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German Pages 200 [201] Year 1974
Ursula Münchow
Frühe deutsche Arbeiterautobiographie
Literatur und Gesellschaft Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der D D R Zentralinstitut für Literaturgeschichte
Ursula Münchow
Frühe deutsche Arbeiterautobiographie
Akademie-Verlag • Berlin 1973
Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Straße 3—4 Copyright 1973 by Akademie-Verlag, Berlin Lizenznummer: 202 • 100/207/73 Herstellung: IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 445 Gräfenhainichen/DDR • 4134 Bestellnummer: 752102 2(2150/17) • LSV 8025 Printed in G D R E V P 6,50
Inhalt
Vorstellung des Gegenstandes gische Einleitung
Historisch-methodolo-
Die frühe deutsche Arbeiterautobiographie als herausragende literarhistorische Erscheinung nach 1900 . . . Die proletarische Selbstdarstellung im Rahmen der frühen sozialistischen Literatur Zur Entstehungsgeschichte
7 10 12 18
Die erste bahnbrechende Arbeiterautobiographie und einige ihrer Nachahmungen Unter dem Einfluß der Sozialdemokratie Die repräsentative Autobiographie des sozialdemokratischen Politikers Schriftstellerautobiographien Erste aus der Sozialdemokratie hervorgegangene autobiographische Romane
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Einiges zum Stellenwert in der Geschichte des Genres . .
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Vergleichsmöglichkeiten mit der frühbürgerlichen Autobiographie Autobiographie als Volksliteratur Bezug auf Rousseau und Goethe - Hinwendung zum Geschichtsdenken Dokumentation und Erzählung
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Der Gegenstand der Dokumentation Eisenbahnbau Die Abraumaken 5
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Qualifizierte Saisonarbeit Fabrikarbeit Die ErzählweLse der Arbeiterautobiographen . . . . Der Erzähler Franz Rehbein Gestaltung des Menschenbildes
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Die „gute Kinderstube" des Proletariats Schule gegen Militarismus und Krieg Arbeitsplatz und Arbeiterporträts Bewußtsein von der Veränderbarkeit der Welt . . . . Die Forderung nach Veränderung wird geweckt . . . Auf dem Wege zum offenen Widerstand Wie die neue, sozialistische Welt aussehen soll . . . .
101 120 130 154 155 164 181
Anmerkungen
189
Personenregister
198
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Vorstellung des Gegenstandes Historisch-methodologische Einleitung
Proletarische Erinnerungswerke, unlösbar mit der Geschichte der Arbeiterbewegung verbunden, haben durch ihren authentischen Charakter großen dokumentarischen Wert. Sie sind unerschöpfliche Quellen des politischen und ökonomischen Emanzipationskampfes der Arbeiterklasse und mehr als das: lebensvolle Monumente der sozialistischen Menschwerdung, geschaffen ohne Illusionen und doch voller Optimismus, von einer Wirklichkeitsbesessenheit, die jenen neuen Realismus entwickelt, der die sozialistische Literatur kennzeichnet. Die ersten, der Errichtung einer neuen gesellschaftlichen Ordnung gewidmeten, umfangreicheren proletarischen Lebenserinnerungen in Frankreich sind die Autobiographien der Kommunarden Jourde, Vallès und Bauer. 1 Sie waren vorwiegend als historische Publikation gedacht und nicht so sehr als Selbstdarstellung der Persönlichkeit. Der erfahrene Journalist Vallès wählte die Form der Biographie nur notgedrungen, zur Tarnung seiner Sozialrevolutionären, politischen Absicht, um Zensur und Verfolgung entgegenzuwirken.2 Der erste englische proletarische Roman, Robert Tressells Bauarbeiterroman The Ragged Trousered Philantropists (Die Menschenfreunde in zerlumpten Hosen, deutsche vollständige Fassung 1958), ist in Form einer Autobiographie geschrieben. Tressell, der selbst Bauarbeiter war, beschreibt am Beispiel des Innenausbaus eines Hauses das Leben von Bauarbeitern. Dies Buch entstand wenige Jahre vor dem ersten imperialistischen Weltkrieg und hat ein hohes ideologisches Niveau: Es erfaßt neben den kapitalistischen Ausbeutungsverhältnissen zugleich die historische Mission der Arbeiterklasse.3* In England hat die proletarische Autobiographie eine alte 7
Tradition; sie geht auf frühe proletarische und vorproletarische Zeiten bis ins 17. Jahrhundert zurück; Schon der Autor von The Pilgrim's Progress front This World to That Which Is to Come, der der Levellerbewegung angehörende Kesselflicker und revolutionäre Wanderprediger John Bunyan (1628-1688), bediente sich mit seiner gegen Adel und Bürgertum gerichteten Kritik der autobiographischen Form. Seit der Chartistenbewegung fungierte im 19. Jahrhundert die proletarische Lebensbeschreibung immer mehr als Agitationsmaterial. Sie wurde im Feuilleton von Gewerkschaftszeitungen und manchmal auch in dem radikaler bürgerlicher Blätter gedruckt. Im 20. Jahrhundert erschienen auch Memoiren englischer Arbeiterführer wie Tom Mann, Bronter O'Brien oder William Gallacher, der noch Lenin gekannt hatte und über ,die Zeit vor 1917 berichtet.4* Im zaristischen Rußland, wo die Arbeiterklasse relativ spät aktiv wurde, findet man erst nach der bürgerlichen Revolution von 1905 proletarische Selbstzeugnisse, die in der Autobiographie Maxim Gorkis ihren Höhepunkt erreichten. Auf sie und einige andere russische Werke wird im Zusammenhang mit den frühen deutschen Arbeiterautobiographien dieser Jahre noch eingegangen werden. In Deutschland hatte August Bebel in den 80er Jahren den Plan gefaßt, eine mit seinem Wirken als Arbeiterführer und sozialdemokratischer Parlamentarier verbundene Geschichte der SPD zu schreiben. Er begann damit erst nach 1890, war aber auch dann noch zu sehr von seiner politischen Tätigkeit beansprucht, so daß diese Arbeit mit seiner Zustimmung Franz Mehring übertragen wurde. Mehring schuf mit der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie ein historisches Standardwerk der deutschen Arbeiterbewegung. Zur gleichen Zeit hat sich besonders Friedrich Engels um die Veröffentlichung von Lebensbeschreibungen bemüht, die den proletarischen Emanzipationskampf veranschaulichen. Er selbst schrieb 1884 biographische Skizzen über Kampfgefährten wie Georg Weerth, Wilhelm Wolff, Johann Philipp Becker und Sigismund Borkheim. Gleichzeitig versuchte er, die Entstehung von Autobiographien * Als Lesehilfe wurden die Ziffern, die sowohl auf Literatur- oder Quellennachweise hindeuten als auch auf Sachanmerkungen, durch einen Stern gekennzeichnet.
