte er jedoch deutlich, warum erst die Christen, und nicht schon Moses bzw. die antiken Philosophen, in der Lage seien, die vollkommene Tugend zu erreichen. Moses habe dem jüdischen Volk überhaupt nur Gebote vorschreiben können, die sich aufgrund der Infantilität seines Volkes auf das Irdische, nämlich den Staatsfrieden und den Besitz von Gütern, beschränkt hätten.128 Die antiken Philosophen – und das ist dann doch eine im Vergleich zum Lutheraner Frommann129 bemerkenswerte Aussage – seien dieser mosaischen Ethik bei weitem vorzuziehen, hätten sie

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omnium est praestantissimum. […] Causae secundae ac propriores sunt ipsa virtus & exercitatio qua virtus paratur.“ Das Glück (fortuna) rechnete Crell ausdrücklich nicht zu den Ursachen der felicitas, sei es doch von einem ausgesprochen geringen, weil unverdienten Wert. Vgl. Crell: „Oratio secunda. Cur nec Moses nec Philosophi perfectam virtutem praescribere & constanter urgere potuerint. Et, Cur quaedam ad virtutis perfectionem spectantia non ita praescripserit Deus per Christum, ut ea non assequi cum certa pernicie sit conjunctum“, in: Crell: Opera IV, S. 442–447. Zu den grundsätzlichen Aussagen in dieser Rede zum Verhältnis von Philosophie und Theologie vgl. Salatowsky: Philosophie der Sozinianer, S. 134f. Vgl. Crell: „Oratio secunda“, S. 443a: „Nam & ipsa Theologia practica est, & ad actionem virtutis & ad sanctitatem vitae, veramque pietatem refertur universa.“ Vgl. Crell: „Oratio secunda“, S. 443a: „[…] necesse est Philosophiae cum sacra Theologia optime convenire, & ad eam commodius percipiendam & explicandam conferre. Convenire quidem oportet, quia verum vero semper consentit.“ Hieraus ergibt sich die Wertschätzung der Philosophie für die Theologie: „Quare ii mihi semper operae pretium fecisse visi sunt, qui sobrium disciplinarum istarum usum cum Theologia conjunxerunt, & si quid apud philosophos reperissent boni, id in Theologiae subsidium & ornamentum quoddam […] convertere sunt conati.“ Vgl. Crell: „Oratio secunda“, S. 443a–444a. Vgl. Frommann: Disputatio ethica II, S. C1r: „Gratulemur & nobis, non tam de Aristotele, qui suis in moralibus utilia & scitu necessario, ad hanc civilem vitam recte instituendam & feliciter transfigendam conscripta, in posteritatis usum reliquit, quam limpidissimis Israelis fontibus, ex quibus longe purius & salubrius bene vivendi praecepta haurire & ad usum transferre possumus. Nihilominus in scholis Christianorum, praelucente & facem praebente Scriptura sacra, ceu

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doch, durch die Natur bzw. Vernunft, geführt eine vollkommenere und beständigere Tugendlehre überliefert. Crell erwähnte hier nicht nur die Peripatetiker, sondern auch die Stoiker, die beide die geistigen Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens erkannt hätten.130 Ihre Ethik sei aber eine auf das Diesseits gerichtete Ethik, die hier den Lohn erwarte. Erst die Christen hätten die Sublimierung der Ethik vervollkommnet, indem die tugendhaften Handlungen im Blicke auf das verheißene ewige Leben vollzogen würden. Crell historisierte hier also die menschliche Ethik, die in der imitatio Christi ihren Höhepunkt erreicht hat.131 Diese christlich-religiöse, spezifisch sozinianisch geprägte Ethik empfahl Crell daher seinen Schülern. Auch an diesem Beispiel zeigt sich also, dass der Ethikunterricht an den sozinianischen Schulen durchaus konfessionell konnotiert war und die Schüler hier ihre erste, dem entsprechende religiöse Orientierung erhielten. Wie fast alle Aristoteliker, so ging auch Crell davon aus, dass die Tugenden nicht angeboren sind, sondern erworben werden müssen. Im Unterschied zu den Lutheranern und in Übereinstimmung mit den Reformierten setzte er zwischen den philosophischen und theologischen Tugenden keine kategoriale Differenz; er betonte lediglich, dass bei den theologischen Tugenden Gottes Beistand erforderlich sei.132 Die bereits oben festgestellte Angleichung beider Ethiken findet hier einen weiteren Beleg. Als dreifache Wirkursache für den Tugenderwerb benannte Crell Christiana Ethica, etiam saniorum Ethnicorum morales libri, non sine juventutis emolumento, retineri & retenti publice proponi & explicari possunt […].“ 130 Vgl. Crell: „Oratio secunda“, S. 444a: „Quod at Philosophos attinet, cum ii partium verum Deum prorsus ignorarent, partim exiguam quandam illius notitiam haberent, eorumque alii mundum ab eo conditum negarent, & omnem illius providentiam tollerent, quo in numero Aristoteles Peripateticorum princeps est reponendus; alii qui paulo post Deo tribuebant, ignorarent tamen quanta illius esset circa res singulas cura & providentia, quantum ab eo vel sperandum vel flagitandum, homini praecepta ad Deum colendum spectantia, vel nulla, vel mutila tradidere. At vero si caetera spectes virtutis officia, quae non ad religionem cultumque divinum, sed ad vitam communem regendam, affectus coercendos, ac cupiditates refraenandas pertinent, perfectiora etiam quam Moses, & constantiora honesti praecepta tradidere Philosophi, tum Stoici, tum Peripatetici.“ 131 Mit diesem Gedanken einer Weiterentwicklung der Ethik knüpfte Crell an Äußerungen seines Rakower Kollegen Johannes Völkel an, der sein erst posthum 1630 veröffentlichtes Hauptwerk De vera religione libri quinque als eine „Geschichte der Vervollkommnung und Verheißungen Gottes“ (Daugirdas: Die Anfänge des Sozinianismus, S. 266) gestaltet hatte. Religion und Ethik sind hier praktisch einander identisch: Den noch nicht klar normierten religiös-sittlichen Anfängen der ersten Menschen sei die klarere und vollkommenere Religion Abrahams gefolgt, dann die erneut verbesserte Religion des Moses und schließlich die vollkommenste Stufe in der vom Menschen Jesu verkündigten und exemplarisch vorgelebten Botschaft vom ewigen Leben sowie in seinen moralischen Weisungen. Vgl. hierzu die Nachweise a.a.O., S. 267. 132 Vgl. Crell: Ethica Aristotelica, p. II, c. III, S. 156a: „Virtutem non inesse nobis natura, sed potius studio & exercitatione parari […].“ Ders.: Ethica Christiana, l. I, c. I, 230b: „Quod ad definitionem attinet Virtutis Christianae, primo vox occurrit Habitus, per quam intelligimus qualitatem acquisitam, firmiterque impressam; acquisitam autem studio ac labore, praecedente tamen divina ope atque auxilio.“ Crell beachtete auch hier den Wandel der Zeiten innerhalb des Christentums – so seien einigen Christen der frühen Kirche einige Tugenden direkt von Gott eingegeben worden, was heute so nicht mehr der Fall sei – und betonte, dass er hier von Tugenden spreche, die allen Christen und nicht nur einigen wenigen zukämen.

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Natur, Lehre und Übung: Die Natur stattet uns zum einen mit dem Vermögen bzw. der Fähigkeit aus, die Tugenden durch wiederholte Handlungen in uns aufzunehmen, und zum anderen mit einer gewissen Neigung zum Guten. Die Lehre wiederum vermittelt die Regeln und Vorschriften, die benennen, was zu folgen und was zu fliehen ist, und setzt verschiedene Anreize, um der Tugend zu folgen. Damit diese Lehre aber nicht ins Leere läuft, bedarf es der Übung, die überhaupt erst den habitus virtutis in uns ausbildet. Für Crell liegt hier die Hauptaufgabe der Ethik, die das Kunststück vollbringen muss, die Tugenden so zu beschreiben und zu lehren, dass der Schritt in die Praxis die natürliche Folge der Lehre ist.133 Welche Rolle kommt bei Crell in diesem Zusammenhang der pietas zu? Wie bereits erwähnt, hat er sie nicht im Rahmen der Ethica Aristotelica erörtert, sondern sie zur beherrschenden Tugend der Ethica Christiana bestimmt. Der fließende Übergang zwischen beiden Ethiken ist durch die virtus moralis gegeben, die er in der Ethica Aristotelica gut aristotelisch als einen „auf eine Entscheidung hingeordneten Habitus des Handelns“ definierte, der in der Mitte in Bezug auf uns liege, die wiederum durch die rechte Vernunft bestimmt sei.134 In der Ethica Christiana ergänzte er diese Definition durch einen kleinen Zusatz, der ihre christliche Überformung verdeutlicht. Sie lautet nunmehr wie folgt: „Die ethische Tugend ist ein auf eine Entscheidung hingeordneter Habitus des willentlichen Handelns, der in der Mitte in Bezug auf uns liegt, die durch die durch die Erkenntnis der Lehre Christi unterrichtete Klugheit bestimmt wird.“135 Es ist also die Orientierung an den praecepta Christi, die dieser ethischen Tugend nunmehr ihre christliche Prägung gibt. Diese Prägung ergibt sich wesentlich aus einer Art Bildungsprogramm, das auf der Grundlage der probitas animi, die sich als willentliche, d.h. freie Neigung der menschlichen Seele beschreiben lässt, der Tugend anzuhängen, den Überstieg (transitus) von der Verwerflichkeit (improbitas) im Sinne einer falschen Ausrichtung des Lebens hin zur Tugend bzw. von der impietas zur sanctitas aut pietas vollzieht.136 Dieser Überstieg vollzieht sich in mehreren Schritten, die von der Reue und Buße über die Konversion, Wiedergeburt und Erneuerung bis hin zur Taufe 133 Vgl. Crell: Ethica Aristotelica, p. II, c. III, S. 156b: „Tandem accedit Exercitatio, quae ipsum virtutis habitum nobis inserit. Omnis enim habitus usu paratur. Et in hac potissimum nobis elaborandum est.“ 134 Crell: Ethica Aristotelica, p. II, c. I, S. 155a: „Virtus moralis est habitus agendi cum consilio, consistens in medio quod ad nos, ratione recta definito.“ Vgl. Aristoteles: NE II 6, 1106b36– 1007a2. Die Tugend wird dergestalt als eine Fähigkeit verstanden, mit Klugheit das eigene Verhalten zu lenken, die Affekte zu mäßigen – d.h. sie auf das rechte, nämlich mittlere Maß zu bringen – und den Menschen auf das rechte Ziel auszurichten. Der Mensch ist hier Subjekt und Objekt zugleich. 135 Crell: Ethica Christiana, l. II, c. I, S. 250a: „Virtus moralis est habitus voluntatis agendi cum consilio, consistens in mediocritate, quoad nos, praeceptis Christi monstrantibus, prudentia definita; seu mavis, quae a prudentia, cognitione doctrinae Christi instructa, definita sit.“ 136 Vgl. Crell: Ethica Christiana, l. II, c. II, S. 261a: „De complexu omnium virtutum moralium, seu de Sanctitate generatim sumpta […]. Sequitur nunc altera pars Tractationis generalis de Virtute Morali, ubi nobis complexus Virtutum istarum simul junctarum, quae Sanctitas aut Pietas dicitur, considerandus venit.“ A.a.O., c. III, S. 268b: „De Transitu a vitiis ad virtutem & pietatem.“

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selbst reichen. Die pietas ist also nicht bloß eine Tugend unter anderen, sondern sie ist der complexus omnium virtutum moralium, wie es an einer Stelle heißt, die Sammlung aller Tugenden in dem einen Habitus, der sich am Leben Christi orientiert und ihm nachfolgt. Zu diesem Habitus gehören aus Crells Sicht zum einen die Beständigkeit (constantia), eine Fortdauer der mit der Tugend übereinstimmenden Handlungen, die durch keine oder nur wenige sündige Handlungen unterbrochen wird, und zum anderen die Kampfeslust und geistige Freude (alacritas), die jemand bei seinen tugendhaften Handlungen spürt, wenn Fleisch und Lust soweit gezähmt sind, dass sie keine moralischen Schwierigkeiten verursachen.137 Je nachdem, wie groß nun die constantia & alacritas in jedem einzelnen Menschen sind, lassen sich drei Grade dieser pietas unterscheiden. Der erste, unterste Grad kennzeichnet laut Crell jene Menschen, die den Vorschriften Christi zwar meistens folgen, auch von der Sünde abstehen, aber ihren Tugendhabitus noch nicht vollständig ausgebildet haben, immer wieder dem Fleisch unterliegen. Der zweite, mittlere Grad zeichnet Menschen aus, die einen vollkommenen Tugendhabitus haben und den Vorschriften Christi beständig folgen. Der dritte und höchste Grad der pietas kommt Menschen zu, „die, sich mit größtem Eifer auf die Tugend stürzend, bis zu jenem Punkt kommen, wo sie sich bereits einige Zeit lang beinahe überhaupt nichts mehr gegen die göttlichen Lehren zuschulden kommen lassen“.138 Es ist ein Kennzeichen dieser sozinianischen Ethik, dass sie erstens die Freiheit des Menschen betont, ein tugendhaftes Leben führen und sich von den Sünden fernhalten zu können, dass sie zweitens die Lehre vom peccatum originale als angeblich sich vererbende adamitische Erbsünde ablehnt und so den Menschen von dem dogmatischen Ballast eines ontologischen Verderbtseins befreit, auch wenn sie die fragilitas humana139 in keinster Weise leugnet, diese jedoch individualisiert, und dass sie schließlich drittens insgesamt von einem positiven Menschenbild der Perfektionierung ausgeht, einer Art ethischer Selbstvervoll-kommnung140 im Nachvollzug der Vorschriften Christi. Wenn der Lutheraner David Vogel in Crells pietas unter Berufung auf 2. Tim 3,5 nur einen „Schein von Frömmigkeit“ erkennen konnte, vor allem weil der zweite Grad eine reine Fiktion sei und der dritte Grad aufgrund der Erbsünde von keinem Christen in diesem Leben erreicht werden könne,141 dann liegt dem ein vollkommen 137 Vgl. Crell: Ethica Christiana, l. II, c. VI, S. 294b. 138 Vgl. Crell: Ethica Christiana, l. II, c. VI, S. 295a: „Tertius igitur ac supremus gradus pietatis est eorum, qui alacerrime virtutis studio incumbentes, eo pervenerunt, ut jam per aliquod tempus, idque non exiguum, adversus divina praecepta nihil prorsus delinquant.“ 139 Vgl. Crell: Ethica Aristotelica, p. I, c. VI, S. 154b. 140 Auch Bal erkennt in Crells Ethiken ein „ethische(s) Perfektionsstreben“ („Weg zur polnischen Aufklärung“, S. 154), das sich mit dem Normativismus – im Sinne einer Orientierung an persönlichen Vorbildern, dessen vollkommenes eben Christus gewesen ist – zu einem Erziehungsprogramm verbinde. 141 Vgl. Vogel: De pietatis fuco, § XI, S. 13: „De secundo Pietatis gradu Unitariorum sic judicamus, eum fictitium plane esse & Sacrae Scripturae e diametro contrarium. Falsum enim & erroneum plane dogma est, quando Crellius […] de Sanctis dicit, habitum Virtutis perfectum […] esse consecutos; falsum quoque heterodoxum est, ita Carnem Sanctos perdomare posse, ut nullam difficultatem in agendo experiantur; innititur enim haec erronea Thesis falso

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anderes Menschenbild zugrunde, das nicht nur eine andere Anthropologie, sondern auch eine andere Ethik erforderlich macht. Vogel verteidigt in der Nachfolge Luthers den geknechteten Willen in den res sacrae, gerade weil die Erbsünde den Menschen wenn nicht substantiell, so doch akzidentiell stark prägt und gefangenhält. Bei ihm herrscht ein statischer Seinszustand des Menschen vor, der nur aus Gnade, aufgrund eines vollkommen freien Aktes der göttlichen Zurechnung, veränderlich wird. Doch auch auf dem Feld der Ethik zeigen sich deutliche Gegensätze: Bei Crell gehen philosophische und christliche Ethik ähnlich wie bei den Reformierten ineinander über; die Ethica Aristotelica ist eher die Grundlage der Ethica Christiana als ihr Gegensatz. Von ihrer Verbesserung ad Sacram Literarum normam, wie der Untertitel der letzteren Schrift verspricht, ist jedenfalls wenig zu spüren. Bei Vogel und den anderen Lutheranern wird dagegen die Andersartigkeit der christlichen Ethik betont, auch wenn sie nicht in einem Gegensatz zur philosophischen Ethik zu stehen kommt. Letztere bleibt ein notwendiger Teil des Unterrichts an christlichen Schulen, obgleich sie immer in einer gewissen Spannung zum christlichen Leben steht, das seine Kraft aus anderen Quellen bezieht. 6. SCHLUSSBEMERKUNGEN: SCHULE ZWISCHEN KONFESSIONALISIERUNG UND SÄKULARISIERUNG? Die philosophische Ethik, das lässt sich abschließend festhalten, bildete neben dem Katechismus-Unterricht den wichtigsten konfessionellen Resonanzraum an den Schulen der Frühen Neuzeit. Wie die Studie gezeigt hat, ist dies freilich nicht so zu verstehen, als ob nun die gesamte Disziplin einem konfessionellen Vorbehalt unterlag. Das war nachweislich nicht der Fall. Vielmehr muss man hier Inhalt und Umfang der Konfessionalisierung jeweils in concreto herausarbeiten. Sie ist kein Phänomen, das durchgängig feststellbar wäre, sondern zeigt sich nur in bestimmten Bereichen. Diese werden sozusagen konfessionell markiert, um deutlich zu machen, dass hier ein katholisches, lutherisches, reformiertes oder sozinianisches Interesse besteht, an dem die je eigene Lehre oder der je eigene Glaube aufgezeigt wird. Diese konfessionelle Differenz sichtbar zu machen, ist die eigentliche Aufgabe der Forschung zur Konfessionalisierung, die sich leider allzu oft im Ungefähren bewegt. Nur eigenes interkonfessionelles Arbeiten hilft hier weiter. Allein auf diese Weise werden die konfessionellen Markierungen sichtbar. Sie beschreiben die geringen Differenzen in der großen Einheit. Denn eines darf nicht übersehen werden: Die Konfessionalisierung des 16. und 17. Jahrhunderts fand auf der Grundlage eines von allen geteilten Wissenschafts- und Bildungssystems statt, das in der Philosophie durch und durch aristotelisch geprägt war. Die philosophische Ethik der supposito Unitariorum peccatum Originis non dari, sed merum figmentum esse.“ A.a.O., § XIV, S. 15: „[…] hunc ultimum Pietatis gradum ne possibilem quidem esse, ac a nullo unquam Christianorum vel obtentum esse vel adhuc obtineri posse firmissime sumus pervasi; cum hunc perfectionis gradum status hominis sanctificati in hac mortalitate haud permittat, cum sciamus imaginem divinam amissam a nobis in hac mortalitate saltim inchoative restaurari, in futura demum vita consummative perficiendam.“

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einzelnen Konfessionen konnte daher nur an jenen Stellen konfessionell geprägt sein, wo die dahinterstehende Theologie, der Glaube oder das Bekenntnis dies verlangten. An diesem Punkt hätten weitere Forschungen, die sich mit den konkreten Inhalten des Unterrichts im Zeitalter der Konfessionalisierung befassen wollen, anzusetzen. Erst auf der sicheren Grundlage einer hier wie dort bestätigten These von der Konfessionalisierung könnte dann in einem zweiten Schritt die Frage nach der Säkularisierung gestellt werden, die von der Forschung seit einigen Jahren verstärkt untersucht wird.142 Wenn diesem Paradigma einige Plausibilität zukommen sollte, dann wäre auch hier die philosophische Ethik jene Disziplin, wo es sich bevorzugt zeigen müsste. Denn die ,Verweltlichung‘ der Handlungen bzw. die Ethisierung des Glaubens dürften als wichtige Attribute einer solchen Säkularisierung gelten. Im Blick auf den vorliegenden Beitrag wäre hier vor allem Johann Crell ein Kandidat. Welche Kriterien lassen sich hierfür konkret benennen? Betrachtet man die von Hartmut Lehmann benannten Punkte,143 so wird man im Blick auf die hier präsentierten philosophischen Ethiken der Reformierten, Lutheraner und Sozinianer aus dem frühen 17. Jahrhundert noch von keiner ausgeprägten Säkularisierung sprechen wollen. Gleichwohl lassen sich bei den Reformierten und stärker noch bei den Sozinianern erste Tendenzen eines Säkularisierungsprozesses feststellen. Dies lässt sich im Blick auf die Ethik wie folgt begründen: 1. Es kam es zu einer Angleichung von Ethik und Theologie, sodass letztere ihren von den Lutheranern verteidigten Sonderstatus als habitus θεόσδοτος verlor. Hierzu gehört auch, dass es keine kategoriale Differenz zwischen heidnischen und christlichen Tugenden mehr gab. 2. Es kam zu einer Individualisierung und Subjektivierung von Ethik und Religion: Jeder musste für sein eigenes Handeln und für seinen eigenen Glauben Verantwortung übernehmen. Die Sozinianer befreiten hierfür die Vernunft von dem lastenden Druck der Erbsünde. Sie übertrugen jedem Christen die Aufgabe, selbst zu prüfen und zu beurteilen, woran man glaubt. Der Glaube wurde damit Privatsache. Die Verantwortung für das eigene Seelenheil fiel auf jeden selbst zurück, konnte nicht länger auf eine Institution übertragen werden. 3. Es kam hierdurch zu einer stärkeren Differenzierung zwischen Religion und Staat, da die Privatisierung des Glaubens die Religion von obrigkeitlichen Einflüssen befreite und zugleich die öffentliche Dominanz der Konfessionen brach. Bei den Sozinianern finden sich sogar ausgeprägte Tendenzen einer strikten Trennung von Kirche und Staat, bis hin zur Ablehnung der Verteidigung eines Landes mit Waffen gegen äußere Angriffe.144 4. Die Fokussierung auf ein christliches Leben sollte jedoch in unbedingter Tolerierung andersgläubiger Ansichten erfolgen. Dies setzte die Pluralisierung ethischer und religiöser Deutungen voraus, die insgesamt zu einer Beendigung monopolistischer oder auch nur autoritärer Strukturen führte. 142 Vgl. Freytag/Salatowsky: „Einleitung“, S. 11f. (dieser Sammelband). 143 Vgl. Freytag/Salatowsky: „Einleitung“, S. 13 (dieser Sammelband). 144 Vgl. ausführlich Stanisław Kot: Socinianism in Poland. The Social and Political Ideas of the Polish Antitrinitarians in the Sixteenth and Seventeenth Centuries. Translated from the Polish by Earl Morse Wilbur. Boston 1957.

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Sascha Salatowsky

Man wird jedoch weder bei den Reformierten noch bei den Sozinianern von einer Verweltlichung oder Marginalisierung des Religiösen sprechen wollen. Dies wäre eine unzeitgemäße Verwendung jener Kategorien, die sich erst mit der Aufklärung im Verlauf des 18. Jahrhunderts Bahn brechen sollten. Die Angleichung von Ethik und Religion markiert aber jenen Startpunkt, der das Ende des Zeitalters der Konfessionalisierung einläutete. Die Schule blieb zwar noch lange ein konfessioneller Resonanzraum, selbst noch am Ende des 18. Jahrhunderts, doch verlor die philosophische Ethik zunehmend ihre instrumentelle Funktion für die Religion. Sie wurde frei für einen neuen Zugriff im Sinne eines Lebensvollzugs zwischen Vernunft und Kritik auf der einen sowie Glauben und Frömmigkeit auf der anderen Seite.

DER STREIT UM DIE VERGANGENHEIT Konfessionspolitische Propaganda in katholischen und protestantischen Schulbüchern für den Geschichtsunterricht in der Frühen Neuzeit Jens Nagel Abstract: What historical knowledge should be presented to children at schools? This question has always been an issue of political debate. In the Holy Roman Empire during the Early Modern Era, especially the Catholics and Protestants disagreed on which narratives represented the ‘truth’ about history most faithfully. My contribution examines Protestant and Catholic schoolbooks from the 16th to the 18th century with regard to highly controversial historical topics, e.g. Constantine the Great, Charlemagne, the Tudors and Henry VIII, emperor Henry IV’s penance in Canossa, the French Wars of Religion, the assassination of Henri IV of France or the Gunpowder Plot. As it becomes clear, all of these narratives were exploited to back one’s position in contemporary political debates and to shed a dubious light on the opponent. The authors thereby projected their own political agenda back into the past. Zusammenfassung: Die Frage, welches historische Wissen der Jugend an Schulen dargeboten werden soll, ist seit jeher Gegenstand politischer Auseinandersetzungen. So waren im Heiligen Römischen Reich der Frühen Neuzeit besonders Katholiken und Protestanten uneins darüber, welche Narrative die ‚Wahrheit‘ über die Geschichte am zuverlässigsten abbilden. Mein Beitrag untersucht protestantische und katholische Schulbücher des 16. bis 18. Jahrhunderts in Hinblick auf besonders umstrittene historische Themen. Dabei zeigt sich, dass alle diese Narrative – ob Konstantin der Große, Karl der Große, die Tudors und Heinrich VIII., der Bußgang nach Canossa, die Hugenottenkriege, der Mord an Heinrich IV. oder der Gunpowder Plot – dazu instrumentalisiert wurden, tagespolitische Kontroversen auszufechten und die Gegenseite in ein möglichst schlechtes Licht zu rücken: Die Autoren projizieren ihre eigene politische Agenda zurück in die Vergangenheit.

1. EINLEITUNG It has been said that though God cannot alter the past, historians can; it is perhaps because they can be useful to Him in this respect that he tolerates their existence. Samuel Butler1

Erst 2014 forderte eine rechtspopulistische politische Partei in ihrem Wahlprogramm, dass der „Schul- und insbesondere Geschichtsunterricht […] nicht nur ein

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Samuel Butler: Erewhon and Erewhon Revisited. Mineola (New York) 2015, S. 287.

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vertieftes Verständnis für das historische Gewordensein der eigenen Nationalidentität, sondern auch ein positives Identitätsgefühl vermitteln“ müsse.2 Zwar lässt sich diese Position problemlos als ideologische Propaganda entlarven, aber der Historiker kann gerade deshalb zwei Dinge daraus lernen: Erstens instrumentalisieren Gesellschaften die Vergangenheit, um eine kollektive Identität zu konstruieren.3 Zweitens stellen Narrative über die Vergangenheit, die im Geschichtsunterricht dargeboten werden, immer ein Politikum dar: Sie sind zwischen Teilen einer Gesellschaft umkämpft, weil sie das Identitätsgefühl definieren, den moralischen Haushalt einer Gemeinschaft regulieren und die politische Richtung der Gegenwart beeinflussen sollen. Wer Geschichte für die Schulen schreibt, will sich damit meist in die aktuelle Politik einmischen. Und so haben politische, religiöse oder andere gesellschaftliche Gruppierungen im Laufe der Jahrhunderte immer wieder versucht, über einen vermeintlich ,richtigen‘ Zugriff auf die Vergangenheit Diskurshoheit in der Gegenwart zu gewinnen. Der Geschichtsunterricht an den Schulen ist dabei ein besonders hart umkämpftes Feld, denn er entscheidet wesentlich darüber, wie die Mitglieder einer Gesellschaft über die Vergangenheit denken, genauer gesagt, welche Narrative im jeweiligen Kontext als Wissen gelten. Über die Wirkung von im Unterricht verwendeten Geschichtslehrbüchern schreibt Wolfgang Jacobmeyer: In Deutschland dürften zwischen 1700 und 1945 weit über hundert Millionen Kinder das öffentliche Schulwesen passiert haben, wo sie im Geschichtsunterricht auch durch Lehrbücher dieses Faches belehrt worden sind. Das Geschichtsbuch ist also unstrittig das am weitesten verbreitete Medium moderner Gesellschaften zur Überlieferung von Geschichte.4

Was für moderne Gesellschaften gilt, trifft auf die vormodernen des 16. bis 18. Jahrhunderts erst recht zu, dies umso mehr, als deren Geschichtskultur nicht, so wie wir heute, zusätzlich über Fernsehen, Kino, Internet, Museen und touristisch aufbereitete historische Stätten verfügte. Der intensive Nationaldiskurs, der gegenwärtig von einer globalisierten Sichtweise auf die Geschichte abgelöst und nur noch von einigen rückwärtsorientierten Strömungen vertreten wird, bleibt eine Episode des 19. und 20. Jahrhunderts. In der Frühen Neuzeit dagegen war etwas ganz anderes von weit höherer Brisanz: die Berührungspunkte und Schnittmengen, vor allem aber die Grenzziehungen zwischen Religion und Politik sowie die Abgrenzung der christlichen Konfessionen gegeneinander. Ziel der nachstehenden Bemerkungen ist es, fünf der populärsten protestantischen und katholischen Geschichtsschulbücher der Frühen Neuzeit in Hinblick auf

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AfD-Wahlprogramm Sachsen 2014, Forderung IV.3.1. Aufwertung und Umgewichtung des Geschichtsunterrichts. Vgl. http://www.afdsachsen.de/download/AfD_Programm_Lang.pdf (letzter Zugriff: 2. August 2017). Zum Thema Geschichtsschreibung und Identitätsstiftung in der Frühen Neuzeit vgl. Matthias Pohlig: Zwischen Gelehrsamkeit und konfessioneller Identitätsstiftung. Lutherische Kirchenund Universalgeschichtsschreibung 1546–1617. Tübingen 2007. Wolfgang Jacobmeyer: Das deutsche Schulgeschichtsbuch 1700–1945. Die erste Epoche seiner Gattungsgeschichte im Spiegel der Vorworte. 3 Bde. Berlin 2011, hier: 1. Bd., S. 10.

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solche historische Narrative zu untersuchen, die sich besonders für in die Vergangenheit projizierte, konfessionspolitische Propaganda eignen. Doch zuvor werde ich – erstens – die Entwicklung des Geschichtsunterrichts auf protestantischer und katholischer Seite zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert skizzieren. Zweitens kommen die ausgewählten Autoren und ihre Lehrwerke näher in den Blick, bevor ich – drittens – im direkten Vergleich zentrale katholische und protestantische Narrative herausarbeite und dabei die Erzählstrategien beleuchte, die die Konfliktparteien im Kampf um Deutungsmacht einsetzten. 2. GESCHICHTSUNTERRICHT AN PROTESTANTISCHEN GYMNASIEN UND JESUITENSCHULEN Der Aufstieg des Geschichtsunterrichts beginnt im Heiligen Römischen Reich gegen Ende des 16. Jahrhunderts.5 Träger der Entwicklung sind im protestantischen Einflussbereich die städtischen und fürstlichen Gymnasien und Lateinschulen. Die Bildungslandschaft des katholischen europäischen Raumes hingegen (Italien, Frankreich, Spanien, katholische deutsche Landesteile) dominiert der international agierende Jesuitenorden mit seinen mitunter ebenfalls als Gymnasien bezeichneten Kollegien.6 In der Frühphase um 1600 fand die historische Unterweisung an protestantischen Schulen noch unselbstständig in Form der Lektüre antiker lateinischer Historiker wie Livius, Sallust, Caesar, Justinus und Curtius statt, meist in den oberen Klassen als Ergänzung zum Latein- und Rhetorikunterricht. Nur an wenigen Schulen gab man auch eigene Stunden in Universalgeschichte. Seit dem frühen 17. Jahrhundert verankerten dann immer mehr Gymnasien den Geschichtsunterricht in ihren Lehrplänen; eine Vorreiterrolle spielten hier größere ‚illustre‘ Gymnasien im mitteldeutschen Raum wie das spätere Ernestinum in Gotha (1606), das Casimirianum in Coburg (1605)7 und das überregional ausstrahlende städtische Gymnasium

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Zur Entwicklung des protestantischen Geschichtsunterrichts vgl. u.a. Albert Richter: „Die Methodik des Geschichtsunterrichtes der Volksschule in ihrer geschichtlichen Entwickelung“, in: Carl Kehr: Geschichte der Methodik des deutschen Volksschulunterrichts. 2. Bd. Geschichte der Methodik des Unterrichtes in den Realien. Gotha 1888, S. 73–132; Edgar Hösch: „Der Geschichtsunterricht an den Höheren Schulen Deutschlands bis zur Einführung eines selbstständigen Unterrichtsfaches Geschichte“, in: Internationales Jahrbuch für Geschichtsunterricht VIII (1961/62), S. 16–56. Zwar unterhielten auch andere Orden Schulen, aber nicht im selben Umfang wie die Jesuiten. Hartmann schätzt, dass in Frankreich nach 1750 80% der Gymnasien von Jesuiten betrieben wurden. Vgl. Peter C. Hartmann: Die Jesuiten. München 22008, S. 89. Zur Situation in Deutschland Notker Hammerstein und Rainer A. Müller: „Das katholische Gymnasialwesen im 17. und 18. Jahrhundert“, in: Notker Hammerstein und Ulrich Herrmann (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. 2. Bd. 18. Jahrhundert. Vom späten 17. Jahrhundert bis zur Neuordnung Deutschlands um 1800. München 2005, S. 324–354, hier: 336–343. Beide Schulen erhielten Geschichtsunterricht im Rahmen der Schulreformen Johann Casimirs von Sachsen-Coburg (1564–1633). Über die Casimirianischen Reformen und ihre Wirkung auf

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in Görlitz (1609).8 Um 1700 ist das Fach an den meisten protestantischen Gymnasien fest etabliert. Auch im Schulwesen der Jesuiten wurden die Historien zunächst im Rahmen der Rhetorik- und Spracherziehung der oberen Klassen unterrichtet.9 Dies änderte sich durch die 14. Generalkongregation der Jesuiten von 1703, als Joseph de Jouvancy (1643–1719) mit der Abfassung eines ordensweiten Unterrichtsplanes beauftragt wurde, der Ratio discendi et docendi (publ. 1706). Jouvancy schreibt darin erstmals die Einrichtung selbstständiger Unterrichtsstunden für die Geschichte fest.10 Eine weitere einschneidende Lehrplanreform führten die Jesuiten ab 1726 durch; fortan erhielten nicht nur die oberen, sondern auch die unteren Klassen regelmäßig Geschichtsunterricht.11 3. LEHRBÜCHER UND AUTOREN Die bedeutendsten Medien zur Vermittlung historischen Wissens seit dem Ende des 16. Jahrhunderts waren die Kompendien zur Universalgeschichte,12 die den Anspruch verfolgten, die gesamte Weltgeschichte von der Schöpfung der Welt durch Gott an bis hin zur jeweiligen Gegenwart darzustellen. In unserem Zusammenhang sind insbesondere fünf Geschichtsbücher von Bedeutung, die in den damaligen Lehrplänen kanonisch waren: Auf protestantischer Seite Johann Sleidans De quatuor summis Imperiis (Erstausgabe 155613), Johann Hübners Kurtze Fragen aus der politischen Historia (Erstausgabe 169714) und Christoph Cellarius’ Historia

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Gotha vgl. Christian Ferdinand Schulze: Geschichte des Gymnasiums zu Gotha. Gotha 1824, S. 63–89. Vgl. Christian Knauthen: Das Gymnasium Augustum zu Görlitz; in seiner alten und neuen inner- und äuserlichen Gestalt der verflossenen 200 Jahren, bey desselben Jubel-Feier den 25. und 26. Jun. 1765. Nebst vorgängiger Anzeige der alten Schulen. Görlitz 1765, S. 83. Vgl. David Brader: „Die Entwicklung des Geschichtsunterrichts an den Jesuitenschulen Deutschlands und Oesterreichs (1540–1774)“, in: Historisches Jahrbuch 31 (1910), S. 728– 759. Außerdem: Markus Friedrich: Die Jesuiten. Aufstieg, Niedergang, Neubeginn. München u.a. 2016, S. 196. Joseph de Jouvency: Magistris Scholarum inferiorum Societatis Iesu de Ratione discendi et docendi ex Decreto Congregat. Generalis XIV. Frankfurt 1706, S. 80. Vgl. Brader: „Entwicklung“, S. 745. Die Implikationen des Begriffs ‚Universalgeschichte‘ werden hier nicht ausführlich diskutiert. Unter zahlreichen verfügbaren Publikationen empfehle ich hier: Arnaldo Momigliano: „Die Ursprünge der Universalgeschichte“, in: Winfried Nippel (Hg.): Ausgewählte Schriften zur Geschichte und Geschichtsschreibung. 1. Bd. Die Alte Welt, Stuttgart u.a. 1998, S. 111–141. Außerdem: Markus Völkel: „Aufstieg und Fall der protestantischen Universalgeschichte“, in: Storia della Storiografia 39 (2001), S. 67–73. Johann Sleidan: De quatuor summis imperiis, libri tres, in gratiam iuventuti confecti. Straßburg 1556. Johann Hübner: Kurtze Fragen aus der Politischen Historia, den Lehrenden und Lernenden zur Erleichterung aufgesetzet. 10 Bde. Leipzig 1697–1707.

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universalis (Erstausgabe 170215), auf katholischer Seite Orazio Torsellinis Epitome historiarum (Erstausgabe 159816) und Maximilian Dufrènes Rudimenta historica (Erstausgabe 1726–173017). Sicherlich das einflussreichste Buch der Reihe ist De quatuor summis Imperiis, im Folgenden kurz ‚der Sleidan‘ genannt. Noch über 150 Jahre nach der Ersterscheinung kann es im Geschichtsunterricht mancher Schulen nachgewiesen werden.18 Sein Verfasser, Johann Sleidan (1506–1556), gilt bis heute als bedeutendster Historiker der Reformation.19 Aufgrund seiner nach damaligen Maßstäben hohen sprachlichen und wissenschaftlichen Qualität war das Werk für lange Zeit für die Schulen unersetzlich. Im deutschen Sprachraum wurde es bis ins frühe 18. Jahrhundert immer wieder aufgelegt.20 Für die hier nachfolgende Untersuchung der Konflikte zwischen protestantischen und katholischen Geschichtserzählungen bietet sich ein Exemplar des Werkes an, das im Münchner Jesuitenkolleg aufbewahrt wurde.21 Die Jesuiten haben das Buch zensiert, bevor sie es in ihre Schulbibliothek eingliederten; die zahlreichen darin durchgestrichenen Stellen liefern nun die entscheidenden Hinweise auf Narrative, die für viele Katholiken inakzeptabel waren und daher aus den Grenzen des Lesbaren entfernt werden mussten. Der Italiener Orazio Torsellini (1545–1599) schuf 1598 mit den Epitome historiarum den katholischen Bestseller des späten 16. bis frühen 18. Jahrhunderts.22 Torsellini selbst war als Direktor der Jesuitenkollegs von Rom, Florenz und Loreto tätig, dürfte folglich auch auf seine eigene Unterrichtserfahrung zurückgegriffen

15 Christoph Cellarius: Historia universalis breviter ac perpicue exposita, in antiquam et medii aevi ac novam divisa, cum notis perpetuis. Jena 1702. 16 Orazio Torsellini: Epitome historiarum a mundo condito. Rom 1598. 17 Maximilian Dufrène: Rudimenta historica, sive brevis, facilisque methodus juventutem orthodoxam notitiâ historicâ imbuendi, pro gymnasiis Societatis Jesu in Germania superioris provincia. 6 Bde. Augsburg 1726–1730. Die Rudimenta historica erschienen zudem in einer Parallelausgabe für die böhmischen Provinzen: Rudimenta historica, sive brevis, facilisque methodus juventutem orthodoxam notitia historica imbuendi, pro Gymnasiis Societatis Jesu in Bohemiae provincia. Bratislava (1727–1730). 18 Am Gymnasium in Freiberg (Sachsen) war es noch 1727 in Gebrauch. Vgl. Emil Preuss und Karl August Thümer (Hg.): Quellenbuch zur Geschichte des Gymnasiums in Freiberg. Von der Zeit vor der Reformation bis 1842. Freiberg 1915, S. 158. 19 Zu Sleidan als Historiker der Reformation vgl. Alexandra Kess: Johann Sleidan and the Protestant Vision of History. Hampshire (UK) 2008. 20 Die letzte ermittelbare Ausgabe: Johannis Sleidani De qvatuor summis imperiis libri tres. Nunc vero denuo revisi, multis in locis emendati. Dresden 1713. 21 Das Exemplar befindet sich heute in der Staatsbibliothek München. Es ist online als PDF verfügbar (Signatur: 962252 H.un. 542). Das Exemplar erwähnt auch Alexandra Kess: Johann Sleidan, S. 85. 22 Vgl. hierzu Uwe Neddermeyer: „Das katholische Geschichtslehrbuch des 17. Jahrhunderts: Orazio Torsellinis ,Epitome Historiarum‘“, in: Historisches Jahrbuch 108 (1988), S. 469–483.

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haben, als er das zukünftige Standardwerk der Jesuitenschulen in ganz Europa verfasste.23 Bereits mehrfach hat die Forschung seine Epitome als katholisches Gegenstück zum Sleidan behandelt.24 Für die vorliegende Untersuchung habe ich eine Ausgabe von 1628 verwendet, die mit einem vorne angehängten Tabellenteil unter dem Titel Chronicon ab orbe condito, ad haec tempora brevi compendio digestum erschienen ist.25 Das in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts am häufigsten eingesetzte protestantische Schulbuch ist Christoph Cellarius’ (1638–1707) Historia Universalis. Cellarius begann seine Karriere als Gymnasialprofessor in Weißenfels und wurde später Schuldirektor in Weimar, Zeitz und Merseburg, bevor er 1693 den Sprung aus dem Schulamt auf die Professur für Rhetorik und Geschichte an der neu gegründeten Friedrichs-Universität in Halle schaffte. Sein Schulbuch erschien seit dem Ende des 17. Jahrhunderts zunächst stückweise in drei unabhängigen Teilen, der Historia antiqua (1685), Historia medii aevi (1688) und Historia nova (1696). Erst 1702 kam die Gesamtausgabe als Historia universalis heraus. Diesem Umstand verdanken wir noch heute die Epochengliederung in alte, mittlere und neue Geschichte. Einen vergleichbaren Erfolg hatten Johann Hübners (1668–1731) Kurtze Fragen aus der politischen Historia, die seit dem Erstdruck bis ca. 175826 beinahe jährlich in aktualisierter Fassung und in unzähligen Ausgaben erschienen. Wegen seines Umfangs von 10 Bänden wurde das Werk seltener als ‚der Cellarius‘ als Leitkompendium im Schulunterricht eingesetzt. Dennoch fand es großen Anklang auch in den Klassenzimmern, mindestens wohl in Merseburg und Hamburg, dort nämlich, wo Hübner selbst als Rektor der ortsansässigen Gymnasien arbeitete. Den Abschluss unserer Reihe bilden Maximilian Dufrènes (1688–1768) Rudimenta historica. Dufrène, Jesuit und Beichtvater der Kurfürstin Maria Amalia von Bayern, hat sein zweisprachiges Lehrbuch (lateinisch-deutsch)27 extra für den Geschichtsunterricht an Jesuitenschulen verfasst; es steht in direktem Zusammenhang mit der Lehrplanreform von 1726 (vgl. oben). Wie alle bisher genannten Schriften seiner Vorgänger waren auch die Rudimenta historica ein langlebiges Werk. Soweit bislang bekannt, erschien die letzte Ausgabe 1788–1791.28

23 Die Epitome erschienen seit der Erstveröffentlichung in zahllosen Ausgaben in Amsterdam, Freiburg, Innsbruck, Köln, Leipzig, Lyon, München, Münster, Paris, Rom, Rouen und Venedig, wobei die Hochphase in den Jahren 1620 bis 1680 liegt. Die letzte ermittelte Ausgabe ist Paris 1757. Vgl. Art. „Torsellino ou Tursellin (Horace)“, in: Biographie universelle, ancienne et moderne. 46. Bd. Paris 1826, S. 293–294, hier: 294. 24 Völkel: „Aufstieg und Fall“, S. 68. Neddermeyer: „Das katholische Geschichtslehrbuch“. 25 Vgl. Orazio Torsellini: Chronicon, ab orbe condito, ad haec tempora brevi compendio digestum. Köln 1628. 26 Die letzte ermittelbare Ausgabe: Kurtze Fragen aus der Politischen Historia. Mit einer nützlichen Einleitung vor die Anfänger auch vollständigem Register vermehret. Leipzig 1758. 27 Der deutsche Titel lautet „Historischer Anfang, Oder: Kurtze und leichte Weise, die Catholische Jugend in der Historie zu unterrichten“. 28 Vgl. Maximilian Dufrène: Rudimenta historica sive brevis facilisque methodus iuventutem orthodoxam notitia historica imbuendi. Augsburg 1788–1791.

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Dufrènes Werk wurde in den 1750er Jahren das Angriffsziel einer beispiellosen protestantischen Medienkampagne. Anonyme Autoren der in Göttingen herausgegebenen Zeitungen von Gelehrten Sachen lieferten in ihrer Ausgabe von 1752 eine vernichtende Rezension der Rudimenta historica. Die Rezensenten brandmarken den Katholiken, den sie irrtümlich “Pater Francisco Borgia Goezenberger” nennen, nicht bloß wegen angeblich schlechter Schriftstellerei,29 sondern kritisieren ihn auch wegen zahlreicher Passagen, die aus ihrer Sicht zu parteiisch sind. Dufrènes Texte, so argumentieren sie, laufen „dem Religions-Frieden und der im Römischen Reich so feyerlich versprochenen allgemeinen Toleranz“30 zuwider; sie nennen das Schulbuch eine „Läster-Schrift“, die die „Grundgesetze“31 verletze. Als Schlussplädoyer drücken die Göttinger Rezensenten ihre Hoffnung aus, „daß der ReichsFiscal eine solche denen Reichs-Grundgesetzten widrige Schrift durch eine gerechte Ahndung dem Scharffrichter zum verbrennen in die Hände liefern werde; wozu sie sich auch besser schickt, als zu einem Lehrbuch in den Schulen“.32 Dufrène antwortete in mehreren Verteidigungsschriften,33 die Angreifer fanden Sekundanten in einer protestantischen Zeitung aus Erlangen34 sowie mindestens einem anonymen Pamphletierer.35 Der Streit um die Vergangenheit, ausgetragen über Schulbücher, weitete sich zu einem handfesten Skandal aus. Dies geschah zu einer Zeit, als das Ansehen des Jesuitenordens in mehreren europäischen Ländern bereits erheblich lädiert war. Gerüchte, oder wenn man so will, ‚Verschwörungstheorien‘36 29 Anonymus: Rez. „Franc. Borgia Goetzenberger [vom Rezensenten fälschlich als Autor identifiziert]: Rudimenta historica […]“, in: Göttingische Zeitungen von gelehrten Sachen 14 (1752), 20. Stück (28. Februar), S. 192–202, hier: 194: „Doch dieses sind blosse Kennzeichen einer Unwissenheit und Unfähigkeit etwas zu überdenken, wodurch allein unser Ehrwürdiger H. Pater, wann wir aller dergleichen Blümchen aus seinen Büchern zusammen lesen wolten, einen nicht geringen Rang unter denen schlechten Schriftstellern verdienen würde.“ 30 Anonymus: Rez. „Franc. Borgia Goetzenberger“, S. 195. 31 Anonymus: Rez. „Franc. Borgia Goetzenberger“, S. 201. 32 Anonymus: Rez. „Franc. Borgia Goetzenberger“, S. 202. Hervorh. JN. 33 Vgl. Maximilian Dufrène: Wohl gegründetes Beweißthum, daß man protestantischer Seits gantz keine Ursach gehabt, sich über die historische Schul-Büchlein der Oberteutschen Provintz Societatis Jesu zu beschweren. Augsburg und Innsbruck 1752; ders.: Abgenöthigte GegenPrüfung einer in diesem Jahr gedruckten glimpflichen Prüfung meines den 6. May ausgegebenen Grund-Satzes. Augsburg und Innsbruck 1753; ders. und Franciscus Neumayr: Allerunterthänigste Vorstellung an Ihro Röm. Kayserliche Majestät zweyer Priester aus der Gesellschaft Jesu, Maximiliani Dufrène, und Francisci Neumayr ihre Catholische Schrifften belangend. München 1754; ders.: Weitere Rechtfertigung P. Maximiliani Dufrene S.J. wegen seinen vor 25 Jahren herausgegebenen Rudimenta historica. Augsburg und Innsbruck 1752. 34 Die Erlanger Zeitung konnte bislang nicht identifiziert werden. Dufrène erwähnt den Angriff in: Abgenöthigte Gegenprüfung, S. 1: „[…] werde ich doch von meinen Gegnern, zweyen Verfassern gelehrter Zeitungen zu Erlang und Göttingen; insonderheit aber von einem unbenannten Authore der glimpflichen Prüfung wider meinen Willen darzu gezogen […].“ 35 Vgl. Anonymus: Glimpfliche Prüfung des in Herrn P. Dufrène vorläuffigen Antwort vom 6. May 1752 befindlichen so genannten unwidersprechlichen Grundes zu Vertheidigung der in seinen Rudimentis historicis gebrauchten anzüglichen Schreibart. [s.l.] 1752. 36 Über die antijesuitische Propaganda vgl. Andrew McKenzie-McHarg: „‚A general murther, an universal slaughter.‘ Strategies of Anti-Jesuit Defamation in Reporting Assassination in the

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über eine Beteiligung der Jesuiten an Königsmorden, ihre Einmischung in staatliche Angelegenheiten und ihre Rolle als Handlanger des päpstlichen Machtanspruches kursierten schon lange. Um 1750 „eskalierten“37 diese Auseinandersetzungen in mehreren Ländern Europas. Man warf den Jesuiten u.a. die Aufwiegelung der Guaraní-Indianer in Paraguay gegen die portugiesische und spanische Krone vor. „Vor allem in Portugal wurde daraus nach 1750 eine regelrechte Kampagne gegen den Orden […].“38 Im Jahr 1757 lastete man den Jesuiten dann das Attentat auf Ludwig XV. von Frankreich an, 1758 das auf Joseph I. von Portugal. Im darauffolgenden Jahr, 1759, wurde der Orden in Portugal verboten, 1764 in Frankreich und 1767 in Spanien. Im Jahr 1773 löste der Papst den Orden auf Druck katholischer Monarchien vollständig auf. Die absolutistischen Monarchen des 18. Jahrhunderts taten sich schwer damit, eine Gruppe von Männern in ihrem Land zu dulden, die nicht dem König, sondern dem Papst absoluten Gehorsam geschworen hatten, dabei aber den Nachwuchs der politischen Eliten ausbildeten. In der öffentlichen Debatte um Dufrènes Schulbuch nutzte die protestantische Propaganda dieses längst auch bei katholischen Monarchen latente Unbehagen für ihr Bestreben, dem Jesuitenorden größtmöglichen Schaden zuzufügen. 4. STRITTIGE NARRATIVE Viele der historischen Ereignisse, die damals für die politischen Auseinandersetzungen instrumentalisiert wurden, sind noch heute Abiturwissen. Man hat sie zwischen dem 18. Jahrhundert und heute noch mehrfach umgedeutet und wissenschaftlich ausdifferenziert. Die moderne Deutung dieser Ereignisse herauszuarbeiten, übersteigt den Rahmen der vorliegenden Untersuchung. Im Vertrauen darauf, dass die Ereignisse den meisten Lesern zumindest in ihren Grundzügen bekannt sind, möchte ich sie hier nur kurz in Erinnerung rufen:39 Konstantin der Große und die Konstantinische Schenkung Konstantin der Große (reg. 324–337) gilt als der erste christliche Kaiser. Mit der Konstantinischen Schenkung soll er die Grundlage für die weltliche Territorialherrschaft des Vatikanstaats gelegt haben. Die Schenkungsurkunde wurde aber bereits im 15. Jahrhundert von Laurentius Valla (1405/07–1457) als Fälschung entlarvt. Heute geht man davon aus, dass der Kirchenstaat durch eine Vielzahl kleinerer Early Modern Period“, in: Larissa Tracy (Hg.): Medieval and Early Modern Murder. Legal, Literary and Historical Contexts. Martlesham 2018, S. 281–307. 37 Markus Friedrich: Die Jesuiten. Aufstieg, Niedergang, Neubeginn. München u.a. 2016, S. 525. 38 Friedrich: Die Jesuiten, S. 533. 39 Da es sich bei den folgenden Bemerkungen um Allgemeinwissen handelt, verzichte ich auf Einzelbelege und fordere jeden dazu auf, alles selbst kritisch nachzuprüfen. Sofern ich hier bereits über die Meinungen der frühneuzeitlichen Schulbuchautoren vorgreife, möchte ich auf die nachfolgenden Abschnitte verweisen, in denen die präzisen Belege nachgeliefert werden.

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Schenkungen nach und nach entstanden ist. Konstantin berief 325 das erste Konzil von Nicäa ein, auf dem die Arianer zu Ketzern erklärt wurden. Er veranlasste auch den Umzug der kaiserlichen Hauptstadt von Rom nach Byzanz (später Konstantinopel), und zwar aus Gründen, über die Katholiken und Protestanten später in Streit gerieten. Getauft wurde Konstantin nach der heute etablierten Forschungsmeinung kurz vor seinem Tod von dem arianischen Bischof Eusebius von Nikomedia (gest. 341)40 – das heißt, von einem ‚Ketzer‘. Karl der Große, Pippin III. und die Pippinische Schenkung Karl der Große wurde im Jahr 800 zum Kaiser gekrönt. Katholiken und Protestanten waren sich in der Frühen Neuzeit einig, dass durch ihn das Römische Reich in Europa neu aufgerichtet wurde und in deutsche Hände geriet. Sein Vater Pippin III. (714–768) war ursprünglich nur Hausmeier im Frankenreich. Er übte zwar längst die faktische Macht aus, erlangte aber erst 751 die fränkische Königswürde durch einen ‚Staatsstreich‘ gegen den amtierenden König Childerich III. Papst Zacharias (gest. 752) stimmte dem Herrschaftswechsel zu, woraus spätere Katholiken schlossen, dass der Papst das Recht habe, Könige ein- und abzusetzen. Die Pippinische Schenkung von 756 gilt noch heute als eine der Grundlagen des Kirchenstaates. Sie besteht aus dem Territorium des Exarchats von Ravenna, einer byzantinischen Besitzung in Italien, die von den Langobarden besetzt worden war. Als die Langobarden begannen, auch Rom zu belagern, kam Pippin dem Papst zu Hilfe, vertrieb die Langobarden und versprach das eroberte Gebiet der Kirche. Bußgang nach Canossa, Heinrich IV. und der Investiturstreit „Nach Canossa gehen“ und „zu Kreuze kriechen“ sind noch heute geflügelte Worte, die für eine demütigende und aufgezwungene Form der Reue stehen. Die Metapher bezieht sich auf den Investiturstreit zwischen mehreren mittelalterlichen Königen und den Päpsten im 11. und 12. Jahrhundert, die sich darum stritten, wer die Bischöfe im Reich einsetzen durfte. Es stand aber viel mehr zur Debatte, nämlich auch die Frage, ob der Kaiser oder der Papst der mächtigste Mann im Reich sei. So versuchten die prominentesten Figuren des Investiturstreits, Heinrich IV. und Papst Gregor VII., sich gegenseitig abzusetzen. Heinrich IV. sprach dabei seinen Gegner in der Absetzungserklärung von 1076 nicht mit seinem Papstnamen (Gregor VII.), sondern mit seinem Mönchsnamen an: „an Hildebrand, nicht mehr den Papst, sondern den falschen Mönch“.41 Die protestantischen Schulbuchautoren der Frühen 40 Vgl. Alexander Demandt: Die Spätantike. Römische Geschichte von Diocletian bis Justinian 284–565 n. Chr. München 22007, S. 100. 41 Brief Heinrichs IV. an Gregor VII. vom 27. März 1076 (Zweite Fassung), in: Johannes Laudage und Matthias Schrör (Hg.): Der Investiturstreit. Quellen und Materialien (Lateinisch-Deutsch). Köln u.a. 22006, S. 123.

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Neuzeit nennen den Mann daher durchweg nur ‚Hildebrand‘. Im selben Jahr 1076 rächte sich Hildebrand/Gregor VII., indem er seinerseits den Kaiser absetzte und den Kirchenbann über ihn verhängte. Die Kreuzzüge „Gott will es“ soll Urban II. 1096 der Menge zugerufen haben, um die europäischen Adligen zum Kreuzzug, zur Eroberung des Heiligen Landes, zu bewegen. Daraufhin zogen zahlreiche christliche Armeen in mehreren Schüben in den Nahen Osten, eroberten große Gebiete und schufen mehrere Kreuzfahrerstaaten. 1099 gelangte Jerusalem in christliche Hand. Die Macht der Kreuzfahrer im Heiligen Land hielt kaum 200 Jahre. 1291 eroberten die Mamluken mit Akkon die letzte Bastion des christlichen Königreichs Jerusalem. In den Schulbüchern werden die Kreuzzüge erst seit dem späten 17. Jahrhundert kontrovers diskutiert. Protestanten halten sie für einen machtpolitischen Schachzug des Papstes, während die Jesuiten auf der Sinnhaftigkeit des Unternehmens beharren. Die Tudors, Heinrich VIII., ,Bloody Mary‘ und Elisabeth I. Heinrich VIII. von England (1491–1547) ist in der heutigen Populärkultur vor allem wegen des politischen Mordes an zwei seiner acht Ehefrauen bekannt. Um seine Scheidung von seiner ersten Ehefrau Katharina von Aragon (1485–1536) und die Heirat mit Anne Boleyn (gest. 1536) durchsetzen zu können, sagte er sich vom Papst los und begründete die anglikanische Kirche. Mit Katharina zeugte er die spätere Königin Maria I. (‚Bloody Mary‘, 1516–1558), Anne Boleyn gebar ihm Elisabeth I. (1533–1603). Aus katholischer Sicht ist Maria I. die einzig rechtmäßige Thronerbin, weil sie der einzigen vom Papst legitimierten Ehe Heinrichs VIII. entsprang. Elisabeth I. ist den Katholiken dagegen eine Ketzerin und Tyrannin. Die Protestanten streiten derweil ab, dass es sich bei Heinrich VIII. um einen Protestanten handelte und sehen in Elisabeth I. eine äußerst begabte Regentin. Den Beinahmen ‚Bloody Mary‘ für die katholische Maria I. hat die spätere protestantische Propaganda erfunden. Der Gunpowder Plot Am 5. November 1605 versuchten katholische Verschwörer in England, den protestantischen König James I. (1566–1625) mitsamt dem englischen Parlament in die Luft zu sprengen. Das Attentat schlug jedoch fehl. Weil im Dunstkreis der Verschwörung auch ein Jesuit namens Henry Garnet (1555–1605) aufgegriffen wurde, sah die protestantische Propaganda ihren Verdacht bestätigt, dass die Jesuiten nicht vor Königsmorden zurückschreckten, um ihre Ziele zu erreichen.

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Die Hugenottenkriege, Bartholomäusnacht und der Mord an Heinrich IV. Frankreich wurde im späten 16. Jahrhundert von einer Reihe von Religionskriegen erschüttert, die heute als die ,Hugenottenkriege‘ bekannt sind. Der berühmteste Protagonist dieser Ereignisse ist Heinrich von Navarra (1553–1610), der 1589 als König Heinrich IV. den französischen Thron bestieg. Er war zunächst Anführer der Hugenottenpartei, trat aber – um die Thronbesteigung legitimieren zu können – zum Katholizismus über. 1598 erließ er das Edikt von Nantes, das den Hugenotten die freie Ausübung ihres reformierten Glaubens erlaubte. Auf Heinrichs IV. Hochzeit im Jahr 1572 geschah das Massaker, das heute als ‚Bartholomäusnacht‘ oder ‚Pariser Bluthochzeit‘ bekannt ist. Die führenden Köpfe der katholischen Partei ordneten dabei zunächst die Ermordung der extra für die Hochzeit angereisten Hugenottenfürsten an, die Aktion weitete sich aber zu einem landesweiten Pogrom an den Protestanten aus. Heinrich IV. überlebte insgesamt 19 Attentate, bei denen nicht wenige eine papistisch-jesuitische Verschwörung am Werk sahen.42 Der 20. Attentäter, François Ravaillac, tötete Heinrich 1610; trotz Folter nannte der Mörder keine Hintermänner. 4.1. Ein zensiertes Schulbuch: Der ,Jesuitensleidan‘ Als Johann Sleidan 1556 in Straßburg an der Pest starb, interpretierte dies ein katholischer Konkurrent als gerechtes Gottesurteil: In diesem Jahr [1556] rottete die Pest an vielen Orten zahlreiche Menschen aus, vor allem in Straßburg und in den Rheinischen Gebieten; darunter war, neben anderen, auch der Johann Sleidan, der mit seinen Commentariis43 eine große Pest in die Christenheit hineingetragen hat.44

In für die damalige Zeit typischer Analogisierung wird hier die Krankheit Pest als Konsequenz der ‚moralischen Seuche‘ der Ketzerei beurteilt – eine logische Folge einer ‚falsch‘ erzählten Geschichte. Mochte Sleidans Tod auch für einige Katholiken Grund zur Freude sein, so sieht es dennoch danach aus, als wäre das katholische Schulwesen nicht ohne die Werke des Konfessionsgegners ausgekommen. Uwe Neddermeyer kann sogar Indizien dafür vorbringen, dass die Jesuitenschulen anfangs vom Sleidan ausgiebig Gebrauch machten.45 Das zensierte Exemplar aus dem 42 Vgl. Roland Mousnier: Ein Königsmord in Frankreich. Die Ermordung Heinrichs IV. Frankfurt am Main u.a. 1970. Über die Beteiligung der Jesuiten: S. 191–205. Auf Seite 191 spricht Mousnier von insgesamt 20 Attentaten, es kursieren aber auch niedrigere Zahlen. 43 Gemeint ist: Johann Sleidan: De statu religionis et rei publicae Carolo V. Caesare commentarii. Straßburg 1555. 44 Laurentius Surius: Commentarius brevis rerum in Orbe gestarum ab anno Salutis millesimo quingentesimo, vsq; ad annum LXVI. Ex optimis quibusqu; scriptoribus congestus. Köln 1566, S. 629. Das Zitat im Original lautet: „Pestis hoc anno multis locis plurimos extinxit, presertim Argentinae, & in locis Rhenanis, & inter alios etiam Johannem Sleidanum, qui suis commentariis magnam orbi Christiano pestem inuexit.“ Alle Übersetzungen hier wie nachfolgend stammen, soweit nicht anders kenntlich gemacht, vom Verfasser. 45 Vgl. Neddermeyer: „Das katholische Geschichtslehrbuch“, S. 475.

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Münchner Jesuitenkollegium ist ein eher zwiespältiges Indiz für Neddermeyers These, denn jemand hat darin mehr als zwanzig Textstellen so akribisch mit Tinte übermalt, dass es annährend unmöglich ist, sie zu lesen. Der Zensor hat sogar den Namen Johann Sleidans ausgetilgt, dafür aber sich selbst zu erkennen gegeben: „Approbatus per P. Gerardum Massetum 1580“.46 Was wollte Pater Massetus hier vor den Augen der katholischen Schuljugend verbergen, welche Narrative für sie unerreichbar machen? Damals lebten die Jesuitenschüler in einer abgeschotteten Welt, heute können wir die fehlenden Passagen durch einen Vergleich mit anderen Exemplaren rekonstruieren. Dass die Streichungen Massetus‘ erst auf Seite 71 beginnen, zeigt, dass Katholiken und Protestanten über weite Zeitstrecken der Antike durchaus gelehrtes Einverständnis erzielen konnten. Die Meistererzählung der Viermonarchienlehre47, die Assyrer, Babylonier, Perser und Griechen waren wohl eher Gegenstand gelehrter als konfessioneller Auseinandersetzungen. Auch die Römische Republik und die frühen Cäsaren provozierten keine Religionspolemik. Kritisch wird es erst in dem Moment, als die Päpste das politische Parkett betreten; und das geschieht im „dunklen“ Zeitalter der Spätantike mit den noch heute bekannten Spätfolgen im hohen Mittelalter, dem Investiturstreit und dem Bußgang nach Canossa. Zum ersten Mal hat Pater Massetus dort etwas durchgestrichen, wo Sleidan von der Zeit berichtet, als Maxentius,48 der Verlierer an der Milvischen Brücke, noch Kaiser war.49 Sleidan berichtet, es sei ein Dekret des „glücklosen“ (tenuisque fortuna)50 Papstes Marcellus (im Amt 307–309 n.Chr.) überliefert, das besage, dass niemand ohne Zustimmung Roms Bischöfe einsetzen oder Synoden abhalten dürfe – bis hierhin durften die katholischen Schüler noch mitlesen. Durchgestrichen ist erst Sleidans Einschätzung, dass es sich bei dem Dekret um eine Fälschung handeln müsse: Weil der Papst nämlich zu dieser Zeit unter den Verfolgungen des Kaisers Maxentius und anderen Unglücksfällen gelitten habe, könne er nicht imstande gewesen sein, solche Dekrete zu erlassen. Die nächste, längere gestrichene Stelle läuft erzählerisch auf die Konstantinische Schenkung zu, rechnet aber zuvor noch mit einer ganzen Reihe von vorkonstantinischen Kirchengesetzen ab. Auch hier ist wieder interessant, wie weit es den Schülern genehmigt war, Sleidans Text zu verfolgen (kursiv gesetzt: Die gestrichenen Passagen):

46 Sleidan: De quatuor summis imperiis, Titelblatt: „Geprüft [und gebilligt] durch Pater Gerhard Massetus im Jahr 1580.“ 47 Da die Viermonarchienlehre nicht zu den konfessionspolitisch umstrittenen Narrativen gehörte, wird sie hier nicht diskutiert. 48 Tetrarch des Römischen Reiches, Hauptgegner Konstantins des Großen. 49 Vgl. Sleidan: De quatuor summis imperiis, S. 71v. Zu den Seitenzahlen bei Sleidan zwei wichtige Anmerkungen: Erstens ist nur jede zweite Seite nummeriert. Deshalb benutze ich hier die für Archivquellen gebräuchliche Unterscheidung von Vorderseite = r[ecto] und Rückseite = v[erso]. Zweitens ist aufgrund von Druckfehlern manchmal die gleiche Seitenzahl doppelt vergeben. Deshalb kann hier die S. 71v vor der [zum zweiten Mal nummerierten] S. 71r stehen. 50 Sleidan: De quatuor summis imperiis, S. 71v.

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Es werden nämlich von Petrus an, von dem sie behaupten, dass er der erste [Papst] gewesen sei, bis zu dieser Zeit 33 [Päpste] gezählt, deren Dekrete in den Konzilsbüchern erhalten sind: Jedoch sind von diesen [Dekreten] die meisten genauso bloß Läppischkeiten wie sie Geschwätz sind, derart geradewegs den Heiligen Schriften zuwiderlaufend, dass es glaubhaft ist, dass sie von anderen in einer viel späteren Zeit erdichtet worden sind.51

Zu den Sleidans Meinung nach gefälschten Dekreten in den päpstlichen Sammlungen gehört eines von Papst Anaklet (gest. 88 n.Chr.), das behauptet, Christus selbst habe die Römische Kirche (i.e. den Papst) zum Oberhaupt aller anderen Kirchen bestimmt, eines von Alexander I. (gest. 115), mit dem der Einsatz von Weihwasser kanonisch wurde und zuletzt: Die Konstantinische Schenkung, Fundament der weltlichen Macht der Päpste.52 Sollte eine von diesen Urkunden doch tatsächlich echt sein, so sei auch dies nur ein Beweis dafür „daß nemlich dasselbige Kind des Verderbens, und Mensch der Sünden [=der Papst] schon damahls sein Reich der Ungerechtigkeit, iedoch heimlich angefangen habe“.53 Weitere Streichungen des Jesuitenpaters durchsetzen Sleidans Bericht über die Spätantike und das frühe Mittelalter. Mehrmals ist es Kritik am Suprematieanspruch des Papstes über andere Kirchen, die Massetus tilgt,54 einmal auch Kritik an der Ämterhäufung, der Tatsache also, dass der Papst (im 16. Jahrhundert) mehrere Bistümer an ein und dieselbe Person vergab. Die Kaiserkrönung Karls des Großen ist eine der tiefsten Zäsuren der Weltgeschichte in den Schulbüchern aller Konfessionen. Dort, wo Sleidan die Krönung durch den Papst schildert, Karl den Großen wegen seiner Kriegstaten und seines Engagements für die Bildung lobt, scheint Massetus einverstanden. Durchgestrichen hat er dagegen eine Passage über Karls des Großen Vater Pippin III., den man streng genommen als Usurpator bezeichnen müsste, da er die Königswürde durch eine Art von unblutigem Putsch erlangte. Da der Papst die Machtübernahme im Voraus legitimiert hatte, war die katholische Lesart dieser Ereignisse, dass es dem Papst zustehe, Könige nach Belieben ein- und abzusetzen. Sleidan äußerte Zweifel an dieser Deutung, die Pater Massetus seinen eigenen Schülern vorenthalten wollte: Diese Angelegenheit wird in dem Dekret erwähnt, das sie das Gratianische55 nennen, [es besagt,] dass es dem Papst zweifellos zustehe Königen die Herrschaft abzuerkennen. Doch sind an dieser Stelle Titel und Überschrift falsch. Es hat nämlich zwei Kaiser mit Namen Anastasios56 gegeben, keinem von beiden kann es zugeordnet werden. Denn der erste hat 200 und

51 Sleidan: De quatuor summis imperiis, S. 73r: „Numerantur autem inde à Petro, quem ipsi primum fuisse volunt, ad hoc usque tempus, triginta tres horum decreta sunt in libros inserta conciliorum: sed ex iis plaeraque tàm sunt levicula, tàm nugatoria, tàm aliena prorsus à sacris literis, ut credibile sit, ab aliis longo post tempora fuisse conficta.“ 52 Vgl. Sleidan: De quatuor summis imperiis, S. 74r. 53 Hier handelt es sich um die Übersetzung aus der deutschen Ausgabe von 1659: Joh. Sleidani vermehrte Monarchien durch Gabriel Tzschimmern. Jena 1659, S. 200. Die Übersetzung wurde am lateinischen Original überprüft. 54 Vgl. Sleidan: De quatuor summis Imperiis, S. 78 r–v, zum Konzil von Karthago vgl. S. 83r. 55 Gemeint ist wohl das um 1140 entstandene Decretum Gratiani, eine Sammlung kanonischen Rechts. 56 Gemeint sind die byzantinischen Kaiser Anastasios I. (430–518), Anastasios II. (gest. 719).

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Jens Nagel mehr, der andere 37 Jahre regiert bevor dies geschehen ist. […] Ich gedachte dies hinzuzufügen, um die Leser zu ermahnen, dass sie die Schriften des Papsttums klüger betrachten, und vorsichtiger.57

Die Geschichte der Absetzung Childerichs und der Legitimation des Usurpators Pippin ist für die politische Welt der Frühen Neuzeit mehr als nur irgendein nebensächliches Ergebnis eines mittelalterlichen Machtkampfes: Für die Katholiken ist sie ein Präzedenzfall der päpstlichen Autorität über die weltlichen Fürsten und Könige. Die Reformatoren, die ja gerade versuchten, die Autonomie der deutschen Landesfürsten zu rechtfertigen („cuius regio eius religio“), suchten daher in der Vergangenheit nach ‚Beweisen‘ für das Gegenteil – eine vom Papsttum unabhängige weltliche Autorität. Entsprechend entfaltet Sleidan in ‚seinem‘ Mittelalter einen „Reigen von Exkommunikationen, Rechtsbrüchen und Schismata“58, der im Investiturstreit zwischen Kaiser Heinrich IV. und Gregor VII. kulminiert. Matthias Pohlig findet es „interessant […], daß Sleidan keinerlei Anstrengungen unternimmt, die Motive dieses permanenten Konfliktes zu explizieren. Päpste wie Kaiser scheinen ohne Ideen, Antriebskräfte oder Interessen immer wieder den gleichen Kampf aufzuführen“.59 Dabei liegen die Interessen doch auf der Hand: Im Rahmen einer Universalgeschichte betrachtet, ist der Kampf zwischen Kaiser und Papst nicht weniger als die Frage: Wer war, und wer ist der mächtigste Mann der Welt? In Sleidans Meistererzählung war das Heilige Römische Reich deutscher Nation nämlich das letzte der vier in der Bibel prophezeiten Weltreiche. Der Untergang des Reiches wäre das Ende der Welt gewesen. Der deutsche Kaiser war somit der bedeutendste weltliche Herrscher, wenn der Papst über ihn verfügen konnte, näherte er sich (im Rahmen der Erzählung) der Weltherrschaft. Die Grundzüge der Geschichte des Investiturstreits wurden bereits in der Einleitung beschrieben: Heinrich IV. und Gregor VII. versuchen sich gegenseitig abzusetzen, der Papst bringt die Reichsfürsten dazu, ihren Kaiser zur ‚Versöhnung‘, d.h. zur Unterwerfung unter den Papst zu zwingen. Heinrich trifft den Papst vor der Burg Canossa, barfuß, und wird nach drei Tagen vorgelassen. Am längeren Teil der Darstellung Sleidans hatte Massetus nichts auszusetzen. Durchgestrichen hat er nur die von Sleidan sehr drastisch beschriebenen Nachwirkungen des VersöhnungsHandels: Die Landesfürsten, so Sleidan, seien entsetzt gewesen, dass sich ihr Kaiser dem Hildebrand/Gregor VII. unterwarf, denn sie hätten in ihrem Monarchen einen Vorkämpfer und Beschützer gegen einen Papst gesucht, „der mit den übelsten

57 Sleidan: De quatuor summis Imperiis, S. 115v: „Huius reis mentio fit in decreto, quod vocant, Gratiani, quod nimirum Papae liceat regibus abrogare principatum. Sed eius loci titulus & inscriptio falsa est. Quum enim duo sint Anastasii Caesares, neutri potest attribui. nam prior, ducentis & amplius, alter vero triginta septem annis ante regnavit, quam istud accideret: […] Admonendi causa lectores hoc addendum putavi, quo pontificiorum scripta prudenter evolvant atque caute.“ 58 Pohlig: Gelehrsamkeit, S. 172. 59 Pohlig: Gelehrsamkeit, S. 172.

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Künsten das Papsttum an sich gerissen und mit Morden und Verräterei alles besudelt hat“.60 Dass Sleidan hier nicht den Kaiser, sondern die Landesfürsten als die eigentlich ‚Guten‘ der Geschichte darstellt, die hilflos zusehen müssen, wie der Kaiser „zu Kreuze kriecht“ – dabei handelt es sich um einen weiteren Hinweis auf die Reformation selbst, in der die Emanzipation der protestierenden Fürsten gegen Kaiser und Papst legitimiert werden musste. Auf den Investiturstreit folgen im ,Jesuitensleidan‘ nur noch zwei nennenswerte Stellen, die zensiert worden sind. Die erste behandelt den Stauferkaiser Friedrich II., einen weiteren Herrscher, der mit den Päpsten im Dauerkonflikt lebte. Im Zuge dieses Erzählabschnitts nutzt Sleidan die Gelegenheit für eine Generalabrechnung mit der päpstlichen Dekretsammlung, die von Gregor IX., dem Hauptgegner Friedrichs, zusammengestellt worden war. Die Passage liest sich wie eine ergänzte Zusammenfassung aller vorigen Konfliktpunkte. Die Päpste maßten sich mit ihren Dekreten Macht über den Kaiser und andere Kirchen an. Die Liste ist lang und formuliert im Grunde einen (von Sleidan kritisierten) umfassenden Machtanspruch des Papsttums über weltliche Herrscher und andere Kirchen. Zum Ende erwähnt Sleidan dann noch ein zentrales Anliegen der Reformation, nämlich den Ablasshandel: „Ich übergehe den grossen Haufen des päpstlichen Rechtens, und denselbigen Theil welcher den Ablaß in sich begreiffet. Denn wer kann die Hinterlist, und den Betrug erzehlen?“.61 Selbstverständlich hat Massetus die gesamte Liste geschwärzt. Für den Katholiken hatte das katholische Kirchenrecht die volle Gültigkeit. Sleidan macht kaum Anstalten, in seinem Schulbuch etwas über die Reformation zu berichten, vielleicht auch deshalb, weil er ja bereits in seinen Commentariis ausführlich zu diesem Thema geschrieben hatte. Matthias Pohlig schloss vom Fehlen der Reformation im Buch darauf, dass dieses sich „nur partiell als Identitätsund Selbstbeschreibungsdiskurs“62 eigne. Wir haben jedoch gesehen, dass eine klare protestantische Linie auch ohne Reformationsnarrativ erkennbar ist, denn der Konflikt zwischen Kaiser und Papst nimmt epische Züge an, zieht sich seit Konstantin durch die Erzählung, und er wird – wie beim Investiturstreit – auf die aktuelle Politik des 16. Jahrhunderts hin erzählt. Außerdem fehlt die Reformation auch nicht ganz. Neben dem Halbsatz über den Ablasshandel musste Pater Massetus noch eine weitere Stelle unkenntlich machen: Sleidan schreibt dort über den Aufschwung der Wissenschaften im Humanismus, ausgelöst durch Gelehrte, die von Konstantinopel nach Italien geflohen waren, und weiter angetrieben durch die Druckerpresse – eine Erfindung, die auch endlich zur Verbreitung des ,wahren‘ Wortes Gottes beigetragen habe.63

60 Sleidan: De quatuor summis Imperiis, S. 141v: „[…] qui peßimis artibus papatum invasisset, qui caedibus & adulteriis omnia polluisset […].“ 61 Sleidan: Vermehrte Monarchien, S. 151. 62 Pohlig: Gelehrsamkeit, S. 174f. 63 Sleidan: De quatuor summis Imperiis, S. 170r.

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4.2. Der katholische Widerpart: Orazio Torsellini Die Konstantinische Schenkung lässt Orazio Torsellini lieber aus. Zu versuchen, die Entlarvung der Schenkung zu widerlegen, ergab wohl zu seiner Zeit schon keinen Sinn mehr. Deshalb entwickelt Torsellini andere Erzählstrategien, um den ersten christlichen Kaiser zu einem Regenten zu machen, der den Päpsten ganz ergeben war. Schon beim Konzil von Nicäa, auf dem die ‚Ketzerei‘ der Arianersekte verworfen wurde, soll Konstantin so viel Respekt vor den Bischöfen gehabt haben, dass er den schlechtesten Sitzplatz sich selbst zuwies.64 Auch der Umzug der Hauptstadt von Rom nach Byzanz sei geschehen, weil Konstantin freiwillig und „aus Ehrfurcht vor den Römischen Päpsten den Sitz des Imperiums nach anderswo zu verlegen beschlossen“65 habe. Aus der Umzugsgeschichte wird ein wichtiges, spezifisch katholisches Narrativ. Maximilian Dufrène bestätigt die Kernaussage sogar noch 130 Jahre später und konstruiert einen päpstlichen Allmachtsanspruch daraus. Niemand anderes als Gott selbst habe den Hauptstadtumzug verordnet, um den Päpsten die Oberherrschaft zu garantieren: Weil der fürsichtige GOtt das alte Rom als die Haubt-Stadt der gantzen Welt, und Herrscherin über alle Völcker, seinem Statthalter auf Erden, und höchsten Priester [dem Papst] für seinen eigenen Wohnsitz von Ewigkeit her bestimmet, hat er die Sach dergestalt angeordnet, daß der erste aus den Christlichen Kayseren ein neues Rom zu seiner Kayserlichen Residentzstadt anlegete, welche zuvor Byzanz, sodann wegen des Urhebers Constantinopel benahmset wurde.66

Beide, Torsellini und Dufrène, bestehen außerdem darauf, dass Konstantin seine Taufe von Papst Sylvester I. (gest. 335), und zwar schon bald nach der Schlacht an der Milvischen Brücke (312), empfangen habe. Alle protestantischen Autoren hingegen gehen davon aus, dass die Taufe erst kurz vor Konstantins Tod vorgenommen wurde, und zwar durch den arianischen Bischof Eusebius von Nicomedia, also ausgerechnet durch einen Anführer der arianischen ‚Ketzer‘. Wollten die Katholiken Konstantin in ihr Lager ziehen, dann konnten sie es nicht dulden, dass er von einem Ketzer getauft worden sein soll. Die Protestanten dagegen waren wie immer bemüht, eine möglichst große Entfernung zwischen Kaiser und Papst herzustellen. Torsellini wendet eine bemerkenswerte Strategie an, wenn es darum geht, Könige und Kaiser dem Papst zu unterstellen. Er versucht die Machtverhältnisse erzählerisch umzupolen, indem er die Erzählperspektive wechselt, den Papst zum Akteur und die weltlichen Herrscher zu Betroffenen macht. Obwohl die Kapitel in seinem Buch stets mit dem Namen der regierenden Kaiser betitelt sind, erscheinen die Kaiser nicht selten als Spielbälle des Papstes: So fängt etwa das Kapitel über die Zeit Kaiser Konrads (reg. 1027–1039) gleich damit an, dass der Papst ihn zum Kaiser ernennt.67 Nach diesem Muster erscheinen bei Torsellini auch weder Pippin III. 64 Vgl. Torsellini: Chronicon, S. 128. 65 Torsellini: Chronicon, S. 128: „Exin Pontificis Rom. verecundia, sedem Imperii alio transferendam ratus, Bizantii in Thracia novam Romam, transcripta magna Romanae nobilitatis parte, conditit: eamque Constantinopolim suo nomine appelavit“. 66 Dufrène: Rudimenta historica. 3. Bd., S. 13. 67 Vgl. Torsellini: Chronicon, S. 215.

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noch Childerich III. als echte Akteure. Handlungsfähig ist hier einzig Papst Zacharias (im Amt 741–752): „Zacharias verstieß sodann den Childerich wegen seiner Trägheit/Feigheit vom fränkischen Königtum, und ernannte Pippin, Sohn [Karl] Martells zum König, unter Zustimmung der fränkischen Fürsten.“68 Das Erzählmuster setzt sich fort im Investiturstreit. Gleich zu Beginn der Regierungszeit Heinrichs IV. heißt es, dieser sei zwar Kaiser genannt worden, aber wegen seines gewalttätigen Gemüts niemals zu den kaiserlichen Würden – d.h. einer Krönung durch den Papst – gelangt.69 Der Papst habe folglich die richtige Entscheidung getroffen, als er Heinrich IV. mit Hilfe von dessen eigenen Sohn (Heinrich V.) und mehreren Fürsten auch noch die Königswürde entzogen habe.70 Der Feind des Papstes ist für Torsellini ein verkommener, hinterhältiger, wortbrüchiger Tyrann, den er im schlechtmöglichsten Licht darstellt und der „im fünfzigsten Jahr seiner Tyrannei“71 das Zeitliche segnet. Wir werfen nun einen Blick in die – aus damaligem Sichtwinkel – Zeitgeschichte. Johann Sleidan hatte sich durch seine Erzählweise eine starke Bindung an die Geschichte des Heiligen Römischen Reiches auferlegt. Andere Nationen hatten nur einen Platz, sofern sie mit dem Reich im Krieg lagen oder diplomatisch in Verbindung standen. Bei Torsellini war das anders. Seine Leser waren internationale Katholiken, was es erforderlich machte, die Vergangenheit verstärkt aus der Sicht des Pontifikats zu beschreiben. Und so gerieten auch andere europäische Monarchien in den Erzählbereich – sofern sie mit den politischen Zielen des Papsttums kollidierten. Ein prominentes Beispiel ist die englische Tudormonarchie, die Sleidan noch übergangen hatte. Heinrich VIII. von England ist einer der notorischsten Widersacher der Päpste in der Geschichte. Zunächst berichtet Torsellini, wie Heinrich VIII. sich in Anne Boleyn verliebt und von der römischen Kirche abfällt, weil der Papst ihm das Einverständnis für die Scheidung von Katharina von Aragon verweigerte. Anschließend habe Heinrich VIII, wie der Autor boshaft bemerkt, Anne Boleyn „geheiratet/hingerichtet“ (duceret).72 Torsellini wirft Heinrich VIII. außerdem vor, dass er zwar zunächst die „Lutherische Sekte“ mit Schriften bekämpfte, später jedoch dazu übergegangen sei, die Katholiken mit Raubzügen und Martern (rapinis et cruciatibus) zu verfolgen,73 woraufhin der Papst dem abtrünnigen Herrscher den Titel und

68 Torsellini: Chronicon, S. 171f.: „Zacharias porro, Chilperici Franciae Regis ignavia damnat, Pipinum Martelli filium, Francis proceribus approbantibus Regem appellat.“ 69 Vgl. Torsellini: Chronicon, S. 221: „Henricus IV. […] Caesar appellatus, ob ingenii violentiam, ad Augustalia decora nunquam pervenit.“ 70 Vgl. Torsellini: Chronicon, S. 229: „Henricus porro ab Henrico filiio, Germaniaeque proceribus ex rom. Pont. Auctoritate Regno spoliatus, acie victus, captusque, ludibrio fuit.“ 71 Torsellini: Chronicon, S. 229: „Tyrranidis suae anno L.“ 72 Torsellini: Chronicon, S. 307f. Die Ambiguität scheint hier erwünscht, da das ansonsten übliche „in matrimonium“ ducere fehlt. „Ducere“ kann nämlich auch „zum Richtblock führen“ bedeuten. 73 Vgl. Torsellini: Chronicon, S. 308.

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das Recht auf das Königtum entzogen habe.74 Hier tritt erneut einer der Hauptstreitpunkte der Konfessionen hervor, nämlich, ob es dem Papst gestattet sei, Kaiser und Könige abzusetzen – was Torsellini mit seiner Erzählweise eindeutig bejaht. Einer alten historiographischen Tradition folgend, stellt Torsellini zudem die Hinrichtung Anne Boleyns, der zweiten Ehefrau Heinrichs, als schicksalhaftes Gottesurteil dar. Schon bald nämlich habe der abtrünnige Monarch begonnen, des göttlichen Zorns über sein Tun gewahr zu werden („sentire iram divini Numinis coepit“). Torsellinis sarkastisches Fazit fällt dann folgendermaßen aus: „Die Anne Boleyn, das Lustobjekt [Heinrichs VIII.], ihrer eigenen Ehebrüchigkeit überführt und verurteilt, hat er, der er selbst ein Ehebrecher war, zum Tode verurteilt“.75 Da Heinrichs VIII. zweite Ehe nicht vom Papst legitimiert worden war, galt sie als Ehebruch, und aus einem Ehebruch hervorgegangene Kinder konnten keine legitimen Thronfolger werden. Torsellini schlussfolgert daraus, dass nur die erste Tochter Heinrichs, Maria I., den Thron besteigen könne, war sie doch das Kind der „rechtmäßigen Ehefrau“ („iusta uxore filiam“) des Königs. Die heute wegen ihres harten Vorgehens gegen die Protestanten als „Bloody Mary“ bekannte Monarchin findet den Beifall des Historikers: Zufrieden stellt Torsellini fest, dass Mary die Ketzer aus England vertrieben habe („haeresibus expiatam“76), wohingegen das Land unter ihrer Schwester Elisabeth I., der unehelichen Tochter der unrechtmäßigen Ehefrau, zu den „vorigen Verfehlungen zurückgekehrt“ sei.77 So machte es die intensive Verquickung von Eheleben und Politik an den europäischen Herrscherhäusern den Jesuiten leicht, ein Narrativ zu konstruieren, das die dezidierte moralische Oberhoheit und den Machtanspruch der Päpste über die weltlichen Herrscher unterstrich. Als erster der hier untersuchten Autoren greift Torsellini die Hugenottenkriege auf, mit ihren Höhepunkten in der Bartholomäusnacht (‚Pariser Bluthochzeit‘) 1572 und der Ermordung des beliebten Monarchen Heinrich IV. im Jahre 1610. Das Vokabular, mit dem Torsellini die Hugenotten belegt, ist klar abwertend. Die Calvinisten hätten viele Städte erobert und mit ihrer Seuche überzogen („sua peste oppleverant“), heißt es beispielsweise über die Frühphase der Auseinandersetzung.78 Die Pariser Bluthochzeit 1572, bei der nach Torsellinis eigener Einschätzung 60.000 Protestanten ermordet wurden, fällt in die Anfangsphase des Pontifikats Gregors XIII. Torsellini hierzu: „Die glückliche Botschaft von der Niedermetzlung der Hugenotten in Paris hat dessen Amtsantritt noch glücklicher gemacht“79. Tatsächlich hat Gregor XIII. „in Rom eine Dankmesse mit feierlichem Tedeum“ feiern

74 Vgl. Torsellini: Chronicon, S. 309: „Pontifex ergo illum anathemate percussum regni titulo, ac iure spoliavit“. 75 Torsellini: Chronicon, S. 309. 76 Torsellini: Chronicon, S. 312. 77 Torsellini: Chronicon, S. 313f.: „Ceterum per idem tempus Angliae regnum Mariae Reginae morte ad Elisabetham Boleniae filiam devolutum est, & Angli ad errores pristinos revoluti“. 78 Torsellini: Chronicon, S. 315. 79 Torsellini: Chronicon, S. 318 (wegen Druckfehler als 308 gekennzeichnet): „Cuius Pontificatus initia laetiora laetus de Parisiensi Hugonotorum c[a]ede nuncius fecit.“

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und „eine Gedenkmünze prägen“80 lassen. Wie viele deutsche Kaiser in Torsellinis Buch erscheint auch Heinrich IV. eher als ein widerspenstiges Objekt der päpstlichen Autorität, die ihm das Königsrecht ab- und bei Bedarf wieder anerkennen kann. Zwar räumt Torsellini ein, dass die französischen Adligen und die Pariser Bevölkerung Heinrich IV. „als König begrüßt“ haben, macht aber deutlich, dass die Königserhebung ohne die Zustimmung des Papstes nicht möglich gewesen sei: Im Jahr 1589 nimmt der Papst Heinrich IV. aus dem Bann und ernennt ihn zum König.81 Neun Jahre später, genau in dem Jahr, in dem Heinricht IV. das Toleranzedikt von Nantes erlässt (1598), stirbt der Schulbuchautor Orazio Torsellini. Die zahlreichen Attentate auf Henri Quatre, seine Ermordung 1610, Gerüchte über die Beteiligung der Jesuiten – diesen Erzählfaden wiederaufzunehmen, wurde die Angelegenheit späterer Geschichtsschreiber. 4.3. Protestanten zwischen Gelehrsamkeit und Polemik: Cellarius und Hübner Johann Hübner (1668–1731) und Christoph Cellarius (1638–1707), beide Schuldirektoren, beide Lehrbuchautoren und ‚Geschichtslehrer‘,82 waren zwei sehr unterschiedliche Typen von Historikern. Cellarius, der ältere, führte selbst Quellenstudien durch, schrieb auf Latein und mit zahlreichen Fußnoten. Hübner dagegen war eher der Pädagoge und Kompilator. Seine Leistung ist es weniger, dass er die Forschung vorangebracht hätte, als dass er das Vorhandene in schülergerechtes Deutsch übertrug und mit einer Art von barock-galantem Humor anreicherte, der oft in Polemik und Sarkasmus abdriftet. Obwohl auch Cellarius keinesfalls unparteiisch schreibt, gelingt es ihm besser als Hübner, das rechte Maß zu wahren, während Hübner gerne provoziert. Der katholische Autor Dufrène fühlte sich noch 50 Jahre später von Hübners Narrativen herausgefordert: Von den protestantischen Historienschreibern Pufendorf83 und Hübner etwas weniges: […] [Sie] schreiben in die Wette miteinander, so schlau und schalckhaft, mit untermischten vielfältigen, offenbaren Falschheiten und schweren Verleumdungen, wider die catholische Kirch […]. Diese zwey […] schleichen sehr listig daher, und übersehen nichts, wodurch sie die catholische Kirch verächtlich und verhaßt machen können. Sie gleichen denen Schaaben, welche ein schönes Kleid ohne Getöß zermahlen und verderben. Solche höchst=schädliche Bücher seynd zwar von der Kirch allen Catholischen für sich selbst schon verbotten; wäre nur zu wünschen, daß sie auch von [der] weltlichen hohen Obrigkeiten verbotten wären.84

80 Eberhard Gresch: Die Hugenotten. Geschichte, Glaube, Wirkung. Leipzig 42009, S. 31. 81 Vgl. Torsellini: Chronicon, S. 325. 82 Es gab damals eigentlich noch keine professionellen Fachlehrer für Geschichte, deshalb kann das Wort hier nur in Anführungszeichen verwendet werden. Oft übernahmen die Schuldirektoren den Geschichtsunterricht, der zur Zeit von Hübner und Cellarius meist nur für die oberen Klassen (Prima, Selecta) bestimmt war. 83 Gemeint ist: Samuel Pufendorf: Einleitung zu der Historie der vornehmsten Reiche und Staaten so itziger Zeit in Europa sich Befinden. Frankfurt 1684. 84 Dufrène: Weitere Rechtfertigung, S. 9f.

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Legt man die Bücher von Cellarius und Hübner nebeneinander, erkennt man schnell die Ursache für Dufrènes Wutausbruch: Hübner übersieht in der Tat kaum eine Gelegenheit, die sich für Katholizismuskritik instrumentalisieren lässt, während Cellarius an vielen Stellen erzählerische Mittel findet, über umstrittene Episoden hinwegzuschreiben. Es scheint, als sei der protestantische Geschichtsunterricht gespalten gewesen zwischen einer Schule, die möglichst neutrale historische Forschung vermitteln wollte, und einer anderen, die handfeste Polemik favorisierte. Im Gegensatz zu Sleidan verbrauchen weder Hübner noch Cellarius viel Zeit damit, die spätantiken päpstlichen Urkunden als Fälschungen zu entlarven. Die Konstantinische Schenkung übergeht Cellarius ohne weiteres, während Hübner nur kurz durchblicken lässt, dass er sie für eine Erfindung hält.85 Uneins sind beide in Bezug auf den Hauptstadtumzug Konstantins des Großen. Cellarius kritisiert den Kaiser: Mit dem Umzug habe Konstantin dem Staatswesen (publica rei) keinen Gefallen getan, da er mit ihm das Beispiel für die Reichsteilung geliefert („exemplum dederit dividendi imperii“) und seine Grenzen den Barbaren entblößt habe.86 Hübner hingegen unterstellt den Päpsten – etwas ironisch und indirekt – sie hätten den Hauptstadtumzug herbeigeführt, um ihre weltliche Machtbasis besser ausbauen zu können: Diese Verlegung des Kayserlichen Sitzes wird von vielen als ein böses Consilium gehalten, weil dadurch der Occident ist entblösset/ und der Discretion [=Willkür] barbarischer Vöcker überlassen worden. Doch haben sich die Päpste zu Rom niemals darüber beschweret, welche so dann ihre geistliche [lies: ‚weltliche‛, J.N.] Regierung desto besser haben anlegen können.87

Cellariusʼ Zurückhaltung zeigt sich auch in seinen Narrativen über die mittelalterlichen Könige und ihre Auseinandersetzungen mit den Päpsten. Trotzdem bleibt er immer auf der protestantischen Seite. Pippin III. ist hier der alleinige Akteur seiner eigenen Machtergreifung, eine Beteiligung des Papstes erwähnt Cellarius nicht. Die Pippinische Schenkung, „quod initium est potestatis in regiones pontificiae“ gesteht er indessen ein und erwähnt dabei bloß, dass die Langobarden auch „ipsem pontificem Roma eiecissent“, wenn nicht Pippin zwischen ihnen und dem Papst einen Frieden vermittelt hätte.88 Auch über den Investiturstreit und den Bußgang nach Canossa berichtet Cellarius zwar verhalten parteiisch, aber kurz und moderat. In nur einem Satz berichtet er, dass Heinrich IV. eine lange aber glücklose Herrschaftszeit („infelici imperio“) vollbracht habe, während der er von Papst Hildebrand, „der Gregor VII. genannt werden wollte“, sowie dem Gegenkaiser Rudolph verfolgt, und letztlich von seinem eigenen Sohn ins Exil geschickt worden sei.89 85 Vgl. Hübner: Kurtze Fragen. 1. Bd., S. 456f. 86 Cellarius: Historia universalis, Buch II. Historia medii aevi, S. 9f. 87 Hübner: Kurtze Fragen. 1. Bd., S. 459–460. Dass es sich hier vor allem bei der Formulierung „geistliche Macht“ wohl um Ironie handelt, ist wahrscheinlich, da es insgesamt Hübners oft zotigem, sarkastischem und polemischem Stil entspricht. 88 Cellarius: Historia universalis, Buch II. Historia medii aevi, S. 92: „[…] die der Anfang der [päpstlichen] Macht im Kirchenstaat ist“; und „[…] selbst den Papst aus Rom herausgeworfen hätten […].“ 89 Cellarius: Historia universalis, Buch II, Historia medii aevi, S. 128f.

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Hübner dagegen unternimmt deutlich mehr, um die Päpste ins Zwielicht zu rücken.90 Er behauptet, die Päpste des frühen Mittelalters hätten von vorneherein ein Auge auf die byzantinischen Besitzungen in Italien geworfen. Deshalb seien ihnen die Langobarden, die Mitte des 8. Jahrhunderts die byzantinische Macht in Italien nach und nach zerschlugen, gerade recht gekommen; der Papst habe geplant, die Langobarden dazu zu nutzen, die Byzantiner zu vertreiben und sich deren Gebiete einzuverleiben. Als der Plan schiefging und die Langobarden nicht nur das Exarchat von Ravenna91 selbst behielten, sondern auch Rom angriffen, rief Papst Zacharias den Frankenkönig Pippin III. zu Hilfe und verhalf ihm zum Thron, um so mit fränkischer Hilfe sowohl die Langobarden loszuwerden als auch die byzantinischen Ländereien zu erhalten. Die Päpste sind bei Hübner lächerliche Figuren, die erst hinterhältige Intrigen spinnen und sich später vor Angst hinter der Militärmacht der Franken verstecken. Auch Karl der Große wird so zum gnädigen Beschützer eines erbärmlichen Papsttums: Solcher gestalt war nun der Pabst dem neuen Kayser unter die Flügel gekrochen, und gedachte darunter wider alles Ungewitter sicher zu seyn. Allein die Römer furchten sich vor diesem Ruprechte nicht; und als Pabst Leo III. weiter um sich griff, als er befugt war, entstund An. 799. ein Tumult zu Rom […] In dieser Noth ruffte der Pabst Leo III. seinen Schutz=Gott Carolum M. zu Hülffe, welcher auch den Pabst mit grossem Nachdruck restituierte.92

Zu der Tatsache, dass Karl der Große im Jahr 800 römisch-deutscher Kaiser wurde, trugen die Päpste bei Hübner nicht mehr bei, als dass sie ihm die Krone aufsetzten: Das Recht zum Occidentalischen Käyserthum hatte Carolus niemanden als seinen Waffen zu dancken; den Titel eines Käysers ward ihm von der Römischen Bürgerchafft beygeleget und die Crönung ward von dem Pabste verrichtet.93

Wie in allen protestantischen Schulbüchern geht es also darum, die weltliche Herrschaft von seiner Bindung an den Papst zu befreien. Entsprechend polemisch liest sich auch Hübners Beschreibung des Investiturstreits und des Bußganges nach Canossa. Die Päpste hätten nichts anderes im Sinn gehabt, als „die Römischen Käyser zu unterdrücken, und den Päbstlichen Stul von aller weltlichen Gewalt souverain zu machen“94. Dies sei ein „antichristliches Beginnen“95 gewesen, dem sich Heinrich IV., der tragische Held in Hübners Geschichte, notwendig habe widersetzen müssen.96 Papst Gregor VII. heißt bei Hübner nicht ‚Hildebrand‘ mit Geburtsnamen, sondern „besser Höllenbrand“.97 Während Heinrich IV. 1076 barfuß vor der Burg Canossa „um Audientz bat“, so habe „Pabst Hildebrand unterdessen mit seinen Concubinen zum Fenster herunter“98 gesehen. 90 91 92 93 94 95 96 97 98

Der folgende Abschnitt: Hübner: Kurtze Fragen. 1. Bd., S. 765–767. So der Titel der byzantinischen Provinz in Italien. Hübner: Kurtze Fragen. 1. Bd., S. 768f. Hübner: Kurtze Fragen. 1. Bd., S. 770. Hübner: Kurtze Fragen. 1. Bd., S. 842. Hübner: Kurtze Fragen. 1. Bd., S. 842. Vgl. Hübner: Kurtze Fragen. 1. Bd., S. 842. Hübner: Kurtze Fragen. 1. Bd., S. 844. Hübner: Kurtze Fragen. 1. Bd., S. 845.

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Ein weiteres mittelalterliches Ereignis erreicht in den Schulbüchern von Cellarius und Hübner die konfessionspolitische Auseinandersetzung: die Kreuzzüge. Sleidan hatte sie nur gestreift, Torsellini kurz und positiv erwähnt;99 Cellarius und Hübner gingen jetzt dazu über, dem Pontifikat eine politische (nicht eine religiöse!) Absicht zu unterstellen. Cellarius lässt, zurückhaltend, den Papst bloß als Nutznießer der Kampagne erscheinen: Während die Kreuzzüge „die Sache“ im Orient in Aufschwung gebracht hätten, hätten sie der Kirche in Europa geschadet, denn Papst Hildebrand habe die Abwesenheit so vieler europäischer Fürsten nutzen können, um seine Macht auszubauen, die immer stärker angewachsen sei, je mehr europäische Fürsten fern von den europäischen Grenzen zu Grunde gegangen seien.100 Hübner dagegen erlaubt keinen Zweifel, dass die Kreuzzüge eine papistische Intrige waren. Er findet es „schwerlich zu glauben, daß dem Papste am Gelobten Lande so viel gelegen gewesen sey“101 und identifiziert die Absicht des Papstes darin, „eine Europäische Armee nach der andern auff die Schlachtbanck [zu] liefern […], damit er indessen, sonderlich in Teutschland, seine Gewalt desto besser stabili[sie]ren könnte“.102 Dass die Protestanten anfingen, die Kreuzzüge in ihre historisch argumentierende Politpropaganda einzubeziehen, zwang die Katholiken zu einer Stellungnahme. Wenig überzeugend wirkt – ohne hier Partei ergreifen zu wollen – der Einfall Dufrènes. Er schreibt, zum Beweis, dass die Kreuzzüge „wohl und nutzlich“ waren, genüge allein die Tatsache, dass das Königreich Jerusalem fast 200 Jahre bestehen konnte; denn auch das von König Cyrus begründete persische Großreich habe 200 Jahre lang bestanden. Folglich, so urteilt der Jesuit, hätten die „Uncatholische[n]“ keinen Grund „über jenen heiligen Krieg zu stutzen, als ob er ganz fruchtloß wäre abgeflossen“.103 Das Mittelalter insgesamt verliert an Bedeutung in den neueren Schulbüchern um 1700, immer wichtiger wird – was allein die Textmasse verrät – die Geschichte der europäischen Staaten nach der Reformation; und mit ihr England und Frankreich. Zur Erinnerung: Torsellini hatte versucht, aus Heinrich VIII. von England einen lutherischen Ketzer zu machen. Die Protestanten verzichten jedoch darauf, Heinrich posthum in ihre Reihen aufzunehmen. Der politische Mord an zwei von acht Ehefrauen warf auch nach Cellarius᾽ Ansicht ein schlechtes Licht auf den König und seine Frömmigkeit.104 Deshalb legte er Wert auf die Feststellung, dass der 99 Vgl. Torsellini: Chronicon, S. 227. 100 Vgl. Cellarius: Historia universalis, Buch II, Historia medii aevi, S. 132f.: „Dum ita cresere res in Oriente videbantur, damnum haud leve sensit in Occidente ecclesia, Hildebrando pontificiam potesstatem supra reges & imperatores extollente, quae eo plus roboris in dies accepit, quo pauciores in Europa relicti principes erant, optimo quoque ad sacram se militiam adiacente, qua vel extinctus fuit, vel procul ab Europae finibus submotus.“ 101 Hübner: Kurtze Fragen. 1. Bd., S. 602. 102 Hübner: Kurtze Fragen. 1. Bd., S. 602. 103 Dufrène: Rudimenta historica. 3. Bd., S. 227. 104 Vgl. Cellarius: Historia universalis, Buch III. Historia nova, S. 35f.: „Hic, quamvis nullam victoriam a Luthero retulerat, tamen a Pontifice consequutus fuit, ut Defensor Fidei appellaretur, quem honoris titulum in successores propagavit, ipse alioquin dubie pius, qui duas ex octavo uxoribus, quas duxerat, Annam Bolenam & Catharinam Nordfolkiam, neglectae pudicitiae suspectas, securi iussit percuti.“

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englische König anfangs wegen gewisser lutherfeindlicher Schriften vom Papst zum „Defensor Fidei“ ernannt wurde105, und dass er auch, nachdem er exkommuniziert worden war und sich selbst zum anglikanischen Kirchenoberhaupt ernannt hatte, wenig an der alten Religion änderte.106 Es scheint, als sei der als unmoralisch geltende Tudormonarch der ‚Schwarze Peter‘, den sich die konfessionellen Geschichtsschreiber gegenseitig zuzuschieben versuchen. Cellarius᾽ Urteil über die Töchter Heinrichs VIII. fällt derweil erwartungsgemäß aus. Maria I. (‚Bloody Mary‘) habe das „verdammte Papsttum“ zurückgebracht („sacra pontificia reducit“),107 Elisabeth I. hingegen habe als eine außerordentlich begabte Regentin „die Päpstler für immer beseitigt“.108 Hübner schreibt ähnlich und mit Polemik, die aber dieses Mal mehr den König als die Papisten trifft. Auch hier ist Heinrich VIII. ein Monarch, dessen „Gewissen so enge nicht war“,109 ein lustgesteuerter Tyrann, weder Protestant noch Katholik,110 der seine eigenen Ziele verfolgte. Als einige von Heinrichs VIII. Untertanen dessen Politik nicht mittragen wollten, da fing nun Henricus VIII. an zu rasen, daß der Scharffrichter nicht genug köpffen und verbrennen kunte. Und zwar so galt es gleich viel, ob es Protestanten, oder Papisten waren, denn jene wurden als Ketzer, und diese als Rebellen tractiret. Die Anzahl aller derjenigen, die unter diesem Könige der Religion wegen haben sterben müssen, wird auf 70.000 geschätzet.111

Die beiden Töchter Heinrichs VIII., Maria I. und Elisabeth I. beurteilt Hübner ähnlich wie Cellarius. Maria führt das Papsttum, Elisabeth die Reformation wieder ein. Es könnte ein Zufall sein, dass Cellarius die Erzählung der Hugenottenkriege direkt an die Gründung des Jesuitenordens anknüpft,112 so als wolle er sagen ‚apropos Jesuiten‘. Ob die Assoziation mit den Jesuiten gewollt ist oder nicht, in jedem Fall ist die Pariser Bluthochzeit bei Cellarius ein Akt katholischer Feigheit: Wegen des Friedensschlusses 1572 hätten die Päpstler nämlich mit Waffen nichts mehr erreichen können und hätten deshalb zu „Hinterlist, Schmeichelei und unerhörter Grausamkeit“ gegriffen.113 Sowohl Cellarius als auch Hübner sprechen von 30.000 ermordeten Protestanten – was genau die Hälfte von Torsellinis Angabe beträgt.114 Während Cellarius sich kurz fasst, malt Hübner das Massaker der Bartholomäus-

105 Cellarius: Historia universalis, Buch III. Historia nova, S. 36. 106 Vgl. Cellarius: Historia universalis, Buch III. Historia nova, S. 69: „de cetero nihil in avita religione mutaret“. 107 Cellarius: Historia universalis, Buch III. Historia nova, S. 151. 108 Cellarius: Historia universalis, Buch III. Historia nova, S. 151. 109 Hübner: Kurtze Fragen. 2. Bd., S. 917. 110 Vgl. Hübner: Kurtze Fragen. 2. Bd., S. 927. 111 Hübner: Kurtze Fragen. 2. Bd., S. 926f. 112 Vgl. Cellarius: Historia universalis, Buch III. Historia nova, S. 178. 113 Cellarius: Historia universalis, Buch III. Historia nova, S. 185: „Quos itaque armis non possunt pontificii delere, dolo & blanditiis, inauditae crudelitati commistis, invadunt“. 114 Die schäbige Auseinandersetzung um Opferzahlen historischer Ereignisse ist heute ein beliebtes Mittel politischer Propaganda. Im vorliegenden Fall ist aber gerade merkwürdig, dass die Protestanten mit einer geringeren Zahl aufwarten als die Katholiken. Welche Quellen die jeweiligen Autoren für ihre Angaben benutzt haben, konnte hier nicht geklärt werden.

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nacht mit blutigen Details aus, überrascht dann aber seine Leser, die bisher auf regelmäßige Papstschelte hatten vertrauen können, mit einer konzilianten Darstellung des Papstes: „Doch viele Papisten hatten selbst einen Greuel daran: der Käyser Maximilianus II. […] verdammte die That, und Pabst Gregorius XIII. selbst wolte nicht gestatten, daß man deßwegen Freuden-Feuer zu Rom anzünden solte“.115 Warum ausgerechnet Hübner hier als einziger die Rolle Roms milder beurteilt, ist unklar. Beim ersten Königsmord der Hugenottenkriege, dem von 1589 an Henri Quatres Vorgänger Heinrich III. durch den Dominikanermönch Jaque Clément, geht Hübner wieder zu seinen gewohnten Lästereien über: Auff Seiten der Ligisten war eine solche Freude darüber, daß die Geistlichen auff den Cantzeln zu Paris den König mit Holoferne, und den Mönch mit der Judith verglichen: Er ward auch alsobald unter die Märterer gezehlet, und da von seiner Asche nichts mehr zu finden war, so gruben etliche den Rasen aus, darauff der Mönch war massacriret worden; doch wie sie mit diesen heiligen Reliquien über die Seine fahren wolten, ging das Kahn mit den Leuten unter. Pabst Sixtus V. zu Rom preiste diesen Mönch in öffentlicher Versammlung der Cardinäle selig, hielt den Todt des Königes vor eben so ein groß Wunder als die Menschwerdung JEsu Christi, und wolte beweisen, daß der Prophet Habacuc von dieser That Jacobi Clementis längst vorher geweissaget hätte.116

Obgleich Hübner den Papst von der Schuld an der Bartholomäusnacht reinwusch, streute er dennoch einen Verdacht gegen die Jesuiten ein. Es hätten sich nämlich „falsche Politici gefunden, die dieses Blutvergießen mit unter die zugelassenen Coups d’Etats gerechnet haben“.117 Dabei handelt es sich höchstwahrscheinlich um eine Anspielung auf eine Schrift des spanischen Jesuiten Juan der Mariana von 1598, in der die Ermordung ‚ketzerischer‘ und ‚tyrannischer‘ Könige gerechtfertigt wurde.118 Das Traktat galt unter den Feinden der Jesuiten noch im 19. Jahrhundert als Indiz für die staatsgefährdenden Umtriebe der Jesuiten und deren (zumindest ideellen) Beteiligung an zahlreichen Attentaten.119 1594 fällt der Verdacht erneut auf den Orden. Jean Châtel, der versucht hatte, Heinrich IV. auf offener Straße zu erstechen, gestand sogar, dass er von den Jesuiten beauftragt worden war. Cellarius und Hübner schlachten das unter Folter gemachte Geständnis aus, kurz, aber eindeutig. Die Jesuiten hätten eine Prämie versprochen für denjenigen, der einen König ermordet, den der Papst nicht anerkennt, schreibt Cellarius; und auch Hübner spricht von einem „wohlgegründeten Argwohn

115 Hübner: Kurtze Fragen. 2. Bd., S. 645f. 116 Hübner: Kurtze Fragen. 2. Bd., S. 654. Auch hier kommt wieder Hübners Sarkasmus zum Vorschein: Überzogene Vergleiche (‚Holofernes und Judith‘), Heiligsprechungen, Märtyrertum, die Gier nach Reliquien, vermeintliche Prophezeiungen – all das machte die Katholiken hier zu lächerlichen Figuren in den Augen junger Protestanten. Cellarius erzählt die Ermordung Heinrichs III. dagegen ziemlich neutral. Vgl. Cellarius: Historia universalis, Buch III. Historia nova, S. 192. 117 Hübner: Kurtze Fragen. 2. Bd., S. 645. 118 Vgl. Juan de Mariana: De Rege et Regis Institutione libri tres. Toledo 1599. 119 Vgl. Eduard Duller: Die Jesuiten, wie sie waren und wie sie sind. Berlin 1845, S. 52.

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[…] daß die Jesuiten die Hand mochten im Spiele haben“.120 Beide Autoren berichten außerdem, wie Heinrich IV. sofort nach dem Attentat sämtliche Jesuiten ausweisen lässt, Cellarius nennt die Mönche dabei noch beiläufig die doctores impietatis – Doktoren der Gottlosigkeit. Bei dem erfolgreichen Attentat 1610 durch Ravaillac hält Cellarius sich dann streng an die Fakten: Kein Geständnis, keine Beweise.121 Hübner dagegen lässt sich zu Spekulationen hinreißen und sagt: „am meisten mochten die Herren Geistlichen interessiret seyn, daß sie den Menschen [sc. Ravaillac] darzu erkaufft, und durch teufflische Beschwerungen gantz unempfindlich gemachet hätten“.122 Damit sind zweifellos die Jesuiten („die Herren Geistlichen“) gemeint. Der Ausdruck „Teuflische Beschwörungen“ bezieht sich wahrscheinlich polemisch auf die jesuitischen meditativen Übungen, die zur religiösen Praxis des Jesuitenordens gehörten. Manch ein Außenstehender mochte die Exerzitien für eine Form von „Gehirnwäsche“ halten, die dazu geeignet war, Fanatiker zu produzieren – und Attentäter. 4.4. Der Streit um Maximilian Dufrènes Rudimenta historica Im Kontext der antijesuitischen Propaganda muss man auch die publizistische Auseinandersetzung betrachten, die sich in den 1750er Jahren um Maximilian Dufrènes Rudimenta historica entspann. Der Jesuitenorden war, wie ich in der Einleitung skizziert habe, politisch angeschlagen. Die Protestanten beteiligten sich nun an der europaweiten antijesuitischen Medienkampagne. Für protestantische Geschichtsschreiber bot es sich ohnehin an, die (vermeintliche) Verschwörung der Jesuiten und ihre Einmischung in Staatsaffären mit der Erzählung über die mittelalterlichen Machtkämpfe zwischen Päpsten und Monarchen zu verknüpfen. Die Autoren der Dufrène-Rezension in der Zeitung von gelehrten Sachen (1752) ließen entsprechend keine Möglichkeit aus, die Jesuiten mit Königsmorden in Verbindung zu bringen. So wiesen sie beispielsweise darauf hin, dass der „Jesuiter-Orden, der durch seinen angesponnenen Königsmord in Franckreich eine Schand-Seule verdienet hat123 […] wegen vieler Unthaten auch selbst in verschiedenen Catholischen Staaten nicht geduldet wird“.124 Die protestantischen Pamphletierer, die den Rezensenten zur Seite sprangen, legen noch die Behauptung nach, dass es kaum möglich sei, dass „der Herr Pater [Dufrène] die Ehre seiner Gesellschaft […] wider die alten und neuen Beschuldigungen seiner eigenen GlaubensGenossen retten könne“125. Mit den „alten und neuen Beschuldigungen“ dürften vor allem die Attentate zur Zeit der Hugenottenkriege sowie die angebliche Aufwiegelung der Guaraní-Indianer in Paraguay gemeint sein. Dass jetzt auch immer mehr 120 121 122 123

Hübner: Kurtze Fragen. 2. Bd., S. 666. Vgl. Cellarius: Historia universalis, Buch III. Historia nova, S. 259f. Hübner: Kurtze Fragen. 2. Bd., S. 675. Gemeint ist hier der misslungene Mordversuch an Heinrich IV. Danach wurden die Jesuiten tatsächlich für eine Weile aus Frankreich ausgewiesen, und man errichtete eine ‚Schandsäule‘. 124 Anonymus: Göttingische Zeitungen von gelehrten Sachen 14 (1752), 20. Stück, S. 196. 125 Zitiert nach Dufrène: Glimpfliche Prüfung, S. C2b.

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katholische Monarchen die Jesuiten ins Visier nahmen, war eine willkommene Neuerung für die Protestanten. Die Schandsäule von Paris erwähnt derweil auch Dufrène, jedoch besteht er auf der Unschuldsvermutung: Und obschon dieser der Thäter gantz unschuldig zu seyn beständig aussagte, hat doch der Neid und verleumderische Boßheit so weit vorgetrungen, daß offt erwehnter Societät [= der Jesuitenorden] das Land verwiesen, und zu Pariß eine Schand-Säule aufgerichtet worden; welche jedoch der König selbst, nachdem er die falsche Anklagen zu Gnügen erkennet, niederreissen lassen.126

Wie ich in der Einleitung angedeutet habe, forderten die Protestanten ein Verbot des jesuitischen Schulbuchs, ja sogar dessen öffentliche Verbrennung. Dazu gab es theoretisch sogar eine juristische Grundlage: das 1715 erlassene „Patent wegen der Schmäh-Schrifften in Glaubens- und Staats-Sachen“ von Kaiser Karl VI.127 Das fortan als Reichsgesetz gültige Patent verbot religiöse Polemik im gesamten Publikationswesen auf das Schärfste und drohte tatsächlich mit Konfiskation von polemischen Schriften und empfindlicher Bestrafung der Urheber.128 Der Autor des gegen Dufrène gerichteten Pamphlets „Glimpfliche Prüfung“ von 1752 zitiert das Patent sogar ausgiebig129 und auch die Göttinger Rezensenten scheinen es im Sinn zu haben, wenn sie ein Verbot von Dufrènes Büchern zu erwirken versuchen. Die Narrative in Dufrènes Buch, die die Göttinger besonders zu Widerspruch reizten, sind zum Teil dieselben, die schon in den älteren Schulbüchern umstritten waren. Ganz besonders viele polemische Stellen machten sie dort ausfindig, wo Dufrène über die Reformation, die Lutheraner und die Person Luthers berichtet. Tatsächlich hat Dufrène an diesen Stellen deutlich den Pfad neutraler Geschichtserzählung verlassen. „Teufel in Menschengestalt“130 als Bezeichnung für Luther ist noch eine der milderen Formulierungen. Dieser Luther habe dann Katharina von Bora, „infame illud scortum“ – „jenen verschreyten Schleppsack“,131 geheiratet, was in heutigem Deutsch etwa so viel wie ‚übel beleumdete Hure‘ bedeuten dürfte. Wenn man den Reformationsteil in Dufrènes Werk ausführlich mit den Vorwürfen in der protestantischen Zeitung vergleichen wollte, würde man nichts als eine lange Liste von Schimpfwörtern, Kampfbegriffen und rhetorischen Floskeln produzieren.132 Ich übergehe deshalb die Reformation und behandle die übrigen kontroversen Narrative in chronologischer Reihenfolge.

126 Dufrène: Rudimenta historica. 4. Bd., S. 131. 127 Vgl. „Kayser Caroli VI Patent wegen der Schmäh-Schrifften in Glaubens- und Staats-Sachen de Anno 1715.a), in: Johann Jacob Schmaußens Corpus Juris Publici S.R. Imperii Academicum, enthaltend des Heil. Röm. Reichs teutscher Nation Grund-Gesetze, nebst einem Auszuge der Reichs-Abschiede anderer Reichs-Schlüße und Vergleiche. Neue und mit Anmerkungen vermehrte Auflage durch Gottlieb Schuman. Leipzig 1759, S. 1265–1268. 128 „Kayser Caroli VI Patent“, in: Grund-Gesetze, S. 1267. 129 Anonymus: Glimpfliche Prüfung, S. C. 130 Dufrène: Wohlgegründetes Beweißthum, S.7. 131 Dufrène: Rudimenta historica. 6. Bd., S. 180–181. Die Kritik in der Zeitung: Anonymus: Göttingische Zeitungen von gelehrten Sachen 14 (1752), 20. Stück, S. 199. 132 Anonymus: Göttingische Zeitungen 14 (1752), S. 194–196.

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Wie Dufrène über Kaiser Konstantin und die konstantinische und pippinische Schenkung schrieb, habe ich bereits in den vorigen Kapiteln eingeflochten. Dufrène hielt die Behauptungen für falsch, dass diese Kaiser ein Recht gehabt hätten, Synoden einzuberufen, oder sich in die Einsetzung der Päpste einzumischen. Die Zeitungsautoren stellen es dagegen als common sense dar, dass dieses Recht „Carl der Grosse und seine Nachfolger bis auf die Zeiten des bösen Hildebrands, der aber bey unseren Jesuiten allemahl der heil. Gregorius VII. heisset, alle miteinander gehabt“ hätten.133 Dufrènes äußerst negative Bewertung Kaiser Heinrichs IV., des Gegners des ‚bösen Hildebrand‘ im Investiturstreit, kommentieren die Göttinger mit: „So muß man die Jugend frühzeitig lehren, die Majestät lästern“.134 Zur jesuitischen Bewertung der Kreuzzüge heißt es: „Kennzeichen einer Unwissenheit und Unfähigkeit etwas zu überdenken“.135 Als Majestätslästerung interpretieren die Protestanten auch die zahlreichen Stellen, an denen Dufrène einem Monarchen in harschen Worten vorwirft, die „Lutherische Sekte“ eingeführt zu haben. Ein für die Zeitungsautoren allzu negatives Urteil hatte Dufrène auch über Heinrich VIII. von England gefällt.136 Dufrène charakterisiert Heinrich VIII. als „von Geilheit und Taubsucht [= Tobsucht, J.N.] gantz bethörten König“ und behauptet, Anne Boleyn sei wegen „greulicher Laster=Thaten enthauptet“ worden. Elisabeth I. schließlich, hätte „über 40 Jahr mehr tyrannisiret als regieret“.137 Als Leser der Göttinger Zeitung konnte man sich außerdem, gemeinsam mit den Rezensenten, über Dufrènes Vokabular ereifern, das bei protestantischen Frauen manchmal unter die Gürtellinie zielte: Der Katholik nannte nämlich auch Anne Boleyn – genau wie Luthers Ehefrau – ein „infames prostibulum, und auf gut Jesuiter Teutsch […] ein verschreyter Schleppsack“.138 Auch der englische Gunpowder Plot von 1605 steht auf der Göttinger Liste ‚falscher‘ katholischer Narrative. Wie in der Einleitung erwähnt, hatte man kurz nach der Aufdeckung des Planes einen Jesuiten namens Henry Garnet aufgegriffen – der aber wohl nur zufällig in den Plan eingeweiht war, weil er einem der Verschwörer als Beichtvater zur Seite stand. Dennoch haben protestantische Schulbuchautoren schon über 50 Jahre vor dem Dufrène-Streit die Jesuiten erzählerisch in den Anschlag verwickelt. Namentlich Johann Hübner hielt die Hinrichtung Garnets nach der „Conspiratio Sulphurea, oder Pulveraria“139 für gerechtfertigt: Einer von den vornehmsten [Verschwörern] war Henricus Garnet, seines Handwercks ein Jesuite, welchen der Spanische Ambassadeur mit 30.000 Reichsthalern loß kauffen wolte: Allein es hieß, mit gefangen, mit gehangen. Ob nun wohl diese Vögel Sonnen=klar überwiesen waren, so wolten sie doch die Papisten entschuldigen, und trugen kein Bedencken, den Ertzbösewicht Garnet, als einen Märterer unter die Heiligen zu rechnen. Ja sie scheuten sich nicht, den frommen und sanfftmüthigen König zu beschuldigen, als wenn er die gantze Pulver=Verschwerung 133 134 135 136 137 138 139

Anonymus: Göttingische Zeitungen 14 (1752), S. 194. Anonymus: Göttingische Zeitungen 14 (1752), S. 194. Anonymus: Göttingische Zeitungen 14 (1752), S. 194. Anonymus: Göttingische Zeitungen 14 (1752), S. 197. Dufrène: Rudimenta historica. 4. Bd., S. 157. Anonymus: Göttingische Zeitungen 14 (1752), S. 197. Hübner: Kurtze Fragen. 2. Bd., S. 957.

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Jens Nagel erdichtet hätte, damit er mit desto besserm Praetexte die Papisten aus dem Lande verbannen könte.140

Bei Cellarius kommt der Gunpowder Plot nur als eine kurze und neutral formulierte Passage vor.141 Die Zeitung von gelehrten Sachen aber beklagen sich erneut darüber, dass die Katholiken Henry Garnet zum gloriosus Christi martyr ernannt haben.142 Die Ernennung zum Märtyrer war unbestreitbar. Maximilian Dufrène rückt sie in ein positives Licht und widerspricht vehement der Darstellung, dass Garnet an „jener gottlosen sogenandten Pulver-Verschwörung“ beteiligt gewesen sei. Eine „unverschämte ketzerische Verleumbdung“ sei das.143 Wie ging der Streit aus? Zunächst einmal kann man beruhigt feststellen, dass in der Tat keine Schulbücher mehr verbrannt wurden. Der Versuch der Protestanten, ausgerechnet ein Gesetz, das dazu da war, religiöse Polemik zu unterbinden, dazu zu benutzen, um ihre eigene Propagandalinie durchzusetzen, scheiterte. Aber auch die Jesuiten können nicht als Sieger aus der Auseinandersetzung hervorgehen. Ihre in vielen Fragen harte papsttreue Haltung dürfte dazu beigetragen haben, dass mehrere absolutistische Monarchen sie loswerden wollten. Papst Clemens XIV. handelte 1773 auf Druck europäischer Monarchen, als er den Orden aufzulösen befahl. Sieger der Auseinandersetzung sind letzten Endes die weltliche Herrschaft und die sich anbahnende Trennung von Staat und Kirche, die den Einfluss von Katholiken und Protestanten auf die Staatsangelegenheiten zurückdrängte. Inwieweit auch die unversöhnliche Haltung eines Schulbuchautors die Regierungen davon überzeugt hat, dass man den religiösen Einfluss eindämmen müsse, sei dahingestellt: In einer seiner Verteidigungsschriften nimmt Dufrène sein Narrativ über Katharina von Bora mit folgenden Worten in Schutz: „Nach denen Grundsätzen meiner Religion […] ist eine ausgesprungene144 mit einem Mönchen getraute Nonn unwidersprechlich ein Schleppsack“.145

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Hübner: Kurtze Fragen. 2. Bd., S. 956f. Vgl. Cellarius: Historia universalis, Buch III. Historia nova, S. 260. Vgl. Anonymus: Göttingische Zeitungen 14 (1752), S. 197. Dufrène: Rudimenta historica. 4. Bd., S. 157. Hier: entlaufene. Maximilian Dufrène: Abgenöthigte Gegen-Prüfung, S. 6.

MELANCHTHONS „SCHOLA DOMESTICA“ Wissensdistribution eines spezifischen Bildungssystems im Zeichen von Reformation und Späthumanismus Corinna Sonntag Abstract: This study explores Philipp Melanchthon’s house school. The school has received some scholarly attention, but no distinction has been made so far between students and house students. I will take on this critical oversight, contending that the house school was of significant influence. My particular interest concerns the house students and their biographies. Since Melanchthon had a significant influence on the Reformation as Martin Luther’s close companion, there is reason to presume that the house students received a schooling shaped by the professor’s theology and reform ideas. The findings of my study, however, reveal a different focus: no confessional imprinting can be detected. Along with the biograms of the students, the structure of Melanchthon’s house school will be reconstructed. Zusammenfassung: Die vorliegende Studie wendet sich der Hausschule Philipp Melanchthons zu. Die Hausschule an sich war zwar in der Forschung bekannt, aber es fand keine Differenzierung zwischen Schüler und Hausschüler statt. Die Studie geht von einem prägenden Einfluss durch die Hausschule aus. Von einem spezifischen Interesse sind dabei vor allem die Hausschüler und deren Biographien. Ausgehend von der These, dass Melanchthon als Wegbegleiter Martin Luthers maßgeblich an der Reformation beteiligt war, lag die Vermutung nahe, dass die Hausschüler eine vornehmliche Prägung hin zur Theologie und den Reformideen der Reformatoren erhalten haben. Die Ergebnisse der Auswertungen weisen aber einen anderen Schwerpunkt aus. Eine konfessionelle Prägung kann nicht nachgewiesen werden. Neben den Biogrammen der Hausschüler wird die Struktur der Hausschule Melanchthons rekonstruiert.

1. EINLEITUNG Der Impuls, der von der Wittenberger Reformation auf das europäische Bildungswesen einwirkte, ist von Zeitgenossen zwar spöttisch kritisiert worden,1 im Verlaufe der folgenden Jahrzehnte und Jahrhunderte aber von unübersehbarer Bedeutung für die Ausbildung frühmoderner Wissenskulturen gewesen. Damit verbindet sich die Frage nach der konfessionellen Charakteristik dieses Impulses. Sind die von den Wittenberger Reformatoren ins Werk gesetzten Bildungsreformanstöße Resultat eines letztlich konfessionsunabhängigen, den Gegensatz der jeweiligen 1

Vgl. Wilhelm Maurer: Der junge Melanchthon zwischen Humanismus und Reformation. 2. Bd. Der Theologe. Göttingen 1969, S. 100.

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Bekenntnis- und Frömmigkeitstraditionen überbietenden späthumanistischen Bildungskonzepts, oder lassen sich tatsächlich konfessionsspezifische Propria einer evangelischen Bildungskultur benennen? Diese weitgespannte Problematik wird in der Forschung inzwischen verschiedentlich gedeutet, nicht zuletzt unter Verwendung des methodisch-systematischen Zugangs über die Frage nach konfessionskulturell geprägten Bildungslandschaften.2 Mit der Frage nach der Entstehung von Bildungslandschaften verbindet sich unmittelbar die Frage nach den sie prägenden Verbindungen zum Ursprungsgeschehen und -ort der Reformation, hier der Universität in Wittenberg. Dort wurden zahlreiche Träger sich an die Wittenberger Reformation anschließender Territorien und politischer Einheiten ausgebildet. Zu fragen ist weiterhin danach, wer diese Vermittler reformatorischen Gedankengutes waren, was sie in Wittenberg gelernt haben und vor allem, wie sie es im konfessionskulturell zu prägenden Empfängerterritorium umgesetzt und implementiert haben. Für die Verbreitung des reformatorischen Bildungsgedankens wird allgemein und vor allen anderen Philipp Melanchthon als praeceptor germaniae3 verantwortlich gemacht. Neben seiner akademischen Tätigkeit zeichnete sich seine Wissensvermittlung durch die Verwendung eines speziellen Mediums aus, die sogenannte „Schola Domestica“ oder auf Deutsch die Hausschule. 2. SCHOLA DOMESTICA Als „Schola Domestica“ oder „Schola Privata“ wird in der Forschung eine für die vormoderne Bildungskultur typische Form einer Symbiose von Wohn-, Lehr- und Lerngemeinschaft bezeichnet.4 Der Begriff „Schola Privata“ lässt sich auf die Monographie Ludwig Kochs zurückführen, der durch seine Arbeit diesen Begriff prägte.5 Wohingegen Melanchthon selbst den Begriff Hausschule – Schola Domestica – gebraucht.6 Durch ihre infrastrukturellen Rahmenbedingungen stellt dieses 2

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Vgl. Herman J. Selderhuis und Markus Wriedt (Hg.): Bildung und Konfession. Theologenausbildung im Zeitalter der Konfessionalisierung. Tübingen 2006; Herman J. Selderhuis und Markus Wriedt (Hg.): Konfession, Migration und Elitenbildung. Studien zur Theologenausbildung des 16. Jahrhunderts. Leiden 2007; Thomas Töpfer: Die Leucorea am Scheideweg. Der Übergang der Universität Wittenberg an das albertinische Kursachsen 1547/48. Eine Studie zur Entstehung der mitteldeutschen Bildungslandschaft am Beginn der Neuzeit. Leipzig 2004. Zur Konfessionskultur vgl. Thomas Kaufmann: Konfession und Kultur. Lutherischer Protestantismus in der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts. Tübingen 2006. Vgl. Theodor Mahlmann: „Die Bezeichnung Melanchthons als Praeceptor Germaniae auf ihre Herkunft geprüft“, in: Udo Sträter (Hg.): Melanchthonbild und Melanchthonrezeption in der Lutherischen Orthodoxie und im Pietismus. Wittenberg 1999, S. 135–226. Vgl. Stefan Rhein: Philologie und Dichtung. Melanchthons griechische Gedichte. Heidelberg 1987, S. 154. Ludwig Koch: Philipp Melanthonʼs Schola privata. Ein historischer Beitrag zum Ehrengedächtnis des Praeceptor Germaniae. Gotha 1859. Vgl. z.B. MBW 116, 132, 366. Rhein verweist an dieser Stelle auf die vorherrschende Polemik gegenüber privatem Unterricht durch die Eltern oder ungebildetes Fachpersonal und betont demnach die Bezeichnung Hausschule statt Privatschule. Vgl. Rhein: Philologie, S. 154.

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ein besonderes Modell dar – eben das der familialen Bildungsvermittlung, in der die Hausgenossen – gewissermaßen als „Familienmitglieder“ – eine spezifische Prägung familiärer Intensität empfangen haben. Ihre Bedeutung für das sich im Zeitalter der Reformation etablierende Bildungssystem ist zwar grundsätzlich bekannt, wurde allerdings bislang weder quantitativ noch qualitativ systematisch untersucht. Dazu möchte ich mit meiner Untersuchung der Hausschule des Praeceptor Germaniae Philipp Melanchthons in Wittenberg beitragen. Im Zentrum steht freilich weniger die institutionsgeschichtliche Seite von Hausschulen, sondern die kollektivbiographische Vorstellung der Hausgenossen Melanchthons – in Auszügen – sowie die Analyse der spezifischen Form von Bildungsvermittlung in der Hausschule. Institutionsgeschichtlich soll an dieser Stelle nicht heißen, dass es seitens der Universität eine Verpflichtung war, eine Hausschule einzurichten, oder gar das Modell Hausschule eine Institution war. In den Statuten der Wittenberger Universität vermerkte Melanchthon während seines Rektorats 1523/24, dass sich neue Studenten beim Rektor melden sollen, um sicherzustellen, dass jeder Student einem Dozenten zugewiesen wurde. Dies sollte geschehen, damit ein persönlicher Studienplan aufgestellt werden konnte, der sich an dem jeweiligen Bildungsstand des Studenten orientierte.7 In der Forschungsliteratur wird die Hausschule Melanchthons als Einrichtung wahrgenommen und bezeichnet.8 Luther bemerkt in einem Brief vom 15. Mai 1530 an Kurfürst Johann von Sachsen, den Bruder Friedrichs III., dass „ich so sanfft und leise [wie Melanchthon; Anm. d. Verf.] nicht tretten kan“9. Damit bezieht er sich auf die Vorlagen der Confessio Augustana, die sein Wittenberger Kollege zusammen mit Professoren und Räten im Auftrag des Kurfürsten zur Vorbereitung auf die Religionsverhandlungen in Augsburg verfasst hatte. In der Forschung wird dieser Satz unterschiedlich bewertet: Die einen verstehen den Vorwurf der „Leisetreterei“ als Mangel an Standhaftigkeit oder gar als Wankelmütigkeit. Andere sehen darin eine noch stärkere Wertung im Sinne einer Beschreibung der drastischen Abkehr Melanchthons von der lutherischen Position und setzen die Leisetreterei mit einem theologischen Verrat an Luther gleich. Die Forschung führt mit dieser Auseinandersetzung ein Stück weit die nachlutherischen Streitigkeiten um die Rechtmäßigkeit seines theologischen Erbes mit modernen Mitteln fort. Meines Erachtens ist dieser Streit müßig, stellt doch eben jene Fähigkeit ein Spezifikum der Wirksamkeit Melanchthons als Diplomaten der Reformation auf Landes- wie Reichsebene dar. Dementsprechend ist zu fragen, ob diese Charakteristik Melanchthons auch ein Proprium des in seiner Schola Domestica genossenen Unterrichts gewesen ist und sie die nachfolgenden beruflichen Karrieren seiner Schüler beeinflusst hat. Dies soll im Folgenden erläutert werden. Zuvor sind jedoch einige allgemeine Fragen zu diskutieren.

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Vgl. Walter Friedensburg: Urkundenbuch der Universität Wittenberg. 1. Bd. (1502–1611). Magdeburg 1926; Heinz Scheible: Melanchthon. Eine Biographie. München 1997, S. 38. Vgl. Rhein: Philologie, S. 154. WABr 5, S. 319.

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2.1. Beginn der Hausschule Melanchthon heiratete im November 1520 die 23-jährige, also gleichaltrige Katharina Krapp. Diese war die Tochter des Wittenberger Gewandschneiders Hans Krapp,10 der bereits 1514 verstorben war. Allerdings setzte Melanchthon bereits vorher seinen Plan einer Privatschule in die Tat um. Nämlich kurz nach seiner Ankunft in Wittenberg in 1518.11 Bereits im Dezember desselben Jahres „[…] übergab Spalatin Johann Jordan Hertzheimer,12 einen Neffen des kurfürstlichen Kammerdieners Degenhart Pfeffinger, in Melanchthons Obhut“.13 Und auch Johannes Koch,14 ein württembergischer Landsmann, wohnte ab 1519 bei Melanchthon und blieb bis zu seinem Lebensende 1553 in seinen Diensten als Famulus tätig.15 Im August 1519 „gilt das contubernium Melanchthonis als sittliche Medizin für einen liederlichen Studenten“.16 Bei diesem handelt es sich, nach Wilhelm Maurer, um Johann Tucher aus Nürnberg, ein ungeratenes Mündel des Ratssyndikus Christoph Scheurl17 und Angehörigen einer der reichen Patrizierfamilien der Reichsstadt. Bei Tucher scheint es sich bereits um einen jungen Mann zu handeln, denn ihm wird Verschwendung und Ehebruch vorgeworfen.18 Ob der Aufenthalt in der Schola tatsächlich eine Besserung erbrachte, ist ungewiss. Sicher ist, dass Tucher noch zwei Jahre bei Melanchthon bleiben sollte. Daran lässt sich erkennen, dass nicht nur junge Studenten, sondern auch junge Männer oder Erwachsene Mitglieder der Schola Domestica waren.19 Wir können also davon ausgehen, dass die Aufnahme von Hausschülern bei Melanchthon bereits früh, ab Ende 1518, in Übung war, und diese auch über Wittenberg hinaus als besondere Ausbildungsinstitution anerkannt war. 10 Vgl. Martin H. Jung: Philipp Melanchthon und seine Zeit. Göttingen 2010, S. 27. Bei Jung wird dieser auch als Bürgermeister von Wittenberg bezeichnet, allerdings handelt es sich dabei um den Schwager Hieronymus Krapp, den Bruder von Katharina, der mehrfach Bürgermeister war. Vgl. Heinz Scheible: Art. „Philipp Melanchthon“, in: TRE 22 (1992), S. 371–410. 11 Vgl. Robert Stupperich: Philipp Melanchhton. Gelehrter und Politiker. Göttingen 1996, S. 40. 12 Auch als Hans Jordan Hertzheimer bezeichnet. Dieser wurde am 29. Mai 1512 zusammen mit seinem Bruder Johann Evangelist in Wittenberg immatrikuliert und wohnte ab 1518 bei Melanchthon. Am 30. Juni 1519 trat er in den Dienst des Erzbischofs Albrecht von Mainz, wo er bis 1541 verblieb. Zeit seines Lebens unterstützte er die Reformation. Vgl. Maurer: Melanchthon. 2. Bd., 96f. 13 Maurer: Melanchthon. 2. Bd., S. 96. 14 Johannes Koch aus Ilsfeld bei Heilbronn wurde am 30. Oktober 1516 in Wittenberg immatrikuliert und erwarb am 22. März 1518 seinen Baccalaureus artium. Vgl.: Scheible: Art. „Melanchthon“, S. 385. 15 Vgl. Maurer: Melanchthon. 2. Bd., S. 97. 16 Stefan Rhein: „Ein Gruß aus Wittenberg. David Chytraeus und die Hausschule Melanchthons“, in: Karl-Heinz Glaser (Hg.): David Chytraeus. Norddeutscher Humanismus in Europa. Ubstadt-Weiher 2000, S. 13–17, hier: 15. 17 Christoph Scheurl (1481–1542), Nürnberger Humanist und Jurist. Scheurl lehrte von 1507 bis 1512 an der Leucorea und war in dieser Zeit selbst Rektor der Universität. Vgl. Heiner Lück: Art. „Wittenberg, Universität“, in: TRE 36 (2004), S. 232–243, hier: 233. 18 Vgl. Maurer: Melanchthon. 2. Bd., S. 97. 19 Vgl. Maurer: Melanchthon. 2. Bd., S. 97.

Melanchthons „Schola Domestica“

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2.2. Warum richtete Melanchthon eine Hausschule ein? Melanchthon widmete sich der Erziehung der Jugend nicht, um seine Finanzen aufzubessern;20 in einigen Fällen verdiente er gar nichts an seinen Schülern. „Die im eigenen Hause betriebene Privatschule brachte nur die Deckung der Unkosten ein […]“.21 Diesen Sachverhalt schilderte Melanchthon ebenso in einem Brief an den befreundeten kurfürstlichen Sekretär Georg Spalatin Ende Dezember 1524.22 Auch nahm Melanchthon „den vielversprechenden Sohn – es ist der spätere kursächsische Kanzler Franz Burchard – umsonst“23 auf, weil der Vater so geizig sei, dass „man aus einem Stein eher Wasser herausdrücken als ihm Geld auspressen könnte“.24 Dies macht er, um bei den zumeist sehr jungen Studenten sowohl die sprachlichen Voraussetzungen zu schaffen als auch ein stabiles Umfeld zur sittlichen Erziehung25 und Anleitungen zum richtigen Studium zu gewährleisten. Maurer sieht in dem sittlichen Verfall das Versagen der mittelalterlichen Bursen, welche die „eigentlichen Erziehungsstätten“26 darstellten. Demnach sei die Errichtung der Schola Melanchthons für ihn eine Notlösung, um dem Sittenverfall entgegenzuwirken. Diese Begründung Maurers greift meines Erachtens zu kurz und reduziert Melanchthon auf einen Sittenlehrer. Zwar waren für Melanchthon eine sittliche und moralische Erziehung im Sinne einer christlichen Erziehung Bestandteil des Alltags in der Schola. Dennoch bewegten Melanchthon weitere Aspekte zur Gründung einer Hausschule. Rhein nimmt die stetig steigenden Studentenzahlen und in Verbindung damit die Knappheit an Wohnraum als einen der vordringlichsten Gründe für die Errichtung der Schola an.27 Es ist sicherlich richtig, dass mit Luthers Thesenanschlag 1517 und in den 1520er Jahren sich die Studentenimmatrikulationen in Wittenberg vervielfachten.28 Dennoch blieb Melanchthons Hauschule neben der des Mathematikers Longicampianus die einzige ihrer Art.29 20 Scheible: Melanchthon, S. 38, benennt den finanziellen Aspekt als einen der Gründe, warum Melanchthon eine Hausschule unterhält. Koch: Schola privata, S. 6, bezeichnet Geldnot als den gewichtigsten Grund. Maurer: Melanchthon. 2. Bd., S. 99f., hingegen schließt eine „finanzielle Erwägung“ aus und betont den sittlichen Verfall der Studenten als Begründung. 21 Inge Mager: „,Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei‘ (Gen. 2,18). Zum Familienleben Philipp Melanchthons“, in: ARG 81 (1990), S. 120–137, hier: 130. 22 Vgl. MBW R 366. 23 Maurer: Melanchthon. 2. Bd., S. 98. 24 Maurer: Melanchthon. 2. Bd., S. 98 und MBW R 361. 25 Die Eltern waren sich in der damaligen Zeit sehr wohl um den unreifen Zustand ihrer Kinder bewusst und erhofften sich neben einer soliden Unterkunft und wissenschaftlicher Ausbildung, auch eine entsprechende sittliche. Diesen Sachverhalt teilte Melanchthon am 31. Juli 1523 Spalatin mit. „Mihi crede, multum referrt esse in collegiis, quibus tuto possiscredere adolescentes, qui undecunque huc mittuntur. Et ad me quidem non parum multi solent mitti.“ CR 1, S. 617f. (Nr. 247, mit Erg. Nr. 3). 26 Maurer: Melanchthon. 2. Bd., S. 100. 27 Vgl. Rhein: Philologie, S. 154. 28 Vgl. Helmar Junghans: Martin Luther und Wittenberg. München 1996, S. 212f. Für die Entwicklung der Zahlen aller Universitäten in Deutschland Franz Eulenburg: Die Frequenzen der deutschen Universitäten. Leipzig 1904. 29 Vgl. MBW R 366; Maurer: Melanchthon. 2. Bd., S. 100.

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Darüber hinaus wird „Bildung […] bei Melanchthon wesentlich unter dem Aspekt ihres Nutzens für Kirche und Gemeinwesen gesehen“.30 Bekanntlich bringt ein gebildeter Mensch großen Nutzen für die Gesellschaft und somit für die Kirche. „Denn wer Schulen gründet und die Wissenschaft pflegt, der macht sich um sein Volk und die ganze Nachwelt besser verdient, als wenn er Silber- und Goldadern auffände […]“.31 Dieser Appell Melanchthons ging vornehmlich an die Obrigkeit. Denn sie ist es, die von Gott beauftragt ist, Schulen und Universitäten zu gründen und zu erhalten.32 Dies vermittelt den Eindruck, Melanchthon gehe davon aus, dass Schulen und Universitäten durch Gottes Gebot eingerichtet worden sind.33 Darüber hinaus sah er auch den Beruf des Lehrers als einen ehrenvollen und vor allem gottgefälligen Dienst an. Denn wer sich um die Bildung der Jugend verdient macht, der leistet sowohl der Gesellschaft als auch der Theologie einen großen Dienst. Melanchthon war sich durchaus bewusst, dass die Aufgabe der Erziehung keine leichte war. „Im Gegenteil, es ist eine schwere Last, eine schwierige Aufgabe, die niemand, auch bei den glänzendsten Geistesgaben, ohne Gottes Hilfe erfüllen kann.“34 Denn neben der Vermittlung der Bildung galt es, wie bereits oben erwähnt, zur christlichen Lebensführung hin zu erziehen. „Das allgemeine Ziel des Unterrichts ist die Kenntnis der Offenbarung Gottes und seiner Gebote mit dem Zweck, das Leben an ihnen zu orientieren und nach dem Willen Gottes zu gestalten.“35 Melanchthon machte sich ebenso um die Professionalisierung des Lehrerberufes verdient und forderte, dass Lehrer „ehrenvoll“ entlohnt werden sollten.36 Melanchthon liebte Kinder und bemühte sich, ihnen als Person zum Vorbild zu dienen. Gleichermaßen wollte er „durch den Schritt in die Ehe der akademischen Jugend ein Beispiel […] geben“,37 auch im Hinblick darauf, dass sich durch die Ausbreitung der Reformation immer mehr ehemalige Mönche, Nonnen und Gelehrte in den gottgefälligen Stand der Ehe begaben. „Das Zusammenleben von Lehrern und Schülern hatte Melanchthon selbst als Kind während seiner Zeit in Pforzheim und Heidelberg erlebt“38 und als sehr positiv und fördernd empfunden.

30 Markus Wriedt: „Die theologische Begründung der Bildungsreform bei Luther und Melanchthon“, in: Michael Beyer und Günther Wartenberg (Hg.): Humanismus und Wittenberger Reformation. Leipzig 1996, S. 155–184, hier: 170. 31 Wriedt: Bildungsreform, S. 170. Vgl. CR 11, 492. 32 Vgl. Wriedt: Bildungsreform, S. 170. 33 Vgl. Wriedt: Bildungsreform, S. 170. 34 Karl Hartfelder: Philipp Melanchthon als Praeceptor Germaniae. Berlin 1889, S. 80. 35 Wriedt: Bildungsreform, S. 172. 36 Vgl. Philipp Melanchthon: Oratio de necessaria coniunctione scholarum cum ministerio evangelii, 1543, übersetzt von Michael Beyer und Günther Wartenberg, in: Michael Beyer u.a. (Hg.): Melanchthon deutsch. 2. Bd. Theologie und Kirchenpolitik. Leipzig 1997, S. 17–34, hier: 25. 37 Mager: Familienleben, S. 122. 38 Nicole Kuropka: Melanchthon. Tübingen 2010, S. 57; vgl. Scheible: Melanchthon, S. 38.

Melanchthons „Schola Domestica“

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Das Sprachniveau war im ganzen Reich weit gesunken und Melanchthon forderte in seiner Antrittsrede 1518, das Studium der Sprachen wieder intensiv zu betreiben.39 Nachdem man sich zum ersten Mal von den Lehren der Alten abgewendet und jene respektlose Art des Kommentierens und Philosophierens die Oberhand gewonnen hatte, wandte man sich gleichzeitig auch verächtlich vom Griechischen ab, kümmerte sich mehr um die Mathematik und betrieb die Theologie mit zu wenig Sorgfalt. Welche Seuche hätte unheilvoller sein können als diese schlimme Entwicklung?40

Melanchthon betrachtet die Sprachen als die stärkste Ausdrucksfähigkeit des Geistes, denn die „sprachliche Ausdrucksfähigkeit und die Urteilskraft hängen von Natur aus zusammen. ,Prudentia und Eloquentia sind so eng verbunden, daß sie auf keine Weise getrennt werden können‘.“41 Dies galt bei Melanchthon für alle Disziplinen und Lebensbereiche, für Juristen und Mediziner und im Besonderen für Theologen, nicht nur für Philologen: „Wer Gesetze erlassen will, wer Recht sprechen soll, wer die biblische Botschaft verkündigen muss, der muss vor aller Fachkompetenz ein Meister der Sprache sein.“42 Dabei stellen Erziehung und Bildung eine Angelegenheit eines jeden Menschen dar, folglich ganz besonders auch der Theologie als der Wissenschaft vom Worte Gottes. „Da Gott den Menschen die Sprachen geschenkt hat und durch die Sprachen die Beschäftigung mit der Theologie erneuert hat, kann ohne Wissenschaft die Theologie nicht bestehen.“43 Sprachen stellen nach Melanchthon das Fundament der Wissenschaften und Erziehung dar. Durch das Erlernen der Sprachen wird der Mensch, Melanchthon zufolge, sittlich erzogen. Dabei stützen sich pietas und erudio gegenseitig, „[i]ndem die eine entwickelt wird, wird mittelbar die andere mitgefördert. Pietas wirkt sich auf die Verfeinerung der Sitten aus, eruditio schafft umgekehrt eine Sensibilität für die Tiefendimension der Wirklichkeit und fördert so auch die pietas.“44 Die zu erlernenden Sprachen sollten neben dem Latein, welches für den Alltagsgebrauch war, Griechisch und Hebräisch sein. Wobei dem Griechischen als der Sprache Gottes, die höchste Ehre zuteilwurde. Da nämlich diese Sprache [sc. Griechisch] schon vorher die Lehre von einem sittlichen, bewußt gestalteten und wahrhaft menschlichen Leben, d.h. vom Gesetz Gottes, in sich aufgenommen hatte, da sie zur Lehrerin der besten und höchst lebenswichtigen Künste und Wissenschaften geworden war, zum Speicher der Vergangenheit und der Weltgeschichte, wollte Gott diesen Schatz des Evangeliums der Menschheit gerade mit Hilfe dieser Sprache mitteilen, und sie auf 39 Vgl. Philipp Melanchthon: De corrigendis adolescentiae studiis, 1518, übersetzt von Gerhard Steinger, in: Michael Beyer u.a. (Hg.): Melanchthon deutsch. 1. Bd. Schule und Universität, Philosophie, Geschichte und Politik. Leipzig 1997, S. 41–63. 40 Melanchthon: De corrigendis studiis, S. 47. 41 Günter R. Schmidt (Hg.): Philipp Melanchthon. Glaube und Bildung. Texte zum christlichen Humanismus. Stuttgart 1989, S. 12. 42 Nicole Kuropka: „Vor Gott und in der Welt. Melanchthons Sprachschule für die Gesellschaft“ in: Günter Frank und Sebastian Lalla (Hg.): Fragmenta Melanchthoniana. Heidelberg 2007, S. 67–79, hier: 69. 43 Hermann-Adolf Stempel: Melanchthons pädagogisches Wirken. Bielefeld 1979, S. 53. 44 Schmidt: Glaube und Bildung, S. 9. Vgl. auch StA III, S. 46–62 (Encomion elequentiae, 1523).

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Corinna Sonntag diese Weise deutlich auffordern, unter all seinen Wohltaten besonders auch diese zu erstreben und sich eigen zu machen.45

Das wesentliche Ziel, welches Melanchthon mit der Gründung seiner Hausschule verfolgte, lag darin, „die jungen Leute besser auf die Universität vorzubereiten als die herkömmlichen Schulen es vermochten“.46 Dies bezieht sich nicht nur auf den Bereich der Ausbildung sowie das Studium der antiken Sprachen, sondern auch auf die sittliche Erziehung zur Frömmigkeit. 2.3. Dauer Ebenso wie der Beginn der Schola Domestica ist auch deren Dauer in der Reformationsgeschichte umstritten. Von einer 10-jährigen Dauer, 1520 bis 1529/30, aufgrund der zunehmenden auswärtigen Belastungen Melanchthons, gehen Ludwig Koch,47 Karl Hartfelder48 oder Nicole Kuropka49 aus. Von einer lebenslangen Dauer ohne zeitliche Spezifikation, sprechen Wilhelm Maurer,50 Stefan Rhein51 oder Heinz Scheible.52 Aufgrund der kontinuierlichen Schülerzahlen schließe ich mich der letzteren Gruppe an, wie nachfolgend gezeigt wird. 2.4. Rituale Den Tagesablauf in der Schola Domestica darf man sich nicht wie in einer Studierenden-Wohngemeinschaft unserer Tage vorstellen. Wie auch in den universitären Bursen gab es feste Regeln und Riten. Latein war in seinem Haus die Umgangssprache. […] Zum festen Bestandteil des Tagesablaufes gehörten darüber hinaus tageszeitliche Gebete53 und ein Haustheater54, für das Melanchthon eigene, durchaus humorvolle Stücke schrieb. Im engsten Kreis hielt er Privatvorlesungen und bot Übungen zur Vertiefung des Wissens an.55

45 Schmidt: Glaube und Bildung, S. 187; sowie StA III, S. 141 (Oratio de studiis lingua Gracae, 1549). 46 Stempel: Pädagogisches Wirken, S. 41. 47 Vgl. Koch: Schola Privata, S. 104. 48 Vgl. Hartfelder: Melanchthon als Praeceptor, S. 491. 49 Vgl. Kuropka: Melanchthon, S. 58. 50 Vgl. Maurer: Melanchthon. 2. Bd., S. 97. 51 Vgl. Rhein: „Gruß aus Wittenberg“, S. 16. 52 Vgl. Scheible: Melanchthon, S. 38. 53 Vgl. auch Martin H. Jung: Frömmigkeit und Theologie bei Philipp Melanchthon. Tübingen 1998, S. 128 und 131; sowie CR 11, 983–992 (De precatione, 1552). 54 Vgl. Robert Seidel: „Lateinunterricht avant la lettre“, in: Friedrich Bratvogel (Hg.): Bernhard Copius und das Lemgoer Gymnasium. Göttingen 2011, S. 121–149, hier: 142. 55 Kuropka: Melanchthon, S. 57.

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Latein als Umgangssprache war auch in den humanistischen Gymnasien gefordert, wohingegen „die Verwendung der Muttersprache“56 dort verboten war. Dies dürfte für Melanchthon nicht generell zutreffen, da er gern und oft ausländische Gäste und Studenten in seinem Haus beherbergte. „Stolz hat Melanchthon davon berichtet, beim Mittagessen seien an seinem Tisch zu Hause einmal elf verschiedene Sprachen erklungen.“57 So schrieb er in einem Brief an Justus Menius im August 1544.58 Das Haustheater verfolgte nicht nur das Ziel den Zöglingen Unterhaltung zu gewähren, sondern galt ebenfalls als eine Methode des Unterrichts. „Schultheateraufführungen waren in protestantischen wie in Jesuitengymnasien Höhepunkte des schulischen Lebens und gewissermaßen die anspruchsvollste Form des Literaturunterrichts.“59 Zwei Anliegen neben dem Unterhaltungsfaktor sollten damit verfolgt werden. Zum einen die Perfektionierung der rhetorischen Fähigkeiten und zum anderen die Unterweisung auf sachlicher Ebene in „(kultur)politisch-patriotischer, theologisch-konfessioneller oder moralischer Hinsicht“.60 Ähnlich dem kirchlichen oder auch klösterlichen Tagesablauf, der geprägt und gegliedert wird durch Gebetszeiten und Messen, stellte sich auch der Tagesablauf in der Schola Domestica dar. Dieser wurde durch Gebete, Lern-, Lese- und Schreibphasen sowie Unterhaltung an besonderen Tagen strukturiert. Melanchthons Tochter Anna, die später mit dem Dichter Sabinus verheiratet war,61 berichtete, dass auch dessen Kinder bereits früh an „den täglichen Tischlesungen, die sich von der Bibel über Luthers Kl. Katechismus bis hin zu den griechischen und lateinischen Klassikern erstreckten“,62 beteiligt waren. Neben der individuellen Förderung des Einzelnen durch Melanchthon musste auch für die Zeiten seiner auswärtigen Verpflichtungen eine Lösung gefunden werden: das Prinzip der gegenseitigen Erziehung. So unterstützten sich die Schüler bei ihren Aufgaben gegenseitig als Tutoren oder Präzeptoren. Für den Unterricht während der Abwesenheit Melanchthons zeichnete sich neben dem Famulus Koch auch einer der ranghöheren Hausschüler verantwortlich. Die Rangfolge der Schüler untereinander wurde durch die Wahl eines Königs geregelt. Möglicherwiese kannte Melanchthon dies von Reuchlin oder gar einem seiner eigenen Lehrer – Georg Simmler (1477–1536) oder Johannes Ungerer (gest. 1553). „So läßt er [z.B.] einen rex domus von den Schülern wählen.“63 So berichtete Melanchthon in einem Brief 56 57 58 59 60 61

Seidel: „Lateinunterricht“, S.123. Jung: Melanchthon und seine Zeit, S. 8. Sowie MBW R 3661. Vgl. MBW R 3661. Seidel: „Lateinunterricht“, S. 140. Seidel: „Lateinunterricht“, S. 141. Anna (1522–1546) war die älteste Tochter Philipp Melanchthons, die ihm am ähnlichsten war. Sie heiratete 14-jährig 1536 den Hausschüler, Juristen und Dichter Georg Sabinus, den späteren Gründungsrektor der preußischen Universität Königsberg. Die Ehe verlief unglücklich und Melanchthon trug sich mit dem Gedanken einer Scheidung, doch Anna verstarb nach der Geburt von sechs Kindern im Alter von 24 Jahren. Melanchthon und seine Frau litten sehr unter dem Verlust. Vgl. auch Mager: Familienleben, S. 127f. 62 Mager: Familienleben, S. 126. 63 Stempel: Pädagogisches Wirken, S. 41.

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an Camerarius vom 23. Januar 1527, dass Heinrich Silberborner aus Worms, mit seinem Bruder Johannes im WS 1523 immatrikuliert und späterer Jurist in Speyer, zum Hauskönig gewählt worden sei.64 Koch weist darauf hin, dass es im Hause Melanchthon gängig war, dass alle Anwesenden, nicht nur Schüler, sondern auch Gäste, bei Versammlungen im Haus ein Scriptum zu verfassen hatten. Dies konnte in Prosa oder Vers sein. Der ausgewählte Sieger erhielt den Vorsitz bei Tisch.65 Ebenso zeugen zahlreiche Briefe Melanchthons davon, dass er mit seinen Hausschülern auf Reisen in Kontakt stand. Dabei beantwortete er Fragen und gab Empfehlungen und Anweisungen zum Studium. Einige von Melanchthons Werken sind ursprünglich für die Privatschule und den Hausgebrauch entstanden. So beispielsweise das Enchiridion elementorum puerilium von 1523, „wie die Anrede am Schluss des Vorwortes und die Schülergebete am Ende des Werkes andeuten“.66 Hierbei handelt es sich um ein reines Textbuch ohne jegliche Erklärungen. Ebenso gilt dies für die erste Fassung der Loci Communes, eine Vorlesung über den Römerbrief für seine Hausschüler auf Latein, auf die ich später nochmal zu sprechen komme. 2.5. Anzahl der Hausschüler Bei den bisherigen Recherchen konnten annähernd 60 Personen über einen Zeitraum von 40 Jahren gesichert ausfindig gemachen werden. Sie haben sich nachweislich in Melanchthons Schola Domestica aufgehalten. Freilich erhebt diese Zusammenstellung keinen Anspruch auf Vollständigkeit. In den einzelnen Publikationen der jüngeren Forschung erscheinen – nicht zuletzt aufgrund immer neuer Quellenfunde aus lange Zeit verschlossenen oder anderweitig nicht zugänglichen Archiven – häufiger Namen, die in dieser Hinsicht zu überprüfen sind. Das folgende Diagramm (Abb. 1) zeigt zunächst die chronologische Verteilung der Gesamtanzahl von Studenten in Zehn-Jahres-Schritten zwischen 1518 und 1560. Vor allem in den Jahren 1530 bis 1539, in jenem Zeitraum als Melanchthon wenig Zeit für seine Privatschule hatte, liegt die Anzahl mit 19 Schülern am höchsten. Diese Entwicklung spiegelt sich in den Frequenzzahlen der Leucorea, wonach die Universität in dieser Zeit den stärksten Zuwachs aller deutschen Universitäten hatte.67 Neben dem gewählten Hauskönig dürften in Melanchthons Abwesenheit auch sein Famulus Johannes Koch und seine Frau Katharina helfend in die Organisation eingegriffen haben, sodass die täglichen Rituale ohne nennenswerte Veränderungen stattgefunden haben dürften.

64 65 66 67

Vgl.: MBW 523; sowie Rhein: Philologie, S. 156. Vgl. Koch: Schola Privata, S. 48. Stempel: Pädagogisches Wirken, S. 55. Vgl. Anmerkung 28.

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20 15 10 5 0 1518 ‐ 1529

1530 ‐ 1539

1540 ‐1549

1550 ‐ 1560

Abb. 1. Chronologische Verteilung der Gesamtanzahl von Studenten im Hause Melanchthons.

2.6. Geographischer Überblick Sodann lassen sich erste Aussagen zur geographischen Verteilung der Wirkungsorte der Schüler machen. Die graphische Übersicht belegt die Annahme, dass die Schüler in allen geographischen Bereichen des Alten Reiches, aber auch Nordund etwa auch Südwesteuropa (Dänemark, Schweden, England, Spanien usw.) tätig waren. Diese findet sich übrigens auch in den Herkunftsorten wieder. Dabei lässt sich für die Wirkungsorte ein Schwerpunkt in Nord, Nordost und Südost erkennen. Das folgende Diagramm (Abb. 2) illustriert die ausgedehnte geographische Verteilung. Die umliegenden Territorien sind in dieser Graphik nur als Umland gekennzeichnet und liegen bei 24%. Das Heilige Römische Reich ist mit ca. 80 % am stärksten vertreten, aber es lassen sich ebenso Studenten und Schüler aus Dänemark, England, Frankreich, dem Osmanischen Reich, Polen, Schweden und Ungarn nachweisen. Dies wird in der Grafik nur mit Umland erfasst.

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Herzogtümer Anhalt 1%

Böhmen 5%

Bayern 5% Umland 24%

Brandenburg 9%

Württemberg 1% Westfalen 1%

Braunschweig 7% Hessen 7%

Schleswig 1% Sachsen  (Kurfürstentum) 17%

Lothringen 2% Kurpfalz 7%

Sachsen 6%

Nassau Mecklenburg 2% 3%

Kleve 1%

Mähren 1%

Abb. 2. Geographische Verteilung der Wirkungsorte der ehemaligen Schüler im Hause Melanchthons.

2.7. Spätere Tätigkeitsfelder Eine Analyse der späteren Tätigkeitsfelder und Karrieren der Hausschüler zeigt nachfolgend das graphisch umgesetzte Bild (Abb. 3). Der jeweilige absolvierte Studiengang stellt in der damaligen Zeit keinen Garanten für die tatsächliche spätere Beschäftigung dar. Eine verbindliche Aussage über das Studium und daraus resultierend den späteren Tätigkeitsbereich ist für die damalige Zeit nicht möglich. Darüber hinaus war es nicht zwingend notwendig, einen Abschluss zu haben. So lässt sich bei den bislang gesicherten Hausschülern immerhin für 63% ein Abschluss nachweisen. Interessanterweise folgen der Anzahl der Magisterabschlüsse mit 27% die der Promotionen mit 21%. Diese unterteilen sich in drei Dr. med., fünf Dr. theol. und sieben Dr. jur. Für verhältnismäßig wenige Hausschüler, nur 9 %, lässt sich eine Ordination nachweisen. Der Abschluss des Baccalaureus, jener Grad, der als erstes an der Universität zu erwerben ist, liegt bei lediglich 6%. Davon ausgehend, dass sich überwiegend wohlhabende oder gar adlige Schüler bei Melanchthon befunden haben, ist dieses Ergebnis überraschend. Denn für den Adel war ein Studienabschluss nicht zwingend erforderlich, weil er keinen Einfluss auf die spätere

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Tätigkeit nahm. Die Studenten kamen wegen Ruhm und Ansehen zum Studium bei bekannten Persönlichkeiten. Doch wenn ein Grad erworben wurde, handelte es sich in den meisten Fällen um den Baccalaureus, weil er am schnellsten zu erwerben war.

Abschlüsse der Hausschüler 6% 37%

BA

27%

MA Ordination

9% 21%

Promotion Kein Abschluss

Abb. 3. Übersicht über die Abschlüsse der ehemaligen Schüler im Hause Melanchthons.

Ähnlich wie bei dem geographischen Überblick ergibt sich eine aussagefähige Darstellung der Berufe (Abb. 4) erst dann, wenn man die Vielschichtigkeit der ausgeübten Tätigkeiten systematisch zusammenfasst. Der Oberbegriff Theologie, hier mit 24% vertreten, enthält praktizierende Theologen wie Pfarrer und Kirchenbedienstete, ebenso theoretisch-orientierte Professoren der Theologie. Die staatliche und kommunale Administration, hier mit 36% abgebildet, umfasst die Berufsfelder von Räten, Diplomaten, Kanzlern, Stadtschreibern und Bürgermeistern. Darüber hinaus zählen auch Finanzverwalter und Kammerdiener zu diesem Bereich. Die Berufsfelder, die durch ein Studium der höheren Fakultäten erreichbar waren, sind hier mit 5% für Mediziner und mit 7% für Juristen abgebildet. Die Mathematik schlägt sich mit 3% und die Astronomie mit 1% nieder. Die Berufsfelder im sprachlichen Bereich sind für 10% der Hausschüler Melanchthons nachweisbar.

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unbekannt/sonstige s 14%

Berufe Theologie 24%

Philologie 10% Mathe/Astronomie 4%

Jura 7%

Medizin 5% Administration 36%

Abb. 4. Übersicht über die Berufe der ehemaligen Schüler im Hause Melanchthons.

Der relativ große Anteil der Vertreter der Schola Domestica in administrativen Bereichen, also Hof, Rat, Stadtverwaltung und Ähnliches, mag überraschen, ist Melanchthon doch ein enger Streiter Luthers und Anhänger der Reformation. Daraus wurde lange Zeit eine spezifisch theologische oder auch kirchliche Prägung durch Melanchthon erschlossen. Dieser Statistik zufolge spielt die konfessionell-theologische Ausbildung freilich nur eine nachgeordnete Rolle. 3. BILDUNGSVORSTELLUNG BEI MELANCHTHON Die Bedeutung des Sprachstudiums und die Fertigkeit in den Fächern des Triviums Grammatik, Dialektik, Rhetorik sind hinlänglich bekannt. Ich hatte bereits weiter oben darauf hingewiesen, dass Melanchthon in der „Sprache, im Denken und im Reden die Grundlagen allen menschlichen Zusammenlebens“68 sah. Darüber hinaus gehören zu einem funktionierenden Lehrbetrieb für Melanchthon „Redeübungen und Stilübungen in Vers und Prosa. Das Dichten ist für ihn eine unerlässliche Komponente der Stilbildung. Er meint sogar, wenn man die Poesie verachte, gehe vielleicht die ganze Literatur und Wissenschaft unter.“69 In seinen Studienanweisungen sind es vor allem die klassischen Werke der Griechen, die zur Nachahmung genutzt werden sollen, denn „humanitas und civilitas [lernt] man aus den alten Rednern und Dichtern“.70

68 Kuropka: „Melanchthons Sprachschule“, S. 67. 69 Scheible: Melanchthon, S. 36. 70 Scheible: Melanchthon, S. 39.

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3.1. Loci communes Melanchthons wohl bedeutendstes theologisches Lehrwerk sind – wirkungsgeschichtlich gesehen – wohl die Loci communes. Dieses Werk ist geprägt von einer engen Verbindung von humanistischer Methode und reformatorisch-theologischen Inhalten. Die humanistische Methode – letztlich eine Systematisierungsübung aus der klassischen Antike71 – wird im Kontext theologischer Erörterung zur Gliederung und Systematisierung des notwendigen Wissens angewandt. Ursprünglich als Leitfaden für die Studenten zum Studium der Heiligen Schrift, als Textgliederungsmethode, gedacht, gelang es Melanchthon mit seinen Loci „die erste systematische Darstellung der reformatorischen Theologie und zugleich eine neue wissenschaftliche Literaturgattung“72 zu schaffen. Diesem Urteil schließt sich die moderne historiographische Frage an, was an Melanchthons Loci communes so innovativ und außergewöhnlich war, sodass man damit seine Verbreitung erklären könnte. Hierzu ist durchaus zu bedenken, dass Melanchthon – ähnlich wie Luther und zahlreiche andere Gelehrte seiner Zeit – an innovatio keinen Bedarf hatte. Luther selbst sah sein Reformanliegen konservativ: nicht als Hinwendung zum Neuen und Fortschrittlichen, sondern als Wiederherstellung und -belebung des Alten und Bewährten. Reform hatte bei ihm und zunächst bei seinen Mitstreitern einen konservativen Inhalt, die Rückwendung zu dem im Verlauf der Geschichte durch Neues und Fremdes überlagerten Wahren und Guten der Alten Kirche.73

Ihnen ging es um die Wiederherstellung früherer, bewährter und für gut befundener Methoden und Aussagen. Von daher ist auch Melanchthon nicht an pädagogischer Innovation, sondern eher an einer aus der Geschichte sich speisenden Wiederherstellung (reformatio) gelegen. Doch die immer wieder innerprotestantisch aufkommenden Streitigkeiten werden vor allem von den katholischen Gegnern genutzt, um den evangelischen Wahrheits- und Lehranspruch zu diskreditieren. An dieser Stelle bezieht Melanchthon auch die staatliche Obrigkeit mit ein und ermahnt diese, ihren Verpflichtungen nachzukommen. Es gibt keinen Zweifel, dass in diesem letzten und irrsinnigen Zeitalter der Welt noch größere Zerstörungen der Kirchen ausstehen. In ihnen möge, wie wir mit tiefem Seufzen und Flehen bitten, der Sohn Gottes die Schlachtreihe bewahren, die die Reinheit der Lehre und das wahre Gebet festhält, in der viele Erben des ewigen Heils sind. Aber dennoch müssen auch die Fürsten und anderen Regierenden und Lehrer ihres Amtes eingedenk sein, unnötige Streitereien zu ver-

71 Vgl. Scheible: „Melanchthon“, S. 372f. 72 Scheible: „Melanchthon“, S. 373. 73 Markus Wriedt: „Theologische Innovation und konservatives Beharren bei Martin Luther und Philipp Melanchthon“, in: Werner Zager (Hg.): Martin Luther und die Freiheit. Darmstadt 2010, S. 59–80, hier: 59.

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Corinna Sonntag hindern, die Neuerungssucht und Zanklust kleiner Geister zu dämpfen, mit höchster Wachsamkeit den gottesfürchtigen Konsens zu schützen, die Heilbaren freundlich auf den geraden Weg zurückbringen und die Unheilbaren mit gerechter Strenge in ihre Schranken zu weisen.74

Sicherlich konnte Melanchthon durch einstige Schüler in hohen diplomatischen Ämtern Einfluss auf die staatlichen Obrigkeiten nehmen, was letztlich die Reformation maßgeblich unterstützt hat. Bei seinem Vorgehen verwirft Melanchthon die bisher genutzten Lehrbücher, meist in Form von Sentenzenkommentaren, wie beispielsweise von Petrus Lombardus75 und Johannes von Damaskus76, weil der eine menschliche Meinung statt der Lehre der Schrift wiedergebe und der andere zu viel philosophiere. Beide der abgelehnten Positionen werden als falsche und irreführende Innovation verworfen. So wie allerdings die Reformatoren die römisch-kuriale Theologie als nicht schriftgemäße Innovation brandmarken, werden sie selbst von den römischen Theologen als Neuerer und allemal „häresieverdächtige“ Innovatoren gebrandmarkt. Melanchthon nutzte die Vorgehensweise von Rudolf Agricola77 und Erasmus von Rotterdam78, den Text durch Topoi, sogenannte Schlüsselbegriffe, zu erschließen. Die Zusammenfassung einzelner Topoi ermöglicht dann eine Systematisierung. Diese Praxis ist, wie schon gesagt, nicht neu. Sie stammt vielmehr von den Griechen, aus der antiken Philosophie, allerdings wird sie bei Melanchthon charakteristisch modifiziert. Bei ihm steht der – philologisch aufbereitete – (Quellen-)Text im Vordergrund. Er nähert sich dem Text nicht mit einer vorgefassten Meinung, sondern er wollte verstehen, was der Text zu sagen hat. Also folgte er nicht dem Rat des Erasmus, der mit einem vorgefertigtem System von loci einem Text befragen wollte, sondern er versuchte herauszufinden, welche loci in dem Text enthalten sind.79

74 Philipp Melanchthon: „Responsio ad criminationes Staphyli et Avii, 1558“ übersetzt von Ute Mennecke-Haustein, in: Melanchthon deutsch. 2. Bd., S. 78–101, hier: 99f. 75 Petrus Lombardus (1100–1160) war ein scholastischer Theologe. Er lebte in Paris als Leiter der Kathedralschule von Notre Dame. Sein bedeutendstes Werk waren die vier Bände der Sentenzen. 76 Johannes von Damaskus (650–754) war ein Theologe und gilt in der katholischen Kirche als letzter Kirchenvater. 77 Agricola wurde 1444 bei Groningen in den Niederlanden geboren. Er studierte in Erfurt, Köln, Löwen, Pavia und Ferrara. Durch seinen langen Aufenthalt in Italien hatte er sich dem Humanismus verschworen und setzte sich für eine umfassende Bildung im Sinne der Artes liberales ein. 1485 verstarb er in Heidelberg. 78 Erasmus von Rotterdam wurde ca. 1466/69 in Rotterdam als unehelicher Priestersohn geboren. Er studierte in Paris und lebte abwechselnd in Paris, Oxford, Turin, Bologna, Venedig, Padua, Rom, Cambridge, Brüssel, Basel und Antwerpen. Er ist der bedeutendste Humanist des 16. Jahrhunderts. Sein Bestreben zeichnete sich vor allem durch seine Bemühungen um eine Verbindung zwischen der antiken Bildung mit der christlichen Theologie aus. Er wurde zur Leitfigur unterschiedlichster Parteien (Reformation, Gegenreformation, Aufklärung u.a.). Neben seinen zahlreichen Schriften und seinem Einsatz für die antiken Sprachen, ist vor allem seine Auseinandersetzung mit Luther um den Streit um die Willensfreiheit von Bedeutung. Danach wandte sich die katholische Kirche von ihm ab. Erasmus verstarb 1536 in Basel. 79 Scheible: Melanchthon, S. 142.

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Hieraus ergibt sich nun zweierlei: zum einen die Frage nach dem in der Methode begründeten Begriff wissenschaftlicher Glaubensreflexion im Geist der Schrift, zum anderen die Frage nach der Abgrenzung dieser materialen Form von Wissenschaft von anderen Disziplinen. Eng damit verbunden ist die Diskussion um den modernitätstauglichen Ansatz der Wittenberger Bildungsreform. Durch die Verwendung einer exzerpierenden Methode für das Erschließen des Römerbriefes – eines biblischen Textes – ist die Vermutung naheliegend, dass sich der Schwerpunkt der Bildungsvermittlung verlagert. Bislang lag die Bildungsverantwortung in kirchlicher Trägerschaft, da es sich bei den meisten Schulen um Klosterschulen handelte. Durch die weite und schnelle Verbreitung der Reformation und der damit verbundenen Theologiereformen wird dann auch die Frage nach dem säkularen Potential der Wittenberger Reformen bedeutsam. Obwohl die Loci theologische Themen traktieren, ist es nicht der Inhalt, der sich wirkungsgeschichtlich als prägend erwies, sondern vielmehr die Methode, die sich freilich konfessioneller Zuordnung entzieht.80 Denn weniger eine protestantische Gelehrsamkeit als eine allgemeine in vielfältigen Bezügen anwendbare Wissenskumulation stellen das Zentrum von Melanchthons bildungsmäßiger Prägung dar. „Bildung heißt für Melanchthon, die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen, einen Maßstab zur kritischen Beurteilung aller lebenspraktischen Fragen zu entwickeln und in je konkreter Situation zu bewähren.“81 Dies soll nicht bedeuten, dass Melanchthon nicht an einer vorwiegend theologischen Bildung gelegen war, denn „Melanchthon zielte nicht nur allgemein auf die spätere Berufspraxis der Studenten, sondern hatte besonders die Theologie und die Theologen im Blick“.82 Es ist davon auszugehen, dass auch seine Grammatik, Rhetorik und die anderen „nicht“-theologischen Schriften einen großen Beitrag zur diplomatischen Tätigkeit der Schüler geleistet haben.83 Besonders die aristotelischen Regeln der Logik mit folgender Deduktion und Schlussfolgerung spielen hier eine herausragende Rolle. Wir wollen dies an einigen bemerkenswerten Zeugnissen über Melanchthons Pädagogik illustrieren.

80 Denn die loci-Methode wird nicht nur als Methode in der zweiten Hälfte des 16. und bis weit in das 17. Jahrhundert hinein rezipiert, sondern die Loci Melanchthons begründen eine eigene Literaturgattung. Vgl. exemplarisch Martin H. Jung: „,Coelestis doctrina‘ und ,Praxis Christiana‘ in der altlutherischen Orthodoxie: die Loci theologici Matthias Hafenreffers als Versuch praxisbezogener Theologie zwischen Reformation und Pietismus, in: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 96 (1996), S. 30–58. 81 Markus Wriedt: „Pietas et Eruditio. Zur theologischen Begründung der bildungsreformatorischen Ansätze bei Philipp Melanchthon unter besonderer Berücksichtigung seiner Ekklesiologie“, in: Johanna Loehr (Hg.): Dona Melanchthoniana. Stuttgart 2001, S. 501–520, hier: 518. 82 Kuropka: „Melanchthons Sprachschule“, S. 69. 83 Vgl. Nicole Kuropka: Wissenschaft und Gesellschaft. Ein Gelehrter im Dienst der Kirche (1526–1532). Tübingen 2002.

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3.2. David Chytraeus – Melanchthons didaktische Strategie David Chytraeus kam 1539 nach Tübingen und 1544 im Alter von 14 Jahren bereits als Magister nach Wittenberg. Während des Schmalkaldischen Krieges war er in Heidelberg und Tübingen, kehrte aber 1548 nach Wittenberg zurück und las dort auf Wunsch Melanchthons über dessen Loci, Rhetorik und Astronomie. 1551 erfolgte der Ruf nach Rostock, dort las er zunächst klassische, dann ab 1553 auch biblische Exegese, 1561 folgte dann die Promotion zum Dr. theol. durch Jacob Runge. Er war Historiker, Schulorganisator und fünfmaliger Rektor der Universität Rostock.84 Chytraeus war ein dankbarer Schüler Melanchthons, aber kein blinder Gefolgsmann. So unterstütze er den erbitterten Gnesiolutheraner Tilmann Heshusen,85 der zunächst ein Hausschüler und Freund Melanchthons gewesen war, dann jedoch im Zuge des Streits um den freien Willen zum Gegner wurde. Im Streit mit Flacius Illyricus86 – ebenfalls ein Schüler Melanchthons, wenn auch kein Hausschüler – um die Frage nach der Beteiligung des menschlichen Willens bei der Erlösung soll Chytraeus gar geäußert haben, dass man nur ohne Melanchthon zu einer Einigung gelangen könne. Doch erwies sich dies als schwierig, da „[d]ie wichtigste akademische Lehrgestalt für Flacius […] der von ihm seit 1548 mit wachsender Leidenschaft bekämpfte Melanchthon“87 wurde. Von Chytraeusʼ Publikationen ist unter anderen die Catechesis88 zu nennen. Dieses aus seiner Lehrtätigkeit hervorgegangene Lehrbuch erlangte große Bedeutung in Deutschland und Schweden. In diesem verfasste er zehn Loci, die in der

84 Zu Chytraeus vgl. Inge Mager: Art. „Helmstedt, Universität“, in: TRE 15 (1986), S. 35–39. Sowie Peter F. Barton: Art. „Chyträus, David (1531–1600)“, in: TRE 8 (1981), S. 88–90. Ebenso Karl-Heinz Glaser und Steffen Stuth: David Chytraeus (1530–1600). Norddeutscher Humanismus in Europa. Ubstadt-Weiher 2000. 85 Tilmann Heshusen wurde 1527 in Wesel geboren. Er studierte ab 1546 in Wittenberg; während des Schmalkaldischen Krieges reiste er nach Paris und Oxford, ab 1549 war er wieder in Wittenberg. 1553 wurde er zum Pfarrer in Goslar berufen. Doch seine Streitsucht führte in den folgenden Jahren immer wieder zu Ausweisungen. Um nur einige seiner Stationen zu nennen: Heidelberg, Rostock und Königsberg. Zuletzt war er als Professor der Theologie in Helmstedt tätig, wo er 1588 verstarb. 86 Matthias Flacius Illyricus wurde 1520 in Albona geboren. Er besuchte die Schule in Venedig und studierte in Basel, Tübingen und ab 1541 in Wittenberg. Von 1549 bis 1557 lehrte er als Theologieprofessor in Magdeburg, 1557 und 1561 in Jena. Da er in immer wieder in Streitigkeiten, vornehmlich gegen Melanchthon, verwickelt war, verweilte er an den jeweiligen Wirkungsstätten nicht dauerhaft. So war er von 1562 bis 1566 in Regensburg, anschließend in Antwerpen, dann von 1567 bis 1573 in Straßburg und ab 1574 schließlich in Frankfurt am Main, wo er in 1575 verstarb. 87 Thomas Kaufmann: Reformatoren. Göttingen 1998, S. 108. 88 Vgl. Rudolf Keller: „David Chytraeus. Melanchthons Geist im Luthertum“, in: Heinz Scheible (Hg.): Melanchthon in seinen Schülern. Wiesbaden 1997, S. 361–371, hier: 365.

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Tradition von Melanchthons Loci stehen. Dabei wiederhole er nur, was er von seinen Lehrern Luther, Melanchthon, Eberhard Schnepf89 und Viktorin Strigel90 gelernt habe als die „summa doctrinae“. Bei diesem Schüler, der in der Forschung bereits häufiger behandelt worden ist, lassen sich anhand einer Publikation seine Ansicht über Melanchthons didaktische Strategie erkennen: Obwohl Kompendien und verkürzte Fassungen der einzelnen Artes, von vielen geschrieben, zur Verfügung stehen, so sind dennoch jetzt in den Hochschulen unserer Regionen am gebräuchlichsten und für die selbst Studierenden am angenehmsten und nützlichsten die Büchlein des Philippus, denen die Bewunderung und Liebe aller Studierenden mit Recht eingebracht hat. 1. Die Klugheit und Geschicklichkeit, mit der er aus den längsten Wälzern der anderen die wichtigen und nützlichen Stellen auswählt, so daß sie wie Edelsteine, die aus der Menge unnützer und dunkler Lehren herausgegraben wurden, deutlicher betrachtet werden können. Und er überliefert und erläutert nur die notwendigen und für die Bildung eines Urteils über die wichtigsten Dinge besonders nützlichen Lehren unter Weglassung leerer Spitzfindigkeiten und schwierigerer Scharfsinnigkeiten mit normalen und durchsichtigen Worten, in bestens angepaßter Gliederung und in kräftiger Kürze und zeigt jeweils den Nutzen für das allgemeine Leben. 2. verbindet er mit den Lehren erleuchtende Beispiele, die er aus den besten Autoren und den Kontroversen der Gegenwart genommen hat und die Lehren zu den gewichtigsten Dingen enthalten und in denen der Nutzen der Artes und die Bedeutung und der Nutzen der Lehren für die Beurteilung und Besprechung der wichtigsten, für das Leben notwendigen Dinge gesehen werden kann. 3. mischt er verlockende Stellen der angenehmsten Unterschiedlichkeit in Form von Historien, Aussprüchen, Sentenzen, Gleichnissen und anderen Anspielungen hinein, die, da sie von Natur den Geist ergreifen und erfreuen, zugleich die notwendigsten Lehren der Artes, auch die unangenehmeren, und die allernützlichste und sich auf alle Teile des Lebens erstreckende Lehre mit einem einzigartigen Lustgefühl in den Geist der Lernenden einträufeln. Mit Recht also gewann er den Beifall von allen, da er das Nützliche mit dem Angenehmen vermischte.91

Das Spezifische von Melanchthons Lehre scheint sich demnach an drei wesentlichen Merkmalen fest machen zu lassen: Erstens klare Worte, kurze Sätze in sinnvoller Gliederung, zweitens die Reduktion auf das Wesentliche und drittens der Bezug zum alltäglichen Leben durch aktuelle und geschichtliche einprägsame Beispiele. Der didaktischen Methode, die Chytraeus hier erwähnt, entsprechen jene Lehrsätze, die Melanchthons bereits in seiner Dialektik (1520) formuliert hatte: Die Hinführung des lernenden Individuums zur eigenständigen Urteilsbildung. 89 Eberhard Schnepf war ein lutherischer Theologe. Geboren 1495 in Heilbronn, lehrte er an den Universitäten in Jena, Marburg und Tübingen. Er verstarb 1558 in Jena. 90 Viktorin Strigel wurde 1524 in Kaufbeuren geboren. Er studierte ab 1538 zunächst in Freiburg im Breisgau, ab Oktober 1542 in Wittenberg, wo er 1544 den Magistergrad erwarb. 1548 erhielt er eine Professur in Jena. 1559 war er für ein halbes Jahr inhaftiert, weil er in einen Streit zwischen den Gnesiolutheranern und den Philippisten geraten war. 1562 wechselte er an die Universität in Leipzig, 1567 ging er schließlich nach Heidelberg. Dort trat er zum Calvinismus über. Strigel verstarb 1569 in Heidelberg. 91 Walter Ludwig: „Art und Zweck der Lehrmethode Melanchthons“, in: Gerlinde Huber-Rebenich (Hg.): Lehren und Lernen im Zeitalter der Reformation. Tübingen 2012, S. 91–113, hier: 95f.

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Melanchthons Wirken zielte vermittels seiner humanistisch-methodischen Prägung stets auf eine handlungspragmatisch zugespitzte Bildung. Sie war auf den Ausbau von eigenen Handlungskompetenzen ausgerichtet. Die Sprachen sind für ihn der Schlüssel zum Verständnis, sowohl im Hinblick auf das Formulieren von eigenen Aussagen als auch im Hinblick auf ein gegenseitiges, respekt- und verständnisvolles Miteinander. Diese Kompetenzen sind es, die Melanchthon seinen Schülern mitgibt. Sie werden wiederum vor allem in diplomatischen Stellungen gern gesehen. Neben den Fähigkeiten im diplomatischen Bereich lag Melanchthons Schwerpunkt auf den antiken Sprachen. Er schulte die Sprachfähigkeit seiner Schüler besonders, eine weitere Fähigkeit, die in offiziellen Ämtern im administrativen Bereichen gern gesehen wurde. Ein Beispiel für diese Art von Bildung ist Hubert Languet, geboren 1518 in Vitteaux, Frankreich; er studierte Jura, daneben aber auch Theologie und Geschichte in Poitiers und Padua. Er besuchte die Universität in Bologna und bereiste Italien und Spanien. 1548 promovierte er in Padua zum Dr. jur. Die Lektüre der Loci communes rerum theologicarum Melanchthons veranlasste ihn, sich 1549 dem Kreis des Reformators in Wittenberg anzuschließen. Auf Rat Melanchthons trat er als Diplomat in den Dienst des Kurfürsten von Sachsen, ein Amt, das er von 1551 bis 1577 ausübte. Dieser sandte ihn auf längere Reisen durch ganz Europa. So war er 1557 als Berater des schwedischen Königs tätig. 1560 verweilte er längere Zeit als kurfürstlicher Gesandter von August von Sachsen in Paris und Wien. 1572 erfolgten der Rückzug aus der aktiven Politik und die Umsiedelung in die Niederlande an den Hof Wilhelms von Oranien. Große Bedeutung erlangte Languet durch Briefe und Berichte aus den europäischen Zentren der Politik. Die Leitidee seiner diplomatischen Tätigkeit war die Verbreitung des Protestantismus. Er setzte sich mit aller Kraft für die Einheit der protestantischen Kirchen ein. „Seine Berichte wurden wegen ihrer Zuverlässigkeit und ihres sicheren Urteils viel bewundert.“92 Ferner kann Jacob von Barthen aus Danzig erwähnt werden, der nach seinem Studium in Wittenberg ab 1525, das er am 12. August 1529 mit dem Grad eines Magisters abschloss, wegen seiner sprachlich-kommunikativen Kompetenzen in höhere Dienste aufsteigen konnte. Seine Promotion in Jurispurdenz erfolgte erst 1551 in Frankfurt an der Oder. Seit 1529 ist er in Riga als Stadtschreiber nachweisbar. Ab 1534 ist von Barthen dann in Danzig als Syndikus tätig. 4. SCHLUSS Weitere Beispiele dieser Art wären möglich. Sie alle stützen die Annahme, wonach Melanchthon nicht nur oder gar primär material-dogmatische Wissensgehalte im Sinne des sich etablierenden reformatorischen Protestantismus vermittelte, sondern seinen Schülern eine allgemein gebildete Kenntnis weitergab, die vielfach anschlussfähig war. Offenkundig ist das Studium des Trivium, also die sprachlich92 Richard Nürnberger: Art. „Languet, Hubert“, in: RGG3 4 (1960), Sp. 230–231, hier: 231.