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zu fördern, die in erster Linie historische Dokumente der Arbeiterbewegung, aber auch literarische Bilder der Entwicklung sozialistischer Persönlichkeiten sein sollten. So trat er beispielsweise 1886 gegenüber Bebel für die Veröffentlichung autobiographischer Arbeiten von Johann Philipp Becker, dem Organisator der ersten kommunistischen Internationale, ein : „Ich hatte ihn schon seit Jahren aufgefordert, seine Erinnerungen und Erlebnisse niederzuschreiben, und nun sagte er mir, auch von Dir und anderen dazu ermuntert worden zu sein, er selbst habe große Lust dazu, auch schon manchmal angefangen, aber bei fragmentarischen Veröffentlichungen auf wenig wirkliche Aufmunterung gestoßen (so bei der Neuen Welt, der er vor Jahren einige ganz prächtige Sachen geschickt, die aber nicht .novellistisch' genug gefunden wurden, wie ihm Liebknecht durch Motteier schreiben ließ)." 5 Für Engels war Becker eine Heldengestalt der Arbeiterbewegung, er vergleicht ihn mit Volker, dem Fiedler aus dem Nibelungenlied. 6 Eine solche Persönlichkeit den Arbeitermassen nahezubringen und zugleich damit Tatsachen und Informationen über die früheste Kampfzeit des organisierten Proletariats, bezeichnet die politisch-agitatorische und pädagogische Tendenz seiner Bemühungen um proletarische Selbstdarstellungen. Der autobiographischen Gattung wurde eine Perspektive eröffnet: mitzuhelfen an der Beseitigung unzumutbarer Lebensverhältnisse, an der Umgestaltung des Bestehenden, an der Errichtung einer neuen Gesellschaftsordnung durch Klassenkampf. Daß genügend Material für authentische Lebensberichte, vorhanden war, demonstrieren die beiden 1888 und 1889 in der Schweiz erschienenen Bände von Ignaz Auer: Nach zehn Jahren. Material und Glossen zur Geschichte des Sozialistengesetzes. 1. Historisches, 2. Die Opfer des Sozialistengesetzes (in einem Band vereint, neu aufgelegt Nürnberg 1913), die in den statistisch genauen Angaben Stoff für eine Fülle erschütternder proletarischer Lebensläufe enthalten. Doch war die Zeit der Illegalität derart mit operativer Arbeit ausgefüllt, daß noch nicht an eine umfangreiche Memoirenliteratur gedacht werden konnte. Der alte Becker, eine Hünengestalt der Arbeiterbewegung (1809-1886, in Genf gestorben, Bürstenmacher, Veteran der Revolution von 1848, Teilnehmer am süddeutschen Aufstand von 1849, einer der ersten deutschen Kom9
munisten, in der Emigration einer der maßgeblichen Organisatoren der I. Internationale in Genf, enger Freund von Marx und Engels, der in der deutsch-schweizerischen Sektion der Internationale für die Durchführung der Linie des wissenschaftlichen Sozialismus kämpfte), wäre zum Verfasser einer Selbstdarstellung prädestiniert gewesen. Doch waren sich die deutschen sozialdemokratischen Kulturpolitiker im 19. Jahrhundert nicht klar darüber, in welcher Form proletarische Erinnerungen aufgezeichnet werden sollten. Becker hatte seine 1876 in der erst im gleichen Jahr gegründeten sozialdemokratischen Zeitschrift Die Neue Welt erschienenen Lebenserinnerungen, Abgerissene Bilder aus meinem Leben genannt, die, wie aus dem oben erwähnten Brief von Engels an Bebel hervorgeht, als zu wenig novellistisch befunden wurden. Als Gegenbeispiel entstanden für die Geschichte der Arbeiterbewegung so bedeutende autobiographische Erzählungen wie die des deutsch-böhmischen Textilarbeiters Josef Schiller, genannt Schiller-Seff 7 *, die er 1890 unter dem Titel Bilder aus der Gefangenschaft zusammenfaßte und die literarisch zur Kurzerzählung tendieren. Bei aller Unterschiedlichkeit des Stils deckt sich die Tendenz der Abgerissenen Bilder Beckers und der Bilder Schiller-Seffis mit den Erlebnisschilderungen der Kommunarden und denen der englischen Arbeiter des 19. Jahrhunderts: Es sollen historische Dokumente des Klassenkampfes sein, aufgezeichnet, um das kapitalistische System zu brandmarken und die Klassengenossen zu aktiver Parteinahme zu veranlassen.
Die frühe deutsche Arbeiterautobiographie als herausragende literarhistorische Erscheinung nach 1900 Die Bemühungen der 80er und 90er Jahre gehören zur Vorgeschichte, die eigentliche Geschichte der frühen deutschen Arbeiterautobiographie, die die Entwicklung der proletarischen Persönlichkeit erstmalig zum Hauptgegenstand hat, umfaßt die Periode vom Eintritt Deutschlands in den Imperialismus bis zur Novemberrevolution. Die erste umfangreiche Selbstbiographie dieser Art, die des Arbeiters Carl Fischer, erschien 10
1903 von einem Sozialdemokraten herausgegeben, aber in einem bürgerlichen Verlag. Das letzte aus der vorrevolutionären Arbeiterbewegung hervorgegangene Erinnerungsbuch von Alwin Ger wurde 1918 vom sozialdemokratischen Verlag Vorwärts herausgegeben. Der Verlag hatte vorher zwei Romane des gleichen Autors verlegt, die als frühe Proben eines proletarischen Entwicklungsromans mit autobiographischem Charakter anzusehen sind. Von 1903 bis 1918 sind etwa zehn bedeutende Arbeiterautobiographien entstanden. Hinzu kommen einige andere, die, wenn auch mehr am Rande, ebenfalls dazu beigetragen haben, die Lage der arbeitenden Klassen im deutschen Kaiserreich literarisch und dokumentarisch zu belegen. Diese Erinnerungen beziehen das Jahr 1870/71 mit ein und führen bis in die Zeit vor dem ersten Weltkrieg. Man kann sagen, daß das im Imperialismus gewaltig angewachsene Proletariat schöpferische Menschen hervorgebracht hat, die in der Lage waren, in Berichten über sich selbst Leben und Antlitz, Arbeit, Denken und Fühlen, Forderungen und Hoffnungen ihrer Klasse darzustellen. Es bedarf jedoch einiger Ergänzungen, um das Bemerkenswerte, das Besondere dieses Vorganges zu kennzeichnen, der zu einer ersten Blüte der proletarischen Selbstbiographie geführt und mit der repräsentativen Lebensgeschichte August Bebels in Deutschland etwas Einmaliges hervorgebracht hat. Mit Ausnahme früher sozialistischer Schriftsteller wie Lu Märten oder Otto Krille wollten die unter bedrückenden Verhältnissen schreibenden Arbeiter mit ihren Autobiographien nicht Literatur schaffen, zumindest nicht in der üblichen Bedeutung dieses Begriffes. In proletarischem Selbstbewußtsein beanspruchten sie, der Welt ihr unbeachtetes, hartes Leben mit seinen Erlebnissen und Problemen, ihre schwere Arbeit, die sie unter unwürdigen Bedingungen ausüben mußten, vor Augen zu führen. Dabei enthüllten sie die Kraft und die Hoffnung, die sie trotz aller Schwierigkeiten und größter Not aufrecht erhielten, die ihrem Lebensweg Sinn und Ziel gaben. Was da entstand, war dennoch Literatur, und zugleich mehr als Literatur. Die deutsche Literatur wurde bereichert durch neue Stoffe wie die Arbeitswelt in der modernen Industrie (beim Eisenbahnbau, in der Stahlindustrie und im Maschinenbau) sowie 11
durch die Darstellung des Arbeiters in seinem Verhältnis zum Klassenkampf, zur Arbeit, zu seinen Arbeitskollegen, zur Familie. Die frühe deutsche Arbeiterautobiographie enthält eine Fülle realistischer Arbeiterporträts, die man in dieser Differenziertheit zu dieser Zeit nirgendwo anders finden kann, in keinem andern Genre der frühen sozialistischen Literatur und erst recht nicht in der bürgerlichen Literatur, auch nicht bei den naturalistischen Epikern vor 1900, die, bei allem Interesse für das junge Proletariat, schon wie die meisten bürgerlichen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts dazu neigten, wegen des geringen Kontakts zum Proletariat den Arbeiter als literarische Figur zu verzerren oder gar in die Darstellung des gesellschaftlichen Verfalls einzubeziehen. In besonders eindrucksvoller Weise wird in den Lebensgeschichten von Bebel, Adelheid Popp, William Moritz Bromme und Franz Reh'bein die Herausbildung sozialistischer Persönlichkeiten beschrieben. Hierbei, wie bei der Schilderung von Arbeitsprozessen und Arbeiterporträts in allen proletarischen Erinnerungswerken des 20. Jahrhunderts, decken sich oft literarische und historisch-dokumentarische Qualität. Bei besonderen Kulminationspunkten der Lebensbeschreibung ist der literarische Wert überragend, steht er bestimmend im Mittelpunkt der Darstellung und erhöht auf erregende Weise das Moment der Authentizität. Solcherart wird durch die fach- und sachkundige proletarische Dokumentation eine Darstellungsweise entwickelt, die sich auf das Literarische auswirkt, neue realistische Gestaltungsmöglichkeiten der gesellschaftlichen Wirklichkeit eröffnet.
Die proletarische Selbstdarstellung im Kähmen der frühen sozialistischen Literatur Die frühe proletarische Selbstdarstellung ist ein Phänomen des sozialistischen Kulturerbes, das im Zusammenhang mit den Anfängen unserer gesamten sozialistischen Literatur betrachtet werden muß. Vergegenwärtigen wir uns, wie der klassenbewußte deutsche Arbeiter vor etwa hundert Jahren zum erstenmal in der Geschichte zu schreiben begann: zuerst als Korrespondent für die Parteipresse, dann als verantwortlicher Redak12
teur, vielleicht auch als Lektor eines Parteiverlages, in ständiger Auseinandersetzung mit ökonomischen, politischen und kulturellen Tagesfragen und Weltereignissen. Dieser Weg des schreibenden Arbeiters zum Schriftsteller ist in der Deutschen Demokratischen Republik und in anderen sozialistischen Ländern heute nichts Seltenes mehr. Damals jedoch zeichnete sich damit ein historischer Wendepunkt in der deutschen Literatur ab. Die frühe sozialistische Literatur, aus der Tendenz zur Agitation und Propaganda entstand, der Unterhaltung und der politischen Aufklärung diente, trug zur Bildung eines neuen, erweiterten Literaturbegriffs bei, der in unseren Tagen außerordentlich aktuell ist. Es geht im Sozialismus nicht um die Produktion von Massenliteratur von niedrigem Niveau, sondern um eine anspruchsvolle, einfallsreiche Literatur für die Werktätigen, die ihr eigenes Leben zur Sprache bringen. Die Arbeiterbewegung war von Anfang an mit der Frage nach der Kultur und Humanität verbunden. Talentierte Arbeiter begannen im 19. Jahrhundert nicht zu schreiben, weil sie sich plötzlich zum Schriftsteller berufen fühlten, sondern weil das Leben, die Wünsche und Forderungen der arbeitenden Menschen nach Gestaltung drängten. Das, was entstand, diente in erster Linie der Stärkung der eigenen Reihen. Kampfgedichte und Massenlieder spielten eine große Rolle in der Auseinandersetzung mit der kapitalistischen Unterdrückung. Dem leidenschaftlichagitatorischen folgte sehr bald das satirisch-polemische Gedicht wie in der sozialistischen Lyrik des Vormärz bei Heinrich Heine und Georg Weerth. Später, unter den qualitativ neuen Verhältnissen der proletarisch-revolutionären Literatur, hat Erich Weinert mit seiner Satire nicht nur wie die aus der revolutionären Sozialdemokratie des 19. Jahrhunderts hervorgegangenen politischen Lyriker Max Kegel, Rudolf Lavant, Ernst Klaar oder Adolf Lepp die Bourgeoisie attackiert, sondern auch die inzwischen verbürgerlichten SPD-Politiker. Schreibende Arbeiter und sozialdemokratische Redakteure verfaßten um die Jahrhundertwende auch kleine Erzählprosa für die Parteipresse: Berichte, Reportagen, Skizzen und Geschichten aus der Arbeiterwelt. Eine andere, vorwiegend didaktische und zugleich ästhetisch ansprechende Form der 13
Erzählprosa wurde mit den auf volkstümlichen Traditionen aufbauenden, aber mit neuen Inhalt erfüllten Kalendergeschichten entwickelt. Im Unterschied zu den aktuellen Berichten und Geschichten der Tagespresse, die meist auf Erlebnisgrundlage beruhten, bedienten sie sich der künstlerischen Darstellung. Die größere epische Form, die Novelle, der Roman, wurde zunächst von zur SPD gekommenen, bürgerlichen Intellektuellen auf der Basis der Traditionen des bürgerlichen Realismus des 19. Jahrhunderts gepflegt. Hier sind Namen wie Robert Schweichel, August Otto-Walster oder Minna Kautsky zu nennen. Eine neue, originelle Form der großen proletarischen Epik, die über die Möglichkeiten der Parteipresse hinausging und zur großen Buchpublikation drängte, wurde dann im Jahrzehnt vor dem ersten Weltkrieg mit der Arbeiterautobiographie entwickelt, der die ersten Versuche des proletarischen Entwicklungsromans folgten. Eine ähnliche Entwicklung von der kleinen, operativen zur großen Form ist auf dem Gebiet des frühen Arbeitertheaters zu verzeichnen, das zunächst mit großer Frische und Unbekümmertheit auf der Bühne des Arbeiterbildungsvereins zum Zwecke der sozialistischen Agitation und Propaganda im Rahmen der proletarischen Festgestaltung experimentierte. Anfangs wurden von Arbeitern für Arbeiter meist komödiantisch-satirische Einakter geschrieben, die eine Art Verschmelzung des Streitgesprächs mit Elementen des volkstümlichen Schwanks oder der Posse zur unterhaltenden und informativen Gestaltung aktueller Probleme des Klassenkampfes sind. In kurzen didaktischen Stücken wurden Thesen des Parteiprogramms, in eine einfache Handlung aus dem Alltagsleben gekleidet, erläutert. Auch allegorische Spiele und Lebende Bilder erwiesen sich als Möglichkeiten wirklichkeitsnaher, operativer Dramatik, als gelungene Versuche, die Konflikte der Alltagswelt festlich überhöht darzustellen. Schließlich entwickelten „schreibende Arbeiter", die zu Berufsschrifstellern geworden waren, wie Ernst Preczang und Emil Rosenow, um die Jahrhundertwende das große mehraktige proletarische Drama, das die Möglichkeiten der Arbeitertheaterbühne überschritt und nach einer Aufführung durch Berufsschauspieler verlangte, was allerdings im Hohenzollernreich nur in nichtöffentlichen Volksbühnenverei14