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kommunikative Ausbildung, derartig gelungen, dass für die vielfältigen Aufgaben im frühmodernen Staatswesen und die damit verbundenen sprachvermittelnden Dienste hier eine gute Grundlage geschaffen wurde. Freilich impliziert die voranstehende Formulierung eine eindeutige und sachlogisch gebotene Trennung zwischen theologisch-kirchlichen und politisch-administrativen Bereichen, die in dieser Schärfe und Eindeutigkeit nicht bestand. Für Melanchthon – wie auch für zahlreiche andere bildungsreformerisch tätige Theologen und Universitätsgelehrte – bestand hier kein scharfer Unterschied: Die politische Administration des Gemeinwesens hing unmittelbar von der geistlich-geistigen Eignung der Obrigkeiten sowie von der ihnen und allen Untertanen gegenüber wirkmächtig entfalteten kirchlichen Seelsorge und Verkündigung ab. Denn in einer Zeit in der es weder eine politikfreie Theologie noch eine theologiefreie Politik gab, konnte sich Melanchthon als Reformator an Luthers Seite und als derjenige der der Wittenberger Kollektivautorität ihre Sprache gab, der Aufforderung, als Ratgeber auch in politischen Fragen zu dienen, nicht entziehen.93

Insofern ist das eine vom anderen nicht zu trennen. Dass sich im Zuge der weiterschreitenden Modernisierung dann schließlich doch die Trennung von staatlich-säkularer und kirchlich-theologischer Amtsausübung ergab, ist sicherlich nicht intentional der Reformation anzulasten.94 Wohl aber schafft sie, nicht zuletzt durch die von ihren Repräsentanten vermittelten Bildungsreformimpulse, methodische wie legitimatorische Möglichkeiten für eine um sich greifende Säkularisation.95 Damit öffnet sich freilich der Blick auf ein weites Feld aktueller Diskurse, die hier aus nachvollziehbaren Gründen nicht weiter verfolgt werden können.96

93 Armin Kohnle: „Philipp Melanchthon und die Bündnisverhandlungen mit Frankreich und England 1534 bis 1536“, in: Irene Dingel und Armin Kohnle (Hg.): Philipp Melanchthon. Lehrer Deutschlands, Reformator Europas. Leipzig 2011, S. 43–50, hier: 44. 94 Vgl. Brad S. Gregory: The Unintended Reformation. How a Religious Revolution Secularized Society. Harvard 2012. 95 Vgl. Markus Wriedt: „Säkularisierung wider Willen. Der säkularisierende Modernisierungsschub infolge der reformatorischen Schul- und Universitätsreform“, in: Hans-Ulrich Musolff, Juliane Jacobi und Jean-Luc Le Cam (Hg.): Säkularisierung vor der Aufklärung? Bildung, Kirche und Religion 1500–1750. Köln 2008, S. 57–75. 96 Zur Säkularisierungsdebatte vgl. Charles Taylor: Ein säkulares Zeitalter. Berlin 2012. Ebenso Hans Joas: Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums. Freiburg im Breisgau 2012.

„SIE SOLLEN SICH AN EINE DEUTLICHE/ LANGSAME UND RICHTIGE AUßREDE/ WENN SIE BETEN ODER RECITIREN/ GEWEHNEN LASSEN“1 Die methodische Vorgehensweise in der Gothaer Schulordnung ab 1642 Christine Freytag Abstract: When the duchy of Saxe-Gotha fell to Duke Ernest in 1640, he ordered a general church and territorial visitation to identify deficiencies in the duchy and to counteract them. He believed that every single resident needed to be taught religiously and fundamentally in reading, writing and mathematics. Only this could enable a change in life and society. The methodological influence of Wolfgang Ratke is especially prominent in the Gotha school ordinances for the elementary school system from 1642 on. The mother tongue, pointing, speaking and the voice of the teacher became increasingly important for internalizing (catechetical) teaching content. Through a clearly structured teaching approach and the material contents all people were to be educated to become truly Godfearing and useful members of society. Zusammenfassung: Als Herzog Ernst nach dem Erbteilungsvertrag 1640 das Herzogtum Sachsen-Gotha zufiel, ordnete er eine allgemeine Kirchen- und Landesvisitation an, um Mängel im Herzogtum festzustellen und dagegen vorzugehen. Er war der Ansicht, dass jeder einzelne Bewohner religiös und auch grundlegend im Lesen, Schreiben und Rechnen unterwiesen werden musste. Nur so konnte eine Veränderung des Lebens und auch der Gesellschaft bewirkt werden. Insbesondere der methodische Einfluss Wolfgang Ratkes lässt sich in den Gothaer Schulordnungen für das Elementarschulwesen ab 1642 erkennen und herausstellen: Die Muttersprache, das Zeigen, das Sprechen und die Stimme des Lehrers erlangen eine große Bedeutung, um (katechetische) Lehrinhalte zu verinnerlichen. Mittels einer klar strukturierten Vorgehensweise des Unterrichts und der Unterrichtsinhalte sollen alle Menschen zu wahrer Gottesfurcht und Brauchbarkeit erzogen werden.

1. EINLEITENDE BEMERKUNGEN Im Oktober 1640 hatte Herzog Ernst I, gen. der Fromme, das Herzogtum SachsenGotha gegründet. Er unterzog das Land einer allgemeinen Kirchen- und Landesvisitation, um Mängel im gesamten Herzogtum aufzudecken und dagegen vorgehen zu können – und das mitten in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges, der noch 1

Andreas Reyher: Methodus Oder Bericht/ Wie nechst Göttlicher Verleyhung/ die Knaben und Mägdlein auff den Dorffschafften/ und in den Städten/ die üntere Classes der Schul-Jugend im Fürstenthumb Gotha/ Kürtz- und nützlich unterrichtet werden können und sollen. Gotha 1662, Kap. 6, Bl. C5a.

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bis 1648 andauern sollte.2 Deutschland war durch Kriegsführungen, durchziehende Armeen und Truppen, die Pest, Hungersnöte, Seuchen oder Überschwemmungen verwüstet.3 Kirchen und Schulen waren in einem katastrophalen Zustand,4 und dem Schulwesen fehlte es an jeglicher Einheit im Inhalt, in der Methode und vor allem in der Struktur.5 Bereits 1524 stellte Martin Luther in seinem Sendschreiben an die Ratsherren der Städte fest, dass das Bildungswesen in Deutschland verheerend sei und kritisierte insbesondere die Monopolstellung der katholischen Kirche.6 Luther forderte eine allgemeine, grundlegende Bildung für alle Menschen – unabhängig von Stand oder Geschlecht.7 Weiter rief er zu einem gottseligen Leben im Sinne der Bibel auf. Dafür sollten entsprechende christliche Schulen im Land errichtet werden, um so den Wohlstand der Gesellschaft zu bewahren und den Frieden zu sichern.8 Daraufhin wurden neue Schulanstalten errichtet oder alte verbessert: Martin Luther, Johannes Bugenhagen oder auch Philipp Melanchthon schrieben Gutachten und entwarfen Organisationspläne. In der Folge bildete und breitete sich das Schulwesen im 16. Jahrhundert nach und nach aus: neue Bildungsvorstellungen, ein neues Bildungsverständnis, neue Unterrichtsmethoden oder auch die Bedürfnisse des bürgerlichen Lebens wurden dabei mit einbezogen.9 Auch mit seinem Regierungsantritt 1640 verfolgte Herzog Ernst genau die Vorschläge Luthers und somit ein ganz konkretes Ziel: Er wollte eine Veränderung der Gesellschaft erreichen und das ‚Leben reformieren‘.10 Jeder Einzelne im Herzogtum sollte gelehrt, unterwiesen und gebildet werden – und zwar zu wahrer Gottesfurcht und zu einem frommen Christen hin. Somit war es sein Ziel, eine Gesellschaft zu formen, die beim Jüngsten Gericht vor Gott bestehen kann. Herzog Ernst hatte keine Bedenken hinsichtlich der Erziehbarkeit des Menschen. Denn jeder Mensch war seiner Meinung nach von Geburt an mangelhaft und verdorben und musste erst von einem ‚guten Vater‘ zum Guten gezogen werden – nämlich zu Gott hin. Mit dieser Annahme gab es für ihn keinen Zweifel mehr, dass das Leben und 2

Die Leitung der Visitationen übernahm der Generalsuperintendent Salomon Glaß. Vgl. August Beck: Ernst der Fromme, Herzog zu Sachsen-Gotha und Altenburg. Ein Beitrag zur Geschichte des siebzehnten Jahrhunderts. 2 Theile. Weimar 1865, S. 505. 3 Vgl. Rudolf Heine: Rector Mag. Andreas Reyher, der Verfasser des Gothaischen Schulmethodus. Beilage zum Programm des Herzogl. Gymnasiums zu Holzminden. Holzminden 1882, S. 16. 4 Vgl. Beck: Ernst der Fromme, S. 30 und 491. 5 Vgl. Gerhard Michel: Die Welt als Schule: Ratke, Comenius und die didaktische Bewegung. Hannover 1979, S. 26. 6 Vgl. WA 15 (An die Rathherrn aller Städte deutsches Lands: das sie Christliche schulen auffrichten und hallten sollen, 1524), S. 9–53, hier: 28f. 7 Vgl. WA 15, S. 29f. 8 Vgl. WA 15, S. 30–35. 9 Vgl. Reinhold Vormbaum (Hg.): Die evangelischen Schulordnungen des sechzehnten Jahrhunderts. 1. Bd. Gütersloh 1860, S. VI. 10 Vgl. Veronika Albrecht-Birkner: Reformation des Lebens. Die Reformen Herzog Ernsts des Frommen von Sachsen-Gotha und ihre Auswirkungen auf Frömmigkeit, Schule und Alltag im ländlichen Raum (1640–1675). Leipzig 2002.

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der Mensch selbst beeinflussbar und ‚methodisierbar‘ wurden.11 Infolgedessen „betrieb“ er, so Werner Schnabel, „eine Politik, die noch heute Erstaunen erregt“.12 Mit dieser Sichtweise des Herzogs wurde im Herzogtum Gotha trotz aller Folgen des Krieges eine Grundlage für Bildung geschaffen.13 Zur politischen Neuordnung gehörte, dass eine eigenständige, d.h. von der Kirche unabhängig verfasste Schulordnung für das Elementarschulwesen im gesamten Herzogtum erlassen wurde.14 Alle männlichen und weiblichen Kinder ab 5, später ab 6 Jahren, wurden im Lesen, Schreiben, Singen, Rechnen und auch im Katechismus unterrichtet.15 Der Unterricht fand in der Muttersprache, also auf Deutsch, statt.16 Erstmals wurde per Gesetz für ein gesamtes Herzogtum langfristig – und das ist der ausschlaggebende Punkt – die Einführung der Schulpflicht durchgesetzt und bei Nichteinhaltung mit Strafen, wie z.B. Geldzahlungen, geahndet.17 Die Schüler besaßen beim Verlassen der Schule mit ca. 12 bis 14 Jahren die wichtigsten Grundkenntnisse, wobei die Knaben weiterführende Schulen, wie das Gymnasium, besuchen konnten.18 Außerdem wurden die Rolle des Lehrers, das Amt der Eltern und der Schüler, die Rolle des Pfarrers und der Schulaufsicht sowie die Unterrichtsstruktur, Unterrichtsinhalte und die Methode genau festgelegt.19 Nach August Beck soll Herzog Ernst Schulen als „schöne Gärten, worin allerhand fruchtbare Bäume erzogen werden“20 bezeichnet haben. Damit der Einzelne zu so einem ‚fruchtbaren‘ und tragenden ‚Baum‘ für die Gesellschaft wird, muss er von frühester Kindheit an in Religion unterwiesen werden, damit Begierden, die das Kind mit dem Älterwerden entwickelt, entgegengewirkt werden kann.21 Täglicher Katechismusunterricht war Bestandteil des Stundenplanes. Jeder Tag wurde mit Katechismusgesang begonnen und beendet. Weiter folgten der Morgen- und Abendsegen, das Aufsagen des ‚Vater unser‘, das Rezitieren und Vortragen von Sprüchen und Ausschnitten aus dem lutherischen Katechismus sowie Übungen zur

11 Vgl. Albrecht-Birkner: Reformation des Lebens, S. 511f. 12 Werner Schnabel: „Der Gothaische Schulmethodus von 1642 – Die bildungspolitische Bedeutung der Schulordnung eines thüringischen Herzogtums“, in: Pädagogik und Schulalltag 47 (1992), S. 597–603, hier: 599. 13 Vgl. Kurt Schmidt: „Gothas Stellung in der Bildungsgeschichte des 17. Jahrhunderts“, in: Heinrich Anz (Hg.): Gotha und sein Gymnasium. Bausteine zur Geistesgeschichte einer deutschen Residenz. Gotha 1924, S. 42–52. 14 Vgl. Schnabel: „Der Gothaische Schulmethodus“, S. 601f. 15 Vgl. Andreas Reyher: I. Special- und sonderbahrer Bericht/ Wie nechst Göttlicher verleyhung/ die Knaben und Mägdlein auff den Dorffschafften/ und in den Städten die unter dem untersten Hauffen der Schul-Jugend begriffene Kinder im Fürstenthumb Gotha/ Kurtz- und nützlich unterrichtet werden können und sollen. Gotha 1642, Kap. 15, Bl. H3bf. 16 Vgl. Reyher: Special- und sonderbahrer Bericht (1642), Kap. 5, Bl. B4b. 17 Vgl. Reyher: Special- und sonderbahrer Bericht (1642), Kap. 2, Bl. A8af. und Kap. 14, Bl. G8a. 18 Vgl. Reyher: Special- und sonderbahrer Bericht (1642), Kap. 16, Bl. H2af.; Albrecht-Birkner: Reformation des Lebens, S. 424 und 430f. 19 Vgl. Reyher: Special- und sonderbahrer Bericht (1642). 20 Zitiert nach Beck: Ernst der Fromme, S. 494. Zitat ohne Quellenangabe. 21 Vgl. Beck: Ernst der Fromme, S. 495.

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Gottesfurcht.22 Ziel war dabei das Lehren der wahren Gottesfurcht23 und die Erziehung der Schüler zu einem christlich tugendhaften Leben. Auswendig können sollten die Kinder Luthers Katechismus, biblische Sprüche oder auch die Psalmen Davids.24 Ferner sollte der Lehrer die Schüler anhalten, dass sie das, was sie im Katechismusunterricht gelernt hatten, auch selbst leben und umsetzen sollten. Ihr christlicher Glauben musste durch ihre Taten sichtbar werden und wachsen. Diesbezüglich sollten sie vom Lehrer zu einem gottseligen Leben ermahnt und angehalten werden.25 Der Pfarrer hatte dabei die Aufsicht über den Lehrer, ob dieser sein Amt richtig ausführt. Darüber hinaus sollte der Geistliche – neben dem Katechismusunterricht in der Schule – die „Kinder-Lehre“ anbieten und die Jungen und Mädchen zu wahrer Gottesfurcht anleiten und ihnen zusätzlich den lutherischen Katechismus, biblische Sprüche oder Psalmen vermitteln.26 Weiter sollte der Schulunterricht auf den Besuch des Gottesdienstes vorbereiten: So wurde sich an Sonn- und Feiertagen in der Schule versammelt, um das Evangelium zu lesen, zu singen, zu beten und das Stillsitzen in der Kirche zu üben, um dem Gottesdienst später folgen zu können.27 Die bisherige vorherrschende Lehr- und Lernmethode war, dass zuerst Latein, dann Griechisch und später Hebräisch gelehrt und gelernt wurde. Auswendiglernen, unzählige Wiederholungen und Unverständnis kennzeichneten dabei den Unterricht.28 Das wurde im Herzogtum Sachen-Gotha geändert: Die Kinder lernten zwar Textstellen aus Luthers Katechismus sowie Bibelzitate oder Psalmen auswendig – doch sie wurden zunächst in der Muttersprache unterrichtet. Sprechen, Lesen und Schreiben können fand also ab 1642 im Herzogtum Sachsen-Gotha auf Deutsch statt.29 Es galt zudem ab 1642 die Schulpflicht: Alle Jungen und Mädchen zwischen 5 und 12 Jahren hatten das ganze Jahr über in die Schule zu gehen. Die einzige Ausnahme bestand darin, die Schüler vier Wochen für die Ernte und einige Tage für die Kirchmesse von der Schule zu befreien.30 Allerdings wurde die Schulpflicht für alle Kinder nicht zuerst in Gotha, sondern bereits 1619 in Weimar von Johannes Kromayer gefordert und auch umgesetzt. In seinem Bericht vom newen Methodo für die Schulen des Weimarischen Fürstentums heißt es: „Es sollen/ so viel müglich/ alle Kinder/ Knaben und Mägdlein/ mit allem Ernst und Fleiß zur Schulen gehalten werden“ und notfalls „durch zwang der

22 Vgl. Reyher : Special- und sonderbahrer Bericht (1642), Kap. 3, Bl. B1b. 23 Vgl. Reyher : Special- und sonderbahrer Bericht (1642), Kap. 12, Bl. G1a. 24 Vgl. Andreas Reyher: Special- und sonderbahrer Bericht Wie nechst Göttlicher Verleyhung die Knaben und Mägdlein auff den Dorffschafften und in den Städten die untere Classes der SchulJugend im Fürstenthumb Gotha Kürtz- und nützlich unterrichtet werden können und sollen. Auff Gnädigen Fürstl. Befehl auffgesetzet. Gotha 1648, Kap. 4, Bl. A5a. 25 Vgl. Reyher: Special- und sonderbahrer Bericht (1648), Kap. 4, Bl. B1b und Bl. B2af. 26 Vgl. Reyher: Special- und sonderbahrer Bericht (1642), Kap. 14, Bl. G8b. 27 Vgl. Reyher: Special- und sonderbahrer Bericht (1642), Kap. 3, Bl. B1a. 28 Vgl. Beck: Ernst der Fromme, S. 497. 29 Vgl. Reyher: Special- und sonderbahrer Bericht (1642), Kap. 5, Bl. B4b. 30 Vgl. Reyher: Special- und sonderbahrer Bericht (1642), Kap. 2, Bl. A7b.

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weltlichen Obrigkeit dieselben/ in diesem Fall ihre schuldige Pflicht in acht zu nemen/ angehalten werden mögen“.31 Zudem forderte er ebenfalls eine Grundbildung im Lesen, Schreiben und im Katechismus nach Luther ein.32 Kromayers Schulordnung wurde jedoch 1644 abgeschafft, da man mit ihr keine guten Erfahrungen gemacht hat. Es wurde zum alten Lehrplan zurückgekehrt, was mit einem Protokoll im Urkundenbuch der Stadtschule Weimar belegt werden kann.33 Die Forderung nach der Schulpflicht wurde in Gotha schärfer formuliert, das Nichteinhalten mit Strafen geahndet und streng durch den Lehrer und den Pfarrer protokolliert und somit kontrolliert. Auch in Weimar wurde bereits durch Kromayer versucht, Deutsch als Unterrichtssprache durchzusetzen.34 Dies gelang erstmals in Gotha und gilt auch gegenwärtig als spektakulär, da Unterricht bis zu diesem Zeitpunkt zumeist nur auf Latein stattfand.35 Auch die genau festgelegte Struktur, die die Rollen einzelner Personen, den Schulablauf und die Schulaufsicht klärte, wird als beispielhaft für Gotha angesehen. Doch diese Strukturen sind bereits 1580 mit der Kursächsischen Kirchenordnung in Grundzügen festzustellen.36 Und so bemerkt Veronika Albrecht-Birkner 2002 in ihrer wissenschaftlichen Arbeit über Herzog Ernst, „dass die Schulordnung in mancher Hinsicht so Neues nicht brachte“.37Allerdings – so formulierte es Rudolf Heine noch einmal deutlich – sei die Gothaer Schulordnung aus dem Jahr 1642 eine Anordnung, welche bis heute „unsere Bewunderung erregt“.38 Doch warum tut sie das? Was brachte sie denn wirklich Neues, dass sie doch noch immer „Erstaunen“ und „Bewunderung erregt“? Beim Lesen und Durcharbeiten der insgesamt fünf Fassungen in der Zeit von 1642 bis 1672 fällt tatsächlich etwas auf, was aus heutiger Sicht so banal formuliert ist, dass es sich leicht überlesen lässt. Die Jungen und Mädchen sollen nämlich auf eine ganz bestimmte Art und Weise Silben erlernen und wie folgt vom Lehrer gelehrt bekommen:

31 Johannes Kromayer: Bericht vom newen Methodo: Wie es in den Schulen deß Weymarischen Fürstenthumbs/ mit Unterweisung der Jugend/ gehalten werden soll/ allermeist/ so viel betrifft die deutschen Classen/ item/ in etwas auch mit belangende die lateinischen Classen der Grammaticken. Weimar 1619, Bl. A3af. 32 Vgl. Kromayer: Bericht vom newen Methodo, Bl. A3b. 33 Vgl. Theodor Mahlmann: „Johannes Kromayers Wirken für Schule und Kirche im frühen 17. Jahrhundert“, in: Pietismus und Neuzeit 20 (1994), S. 28–54, hier: 40–42; vgl. Ludwig Weniger: „Ratichius, Kromayer und der Neue Methodus an der Schule zu Weimar. Ein Beitrag zur thüringischen Gelehrten- u. Schulgeschichte. Teil 1“, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde 18 (1897), S. 245–283, hier: 246. 34 Dazu verfasste Kromayer 1618 die erste deutsche Grammatik für den Elementarunterricht in Deutsch: Deutsche Grammatica. Zum newen Methodo/ der Jugend zum besten/ zugerichtet. Für die Weymarische Schuel, Auff sonderbaren Fürstl. Sn. Befehl. Weimar 1618. 35 Vgl. Kromayer: Bericht vom newen Methodo, Bl. C1af.; vgl. Mahlmann: „Johannes Kromayers Wirken“, S. 38. 36 Vgl. Vormbaum: Die evangelischen Schulordnungen, 1. Bd., S. 230–297. 37 Albrecht-Birkner: Reformation des Lebens, S. 433. 38 Heine: Andreas Reyher, S. 16. Vgl. ferner Schnabel: „Der Gothaische Schulmethodus“, S. 599.

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Christine Freytag […] wenn die Kinder die Syllaben […] fein rein und laut außsprechen können/ führet der Praeceptor [d.i. der Lehrer, C.F.] alsdann sie auch ins Büchlein/ […] nimpt eine Zeile nach der andern/ saget dieselbe ihnen für/ gehet zugleich herumb/ gibt acht/ daß sie recht drauff zeigen/ und lässet sie/ eines nach dem andern so lange nachsprechen/ biß sie die Syllaben in diesem Punct fertig können und im Buchstabiren richtig seyn.39

Dabei muss der Lehrer selbst auf seine Aussprache achten und hat laut, deutlich, richtig betont und nicht zu schnell zu sprechen: Bey dem Buchstabieren und fürlesen/ sollen die Praeceptores sich wol fürsehen […] (1.) Das sie fein laut reden […]. (2.) Das sie recht deutlich reden […]. (3.) Fein unterschiedlich […]. (4.) Nicht zu geschwinde [sprechen, C.F.]; denn sonst können die Kinder weder mit den Augen noch mit den Fingern folgen.40

In der ersten Fassung der Gothaer Schulordnung 1642 ist die methodische Vorgehensweise im Buchstabieren und Lesenlernen genau festgehalten.41 Die Schüler sollen zuerst alle Vokale, Konsonanten und Diphthonge kennenlernen, bevor die Silben geübt und somit langsam zum Lesen und Schreiben übergegangen werden kann.42 Aber zunächst „sol der Praeceptor ihnen erstlich die Sprache formiren, und die Zunge zum rechten Aussprechen solcher gestalt anführen“, sodass sie diese „wohl nennen/ und deutlich außsprechen können“.43 Dazu wird das Teutsch-ABCund Syllaben-Büchlein 1641 von Andreas Reyher, dem pädagogischen Berater des Herzogs, entwickelt, in dem alle Buchstaben abgedruckt sind.44 Die genaue methodische Vorgehensweise sah folgendermaßen aus. Es wird mit dem Vokal [a] begonnen: Der Lehrer schreibt das [a] mit Kreide an die Tafel, so, wie es im Buch abgedruckt ist. Dazu spricht er, dass dieser Buchstabe ein [a] ist und wiederholt diesen Vorgang genau neunmal. Dann wendet er sich von der Tafel ab und lässt die Schüler auf den Vokal [a] im Buch sehen, wo eine ganze Reihe mit [a] abgedruckt ist. Daraufhin geht er zu jedem einzelnen Kind und lehrt es, mit dem Finger auf diesen Vokal zu zeigen. Dieses Vorgehen soll vier bis fünfmal wiederholt werden, bis die Schüler selbst auf den Vokal im Lehrbuch zeigen können. Anschließend müssen die Jungen und Mädchen, jeder nacheinander, die erste Zeile mit [a] im Lehrbuch laut aufsagen – und zwar so laut, dass es alle anderen Schüler verstehen können. Der Lehrer hilft den Schülern wiederum beim Draufzeigen und Aussprechen.45 Schließlich geht der Lehrer wieder zur Tafel und verfährt mit der nächsten Zeile, dem nächsten Vokal genauso „mit dem herumbgehen/ fürsagen/ und dem darauff zeigen“.46 Bei den Konsonanten findet dieselbe

39 40 41 42 43 44 45 46

Reyher: Special- und sonderbahrer Bericht (1642), Kap. 7, Bl. C4a. Hervorh. im Original. Reyher: Special- und sonderbahrer Bericht (1642), Kap. 7, Bl. C2af. Hervorh. im Original. Vgl.Reyher: Special- und sonderbahrer Bericht (1642), Kap. 6, Bl. C2aC6b. Vgl. Reyher: Special- und sonderbahrer Bericht (1642), Kap. 6, Bl. B5a–B6a und Kap. 7, Bl. B7bD2a. Reyher: Special- und sonderbahrer Bericht (1642), Kap. 6, Bl. B7bf. Hervorh. im Original. Vgl. Andreas Reyher: Teutsches ABC- und Syllaben-Büchlein: Für die Kinder im Fürstenthumb Gotha. Gotha 1641, Bl. B7bf. Vgl. Reyher: Teutsches ABC- und Syllaben-Büchlein, Bl. B8af. Reyher: Teutsches ABC- und Syllaben-Büchlein, Bl. B8b.

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methodische Abfolge statt, nur, dass der Lehrer statt neun nun sogar 20 Wiederholungen vornehmen soll. Unerlässlich ist aber, dass er selbst auf seine Sprechweise achtet und dabei vor allem laut spricht. Jedoch nicht zu laut, aber auch nicht zu leise; die Stimme darf nicht zu monoton klingen und am Ende eines Satzes muss der Lehrer seine Stimme senken. Zudem muss er deutlich sprechen und klar zwischen gleichklingenden Vokalen und Konsonanten, wie i/e, e/ä, d/t, d/b oder n/m unterscheiden, da dies wortbedeutungsunterscheidend sein kann. Ebenso muss der Lehrer unterschiedlich sprechen, womit die Betonung und Intonation gemeint ist. Bei einem Komma ist eine Pause zu machen und dieses nicht zu überlesen. Ebenso soll zwischen den einzelnen Wörtern eine Pause gesetzt und zwei Wörter nicht zusammenhängend gesprochen werden. Überdies darf er nicht zu schnell sprechen, da sonst die Kinder zum einen mit ihren Augen nicht auf die Artikulationsbildung des Lehrers sehen, aber auch zum anderen mit ihren Fingern nicht folgen können.47 Genau diese vier Punkte – Lautstärke, saubere Artikulation, Betonung und Pausensetzung – soll der Lehrer bei sich selbst, aber auch bei seinen Schülern beachten, um „mit Gedult und Sanfftmuth die falsche Ausrede an ihnen zuverbessern“.48 Wenn ein Kind einen Buchstaben falsch ausspricht, dann wiederholt der Lehrer die falsche Aussage. Dies geschieht aber ohne sich über das Kind lustig zu machen oder es vorzuführen, sondern, damit das Kind den Fehler bemerkt. Daraufhin muss das Kind so lange den Buchstaben wiederholen, bis es ihn korrekt aussprechen kann.49 Die Schüler selbst „sollen stille seyn/ und fleissig darauff sehen/ so lange sie/ die Praeceptores, fürlesen/ wie auch/ wenn die Kinder/ eins nach dem andern das seine auffsagt“.50 Wenn also jemand laut vorliest oder etwas aufsagt, sei es der Lehrer oder ein Schüler, sollen die anderen Kinder ruhig sein, damit sich das Gehör und das Gedächtnis auf das Gesagte konzentrieren können und die Aufmerksamkeit nur auf dieses gelenkt wird. Dieselbe methodische Vorgehensweise wird auch beim Lesen-, Schreiben- sowie Rechnenlernen angewendet.51 Die Schüler sollen aus der Beobachtung heraus lernen, wobei der Lehrer als Modell fungiert. Wichtig ist immer, dass er dabei zuerst auf den Lerngegenstand hinweist, also zeigt, und die Schüler dann das Gezeigte durch das Sprechen verinnerlichen und folglich lernen. In der zweiten Fassung der Gothaer Schulordnung 1648 ist die Methode identisch, aber es erfolgt nochmals der ausdrückliche Hinweis an den Lehrer: „Wenn auch Kinder vorhanden/ die da stamlen/ sollen sie dieselbe zum langsamen Reden fleissig anhalten/ biß sie ihnen das stamlen abgewehnen.“52 Zehn Jahre später, 1658, erfährt der Special- und sonderbahre Bericht in seiner dritten Fassung eine Titeländerung oder, genauer gesagt, eine Erweiterung: Statt nur Bericht wird jetzt noch der Zusatz Methodus hinzugenommen. Seitdem hat sich übrigens auch der

47 48 49 50 51 52

Reyher: Teutsches ABC- und Syllaben-Büchlein, Bl. C1a–C2b. Reyher: Teutsches ABC- und Syllaben-Büchlein, Bl. C2b. Hervorh. im Original. Vgl. Reyher: Teutsches ABC- und Syllaben-Büchlein, Bl. C2bf. Reyher: Teutsches ABC- und Syllaben-Büchlein, Bl. C3a. Hervorh. im Original. Vgl. Reyher: Teutsches ABC- und Syllaben-Büchlein, Bl. C3a–D2a. Reyher: Special- und sonderbahrer Bericht (1648), Kap. 13, Bl. S. D6b.

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Begriff ‚Schulmethodus‘ in der einschlägigen Fachliteratur durchgesetzt. Diese Titelveränderung erklärt sich meines Erachtens daraus, dass die Methode prägnanter und kürzer formuliert wird. Sie basiert aber immer noch auf dem Zeigen und Sprechen durch den Lehrer und dem selbst Draufzeigen und Sprechen durch die Schüler.53 In der vorletzten Fassung 1662 wird noch einmal im 7. Kapitel „Von der Schul-Diener Ampt“54 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der Lehrer sprachliches Vorbild ist und die Kinder stetig in der Aussprache verbessern soll:55 „im Außsprechen sollen die Praeceptores an den Kindern/ wenn das reden an sie kömmet/ auch mit grossem Fleisse treiben/ und nicht nachlassen/ die falsche Außrede an ihnen zu verbessern“.56 Die letzte und damit fünfte Fassung 1672 wirkt noch strukturierter und geordneter, die Methode wesentlich übersichtlicher dargestellt. Was vorher auf knapp drei Seiten recht kompliziert vorgestellt wurde, wird nun in diesem kurzen Abschnitt von einer halben Seite klar zusammengefasst.57 Beispielhaft ist hier dieser kurze Satz: „Sie [die Lehrer, C.F.] sollen von den Kindern nichts fordern/ sie haben es ihnen denn vorher gnugsam gesaget/ gezeiget und gelehret“.58 Dennoch: Diese einfache, nahezu simple und für uns heute selbstverständliche methodische Vorgehensweise rückte in der fachlichen Auseinandersetzung mit der Gothaer Schulordnung eher in den Hintergrund. Doch mit diesem Auszug kann eine bis heute undurchsichtige und sehr entscheidende Frage, nämlich, „Was tun wir und wie verhalten wir uns, wenn wir erziehen?“ beantwortet werden.59

53 Vgl. Andreas Reyher: Methodus Oder Bericht/ Wie nechst Göttlicher Verleyhung/ die Knaben und Mägdlein auff den Dorffschafften/ und in den Städten/ die üntere Classes der Schul-Jugend im Fürstenthumb Gotha/ Kürtz- und nützlich unterrichtet werden können und sollen. Gotha 1658, Kap. 5. 54 Andreas Reyher: Methodus Oder Bericht/ Wie nechst Göttlicher Verleyhung/ die Knaben und Mägdelein auff den Dorffschafften/ und in den Städten/ die üntere Classes der Schul-Jugend im Fürstenthumb Gotha/ Kürtz- und nützlich unterrichtet werden können und sollen. Gotha 1662, Kap. 7, Bl. D4a. Hervorh. im Original. 55 Vgl. Reyher: Methodus Oder Bericht (1662), Kap. 7, Bl. D8a–E1a. 56 Reyher: Methodus Oder Bericht (1662), Bl. D8a. Hervorh. im Original. 57 Vgl. Reyher: Special- und sonderbahrer Bericht (1642), Kap. 8, Bl. B8a-C1a; ders.: Methodus Oder Bericht/ Wie nechst Göttlicher Verleyhung die Knaben und Mägdlein auff den Dorffschafften und in den Städten/ die üntere Classes der Schul-Jugend im Fürstenthumb Gotha/ Kürtz- und nützlich unterrichtet werden können und sollen. Gotha 1672, Kap. 2, Bl. A7a– B2a. 58 Reyher: Methodus Oder Bericht (1672), Kap. 11, Bl. F7a. 59 Klaus Prange: Die Zeigestruktur der Erziehung. Grundriss der Operativen Pädagogik. Paderborn 2012, S. 7.

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2. DAS ZEIGEN Eine Antwort ist zunächst im Unterrichtsgeschehen selbst zu finden. Unterricht ist gemäß dem sogenannten „Didaktischen Dreieck“ nach den Erziehungswissenschaftlern Klaus Prange und Wolfgang Sünkel strukturiert durch: Zeigen und Lernen, bzw. Vermitteln und Aneignen:60 Das Didaktische Dreieck wird nur dann sichtbar, wenn auf der einen Seite die Vermittlung des Lerngegenstandes, des Themas durch den Lehrer, als auch auf der anderen Seite das Lernen durch den Schüler stattfinden. Bricht eine Seite weg, gibt es eine Leerstelle und aus dem Dreieck wird eine Linie. Fehlt also eines dieser Elemente, kommt keine pädagogische Situation zustande.61 Lehrgegenstand/Thema

Lehrer

Schüler Abbildung 1: Didaktisches Dreieck

Werfen wir noch einmal einen Blick zurück in das Klassenzimmer nach Gotha im Jahr 1642: Ein Schüler lernt den Vokal [a]. Der Vokal ist in dem Fall das, was der Lehrer vermittelt: der Lerngegenstand, das Thema, das Lernziel.62 Der Lehrer zeigt, benennt und spricht dem Schüler den Buchstaben so vor, dass er ihn wiederholen kann. Er will damit etwas Wichtiges, etwas Wesentliches hervorheben und den Schüler auf diesen Lerngegenstand aufmerksam und ihm diesen zugänglich machen. Der Lehrer besitzt somit einen Wissensvorsprung, worin aber auch zugleich eine Gefahr besteht: Der Lehrende wählt das Wissen aus, ohne dass der Lernende 60 Vgl. Prange: Die Zeigestruktur der Erziehung; Wolfgang Sünkel: Allgemeine Theorie der Erziehung. Bd. I: Erziehungsbegriff und Erziehungsverhältnis. Weinheim u.a. 2011. 61 Vgl. Harm Paschen: Logik der Erziehungswissenschaft. Düsseldorf 1979, S. 27; vgl. Prange: Die Zeigestruktur der Erziehung, S. 48. 62 Vgl. Prange: Die Zeigestruktur der Erziehung, S. 40 und 42.

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mitüberlegt und mitbestimmt – in diesem Fall wird der Lerngegenstand durch die Schulordnung genau festgelegt. Doch es geht vor allem auch darum, weitere Bildungsprozesse zu ermöglichen. Durch das Lernen der Buchstaben kann sich das Lesen und Schreiben angeeignet werden. Allerdings kann der Lernerfolg nicht erzwungen werden, denn Lernen geschieht im Verborgenen, ist unsichtbar und individuell.63 Der Schüler lernt also den Vokal [a] „nur aufgrund einer eigentätigen Auseinandersetzung mit dem Gegenstand“ – indem er nämlich das Gezeigte annimmt und nachahmt.64 Somit bezeichnet Klaus Prange das Zeigen als die grundlegende Form von Erziehung.65 Denn mit dem Zeigen verweisen wir auf etwas, wollen auf einen Sachverhalt, einen Gegenstand oder auf ein Verhalten hinweisen. Somit ist das Zeigen auch ein Lernen66 und „[a]llein durch den Bezug auf das Lernen gewinnt das Zeigen eine erzieherische Bedeutung“.67 Damit, so schlussfolgert Prange, ist das Zeigen diejenige Operation, die aller Erziehung zugrunde liegt.68 Prange erklärt das Zeigen aus einer evolutionären Sichtweise heraus: Es ist dem Menschen eigen; kein Tier kann zeigen und auf die zeigende Gebärde reagieren.69 Wenn wir z.B. unserem Hund zeigen, wo das Stöckchen liegt, das er holen soll, blickt er auf unseren Arm und nicht in die Richtung, wo er suchen soll. Er erkennt die Bedeutung nicht und kann auf die Gebärde nicht entsprechend reagieren – also die darin enthaltene Intention nicht erkennen.70 Zeigen ist allerdings etwas Natürliches und Ursprüngliches. Bevor Kinder mit dem Sprechen beginnen, können sie bereits auf etwas zeigen.71 Das Zeigen stellt damit die erste Form und somit die Urform von Kommunikation dar.72 Mit dem Finger auf einen Gegenstand zeigen ist, so Lambert Wiesing, „die entscheidende intellektuelle Voraussetzung, aus der sich die komplexen sprachlichen Formen der menschlichen Kommunikation“ entwickeln konnten.73 Somit bleibt das Zeigen beim Menschen nicht nur beim Zeigen mit dem Zeigfinger, sondern geht hin zum Sprechen über. Und damit wird neben der evolutionären Beschreibung des Zeigens eine zweite, phänomenologische Beschreibung deutlich, und zwar: Zeigen ist kein bloßer Vorgänger oder sogar eine Besonderheit des Sprechens, sondern: Sprechen und Zeigen sind beides menschliche Handlungen und als gleichwertige Erscheinungen zu betrachten.74 Aber es geht beim Zeigen um noch mehr, nämlich um das, was zum Vorschein gebracht wird, das Phänomen – und dieses Phänomen soll auch für den anderen 63 Vgl. Ludwig Duncker: Zeigen und Handeln. Studien zur Anthropologie der Schule. LangenauUlm 1996, S. 14f.; vgl. Prange: Die: Zeigestruktur der Erziehung, S. 86 und 89f. 64 Duncker: Zeigen und Handeln, S. 14. 65 Vgl. Prange: Die Zeigestruktur der Erziehung, S. 8 und 57–79. 66 Vgl. Prange: Die Zeigestruktur der Erziehung, S. 66f. 67 Prange: Die Zeigestruktur der Erziehung, S. 67. 68 Vgl. Prange: Die Zeigestruktur der Erziehung, S. 65. 69 Vgl. Prange: Die Zeigestruktur der Erziehung, S. 67; Michael Tomasello: Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation. Frankfurt am Main 2009, S. 12. 70 Vgl. Prange: Die Zeigestruktur der Erziehung, S. 67. 71 Vgl. Lambert Wiesing: Sehen lassen. Die Praxis des Zeigens. Berlin 2013, S. 10. 72 Vgl. Wiesing: Sehen lassen, S. 10. 73 Wiesing: Sehen lassen, S. 10; vgl. Tomasello: Kommunikation, S. 13. 74 Vgl. Wiesing: Sehen lassen, S. 11–13.

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sichtbar werden.75 Wer jemandem etwas zeigen möchte, möchte etwas in Erscheinung treten lassen. Und damit steht er vor einer komplexen Aufgabe: Wie bringt er – der Lehrer – sein Gegenüber – den Schüler – dazu, dieses bestimmte Phänomen wahrzunehmen? Dafür gibt es zwei Möglichkeiten: Erstens, indem er ihn mit der Sache, dem Gegenstand direkt konfrontiert und, zweitens, indem er auf den Gegenstand, die Sache hinweist. In unserem Beispiel sind beide Fälle, die Konfrontation und das Hinweisen, zu erkennen. Der Lehrer konfrontiert den Schüler mit dem Vokal [a], er führt ihn direkt vor – und der Schüler kann sich dem kaum entziehen. Weiter weist er ihn auf die richtige Aussprache des Vokals hin und versucht damit, dem Schüler die richtige Sprechweise nahezubringen, sodass er den Vokal so fassen kann, wie der Lehrer ihn fasst. Damit sind beim Zeigen immer mindestens zwei Personen beteiligt: Jemand, der zeigt und der das Gezeigte bereits zuvor wahrgenommen hat, sowie jemand, dem gezeigt wird und dem sich das Gezeigte durch das Zeigen erschließt. Im Gothaer Schulmethodus zeigt der Lehrer den Vokal [a] und seine Absicht ist es, dass der Schüler ihn kennenlernt: wie er aussieht, wie er geschrieben und wie er ausgesprochen wird. Dann sollen die Kinder auf den Vokal im Buch zeigen. Und dabei passiert etwas wesentliches: Die Hand wird zum „Instrument und Bedeutungsträger“.76 Oder, noch enger gefasst, der Zeigefinger wird zum „Organ der Verständigung“, womit dem Schüler Wissen vermittelt und zugänglich gemacht werden soll.77 Und in genau diesem Zusammenspiel von Zeigen und Lernen gibt es Erziehung. Der Weg zwischen Zeigen und Lernen wird dabei von Prange als ‚Artikulation‘ bezeichnet und stellt „die Brücke zwischen Zeigen und Lernen“ dar.78 Der Begriff wurde 1806 von Johann Friedrich Herbart geprägt und meint hier den Unterrichtsablauf, die Gliederung, die Anordnung der Lehrinhalte oder auch seine zeitliche Struktur.79 Artikulation ist also die Brücke, die der Lehrer auf verschiedene Arten überqueren kann. Das bedeutet, so wie das Zeigen gestaltet wird, so gestaltet sich das Lernen. Aber ‚Artikulation‘ beinhaltet noch mehr, und zwar „die Deutlichkeit von Äußerungen und Operationen“, sodass sie für den Schüler verständlich und begreiflich gemacht und damit das Gelernte gesichert werden kann.80 Durch das wiederholte Nachsprechen und Zeigen verinnerlicht der Schüler den zu lernenden Gegenstand – den Vokal [a]. Dabei ist es unerlässlich, dass der Lehrer akzentuiert, deutlich und angemessen laut spricht, sodass der Schüler den Vokal verstehen und aufnehmen kann.81 Dieses Vormachen, in dem Fall das Sprechen, „gehört“, so Klaus Prange, „zur Kunst des Erziehens. Durch das demonstrative Verhalten wird

75 76 77 78 79

Vgl. Wiesing: Sehen lassen, S. 19. Prange: Die Zeigestruktur der Erziehung, S. 69. Prange: Die Zeigestruktur der Erziehung, S. 69. Prange: Die Zeigestruktur der Erziehung, S. 109. Vgl. Prange: Die Zeigestruktur der Erziehung, S. 74, 107, 109f., 112; Johann Friedrich Herbart: Allgemeine Pädagogik aus dem Zweck der Erziehung abgeleitet. Göttingen 1806, S. 173. 80 Prange: Die Zeigestruktur der Erziehung, S. 74 und 110. 81 Vgl. Prange: Die Zeigestruktur der Erziehung, S. 109–132.

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das Zeigen gezeigt“.82 Insofern muss sich noch einmal mit dem Sprechen gesondert auseinandergesetzt werden. 3. DAS SPRECHEN Sprechen ist zunächst und schlichtweg ein kommunikativer Vorgang.83 Oder, etwas abstrakter mit der Sprecherzieherin Christina Zacharias formuliert, „Sprechen […] ist eine Kombination von ausgewählten Zeichen zum Zwecke der Übertragung eines bestimmten Inhaltes auf den Hörer“.84 Mit ausgewählten Zeichen sind dabei Laute oder Lautverbindungen gemeint, welche einen Inhalt ausdrücken und somit eine Bedeutung haben.85 Sprache, um dies zunächst vom Sprechen allgemein abzugrenzen, ist ein System von Zeichen, welche „einer bestimmten Gemeinschaft als Verständigungsmittel“ dient.86 Beide Phänomene, das Sprechen und die Sprache, sind unglaublich vielschichtig und komplex. Was Sprache ist, wird in der Linguistik, Psychologie, Neurologie oder auch Philosophie uneinheitlich beantwortet, womit Sprache damit zu einem mehrdeutigen Begriff wird. Denn menschliche Sprachfähigkeit ist dem Menschen angeboren, was ihm ermöglicht, emotionale Zustände und Denkvorgänge auszudrücken und diese inneren Vorgänge auf diese Weise nach außen zu bringen. Dadurch kann der Mensch ein Bewusstsein von sich selbst erlangen und mit anderen, aber auch mit sich selbst kommunizieren. Darüber hinaus gibt es konkrete Einzelsprachen, wie Dialekte, Fachsprachen oder auch Jugendsprachen, die sich stetig verändern können. Und schließlich werden auch Zeichensysteme als Sprache bezeichnet, wie z.B. die künstlich geschaffene Programmiersprache. Auch das Sprechen beinhaltet verschiedene Verwendungsweisen: wir können zu- oder miteinander sprechen, Selbstgespräche führen oder etwas nachsprechen. Aber Sprechen und Sprache sind eng miteinander verbunden und wechselseitig voneinander abhängig, denn ohne Sprache gibt es kein Sprechen und ohne Sprechen gibt es keine Sprache. Sprache und Sprechen sind insbesondere aus sprachwissenschaftlicher Perspektive genauer betrachtet worden, wobei sich verschiedene Theorien und Schulen entwickelt und weiter ausdifferenziert haben. Ein Vertreter soll für den Aspekt des Sprechens herausgriffen werden, da seine Annahme 1934 zu einer völlig neuen Betrachtung des Sprechens führte87 – und zwar Karl Bühler. Der Psychologe greift in seiner vorgelegten Sprachtheorie einen Begriff Platons auf, und zwar organon88,

82 Prange: Die Zeigestruktur der Erziehung, S. 132. 83 Vgl. Siegrun Lemke (Hg.): Sprechwissenschaft/Sprecherziehung. Ein Lehr- und Übungsbuch. Frankfurt am Main u.a. 2006, S. 11. 84 Christina Zacharias: Sprecherziehung. Ein Leitfaden für Pädagogen. Berlin.1967, S. 13. 85 Vgl. Zacharias: Sprecherziehung, S. 13. 86 Zacharias: Sprecherziehung, S. 13. 87 Vgl. Lemke: Sprecherziehung, S. 11–19. 88 Vgl. Dietrich Krusche: Zeigen im Text. Anschauliche Orientierung in literarischen Modellen von Welt. Würzburg 2001, S. 67.

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was aus dem Griechischen ins Deutsche übersetzt ‚Werkzeug‘ bedeutet.89 In seinem ‚Organon-Modell‘ wird der Kommunikationsvorgang vereinfacht von Bühler so dargestellt.90 Die Dinge: Gegenstände und Schverhalt

SPRACHLICHE ZEICHEN

Empfänger

Sender Abbildung 2: Organon-Modell

Mittels der Sprache, also den sprachlichen Zeichen, können Dinge/Sachverhalte von einem Menschen zum anderen übertragen werden. Die Sprache verbindet dabei den Sender, den Empfänger und die Dinge miteinander.91 So entsteht nach Bühler zwischen den Gesprächsteilnehmern ein gemeinsamer Orientierungsraum, in dem sich zum einen das Sprechen und zum anderen das Hören vollziehen. Dabei wird nach Bühler „im direkten Sprechen ‚zeigend‘ Bezug genommen“.92 Was Karl Bühler 1934 erstmals entdeckte und verdeutlichte, war also das „sprachliche ‚Zeigen‘“ im Gegensatz zum bloßen „Nennen“.93 Mit diesem Modell soll klar werden, dass mit dem Sprechen etwas und mehr noch: auf etwas gezeigt, hingewiesen, etwas erklärt wird.94 Sprechen ist das verbindende Element zwischen dem Sender und dem Empfänger, dem Lehrer und dem 89 Vgl. Karl Bühler: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Mit einem Geleitwort von Friedrich Kainz. Ungekürzter Neudruck der Ausgabe von 1934. Stuttgart u.a. 1982, S. 48; vgl. Krusche: Anschauliche Orientierung, S. 67. 90 Vgl. Heidrun Pelz: Linguistik. Eine Einführung. Hamburg 2000, S. 55. 91 Vgl. Pelz: Linguistik, S. 46; vgl. Krusche: Zeigen im Text, S. 67. 92 Krusche: Zeigen im Text, S. 67. 93 Krusche: Zeigen im Text, S. 70. 94 Vgl. Werner Loch: „Die Sprache als Instrument der Erziehung“, in: Hans-Rudolf Egli (Hg.): Arbeitstagung Erziehung und Sprache. Münchenweiler 1964, S. 2030, hier: 27. Abrufbar unter http://www.wernerloch.de/doc/ErzundSprache.pdf (letzter Zugriff: 1. Dezember 2017).

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Schüler, sofern sie über die gleiche Sprache verfügen. Dabei ist ganz wesentlich beim Sprechen die Stimme beteiligt. Der Soziologe Rainer Schützeichel geht davon aus, dass „[d]ie Stimme […] ein leibliches Ausdrucksphänomen [ist], welches in der Kommunikation eine besondere Funktion hat“.95 Sie besitzt nämlich die Funktion des „(Sich-)Zeigens“.96 Stimme kennzeichnet einen Menschen und ist so individuell wie ein Fingerabdruck. Dass die Stimme eines anderen anerkannt wird, ist Voraussetzung dafür, dass sich mit dem Gesagten überhaupt auseinandergesetzt und der Gegenüber wahrgenommen wird. Jede kommunikative Beziehung beruht auf dieser Anerkennung und spielt vor allem in der Pädagogik eine wesentliche Rolle. Es ist wohl eine der härtesten Strafen, wenn eine Stimme nicht zur Kenntnis genommen wird. Durch Stimme wird der Raum zu einem Kommunikationsraum, in dem wir unsere Stimmen modifizieren, also flüstern oder lauter sprechen, was Karl Bühler als Orientierungsraum bezeichnet hat. Stimmen erzeugen somit eine atmosphärische Präsenz, welche wiederum eine kommunikative und somit für die Erziehung eine entscheidende Atmosphäre herstellen. Stimmen reagieren somit aufeinander und Stimmen stimmen sich ein. Stimmen berühren uns dabei – bewusst oder unbewusst. Wir mögen sie oder können sie nicht ertragen. Ob uns eine Stimme gefällt oder nicht, ist das Kriterium dafür, ob wir eine kommunikative Beziehung aufnehmen oder nicht. Stimmen sind nie neutral, sondern immer gekennzeichnet von Gefühlen, Emotionen, Haltungen oder auch Einstellungen. Die Stimme wird also zum Phänomen im Zeigefeld und ihre Funktion liegt darin, dass sie der Kommunikation eine Bedeutung gibt und sie uns erkennen lässt. Konkret bedeutet das, dass das Sprechen und somit die Stimme zur kommunikativen Geste werden. Sie übernehmen damit die Funktion des Zeigens und auch zugleich des Sich-Zeigens.97 Durch die Sprache und mit dem Sprechen und durch das Zeigen wird dem Kind ein Zugang zur Welt eröffnet und die Welt erfasst.98 Die Sprache tritt so in Form des Sprechens zwischen den Menschen und die Dinge und leitet seine Auffassung.99 4. DAS ‚NEUE‘ Nach der Betrachtung der beiden Methoden des ‚Zeigens‘ und ‚Sprechens‘ steht aber noch immer die Frage nach dem ‚Neuen‘ im Gothaer Schulmethodus im Raum. Um diese Frage zu klären, muss zurück in die Schulordnungen aus den vergangenen Jahrhunderten geblickt und ihre methodischen Vorgehensweisen näher betrachtet werden. Dafür wurden insgesamt 120 Schulordnungen aus ganz Deutschland aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert mit folgendem Ergebnis gesichtet.

95 Rainer Schützeichel: „Soziologie der Stimme. Über den Körper in der Kommunikation“, in: Reiner Keller und Michael Meuser (Hg.): Körperwissen. Wiesbaden 2011, 85104, hier: 86. 96 Schützeichel: „Soziologie der Stimme“, S. 86. 97 Vgl. Schützeichel: „Soziologie der Stimme“, S. 86–99. 98 Vgl. Wilhelm von Humboldt: Bildung und Sprache. Eine Auswahl aus seinen Schriften. Besorgt von Clemens Menze. Paderborn 1975. 99 Vgl. Otto Friedrich Bollnow: Sprache und Erziehung. Stuttgart 1979, S. 147.

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Im 16. Jahrhundert berücksichtigen sechs von insgesamt 43 Schulordnungen das Vorsprechen, das Nachsprechen oder legen das Augenmerk auf die korrekte Aussprache – allerdings des Lateinischen. Dabei sind vor allem die „Kursächsische Schulordnung“ von Philipp Melanchthon 1528, die „Württembergische Schulordnung“ aus dem Jahr 1559, die „Kursächsische Kirchenordnung“ 1580, oder auch die 1583 verfasste „Gymnasialordnung zu Nordhausen“ zu nennen. Hier spricht der Lehrer den Schülern kurz vor und die Schüler haben korrekt nachzusprechen. Im Grunde genommen haben die Schüler die Buchstaben des Alphabets eigenständig zu lernen und diese selbst wiederzuerkennen.100 Das Lernen passiert hier einseitig und muss vom Schüler selbst ausgehen. Der Lehrer kontrolliert letztlich nur, ob der Schüler gelernt hat oder nicht. Es geht hier also mehr um ein Auswendiglernen als um ein Verinnerlichen. Was aber fehlt, ist die genaue Methode. Im 17. Jahrhundert ist bis 1642, also bis zum Erscheinen der Gothaer Schulordnung, vor allem die Weimarer Schulordnung aus dem Jahr 1619 von Johannes Kromayer einschlägig, der Bericht vom newen Methodo. Er fordert, dass „das stumme lernen der Schüler gantz und gar auffgehoben und abgeschaffet werden/ unnd dargegen die gantze Unterweisung mit lebendiger Stimm/ und durch stetiges Fürsagen/ geschehen“ sollte.101 Die Kinder sollen nicht mehr so lernen, wie es bisher gewesen ist, also dass der Lehrer den Kindern zum Teil gar nichts vorspricht und nur mit dem Finger im Buch oder an der Tafel zeigt, welches Kapitel sie zu lernen haben.102 Kromayer kritisiert das stumme Lernen, da das Kind nichts von sich selbst lernen und nicht „sein eigener Lehrmeister sein“ kann.103 Es reicht nicht, nur mit dem Finger zu zeigen und es reicht auch nicht, es dem Schüler ein- oder zweimal lediglich vorzusprechen.104 Dann hat es der Schüler nicht verstanden und nicht verinnerlicht, „denn von zweymal Fürsagen kan man es nicht flugs fassen“.105 Um es zu lernen, braucht es mehr – es braucht das konkrete Zeigen durch den Lehrer, das Sprechen und die Stimme. Deswegen muss der Schulmeister durch eine „lebendige Stimm und Fürsagen trewlich lehren und unterweisen“.106 Beim Vorsprechen „mus er [d.i. der Lehrer, C.F.] gar fein laut und mit klarer Stimm reden/ darzu gantz deutlich alle Buchstaben/ Syllaben/ und Wort wol und recht aussprechen“.107 Dabei soll das Ziel sein, den Jungen und Mädchen „eine klare/ laute/ deutliche/ langsame/ unnd unterschiedliche Aussprache“ zu vermitteln.108 Das Buchstabenlernen in Weimar verläuft dabei ähnlich wie in Gotha:109 Der Lehrer stellt zunächst die Vokale den Schülern vor, indem er das [a] an die Tafel

100 101 102 103 104 105 106 107 108 109

Vgl. Vormbaum: Die evangelischen Schulordnungen, 1. Bd., S. 76. Kromayer: Bericht vom newen Methodo, Bl. B1a. Vgl. Kromayer: Bericht vom newen Methodo, Bl. B1a. Kromayer: Bericht vom newen Methodo, Bl. B1a. Vgl. Kromayer: Bericht vom newen Methodo, Bl. B1a. Kromayer: Bericht vom newen Methodo, Bl. B1a. Kromayer: Bericht vom newen Methodo, Bl. B2b. Kromayer: Bericht vom newen Methodo, Bl. B3a. Kromayer: Bericht vom newen Methodo, Bl. B3a. Vgl. Kromayer Bericht vom newen Methodo, Bl. C3b–D1b.

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schreibt und dieses benennt. Anschließend liest er die Reihe [a]s vor und der Schüler zeigt gleichzeitig auf den Vokal im Buch, dann prüft der Lehrer, ob alle Schüler auf den richtigen Vokal im Buch zeigen, wiederholt dies mehrmals, ehe zum nächsten Vokal übergegangen wird. Erst nachdem der Lehrer ihnen alle Vokale vorgestellt und vorgesprochen hat, haben die Kinder die Möglichkeit, sie zu sprechen. Dann folgt das Buchstabieren und Lesen lernen, ehe das Schreiben erlernt wird. Hier ist die Methode nicht mehr so genau aufgeführt, das Sprechen und somit Zeigen des Lehrers rückt in den Hintergrund. Diese methodische Grundstruktur ist so auch im Schulmethodus übernommen worden, aber mit folgender Änderung: Der Lehrer zeigt vor und die Schüler sprechen direkt nach und sind somit im sofortigen Austausch mit dem Lehrer. Auch wird erst dann zum nächsten Buchstaben übergegangen, wenn alle Schüler diesen Vokal können – in Weimar wird darauf keine Rücksicht genommen.110 Die Methode in Gotha ist feinschrittiger, hat zudem den einzelnen Schüler im Blick und wird immer weiter verändert und klarer strukturiert. Sie wird außerdem für jedes Fach übernommen und ausführlich vorgestellt. Die Methode, die im Schulmethodus verwendet wird, wurde so im Einzelnen im weitergehenden 17. Jahrhundert nicht mehr gefunden, lediglich 1626 in der „Coburger Schulordnung“ der Hinweis, dass der Lehrer auf die Aussprache der Schüler achten solle.111 In der „Hessischen Schulordnung“ wird 1656 das Zeigen durch den Lehrer angesprochen112 und in der „Gymnasialordnung zu Liegnitz“ 1673, der „Ordnung des Gymnasiums zu Minden“ 1697 oder in der „Ordnung für die deutsche Schule zu Nürnberg“ 1698 wird erwähnt, dass der Lehrer die korrekte Aussprache der Schüler beachten solle.113 Im 18. Jahrhundert hat dann August Hermann Francke 1702 in seiner Schulordnung für sein Waisenhaus in Halle genau die Methode aus Gotha übernommen.114 Darüber hinaus ist sie 1704 in der „Gräflich Waldeckschen Schulordnung“, 1729 in der „Herzoglichen Württembergischen Schulordnung“ oder, noch etwas abgewandelt, in der „Braunschweig-Lüneburgischen Schulordnung“ 1737 zu finden.115

110 Vgl. Reyher: Special- und sonderbahrer Bericht (1642), Kap. 7, Bl. B8bf.; vgl. Kromayer: Bericht vom newen Methodo, Bl. C4a, D1b. 111 Vgl. Ordnung wie es in deß Durchleuchtigen Hochgebornen Fürsten und Herrn Herrn Johann Casimiri Herzogen zu Sachsen Jülich, Cleve und Berg […] Fürstenthumb und Landen, OrtsFrancken und Thüringen, in den Kirchen, mit Lehr, Ceremonien, Visitationen und was solchen mehr anhängig. Dann im Fürstlichen Consistorio, mit denen verbotenen gradibus in Ehesachen und sonsten, auch im Fürstlichen Gymnasio, so wol Land: und Particular Schulen, gehalten werden solle. Coburg 1626, S. 390: „Ihre Lectiones sollen sie den Knaben deutlich/ verständlich vorgeben/ damit sie es verstehen können.“ 112 Vgl. Vormbaum: Die evangelischen Schulordnungen des siebzehnten Jahrhunderts. 2. Bd., S. 462. 113 Vgl. Vormbaum: Die evangelischen Schulordnungen des 17. Jahrhunderts. Bd. 2, S. 652, 746 und 758. 114 Vgl. Vormbaum: Die evangelischen Schulordnungen des achtzehnten Jahrhunderts. 3. Bd. Gütersloh 1864, S. 8–37. 115 Vgl. Vormbaum: Die evangelischen Schulordnungen des achtzehnten Jahrhunderts, Bd. 3, S. 145f., 327 und 367f.

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Die Gothaer und die Weimarer Schulordnung stechen also heraus und sind sich ähnlich – doch was ist das verbindende Element, wer ist womöglich die Schlüsselfigur in diesen beiden Verordnungen? 5. WOLFGANG RATKE Die Mutter Herzog Ernsts, Dorothea Maria, hatte nach dem Tod ihres Mannes Herzog Johann von Sachsen-Weimar im Jahre 1605 die Erziehung ihrer Söhne übernommen116 und wählte selbst die Lehrer und Erzieher ihrer Kinder aus.117 So erhielt Herzog Ernst im Alter von 9 Jahren vom lutherischen Geistlichen Johannes Kromayer, dem Verfasser des Newen Methodo, am Hofe Religionsunterricht.118 1612 sorgte dann allerdings Wolfgang Ratke auf dem Kurfürstentag zu Frankfurt am Main für Aufsehen: Er stellte mit seinem Memorial seine politischen und pädagogischen Überlegungen vor, welche eine Reform des Sprachunterrichts und eine Reform der Schulen beinhalteten.119 Dorothea Maria war von seiner Methode sowie seinen reformatorischen Gedanken so beeindruckt, dass sie ihn kurze Zeit später nach Weimar berief und nicht nur ihre Kinder, sondern auch sich selbst von ihm unterrichten ließ.120 Für Ratke stellte die Muttersprache die Grundlage für den gesamten Wissenserwerb dar. Alle Wissenschaften und Künste sollten seiner Meinung nach in die deutsche Sprache übersetzt werden. Wissen sollte verständlich aufbereitet und für jeden zugänglich gemacht werden, wobei die Muttersprache als ‚Bildungsschlüssel‘ fungieren sollte. Zudem forderte er eine allgemeine Schulpflicht für Jungen und Mädchen sowie die christliche Lehre nach Luther ein.121 Doch was Ratke auszeichnet und was sich bisher leider nur teilweise in der historischen Bildungsforschung durchgesetzt hat,122 ist, dass er einen neuen Beruf geschaffen hatte – nämlich den Beruf des professionellen Didaktikers, der Lehrund Lernprozesse plant, die Konzeptionen dafür anfertigt sowie deren Umsetzung begleitet und beobachtet. Der Didaktiker fungiert seiner Ansicht nach als Baumeister, als Konstrukteur eines pädagogischen Gebäudes. Ratke trennte dabei zwischen Theorie und Praxis und somit zwischen dem ‚Baumeister‘ als Theoretiker und dem ‚Handwerker‘ als Praktiker. Ziel seiner Didaktik und zugleich auch ihre Aufgabe sei die Herstellung einer Harmonie zwischen Mensch und Welt. Über Bildung und 116 117 118 119

Vgl. Beck: Ernst der Fromme, S. 21–23. Vgl. Albrecht-Birkner: Reformation des Lebens, S. 31. Vgl. Beck: Ernst der Fromme, S. 24. Vgl. Wolfgang Ratke: „Memorial, welches zu Frankfurt auf dem Wahltag Ao. 1612 den 7. Mai dem deutschen Reich übergeben“, in: Gerd Hohendorf (Hg.): Die neue Lehrart. Pädagogische Schriften Wolfgang Ratkes. Berlin 1957, S. 49–51; vgl. a.a.O., S. 37. 120 Vgl. Beck: Ernst der Fromme, S. 25. 121 Vgl. Albrecht-Birkner: Reformation des Lebens, S. 36. 122 So beachten z.B. Eirmbter-Stolbrink und König-Fuchs in ihrer historischen Auseinandersetzung mit Ansätzen der Methodenforschung Wolfgang Ratke überhaupt nicht. Vgl. dies.: Erziehunsgwissenschaftliche Methodenforschung. Vermittlung und Aneignung von Wissen. Reinbek 2012.

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Erziehung will Wolfgang Ratke eine Veränderung der Gesellschaft bewirken – so, wie Herzog Ernst der Fromme auch. Dafür war es nötig, Schulen didaktisch und methodisch zu erneuern: ‚Didaktisch‘ bedeutet, was und wie gelehrt werden soll und ‚methodisch‘, wie Wissen vermittelt werden soll, sodass es jeder erschließen, erfassen und behalten kann.123 Didaktik ist nämlich nach Ratke „die Kunstlehre des Unterrichtens“ und verfährt nach bestimmten und klaren Regeln.124 Diese Regeln ergeben sich zum einen aus der Natur des Menschen und zum anderen aus dem Lernstoff heraus. Somit unterliegt die Didaktik zum einen der Sache und zum anderen dem aufnehmenden Subjekt, also dem Menschen selbst.125 Die Dinge, die unterrichtet werden, sind zum Teil nicht an Sprache gebunden, müssen aber durch die Sprache und durch das Sprechen vermittelt werden – und das muss der Lehrer, der Didaktiker, übernehmen.126 So werden mit der Sprache, dem Sprechen und der Stimme dem Verstand und somit dem Schüler die Dinge „,fürgebildet‘“127 – was so viel wie ‚vormachen‘ oder Zeigen bedeutet: „Also soll man zum höchsten Fleiß anwenden, daß man im Lehren die lebendige Stimme viel lieber in acht nehme [d.i. viel mehr anwende, C.F.], als was man sonsten in Büchern lesen und aus denselbigen lernen will.“128 „Viva vox docet, das ist, lebendige Stimm lehret wohl.“129 Der Lehrer fungiert hier als sprachliches Modell und ist Vermittler zwischen dem Lehrgegenstand und dem Schüler. Somit wird Sprache über das Zuhören erlernt und dem Lesenlernen kommt damit eine gewichtige Bedeutung zu: Darnach soll auch der Praeceptor dem Knaben das Lesen beibringen mit lebendiger Stimm derogestalt, daß er dem Knaben nur immer fürlese und fleißig zuhören lasse, so kann der Lehrschüler 1. der Buchstaben Bedeutung fein hören und verstehen, wie sie vom Praeceptore genennet und ausgesprochen werden […]. 2. Er kann und soll auch eine feine gebührende Pronunziation [d.i. deutliche und richtig betonte Aussprache, C.F.] und Ausrede [d.i. Aussprache, C.F.] sich aus des Praeceptoris Fürlesen angewöhnen, damit er nicht aufgezogen komme, wenn er soll die Buchstaben n nennen, daß er denn sage enne, für m emme, für l elle […]“.130

Vor allem die richtige, korrekte und deutliche Aussprache ist wichtig für das Hören, Verstehen und Verinnerlichen. Modellernen spielt hier also eine zentrale Rolle und durch zahlreiche Wiederholungen und das Vormachen des Lehrers beim Buchstabenlernen kommen dann das Zeigen und Sprechen zusammen:

123 124 125 126 127

Vgl. Michel: Die Welt als Schule, S. 14, 25, 43f., 50f. Bollnow: Wolfgang Ratke, S. 3f. Vgl. Bollnow: Wolfgang Ratke, S. 3f. Vgl. Michel: Die Welt als Schule, S. 52. Wolfgang Ratke: Allunterweisung in der christlichen Schule, zitiert nach Michel: Die Welt als Schule, S. 52. 128 Ratke: Allgemeine Anleitung in die Didacticam oder Lehrart, neu abgedruckt in: Gerd Hohendorf: Die neue Lehrart. Pädagogische Schriften Wolfgang Ratkes. Berlin 1957, S. 5765, hier: 58. Hervorh. im Original. 129 Ratke: Allgemeine Anleitung, S. 58. Hervorh. im Original. 130 Ratke: Allgemeine Anleitung, S. 64.

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soll er [sc. der Praeceptor] ein halb Viertelstunden ihnen die Buchstaben zeigen, also daß er erstlich die Lautbuchstaben [sc. Selbstlaute], wie sie an der Tafel rot gemalet sind, etliche Mal mit Kreiden überziehe und alsobald dieselben deutlich und helle darzu ausspreche […].131

Für die 3. Klasse gilt, dass die „Sprachlehr“132 mittels der Lutherischen Bibel erlernt werden soll. Dabei muss der Lehrer „gebrauchen: 1. eine helle und laute Stimme, 2. eine deutliche, wohl unterschiedene Ausrede […]“.133 Der Lehrer soll etwas aus der Sprachlehre allgemein, deutlich und klar erklären – dazu gehört auch die „Wortsprechung“ als ein Teil der Allgemeinen Sprach- und Silbenlehre. Mittels eines biblischen Textes soll der Lehrer den Schülern „die Wortsprechung aber mit der Ausrede und lebendiger Stimme [ge]zeiget habe“.134 Ratke lebt in einer Zeit der Glaubenskämpfe und des Dreißjährigen Krieges. Bis zu seinem Tod am 27. April 1635 wurde er von Anna Sophia von SchwarzburgRudolstadt gefördert und bekam somit im sächsisch-thüringischen Raum die Möglichkeit, seine Reformideen umzusetzen. Doch Ratke gelang es nie, dauerhaft eine bestimmte Position oder Stellung einzunehmen, mittels derer er seine Pläne und Vorstellungen hätte längerfristig praktisch umsetzen können.135 Dennoch gehört „[d]er sich selbst als didacticus bezeichnende Ratke […] zu den zentralen Gestalten der didaktischen Bewegung des frühen siebzehnten Jahrhunderts“136 und machte vor allem auf die Fehler im Schulwesen aufmerksam.137 Für ihn war der Lehrerfolg abhängig von der Lehrmethode – so, wie es im Gothaer Schulmethodus aufgegriffen und seine Vorgehensweise als Beispiel genutzt wurde.138 Mit der Sprache, dem Sprechen und der Stimme soll der Lehrgegenstand dem Schüler dargelegt, also gezeigt werden, sodass er ihn aufnehmen und verinnerlichen kann. Die Stimme und das Sprechen sind eine Form des Zeigens und gehören damit zum didaktischen Prinzip Wolfgang Ratkes, welches sich ebenfalls als Didaktisches Dreieck darstellen lässt:

131 Ratke: Anordnung der Schulstunden zu der neuen Lehrart Ratichii [o.J.], neu abgedruckt in Hohendorf: Die neue Lehrart, S. 83106, hier: 87f. 132 Das ist das Erlernen der Muttersprache in der Orthografie, der Grammatik und im Ausdruck. 133 Ratke: Anordnung der Schulstunden, S. 92. 134 Ratke: Anordnung der Schulstunden, S. 92. 135 Vgl. Uwe Kordes: Wolfgang Ratke (Ratichius, 1571–1635). Gesellschaft, Religiosität und Gelehrsamkeit im frühen 17. Jahrhundert. Heidelberg 1999, S. 2–5. 136 Kordes: Wolfgang Ratke, S. 2. 137 Vgl. Beck: Ernst der Fromme, S. 498. 138 Vgl. Albrecht-Birkner: Reformation des Lebens, S. 512.

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Lehrgegenstand/Thema

SPRACHE SPRECHEN STIMME

Lehrer

Schüler

Abbildung 3: Didaktisches Dreieck nach Wolfgang Ratke

Es ist gut zu erkennen, wie hier die Fäden zusammenlaufen und Ratke als Schlüsselfigur zwischen Gotha und Weimar erscheint. Johannes Kromayer übernimmt einen Teil von Ratkes methodisch-didaktischen – aber eben nur theoretischen – Ansätzen und setzt diese in die Praxis um.139 Herzog Ernst selbst war von Ratke und Kromayer unterrichtet worden und dieser Einfluss ist deutlich in der Gothaer Schulordnung 1642 zu spüren. 6. ABSCHLIEßENDE BEMERKUNGEN Bildung zielte nun auf alle Menschen unabhängig ihres Standes ab. Jeder Einzelne wird in das gesellschaftliche Ganze eingewoben und auf diese Weise das Leben ‚reformiert‘. Bildung – vor allem im Katechismus – war jetzt fester Bestandteil schulischen Unterrichts und sollte eine Veränderung des Lebens und somit auch der Gesellschaft bewirken. Über die Verbesserung des Einzelnen sollte das gesamte Leben und so die Gesellschaft verbessert werden.140 Schule verfolgte damit ein „religiös-sittliches Ziel“ und sollte „zur Gottesfurcht und zur Brauchbarkeit“ anleiten.141 Dieses übergeordnete Ziel konnte nun mittels Schulordnungen für die Kinder, umfangreichen Schul- und Kirchenvisitationen oder auch dem Anfertigen von

139 Vgl. Mahlmann: Johannes Kromayers Wirken, S. 34–36. 140 Vgl. Michel: Die Welt als Schule, S. 64f. und 119; Albrecht-Birkner: Reformation des Lebens, S. 461. 141 Johannes Müller: „Kritisch-historische und erläuternde Bemerkungen“, in: Andreas Reyher: Herzog Ernstʼs des Frommen Special- und sonderbahrer Bericht/ Wie nechst Göttlicher verleyhung die Knaben und Mägdlein auff den Dorffschafften und in den Städten die unter dem

Methodische Vorgehensweise in der Gothaer Schulordnung

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‚Seelenkatalogen‘142 und Hausbesuchen durch die Pfarrer für die Erwachsenen klar organisiert, strukturiert und erreicht werden.143 Herzog Ernst „war unter den Fürsten der damaligen Zeit fast der einzige, welcher mit weiser Sorgfalt, unermüdlicher Thätigkeit und christlichem Eifer das gesammte Kirchen- und Schulwesen einer gründlichen Reform unterwarf“.144 Er glaubte, alles mit Kontrolle, Aufsicht und Eingriffen ‚von oben‘ regulieren und die Beziehung zwischen Mensch und Gott neu ordnen zu können.145 Weiter begründet Herzog Ernst seine Regierungsweise theologisch und sieht sich als Knecht Gottes, welcher ein neues Band zwischen Gott und den Menschen hervorbringen muss. Als Oberhaupt ist er das Werkzeug, welches eine von Gott verliehene Macht besitzt – und somit also schon per se einer göttlichen Natur entspringt. Im lutherischen Sinn ist der Herzog der Knecht, welcher in Demut vor Gott alles menschlich Mögliche von Gott verliehen bekommt und somit für das Herzogtum verantwortlich ist. Der Glaube an das unmittelbar bevorstehende Jüngste Gericht, veranlasste ihn dazu, „durch obrigkeitliche Maßnahmen eine Gesellschaft zu formen, die Gottes Willen entspricht und in der jeder so lebt, daß er im letzten Gericht vor Gott bestehen kann“.146 Die Menschen müssen sich bemühen und ihr Bestes tun, um Gott ihren Glauben zu zeigen und so in den Himmel zu gelangen. Deswegen sollte der lutherische Glauben verinnerlicht werden, und Herzog Ernst der Fromme verordnete diesbezüglich verschiedene Maßnahmen.147 Die Bildung aller Menschen lag seines Erachtens nach in seiner Verantwortung, und jeder Bewohner im Herzogtum war ein Kind Gottes und zugleich sein Untertan. Da der Mensch von Geburt an mangelhaft und verdorben ist, muss er erst von einem ‚guten Vater‘ zum Guten gezogen werden – nämlich zu Gott hin. Glauben sollte dabei nicht diskutiert werden, sondern es sollte pädagogisch, moralisch und erzieherisch auf die Kinder und auch auf die Erwachsenen eingewirkt werden. Das Leben wurde nicht mehr nur ‚reformiert‘, sondern auch ‘‚katechisiert‘.148 Über eine „Verbindung katechetischer Lerninhalte mit dem Kennen- und Nutzenlernen der eigenen Lebenswelt“149 wurde versucht, den Einzelnen mit Bildung und Erziehung zu lenken. Mittels einer pädagogischen Reform, welche die Muttersprache und ein gezieltes schrittweises methodisches Vorgehen beinhaltet, sollte abgesichert wer-

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untersten Hauffen der Schul-Jugend begriffene im Fürstenthumb Gotha Kurtz und nützlich unterrichtet werden können und sollen. Mit kritisch-histor. und sachl. Erl. von Johannes Müller. Nachdruck der Ausgabe Gotha 1642. Zschopau 1883, S. 75–136, hier: 131. Das ist die religiöse, ökonomische, soziale und pädagogische Erfassung aller Einwohner des Herzogtums, vgl. Albrecht-Birkner: Reformation des Lebens, S. 513. Vgl. Johannes Müller: Kritisch-historische und erläuternde Bemerkungen, S. 131; vgl. Albrecht-Birkner: Reformation des Lebens, S. 85f. August Beck: Ernst der Fromme, S. 498. Vgl. Albrecht-Birkner: Reformation des Lebens, S. 78, 96. Albrecht-Birkner: Reformation des Lebens, S. 510f. Vgl. Albrecht-Birkner: Reformation des Lebens, S. 511. Vgl. Albrecht-Birkner: Reformation des Lebens, S. 77, 512. Albrecht-Birkner: Reformation des Lebens, S. 462.

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Christine Freytag

den, dass jedes Kind religiöse Schriften lesen, Inhalte aufschreiben und so verinnerlichen kann. Religiöse Texte müssen dabei bereits im Elementarschulwesen gelesen werden, damit mit ihnen zum christlichen Denken und Handeln angeleitet wird. Es ist für Herzog Ernst die Leitlinie der Wahrheit, zugleich grundlegendes Wissen und somit ein unerlässlicher Lehr- und Lerninhalt.150 Inspiriert von den Ideen Wolfgang Ratkes setzte sich Herzog Ernst mit seinen pädagogischen Beratern Andreas Reyher, Rektor des Gothaer Gymnasiums, sowie Salomon Glaß zusammen, um eine in Umfang und Reichweite revolutionäre Schulordnung zu verfassen, welche bis 1672 insgesamt fünf Veränderungen und Anpassungen unterlag. Die methodisch-didaktische Vorgehensweise im Gothaer Schulmethodus ist dabei nicht völlig neu und hat ihren Vorläufer in Weimar. Aber in Weimar konnte sich diese Methode nicht durchsetzen und hat somit in Gotha eine ausdifferenziertere Struktur gefunden, die sich über das Herzogtum hinaus in anderen Schulordnungen niedergeschlagen und damit verbreitet hat. Herzog Ernst war von Ratkes Ideen angetan und hat nach dessen Tod 1635 seinen handschriftlichen Nachlass erworben, indem viele seiner didaktisch-methodischen Ideen festgehalten sind, die möglicherweise auch Reyher nutzte.151 Dieser wird in der Forschungsbibliothek Gotha bewahrt, ist jedoch nicht vollständig tiefenerschlossen – ebensowenig wie der Nachlass Andreas Reyhers – und birgt somit einen Schatz an methodischen und didaktischen Lehren. Ihn zu heben, stellt ein dringendes Forschungsdesiderat dar, um so das verbindende Element, ja das ‚Allgemeine‘ der Pädagogik herauszuarbeiten. Wolfgang Ratke erscheint hier als zentrale Schlüsselfigur, und seine Didaktik kann als das ‚Neue‘ betrachtet werden. Mit seinen Schriften können nicht nur historische, sondern insbesondere auch gegenwärtig offene Fragen beantwortet werden, nämlich: Was passiert beim Vorgang des Erziehens? Oder auch: Was macht einen guten Unterricht, einen guten Lehrer aus? Ratke hat die Struktur des Zeigens und Sprechens deutlich gemacht, die heute eine zentrale,152 aber leider noch wenig beachtete Funktion besitzt. Denn alle Formen des Unterrichtens gründen sich folglich im Zeigen und alle Erziehung geht mit einem Zeigen einher,153 wobei das Sprechen und Zeigen mit dem Ziel des Erkennens und Lernens eine ganz entscheidende Rolle spielen. Und genau dieser Zusammenhang besitzt auch heute noch eine große pädagogische Bedeutung und muss wieder stärker betrachtet und einbezogen werden. Denn, so hieß es bereits 1642 in Gotha: „Nicht Lehrmaschinen, nicht mechanische Dressurarbeit will der Methodus haben, sondern Lehrer, die, von Liebe und Treue für ihren Beruf beseelt“ sind und „denselben auch auf eine verständige, geistweckende und geistbildende Weise treiben“154 – nämlich durch das Zeigen und durch das Sprechen. 150 Vgl. Michel: Die Welt als Schule, S. 53. 151 Vgl. Schmidt: Bildungsgeschichte, S. 42, Anmerkung 76; Albrecht-Birkner: Reformation des Lebens, S. 37. 152 Vgl. Prange: Die Zeigestruktur der Erziehung; vgl. Sünkel: Allgemeine Theorie der Erziehung. 153 Vgl. Michael Winkler: Erziehung in der Familie. Innenansichten des pädagogischen Alltags. Stuttgart 2012, S. 81. 154 Moritz Schulze: Die Entwicklungsepoche des deutschen Volksschulwesens unter Herzog Ernst dem Frommen. Ein Beitrag zur Geschichte der Pädagogik. Gotha 1855, S. 24.

VEIT LUDWIG VON SECKENDORFF UND DIE REZEPTION DER GOTHAER SCHULREFORMEN* Thomas Töpfer Abstract: This essay examines the manifestations and scope of the contemporary reception of the Gotha school reforms on an exemplary basis. It reveals that Saxe-Gotha was always perceived by contemporaries in connection with other territories that attempted a renewal in the church and school system after the Thirty Years’ War. Apparently, geographical proximity did not play a role in Gotha’s reception. More important was the political framework. This study also pursues an actor-related approach with a special focus on Veit Ludwig von Seckendorff as one of Duke Ernest the Pious’ chief advisors. Seckendorff’s personal perception of the reforms after leaving Gotha will be examined along with his attempts to draft his own reform impulses for the visitation practice and the existing conditions in church and school in Albertine Saxony. Zusammenfassung: Der vorliegende Beitrag versucht, den Erscheinungsformen und der Reichweite der zeitgenössischen Rezeption der Gothaer Schulreformen exemplarisch nachzugehen. Dabei wird deutlich, dass Sachsen-Gotha von den Zeitgenossen stets im Kontext anderer Territorien, die am Ende des Dreißigjährigen Krieges eine Erneuerung des Kirchen- und Schulwesens in Angriff nahmen, wahrgenommen wurde. Räumliche Nähe spielte bei der Rezeption Gothas offenbar eine untergeordnete Rolle. Wichtiger waren die politischen Rahmenbedingungen. Der Beitrag verfolgt darüber hinaus einen akteursbezogenen Ansatz, in dessen Mittelpunkt mit Veit Ludwig von Seckendorff einer der zentralen Berater im Umfeld Herzog Ernst des Frommen steht. Dessen persönliche Wahrnehmung des Reformwerks nach seinem Weggang aus Gotha wird ebenso beleuchtet wie seine Versuche, eigene Reformimpulse in Bezug auf die Visitationspraxis sowie die kirchlichen und schulischen Verhältnisse im albertinischen Sachsen zu formulieren.

1. EINFÜHRUNG Eine bildungsgeschichtliche Forschung, die sich das Thema „Vergleich“ auf die Fahnen geschrieben hat, kommt an Rezeptions- und Austauschprozessen, an der Frage also, wie bildungsgeschichtliche Veränderungen wahrgenommen wurden, *

Mit Anmerkungen versehene Fassung des Vortrags vom 9. Oktober 2014. Die Untersuchung entstand im Rahmen des durch den Freistaat Thüringen geförderten Forschungsprojekts „Bildungslandschaft und Wissenskultur. Sammlungsbezogene Forschung zur frühneuzeitlichen Bildungsgeschichte des Herzogtums Sachsen-Gotha-Altenburg“ der Forschungsbibliothek und des Forschungszentrums Gotha (2014–2017). Für wichtige Hinweise und vielfältige Anregungen danke ich meinen früheren Gothaer Kollegen Dr. Hendrikje Carius, Dr. Daniel Gehrt, Jens Nagel und Dr. Sascha Salatowsky.

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nicht vorbei. Dies ist beileibe keine Binsenweisheit, denn noch heute ist ein gewisser Isolationismus zu beobachten, also die Tendenz, Themen – eine Schule, einen wichtigen Pädagogen, ein spezifisches Fach – personell, regional oder zeitlich abzugrenzen und detailreich zu erforschen. Hingegen findet man in der geschichtswissenschaftlichen Transferforschung bildungshistorische Themen nur vereinzelt, ungeachtet der Tatsache, dass die Schule die „am besten dokumentierte Instanz für den Kulturtransfer“1 ist. So spart die Wissensgeschichte zur Frühen Neuzeit die Schule als Ort des Wissenstransfers weitgehend aus, zumal wenn es sich nicht um gelehrtes, wissenschaftliches Wissen, sondern um die quantitativ ungleich bedeutendere elementare Bildung, Alphabetisierung und religiöse Erziehung handelt. Von „eine[r] modernen Ansprüchen genügenden intellectual history der europäischen frühneuzeitlichen Bildungsgeschichte“2 ist man jedenfalls in Deutschland noch weit entfernt. Dabei hat der Wissensaustausch im Bildungssektor seinen Niederschlag in einer dichten Quellenüberlieferung gefunden, zu der mitunter kulturelle Artefakte, etwa in Gestalt der für Unterrichtszwecke genutzten Kunst- und Naturaliensammlungen, in der Regel aber schriftlich fixierte Ordnungen, Modelle, Anleitungen und didaktische Anweisungen, aber auch Lehrbücher zählen.3 Stefan Ehrenpreis hat die „Gegenstände und Wege“ dieser Austauschbeziehungen im Bildungsbereich in vier Bereichen systematisiert: 1. „Erziehungsideen und -modelle“, 2. „Unterrichts- und Organisationsmodelle“, 3. „Lehrpersonal und Studentenmigration“, 4. „Lehrmaterialen, vor allem Schulbücher“.4 Unterrichts- und Organisationsmodelle verbreiteten sich vor allem über Schulordnungen, die wie alle Formen der Ordnungsgesetzgebung in der Frühen Neuzeit territorienübergreifend ausgetauscht wurden.5 Allerdings werden diese Austauschbeziehungen selten untersucht oder man beschränkt

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Heinrich Richard Schmidt: „,Winkelschulen‘ und ,Bürgerschulen‘. Die lokale Bildungsnachfrage als Movens der Schulentwicklung in Sachsen“, in: Historische Zeitschrift 299 (2014), S. 99–105, hier: 99. Stefan Ehrenpreis: „Schulsysteme, Bildungsnetzwerke und religiöse Erziehungslehren. Vergleich und Transfer als Methodik zur Interpretation frühneuzeitlicher Pädagogik“, in: Thies Schulze (Hg.): Grenzüberschreitende Religion. Vergleichs- und Kulturtransferstudien zur neuzeitlichen Geschichte. Göttingen 2013, S. 93–115, hier: 104. Hingegen ist dies in Frankreich und Großbritannien ein etablierter Forschungszweig. Vgl. Marie-Madeleine Compère: L’histoire de l’éducation en Europe. Essai comparatif sur la façon dont elle s’écrit. Bern u.a. 1995; Robert Allan Houston: Literacy in Early Modern Europe. Culture and Education 1500–1800. London 1988. Vgl. Thomas Töpfer: „,Bildungsräume‘ und ,Bildungslandschaften‘ ‒ Raumbezogene Forschungskategorien aus Sicht der Bildungsgeschichte. Konzeptionelle und methodische Perspektiven“, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 19 (2016), S. 83–99. Ehrenpreis: „Schulsysteme“, S. 104. Vgl. Karl Härter: „Bildung und Schule in der Ordnungsgesetzgebung rheinischer Territorien und Städte“, in: Andreas Rutz (Hg.): Das Rheinland als Schul- und Bildungslandschaft (1250– 1750). Köln u.a. 2010, S. 79–118; Thomas Töpfer: „Christliche Schule und Gemeiner Nutzen. Schulordnungen zwischen Normierung, Bildungsnachfrage und Schulwirklichkeit im 16. und 17. Jahrhundert“, in: Irene Dingel und Armin Kohnle (Hg.): Gute Ordnung. Ordnungsmodelle und Ordnungsvorstellungen im Zeitalter der Reformation. Leipzig 2014, S. 169–188.

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sich auf die Ebene des Textvergleichs, während die Archivüberlieferung kaum herangezogen wird.6 Ungeachtet eines unbefriedigenden Forschungsstandes zu bildungsgeschichtlichen Austauschbeziehungen erfüllt die Behauptung von Vorbildwirkungen und Rezeptionsvorgängen eine wichtige Funktion für die in der deutschen bildungs- und zumal pädagogikgeschichtlichen Forschung weit verbreiteten Meistererzählungen. Abgesehen davon, dass diese immer protestantische Meistererzählungen sind, basieren sie auf der Annahme kontinuierlicher pädagogikgeschichtlicher Rezeption. „Gotha“ wird dabei als Kinderstube jener protestantischen Rezeptionsgeschichte gesehen, als Wiege der Volksschule, der Schulpflicht, des Realienunterrichts.7 Diese Gothaer „Schulreformen“ haben, so Walter Sparn im Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, „in Deutschland eine breite Rezeption“ erfahren.8 Ulrich Herrmann beschreibt im selben Handbuch die prägende Entwicklung der Bildungsgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts als eine stringente Entwicklung „von Comenius […] bis zu den Anfängen und der Blütezeit der neuhumanistischen Bildungsphilosophie am Beginn des 19. Jahrhunderts“.9 Stärker räumlich betrachtet könnte man dieses Entwicklungsmodell umformulieren: der Weg der deutschen Bildungsgeschichte beginne in Gotha und führe über Halle nach Berlin. Andere Autoren des Handbuchs der deutschen Bildungsgeschichte, die stärker nach den sozialgeschichtlichen Rahmenbedingungen und der Schulwirklichkeit fragen, stellen diese Periodisierungsmodelle deutlich in Frage, weil sie angesichts lokaler und regionaler Vielgestaltigkeit des Schulwesens rasch an Plausibilität verlieren. So schätzen Jens Bruning und Wolfgang Neugebauer die zeitgenössische Wirkung Gothas als eher gering ein. Neugebauer spricht in diesem Zusammenhang von kleinstaatlichen temporären Erfolgen, die auf andere soziale und administrative Kontexte nicht übertragbar gewesen seien.10 „Breite Rezeption“ oder „geringe Wirkung“? Die Frage nach der zeitgenössischen Wahrnehmung und Wirkung der in der Regierungszeit Herzog Ernst des 6

Vgl. Hubert Hettwer: Herkunft und Zusammenhang der Schulordnungen. Eine vergleichende Studie. Mainz 1965. 7 Vgl. exemplarisch Albert Reble: Geschichte der Pädagogik. Stuttgart 1999, S. 122f. 8 Walter Sparn: „Religiöse und theologische Aspekte der Bildungsgeschichte im Zeitalter der Aufklärung“, in: Notker Hammerstein und Ulrich Herrmann (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. 2. Bd. 18. Jahrhundert. Vom späten 17. Jahrhundert bis zur Neuordnung Deutschlands um 1800. München 2005, S. 134–168, hier: 136. 9 Ulrich Herrmann: „Schlussbetrachtung. Das 18. Jahrhundert als Epoche der deutschen Bildungsgeschichte und der Übergang ins 19. Jahrhundert“, in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. 2. Bd., S. 547–555, hier: 547. 10 Vgl. Wolfgang Neugebauer: „Niedere Schulen und Realschulen“, in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. 2. Bd., S. 213–261, hier: 223f.; Jens Bruning: „Das protestantische Gelehrtenschulwesen im 18. Jahrhundert: Pietismus – Aufklärung – Neuhumanismus“, in: a.a.O., S. 278–323, hier: 283. Vgl. auch Wolfgang Neugebauer: „Staatsverfassung und Bildungsverfassung“, in: Hans-Jürgen Becker (Hg.): Interdependenzen zwischen Verfassung und Kultur. Berlin 2003, S. 91–125; ders.: „Norm und Konsens. Das vormoderne Schul- und Bildungsrecht in Mitteleuropa vom 16. bis 17. Jahrhundert“, in: Recht der Jugend und des Bildungswesens 60 (2012), S. 413–431.