nen realisiert werden konnte und auch dort noch ständig durch Polizeischikanen bedroht wurde. Der Gewinn bestand darin, daß jetzt im Gegensatz zu den mehr thesenhaften, politisch aggressiven ersten Stücken in einem sozialistischen Drama auch die Entwicklung von Charakteren in all ihrer aus dem Leben gegriffenen Fülle, Differenziertheit und Umweltbezogenheit sowie das Knüpfen und Lösen von Klassenkampfkonflikten vielschichtigerer und komplizierterer Art gestaltet werden konnte. Die Tatsache, daß die Wendung vom kurzen, operativen Arbeitertheaterstück zum großen konfliktreicheren proletarischen Drama, das einer entwickelten Bühnentechnik und der Darstellung durch Berufssohauspieler bedarf 8 *, etwa zur gleichen Zeit erfolgte wie die Hinwendung zum umfangreichen proletarischen Memoirenwerk, läßt bestimmte Schlüsse zu. Das Problem des Widerspruchs zwischen der Zerstörung und der Entwicklung der Persönlichkeit in der Klassengesellschaft tritt bei der Vorhut des kämpferischen Proletariats seit der Jahrhundertwende auf besondere Art zutage. Die Legalisierung der SPD nach dem Fall des Sozialistengesetzes, ihr Anwachsen zur Massenpartei und zur parlamentarisch stärksten Partei hatte trotz der zur gleichen Zeit einsetzenden Integrationsversuche und auftretender Schwächen in der Parteiführung auf einen Teil der politisch aktiven Sozialdemokraten einen positiven Einfluß. Sie gewannen einen festeren Rückhalt, sahen ein Ziel, die Beseitigung der Ausbeutung, vor Augen - wenn auch oft in falscher Einschätzung der Gefährlichkeit des deutschen Imperialismus, und ihr Selbstbewußtsein, ihr Selbstvertrauen wuchs. Hinzu kam die schnelle Entwicklung von Industrie und Technik, die immer höhere Ansprüche an die Fähigkeiten des Arbeiters stellte, ihm das Erlebnis der Qualifizierung vermittelte und ihn die Vorteile erahnen ließ, die aus der Beseitigung der Kluft zwischen körperlicher und geistiger Arbeit erwachsen würde. Nicht zufällig hatte die Arbeiterpartei im Industrieproletariat ihre meisten Anhänger. Die Krisenanfälligkeit des Monopolkapitals führte zu erhöhter Ausbeutung, zu Arbeitslosigkeit und zur materiellen und psychischen Verelendung großer Teile des Proletariats. Auch diejenigen, die politisch denken gelernt hatten, wurden durch Not und Krankheit zurückgeworfen und gehemmt. Aber 15
bei einem Teil erwuchsen hieraus Widerstandskraft und Aktivität. Es bildete sich der Typ des Berufsrevolutionärs heraus, der in Gorkis Pawel Wlassow aus dem Roman Die Mutter seine erste weltliterarisch bedeutsame Gestaltung gefunden hat (er wurde sehr bald nach Erscheinen in der deutschen Parteipresse veröffentlicht). Es gibt im Prozeß der proletarischen Menschwerdung Vorstufen, Zwischenstufen, und Übergänge, die einen Pawel Wlassow im Endergebnis als vorrevolutionäre Gestalt glaubhaft machen. Der Prozeß der Persönlichkeitsbildung hat sich auch auf die deutsche proletarische Literatur dieser Periode ausgewirkt. Die zweite Generation schreibender Arbeiter, diejenigen, deren Entwicklung in den 90er Jahren einsetzte, nahmen die letzte Hürde ihres Weges und entschlossen sich, freie Schriftsteller zu werden. Dazu trieb sie nicht professioneller Ehrgeiz, sondern die historische Entwicklung ihrer Klasse. Ihr Blick wurde auf eine breite Palette von Problemen und Konflikten aus dem proletarischen Leben gelenkt, wurde angeregt, sich vom nur Agitatorischen zu lösen und mit der politischen Tendenz zugleich größere Komplexe der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu packen und zu gestalten. Der Wunsch, tiefer in die Wirklichkeit einzudringen, die Welt und Umwelt des Proletariats von vielen Seiten zu durchleuchten, sprengte die Möglichkeiten des einaktigen Arbeitertheaterstücks, führte zum mehraktigen Drama und zeugte den neuen Wunsch, sich an ein breiteres Publikum zu wenden als an das durch die Arbeitertheatervereine erfaßbare. Die Tatsache, daß der Arbeiter, der sich entschlossen hatte, zur Feder zu greifen und über sich selbst zu schreiben, sich nicht mehr damit begnügte, „Bilder" aus seinem Leben, erlebte Skizzen aus dem Klassenkampf zu schaffen, sondern über mehrere Jahrzehnte zu informieren und Rechenschaft abzulegen, hat die gleichen historischen Ursachen. Das klassenbewußte, talentierte proletarische Individuum drängt nach schöpferischer Entfaltung seiner Persönlichkeit und stellt sich immer größere Aufgaben, deren Erfüllung bis in die Reihen des Klassengegners Aufsehen erregt. Das gilt für Rosenows Komödie Kater Lampe (1902) ebenso wie für die seit 1903 erscheinenden großen Arbeiterautobiographien. Das literarische Schaffen steht, entsprechend dem unterschiedlichen 16
politischen Reifegrad des Schreibenden, im Einklang mit dem Klassenkampf. Indem sie ihre Lebenserinnerungen aufzeichnen, drängen a,lle, jeder auf seine Weise, nach Befreiung von dem Joch der kapitalistischen Ausbeutung; das werden wir an den Texten nachweisen können. In diesem Zusammenhang ist auch eine besondere Frage zu klären, die in der gesamten frühen sozialistischen Literatur eine Rolle spielt: War das Schreiben umfangreicher Memoirenwerke letztlich nicht doch ein Ausweichen vor den unmittelbar in die politischen Tagesfragen eingreifenden politischen Aufgaben? Wäre es angesichts der Härte des Klassenkampfes im Hohenzollernreich und angesichts der Praktiken des deutschen Imperialismus nicht wichtiger gewesen, daß die Autoren wie die erste Generation schreibender Arbeiter vor der Jahrhundertwende ihre ganze Kraft der Parteipresse und der sozialistischen Agitation in den eigenen Reihen gewidmet hätten?! Jedes Genre hat seine eigene unaustauschbare Funktion. Ein zur rechten Zeit geschriebenes Gedicht, eine parteiliche Reportage, ein Arbeitertheaterstück können im Augenblick mehr Wirkung haben als gerade Autobiographien. Darüber gibt es keinen Streit. Aber die großen proletarischen Selbstdarstellungen, die einen wichtigen Platz in der proletarisch-revolutionären Literatur sowie in unserer sozialistischen Gegenwartsliteratur einnehmen, waren schon in vorrevolutionärer, sozialdemokratischer Zeit kein leidenschaftsloser Rückblick, sondern in den meisten Fällen parteiliche Bilanz und offenes Bekenntnis zur Arbeiterbewegung, Tendenzliteratur im besten Sinne des Wortes.
2 M uncbow
Zur Entstehungsgeschichte
Die Untersuchung der Umstände und der Motive, die einen Arbeiterführer wie August Bebel oder Arbeiter wie Carl Fischer, William Moritz Bromme, Wenzel Holek, Franz Rehbein, eine Arbeiterin wie Adelheid Popp, die proletarischen Schriftsteller Otto Krille und Lu Märten sowie einige andere zum Vergleich heranziehbare Arbeiter veranlaßt haben, Selbstbiographien zu produzieren, gibt einen Einblick auf die Gesamtproblematik. Es geht um die Entstehungsgeschichte der frühen deutschen Arbeiterautobiographien, um den Entschluß, der zu ihrer Niederschrift geführt hat, um das Ausmaß und den allgemeinen Ideengehalt des Rückblicks, des Bilanzziehens. Zur Entstehungsgeschichte gehören biographische Fakten, die aus der Selbstdarstellung nicht immer ersichtlich sind, sie ergänzen und verständlicher mache, ebensosehr wie Hinweise auf das Verhalten von Herausgebern und Verlegern. Schließlich ist der auf diese Art gewonnene Überblick über die proletarischen Lebenserinnerungen aus den ersten beiden Jahrzehnten unseres Jahrhunderts eine gute Ausgangsbasis für die Beantwortung der sich dem Literarhistoriker stellenden Frage nach der Bedeutung der frühen deutschen Arbeiterautobiographie innerhalb der sozialistischen Literatur.
Die erste bahnbrechende und einige ihrer
Arbeiterautobiographie 'Nachahmungen
Der 1841 geborene Carl Fischer, der mit seinen umfangreichen Denkwürdigkeiten und, Erinnerungen eines Arbeiters 1903 die Reihe der proletarischen Biographien eröffnete, nimmt eine Sonderstellung unter ihren Verfassern ein. Er gehört zu einer 18
Generation, die erst teilweise von der organisierten Arbeiterbewegung erfaßt und noch wenig von der sozialdemokratischen Partei geprägt und geleitet wurde. Der Sohn eines proletarisierten Bäckers aus Grünberg im ehemaligen Schlesien, der lange Zeit als wandernder Handwerksgeselle und Gelegenheitsarbeiter, zuletzt als Erdarbeiter beim Eisenbahnbau durchs Land zog, ehe er gegen 1870 qualifizierte Arbeit in einem Stahlwerk erhielt, hat in den 90er Jahren zum erstenmal Eindrücke aus seinem Leben niedergeschrieben und mit 60 Jahren, als arbeitsloser Halbinvalide bei armen Verwandten wohnend, seine umfangreiche Lebensbeschreibung aufzuzeichnen begonnen. Ihn haben Charakteranlage, Umwelteinflüsse und das schöpferische Bedürfnis, Beobachtetes zu reproduzieren, zum Schreiben veranlaßt. Dieser Entschluß ist durch das proletarische Klassenschicksal, das die Persönlichkeit Fischers geprägt hat, entscheidend gefördert worden. Durch Kindheitserlebnisse gewecktes Erzähltalent, seine Neigung zur Beobachtung und Reflexion machten es ihm im Laufe der Zeit zur Gewohnheit, sich Notizen über Geschehenes, Erlebtes, Reflektiertes, Erlittenes und Erkanntes anzulegen. Diese Notizbuchmethode war eine günstige Voraussetzung für die Inangriffnahme umfangreicherer Aufzeichnungen. Das Studium seiner Autobiographie berechtigt zu der Schlußfolgerung, daß sein im Stahlwerk erstarktes Selbstbewußtsein, seine wachsende Opposition gegen Junkertum, Bourgeoisie und deren kleinbürgerliche Handlanger sein urwüchsiges Klassenbewußtsein stärkten und schließlich den Ausschlag dazu gegeben haben, daß sich Anlage und Neigung in schöpferische Tat umsetzten, die mit davon Zeugnis ablegen konnte, daß das Proletariat in der Lage ist, seine eigene Literatur hervorzubringen. Ohne andere literarische Vorbilder als die lutherische Bibel hat Fischer mit seiner naiven, ungeschulten dichterischen Kraft neue Stoffgebiete erobert. Sein urwüchsiger Anfang war ein Durchbruch beim ersten Aufblühen der Arbeiterautobiographie am Anfang des 20. Jahrhunderts. Fischer war in seinem Bewußtsein ein noch ganz auf sich allein gestellter Prolet. Er hatte noch nicht einmal Kontakt zur Gewerkschaft. Vor allem fehlte ihm der fördernde und entwickelnde Einfluß der sozialistischen Arbeiterpartei. Der so2*
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zialdemokratische Herausgeber der Denkwürdigkeiten Paul Göhre ist erst nach der Jahrhundertwende auf Fischer gestoßen und hat auf die Entstehung der ersten großen Arbeiterautobiographie keinen Einfluß gehabt. Göhre schreibt über ihn in seinem Vorwort: „Er heißt Carl Fischer, ist heute 61 Jahre alt, Junggeselle und wohnt seit einigen Jahren hal'binvalide, ohne Invalidengeld zu beziehen, im Anhaltischen bei armen Verwandten, bei denen er, dazwischen ihr Gärtchen und das kleine Feld bestellend, sein Buch in den letzten zwei Jahren geschrieben hat, ohne Anregung von außen, aus eignem Drang und Wunsch. Er ist noch heute kein Sozialdemokrat, nimmt noch heute eine starke religiöse Gesinnung für sich in Anspruch, und ist noch heute voller Ehrfurcht für den Kaiser. Mit anderen Worten: er ist einer jener deutschen Arbeiter ältesten Schlags, die aus dem versinkenden Mittelstand herkommen, ihre beste Kraft in der ersten Industrieepoche Deutschlands verbraucht haben, dabei stark unter dem Einfluß der Kriegszeit von 1864-1871 geblieben sind, und so den Schritt zur modernen Arbeiterbewegung herüber nicht mehr zu tun vermocht haben. Für die vorliegenden Lebenserinnerungen ist dies alles nur ein Vorteil: denn um so glaubwürdiger wird auch in den Augen politisch Rechtsstehender ihr Inhalt erscheinen, und um so schwerer wiegt er mit seinem düsteren Ernst und seinen oft ergreifenden Anklagen. Schließlich sei auch noch das für mißtrauische Gemüter ausgesprochen, daß mir Herr Carl Fischer es immer und immer wieder, schriftlich wie mündlich beteuert hat: seine Arbeit möge noch so schlecht sein, aber ihr Inhalt sei unbedingt wahr, er habe mit peinlicher Gewissenhaftigkeit darüber gewacht, daß nur wirklich Erlebtes von ihm erzählt sei; und das Beste, worüber er verfüge, sei ein absolut sicheres Gedächtnis. So darf nach meiner Überzeugung das ganze Buch in der Tat den Anspruch erheben, ein Beitrag zur Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts zu sein, der, so einfach er ist, nur durch wenige Denkwürdigkeiten und Erinnerungen sonst aus demselben Jahrhundert in den Schatten gestellt wird." 9 Fischer hat zweifellos keineswegs für „politisch Rechtsstehende" geschrieben, auch geht aus seinem Buch hervor, daß er den wenigsten Pfarrern wohlgesonnen und seine Religiosität höchst eigenwillig war. Er war imstande, die Heuchelei der 20