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Frommen im Herzogtum Sachsen-Gotha vollzogenen Erneuerung und Umgestaltung des Bildungswesens wird völlig gegensätzlich beantwortet. Diese verblüffende Differenz ist kein Einzelfall. Vielmehr verweist sie auf den nach wie vor geringen Kenntnisstand über Ausmaß und Reichweite der „Gothaer Schulreformen“, deren Quellenüberlieferung erst in jüngster Zeit erschlossen wurde und nach wie vor auf eine systematische Auswertung wartet.11 Hier zeigt sich eine eigentümliche Ambivalenz: „Gotha“ ist Referenzpunkt fast jeder Darstellung der Bildungsgeschichte des Protestantismus, mit seiner spezifischen Quellenüberlieferung hat sich die Forschung jedoch nur vereinzelt beschäftigt. Auf der Basis dieses widersprüchlichen Forschungsstandes kann der vorliegende Beitrag das Thema „Rezeption der Gothaer Schulreformen“ nur exemplarisch behandeln und erste Befunde präsentieren, die einer breiteren Einbettung und nicht zuletzt vergleichenden Betrachtung bedürfen. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass die unter dem modernen Terminus „Gothaer Schulreformen“12 begrifflich pragmatisch zusammengefassten kirchlichen und schulischen Veränderungen kein monolithischer Block waren, sondern bei genauerer Betrachtung eine Fülle von Einzelmaßnahmen, Normierungen, Kontrollmechanismen oder Bildungsmedien umfassten. Deren Bedeutung, Ausrichtung und Zusammenspiel veränderten sich zudem bis zum Ende der langen Regierungszeit Ernst des Frommen (1675). Angesichts dessen überrascht es nicht, dass die im Folgenden vorgestellten Befunde „Rezeption“ als einen selektiven Prozess zeigen, in dem Elemente des Gothaer Reformprogramms wahrgenommen, bewertet oder weiterentwickelt wurden, andere hingegen nicht oder nicht in gleichem Umfang. „Rezeption“ als selektiver Prozess muss im Lichte der neueren KulturtransferForschung deshalb mit Bedacht verwendet werden. Die traditionelle Vorstellung von „Transfer“ oder „Rezeption“, die den unveränderten Charakter des verbreiteten Modells annimmt, wurde zuletzt durch neue Konzepte und Phasenmodelle erweitert.13 Dies widerspricht traditionellen Vorstellungen, nach denen Bildungsprogramme „eins-zu-eins“ kopiert oder auf Druck „von oben“ eingeführt wurden, von 11 Im Rahmen des in Anmerkung * genannten Forschungsprojekts entstand das Digitale Repertorium „Bildungsgeschichtliche Sammlungen Gotha (1640–1732)“. Vgl. https://projekte.uni-erfurt.de/repertorium-bildungsgeschichte/ (letzter Zugriff: 1. November 2017). 12 An dem in der Forschung fast durchgängig für Sachsen-Gotha unter Ernst dem Frommen verwendeten Terminus „Schul-“ bzw. „Bildungsreform“ wird im Folgenden aus pragmatischen Gründen festgehalten, auch wenn der Reform-Begriff nicht zum Repertoire des 17. Jahrhunderts gehörte, sondern erst durch die Aufklärung seine bis heute wirksame Prägung erfahren hat. Vgl. hierzu Gerhard Kluchert: „Bildungsreform – Vom Wandel in der historiographischen Behandlung eines Themas“, in: Max Liedtke u.a. (Hg.): Erfolg oder Misserfolg? Urteile und Bilanzen in der Historiographie der Erziehung. Bad Heilbrunn 2004, S. 195–211; Ralf Koerrenz: „,Reformpädagogik‘ als Systembegriff“, in: Zeitschrift für Pädagogik 40 (1994), S. 549– 564, hier: 554f. 13 Vgl. Peter Burke: Kultureller Austausch. Frankfurt am Main 2000; Michael Werner und Bénédicte Zimmermann: „Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen“, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 607– 636; Michel Espagne: „Der theoretische Stand der Kulturtransferforschung“, in: Wolfgang Schmale (Hg.): Kulturtransfer. Kulturelle Praxis im 16. Jahrhundert. Innsbruck u.a. 2003,

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wenigen Innovationszentren ausstrahlten und rezipiert wurden.14 Unter „Rezeption“ werden im Folgenden sowohl Beispiele der expliziten Wahrnehmung und Popularisierung aber auch kritischen Auseinandersetzung mit Zielen, Instrumenten und Medien der im Herzogtum Sachsen-Gotha unternommenen Reformen im Bildungsbereich behandelt, als auch Versuche, ähnliche Reformen mit Bezug auf Gotha unter anderen territorialen Voraussetzungen zu implementieren bzw. eine solche Form der Rezeption zu verhindern. Diese lokalen und territorialen Voraussetzungen sind besonders wichtig, wenn es darum geht, einen akteurbezogenen Ansatz der Erforschung bildungsgeschichtlicher Rezeptionsprozesse um eine Perspektive zu erweitern, die nicht nur Individuen als Rezipienten in den Mittelpunkt rückt, sondern ebenso die „spezifische[n] soziale[n] Organisationsformen“, die „eine ausschlaggebende Rolle beim Austauschvorgang spielen“,15 also beispielsweise Städte und Territorien, Schulen und Universitäten, aber auch politische, dynastische und konfessionelle Rahmenbedingungen. Der vorliegende Beitrag verbindet deshalb einen solchen akteursbezogenen, auf Veit Ludwig von Seckendorff fokussierten Ansatz mit der Frage, wie die Gothaer Schulreformen in unterschiedlichen territorialen Kontexten rezipiert worden sind. 2. REZEPTION IM ÜBERTERRITORIALEN KONTEXT In der Forschung ist bis heute die Auffassung weit verbreitet, dass die Gothaer Bildungsreformen Herzog Ernst des Frommen eine singuläre Leistung waren, die zukunftsweisende Entwicklungen des Bildungswesens – z.B. die Durchsetzung der Schulpflicht, die Erneuerung der religiösen Bildung oder die Öffnung zur naturwissenschaftlich-realistischen Bildung – vorweggenommen haben. Aber lässt sich eine solche einzigartige Stellung auch in der zeitgenössischen Rezeption nachweisen und wie groß war die tatsächliche regionale Reichweite? Aufgrund der Forschungslage und dem aktuellen Stand der Auswertung der Quellen können sowohl zur überterritorialen als auch zur regionalen Rezeption nur einzelne Beobachtungen präsentiert werden.16 Diese lassen bei aller Vorsicht die S. 63–75; Johannes Helmrath u.a. (Hg.): Diffusion des Humanismus. Studien zur nationalen Geschichtsschreibung europäischer Humanisten. Göttingen 2002; Marcelo Caruso u.a. (Hg.): Zirkulation und Transformation. Pädagogische Grenzüberschreitungen in historischer Perspektive. Köln u.a. 2014; Rita Casale u.a. (Hg.): Methoden und Kontexte. Historiographische Probleme der Bildungsforschung. Göttingen 2006. 14 Vgl. Thomas Töpfer: „Bildungsgeschichte, Raumbegriff und kultureller Austausch in der Frühen Neuzeit. ,Bildungslandschaften‘ zwischen regionaler Verdichtung und europäischer Ausstrahlung“, in: Michael North (Hg.): Kultureller Austausch. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung. Köln u.a. 2009, S. 115–139. 15 Reinhard Jakob: Schulen in Franken und in der Kuroberpfalz 1250–1520. Verbreitung – Organisation – gesellschaftliche Bedeutung. Wiesbaden 1994, S. 123f. Vgl. Neugebauer: „Norm und Konsens“. 16 Auf der Ebene der Schulordnungen hat Hettwer: Herkunft und Zusammenhang der Schulordnungen, die Rezeption des Gothaer Schulmethodus in verschiedenen Territorien (Grafschaft

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Einschätzung zu, dass die Bemühungen um eine Erneuerung der schulischen und kirchlichen Unterweisung in Sachsen-Gotha stets im Kontext anderer reformgesinnter Territorien wahrgenommen wurden. Hier spielt vor allem das Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel eine wichtige Rolle, in dem nach 1640 analog zu Gotha eine Zentralisierung der Schulaufsicht, eine neue Schulordnung, die Verbesserung des Schulbesuchs und die Erneuerung der Katechismusunterweisung durchgesetzt wurden, über die sich Herzog Ernst der Fromme schon 1640 persönlich Informationen aus erster Hand beschaffte.17 Ein genauer Beobachter dieser territorienübergreifenden Entwicklungen war der Generalsuperintendent des Fürstentums Halberstadt Johann Latermann, der zudem die Verhältnisse in Braunschweig-Wolfenbüttel aus seiner Zeit an der Universität Helmstedt genau kannte. Latermann verließ Helmstedt 1657 nach Lehrauseinandersetzungen an der Theologischen Fakultät und wechselte auf die erwähnte Stelle in Halberstadt. Dort nahm er sogleich ein publizistisches Vorhaben in Angriff, nämlich eine Edition verschiedener landesherrlicher Verordnungen zur Erneuerung der Katechismusunterweisung und des Schulwesens. Mit diesem Projekt wandte er sich im November 1657 an Herzog Ernst, der „das beste des Kirchenund Schullwesens so Fürstlich, Hochlöblich und eyferig in ihrem ort beobachtet vnd sich dadurch allen Evangelischen Fürsten vnd Potentaten zum helleuchtenden Exempell hochrühmlich fürgestelt“18 habe. Latermann zielte mit der Zusammenstellung „dergleichen Fürstlichen Constitutiones“ sowohl auf die von ihm in Halberstadt geplanten Reformmaßnahmen als auch auf ein breiteres Publikum. Herzog Ernst unterstützte das Vorhaben Latermanns.19 Der Druck20 erschien bereits 1658 in Halberstadt und umfasste neben dem Gothaer „Ausschreiben Wegen angeordneter Christlichen Information und Unterrich-

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Schwarzburg, Mecklenburg, Fürstentum Oels), nachzuweisen versucht. Vgl. a.a.O., S. 212– 223. Zur Ausstrahlung nach Mecklenburg vgl. auch Neugebauer: „Niedere Schulen“, S. 224. Hierzu führte Herzog Ernst im Juni und Juli 1640 einen Briefwechsel mit Georg Calixt in Helmstedt, der auf Bitten des Herzogs Informationen über das Visitationswesen nach Gotha sandte. Landesarchiv Thüringen, Staatsarchiv Gotha (LA Th - StA Gotha): Oberkonsistorium, Loc. 29b, Nr. 14 D. Zu den Reformen in Braunschweig-Wolfenbüttel vgl. das umfassende Werk von Jean-Luc Le Cam: La politique scolaire d᾽August Le Jeune de Brunswick-Wolfenbüttel et l᾽inspecteur Christoph Schrader 1635–1666/80. 2 Bde. Wiesbaden 1996; ders.: „Späthumanismus, ,Helmstedter Konfessionalismus‘ und Säkularisierung der Schule. Zur Genese der Reform von Schule und Schulaufsicht im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel nach dem 30jährigen Krieg“, in: Hans-Ulrich Musolff u.a. (Hg.): Säkularisierung vor der Aufklärung? Bildung, Kirche und Religion 1500–1750. Köln u.a. 2008, S. 77–102. Johann Latermann: Brief an Herzog Ernst, 16. November 1657, LA Th - StA Gotha, Oberkonsistorium, Loc. 29b, Nr. 16, Acta, Fürstl. Ausschreiben vndt deliberations puncte wegen der Catechismus Information der erwachsenen vnd alten […] betr., Bl. 127r–v, hier: Bl. 127r. Vgl. Herzog Ernst: Brief an Johann Latermann, Entwurf, 3. Februar 1658, LA Th - StA Gotha, Oberkonsistorium, Loc. 29b, Nr. 16, Bl. 126r–v. Johann Latermann: Unterschiedene Fürstliche Constitutiones und hochlöbliche Verordnungen/ Wie das Christliche/ höchstnothwendige und unentberliche Information-Werck der heiligen Catechißmus-Ubung/ nicht allein bey der Jugend […] fruchtbarlich anzustellen und zuerhalten/ Auch welcher Gestalt dem […] Schulwesen hinwiederumb auffzuhelffen sey/ Zu Beforderung

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tung der Erwachsenen Unwissenden/ in den nothwendigsten Stücken der Christlichen Lehr/ so in dem Catechismo Lutheri begriffen“ vom Oktober 164221 auch Katechismusverordnungen aus Braunschweig-Lüneburg, Braunschweig-Wolfenbüttel und Sachsen-Eisenach, deren Landesfürsten die Schrift auch kollektiv gewidmet ist. In den Mittelpunkt seiner Vorrede stellt Latermann das Lob Gottes, daß derselbe unter den Fürsten und Ständen seines Volcks selbst welche erwehlet/ […] dieselbe sehr hoch erleuchtet hat/ welche auch selbsten gleichsam Hand mit angeschlagen/ und/ durch Zuziehung Ihrer Geistlichen und Politischen Räthe/ unterschiedene herrliche und recht Fürstliche Ordnungen publiciret haben.22

Latermanns Unterschiedene Fürstliche Constitutiones und hochlöbliche Verordnungen richtet den Blick auf gleichgelagerte Reforminitiativen in verschiedenen Territorien und unterstreicht damit noch einmal die Bedeutung von Austausch- und Netzwerkbeziehungen, insbesondere für die Verbreitung von Schulordnungen und schulorganisatorische Innovationen. Hier wird deutlich, dass Ordnungsgesetzgebung im Kirchen- und Bildungswesen stets das Ergebnis „territorial [...] übergreifende[r] Interaktions- und Kommunikationsprozesse zwischen unterschiedlichen Normgebern, Inhabern von Herrschaftsrechten und sozialen Gemeinschaften“ war.23 3. REZEPTION INNERHALB DER ERNESTINISCHEN TERRITORIEN Richtet man die Aufmerksamkeit von der überterritorialen auf die regionale Ebene, stellt sich die Frage nach der Wirkung der Gothaer Reformansätze im unmittelbaren territorialen Umfeld, also in den ernestinischen Herzogtümern Thüringens. Nach dem Aussterben der älteren Linie Sachsen-Altenburg wurde deren Territorium 1672 geteilt. An Sachsen-Gotha fiel der Großteil des Landes mit den Residenzstädten Altenburg und Coburg. Unmittelbar nach dem Erwerb erging eine Verfügung zur Anwendung des Informationswerks, also der Verordnungen zu Katechismusunterweisung und Schulbesuch, in den neuen Landesteilen.24 Das im Juli 1672, also nur wenige Wochen nach der Übernahme der Regierung erlassene Reskript des Herzogs, scheint die Amtsträger vor Ort, die Konsistorien in Altenburg und Coburg, völlig überfordert zu haben. So gab das Konsistorium in Coburg in seinem Antwortschreiben zu bedenken, dass noch keine Visitation durchgeführt worden sei und die nun angeordnete Einführung der Katechismusinformation nicht

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der allgemeinen Wolfarth Evangelischer Kirchen und Schulen. Halberstadt 1658. Ein Exemplar ist in der FB Gotha (Sign. Theol 4° 421/6) vorhanden. Latermann: Unterschiedene Fürstliche Constitutiones, S. 40–53. Latermann: Unterschiedene Fürstliche Constitutiones, S. 3f. Härter: „Bildung und Schule“, S. 81. Dem waren intensive Beratungen in Gotha vorangegangen. Siehe hierzu Ohnmaßgebliche gedancken, wie die Christliche Catechißmus Information in den neuen Zugefallenen Fürstenthümern nach und nach möchte Zuerheben seyn, Juni 1672, LA Th - StA Gotha, Geheimes Archiv, XX V., Nr. 17, Acta, die Ernestinische Kirchen- und Schulen-Verbesserung betr. in specie Theologica und Jus publicum, Bl. 153r–154v.

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isoliert betrachtet und kaum durchgesetzt werden könne, da sie „auf die einige Lehrart, welche E. F. Durchl. in dero vorigen Fürstenthum und Landes Christlich albereit eingeführet hat, mitgerichtet ist“.25 Diese „Lehrart“ sei aber in Coburg „denen allen wenigstens in diesem Fürstenthum […] bekannt“, weshalb das Konsistorium die vorherige Qualifizierung geeigneter „Adiunctis oder geübte[r] Schuldiener“ empfiehlt.26 Die gleichfalls nach Gothaer Vorbild angeordnete Einführung getrennter Klassen in den Schulen sei für das Herzogtum Coburg völlig neu und können durch eine „blose Consistorial-Anordnung“ nicht eingeführt werden. Auch hier sei die Hinzuziehung „iemand, dem die Praxis dergleichen Lehrart kundig ist“ und die bereits in Gotha ergangenen Ausschreiben kenne, erforderlich, „damit […] nachfolgende vielen enderungen, so sonst auch in Kirchen und Schulen bedencklich und schädlich“ auf ein Mindestmaß begrenzt werden können.27 Im Herzogtum Altenburg waren nach Auskunft des Superintendenten von Orlamünde Christoph Heinrich Löber die Gothaer katechetischen Werke, die entsprechend der Verordnung vom Juli 1672 in Kirche und Schule ab sofort verwendet werden sollten, völlig unbekannt.28 Daran ändere auch die Generalvisitation, die noch im selben Jahr tatsächlich durchgeführt wurde, wenig, da Schulmeister und Pfarrer erst nach und nach mit den neuen Lehrwerken und Methoden vertraut gemacht werden könnten. Die Durchsetzung einer Vielzahl schulischer Neuerungen – neben der bereits erwähnten Klassentrennung, die Durchsetzung des regelmäßigen Schulbesuchs im Sommer, die Durchführung öffentlicher Schulexamen – gelang nur teilweise und in Anpassung an die jeweiligen Verhältnisse vor Ort.29 Dies zeigt, dass eine Übertragung der über Jahrzehnte im Herzogtum Sachsen-Gotha aufgebauten und nur mit erheblichem administrativen Aufwand aufrechterhaltenen Standards des Unterrichts und der Kontrolle von Schule, Schülern und Eltern selbst zwischen benachbarten Territorien mit ernormen Schwierigkeiten verbunden war.30 25 Konsistorium Coburg an Herzog Ernst, 22. August 1672, LA Th - StA Gotha, Oberkonsistorium, Loc. 29b, Nr. 16, Bl. 325r–327v, hier: 326r. 26 Konsistorium Coburg an Herzog Ernst, 22. August 1672, LA Th - StA Gotha, Oberkonsistorium, Loc. 29b, Nr. 16, Bl. 326r. 27 Konsistorium Coburg an Herzog Ernst, 22. August 1672, LA Th - StA Gotha, Oberkonsistorium, Loc. 29b, Nr. 16, Bl. 327r. 28 Vgl. Unvorgreifliche Gedancken, und Nachricht von dem Information Wercke in der Inspection Orlamunda, 25. Januar 1673, LA Th - StA Gotha, Oberkonsistorium, Loc. 29b, Nr. 16, Bl. 331r–338r, hier: 332r. 29 Den Versuch einer vorsichtigen Anpassung an die Verhältnisse der jeweiligen geistlichen Amtsbezirke zeigen erhaltene Konzepte von Pfarrern, die über den Altenburger Superintendenten nach Gotha gesandt wurden. „Vorschläge wie die gnädigst angefohlene Informatio Catechetica in der Stadt Altenburg durch des Höchsten Seegen könne eingerichtet werden bey der Jugend“ (korrigierter Einwurf), LA Th - StA Gotha, Oberkonsistorium, Loc. 29b, Nr. 16, Bl. 340r–342r. „Unterthänigste unmaßgebliche Vorschläge Auf was weise das gnädigst anbefohlene vnd höchstnöthige Information werck […] in der Stadt Schmöllen kan gehalten werden“ des dortigen Pfarrers Johann Peter Händel, 27. Februar 1672, a.a.O., Bl. 360r–361v. 30 Die zeitweilig angedachte „Verschickung“ geeigneter Schulmeister aus dem Gothaer Gebiet in die neuen Landesteile, „daß sie ieden orthß Schulmeistern eine zeitlang [...] hülffliche Hand böten, weil doch der Handgriff, v[nd] die praxis dißfalß das werck viel leichtet machet“, ließ

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Die fehlenden Kenntnisse der Gothaer Verhältnisse, die ungeachtet der großen räumlichen Nähe bei Geistlichen und Lehrern offenbar flächendeckend vorherrschten, waren dabei nur ein Faktor. Die Betroffenen stellten den Vereinheitlichungsbestrebungen des neuen Landesherrn durchaus selbstbewusst das Festhalten am „Herkommen“ entgegen, beispielsweise hinsichtlich der angeordneten Übertragung der Schulaufsicht an neu zu bildende Untergerichte.31 Oder sie verwiesen auf ihre Bereitschaft, die geforderten Veränderungen vorzunehmen, „welche ich aber nicht ehe, als bis man mit dem Informations-Wercke ein wenig beßer zu rechte komme“.32 Das Beispiel zeigt, dass die Erneuerung des Kirchen- und Schulwesens in Sachsen-Gotha offenbar nur sehr begrenzt über den engeren territorialen Rahmen hinaus im regionalen Umfeld wahrgenommen wurde. Die landesherrlichen Verordnungen zur Einführung der Gothaer Modelle stießen nach 1672 auf erhebliche Schwierigkeiten und wurden schließlich von den Akteuren vor Ort an die jeweiligen Verhältnisse angepasst. Damit blieb der für die frühneuzeitliche Bildungsgeschichte kennzeichnende „Lokalismus“ auch im pädagogischen „Musterstaat“ Sachsen-Gotha ein bestimmender Faktor.33 4. REZEPTION IN DEN ALBERTINISCHEN TERRITORIEN MITTELDEUTSCHLANDS Nicht nur im Herzogtum Sachsen-Gotha, auch im benachbarten Kurfürstentum Sachsen setzte noch vor dem Ende des Dreißigjährigen Krieges eine Debatte um angemessene Wiederaufbaumaßnahmen im Kirchen- und Schulwesen ein. Die nach 1640 in Gotha vollzogenen Maßnahmen wurden deshalb auch in Dresden genau wahrgenommen. Dies gilt insbesondere für die unter Herzog Ernst dem Frommen begonnene Erneuerung und Intensivierung der Katechismusunterweisung mittels der 1642 erschienenen und als Teil des großangelegten „Informationswerks“ geplanten Katechismuserklärung des Gothaer Generalsuperintendenten Salomon Glaß.34 Diese didaktisch ambitionierte Bearbeitung des Kleinen Katechismus Martin Luthers lag kurz nach ihrem Erscheinen (zusammen mit anderen Katechismus-

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sich nicht umsetzen, zeigt aber, wie stark auf eine Homogenisierung der Verhältnisse im Gesamtterritorium gedrängt wurde. LA Th - StA Gotha, Geheimes Archiv, XX V, Nr. 17, Bl. 153v. Vgl. LA Th - StA Gotha, Oberkonsistorium, Loc. 29b, Nr. 16, Bl. 3, Bl. 335r. LA Th - StA Gotha, Oberkonsistorium, Loc. 29b, Nr. 16, Bl. 332r. Vgl. Wolfgang Neugebauer: „Kultureller Lokalismus und schulische Praxis. Katholisches und protestantisches Elementarschulwesen besonders im 17. und 18. Jahrhundert in Mitteleuropa“, in: Peter Claus Hartmann (Hg.): Religion und Kultur im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts. Frankfurt am Main u.a. 2004, S. 385–408. Vgl. [Salomon Glaß]: Kurtzer Begriff der Christlichen Lehr: aus dem Catechismo Lutheri gezogen, vor die Erwachsenen, wie auch Kinder in Schulen […]. Gotha 1642 [VD17 39:144346C]. Der Druck enthält zudem die „Instruction, Nach welcher/ auff das unlängest publicirte Fürstl. Sächsische Außschreiben/ die Information der erwachsenden Unwissenheiden in

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Ausgaben) der Theologischen Fakultät der Universität Wittenberg zur Prüfung vor. Deren Gutachten bildeten die Grundlage einer ausführlichen Stellungnahme, die das Dresdner Oberkonsistorium am 17. Mai 1644 an Kurfürst Johann Georg I. übersandte.35 Die geistlichen Räte machten darin keinen Hehl aus ihrer deutlichen Ablehnung des neuen Katechismus und der dahinter stehenden Reformintentionen. Kursachsen sollte weiterhin „wörtlich und buchstäblich“ an Luthers Katechismus festhalten, der sich in mehr als einhundert Jahren als „kleine Bibel vor die Layen“ bewährt habe und unübertroffen sei.36 Die in Gotha erprobte Katechismusunterweisung wurde hingegen aufgrund ihrer anspruchsvollen Gliederung und didaktischen Neuerungen als Verwirrung und Überforderung des gemeinen Volkes kritisiert: „daß sie nicht werden wißen, was sie eigentlich glauben, oder nicht glauben sollen.“37 Aus Sicht des Oberkonsistoriums war hingegen eine Wiederherstellung und Intensivierung der bewährten Unterweisungsformen sinnvoll. Die ablehnende Haltung Kursachsens gegenüber dem im ernestinischen Gotha begonnenen Reformwerk hing nur vordergründig damit zusammen, dass Dresden als benachbarte evangelische Führungsmacht und als Oberhaupt des wettinischen Gesamthauses nicht vorab über diese Erneuerungsversuche im Kirchen- und Schulwesen informiert worden war. Hier wirkten auch ohne Zweifel die konfessionspolitischen Differenzen zwischen Ernestinern und Albertinern im späten 16. Jahrhundert nach. Unter genauerer Betrachtung wird aber deutlich, dass die kritische Wahrnehmung der Gothaer Reformansätze mit einem grundsätzlich anderen Verständnis der Herausforderungen und Handlungsnotwendigkeiten im Bildungsbereich zusammenhing. In Dresden stand man ambitionierten Reformprojekten skeptisch gegenüber und setzte stattdessen auf die Wiederaufrichtung der kirchlichen und schulischen Strukturen mit den bewährten Instrumenten.38 Dieser Unterschied zeigte sich deutlich hinsichtlich des Umgangs mit dem Instrument der Visitation. In Sachsen-Gotha stellte dessen konsequente Anwendung eine der Grundlagen des Staatsbildungsprozesses nach der Bildung des Herzogtums 1640 dar und schuf mit der detaillierten Erfassung der Verhältnisse im Land die

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den nothwendigsten Stücken der Christlichen Lehr/ betreffend/ sich die Superintendenten/ Adiuncti, Pfarrer/ ingleichen Gerichts-Personen/ auch Eltisten oder Vorsteher/ zu richten haben“. Vgl. Johann Georg Brückner: Kurtze von der Natürlichen und geoffenbarten Religion überhaupt handelnde Einleitung in den Catechismum, nebst einer Gothaischen Catechismus-Historie. Gotha 1754; Veronika Albrecht-Birkner: Reformation des Lebens. Die Reformen Herzog Ernsts des Frommen von Sachsen-Gotha und ihre Auswirkungen auf Frömmigkeit, Schule und Alltag im ländlichen Raum (1640–1675). Leipzig 2001, S. 119–122; Ernst Koch: „Das ernestinische Bibelwerk“, in: Roswitha Jacobsen und Hans-Jörg Ruge (Hg.): Ernst der Fromme (1601–1675) – Staatsmann und Reformer. Wissenschaftliche Beiträge und Katalog zur Ausstellung. Bucha bei Jena 2002, S. 52–58, hier: 54f. Vgl. Sächsisches Staatsarchiv, Hauptstaatsarchiv Dresden (HStA Dresden), Geheimer Rat, Loc. 7426/1, Bl. 227r–233v. HStA Dresden, Geheimer Rat, Loc. 7426/1, Bl. 229r. HStA Dresden, Geheimer Rat, Loc. 7426/1, Bl. 230r. Vgl. hierzu ausführlich Thomas Töpfer: Die „Freyheit“ der Kinder. Territoriale Politik, Schule und Bildungsvermittlung in der vormodernen Stadtgesellschaft. Das Kurfürstentum und Königreich Sachsen 1600–1815. Stuttgart 2012, S. 38–88.

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Voraussetzungen für die späteren Reformmaßnahmen. Folglich ging die Initiative auch direkt vom Landesherrn aus, der die administrativen Fäden auch stets in der Hand behielt.39 In Kursachsen traten ganz im Gegensatz dazu die mit den lokalen Zuständen in Stadt und Land weit besser vertrauten Landstände als treibende Kraft auf. Als erstes erhoben die Stände des Stifts Merseburg 1646 die Forderung nach einer Visitation (erneuert im Frühjahr 1648). Das Schulwesen wurde darin als Hauptpunkt aufgenommen. Der Kurfürst reagierte zunächst zurückhaltend und riet, den erhofften Friedensschluss abzuwarten. Die Visitationen (Generalvisitationen in den Städten, Lokalvisitationen in den Dörfern), die schließlich zwischen 1653 und 1656 in den Stiften Merseburg, Meißen und Naumburg-Zeitz abgehalten wurden, gingen vollständig auf die Initiative der Stände und der Domkapitel zurück und widmeten sich neben den vielerorts zu beobachtenden Missständen auch der Verbesserung der Kinderlehre und der Katechismusunterweisung. Eine landesweite Generalvisitation der Kirchen und Schulen im gesamten Kurfürstentum fand hingegen erst zwischen 1670 und 1675 statt.40 Das Vorbild Sachsen-Gotha wirkte allerdings schon in den 1650er Jahren über den Umweg des Erzstifts Magdeburg, das unter der Administrationsregierung des zweiten Sohnes des Kurfürsten Johann Georg I., des Herzogs August von Sachsen, stand. Nach Abschluss der Visitation erschien dort 1656 ein Abschied des Landesherrn, der ungewöhnlich ausführliche Anweisungen zur Verbesserung des Schulwesens in Stadt und Land enthielt.41 Die Vorbildwirkung der Schulreformen in Gotha ist dabei unübersehbar. So sollten, ähnlich wie dort, auch in Magdeburg die Inspektion der Schulen durch die Pfarrer im wöchentlichen Turnus intensiviert, die Besoldung der Kirchen- und Schuldiener und der bauliche Zustand der Schulbauten verbessert, das Mädchenschulwesen ausgebaut sowie der Schulbesuch (auch in den Dörfern) und das kirchengebundene Katechismusexamen durchgesetzt werden. Zudem wurde – wie in Gotha 1642 – die Publikation eines „Schul-Methodus“ angekündigt.42 Die 1658 publizierte Schulordnung für das Erzstift Magdeburg43 nahm diesen Gedanken auf und orientierte sich neben dem Gothaer Informationswerk vor allem an der 1651 eingeführten neuen Schulordnung des Herzogtums Braunschweig-

39 Vgl. Woldemar Böhne: Die Pädagogischen Bestrebungen Ernst des Frommen von Gotha. Nach den archivalischen Quellen dargestellt. Gotha 1888. 40 Vgl. Töpfer: Die „Freyheit“ der Kinder, S. 55–68. 41 Vgl. Deß Hochwuerdigsten […] Herrn August, Postulirten Administratoris des Primat- und Ertz-Stiffts Magdeburg/ Hertzogens zu Sachsen […] Auf der in Kirchen/ Schulen/ Klöstern/ Stifftern/ Hospitalien und andern Geistlichen orthen/ bey dem gantzen Primat- und Ertz-Stifft Magdeburg ergangenen Christlichen allgemeinen Visitation […] Decret und Abschied. Halle 1656 (UB Leipzig, Jus. terr. 105by:2). 42 Vgl. Deß Hochwuerdigsten […] Herrn August […] Visitation […] Decret und Abschied, S. 34. 43 Deß Hochwuerdigsten […] Herrn August, Postulirten Administratoris des Primat- und ErtzStiffts Magdeburg/ Hertzogens zu Sachsen […] Schul-Ordnung/ Wornach man sich in Ihrer Fürstl. Durchl. gantzen Ertz-Stifft unveränderlich zu achten und hinführo zurichten hat. Halle 1658 (UB Leipzig, Jus. terr. 105by:9).

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Wolfenbüttel.44 So sollten Schülerkataloge zur Verstetigung des Unterrichtsbesuchs eingeführt und regelmäßige „OrtsSchul Visitationes“ gehalten werden.45 Der Abschnitt „Vom Methodo Informandi“ zeigt deutlich die Beeinflussung durch die andernorts praktizierten Reformversuche. Die Einbeziehung der Realien in den Unterricht wird ebenso angeregt wie die Verwendung der Lehrbücher Jan Amos Comenius’ sowie des Rektors des Gothaer Gymnasiums und Autors des dortigen Schul-Methodus Andreas Reyher.46 Gemäß dieser pädagogischen Referenzen werden die Verbindung von Worten und Sachen und die Vermeidung des Auswendiglernens unverstandenen Stoffes im Unterricht empfohlen. Der Administrator des Erzstifts Magdeburg, Herzog August von Sachsen, erhielt in Folge des 1652 verfassten Testaments seines Vaters, Kurfürst Johann Georgs I. (gest. 1656), nach Abschluss eines Erbvergleichs mit seinen Brüdern 1657 zudem die Herrschaft im Sekundogeniturfürstentum Sachsen-Weißenfels. Dort wurde die in der Schulordnung des Erzstifts Magdeburg 1656 angekündigte Gründung eines als „öffentliche LandSchule“ titulierten akademischen Gymnasiums 1664 in Gestalt des Gymnasium Illustre Augusteum in Weißenfels vollzogen. Ähnlich dem Gothaer Gymnasium sollte die Schule eine Funktion für das gesamte Territorium erfüllen und entwickelte ebenfalls eine überregionale Ausstrahlungskraft.47 Die dynastisch-territoriale Pluralisierung im albertinischen Sachsen nach 1656, also die Bildung der Sekundogeniturfürstentümer Sachsen-Weißenfels, Sachsen-Merseburg und Sachsen-Zeitz und deren Autonomiestreben gegenüber dem Kurfürsten und seiner Verwaltung in Dresden, begünstigte ohne Zweifel einen engeren Austausch mit den ernestinischen Territorien in Thüringen und damit auch die Rezeption der Gothaer Reformansätze gerade in diesen neuentstandenen Herrschaften. Auch Veit Ludwig von Seckendorff war in diese Prozesse nach dem Wechsel an den Hof von Sachsen-Zeitz engstens eingebunden, wie im nächsten Abschnitt zu zeigen sein wird. Diese Verbundenheit zwischen Sachsen-Gotha und den Sekundogenituren manifestierte sich auch dynastisch. Drei Söhne Ernst des Frommen heirateten Töchter der albertinischen Sekundogenitur-Herzöge, so 1669 der spätere Nachfolger Erb-

44 Zur Reform der Schule und der Schulaufsicht unter Herzog August dem Jüngeren von Braunschweig-Wolfenbüttel vgl. Johannes Tütken: Höhere und mittlere Schulen des Herzogtums Braunschweig-Wolfenbüttel, der Herrschaft Dannenberg und der Grafschaft Blankenburg im Spiegel der Visitationsprotokolle des Generalschulinspektors Christoph Schrader (1650–1666). Wiesbaden 1997. 45 Deß Hochwuerdigsten […] Herrn August […] Schul-Ordnung, 51f. 46 Vgl. Deß Hochwuerdigsten […] Herrn August […] Schul-Ordnung, 53f. Die Orientierung an Gotha ging so weit, dass auch die dort gebrauchten Terenz-, Plautus- und Ciceroexzerpte verwendet werden sollten. Vgl. insgesamt Sec. III, § 12. 47 Vgl. Otto Klein: Gymnasium illustre Augusteum zu Weißenfels. Zur Geschichte einer akademischen Gelehrtenschule im Herzogtum Sachsen-Weißenfels. 1. Bd. Weißenfels 2003; Katja Vogel: „Die Elitenbildung in der ,Fürstlichen Land-Schul‘ unter Herzog Ernst I. von SachsenGotha-Altenburg“, in: Sascha Salatowsky (Hg.): Gotha macht Schule. Bildung von Luther bis Francke. Gotha 2013, S. 81–86.

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prinz Friedrich Magdalena Sibylla, Tochter des Magdeburger Administrators August von Sachsen. Die spätere Gothaer Landesfürstin erhielt am Hof ihres Vaters in Halle eine ungewöhnlich breite gelehrte Ausbildung, wie die eigens für sie von ihrem „Informator“, dem in Leipzig ausgebildeten Magister Paul Scheiner verfassten Lehrkompendien zeigen, die nach ihrer Heirat nach Gotha gelangt und bis heute in der Forschungsbibliothek erhalten sind.48 Bei der Ausbildung Magdalena Sibyllas wurden aber auch Gothaer Schulbücher herangezogen, etwa bei der Vermittlung naturkundlichen Wissens. So befand sich die Erstausgabe des 1657 in Gotha erschienenen „Kurtzen Unterricht: I. Von Natürlichen Dingen. II. Von etlichen nützlichen Wissenschafften“, dem ersten natur- und realienkundlichen Lehrbuch für Elementarschulen überhaupt, nachweislich im Besitz der jungen Herzogin und wurde vielfältig durchgearbeitet.49 5. VEIT LUDWIG VON SECKENDORFF 5.1. Forschungsstand Veit Ludwig von Seckendorff50 und die vielfältigen Verbindungen seines Lebens und Werks mit dem „Gothaer Fürstenstaat“ und hier speziell mit den Kirchen- und Schulreformen aus der Perspektive der „Rezeption“ in den Blick zu nehmen, mutet auf den ersten Blick als eine Ablenkung von der Hauptsache an. Seine Karriere am Gothaer Hof nach 1645, sein konkretes administratives Wirken als leitender Beamter im unmittelbaren Umfeld des Herzogs und nicht zuletzt seine Einbindung in die Formulierung und Durchsetzung des Erneuerungsprogramms auf den Gebieten Landesverwaltung, Kirche und Schule liegen noch weitestgehend im Dunkeln und verdienen die Aufmerksamkeit der Forschung.51 Als Autor des Fürsten-Stat, des Christen-Stat und als Reformationshistoriker ist Seckendorff nie vergessen worden, im Gegenteil, in der staatsrechts- und ideengeschichtlichen Forschung gilt er als Hauptvertreter seiner Epoche.52 Diese starke 48 Paul Scheiner: Summarium Arithmetico Cosmographicum fundamentale et methodicum. Halle 1667 (FB Gotha, Math 8° 52/7 (2)). Vgl. Andrea Thiele: „,Wahre Religion, Christliche Tugenden, Nützliche Wissenschaften‘. Die Schulbücher Magdalena Sibyllas von Sachsen-Gotha (1648–1681)“, in: Boje E. Hans Schmuhl und Thomas Bauer-Friedrich (Hg.): Im Land der Palme. August von Sachsen, Erzbischof von Magdeburg und Fürst in Halle (1614–1680). Halle an der Saale 2014, S. 169–175. 49 Vgl. Sascha Salatowsky und Karl-Heinz Lotze (Hg.): Himmelsspektakel: Astronomie im Protestantismus der Frühen Neuzeit. Gotha 2015, S. 195. 50 Einen Überblick zum Forschungsstand gibt Dietrich Blaufuß: Art. „Seckendorff, Veit Ludwig von (1626–1692)“, in: TRE 30 (1999), S. 719–727. 51 Die beste Zusammenstellung des Kenntnisstandes zu den Karrierestationen Seckendorffs in Gotha bietet Roswitha Jacobsen: „Die Brüder Seckendorff und ihre Beziehungen zu SachsenGotha“, in: Ernst der Fromme (1601–1675), S. 95–120, hier: 97–102. 52 Vgl. Dietrich Blaufuß: „Der fränkische Edelmann Veit Ludwig von Seckendorff (1626–1692) als Reformationshistoriker“, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 36 (1976), S. 81–91; Michael Stolleis: „Veit Ludwig von Seckendorff“, in: Ders. (Hg.): Staatsdenker in der Frühen

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Fokussierung auf den Publizisten Seckendorff geht einher mit der weitgehenden Vernachlässigung des ungedruckten Materials, allen voran seines umfangreichen Nachlasses, der nach 1945 mit dem Familienarchiv der Familie in das Staatsarchiv Altenburg gekommen ist.53 Bis auf wenige Facetten unerforscht ist Seckendorff als Kopf der Landesverwaltung zunächst in Gotha54 und seit 1664 als Kanzler und Konsistorialpräsident des Herzogs Moritz von Sachsen-Zeitz. Die ernorme Fülle der archivalischen Überlieferungen in Gotha und Dresden stellt hier zweifellos eine Hürde, zugleich aber auch eine Chance dar, denn es ist davon auszugehen, dass aus diesem reichen Material nicht nur Informationen zur Biographie, sondern auch bislang unbekannte Facetten des Werks Seckendorffs zutage gefördert werden können. Da Beratungsprotokolle selten die Namen der anwesenden Räte nennen und Konzepte bzw. Stellungnahmen häufig nicht personalisiert sind, ist der persönliche Anteil Seckendorffs nicht immer klar herauszuarbeiten. In solchen Fällen aber, in denen Seckendorff als Mitwirkender an Beratungen oder Verwaltungsvorgängen namentlich auftaucht oder nachgewiesen werden kann, wird deutlich, dass er eine zentrale Rolle bei der Formulierung und Realisierung des Gothaer Reformprogramms gespielt hat.55 Aus bildungsgeschichtlicher Perspektive ist Seckendorff allenfalls als Autor des Fürsten-Stat in den Blick genommen worden, in dem auch Aussagen zum Kirchen- und Schulwesen als Tätigkeitsfeld des frühneuzeitlichen Territorialstaates zu finden sind.56 In jüngerer Zeit wurden auch vereinzelt die von ihm verfassten historischen Kompendien und Lehrwerke untersucht.57 Hier liegt auch der Schwerpunkt der 1892 vorgelegten Dissertation von Richard Pahner. Dieser beschreibt

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Neuzeit. München 31995, S. 148–171; Detlef Döring: „Untersuchungen zur Entstehung des ,Christenstaates‘ von Veit Ludwig Seckendorff“, in: Erich Donnert (Hg.): Europa in der Frühen Neuzeit. 1. Bd. Vormoderne. Köln u.a. 1997, S. 477–500; Erik S. Reinert: „A Brief Introduction to Veit Ludwig von Seckendorff (1626–1692)“, in: European Journal of Law and Economics 19 (2005), S. 221–230; Solveig Strauch: Veit Ludwig von Seckendorff (1626–1692). Reformationsgeschichtsschreibung – Reformation des Lebens – Selbstbestimmung zwischen lutherischer Orthodoxie, Pietismus und Frühaufklärung. Münster 2005. Als Ausnahmen sind zu nennen Döring: „Untersuchungen“; Strauch: Seckendorff; Stefan Laube: „Text und Rede zwischen Pflicht und Muße. Freiherr von Seckendorffs Praktiken der Wissenserzeugung“, in: Flemming Schock (Hg.): Polyhistorismus und Buntschriftstellerei. Wissenskultur und Wissensvermittlung in der Frühen Neuzeit. Berlin 2012, S. 168–191. Vgl. Andreas Klinger: Der Gothaer Fürstenstaat. Herrschaft, Konfession und Dynastie unter Herzog Ernst dem Frommen. Husum 2002; Jacobsen: „Die Brüder Seckendorff“; Jens Wilhelm Stahlschmidt: Policey und Fürstenstaat. Die gothaische Policeygesetzgebung unter Herzog Ernst dem Frommen im Spiegel der verfassungsrechtlichen und policeywissenschaftlichen Anschauungen Veit Ludwig von Seckendorffs. Diss. phil. Bochum 1999. Dies zeigt exemplarisch das Protokoll einer 18. November 1659 in der „geheimen Ratsstube“ des Friedensteins durchgeführten Beratung „wegen der teutschen Schulsachen“. LA Th - StA Gotha, Oberkonsistorium, Loc. 78b, Nr. 18, Materien so zu der Neuen Teutschen Class, Bl. 7r–8v. Vgl. Salatowsky (Hg.): Gotha macht Schule, S. 149. Vgl Strauch: Seckendorff, S. 53, 132f.; Salatowsky (Hg.): Gotha macht Schule, S. 146–149; Jens Nagel (Hg.): Historische Bilder und Fragen aus der Historie. Die Schulbücher von Johann Buno und Christoph Cellarius im Geschichtsunterricht der Frühen Neuzeit. Leipzig 2014, S. 18.

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Seckendorff als umtriebigen, aber „zentreuten“ pädagogischen Schriftsteller, der in seinen Werken „jede gelegenheit benutzte [...] seine gedanken über Erziehung und unterricht darzulegen“ und dabei stets als loyaler Helfer seines Herzogs aufgetreten sei.58 5.2. Die persönliche Wahrnehmung Gothas durch Seckendorff nach dem Wechsel nach Zeitz Aufgrund eines wichtigen Quellenfundes im Altenburger Nachlass, auf den erstmals Roswitha Jacobsen hingewiesen hat, sind wir über die tatsächlichen Motive für Seckendorffs Weggang aus Gotha informiert.59 Während offiziell von einer zu großen Arbeitsbelastung die Rede war, offenbart das eigenhändige Memorandum vom Dezember 1663, das nicht für Herzog Ernst oder andere bestimmt war, dass sich Seckendorff aufgrund grundlegender Kritik an der Regierungsweise und dem persönlichen Auftreten seines Fürsten zu diesem Schritt entschlossen hat. So nennt er das beständige Intervenieren des Herzogs in die Verwaltungsabläufe, dessen sprunghafte Einfälle, die Vernachlässigung der eigentlich wichtigen Angelegenheiten, Schmähungen der Beamten, übergroßes Misstrauen und Kontrollzwänge, persönliche Demütigungen und ausgeprägten Geiz. Ein zentraler Punkt ist schließlich auch die unverstellte Kritik an der Erziehung der Kinder des Herzogs. Diese sei ein einziges „strenge[s] Regiment und schwere[s] arbeitsloß“ und überfordere die Zöglinge völlig. Statt sich ihnen tatsächlich zu widmen, erlasse der Herzog immer neue Anordnungen, Lehrpläne, Examen und Konzepte, die aber aus Sicht Seckendorffs keine Wirkung entfalteten – „die vielfeltige uber ihre studia gehaltene deliberationes haben im wenigsten theil ihren effect“.60 Seckendorff war während seiner Zeit am Gothaer Hof vielfältig in die Erziehung der Söhne Herzog Ernsts eingebunden, wie erhaltene Konzepte und Entwürfe zeigen.61 Sein im Grunde vernichtendes Urteil basierte insofern auf umfangreichen Erfahrungen. In deren Lichte kann die Fülle der bis heute in den Gothaer Sammlungen erhaltenen Dokumente zur Erziehung der fürstlichen Kinder als eine Geschichte der Kontrolle, der Überforderung und des Scheiterns gelesen werden. 58 Richard Pahner: Veit Ludwig von Seckendorff und seine Gedanken über Erziehung und Unterricht. Ein Beitrag zur Geschichte der Pädagogik des 17. Jahrhunderts. Leipzig 1892, S. 26. 59 Die „Ursachen welche mich bewegen, einen abschid von Hoff zu nehmen, ohngeachtet mir derselbe an Zeitlicher ehre und ergetzlichkeit, auch mit Verenderung des Haußhaltß nicht wenig schaden und Ungelegenheit bringen mögte“ wurden bereits am 21. November 1663 verfasst, der Rückzug erfolgte aber erst August 1664. Landesarchiv Thüringen, Staatsarchiv Altenburg (LA TStA Altenburg), Familienarchiv von Seckendorff, Nr. 1066, Domestica des Veit Ludwig von Seckendorff 1663–1692, Bl. 1r–6v. Edition in Jacobsen, „Die Brüder Seckendorff“, S. 117–119. 60 Jacobsen, „Die Brüder Seckendorff“, S. 118. 61 Entsprechendes Material enthält beispielsweise LA Th - StA Altenburg, Familienarchiv Seckendorff, Nr. 1063, Curiosa, Politica, Historica des Veit Ludwig von Seckendorff 1661– 1685.

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Denn in der Tat folgte auf die regelmäßigen, genauestens protokollierten Examen stets eine Welle von Verordnungen zur Einschärfung der Wichtigkeit der Lektionen, an denen keine Abstriche gemacht werden sollten, oder zur künftigen Ausrichtung des Unterrichts. Bislang wurden diese Quellen immer als Nachweis der besonderen Wertschätzung und Förderung der Elitenbildung und speziell der Erziehung künftiger Regenten am herzoglichen Hof gedeutet und eine entsprechende Vorbildlichkeit Gothas festgestellt.62 Aus Sicht Seckendorffs wurde damit aber mehr Schaden als Nutzen erreicht, zumal die individuelle Leistungsfähigkeit der Zöglinge zugunsten eines umfassenden Curriculums neben dem intensiven Dienst in der landesherrlichen Verwaltung, dem „Proberegiment“, aus dem Blick geriet.63 Auch bei seinem neuen Dienstherrn, Herzog Moritz von Sachsen-Zeitz, wurde Seckendorff nach 1667 in Fragen der Erziehung der Söhne des Fürsten herangezogen. Erhalten sind mehrere Stellungnahmen und Konzepte, die deutlich die negativen Erfahrungen in Gotha reflektieren. So rät er 1679 dazu, die „exercitia“ erst „bey gottlob spürbar vermehrung des verstandes vnd Wißenschafft“ weiter zu entwickeln und den jungen Prinzen Zeit zu geben, bis sie sich „hierzu selbsten willig und fleißig finden laßen“.64 Schon 1673 hatte er mit Blick auf den Erbprinzen Moritz davor gewarnt, dass die Information „zu häuffig oder überlästig getrieben werde“.65 Der Weggang Seckendorffs aus Gotha im Sommer 1664 führte nicht zu einem völligen Bruch mit Herzog Ernst und dem Gothaer Fürstenhaus. Nicht ohne Grund hatte er die tatsächlichen Gründe für die Quittierung des Dienstes für sich behalten. Bis zum Tod Ernst des Frommen (1675) stand Seckendorff mit diesem in regelmäßigem Austausch und wurde auch von dessen Nachfolger Herzog Friedrich I. als Berater und Gutachter konsultiert. So bat ihn Herzog Ernst im Juli 1672 um eine Stellungnahme zu einem dem Herzog zugesandten „Tractat von Anordnung eines Gymnasij“, die Seckendorff auch sogleich erarbeitete und nach Gotha sandte.66 Dieses bislang unbekannte Dokument ist bei der Beantwortung der Frage nach der persönlichen Wahrnehmung Gothas nach dem Wechsel nach Zeitz deshalb von Interesse, weil Seckendorff die Beschäftigung mit dieser Schrift zum Anlass nimmt, seine grundlegende Haltung gegenüber schulreformerischen Programmen darzulegen. Dass hierbei vielfältige, in Gotha wie Zeitz gesammelte Erfahrungen eingeflossen sind, ist offensichtlich. Hierzu gehört nicht zuletzt auch die Kritik an einem 62 So zuletzt Eva Bender: „Prinzenerziehung am Gothaer Hof“, in: Salatowsky (Hg.): Gotha macht Schule, S. 71–79, hier: 78. 63 Zum Begriff „Proberegiment“ siehe Bender: „Prinzenerziehung“, S. 73. 64 „Unterthänigstes und unmaßgebliches Bedencken, wie in denen Studiis der Jungen Printzen, nachdem gestern und vorgestern im Beyseyn unsers Gnädigsten Herrn gehaltener Exploration […] ferner nützlich zu progrediren“, 4. Dezember 1679, LA Th - StA Altenburg, Familienarchiv Seckendorff, Nr. 1051, Bedencken, Schriften und Entwürfe Veit Ludwig von Seckendorffs, 1650-1679, Bl. 2r–6r, hier: 3r. 65 LA Th - StA Altenburg, Familienarchiv Seckendorff, Nr. 1063, Bl. 224–230r (Stellungnahme vom 12. Juni 1673), hier: 225r. 66 Vgl. „Unvorgreiffliche Bedencken über dem Tractat von Anordnung eines Gymnasij“ (Entwurf), 19. Juli 1672, LA Th - StA Altenburg, Familienarchiv Seckendorff, Nr. 1063, Bl. 100r– 104r.

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ungesteuerten obrigkeitlichen Reformaktionismus, den er für schädlich hielt und – wie bereits erwähnt – der einen der wesentlichen Gründe seines Weggangs aus Gotha darstellte. Als Autor dieses offenbar anonym erschienenen und heute bibliographisch nicht ermittelbaren Traktats identifiziert Seckendorff den Erfurter Mediziner und Stadtphysikus Eckard Leichner (1612–1690), der durch eine ganze Reihe von Schriften zur Erneuerung des logischen Unterrichts an Gymnasien und Universitäten und zur Erweiterung der Curricula in Erscheinung getreten war.67 Seckendorff formuliert seine Kritik an der Forderung des Verfassers mann soll Geographiam et astronomiam […] und dergleichen mehr“ unterrichten – „bey dem allen sage ich sind wegen der Zeit, des methodi […] der revisione große v[nd] fast unvberwindliche difficultaten, worzu viel unseeliche Dinge, die man noch nie mit rechter zu frommen herzen, autorität und nachdruck angegriffen, oder auch in einem oder andern particularen Land erheben kan.68

Statt einer immer weitergehenden Erweiterung der Lehrpläne sei eine Konzentration erforderlich, denn die Probleme seien doch allgegenwärtig, so die Ausuferung der Curricula, die Überfüllung der gelehrten Schulen, der Mangel an Lehrern, Besoldungsmitteln und geeigneten Büchern. Schließlich richtet er an Herzog Ernst ein fast resignierendes Fazit: Obwohl das alles viel erinnert, lamentirt, und moviert wird, bleibt [es] mehren theils dabey und werden Regenten und diener, welche remedia [Heilmittel T.T.] suchen, durch so viel Wiederwertigkeiten und andere Hindernüße müde gemacht, daß sie nach 20. od. 30. Jahren Consultation und arbeit noch immer gleichsam in dem Vorhoff aufgehalten […] sondern es endlich liegen und stehen laßen müßen, wie sie es gefunden, od[er] noch wohl ärger, wenn die neuen Inventiones […] mit den alten Mängeln vermischet.69

5.3. Seckendorff in Zeitz: Katechismusunterweisung und Schulvisitationen in Kursachsen und das Vorbild Gotha Die 17 Jahre, von 1664 bis 1681 reichende Amtszeit Veit Ludwigs von Seckendorff in Zeitz ist gänzlich unerforscht. Dies ist sicher auch dem Umstand geschuldet, dass die Geschichte der 1657 auf der Basis des „Freundbrüderlichen Hauptvergleichs“ zwischen Kurfürst Johann Georg II. und seinen Brüdern August, Christian und Moritz entstandenen Sekundogeniturfürstentümer Sachsen-Weißenfels (für August), Sachsen-Merseburg (für Christian, seit 1650 Administrator des Stifts Merseburg) und Sachsen-Zeitz (für Moritz, seit 1622 postulierter Administrator von NaumburgZeitz) nach jahrzehntelanger Vernachlässigung erst in jüngster Zeit wieder in das Blickfeld der Forschung geraten ist.70 67 68 69 70

Vgl. Carl von Prantl: Art. „Leichner, Eckard“, in: ADB 18 (1883), S. 214. LA Th - StA Altenburg, Familienarchiv Seckendorff, Nr. 1063, Bl. 103r. LA Th - StA Altenburg, Familienarchiv Seckendorff, Nr. 1063, Bl. 103v. Vgl. Joachim Säckl (Red.): Barocke Fürstenresidenzen an Saale, Unstrut und Elster. Petersberg 2007; Vinzenz Czech (Hg.): Fürsten ohne Land. Höfische Pracht in den sächsischen Sekundogenituren Weißenfels, Merseburg und Zeitz. Berlin 2009; Martina Schattkowsky und Manfred

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Mit seinem Wechsel nach Zeitz trat Seckendorff in den Dienst eines Fürsten, der seine erst wenige Jahre zuvor erworbenen territorialen Herrschaftsrechte ähnlich wie die anderen beiden Sekundogenituren gegen den Kurfürsten zu verteidigen und auszubauen suchte. Dies war alles andere als leicht, einerseits aufgrund der territorialen Heterogenität der neuen Herrschaften, zu denen die erwähnten Stiftsgebiete, aber auch kursächsische Ämter sowie die Niederlausitz gehörten. Andererseits konnten die Herzöge nur auf einen Teil der Untertanen, die Amtssassen, nicht aber auf Städte und Ritterschaft direkt zugreifen. Dadurch ergaben sich Einflussmöglichkeiten des Kurfürsten und der kursächsischen Landstände, die vor allem die Einheit des Territoriums zu bewahren suchten.71 Zu denjenigen – modern gesprochen – „Politikfeldern“, auf denen Herzog Moritz von Sachsen-Zeitz seine Eigenständigkeit unter Beweis stellen wollte, gehörte auch das Kirchen- und Schulwesen. Es ist bereits zu Beginn dieser Untersuchung am Beispiel des Erzstifts Magdeburg und Sachsen-Weißenfels᾽ darauf hingewiesen worden, dass dies einen engen Austausch mit den ernestinischen Territorien in Thüringen und damit auch die Rezeption der Gothaer Reformansätze begünstigte, während die Verwaltung in Dresden hier eine weitreichende Distanz wahrte. Diese engen Beziehungen nach Gotha wurden sowohl dynastisch-familiär, als auch durch wichtige Personaltransfers, wie dem Wechsel Seckendorffs nach Zeitz an die Spitze der Regierung, Kammer und Kanzlei mit voller Verantwortung für Konsistorial-, Justiz- und „Policeysachen“, unterstrichen. Zu Seckendorffs ersten großen Herausforderungen in seinem neuen Amt wurde die Organisation und Durchführung von Visitationen in den zu Sachsen-Zeitz gehörenden kursächsischen Ämtern und die damit verbundene Frage nach neuen normativen Regelungen für das Kirchen- und Schulwesen. Die Durchführung einer landesweiten Visitation war nach 1648 – wie eingangs beschrieben – zunächst an der Zurückhaltung der Dresdner Landesverwaltung gescheitert. Erst im Juli 1666 übermittelte Kurfürst Johann Georg II. seinen fürstlichen Brüdern die durch das Oberkonsistorium erarbeitete Instruktion für die anzustellende Generalvisitation, die sich eng an den Visitationsartikeln von 1617 orientierte, und bat um die Vorbereitung der Visitation.72 Bereits einen Tag zuvor hatte aber Herzog Moritz von Sachsen-Zeitz seinen Kanzler Veit Ludwig von Seckendorff mit der Visitation des Kirchen- und Schulwesens in den Ämtern Plauen und Voigtsberg beauftragt, die dieser sogleich in Angriff nahm, gerade weil die hierfür erforderlichen Kompetenzen zwischen Dresden und Zeitz strittig waren.73 Sollte die Wilde (Hg.): Sachsen und seine Sekundogenituren. Die Nebenlinien Weißenfels, Merseburg und Zeitz (1657–1746). Leipzig 2010. 71 Vgl. Helmut Kretzschmar: „Zur Geschichte der sächsischen Sekundogenitur-Fürstentümer“, in: Ders.: Vom Anteil Sachsens an der neueren deutschen Geschichte. Gesammelte Aufsätze. Stuttgart 1999, S. 141–203. 72 Vgl. HStA Dresden, Sekundogeniturherzogtum Sachsen-Merseburg, Loc. 13275, Acta, die […] General-Visitation […] betr., Bl. 1r–v. 73 Abschrift der Instruktion vom 22. Juli 1667 in HStA Dresden, Geheimer Rat, Loc. 11374/11, Die angeordnete Local-Visitation der Fürstl. Kirchen und Schulen, 1667, Bl. 2v. Vgl. AnneKristin Kupke: Die Kirchen- und Schulvisitationen im 17. Jahrhundert auf dem Gebiet der

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Beobachtung des Kirchen- und Schulwesens nach dem Willen des Herzogs eher ein Nebeneffekt einer schon länger geplanten Bereisung dieser Ämter sein, nahm Seckendorff hier eine deutliche Akzentverschiebung vor und lenkte sein Hauptaugenmerk auf die Visitation der Kirchen und Schulen, wie die von ihm erarbeiteten Visitationsgrundsätze zeigen.74 Bemerkenswert muten nicht nur der rasche Beginn der Visitation an, sondern ebenso der zügige Verlauf und vor allem die gründliche Auswertung ihrer Ergebnisse. Dem Schulwesen wurde dabei eingehende Beachtung zuteil. Dies zeigen die erhaltenen Visitationsbescheide, die Seckendorffs Kanzlei bereits im Oktober 1667 in Zeitz in großer Zahl an die lokalen Stadträte, Superintendenten und Schösser sandte.75 Nicht nur der von den Visitatoren vorgefundene Zustand der Schulgebäude und Lehrerwohnungen von Schulen findet dabei Erwähnung. Es wird ebenso die Einrichtung neuer Schulen in Filialorten und die Anstellung neuer Lehrer beispielsweise zur elementaren Unterweisung kleiner Kinder angewiesen. Die Verbesserung des Schulunterrichts bildet einen weiteren Schwerpunkt der Anordnungen.76 Die Beeinflussung durch die Gothaer Schulreformen zeigt sich nicht nur in der raschen und konsequenten Durchführung der Visitationen und der Fokussierung auf die Verbesserung des Schulwesens, die sich deutlich von den nach 1667 in den anderen Teilen Kursachsens durchgeführten Visitationen abhebt. Auch auf der inhaltlichen Ebene sind diese Bezüge erkennbar. So sollte der Schulbesuch verbessert, der lateinische Unterricht vor allem in den kleinen Orten zurückgedrängt und stattdessen die deutsche Unterrichtssprache gestärkt und neue Schulbücher eingeführt werden. Die Nachwirkung der Gothaer Erfahrungen spiegelt aber vor allem eine Denkschrift Seckendorffs unter dem Titel General Gebrechen und Erinnerungen, so sich bey der […] Local Kirchen- und Schul-Visitation in den Amtern Plauen und Voigtsberg, und darzu gehörigen von der Ritterschafft und Stätten gefunden, samt etlichen unmaßgeblichen Vorschlegen wie einen und andern abzuhelffen, vom August 1667, in der er ein Resümee der veranstalteten Lokalvisitation zog und weitergehende Vorschläge zur Reform des Kirchen- und Schulwesens formulierte.77 Adressaten waren neben Herzog Moritz von Sachsen-Zeitz der sächsische Kurfürst und das Oberkonsistorium in Dresden.78 Ein Exemplar sandte Seckendorff aber

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Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens. Mit einem Repertorium der Visitationsakten. Leipzig 2010, S. 93–100. Seckendorff an Superintendenten, Amtschösser und Stadträte der Ämter und Städte Plauen, Voigtsberg, Ölsnitz, Adorf, Martneunkirchen und Paußa, 23. Juli 1667, HStA Dresden, Loc. 11374/11, Bl. 1r–2r. Diese sind in den Akten des Dresdner Oberkonsistoriums erhalten. HStA Dresden, Oberkonsistorium, Loc. 1996/4 und 1996/6. Außerdem ist aus dem Bestand Geheimer Rat in Teilen heranzuziehen Loc. 11374/11. Siehe hierzu Töpfer: Die „Freyheit“ der Kinder, S. 46f. Vgl. HStA Dresden, Oberkonsistorium, Loc. 10603/3, Geistlicher Kirchen und Schulen in Chur- und Fürstl. Sächs. Landen angeordnete General-Visitation betr., 1667/68, Bl. 38r–49r. Vgl. Herzog Moritz von Sachsen-Zeitz an Kurfürst Johann Georg II. von Sachsen, 28. Dezember 1667, in: HStA Dresden, Loc. 10603/3, Bl. 26r–27r.

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auch nach Gotha, wo es erst kürzlich im Rahmen der Erfassung der bildungsgeschichtlichen Quellen im dortigen Staatsarchiv entdeckt wurde.79 Auch wenn Seckendorff in seiner Schrift auf den expliziten Rekurs auf Sachsen-Gotha verzichtet und dabei ohne Zweifel den kurfürstlichen Adressaten in Dresden im Blick hat, ist unübersehbar, dass er aus der Fülle seiner Gothaer Erfahrungen schöpfen kann. Im Grunde entwirft Seckendorff auf wenigen Seiten ein umfassendes Programm kirchlicher und schulischer Erneuerung, das sich naturgemäß nicht allein auf die visitierten Gebiete bezieht, sondern den gesamten albertinischen Herrschaftsbereich in den Blick nimmt. Hinsichtlich des Kirchenwesens schlägt Seckendorff folgende grundlegende Verbesserungen vor: die Intensivierung der lokalen Inspektionen durch die Superintendenten unter Einbeziehung der Schulmeister und Einwohner, den Einsatz von Zirkularpredigten und Lokalsynoden, die Herstellung preiswerter, leicht verständlicher Fassungen der geltenden landesherrlichen Ordnungen, die Vereinfachung des Verfahrensweges für Eingaben beim Konsistorium, die Anfertigung einer praktischen Anweisung zum Gebrauch des geistlichen Strafamtes durch die Pfarrer, Bemühungen zur Vereinheitlichung des Fastenexamens und der Taufpraxis in den Dörfern, den konsequenten Einsatz der Kirchensammlungen für die Armenfürsorge sowie schließlich die Anhebung der Besoldungen von Pfarrern und Schuldienern und einheitliche Regelungen zu deren Besteuerung. Seckendorff räumt selbst ein, dass das Schulwesen, weil „soviel unwirtigkeit befunden worden“ sei, eine „weitläuffige ausführung“ verdient hätte.80 Seine zentrale Forderung ist die Einführung eines zeitgemäßen „methodo“, da die geltende Schulordnung (von 1580) wenig bekannt und noch weniger beachtet werde und durch „inzwischen neu ausgegangene gute Bücher“, die andernorts mit Erfolg angewendet werden, geeignete Hilfsmittel zur Verfügung stünden, die in einheitlichen Editionen verbreitet werden müssten.81 Der Bezug auf den Gothaer Schul-Methodus, der in großer Stückzahl gedruckt und in den Schulen verteilt wurde und die Vereinheitlichung der schulischen Verhältnisse wesentlich befördert hat, ist hier offensichtlich. Die von Seckendorff weiterhin vorgeschlagenen Maßnahmen basieren direkt auf den während der Lokalvisitation gemachten Erfahrungen. Mit Verweis auf die Bildungsbedürfnisse der Eltern und Kinder in den kleinen Städten spricht er sich für eine weitreichende Zurückdrängung der Unterweisung in den alten Sprachen und stattdessen neben der Religion für die Stärkung des Unterrichts in praktischen, für künftige Handwerksberufe unentbehrlichen Disziplinen aus. Sinnvoll seien eine Regulierung des „Zulauf[s] ad studia“ und „ein beßerer Selectus der Stände“ im Hinblick auf Bildungserwartungen und Schulformen. Dem Phänomen der „vermengten Schule“, also den für das vormoderne Schulwesen typischen fließenden Grenzen zwischen gelehrter und elementarer Bildung gerade im kleinstädtischen Bereich, begegnet Seckendorff mit der Forderung nach dem Ausbau des deutschen 79 Vgl. LA Th - StA Gotha, Geheimes Archiv, XX V, Nr. 17, Bl. 137r–142v. 80 HStA Dresden, Loc. 10603/3, Bl. 47r. 81 HStA Dresden, Loc. 10603/3, Bl. 47r.

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Unterrichtswesens, das die Schüler deutlicher und besser auf eine praktische Berufsausübung vorbereitet. Die Intensivierung der Schulinspektion und die Einführung eines verpflichtend zu zahlenden halbjährlichen Schulgeldes verweisen ebenfalls auf seinen Gothaer Erfahrungshintergrund. Die Katechismusunterweisung sah Seckendorff dementsprechend als zentrales, nach einheitlichen Kriterien zu normierendes und zu kontrollierendes Kernelement der Bildungsvermittlung zumal auf dem Lande an. Gerade hier seien Anstrengungen zur Verbreitung einheitlicher Form und Methoden, etwa in Gestalt „einer guten einförmigen Verordnung“ erforderlich.82 Seckendorffs Memorandum hat beim Oberkonsistorium in Dresden nur eine geringe Wirkung entfaltet.83 Dies lag nicht nur an der Verärgerung über die Eigenmächtigkeit der Zeitzer Konsistorialverwaltung bei der Organisation der Visitation. Wie bereits im Falle der Beurteilung der Gothaer Schulreformen durch das Oberkonsistorium Mitte der 1640er Jahre zeigten sich die Räte in Dresden auch jetzt kaum gewillt, die Reformimpulse aus Zeitz und aus den anderen Sekundogenituren sowie aus dem benachbarten Magdeburg aufzugreifen. Der schleppende Verlauf der Visitation in den kurfürstlichen Erblanden war dafür sicher nur die vordergründige Ursache, hinter der sich eine grundlegende Ablehnung verbarg.84 Dies zeigte sich in aller Deutlichkeit, als Ende 1670 die Frage einer Erneuerung der Katechismuserklärung erneut aufkam. Im Dezember 1670 richtete Herzog August von Sachsen-Weißenfels ein Schreiben an den Kurfürsten in Dresden, in dem er ankündigte, wie Merseburg, wo dies bereits geschehen war, nach dem Vorbild Gothas einen neuen Katechismus in seinem Fürstentum einführen zu wollen.85 Dresden reagierte ablehnend.86 Die Einführung einer neuen Katechismusbearbeitung in Merseburg wurde scharf verurteilt. Es solle „kein anderer Catechismo auswendig zulernen den Leuten fürgegeben werden, außer dem gewöhnlichen Catech. Lutheri, wie er in der Form. Conc. [sc. Konkordienformel T.T.] enthalten“.87 Das hier geschilderte Beispiel scheint die in der Forschung vielfach herausgearbeitete negative Korrelation von Reformfreudigkeit und territorialer Größe bei der Verbreitung schulischer Reformeninitiativen im 17. und 18. Jahrhundert zu bestätigen. Allerdings blendet eine solche Gegenüberstellung von veränderungswilligen kleinen Herrschaftseinheiten – wie den Sekundogenituren – einerseits und dem Desinteresse an Reformen in der Dresdner Landesverwaltung andererseits aus, dass in größeren Territorien für die Akteure der mittleren und niederen Ebene der Ämter 82 HStA Dresden, Loc. 10603/3, Bl. 43r. 83 Vgl. Kupke: Kirchen- und Schulvisitationen, S. 105. 84 Vgl. Oberkonsistorium an Kurfürst Johann Georg II., 15. Juni 1670, in: HStA Dresden, Loc. 10603/3, Bl. 86r–89r. 85 Vgl. Herzog August an Kurfürst Johann Georg II., 23. Dezember 1670, HStA Dresden, Geheimer Rat, Loc. 7436/6, Die Catechismus Lehre betr. 1670–1707, Bl. 8r–9r. Zur Merseburger Katechismusausgabe vgl. Georg Müller: Katechismus und Katechismusunterricht im Albertinischen Sachsen. Leipzig 1904, S. 28. 86 Vgl. Oberkonsistorium an Herzog August, 26. Januar 1671, HStA Dresden, Loc. 7436/6, Bl. 16r–v. 87 Oberkonsistorium an Herzog August, 26. Januar 1671, HStA Dresden, Loc. 7436/6, Bl. 5r.

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und Städte erhebliche Autonomie und Handlungsspielräume bestanden. Dort war man auch in Kursachsen in der Lage, beispielsweise auf eine gewandelte Bildungsnachfrage und veränderte soziale Rahmenbedingungen von Schule zu reagieren, wie eine Auswertung der Akten der kursächsischen Generalvisitation von 1670 bis 1675 gezeigt hat.88 Auch nach dem Abschluss der Generalvisitation blieb die Verbesserung der schulischen Zustände den vor Ort agierenden Geistlichen, Schulpatronen und lokalen Obrigkeiten überlassen. Dies zeigen im ausgehenden 17. Jahrhundert eine Vielzahl von lokalen Initiativen, die von Gründung neuer Kinderlehrer- und Katechetenstellen – zunächst in den Städten und später auch in den Dörfern – bis hin zur Behebung lokaler Missstände in der Katechismusunterweisung reichten.89 6. FAZIT Fast 25 Jahre nach dem Beginn des Reformwerks, im März 1666, erinnerte Herzog Ernst in einem Anschreiben an die Superintendenten des Herzogtums, dass die Erneuerung der Katechismusunterweisung und des Schulwesens zu den weichenstellenden Entscheidungen am Beginn seiner Regierungszeit gehört haben. Diese habe er stracks anfangs im erst wie wohl mühsamen antritt unser landesfürstl[ichen] Regierung […] wohl bedächtig ergriffen, und zu sein des höchsten Gottes alleinigen ehren, und […] unser gesambten, leiben Unterthanen zeitlichen und ewigen Heils und Seeligkeit best-möglichster Beförderung und aufnahm, biß daher in aufrichtiger Lauterkeit unsers hertzens eyfrigst fort getrieben, dermaßen […] gesegnet, daß nunmehr nicht allein erst bemeldte Unsere liebe Unterthanen, sich darob hertzinniglich erfreuen […], sondern auch außwärtige so wohl freunde als feinde, der wunderbahren, weißheit Gottes hierüber ihr schuldiges Lob vergönnen müßen.90

Der Herzog war sich also sicher, dass das Ansehen seines Fürstentums und seiner Regierung ungeachtet der schwierigen Startbedingungen ganz wesentlich auf den Erfolgen in den Feldern und der Schule basierten und in anderen Territorien – von „freunde[n] als feinde[n]“ – genau beobachtet worden seien. Die Forschung hat diese Selbstwahrnehmung des Gothaer „Fürstenstaates“ als bildungsgeschichtliches Musterland lange Zeit fortgeschrieben, ohne die umfangreiche Quellenüberlieferung adäquat auszuwerten. Aber gerade diese in den 1660er und frühen 1670er Jahren, also zum Ende der Regierungszeit, immer dichter und umfangreicher werdende Fülle an Verwaltungsschrifttum zeigt, dass es selbst in einem Kleinstaat wie Sachsen-Gotha nur unter Aufbietung aller Möglichkeiten der fürstlichen Administration gelang, die notwendige Kontrolle über die kirchlichen

88 Vgl. Töpfer: Die „Freyheit“ der Kinder, S. 55–73. 89 Vgl. Töpfer: Die „Freyheit“ der Kinder, S. 75–88. 90 Herzog Ernst an die Superintendenten des Herzogtums, 31. März 1666 (Entwurf), LA Th - StA Gotha, Oberkonsistorium, Loc. 29b, Nr. 16, Bl. 287r–v.

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und schulischen Verhältnisse in den Händen zu behalten. Aber die „spezifisch frühneuzeitliche[n] Wirkungsgrenzen“ 91 obrigkeitlicher Kontrolle setzten sich schon am Ende der Regierungszeit Ernst des Frommen in gleichem Maße durch, wie die Kontrolltätigkeit nachließ und die Widerstände bzw. Handlungsspielräume der lokalen Akteure wuchsen. Die geschilderten Versuche, einer Übertragung der schulischen und kirchlichen Standards Sachsen-Gothas auf die 1672 erworbenen Landesteile Coburg und Altenburg haben dies deutlich gezeigt. Veit Ludwig von Seckendorff hat diese mittelfristige Begrenztheit landesherrlicher Reformbemühungen klar erkannt und dies auch 1672 unmissverständlich Herzog Ernst dem Frommen mitgeteilt. Dabei konnte er auf seine lange Erfahrung in der fürstlichen Verwaltung in Gotha und Zeitz zurückgreifen, zu denen auch das letztlich gescheiterte Bemühen gehörte, 1667 ausgehend von den Befunden der Visitation der Ämtern Plauen und Voigtsberg Vorschläge für Veränderungen in der kirchlichen und schulischen Praxis zu formulieren und in Dresden damit Gehör zu finden. Der vorliegende Beitrag hat über das Beispiel Seckendorff hinaus versucht, den Erscheinungsformen und der Reichweite der zeitgenössischen Rezeption der Gothaer Schulreformen exemplarisch nachzugehen. Dabei ist deutlich geworden, dass Sachsen-Gotha von den Zeitgenossen stets im Kontext anderer Territorien, die am Ende des Dreißigjährigen Krieges eine Erneuerung des Kirchen- und Schulwesens in Angriff nahmen, wahrgenommen wurde. Am Beispiel der wettinischen Territorien Mitteldeutschlands wurden schließlich Rahmenbedingungen beleuchtet, die eine Rezeption begünstigten bzw. verhinderten. Räumliche Nähe spielte offenbar eine untergeordnete Rolle, wie die weitgehende Unkenntnis in den Herzogtümern Coburg und Altenburg zeigte. Hingegen waren die albertinischen SekundogeniturFürstentümer deshalb besonders aufgeschlossen, weil sie das Kirchen- und Schulwesen als ein wichtiges Profilierungsfeld ihrer Eigenständigkeit gegenüber dem Kurfürsten in Dresden erkannten und gerade die Landstände in diesen Gebieten (zu denen in Personalunion auch das Erzstift Magdeburg gehörte) besonders reformorientiert waren. Aber auch in diesen Fällen bedeutete Rezeption nicht Kopie. Da, wo Gotha rezipiert wurde, nahm man in aller Regel auch andere relevante Territorien wie Braunschweig-Wolfenbüttel wahr. Rezipierte Schulordnungen, Lehrbücher oder administrative Modelle wurden an die jeweiligen Bedürfnisse angepasst und verändert. Darin zeigt sich mustergültig jene „doppelte Bewegung von De- und Rekontextualisierung“, die Peter Burke zu einem Charakteristikum kultureller Austauschprozesse in der Frühen Neuzeit erklärt hat.92

91 Neugebauer: „Niedere Schulen“, S. 223. 92 Burke: Kultureller Austausch, S. 13 und 16f.

ARGUTIA UND GESPRÄCHSSPIEL Pädagogische Reformprogramme um die Mitte des 17. Jahrhunderts (Jacob Masen SJ und Georg Philipp Harsdörffer)* Jost Eickmeyer und Reinhard Gruhl Abstract: Between 1643 and 1651, the German Jesuit Jakob Masen in Cologne and the irenic Lutheran Georg Philipp Harsdörffer in Nuremberg developed and published their respective theories of argutia, the former in his Ars Nova Argutiarum, the latter in his copious compilation entitled Frauenzimmer Gesprächspiele and particularly in his Ars Apophthegmatica. Based on Renaissance concepts of rhetoric and conviviality, both authors aimed at improving the training of their readers in terms of ingenuity and social manners. Both approaches were so similar that Masen accused implicitly Harsdörffer of plagiary. The following essay is a first attempt at comparing Masen’s and Harsdörffer’s works systematically with particular regard to their context of origin, their topical structure, and their intended programmatic impact. Zusammenfassung: Zwischen 1643 und 1651 entwickelten in den deutschen Kulturzentren Köln und Nürnberg der deutsche Jesuit Jakob Masen und der irenische Lutheraner Georg Philipp Harsdörffer ihre jeweilige Theorie der Argutia. In mannigfachem Anschluss an rinascimental-humanistische pädagogische Traditionen ging es beiden Autoren um eine bessere Schulung der individuellen Erfindungsgabe, des scharfsinnigen Denkens und der geselligen Umgangsformen. Allen Unterschieden zwischen Masens Argutia-Lehrbüchern und Harsdörffers Gesprächspielen bzw. Ars Apophthegmatica zum Trotz ist die konzeptionelle Nähe der beiden Reformprogramme doch so groß, dass Masen den Nürnberger sogar des Plagiats zeihen konnte. Der folgende Beitrag vergleicht erstmals die beiden Konzeptionen scharfsinniger Invention und anstandsgemäßer Geselligkeit systematisch nach Entstehungskontext, topischer Struktur und programmatischer Wirkabsicht.

Um die Mitte des 17. Jahrhunderts erscheinen in Deutschland zwei Lehrwerke zum angemessenen geselligen Verhalten1 und zur Poetik einschlägiger Redegattungen:

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Der vorliegende Aufsatz ist aus Vorgesprächen und einem dialogisch gestalteten Vortrag hervorgegangen, für den sich die Verfasser auf jeweils einen der beiden Autoren konzentrierten (Masen/Gruhl; Harsdörffer/Eickmeyer). Zu diesem weiten Feld frühneuzeitlicher Veröffentlichungen vgl. einführend Emilio Bonfatti: „Verhaltenslehrbücher und Verhaltensideale“, in: Harald Steinhagen (Hg.): Deutsche Literatur – Eine Sozialgeschichte. 3. Bd. Zwischen Gegenreformation und Frühaufklärung: Späthumanismus, Barock 1572–1740. Hamburg 1985, S. 74–87; Dietmar Till: Art. „Unterhaltung II“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. 3. Bd. Berlin u.a. 2003, S. 730–733. Vgl. ferner Claudia Schmölders (Hg.): Die Kunst des Gesprächs. Texte zur Geschichte der europäischen Konversationstheorie. München 1979; Werner Zillig (Hg.): Gutes Benehmen. Anstands-

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Jost Eickmeyer / Reinhard Gruhl

Jakob Masens2 Familiarium argutiarum fontes und Georg Philipp Harsdörffers3 Ars apophthegmatica. Masen ist Jesuit und verfasst sein Werk ganz in Latein, Harsdörffer bedient sich weitgehend des Deutschen und ist Protestant. Die Autoren teilen verwandte bildungsreformerische und poetologische Ambitionen, ein Plagiatsstreit macht aus ihnen gewissermaßen feindliche Brüder. Das ist Grund genug, die beiden im vorliegenden Zusammenhang und möglichst dialogisch bzw. dialektisch zu behandeln.

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bücher von Knigge bis heute. Berlin, Directmedia CD-ROM, 2004; Georg Braungart: Hofberedsamkeit. Studien zur Praxis höfisch-politischer Rede im deutschen Territorialabsolutismus. Tübingen 1988. Zu Recht gibt Bonfatti mit seiner Rede von „Verhalten“ dem Feld einen größeren Umriss, als die beliebte Doppelumschreibung mit „Anstand“ und „Konversation“ nahelegt oder gar die voreilige Eingrenzung auf Kinder und Halbwüchsige. „Verhalten“ bleibt für sich natürlich allzu vage; darum hier versuchsweise „angemessenes geselliges Verhalten“. Vgl. Franz G. Sieveke: Art. „Masen, Jacob“, in: Killy Literaturlexikon 8 (2010), Sp. 28b–31b; ferner R. S. Gehrlich und K. J. Becker, Art. „Masen”, in: Charles E. O’Neill und Joaquin M. Domínguez (Hg.): Diccionario Histórico de la Compañia de Jesus Biografico-Tematico. 3. Bd. Rom 2001, Sp. 2556f.; Hans-Walter Stork: Art. „Masen, Jacob“, in: Traugott Bautz (Hg.): BBKL 5 (1993), S. 971–973; Barbara Bauer: Art. „Masen, Jacob“, in: NDB 16 (1990), S. 353f. Vgl. auch Carlos Sommervogel (Hg.): Bibliothèque de la Compagnie de Jésus. Première Partie. Bibliographie. Nouvelle Edition. Bd. 5. Brüssel u.a. 1894, S. 682–696; Bibliotheca Scriptorum Societatis Iesu Opus inchoatum a R. P. Petro Ribadinera […] continuatum a R. P. Philippo Alegambe […] recognitum […] a Nathanaele Sotuello […]. Rom 1676, S. 378. Zur Hauptaufgabe, der Masen als Lehrer der Humaniora an verschiedenen Jesuitenschule zu entsprechen hatte, vgl. Barbara Bauer: Jesuitische ‚ars rhetorica‘ im Zeitalter der Glaubenskämpfe. Frankfurt am Main 1986, S. 67: „An den jesuitischen Kollegien hatten die Professoren der philologischen Fächer die Aufgabe, die Anforderungen der theologischen Fachkollegen in den studia superiora mit dem humanistischen Ziel der sprachlichen Elementarausbildung in Grammatik, Rhetorik und Stil zur Deckung zu bringen.“ Vgl. Rosmarie Zeller: Art. „Harsdörffer, Georg Philipp“, in: Killy Literaturlexikon 5 (2009), Sp. 20a–23b; Irmgard Böttcher: „Der Nürnberger Georg Philipp Harsdörffer“, in: Harald Steinhagen und Benno v. Wiese (Hg.): Deutsche Dichter des 17. Jhds. Ihr Leben und Werk. Berlin 1984, S. 289–346; Käte Lorenzen: Art. „Harsdörffer, Georg Philipp“, in: NDB 7 (1966), S. 704–706; Ferdinand van Ingen: „Georg Philipp Harsdörffer und die Pegnitz-Schäfer Johann Klaj und Sigmund von Birken“, in: Gunter E. Grimm und Frank Rainer Max (Hg.): Deutsche Dichter. Bd. 2: Reformation, Renaissance und Barock. Stuttgart 1968, S. 194–211. Zur Forschungslage: Hans-Joachim Jakob: „Bibliographie der Forschungsliteratur zu Georg Philipp Harsdörffer von 1847 bis 2005“, in: Ders. und Hermann Korte: Harsdörffer Studien. Frankfurt a.M. u.a. 2006, S. 13–35; ders.: Nachträge zur Harsdörffer-Bibliographie, in: Simpliciana 30 (2008), S. 235–260.

Argutia und Gesprächsspiel

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1. MASENS FAMILIARIUM ARGUTIARUM FONTES UND HARSDÖRFFERS ARS APOPHTHEGMATICA – ENTSTEHUNGSKONTEXTE UND PROGRAMMATIK Masen veröffentlicht sein Werk zuerst 1649,4 in erweiterter Auflage 1660, wobei der Autor seinen Stoff nunmehr auf zwei separate Werke verteilt: Die Ars argutiarum5 widmet sich jetzt ausschließlich den formal eng verwandten Epigrammen und Inschriften sowie der basalen Darstellung einer neu formierten, gattungsübergreifenden poetologischen Topik (Lehre von den vier Quellen der Argutia), die Familiarium argutiarum fontes6 bestehen aus einer Sammlung von Apophthegmen,

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Vgl. Jacob Masen: Ars nova argutiarum honestae recreationis in tres partes divisa. Continet. I. Argutias epigrammaticas ex varijs fontibus deductas. II. Argutias familiares. III. Argutias epigraphicas, seu variarum inscriptionum. Köln 1649. Übersetzt in etwa: „Ein neuartiges Lehrwerk von den Scharfsinnigkeiten für die anstandsgemäße Erholung, in drei Teilen; es umfaßt 1. Scharfsinnigkeiten in Epigrammen, 2. in der Konversation, 3. in Inschriften.“ Vgl. Jacob Masen: Ars nova argutiarum eruditae & honestae recreationis, in duas partes divisa. Prima est epigrammatum: altera inscriptionum argutarum. […] Editio Secunda locupletior. Köln 1660. Übersetzt in etwa: „Ein neuartiges Lehrwerk von den Scharfsinnigkeiten für die gelehrte und anstandsgemäße Erholung, in zwei Teilen; der erste betrifft die Epigramme, der zweite die scharfsinnigen Inschriften.“ Vgl. Jacob Masen: Familiarium argutiarum fontes honestae et eruditae recreationis gratia excitati […]. Editio altera locupletior. Köln 1660. Übersetzt in etwa: „[Lehrstück von den] Quellen der Scharfsinnigkeiten im freundschaftlichen Austausch, eröffnet mit dem Ziel einer gelehrten und anstandsgemäßen Erholung.“ Die 2. Auflagevon 1660 ist vom Autor nicht nur deutlich umgestaltet und vermehrt, sondern auch noch im Druck kontrolliert worden, wie die beigefügte Errataliste zeigt, welche mindestens einige offensichtliche Autorenkorrekturen bietet (vgl. bes. zu S. 185 u. 194). Der 3., posthumen Auflage von 1688 im selben Verlagshaus fehlt eine vergleichbare Betreuung. Die Widmung ist fortgefallen, der Text wird weitgehend seitenidentisch erneut abgedruckt, sporadisch verbessert, aber andererseits durch neue Druckfehler verschlechtert. Die Errataliste der 2. Auflage ist nicht konsequent eingearbeitet (vgl. bes. die Einträge zu S. 185 u. 194). Durchgängig neu gesetzt sind nur einige Seiten des Index. Die [4.] Ausgabe von 1711 stammt von einem anderen Verleger; Frontispiz und Titelblatt sind verschmolzen; eine Angabe zur Auflagenzählung fehlt; der Index ist überarbeitet (sporadische Streichung/Ergänzung von Stichworten). Dieser komplette Neusatz ist abhängig von der 3. Auflage (keine Einarbeitung der Errataliste der 2. Auflage; keine Widmung; übernommene Druckfehler, z.B. S. 2 „abs re“ statt „abs se“), bietet neue Fehler (vgl. z.B. S. 154 fehlerhaft „semi vir. Haec“ anstatt „semi-vir haec“, 177 „inexhaustum quodam mare“ anstatt „inexhaustum quoddam mare“) und ist textkritisch ähnlich wertlos wie die 3. Auflage.

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Anekdoten und Scherzreden,7 eingebettet in eine Belehrung über das angemessene gesellige Verhalten; besagte Topik ist auch in diesem Werk präsent.8 Bei den Familiarium argutiarum fontes von 1660 handelt es sich um ein selbständiges, elementares Lehrbuch mit einem wohldefinierten Platz innerhalb einer Lehrbuchreihe, die in erster Linie auf die Bedürfnisse der zeitgenössischen Jesuitenschulen zugeschnitten ist. Diese Reihe zumal begründet Masens dauernden Ruhm und seinen beachtlichen, auch interkonfessionellen Einfluss für mindestens 7

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Es wird eine Exemplasammlung geboten im Sinne der frühneuzeitlich üblichen, topisch geordneten Copiae, Thesauri, Flores oder auch Farragines. Vgl. Masen: Familiarium Fontes (1660), praefatio: „quod aliquanto prolixius, quam requirere praecepta haec visa sunt, exemplorum narrationi sim immoratus, Tua factum est gratia; tum ut in familiari humanae conversationis usu, eruditam tibi ex varia historia suppeditarem disserendi, moresque aliorum ex argutis Sapientum dictis formandi copiam […].“ Diese copia entstand durch Sammlung und Auswahl; vgl. ebd.: „Quidquid igitur mihi per varias historias oberranti venustum simul argutumque occurrit, hoc in suos distributum fontes, ea Lege exhibui, ut et sua origine innotescere, et grata posset exemplorum amoenitate delectare.“ Masen zitiert u.a. auch einschlägige Sammlungen, etwa die des Erasmus (Adagiorum Chiliades; Apophthegmatum opus), Zincgref (Der Teutschen scharpfsinnige kluge Sprüch) und Harsdörffer; ferner auch Plutarch, Valerius Maximus, Antonio Beccadelli, Hermann Schotten (Confabulationes tironum litterariorum). Zu diesen diversen, noch nicht recht systematisierbaren Sammelformen siehe Conrad Wiedemann: „Vorspiel zur Anthologie. Konstruktivistische, repräsentative und anthologische Sammelformen in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts“, in: Joachim Bark und Dietger Forte (Hg.): Die deutschsprachige Anthologie. Frankfurt am Main 1969, 2. Bd., S. 1–47, sowie im weiteren Umblick Flemming Schock: „Wissensliteratur und ‚Buntschriftstellerei‘ in der Frühen Neuzeit: Unordnung, Zeitkürzung und Konversation. Einführung“, in: Ders. (Hg.): Polyhistorismus und Buntschriftstellerei. Populäre Wissensformen und Wissenskultur in der Frühen Neuzeit. Berlin u.a. 2012, S. 1–20. Vgl. die Partitio in Masens Familiarium Fontes von 1660, Praef., unpag.: „Et quoniam facetiae et sales suam ab his fontibus vim venustatemque derivant: quid deceret maxime ac dedeceret, quidque inprimis ad convivia honeste jucundeque transigenda faceret; disserere aliquanto accuratius, illud libro primo, hoc tertio placuit; ut vulgatissimis in vita familiari vitiis hoc qualecumque meum studium opponerem: ne joci tam inurbane [inarbane im Druck], convivia tam dissolute tractarentur, ut qui ad haec convenirent, pene sine animi vulnere non discederent. Ad quam rem si quid hoc meo labore contuli, fave, et fove.“ Soweit beschreibt es schon Scheid richtig. Vgl. N[ikolaus] Scheid: Der Jesuit Jacob Masen, ein Schulmann und Schriftsteller des 17. Jahrhunderts. Köln 1898, S. 68: Das Werk „soll eine Anleitung zu einer anständigen und fein gebildeten Unterhaltung sein, wie es der Verfasser in der Einleitung weiter ausführt; es gehört also zu der Gattung der Tischzuchten in dem erweiterten Sinne des Wortes. Das Werkchen ist in drei Bücher eingetheilt: das erste lehrt die feinern Anstandsregeln und Umgangsformen, das zweite enthält geistreiche Witze, spaßhafte Anekdoten und lustige Erzählungen, wie sie die Unterhaltung würzen können, im dritten endlich werden die Gastgelage besprochen und dabei besonders gegen den ‚deutschen Trunk‘ geeifert.“ Bei Scheid fehlen allerdings Hinweise auf den von Masen hervorgehobenen Regel- und Ars-Charakter des zweiten Buches, welchen Masen in seiner zweiten Kurzübersicht bereits herausstellt. Vgl. Familiarium Fontes (1660), S. 4: „Quod ad argumenti à me suscepti tractationem attinet, tribus illud libris ita comprehendam: ut in primo rectum usum familiarium argutiarum in vita humana tradam, in altero artem suis exemplis propositam, in tertio conviviorum hilaritatem hac potissimum eruditione, atque ingeniorum lusu condiendam esse doceam, quò multa evitentur vitia, quae in familiarem sese hominum conversationem, cum magna integritatis atque animarum clade, insinuant.“ Vgl. dazu weiter unten.

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ein halbes Jahrhundert.9 Die Familiarium argutiarum fontes – das zeigt schon ein flüchtiger Blick – betreffen nun nicht ein Lernpensum oder ein Verhalten von Schülern während der eigentlichen Schulstunden, sondern das Verhalten während der Zeiten gelockerter Geselligkeit, also zumal der Mahl- und Erholungszeiten. Was der Autor so vermittelt, soll natürlich nicht nur für die Schule, sondern für das ganze Leben eingeübt werden. Ein zweiter Blick zeigt, dass Masens Werk über weite Strecken Bekanntes und Bewährtes bietet, wie man das auch von einem elementaren Lehrbuch erwartet. Das gilt sowohl für das verfolgte Anliegen als auch die vorgeschlagenen Mittel und Stoffe (zum innovativen Verfahren siehe unten). So greift es grundsätzlich in etwa jenes pädagogische Anliegen auf, das Johannes Sturm in seiner Schulordnung von 1538 folgendermaßen umrissen hat: 16. Bei den Abendmahlzeiten, beim Mittagessen, Frühstück und Vesperbrot und bei allen Zusammenkünften soll man sich über gute, anständige und nützliche Dinge unterhalten, und zwar soll diese Unterhaltung lateinisch, keusch, sittsam, vornehm, nicht rechthaberisch und nicht streitsüchtig sein. Bei den Abendmahlzeiten und auch beim Mittagessen soll immer jemand […] etwas aus dem Gedächtnis rezitieren, damit es der Unterhaltung nicht an Stoff fehlt.10

Auch folgt Masen den Spuren seines älteren Ordensbruders Jacobus Pontanus (1542–1626), der gerade die kleinen Redegattungen und Gegenstände, welche auch Halbwüchsige bereits hinreichend fassen können, in ein Lehrwerk bündelte, das die sprachliche wie sittliche Erziehung Halbwüchsiger durch dialogisches Sprechen (Dialogorum sermo) besser zu fördern beanspruchte als durch eine allzu starke und frühe Konzentration auf Gattungen und Inhalte größeren Gewichts, wie Staatsreden und offiziöse Briefe.11 Seine Progymnasmata Latinitatis waren sicherlich deshalb 9

Vgl. vor allem Bauer: Jesuitische Ars; Peter Orth: Jacob Masens Übungsplatz für die gebundene Beredsamkeit. Die ‚Palaestra eloquentiae ligatae‘ (1654–1657). Köln 2007, S. 171–193. 10 Übers. nach: Winfried Trillitzsch (Hg.) Der deutsche Renaissancehumanismus. Leipzig 1981, S. 516. Zur Textgrundlage vgl. a.a.O., S. 615. Ein Traditionszusammenhang mit einer verbreiteten Disziplinierungsstrategie der christlich-monastischen Asketik (und ihrem biblischen Hintergrund in der weisheitlichen Literatur und deren neutestamentlicher Rezeption zumal im Jakobusbrief) liegt auf der Hand. Siehe etwa die Regula Benedicti 6,8: „Albernheiten aber, müßiges und zum Gelächter reizendes Geschwätz verbannen und verbieten wir für immer und überall. Wir gestatten nicht, daß der Jünger zu solchem Gerede den Mund öffne.“ (Die Benediktusregel. Lateinisch – Deutsch. Beuron 1992, S. 98f., hier: 99); vgl. auch a.a.O., 4,52–54 u. 7,57–59 (S. 90–92, 110–112). 11 Vgl. Jacobus Pontanus: Progymnasmatum latinitatis, sive dialogorum, volumen primum […] Editio nouissima […]. Leiden 1619 (zuerst 1588), Praefatio, B. ††2v: „Deinde si dialogis partim de literariis rebus, partim de morum honestate & elegantia, partim de aliis quamplurimis argumentis agatur […], sine vllo difficultatis sensu etiam doctrina adolescentes, doctrina nimirum liberali, […] augebuntur moribusque temperatißimis, gratißimis, humanißimis instituentur. Ad prudenter quoque sentiendum […] proderunt, cum necesse non sit semper garrire pueros, aut dici puerilia, modò ea dicantur, quae à puerorum, adolescentumque intelligentia non sint abhorrentia.“ Neben der umgreifenden Gattung „dialogus“ zählt Pontanus im Kontext folgende Kleingattungen auf (B. ††2r; Hervorhebungen der Autoren): „breuißimae narrationes & suauißimae, prouerbia apposita, electa, Apophthegmata, sententiae argutae, fabellae dulces,

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ein didaktischer ‚Renner‘, wurden ab 1589 in Rom als Preis an fleißige Schüler verteilt12 und fanden weite Verbreitung, nicht nur in den Bibliotheken katholischer, sondern auch mancher protestantischer Schulen.13 Sogar der nachmalige Erzherzog Leopold soll mit Pontanus’ dialogischen Progymnasmata die Grundlagen des Lateinischen erlernt haben.14 In methodisch-didaktischer Entfaltung vorhandener Ansätze und ihrer möglichsten Verbesserung will nun auch Masen das übliche muttersprachliche Geplauder in gelockerter Geselligkeit verdrängen samt den unangebrachten Scherzen auf Kosten anderer.15 Stattdessen sollen Konversationsformen und -inhalte eingeübt

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aspersus ex omni facetiarum genere lepos, & aliae demum huiuscemodi ingeniorum etiam puerilium, non modò confirmatorum illecebrae […].“ – Eine deutsche Übersetzung findet sich unten, S. 230, Anm. 48. Vgl. Wilhelm Kühlmann: „,Ornamenta Germaniae‘ – Zur Bedeutung des Neulateinischen für die ausländische Rezeption der deutschen Barockliteratur“, in: Leonard Forster (Hg.): Studien zur Europäischen Rezeption deutscher Barockliteratur. Wiesbaden 1983, S. 31, Anm. 37. Eine Charakterisierung des Werkes bietet Marc Fumaroli: „Une pédagogie de la parole: Les Progymnasmata Latinitatis du P. Jacobus Pontanus“, in: Pierre Tuynman u.a. (Hg.): Acta Conventus Neo-Latini Amstelodamensis. München 1979, S. 410–425. In Halberstadt und Leipzig etwa nahm man 1629 die Progymnasmata des Pontanus in die Colloquia lectoria auf. Nach: Georg Michael Pachtler (Hg.): Ratio Studiorum et Institutiones Scholasticae Societatis Jesu per Germaniam olim vigentes. 4. Bd. Berlin 1894, S. 14, Anm. 2. Eine diesbezügliche Äußerung des Fürsten teilt Pontanus in seinem zweiten, späten Dialogwerk mit: Jacob Pontanus: Colloquiorum sacrorum libri quatuor, cvm notis […]. Augsburg 1609, Praefatio, S. )( 2v. Vgl. Masens Familiarium Fontes (1660), Praef.: „tum ut hac varietate oblectarem, atque ab illa avocarem levitate, ac petulantia, quae in familiares Congressus, quantumvis Christianorum hominum, sese ingerit, animumque juxta ac sermonem pestilenti quadam contagione inficit.“ Noch deutlicher wird Masen ganz am Ende seiner Vorrede: Er stelle sich mit seinem Werk gegen ein Scherzen, das „inurbane“ (unstädtisch, unfein, unerzogen) sei, und ein Beisammensein, bei dem es allzu „dissolute“ (freizügig, zügellos, unbeherrscht) zugehe mit der Folge, dass die Teilnehmer nicht ohne seelische Wunden blieben. In dieselbe Richtung zielt die beabsichtigte Verdrängung unanständiger Bücher; vgl. ebd.: „tum denique ut hos excuterem e manibus libros, qui inter jocos salesque inverecundos Veneris spargunt lenocinia, proborum hominum ac Principum, statuumque in vita Christiana diversorum famam existimationemque vulnerant.” Mit dieser Ausgrenzung des beißenden Humors formuliert Masen eine kommunikationstheoretische Einsicht von bleibendem Bestand. Vgl. aus der Gegenwart Karyn Ruth White und Jay Arthur: The Seventh Sense. How to Think Like A Comedian. Denver 2006, S. 21–23: „There is a lot of confusion about exactly what humor is and is not. Humor can be used positively, or it can bei used as a sword. We live in a world in which many comedians use humor as a sword rather than as an olive branch. We are subjected to a lot of vulgar humor in Western society. A lots of anger is masked as humor. Anger and hostility masked as humor are a coward’s way of dealing with life. After all, rudeness is just a weak person’s attempt at strength. […] Effective humor is not about one-upping another person, nor is it about becoming the victim. It’s about healing the situation and connecting with the other person. If you can use humor in a goodhearted way, people are more likely to accept what you have to say. They can hear your message without feeling like they’ve lost a part of themselves in the process. That is hugely powerful. Humor, in its highest form, should always be a point of connection between people. Humor should be a path to healing. In our book, humor is always defined as a good-hearted and loving (sometimes mischievous) attempt to connect people through common experience and humanity.“

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werden, die dem Ziel der geistig-seelischen Erholung von den Anstrengungen des Arbeitens bzw. Studierens bestmöglich dienen und zugleich das Lateinische als Umgangssprache der Gebildeten und ein anstandsgemäßes geselliges Verhalten einüben.16 Den Gesichtspunkt der Erholung (recreatio) stellt das Werk schon mit seinem Titel heraus. Die Verbindung honesta recreatio („anstandsgemäße Erholung“) im Titel der Erstauflage von 1649 ist wohl das Echo einer Formulierung in der Ratio Studiorum, also der seinerzeit maßgeblichen Schulordnung des Jesuitenordens.17 In der erweiterten Auflage von 1660 wird diese Verbindung zur Formel erudita & honesta recreatio („gebildete und anstandsgemäße Erholung“) ausgebaut.18 Mit „gebildet“ soll wohl nicht nur auf das Medium des Lateinischen angespielt werden und den beschriebenen, stets den Anstand wahrenden Habitus, sondern auch auf den Bildungswert der kleinen Redegattungen (siehe unten), über deren optimalen Einsatz in der Konversation das Werk anhand vieler kommentierter Beispiele unterrichtet. Auch in dieser Hinsicht hat Masen offenbar in erster Linie Gebräuche und Regeln im Blick, welche die Ratio Studiorum behandelt.19 16 Vgl. die Metaphern, welche Masen zur Verdeutlichung seines Konzeptes maßvoller Entspannung verwendet; Masens Familiarium Fontes (1660), l. I, c. III, S. 8: „Laxetur quandoque arcus, ne constanti rigore languescat; sed chorda solvatur, non dissiliat.“ Zu Deutsch: Der Bogen soll zuweilen entspannt werden, damit er nicht durch die beständige Spannung ermüdet; die Darmsaite aber soll gelöst werden, nicht jedoch zerspringen. Eine vergleichbare Funktion erfüllen im frühneuzeitlichen Universitätsbetrieb etwa die Quaestiones quodlibetales. Vgl. dazu Johannes Klaus Kipf: „Ludus philosophicus. Zum medialen Status der akademischen Scherzreden des 15. und 16. Jahrhunderts“, in: Marion Gindhart und Ursula Kundert (Hg.): Disputatio 1200–1800. Form, Funktion und Wirkung eines Leitmediums universitärer Wissenskultur. Berlin u.a. 2010, S. 203–230. 17 Vgl. Pachtler (Hg.): Ratio Studiorum. 1. Bd. Berlin 1887, S. 234–481, hier: 266 (Regulae Praepositi Provincialis, Nr. 37 § 10), Übers. nach S. 267: „Wöchentlich sei wenigstens ein Tag für die Erholung [quies] bestimmt. […] Fällt […] ein Festtag in die Woche […] und an diesem Tag keine Predigt, also hinlänglich Zeit für eine anstandsgemäße Erholung [honesta recreatio] ist, so wird an keinem Wochentag gefeiert […].“ Zum Begriff recreatio (Erholungszeit) neben vacatio (Ferienzeit) vgl. Ratio Studiorum, S. 268/270 (Regulae Rectoris, Nr. 8), Übers. nach S. 269/271: „8. Er wache über die genaue Einhaltung der üblichen lateinischen Umgangssprache unter den Scholastikern; von dieser gesetzlichen Vorschrift des Lateinsprechens sollen nur die Vakanztage [vacationum dies] und Erholungsstunden [recreationis horae] ausgenommen sein, wenn der Provinzial nicht in einigen Gegenden es für gut befindet, daß auch an solchen Tagen der Gebrauch des Lateinsprechens beizubehalten sei.“ Vgl. auch den Überblick bei Georg Mertz: Die Pädagogik der Jesuiten nach den Quellen von der ältesten bis in die neueste Zeit. Heidelberg 1898, S. 155f. Nach Titel und Inhalt kommt als weitere Anregung auch die erstmals 1648 in Köln erschienene Anekdotensammlung Democritus Ridens Sive Campus Recreationum Honestarum Johann Peter Langes in Betracht (VD17 3:306316H, urn:nbn:de:gbv:23-drucke/144-17-eth-1s8). 18 Vgl. das Titelblatt dieser Ausgabe, hier Anm. 5. 19 Vgl. zumal zur Behandlung der kleinen Gattungen usw. an Ferientagen die Ratio Studiorum, S. 410, § 15, Übers. S. 411: „Zur Beförderung des gelehrten Wissens mag man bisweilen an Ferientagen statt des Geschichtsschreibers andere fernerliegende Dinge vornehmen, z.B. hieroglyphische Zeichen, Embleme, Fragen über die Theorie der Dichtkunst: Epigramm, Grabschrift, Ode, Elegie, […] u.a. dgl., jedoch mit Maß.“ Vgl. auch a.a.O., S. 412, § 18; 418, § 2.