christlichen Kirche zu durchschauen, wo er ihr begegnete. Absurd ist es, eine Verehrung für den Kaiser oder gar eine Sympathie für die hohenzollernschen Kriege herauslesen zu wollen. Beides sind offenkundig subjektive Interpretationen des Herausgebers, mit denen er das Interesse konservativer Gemüter wecken wollte. Fischer ist Gerhart Hauptmanns frommem und königstreuen Weber Hilse ganz und gar unähnlich. Er war nicht einverstanden mit der Welt, die er beschrieb. Dieses Nichteinverstandensein und Veränderungwünschen ist das Credo, die Grundhaltung seiner Denkwürdigheiten. Was Göhre als Herausgeber für Fischer geleistet hat, bezeichnet er in seinem Geleitwort: „An dem, was ich hier darbiete, habe ich inhaltlich natürlich gar nichts geändert. Aber die Erinnerungen waren, wie das bei einem solchen Manne nur natürlich ist, in einem Fluß, ohne Kapiteleinteilung, ohne Uberschriften, ja fast ohne Absätze niedergeschrieben. Dies alles habe ich angebracht und so den ganzen Stoff geordnet. Am Stil habe ich ebenfalls nur wenig ändern zu sollen geglaubt. Hier sind nur ganz leise Verbesserungen, die nicht mehr als drei bis vier Worte betrafen, von meiner Hand."10 Ferner gibt er an, daß der 390 Seiten umfassende Band Fischers „nur knapp die Hälfte dessen, was er niedergeschrieben hat"11 sei. Göhre hat dann aber nach dem guten Absatz des Buches, der im gleichen Jahr eine zweite Auflage erlaubte, 1904 eine Neue Folge der Denkwürdigkeiten und Erinnerungen eines Arbeiters und 1905 unter dem Titel Aus dem Arbeiterleben Skizzen aus dem Rest der ausgeschiedenen Texte zusammengestellt, so daß man sich heute den ursprünglichen Rhythmus und auch die originale Fülle der Aufzeichnungen aus den drei getrennten Büchern selbst rekonstruieren muß. Und die darstellerische und inhaltliche Kraft der aus den ungehobenen Schätzen der Selbstbiographie geschöpften Skizzen - eine davon stammt schon aus dem Jahre 1891 - läßt vollends die Frage offen, ob die Zusammenraffung des Stoffes durch Göhre immer gut gewesen ist und was schließlich dennoch für immer unter den Tisch gefallen sein mag. Fischer starb 1906, er hat also noch den Erfolg seiner bei Eugen Diederichs verlegten, mit Buchschmuck von Heinrich Vogeler versehenen Denkwürdigkeiten erlebt, ohne daß wir 21
wissen, wie er ihn aufgenommen und eingeschätzt hat. Es war sicherlich bedauerlich, daß gerade ein sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter von so revisionistischer Einstellung wie Göhre der proletarischen Selbstdarstellung zum Durchbruch verholfen hat, noch dazu mit Hilfe eines bürgerlichen Verlages. Aber ebenso schade ist es, daß ein revolutionärer Sozialdemokrat vom Range Mehrings nicht auf die Denkwürdigheiten reagiert hat. Besonders angesichts der lebhaften bürgerlichen Stellungnahmen zu Fischers Memoiren, die an der Hauptsache vorbeigingen, hätte er Stellung beziehen müssen. Er hat erst 1909 nach dem Erscheinen der Memoiren von Bromme und Holek, die sich auf Fischer beziehen, Notiz von ihm genommen und in der Neuen Zeit nur in ziemlich dürren Worten, die darauf aufmerksam machen, daß Fischer wie Bromme „das Elend der Arbeiterklasse am eigenen Leibe erfahren" habe, aber im übrigen „sich bis in sein Alter hinein den Stand der politischen Unschuld gerettet hatte und mit der Sozialdemokratie in keine Berührung gekommen war." 12 Die führenden Ideologen der deutschen Sozialdemokratie, Franz Mehring und besonders Clara Zetkin, haben die Entstehung einer Literatur der deutschen Arbeiterklasse iß vielen Fällen unterstützt und gefördert. Sie haben es immer wieder ausgesprochen, daß eine Erneuerung von Kunst und Literatur nur vom schöpferischen 'Proletariat zu erwarten ist. Ihre Aufsätze 2um Thema Kunst und Proletariat sind dementsprechend heute noch eine Fundgrube für uns. Clara Zetkin schrieb 1910 in der Gleichheit: „Es irren alle, die im proletarischen Klassenkampf nur das Begehren nach Füllen des Magens sehen. Dieses weltgeschichtliche Ringen geht um das ganze Kulturerbe der Menschheit, es geht um die Möglichkeit der Entfaltung und Betätigung vollen Menschentums für alle." 13 Wenn Mehring beanstandet, daß Fischer nicht Mitglied der SPD war, daß seine Autobiographie zu umfangreich, als Buch deshalb zu teuer und für den Arbeiter unerschwinglich sei14, so kann man ihm heute nicht mehr voll zustimmen. Selbstverständlich konnten die Denkwürdigheiten in der Aufmachung des Diederichs-Verlages nicht massenwirksam werden, unid der bürgerliche Unternehmer hatte sie zweifellos auch nicht zu diesem Zweck herausgebracht. Es ist heute nicht nachprüfbar, ob der Heraus22
geber Göhre sich für Fischers Manuskript um einen Parteiverlag bemüht hat bzw. warum sich nicht für die späteren Autobiographien ein solcher gefunden hat. In keinem Falle kann man diese Tatsache Fischer anlasten. Zetkins Forderung der „Möglichkeit der Entfaltung und Betätigung vollen Menschentums für alle" hatte auch für ihn Gültigkeit. Die bildungspolitische Parole der deutschen Sozialdemokratie „Wissen ist Macht" brachte den revolutionären proletarischen Standpunkt keineswegs umfassend zum Ausdruck. Die Sozialdemokratie vermochte nicht mehr, das Programm einer sozialistischen Literatur, die bewußt und organisiert mit der revolutionären Arbeiterbewegung verbunden ist, auszuarbeiten und zu realisieren. Die Literaturkonzeption, die Lenin im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts entwickelte, trug ganz anders den neuen historischen Erfordernissen Rechnung. Wenn diese u. a. darauf orientierte, die Erfahrungen der Massen mit der revolutionären Theorie vom Klassenkampf und der welthistorischen Mission der Arbeiterklasse zu verbinden, dann wies sie unausgesprochen auch auf den Wert solcher authentischen Mitteilungen aus dem Arbeiterleben hin, wie wir sie hier vor uns haben. Fischers Buch jedenfalls bewirkte, daß bürgerliche Schichten zum erstenmal mit dem Leben des Proletariats konfrontiert wurden. Göhre selbst hatte dafür in gewissem Sinne den Boden reif gemacht - durch seine autobiographische Reportage Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksburscbe (1891), durch die er die breite Öffentlichkeit aus eigenem Erleben über die schlimmen Arbeitsverhältnisse und den politischen Kampf der Chemnitzer Kumpel orientierte und damit in beiden Lagern Aufsehen erregte. Der frühe sozialistische Lyriker Rudolf Lavant hat darüber ein satirisches Gedicht geschrieben, dessen Schlußverse auch für das Echo, das Fischers Denkwürdigkeiten beim Bürgertum fanden, gelten: „Das Buch schlug ein: es ward verschlungen und ging sogar von Hand zu Hand, Denn anders hat das doch geklungen, als was im Wochenblättchen stand. Man war verblüfft; nicht abzuweisen war ja, woran man nie gedacht, 23