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Als erfahrener Pädagoge weiß Masen, dass das gewünschte gesellige Verhalten sich nur dann erfolgreich einüben lässt, wenn das offenbar allzu menschliche Vergnügen an Geschwätz und Scherzen auf Kosten anderer nicht humorlos-frostig abgetötet, sondern behutsam kanalisierend in ein ähnlich intensives Vergnügen transformiert wird, das sich seinerseits mit den Regeln des Anstands vereinbaren lässt (voluptas honesta).20 Wie schon Pontanus lässt sich Masen dabei von der zumal in Italien blühenden höfischen Konversationskunst und Anstandslehre anregen,21 ferner von der aristotelisch inspirierten ethischen Konzeption eines erstrebenswerten Mittleren zwischen mängelbehafteten Extremen,22 nicht zuletzt aber von Dialektik und Rhetoriktheorie, wie sie etwa bei Cicero zu finden ist.23 Gerade die kleinen Redegattungen kommen nun kraft der einigermaßen universal gültigen Beobachtung ins Spiel, dass sich Menschen nur zu gerne durch das anregen oder auch mäßigen lassen, was im heiteren Plauderton oder auch dialogisch-dramatisch daherkommt, gewürzt mit Witz (sal), erheiternden Anekdoten (facetiae) oder auch als 20 Vgl. Masen: Familiarium Fontes (1660), l. 1, S. 1: „Quos argutae urbanaeque, cùm dictionis, tum actionis fontes, superioribus repertos annis, ad publicum usum excitaveram; ut familiaris hominum vita & conversatio ad honestam instrui formarique voluptatem posset.“ 21 Pontanus greift seinerseits zurück auf Baldassare Castiglione und Giovanni Gioviano Pontano. Vgl. Bauer: Jesuitische Ars, S. 296: „Ohne Rekurs auf die Renaissancetheorie der gesellschaftlichen Unterhaltungskunst und des geistreichen Gesprächs in der Tradition von Baldassare Castiglione (1478–1529) und Pontano wäre Jacob Pontanus’ Wertschätzung der ‚mores elegantes‘ im Vergleich zu den traditionellen christlichen Tugenden kaum erklärbar. Die Konversationstugenden des guten Benehmens im Kreise einer Tischgesellschaft haben die ‚assiduitas usus‘ vor den christlichen Tugenden voraus, wenn auch magnanimitas, tolerantia, temperantia und aequalitas die bloßen ‚mores elegantes‘ an ‚nobilitas‘ und ‚excellentia‘ weit übertreffen.“ 22 Vgl. Masen: Familiarium Fontes (1660), l. I, c. III, S. 9: „Est modus in jocis adhibendus, quem qui assequitur, is urbanus festivusque, qui omnino respuit, agrestis & rusticus, qui excedit, levis ac scurrilis habetur. Cavendum quoque est, ne affectati nimium sales sint, ne frigidi, & sine omni lepore, magisque per vim accersiri, quam ex re ingenioque felice nati, haec enim non honestae tantùm voluptatis gustu destituuntur; sed molesto quodam fastidio excipiuntur: dum concitata exspectatio fallitur […].“ Zu Deutsch: „Beim Scherzen muß man Maß halten. Wer es einhält, gilt als Mann von städtischem Witz und unterhaltsam; wer sich gänzlich davon fernhält, als ungebildet und bäurisch; wer es übertreibt, als loser Spaßvogel. Auch muß man sich davor hüten, keine allzu affektierten Witze zu machen, noch auch allzu frostige, ohne Anmut und mehr bei den Haaren herbeigezogen als aus der Sache und Geistesgegenwart sich ergebend. Derlei Witzen fehlt nicht nur der Geschmack, den anstandsgemäßes Vergnügen bereitet, sie erzeugen (bei den Hörern) auch einen gewissen peinlichen Überdruß, insofern die geweckte Erwartung enttäuscht wird.“ Vgl. dazu Bauer: Jesuitische Ars, S. 298f. Symptomatisch ist auch Masens kriteriologisch-präzisierende Verbindung von venustas (feiner Witz) und argutia. Vgl. a.a.O., am Beginn der Praefatio: „Quidquid igitur mihi per varias historias oberranti venustum simul argutumque occurrit […] exhibui […].“ Zu Pontanus vgl. noch einmal Bauer, a.a.O., S. 296–298, bes. 299: „Pontanus versteht in der Vorrede zum ersten Band der ‚Progymnasmata‘ seinen Gesprächsstil, der an der attischen und plautinischen Komödie und den Dialogen Ciceros geschult sei, als ideales Mittelmaß zwischen zwei Extremen, der petulantia [Frechheit] und obscoenitas [Schlüpfrigkeit] des Erasmus und der oberflächlich witzigen Derbheit (rusticitas) und Possenreißerei (scurrilitas) der deutschen grobianischen Literatur, des ‚Markolf‘, ‚EulenSpiegel‘, ‚Rollwagenbüchleins‘ oder der Sammlung Johann Paulis, ‚Schimpf und Ernst‘.“ 23 Zu Masens Cicerorezeption vgl. bes. die Ars argutiarum (1660), p. I, § 3, S. 21f.

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Apophthegmen vorgetragen und mit großstädtischer Eleganz (urbanitas) oder auch scharf-sentenziös auf den Punkt gebracht.24 Bei Masen verknüpfen sich demzufolge drei Elemente zu einer pädagogischpoetologischen Konzeption: erstens das Streben nach einer voluptas honesta, zweitens der intensivierte Einsatz gerade kleiner Redegattungen und drittens die Frage nach der Rolle von Witz und Scharfsinn. Die kleinen Gattungen erscheinen in dieser Perspektive als ein Reservoir von Aussprüchen und Taten, die Scharfsinn (argutia) und Klugheit (sapientia) vorführen. Damit können sie nicht nur die gesuchte voluptas honesta provozieren,25 sondern, bei richtiger Auswahl und Übung, auch ethische und politische Bildung vermitteln.26 So sind sie für Masen auch ein geeignetes Übungsmaterial zur Vorbereitung auf die Erfordernisse der zeitgenössischen Gesellschaft und überhaupt des Feldes politischer Entscheidungen, welches nicht wenige Absolventen zeitgenössischer Jesuitenschulen als Betätigungsfeld erwarteten.27 24 Vgl. Masen: Familiarium Fontes (1660), l. I, c. I, S. 5: „Ad quod provocabunt vel argutè, vel sapienter simul ac lapidè dicentium, agentiumque non obscoena invitamenta, nec invenustae illecebrae. Curiosis jucundum dabitur ingeniorum pabulum; frigidis lectoribus aliquod legendi irritamentum, fatigatis, inter severiora studia, aliquis remissioris occupationis campus: otiosis labor minimè molestus subjicietur, quo fallant taedium.“ Zum Begriff und Bildungswert der kleinen Gattungen vgl. Manfred Fuhrmann: „Über kleine Gattungen als Gegenstand der Anfangslektüre“, in: Der altsprachliche Unterricht 18/5 (1975), S. 24–43. 25 Vgl. Masen: Familiarium Fontes (1660), l. I, c. I, S. 4f.: „Cum enim plerorumque mortalium ingenia, ad remissiora illa studia, quae sale, facetiis, atque urbanitate quadam aspersa sunt, propendeant, magisque arrectis haec animis excipiant, quàm quae cum severitate quadam ex disciplina Catonis, aut Heracliti cujuspiam profecta videntur: illorum, hac in re, propensa animi inclinatione utendum censui: ut quâ multos facillimè ad scurillitatis, ac levitatis vitia prolabi compertum est, eâdem illos ad honestae utilisque exercitationis otium inflecterem.“ Das betont auch schon Pontanus in der Praefatio der Progymnasmata (zit. nach der Ausgabe von 1619): „Illud alterum genus, liberale, elegans, vrbanum, ingeniosum, facetum, quod & in Plauto, & in antiqua Atticorum comoedia, & in philosophis Socraticis, qui eo etiam totos libros suos impleuerint, & in Apophthegmatis à Catone collectis valde commendauit Cicero […].“ 26 Vgl. Masen: Familiarium Fontes (1660), l. I, c. I, S. 5: „Vniversis palaestra quaedam historicae eruditionis aperietur, quâ animum tam instruendo reficiant, quam instruant reficiendo. Invenient enim in his argutè dictis factisque, quae mores Christiano & politico homine dignos excolant; quae vitia sapienter perstringant, errores corrigant; ad virtutem & honestatem invitent; animum quoque inter severiora laxent studia, & institutis jucundè symposiis ac conviviis serviant: eruditae denique ac familiari inter homines conversationi non injucundam materiam suppeditent. Quae ut assequaris plenius, & prudentem opportunumque in usum transferas, paulò de his prolixius erit disserendum.“ 27 Vgl. dazu bes. das vorletzte Kapitel des 1. Buches von Masens Familiarium Fontes unter der Überschrift (a.a.O., l. I, c. XXVI, S. 106: „Argutè dictorum factorumque magna vis ac facultas est, in consiliis ad omnem actionem persuadendis.“ Masen bringt hier eine Reihe von Beispielen, die illustrieren, wie in der Politik Klugheit und Scharfsinn Krieg und Verderben gerade dadurch verhindern können, zumal wenn sich der Scharfsinn auch in der Art der Formulierung niederschlägt. Vgl. etwa a.a.O., S. 111f.: „Fama apud Athenienses de Alexandri morte percrebuerat, ideoque prosiliebant in forum oratores qui populum ad inferendum properè Macedonibus bellum inflammarent. At Phocion consultò exspectandum esse suasit, dum certiora de morte perferrentur, nam, si hodie, inquit, mortuus fuit, cras etiam futurus est. Iure enim metuebat, ne, si vivum Alexandrum irritassent, illud exitio omnium fieret. Ita brevi argutoque dicto consilium complexus est, quo omnium Rhetorum pro bello, argumenta, sapienter discussit.“

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Zeitgenössische und moderne Beobachter sind sich darin einig: Die Argutia (acutezza, agudeza) ist – neben bzw. mit der Kürze (brevitas) – im ausgehenden 16., zumal aber im 17. Jahrhundert ein zentrales stilprägendes Element höfischer Konversation und Literatur sowie entsprechender pädagogischer und poetologischer Reflexionen.28 Auffälligerweise wird der Fürstenhof als bevorzugter Ort der Masen führt aber auch Beispiele an, in denen die Wirkung nicht allein auf einem ebenso knappen wie arguten Ausspruch beruht, sondern etwa auf einer Beispielerzählung, die ihrerseits gelegentlich von den Mitteln des Schwankes oder der Tierfabel Gebrauch machen kann, wie das folgende Beispiel zeigt (a.a.O., S. 107f.): „Maximilianum I. Romanorum Imperatorem Rex vicinus, adversus potentem quendam Principem, socium armorum invitabat, ea lege, ut illo victo profligatoque, ducatus opulentissimus cederet Imperatori. Sed hoc Apologo ipse usus, fedusque est aversatus. Tres, inquit, robusti in Germania juvenes, postquam in quadam caupona liberaliter indulsissent genio, jamque de symbolo agendum esset, cum hospite pacti sunt, ursi sese pellem, qui in vicinia damni plurimum dabat, pro solutione allaturos. Ad sylvam igitur profecti. Cúmque novitiis hisce Venatoribus sese versus fudisset obviam, adeò consternati sunt, ut in effusam sese fugam verterint. At illorum unus, ex fuga salutem desperans, pronus in terram, repentinam mortem simulabat. Adest mox ursus, exploratque odoratu hominem: num quod vitae argumentum supersit, quo non reperto, discessit. Hoc cum observassent socii, interrogant ad se reversum. quidnam auribus insusurrasset ursus? respondit: hoc monuit, ne posthac vendamus pellem, antequam capta sit fera. Ita Caesar incertum belli fructum, ex Duce nondum capto vanè sibi promitti, legatis hoc Apologo declaravit, & consilium sibi honestum, alteri etiam Regi salutare communicavit.“ 28 Die Präsenz der argutia ist schon rein quantitativ recht auffällig: Gut zwei Drittel der Kapitelüberschriften des ersten Buches der Familiarium Fontes von 1660 enthalten das Stichwort „argutia“ oder das zugehörige Adjektiv bzw. Adverb, das zweite Buch ist ihr ganz gewidmet. Nur eine zeitgenössische Stimme sei zitiert: „Schlichtheit ekelt unser Jahrhundert an und es verlangt stilistischen Glanz. Folglich hört es jetzt einen Redner gewöhnlich gar nicht mehr an, ja hält ihn nicht für würdig, das Licht zu sehen, falls er es nicht versteht, seiner Rede durch scharfsinnige Wendungen die geforderte spezielle Note zu geben.“ (Michael Radau: Orator extemporaneus, Leipzig 1664, S. 33f.; Übers. v. Autor) Für den tendenziell verderblichen Einfluss des neuen Stilideals auf Jesuitenschüler vgl. das warnende Rundschreiben des Jesuitengenerals Oliva vom 16. Januar 1676 (abgedruckt in Karl Kehrbach (Hg.): Monumenta Germaniae Paedagogica. 9. Bd. Berlin 1890, Nr. 54, S. 114f., bes. 114). In der Sekundärliteratur vgl. bes. Bauer: Jesuitische Ars, S. 321, unter Berufung zumal auf Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982, S. 220 und 225–229; ferner v.a. Baltasar Gracián: Agudeza y arte de ingenio. Edición, introducción y notas de Evaristo Correa Calderón. 2 Bde. Madrid 1969; eine integrale Übersetzung gibt es bislang nur ins Französische: Michèle Gendreau-Massaloux und Pierre Laurens (Hg.): La pointe ou l’art du génie. Artigues-prèsBordeaux 1983; eine deutsche Zusammenfassung bei Emilio Hidalgo-Serna: Das ingeniöse Denken bei Baltasar Gracián. Der „concepto“ und seine logische Funktion. München 1985; Renate Lachmann: „Rhetorik und Acumen-Lehre als Beschreibung poetischer Verfahren“, in: Johannes Holthusen (Hg.): Slavistische Studien zum 7. Internationalen Slavistenkongress in Warschau 1973. München 1973, S. 331–355; dies.: „‚Problematic Similarity‘: Sarbiewski’s Treatise De acuto et arguto in the Context of Concettistic Theories of the 17th Century“, in: Russian Literature 27 (1990), S. 239–252; Henry F. Fullenwider: „Die Rezeption der jesuitischen ‚argutia‘-Bewegung bei Weise und Morhof“, in: Klaus Garber (Hg.): Europäische Barock-Rezeption. Teil 1. Wiesbaden 1991, S. 229–238; Volker Kapp: Art. „Argutia-Bewegung“, in: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. 1. Bd. Tübingen 1992, Sp. 991– 998; Roland Bernecker: „Acutezza. Überlegungen zu einem Sprachphänomen des Barock“, in:

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Anwendung aber eher nur am Rande von Masen ins Spiel gebracht. Vielmehr zielt seine Grundlegung offenbar auf eine anthropologisch-zivilisatorische Konstante aller menschlichen Geselligkeit und das Umfeld einer vom christlichen Ethos geprägten Gesellschaft. Masens Konzeption ist demzufolge als offenbar gelungener Adaptionsversuch humanistischer Pädagogik an die Erfordernisse einer von höfischem Absolutismus geprägten Zeit anzusehen und liefert darum kein Indiz für eine „Isolierung der humanistisch-lateinischen Rhetoriktheorie von der politischen, sozialen Realität des 17. Jahrhunderts“.29 Harsdörffer, „der Spielende“ in der Fruchtbringenden Gesellschaft, „Quirinus Pegeús“ unter nom de plume,30 brachte 1655 unter dem Obertitel Ars Apophthegmatica jene „Kunstquellen Denckwürdiger Lehrsprüche und Ergötzlicher Hofreden“ heraus, deren 3000 Stücke Kürzestprosa auf über 600 Seiten Masens Ärger erregten.31 Die im Untertitel genannten Hofreden markieren schon einen wichtigen Unterschied zur Perspektive des Jesuiten, scheint es beim Nürnberger doch deutlicher Gabriele Berkenbusch u.a. (Hg.): Soziolinguistik und Sprachgeschichte. Querverbindungen. Tübingen 1994, S. 49–68; Dieter Breuer: „Ingenium, Phantasia, Argutia in jesuitischen Traktaten zur Dichtkunst“, in: Barbara Becker-Cantarino und Hartmut Laufhütte (Hg.): Künste und Natur in Diskursen der frühen Neuzeit. Wiesbaden 2000, S. 871–882; Piotr Urbański: Theologia fabulosa. Commentationes Sarbievianae. Szczecin 2000; Franz G. Sieveke: „‚Argutia‘ – ein rhetorischer Gag? Ästhetik und gelehrte Schreiberintention“, in: Peter Heßelmann (Hg.): ‚Das Schöne soll sein‘. Aisthesis in der deutschen Literatur. Bielefeld 2001, S. 57–72; Thorsten Burkard (Hg.): Jacob Balde. Dissertatio de studio poetico (1658). Einleitung, Edition, Übersetzung, Kommentar. München 2004, bes. Kap. 7 der Einleitung S. XXIII–XXXVI; Manfred Hinz: „Agudeza y Progymnasmata“, in: Hartmut Laufhütte und Michael Titzmann (Hg.): Heterodoxie in der Frühen Neuzeit. Tübingen 2006, S. 175–190; Reinhard Gruhl: „Topik und Argutia bei Masen“, in: Wissensformen. Akten des 6. Internationalen Barocksommerkurses der Stiftung Bibliothek Werner Oechslin (2005). Zürich 2008, S. 138–145; Thorsten Burkard: „Heteronomie und Autonomie von Dichtung. Jacob Masens und Jacob Baldes Barockpoetiken im Vergleich“, in: Ders. u.a. (Hg.): Politik – Ethik – Poetik: Diskurse und Medien frühneuzeitlichen Wissens. Berlin 2011, S. 119–145; Jarosław Nowaszczuk: „The Judas the Traitor Epigrammatic Cycle. Introduction into Jacob Masen’s Theory of the Argutia Sources“, in: Agnieszka Borysowska und Barbara Milewska-Waźbińska (Hg.): Poesis Artificiosa. Between Theory and Practice. Frankfurt am Main 2013, S. 45–63; Živilė Nedzinskaitė: „Zwei Dichter des 17. Jahrhunderts. Mathias Casimirus Sarbievius und Jakob Bidermann: Parallelen in der Literaturtheorie und in den Werken“, in: Raivis Bičevskis u.a. (Hg.): Baltisch-deutsche Kulturbeziehungen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Medien – Institutionen – Akteure. 1. Bd. Zwischen Reformation und Aufklärung. Heidelberg 2017, S. 465–484. 29 Zitat aus: Wilfried Barner: Barockrhetorik. Tübingen 1970, S. 154; vgl. a.a.O., S. 379. 30 Zur heute allgemein akzeptierten Identifikation des Pegeús als Harsdörffer vgl. Theodor Verweyen: Apophthegma und Scherzrede. Die Geschichte einer einfachen Gattungsform und ihrer Entfaltung im 17. Jahrhundert. Bad Homburg von der Höhe 1970, S. 136–139. 31 Hier zitiert nach dem modernen Reprint: Georg Philipp Harsdörffer: Ars Apophthegmatica. Das ist: Kunstquellen Denckwürdiger Lehrsprüche und Ergötzlicher Hofreden. 1. Bd. ND der Ausgabe Nürnberg 1655. Hrsg. u. eingel. v. Georg Braungart. Frankfurt am Main 1990; ders.: Artis Apophthegmaticae Continuatio. Fortgeleitete Kunstquellen Denckwürdiger Lehrsprüche und Erfreulicher Hofreden. 2. Bd. ND der Ausgabe Nürnberg 1656. Hrsg. u. eingel. v. Georg Braungart. Frankfurt am Main 1990.

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um die höfische Sphäre als Quelle und Ort scharfsinniger Aussprüche zu gehen. Ein Jahr später ließ er als „Fortgeleitete Kunstquellen“ 3000 weitere sinnreiche Aussprüche folgen. Nun sind Apophthegmen und Epigramme, um die es Masen ja wohl vor allem ging, an sich verschiedenen Gattungen zuzuordnen. Man denkt bei Apophthegmen sicher zuerst an Julius Wilhelm Zincgrefs Der Teutschen scharpfsinnige kluge Spruech (Straßburg, 1628 u.ö.), die der Heidelberger Jurist auch in zwei voluminösen Bänden herausgebracht und dadurch die schon antike Gattung für den deutschen Späthumanismus gleichsam wiederbelebt hatte.32 Tatsächlich gibt es Verbindungslinien zu Harsdörffer, hatte der doch bei Matthias Bernegger (1582–1640) in Straßburg studiert, der wiederum ein Freund und Briefpartner Zincgrefs war, welcher seinerseits nach seiner Flucht vor den kaiserlichen Truppen aus Heidelberg zeitweise in Straßburg gelebt hatte. Bei verschiedenen Gelgenheiten hat Harsdörffer mit Johann Michael Dilherr (1604–1669) zusammengearbeitet,33 der über Korrespondenz und gemeinsame Freunde, Opitz oder Rist, auch mit den Straßburgern in Kontakt stand. Insofern hängt diese neue Nürnberger Apophthegmatik sicherlich mit der älteren des Pfälzischen Späthumanismus zusammen. Aber Zincgref und seinem Freund und Nachfolger Johann Leonhard Weidner, der 1653 den dritten Band der Apophthegmata besorgte, ging es – typisch späthumanistisch – vor allem darum, eben deutsche Sprachgewandtheit und Scharfsinnigkeit herauszustellen, die sich mit den berühmten Aussprüchen antiker und rinascimentaler Größen messen, diese gar übertreffen konnte. Zincgref schreibt in seiner Vorrede ausdrücklich: Gestalt auch ebenmässig vnsere fromme vorältern/ […] bey diesen jhren kurtzen weisen Spruechen/ auffrichtiger/ redlicher sittsamer vnd Tugendeifferiger vnder einander gelebt/ als die Roemer vnd Griechen bey allen jhren weitläuffigen Rechten/ Gesetzen/ vnd Philosophirungen: Ja sie haben sich besser dabey befunden/ als wir jhre nachkommen selbst an itzo/ da Teutschland lauter voll Universiteten/ Disputationen/ geschicklichkeit/ Buecher/ Kunst und witz […].34

32 Sie liegen jetzt in der maßgeblichen kritischen und kommentierten Edition vor: Julius Wilhelm Zincgref: Apophthegmata teutsch. 1. Bd.: Text. 2. Bd.: Erläuterungen und Identifizierungen. Hrsg. von Theodor Verweyen u.a. Berlin u.a. 2011. – Zur Gattung ‚Apophthegma‘ vgl. Theodor Verweyen und Gunther Wittig: Art. „Apophthegma“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, 1. Bd., S. 106–108; jetzt v.a. Klaus Berger: Formen und Gattungen des Neuen Testaments. Tübingen 2005, S. 140–152; zudem Verweyens ausführliche Einleitung zu Zincgref: Apophthegmata teutsch, 1. Bd., S. 17–46. 33 Zu ihm vgl. Adalbert Elschenbroich: Art. „Dilherr, Johann Michael“, in: NDB 3 (1957), S. 717f.; Ferdinand van Ingen: „Johann Michael Dilherr (1604–1669)“, in: Udo Sträter (Hg.): Orthodoxie und Poesie. Leipzig 2004, S. 47–61, zur Zusammenarbeit mit Harsdörffer v.a. S. 57–60; über Dilherrs enges Verhältnis zu den Pegnitz-Schäfern allgemein Renate Jürgensen: „Johann Michael Dilherr und der Pegnesische Blumenorden“, in: Klaus Garber u.a. (Hg.): Europäische Sozietätsbewegung und demokratische Tradition. Die europäischen Akademien der Frühen Neuzeit zwischen Frührenaissance und Spätaufklärung. 2 Bde. Tübingen 1996, hier: 2. Bd., S. 1320–1360; John Roger Paas: „In Praise of Johann Michael Dilherr. Occasional Poems Written in 1644 by Sigmund von Birken, Georg Philipp Harsdörffer, and Johann Klaj“, in: Daphnis 21 (1992), S. 601–613. – Zu Dilherr als Theologen vgl. Gerhard Schröttel: Johann Michael Dilherr und die vorpietistische Kirchenreform in Nürnberg. Nürnberg 1962. 34 Zincgref: Apophthegmata teutsch, S. 11, 175–181 (orig.: S. b2r).

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Mag in der abschließenden Verlängerung bis in die Gegenwart auch ein didaktischer Nebensinn angedeutet sein, so sammelten späthumanistisch orientierte Kompilatoren zunächst einmal historische oder anekdotische, teilweise auch schwankhaft überlieferte Bonmots vor allem (aber nicht nur) scharfsinniger Deutscher. Ordnungsprinzipien bei der Präsentation dieses Materials vermisst man oft. Weidner teilt die schlagfertigen Antworten seines dritten Bandes immerhin nach „Lehrstand“, „Wehrstand“ und „Nährstand“, Frauen, Narren, (calvinistischen) Märtyrern etc. ein.35 Man merkt: Die Kompilatoren orientieren sich vornehmlich an den Urhebern der scharfsinnigen Aussprüche, laufen gewissermaßen der ApophthegmenProduktion nach, um einen historischen Stand zu beweisen. Bereits an diesem Punkt der Anordnung grenzt der Nürnberger seine Darstellung gegen diverse frühere Versuche ab, deren Autoren ihre Werke entweder nach Personengruppen (hier wird ausdrücklich Zincgref genannt),36 nach Inhalten, nach Sprachen oder überhaupt nicht erkennbar geordnet hätten.37 Dagegen wählt er eine rhetorisch systematisierende Anordnung seines Gegenstandes und nutzt die im Werk allgegenwärtige Metaphorik von Quelle und Fluss. In der deutschen Leservorrede erklärt Harsdörffer, er habe Anlaß genommen/ die gantze Kunst in ihren fontes oder Quell-Bronnen/ die Plutarchus „πλάσματα τῶν λóγων“ nennet/ einzutheilen/ und solche mit ihren ueber-reichen Fluessen/ zu mehrerm Nachsinnen/ wolmeinend anzuweisen; weil sonderlich auch Salomon das „Wasser der Weißheit“ und die „Klugheit“ einen „Lebendigen Bronnen“ (Prov. 16,32) nennet.38

Wie es im Kontext seiner Themenstellung zu erwarten ist, bezieht sich Harsdörffer einerseits auf Plutarch als antike Autorität der Memorabilien-Sammlung sowie andererseits auf Salomon, der als Verfasser der Proverbia analog als biblische Referenzgröße für scharfsinnige Aussprüche gelten kann. Masens Fontes nennt er bezeichnenderweise nicht. Obwohl Harsdörffer also nur zwei, drei Jahre nach Weidner seine eigene Sammlung herausgibt, geht es ihm um etwas ganz anderes. Seine „Kunstquellen“ sollen eben nicht nur einen historisch erreichten Stand der (überdies für Harsdörffer 35 Vgl. Johann Leonhard Weidner: Teutscher Nation Apophthegmatum, Das ist/ Deren in den Teutschen Landen/ Wehr- Lehr- Nehr- Weiberstandts Personen/ Hof- und Schalcksnarren/ Beywoerter/ sambt anhang etlicher Außlaendischer Herren/ Gelaehrter und anderer/ auch Außund Inlaendischer Maertyrer/ Lehrreicher Spruech/ Anschlaeg/ Fragen/ Gleichnuessen […]; Dritter Theil/ Auß allerhand Schrifften/ Mittheilungen anderer Leuth/ Taeglicher anhoer- und anmerckungen zusamen getragen […]. Leiden 1644. 36 Genannt wird er neben vielen anderen, aus der Antike u.a. Plutarchs Apophthegmata, aus Renaissance und Humanismus u.a. Conrad Lycosthenes (Exilium Melancholiae, 1643), Erasmus’ Adagia, Thuningius’ Apophthegmata Graeca, Latina, Italia, Gallica, Hispanica, Guicciardini, Domenichi und Carvacho. 37 Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., Einleitung, S. [):( 8r], § 9. 38 Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., Einleitung, S. [):( 8v], § 10. In Harsdörffers Text stellt Fraktur die Normalschrift dar, was hier nicht nachgeahmt werden kann. Hier und in den folgenden Zitaten gilt: Wo Harsdörffer Antiqua benutzt, wird kursiviert, wo er Fettdruck verwendet – mit dem er, nicht durchgängig, aber signifikant häufig, ein wörtliches Zitat ausweist – wird der Text durch doppelte Anführungszeichen eingeschlossen.

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beileibe nicht nur deutschen) Scharfsinnigkeit dokumentieren, sondern aus ihnen sollen die Zeitgenossen auch weiterhin Apopththegmata „schöpfen“ können. Auch hier gibt ein Passus, diesmal aus der lateinischen Vorrede an den „gebildeten“ Leser, deutlich Auskunft, wenn der Autor festhält, dass der einzig(artig)e Zweck des Apophthegmas der sein muss, dass es die Lebensklugheit fördert und das Gespräch bereichert, sowie dass es die Gemüter der Zuhörer mit anständigem und gefälligem Scherz erheitert, ohne dass jemand böse verspottet wird; und durch solche Pointe erhalten die Spiele der feinen Lebensart nicht den geringsten Platz unter den zur Predigt gehörenden Tugenden.39

Der abschließende Verweis auf die virtutes homileticae könnte befremden, dient aber dazu, die moralische Unbedenklichkeit dessen, was Harsdörffer in den Grenzen des Anstandes gelten lässt, zu unterstreichen. Wichtiger sind zwei Stichwörter: erstens sermo, das zwar auch einfach „Rede“ bedeuten kann, hier aber sicher auf ein Gespräch zielt; zweitens urbanitatis lusus. Harsdörffer hat die spielerisch-gesellige conduite einer Großtadt, der Reichsstadt Nürnberg nämlich, vor Augen, zu deren Oberschicht er gehörte und deren halb landadeligen Lebensstil er teilte: Just 1655 wurde er in den inneren Rat der Stadt gewählt. In seinen ab 1641 erscheinenden, allerlei Künste und Wissenschaften aufbereitetenden Frauenzimmer Gesprächspielen (8 Bde., mehrere Auflagen bis 1657) hat er selbst dieser sozialen Praxis einen wie auch immer fiktionalisierten Grund gelegt. Der Zweck des Apophthegmas liegt in der pointierten und didaktischen („Lebensklugheit“) Anreicherung des geselligen Gesprächs – etwa bei Tisch40 oder anderswo. Somit dürfen die von Harsdörffer urbanisierten „Hofreden“ seiner Sammlung nicht nur historisch oder antiquarisch interessantes Material bieten, sondern müssen auch Handreichungen zur Bildung solcher scharfsinnigen Sprüche bereitstellen. Folgerichtig ordnet er sie nicht historisch nach ihren Urhebern, sondern poetologisch nach ihren Bau- und Erscheinungsformen, eben besagten „Kunstquellen“ an, nach denen jeder Leser selbst Geistreiches „in Reden und Schreiben zu Wercke bringen“ kann.41

39 Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 2. Bd., Praemonitio ad eruditum lectorem, S. 44: „[vel ut doceant], hoc enim Apophthegmatis singularis munus esse debet, ut vitam instruat, & sermonem illustret, vel ut animos audientium honesto & lepido joco, citra cujusvis ignominiam exhilaret; hocque puncto Urbanitatis lusus, inter Virtutes homileticas, non infimum sortiuntur locum.“ 40 Vgl. Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., Zuschrifft, S. ):( 4r. 41 Zitate aus Harsdörffers deutscher Vorrede, in: Ders.: Ars Apophthegmatica, S. 43, § 100; vgl. Braungarts Einleitung a.a.O., S. 15. – Vor allem auf die schriftliche Textproduktion, ja auf eine Poetik der Prosa hin deuten die Ars Apophthegmatica Georg Braungart: „Ein Ferment der Geselligkeit. Zur Poetik des Apophthegmas“, in: Wolfgang Adam und Knut Kiesant (Hg.): Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter. 2 Bde. Wiesbaden 1997, 1. Bd., S. 464–472, sowie Thomas Althaus: „Eine ,artem Apophthegmaticam (wie ars Poetica, Oratoria)‘ haben – Harsdörffers kompilatorische Arbeit an einer Prosapoetik des Barock im Klärungsbereich der Breviloquenz“, in: Ders. und Nicola Kaminski (Hg.): Spielregeln barocker Prosa. Historische Konzepte und theoriefähige Texturen ‚ungebundener Rede‘ in der Literatur des 17. Jahrhunderts. Bern u.a. 2012, S. 281–308, v.a. 291–305.

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Wie Masen ordnet sich Harsdörffer damit in eine rinascimental-humanistische Tradition ein, gemäß der Bildung sich im geselligen Gespräch vollzieht. Wie so oft in der Frühen Neuzeit, waren auch auf diesem Feld die Italiener Vorreiter. Schon in Baldassare Castigliones Libro del Cortegiano (1528) finden sich Ausführungen zum Wissenserwerb durch Konversation, und knapp fünfzig Jahre später versichert sein Landsmann Stefano Guazzo: Außerdem sage ich euch, dass es falsch wäre zu glauben, Wissen lasse sich besser in Einsamkeit über den Büchern erwerben als im Gespräch mit gelehrten Männern, denn der Versuch zeigt, dass man Wissen besser vermittels der Ohren als der Augen aufnimmt […] und dass man durch die Ohren die lebendige Stimme hört, die sich mit wundersamer Macht dem Geist eindrückt.42

Solche empirisch gewonnene Impressionstheorie wurde in ganz Europa in dem Maße einflussreich, wie Castiglione und Guazzo übersetzt, rezipiert und zu Vorbildern genommen wurden, auch in Deutschland.43 Was bei den beiden Italienern aber noch in die hierarchisch strukturierte Sphäre eines Fürstenhofs eingebettet war, wurde von den rinascimentalen Akademien zum gelehrten und höflichen Gespräch unter Gelehrten umgemünzt. Bezeichnend für die Lehrhaftigkeit, mit der ein Bildungsmodell aus Konversationstechniken entwickelt wurde, kann die lateinische ‚Übertragung‘ von Guazzos La Civil Conversazione gelten, die der Jenaer Professor für Poesie und Geschichte Elias Reusner (1555–1612) 1606 herausbrachte.44 Dabei „entkernte“ Reusner das Werk des Italieners insofern, als er die Dialogform zunächst ganz aufgab und die

42 Stefano Guazzo: La civil conversazione. Hrsg. von Amedeo Quondam. 2 Bde. Modena 1993, S. 30. Einen guten Überblick über die europäische Höflichkeits-, Konversations- und angrenzende Literatur bietet die Bibliographie des traités de savoir-vivre en Europe du Moyen âge à nos jours (Hrsg. von Alain Montandon. 2 Bde. Clermont-Ferrand 1995). 43 Zu Castiglione vgl. Peter Burke: The Fortunes of the Courtier. The European Reception of Castiglione’s “Cortegiano”. Cambridge 1995, S. 55–80, v.a. 64f. und 69f., sowie die Übersicht S. 158–162; eine knappe, aber profunde Übersicht über Tendenzen frühneuzeitlicher Hofliteratur im Anschluss an Castiglione bietet Claus Uhlig: „Moral und Politik in der europäischen Hoferziehung“, in: Rudolf Haas u.a. (Hg.): Literatur als Kritik des Lebens. Heidelberg 1975, S. 27–51. Zu Guazzo vgl. Emilio Bonfatti: La „Civil Conversazione“ in Germania. Letteratura del comportamento da Stefano Guazzo a Adolph Knigge 1574–1788. Udine 1979; vgl. auch Rosmarie Zeller: „Das Gespräch als Medium der Wissensvermittlung“, in: Thorsten Burkhard u.a. (Hg.): Natur – Religion – Medien. Transformationen frühneuzeitlichen Wissens. Berlin 2013, S. 229–247, hier v.a. 229–231; Italo Michele Battafarano: „Die Frau als Subjekt der Literatur: Harsdörffer auf den Spuren der Intronati, Incogniti, Oziosi“, in: Ders. (Hg.): Glanz des Barock. Forschungen zur deutschen als europäischer Literatur. Bern 1994, S. 117–136, hier: 134f. Harsdörffer selbst übersetzte bekanntlich Eustache de Refuges ähnlich gelagerten Traicté de la Cour (1616) als Kluger Hofmann (1655). 44 Vgl. Stefano Guazzo: De civili conversatione dissertationes politicae enucleatae, repurgatae, locupletatae, Synopsi insuper et Oeconomia quadam illustratae […]. Cum eiusdem Guazzi Convivio Casalino civilis conversationis formam repraesentante […]. Jena 1606. Reusners ‚Übertragung‘ wurde bis 1673 noch dreimal nachgedruckt. Zum Autor vgl. Jost Eickmeyer: Art. „Reusner, Elias“, in: Wilhelm Kühlmann u.a. (Hg.): Frühe Neuzeit in Deutschland 1520– 1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon. 5. Bd., Berlin u.a. 2016, Sp. 245–259.

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ersten drei Bücher in fünf dissertationes nach einem Frage-Antwort-Schema umformte, die inhaltlich grob Guazzos Text entsprechen, jedoch teils deutlich konzentriert, teilweise erweitert und verändert wurden. Das vierte Buch wird zum Convivium Casalinum, in dem Reusner gewissermaßen die Dialogform nachliefert, wobei er den gesamten Text zusätzlich durch Register, detaillierte Inhaltsverzeichnisse und ramistische Schemata erschließt. So entsteht ein Lehrbuch über Höflichkeitsund Gesprächskultur, das die deutsche Rezeption der Civil Conversazione lange prägen sollte.45 Und obgleich Reusners Lehrbuch in dezidiert akademische Kontexte gehörte,46 orientierten sich an den darin formulierten Paradigmen eines höflichen Gesprächs im 17. Jahrhundert die Fruchtbringende Gesellschaft oder die Deutschgesinnte Genossenschaft. Noch an Harsdörffers Frauenzimmer Gesprächspielen ist die Kenntnis von Reusners Guazzo-Bearbeitung abzulesen.47 Freilich disputierten die Kandidaten an den Universitäten weiter, die Studenten hörten Vorlesungen und besuchten Collegien. Doch schon der erwähnte Jacob Pontanus nutzte das Genre der dialogischen Progymnasmata, weil er als gewiefter Didaktiker der Überzeugung war: Die Begierde zu hören […] erregen nun vor allem sehr kurze und reizende Erzählungen, hinzugesetzte Sprichwörter, ausgewählte Apophthegmata, scharfsinnige Aussprüche, angenehme Erfindungen, durchsetzt mit Scherzen von jeder Art des Witzigen und schließlich dergleichen anderes, das auch den Verstand der Kinder, nicht nur den der Erwachseneren anlockt.48

Das gesellige Gespräch blieb in der Jesuitenschule allerdings programmatisch auf die freie Zeit zwischen den Unterrichtseinheiten beschränkt, und die Schüler sollten sich in Pontanus’ knappen Dialogen mit meist religiösem Sinn auf spielerische Weise in der Beherrschung des Lateinischen fortbilden. Das angeregt-lockere Gespräch über allerhand wissenswerte Gegenstände verfing bei einem anderen Publikum als Schülern, Studenten und Professoren. Harsdörffer hatte schon in seinen großen Kompilationen, dem Schau-Platz Jämmerlicher Mord-Geschichte und dem Grossen Schau-Platz Lust- und Lehrreicher Geschichte ausgiebig aus französischen, italienischen und spanischen Quellen geschöpft,49 und so konnte er in den Gesprächspielen mühelos an die romanische Tradition der höfischen und akademischen geselligen Konversation der Castiglione, Guazzo – und in seinem Discreto auch Gracián – anschließen. Bündig formuliert er, für wen diese Art des höflichen Gesprächs gedacht sei:

45 Vgl. Bonfatti: La „Civil Conversazione“, S. 110–119 und 162–166. 46 Es ist bezeichnend, dass Reusner seiner Guazzo-Version zwei Disputationen seines Schülers Thomas Sagittarius beigibt, die dieser bereits 1600 in Jena zum Thema Konversation gehalten hatte: Reusner in Stefano Guazzo: De civili conversatione, S. 519–608. 47 Den Nachweis führte Bonfatti: La „Civil Conversazione“, S. 135. 48 Jacob Pontanus: Progymnasmatum latinitatis sive dialogorum volumen primum cum annotationibus de rebus litterariis. Ad vsum Scholarum Humaniorum Societatis Iesu. Ingolstadt: Sartorius, 1588, Praefatio, S. [)( 8v]f.; lat. zitiert bereits oben, Anm. 11. 49 Zeller: „Das Gespräch“, S. 235 und 245–247.

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Wer aus Noth/ sich auf eine Haubtwissenschaft begibt/ muß seinen Fleiß anderst [sic!] anwenden/ als der/ welcher zum Lust studiret/ was ihm beliebet/ und begierig ist von allen fremden Sachen einen Bericht zu haben/ und solchen andern mitzuteilen.50

Mit gutem Grund wird hier die Kommunikation dieses interessierten Laien, des „Dilettanten“ im Wortsinne, ausschließlich mündlich vorgestellt. Zugleich sind die Dilettanten, anders als die schnell unter Pedanterie-Verdacht geratenden Universitätsgelehrten,51 nicht auf Spezialisierung in einer Fachdisziplin angewiesen, sondern wollen „von allen fremden Sachen“ etwas wissen. Schon Zincgref hatte ja den etablierten, aus der Antike überkommenen Fachwissenschaften misstraut und deutsche Tugend und Redlichkeit gerade aus den scharfsinnigen Aussprüchen der Vorfahren hergeleitet.52 Zum Kreis dieser ‚aus Lust‘ Studierenden gehörten (bereits an den italienischen Akademien) Frauen, meist Adlige, universitär ungebildet und oftmals mit schütteren Lateinkenntnissen, die gesprächsweise gleichermaßen unterhalten wie belehrt werden wollten.53 Auf einen derart gemischten Leserkreis stimmt Harsdörffer seine Frauenzimmer Gesprächspiele ab. In diesem thematisch denkbar bunten Werk betreiben ein Spielleiter und männliche wie weibliche Gesprächspartner, allesamt dem ehrbaren Bürgertum zugehörig wie ihre französischen Vorläufer, die honnêtes gens, unter erfundenen Gesellschaftsnamen Konversation. Und genau für solche Konversation stellen scharfsinnige Apophthegmen die Würze dar. Hat Harsdörffer das Gewürz aber nun bei Masen entwendet oder nicht? – Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, sind Masens und Harsdörffers systematische Zugriffe auf Argutia genauer in den Blick zu nehmen. 2. MASENS UND HARSDÖRFFERS TOPISCH-SYSTEMATISCHE UND DIDAKTISCHE AUFBEREITUNG(EN) DER ARGUTIA Hauptelemente von Masens Argutia-Begriff sind das Überraschung auslösende Unerwartete in Verbindung mit einem einsichtigen Grund („cum ratione“54), der als entdeckter Hintersinn dem Überraschungseffekt des Unerwarteten Substanz gibt.

50 Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer-Gesprächspiele. 8 Teile. ND der Ausgabe Nürnberg 1644–1649. Hrsg. v. Irmgard Böttcher. Tübingen 1969, hier: 8. Teil, S. 36, Vorrede, § 10. 51 Vgl. dazu Kühlmann: Gelehrtenrepublik, summarisch S. 14–16 und ausführlich S. 288–319 sowie speziell zu Harsdörffers Kritik an schulmeisterlicher Pedanterie S. 382–393. 52 Vgl. etwa seine Vorrede in Zincgref: Apophthegmata teutsch, S. 12f., Z. 230–253. 53 Italo Michele Battafarano: Die Frau als Subjekt; Rosmarie Zeller: „Die Rolle der Frauen im Gesprächsspiel und in der Konversation“, in: Geselligkeit und Gesellschaft. 1. Bd., S. 531–541; dies.: „Frauenbildung als Männerideal in der Frühen Neuzeit“, in: Catherine Bosshart-Pfluger u.a. (Hg.): Geschlecht und Wissen – Genre et Savoir – Gender and Knowledge. Zürich 2004, S. 133–142. 54 Siehe unten das Zitat in Anm. 57.

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Masen beansprucht, erstmalig55 die allem Anschein nach vollständige56 Reihe der formalen Möglichkeiten aufgespürt zu haben, in denen sich Argutia artikuliert, im Gegenteiligen nämlich, im Befremdlichen, im Verglichenen und im Angespielten, vier Möglichkeiten („Quellen“) also, die jeweils noch eine Reihe von besonderen Erscheinungsformen oder Untervarianten („Quelladern“) zeigten.57 Neben dem Überraschungseffekt nennt Masen an anderer Stelle noch den Effekt der Bewunderung, der sich dann einstellt, wenn sich den Zuhörern oder Zuschauern besagter

55 Dieser Anspruch wird bereits mit dem Werktitel herausgestellt: Masen will eine „nova ars“ (ein neuartiges Lehrstück) liefern; dazu gleich mehr. Vgl. Bauer: Jesuitische Ars, S. 297: „Während Jacob Masen in seiner ‚Ars nova argutiarum‘ und in den ‚Familiarium argutiarum fontes‘ eine Systematik für die inventio von witzigen, unterhaltsamen Tischgesprächen entwickelt, begnügt sich der Augsburger Pädagoge noch mit allgemeinen Ratschlägen […].“ Zum Anspruch der ‚Neuheit‘ v.a. in den Wissenschaften des 17. Jahrhunderts vgl. Lynn Thorndike: „Newness and Craving for Novelty in Seventeenth-Century Science and Medicine“, in: Journal of the History of Ideas 12 (1951), S. 584–591. 56 Zum Anspruch der Vollständigkeit als Teil des Ars-Anspruchs vgl. Gruhl: „Topik“, S. 140; vgl. auch hier weiter unten anlässlich des Plagiatvorwurfs gegenüber Harsdörffer. 57 Masen integriert in diesem Kontext die Eigenschaft der Kürze in seine Argutia-Definition; vgl. ders.: Familiarium Fontes (1660), l. II, c. I, S. 122: „Est brevis quaedam animi sententia, aut verbis solis, aut factis simul verbisque explicata: quae aliquid, cum ratione, praeter opinionem adfert; quod vel oppositum sit, vel alienum, vel comparatum, vel alludens, vel pluribus horum exspectationem superat.“ Zu Deutsch: „Es handelt sich um eine kurz gefaßte Idee, die entweder nur durch Worte oder gleichermaßen durch Taten und Worte kundgetan wird (und) etwas verbunden mit einem einsichtigen Grund wider die landläufige Meinung, das als Gegenteiliges, Fremdes, Verglichenes, Anspielendes oder mehreres davon Umfassendes die Erwartung übertrifft.“ Zur brevitas vgl. Jeroen Jansen: Brevitas. Beschouwingen over de beknoptheid van vorm en stijl in de renaissance. Hilversum 1995; Wilhelm Kühlmann: „Brevitas und politische Rhetorik. Anmerkungen zur stilistischen Pragmatik des 17. Jahrhunderts“, in: Jochen A. Bär u. a. (Hg.): Sprachliche Kürze. Konzeptuelle, strukturelle und pragmatische Aspekte. Berlin u.a. 2007, S. 89–101. Vgl. auch die, die Kürze aussparende, Beschreibung in Masen: Ars argutiarum (1660), p. I, c. II, art. 1, S. 10: „Generalissima argutiarum descriptio est: praeter, aut contra exspectationem allata, vel conclusio, vel sententia. non quaevis tamen: sic enim ubique ferè stulti epigrammata conderent. sed quae rationis nitatur adminiculo, ac recepto aliquo loquendi usu. Quod fiet, si, vel caussam [sic] tibi inexspectatam alicujus effati, facti, aut cujusque rei Poeta afferet […].“ Zu Deutsch: „Im Sinne einer allgemeinsten Beschreibung handelt es sich bei der ‚Scharfsinnigkeit‘ um einen Schluss oder einen Gedanken, der jenseits der Erwartung oder ihr entgegen eingeführt wird – doch nicht jeder beliebige, denn dann könnten beinahe allerorten (auch) Dummköpfe (kunstgerechte) Epigramme machen, sondern einer, der sich auf einen einsichtigen Grund stützt und irgendeine gängige sprachliche Form angenommen hat.“ Dass sich Argutia auch averbal zeigen könne, also etwa durch eine Tat oder ein Verhalten, betont Masen und verweist dafür auf seine Behandlung von Komödie und Tragödie in einem anderen Lehrbuch. Vgl. Masen: Familiarium Fontes (1660), c. VI, fons IV, ven. I, S. 121f. und den 3. Teil von Masens Palaestra eloquentiae ligatae. Masen behandelt auch mögliche Mischformen; vgl. Buch 2, Kap. 6 und 7 der Familiarium Fontes von 1660.

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Grund erschlossen hat und damit zugleich die Geistesschärfe des Urhebers der Argutia, die den Grund eher und schneller aufzuspüren und aufzudecken vermochte als das Publikum.58 Es muss hier genügen, diese viergeteilte Topik mit je einem kommentierten Beispiel vorzuführen.59 Die erste ‚Quelle‘ definiert Masen als „Gegensätzliche Bestimmungen“ (repugnantia) und die erste ‚Quellader‘: „Gegensätzliche Bestimmungen können im Rahmen einer scharfsinnigen Kombination einer identischen Sache zugleich entweder zu- oder abgesprochen werden.“60 Ein Beispiel: Auch Sieger erleiden einen Verlust. Nachdem Pyrrhus, der König der Epiroten, in zwei Schlachten gegen die Römer zwar gesiegt, doch zugleich eine Vielzahl seiner Heerführer verloren hatte, rief er aus: Geradezu besiegt werden wir (selbst) sein, sollten wir die Römer in einer dritten Schlacht auf diese Weise (noch einmal) besiegen.61

Das Endergebnis einer Kampfhandlung wird hier in einem Atemzug als Sieg und Niederlage angesprochen, als sprichwörtlich gewordener „Pyrrhussieg“. Die von Plutarch überlieferte Formulierung vereinigt in überraschender Weise logisch und semantisch Unvereinbares (Siegen und Besiegt-Werden) und bringt so in unüberbietbarer Knappheit das Wesen des „Pyrrhussieges“ auf den Punkt. Die überraschende Formulierung ist alles andere als ein billiger rhetorischer Knalleffekt, offenbart sie doch schlaglichtartig Wirkliches und Bestand Habendes. Sie ist also mit einem einsichtigen Grund verknüpft („cum ratione“) und erfüllt somit Masens Anforderungen an eine argute Formulierung. Hiermit scheidet Masen den Scharfsinn von der bloßen Spitzfindigkeit, die auf keinen einsichtigen Grund zurückgeht. Die zweite ‚Quelle‘ nennt Masen „befremdliche Bestimmungen“ (alienata); deren erste ‚Ader‘ besteht in einer „befremdlichen Aussage über die Person, von der gerade gehandelt werde“.62 Ein Beispiel:

58 Vgl. Masen: Ars argutiarum (1660), S. 21f. Dort grenzt Masen die argutiae auch von den facetiae ab. Beide haben zwar dieselben Quellen sowie Überraschung und Bewunderung gemeinsam, letztere beziehen sich aber ausschließlich auf Lächerliches und weniger Gewichtiges, nicht auf Ernstes und Schwerwiegendes, wie die argutiae. 59 Zur Organisation von Masens Argutia-Lehre als inventorischer Topik vgl. v. a. Gruhl: „Topik“, passim. Eine tabellarische Übersicht siehe hier weiter unten in Kap. 4. 60 Vgl. Masen: Familiarium Fontes (1660), l. II, c. II, ven. I, S. 126: „Repugnantia de eadem re, cum aliqua arguta compositione, simul aut affirmari aut negari poterunt.“ 61 Masen: Familiarium Fontes (1660), l. II, c. II, ven. I, S. 127: „Et victores cladem sentiunt. Pyrrhus Epirotarum Rex cum Romanis bis praelio congressus, & bis eodem victor, cum multos suorum Ducum amisisset; exclamat: victi prorsus sumus, si tertio Romanos praelio sic vincamus. Plutarchus in Pyrrho.“ Vgl. Plutarch: Pyrrhus 21,15 (zum Sieg bei Asculum 279 v. Chr.). Zum Ursprung des geflügelten Wortes vom „Pyrrhos“-Sieg und der Antithese vici/victus sum vgl. Werner Suerbaum: „Der Pyrrhos-Krieg in Ennius’ Annales VI im Lichte der ersten Ennius-Papyri aus Herculaneum“, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 106 (1995), S. 31–52, hier: 37, bes. Anm. 16. 62 Masen: Familiarium Fontes (1660), l. II, c. III, fons II, ven. I, S. 163: „Alienatur aliquid à Persona de qua agitur.“

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Jost Eickmeyer / Reinhard Gruhl Wehrhafte Bürger erfüllen die Aufgabe von Stadtmauern. Als König Agesilaos gefragt wurde, warum Sparta keine Stadtmauern habe, führte er die gewappneten Bürger vor und sagte: Dies sind die Stadtmauern der Lakedämonier!63

Menschen als Mauern zu bezeichnen ist auf den ersten Blick jedenfalls befremdlich und überraschend, findet im situativen Kontext aber sogleich eine unmittelbar einsichtige Erklärung. Masens Bedingungen an eine argute Formulierung sind somit erfüllt. Vergleicht man sie übrigens mit der Rede von der „hölzernen Mauer“ als Rettungsmittel für die Athener,64 das heißt ihren Kriegsschiffen, ist auch leicht zu entscheiden, welche der beiden Formulierungen in höherem Maße argut ist: Kriegsschiffe als aus unbelebten Materialien verfertigte Vehikel stehen ihrem Wesen nach dem ebenso unbelebten und künstlichen Mauerwerk näher als unbelebte Mauern lebendigen Menschen. So ist die Überraschung angesichts der „hölzernen Mauer“ geringer als angesichts der von Menschen gebildeten „Mauern“. Folglich ist die Formulierung des Agesilaos arguter. Eine dritte ‚Quelle‘ besteht im Auffinden ungewöhnlicher Vergleichsmomente (comparata); ihre erste ‚Ader‘ beschreibt Masen wie folgt: Wenn Dinge, die dem äußeren Anschein nach nichts gemein haben, in einer eher unerwarteten und fernliegenden Weise miteinander verglichen werden, oder doch wenigstens etwas Unerwartetes dem Vergleich von Dingen abgewonnen wird, die dem äußeren Anschein nach nichts gemein haben.65

Ein Beispiel: Wer keiner der beiden Kriegsparteien angehört, gilt beiden als Feind. Als man Alfons, dem König der Arragonier, berichtete, dass die Bürger von Siena keiner der beiden Kriegsparteien folgten und (dennoch) Opfer der Beutezüge herumstreifender Söldner (beider Parteien) geworden wären, sagte er: Dies geschehe den Bürgern von Siena verdientermaßen. Leute, die die mittlere Etage eines Gebäudes bewohnten, müssten schließlich damit rechnen, dass sie von den Unteren mit aufsteigendem Rauch (und) von den Oberen mit herabfließendem Urin und Abfällen belästigt würden.66 63 Masen: Familiarium Fontes (1660), l. II, c. III, fons II, ven. I, S. 167: „Cives fortes pro muris sunt. Cum Agesilaus Rex interrogatus esset, cur Sparta sine muris esset? ostensis civibus armatis, hi sunt, inquit, Lacedaemoniorum muri. Plut. in dict. Lac.“ 64 Vgl. Herodot, 7,141; dazu Marion Giebel (Hg.): Das Orakel von Delphi. Geschichte und Texte. Stuttgart 2001, S. 56–58. 65 Vgl. Masen: Familiarium Fontes (1660), l. II, c. IV, fons III, Ven. I, S. 211f., bes. 212: „Cum res in speciem diversae, similitudine aliquâ minùs exspectatâ & obviâ inter se comparantur, aut certè ex rerum diversarum comparatione, aliquid inopinatum elicitur.“ Aus kontextuellen Gründen fasst Masen diese Quelle in seinem Lehrbuch zum Gebrauch von Symbolen und Emblemen unter den Begriff Proportionata zusammen. Vgl. Masen: Speculum imaginum veritatis occultae. Köln 1650, l. V, c. 6, § 2, S. 470: „Vtemur ijsdem, & fontibus, & vocibus in hac imaginum materiâ, comparatorum tamen loco (quod haec vox omnibus symbolis conueniat) Proportionatorum titulo vnum fontium donabimus, quae videlicet duplicem cum analogia comparationem inuoluant […].“ 66 Masen: Familiarium Fontes (1660), l. II, c. IV, fons III, ven. I, S. 212: „Neutrius in bello partis, omnium hostis est. Alphonsus Rex Arragonum, cùm diceretur, Senenses Italico bello neutrius factioni adhaerentes, militum sparsorum praedam factos esse, Senensibus, inquit, hoc meritò evenisse, quod mediam domus partem habitantibus exspectandum, ut ab inferioribus surgente

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Der vorliegende Vergleich ist ebenso mitleidlos-sarkastisch wie überraschend-argut, deckt er doch unnachsichtig die politische Fehlanalyse der Bürger von Siena auf: Neutralität bringt ihnen keine vorteilhaftere Lage. Die vierte und letzte ‚Quelle‘ von Argutia umfasst nach Masen die Anspielungen (allusiones).67 Im Fall der ersten ‚Ader‘ geschieht dies mittels der Abwandlung dessen, was ein Wort oder eine Vorstellung bezeichnet, ohne das Wort oder die Vorstellung selbst zu ändern,68 wie es im folgenden Fall mit dem Wort bzw. der Vorstellung „Bogenschützen“ geschieht: Dem Geld gehorcht alles. Als König Agesilaos [sc. II. im Verlauf des spartanisch-persischen Krieges] Asien räumen mußte – nachdem die mit Geld [vom Perser] bestochenen Häupter der Athener und Thebaner das Volk [im griechischen Hinterland] gegen ihn aufgewiegelt hatten –, scherzte er scharfsinnig: Er sei von dem [persischen] König durch dreißigtausend Bogenschützen aus Asien vertrieben worden. Genau soviele Dariker hatte [der Perser] nämlich heimlich geschickt, Goldmünzen also, die auf einer Seite das Abbild eines Bogenschützen zeigen.69

„Bogenschützen“ bezeichnen hier also das Bestechungsgeld. Für einen Zeitgenossen des Agesilaos ist die Anspielung auf das Prägebild einer verkehrsüblichen Münze zwar überraschend, aber dann doch eindeutig verständlich: „Bogenschützen“ (spielen an auf und stehen hier metonymisch für Dariker) zwangen Agesilaos zum Rückzug. Das provoziert zu einem Vergleich bzw. zur Gegenprobe an Hand einer anderen, von Masen nicht behandelten Anspielung auf das Prägebild einer Münze, nämlich das Apophthegma in Mk 12,13–17.70 Jesus lässt sich, konfrontiert mit der strittigen Frage nach der römischen Kopfsteuer, einen römischen Denar vorzeigen, der zeitüblich auf der einen Seite den Namen und Porträtkopf des Münzherren trug, und fragt, um wessen Bild und Aufschrift es sich handele; „des Kaisers“ ist die erwartbare Antwort. Darauf Jesus: „So gebt dem Kaiser (zurück), was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.“ Bei unverändertem Wortlaut meint „des Kaisers“ in Jesu

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fumo, à superioribus urinâ, sordibusque defluentibus vexentur. Ant. Panormitanus.“ Zu Alfons I. (V.), König von Aragón und Sizilien vgl. den Artikel von Emilio Sáez u.a. in: Lexikon des Mittelalters 1 (1999), S. 401–403. Masen zitiert mit der beigegebenen Referenz („Ant. Panormitanus“) die Sammlung des Antonio Beccadelli (De dictis et factis Alphonsi Regis Aragonum, vollendet 1455, öfter gedruckt, z.B. Basel 1538), aus der auch die folgende zeitgenössische Fürstenspiegelausgabe schöpft, herausgegeben von Johannes Santes: Speculum boni principis Alphonsus Rex Aragoniae. Hoc est dicta et facta Alphonsi Regis Aragoniae. Amsterdam 1646, S. 107. Vgl. Masen: Familiarium Fontes (1660), l. II, c. V, fons IV, S. 227. Vgl. Masen: Familiarium Fontes (1660), l. II, c. V, fons IV, ven. I, S. 228: „Luditur inflexâ vocis, aut sententiae significatione; voce tamen, aut sententiâ immutatâ.“ Masen: Familiarium Fontes (1660), l. II, c. V, fons IV, ven. I, S. 228f.: „2. Pecuniae obediunt omnia. Agesilaus Rex discedens Asiâ, postquam Atheniensium & Thebanorum proceres corrupti pecuniâ, vulgus adversus eum concitassent, argute jocabatur: triginta se millibus sagittariorum ex Asia à Rege depulsum. Nam tot Daricorum (nummi erant aurei) millia submiserat, qui altera sui parte sagittarii imagine erant insigniti. Plut. in Lacon.“ Überliefert z.B. bei Henri Estienne (Hg): Apophthegmata graeca regum & ducum, philosophorum item aliorumque quorundam ex Plutarcho & Diogene Laertio. Cum latina interpretatione. [Paris] 1568, S. 290f. Vgl. auch Mt 22,15–22 u. Lk 20,20–26.

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Schlussfolgerung offenbar mehr und anderes als einen bloßen Hinweis auf den Münzherren. Mit Blick auf die parallele Formulierung „was Gottes ist“ wird es zum Hinweis auf einen (Rück-)Übereignungsanspruch des Kaisers an dem gezeigten Denar, mit dem die Kopfsteuer zu entrichten ist. Man kann also sagen, dass Jesus „des Kaisers“ einer für die Hörer offenbar überraschenden Bedeutungsabwandlung unterwirft, ohne den Wortlaut zu ändern. Erfüllt diese Abwandlung aber auch die zweite Bedingung von Masens Argutia-Definition, also das Vorliegen eines verständlichen Grundes? Dass ein solcher Grund den zeitgenössischen Hörern einsichtig gewesen sein muß, läßt sich hypothetisch daraus schließen, dass sie Jesu Manöver nicht als bloßen rhetorischen Knalleffekt abweisen, sondern mit Erstaunen bzw. Bewunderung quittieren. Eine solche Reaktion kann nach Masens Analyse Signal erfolgreich eingesetzter Argutia sein.71 Den Grund heute zu benennen ist allerdings weit schwieriger als im Fall der „Bogenschützen“. Jesu Ausspruch hat offenbar komplexere Verstehensvoraussetzungen (und zudem auch noch eine komplexere Wirkungsgeschichte,72 die sich wohl auch aus einer mangelhaften Kenntnis dieser Verstehensvoraussetzungen ergibt). Wahrscheinlich ist der Besitz eines römischen Denars nach seiner aufgewiesenen Beschaffenheit in Jesu Augen ein Verstoß gegen das biblische Fremdgötter- und Bilderverbot.73 Und darum dürfte Jesus mit möglicherweise sarkastischem Unterton die Hörer auffordern, den so beschaffenen Denar klaglos (zurück) zu geben bzw. loszuwerden und sich mehr um das zu kümmern, was sie Gott schulden. Die Genese von Harsdörffers reich sprudelnden Kunstquellen lässt sich relativ genau verfolgen. Passenderweise findet sie in einem Gesprächsspiel, publiziert im dritten Teil (1643, also vor Masens Ars Nova!), statt.74 Die Geselligen werden im Rahmen einer Tisch-Lesung von ihrem Spielleiter angehalten, „lehrreiche Sprueche/ geschwinde Außschlaege/ artige Hofreden/ denkwuerdige Schertzfragen/ &c.“

71 Zur Reaktion des Erstaunens in Mk 12,17 vgl. Berger: Formen, S. 368. 72 Diese Wirkungs- und Geltungsgeschichte als autoritatives Jesuswort dürfte unter anderem Masen veranlasst haben, auf eine Einbeziehung neutestamentlicher Apophthegmen weitestgehend zu verzichten: Sie sind für ihn keinesfalls Unterhaltungsstoff für die Erholungs- bzw. Freizeit. Andererseits würde Masen sicherlich nicht leugnen, dass neutestamentliche Apophthegmen ihrer Struktur und Wirkung nach Argutia aufweisen können. 73 Vgl. Peter Dschulnigg: Das Markusevangelium. Stuttgart 2007, S. 316: „Bild und Inschrift der Münze zeugen von der göttlichen Verehrung des römischen Kaisers und waren daher für einen frommen Juden anstößig und blasphemisch.“ Besonders zur Auslegungsgeschichte vgl. Josef Ernst: Das Evangelium nach Markus. Regensburg 1981, S. 347; Joachim Gnilka: Das Evangelium nach Markus. 2. Bd. Zürich u.a. 1979, S. 154f. Zum inneren Zusammenhang von Fremdgötter- und Bilderverbot vgl. Christian Frevel: „Du sollst Dir kein Bildnis machen! – Und wenn doch? Überlegungen zur Kultbildlosigkeit der Religion Israels“, in: Bernd Janowski und Nino Zchomelidse (Hg.): Die Sichtbarkeit des Unsichtbaren. Zur Korrelation von Text und Bild im Wirkungskreis der Bibel. Stuttgart 2003, S. 23–48. 74 Vgl. Harsdörffer: Gesprächspiele, III. Tl., Kap. CX, S. 61–75.

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vorzulesen, die er einer einschlägigen, wohl dem Tübinger Juristen Christoph Besold zuzuschreibenden Sammlung entnimmt.75 Auf das Exempel folgt jeweils die Einordnung unter eine von fünf Kategorien durch den Leiter: „von der Wuerkursach“, worunter er (die aristotelische causa efficiens merklich verkürzend) Ge- oder Missbrauch, Durchführung und Nutzen eines Amtes versteht, „der Gleichniß“, also per analogiam, „von Umstaenden“, wenn besondere Situationen oder Eigenschaften die Pointe erzeugen, „der Wortart“ bei jedem uneigentlichen Gebrauch von Sprache und „vom Gegensatz“, wenn die Pointe durch Entgegensetzung, urteilsförmig, erzeugt wird. Mehrfachzuordnungen werden im Fortgang des Spieles häufiger erwogen. Nun mag der Leser die Handhabung dieser Pentade von Kategorien einüben, wenn die Spieler(innen) im nächsten Schritt die Zuordnungen des Spielleiters erklären, doch fallen zwischen den Ordnungsprinzipien systematische Unterschiede auf: Mal wird nach Inhalt, mal nach sprachlicher, mal nach gedanklich-logischer Form eingeordnet. In besagtem Gesprächsspiel imaginiert der Spielleiter „Loci Topici Apophthegmatum“, unter die alle empirisch aufgefundenen sinnreichen Sprüche eingeordnet werden könnten, sodass „ein jeder leichtlich etwas auffbringen/ vnd zu beantworten lernen kan.“76 Selbstverständlich sind hier die Kunstquellen gemeint, in denen Harsdörffer selbst eine solche Topik liefern will, welche wiederum das Auffinden pointierter Antworten erleichtern soll. Insofern hängt die Ars apophthegmatica eng mit der in den Gesprächspielen demonstrierten Konversationskunst zusammen, ohne dass sie selbst Spiele böte. Zudem haben sich die Ordnungskategorien nun gegenüber dem ersten Ansatz von 1643 verdoppelt: Die Kategorien „Gleichnis“ und „Gegensatz“ bleiben bestehen, schon die Kategorie „Wortart“ ist jedoch aufgeteilt in „Wortforschung“ – etymologische, klangliche und kompositionelle Pointen, auch Anagramme – und „Doppeldeutung“: Mehrdeutigkeiten; ebenso erscheinen die „Wirkursachen“ in eine „wol proportionierte Folge“ und deren Gegenteil, also Hyperbolik, Lächerlichkeit und dergleichen, aufgespalten. Hinzu treten die „dunkle“ Frage, an der sich die Nähe dieses Apophthegma-Begriffs zum Rätsel ablesen lässt, und zwei Kategorien, die sich nun wieder auf Texte insgesamt beziehen: „Geschichte“ (inklusive Schwank, Exempel etc.) und „Lehrsprüche“, mit denen Harsdörffer selbst nicht recht zufrieden ist und die er, so scheint es, nur um ihres didaktischen Mehrwerts willen aufgenommen hat. Die genannten ‚Quellen‘ seien hier kurz unter Rückgriff auf Beispiele, die Harsdörffer selbst bringt, durchmustert.77 Als erste Quelle führt er die „Lehrsprüche“ an, unter denen er schriftlich oder mündlich überlieferte Aussprüche versteht, 75 Harsdörffer: Gesprächspiele, III. Tl., Kap. CX, S. 63f.; S. 64 die Nennung Besolds, aus dessen Kompilation Sechs Hundert/ Allerhandt Vernuenfftig vnd Kurtzweilliger Antwortt (21621) der Spielleiter schöpft; vgl. Wilhelm Kühlmann: Art. „Besoldus, Christoph(orus)“, in: Killy II, Sp. 506b–507b; zum Sammelwerk selbst Verweyen: Apophthegma, S. 115–117 und 241f. (vollständige Titelangabe). 76 Harsdörffer: Gesprächspiele, III. Tl., S. 71. 77 Zur Anlage der Ars Apophthegmatica ist allgemein zu sagen, dass ihr Autor eine theoretische bzw. historische Herleitung seiner Kunstquellen en bloc in Rahmen der Vorrede bietet (Ars, 1.

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die meist moralischen oder handlungsleitenden Inhalt haben und insofern den wortreicheren Gesetzen affin seien.78 Hierzu gehören auch kurze, sinnreiche Beschreibungen eines Gegenstandes, wohl meist in metaphorischer Weise, wie seine Beispiele nahelegen: „als wann ich die Zunge nenne die Dolmetscherin des Verstandes/ den Spiegel der Gedancken/ &c.“79 Im Exempelteil bringt Harsdörffer zu jeder seiner Kunstquellen zwischen fünfzig und zweihundert nummerierte und zum Teil mit Quellenangaben versehene Beispiele. Er versieht sie jeweils mit einem Kurztitel, der schlagwortartig80 das Hauptthema des folgenden Spruches benennt: 7. Feindt. Agis der Lacedaemonier Koenig sagte: Man muß nicht fragen wie starck/ sondern wo die Feinde sind? massen der Sieg nicht an der Menge/ sondern an der Tapfferkeit/ und der Gelegenheit sie zu ueberfallen/ gelegen. Plutarch. Der viel ueberwinden will/ muß mit vielen streiten. Ist auch Koenig Gustavi Adolphi in Schweden Spruch gewesen.81

Es handelt sich um ein Proverbium, genau genommen um die Kombination von zweien, die jeweils variierend etwa der modernen Redewendung „viel Feind, viel Ehr“ entsprechen. Das zweite bietet einen Hinweis auf die jedem Leser sicherlich präsente jüngere Geschichte und aktualisiert so gewissermaßen die ältere, aus Plutarch geschöpfte Version, wobei sich die strategischen Implikationen des Spartanischen Königs nicht unbedingt im Motto Gustav Adolfs wiederfinden lassen. Die erste von Harsdörffers Kunstquellen wird somit nicht in erster Linie durch sprachlichen oder gedanklichen Scharfsinn, sondern vielmehr durch die Dignität der Überlieferung von Gnome und Sentenz gekennzeichnet. Bezeichnend ist dabei, dass Harsdörffer zwar aus allerhand Kompilationen schöpft, seine naheliegendsten Vorläufer für die Lehrsprüche, Zincgref und Weidner, jedoch nicht nennt, vielmehr einen Mangel an Sammlungen von Apophthegmen in Deutschland konstatiert.82

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Bd., S. 2–50) und dann mit insgesamt 3.000 Stücken Kürzestprosa einen Exempelkatalog folgen lässt, der gemäß der zehn Kunstquellen strukturiert ist (gesondert paginiert und jeweils nach 1.000 Texten durch ein Zwischentitelblatt abgetrennt, S. 3–633). Schon dieses deutliche Übergewicht des kompilierten Materials, durch den zweiten Band vermehrt um weitere 3.000 Prosastücke, gegenüber der theoretischen Herleitung zeigt einen grundlegenden Unterschied zu Masens Lehrbüchern auf. Vgl. Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., Vorrede, §§ 12–15, S. 2–4. Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., § 16, S. 5. Im Register am Schluss werden diese Schlagworte aufgegriffen, sodass der Leser die Ars apophthegmatica auch als ein thematisch geordnetes Lexikon scharfsinniger und lehrreicher Aussprüche benutzen kann. Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., Sprüche, S. 4; vgl. Estienne: Apophthegmata graeca, S. 138f.; hier der zweite Spruch mit etwas anderer Bedeutung (lateinisch zitiert nach a.a.O., S. 139): „Necesse est (inquit) cum multis pugnare, qui multis velit imperare.“ – „Man muss, sprach er [sc. Agis], mit vielen kämpfen, wenn man über viele befehlen will.“ Vgl. Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., Vorrede, § 17, S. 5 [recte: 6]: „Wir haben bey unsren und unsrer Vaetter Zeiten so viel treffliche/ erfahrne und verstaendige Leute gehabt/ daß zu wünschen were/ man haette ihre kluge Reden aufmercken koennen/ und sie nicht in vergessenheit hinsincken lassen. Wir Teutsche aber seind hierinnen sehr nachlaessig/ und solte billich ein jeder Juengling/ was er nutzliches von seinen Eltern/ Lehrmeistern und Freunden hoeret/ aufzeichnen/ und seinem Gedaechtnis nicht trauen.“ Die Hervorhebung einer genuin deutschen

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Mit der zweiten Quelle, „Wortforschung“, schließt Harsdörffer an die barocke Vorliebe für anagrammatische, etymologische und onomatopoetische Wortspiele an. Epistemologische Probleme, etwa in Bezug auf die Relation von Wort und Bedeutung, klammert er bewusst aus.83 Er widmet sich vielmehr der Legitimation und den praktischen Implikationen einer solchen Methode. Für die „forschende“ Ausdeutung von Buchstaben und Silben führt er das Alte Testament sowie seine rabbinischen und kabbalistischen Interpretationen an,84 muss sich aber noch im zweiten Band seines Werkes gegen Kritiker dieser offenbar schon in Verruf des Abgeschmackten gekommenen Technik verteidigen.85 Wichtig an dieser Findung von Pointen scheint, dass sie auf der Ebene des sprachlichen ornatus angesiedelt und damit an Spracheigenheiten gebunden ist.86 Als kundiger Übersetzer87 weist Harsdörffer ferner darauf hin, dass „Wortforschung“ selten von der Ursprungs- in eine andere Sprache übertragbar sei, gibt jedoch ein Beispiel, das gerade in der Kombination von Sprachen besteht: „Divitias & opes ‫( הןו‬Hon) lingua Hebraea vocavit: Gallica gens aurum or, indeque venit Honor.“88 Die Einsicht, dass Ehre und Ansehen von Gold und Reichtum abhängen (‚Hon‘ + ‚or‘ = ‚Honor‘), wird hier in einem pseudo-etymologischen Distichon präsentiert, das auf hintersinnige Weise das Lateinische aus dem Hebräischen und dem Gallischen herleitet. Diese Technik kann aber auch moralisch-exegetisch auf einzelne Worte angewendet werden:

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Tradition des klugen Ausspruchs war bereits Zincgrefs Argument gewesen (vgl. das Zitat oben). Harsdörffer belässt es bei einem pauschalen Verweis auf Platons Kratylos (vgl. Ars Apophthegmatica, 1. Bd., § 19, S. 7). Vgl. Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., §§ 19–20, S. 7f.; u.a. bezieht er sich auf Benito Arias Montano und sein Liber Ioseph, sive de Arcano Sermone, ad Sacri Apparatus instructionem (Antwerpen 1573), Nicolas Caussin SJ und seine umfassende Rhetorik Eloquentia Sacra et Humana (La Flèche 1619) sowie auf den Tübinger Hebraisten und Mathematicus Wilhelm Schikard. Vgl. Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 2. Bd., Vorrede, §§ 19f., S. 10f.: Den „Veraechtern der Wort- und Sprachhaendel (rerum Etymologicarum & Philologicarum)“ schrieb Harsdörffer ins Stammbuch: „Gott der Herr selbsten erweiset sich als einen Philologum, in dem er bey seinen Verheissungen/ der heiligen Maenner und Weiber Namen geaendert/ und die Ursach derselben durch den H. Geist/ bezeichnen lassen: Also must Abram Abraham und ein Vatter vieler Voelcker/ Sara Sarai/ Jacob Israel heissen/ und verspricht auch die Heiligen mit neuen Namen zu nennen/ und daß ihre Namen angeschrieben im Himmel.“ Harsdörffer selbst spricht von „Einfassungen der edlen Gedancken“, den „Herolden unserer Gemuetsmeinung“ und von Buchstaben und Silben als ihren „Heroldsfarben“ (Ars Apophthegmatica, 1. Bd., § 23, S. 9). Vgl. dazu Peter Hess: „Imitatio-Begriff und Übersetzungstheorie bei Georg Philipp Harsdörffer“, in: Daphnis 21 (1992), S. 9–26; Italo Michele Battafarano: „Vom Dolmetschen als Vermittlung und Auslegung. Der Nürnberger Georg Philipp Harsdörffer – ein Sohn Europas“, in: John Roger Paas (Hg.): Der Franken Rom. Nürnbergs Blütezeit in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Wiesbaden 1995, S. 196–212. Vgl. Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., § 21, S. 8, und § 25, S. 10 (hier das zitierte Beispiel).

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Jost Eickmeyer / Reinhard Gruhl 142. Urtheilen. Das Wort „urtheilen“ ist so viel als „ausertheilen“/ jedem das seine zutheilen/ oder nach dem Niederlaendischen: „Ortheelen“; die „Ohren theilen“/ und eines dem Klaeger/ das andre dem Beklagten eroeffnen.89

Für die „Ableitung“, die Harsdörffer als eine Unterart der „Wortforschung“ ansieht, führt er die gewitzte Antwort eines Untergebenen an: 148. Schalcksknecht. Es nennte einer seinen Diener einen „Schalcksknecht“. Der Diener theilte das Wort/ sagend: Mein Herr ist der Schalck/ und ich bin sein Knecht.90

Von der dritten Quelle, der „Doppeldeutung“, räumt der Autor selbst ein, dass sie eigentlich zur „Wortforschung“ gehöre, doch habe er sie abgesondert, weil „unsre Sprach in diesem/ wie in vielen andern Stucken sehr reich“ sei.91 Im Exempelteil trägt er diesem Umstand Rechnung, indem er die zweite Dekade von Sprüchen auf jeweils 50 für „Wortforschung“ und 50 für „Doppeldeutung“ aufteilt.92 Zudem betont er, dass die Äquivozität der Sprache keineswegs dazu gebraucht werden dürfe, „die Leuthe zu betruegen/ sondern einen nachsinnigen Schertz zu erfinden“.93 Allerdings beziehen sich die Beispiele, welche Harsdörffer versammelt, nicht ausschließlich auf mögliche semantische Ambiguitäten einzelner Worte, wie etwa im Spruch über ökonomische Praktiken der Bader: 187. Barbierer. Wann die Barbierer sagen: sie wollen einen Schaden aus dem „Grund“ heilen/ so verstehen sie den „Grund“ des Beutels/ daraus sie ihre Belohnung ziehen.94

Andere Beispiele beruhen eher auf unterschiedlichen Kontextbezügen. Etwa: 193. Dieberey. Es ruehmte sich einer/ daß die Leute weinten/ wann er sich von einem Orte hinweg begebe: Dem war also/ und pflegte er/ alle Zeit/ was mit sich zu tragen/ darob man zu weinen Ursach hatte.95

Hier weist eben nicht das Wort ‚weinen‘ semantische Mehrdeutigkeit auf, sondern die Ursache des Schmerzes kann unterschiedlich ausgedeutet werden. Lässt man einmal den vereindeutigenden Titel des Beispiels beiseite, so glaubt der Leser im ersten Satz noch, besagte Person sei besonders beliebt oder für eine Gemeinde schwer entbehrlich, so verkehrt die Erläuterung des ‚Erzählers‘ diese Deutung ins Gegenteil: An die Stelle ideeller Wertigkeit tritt materieller Schaden, den der Dieb seinen Mitmenschen zufügt.

89 Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., Sprüche, S. 32. 90 Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., Sprüche, S. 33. 91 Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., Vorrede, § 28, S. 12; auch hier betont Harsdörffer, dass Pointen aufgrund äquivoker Wörter spezifisch für einzelne Sprachen seien. 92 Vgl. Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., Sprüche, S. 34–45. 93 Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., Vorrede, § 35, S. 14. Zum hier wichtigen Begriff ‚nachsinnig‘, der bei Harsdörffer eine ebenso emotional wie rational einprägsame, pointierte Formulierung bezeichnet, vgl. ders.: Poetischer Trichter. Die Teutsche Dicht= und Reimkunst/ ohne Behuf der Lateinischen Sprache/ in VI. Stunden einzugiessen. 3 Tle. Nürnberg 1648– 1653, hier: 3. Tl., § 39, S. 34f. 94 Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., Sprüche, S. 42. 95 Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., Sprüche, S. 43.

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Eine schwierigere Kategorie dürfte die vierte Quelle namens „Abtheilung“ bilden: eine Art vorgegebene Sachen nach allen oder den meisten Theilen zu betrachten/ wie solche sind und seyn koenten/ worinnen sie eigentlich bestehen/ und wie viel Glieder gleichsam desselben Wesen habe/ wie es innerlich und aeusserlich zu betrachten/ wie es fuer sich/ und zufaelliger weise/ nach seinem Geschlecht und Arten/ wie auch deroselben Afftertheilung [sic!] vorgestellet werde.96

Hier geht es nicht mehr um Scharfsinn oder Pointen, sondern gemäß offenkundig aristotelischer Kategorienlehre um: Analyse. Nur die richtige „Absonderung“ und „Betrachtung“ der Teile, wie Harsdörffer wenig später formuliert, könne den „gemachten Schluß“ sichern.97 Topik und Logik werden, analog zur dispositio der Rhetorik, zu einer Art Meta-Kategorie zusammengeführt,98 die nicht das einzelne Apophthegma, sondern vielmehr die Kategorisierung der Apophthegmen insgesamt rechtfertigen und absichern soll: Harsdörffer unterteilt die Sinnsprüche nicht nur, er versucht innerhalb der Unterteilung die Verteilung selbst zu reflektieren. Nicht umsonst bemüht der Autor für die Bestimmung der „Abtheilung“ die Analogie zum ordnenden Gott;99 nicht umsonst steht diese vierte Kategorie auf dem allegorisierenden Kupferstich, der zum Schluss der Kunstquellen diese noch einmal augenfällig zusammenfasst, allein auf dem obersten Brunnen-Absatz. Gemessen an diesem relativ hohen Grad theoretischer Reflexion erscheint die Sammlung von Beispieltexten eher bunt. Ihr gemeinsames Merkmal ist, dass stets irgendeine Form von Unterscheidung vorgenommen wird, sei es eine kumulative, wenn Krieg als Prüfstein der Tapferkeit, Zorn als Prüfstein der Weisheit und Not als Prüfstein für Freundschaft bestimmt werden,100 sei es eine relationale, wie in diesem historischen Apophthegma: 220. Regierkunst. Dieses hat auch verstanden die Koenigin Catharina Medices als ihr von Florentz aus verwiesen worden/ daß sie in einen Frieden mit den Ketzern gewilliget/ sagend: Es ist ein grosser Unterscheid eine Stadt in Welschland/ und das Koenigreich Franckreich regieren.101

96 Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., Vorrede, § 38, S. 17. Mit „Afftertheilung“ meint Harsdörffer diejenigen Unterteilungen, die derjenigen von Geschlecht und Art nachgängig sind. 97 Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., Vorrede, § 39, S. 17. 98 Vgl. Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., § 40, S. 17: „Also wird auch der jenige/ welcher eine Rede verstaendig abzutheilen weiß/ alles was er anhoeret schicklicher beantworten/ und ist solche Abtheilung nichts anders als eine zierliche Ordnung/ die aller Wolstaendigkeit Grund und Bund kann genennet werden.“ 99 Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 2. Bd., Vorrede, § 35, S. 16. 100 Vgl. Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., Sprüche, Nr. 209, S. 48, („Tugendzeichen“). Als Quelle könnte die von Harsdörffer häufig für andere Exempel herangezogene Sammlung arabischer Sprichwörter in Frage kommen, die der niederländische Orientalist Thomas Erpenius (1584–1624) in Leiden und später in Amsterdam herausbrachte; vgl. etwa die Ausgabe: [arab.] Locmani sapientis fabulae et selecta quaedam adagia. Cum interpretatione latina & notis Thomae Erpenii. Amsterdam 1636, hier: Sp. 53b/54a, Nr. 53. 101 Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., Sprüche, S. 50f.

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Die Masse der zugehörigen einhundert Exempel bleibt damit letztlich uneinheitlich, manche könnten ebenso gut oder gar besser in andere Kategorien Harsdörffers passen.102 Mitunter schleichen sich auch Wiederholungen ein, die den eiligen Kompilator zeigen.103 Es scheint, dass die vierte Kunstquelle weniger als Kategorie zur Unterscheidung einzelner scharfsinniger Wendungen taugt, jedoch als Meta-Kategorie für die gesamte Unterteilung Harsdörffers notwendig ist. Um Missverständnisse zu vermeiden, benennt Harsdörffer die fünfte Kunstquelle, die „der Folge oder des Schicklichen“ als erste auch lateinisch: „Fons emanationum vel proportionatorum“. Wer hinter dem „Schicklichen“ das decorum der antiken Rhetorik vermuten würde, wird von der lateinischen Begrifflichkeit korrigiert: Es geht hier nicht um ästhetische oder moralische Zusammenhänge, sondern um die ‚wohlproportionierten‘ Verhältnisse innerhalb einer Abfolge. Auf die Leitmetapher seiner Ars zurückgreifend, erläutert der Autor dieses Folgeverhältnis anhand des Wasserkreislaufs, der von der Quelle bis ins Meer (und, über unterirdische Hydrophylakten, wieder zurück)104 in natürlicher und geordneter Weise abläuft.105 In Fortführung dieser Metapher vom natürlichen Wasserlauf zum kunstvollen Brunnenbau, der wiederum auf die allegorisch präsente „fons“ seiner Ars verweist, kann der Autor zugleich eine geistliche wie auch ästhetische Bedeutung aus „vielfaeltige[n] Ursachen“ erzeugen: I. daß alle Sachen von Gott/ als dem unerschoepflichen Meere alles Guten/ oder II. von dem ordentlichen Lauff der Natur/ oder III. von der kuenstlichen [i.e. kunstvollen] Hand und hochgestirnten Menschen-Verstand herkommen.106

102 Harsdörffer nimmt solche Mehrfachzuweisungen hier und da selbst vor, etwa bei den Nummern 278 (Ars Apophthegmatica, 1. Bd., Sprüche, S. 63f.: „Kan zu der Folge gezogen werden“) oder 282 (a.a.O., S. 64f.: „Kan zu der Gleichniß gezogen werden“). Andere erscheinen in der Kategorie „Abtheilung“ zweifelhaft. Folgendes Apophthegma könnte etwa mit mehr Recht im Kapitel „Doppeldeutung“ stehen, da es letztlich funktioniert wie das oben zitierte Exempel vom Dieb: „234. Der Soldaten reformiren. Die Soldaten koennen wol reformiren: wann sie kommen/ so ‚beten‘ die Bauren/ weil sie bleiben/ so ‚feyren‘ sie/ wann sie weiters ziehen/ so ‚fasten‘ sie.“ (A.a.O., S. 54) Ebenso passt das Bibelzitat des verschmitzten Geistlichen in Nr. 270 („Ehesegen“) zu den aus Mehrdeutigkeit geschöpften Pointen (a.a.O., S. 62): „Ein Alter nahme ein junges Weib/ und der Priester gabe ihnen den Segen/ sagend zu dem Weibe: ‚Seid fruchtbar und mehret euch‘/ und zu dem Alten: ‚Fuellet die Erden.‘“ 103 Die Texte mit den Nummern 244 und 275 sind identisch, lediglich wird der Name der historischen Person einmal „Queva“ und einmal „Cueva“ geschrieben: Vgl. Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., S. 56 u. 63. 104 Zur frühneuzeitlichen Theorie der Hydrophylakten, unterirdischer Wasser-Reservoirs, die gewissermaßen den „unsichtbaren“ Teil des Wasserkreislaufs gewährleisten, vgl. Athanasius Kircher: Mundus subterraneus, in XII. libros digestus […]. Tom. I. Amsterdam 1665, l. II, c. X, S. 50–75; vgl. a.a.O., S. 71, die Abbbildungen der unterirdischen Kanäle der Alpen. 105 Vgl. Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., Vorrede, § 43, S. 20. 106 Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., Vorrede, § 44, S. 20.

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Anthropologisch sieht Harsdörffer solche „schicklichen“ Folgen in der Natur, dem Erlernten und der Gewohnheit.107 Produktionsästhetisch gewendet bedeutet dies, dass die vom Menschenverstand ersonnenen Folgen „nicht angedichtet/ erzwungen/ und mit den Haaren herbey gezogen“ hergestellt werden dürfen, sondern entsprechend ihrer geordneten „Erfolgung/ Bemittlung/ Wachsthums und Zunehmens/ nach befindlicher Artung“, also der jeweils natürlichen, geradezu organischen Kausalität. Eine Pointe oder scharfsinnige Formulierung wird freilich nicht aus einer umständlichen Darlegung von Kausalitäten erzeugt. Harsdörffer bemerkt eher nebenbei, dass oftmals nur das erste und letzte Glied dieser Kette benannt werde, während die Zwischenschritte ausgespart bleiben (aber wohl zu ergänzen sein müssten).108 Es dürften eher die rätselhaften als die wohl vorhersehbaren Konsequenzen sein, die durch einen „sinnreichen Spruch vorgestellet und betrachtet“ werden.109 Anhand der zugehörigen Hundertschaft von Beispielen wird, ohne dass Harsdörffer dies als Kriterium formuliert hätte, deutlich, dass die Wirkung eines Apophthegmas oftmals von der überraschenden (Re-)Konstruktion der Kausalität abhängt: 313. Weise. Empedocles sagte: Er koenne keinen weisen Mann finden: Ich glaube es/ antwortete Xenophanes/ dann es muß ein weiser Mann seyn/ der einen andern Weisen erkennen kan. Er wolte sagen/ daß er nicht klug seye.110

Ob es den erläuternden Nachsatz wirklich gebraucht hätte, wäre zu diskutieren. Jedenfalls wendet Xenophanes hier die Erklärung der „schicklichen“, nachvollziehbaren Folge gegen die Ausgangsthese seines philosophischen Konkurrenten. Freilich kommen nicht alle Specimina in der zugehörigen Centurie so argut, dafür manche umso didaktischer daher.111 Aus der nächsten Kunstquelle wird genau das Gegenteil der fünften geschöpft: „Fons absoni et Hyperbolae“ präzisiert Harsdörffer auf Deutsch als „Quelle des Nicht-Stimmigen und der Übertreibung“.112 Damit wäre das Wichtigste gesagt, doch der Autor nutzt die Gelegenheit, den Witz bzw. das, was Gelächter hervorruft, genauer zu bestimmen. Eine Neuigkeit („Neurligkeit“) müsse mit Positivem („Erfreuligkeit“) zusammenkommen, da einerseits negative Neuigkeiten niemanden

107 Dabei unterscheidet Harsdörffer durchaus die natürlichen von den aus einer ars erlernten und den aus mores gewonnenen Folgen: Letztere zeigten einen „arithmetischen“ (modern gesagt: stetigen) Verlauf, die erstere aber einen „geometrischen“ (also ungleichmäßigen). 108 Vgl. Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., Vorrede, § 46, S. 21. 109 Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., Vorrede, § 50, S. 22. 110 Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., Sprüche, S. 72; während er hier das Nachsehen hat, wird doch zumeist dieser Ausspruch dem Empedokles selbst zugeschrieben; vgl. etwa in der Sammlung Henri Estiennes: Apophthegmata graeca, S. 694f. 111 Vgl. etwa Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., Sprüche, S. 83, Nr. 365 („Demut.“); seine Quelle ist ein Ausspruch des Diego Ruiz SJ, den Harsdörffer nur leicht kürzt und zuspitzt. Er könnte ihn entnommen haben aus Juan Eusebio Nieremberg SJ: Doctrinae asceticae, sive spiritualium institutionum pandectae. […]. Lyon 1643, l. III, doct. II, c. XXV, S. 227b/228a. 112 Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., Vorrede, § 52, S. 23 [recte: 24].

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zum Lachen reizten und andererseits Erfreuliches, indem es sich wiederhole, Wirkung einbüßen müsse.113 Hier rückt er zum ersten Mal ausdrücklich die „Verwunderung“, also ein Überraschungsmoment in den Vordergrund, das zumal vom „Unschicklichen“, also der nicht-natürlichen Abfolge, oder vom Übermäßigen erzeugt werden könne.114 Somit nähert er sich theoretisch Masens Argutia-Begriff (s.o.) an dieser Stelle am ehesten an, indem er das überraschend Neue betont. Doch führt das sofortige Betonen von Erfreulichem und Unterhaltsamem wieder vom Ansatz des Jesuiten ab, für den positive Affekte nicht notwendig zur Wirkung der Argutia gehören müssen. Überdies hat im Bereich des Disharmonischen und Übertriebenen nun auch die „Dummrede“ neben der „Klugrede“ ihren Ort: In Harsdörffers zugehörigen Exempla werden Pointen häufig durch die Einfältigkeit der Akteure erzeugt, was teils bereits im Titel des Kurztextes angezeigt wird, etwa: 407. Diebe: Einfalt. Etliche Diebe wolten in einen KauffmannsLaden einbrechen/ und der einfaeltige Diener/ welcher darinnen wachte/ sprach zu ihnen: „Die Herren Diebe kommen zu andrer Zeit wieder/ wir sind noch nicht schlaffen gegangen.“115

Solch unangemessene Reaktionen aus Dummheit, wie sie in heutigen Witz-Erzählungen stereotyp den Bewohnern bestimmter Regionen (Ostfriesen, Vorarlbergern u.a.) zugeschrieben werden, gerinnen Harsdörffer zu ganzen Text-Reihen,116 denen aber auch andere Exempla gegenüberstehen, in denen eine scharfsinnige Formulierung unerwartete Verknüpfungen herstellt: 409. Nase. Es hatte einer eine sehr grosse Nase und keinen Bart/ darvon urtheilte ein anderer also: Sein Bart koenne nicht wachsen/ weil er in Schatten der grossen Nasen stehe/ der ihm die Sonne aufhalte/ sonsten habe sie Saffts genug.117

Eine „natürliche“ Schlussfolgerung von der Nase auf den Bart kann nicht gezogen werden, daher sorgt die gewitzte Erklärung für einen Überraschungseffekt. Hyperbolisch wirkt außerdem die übertriebene Beschreibung der Nase, die den gesamten Mundraum beschattet. Eher der „Doppeldeutung“ ist das letzte Glied dieser Bemerkung zuzurechnen, wenn der Sprecher den „Saft“ erwähnt, der als lebensspendende Feuchtigkeit eigentlich Wachstum (etwa bei Pflanzen) begünstigen müsste, hier aber nur die übermäßige Feuchtigkeit des Riechorgans und damit etwas eher Unerfreuliches bezeichnet. Auch diese Scherzrede lässt sich somit nicht nur der sechsten 113 114 115 116

Vgl. Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., Vorrede, § 56, S. 25. Vgl. Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., Vorrede, §§ 58f., S. 26. Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., Sprüche, S. 92. Vgl. etwa Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., Sprüche, S. 96f., die Nummern 427 bis 431, die bis auf 428 („Schweitzer Woerter“) alle schlicht mit „Einfalt“ betitelt und schon dadurch verknüpft werden. Die ersten beiden Texte aus dieser Reihe werden quellenmäßig durch den Verweis „sagt Scherbius“ bzw. „Item“ identifiziert. Hier mag mündliche Überlieferung des als witzig bekannten Mediziners und Logikers Philipp Scherbe (1553–1605) vorliegen, die womöglich sogar auf seine Vorlesungen in Altorf zurückgeht. Zu Scherbe vgl. DBA 1, S. 350–357, dort wird ihm ein „schertzhafftes Wesen“ (S. 350) attestiert. Vgl. zu dieser Reihe auch Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., Sprüche, Nr. 437, S. 98 („Diebes Einfalt“); Nr. 444, S. 100 („Zu sich nehmen“) und Nr. 445 („Einfalt“). 117 Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., Sprüche, S. 92.

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Kunstquelle zuordnen, zumal da Harsdörffer denselben Text, leicht modifiziert, später als Beispiel für die siebente Kunstquelle abermals präsentiert.118 Eben diese ist den Gleichnissen gewidmet, die Harsdörffer nochmals untergliedert in „erklärende“ und „beweisende“ Gleichnisse. Um zu verstehen, warum diese Kategorie, die dem richtigen Gebrauch von Vergleichen und Metaphern in Rhetorik und Poesie entspricht, für Harsdörffer so wichtig ist, muss man bedenken, dass die kognitive Operation des Vergleichens, der „Gegenhaltung“, wie es sowohl im Poetischen Trichter als auch in der Ars apophthegmatica heißt, für ihn einen grundlegenden intellektuellen Mechanismus darstellt, der Erkenntnis und somit Bildung überhaupt erst ermöglicht. Der „Lehrbegierige Verstand“ könne durch Gegenhaltung gleichstaendiger Sachen/ wann man viel auff einmal anschauet/ und solches gegen einander haelt/ ihre Gleichheit und Ungleichheit ueberlegen. Dieses vergnuegt den Verstand so viel mehr/ so viel weiter sie sich erstrecket/ eine Sach vollstaendig an das Liecht zu bringen/ und gleichsam von einer Warheit in die andre zu leiten.119

In diesem Sinne durchzieht das Vergleichen als dem Produzenten wie dem Rezipienten abverlangte Tätigkeit Harsdörffers gesamtes Werk, von den moralischen Urteilen, welche die großen Schauplatz-Kompilationen herausfordern,120 über die Beherrschung und Deutung poetischer Bildsprache, wie sie der Poetische Trichter einüben soll,121 bis zu den Konstruktionen mehrständiger Embleme in den Frauenzimmer Gesprächspielen, die nur durch die „Vergleichung“ der sicht- und lesbaren Teile des ‚Sinnbilds‘ (pictura und inscriptio) mit dem unsichtbaren Bildsinn des Artefakts korrekt zu interpretieren sind.122

118 Vgl. Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., Sprüche, Nr. 616, S. 136. 119 Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., Vorrede, § 63. Diese Passage stammt wörtlich aus ders.: Poetischer Trichter, 3. Tl., § 53, S. 57. Althaus: „Eine ,artem Apophthegmaticam‘ haben“, S. 301, kommentiert: „Darin ist generell ein ein kritisches Argument gegen die Poesie in ihrem Status von Fiktionalität, Gleichnishaftigkeit, bloßer Ähnlichkeit nachzuspüren, nun freilich ins Positive literarischer Erkenntnis gewendet.“ 120 Aus der umfangreichen Forschungsliteratur zum Schau-Platz jämmerlicher Mord-Geschichte (1649–1650 u.ö.) und dem Schau-Platz Lust- und Lehrreicher Geschichte (1650–1651 u.ö.) und deren Erzählverfahren verweise ich nur auf Dieter Breuer: „Einübung ins allegorische Verfahren. Zur Funktion des Erzählens in Harsdörffers Gesprächspielen“, in: Italo Michele Battafarano (Hg.): Georg Philipp Harsdörffer. Ein deutscher Dichter und Europäischer Gelehrter. Bonn 1991, S. 127–142; Judit M. Ecsedy: „Thesen zum Zusammenhang von Quellenverwertung und Kompilationsstrategie in Georg Philipp Harsdörffers Schau-Plätzen“, in: Stefan Keppler-Tasaki und Ursula Kocher (Hg.): Georg Philipp Harsdörffers Universalität. Beiträge zu einem uomo universale des Barock. Berlin u.a. 2011, S. 115–146; Stefan Manns: „,Die wahre und merckwuerdige Geschichte lehret‘. Zum Erzählen in Georg Philipp Harsdörffers Schau-Plätzen“, in: a.a.O., S. 147–165. 121 Vgl. hierzu v.a. Peter-André Alt: „Literarische Imagination als ars combinatoria. Zum Verhältnis von Bildpoetik, Fiktion und Epistemologie bei Harsdörffer“, in: Harsdörffers Universalität, S. 23–38, hier über die zentrale Funktion der Gleichnisse v.a. S. 27f. 122 Zur Emblemtheorie siehe Ursula Kocher: „,Die maechtige Bildung unserer Gedanken‘. Zur Emblematiktheorie Gerg Philipp Harsdörffers“, in: Harsdörffers Universalität, S. 181–195, speziell zur Funktion des Vergleichens S. 184–186.

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Im Anschluss an Quintilian unterscheidet Harsdörffer „erklärende“ von „beweisenden“ Gleichnissen,123 wobei er die ersteren als „bei den denckwuerdigen Reden sehr gemein“ bezeichnet, da sie lediglich eine oder mehrere Qualitäten einer Person oder eines Gegenstandes gleichnishaft ausdrücken,124 die beweisenden Gleichnisse dagegen müssten syllogistisch gebaut sein.125 Gemeinsam haben beide Arten, dass sie etwas Unbekanntes in gleichnishaftem Rückgriff auf etwas Bekanntes erläutern, wobei im Fall des beweisenden Gleichnisses zum Bekannten noch der Wahrheitswert hinzutreten muss.126 Die hohe Anzahl von Exempeln in beiden Teilen der Ars (199 im 1. Bd. und 179 im 2. Bd.127) ist vermutlich weniger dem komplexen Bau solcher Gleichnisse, sondern eher dem Stellenwert des Vergleichens in Harsdörffers gesamtem Bildungssystem geschuldet. Es finden sich kürzere und längere Apophthegmen,128 auch umfangreichere Anekdoten, die sogar gelegentlich eine Druckseite füllen können.129 Hin und wieder klingen auch misogyne Töne an, wobei es Harsdörffer in folgendem Beispiel eventuell auch um den ungalanten Akademiker gehen mag: 500. Weiber. Eine Doctorin wuenschte/ daß sie ein Buch sein moechte/ da wuerde sie ihr Herr mehr lieben/ als er nicht thue. Ja/ sagte der D[octor] es mueste aber ein Kalender seyn/ so haette ich alle Jahr einen neuen.130

Hier treffen zwei Gleichnisse aufeinander, und die Antwort des gewitzten Doktors verhält sich zur Provokation seiner Ehefrau gemäß der vierten Kunstquelle: Kalender sind als besondere Klasse von Büchern von diesen „abgeteilt“. Hier wird abermals deutlich, wie die vierte Kunstquelle den übrigen gewissermaßen organisierend zugrundeliegt. Insgesamt gleichen sich Harsdörffers reichliche Exempel-Gleichnisse aber im Lauf der Aufreihung mehr und mehr dem ersten Typus, der Gnome, an. Allein im Teil der „erklärenden“ Gleichnisse bilden die Nummern 502 bis 511 Sprichworte 123 Hier belegt nach einer der gängigen frühneuzeitlichen Ausgaben: M[arci] Fabii Quintiliani Rhetoris clarissimi oratoriarum institutionum Libri XII. opera ac studio Ioachimi Camerarii, Ioaniis Sichardi, aliorumque doctissiorum in utraque lingua Virorum […] Basel 1543, l. VIII, S. 347–349, hier: 347: „[…] aliae sunt quae probationis gratia inter argumenta ponuntur, aliae ad exprimendam rerum imaginem compositae […].“ 124 Aeneas war den Bitten Didos gegenüber standhaft wie ein Eichbaum im Sturm, auch wenn dieser dabei Blätter verliert wie jener Tränen (Aen. 4,438–449). Vgl. Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., Vorrede, §§ 65–67, S. 29; das paraphrasierte Beispiel in § 65. 125 Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., §§ 68–70, S. 30f. 126 Vgl. Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., § 73, S. 31: „Diesem nach beweist die gute Gleichniß/ die falsche aber/ wann ein Theil nicht waar/ oder nicht durchgehend waar ist/ betreugt.“ 127 Nachzuzählen Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., S. 102–141, sowie 2. Bd., Sprüche, S. 91–125. 128 Vgl. etwa Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., Sprüche, Nr. 451–459, S. 102f.; Nr. 461– 567 [recte: 467], S. 104f. 129 Vgl. Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., Nr. 492, S. 111f. [recte: 110f.]: „Großmuetigkeit“ und, sicherlich wieder aus den Sammlungen König Alfons I. geschöpft, Nr. 493. „Hunger“. 130 Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., S. 113. Eine Quelle konnte nicht ermittelt werden.

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ohne weitere kontextuelle Einbettung, 519 bis 532 folgen alle dem elocutionellen Schema „x gleicht y“, eine Tendenz, die sich auch in den beweisenden Gleichnissen fortsetzt131 und sich erst recht in den Beispielen der Fortgeleiteten Kunstquellen entfaltet. Große Variabilität kann sich so nicht einstellen, daher sei noch ein Beispiel für ein beweisendes Gleichnis zitiert, zu dem Harsdörffer den enthymematischen Vordersatz des scharfsinnigen Spruches selbst hinzufügt: 620. Essen. Julius Caesar Scaliger/ als er wolte zu Tische gehen/ sagend: „Kommt last uns deß Menschen Platonische Mauren bauen“/ wolwissend/ daß Plato gelehrt/ die Seele seye der rechte Mensch/ der Leib aber nur sein Becirck und Maurengebaeue/ in welchem die Seele/ als in ihrer Statt wohne.132

Die achte Kunstquelle entspringt aus dem „Gegensatz“ und umgreift alle Formulierungen e contrario. Auch Harsdörffer weiß „mehrers […] hiervon nicht zu melden“ und beschränkt die theoretische Bestimmung auf einige Beispiele und den Hinweis, dass diese Quelle der inventio notfalls auch die anderen ersetzen könnte.133 Die Reichhaltigkeit der Operation mit Gegensätzen zeigt sich auch in den nun mehr als zweihundert Exempeln, die Harsdörffer allein in der ersten Chiliade präsentiert. Auf reiner Entgegensetzung beruht der folgende Spruch, der dem sagenumwobenen persischen Fabeldichter Locman (Luqmān) zugeschrieben wird: 682. Lernen. Der kluge Lockman wurde gefragt: von wem er seine Geschicklichkeit gelernet: von den Ungeschickten/ antwortete er: dann was mir in ihrem Thun mißfallen/ das vermeide ich/ und wann ich das widerige thue/ was sie in ihrem Unverstand zu thun pflegen/ so kan ich nicht fehlen.134

Aus mehreren verschiedenen Gegensätzen speist sich hingegen das folgende Exempel: 714. Diebstahl. Ein Papist hatte eine Summa Gelds in das Sacraments Haeuslein eingesperrt/ und schriebe darauf: Hier ist der Herr. Ein andrer entwendet ihm das Geld/ und schriebe: Er ist auferstanden und ist nicht hier.135

Der zunächst rein semantische Gegensatz (von ‚Vorhandensein‘ und ‚Fehlen‘) wird hier kombiniert mit dem Gegensatz zwischen einem schlimmeren Vergehen, nämlich dem Missbrauch des Allerheiligsten als Geldschatulle, und einem zumindest in der Logik der knappen Handlung lässlichen: dem Diebstahl. Zugleich kann ein kundiger Leser aus der Pointe des gewitzten Räubers auch einen konfessionell-dogmatischen Gegensatz destillieren, der Rechtfertigungslehre und Eucharistieverständnis zugleich betrifft: Während der Katholik den „Herrn“ mit Geld gleichsetzt, also der 131 Vgl. etwa Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., Nr. 570, 573, 583f., 592–594 und 598, S. 126–132. 132 Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., S. 137; vgl. Platon: Kratylos 400b/c, wo der Körper allerdings zum Gefängnis der Seele zugespitzt wird. 133 Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., Vorrede, §§ 75–82, S. 33f, zitiert § 82, paraphrasiert § 80. 134 Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., Sprüche, S. 148; zu Locman, der heute als die arabische Aesop-Überlieferung kenntlich ist, siehe oben Anm. 100. 135 Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., Sprüche, S. 156.

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Werkgerechtigkeit anhängt, nimmt der Dieb die Auferstehung ernst, indem er (gegenläufig!) den Evangelientext zitiert,136 göttliche Gnade von weltlichem Besitz sowie die Hostie von der Realpräsens des „Herrn“ trennt und somit letztlich den (geistlichen) Lohn davonträgt. Diese wirklich argute Fügung ließe sich versuchsweise so beschreiben, dass der Gegensatz zwar den Text insgesamt strukturiert, dass die vielschichtige Pointe aber ebenso auf den Kunstquellen von „Doppeldeutung“ (des Verbs ‚sein‘) und „Gleichnis“ (des Geldes mit Gott, des Diebstahls mit der Auferstehung) beruht. Harsdörffer selbst räumt ein, dass seine Beispieltexte „theils auch unter andre Titul haetten koennen gezogen werden“,137 und abermals lassen sich in den Exempeln Mehrfachnennungen138 sowie der Drang zum Sentenzhaften feststellen.139 Die letzten beiden Kunstquellen fügen den bisherigen keine neuen Arten der Invention hinzu, vielmehr präsentieren sie die bisherigen Techniken von Etymologie, Polysemie, Analyse, Folge, Hyperbel, Gleichnis und Kontrast in besonderen elocutionellen Formen: der Frage in der neunten und der Geschichte in der zehnten Quelle. Harsdörffer fühlt sich offenbar verpflichtet, „doch noch etliche [Quellen] an[zu]fuegen/ damit keine Erzehlung vorkommen soll/ sie koenne dann in diesem Buch ihre gewisse Stelle finden“.140 Es scheint also primär die Exhaustivität seines Modells zu sein, die ihn diese beiden Kategorien hat aufnehmen lassen.141 Darüber hinaus stellen Frage (bzw. Antwort) und Erzählung aber auch zwei vergleichsweise einfache Präsentationsformen des Scharfsinns dar und sind somit didaktisch auch für die Unerfahrenen oder Anspruchslosen geeignet. Wie der Autor vermerkt: [W]ann dieses alles nach besagten VIII. Kunstquellen ermanglen wolte/ so wird keiner so bloed seyn/ welcher nicht eine Frage aus besagtem aufbringen oder […] eine gleichstaendige kurtze Geschichte solte erzehlen koennen.142

Beispiele erübrigen sich an dieser Stelle, da sie unter den oben zitierten Exempeln bereits zu finden wären. Einstweilen genügt es festzuhalten, dass Harsdörffer mit seinen zehn fontes alle möglichen Fälle einer scharfsinnigen, den Rahmenbedingungen der höfischen wie auch höflich-bürgerlichen Sphäre angemessenen, Kon-

136 Mt 28,6: „Non est hic, surrexit enim […].“ 137 Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., Vorrede, § 82, S. 34. 138 So wird Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., Sprüche, Nr. 672, S. 147, in Nr. 688 auf S. 150 nur wenig abgewandelt. 139 Als gnomisch oder gar sprichwörtlich können gelten die Nummern 671, 675, 676, 708, 709, 722, 726, 728, 730, 731, 749, 752–757, 760, 785, 796, 798, 825, 826, 830; S. 163, Nr. 748 und 749 haben sogar adhortativen Charakter. 140 Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., Vorrede, § 85, S. 36. 141 Dabei präzisiert Harsdörffer, gut didaktisch, dass zum Zweck der geselligen Unterhaltung nicht jede Art Frage geeignet sei, wie sie etwa in den Wissenschaften gestellt würden (Ars Apophthegmatica, 1. Bd., Vorrede, § 88, S. 37). Vielmehr soll man sich dafür auf Fragen aus dem Feld der Moral beschränken und vor allem Zeit, Ort und Publikum als Faktoren des rhetorischen aptum berücksichtigen. Vgl. a.a.O., §§ 89f. 142 Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., § 91, S. 38.

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versation systematisch erfasst zu haben glaubt. Da Masen ihm genau diese Systematik abspricht, soll zum Schluss ein knapper Vergleich die Plagiatsfrage zu klären versuchen. 3. FAMILIENÄHNLICHKEIT UND / ODER PLAGIAT? Rückblickend betrachtet, besteht Masens pädagogisch-reformerische Leistung vor allem darin, nicht nur für Jesuitenschüler eine zeitgemäße, elementare Einführung in das anstandsgemäße gesellige Verhalten gemäß den Standards einer wesentlich christlich und höfisch geprägten Gesellschaft gegeben zu haben. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Darbietung gut fasslicher Regeln und Beispiele sowie auf der Entwicklung einer inventorischen Topik für den Einsatz von Argutia, die es den Adepten nicht nur ermöglichen soll, die reichlich vorhandenen Konversationsstoffe (vor allem greifbar in Sammlungen kleiner Rede- und Textgattungen) in ihrer literarisch-rhetorischen Form und ihren lebensweltlich-aktuellen Einsatzmöglichkeiten zu beherrschen, sondern diesen Schatz auch kreativ auswählend, fortbildend und erfindend zu vermehren. Masen zitiert in seiner Ausgabe von 1660 nun nicht nur mehrfach Harsdörffers Ars apophthegmatica von 1655 (und zwar unter dessen Pseudonym „Quirinus Pegeus“), sondern erhebt zugleich auch den besagten Plagiatsvorwurf gegenüber Harsdörffer, allerdings ohne dessen Namen zu nennen:143 1655 habe ein anderer eine Sammlung von Apophthegmen und Inschriften veröffentlicht, die auf denselben Ordnungsprinzipien beruhe wie Masens Werk, nämlich den vier ‚Quellen‘ und ihren ‚Adern‘. Dabei setze der Plagiator aber zehn ‚Quellen‘ an144 und berufe sich auf das Recht, Vorfindliches verbessern zu dürfen im Sinne eines Mehrwertes, um die Lehre zu optimieren.145

143 Vgl. den Beginn der erweiterten Familiarium argutiarum fontes von 1660. Abgesehen von den hier zu schildernden Details des Plagiatsvorwurfs ist der Einfluss Masens auf Harsdörffer in der Forschung längst bekannt. Vgl. etwa Breuer: „Ingenium“, S. 881; Althaus: „Eine ,artem Apophthegmaticam‘ haben“, belegt Masens Bezugnahme auf Harsdörffer (S. 304), benennt aber merkwürdigerweise nicht den Plagiatsvorwurf. 144 Dass Masen den Autor nicht namentlich nennt, passt einerseits bestens zu seiner Verteidigungsstrategie, die den anderen um der Sache willen vornehm-zurückhaltend in seine Schranken weist. Mit der Nennung von Werktitel und Erscheinungsort und -jahr (Nürnberg 1655) gibt er den Lesern andererseits mehr als genug Hinweise. 145 Vgl. Masen: Familiarium Fontes, S. 1f.: „[…] tum quod recens vulgatum autorem, in arte sua Apophthegmatica, hisce Argutiarum fontibus, tanquam abs se inventis, usum videam; ideoque, vel me, vel illum Plagij crimine, à prudente Lectore, quisquis utriusque scripta legerit, onerari necesse sit. Ut justae defensionis partes, mihi ratio et causae aequitas imposuerit; ne & in his, & in caeteris scriptis, cum symbolicis, tum oratorijs, sacris profanisque, quorum (si Deus tempus lucemque dederit) conceptus quoslibet rariores ex his inventionis derivo fontibus, alteri debere autori, nec tamen tribuere videar. Non pudet aliena instructione uti; at mihi vendicare, ac sublegere, tanquam proprium, quod alienum sit, illius omnino puderet. Ergo fontes argutae dictionis actionisque dedi, in arte nova, ut inscripseram, argutiarum, anno 1649. Coloniae apud

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Masen wolle nun keinen Angriff starten, sondern nur seine Autorenrechte verteidigen.146 So beanspruche er, eine neue, verbesserte Ausgabe seiner Familiarium argutiarum fontes separat drucken zu lassen. Er wolle den anderen nicht bestrafen, sondern nur belehren – wie man einen Novizen behandelt.147 Denn Harsdörffers Werk habe erhebliche Defizite: Die Darstellung sei systematisch gesehen unvollständig148 und zuweilen terminologisch-kategorial verunklärend.149 So könne sie nicht beanspruchen, ein Lehrstück mit einem konsistenten Regelwerk zu geben,150 das sachlich und pädagogisch überzeuge.

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Ant. Kinckium edita; septennio post, hoc est, ann. 1655. sequitur alter, qui artis apophthegmaticae fontes Noribergae vulgat […]. Quare cum hic autor ab aliis, id factum observantibus, ad me delatus esset, atque haec in praefatione ad primam ejus partem n. 11. verba legerem: utamur privilegio, quibus omnium artium novis inventoribus, uti concessum est, ut inventis addere liceat: quisquis enim artifex debet augere artem suam: ideoque is sibi hanc inventionem vendicet.“ Vgl. Masen: Familiarium Fontes, S. 2: „[…] seorsum mihi cum hac admonitione, familiarium argutiarum fontes dare placuit: non ut alium insimulem, cum quo nulla mihi intercedit aemulatio; sed ne ego aliena, tanquam propria, dissimulato autore ac nomine, videar inique usurpasse. Hasta Palladis abstineo, clypeum tantum justae defensionis obtendo.“ A.a.O., S. 3f.: „Quae si ipsi mutatio ad sui defensionem, mihi certè ad mei propugnationem sufficere visa non est: ut iccirco hanc animadversionem relinquendam putaverim, nulli injurius, dum propria tuebor. Non culpo scriptorem alienis utentem, si profiteatur autorem: ne sibi arroganter vendicet non suum. In exemplis ignoscendum, quanquam & hic aliena fide, praesertim veterum, primorumque scriptorum, quàm mea uti malim. Tutius ex ipso fonte bibuntur aquae. [Ovidius: Epistulae ex Ponto 3,5,18, ed. Richmond 1990: „gratius ex ipso etc.“] Non verebor, ubi ex autore illo se quicquam his tabulis opportunum modò obtulerit, ipsius autoritate signare: ita enim pro me fidem scriptis praestare tenebitur. Quidquid hac lege alienum est, diligentiae, opinor, laudem in scriptore merebitur potius, quàm cujusquam reprehensionem.“ Vgl. Masen: Familiarium Fontes, S. 2f.: „Indignari jure illa [Pallas Athene] queat; cum casta et Virgo sit, quae corruptores ferre non possit: Sed cum rudi hanc rem Minerva tentarit apophthegmatum digestor, neque ullam artis, quam profitetur, regulam tradiderit, mitiori admonitione perstrictum, velut novitium hujus scholae discipulum, abs se dimittet, et cautiorem deinde esse jubebit. Ne si fortè suas repetitum venerit olim/ Grex avium plumas, moveat cornicula risum/ Furtivis nudata coloribus. Horat. ad Celsum in Epist. [1,3,18–20].“ Vgl. Masen: Familiarium Fontes, S. 2: „[…] iisdem principiis erutos, nisi quod everso ordine numeroque, ex meis fontibus quatuor, ipse (his in suas partes divisis) decem excitet: multò etiam plures, si singulas excussisset partes (quas ego venas appellavi) daturus.“ A.a.O., S. 3: „Illud equidem miror, decem illum excitasse fontes, & nec decem quidem his complecti omnem apophthegmatum varietatem, quam quatuor ego fontibus strinxi.“ Masen: Familiarium Fontes, S. 3: „Iterum miror, quod argutè facta, quae à me introducta sunt, in apophthegmatum seriem ab illo transportentur: cum haec, omnium Doctorum judicio, solis argutè sapienterque dictis illustrium virorum contineri censeantur. An hic ego cum Martiale cogar dicere? Quem recitas meus est, ô Fidentine, libellus:/ Sed malè dum recitas, incipit esse tuus. Lib. 1. Epig. [38,1f.]. Voluit nimirum apophthegmatum titulo hanc & artis distributionem, et rerum diversitatem lectori offerre; ne alieni usurpator audiret.“ Vgl. Masen: Familiarium Fontes, S. 2: „[…] neque ullam artis, quam profitetur, regulam tradiderit […].“

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Geht es andererseits Harsdörffer überhaupt primär um Argutia? Gerade in der Continuatio seiner Ars greift er immer mehr auf Texte zurück, die weniger scharfsinnig wirken, doch vielmehr inhaltlich Kurioses bieten.151 Unter den reichhaltigen Möglichkeiten, zur differenzierten und teils auch stilisierten Konversationskultur des 17. Jahrhunderts etwas beizutragen, scheint Argutia neben der (moralischen) Sentenz oder der unterhaltsamen, Neuigkeiten präsentierenden Geschichte nur eine Option zu sein. Diesen Unterschied zwischen Masens und Harsdörffers Perspektive gilt es zu berücksichtigen, während in anderer Hinsicht stärkere Konkurrenz festzustellen ist. Der Nürnberger erhebt nämlich für sein in der Ars apophthegmatica dargelegtes System durchaus den Anspruch der Ausschließlichkeit: Wie nun zweyerley Sachen/ entweder von einander unterschieden sind/ nach der IV. Quelle/ oder auf einander folgen und aus einander entstehen/ nach der V. Quelle/ oder sich zu einander gar nicht schicken/ nach der VI. Quelle/ oder einander gleichen/ nach der VII. Quelle/ oder einander zu wider sind/ nach der VIII. Quelle; als erhellet/ daß keine nachsinnige Sache kann gefunden oder gesagt werden/ welche nicht aus diesen Quellen herfließen muesse.152

Selbstbewusst behauptet der Autor, die Bedingungen aller Möglichkeiten für pointierte inventio und elocutio mit diesem Werk aufgezeigt zu haben. Doch fällt zugleich auf, dass er zur Behauptung dieser Ausschließlichkeit nur fünf der zehn Kunstquellen heranzieht, sich also, mutatis mutandis, auf den Stand der Frauenzimmer Gesprächspiele zurückzieht. Warum hat er aber seine Kategorien auf zehn erweitert, wenn zur Geschlossenheit des Systems offenbar nur die genannten fünf notwendig wären? Zunächst muss man einen symbolischen Wert der Zehnzahl in Rechnung stellen, die Harsdörffer offenbar wichtig ist: Durchschnittlich präsentiert er jeweils zehn mal zehn Beispiele zu den zehn Kunstquellen pro Buch. Zudem verwendet er jeweils genau 100 Paragraphen der Vorrede auf den theoretischen Umriss seiner fontes.153 Im christlichen Kontext der Frühen Neuzeit ist dabei sicherlich an die Zehn als symbolische Zahl geistlicher Vollkommenheit zu denken.154 Mit Sicherheit spielt auch die Zehnzahl der Kategorien in der aristotelischen Topik eine Rolle. Sich numerisch an ihr zu orientieren, unterstreicht für Harsdörffer und seine gebildeten Zeitgenossen den Anspruch, seinen Gegenstand erschöpfend dargestellt zu haben.155 151 Beispiele bietet Althaus: „Eine ,artem Apophthegmaticam‘ haben“, S. 289f. 152 Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 2. Bd., Vorrede, § 37, S. 17. 153 In der Vorrede zum ersten Band umfasst die Vorrede genau einhundert Paragraphen. In der Continuatio sollten es dann lediglich 82 werden; vgl. Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 1. Bd., S. 1–40. Nimmt man jedoch die anschließende lateinische Praemonitio ad eruditum Lectorem mit ihren 18 (nicht gezählten) Abschnitten hinzu, ergibt sich wieder eine Zahl von 100. Vgl. a.a.O., S. 41–48. 154 Den zehn Schöpfungsworten in Gen 1 entsprechen zehn Gebote in Ex 20 (vgl. Dtn 5). 155 Vgl. Aristoteles: Top. 1,9,103b22; treffend zu Harsdörffer die Formulierung bei Franz Günter Sieveke: „Topik im Dienst Poetischer Erfindung. Zum Verhältnis rhetorischer Konstanten und ihrer funktionsbedingten Auswahl oder Erweiterung (Omeis – Richter – Harsdörffer)“, in: Jahrbuch für internationale Germanistik 8/2 (1976), S. 17–48, hier: 31: „Man hat einen Gegenstand

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Doch überbietet die Kategorien-Dekade Masens Tetrade nur auf den ersten Blick. Ein genauerer Vergleich, der hier nur in Form einer Übersicht (s.u., Kap. 4.) präsentiert werden kann, zeigt, dass Masen durch die Ableitung seiner Quelle in „Quelladern“ (venae) insgesamt 22 Spielarten arguter Fügung unterscheidet. Dem gegenüber differenziert Harsdörffer seine Zehnzahl kaum weiter aus, nimmt lediglich bei den „Gleichnissen“ eine substantielle feinere Unterscheidung vor. Es zeigt sich ferner, dass Harsdörffer um Kohärenz seines gesamten Bildungsprogramms bemüht ist, in dem die Ars apophthegmatica nur ein Teil ist. So nimmt er mit der „Abtheilung“ auch das übergeordnete Prinzip seiner Unterteilung in die Systematik auf und illustriert an den „Gleichnissen“ nicht nur eine Art arguter Wort- und Gedankenfügung, sondern zugleich ein grundlegendes Prinzip seiner Bildungs- und Imaginationstheorie. Entgegen Masens Beschwerde, Quirinus Pegeús habe behauptet, seine – Masens – Systematik verbessern zu können, erwähnt der Nürnberger den Jesuiten kaum und sicherlich nicht als Ausgangspunkt seiner eigenen Ars. Von den insgesamt fünf Bezugnahmen steht eine, recht pauschale, in der Einleitung zur „Beylage“ des zweiten Bandes, in der Harsdörffer Mustertexte für argute Inschriften versammelt.156 In der Vorrede belegt er eine historische Anekdote neben anderen Autoritäten auch mit Masens Lehrwerk der Sinnbildkunst Speculum imaginum veritatis occultae (1650),157 und übernimmt ein Exemplum aus dessen Ars nova argutiarum.158 Wichtiger und in ihrer Differenz bezeichnender sind die übrigen beiden Rekurse, die sich in der lateinischen Praemonitio finden, mit der Harsdörffer sich zu Beginn der Fortgeleiteten Kunstquellen an seine „gelehrten Leser“ wendet. Am Schluss der Vorrede handelt er (wie später in der „Beylage“) von inscriptiones und

– auch ontologisch – erschöpfend behandelt, wenn man ihn gemäß den Aspekten der zehn Kategorien abfragt und die gewonnen Aussagen zusammenstellt.“ 156 Vgl. Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 2. Bd., Beylage, S. [2]. Er verweist auf das dritte Buch der Ars nova argutiarum und Masens dortiges Kapitel über inscriptiones. 157 Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 2. Bd., Vorrede, § 51, S. 27. 158 Vgl. Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 2. Bd., Sprüche, S. 517, Nr. 5567 („Soldaten.“) mit Masen: Ars Nova, S. 87. So bemerkte schon Althaus: „Eine ,artem Apophthegmaticam‘ haben“, S. 293.

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empfiehlt neben Francesco Pola159 sowie einem gewissen Praeti und Loredanus160 auch Masens Werke zur weiteren Lektüre.161 Neben diesen ausdrücklichen Nennungen, mittels derer Harsdörffer Masen als Autorität auf bestimmten Gebieten, die er nur streift, anerkennt, grenzt er sich jedoch auch von der Systematik des Jesuiten ab. Bezeichenderweise tut er dies implizit und ohne diesen oder sein Werk beim Namen zu nennen, sodass nur ein Leser, der Masens Werk kennt (Masen selbst?), die Verknüpfung herstellen konnte. Zunächst stellt der Autor auch in der lateinischen Leservorrede fest, dass gerade durch die 6.000 Exempla, die er zusammenträgt, „alles, was scharfsinnig und zugespitzt gesagt werden kann“ aus seinen Kunstquellen abgeleitet werden könne.162 Damit ist das Thema der ‚Ableitung‘ angesprochen, und hier sieht sich Harsdörffer doch zu einer Konzession genötigt: Ich streite nicht ab, dass aus diesen Quellen noch sehr viele Quelladern abgeleitet werden können, wie etwa aus der Quelle der Gleichnisse: 1. Wenn Dinge, die auf den ersten Blick unterschiedlich sind, über ein drittes verglichen werden, z.B.: wenn ich einen Parasiten als Biene bezeichnete, doch als eine, die nur für sich selbst Honig saugt. 2. Wenn zwischen ähnlichen Dingen eine ungleiche Wirkung oder Eigenschaft aufgezeigt wird oder umgekehrt, wie ein erlesener Dichter auf die Bildnisse der spanischen Könige Philipp II., und Philipp III., Vater und Sohn, schrieb: Wenn du die Sonne in ihrem Aufgang und zugleich im Untergehen betrachten willst, so komm heran, lass deinen Schritt und deinen Blick hier verharren. Hier steht der Abendstern, dort der Morgenstern im rosenfarbenen Aufgang: Hier sinkt die Sonne, dort geht sie auf. Und du siehst beides zugleich. 3. Wenn etwas mit sich selbst verglichen wird, indem auf unerwartete Weise das zusammengebracht wird, was an Ähnlichkeiten oder Unterschieden der Sache entstanden ist; z.B.: Der Treue der Penelope, die einst im Sprichwort ihren Platz hatte, wäre heute ein Platz unter den Wundern sicher.163

159 Vgl. Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 2. Bd., Praemonitio, S. 48. Harsdörffer führt ein Werk Elogiographia Francisci Ponnae an, dürfte damit aber den gerade zuvor von ihm selbst zitierten Francesco Pola meinen, einen aus Verona gebürtigen Juristen und professor publicus an der Universität Padua, bzw. dessen Hauptwerk, einen viel beachteten und oft nachgedruckten Lehrdialog über das kunstvolle Verfassen von Grab-Inschriften: L’Epitafio ouero difesa d’un’Epitafio. Fatto da Francesco Pola […]. Venedig 1600. 160 Mit Praeti dürfte der marinistische Dichter Girolamo Preti (1582–1626) gemeint sein. „Loredanus“ bezeichnet Giovanni Francesco Loredano (1607–1661), den Gründer der Accademia degli Incogniti. Er hatte gemeinsam mit Pietro Michiele eine Sammlung von scherzhaften Epitaphien herausgebracht, die einige Nachdrucke erfuhr: Il Cimiterio. Epitafi Giocosi De’ Signori Gio: Francesco Loredano e Pietro Michiele. Tivoli 1646. Lobende inscriptiones auf beide Dichter druckt Harsdörffer in der „Beylage“ zur Continuatio nach seinen eigenen deutschen Inschriften ab: Ars Apophthegmatica, 2. Bd., Beylage, S. 44–48. 161 Vgl. Harsdörffer: Ars Apophthegmatica, 2. Bd., Praemonitio, S. 48, sehr knapp: „argut. Poëtic. Jacobi Masen“. 162 Vgl. Hardsdörffer: Ars Apophthegmatica, 2. Bd., S. 44: „Exempla rerum gravium & ludicrarum VI. myriadibus exhibimus: eoque modo, ut, quicquid argutum & acutum dici potest, ad nostros, procul dubio, fontes, redigi & exigi queat.“ 163 Hardsdörffer: Ars Apophthegmatica, 2. Bd., S. 44f.: „Non nego, posse ex his fontibus, venas plurimas deduci, ut ex fonte Comparatorum. I. Si res specie dissimiles in uno tertio comparantur: ut, si Parasitum apem dixero, sed quae tantum sibi mellificat. II. Cum inter res similes dissimiles effectus aut proprietas ostenditur, vel vice versa, ut elegans Poëta ad effigiem Regum Hispan[iae] Phil[ippi] II. & Philippi III. Patris & Filii: Conjunctum occiduo Solem qui quaeris

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Was der Nürnberger hier „nicht abstreitet“, weist methodisch und sogar bis in die Begrifflichkeit hinein (Quelladern, Eigenschaften) die größten Ähnlichkeiten mit der Differenzierung auf, die Masen an seinen Fontes argutiarum vornimmt. Sogar die Reihenfolge entspricht nahezu genau den Adern, in die der Jesuit seine dritte Quelle, die des Vergleichs, aufspaltet, nur dass Harsdörffer lediglich drei venae präsentiert, wo Masen vier bietet.164 Zufällige Konvergenz scheint hier ganz ausgeschlossen. Vielmehr signalisiert Harsdörffer seinem rheinischen Vorgänger, dass er dessen Systematisierung der Argutia durchaus als eine Möglichkeit (posse) anerkennt, ihr aber nicht folgt. Jene Aussage über die exempla, die der zitierten Passage vorausgeht, macht deutlich, warum nicht: Für Harsdörffer sind es die Beispieltexte, aus deren Masse der Leser eher die Praxis arguten Sprechens ablesen kann als an einer feiner ausdifferenzierten Theorie. Ob das Gliederungssystem der Harsdörfferschen Ars damit wirklich auf dem „erreichten Stand einschlägiger (rhetorischer und poetischer) Theorie“ angesiedelt ist,165 erscheint jedoch fraglich. Den „Stand“ dürfte vielmehr Masen markieren, der die Ordnungskriterien zeitgenössischer Rhetorik und Poetik für die systematische Erfassung arguten Sprechens ganz neuartig anordnet.166 Dem Pegnitz-Schäfer geht es mit seiner kommentierten Kompilation mehr um die Fülle der einzelnen Exempla, nicht um die Substanz ihrer theoretischen Durchdringung und abstrahierenden Aufbereitung.167 Hier tritt ein Unterschied beider Autoren im Verhältnis zu gelehrt-humanistischen und weltmännisch-höfischen Qualifikationen zutage:168 Masen steht mit seinem Anspruch, seine Ars als akademischsystematisches Lehrbuch zu präsentieren, eher in der Tradition des schulmäßigen Späthumanismus, während Harsdörffer, der bereits in seiner deutschen Poetik die lateinische Sprache verabschiedet hatte,169 primär für Adressaten einer bürgerlichen und höfischen Sphäre schreibt. Allerdings zeigt sich Harsdörffer, indem er seinen

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Eôum, Hîc ades, hîc oculum finge & utrumque pedem. Hesperus hîc, illic; roseo stat lucifer ortu: Sol cadit hîc, illic surgit: utrumque vides. III. Cum idem secum comparatur, collatione minùs obviâ similium, aut dissimilium ejusdem rei inter se factorum, ut: Penelopea fides, inter proverbia quondam; Nunc in prodigiis posset habere locum.“ Vgl. unten in Kap. 4. die Einteilung und Formulierung der Quelladern 3.1, 3.3. und 3.4. So Althaus: „Eine ,artem Apophthegmaticam‘ haben“, S. 305. Vgl. die knappe Zusammenfassung und die Anerkennung von Masens Systematik bei HansJoachim Lange: Aemulatio Veterum sive de optimo genere dicendi. Die Entstehung des Barockstils im XVI. Jahrhundert durch eine Geschmacksverschiebung in Richtung der Stile des manieristischen Typs. Bern u.a., 1974, S. 51f. Diesen Gegensatz formuliert für Harsdörffers Epistemologie insgesamt Alt: „Literarische Imagination“, S. 37. Ähnliches bemerkt Althaus: „Eine ,artem Apophthegmaticam‘ haben“, S. 304: „[A]n der Fülle des Dargebotenen“ sollten „operationalisierbare Verfahren ausgestellt werden, die die Prosa, die descriptio und narratio jeweils stellenbezogen und mit dem Zweck interner Fügung organisieren.“ Er räumt ein: „Zu begrifflicher Entfaltung oder normativer Bestimmung kommt es auf diesem Weg nicht.“ Zu den zunehmenden Konflikten zwischen diesen beiden Qualifikationen im Lauf des 17. Jahrhunderts vgl. Kühlmann: Gelehrtenrepublik, S. 136–146. Dies zeigt schon der Titel: Poetischer Trichter. Die Teutsche Dicht= und Reimkunst/ ohne Behuf der Lateinischen Sprache/ in VI. Stunden einzugiessen (Hervorh. Verf.).

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Hauptfleiß auf die Zusammenstellung jener immensen Zahl von Beispieltexten richtet und darauf zählt, dass die Bauprinzipien pointierten Sprechens sich aus ihnen induktiv erfassen lassen, auf der Höhe einer sich neu positionierenden europäischen Poetik. Denn ebenso hat sich Gracián in seinem agudeza-Traktat fast zeitgleich aus den gebahnten Gleisen einer Regelpoetik gelöst, um die neue, eben scharfsinnig-manieristische Poesie seiner Gegenwart auf induktivem Wege, eben vom literarischen Einzelfall her, adäquat erfassen zu können.170 Insofern ist Masens Plagiatsvorwurf ebenso zu relativieren wie Harsdörffers Anspruch der systematischen Vollständigkeit. Zu hart fällt allerdings das Verdikt Daniel Georg Morhofs aus, der als Systematiker eindeutig Masens Argutia-Lehrbücher bevorzugte, und Harsdörffers Ars apophthegmatica als ein „schon in den Anfangsgründen verstümmeltes und mangelhaftes Werk“ abtat.171 Wie immer man das Verhältnis dieser beiden so unterschiedlichen Lehrwerke zueinander bestimmen mag: Sie wurden in ihrer jeweiligen Sphäre erfolgreich rezipiert. Masens Argutia-Theorie sollte (neben dem einschlägigen Lehrbuch seines polnisch-litauischen Ordensbruders Matthias Sarbievius) bis ins 18. Jahrhundert die jesuitische Ausbildung prägen und auch von den maßgeblichen protestantischen Poetikern, wie Morhof, Omeis und Rotth, gewürdigt werden. Was Harsdörffer angeht, so finden seine Werke schnell Eingang in die späteren Handreichungen zum korrekten Verhalten am Fürstenhof wie auch im Bürgerhaushalt. So führt schon Tobias Schrödter in seiner Allmodischen Sitten-Schule (1660), wenn es um die Gesprächsthemen an adligen und großbürgerlichen Tafeln geht, Harsdörffers Pseudonym an dritter Stelle der einschlägigen Referenzwerke an: Anlangende die Gespraeche/ so da bey solcher Versamlunge unter denen Manns-Persohnen am meisten beliebet werden/ seynd vornemblich kluge Apophthegmata/ davon Zinckgref/ Lycosthenes/ Pegeus/ und etliche andere mehr/ solche beliebende Arthen auffgesetzet haben/ deßgleichen des Philanders von Sittewald seine Satyrische Gesichter […].172

Aus der Perspektive historischer Rekonstruktion geben Masens wie Harsdörffers Werk darüber Auskunft, wie zur Mitte des 17. Jahrhunderts eine systematische Bildung zur nicht nur höflichen, sondern auch geistreichen Geselligkeit, mithin eine 170 Vgl. zu diesem Vorgehen Graciáns den erhellenden Aufsatz von Nataniel Christgau: „LiteraturTheorie. Ein kurzer Versuch über Gracián hinaus“, in: Komparatistik Online 2014. URL: http://www.komparatistik-online.de/2014-1-6 (letzter Zugriff: 13. November 2017), S. 101– 116, v.a. 112f.: „Das Verhältnis von Theorie und Gegenstand, Definition und Beispiel, ist umgekehrt. Diese Umkehrung der Verhältnisse ist wohl, vor allem im Bereich der Darstellung, d.h. in der Verwendung der Beispiele, der Anspruch Graciáns.“ 171 Vgl. Daniel Georg Morhof: Commentatio de disciplina argutiarum. [S.l.] 1693, S. 166: „Harsdörfferus […] in ipsis principiis mutilum & mancum opus reliquit.“ Das vollständige Urteil zitiert Verweyen: Apophthegma und Scherzrede, S. 145 mit Anm. 212. 172 Schrödter (der eventuell mit dem gleichnamigen Magdeburger Buchhändler identisch ist?) veröffentlichte sein Werk unter einem anagrammatischen Pseudonym, womöglich auch, weil er darin manchen Fauxpas aus seinem gesellschaftlichen Umfeld preisgab: Allmodische SittenSchule/ In welcher Wie man sich dieser Zeit in allerhand Hohe und Niedrige Persohnen loblich schicken […] Alles zu sonderbarer Erbauung […]anietzo zum Druck befoerdert von Thisabo Redtschorn. Jena 1660, das Zitat hier: 379f. („Sechster Bewust“).

254

Jost Eickmeyer / Reinhard Gruhl

Topik der Argutia erforderlich wurde und wie diesen Erfordernissen auf unterschiedliche Weise, akademisch-deduktiv oder kompilatorisch-induktiv begegnet werden konnte.

Argutia und Gesprächsspiel

255

4. ANHANG: EINE TABELLARISCHE GEGENÜBERSTELLUNG DER ARGUTIA-TOPIK BEI MASEN UND HARSDÖRFFER173 Harsdörffer (Gesprächspiele, 1643)

Masen (Ars Nove Argutiarum, 1649)

Harsdörffer (Ars apophthegmatica, 1651)

4.4 Angespielt wird an Sprichwörter bzw. irgendeinen zum geflügelten Wort gewordenen Ausspruch.174

1. Lehrsprüche: Sentenzen, Gnomai

4.2 Angespielt wird mittels einer Abwandlung des Wortes oder seiner Bedeutung, was durch eine Vertauschung von Buchstaben oder Silben oder auch der grammatischen Casûs in verschiedener Weise geschehen kann.175

2. Wortforschung: Etymologie, Onomatopoeie, Anagrammatik

4.1 Angespielt wird mittels einer Abwandlung dessen, was ein Wort oder eine Vorstellung bezeichnet, wobei das Wort oder die Vorstellung selbst unverändert bleibt.176

3. Doppeldeutung: Wort- und Gedankenspiele aufgrund von Polysemie

„von Umstaenden“

„der Wortart“ (uneigentlicher Gebrauch von Sprache)

4. Abtheilung: Analyse „von der Wuerkursach“

5. „natürliche“ Abfolge: harmonische Proportionen der Gedankenfügung; organische Entwicklung 2. Befremdliche Bestimmungen

6. Disharmonie, Hyperbolik

173 Um eine sinnvolle Zuordnung der vergleichbaren „Quellen“ vorzunehmen, musste die systematische Reihenfolge aus Masens Ars Nova Argutiarum aufgebrochen werden. Sie ließe sich aber anhand der Nummerierungen unschwer wiederherstellen. Hier kommt es aber auf eine Synopse der drei binnen eines Jahrzehnts entwickelten Topik-Entwürfe an. 174 Masen: Ars Nova, S. 238: „Alluditur ad paroemias, sive dictum aliquod factum vulgare.“ 175 Masen: Ars Nova, S. 233: „Luditur inflexione vocis simul & significationis; quod fieri aut litterarum, aut syllabarum, aut casuum permutatione variè poterit.“ 176 Masen: Ars Nova, S. 228: „Luditur inflexa vocis, aut sententiae significatione; voce tamen, aut sententiâ immutatâ.“

256 Harsdörffer (Gesprächspiele, 1643)

Jost Eickmeyer / Reinhard Gruhl Masen (Ars Nove Argutiarum, 1649)

Harsdörffer (Ars apophthegmatica, 1651)

2.1 Eine befremdliche Aussage wird über die Person gemacht, von der gerade gehandelt wird.177 2.2 Über eine Sache oder ein Geschehenes wird mit Blick auf ihre Definition, Natur oder Eigentümlichkeit eine befremdliche Aussage gemacht.178 2.3 Wenn einer vorgeführten Sache eine befremdliche Ursache oder Wirkung zugesprochen bzw. eine Ursache benannt wird, die (nach üblicher Anschauung) schwerlich ihre Ursache ist, oder eine Wirkung, die (nach üblicher Anschauung) schwerlich ihre Wirkung ist.179 2.4 Wenn etwas ausgesagt wird, das mit Blick auf die Gepflogenheiten, Gesetze, Gewohnheit, Vorgehensweise oder Ordnung befremdlich ist.180 2.5 Wenn etwas ausgesagt wird, das mit Blick auf den Zeitpunkt oder Ort befremdlich ist.181 2.6 Wenn eine Sache mit Blick auf ihren üblichen Sinn und Bedeutung befremdlich behandelt wird.182 „der Gleichniß“ (per analogiam)

3. Vergleichsmomente 3.1 Wenn Dinge, die dem äußeren Anschein nach nichts gemein haben, in einer eher unerwarteten und fernliegenden Weise miteinander verglichen werden, oder doch wenigstens etwas Unerwartetes dem Vergleich von Dingen abgewonnen wird, die dem äußeren Anschein nach nichts gemein haben.183 3.2 Wenn von zwei Dingen, die eine Ähnlichkeit oder Gleichheit zeigen bzw. nach der üblichen Auffassung zeigen, das eine vorgezogen

7. Gleichnisse 7.1 Gleichnisse, die erklären und einen Gegenstand erhellen 7.2 Gleichnisse, die beweisen. Sie müssen syllogistisch gebaut sein; Enthymeme sind

177 Masen: Ars Nova, S. 163: „Alienatur aliquid à Persona de qua agitur.“ 178 Masen: Ars Nova, S. 174: „Rei factive alicujus Definitionem, Naturam, aut Proprietatem alienat.“ 179 Masen: Ars Nova, S. 187: „Rei propositae causa, aut effectus alienatur, sive causa datur minimè causa, aut effectus minime effectus.“ 180 Masen: Ars Nova, S. 195: „Cum aliquid à moribus, legibus, consuetudine, modo, aut ordine alienatur.“ 181 Masen: Ars Nova, S. 203: „Aliquid à tempore aut loco alienatur.“ 182 Masen: Ars Nova, S. 207: „Res à sensu ac significatione usitata alienatur.“ 183 Masen: Ars Nova, S. 212: „Cum res in speciem diversae, similitudine aliquâ minùs exspectatâ & obviâ inter se comparantur, aut certè ex rerum diversarum comparatione, aliquid inopinatum elicitur.“

Argutia und Gesprächsspiel Harsdörffer (Gesprächspiele, 1643)

Masen (Ars Nove Argutiarum, 1649) oder hintangestellt wird, das man üblicherweise keineswegs vorziehen oder hintanstellen würde.184 3.3 Wenn Dinge, die doch gegensätzlich sind, miteinander verglichen werden, oder wenn unter ähnlichen Dingen eine Unähnlichkeit oder unter unähnlichen eine Ähnlichkeit aufgewiesen wird.185 3.4 Wenn ein und dieselbe Sache mit sich verglichen wird, wobei Taten und Eigenschaften mit Blick auf ihre Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit zusammengestellt werden.186

„vom Gegensatz“ (Entgegensetzung, Urteil)

1. Gegensätzliche Bestimmungen 1.1 Gegensätzliche Bestimmungen, die ein und derselben Sache gleichermaßen zu- oder abgesprochen werden.187 1.2 Gegensätzliche Bestimmungen die verschiedenen Subjekten so zu- oder abgesprochen werden, dass sie dabei jeweils im Gegensatz (zu gegensätzlichen Bestimmungen eines anderen Subjekts) stehen.188 1.3 Eine chiastische Gegenüberstellung von gegensätzlichen Bestimmungen an einem oder mehreren Subjekten.189 1.4 Gegensätzliche Bestimmungen, die einander wechselweise zugesprochen werden.190 1.5 Ein und dasselbe wird sich selbst abgesprochen oder sich auf irgendeine gegensätzliche Weise zugesprochen.191

257 Harsdörffer (Ars apophthegmatica, 1651) möglich

8. Gegensätze

184 Masen: Ars Nova, S. 219: „Cùm inter illa, quae prae se ferunt, vel ferre similitudinem paritatemve creduntur, praefertur id, aut postponitur, quod praeferendum vulgò aut postponendum non videtur.“ 185 Masen: Ars Nova, S. 221: „Quando res cum oppositione inter se comparantur, vel cùm inter similia dissimilitudo, aut inter dissimilia similitudo adhibetur.“ 186 Masen: Ars Nova,, S. 225: „Cùm eadem res secum comparatur, factis, ac proprietatibus inter se similiter, aut dissimiliter compositis.“ 187 Masen: Ars Nova,, S. 126: „Repugnantia de eadem re, cum aliqua arguta compositione, simul aut affirmari aut negari poterunt.“ 188 Masen: Ars Nova, S. 131: „Repugnantia de subjectis diversis oppositè affirmentur, aut negentur.“ 189 Masen: Ars Nova, S. 139: „Repugnantium in uno aut diversis subjectis mutuò inter se facta conversio.“ 190 Masen: Ars Nova, S. 144: „Repugnantia de se invicem affirmantur.“ 191 Masen: Ars Nova, S. 145: „Idem de seipso negatur, aut oppositè aliquâ ratione affirmatur.“

258 Harsdörffer (Gesprächspiele, 1643)

Jost Eickmeyer / Reinhard Gruhl Masen (Ars Nove Argutiarum, 1649)

Harsdörffer (Ars apophthegmatica, 1651)

1.6 Ein und dieselbe Bestimmung wird verschiedenen Subjekten abgesprochen oder zugesprochen, wobei sie aber (nach der gewöhnlichen Auffassung) nur zu einem von den beiden (Subjekten) zu passen scheint.192 1.7 Von zwei widerstreitenden Bestimmungen wird die eine der anderen vorgezogen oder die eine durch die andere ersetzt mittels einer Selbstkorrektur, eines Wunsches oder einer anderen rhetorischen Figur.193 1.8 Eine von zwei widerstreitenden Bestimmungen oder beide können in einer der oben untersuchten Formen vorgeführt werden, nicht aber schlechthin, sondern verbunden mit einer bestimmten Bedingung oder mit einem Zweifel oder indem man das Urteil in der Schwebe läßt.194 9. Fragen (und Antworten) 4. Anspielungen [4.1, 4.2, 4.4.: s.o.] 4.3 Angespielt wird an einen Brauch der Vorzeit, einen Mythos oder eine Geschichte, an Vorschriften einer Kunst oder eines Gesetzes, wobei irgendein Vergleich oder eine Entgegensetzung von Dingen angestellt wird.195

10. Erzählungen

192 Masen: Ars Nova, S. 149: „Idem de subjectis diversis negatur, aut affirmatur: quorum tamen alterutri tantùm competere videtur.“ 193 Masen: Ars Nova, S. 153: „Vnum Repugnantium alteri per correctionem, optationem, aliasque loquendi figuras praefertur, aut substituitur.“ 194 Masen: Ars Nova, S. 159: „Alterum Repugnantium, aut utrumque modis suprà recensitis, non absolutè, sed conditione certâ, aut dubitatione, aut sententiae suspensione possunt concurrere.“ 195 Masen: Ars Nova, S. 235: „Alluditur ad antiquitatis usum, fabulam, aut historiam, artis, aut legis alicujus praecepta: comparatione, aut oppositione aliquâ rerum institutâ.“

FUNKTION UND EINBINDUNG DER EVANGELISCHEN KLOSTERSCHULEN IN DIE VERWALTUNG DES FÜRSTENTUMS BRAUNSCHWEIG-WOLFENBÜTTEL (1569–1613)1 Maike Gauger-Lange Abstract: In the course of introducing the Reformation into the duchy of Brunswick-Wolfenbüttel in 1568, the territorial lord founded six monastery schools at various places. These schools were obliged to accept boys from the principality who had received scholarships, to provide them care and to prepare them for theological studies at the academic level and for a clerical office in the territory. Thus, these institutions were incorporated into the administration of the principality in a two-fold manner: On the one hand, they were themselves administrative objects and, on the other, they trained future public officials. Using selected examples, this paper explores the question of how the administration of the monastery schools was organized and to what extent the funded scholars later entered the service of the principality. Zusammenfassung: Im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel wurden im Zuge der Reformationseinführung 1568 auf Geheiß des Landesherrn an sechs verschiedenen Orten Klosterschulen eingerichtet. Die Aufgabe dieser Schulen war es, Jungen aus dem Fürstentum als Stipendiaten aufzunehmen, sie zu versorgen und auf ein Theologiestudium sowie ein geistliches Amt im Territorium vorzubereiten. Die Einrichtungen waren somit in doppelter Weise in die Administration des Fürstentums eingebunden: Zum einen waren sie selbst Verwaltungsgegenstand und zum anderen bildeten sie zukünftige Amtsträger aus. An ausgewählten Beispielen geht der Beitrag den Fragen nach, wie die Verwaltung der Klosterschulen organisiert wurde und in welchem Umfang die geförderten Stipendiaten später in den Dienst des Fürstentums eintraten.

1. EINLEITUNG Wir geben euch gnediger meynung zuerkennen, das wir in ettlichen unsern clostern die gnedige verordnung gethan, das von inen nach eines jeden closters gelegenheit ettliche junge und fromme vleissige knaben, so lust unnd lieb zustudieren haben, und darzu mit gutten ingenijs und verstande von Gott begabet sein, eingenommen, mit notturfftigem essen und trincken versehen, und dem præceptori doselbst unter sein disciplin und zucht bevohlen werden sollen.2

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Der Beitrag ist die überarbeitete Fassung des Vortrags auf der Tagung „Interkonfessionelle Bildungssysteme“ im Oktober 2014. Seit der Tagung wurde die Arbeit an dem Forschungsprojekt abgeschlossen. Aus diesem Grund wurden für den Beitrag die vorläufigen Daten des Vortrags durch die endgültigen ersetzt. Die Dissertation wurde im April 2016 von der Philosophischen Fakultät der Universität Göttingen angenommen und im Dezember 2017 publiziert. Vgl. Maike Gauger-Lange: Die evangelischen Klosterschulen im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel 1568–1613. Stipendiaten – Lehrer – Lehrinhalte – Verwaltung. Göttingen 2018. Zitiert ist aus dem Konzept des Schreibens an die Stadträte; vgl. Niedersächsisches Landesarchiv Standort Wolfenbüttel (im Folgenden NLA WF) 41 Alt Fb. 1 Nr. 12, fol. 1r–2v, hier: 1r;

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Maike Gauger-Lange

Mit diesen Worten gab am 13. März 1569 Herzog Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel allen Stadträten und Amtmännern in seinem Fürstentum die Gründung von Klosterschulen in den nunmehr evangelisch gewordenen Männerklöstern bekannt. Zugleich forderte der Landesherr die Adressaten auf, dieses Rundschreiben öffentlich verlesen zu lassen, eine Liste derjenigen Jungen anzufertigen, die für eine Aufnahme an diesen Schulen geeignet seien, und diese an die herzogliche Kanzlei zu schicken. Am 23. Mai desselben Jahres präzisierte der Herzog in einem Schreiben an den Abt des Klosters Mariental, dass Jungen ausgewählt und gefördert werden sollten, „damit sie hernach desto bas der kirchen und schulen unsers fürstenthumbs umb gebürliche belohnung mögen dienen“.3 Die Klosterschulen sollten demnach gegründet werden, um zukünftige Geistliche und Kirchendiener für das Territorium auszubilden. Damit folgte das Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel dem Vorbild anderer evangelischer Territorien, die ebenfalls in Klostergebäuden stipendienbasierte Schulen eröffneten, beispielsweise das Herzogtum Württemberg, das albertinische Kurfürstentum Sachsen und die Grafschaft Hohnstein mit der Klosterschule Walkenried.4 Es musste jedoch gewährleistet werden, dass die Klosterschulen die ihnen zugewiesene Funktion erfüllten und künftige Amtsträger ausbildeten. Daher war eine landesherrliche Aufsicht genauso vonnöten wie Regelungen zur Administration dieser Bildungseinrichtungen. In diesem Beitrag wird nachvollzogen, wie die evangelischen Klosterschulen in die Verwaltung des Fürstentums Braunschweig-Wolfenbüttel eingebunden waren und ob sie die ihnen zugedachte Funktion erfüllten. Dafür wird zunächst die Situation im Fürstentum beleuchtet. Die Einführung der Reformation in Braunschweig-Wolfenbüttel wird dabei aus dem Blickwinkel der Umgestaltung und Neuausrichtung des Kloster- und Schulwesens skizziert, weil dies wesentliche Voraussetzung für die Gründung der Klosterschulen war. Danach folgt ein Überblick über den Aufbau und die Entwicklung dieser Einrichtungen von

3 4

das Konzept des Schreibens an die Amtmänner variiert etwas in der Wortwahl, enthält jedoch dieselben Anweisungen, vgl. NLA WF 41 Alt Fb. 1 Nr. 12, fol. 3r–4v. NLA WF 11 Alt Mart, Nr. 502, fol. 2r–3v, hier: 2r. Zu den Württemberger Schulen vgl. u.a. Immo Eberl: „Die evangelischen Klosterschulen des Herzogtums Württemberg. Katholische Klostertraditionen in evangelischer Theologenausbildung 1556–1806“, in: Hans Otte (Hg.): Evangelisches Klosterleben. Studien zur Geschichte der evangelischen Klöster und Stifte in Niedersachsen. Göttingen 2013, S. 21–38; Hermann Ehmer: „Klosterschulen im Übergang. Entstehung und Ausbau der evangelisch-theologischen Seminare“, in: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 107 (2007), S. 121–138; zu den sächsischen Fürstenschulen vgl. u.a. Linda Wenke Bönisch: Universitäten und Fürstenschulen zwischen Krieg und Frieden. Eine Matrikeluntersuchung zur mitteldeutschen Bildungslandschaft im konfessionellen Zeitalter (1563–1650). Berlin 2013, S. 66–85; Heinz-Werner Wollersheim: „Die sächsischen Fürsten- und Landesschulen in der deutschen Bildungslandschaft“, in: Jonas Flöter und Günther Wartenberg (Hg.): Die sächsischen Fürsten- und Landesschulen. Interaktion von lutherisch-humanistischem Erziehungsideal und Eliten-Bildung. Leipzig 2004, S. 15–35; zur Klosterschule Walkenried vgl. u.a. Friedrich Wagnitz und Fritz Reinboth: Die Klosterschule in Walkenried [1557–1669]. Clausthal-Zellerfeld 22012.

Funktion und Einbindung der evanglischen Klosterschulen

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1569 bis 1613. Abschließend wird anhand einiger Beispiele auf deren Bedeutung für die Wolfenbütteler Landesherrschaft und Verwaltung eingegangen. 2. DAS FÜRSTENTUM BRAUNSCHWEIG-WOLFENBÜTTEL UND SEINE REFORMATION Das Teilfürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel in der territorialen Ausdehnung von 1569 entstand als Folge der welfischen Erbteilungen 1495 und dem Ende der Hildesheimer Stiftsfehde 1523, als es große Gebiete des Hochstifts Hildesheim zugesprochen bekam.5 Während der Regierungszeiten der Herzöge Julius6 (von 1568 bis 1589) und dessen Sohn Heinrich Julius7 (von 1589 bis 1613) verdoppelte sich das Wolfenbütteler Fürstentum flächenmäßig, da es umliegende Territorien nach dem Aussterben der jeweiligen Herrschaftslinien übernehmen konnte: 1584 und 1596 kamen die beiden welfischen Teilfürstentümer Calenberg-Göttingen und Grubenhagen hinzu; die Grafschaften Hoya 1582, Hohnstein 1583 und RegensteinBlankenburg 1599 erweiterten das Herrschaftsgebiet zusätzlich.8 Des Weiteren 5

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Zu den Erbteilungen vgl. Gudrun Pischke: Die Landesteilungen der Welfen im Mittelalter. Hildesheim 1987, S. 163–179; zur von 1519 bis 1523 dauernden Hildesheimer Stiftsfehde vgl. Stefan Brüdermann: „Das Zeitalter der Glaubensspaltung (1495–1634)“, in: Horst-Rüdiger Jarck und Gerhard Schildt (Hg.): Die braunschweigische Landesgeschichte. Jahrtausendrückblick einer Region. Braunschweig 2000, S. 441–482, hier: 445–447; Andrea Germer: „Eine verworrene Geschichte. Die Hildesheimer Stiftsfehde 1519–1523“, in: Hildesheimer Kalender 2011 (2010), S. 79–92. Julius, Herzog zu Braunschweig-Lüneburg Wolfenbüttelschen Teils (1528–1589), Kurzbiografie bei Hans-Joachim Kraschewski: „Julius“, in: Horst-Rüdiger Jarck (Hg.): Braunschweigisches Biographisches Lexikon. 8. bis 18. Jahrhundert. Braunschweig 2006, S. 386f.; ausführliche Darstellung von Arnd Reitemeier: „Herzog Julius von Braunschweig-Lüneburg (Wolfenbüttel). Herrscher und Herrschaft“, in: Uwe Ohainski und Arnd Reitemeier (Hg.): Das Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel im Jahr 1574. Der Atlas des Gottfried Mascop. Bielefeld 2012, S. 43–63; Franz Algermann: Leben des Herzogs Julius zu Braunschweig und Lüneburg. Helmstedt 1823. Heinrich Julius, Herzog zu Braunschweig-Lüneburg Wolfenbüttelschen Teils (1564–1613), Kurzbiografie bei Stefan Brüdermann: „Heinrich Julius“, in: Braunschweigisches Biographisches Lexikon, S. 324–325; ausführliche Darstellung von Hilda Lietzmann: Herzog Heinrich Julius zu Braunschweig und Lüneburg (1564–1613). Persönlichkeit und Wirken für Kaiser und Reich. Braunschweig 1993; mit den Aufenthalten am kaiserlichen Hof in Prag in den späten Jahren beschäftigt sich Václav Bůžek: „Heinrich Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel am Prager Kaiserhof“, in: Werner Arnold u.a. (Hg.): Herzog Heinrich Julius zu Braunschweig und Lüneburg (1564–1613). Politiker und Gelehrter mit europäischem Profil. Braunschweig 2016, S. 42–56. Ausführlich dazu Kirstin Casemir und Uwe Ohainski: Das Territorium der Wolfenbüttler Herzöge um 1616. Verzeichnis der Orte und geistlichen Einrichtungen der Fürstentümer Wolfenbüttel, Calenberg, Grubenhagen sowie der Grafschaften Hoya, Honstein, Regenstein-Blankenburg nach ihrer Verwaltungszugehörigkeit. Wolfenbüttel 1996, S. 10–12; Manfred von Boetticher: „Niedersachsen im 16. Jahrhundert (1500–1618)“, in: Ders. und Christine van den Heuvel (Hg.): Geschichte Niedersachsens. 3.1. Bd.: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft von der Reformation bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Hannover 1998, S. 19–116, hier: 60–98.

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Maike Gauger-Lange

wurde Herzog Heinrich Julius bereits 1578 zum postulierten Bischof von Halberstadt ernannt, was dazu führte, dass das Bistum zumindest in weltlichen Angelegenheiten unter welfischen Einfluss kam.9 Dagegen gehörte die namensgebende Stadt Braunschweig nicht zum Teilfürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel, da sie mit den Erbteilungen zum gesamtwelfischen Besitz erklärt wurde. Dies und im Laufe der Zeit erworbene Privilegien waren die Gründe dafür, dass Braunschweig von seinem Rat als freie Stadt angesehen wurde, was zu immer wiederkehrenden Konflikten mit den Wolfenbütteler Landesherren führte.10 Als letztes der Teilfürstentümer des welfischen Herzogtums Braunschweig-Lüneburg wurde Wolfenbüttel evangelisch.11 Ein erster Versuch des Schmalkaldischen Bundes Mitte der 1540er Jahre die Reformation einzuführen, hatte keinen dauerhaften Erfolg, vielmehr blieb es bis zum Tod Herzog Heinrich des Jüngeren nominell katholisch.12 Erst mit dem Herrschaftsantritt seines Sohnes Herzog Julius wurde im norddeutschen Fürstentum im Sommer 1568 offiziell das lutherische Bekenntnis eingeführt.13 Ausgangspunkt für die Neuordnung und Umgestaltung des Kirchenwesens im Wolfenbütteler Territorium war die Kirchenordnung unser […], wie es mit lehr und ceremonien unsers fürstenthumbs Braunschweig, Wulffenbütlischen theils, auch

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Vgl. Birgit Hoffmann: „Die Administration des Bistums Halberstadt durch Herzog Heinrich Julius von Braunschweig-Lüneburg. Spuren und Auswirkungen aus kirchengeschichtlicher Sicht“, in: Klaus Thiele (Hg.): Osterwieck. 1200 Jahre Bistum Halberstadt. Frühe Mission und frühprotestantische Bilderwelten. Berlin 2005, S. 244–258. Im 16. Jahrhundert fanden die größten Auseinandersetzungen der Stadt Braunschweig mit Herzog Heinrich Julius statt, vgl. Henning Steinführer: „Herzogtum ohne Hauptstadt. Die Auseinandersetzungen zwischen der Stadt Braunschweig und Herzog Heinrich Julius“, in: Herzog Heinrich Julius, S. 76–92; Inge Mager: „Konfessionelles Zeitalter“, in: Friedrich Weber u.a. (Hg.): Von der Taufe der Sachsen zur Kirche in Niedersachsen. Geschichte der EvangelischLutherischen Landeskirche in Braunschweig. Braunschweig 2010, S. 181–232, hier: 181–184. Vgl. Hans-Walter Krumwiede: Kirchengeschichte Niedersachsens. Erster und Zweiter Teilband. Göttingen 1996, hier: S. 130–142; von Boetticher: Niedersachsen, S. 60–98; Walter Ziegler: „Braunschweig-Lüneburg, Hildesheim“, in: Anton Schindling und Walter Ziegler (Hg.): Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650. 3. Bd.: Der Nordosten. Münster 1991, S. 8–43; Arnd Reitemeier: „Reformation in Norddeutschland“, in: Heike Pöppelmann und Dieter Rammler (Hg.): Im Aufbruch. Reformation 1517–1617. Dresden 2017, S. 39–51. Zur Entwicklung und den Gründen vgl. Gabriele Haug-Moritz: „Der Wolfenbütteler Krieg des Schmalkaldischen Bundes (1542), die Öffentlichkeit des Reichstags, und die Öffentlichkeiten des Reiches“, in: Maximilian Lanzinner und Arno Strohmeyer (Hg.): Der Reichstag 1486– 1613: Kommunikation – Wahrnehmung – Öffentlichkeiten. Göttingen 2006, S. 259–281; Klaus Jürgens: „Das Zeitalter der Reformation im Lande Braunschweig“, in: Von der Taufe der Sachsen, S. 129–179, hier: 149–156. Vgl. Jürgens: „Zeitalter der Reformation“, S. 158–165; Krumwiede: Kirchengeschichte, S. 137–141; beispielsweise erging am 1. August 1568 ein Ausschreiben an die Klöster des Fürstentums, dass das katholische Messritual abzuschaffen und stattdessen das evangelische einzuführen sei; eines ist abgedruckt in Heinrich Meibom: Chronik des Klosters Riddagshausen 1145–1620, eingeleitet, übersetzt und erläutert von Gottfried Zimmermann. Braunschweig 1983, hier: Tafel XIX.

Funktion und Einbindung der evanglischen Klosterschulen

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derselben kirchen anhangenden sachen und verrichtungen hinfurt (vermittelst göttlicher gnaden) gehalten werden sol,14 die laut der Vorrede offiziell am 1. Januar 1569 in Kraft trat.15 Die Kirchenordnung, die von dem Braunschweiger Stadtsuperintendenten Martin Chemnitz (1522–1586) und dem Württemberger Theologen Jakob Andreae (1528–1590) ausgearbeitet wurde, enthält auch ausführliche Regelungen zur zukünftigen Ausgestaltung des Schulwesens.16 Die Begründung für die Errichtung eines mehrstufigen Schulwesens im gesamten Territorium war: […] weil zu dem heiligen predigampt, weltlicher oberkeit, zeitlichen emptern, regimentern und haußhaltung rechtschaffene, weise gelerte, geschickte und gottsfürchtige menner gehören und dann die schulen die rechten von Gott verordenten und bevohlenen mittel sein, darinnen solche leut auferzogen mögen werden […].17

In sämtlichen Dörfern und Gemeinden sollte es deutschsprachige Schulen geben, in denen Jungen und Mädchen in der christlichen – d.h. lutherischen – Lehre sowie in Lesen und Schreiben unterrichtet werden sollten. In allen Städten und größeren Orten sollten – sofern nicht schon vorhanden – Latein- oder Partikularschulen eröffnet werden, an welchen ausschließlich Jungen weiterführenden Unterricht, insbesondere in Latein, erhalten sollten. Für diese Schulen wurden in der Kirchenordnung umfangreiche Bestimmungen zu den Unterrichtsinhalten und Lehrwerken erlassen, die den Unterricht auf die Stunde genau festlegten.18 Des Weiteren war in dem normativen Text mit einem Pädagogium auch die Gründung einer weiterführenden Schule vorgesehen, die die Schüler der Partikularschulen auf ein Universitätsstudium vorbereiten sollte.19 Dieses wurde 1571 in Gandersheim in den Gebäu-

14 Die Kirchenordnung ist ediert in Emil Sehling: Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts. 6. Bd.: Niedersachsen, 1. Teil: Die Welfischen Lande, 1. Tb.: Die Fürstentümer Wolfenbüttel und Lüneburg mit den Städten Braunschweig und Lüneburg. Tübingen 1955, S. 83–280, hier: 83. 15 Wie Reller nachweist, war dieses Datum allerdings nicht der Drucktermin der Kirchenordnung, da noch Änderungen vom 29. Januar 1569 eingearbeitet wurden und sie auch bei der Amtsübertragung der Generalsuperintendenten am 14. April noch nicht vorlag. Der Druck erfolgte vermutlich kurz danach, denn am 30. April erhielt das Kloster Mariental ein Exemplar der Kirchenordnung, vgl. Horst Reller: Vorreformatorische und reformatorische Kirchenverfassung im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel. Göttingen 1959, S. 127 mit Fußnote 49; für Mariental Adolf Brenneke und Albert Brauch: Geschichte des Hannoverschen Klosterfonds. 2. Bd.: Die calenbergischen Klöster unter Wolfenbüttler Herrschaft 1584–1634. Göttingen 1956, hier: S. 8 mit Fußnote 23. 16 Der Abschnitt „von den schulen“ umfasst 33 Seiten in Sehlings Edition, vgl. Sehling: Kirchenordnungen, S. 225–258. 17 Sehling: Kirchenordnungen, S. 225. 18 Vgl. Sehling: Kirchenordnungen, S. 227–236; zur Entwicklung des Schulwesens im Fürstentum inklusive der Edition zahlreicher bedeutender Quellen vgl. die immer noch relevante Darstellung von Friedrich Koldewey: Braunschweigische Schulordnungen von den ältesten Zeiten bis zum Jahre 1828. 2. Bd.: Schulordnungen des Herzogtums Braunschweig (mit Ausschluss der Hauptstadt des Landes) vom Jahre 1248–1826. Berlin 1890, hier: S. XL–LXX. 19 Vgl. Sehling: Kirchenordnungen, S. 243.

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den des ehemaligen Franziskanerklosters eröffnet. 1574 jedoch wurde das Pädagogium aufgrund der ungenügenden Räumlichkeiten nach Helmstedt verlegt.20 Der dortigen Hohen Juliusschule, wie das Pädagogium nunmehr hieß, wurden 1575 die kaiserlichen Privilegien zur Erhebung in die erste Volluniversität der welfischen Territorien verliehen. Am 15. Oktober 1576 wurde die Universität feierlich eröffnet und Herzog Heinrich Julius zu deren Rektor ernannt.21 Mit der Schließung von nur zwei Klöstern – von denen das oben erwähnte Franziskanerkloster bereits durch Weglaufen der Mönche leer stand – zeigt sich, dass das Fürstentum den Fortbestand der geistlichen Einrichtungen unter evangelischen Bedingungen anstrebte. Dies wurde in der ebenfalls 1569 gedruckten und veröffentlichten Klosterordnung geäußert: das S.[eine]F.[ürstlich]G.[naden] nicht gemeinet, die klöster abzuthun oder in einen haufen zu werfen, sondern allein vorhabens, auch derselben tragenden und von Gott befohlenen ampts schuldig, darinne abzuschaffen, was dem ausgedruckten wort Gottes und unserm alten warhaftigen, catholischen, christlichen glauben entgegen und zuwider, nach und nach eingeschlichen und neben demselben nicht bestehen möge.22

Die anderen zwölf Frauen- und neun Männerklöster blieben erhalten, wenngleich sie durch die Einsetzung von fürstlichen Pröpsten respektive Verwaltern unter herzogliche Kontrolle gestellt wurden. Neben der Einführung der evangelischen Messe und Lebensweise wurden ihnen darüber hinaus weitere Restriktionen bzw. Aufgaben auferlegt. Sie durften beispielsweise keine Novizen mehr aufnehmen, mussten ihre erwirtschafteten Überschüsse an die herzogliche Kasse abführen und arme Pfarrer sowie weitere Kirchen- und Schuldiener unterstützen.23 Als letztes schließlich wurde in der Kirchenordnung die Eröffnung der Klosterschulen angeordnet, mit dem Zweck, „das in den mansklöstern junge knaben in guter lere zum verstand

20 Vgl. Dieter Schäfer: „Gründung und Einweihung des Paedagogium illustre in Gandersheim (1569–1571)“, in: Jahrbuch der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte 64 (1966), S. 97–128; ders.: „Das Paedagogium illustre in Gandersheim bis zu seiner Verlegung nach Helmstedt (1571–1575)“, in: Jahrbuch der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte 66 (1968), S. 107–140. 21 Vgl. Michael Maaser: Humanismus und Landesherrschaft. Herzog Julius (1528–1589) und die Universität Helmstedt. Stuttgart 2010, S. 21–57; Peter Baumgart: „Die Gründung der Universität Helmstedt“, in: Braunschweigisches Jahrbuch für Landesgeschichte 57 (1976), S. 31–48; ders.: „Die kaiserlichen Privilegien von 1575 für die Universitäten Würzburg und Helmstedt“, in: Ders.: Universitäten im konfessionellen Zeitalter. Gesammelte Beiträge. Münster 2006, S. 85–101. 22 Die Klosterordnung wurde von Jakob Andreae allein verfasst und begründet sehr umfassend, weshalb die Reformation keine neue, sondern die Wiederherstellung der ursprünglichen christlichen Lehre sei. Auch wenn sie sich an alle Klöster des Fürstentums richtet, liegt der Schwerpunkt auf den Frauenklöstern und ihrem Lebenswandel; Edition bei Sehling: Kirchenordnungen, S. 281–335, hier: 285. 23 Vgl. Brennecke und Brauch: Geschichte des Hannoverschen Klosterfonds, S. 1–45; Uwe Ohainski: „Die zweite Braunschweig-Wolfenbüttelsche Klosterordnung vom 9. Januar 1573. Einleitung und Edition“, in: Braunschweigisches Jahrbuch für Landesgeschichte 80 (1999), S. 55–71, hier: 56–60.

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heiliger göttlicher schrift auferzogen, mit welchen nachmals die kirchen dieses löblichen fürstenthumbs nach aller notturft besetzt“ werden könnten.24 Als direktes Vorbild für die Klosterschulen diente das Herzogtum Württemberg, das flächendeckend in den Männerklöstern Schulen eingerichtet und umfangreiche Bestimmungen zur Gestaltung des gesamten Schulwesens festgelegt hatte.25 Die starke Orientierung an dem süddeutschen Territorium offenbart sich in der Übernahme der bildungspolitischen Bestimmungen: Die Schulordnung wurde weitestgehend wörtlich abgeschrieben.26 Die Stifter und Klöster des welfischen Fürstentums wurden also nicht aufgehoben, sondern neuen Zwecken zugeführt. Damit handelten der Wolfenbütteler Landesherr und seine Berater ganz im Sinne zahlreicher protestantischer Theologen und Rechtsgelehrter, die argumentierten, dass geistliche Einrichtungen aufgrund ihrer zweckgebundenen frommen Stiftungen nicht zu weltlichen Zwecken verwendet werden dürften. Die Unterstützung von Geistlichen und Schulen sowie die Armenund Krankenfürsorge wurde jedoch als legitim angesehen, weil diese Aufgaben als obrigkeitliche Pflicht und im weitesten Sinne als kirchlich galten.27 Zudem klingt darin auch Martin Luthers Auffassung an, die er 1520 in seiner Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung veröffentlicht hat. Demnach seien Stifter und Klöster in ihrem Ursprung nichts anderes als Schulen gewesen, in denen die christliche Lehre gelehrt wurde.28 24 Sehling: Kirchenordnungen, S. 321. 25 Zu den Württemberger Klosterschulen vgl. u.a. Eberl: „Die evangelischen Klosterschulen“, S. 21–38; Ehmer: „Klosterschulen im Übergang“, S. 121–138; Andreas Gestrich: „Die Klosterschulen und ihr Anteil an der Bildungsgeschichte des Landes. Pädagogische, soziale und kulturelle Wirkungen“, in: Hermann Ehmer u.a. (Hg.): Evangelische Klosterschulen und Seminare in Württemberg 1556–2006. Lernen – Wachsen – Leben. Stuttgart 2006, S. 35–51; Gustav Lang: Geschichte der württembergischen Klosterschulen von ihrer Stiftung bis zu ihrer endgültigen Verwandlung in evangelisch-theologische Seminare. Stuttgart 1938; zur Gestaltung des Schulwesens vgl. u.a. Wolfram Hauer: Lokale Schulentwicklung und städtische Lebenswelt. Das Schulwesen in Tübingen von seinen Anfängen im Spätmittelalter bis 1806. Stuttgart 2003, hier: S. 125–184. 26 Hettwer hat umfassend verschiedene städtische und territoriale Schulordnungen miteinander verglichen und dabei ganze Familien nachgewiesen, vgl. Hubert Hettwer: Herkunft und Zusammenhang der Schulordnungen. Eine vergleichende Studie. Mainz 1965, hier: S. 67–78; speziell auf die geringen Unterschiede der beiden Schulordnungen geht ein Koldewey: Braunschweigische Schulordnungen, S. XLVI–XLVII. 27 Beispielsweise hat Martin Luther sich dazu 1523 in der Ordnung eines gemeinen Kastens. Ratschlag wie die geistlichen Güter zu behandeln sind geäußert, vgl. WA 12, S. 11–15; in einem Gutachten aus dem Jahre 1537 für den Schmalkaldischen Bund äußerten sich mehrere Reformatoren, darunter Philipp Melanchthon, Justus Jonas, Johannes Bugenhagen, Antonius Corvinus und Martin Bucer in der gleichen Weise, vgl. MBW 1853. 28 So hat Luther in seiner Schrift wörtlich formuliert: „Dan was sein stifft und kloster anders geweszen, den Christliche schulenn, darynnen man leret schrifft unnd zucht nach Christlicher weysze, unnd leut auff ertzog, zu regieren unnd predigen?“, vgl. WA 6, S. 404–486, hier: 439; aus forschungsgeschichtlicher Perspektive vgl. Martin Heckel: „Das Problem der ,Säkularisation‘ in der Reformation“, in: Irene Crusius (Hg.): Zur Säkularisation geistlicher Institutionen im 16. und im 18./19. Jahrhundert. Göttingen 1996, S. 31–56; Harm Klueting: „Enteignung oder Umwidmung? Zum Problem der Säkularisation im 16. Jahrhundert“, in: a.a.O., S. 57–83.

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3. DIE EINRICHTUNG UND DER ORGANISATORISCHE AUFBAU DER KLOSTERSCHULEN Die Bestimmung der Kirchenordnung zur Errichtung von Klosterschulen wurde zwischen 1569 und 1580 in immerhin sechs der neun Männerklöstern umgesetzt.29 Das eingangs zitierte Rundschreiben vom März 1569 hatte den Erfolg, dass in den folgenden Wochen zahlreiche Schreiben aus den Städten und Ämtern des Fürstentums kamen, in denen Jungen zur Aufnahme vorgeschlagen wurden. In der Kanzlei wurden drei Listen mit insgesamt 171 Jungen angefertigt, von denen 77 für ein Examen zur Überprüfung ihrer Eignung ausgewählt wurden.30 Als Ergebnis dieses Examens wurde am 23. Mai 1569 den Äbten der drei Klöster Amelungsborn, Mariental und Riddagshausen mitgeteilt, dass sie jeweils 13 Jungen bei sich aufnehmen sollten.31 Insgesamt wurden also 39 erste Stipendiaten ausgewählt. Damit wurden im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel innerhalb eines Jahres nach Einführung der Reformation die ersten drei evangelischen Bildungseinrichtungen eingerichtet. Die nächsten beiden Klosterschulen folgten um 1570 und 1571, als erst in Riechenberg und dann in Ringelheim weitere Einrichtungen eröffneten. Die sechste und letzte Schule in Grauhof entstand erst 1579/1580 als Ergebnis einer Teilung der Riechenberger Schule.32 Allerdings existierten aus verschiedenen Gründen von diesen drei meist nur eine oder zwei gleichzeitig.33 Gemäß dem Württemberger Vorbild wurde auch in Wolfenbüttel die zweistufige Gliederung in Höhere und Niedere Klosterschulen vorgesehen.34 Die drei Einrichtungen in Amelungsborn, Riddagshausen und Mariental wurden als Höhere und die drei anderen in Grauhof, Riechenberg und Ringelheim als Niedere Schulen konzipiert.35 Bis 1574/1575 waren die 29 In der bisherigen landeshistorischen Forschung gibt es unterschiedliche Angaben darüber, wie viele Klosterschulen eingerichtet wurden; die Anzahl schwankt zwischen vier und an allen Klöstern: Koldewey geht von einer Einrichtung an allen Männerklöstern aus, eine Annahme, die Vollrath immer noch übernommen hat, während Kieckbusch bereits die richtigen sechs nennt, vgl. Koldewey: Schulordnungen, S. LVIII–LIX; Markus Vollrath: Welfische Klosterpolitik im 16. Jahrhundert. Ein Spiegelbild der Fürstenreformationen im Reich? Hannover 2012, S. 90; Klaus Kieckbusch: Von der Lateinschule im Kloster Amelungsborn seit 1569 und ihrem Weiterleben in Holzminden ab 1760. Mit Darstellung eines Schüleraufruhrs im Jahre 1783. Holzminden 2009, S. 17; die Aufarbeitung der Quellenlage hat die Einrichtung der sechs o.g. Schulen ergeben, vgl. Gauger-Lange: Klosterschulen, S. 94–104. 30 Die vier Verzeichnisse, d.h. die drei mit den supplizierenden Jungen und das vierte mit den für das Examen ausgewählten Kandidaten, sind überliefert in NLA WF 42 Alt Fb. 1 Nr. 12, fol. 134r–136v. 31 Das Schreiben liegt in zweifacher, leicht veränderter Ausfertigung vor: NLA WF 11 Alt Mart Nr. 502, fol. 2r–3v, und Landeskirchliches Archiv Wolfenbüttel (im Folgenden LAW) V 464, S. 12–13. 32 Zur genauen Datierung der Gründung der drei Einrichtungen vgl. Gauger-Lange: Klosterschulen, S. 100–103 und 106–108. 33 Vgl. Gauger-Lange: Klosterschulen, S. 106–109. 34 Vgl. Sehling: Kirchenordnungen, S. 245. 35 So bereits in der „Underthenigen Relation“ empfohlen, die das Ergebnis der 1568 im Fürstentum durchgeführten Generalkirchenvisitation zusammenfasst und am 11. November 1568 Herzog Julius verlesen wurde, vgl. LAW V 1932, S. 1–60, hier: 28.

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drei erstgenannten gleichberechtigte Bildungsinstitutionen nebeneinander, mussten dann aber umstrukturiert werden, um den Bedürfnissen des Wolfenbütteler Fürstentums gerecht zu werden. Da nur eine geringe Anzahl an Stipendienstellen geschaffen und somit in jeder Klosterschule auch nur eine einzige Klasse eingerichtet wurde, erwies es sich als nicht sinnvoll, in diesen drei Schulen denselben Unterricht anzubieten. Daher wurde Mitte der 1570er Jahre im Konsistorium – dem obersten kirchlichen Leitungsgremium des Fürstentums, das für die Aufsicht über die Klosterschulen verantwortlich war –36 beschlossen, die drei höheren Einrichtungen untereinander abzustufen und die Schüler in drei Leistungsstufen einzuteilen. Damit entstand die spezifische Ausgestaltung, dass Mariental die höchste, Riddagshausen die mittlere und Amelungsborn schließlich die unterste dieser drei Klosterschulen wurde.37 Da die Stipendiaten in den Klöstern nicht nur unterrichtet wurden, sondern auch wohnten, bedeutete die Versetzung von einer Klosterschule in die nächste immer einen Wohnortwechsel. Mit der Neuausrichtung Mitte der 1570er Jahre wurden auch die Lehrinhalte verändert und entsprachen anschließend ungefähr vier Klassen regulärer Partikularschulen.38 Die Intention zur Einrichtung der Klosterschulen und der Stipendienfinanzierung war daher auch, dass unser armen landschaft und dero kindern, so sie zur schul erzogen, die hand gebotten und gehulfen werde, haben wir auch in unsern klöstern, doch underschiedliche schulen verordnet, desgleichen auch etliche stipendia aufzurichten bedacht, der ursachen, damit den armen unsern landkindern, so zum studieren geneiget, gradatim geholfen und von den particularschulen die armsten, denen ihre eltern gar nicht zu helfen [wussten, aufgenommen werden können].39

Die Gewährung eines herzoglichen Stipendiums für den Besuch einer Klosterschule war jedoch an die Unterzeichnung einer Verpflichtungserklärung geknüpft. In dieser sogenannten obligatio mussten sich die neu aufgenommenen Jungen dazu verpflichten, sich gemäß den Schulstatuten zu verhalten, gehorsam zu sein, fleißig zu lernen und schließlich – als wichtigster Punkt überhaupt – nach Abschluss ihrer Förderung ohne Erlaubnis des Herzogs in keine anderen Dienste einzutreten als in

36 Zum Aufbau und der Arbeit von Kirchenleitungsstellen und Konsistorien im Allgemeinen vgl. Arne Butt: „,Wir sehen nicht gerne unordnung‘. Protestantische Kirchenleitungsmodelle und Ordnungsprinzipien in Konsistorialordnungen des 16. Jahrhunderts“, in: Irene Dingel und Armin Kohnle (Hg.): Gute Ordnung. Ordnungsmodelle und Ordnungsvorstellungen in der Reformationszeit. Leipzig 2014, S. 49–64; speziell zum Wolfenbütteler Konsistorium vgl. Sabine Bockisch: „Die Braunschweigische Landeskirche. Geistliche Belange und weltliche Administration in der Frühen Neuzeit“, in: Christian Lippelt und Gerhard Schildt (Hg.): BraunschweigWolfenbüttel in der Frühen Neuzeit. Neue historische Forschungen. Braunschweig 2003, S. 51–66. 37 Vgl. das Schreiben des Konsistoriums an den Marientaler Abt vom 4. November 1575, in der erstmals diese Abstufung dokumentiert ist: NLA WF 11 Alt Mart Nr. 503, fol. 18r–19v, hier: 18r. 38 Dies belegt der Vergleich der vorgeschriebenen Lehrwerke für die verschiedenen Klassenstufen der Partikularschulen mit den tatsächlich unterrichteten Büchern in den einzelnen Klosterschulen, vgl. Gauger-Lange: Klosterschulen, S. 209–224. 39 Sehling: Kirchenordnungen, S. 226.