Der Vorwurf, daß Entdeckungsreisen man jetzt im eignen Volke macht. Ihr kennt die Schwarzen, die sich weiden am grellen Glanz des Tropenlichts. Vom eignen Volk und seinen Leiden, von seinem Leben wißt ihr nichts."15 Das Aufsehen, das Fischers Autobiographie in der deutschen Öffentlichkeit erregte, hatte zur Folge, daß sofort bürgerliche Integrationsversuche einsetzten, die den Klassencharakter der Denkwürdigkeiten zu verwischen, ja aufzuheben trachteten. Vermutlich liegt hier die Quelle des Unbehagens, das Mehring gegenüber dieser Publikation äußerte. Die die Wahrheit verzerrenden Mitteilungen Göhres über Fischer sowie die Tatsache, daß er nicht Sozialdemokrat war, erleicherte es bürgerlichen Rezensenten, sein Werk der sogenannten Heimatliteratur einzuverleiben, die das Leben der „einfach" lebenden Menschen behandelt, oder es sogar Interessierten als eine Art Fachbuch für manuelle Arbeit zu empfehlen. Zwei Zeugnisse dieser Art sollen hier für viele stehen. Der eine Zeitlang der SPD nahestehende naturalistische Romanschriftsteller Wilhelm Hegeler, der, wie seine Romane zeigen, bevor' er das Buch Fischers las, wenig Ahnung von der realen Lebensweise des Proletariats gehabt hat, schrieb, er sähe den Band gern in der Hand eines jeden, der mit Arbeitern zu tun hat, aber er wäre auch für die Arbeiter selbst von Bedeutung, denn es würde sie freuen, „hier einen nicht ruhmredigen, aber kräftigen Fürsprecher ihrer selbst zu finden und einmal aus authentischem Munde zu hören, daß es durchaus nicht Sache des ersten besten, sondern mit manchem Verdruß und vielem Schweiß zu erlernen ist: wie man ondentlich Brot bäckt, Steine formt, Mörtel rührt und die schwere Kippkarre über schwanke Bretter lenkt." Der Herausgeber des Kunstwart, Ferdinand Avenarius, wiederum schrieb mit einem Hieb auf die Naturalisten: „Wenn unsere soziale Literatur wie ja auch die Bewegung, deren geistiger Niederschlag sie ist, ihren bestimmenden Anstoß von Talenten empfing, die in den vierten Stand nur mitfühlend hineinsehen, so mehren sich nun die Zeichen, daß innerhalb des Standes selbst die fähigen Köpfe zu politischem oder künstlerischem 24
Selbstbewußtsein erwachen. Dieses Bewußtsein äußert sich auf unserem Gebiet in dem Bestreben, Kunde von sich, von den Erlebnissen und Lebenskämpfen zu geben, die dem Arbeiter als solchem eigentümlich sind." 16 Avenarius gehört zu den kleinbürgerlichen Kulturpädagogen, die zu einer Zeit, als das Proletariat bereits für die kapitalistische Ordnung zur Gefahr geworden war, breite Volksmassen durch ein allgemeines „überparteiliches" Kunststreben vom Klassenkampf abzulenken versuchten und damit auch einen Arbeiter wie Fischer zu den ihren zu machen. 1906 hat der bürgerliche Soziologe Friedrich Naumann in seinem Verlag Die Hilfe unter dem Titel Arbeiterschicksale. Lebensgeschichte von Louis Fischer, einem früheren Bergmann aus Zwickau, herausgebracht. Dieser Naumann hat mit seinen demagogischen Verbrüderungstendenzen ganz offensichtlich einen in besondere Not geratenen Arbeiter für seine Zwecke mißbraucht. Er verkündet am Schluß seines Vorworts: „Ein kleines Buch wie dieses kann für sich allein keine Wunder sozialer Bekehrungen vollbringen, aber es gehört doch zu den Stimmen, deren immer voller werdender Chor allen Teilen des Volkes zuruft: Der Arbeiter ist unser Bruder, unser Volksgenosse, und sein Schicksal ist unser Schicksal! Wer es gelesen hat, der behalte es noch ein wenig in der Hand und sage zu sich selbst: wo ist die Stelle, wo ich noch mehr tun kann für die Bildung oder Besserung des Lebens der Menge?" 17 Göhre wird als Sozialdemokrat, das muß zu seiner Ehre gesagt werden, über diese Nachfolge seiner eigenen Bemühungen nicht erfreut gewesen-sein, vor allem weil Naumann so tut, als ob es keinen Klassenkampf gibt. Die Autobiographie des Louis Fischer geht, von Naumann lanciert, deutlich in den Spuren seines Namensvetters. Der naive Ton entbehrt jedoch der urwüchsigen Gestaltungskraft Carl Fischers, er wirkt n u r unbeholfen und enthüllt in der selbstbemitleidenden Erzählweise die Unaufrichtigkeit, die hinter dem von Naumann angeregten publizistischen Unternehmen steckt. Die Selbstbiographie Fischers bringt überwiegend bloße Elendsschilderungen und endet mit der mehr selbstgefälligen als selbstbewußten Feststellung: „Darum darf ich wohl mit Recht sagen: Mit großer Willenskraft habe ich mein Leben bisher ausgeführt und tat25
sächlich alles durchfochten, was sich mir entgegengestellt hat." 18 Wenn er wie Carl Fischer das Wirken der SPD nicht miteinbezieht, so nicht, weil er die sozialen Erscheinungen vom Standpunkt einer proletarischen Parteilichkeit darzustellen bestrebt ist, sondern weil er mit seinem Buch für sich privat mit seinen von sechzehn noch acht lebenden Kindern Hilfe von der herrschenden Klasse erwartet, die er mit einem angeblichen Ausspruch Friedrichs II. von Preußen beschwört: „Verschieden sind der Menschen Stände, doch der Menschen Pflichten gleich."119 Ein interessantes Dokument unter den naiven proletarischen Selbstdarstellungen sind die in Tagebuchform verfaßten Denkwürdigheiten eines Porzellanmalers von Gustav Hänfling, aufgefunden und herausgegeben von Heinrich E. Kromer20* im Insel-Verlag, Leipzig 1915. Die Entstehungszeit dieser Denkwürdigheiten ist auf das erste Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts zu datieren. Der Herausgeber, der im Gegensatz zu Göhre bescheiden hinter dem Autor zurücktritt und auch auf ein erläuterndes Vorwort verzichtet, hat die Notizen des jung Verstorbenen, noch als solche erkennbar, zu einem einheitlichen Ganzen zusammengerafft und auch keine Zwischenüberschriften gesetzt. So wirkt dieses Buch von 241 Seiten fragmentarisch, weil gewaltsam