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Braunschweig-Wolfenbüttel selbst.40 Die Obligation diente dem Zweck, sicherzustellen, dass später ausschließlich das Fürstentum selbst von der Förderung der ausgewählten Jungen profitierte und somit die auf sie verwendeten Kosten nicht vergeblich ausgegeben wurden. 4. DIE KLOSTERSCHULEN ALS TEIL DER VERWALTUNG Die Kirchenordnung legte als normgebender Text viele Bestimmungen zur Kontrolle und Verwaltung der Klosterschulen fest. Sie regelte beispielsweise, dass das Konsistorium die übergeordnete Aufsicht über alle sechs im Gebiet des Fürstentums verteilten Klosterschulen ausüben sollte, während es den jeweiligen Äbten bzw. Pröpsten oblag, für die alltäglichen Dinge vor Ort zu sorgen und die konsistorialen Entscheidungen umzusetzen. Die Beteiligung der Landesherren war hingegen nicht vorgesehen.41 Unter das Aufgabengebiet des Konsistoriums fielen die Ablehnung, Aufnahme, Versetzung oder Entlassung der Schüler, die Überprüfung der gelernten Lehrinhalte und schließlich die Examinierung, Anstellung oder Entlassung der Lehrer. Dagegen waren die Prälaten der Klöster dafür zuständig, die Stipendiaten und Präzeptoren im Alltag zu versorgen, d.h. Verpflegung, Ausstattung sowie Unterbringung zu gewährleisten, die Einhaltung der Schulstatuten sowie Unterrichtsdisziplin zu überwachen und den Transport zu den Examensterminen sowie im Rahmen der Versetzung zu organisieren.42 Diese Form der Arbeitsteilung führte daher zwangsläufig zu einem hohen Verwaltungsaufwand zwischen den Beteiligten, weil diese in ständigem Kontakt zueinanderstehen mussten. Dieser Umstand wurde in der Praxis noch verschärft, weil sich die beiden Herzöge Julius und Heinrich Julius entgegen den normativen Bestimmungen vorbehielten, Einfluss auf die Verwaltung zu nehmen. Die zahlreichen überlieferten Schriftstücke aus den Korrespondenzen zwischen den Herzögen, dem Konsistorium und den Prälaten sowie weiteren Amtsträgern und schließlich Supplikanten wie Eltern und Jungen bilden den einen Teil der Quellengrundlage zur Untersuchung der Klosterschulen.43 Der andere Teil besteht aus Geldregistern 40 Der Wortlaut der Obligation war in der Kirchenordnung festgelegt, vgl. Sehling: Kirchenordnungen, S. 246–247; die Anweisung vom 23. Mai 1569 an die Äbte zu Amelungsborn, Mariental und Riddagshausen, wie die Aufnahme der ersten Stipendiaten ablaufen solle, enthielt auch die Bestimmung, dass nur Jungen aufgenommen werden durften, die die unterschriebene und gesiegelte Obligation vorweisen konnten, vgl. NLA WF 11 Alt Mart Nr. 502, fol. 2r–3v, hier: 2r–2v; ähnliche Anweisungen, nur obligierte Jungen aufzunehmen, finden sich im gesamten Untersuchungszeitraum, beispielsweise von Herzog Heinrich Julius am 10. Januar 1591, vgl. NLA WF 11 Alt Mart Nr. 502, fol. 15r–16v. 41 Vgl. Sehling: Kirchenordnungen, S. 210–213 und 256f. 42 Vgl. Sehling: Kirchenordnungen, S. 211, 238–240, 246–248, 252f. und 256–258; GaugerLange: Klosterschulen, S. 116 und 138f. 43 Zur Begriffsentwicklung und -bedeutung von Suppliken vgl. Renate Blickle: „Supplikationen und Demonstrationen. Mittel und Wege der Partizipation im bayerischen Territorialstaat“, in: Werner Rösener (Hg.): Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft vom Mittelalter bis zur Moderne. Göttingen 2000, S. 263–317, hier: 274–289; zu Suppliken als legitimes Mittel der

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der Klöster, aus denen die Ausgaben für die Stipendiaten und Präzeptoren hervorgehen, Inventaren der Klöster mit Aufzeichnungen über die Ausstattung der Schulund Schlafräume, Protokollen der mündlichen Prüfungen, schriftlichen Übersetzungen durch die Schüler und aus den Obligationen. Der Vergleich zwischen dem Text der Kirchenordnung und der aus den administrativen und supplizierenden Schriftstücken hervorgehenden Praxis zeigt den Umgang mit den normativen Regelungen.44 Anhand zweier Situationen wird beleuchtet, wie die Verwaltung der Klosterschulen zwischen den lokalen und zentralen Amtsträgern sowie den Landesherren ausgestaltet wurde. Die oben genannten Aufgabenfelder decken sich weitestgehend mit den in der Praxis ausgeübten Tätigkeiten des Konsistoriums und der Prälaten, wenngleich sich bei einzelnen Aspekten Veränderungen und Abweichungen zeigen. Ersichtlich wird dies bei der Anstellung der Präzeptoren. In der Kirchenordnung war eindeutig festgehalten, dass sobald dann auch einer [sc. der Lehrer] also seinen dienst aufsagt und abkündet, sollen unsere kirchenrethe, auch pfarrherr, amptman und verordnete superintendenten alßbald nach einem andern tauglichen und geschickten schulmeister trachten […], damit die schul der jugent zu nachtheil und versaumnuß nicht lang vacieren und ledig stehen muß, sonder alsbald wieder versehen werde.45

Dennoch blieben die Lehrerstellen des Öfteren über längeren Zeitraum vakant. Einer der Gründe dafür war, nur einen „feinen gelehrten gesellen, so der grammatices mechtig und in laboribus scholasticis unverdroßen und hurtig sei, […] damit die jugendt nicht […] verseumbt werde“,46 für das Schulamt in den Klosterschulen einzustellen. Zudem waren bei der Besetzung der Lehrerstellen festgelegte Verfahrensabläufe zu berücksichtigen. Die Prälaten der Klöster hatten zwar das Vorschlagsrecht für neue Kandidaten, aber diese mussten sich erst einem Examen durch das Konsistorium unterziehen. Nach positivem Ausgang des Examens und Bestätigung seitens des Konsistoriums mussten wiederum die Äbte bzw. Pröpste den neuen Präzeptor im Kloster aufnehmen und einweisen.47 Auf die Durchführung des Examens achtete das Konsistorium sehr streng. Als dessen Räte im Oktober 1574 davon erfuhren, dass im Kloster Riddagshausen ein

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Herrschaft vgl. z.B. Stefan Brakensiek: „Akzeptanzorientierte Herrschaft. Überlegungen zur politischen Kultur der Frühen Neuzeit“, in: Helmut Neuhaus (Hg.): Die Frühe Neuzeit als Epoche. München 2009, S. 395–406, hier: 401 und 406; Andreas Würgler: „Bitten und Begehren. Suppliken und Gravamina in der deutschsprachigen Frühneuzeitforschung“, in: Cecilia Nubola und Andreas Würgler (Hg.): Bittschriften und Gravamina. Politik, Verwaltung und Justiz in Europa (14. –18. Jahrhundert). Berlin 2005, S. 17–52, hier: 36–38. Zum Ansatz der Normimplementation vgl. Achim Landwehr: „,Normdurchsetzung‘ in der Frühen Neuzeit? Kritik eines Begriffs“, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 48 (2000), S. 146–162, hier: 146–153; Brakensiek: „Akzeptanzorientierte Herrschaft“, S. 403f. Sehling: Kirchenordnungen, S. 240. So lautete die Anweisung des Konsistoriums an den Abt zu Amelungsborn am 9. Mai 1588, als es um die Neubesetzung der Präzeptorenstelle ging, vgl. NLA WF 41 Alt Fb. 1 Nr. 2163, fol. 5r–6v, hier: 5r. Vgl. Sehling: Kirchenordnungen, S. 238f.

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nicht examinierter und bestätigter Präzeptor den Unterricht halten würde, forderten sie den Abt zu einer Stellungnahme auf und wiesen darauf hin, dass die Kirchenordnung nicht übergangen werden dürfe.48 Das Examen des Lehrers wurde vermutlich im Januar 1575 nachgeholt.49 Versäumten es jedoch die lokalen oder zentralen Amtsträger, aufgrund ihrer anderen Verpflichtungen zügig ihrer Aufgabe nachzukommen, konnte es zu Verzögerungen und somit zu einem Unterrichtsausfall von mehreren Wochen kommen. Besonders markant ist ein Fall aus der Grauhofer Schule im Jahre 1592. Dort dauerte es nach Entlassung des alten Präzeptors mindestens fünf Monate, bis ein Nachfolger gefunden wurde.50 Die Klosterschulen selbst waren ebenfalls mehrfach Diskussionsgegenstand. Erstmals forderte Herzog Julius 1580 ein Gutachten zum Fortbestand der Klosterschulen an. Der Grund dafür waren die „fast allerseits so große mengell, difficulteten und unrichtigkeiten“, die in den Klosterschulen Einzug gehalten hätten.51 Zur Abstellung dieser Fehlentwicklungen äußerte der Herzog daher den Gedanken, ob „diß ein mittel sein solte, das die unterschiedliche und gesonderte closterschulen […] an einen gelegenen ordt zusamen gestossen“52 würden. Diese Idee jedoch wurde von den Konsistorialräten mit dem Verweis „daß eine jede verenderung gefehrlich“ sei und „zu E[uer] f[ürstlich] G[naden] reputation verkleinerung bej frembdenn leuthen“ führen würde, abgelehnt.53 Trotz der Mängel und der oft nicht gegebenen Auslastung der Stipendienstellen hielten die Konsistorialräte an dem Konzept der einzelnen Klosterschulen fest. Als Grund nannten sie, dass die

48 Vgl. das Schreiben vom 25. Oktober 1574 an den Konsistorialsekretär, der das an den Abt ausgehende Schreiben verfassen sollte; Niedersächsisches Landesarchiv Standort Hannover (im Folgenden NLA H) Cal. Br. 7 Nr. 5, fol. 171r–v. 49 In den Protokollen der Konsistorialsitzungen ist die Zitation des Riddagshausener Schulmeisters vermerkt, aufgrund von Lücken in der Überlieferung ist das Examen selbst jedoch nicht dokumentiert, vgl. LAW V 1923, S. 256. Da der Riddagshausener Schulmeister erst 1576 wechselte, ist davon auszugehen, dass der Lehrstelleninhaber das Examen bestanden hat, vgl. Heinrich Meibom: Chronicon Riddagshusense, sive eorum, qui antiquo celeberrimoque illi Monasterio Riddagshusen, a prima eius fundatione in praesentem usque diem, per annos scilicet CDLXXIV. praefuerunt, abbatum catalogus. Wolfenbüttel 1605, hier: S. 121; NLA WF 1 Kb Nr. 946, S. 179, 182 und 185. 50 Der bisherige Amtsinhaber Icones Heren hat zu Ostern 1592 die Klosterschule verlassen, sein Nachfolger Nicolaus Schenke wurde erst am 22. August nach erfolgtem Examen dem Propst des Klosters unterstellt. In den Monaten dazwischen hat das Konsistorium mehrere Male den Klostervorsteher angemahnt, einen Kandidaten zu präsentieren, vgl. Gauger-Lange: Klosterschulen, S. 255–257. 51 Am 20. Oktober 1580 richtete Herzog Julius ein Schreiben an die Konsistorialräte, in dem er den schlechten Zustand der Klosterschulen beklagte und eine Stellungnahme zur Idee einforderte, die Klosterschulen zusammenzulegen, vgl. NLA WF 41 Alt Fb. 1 Nr. 12, fol. 216r–v, hier: 216r; zur anschließend geführten Diskussion in der Konsistorialsitzung sowie dem Ergebnisbericht an den Landesherrn, vgl. Gauger-Lange: Klosterschulen, S. 122–138. 52 NLA WF 41 Alt Fb. 1 Nr. 12, fol. 216r. 53 Am 26. Oktober haben die Konsistorialräte Herzog Julius ihre Empfehlung hinsichtlich einer Zusammenlegung der Klosterschulen mitgeteilt, vgl. NLA WF 41 Alt Fb. 1 Nr. 12, fol. 217r218v, hier: 217v und 218v.

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closter vornemblich erpawet und gestifftet, […], nemblich daß Gott der Allmechtige teglich darin gelobet und angeruffen werde […]. Wo die knabenn aus den clostern genommen werden solten, wolte jetzt berurter gottesdienst und E[uer]F[ürstlich]G[naden] kirchenordnung in diesem gantz wichtigen punct mehrer theils fallenn.54

Sowohl dieses Mal als auch bei den weiteren Diskussionen um die Zusammenlegung in den Jahren 1586 und 1591, dann unter Herzog Heinrich Julius, verteidigten die Konsistorialräte das Konzept der dezentral gelegenen Klosterschulen erfolgreich.55 Die beiden Landesherren verzichteten darauf, die Stipendienanstalten an einem Ort zu vereinen. Die beiden Beispiele zeigen, dass bei der Verwaltung der Wolfenbütteler Klosterschulen bei Entscheidungen und Mängeln immer wieder auf die Kirchenordnung als zentralen, normgebenden Text Bezug genommen wurde. Dies bedeutete jedoch nicht, dass deren Bestimmungen unverändert durchgesetzt, sondern sie vielmehr situativ angewendet, d.h. implementiert, wurden. Ersichtlich wird dies bei der Anstellung der Lehrer: Während bei der Examinierung der Präzeptoren durch das Konsistorium keine Ausnahmen geduldet wurden, wurden Vakanzen bei der Neubesetzung akzeptiert. Des Weiteren wussten die Amtsträger um ihre Möglichkeit, die Entscheidungen des Herzogs in ihrem Sinne zu beeinflussen, wie die ablehnende Haltung zur Zusammenlegung der Klosterschulen zeigt. Sie konnten durch ihre Empfehlung an der Herrschaft ihrer Landesherren partizipieren, welche wiederum an der Verwaltung mitwirkten.56 Dies zeigt, dass Normen „zu einem Bestandteil im gesellschaftlichen Mit- und Gegeneinander“57 zwischen dem Landesherr sowie zentralen und lokalen Amtsträgern wurden. Gerade Herzog Julius wollte über die Klosterschulen stets informiert werden und traf auch viele Entscheidungen selbst, sodass das Konsistorium zu seiner Regierungszeit nur in wenigen Aspekten selbstständig handeln konnte. Dagegen gewann es unter der Herrschaft von Herzog Heinrich Julius mehr Eigenständigkeit, der meist nur noch bei umstrittenen Fällen eingriff oder wenn Adlige beteiligt waren.

54 NLA WF 41 Alt Fb. 1 Nr. 12, fol. 218r. 55 Für die Verhandlungen von März bis Dezember 1586 vgl. NLA WF 41 Alt Fb. 1 Nr. 12, fol. 231r–232v und NLA H Hann. 83 IV Nr. 10, fol. 52r–v; für die Beratungen von Juli bis September 1591 vgl. NLA WF 14 Alt Nr. 442, fol. 20r–21v und 26r–27v. 56 Vgl. Stefan Brakensiek: „Herrschaftsvermittlung im alten Europa. Praktiken lokaler Justiz, Politik und Verwaltung im internationalen Vergleich“, in: Ders. und Heide Wunder (Hg.): Ergebene Diener ihrer Herren? Herrschaftsvermittlung im alten Europa. Köln 2005, S. 1–21, hier: 3. 57 Landwehr: „,Normdurchsetzung‘ in der Frühen Neuzeit?“, S. 157; ferner: Mark Hengerer: Instruktion, Praxis, Reform. Zum kommunikativen Gefüge struktureller Dynamik der kaiserlichen Finanzverwaltung (16. und 17. Jahrhundert), in: Stefan Haas und Mark Hengerer (Hg.): Im Schatten der Macht. Kommunikationskulturen in Politik und Verwaltung 1600–1950. Frankfurt am Main u.a. 2008, S. 75–104, hier: 78.

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5. DIE KLOSTERSCHULEN ALS BILDUNGSSTÄTTE HERZOGLICHER AMTSTRÄGER Um beantworten zu können, inwieweit die Wolfenbütteler Klosterschulen ihrer Aufgabe gerecht wurden, weltliche und insbesondere geistliche Amtsträger für das Fürstentum zu erziehen, müssen die geförderten Stipendiaten identifiziert und ihre Karrierewege nachvollzogen werden. Im Rahmen einer prosopographischen Erhebung wurden 400 obligierte Stipendiaten an den sechs Bildungsinstitutionen zwischen 1569 und dem Tod Herzog Heinrich Julius’ im Juli 1613 nachgewiesen. Diese Datenmenge wiederum wurde unter anderem für die Kriterien ‚geographische‘ wie ‚soziale Herkunft‘, ‚Laufbahn durch die Klosterschulen‘, ‚Universitätsstudium‘ und ‚erreichte berufliche Positionen‘ kollektivbiographisch ausgewertet.58 An drei sehr unterschiedlichen Lebensläufen wird zunächst skizziert, wie die Wolfenbütteler Stipendienanstalten als Ausbildungsstätte funktionierten und wie aus ihnen Verwaltungsträger hervorgingen. Theodor Berckelmann59 wurde 1576 in Neustadt am Rübenberge im Teilfürstentum Calenberg-Göttingen geboren: einem Ort, der erst neun Jahre später zum Territorium Braunschweig-Wolfenbüttel gehören sollte. Dennoch konnte Berckelmann seit 1592 nacheinander in aufsteigender Reihenfolge die Klosterschulen Grauhof, Amelungsborn, Riddagshausen und Mariental besuchen.60 1598 begann er ein Studium an der Universität Helmstedt, das er 1602 bis 1605 unterbrach.61 In dieser Zeit hatte Berckelmann eine Anstellung als Lehrer an seiner ehemaligen Klosterschule Riddagshausen inne.62 Danach setzte er sein Theologiestudium in Tübingen fort.63 1608 kehrte Berckelmann nach Helmstedt zurück, wo er vier Jahre später zum ordentlichen Theologieprofessor ernannt wurde.64 Von 1625 an war er Abt des Klosters Amelungsborn und seit 1630 zugleich Generalsuperintendent in Göttingen; beide Ämter übte er bis zu seinem Tod 1645 aus.65 Berckelmann stellte

58 Zur Methodik und einer Ergebniszusammenfassung vgl. Gauger-Lange, Klosterschulen, S. 261f., 268f., 283f., 287f., 293, 301f., 308f., 321–323 und 443. 59 Vgl. zu ihm u.a. Sabine Ahrens: Die Lehrkräfte der Universität Helmstedt (1576–1810). Helmstedt 2004, S. 18f.; Inge Mager: „Berckelmann, Theodor“, in: Braunschweigisches Biographisches Lexikon, S. 80; Paul Zimmermann: Album Academiae Helmstadiensis. 1. Bd.: Album Academiae Juliae, 1. Abt.: Studenten, Professoren etc. der Universität Helmstedt von 1574– 1636. Hannover u.a. 1926, S. 880. 60 An den einzelnen Klosterschulen ist er entweder durch Aufsätze, Examensprotokolle oder Schülerlisten und Beurteilungen nachweisbar, vgl. z.B. LAW OA Amelungsborn 7, fol. [56r– 82v] und [125r–127v]; LAW S 981, fol. [119r–v]; NLA H Cal. Br. 21 Nr. 2222, fol. 44r–45v; NLA WF 11 Alt Ridd Nr. 14, fol. 138r–151v; NLA WF 14 Alt Nr. 442, fol. 36r–v. 61 Vgl. Zimmermann: Album Academiae Helmstadiensis, S. 113 und 159. 62 Vgl. Meibom: Chronicon Riddagshusense, S. 122. 63 Vgl. Albert Bürk und Wilhelm Wille (Hg.): Die Matrikeln der Universität Tübingen. 2. Bd.: 1600–1710. Tübingen 1953, S. 28. 64 Vgl. Zimmermann: Album Academiae Helmstadiensis, S. 227. 65 Vgl. Philipp Meyer: Die Pastoren der Landeskirchen Hannovers und Schaumburg-Lippes seit der Reformation. 1. Bd.: Abbensen bis Junker-Wehningen. Göttingen 1941, S. 323 und 328;

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also das Ideal eines Klosterstipendiaten dar, wie es in der Kirchenordnung 1569 beschrieben wurde: Zum Zeitpunkt seiner Aufnahme aus dem Fürstentum stammend, durchlief er sämtliche Klosterschulen, studierte Theologie an der landeseigenen Hochschule und übernahm schließlich hohe geistliche Ämter im Territorium. Obwohl die Bestimmungen der Kirchenordnung lauteten, nur „arme landskinder“ aufzunehmen, wurden Ausnahmen gemacht, wie das Beispiel von Peter Malsius zeigt. Aus Schmalkalden stammend, wurde er dennoch im Laufe des Jahres 1582 an der Klosterschule Riddagshausen aufgenommen. Am 22. Trinitatissonntag, d.h. am 11. November, hat er zusammen mit elf anderen studiosi am Abendmahl in der Klosterkirche teilgenommen.66 In Mariental ist er zwei Jahre später, im Oktober 1584, belegt.67 Am 10. Mai 1581 und somit vor seinem Schulbesuch immatrikulierte sich Malsius an der Universität Helmstedt. Dieses Verfahren war in der damaligen Zeit nicht unüblich;68 von den Wolfenbütteler Stipendiaten hat sich sogar etwa die Hälfte vor Abgang von den Klosterschulen an einer Universität eingeschrieben.69 Schließlich ist Malsius von 1600 bis 1626 als Pfarrer zu Groß und

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ders.: Die Pastoren der Landeskirchen Hannovers und Schaumburg-Lippes seit der Reformation. 3. Bd.: Ergänzungen und Berichtigungen des 1. und 2. Bandes; Alphabetisches Verzeichnis der Pastoren. Göttingen 1953, S. 17; Georg Seebaß und Friedrich-Wilhelm Freist: Die Pastoren der Braunschweigischen Evangelisch-Lutherischen Landeskirche seit Einführung der Reformation. 1. Bd.: Alphabetisches Verzeichnis nach Orten. Wolfenbüttel 1969, S. 1; dies.: Die Pastoren der Braunschweigischen Evangelisch-Lutherischen Landeskirche seit Einführung der Reformation. 2. Bd.: Alphabetisches Verzeichnis nach Personen. Wolfenbüttel 1974, S. 20. Im Kloster Riddagshausen wurden zwischen 1568 und 1584 sämtliche Teilnehmer des Abendmahls in der Klosterkirche verzeichnet, die Klosterschüler sind meist durch einen entsprechenden Vermerk eigens gekennzeichnet, vgl. NLA WF 1 Kb Nr. 946, S. 222. Das Verzeichnis enthält eine systematische Übersicht aller ehemaligen und aktuellen Stipendiaten des Fürstentums, die auf den Klosterschulen, dem Pädagogium Gandersheim und der Universität Helmstedt gefördert wurden, vgl. NLA H Cal. Br. 21 Nr. 4266, fol. 21r–28v, hier: 26v; ediert von Ed[uard] de Lorme: „Stipendiaten auf braunschweigisch-wolfenbüttelschen Klosterschulen und auf der Universität Helmstedt. Teil 1“, in: Deutsche Wappenrolle. Herold, Verein für Heraldik, Genealogie und verwandte Wissenschaften (1926), S. 44f. und 60–62, hier: 60; ders.: „Stipendiaten auf braunschweigisch-wolfenbüttelschen Klosterschulen und auf der Universität Helmstedt. Teil 2“, in: a.a.O. (1927), S. 4–5. Die Gründe dafür sind vielfältig: Neben der Vermeidung von Aufnahmeritualen durch eine frühzeitige Immatrikulation könnte auch die Zugehörigkeit zum „privilegierten Personenverband“ der Universitätsangehörigen, der unter anderem unter die universitäre Gerichtsbarkeit fiel, eine Rolle gespielt haben, vgl. Arno Seifert: „Das höhere Schulwesen. Universitäten und Gymnasien“, in: Notker Hammerstein (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. 1. Bd.: 15. bis 17. Jahrhundert. Von der Renaissance und der Reformation bis zum Ende der Glaubenskämpfe. München 1996, S. 197–374, hier: 200; ferner: Uwe Alschner: Universitätsbesuch in Helmstedt 1576–1810. Modell einer Matrikelanalyse am Beispiel einer norddeutschen Universität. Braunschweig 1998; Marian Füssel: „Gewalt im Zeichen der Feder. Soziale Leitbilder in akademischen Initiationsriten der Frühen Neuzeit“, in: Michaela Hohkamp u.a. (Hg.): Gewalt in der Frühen Neuzeit. Berlin 2005, S. 101–116. Vgl. Gauger-Lange: Klosterschulen, S. 301f.

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Klein Lengden belegt; einer ländlichen Pfarre in der Nähe von Göttingen.70 Malsius ist ein Beispiel dafür, dass auch Jungen aus landesfremden Gebieten an den Klosterschulen aufgenommen und gefördert wurden. Schließlich ist an Malsius der Zweck der Klosterschulen besonders ersichtlich: Als Pfarrstelleninhaber einer ländlichen Gemeinde war der ehemalige, im Fürstentum ausgebildete Stipendiat in der Position, die lutherische Glaubensauffassung in seinem direkten Umfeld zu verbreiten.71 Julius Melis aus der Heinrichstadt, heute ein Stadtteil Wolfenbüttels, wurde bereits 1579 als Neunjähriger in Riddagshausen aufgenommen, obwohl er noch nicht genügend Fähigkeiten hatte, um dem regulären Unterricht der Schule folgen zu können. Vielmehr hat Herzog Julius dem Abt des Klosters am 19. Juli auferlegt, sein Patenkind zusammen mit dessen eigenen Söhnen in deren „privatschule“ unterrichten zu lassen.72 Erstmals als regulärer Stipendiat in Riddagshausen ist Melis im Oktober 1584 in dem Gesamtverzeichnis aller fürstlichen Stipendiaten dokumentiert.73 1585 schrieb das Konsistorium über ihn: „ingenij non admodum faelicis, de eo nihil spei“.74 Dennoch besuchte er die Schule weiterhin. Am 9. Juli 1588 wurde in einem Schreiben an den Landesherrn erneut Melis’ mangelnde Eignung ausgesprochen und empfohlen, den Jungen zu entlassen, um ihn zu einem Schreiberdienst zu befördern.75 In der Tat ist ein Julius Melis zwischen 1603 und 1611 als Kammersubstitut im Fürstentum nachgewiesen, wobei es sich vermutlich um den ehemaligen Stipendiaten handelt.76 An Melis ist zu ersehen, dass ein Verlassen der Klosterschulen wegen mangelnder Eignung kein Hindernis für die Anstellung im Fürstentum darstellte. Vielmehr waren die Wolfenbütteler Landesherren bestrebt, auch die untalentierten, aber finanziell unterstützten Jungen bei sich im Fürstentum zu bestallen, um dennoch von ihrer Förderung zu profitieren. Diese Intention spiegelt sich in der Tatsache wider, dass eine Entlassung aus einer Klosterschule nicht

70 Vgl. Meyer: Pastoren der Landeskirchen, 1. Bd., S. 369; ders.: Die Pastoren der Landeskirchen Hannovers und Schaumburg-Lippes seit der Reformation. 2. Bd.: Kaarßen bis Zeven. Göttingen 1942, S. 27. 71 Zur Funktion des konfessionellen Schulwesens vgl. u.a. Stefan Ehrenpreis: „Bildungsoffensive als Politikum? Frühneuzeitliche Schulbildung zwischen Konfessions- und Finanzpolitik“, in: Joachim Bahlcke und Thomas Winkelbauer (Hg.): Schulstiftungen und Studienfinanzierung. Bildungsmäzenatentum in den böhmischen, österreichischen und ungarischen Ländern, 1500– 1800. Wien u.a. 2011, S. 39–59, hier: 46f. 72 Insgesamt drei Schreiben sind zur Aufnahme überliefert: Vgl. NLA WF 3 Alt Nr. 41, fol. 4r– 8r; das Schreiben von Herzog Julius ist auf fol. 8r, in der Aufnahmesupplik wird der gesonderte Unterricht für die Söhne des Abts erwähnt, vgl. fol. 4r–5v, hier: 4v. 73 Vgl. NLA H Cal. Br. 21 Nr. 4266, fol. 27r und de Lorme: Stipendiaten, S. 61. 74 Das Verzeichnis mit den Bewertungen ist undatiert, muss aber nach August 1585 entstanden sein, vgl. NLA H Cal. Br. 21 Nr. 2223, fol. 1v. 75 Vgl. NLA WF 11 Alt Ridd Nr. 14, fol. 80r–81v. 76 Vgl. Helmut Samse: Die Zentralverwaltung in den südwelfischen Landen vom 15. bis zum 17. Jahrhundert. Hildesheim u.a. 1940, hier: S. 193 und 205.

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die Aufhebung der Obligation bedeutete. Vielmehr wurde in diesen Fällen darauf hingewiesen, dass die Verpflichtungserklärung weiterhin ihre Gültigkeit besäße.77 Diese drei sehr unterschiedlichen Lebensläufe bilden nur einen kleinen Ausschnitt aller 400 geförderten Klosterstipendiaten ab. Dennoch spiegeln sie wichtige Erkenntnisse zum Aufbau der Wolfenbütteler Klosterschulen und deren Funktion als Bildungsstätte von herzoglichen Amtsträgern wider. Das in der Kirchenordnung festgelegte Aufnahmekriterium, ein „landkind“ zu sein, wurde in der Praxis flexibel gehandhabt. Zwar kamen 78%78 der Stipendiaten, für die die Herkunft ermittelt werden konnte, aus dem Fürstentum BraunschweigWolfenbüttel einschließlich der angefallenen Territorien und dem Bistum Halberstadt, aber gut ein Fünftel erfüllte dieses Kriterium nicht. Die Gründe dafür waren vielfältig: Neben Dienstverhältnissen zum Landesherrn und Gefälligkeiten der Herzöge in einem Patronage-Verhältnis hat ebenfalls das Ansehen der Familie des aufgenommenen Jungen eine Rolle gespielt.79 Dies gilt nicht nur für den vorgestellten Melis als Patenkind Herzog Julius’, sondern beispielsweise auch für den Stipendiaten in Amelungsborn und Ringelheim, Johannes Platz, der ein Sohn des Vogts des hessischen Erbkämmerers und Württemberger Hofmarschall Sittich von Berlepsch war.80 Die Stipendieneinrichtungen im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel waren seit Mitte der 1570er Jahre so konzipiert, dass nach dem Besuch einer der drei niederen Schulen Riechenberg, Ringelheim und Grauhof die Versetzung nach Amelungsborn erfolgen sollte. Anschließend sollten idealerweise erst Riddagshausen und dann Mariental durchlaufen werden. Von den 400 Stipendiaten haben jedoch nur 14 diesen vollständigen Schulweg durch die Klosterschulen genommen, darunter der vorgestellte Berckelmann. Vielmehr haben 72%81 von ihnen wie Melis und Malsius ausschließlich eine oder mehrere der höheren Klosterschulen besucht. 77 Ein Schreiben mit einer solchen Anweisung liegt für den Stipendiaten Jodocus Kulemann vor, der 1587 wegen Untauglichkeit von der Klosterschule Grauhof entlassen wurde, vgl. NLA WF 14 Alt Nr. 442, fol. 9r–v. 78 Das sind 239 Jungen; für 306 Stipendiaten ist die geographische Herkunft belegt, vgl. GaugerLange: Klosterschulen, S. 262–268, hier: 262. 79 Zum Begriff Patronage vgl. Gabriele Jancke: „Patronage, Freundschaft, Verwandtschaft. Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit“, in: Johannes F. K. Schmidt u.a. (Hg.): Freundschaft und Verwandtschaft. Zur Unterscheidung und Verflechtung zweier Beziehungssysteme. Konstanz 2007, S. 181–200, hier: S. 190f.; Mark Hengerer: „Amtsträger als Klienten und Patrone? Anmerkungen zu einem Forschungskonzept“, in: Ergebene Diener ihrer Herren?, S. 45–78, hier: 47–50; zur Funktion der Patronage in der Frühen Neuzeit vgl. u.a. Ronald G. Asch, Birgit Emich und Jens Ivo Engels: „Einleitung“, in: Dies. (Hg.): Integration – Legitimation – Korruption. Politische Patronage in Früher Neuzeit und Moderne. Frankfurt am Main u.a. 2011, S. 7– 30, hier: 7; Birgit Emich, Nicole Reinhardt, Hillard von Thiessen und Christian Wieland: „Stand und Perspektiven der Patronageforschung. Zugleich eine Antwort auf Heiko Droste“, in: Zeitschrift für historische Forschung 32 (2005), S. 233–265, hier: 237–239. 80 Das Aufnahmegesuch für Johannes Platz, die Besprechung im Konsistorium und die Bewilligung durch Herzog Julius sind überliefert in: NLA H Cal. Br. 7 Nr. 5, fol. 23r–24v, LAW V 262, S. 23 und NLA WF 41 Alt Fb. 1 Nr. 12, fol. 121r–v. 81 Das sind 288 Stipendiaten, vgl. Gauger-Lange: Klosterschulen, S. 288–292, hier: 288f.

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Die gute Besuchsquote auf den höheren Einrichtungen findet ihre Fortsetzung im Anteil der an Universitäten immatrikulierten Stipendiaten. 203 oder knapp 51% von allen 400 Klosterschülern schrieben sich an einer oder mehreren Universitäten ein. Innerhalb dieser Gruppe haben lediglich zwei ein Studium ausschließlich an einer auswärtigen Hochschule aufgenommen. Nur weitere 18 aus dieser Gruppe haben an Hochschulen inner- und außerhalb des Fürstentums studiert. Hingegen haben sich 90%82 dieser Stipendiaten ausschließlich in Helmstedt bzw. dem Pädagogium Gandersheim immatrikuliert. Zusammen mit den Ergebnissen des Schulbesuchs belegen diese Zahlen eindrucksvoll den Auf- und Ausbau des Bildungswesens im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel. Innerhalb weniger Jahre nach Regierungsantritt von Herzog Julius und der damit verbundenen Einführung der Reformation ist es gelungen, ein Bildungswesen aufzubauen, das umfassend eine gelehrte (Schul-)Bildung im Territorium ermöglichte. Schließlich konnten 132 Stipendiaten in einer beruflichen Anstellung inneroder außerhalb des Fürstentums ermittelt werden.83 Von diesen ergriffen 123 einen Dienst innerhalb des Fürstentums, was einem Anteil von 93% entspricht. Hingegen waren nur neun von ihnen ausschließlich in anderen Territorien tätig. Die erstgenannte Gruppe erfüllte somit die in der Obligation eingegangene Verpflichtung, eine Anstellung in landesherrlichen Diensten anzutreten. 96 von ihnen übernahmen sogar kirchliche Ämter; ein Anteil von knapp 73%. Als Pfarrer, Lehrer, Sekretäre und Schreiber waren die Klosterschüler zwar meist nicht in den absoluten Spitzenpositionen des Fürstentums tätig – hier ist der Abt und Generalsuperintendent Berckelmann eine Ausnahme –, aber sie waren in einer mittleren Leitungsebene sehr breit vertreten. In diesen Positionen übernahmen sie die Funktionen landesherrlicher Amtsträger, wodurch ihnen idealerweise eine Schlüsselstellung beim Auf- und Ausbau der geistlichen und weltlichen Landesherrschaft zukam.84 Schließlich waren sie nicht nur durch ihre im Territorium absolvierte Bildung in der Glaubensauffassung des Wolfenbütteler Fürstentums erzogen, sondern auch durch ihre Obligation und ihre Bestallung dem Landesherrn gegenüber verpflichtet.85 Dies ermöglichte dem welfischen Herzog „angesichts der Lehrvielfalt im evangeli-

82 Das sind 183 Stipendiaten, vgl. Gauger-Lange: Klosterschulen, S. 301–306, hier: 305. 83 Das entspricht einem Anteil von 33% an den 400 Klosterstipendiaten, vgl. Gauger-Lange: Klosterschulen, S. 308–321, hier: 318. 84 Vgl. Brakensiek: „Herrschaftsvermittlung im alten Europa“, S. 5; Zu den Grenzen der Einsetzung lokaler Amtsträger zur Durchsetzung landesherrlicher Interessen vgl. ders.: „Lokale Amtsträger in deutschen Territorien der Frühen Neuzeit. Institutionelle Grundlagen, akzeptanzorientierte Herrschaftspraxis und obrigkeitliche Identität“, in: Ronald G. Asch und Dagmar Freist (Hg.): Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Köln u.a. 2005, S. 49–67. 85 Zum Zusammenhang von konfessionellem Bildungswesen und dem Aufbau moderner Verwaltungsstrukturen in der Frühen Neuzeit vgl. Stefan Ehrenpreis: „Erziehungs- und Schulwesen zwischen Konfessionalisierung und Säkularisierung. Forschungsprobleme und methodische Innovation“, in: Ders. und Heinz Schilling (Hg.): Erziehung und Schulwesen zwischen Konfessionalisierung und Säkularisierung. Forschungsperspektiven, europäische Fallbeispiele und Hilfsmittel. Münster 2003, S. 19–33, hier: 29.

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schen Lager den heimischen Konfessionsstand mit Hilfe einer im Lande selbst ausgebildeten geistigen Elite wirksamer kontrollieren und sichern zu können“86. Dies deckt sich mit der Beobachtung anderer frühneuzeitlicher Territorien, dass die jeweiligen Landesherren und städtische Obrigkeiten eigene Funktionsträger für die Durchsetzung ihrer Maßnahmen ausbildeten und einsetzten.87 6. SCHLUSS Die Klosterschulen im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel waren kein Teil der Verwaltung im Sinne von Entscheidungsträgern, aber dennoch auf zwei Arten in die Administration des Territoriums eingebunden: Zum einen waren sie Verwaltungsgegenstand, weil das Funktionieren und die Organisation durch das Konsistorium gewährleistet und beaufsichtigt werden musste. Zum anderen waren sie Ausbildungsstätte zukünftiger Amtsträger für das Fürstentum. Aufgrund ihres Internats- und Stipendienwesens sollten die Stipendienanstalten es dem Fürstentum ermöglichen, „eine Selbstversorgung der staatlichen Eliten nach selbstgesetzten wissenschaftlichen und religiösen Normen vorzunehmen“.88 Dieses Ziel konnte auch einigermaßen erreicht werden, wie die Auswertung der Kollektivbiografie gezeigt hat: Die Mehrheit der Klosterschüler hat die drei höheren Klosterschulen besucht und somit eine sehr gute Schulbildung erhalten, die den Übergang auf die landeseigene Hochschule ermöglichte. Des Weiteren ist immerhin ein Viertel als Amtsträger im Fürstentum belegt. Dennoch gab es zahlreiche Stipendiaten, die trotz Schutzmechanismen wie Aufnahmeprüfungen, Examina zur Fortschrittsüberprüfung und die Unterzeichnung einer Obligation aus unterschiedlichen Ursachen ihren Dienst im Fürstentum nicht erfüllten. Dies offenbart einen Teil der Schwierigkeiten, die bei der Verwaltung und Organisation der Klosterschulen auftraten. Weitere Probleme entstanden dadurch, dass sich der in der Kirchenordnung verfasste Anspruch und die Ausgestaltung der Praxis nicht miteinander in Einklang bringen ließen. Die Gründe dafür waren die Mitwirkung der Landesherren, die Arbeitsüberlastung der zuständigen Amtsträger oder ungenügend festgelegte Bestim-

86 Inge Mager: „Die Pfarrerausbildung für evangelische Landeskirchen an der welfischen Universität Helmstedt“, in: Christof Römer (Hg.): Evangelische Landeskirchen der Harzterritorien in der frühen Neuzeit. Wernigerode und Berlin 2003, S. 59–76, hier: 63. 87 So beispielsweise im Herzogtum Württemberg, vgl. Martin Brecht: „Herkunft und Ausbildung der der protestantischen Geistlichen des Herzogtums Württemberg im 16. Jahrhundert“, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 80 (1969), S. 163–175, hier: 170f.; allgemeiner: Brakensiek: Amtsträger, S. 56–60. 88 Gerhard Menk: „Das Bildungswesen in den deutschen protestantischen Territorien der frühen Neuzeit“, in: Erziehung und Schulwesen zwischen Konfessionalisierung und Säkularisierung, S. 55–99, hier: 80; so auch Ehrenpreis: „Bildungsoffensive als Politikum?“, S. 46f.; Wolfgang Neugebauer: „Staatsverfassung und Bildungsverfassung“, in: Hans-Jürgen Becker (Hg.): Interdependenzen zwischen Verfassung und Kultur. Berlin 2003, S. 91–125, hier: 101.

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mungen. Dies führte dazu, dass in der Verwaltungsarbeit zwischen dem Landesherrn, dem Konsistorium und den Prälaten der Klöster die Zuständigkeitsbereiche, Abläufe und Regelungen ausgehandelt werden mussten.89 Jedoch wurden nicht alle Mängel vom Konsistorium oder dem Landesherrn als solche angesehen, sondern vielmehr wurden einige als Teil normaler Verwaltungsprozesse akzeptiert und behandelt. Beispiele dafür sind die häufigen Wechsel und Vakanzen der Präzeptorenstellen oder die dauerhafte Etablierung dieser Bildungseinrichtungen. Abschließend lässt sich festhalten, dass die evangelischen Klosterschulen im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel nicht nur typisch für die reformatorischen bzw. konfessionellen Entwicklungen im Bildungs- und Klosterwesen sind, sondern auch exemplarisch für den zunehmenden Organisations- und Ordnungswillen innerhalb der landesherrlichen Verwaltung zu Beginn der Frühen Neuzeit stehen.

89 Zur Aushandlung von Herrschaft in der Frühen Neuzeit vgl. Brakensiek: „Akzeptanzorientierte Herrschaft“, S. 399f.; Wolfgang Reinhard: „Zusammenfassung. Staatsbildung durch ,Aushandeln‘?“, in: Staatsbildung als kultureller Prozess, S. 429–438, hier: 429–431 und 434.

REICHSGRAFEN ALS SCHÜLER AN AKADEMISCHEN GYMNASIEN Tobias Binkert Abstract: In the education of the nobility around 1600, so-called “akademische Gymnasien” (comparable to college level education) played a central role. Noble students received their basic humanist education at these institutions. First, they learned the Latin language. They were also introduced to ancient authors and the principles of rhetoric and dialectics. Everyday school life was strongly structured and characterized by routine repetition of the curriculum as well as competition among the pupils. Students’ progress was monitored through disputations and written work. The teaching of subjects specific to the student’s status and of modern foreign languages varied considerably. The families used the schools to develop a social network among nobles and scholars. Through such contacts, knowledge was transferred to their areas of origin. Zusammenfassung: Akademische Gymnasien spielten für die Ausbildung des Adels um 1600 eine zentrale Rolle. Die adligen Schüler erhielten hier ihre humanistische Grundausbildung. Zunächst erlernten sie die lateinische Sprache. Auch wurden sie mit antiken Autoren und den Grundzügen von Rhetorik und Dialektik vertraut gemacht. Der Schulalltag war stark strukturiert und durch Repetitionen des Lehrstoffes und Wettbewerb unter den Schülern geprägt. Disputationen und schriftliche Arbeiten machten den Fortschritt der Schüler überprüfbar. Unterricht in standesspezifischen Fächern und in modernen Fremdsprachen wurde in stark unterschiedlichem Maß wahrgenommen. Die Familien nutzten den Schulaufenthalt für den Ausbau eines sozialen Netzes unter Adligen und Gelehrten. Durch die Kontakte in den Gelehrtenstand wurde Know-how in das eigene Herrschaftsgebiet transferiert.

1. EINFÜHRUNG Die ökonomische Grundlage des Adels wurde im Laufe des 15. Jahrhunderts durch das verstärkte Vordringen humanistisch gebildeter Bürgerlicher auf traditionell dem Adel vorbehaltene Stellen im Fürstendienst gefährdet. Dies traf besonders jene Adligen, die nur über ein geringes Einkommen aus Grundbesitz verfügten. Die Adligen reagierten auf die gestiegenen Anforderungen an den Dienst am Hofe, in der Verwaltung und im Militär, indem sie sich um eine humanistische Ausbildung an Schulen und Universitäten bemühten. Gleichzeitig verbesserten sie ihre Chancen bei der Besetzung von Ratsgremien und Stiften, indem sie bei den Landesherren Quotenregelungen nach ständischen Gesichtspunkten und die Erschwerung von Nobilitierungen durchsetzten. Die erfolgreiche Verteidigung der eigenen Position führte im 17. Jahrhundert zur Selbstbehauptung des Adels als führenden Stand. Die Bemühung um eine stärkere Abgrenzung gegenüber dem Bürgertum trug auch zur

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stärkeren Betonung von standesspezifischen Unterrichtsinhalten bei. Die ersten nach italienischem und französischem Vorbild auf dem Boden des Reichs gegründeten Ritterakademien, etwa das Collegium Illustre in Tübingen (1594), zeigten die Nachfrage nach Institutionen, die eine exklusive adlige Bildung anboten. Die Ausbildungsgänge junger Adliger wiesen am Ende des 16. Jahrhunderts große Unterschiede auf. Erkrankungen unterbrachen den Schulbesuch, Kriegsläufe und Seuchenzüge zwangen zum Schulortwechsel und kurzfristige Karriereoptionen beeinflussten die Bildungsgänge. Mit Blick auf die jungen Reichsgrafen1 aus dem südwestdeutschen Raum in der Zeit vor dem Dreißigjährigen Krieg ist jedoch festzustellen, dass sich ihre Ausbildung in der Regel in vier Phasen unterteilen lässt. Zuerst erhielten die jungen Adligen am heimischen Hof einen elementaren, zum Teil auch weiterführenden Unterricht. Im Anschluss daran wurden die jungen Herren auf ein akademisches Gymnasium geschickt.2 Danach suchten sie eine Universität auf, um dort philosophische Studien zu betreiben und Einblicke in die Rechtswissenschaften zu erhalten. Eine intensivere Beschäftigung mit der Jurisprudenz erfolgte in der Regel nur bei konkreten Karriereoptionen, etwa aufgrund der Aussicht auf die Aufnahme in ein Domkapitel. Akademische Grade wurden von den jungen Adligen in aller Regel nicht erworben. Eine Bildungsreise rundete die adlige Ausbildung ab. Für die Zeit vor dem Dreißigjährigen Krieg entzieht sich diese Art von Reise weitgehend einer Kategorisierung, da sie Elemente der humanistischen peregrinatia academica und der adligen Kavalierstour kombinierte.3 Der vorliegende Beitrag befasst sich mit der zweiten Phase der adligen Ausbildung, dem Aufenthalt der jungen Reichsgrafen auf einem akademischen Gymnasium4 unter besonderer Berücksichtigung konfessioneller Besonderheiten. Zunächst werden die Gründe der jeweiligen adligen Familie für die Auswahl einer bestimmten akademischen Bildungsanstalt dargestellt. Im Anschluss daran werden die Bildungsinhalte untersucht, die den jungen Adligen an den akademischen Gymnasien und im privaten Unterricht, der den schulischen immer ergänzte, nähergebracht wurden. Thema des nächsten Abschnitts ist die Praxis der Wissensvermittlung. Darauf folgt eine Rekonstruktion der adligen Lebenswelt am Studienort. Abschließend werden die am Studienort entwickelten Kontakte und die Art und Weise untersucht, wie die jungen Adligen diese nach ihrem Regierungsantritt für den Wissenstransfer in die eigene Herrschaft nutzten. Für die Quellenbasis wurden insbesondere die Adelsarchive der reformierten Familie Hanau-Münzenberg, der lutherischen Familie von Löwenstein-Wertheim 1 2

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Der Begriff Reichsgrafen umreißt Herren- und Grafenfamilien, die in der Regel ein reichsunmittelbares Lehen innehatten. Vgl. Michael Sikora: Der Adel in der Frühen Neuzeit. Darmstadt 2009, S. 15. Als akademisches Gymnasium wird hier eine Lateinschule mit einem weiterführenden akademischen Kursangebot bezeichnet. Mit dem akademischen Gymnasium in Straßburg als Vorbild verbreitete sich der Schultyp zunächst in protestantischen Gebieten. Die katholischen Jesuitenkollegien wiesen hierzu große Analogien auf. Zur Begrifflichkeit vgl. Simone Giese: Studenten aus Mitternacht. Stuttgart 2009, S. 140–145. Die jungen Grafen durchliefen in dieser Phase den regulären Klassenkursus, weshalb in der Folge vereinfachend vom Schulbesuch gesprochen wird.

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und der katholischen Truchsesse von Waldburg-Wolfegg herangezogen. Ausgewertet wurden vor allem die Korrespondenz der jungen Adligen und ihrer Privatlehrer mit den Eltern sowie die Kostenaufstellungen, die sie aus ihren Schulorten nach Hause schickten. Im Vergleich mit den zeitgenössischen Ausbildungsgängen anderer Adliger kristallisieren sich weitere Gemeinsamkeiten und Unterschiede heraus.5 2. BESUCHTE BILDUNGSEINRICHTUNGEN Eine der wichtigsten Anforderungen für die Auswahl des Schulorts – und zumindest in den Reichsgrafenfamilien im deutschen Südwesten eine conditio sine qua non – war die konfessionelle Orientierung der ausgewählten Bildungsinstitution.6 Zum einen war die konfessionelle Segmentierung der Bildungslandschaft damals weitgehend abgeschlossen, zum andern hatte sich um 1600 auch die konfessionelle Bindung der adligen Familien gefestigt. Der Schulbesuch war deutlich konfessionell geprägt, was sich bereits am gemeinsamen Kirchenbesuch und dem Auswendiglernen des jeweiligen Katechismus zeigte. Aufgrund ihrer gegenreformatorischen Ausrichtung war diese Prägung an den Jesuitenkollegien besonders intensiv. Hier war nicht nur der Unterricht konfessionell ausgerichtet; die jungen Adligen nahmen außerdem an religiösen Exerzitien im Rahmen der marianischen Kongregation teil. Nicht nur die konfessionelle Ausrichtung des akademischen Gymnasiums, sondern auch der Inhalt und die Qualität der Lehre hatten mit den Vorstellungen der Adelsfamilie konform zu gehen. Gemäß den Erwartungen der Familie musste vor allem das humanistische Curriculum der Bildungsanstalt sichergestellt sein. Der Lateinunterricht und die Vermittlung klassischer Lektüre sowie durch Prüfungen und andere Leistungsnachweise ersichtliche Lernfortschritte waren der wesentliche

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Vgl. etwa die Ausbildungsgänge von Philipp Ludwig I. von Hanau-Münzenberg (1553–1580) in Gerhard Menk: „Philipp Ludwig I. von Hanau Münzenberg (1553–1580). Bildungsgeschichte und Politik eines Reichsgrafen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts“, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 32 (1982), S. 128–163; von Kaspar von Hohenems (1573–1640) in Ludwig Welti: Graf Kaspar von Hohenems, 1573–1640. Ein adeliges Leben im Zwiespalte zwischen friedlichem Kulturideal und rauher Kriegswirklichkeit im Frühbarock. Innsbruck 1963; von Ernst von Mansfeld (1580–1626) in Walter Krüssmann: Ernst von Mansfeld (1580–1626). Grafensohn, Söldnerführer, Kriegsunternehmer gegen Habsburg im Dreißigjährigen Krieg. Berlin 2010; von Gottfried Heinrich von Pappenheim (1594–1632) in Barbara Stadler: Pappenheim und die Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Winterthur 1991; von „Wallenstein“ Albrecht Wenzel Eusebius von Waldstein (1583–1643) in Golo Mann: Wallenstein. Frankfurt am Main 1971. In anderen Adelslandschaften, etwa in Böhmen, wurde zumindest der nicht-katholische Nachwuchs auch auf Schulen mit einer anderen konfessionellen Orientierung als derjenigen der Familie geschickt: Martin Holý: „Summary: Birth of the Renaissance Cavalier, Upbringing and Education of Nobility from the Bohemian Lands at the Threshold of Modern Age (1500– 1620)“, in: Ders.: Zrození renesančního kavalíra, Výchova a vzdělávání šlechty z českých zemí na prahu novověku (1500–1620). Prag 2010, S. 555–562, hier: 558.

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Grund für die Familien, ihren Nachwuchs überhaupt auf ein akademisches Gymnasium zu schicken. Das akademische Gymnasium in Straßburg zum Beispiel fand aufgrund der Qualität der Lehre und der vielfältigen publizistischen Tätigkeit des Lehrkörpers große Aufmerksamkeit und wurde bald auch von Adligen in großer Zahl aufgesucht.7 Entsprach die Qualität des Unterrichts nicht den Erwartungen der adligen Schüler und ihrer Präzeptoren, dauerte es nicht lange, bis diese sich beschwerten. So beklagten sich die jungen Grafen von Löwenstein-Wertheim bei ihrem Vater, dass in Straßburg im Unterricht nicht Latein, sondern Deutsch gesprochen werde.8 Um die finanzkräftige adlige Schülerschaft weiterhin an sich zu binden, hatten einige akademische Gymnasien begonnen, neben dem humanistischen Fächerkanon auch Unterricht in adligen Exerzitien und Fremdsprachen anzubieten. Ein konkreter Anlass für diese Bemühungen um eine Erweiterung des Lehrangebots dürfte gewesen sein, dass den etablierten akademischen Gymnasien mit der Gründung der ersten Ritterakademien im Reich Konkurrenz erwuchs.9 An der Hohen Schule Herborn, an der nach dem Willen des Schulgründers Johann VI. Graf von Nassau-Dillenburg (1536–1606) junge Adlige in großer Zahl ausgebildet werden sollten,10 musste auch eine standesgerechte Ausbildung gewährleistet werden. In den Anfangsjahren der Schule war der Unterricht in den adligen Exerzitien allerdings erst im Aufbau. Die jungen Grafen von Hanau-Münzenberg, die sich in Herborn 1585, ein Jahr nach der Gründung der Bildungsanstalt, immatrikulierten, erhielten zumindest schon Fechtunterricht.11 Auch in Straßburg, wo der Unterricht des akademischen Gymnasiums ursprünglich auf die Bedürfnisse des reichsstädtischen Bürgertums zugeschnitten war, wurden zum Ende des 16. Jahrhunderts Bemühungen deutlich, den Fächerkanon zu erweitern. Französischunterricht wurde im Rahmen von öffentlichen Vorlesungen angeboten.12 Adlige Exerzitien konnten in der Stadt privat organisiert werden.13

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Vgl. zum akademischen Gymnasium in Straßburg Anton Schindling: Humanistische Hochschule und freie Reichsstadt. Gymnasium und Akademie in Strassburg 1538–1621. Wiesbaden 1977. Vgl. Staatsarchiv Wertheim, R-Rep. 67o Nr. 3, Bl. 5v: Friedrich von Löwenstein-Wertheim an Ludwig III. von Löwenstein, 23. März 1595. Vgl. Norbert Conrads: Ritterakademien der Frühen Neuzeit. Bildung als Standesprivileg im 16. und 17. Jahrhundert. Göttingen 1982. Ausführlich zur Anfangszeit von Herborn: Gerhard Menk: Die Hohe Schule Herborn in ihrer Frühzeit (1584–1660). Ein Beitrag zum Hochschulwesen des deutschen Kalvinismus im Zeitalter der Gegenreformation. Wiesbaden 1981. Zumindest erhielt Philipp Ludwig II. von Hanau-Münzenberg aus Hanau ein Schwert und spezielle Fechtkleidung zugesandt: Staatsarchiv Marburg, 81 A 31 Nr. 25, Bl. 1: Paul von Welsberg [Amtmann zu Hanau] an Philipp Ludwig II. von Hanau-Münzenberg, 6. Februar 1586. Vgl. Staatsarchiv Wertheim, R-Lit. St Nr. 1618, Bl. 83r: Johannes Leo [Präzeptor] an Ludwig III. von Löwenstein, 23. April 1592. Vgl. Staatsarchiv Wertheim, R-Rep. 67o Nr. 3, Bl. 6r: Post Scriptum. Friedrich von Löwenstein-Wertheim an Ludwig III. von Löwenstein, 23. März 1595.

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Ein weiteres gewichtiges Argument für die Auswahl eines Schulorts war ein Standort innerhalb des Herrschaftsbereichs der Familie. So sandte der reformierte Graf Johann VI. von Nassau-Dillenburg seine Mündel Philipp Ludwig II. (1576– 1612) und Albrecht (1579–1635) von Hanau-Münzenberg 1585 an die im eigenen Territorium gelegene Hohe Schule in Herborn. Auf diese Weise konnte Johann die konfessionelle Erziehung seiner Mündel sicherstellen und zugleich auf die Bildungsinhalte Einfluss nehmen. Er sorgte auch dafür, dass die Ausgaben für die Ausbildung der beiden jungen Grafen der wirtschaftlichen Entwicklung des eigenen Territoriums zugutekamen. Der katholische Freiherr Heinrich Truchsess von Waldburg-Wolfegg (1589–1637) schickte seine beiden ältesten Söhne Johannes (1598– 1644) und Jakob Karl (1600–1661) im Oktober 1608 an das Jesuitenkolleg nach Konstanz.14 Das Kolleg war nach Vorgaben des tridentinischen Konzils als Priesterseminar für das Bistum Konstanz gegründet worden.15 Der oberschwäbische Adel, so auch die Familie Waldburg, beteiligte sich finanziell an der jesuitischen Neugründung. Die Bereitschaft, die eigenen Söhne zunächst16 nach Konstanz zu schicken, unterstrich den Willen der Familie, die Schule auch weiterhin zu unterstützen. Die Ausbildung an den akademischen Gymnasien diente neben der Vermittlung von Wissen auch der standesgemäßen Sozialisation der jungen Grafen und Herren. Auf den bekanntesten akademischen Gymnasien traf oft der Nachwuchs mehrerer adliger Familien der gleichen Konfession aus einer Region zusammen. In den Anfangsjahren der Schule in Herborn waren die jungen Mitglieder des Hauses Nassau und anderer Wetterauer Grafenhäuser so zahlreich vertreten, dass sie das Erscheinungsbild der Schülerschaft geprägt haben dürften.17 Die standesgemäße Sozialisation beschränkte sich nicht auf den Umgang mit adligen Kommilitonen. Oft befanden sich Verwandte am Schulort, die den Aufenthalt ihrer jungen Angehörigen vorzubereiten halfen, etwa indem sie ihnen eine Unterkunft suchten.18 Die Reichsgrafenfamilien standen dabei in direktem Kontakt mit Lehrern und Professoren des

14 Vgl. Privatarchiv Wolfegg 9814: Martin Scharpfer an Heinrich Truchsess von Waldburg-Wolfegg, 20. Oktober 1608. 15 Vgl. Conrad Gröber: Geschichte des Jesuitenkollegs und -gymnasiums in Konstanz. Konstanz 1904. 16 Jakob Karl und höchstwahrscheinlich auch Johannes von Waldburg-Wolfegg wechselten im Jahr 1611 aus unbekanntem Grund an die Jesuitenuniversität Dillingen. Vgl. Joseph Vochezer: Geschichte des fürstlichen Hauses Waldburg in Schwaben. 3. Bd. Kempten u.a. 1907, S. 667. Die Ausbildung in Dillingen hatte sich seit der Gründung der Universität Dillingen durch Bischof Otto Truchsess von Waldburg-Trauchburg (Kardinal Otto von Augsburg) im Jahre 1549 in der Familie etabliert. Vgl. Thomas Specht: Die Matrikel der Universität Dillingen. 1. Bd. 1551–1645. Dillingen am der Donau 1909–1911, S. 73f. 17 Vgl. Hans Sommer und Gottfried Zedler (Hg.): Die Matrikel der Hohen Schule und des Paedagogiums zu Herborn. Wiesbaden 1908, S. 68. 18 So wünschte sich Heinrich von Waldburg-Wolfegg, dass sich seine Söhne in Konstanz den verwandten Domherren Ulrich von Königsegg-Aulendorf (1569–1620) und Philipp Truchsess von Waldburg (1550–1620) vorstellten. Privatarchiv Wolfegg 9814, Bl. 1v: Instruktion an Martin Scharpfer, 24. November 1608.

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akademischen Gymnasiums. Solche Kontakte und die damit verbundene Möglichkeit, das Verhalten der Söhne und ihrer Begleiter am Schulort kontrollieren zu können, waren ein wichtiges Kriterium für die Auswahl einer Bildungsanstalt.19 Auf diese Weise blieben die jungen Reichsgrafen sozusagen in Reichweite der heimatlichen Territorien, oder waren von dort aus zumindest über Wasserwege gut zu erreichen. Welche Bedeutung die geographische Nähe für die Auswahl des Schulorts hatte, müsste anhand weiterer Fallbeispiele untersucht werden. Familiäre Bildungstraditionen hatten zwar Gewicht, brachen jedoch auch häufig ab, wobei Neugründungen attraktiver Bildungsanstalten eine wichtige Rolle spielten. Bei den zum Protestantismus konvertierten Familien führte der Konfessionswechsel auch zu einer schulischen Neuorientierung, von den seltenen Fällen abgesehen, in denen die Bildungsanstalt die Konfession in gleicher Weise wechselte. Den Bildungsanstalten waren die zahlungskräftigen adligen Besucher hoch willkommen.20 Um die vermögenden Adligen an sich zu binden, erbrachten ihnen die akademischen Gymnasien verschiedene Ehrerweisungen, die es ihnen erlaubten, ihre ständische Stellung hervorzuheben. Das Repräsentationsbedürfnis der adligen Besucher war auch im Sinne der Lehrer und der Träger der Bildungsanstalt, da sich diese mit ihren illustren Schülern schmücken konnten. Die Grafen von Hanau-Münzenberg nahmen als Familienangehörige des Schulgründers im Sozialgefüge der Hohen Schule Herborn eine besondere Stellung ein. Eine solche Position war z.B. mit dem Adelsrektorat verbunden, das schon in den Gründungsstatuten vorgesehen war.21 Philipp Ludwig von Hanau-Münzenberg wurde 1589, als er die höchste Klasse besuchte, zum Ehrenrektor ernannt.22 Während die protestantischen Gymnasien bereitwillig eine Bühne für die adlige Repräsentation anboten, stand diese eigentlich im Widerspruch zur standesnivellierenden jesuitischen Ordensregel. In der Praxis machten die Jesuiten ihren adligen

19 Ludwig III. von Löwenstein-Wertheim hielt in einer seiner Instruktionen fest, dass sich der Präzeptor an den Rat des Straßburger Lehrers Adam Fols (um 1536–1616) halten sollte: Staatsarchiv Wertheim, R-Lit. Br Nr. 142, Bl. 47v: Bestallung von Philipp Reinhard. 20 So zahlten die drei Söhne der Familie Löwenstein-Wertheim am Gymnasium Illustre in Straßburg vierteljährlich je zwei Goldgulden Schulgeld. Hinzu kamen weitere Zahlungen an die sie begleitenden Dienstjungen. Staatsarchiv Wertheim, R-Lit. Br Nr. 142, Bl. 48v: Libell, 4. Februar 1594. 21 Während das Adelsrektorat eine repräsentative Funktion hatte, wurden die Amtsgeschäfte von einem Prorektor geleitet, der Professor an der Schule war. Zum Adelsrektorat vgl. Rainer A. Müller: Universität und Adel. Eine soziostrukturelle Studie zur Geschichte der bayerischen Landesuniversität Ingolstadt 14721648. Berlin 1974, S. 133136. 22 Vgl. Staatsarchiv Marburg, 81 A 31 Nr. 25, Bl. 8: Hans Engelbert von Lautter [Amtmann] an Philipp Ludwig II. von Hanau-Münzenberg, 4. Januar 1589.

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Schülern aber ebenfalls weitreichende Zugeständnisse.23 So entsprach es den ständischen Privilegien, dass die Truchsesse von Waldburg-Wolfegg an den Theateraufführungen des Jesuitenkollegs in Konstanz jeweils Hauptrollen bekleideten.24 3. INHALTE ADLIGER AUSBILDUNG Die jungen Reichsgrafen hatten bei ihrer Immatrikulation am Gymnasium einen sehr unterschiedlichen Wissensstand. Dieser war vor allem durch die großen Altersunterschiede bedingt, die nicht zuletzt auf das Bestreben der Familien, möglichst mehrere Söhne gemeinsam an einen Schul- oder Studienort zu schicken, zurückzuführen waren. Als Johann Dietrich von Löwenstein-Wertheim (1585–1644) mit gerade fünf Jahren zusammen mit seinen beiden älteren Brüdern am Straßburger Gymnasium Illustre eintraf, konnte er weder lesen noch schreiben und wurde folglich in die niedrigste Klasse eingestuft. Sein dreizehnjähriger Bruder Friedrich (1577–1610) wurde zusammen mit dem zwölfjährigen Wolfgang Ernst (1578– 1636) in die Quinta, die fünfthöchste Klasse des Gymnasiums eingeschult.25 Wie in diesem Falle ist bei den älteren Schülern oft nicht feststellbar, ob sie zuvor ausschließlich am eigenen Hof unterrichtet worden waren oder möglicherweise schon eine andere Schule besucht hatten. Hinweise auf größere Anpassungsschwierigkeiten an die Anforderungen des Gymnasiums wurden nicht gefunden, was wohl darauf zurückzuführen ist, dass der Unterricht am eigenen Hof (oder in dessen Umfeld) auf den späteren Besuch eines akademischen Gymnasiums zugeschnitten war.26 Parallel zu den ersten Übungen im Lesen und Schreiben in deutscher Sprache begann der Lateinunterricht. Eine gründliche Kenntnis der lateinischen Sprache war die Grundlage für das Verständnis antiker und zeitgenössischer Texte, ohne deren Kenntnis das Individuum von den politischen und theologischen Diskursen der Zeit weitgehend ausgeschlossen blieb. Nach humanistischem Verständnis war das Ziel

23 Nicht an allen Jesuitenkollegien kann eine privilegierte Behandlung der adligen Schulbesucher vorausgesetzt werden. In Pont-à-Mousson mussten die Adligen zusammen mit den bürgerlichen Schülern auf dem Boden sitzend dem Unterricht folgen. Staatsarchiv Sigmaringen, FAS HH T 1-50 A 600, Bl. 21rv: Georg Brunner [Präzeptor] an Eitel Friedrich von HohenzollernHechingen, 4. November 1603. 24 Vgl. Fürstlich Waldburg-Wolfegg᾽sches Archiv, 9814: Adam Stadler [Präzeptor] an Heinrich Truchsess von Waldburg-Wolfegg, 22. September 1609. 25 Vgl. Staatsarchiv Wertheim, R-Lit. St Nr. 1618, Bl. 26rv: Johannes Leo an Ludwig III. von Löwenstein, [o. T.] September 1590. 26 So wurden die Instruktionen, falls überhaupt, beim Wechsel vom Hof an die Schule nur in Details angepasst. Vgl. hierzu die Instruktionen zur Ausbildung der beiden jüngeren Söhne von Waldburg-Wolfegg: Fürstlich Waldburg-Wolfegg᾽sches Archiv, 9814, Instruktion an Martin Scharpfer und Adam Stadler [Präzeptoren], 2. Februar 1608, und Privatarchiv Wolfegg 9814, Instruktion an Martin Scharpfer, 24. November 1608.

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des Lateinunterrichts die perfekte Beherrschung der Sprache. Zu den ersten Lektüretexten gehörten der Katechismus, die Fabeln von Äsop und Texte von Cicero.27 Cicero blieb auch weiterhin der meistgelesene unter den lateinischen Autoren, deren Werke zum Fundament der humanistischen Ausbildung gehörten. Von einer Konfession zur anderen unterschied sich der Inhalt der Ausbildung nur geringfügig, da er im Wesentlichen aus dem Kanon der klassischen Lektüre bestand. Die Anerkennung der antiken Autoritäten war interkonfessionell unumstritten. Dasselbe galt jedoch nicht für die übrigen Lehrbücher, die an bedeutenden Schulen oft von den dort unterrichtenden Lehrern selbst geschrieben wurden.28 Die griechische Sprache gehörte nicht obligatorisch zum Ausbildungskanon der jungen Reichsgrafen. Die Anordnung von Heinrich von Waldburg-Wolfegg, dass der Griechischunterricht so lange zurückgestellt werden sollte, bis seine Söhne größere Fortschritte in Latein gemacht hätten, zeigt, dass er der Kenntnis des Griechischen keine zentrale Bedeutung beimaß.29 Von dieser Einschränkung abgesehen, wurde in der Korrespondenz keine Kritik am humanistischen Curriculum der jeweiligen Schule geübt.30 Auf den akademischen Gymnasien sollten die adeligen Söhne eine humanistische Grundausbildung erhalten, die Beschäftigung mit anderen Wissensbereichen konnte notfalls auf spätere Phasen der Ausbildung verschoben werden. Neben dem Lateinunterricht war ein weiterer Schwerpunkt der ersten Schuljahre das Einüben einer schönen Handschrift31 und eines korrekten formalen Schreibstils, den die Kinder in ihrer Korrespondenz anwenden sollten. Da die Briefe der jungen Adligen an den heimischen Hof immer auch die Funktion eines Leistungsnachweises hatten, führte dieser Zwang zur formalisierten Sprache in der innerfamiliären Korrespondenz nicht selten zu einem emotionslos anmutenden Stil.32 Wegen der Bedeutung, die dem gesprochenen Wort beigemessen wurde, waren die

27 Vgl. Fürstlich Waldburg-Wolfegg᾽sches Archiv, 9814, Bl. 5v: Instruktion an Martin Scharpfer, 24. November 1608. 28 Besonders die Lehrer des Straßburger Gymnasium Illustre verfassten etliche Lehrbücher. Für den jüngsten Grafen von Löwenstein-Wertheim, Johann Dietrich kaufte der Präzeptor zu Beginn der Octava zwei Bücher von Theophil Gol (1528–1600) und die von Johannes Sturm (1507–1589) edierten Epistulae von Cicero. 29 Fürstlich Waldburg-Wolfegg᾽sches Archiv, 9814, Bl. 3r: Heinrich Truchsess von WaldburgWolfegg an Martin Scharpfer, 23. Oktober 1608. 30 In Frankreich äußerte der Adel Kritik daran, dass der Unterricht zu wenig auf das adlige Leben vorbereiten würde. Vgl. Mark Motley: Becoming a French Aristocrat. The Education of the Court Nobility 1580–1715. Princeton 1990, S. 94f. 31 Zur Erlernung einer schönen Handschrift nahmen Johannes und Jakob Karl von Waldbug-Wolfegg in Konstanz Unterricht bei einem Schreibmeister: Fürstlich Waldburg-Wolfegg᾽sches Archiv, 9814, Bl. 5v: Instruktion an Martin Scharpfer, 24. November 1608. 32 So rügte Heinrich Truchsess von Waldburg den Präzeptor seiner älteren Söhne wegen der unkorrekten Anrede in einem Brief an ihn und ihre Mutter: Fürstlich Waldburg-Wolfegg᾽sches Archiv, 9814, Heinrich Truchsess von Waldburg-Wolfegg an Martin Scharpfer, 10. Januar 1609.

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Privatlehrer angehalten, auf eine deutliche Aussprache der jungen Herren zu achten.33 Die Vermittlung humanistischer Bildungsinhalte war nur eine der drei Säulen der adligen Ausbildung. Die beiden anderen bestanden aus der religiösen und der standesspezifischen Bildung, bei denen konfessionelle und familienspezifische Eigenheiten viel stärker zum Tragen kamen als bei den humanistischen Ausbildungsinhalten. Im Konfessionellen Zeitalter stand die Gottesfurcht unter den Erziehungszielen an erster Stelle. Sie sollte den Kindern, die allgemein als leichtfertig und verführbar galten,34 so früh wie möglich vermittelt werden. Die elementare religiöse Ausbildung erfolgte in den ersten Jahren mündlich durch den Privatlehrer oder einen Geistlichen. Die jungen Adligen lernten schon als Kleinkinder, religiöse Handlungen nachzuahmen. Auch den jeweiligen Katechismus und ausgewählte Psalmen hatten sie schon früh auswendig zu lernen.35 Die körperliche Betätigung war ebenfalls ein fester Teil der adligen Ausbildung. Ihren Bewegungsdrang lebten die adligen Kinder vor allem im Rahmen von Kinderspielen aus. Spiele wurden gewöhnlich als unproblematisch angesehen, da sie der wahren Natur der Kinder zu entsprechen schienen.36 In fortgeschrittenem Alter sollten körperliche Übungen Abwechslung in den Schulunterricht bringen und außerdem der physischen Ertüchtigung und der Sozialisation der jungen Adligen dienen. Die körperlichen Aktivitäten nahmen insgesamt eine große Bandbreite ein, wobei drei Kategorien voneinander unterschieden werden können: Erstens Spiele, die der Erholung und Sozialisation dienten, zweitens Exerzitien, die helfen sollten, ein standesgemäßes Auftreten zu entwickeln, wie Tanzen und Reiten, und zuletzt körperliche Übungen, die im Zusammenhang mit einer zukünftigen militärischen Karriere standen, wie Fechten, Ringen und der Umgang mit Feuerwaffen. Bei diesen körperlichen Aktivitäten hatten die jungen Adligen einen gewissen Spielraum, ihren eigenen Neigungen nachzugehen. Mit zunehmendem Alter nahmen vor allem diejenigen adligen Exerzitien, die auf das öffentliche Auftreten und die spätere berufliche Laufbahn vorbereiteten, einen breiteren Raum ein, wobei sie von den reformierten Grafen von Hanau-Münzenberg offensichtlich intensiver betrieben wurden als von den lutherischen Grafen von Löwenstein-Wertheim. Neben der besseren Integration der adligen Exerzitien in den Lehrplan von Herborn könnte dafür auch eine gewisse höfische Ausrichtung aufgrund der engen verwandtschaftlichen Beziehungen zur regierenden Familie

33 Vgl. Fürstlich Waldburg-Wolfegg᾽sches Archiv, 9814, Bl. 3r: Instruktion an Martin Scharpfer und Adam Stadler, 2. Februar 1608. 34 Vgl. Gernot Heiß: „Standeserziehung und Schulunterricht. Zur Bildung des niederösterreichischen Adels in der frühen Neuzeit“, in: Herbert Knittler (Hg.): Adel im Wandel. Politik – Kultur – Konfession 1500–1700. Wien 1990, S. 391–407, hier: 394f. 35 Für die jungen Grafen von Löwenstein-Wertheim wurden in Straßburg auch ein Katechismus und ein Psalter gekauft: Staatsarchiv Wertheim, R-Lit. Br Nr. 142, Bl. 119v–124r: Rechnung Johannes Leo, 18. November 1591 bis 31. Dezember 1592. 36 Vgl. Motley: Education, S. 55–57.

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Nassau-Oranien verantwortlich sein. Für die katholische Familie Waldburg-Wolfegg, deren Nachwuchs an den Jesuitenkollegien kaum Gelegenheit hatte, moderne Fremdsprachen und adlige Exerzitien einzuüben, hatte deshalb der Besuch von französischen Ritterakademien, an denen solche Übungen einen breiten Raum einnahmen, große Bedeutung.37 Neben den adligen Exerzitien war das Lernen moderner Fremdsprachen ein wichtiger Teil der standesspezifischen Ausbildung. Bereits während ihrer Schulund Studienzeit erhielten die jungen Adligen Unterricht in Französisch. Auch Italienisch gehörte gewöhnlich zum Ausbildungskanon, der eigentliche Italienischunterricht erfolgte allerdings oft erst während späterer Auslandsaufenthalte. Während Französisch an den protestantischen Gymnasien wie Herborn in den Unterricht integriert war oder in Straßburg wenigstens fakultativ angeboten wurde,38 hatten die jungen Truchsesse von Waldburg-Wolfegg am Jesuitenkolleg von Konstanz keine Gelegenheit, Französisch zu lernen. Auch diese Lücke sollte durch spätere Auslandsaufenthalte geschlossen werden. Dieses ständische Bildungsprogramm wurde durch musischen Unterricht ergänzt. Ähnlich wie die körperlichen Übungen diente auch die Beschäftigung mit Kunst und Musik einerseits der Erholung, andererseits der Aneignung von Fähigkeiten, die notwendig waren, um am höfisch-adligen Leben der Zeit teilnehmen zu können. Den jungen Adligen wurde im Allgemeinen freigestellt, verschiedene Musikinstrumente auszuprobieren, zugleich wurde aber erwartet, dass sie fleißig übten und Fortschritte machten.39 4. DER ADLIGE BILDUNGSERWERB Der tägliche Unterricht an den akademischen Gymnasien dauerte in der Regel fünf Stunden40 und war, jedenfalls an guten Schulen, stark strukturiert. Die Lehrer kommentierten literarische und historische Texte, stellten den Schülern mündliche Aufgaben und hielten Disputationsübungen ab. Als Hausaufgabe verlangten sie, kleine lateinische Kompositionen anzufertigen.41 Die Schüler mussten ihr Wissen vor der Klasse präsentieren und wurden vom Lehrer bewertet. Das Memorieren und ständige Repetieren des Lernstoffes spielte im Unterricht eine zentrale Rolle. Am Jesu-

37 Vgl. hierzu den Aufenthalt von Jakob Karl von Waldburg-Wolfegg in Frankreich, wobei vor allem für die Zeit seines Aufenthalts in Bourges Unterlagen erhalten sind: Fürstlich WaldburgWolfegg᾿sches Archiv, 9842. 38 Vgl. Staatsarchiv Wertheim, R-Lit. St Nr. 1618, Bl. 83r: Johannes Leo an Ludwig III. von Löwenstein, 23. April 1592. 39 Vgl. Fürstlich Waldburg-Wolfegg᾿sches Archiv, 9814: Adam Stadler an Heinrich Truchsess von Waldburg-Wolfegg, 19. Dezember 1609. 40 So etwa in Straßburg, vgl. Schindling: Humanistische Hochschule, S. 182. 41 Solche Schreibübungen sind von Johannes und Jakob Karl von Waldburg-Wolfegg überliefert: Fürstlich Waldburg-Wolfegg᾿sches Archiv, 9814.

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itenkolleg Konstanz fand nach jeder zweiten Lektion eine Wiederholung statt, wobei die Schüler die Inhalte der beiden letzten Lektionen auswendig aufsagen mussten.42 Während ihres Aufenthalts an der Schule sollten sich die jungen Adligen ausschließlich auf Latein unterhalten, was sich allerdings nicht konsequent durchsetzen ließ.43 Die Forderung, auch außerhalb des Unterrichts lateinisch zu sprechen, wurde in den Instruktionen nur selten erhoben.44 Heinrich von Waldburg ging in diesem Punkt am weitesten, als er forderte, dass seine Söhne immer häufiger Latein sprechen sollten, um sich zuletzt ausschließlich auf Latein zu unterhalten. Ob eine solche Forderung auch nur annähernd umgesetzt wurde, kann nicht überprüft werden. Das Lernen, Üben und Festigen der lateinischen Sprache erfolgte mit lateinischen Texten, deren Nomina, Pronomina und Verba die Schüler konjugierten und deklinierten. Mit einfachen Wörtern wurde begonnen und später zu schwierigeren fortgeschritten. Außerdem sollten lateinische Verse, die von Tugend und Moral handelten, abgeschrieben und übersetzt werden. Jeden Tag sollten sich die Schüler drei oder mehr lateinische Vokabeln aneignen und zu deklinieren bzw. konjugieren lernen. Sämtliche Lerninhalte wurden in regelmäßigen Abständen wiederholt.45 Ein weiteres didaktisches Mittel war die ausgeprägte, auf der Dialektik fußende Systematik. In der Praxis arbeiteten die Pädagogen deshalb oft mit Schautafeln.46 Durch Wettbewerb wurden die Schüler zu besseren Leistungen motiviert. Die Akzeptanz des geistigen Wettbewerbs, der dem adligen Selbstverständnis der Überlegenheit durch Geburt entgegenzustehen scheint, zeigt die Identifikation der Adligen mit den späthumanistischen, im Kern bürgerlichen Idealen.47 Der Adel feuerte den Konkurrenzkampf unter den Schülern sogar an. So lobten die Truchsesse als Preis für einen Disputationswettkampf, den zwei junge Waldburger mit ihren besten Klassenkammeraden austrugen, zwei Kupferstiche aus.48 Wie alle anderen Schüler erbrachten auch die jungen Adligen die üblichen Leistungsnachweise, Disputationsübungen und Jahresabschlussprüfungen. Auf den Erwerb eines akademischen Titels verzichteten hingegen die meisten, da ein solcher unter standespolitischen Gesichtspunkten nicht als opportun erschien.49 42 Vgl. Fürstlich Waldburg-Wolfegg᾽sches Archiv, 9814, Bl. 3r–5v: Instruktion an Martin Scharpfer und Adam Stadler, 2. Februar 1608. 43 Staatsarchiv Wertheim, R-Rep. 67o Nr. 3, Bl. 5v: Friedrich von Löwenstein-Wertheim an Ludwig III. von Löwenstein, 23. März 1595. 44 Heiß: „Standeserziehung“, S. 395 weist darauf hin, dass adlige Kinder im französischsprachigen Raum ihre Muttersprache zeitweise gar nicht benutzen sollten. Als Beispiel erwähnt er die Erziehung von Michel Eyquem de Montaigne (1533–1592). 45 Vgl. Fürstlich Waldburg-Wolfegg᾽sches Archiv, 9814, Bl. 3r–5v: Instruktion an Martin Scharpfer und Adam Stadler, 2. Februar 1608. 46 Vgl. Heiß: „Standeserziehung“, S. 396. 47 Vgl. Volker Press: „Adel im Reich um 1600. Eine Einführung“, in: Grete Klingenstein und Heinrich Lutz (Hg.): Spezialforschung und ,Gesamtgeschichte‘. Beispiele und Methodenfragen zur Geschichte der frühen Neuzeit. München 1982, S. 15–47, hier: 46. 48 Vgl. Fürstlich Waldburg-Wolfegg᾽sches Archiv, 9814: Adam Stadler an Heinrich Truchsess von Waldburg-Wolfegg, 15. Juni 1609. 49 Vgl. Press: „Adel im Reich“, S. 36.

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Der Schulunterricht und die Vorlesungen an den Universitäten wurden in der Regel durch privat organisierten Unterricht ergänzt. Eine zentrale Rolle spielte der von der Adelsfamilie bestellte Privatlehrer, der in den Quellen meistens als Präzeptor bezeichnet wird. Er organisierte den Unterricht, beaufsichtigte seine Schützlinge und unterstützte sie bei den Hausaufgaben. In welchem Ausmaß er für die Vermittlung von Bildungsinhalten zuständig war, unterschied sich jedoch von Familie zu Familie. Während einige der Präzeptoren den Unterricht an den Bildungsinstitutionen nur flankierten, nahmen andere großen Einfluss auf die zu vermittelnden Inhalte. Wenn die Schule etwa infolge einer Erkrankung von einem jungen Adligen längere Zeit nicht besucht werden konnte, sorgte der Präzeptor für die Kontinuität der Wissensvermittlung.50 Der Präzeptor war vor allem für die humanistischen und sittlich-religiösen Inhalte der Ausbildung verantwortlich. Den Unterricht in standesspezifischen Fächern übernahm in der Regel ein angestellter Privatlehrer oder Exerzitienmeister. Die Aufsicht und Organisation dieser Bildungsinhalte wurde in einer späteren Phase oft an einen meist adligen Hofmeister abgegeben. Dadurch erfuhren die beiden Sphären der humanistischen und der standesgemäßen Ausbildung eine organisatorische Trennung. Neben der Wissensvermittlung an den Schulen und durch den eigenen Präzeptor gab es an den meisten Bildungsinstitutionen die Sitte, dass die jungen Adligen bei einem der bekannteren Professoren „zu Tisch gingen“. So wohnten und speisten die jungen Grafen von Hanau-Münzenberg in Herborn bei Johannes Piscator (15461625), einem Professor der Theologie.51 Ähnlich wie beim Unterricht durch den Präzeptor liegen auch hier nur vage Informationen über die vermittelten Ausbildungsinhalte vor. In beiden Fällen wurde neben ethischen und allgemeinbildenden Fragen vor allem der Lehrstoff der besuchten Schule vertieft. Gelegentlich wurden auch Lücken gefüllt, die man im Unterricht zu erkennen glaubte.52 5. DIE LEBENSWELT DER ADLIGEN SCHÜLER Die jungen Grafen von Hanau-Münzenberg hatten für ihre Unterbringung im Haushalt von Piscator die exklusivste Form gewählt, die neben Unterkunft und Verpflegung auch Unterricht einschloss. Die Familie Löwenstein-Wertheim verzichtete hingegen auf den „Unterricht über den Tisch“, weshalb die Unterkunft der jungen Adligen am Unterrichtsort sich nicht notwendigerweise in einem Professorenhaus-

50 So etwa während der Ausbildung von Christoph Ludwig von Löwenstein-Wertheim (15681618), ältester Sohn von Ludwig III., der an einer schweren Beinverletzung litt. 51 Vgl. Ute Müller-Ludolph: Philipp Ludwig II. von Hanau-Münzenberg (1576–1612). Eine politische Biographie. Darmstadt u.a. 1991, S. 55f. 52 So vermeinte der Präzeptor Philipp Reinhardt, dass der Klassenlehrer von Friedrich und Wolfgang Ernst von Löwenstein-Wertheim zwei Bücher der Dialektik zu oberflächlich behandeln würde und arbeitete sie mit den jungen Grafen nach: Staatsarchiv Wertheim, R-Rep. 67o Nr. 3, Bl. 5v: Friedrich von Löwenstein-Wertheim an Ludwig III. von Löwenstein, 23. März 1595.

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halt befinden musste. Sie wurde allerdings oft von den Lehrenden des akademischen Gymnasiums vorgeschlagen, weshalb in den überwiegenden Fällen eine Verbindung zur jeweiligen Schule bestanden haben dürfte.53 An den katholischen Jesuitenkollegien herrschte zwar Residenzpflicht, aber die jungen Adligen waren in der Regel davon befreit. Für ihren Aufenthalt in Konstanz mieteten die Truchsesse von Waldburg eine Unterkunft beim städtischen Amtmann Johannes Konrad Precht.54 Die Jesuiten machten allerdings deutlich, dass die Unterbringung keine Privatangelegenheit sei, und überprüften diese auf ihre Tauglichkeit. Dabei machten sie zur Auflage, dass die Betten des Präzeptors, des Famulus und der beiden jungen Truchsesse getrennt werden sollten.55 Die vom Adel bezogenen Unterkünfte umfassten eine Stube und eine oder mehrere Schlafkammern und waren in der Regel möbliert. Für Kost und Logis, wozu eine Frühsuppe, Mittag- und Abendessen sowie für den Präzeptor und ältere Kinder ein bestimmtes Kontingent Wein gehörten, wurde in der Regel eine Pauschale ausgehandelt.56 Qualität und Quantität der aufgetragenen Speisen sollte den hohen gesellschaftlichen Status der Adligen widerspiegeln, wobei der Fleischkonsum eine zentrale Rolle spielte.57 Nicht nur der Unterkunft und Verpflegung der jungen Adligen, die für den Erhalt ihrer Gesundheit wichtig waren, widmete man große Aufmerksamkeit, es musste auch sichergestellt werden, dass von dem engen Umgang, den die jungen Adligen mit ihrer Gastfamilie pflegten, keine moralisch verderblichen Einflüsse ausgingen. Schließlich musste darauf geachtet werden, dass die Kosten für Verpflegung und Unterkunft einen gewissen Rahmen nicht überschritten, denn in diesem Bereich fielen während des Aufenthalts an den akademischen Gymnasien die höchsten Ausgaben an.58 In den Instruktionen aller drei Familien wird das Bemühen deutlich, den Tagesablauf durch ausreichende Zeiten der Rekreation altersgerecht zu gestalten. Müßiggang, den man als Gefahr für die sittliche Entwicklung ansah, sollte verhindert

53 Im Oktober 1590 zogen sie bei der verwitweten Schwiegermutter des Straßburger Professors Doktor Abraham Statuarius ein. Weil sie mit der Verpflegung unzufrieden waren und die Hausherrin auf die Reklamation des Präzeptors ungehalten reagierte [Staatsarchiv Wertheim, R-Lit. St Nr. 1618, Johannes Leo an Ludwig III. von Löwenstein, 30. Oktober 1590, Bl. 4r und 58r– 59r], zogen sie im Dezember 1591 zu ihrem Lehrer Magister Adam Fols [Staatsarchiv Wertheim, R-Lit. St Nr. 1618, Johannes Leo an Ludwig III. von Löwenstein, 17. Dezember, 62r]. 54 Vgl. Fürstlich Waldburg-Wolfegg᾽sches Archiv, 9814, Bl. 1r: Memorial von Heinrich Truchsess von Waldburg-Wolfegg an Johannes Conrad Precht, 13. Oktober 1608. 55 Vgl. Fürstlich Waldburg-Wolfegg᾽sches Archiv, 9814: Adam Stadler an Heinrich Truchsess von Waldburg-Wolfegg, 22. September 1609. 56 Vgl. Fürstlich Waldburg-Wolfegg᾽sches Archiv, 9814: Memorial von Heinrich Truchsess von Waldburg-Wolfegg an Johannes Conrad Precht, 13. Oktober 1608. 57 Vgl. Motley: Education, S. 37–39. 58 Für die jungen Grafen von Löwenstein-Wertheim wurden in der Zeit vom 18. November 1591 bis zum 31. Dezember 1592 etwa 516 Gulden und 8 Batzen für Kost und Unterkunft angegeben, die Gesamtausgaben in diesem Zeitraum beliefen sich laut Rechnung auf 1735 Gulden und 9 Batzen: Staatsarchiv Wertheim, R-Lit. Br Nr. 142, Bl. 96v und 160r. Rechnung Johannes Leo, 18. November 1591 bis 31. Dezember 1592.

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werden.59 In der unterrichtsfreien Zeit sollten sich die jungen Reichsgrafen mit körperlichen Übungen, unterhaltsamen Lektüren oder Musik beschäftigen. Sie hatten sich dabei den ganzen Tag züchtig, sittlich, höflich und schweigsam zu verhalten.60 Um die Kinder zu schützen und um ihr sittliches Verhalten zu kontrollieren, wurde ihre ständige Überwachung angeordnet. Eine Privatsphäre war für die jungen Adligen nicht vorgesehen.61 Die Präzeptoren waren verpflichtet, ihre Schützlinge niemals unbeaufsichtigt zu lassen. In dieser Aufgabe wurden sie von den Dienstjungen unterstützt, die die jungen Adligen fast ständig begleiteten. Die fortwährende Überwachung trug vermutlich dazu bei, dass die hier vorgestellten jungen Adligen während ihrer Schullaufbahn disziplinarisch nicht auffällig wurden. Einige der jungen Reichsgrafen waren offenbar sogar Musterschüler,62 wobei die individuelle Förderung durch den Privatunterricht natürlich eine gewichtige Rolle spielte. Freilich gab es auch Gegenbeispiele: So wurde ausgerechnet der später so berühmte Feldmarschall Albrecht von Wallenstein (1583–1634) während seines Aufenthaltes in Altdorf gleich mehrfach delinquent.63 In den Instruktionen wurden die Präzeptoren angehalten, mehr Energie darauf zu verwenden, Vergehen der jungen Adligen von vornherein zu verhindern, anstatt nachträglich zu bestrafen. Die Bestrafung „ungezogener Kinder“ verstand sich von selbst und bedurfte keiner Anweisungen in Instruktionen und Korrespondenz. Mit zunehmendem Alter der Adligen wurde die Bestrafung durch einen bürgerlichen Präzeptor aus ständischen Gründen allerdings problematisch und hatte, wenn überhaupt, maßvoll und nicht in der Öffentlichkeit zu erfolgen.64 Schwere körperliche Misshandlungen sind denn auch meistens nicht von Seiten der Präzeptoren, sondern der Väter überliefert worden.65 Die Söhne der protestantischen Familie Hanau-Münzenberg und LöwensteinWertheim wurden von ihren Vätern beziehungsweise Vormündern aufgefordert, sich während des Aufenthalts an den akademischen Gymnasien auf die Schule zu konzentrieren und das soziale Leben auf ein Minimum zu beschränken. In der Praxis wurde der Umgang mit vornehmen Personen allerdings toleriert, ja sogar gutgeheißen. Die Kontakte zwischen Adligen und Gelehrten beschränkten sich allerdings nicht auf die Beziehung mit dem jeweiligen Gastgeber. Johann VI. von Nassau-Dillenburgs Ratschlag beherzigend, dass man „von vornehmen und gelerten leut mehr und guter s[itten] als etwa von seines gleichen lernen kann“,66 suchten

59 Vgl. Heiß: „Standeserziehung“, S. 395. 60 Vgl. Fürstlich Waldburg-Wolfegg᾽sches Archiv, 9814, Bl. 3v: Instruktion an Martin Scharpfer und Adam Stadler, 2. Februar 1608. 61 Vgl. Motley: Education, S. 62f. 62 So etwa Gottfried Heinrich von Pappenheim. Vgl. Stadler: Pappenheim, S. 32f. 63 Vgl. Mann: Wallenstein, S. 30. 64 Vgl. Fürstlich Waldburg-Wolfegg᾽sches Archiv, 9806, Bl. 7rv: Instruktion an Johann Conrad Wegelin [Präzeptor], 30. Oktober 1618. 65 Über die Erziehung von Ernst von Mansfeld wird berichtet, dass er von seinem Vater mit der Karbatsche (Riemenpeitsche) gezüchtigt wurde. Vgl. Krüssmann: Ernst von Mansfeld, S. 37. 66 Zitiert nach Müller-Ludolph: Philipp Ludwig II., S. 69.

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die jungen Reichsgrafen ihre Beziehungen mit den Lehrern und Professoren zu intensivieren. Auch Ludwig III. von Löwenstein-Wertheim, selbst erasmisch-humanistisch geprägt, förderte den Kontakt seiner Söhne mit den Lehrern und Professoren in Straßburg. Präzeptoren und Professoren waren häufig zu Gast in der Stube der jungen Grafen. Neben Adam Fols (ca. 1536–1616), Kontaktperson des Vaters und vermutlich Klassenlehrer der Brüder Friedrich und Wolfgang Ernst, spielte der Medizinprofessor Johann Ludwig Havenreuter (1548–1618) als Hausarzt eine besonders wichtige Rolle im Straßburger Beziehungsnetz der Grafenfamilie.67 Die Kontakte zwischen den katholischen Truchsessen von Waldburg-Wolfegg und den Jesuitenpatres spielte nach den eingesehenen Quellen eine weniger zentrale Rolle als die Gelehrtenkontakte der Söhne aus protestantischen Familien. Verantwortlich dafür war zum einen die Personalpolitik des Ordens, der die Lehrenden des Konstanzer Jesuitenkollegs zumindest in der Anfangsphase recht häufig ausgetauscht zu haben scheint, zum anderen konnte es mit den in der Ordensgemeinschaft lebenden Professoren auch keine Tischgemeinschaft geben. Trotzdem blieben die drei Söhne aus dem Hause Waldburg-Wolfegg dem Jesuitenorden in Konstanz eng verbunden. Jakob Karl, der zweitälteste Sohn, trat am 26. Oktober 1634 selber ins Noviziat ein.68 6. WISSENSTRANSFER Die jungen Adligen hielten zu einigen ihrer ehemaligen Lehrer und Professoren auch über die Schulzeit hinaus durch Briefwechsel Kontakt. Eine enge Verbindung pflegten die jungen Grafen Philipp Ludwig II. und Albrecht von Hanau-Münzenberg mit ihrem ehemaligen Lehrer Johannes Piscator, indem sie auch an dessen privaten Lebensereignissen teilnahmen. So kamen Albrecht und Philipp Ludwig im Oktober 1592 zur Hochzeit von Piscators Tochter angereist69 und übernahmen auch gleich die Patenschaft für einen seiner Söhne.70 Philipp Ludwig II. von Hanau-Münzenberg sammelte während seiner Ausbildung Ideen für eine ganze Reihe von Projekten, die er nach seinem Regierungsantritt rasch umzusetzen beabsichtigte. Neben der Einführung des reformierten Glaubens und der Gründung einer Neustadt in Hanau, in der niederländische Exilanten angesiedelt wurden, gründete er nach dem Vorbild der Hohen Schule in Herborn ein akademisches Gymnasium in Hanau.71 Schulgründungen und Schulreformen in 67 Während ihres Aufenthalts in Straßburg wurden die jungen Grafen von Löwenstein-Wertheim regelmäßig von Adligen oder Lehrern und Professoren des akademischen Gymnasiums besucht und scheinen ein schwungvolles Sozialleben geführt zu haben. Vgl. Staatsarchiv Wertheim, RLit. Br Nr. 142, Bl. 169r–171v: Rechnung Philipp Reinhard, 4. Juni 1594 bis 28. Mai 1595. 68 Vgl. Joseph Vochezer: Geschichte des fürstlichen Hauses Waldburg in Schwaben. 3. Bd. Kempten und München 1907, S. 722f. 69 Vgl. Müller-Ludolph: Philipp Ludwig II., S. 55f. 70 Vgl. Staatsarchiv Marburg, 81 A 48 Nr. 6, [Bl. 91v]: Rechnung Mai bis Juli 1593. 71 Vgl. zum Gymnasium in Hanau Wolfram Heitzenröder: „,Zu Gottes Ehre und der Einheimischen Nutz, Heil und Seligkeit‘. Die Anfänge der Hohen Landesschule in Hanau am Main“, in:

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den Grafschaften stellen im Allgemeinen einen direkten Wissenstransfer vom ehemaligen Ausbildungsort in das heimische Territorium dar. So benutzte Ludwig III. von Löwenstein-Wertheim die Beziehungen, die seine Söhne in Straßburg aufgebaut und vertieft hatten, um die Wertheimer Lateinschule nach Straßburger Vorbild zu reformieren.72 Unter anderem wurden die Professoren Melchior Junius (1545– 1604) und Havenreuter um Rat und Unterstützung bei der Reform gefragt. Neben solchen Schulgründungen und anderen Neuerungen war ein weiterer Grund für das Interesse der Herren und Grafen an Kontakten mit der Gelehrtenwelt die stetige Nachfrage nach gebildeten Amtspersonen im eigenen Territorium. Als Philipp Ludwig II. von Hanau-Münzenberg die Regierung übernahm, berief er umgehend einige seiner ehemaligen Präzeptoren und Professoren in seinen Dienst. So wurde etwa Jodocus Nahum (1551–1597), sein ehemaliger Lehrer, 1596 Pfarrer und Inspektor von Hanau.73 Auch in der Korrespondenz von katholischen Familien finden sich Empfehlungen für die Anstellung von akademisch gebildeten Personen. Für Heinrich Truchsess von Waldburg-Wolfegg waren die Professoren der Universität Ingolstadt seine ersten Ansprechpartner.74 7. RESÜMEE Für die Reichsgrafen spielte die konfessionelle Orientierung der Bildungsanstalt bei der Wahl des Schulorts für ihre Söhne eine entscheidende Rolle. Bevorzugt wurde ein im eigenen Territorium befindliches akademisches Gymnasium oder eine weiter entfernte Bildungsanstalt, die von der adligen Familie besonders gefördert wurde. In allen drei Fällen hatten die Familien Bekannte oder Verwandte am zukünftigen Studienort, was im Vorfeld die Organisation und während des Schulbesuchs die Kontrolle der Söhne und deren Begleiter erleichterte. Die reichsgräflichen Familien setzten großes Vertrauen in die Ausbildung an den akademischen Gymnasien, deren humanistisches Curriculum wurde kaum hinterfragt. Standesspezifische Anforderungen an die Ausbildung wurden, wenn sie am Schulort nicht angeboten wurden, hintangestellt. Die Konfession hatte auf die vermittelten humanistischen Bildungsinhalte nur wenig Einfluss. Größer waren die Auswirkungen auf die religiösen und adelsspezifischen Komponenten der Ausbildung. Hatten die Jesuitenkollegien diesbezüglich auch ein geringeres Angebot, wurde das Fehlende in der Regel in späteren Phasen

Festschrift zur 375-Jahr-Feier der Hohen Landesschule Hanau (1607–1682). Hanau 1982, S. 11–25. 72 Vgl. Thomas Wehner: Die Lateinschule in Wertheim von der Reformation bis zum Dreißigjährigen Krieg. Wertheim 1993, S. 5255. 73 Vgl. Max Aschkewitz: „Die Wirksamkeit Mag. Jodocus Nahums bei der Einführung des reformierten Bekenntnisses in der Grafschaft Hanau“, in: Hanauer Geschichtsblätter 21 (1966), S. 83–96. 74 Vgl. Fürstlich Waldburg-Wolfegg᾽sches Archiv, 15076: Johann Martini an Heinrich Truchsess von Waldburg-Wolfegg, 20. Februar 1617.

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der Ausbildung nachgeholt. Die protestantischen Schulen setzten in ihrem Unterricht zwar auch Wettbewerb als Lernansporn ein und systematisierten die Wissensbestände, diese Methoden scheinen an den Jesuitenkollegien allerdings konsequenter umgesetzt worden zu sein. Im protestantischen Bereich pflegten die adligen Schüler mit ihren Lehrern und Präzeptoren einen relativ engen privaten Umgang. Unterschiede zwischen den beiden protestantischen Konfessionen traten während der schulischen Phase der Ausbildung nur selten zu Tage. Die starke Wertschätzung von höfischen Komponenten in den reformierten Häusern der Wetterau könnte ihre Ursachen in der engen Verbindung der Wetterauer Grafen zum Hof von NassauOranien haben. Das Anliegen, die anspruchsvollen und mobilen Adligen an der jeweiligen Schule zu halten, schuf Anreize, die Qualität der Lehre zu verbessern, und führte nicht selten zur Erweiterung des Lehrangebots. Die humanistischen Ausbildungsinhalte wurden kaum kommentiert und schon gar nicht infrage gestellt. Dem durch die schriftlichen Prüfungen und mündliches Abfragen erzeugten Wettbewerb fügten sie sich, weil die Väter dadurch den schulischen Fortschritt ihrer Söhne besser nachvollziehen konnten. Der Alltag der jungen Adligen war vor allem durch zwei übergeordnete Regeln geprägt: Sie sollten niemals allein sein und ständig beschäftigt werden. Die Sozialisation durch das adlige Umfeld spielte offenbar eine wichtige Rolle. Der Statusunterschied zwischen Reichsgrafen und Gelehrten beeinträchtigte ihr Verhältnis kaum. Den Gelehrten wurde hohe Wertschätzung entgegengebracht. Die Adligen hielten den Kontakt zu ihren ehemaligen Bildungsstätten aufrecht und gründeten oder reformierten Schulen in ihren Territorien, die sich an ihren ehemaligen Bildungsstätten orientierten. Die während des Schulbesuchs entstandenen Beziehungen wurden genutzt, um akademisch ausgebildetes Personal für die Verwaltung der Territorien anzuwerben. Auf diese Weise wurden von den Grafen auch ehemalige Präzeptoren und Professoren verpflichtet. Der Kontakt zwischen Adligen und Gelehrten blieb über viele Jahre hinweg fruchtbar und sorgte für einen intensiven Wissenstransfer in die heimischen Territorien.

PRÄSENZ UND MATERIALITÄT VON (GESCHICHTS-) UNTERRICHT? Historiographische Werke aus dem Altbestand zweier Gymnasialbibliotheken im Vergleich Kristina Hartfiel Abstract: The article takes a praxeological approach to understanding learning contexts of the past by methodologically examining the collections of two historic school libraries in Germany. I focus on historiographic works from the 16th and 17th century present at the libraries and analyse their materiality as an important form of evidence for practices of (text)book use before discussing possibilities of learning history in the Early Modern Era. Zusammenfassung: Ausgangspunkt der Untersuchung ist die auf praxeologischer Sicht aufbauende Hypothese, dass man anhand von Schulbibliotheksbeständen und den an sie gebundenen und in ihnen beobachtbaren Praktiken Aussagen zu vergangenen Formen von Schule, Unterricht und Bildung treffen kann. In der vorliegenden Studie wird deshalb der Versuch unternommen, den Nutzungs- und Wirksamkeitskontext von historiographischen Werken aus dem 16. und 17. Jahrhundert anhand der präsenten Altbestände zweier Gymnasialbibliotheken auszuloten. Dabei wird vor allem die Relevanz der materiellen Eigenschaften der Buch-Objekte für die hervorgebrachten Praktiken betont.

1. EINFÜHRUNG, FRAGESTELLUNG UND METHODIK Antonius Ignatius Deicks dem gehört dieses Buch wer es find dem ist es lieb wer es stild der ist ein Dieb Wer es fin der bring es wieder in mein Hauß der soll haben eine gebratene Mauß ….1

Am 6. April 1785 schrieb ein gewisser Antonius Ignatius Deicks diese vermutlich selbst gereimten Zeilen in die Vita des Heiligen Franz von Sales von Henri Maupas du Tour aus dem Jahre 1663. Das bezeugt der – recht kindlich anmutende – handschriftliche Eintrag im Einband des Exemplars, das in der historischen Bibliothek des heutigen Düsseldorfer Görres-Gymnasiums steht. Warum Antonius Ignatius ausgerechnet dieses Buch signierte, wissen wir nicht: Aus Langeweile bei der Lektüre? Weil das Buch für ihn – entgegen des Reims – nicht kostbar war? Ebenso 1

Das Exemplar in der Lehrerbibliothek des Görres-Gymnasiums Düsseldorf findet sich unter der Signatur: XIX.4.64: Henri Maupas du Tour: Vita B. Francisci Salesii …. Köln 1663.

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wenig ließ sich bislang etwas Persönliches über Antonius Ignatius Deicks oder über den Weg des Buches in die Bibliothek herausfinden. Doch wenn das Exemplar mehr Fragezeichen hinterlässt als Antworten bietet, wozu kann es dann hier überhaupt dienen? Es zeigt uns, und dazu braucht man kaum tiefgreifende praxeologische Überlegungen anstellen, dass das Buch in irgendeiner Weise – und sei es nur als Schmiergrundlage – benutzt wurde. Und damit zeigt es schon mehr als es viele wohl erhaltene frühneuzeitliche Bücher in Bibliotheken, Archiven und privaten Sammlungen überhaupt tun, weshalb ihnen nicht selten der Vorwurf entgegengebracht wurde, dass sie „in gewisser Hinsicht immer irgendwie nicht repräsentativ“2 sind – denn sonst hätten sie sich als Gebrauchsobjekte verbraucht und somit nicht erhalten. Das scheint für Medien der Unterweisung – manchmal über Generationen von Lehrern und/oder Schülern zu Unterrichtszwecken gebraucht – im Besonderen zu gelten.3 Ich möchte allerdings im Folgenden dafür plädieren, diese Annahme zukünftig differenzierter zu betrachten. Konkret: Gibt es vielleicht noch andere Erklärungen für den guten Erhalt historischer (Schul-)Buchbestände außer der ihrer Nicht-Verwendung?4 Die grundsätzlichen Fragen sind nämlich: Was war überhaupt ein Lehrbuch in der Frühen Neuzeit? Mit welcher Praktik des Unterrichts haben wir zu tun? Welche performative Wirkung erzielten die Bücher also überhaupt – eine Frage, die sich übrigens auch für moderne Schulbücher stellt.5 Vormoderne Unterrichtsmedien sind wegen der vielfältigen Bildungsangebote eine kontingente Größe, und sie variierten aufgrund von territorialen, lokalen sowie konfessionellen Begebenheiten und den Interessensbereichen der Akteure vor Ort.6 2

3

4

5 6

Michael Baldzuhn: „Das Ritual des Textverstehens. Zu Konzeption und Gebrauch des spätmittelalterlichen Schulbuchs“, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft. Sonderheft 17: Schulbücher und Lektüren in der vormodernen Unterrichtspraxis. Wiesbaden 2012, S. 13–30, hier: 16. Vgl. dazu auch Stephanie Hellekamps u.a.: „Einleitung“, in: A.a.O., S. 1–11, hier: 2: „Schul- und Unterrichtsbücher wurden in besonderem Maße durch Gebrauch verbraucht und damit von weiterer Überlieferung ausgeschlossen ….“ Frühneuzeitlich wurde weniger von Unterricht als mehr von ‚Information‘ und ‚Unterweisung‘ gesprochen. Vgl. Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste. 49. Bd. Halle u.a. 1746, Sp. 2299: „Unterweisung, ist diejenige Handlung, da man einem andern eben diejenige Erkänntniß von einer Sache, die man selber hat, beyzubringen und mitzutheilen suchet.“ Ich danke Dr. Tobias Winnerling (Düsseldorf) für die vielfältigen Anregungen. Er behandelt(e) eine ähnliche Frage im Rahmen frühneuzeitlicher Kräuterbücher. Vgl. ders.: „Das Kräuterbuch als frühneuzeitliches Gebrauchs-Objekt“, in: Friederike Elias u.a. (Hg.): Praxeologie. Beiträge zur interdisziplinären Reichweite praxistheoretischer Ansätze in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Göttingen 2014, S. 165–199. Vgl. dazu den Beitrag auf „docupedia-Zeitgeschichte“: Felicitas Macgilchrist und Marcus Otto: „Schulbücher für den Geschichtsunterricht, Version: 1.0“. URL: http://docupedia.de/zg/Schulbuecher (letzter Zugriff: 12. Juli 2018). Vgl. Michael Sauer: „Zwischen Negativkontrolle und staatlichem Monopol. Zur Geschichte von Schulbuchzulassung und -einführung“, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 49,3 (1998), S. 144–156. Auch: Michael Baldzuhn: „Mittelalterliche Schulbücher ,zwischen‘ Lehrplan und Unterrichtspraxis? Zu einigen medienhistorischen Voraussetzungen der Herausbildung eines Spannungsfeldes“, in: Eva Matthes und Carsten Heinze (Hg.): Das Schulbuch zwischen Lehrplan und Unterrichtspraxis. Bad Heilbrunn 2005, S. 139–150. Äußerst erhellend sind

Präsenz und Materialität von (Geschichts-)Unterricht

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Dies wiederum führt moderne Gattungsdefinitionen wie „Schulbuch“ an ihre Grenzen, weshalb es sinnvoll erscheint (vermeintliche) Bildungs- und Unterrichtsmedien nach ihrer Funktion, ihrem tatsächlichen Gebrauch zu befragen und die (mögliche/n) Rolle/n, die die Buchobjekte als Medien übernehmen konnten (und übernommen haben), in Einzelanalysen sichtbar zu machen. Häufig wurde in der Bildungsgeschichtsschreibung verkannt, welche Aufschlüsse über die Unterrichtspraxis die Analyse der benutzten Bücher geben kann. Nur zu oft verließ man sich auf die in theoretischen Schriften oder auch Schulordnungen festgehaltenen Absichtserklärungen, ohne nach ihrer Umsetzung, d.h. auch nach dem tatsächlichen Gebrauch der Bücher, zu fragen.7

Dies resümierte Ludwig Fertig bereits 2003 in seiner wichtigen Studie über Buchmarkt und Pädagogik und bis heute ist die Forschung der Dinglichkeit des Unterrichts und des Unterrichtens nur sporadisch beigekommen.8 Ich möchte deshalb in meinen folgenden Ausführungen den Ge- und Verbrauch von frühneuzeitlichen Unterrichtsmedien aus der praxeologischen Perspektive betrachten und fragen, ob bzw. inwieweit man über das noch erhaltene Material – sprich: die Buchobjekte selbst – zu (neuen) aussagekräftigen Erkenntnissen über ihre Gebrauchsweisen und damit zu vergangenen Praktiken und Formen von Schule, Unterricht und Bildung gelangen kann. Zur Beantwortung dieser Fragen bietet es sich an, das erhaltene Material, „die einzige, unmittelbar an … Rezeptionspraktiken, ‚beteiligte‘ Evidenz“9

7

8

9

auch die Ausführungen von Thomas Töpfer zur schulischen Bildung „vor Ort“. Vgl. ders.: Die „Freyheit“ der Kinder. Territoriale Politik, Schule und Bildungsvermittlung in der vormodernen Stadtgesellschaft. Das Kurfürstentum und Königreich Sachsen 1600–1815. Stuttgart 2012, bes. S. 147–149. Ludwig Fertig: „Buchmarkt und Pädagogik 1750–1850. Eine Dokumentation“, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 57 (2003), S. 1–145, hier: 15f. Zur Definition von „Lehrbuch“ nach dem Gebrauch als solches vgl. Caspar Hirschi: „Lehrbuch“, in: EdN 7 (2008), Sp. 772– 777. Ausführliche Diskussion auch bei Anthony Grafton: „Textbooks and the disciplines“, in: Emidio Campi u.a (Hg.): Scholary Knowledge. Textbooks in early modern europe. Genf 2008, S. 11–36. Als Beispiele seien genannt: Heinz Rommel: Das Schulbuch im 18. Jahrhundert. Wiesbaden 1968. Ebenso Christine Haug: „Verlagsprodukt mit Bildungsauftrag oder ,bloße Erzeugnisse merkantilistischer Speculationen‘? – Schulbuchproduktion und Schulbuchverlage um 1800“, in: Hanno Schmitt u.a. (Hg.): Die Entdeckung von Volk, Erziehung und Ökonomie im europäischen Netzwerk der Aufklärung. Bremen 2011, S. 281–304. Zu studentischen Manuskripten vgl. Ann Blair: „Student manuscripts and the textbook“, in: Scholary Knowledge, S. 39–67, sowie Paul Nelles: „Libros De Papel, Libri Bianchi, Libri Papyracei. Note-taking techniques and the role of student notebooks in the early Jesuit colleges“, in: Archivum historicum Societatis Jesu 76 (2007), S. 75–112. Weitere Hinweise und Ansätze auch in Hellekamps: Schulbücher und Lektüren, sowie in Martin Kintzinger u.a. (Hg.): Schule und Schüler im Mittelalter. Beiträge zur europäischen Bildungsgeschichte des 9. bis 15. Jahrhunderts. Köln u.a. 1996. Zur Medialität von Geschichtslehrbüchern wird sich meine Dissertationsschrift mit dem Arbeitstitel „Es ist dieses nur eine historische Milch=Speise für Kinder?“ Annäherungen an die Medialität historischer Lehrwerke für die Jugend (17. und 18. Jahrhundert)“ äußern. Markus Hilgert: „‚Text-Anthropologie‘: Die Erforschung von Materialität und Präsenz des Geschriebenen als hermeneutische Strategie“, in: Altorientalistik im 21. Jahrhundert. Selbstverständnis, Herausforderungen, Ziele. Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft zu Berlin 142 (2010), S. 85–124, hier: 98. Hilgerts Ausführungen sind grundlegend für diesen Aufsatz.

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zu befragen. Deshalb stütze ich mich auf den historischen Bibliotheksbestand zweier Lehranstalten. Das Melanchthongymnasium in Nürnberg verwahrt noch heute den Bestand der Alten Gymnasialbibliothek sowie der Nürnberger Lateinschulen. Das Düsseldorfer Görres-Gymnasium hat heute ebenfalls einen vergleichbar großen Altbestand.10 Der Altorientalist Markus Hilgert fordert für den wissenschaftlichen Umgang mit den (noch) vorhandenen (Buch-)Objekten: Es gilt daher, Eigenschaften dieser Artefakte zu erforschen, die ihnen zusätzlich zu den darauf befindlichen Sequenzen sprachlicher Zeichen zugeschrieben werden können und die für die daran hervorgebrachten Rezeptionspraktiken grundsätzlich relevant sein könnten.11

Nach Hilgert sind für die Analyse von Rezeptionspraktiken – verstanden als die individuell gestaltbare Handhabung eines Objekts – Präsenz und Materialität relevant.12 Anhand dieser beiden material-kulturellen Parameter lassen sich „Aussagen über die Möglichkeit bzw. Wahrscheinlichkeit bestimmter Rezeptionspraktiken“13 ableiten, weshalb ich jeweils in zwei Schritten vorgehe. Zunächst frage und problematisiere ich, welche Werke in den beiden Schulbibliotheken (noch) vorhanden und seit wann sie dort präsent sind. Nur auf Quellenbasis der existenten Werke lässt sich ihre Materialität, lassen sich mithin „ihre konkret erfahrbaren physischen Eigenschaften“14 und die (daraus resultierende) handlungswirksame „Effektivität“15 – sprich die ‚Wirkungsmöglichkeiten‘ der Bücher – prüfen. Da es mir also insbesondere um die Praktiken, die an die Bücher gebunden waren bzw. gebunden

10 11 12

13 14 15

Vgl. dazu auch jüngst ders.: „Praxeologisch perspektivierte Artefaktanalysen des Geschriebenen. Zum heuristischen Potential der materialen Textkulturforschung“, in: Praxeologie, S. 149– 164. Zur Frage, welche Forschungsmethoden an der Materialität von Büchern ansetzen können und welcher Erkenntnisgewinn damit möglicherweise einhergeht, vgl. Kristina Hartfiel und Tobias Winnerling: „(Making) Use of Books: Counting, Measuring, Weighing, Reading. What Use is ‘Materiality’ in Examining Early Modern Books?“ PDF-Publikation vom 25. November 2015 auf dem wissenschaftlichen Gemeinschaftsblog „Book History and Print Culture Network. Interdisciplinary Perspectives from German-Area Scholars“, URL: https://bookhistorynetwork.wordpress.com/2015/11/25/hartfielwinner-ling_making-use-of-books_pdf/ (letzter Zugriff: 12. Juli 2018). Grundlegende Gedanken dazu auch bei Carlos Spoerhase: Linie, Fläche, Raum. Die drei Dimensionen des Buches in der Diskussion der Gegenwart und der Moderne (Valéry, Benjamin, Moholy-Nagy). Göttingen 2016. Ich möchte mich ganz herzlich bei Herrn Dr. Hamm (Görres-Gymnasium Düsseldorf) und Frau Hentschler (Melanchthongymnasium Nürnberg) bedanken, die mir den Zugang zu dem historischen Bestand der Schulbibliotheken ermöglicht haben. Hilgert: „Text-Anthropologie“, S. 98. Vgl. Hilgert: „Text-Anthropologie“, S. 98–104. Zur Bedeutung der Umgangsweise mit Gegenständen lies Michel de Certeau: Kunst des Handelns. Berlin 1988, S. 14. Auch Andreas Reckwitz: „Der Ort des Materiellen in den Kulturtheorien. Von sozialen Strukturen zu Artefakten“, in: Ders.: Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie. Bielefeld 2008, S. 131–156, hier: 151, betont, „dass Dinge oder Artefakte … notwendige Komponenten sozialer Praktiken darstellen. Ihre soziale Relevanz besteht nicht allen darin, dass sie in spezifischer Weise interpretiert, sondern dass sie gehandhabt werden ….“ Hilgert: „Text-Anthropologie“, S. 103. Hilgert: „Text-Anthropologie“, S. 98. Hilgert: „Praxeologisch perspektivierte Artefaktanalysen“, S. 158.

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sein konnten, geht, fokussiere ich mich in diesem Beitrag nicht auf die textuellinhaltliche Betrachtung der Buchobjekte, sondern rekurriere nur punktuell darauf. Vielmehr soll hier die materielle Beschaffenheit der Bücher im Mittelpunkt stehen. Welche ergänzenden (!) Aussagen kann diese „phänomenologische Gewalt der Dinge“16 zum Gebrauch der Werke machen? 17 Um der Eingrenzung des Quellenkorpus willen und aufgrund eigener Interessensbereiche betrachte ich im Rahmen dieses Aufsatzes im Wesentlichen historiographische Werke aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Damit meine ich Bücher mit einem Erscheinungsdatum vor 1701, die in den jüngsten Katalogen der Bibliotheken unter der Haupt-Abteilung ‚Geschichte‘ verzeichnet sind. „Jüngst“ ist dabei als relativ anzusehen: Das bislang einzige Verzeichnis der alten Gymnasialbibliothek in Nürnberg stammt (vermutlich) aus den Jahren um 1910.18 Der systematische Standortkatalog (Zettelkatalog) des Düsseldorfer Görres-Gymnasiums ist immerhin etwa zu Beginn der 1990er Jahre angelegt worden.19 Auch wenn für beide Bibliotheken gilt, dass der Altbestand seit Beginn des 20. Jahrhunderts nicht mehr vermehrt wurde (höchstens geschrumpft sein könnte), sind die Verzeichnisse keineswegs aktuell und zeichnen sich durch Unvollständigkeit aus.20 Welche Problematik die gewählte Eingrenzung des Quellenkorpus mit sich zieht, wird in meinen Ausführungen ebenfalls zur Sprache kommen. 16 Lars Frers: „Zum begrifflichen Instrumentarium – Dinge und Materialität, Praxis und Performativität“. URL: http://userpage.fu-berlin.de/frers/begriffe.html (letzter Zugriff: 12. Juli 2018). 17 In weiterreichenden Analysen sollten diese beiden Seiten, das Materielle und das Immaterielle, der Nicht-Text und der Text, immer komplementär betrachtet werden. Vgl Winnerling: „Das Kräuterbuch“, S. 176. Grundlegend dazu auch Hilgert: „Text-Anthropologie“, S. 91f.: „Vor der wissenschaftlichen Interpretation der ‚Schriftquelle‘ stehen also die Erschließung und Deutung des Netzes sozialer (Rezeptions-)Praktiken, in das das Geschriebene als artefaktisches ‚Objekt‘ und ‚Repräsentation‘ … epistemischen Handelns eingebunden ist.“ 18 Vgl. Ernst Kern: „Alte Gymnasialbibliothek des Melanchthon-Gymnasiums“, in: Bernhard Fabian (Hg.): Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland. Hildesheim 2003 Onlinefassung]. URL: http://fabian.sub.uni-goettingen.de/fabian?Melanchthon-Gymnasium_(Nuernberg) (letzter Zugriff: 12. Juli 2018): „1911 erfolgte ein Umzug der Bibliothek vom Egidienberg in die Sulzbacher Straße in einen großzügigen Bibliotheksraum. In diese Zeit fallen die Neuordnung der Bücher nach Fachgebieten und die Numerus-currens-Aufstellung sowie eine erstmalige handschriftliche Gesamtkatalogisierung. Die beiden Folio-Kataloge sind die einzige, wenngleich unzureichende Erschließung der Buchbestände.“ Dieses systematische Verzeichnis untergliedert sich in verschiedene Fachgruppen. Innerhalb dieser Gruppen sind die Titel alphabetisch angeordnet; die Seitenzahlen entsprechen dabei den Buchsignaturen. Die jüngste überblickende Abhandlung zur Bibliothek stammt von Siegfried Schödel: „Bibliotheken und Leindotter-Lager schätzet man nach dem Alter ihrer Schätze“. Versuch über die Bibliothek des Melanchthon-Gymnasiums in Nürnberg. Nürnberg 1986. 19 Vgl. grundlegend Friedrich B. Müller und Reinhard Feldmann: „Lehrerbibliothek des GörresGymnasiums (1989)“, in: Bernhard Fabian (Hg.): Handbuch der historischen Buchbestände. Hildesheim 2003 Onlinefassung]. URL: http://fabian.sub.uni-goettingen.de/fabian?GoerresGymnasium (letzter Zugriff: 12. Juli 2018). 20 In beiden Bibliotheken finden sich mehrere Werke nicht (mehr) an Ort und Stelle. Das könnte unter anderem mit Kriegsverlusten und Umzügen zusammenhängen. In Nürnberg sind einige (Norica-)Werke in den Bestand der Stadtbibliothek übergegangen. Vgl. Kern: „Alte Gymnasialbibliothek“.

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2. DER ALTBESTAND DER BIBLIOTHEK DES NÜRNBERGER MELANCHTHONGYMNASIUMS 2.1. Präsenz: Bestandsgeschichte und Bestandsaufnahme Das heutige Nürnberger Melanchthongymnasium wurde 1526 vom Namensvetter Philipp Melanchthon als ‚Obere Schule‘ eröffnet und sollte als „Bindeglied zwischen den städtischen Lateinschulen und den Universitäten“21 dienen. Die Bibliothek des Gymnasiums geht dabei auf eine Stiftung des Nürnberger Patriziers Sebald Welser im Jahre 1581 an die Schola Ægidiana zurück, also an die zu der Zeit wesentlich erfolgreichere Lateinschule zu St. Egidien.22 Die ‚Obere Schule‘ befand sich seit 1575 in Altdorf.23 Erst im Jahre 1633 wurde die Bibliothek mit dem Gymnasium verbunden, als die Altdorfer Gymnasialklassen „mit der Lateinschule auf dem Egidienberg und der seit 1622 bestehenden Privatschule“24 zum nunmehrigen Gymnasium Ægidianum verschmolzen – im 17. Jahrhundert beginnt also „die gemeinsame Geschichte der beiden Institutionen“.25 In welcher Form jedoch Bücher aus Altdorf mit nach Nürnberg kamen, ist nicht überliefert. Knapp 200 Jahre später, im Jahre 1808 im Zuge der Neuorganisation des Mittelschulwesens der KöniglichBayerischen Regierung, gelangten außerdem die Bibliotheken der drei übrigen Lateinschulen (Schola Sebaldina, Schola Laurentiana, Schola Xenodochiana) in den Bestand des Gymnasiums.26 Der systematischen Abteilung ‚Geschichte‘ – und dabei beziehe ich alle Unterabteilungen ein – werden durch den handschriftlichen Katalog 64 Titel mit einem Erscheinungsjahr vor 1701 zugeordnet, wobei davon insgesamt 22 Werke fehlen.27

21 Wolfgang Mährle: Academia Norica. Wissenschaft und Bildung an der Nürnberger Hohen Schule in Altdorf (1575–1623). Stuttgart 2000, S. 52. Mährle behandelt vor allem die Frühgeschichte und Altdorfer Zeit der Institution. Zur Geschichte des Gymnasiums grundlegend: Hugo Steiger: Das Melanchthongymnasium in Nürnberg (1526–1926). Ein Beitrag zur Geschichte des Humanismus. München und Berlin 1926. Die Geschichte des Nürnberger Schulund Bildungswesens wird unter anderem behandelt bei Wolfgang Konrad Schultheiss: Geschichte der Schulen in Nürnberg. Heft 1–5. Nürnberg 1853–1857, sowie Klaus Leder: Kirche und Jugend in Nürnberg und seinen Landgebiet 1400–1800. Neustadt an der Aisch 1973. 22 Zum Aufschwung der Lateinschulen vgl. Mährle: Academia Norica, S. 57f. 23 Zur Altdorfer Zeit des Gymnasiums vgl. grundlegend Mährle: Academia Norica. 24 Mährle: Academia Norica, S.106. 25 Schödel: Leindotter-Lager, S. 71. 26 Vgl. Ludwig Krauß: Mitteilungen über die Zusammensetzung der Lehrerbibliothek des Alten Gymnasiums nach ihren ältesten Beständen und Beschreibung ihrer ältesten Drucke. Erster Teil. Beilage zum Jahresbericht des Kgl. Alten Gymnasiums in Nürnberg über das Schuljahr 1909/10. Nürnberg 1910, S. 4f. 27 Die Auswertung der Abteilung Geschichte erfolgte vor Ort mittels des handschriftlichen Katalogs (Nürnberg) bzw. des Zettelkatalogs (Düsseldorf) und Überprüfung der Buchexemplare am Regal. Dabei wurden die einzelnen Titel (und nicht die – zum Teil zusammengebundenen – Bücher) gezählt, da so die Gebrauchsspuren für die einzelnen Titel besser erkennbar sind. Die Ergebnisse beruhen damit nicht auf den Angaben im „Handbuch der historischen Buchbe-

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Dabei kann unter anderem durch die Einbandbindungen vermutet, teils aber auch durch Besitzeinträge sowie Sekundärquellen nachvollzogen werden, wann und wie die Werke in die Schulbestände kamen und welcher Schul-Provenienz sie entstammen.28 Die 42 erhaltenen Werke der Abteilung Geschichte verteilen sich folgendermaßen: 28 Titel werden der Schola Ægidiana zugerechnet, hinzu kommen drei Werke, die nachweislich auf eine Stiftung der Welser zurückgehen.29 Der Spitalschule können fünf und der Lateinschule bei St. Sebald sechs Titel zugewiesen werden, die Lorenzer Lateinschule ist in der Abteilung nicht (oder nicht mehr) vertreten. Wie sieht es mit sichtbaren Nutzungsspuren in den Büchern aus? Tatsächlich sind bei nur elf Titeln handschriftliche Einträge und/oder Unterstreichungen im Text auszumachen, die über bloße Besitzvermerke hinausgehen. Diese elf Werke, in denen die Nutzungsspuren noch heute sichtbar sind, verteilen sich wiederum folgendermaßen auf die Schulen: Je zwei sind der Schola Sebaldina bzw. Schola Xenodochiana zugehörig, sieben Werke mit handschriftlichen Einträgen gehören zum Bestand der Schola Ægidiana.30 Und die restlichen 31 „Geschichts“-Bücher, die ohne jegliche Gebrauchsspuren sind? Wie kann man ihren (vergangenen) Nutzungspraktiken beikommen und mögliche Gebrauchssituationen rekonstruieren?

stände“, die sich zum Teil von meiner Rechnung unterscheiden. Eine Liste mit allen aufgenommenen Titeln kann auf Nachfrage von der Autorin ausgehändigt werden, ansonsten erfolgt im Folgenden aus Platzgründen nur vereinzelt die vollständige Aufnahme der Titel. 28 Vgl. Krauß: Mitteilungen I, S. 5: Bei der Vereinigung der Schulen im Jahre 1808 „fand wohl … auch eine Feststellung der in jeder Bibliothek vorhandenen Buchbestände statt. Ein damals (1808) geschriebenes Verzeichnis der Bibliotheca Scholae Xenodochianae ist noch vorhanden, ebenso ein zu der gleichen Zeit aufgenommenes Verzeichnis der Welserstiftung; dagegen fehlen leider die Kataloge der anderen Büchereien.“ Dank der Aufstellung der Bücher nach Herkunft lässt sich heute relativ schnell nachvollziehen, wie sich die Werke auf die einzelnen Schulen verteilen. Sie wurden in den 1980er Jahren „aus dem Numerus-currens-Verband herausgelöst und, soweit erkennbar, nach ihrer Herkunft aus den alten Lateinschulen geordnet“. Vgl. dazu Kern: „Alte Gymnasialbibliothek“. 29 Zu den Stiftungen der Welser vgl. grundlegend Krauß: Mitteilungen I, sowie ergänzend ders.: Mitteilungen über die Lehrerbibliothek des Alten Gymnasiums und Beschreibung ihrer ältesten Drucke. Zweiter Teil. Beilage zum Jahresbericht des Kgl. Alten Gymnasiums in Nürnberg über das Schuljahr 1910/11. Nürnberg 1911. Die drei Werke sind: 1. Johannes Cluver: Historiarum totius mundi epitome. Breslau 1673. Signatur des hss. Katalogs: 610. Der Titel stammt aus einer Bücherschenkung von Karl Wilhelm Welser (um 1700), vgl. dazu auch: Krauß: Mitteilungen I, S. 20. 2. Johannes Sleidan: Commentariorum de statu religionis & republicae libri XXVI. Straßburg 1576. Signatur des hss. Katalogs: 652. Der Titel wurde der Bibliothek 1586 geschenkt. Vgl. dazu Krauß: Mitteilungen I, S. 11. 3. Philipp Camerarius: Operae horarum subcisivarum, sive meditationes historicae. Nürnberg 1599. Signatur des hss. Katalogs: 865. Laut Krauß: Mitteilungen I, S. 14 Anm. 8 wurde der Titel durch die Erträge der Welser-Stiftung angeschafft. 30 Eine Liste dieser Werke ist dem Aufsatz angehängt. Vgl. unter Anhang a).

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2.2. Materialität Wie bereits in der Einleitung betont, kann die Materialität der Buchobjekte weitere wichtige Hinweise auf die Frage möglicher Aneignungsweisen liefern, weil sie bestimmte Handlungen ermöglicht bzw. ausschließt.31 Auf die Frage des Buchgebrauchs gewendet bedeutet diese Annahme, „dass bestimmte Buch-Formate und Qualitäten physischer Natur automatisch bestimmte Nutzer ein- und andere ausschließen, indem sie mit dem Objekt verknüpfte Praktiken vorstrukturieren“32 – ein Folioformat ist wohl ungeeigneter für die Schultasche als ein Duodez. Ein zehn Zentimter dickes Oktavformat kann ebenso unhandlich sein. Aber für wen muss es überhaupt brauchbar sein? Mit welchen Lehr- und Lern-Praktiken haben wir es zu tun, wenn wir das Buchmaterial schuleigener Bibliotheksbestände als Analysegrundlage nehmen? Da wir mitunter kaum Aussagen dazu treffen können, wie der frühneuzeitliche Unterricht aussah, lässt sich bislang auch keine konkrete Handhabbarkeit definieren – folgende Ergebnisse können also nur darstellen, was im Bereich des Möglichen liegt. Welche Praktiken lassen die Buch-Objekte überhaupt zu? Um erste Antworten zu finden, habe ich das genaue Format (gemessen Höhe x Breite x Tiefe in cm) der 42 noch vorhandenen Werke aufgenommen.33 Dabei haben sich zunächst drei Größen-Kategorien aus den gemessenen Werten ergeben.

Größenverteilung der Werke 25 20 Werkkorpus insgesamt

15 10 5

2

5

4

0 unter 19 x 15 cm

19 x 15 - 30 x 20 cm

Werkkorpus mit Nutzungsspuren

über 30 × 20 cm

Abb. 1. Die Größenverteilung der Werke (gemessen wurde die Höhe vor der Breite in cm).

31 Vgl. Frers: „Zum begrifflichen Instrumentarium“. Vgl. auch dazu einführend den von mir und Dr. Tobias Winnerling verfassten Essay: „(Making) Use of Books.“ 32 Winnerling: „Das Kräuterbuch“, S. 174. Grundlegend dazu Hilgert: „Text-Anthropologie“, bes. S. 98. 33 Um eine präzise Vergleichbarkeit zu erzielen, habe ich die Formate der Werke in cm und nicht nach der gängigen Einteilung der Formate in Folio, Quart, Oktav etc. aufgenommen. Mitunter kommt es nämlich durch diese relativ grobe Einteilung zu enorm abweichenden Ergebnissen. Sie kann höchstens als Orientierung dienen. Vgl. zur Aufnahme des Formats bei historischen Büchern grundsätzlich die Überlegungen von Hans Ries: „Grundriss zu einer bibliographischen Behandlung von Illustrationen und optischer Erscheinungsform im historischen Kinder- und Jugendbuch“, in: Die Schiefertafel. Zeitschrift für Kinder- und Jugendbuchforschung 3 (1982), S. 98–122, bes. 106f.

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Die meisten Werke fallen in die mittlere Kategorie und sind damit zwischen 19x15 und 30x20 cm groß. Interessanterweise sind immerhin vier der elf Bücher mit Gebrauchsspuren größer als 30x20 cm, und nur die wenigsten vorhandenen Bücher fallen in die kleinste Kategorie (unter 19x15cm), obwohl doch gerade diese für Unterrichtszwecke (jedenfalls nach modernem Verständnis) die – im wahrsten Sinne des Wortes – handlichste sein müsste. Als ein weiterer Indikator der Handhabung erscheint die Tiefe der Werke. Macht es doch einen beachtlichen Unterschied, ob Bücher zwei oder zehn Zentimeter „dick“ sind.

Tiefenverteilung der Werke 20 15

Werkkorpus insgesamt

10 Werkkorpus mit Nutzungsspuren

5 0

2 bis 4 cm

4 4,1-6 cm

4 6,1-8 cm

1

0

8,1-10 cm 10,1 cm +

Abb. 2. Die Tiefenverteilung der Werke (gemessen wurde die Tiefe in cm).

Für die Tiefenverteilung ergibt sich nach Messung ein ähnliches Bild. Vier von acht Büchern mit einer Tiefe von 6,1–8 cm enthalten sichtbare Gebrauchsspuren. Paolo Sarpis Historia über das Konzil von Trient enthält Einträge im Einband und ist sogar neun cm dick, damit sehr schwer und wohl kaum ‚mal eben so‘ transportabel. 2.3. Eine erste Schlussfolgerung Größe bzw. Tiefe scheinen in keiner Relation mit den vorhandenen Gebrauchsspuren zu stehen. Denn es sind keineswegs handlichere Werke, die sichtbar benutzt wurden. Vielmehr waren in Nürnberg verhältnismäßig mehr großformatige, ‚historiographische‘ Werke im Gebrauch, wenn man die Verwendung mit Nutzungsspuren identifiziert. Das spricht in jedem Fall für eine ‚präsente Verwendung‘ vor Ort – beispielsweise in der Schulstube oder Bibliothek. Mögliche Gründe könnten sein, dass man große Werke besser beschreiben oder (vor-)lesen konnte. Die Analyse der Materialität stützt dabei zwei grundsätzliche Annahmen. Erstens, dass frühneuzeitliche Schulbibliotheken insbesondere Räume der Lehrer waren und sich die Bestände deshalb nicht so sehr verbrauchten, weil sie eben vermehrt von den Schul-

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männern zur Unterrichtsvorbereitung benutzt worden sind, weniger von den Schülern selbst.34 Zweitens, dass Mündlichkeit – wie heute übrigens auch – eine zentrale Rolle bei der Wissensvermittlung in der Schule spielte. Der Einsatz der Werke als Unterrichtsmedien war nur über die zentrale Rolle des Lehrers möglich – er trug den Inhalt vor, kommentierte oder diktierte ihn. Viel mehr didaktisch-methodische Möglichkeiten ließen die Buchobjekte aufgrund ihres Formats im Klassenunterricht einfach nicht zu und auch das könnte ein Grund für ihren relativ guten Erhalt sein. Praxeologisch umformuliert haben wir es also vor allem mit Lehrer-Büchern als mit Schüler-Büchern zu tun. Ein exemplarisches Beispiel ist Johannes Sleidans Betrachtung der Geschichte der Reformation (De statu religionis et rei publicae commentariorum libri XXVI). In der heutigen Bibliothek des Gymnasiums sind von diesem Geschichtswerk drei Ausgaben verschiedener Größenkategorien erhalten. Das kleinste der drei Exemplare (Anhang a) Nr. 3) hat auf dem Titelblatt einen Namenseintrag, der bislang nicht näher bestimmt werden konnte, sowie einige wenige Unterstreichungen im Text. Es wird der Schola Ægidiana zugerechnet. Das Exemplar der mittleren Kategorie wurde der Bibliotheca Ægidiana 1586 durch Sebald Welser geschenkt und weist bis auf das handkolorierte Wappen des Stifters keine Benutzungsspuren auf.35 Das dritte Exemplar stammt aus der Lateinschule am Heilig-Geist-Spital. Es wurde 1665 angeschafft, und ist 31,5 cm hoch, 21,1 cm breit und 7 cm ‚dick‘ (Anhang a) Nr. 2).36 Auf der Innenseite des blindgeprägten Ledereinbandes finden wir einen Hinweis auf den bekannten Nürnberger Theologen und Schulmann Simon Bornmeister. Er war zu diesem Zeitpunkt Rektor der Schola Xenodochiana.37 Der Text weist zahlreiche Unterstreichungen und Marginalien auf. Was Bornmeister oder einer seiner Kollegen hier gemacht haben könnte,38 erhellt sich, wenn man weiß, dass es zu dieser Historie von Sleidan ein übersichtliches Tabellenwerk gibt. Vergleicht man die ausführliche Textversion aus der Spitalschule mit dem Tabellenwerk, lässt sich nachvollziehen, dass die Marginaleinträge möglicherweise in 34 Vgl. Klaus Hohlfeld: „Einleitung“, in: Ders. (Hg.): Die Schulbibliothek. Texte zu ihrer Geschichte und Theorie. Bad Honnef 1982, S. 1–22, hier: 13. Dass jedoch schuleigene Bibliotheken auch für die Schüler bestimmt waren, darauf deutet die Editio Ascensiana der Opera Virgilii der Bibliothek der Lorenzer-Lateinschule hin. In diesem Folioband (!) – vielleicht zur besseren Lesbarkeit – sind die gedruckten Leges scholasticae eingeklebt. Vgl. Krauß: Mitteilungen I, S. 30. Für Düsseldorf sind Anfragen von Schülern an den Rat der Stadt überliefert. Sie baten um Geld für die Anschaffung von Schulbüchern. Vgl. Wilfried Enderle: „Die Jesuitenbibliothek im 17. Jahrhundert. Das Beispiel der Bibliothek des Düsseldorfer Kollegs 1619–1773“, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 41 (1994), S. 147–213, hier: 153, Anm. 28. 35 Vgl. Krauß: Mitteilungen I, S. 11. Vgl. auch Anm. 29. 36 Vgl. Krauß: Mitteilungen I, S. 39, sowie Schödel: Leindotter-Lager, S. 63. 37 Vgl. Renate Jürgensen: Melos conspirant singuli in unum. Repertorium bio-bibliographicum zur Geschichte des Pegnesischen Blumenordens in Nürnberg (1644–1744). Wiesbaden 2006, S. 303. Bornmeister war seit 1657 Lehrer und seit 1663 Rektor der Lateinschule am HeiligGeist-Spital. 38 Der handschriftliche Namenshinweis im Einband und die handschriftlichen Marginalien im Text unterscheiden sich in Feder und Tinte. Ob beide Einträge der gleichen Handschrift zuzuordnen sind, konnte bislang nicht abschließend geklärt werden.

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Bezug auf das Tabellenwerk erstellt worden sind, da die Kurzinformation der Tabelle den Randbemerkungen inhaltlich gleicht.39 Vielleicht waren die Schüler der Spitalschule im Besitz des vermutlich kostengünstigeren Tabellenwerks und ihre Lehrer konnten die dortigen Einträge ausführlich im Unterricht anhand des folioformatigen Haupttextes kommentieren. In jedem Fall lässt dieses erhaltene Exempel vermuten, dass historischer Unterricht – speziell auch in ‚jüngerer‘ Geschichte, wie hier über die Reformation – nicht nur den Gymnasialklassen vorbehalten war, sondern seinen Platz beispielsweise als „Ergänzung zur grammatisch-rhetorischen Unterweisung“40 auch in den Nürnberger Lateinschulen finden konnte, wenn es denn im Interessensbereich der Schulmänner lag. Für Bornmeister war das sicherlich der Fall, war doch sein „Metier die Historiographie“.41 Bevor ich zum historischen Bestand des Görres-Gymnasiums in Düsseldorf komme, sei noch eine letzte Hypothese zu den (heute) unsichtbaren Rezeptionspraktiken geäußert. Anders gewendet, lässt sich nämlich auch fragen, ob die beschriebenen Bücher vielleicht diejenigen waren, die weniger wertvoll waren? Eine indirekte Bestätigung dieser Annahme findet sich für die Bücher der Welserstiftung der Lateinschule zu St. Egidien. In der Stiftungsurkunde vermerkt Sebald Welser: Von Euch schließlich, die Ihr jeweils das Amt der Lehrer verseht […], erbitte ich inständig, ja, wenn dies geschehen darf, fordere ich mit Entschiedenheit, daß Ihr, soweit es in Eurer Macht steht, mit Sorgfalt darauf achtet, daß diese Bücher keinen Schaden nehmen, sondern in gutem Zustand vollständig aufbewahrt werden. Duldet es auf keine Weise, daß sie von wem auch immer durch Tinte, Randbemerkungen, Striche oder irgendwelche Pausversuche beschädigt werden!42

39 Vgl. Tabulae in Libros Historiarum de Religione et Republica Ioannis Sleidani. Straßburg 1557. URL: http://daten.digitale-sammlungen.de/~db/bsb00000849/images/ (letzter Zugriff: 12. Juli 2018). Zu historischen Tabellenwerken als Unterrichtsmedium vgl. grundsätzlich: Benjamin Steiner: Die Ordnung der Geschichte. Historische Tabellenwerke in der Frühen Neuzeit. Köln u.a. 2008. 40 Jens Nagel (Hg.): „Historische Bilder“ und „Fragen aus der Historia“. Die Schulbücher von Johann Buno und Christoph Cellarius im Geschichtsunterricht der Frühen Neuzeit. Leipzig 2014, S. 47. Mährle: Academia Norica, S. 56, machte darauf aufmerksam, dass sich bereits ab der Mitte des 16. Jahrhunderts die Schola Sebaldina auch für Fächer der ‚Oberen Schule‘ öffnete, was zur Schwächung dieser Schule führte: „Ähnliche massive Erweiterungen des Lehrangebots in den anderen städtischen Lateinschulen sind zwar nicht nachweisbar, aber wahrscheinlich.“ Zu den Vorlesungen über Geschichte am akademischen Gymnasium in Altdorf vgl. Mährle: Academia Norica, S. 298–315. Für das Gymnasium Ægidianum in Nürnberg sieht der Lehrplan von 1670 in der Oberklasse eine Wochenstunde historia universalis vor. Vgl. Steiger: Melanchthon-Gymnasium, S. 83. 41 Jürgensen: Geschichte des Pegnesischen Blumenordens, S. 304. Kurz vor seinem Tod wurde Bornmeister noch Professor für Geschichte am Gymnasium Ægidianum. 42 Deutsche Übersetzung durch Schödel: Leindotter-Lager, S. 15–18, hier: 17. Die lateinische Originalversion der Stiftungsurkunde von Sebald Welser findet sich in Krauß: Mitteilungen I, S. 7–10.

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Diese Ausführungen unterstreichen, dass der gute Erhaltungszustand vermutlich eher auf die Kostbarkeit und den Materialwert der Werke, als auf ihre Nicht-Benutzung zurückzuführen ist.43 Wer sich also einen allgemeinen Nutzen dieser Bücher wünscht […] der soll sowohl die jetzt vorhandenen als auch die noch anzuschaffenden Bücher so behandeln, wie er sie behandelt wissen wolle, wenn er sie selbst zum Gebrauch und Nutzen möglichst vieler Menschen dieser Schule gestiftet hätte […].44

3. DER ALTBESTAND DER BIBLIOTHEK DES DÜSSELDORFER GÖRRES-GYMNASIUMS – EIN WERKSTATTBERICHT 3.1. Präsenz, oder: Welche Bibliothek? – Praxeologische Probleme, Teil 1 Das Düsseldorfer Görres-Gymnasium etablierte sich etwa ab 1545 als „höhere Lehranstalt“45 zur Vorbereitung auf ein Universitätsstudium. Wahrscheinlich entstand zu dieser Zeit auch die Bibliothek der Schule, die heute als „größte Schulbibliothek“46 in Nordrhein-Westfalen gilt und die, trotz diverser Maßnahmen der Bestandserschließung, zu großen Teilen – insbesondere die einzelnen Buch- und Bestandsgeschichten betreffend – terra incognita der Forschung ist.47 43 Unter diesen Dreien befindet sich nämlich auch eine gut erhaltene Ausgabe der Chronicon Carionis – ein durchaus viel gelesenes Werk. Signatur: 610. Das Exemplar enthält eine epistula dedicatoria von Melanchthon aus dem Jahre 1558 sowie ein handgemaltes Wappen der Patrizierfamilie Welser, die dieses Buch 1586 der Schola Ægidiana stiftete. 44 Zitat nach Schödel: Leindotter-Lager, S. 16. 45 Benedikt Mauer: „Schule, Schulwesen“, in: Clemens von Looz-Corswarem und Benedikt Mauer (Hg.): Das große Düsseldorf-Lexikon. Düsseldorf 2012, S. 636f., hier: 636. In der höheren Schule sollte – wie in Nürnberg – die Vorbildung zum Universitätsbesuch vermittelt werden. Vgl. a.a.O., S. 637: „Als ,fürstliche Particularschule‘ versuchte sie, sich vom kirchlichen Einfluss zu emanzipieren. Ihr Niedergang führte unter Herzog Wolfgang Wilhelm zur Gründung des Jesuitenkollegs …, das sich dank fürstlicher Förderung als führende katholische Bildungsanstalt etablierte und sogar über die Aufhebung des Jesuitenordens 1773 hinaus bis 1803 bestand.“ 46 Reinhard Feldmann: „Historische Sammlungen der Schulbibliotheken im Rheinland und in Westfalen“, in: Schulbibliothek aktuell 2 (1993), S. 150–156, hier: 153. Grundlegend zur Düsseldorfer Bibliotheksgeschichte vgl. Heinz Finger: „Düsseldorfer Bibliotheken des Mittelalters und der frühen Neuzeit“, in: Ders. u.a. (Hg.): Bücher für die Wissenschaft. Bibliotheken zwischen Tradition und Fortschritt. München u.a. 1994, S. 213–235, insbes. 227: „Das 1545 gegründete herzogliche Gymnasium, das schon zu Beginn der Leitung des reformatorisch gesinnten Johannes von Monheim unterstellt wurde, lässt sich selbst in seinen Anfängen nicht ohne eine wenigstens kleine Bibliothek denken.“ 47 Grundlegend zur historischen Lehrerbibliothek und den (wenigen, meist aus dem 19. Jahrhundert stammenden) Quellen zur Schul- und Bibliotheksgeschichte vgl. Müller und Feldmann: „Lehrerbibliothek des Görres-Gymnasiums“. In den 1980er Jahren müssen auch die Vorarbeiten für den Standortkatalog der Lehrerbibliothek begonnen haben. Durch Mitarbeit der Bibliothekarin Anita Benger entstand damit wohl zu Beginn der 1990er Jahre der aktuellste (Zettel)Katalog. Er basiert auf der Systematik des gedruckten Katalogs von Josef Cüppers: Katalog der Lehrer-Bibliothek des Königlichen Gymnasiums zu Düsseldorf. 2 Hefte. Düsseldorf

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Praxeologisch gewendet hat das zur Folge, dass die tatsächliche ‚frühneuzeitliche‘ Präsenz der Werke im Gymnasium, also in der Bibliothek der ‚höheren Schule‘ und ihrer Nachfolgeeinrichtungen, mitunter nicht rekonstruierbar ist. Der Zettelkatalog in der Bibliothek weist der Abteilung ‚Geschichte‘ mit allen ihren Unterabteilungen 156 gezählte Titel mit Erscheinungsjahr vor 1701 zu, davon fehlen heute 28.48 Von den 128 vorhandenen Titeln lässt sich bei 31 Prozent (40 Titel) ablesen, dass sie erst im 19. Jahrhundert durch die Schenkung der Privatbibliotheken von Abraham Voss und Ferdinand Deycks in die Gymnasialbibliothek gelangt sind.49 Ein erster Abgleich mit dem ältesten erhaltenen Catalogus in der Bibliothek (entstanden zwischen 1823 und 1845/1859) zeigt allerdings die Verzerrung der Perspektive: Zum einen fehlen heute Titel, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts noch in der Bibliothek erhalten waren und zum anderen sind einige Titel in der heutigen Systematik unter der Abteilung ‚Geschichte‘ aufgenommen, die noch Mitte des 19. Jahrhunderts – bis zur Erstellung der neuen und immer noch gültigen Systematik durch Josef Cüppers (1896–1898) – in eine andere Kategorie fielen.50 In zwei historiographischen Werken aus dem Deyckschen Nachlass ist sichtbar, dass sie aus der Provenienz der Düsseldorfer Jesuiten stammen. Es handelt sich zum einen um ein Werk des italienischen Geschichtsschreibers Paolo Giovio (vgl. Anhang b) Nr. 12) aus dem 16. Jahrhundert, und zum anderen um Galleazo Gualdo Prioratos Geschichte über den Kardinal Jules Mazarin aus dem 17. Jahrhundert (vgl. 1896/1898. Der Bestand ist außerdem über die hbz-Verbunddatenbank NRW katalogisiert (Sigle Dü: 58 D), die dortigen Einträge geben aber keinen Hinweis auf die Geschichte der einzelnen Bücher und Buchbestände sowie Besitzeinträge oder handschriftliche Vermerke. 48 Diese Bücher müssen in den letzten 20 bis 30 Jahren seit der Erstellung des Zettelkatalogs verloren gegangen sein. Nach bisherigem Kenntnisstand liegt die Vermutung nahe, dass diese Werke nicht als Verlust zu bezeichnen sind, sondern ‚einfach‘ nur an einem anderen Ort stehen – sind die fehlenden Bände doch allesamt Foliobände, die wahrscheinlich nicht in die vorgesehenen Regalbretter gepasst haben. 49 Vgl. Müller/Feldmann: „Lehrerbibliothek des Görres-Gymnasiums“. Von den 128 autopsierten Titeln stammen 37 aus der Privatbibliothek von Ferdinand Deycks (handschriftliche Signatur im Einband). Drei Titel sind – laut Zettelkatalog – dem Vossʼschen Nachlass zuzurechnen. 50 Das handschriftliche Verzeichnis wurde durch den damaligen Verwalter der Bibliothek, Karl Heinrich F. Grashof, erstellt. Dieser Katalog befindet sich heute im Tresor der historischen Lehrerbibliothek des Görres-Gymnasiums und wurde von der ULB Düsseldorf digitalisiert. URL: http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/ihd/content/titleinfo/9183750 (letzter Zugriff: 14. Juli 2018). Entsprechend dieser (älteren) Katalogsystematik weisen die autopsierten Exemplare zum Teil auch diese Signatur auf (handschriftliche Signatur im Einband mit Zusatz „Der Bibliothek des Gymnasiums zu Düsseldorf zugehörig 1815/1816“), so dass daran abgelesen werden kann, dass diese Exemplare spätestens seit 1815 mit der Übernahme der Schule in preußische Verwaltung in der dortigen Bibliothek waren. Die Auszählung der Abteilung A ‚Geschichte‘ ergab 101 Titel mit Erscheinungsjahr bis 1701. Beispiele für heute fehlende Exemplare sind eine Ausgabe (1710) des jesuitischen Geschichtswerks von Torsellini (A 428) und die Schedelsche Weltchronik (A 157, Ausgabe von 1498), sie liegt heute vermutlich in der Bibliothek der Düsseldorfer Kunstakademie. Vgl. dazu: Enderle: „Jesuitenbibliothek“, S. 164, Anm. 121. Ein Beispiel für eine andere Kategorisierung ist: John Barclay: Argensis …, Lugd. Bat. 1627, Altbestandssignatur: A 4. Das Buch wird seit Ende des 19. Jahrhunderts unter der Signatur IV 2b 474, also unter den ‚lateinischen Schriftstellern‘, geführt.

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Anhang b) Nr. 13). Beide Werke weisen bis auf den Besitzeintrag der Jesuiten keine Gebrauchsspuren auf. Dass sich in der heutigen Bibliothek der Schule noch Exemplare mit dem Besitzvermerk der Jesuiten befinden, erscheint nicht ungewöhnlich, schließlich wurde das Gymnasium zwischen 1620 und 1803 von Jesuiten geleitet. Sogar nach Aufhebung des Ordens 1773 führten die Patres das nun so genannte „Kurfürstliche Gymnasium“ fort.51 Wilfried Enderle hat 1994 in seinem grundlegenden Beitrag über die Jesuitenbibliothek in Düsseldorf darauf verzichtet, die Titel jesuitischer Provenienz im Görres-Gymnasium aufzunehmen und verzeichnet im Wesentlichen den Bestand, der über die diversen Vorgängereinrichtungen in die heutige Universitätsund Landesbibliothek Düsseldorf gelangte. In einer Fußnote erklärt Enderle, dass in der Schule nur fünf Titel nachgewiesen seien, weshalb er aus statistischen Gründen auf eine Aufnahme verzichtet habe.52 Dieses Ergebnis muss nach bisherigem Kenntnisstand revidiert werden, da allein aus Stichproben mittlerweile 13 Werke mit einem Besitzeintrag der Düsseldorfer Jesuiten zu Tage gefördert werden konnten. Zehn davon weisen die Altbestandssignatur der Schulbibliothek auf.53 Insbesondere für diese Werke kann angenommen werden, dass sie für den Unterricht an der Schule notwendig waren und deshalb – trotz Aufhebung des Ordens, zwischenzeitlicher Beschlagnahmung des Bestandes durch die kurfürstliche Verwaltung (1785) und endgültiger Säkularisation des Bestandes mit Überführung der Jesuitenbibliothek in die öffentliche Bibliothek im Jahr 1808 – in den Schulbestand (zurück) kamen bzw. dort bis heute blieben.54 Wie Ferdinand Deycks an die Bücher gekommen ist, bleibt unklar. Deycks war selbst Schüler des Düsseldorfer Gymnasiums und später – etwa zur gleichen Zeit als der handschriftliche Katalog begonnen wurde – sogar für kurze Zeit Hilfslehrer der Schule und zuständig für „das Ordnen der dortigen zahlreichen Bibliothek“.55 Rein spekulativ hat es für ihn damit die Möglichkeit gegeben – vor der Inventarisierung der Bücher – die zwei Werke jesuitischer Provenienz in seine private Sammlung zu überführen. Das könnte auch der Grund sein, warum sie keine Altbestandssignatur tragen. 51 Vgl. dazu Mauer: „Schulwesen“, S. 637: Der „Niedergang der Schule, Anm. KH führte unter Herzog Wolfgang Wilhelm zur Gründung des Jesuitenkollegs …, das sich dank fürstlicher Förderung als führende katholische Bildungsanstalt etablierte und sogar über die Aufhebung des Jesuitenordens 1773 hinaus bis 1803 bestand.“ Vgl. dazu auch Angelika Masberg: Schulalltag im Spiegel zeitgeschichtlicher Entwicklungen: Studien zum Wandel der ältesten höheren Schule in Düsseldorf, des heutigen Görres-Gymnasiums. Düsseldorf 1985, S. 148: „Die Schule besteht weiter; es wird nach den hergebrachten jesuitischen Grundsätzen unterrichtet; als Lehrer arbeiten die Ex-Jesuiten in den ehemaligen Schulräumen.“ 52 Vgl. Enderle: „Jesuitenbibliothek“, S. 164 Anm. 121. 53 Ein Überblick über die bislang aufgefundenen Exemplare jesuitischer Provenienz vgl. Anhang b). 54 Vgl. Enderle: „Jesuitenbibliothek“, S. 191–193, bes. 192: Nach einem Supplik der Jesuiten wurden diesen 1786 von der Hofkammer zugestanden, ihnen „die für ihre Amtsführung notwendigen Bücher“ auszuhändigen. 1791 wurde der Kongregation dann ihre restliche Bibliothek übergeben, bevor sie endgültig 1808 in den Besitz der öffentlichen Bibliothek gelangte. 55 Beilage zur Allgemeinen Zeitung. Für das Jahr 1868. Mit einem alphabetisch-chronologischen Namen- und Sach-Register über die größeren Artikel. Zweites Quartal. Stuttgart u.a. 1868, Nr. 154.

Präsenz und Materialität von (Geschichts-)Unterricht

311

Darüber hinaus fehlt (heute) das ansonsten weit verbreitete katholische Geschichtskompendium des Jesuiten Orazio Torsellini, das im ältesten handschriftlichen Katalog noch erhalten ist.56 Dieses Lehrbuch, das es seit 1631 mit der Zugabe chronologischer Tabellen gab, taucht im catalogus perpetuus der rheinischen Ordensprovinz – und dazu gehörte Düsseldorf – aus dem Jahre 1622 auf.57 Zwar ist ein Exemplar noch heute im Görres-Gymnasium erhalten, stammt jedoch eindeutig aus dem Vossʼschen Nachlass und kam damit erst im 19. Jahrhundert in die Bibliothek. 3.2. Materialität der Werke im Görres-Gymnasium – Praxeologische Probleme, Teil 2 Von den 88 gezählten Titeln mit Erscheinungsdatum vor 1701 der Abteilung ‚Geschichte‘ – ausgenommen sind die Schenkungen von Deycks und Voss – sind 26 neu eingebunden.58 Ein Ergebnis, welches für das praxeologische Vorhaben problematisch ist: Es lassen sich nämlich nur ungenaue Aussagen zum ursprünglichen Format machen, weshalb ich im Rahmen dieses Aufsatzes darauf verzichte.59 Und dennoch, trotz dieser grundlegenden Problematik, lassen sich punktuell mögliche Rezeptionspraktiken und Unterrichtsinhalte der Jesuiten rekonstruieren. Nämlich dann, wenn man den Blick auf andere Lehrfächer ausdehnt, wenn man sich nicht an die jüngsten Kategorisierungen und Katalogisierungen der Bibliothek hält. Die Hauptziele jesuitischer Bildung waren nach den Consuetudines provinciae Rheni inferioris von 1628 „Lateinschreiben und -sprechen, Gewandtheit in der Logik und Rhetorik“.60 Gemäß der ratio studiorum aus dem Jahre 1599 wurde Geschichte dabei „als eine Quelle für die eruditio“61 angesehen. So sollten beispiels-

56 Gemeint ist A 428: Orazio Torsellini: Epitome Historiarum. Utrecht 1710. Zur Verbreitung dieses Werkes vgl. Uwe Neddermeyer: „Das katholische Geschichtslehrbuch des 17. Jahrhunderts: Orazio Torsellinis Epitome Historiarum“, in: Historisches Jahrbuch 108 (1988), S. 469– 483. 57 Vgl. Georg Michael Pachtler: Ratio Studiorum et Institutiones Scholasticae Societas Jesu per Germaniam olim vigentes. Vol. IV. Berlin 1894, bes. S. 19–29 (Der Catalogus perpetuus der rheinischen Provinz) und 105–107 (Der Geschichtsunterricht am Gymnasium). 58 Es handelt sich um Einbände aus dem 20. Jahrhundert, die vermutlich bei irgendeiner Inventur oder einem Umzug als restaurationsbedürftig aufgefallen sind. Ob dies aufgrund ihrer (Nicht)Benutzung notwendig wurde, ist bislang unklar. 59 Vgl. Ries: „Grundriss zur bibliographischen Behandlung“, S. 107. 60 Gustav Kniffler: Das Jesuiten-Gymnasium zu Düsseldorf. Ein Beitrag zur Geschichte des Königlichen Gymnasiums zu Düsseldorf. Beilage zum Programm des Königlichen Gymnasiums zu Düsseldorf für das Schuljahr 1891–92. Düsseldorf 1892, S. 11. Vgl. auch Pachtler: Ratio Studiorum, S. 25–29. 1626 wurde die rheinische Ordensprovinz in eine ober- und niederrheinische Ordensprovinz geteilt. 61 Pachtler: Ratio studiorum, S.105.

312

Kristina Hartfiel

weise bei der Lektüre klassischer Autoren die Geschichte und ihre Hilfswissenschaften berücksichtigt werden.62 Neben den zwei Büchern der historischen Abteilung stammen die restlichen elf erhaltenen und bislang im Görres-Gymnasium aufgefundenen Exemplare des Düsseldorfer Jesuitenkollegs allesamt aus der Abteilung ‚lateinische Schriftsteller‘, darunter auch klassische Historiker wie Tacitus oder Titus Livius.63 „Wegen der Bedeutung der Geschichte und einer gewissen Großartigkeit der Redeweise (des Stils) … hat Livius an erster Stelle gelesen zu werden“, heißt es frei übersetzt unter De Historicis im Abschnitt De Studio Humanioribus im zweiten überlieferten Archivband des Düsseldorfer Kollegs.64 Das passt zum Material: Insbesondere die Textausgabe des Titus Livius von 1531 ist mit zahlreichen handschriftlichen Bemerkungen am Rand versehen. Haben sich hier der Vorleser bei den Mahlzeiten oder der Rhetoriklehrer in der Klasse Notizen gemacht, was den Brüdern/den Schülern vorgetragen werden soll? Und das trotz – oder vielleicht auch wegen – der Größe der Bücher? Von den elf Exemplaren aus Stichproben bei den lateinischen Klassikern übersteigen sieben Exemplare das Maß von 30x20 cm.65 Was auch in Düsseldorf für eine Verwendung der Bücher vor Ort spricht. Abschließend noch ein Blick ins 18. Jahrhundert: Der Jesuit Maximilian Dufrène verfasste 1727, wohl im Auftrage der oberdeutschen Provinz, seine Rudimenta Historica für den Unterricht der Geschichte an Gymnasien.66 Das handliche Werk ist in Düsseldorf in einer Ausgabe von 1780 vorhanden, allerdings ohne jeglichen Hinweis auf seinen Einsatz im Unterricht. Einzig der Einband lässt Nutzungsspuren erkennen. Und zwar wieder einmal von Antonius Ignatius Deicks, womit sich der Kreis meiner Ausführungen schließt.

62 Grundlegend dazu David Brader: „Die Entwicklung des Geschichtsunterrichts an den Jesuitenschulen Deutschlands und Oesterreichs (1540– 1774). Eine historisch-pädagogische Studie“, in: Historisches Jahrbuch 31 (1910), S. 728–759, hier: 740–742. Vgl. auch die Arbeiten von Paul Nelles, z.B.: „Historia magistra antiquitatis: Cicero and Jesuit history teaching“, in: Renaissance Studies 13,2 (1999), S. 130–172. 63 Vgl. Anhang b), Nr. 1–11. 64 Landesarchiv NRW Duisburg Handschriften Nr. Q 1 Bd. II: Archivii Collegii Societatis Iesu Dusseldorpii Tomus Secundus continet libros quatuor posteriores, S. 170 (im Abschnitt: De Studio Humanioribus Institutio R[everendi] P[atri] Provincialis in congregatione provinciali a[nn]o 1619): „De Historicis breviter adiungo, Caesarem inter illos non censeri, sed esse legendum eodem modo quo epistolae Ciceronis. Historici ergo Principes sunt Salustius et Livius, quos legendi modum disces ex Iacobi Pontani dialogo lit. Livium propter magnitudem historiae et quandam orationis granditatem imitatu faciliorem existimarem priori loco esse legendum. Sed vincit illum Salustius prudentiam, Orationis brevitate, et celeritate, quas virtutes, ne ipse quidem Livius assequi potuit. Cavenda tamen fierit multa antiqua in Salustio, quorum indicem praebet editio illa puteana.“ Im Landesarchiv NRW sind unter der Signatur 120.57.00 (Bestand: Düsseldorf, Jesuiten) zwei Foliobände über das Düsseldorfer Kolleg verzeichnet, die allerdings nicht die speziellen, sondern nur die allgemeinen Vorschriften für die Schule behandeln. Viele Seiten der Bände sind darüber hinaus unbeschrieben. Vgl. dazu Kniffler: Jesuiten-Gymnasium, S. 11. 65 Vgl. Anhang b). 66 Pachtler: Ratio Studiorum, S. 112–116.

Präsenz und Materialität von (Geschichts-)Unterricht

313

4. BIBLIOTHEKS-ANTHROPOLOGIE (?!) – HISTORISCHE SCHULBIBLIOTHEKEN AUS PRAXEOLOGISCHER SICHT Versteht man an Schulen angegliederte Bibliotheken als zentrale Infrastrukturen des vermittelten Wissens, kommt ihnen eine zentrale Funktion bei der Wissensgenerierung und -speicherung zu. Allerdings muss – und das sollte dieser Aufsatz zunächst zeigen – erst einmal ausgelotet werden, welche Funktionen diese Bibliotheken überhaupt besaßen. Durch welche Akteure wird die schuleigene Bibliothek zu einem Raum im Sinne Michel de Certeaus, also zu einem Ort, „mit dem man etwas macht“67? Wer benutzte die dortigen Bücher als didaktisches Hilfsmittel bzw. konnte sie als solches benutzen? Ich habe versucht, diese Frage im Sinne einer ‚Bibliotheks-Anthropologie‘, die „das menschliche Handeln selbst in den Blickpunkt“68 nimmt, zu beantworten und dabei vor allem die Relevanz der materiellen Eigenschaften der Buch-Objekte für die hervorgebrachten Praktiken betont. Dabei konnte ich zeigen, dass das vorhandene Material samt seiner Formate gängige Wissensmuster über das frühneuzeitliche Unterrichtsgeschehen unterstreicht. Jedoch mit der Betonung, dass ein guter Erhaltungszustand zwangsläufig nicht als Beleg für die Nicht-Verwendung eines Werkes herangezogen werden kann. Die vorliegenden Daten spiegeln damit lediglich ein Muster wider. Um Signifikanz beanspruchen zu können, müssten künftig flächendeckender die Gesamtbestände von (Schul-)Bibliotheken vergleichend ausgewertet werden. Denn auch das ließ sich zeigen: Die modernen Kategorisierungen führen eine rein praxeologische Perspektive auf historische Unterrichtsmedien an ihre Grenzen. Das frühneuzeitliche Klassenzimmer war eben kein hortus conclusus, wie es schon Anthony Grafton auf den Punkt brachte.69 Darüber hinaus muss – wie das Beispiel der ehemaligen Düsseldorfer Jesuitenbibliothek gezeigt hat – der ‚Bücherumlauf‘, quasi die Zirkulation der Objekte, mitbedacht werden. Deshalb sind – wie bereits einzelne Studien gezeigt haben – exemplarische, multiperspektivische Detailanalysen zu handschriftlichen Hinterlassenschaften in möglichen Unterrichtsmedien notwendig. Manche Einschreibe-Praktiken werden sich jedoch nie rekonstruieren lassen, da insbesondere die Namen von denjenigen fehlen, die diese Einträge geschrieben haben. Die Möglichkeiten einer praxeologischen Herangehensweise an frühneuzeitliche Buchbestände liegen vor allem darin, Wahrscheinlichkeiten zu stärken.

67 Certeau: Kunst des Handelns, S. 218. 68 Hilgert: „Text-Anthropologie“, S. 93. Vgl. grundsätzlich zu dieser Thematik auch die anregende Studie von Nadezda Shevchenko: Eine historische Anthropologie des Buches. Bücher in der preußischen Herzogsfamilie zur Zeit der Reformation. Göttingen 2007. 69 Vgl. Grafton: „Textbook and the disciplines“, S. 15.

314

Kristina Hartfiel

5. ANHANG a) Die elf ausgemachten Werke mit Gebrauchsspuren in der Nürnberger Gymnasialbibliothek Nr.

Signatur(en)

Autor

(Kurz-)Titelei

Größe

Individualbeschreibung

1

637 Schola Aegidiana

Enea Silvio Piccolomini

Epistolae et varii tractatus …. O.O. 1496.

32x21,5x5

Hss. Einträge wie Kolorierungen und Marginalien am Textrand

2

652 Schola Xenodochiana

Johannes Sleidan

31,5x21,1x7,0

Hss. Marginalien am Textrand Simon Bornmeister 1665

3

652 Schola Aegidiana

Johannes Sleidan

19,5x12,1x5,5

Unterstreichungen im Text; Besitzeintrag auf dem Titelblatt: Hieron. Hylandi?

4

691 Schola Xenodochiana

Henricus Philippi

De Statu Religionis et Reipublicae, Carolo Quinto, Caesare, Commentarii. O.O. 1555. Commentariorum de Statu Religionis & Reipublicae, Carolo Quinto Caesare, Libri XXVI. Argentorati o.J.. Generalis Synopsis Sacrorum Temporum …, Coloniae 1614.

19,0x15,5x3,0

Hss. Einträge im Einband und im Text angebunden an: Simon Bornmeister: Caesareologia metrica …. Noribergae 1666.

5

745 Schola Sebaldina

John Foxe

Rerum in Ecclesia Gestarum … Commentarii. Basilae 1559.

31,5x21,5x6,0

Hss. Eintrag im Einband: In usum … Schola Sebaldina …; Unterstreichungen im Text

6

753 Schola Aegidiana

Louis Maimbourg

14,0x8,2x3,5

Hss. Einträge im Einband

7

756 Schola Aegidiana

Paolo Sarpi

20,5x16,5x9,0

Hss. Eintrag im Einband Tintensprenkel im Text

8

787 Schola Aegidiana

Samuel Pufendorf

Histoire du Calvinisme. Paris 1682. Historia Concilii Tridentini …. Lipsiae 1699. De Jure Naturae et Gentium …. Lund? 1672.

21,5x18,0x8,0

9

844 Schola Sebaldina

Procopius

Hss. Einträge im Einband; Unterstreichungen im Text; Vorsatzblatt mit dem Hinweis, dass Georg Friedrich Pömer 1724 das Buch dem Gymnasium geschenkt habe Hss. Einträge und Unterstreichungen im Text

10

869 Schola Aegidiana

Melchior Goldast

11

888 (Schola Aegidiana)

Paul Eber

Iustiniani Augusti Historia …. Lugduni 1594. Politische Reichs=Händel …. Franckfurt am Mayn 1614. Calendarium Historicum Conscriptum …. Vitebergae 1573

14,5x9,5x6,7 34,5x21,8x7,2

Hss. Einträge und Unterstreichungen im Text

21,0x15,5x5,5

Hss. Einträge im Text zwei weitere Titel sind angebunden

Präsenz und Materialität von (Geschichts-)Unterricht

315

b) Die Werke jesuitischer Provenienz in der historischen Bibliothek des Görres-Gymnasiums Düsseldorf Nr.

Signatur(en)

Autor

(Kurz-)Titelei

Werke aus der Bibliothek des Jesuitenkollegs Düsseldorf Systematische Abteilung ‚Lateinische Schriftsteller‘ 1 IV 2a 38 (aktuell) Horaz Opera Q. Horatii E 22 (alt) Flacci Venusini …, Basileae 1555. 2 IV 2a 166 (aktuell) Ovid Metamorphosis E 38 (alt) …, Paris 1510. 3

IV 2a 167 (aktuell) E 184 (alt)

Ovid

4

IV 2a 349 (aktuell) E 60 (alt)

Lambertus Hortensius

5

IV 2b 265 (aktuell) E 32 (alt)

Titus Livius

6

IV 2b 333 (aktuell) E 49 (alt)

7

Größe

Individualbeschreibung

29,0x21,0x7,7

Hss. Eintrag auf Titelblatt: Collegii Societatis Jesu Dusseldorpii 1629

28,6x22,0x6,5

Hss. Eintrag auf Titelblatt: Collegii Societatis Iesu Dusseldorpii 1623 Hss. Jesuitenmonogramm auf Titelblatt zahlreiche hss. Marginalien Hss. Eintrag auf Titelblatt: Societatis Iesu Dusseldorpii ex Donatione …

Metamorphoses …, Coloniae 1542. Enarrationes doctiss. atque utiliss. in XII. libros P. Virgilii Maronis Aeneido …, Basileae 1577. T. Livii Patavini Latinae Historiae Principis …, Basileae 1531.

16,0x10,5x4,5

Quintilian

Oratoriarum institutionum libri duodecim …, Coloniae 1527.

32,0x20,5x4,3

IV 2b 364 (aktuell) E 51 (alt)

Seneca

Lucubrationes omnes …, Basileae 1515.

31,0x22,0x6,5

8

IV 2b 386 (aktuell) E 54 (alt)

Tacitus

Opera quae exstant …, Antverpiae 1607.

39x25x6,7

9

IV 2b 430 (aktuell) E 114 (alt)

Tacitus

Der Römischen Keyser Historien …, Meyntz 1535.

31,0x19,4x6,1

10

IV 2b 468 (aktuell) E 63 (alt)

Sueton

33,0x23,0x6,5

11

IV 2b 508 (aktuell) keine Altbestandssignatur ?

Justus Lipsius

Vitae Caesarum …, Basileae 1546. Iusti Lipsi Sapientiae et litterarvm antistitis fama postuma …,

33,2x21,5x7,5

36,0x25,0x7,4

28,0x18,5x6,5

Hss. Eintrag auf Titelblatt: Societatis IESU Dusseldorpii 1621 angebunden: Chronologia des Henricus Glareanus, 1531 zahlreiche hss. Marginalien; verschiedene Schreiber Hss. Eintrag auf Titelblatt: Ex testamento … Collegii Societatis Jesu Dusseldorpii a. 1671 hss. Unterstreichungen und Marginalien Hss. Eintrag auf Titelblatt: Societatis IESV Dussel: 1622 dono. Das Werk ist regelrecht durchgearbeitet Hss. Eintrag auf Titelblatt: Societatis Jesu Dusseldorpii 1629. enthält: Commentarii aucti emendatique …. Acc. C. Velleius Paterculus cum eiusdem Lipsii auctoribus notis durchgestrichener hss. Eintrag auf Titelblatt und letzter Seite: Liber Societatis wenige Unterstreichungen im Text Hss. Eintrag auf Titelblatt: Collegii Soc. Iesu Dusseldorpii 1647. Hss. Eintrag auf Titelblatt: Collegii Societas Jesu Dusseldorpii 1626

316 Nr.

Kristina Hartfiel Signatur(en)

Autor

(Kurz-)Titelei

Größe

Individualbeschreibung

17,2x10,6x4,0

durchgestrichener hss. Eintrag auf Titelblatt: Societatis Jesu Dusseldorpii A. 1644. Sammlung Deycks

16,0x9,2x3,5

durchgestrichener hss. Eintrag auf Titelblatt: Collegii Societatis Jesu Dusseldorpii Sammlung Deycks

33,0x22,2x9,0

Hss. Eintrag auf Titelbaltt: Collegii Societ. Jesu Ratisbona 1606 Sammlung Deycks Hss. Eintrag auf Titelblatt: Societatis Jesu Essondia

Antverpiae 1613. Systematische Abteilung ‚Geschichte‘ 12 XIX 1d 45 Paolo Giovio keine Altbestandssignatur

13

XIX 2h 84 keine Altbestandssignatur

Galeazzo Gualdo Priorato

Pauli Iovii Novocomensis episcopi nucerini historiarum sui temporis …, Basileae 1567. Histoire du Ministre du Cardinal Mazarin …, Paris 1672.

Werke jesuitischer Provenienz aus anderen Städten 14 IV 2a 311 Vergil Opera omnia keine …, Venetiis Altbestandssignatur 1552. 15

IV 2b 245 (aktuell) keine Altbestandssignatur

Sophronius Eusebius Hieronymus

16

XIX 2d 383 (aktuell) A 63 (alt)

Johann Pistorius

Epistolae Hieronymi Stridonensis …, Dilingae 1562. Rerum Germanicarum veteres iam primum publicati scriptores VI …, Francofurti 1607.

16,0x10,0x5,5

36,0x22,0x10,0

Hss. Eintrag auf Titelblatt: Societatis Jesu Novaesii?

PERSONENREGISTER Hinweis: Es werden nur die im Haupttext erwähnten Personen nachgewiesen Äsop 286 Agesilaos II., König von Sparta 232f. Agis III., König von Sparta 236 Agricola, Rudolf 160 Alexander I., Papst 129 Albrecht VII., Erzherzog von Österreich 56 Albrecht von Hanau-Münzenberg 283, 293 Albrecht Wenzel Eusebius von Waldstein, gen. Wallenstein 292 Anaklet, Papst 129 Andreae, Jakob 263 Anna Sophia von Schwarzburg-Rudolstadt 185 Ariès, Philippe 22f. Aristoteles 81–83, 91f., 99, 102, 107f. Arnold III., Graf von Bentheim-Tecklenburg-Steinfurt 58 August der Jüngere, Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel 12 August d. J., Herzog von Sachsen-Weißenfels 164, 201f., 203, 208, 212 Augustinus, Aurelius 97 Bal, Karol 108 Barthen, Jacob von 164 Bayle, Pierre 107 Becher, Johann Joachim 34 Berckelmann, Theodor 272, 275f. Berlepsch, Hans Sittich von 275 Bernegger, Matthias 224 Binkert, Tobias 16f., 279–295 Boleyn, Anne 126, 133f., 143 Bora, Katharina von 142, 144 Borgia (Götzenberger), Franz 123 Bornmeister, Simon 308f., 314 Brumleve, Konrad 64 Bugenhagen, Johannes 168 Burchard, Franz 149 Bühler, Karl 178–180 Büren, Maximilian von 54 Calvin, Johannes 71 Camerarius, Joachim 154 Canisius, Petrus 46 Castellio, Sebastian 108

Castiglione, Baldassare 227f. Caesar, Gaius Iulius 119, 245 Cellarius, Christoph 120, 122, 135f., 138– 141, 144 Certeaus, Michel de 313 Châtel, Jean 141 Chemnitz, Martin 263 Childerich III., König des Fränkischen Reichs 125, 130, 133 Chotěřina, Matthaeus von 44 Christian, Herzog von Sachsen-Merseburg 205 Chyträus, David 46, 48, 162 Cicero, Marcus Tullius 69–71, 220, 286 Clemens von Alexandrien 101 Clemens XIV., Papst 144 Clément, Jacques 140 Codicillus, Petrus 47 Comenius, Johann Amos 25, 69, 71, 191, 200 Cordier, Mathurin 69, 71 Crell, Johann, Ps. Cirellus 89–91, 107–115 Curtius Rufus, Quintus 119 Cyrus II., König von Persien 138 Damaskus, Johannes von 160 Danaeus, Lambertus 92f. Daugirdas, Kęstutis 106 Deicks, Antonius Ignatius 297f., 312 Deycks, Ferdinand 309–311, 316 Dilherr, Johann Michael 224 Dorothea Maria von Anhalt 183 Dufrène, Maximilian 121–124, 132, 135f., 138,141–144, 312 Eber, Paul 314 Ehrenpreis, Stefan 11, 13f., 19–37, 76, 79, 190 Eickmeyer, Jost 16, 213–258 Elisabeth I., Königin von England 126, 134, 139, 143 Erasmus von Rotterdam 70, 160 Ernst I., gen. der Fromme, Herzog von Sachsen-Gotha 16, 26, 34, 87, 167–171, 183f., 186–189, 191–194, 197, 200, 203–

318

Personenregister

205, 210f. Eusebius, Bischof von Nikomedia 125 Evenius, Sigismund 26 Fabricius, Georg Andreas 86, 88, 103–105 Flacius Illyricus, Matthias 162 Fock, Otto 90, 106 Fols, Adam 293 Foxe, John 314 Francke, August Hermann 34, 182 Franz von Sales 297 Freytag, Christine 7–17, 167–188 Friedrich I., Graf von Löwenstein-Wertheim 285, 293 Friedrich I., Herzog von Sachsen-GothaAltenburg 201, 204 Friedrich II., römisch-deutscher Kaiser 131 Friedrich III., Kurfürst von Sachsen 147 Friedrich Heinrich von Nassau-Oranien 54 Frommann, Andreas 86, 88, 102f. Galen, Bernhard von 54 Garnet, Henry 126, 143f. Gauger-Lange, Maike 16, 259–278 Giovio, Paolo 309, 316 Glaß, Salomon 188, 197 Goldast, Melchior 314 Gracián, Baltasar 228, 253 Gregor VII. (Hildebrand), Papst 125f., 130, 136f., 143 Gregor IX., Papst 131 Gregor XIII., Papst 134, 140 Gruhl, Reinhard 16, 213–258 Gualdo Priorato, Galeazo 309, 316 Guazzo, Stefano 227f. Gustav II. Adolf, König von Schweden 236 Gutberleth, Heinrich 70 Haersholte, Willem van 57 Harsdörffer, Georg Philipp 16, 213–215, 223–229, 234–253, 255–258 Hartfelder, Karl 152 Hartfiel, Kristina 17, 297–316 Havenreuter, Johann Ludwig 293f. Heiden, Sebastian 69 Heine, Rudolf 171 Heinrich II. (der Jüngere), Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel 262 Heinrich III., König von Frankreich 140 Heinrich IV., deutscher Kaiser 125, 130, 133, 135–137 Heinrich IV., König von Navarra und Frankreich 117, 125, 127, 135, 140–142 Heinrich V., römisch-deutscher Kaiser 133

Heinrich VIII., König von England 117, 126, 133f., 138f., 143 Heinrich Julius, Herzog von BraunschweigLüneburg (Wolfenbüttel) 261f., 264, 268, 271f. Heinrich Truchsess von Waldburg-Wolfegg 283, 294 Hendrik, Wilhelm 73 Herbart, Johann Friedrich 177 Hermann, Ulrich 193 Hertzheimer, Johann Jordan 148 Heshusen, Tilmann 162 Hieronymus, Sophronius Eusebius 97, 316 Holý, Martin 14, 39–51 Horaz 70, 315 Horneius, Konrad 12 Hortensius, Lambertus 315 Hübner, Johann 120, 122, 135–141, 143 Jacobi, Juliane 11 Jacobsen, Roswitha 203 Jakob Karl von Waldburg-Wolfegg 283, 293 James I., König von England 127 Joachim Ernst, Fürst von Anhalt 11 Johann, Kurfürst von Sachsen 147 Johann VI., Graf von Nassau-Dillenburg 282f., 292 Johann Dietrich von Löwenstein-Wertheim 285 Johann Georg I., Kurfürst von Sachsen 198– 200 Johann Georg II., Kurfürst von Sachsen 205f. Johann, Herzog von Sachsen-Weimar 183 Johannes A Sancto Thoma (Jean Poiset) 81 Johannes von Waldburg-Wolfegg 283 Joseph I., König von Portugal 124 Jouvancy, Joseph de 120 Julius, Herzog von Braunschweig-Lüneburg (Wolfenbüttel) 260–262, 268, 270f., 274–276 Junius, Hadrianus 69 Junius, Melchior 296 Justinus, Marcus Iunianus 119 Karl V., römisch-deutscher Kaiser 54 Karl VI., römisch-deutscher Kaiser 142 Karl der Große, König des fränkischen Reichs 54, 117, 125, 129, 137 Katharina von Aragon, Königin von England 126, 133 Keckermann, Bartholomäus 84, 88, 93, 95, 98f., 104 Kempen, Thomas von 62

Personenregister Koch, Johannes 148, 153f. Koch, Katharina 154 Koch, Ludwig 146, 152 Konrad II., römisch-deutscher Kaiser 132 Konrad Karl, Graf von Tecklenburg 54 Konstantin der Große, römischer Kaiser 117, 124f., 128f., 131f., 136, 143 Krapp, Hans 148 Krapp, Katharina 148 Kromayer, Johannes 170f., 181, 183, 186 Kuropka, Nicole 152

Melanchthon, Anna 153 Melanchthon, Philipp 15, 17, 20, 82, 91, 100, 145–165, 168, 181, 300, 302 Melis, Julius 274f. Menius, Justus 153 Morhof, Daniel Georg 253 Moritz, Herzog von Sachsen-Zeitz 202, 204–207 Moritz von Oranien 54–56 Morscovius, Petrus 107f. Musolff, Hans-Ulrich 11

Lanckhorst, Lambertus 64 Languet, Hubert 164 Latermann, Johann 194f. Lavater, Johann Rudolf 85 Le Cam, Jean-Luc 11f. Lengerich, Ham zu 58 Leo III., Papst 137 Leopold V., Erzherzog von Österreich-Tirol 218 Leuschner, Martin 86 Lipsius, Justus 98, 108, 315 Livius, Titus 119, 312, 315 Locke, John 107 Locman 245 Longicampianus, Johannes 149 Löber, Christoph Heinrich 196 Ludwig III., Graf von Löwenstein-Wertheim 293f. Ludwig XV., König von Frankreich 124 Luther, Martin 20f, 46, 54, 80, 88, 93, 97, 114, 142f., 145, 147, 149, 153, 158f., 163, 165, 168, 170f., 183, 197f., 265

Nagel, Jens 15, 117–144 Nahum, Jodocus 294 Nepos, Cornelius 70f. Newton, Isaac 107 Nopp, Hieronymus 46

Maimbourg, Louis 314 Malsius, Peter 273–275 Marcellus I., Papst 128 Maria I., Königin von England 126, 134, 139 Maria Amalia, Kurfürstin von Bayern 122 Mariana, Juan de 140 Martell, Karl, König der Franken 133 Masen, Jakob 16, 213–221, 223–225, 227, 229–234, 242, 247–253, 255–258 Massetus, Gerhard 128–131 Maupas (du Tour), Henri de 297 Maurer, Wilhelm 148f., 152 Maxentius, Marcus Aurelius Valerius, römischer Kaiser 128 Mazarin, Jules 309 Medices, Catharina; Königin von Frankreich 239 Meisner, Balthasar 100, 103f.

319

Omeis, Magnus Daniel 253 Ottens, Andrea 14, 53–76 Ovid 70, 315 Pahner, Richard 202 Pasor, Georg 70 Pegeús, Quirinus 250, 253 Pfeffinger, Degenhart 148 Phaedrus 70f. Philipp Ludwig II., Graf von HanauMünzenberg 283f., 293 Philippi, Henricus 314 Piccolomini, Enea Silvio 314 Pippin III., König der Franken 125, 129f., 133, 136f., 143 Piscator, Johannes 290, 293 Pistorius, Johann 316 Platon 99, 178 Plutarch 225, 231, 236 Pohlig, Matthias 130f. Pola, Francesco 251 Pontanus, Henricus 15, 53, 55, 63, 73, 76 Pontanus, Jacobus 217f., 220, 228 Prange, Klaus 175–177 Precht, Johannes Konrad 291 Probstinck, Johannes 64 Procopius, Caesariensis 314 Pufendorf, Samuel 34, 135, 314 Quintilianus, Marcus Fabius 244, 315 Ratke, Wolfgang 16, 26, 87, 167, 183–186, 188 Ravaillac, François 127, 141 Reuchlin, Johannes 153 Reusner, Elias 227

320

Personenregister

Reyher, Andreas 26, 34, 87, 172, 188, 200 Rotth, Albert Christian 253 Rudolph I., römisch-deutscher Kaiser 136 Runge, Jacob 162 Rutz, Andreas 56 Sabinus, Georg 153 Salatowsky, Sascha 7–17, 77–116 Sallust 119 Sarbievius, Matthias Casimirus 253 Sarpi, Paolo 305, 314 Schefter, Zacharias 85f., 101 Scheiner, Paul 201 Scheurl, Christoph 148 Schnabel, Werner 169 Schnepf, Eberhard 163 Schrader, Johannes Wilhelm 64 Schriever, Ludwig 56, 59f. Schrödter, Tobias 253 Seneca, Lucius Annaeus 99, 315 Sibylla, Magdalena 201 Silberborner, Heinrich 154 Silberborner, Johannes 154 Simmler, Georg 153 Sixtus V., Papst 140 Sleidan, Johannes 70, 120–122, 127–131, 133, 136, 138, 306, 314 Sonntag, Corinna 15, 145–165 Sozzini, Fausto 89 Spalatin, Georg 148f. Spengler, Adam 87f., 101 Steenbergen 58, 64 Strigel, Viktorin 163 Sturm, Johannes 217 Sueton Tranquillus, Gaius 315 Supf, Johann Friedrich 33–36 Sünkel, Wolfgang 175 Sylvester I., Papst 132

Tacitus, Publius Cornelius 312, 315 Terenz 70 Thomasius 34 Timpler, Clemens 83, 85, 88, 91–99, 103f. Töpfer, Thomas 16, 189–211 Tollius, Herman 64 Torsellini, Orazio 121, 132–135, 138f., 311 Trotzendorf, Valentin 42 Tucher, Johann 148 Ungerer, Johannes 153 Urban II., Papst 126 Valla, Laurentius 124 Veit Ludwig von Seckendorff 16, 189, 191, 193, 195, 197, 199–209, 211 Vergil 70f., 316 Vermigli, Peter Martyr 91f. Vincentius, Petrus 42 Vogel, David 91, 113f. Voss, Abraham 309, 311 Weidner, Johann Leonhard 224f., 236 Welser, Sebald 302, 306f. Wendelin, Markus Friedrich 82f. Wilhelm III. von Nassau-Oranien 15, 53–55, 63, 65f., 73f., 76 Wolfgang Ernst von Löwenstein-Wertheim 285, 293 Xenophanes 241 Zacharias, Papst 125, 133, 137 Zincgrefs, Julius Wilhelm 224f., 229, 236f., 253 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig von, Graf 34

Die Erforschung der frühneuzeitlichen Bildungsgeschichte hat in den letzten Jahren ein neues Profil gewonnen. Vor allem dem 16. und 17. Jahrhundert werden hierbei in der Entwicklung und Umgestaltung des Schul- und Bildungswesens eine besondere Bedeutung zugeschrieben. Die Autorinnen und Autoren greifen diese Thematik und diesen Zeitraum in ihren Beiträgen auf und stellen konfessionelle Aspekte frühneuzeitlicher Bildung, reformpädagogische Elemente im Schul- und Bildungssystem sowie insti-

tutionelle Einbindungen von Schulen in das obrigkeitliche Verwaltungssystem im deutschsprachigen Raum vor. Neben Erziehungs- und Bildungskonzepten rücken aber auch die sozialen und politischen sowie epistemischen Kontexte der Erziehungs-, Bildungs- und Schulgeschichte in den Blick. So werden neben lutherischen, reformierten und katholischen Bildungssystemen auch strukturelle, methodische und inhaltliche Übereinstimmungen sowie Unterschiede im Schul- und Bildungswesen aufgezeigt.

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ISBN 978-3-515-12010-4

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7835 1 5 1 20 1 04