abgebrochen, und zugleich in sich geschlossen. Der Nachfolgecharakter dieser Publikation zu Carl Fischers Denkwürdigkeiten ist nicht nur aus dem Titel feststellbar. Dieses Buch ist ein Mosaikstein im Bild der frühen deutschen Arbeiterautobiographie, das durch Fischers Memoiren seine erste kräftige Farbgebung erhielt. Hänflings Denkwürdigkeiten überliefern die Geschichte eines jungen Arbeiters, der sich nach Beendigung der Lehrjahre und längerer Gesellenzeit in Bonn am Rhein „selbständig" zu machen versuchte und in „Heim"-Arbeit, ganz auf sich gestellt, in einer elenden Dachkammer hausend, allerlei in sein Fach fallende Arbeiten übernimmt, um es „zu etwas zu bringen". Der Sohn armer Weber, der allen Bürgern, die ihn gruselnd fragten, bestätigte, daß Hauptmann in seinem Drama die Wahrheit über diesen Stand geschrieben hat, wollte unbedingt „nach oben". Aber er ist zu bescheiden, zu vorsichtig, zu pedantisch, sehr fleißig, aber nicht wagemutig und skrupellos genug, um 26
wie aus der Wirklichkeit genommene Gestalten von der Art Dreißigers aus den Webern oder Neuberts aus Rosenows Kater Lampe vom Ausgebeuteten zum reichen Ausbeuter zu werden. Er schuftet von früh bis in die Nacht für wenig Geld und hofft, durch Fleiß und Sparsamkeit und vielleicht durch die Heirat mit einem Mädchen, das etwas Geld hat, vorwärts zu kommen. Er gönnt sich nichts außer einigen Turnvergnügungen, auf denen er auch meistens ein Mädchen für sich zahlen läßt, oder gesundheitsstärkende Spaziergänge, bei denen der selten Satte dann die Sonne „rot wie einen Edamer Käse" aufgehen sieht. Jeden Groschen dreht er dreimal um, ehe er ihn ausgibt, und als er einmal einen verliert, lamentiert er darüber tagelang in seinen Aufzeichnungen. Jegliche Freizeitgestaltung unterwirft er dem praktischen Zweck, seinen von Arbeit, Frieren und Hungern geschwächten Körper nach der Kneippschen Methode durch heftige Bewegung zum Schwitzen und damit zum Ausscheiden von Krankheitsstoffen zu bringen. (Es geht aus mehreren Arbeiterautobiographien hervor, u. a. auch aus der Brommes, daß die Methoden der natürlichen Heilweise, vor allem die Wasserbehandlung, beim Proletariat dieser Zeit sehr beliebt waren, vor allem auch, weil sie billiger waren als die Medizin der Armenärzte.) Die demokratische Freiheit verficht er „mit Maß und Ziel"21, ebenso verhält er sich gegenüber Mißverhältnissen in der Arbeit: „Das muß in Frieden geschlichtet werden, deshalb darf die Weltgeschichte nicht stillstehen. Leidenschaft und Ehrgefühl - meinetwegen! Aber mit Maß und Ziel; die Arbeit darf nicht darunter leiden!" 22 Im übrigen liest er die Gartenlaube und Avenarius' Kunstwart und schwärmt für Hiddigeigei und den Trompeter von Säckingen, auch für Schägsbier (Shakespeare), den er vom Hörensagen kennt. Hänfling gehört zu den Arbeitern, denen die „Ehrbarkeit" (respectability) des Bürgers, um eine Formulierung von Engels über die englischen Arbeiter zu gebrauchen, tief ins Fleisch gewachsen ist. Im Kampf gegen die Verbürgerlichung der Arbeiterklasse knüpfte Lenin an Engels an. „Selbst Tom Mann, den ich für den bravsten halte", schrieb Engels im Dezember 1889 an Sorge, „spricht gern davon, daß er mit dem Lord Mayer lunchen wird." 23 Ähnlich stolz notiert es der Por27
zellanmaler Hänfling jedesmal in seinem Tagebuch, wenn er von der „Frau Doktor" zum Abendessen oder vom Herrn Kunstmaler ins Gasthaus eingeladen worden ist. Dazu kommt bei ihm, der wenig Kontakt zu Klassengenossen hat, eine tragikomische eigenbrödlerische Pedanterie. Der Dreißigjährige begründet seine sorgfältigen Aufzeichnungen über sich selbst mit den Worten: „Es muß eben sein; denn ich will mir Rechenschaft über mein Tun und Treiben ablegen, was unter Umständen sehr lehrreich sein kann. Und solche Erinnerungen würzen sozusagen das Alter, indem man nämlich sieht, welchen Schicksalsweg man durchwandert hat und wohin man gekommen ist. Denn das Menschenleben hat verschiedene Höhepunkte, wo sich uns die Seele erhebt und die müden Flügel wieder schneller schwingen. Natürlich muß man dabei hübsch auf dem goldenen Mittelweg bleiben (der führt am sichersten zu goldenen Mitteln). Und darf nicht über die Stränge schlagen." 24 Wie ein Balzacscher Geizhals Goldstücke hortet, hat er sich schon seit seinem dritten Lebensjahrzehnt Nickel um Nikkei „fürs Alter" zurückgelegt; allerdings ohne sich die geringste Unredlichkeit zuschulden kommen zu lassen und als ausgebeuteter Prolet, dessen qualifizierte Arbeit dem Profit von Händlern und Gewerbetreibenden zugute kommt. So stirbt er mit 32 Jahren, vom Darben und von verschleppter Krankheit völlig entkräftet. Die Frucht seines emsigen Sparens sind ganze „Hundertneunundvierzig Mark siebenundzwanzig". Die Angst um sein Geld erfüllt noch seine letzten, schon von Todesfurcht gekennzeichneten Tagebuchnotizen. Der Herausgeber ist vermutlich mit dem „fremden Herrn" zu identifizieren, der Hänfling aufsuchte, als er schon im Fieber lag, und der schließlich dafür sorgte, daß er ins Krankenhaus kam, aus dem er nicht mehr zurückgekehrt ist. Der fremde Herr tritt auch in anderen proletarischen, zum Kleinbürgertum neigenden Memoiren fast leitmotivartig am Schluß auf: bei Louis Fischer und im zweiten Band der Erinnerungen von Wenzel Holek als bürgerlicher Intellektueller und späterer Betreuer der Autobiographie.
Unter dem Einfluß der Sozialdemokratie Die 1905 bei Diederichs erschienene Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters von Moritz William Theodor Bromme überragt die Denkwürdigkeiten durch bewußtes Engagement für den proletarischen Klassenkampf und für die Errichtung einer neuen, sozialistischen Gesellschaftsordnung. Sie eröffnet die Reihe der vom Erlebnis der proletarischen Solidarität und vom Glauben an den Sieg der Arbeiterklasse getragenen Selbstdarstellungen. Der 1873 geborene Bromme schrieb schon seit 1893 als Sozialdemokrat für den 'Wahren Jakob, den Süddeutschen Postillion, für die Neue Welt und für die sozialdemokratische Tagespresse, so z. B. für den Vorwärts, Artikel und kleinere literarische Arbeiten. Sein Vater, ein durch wirtschaftliche Schwierigkeiten zum Gelegenheitsarbeiter gewordener Eisenbahner, war zwei Jahre jünger als Carl Fischer. Aber im Gegensatz zu Fischer, der aus einer ländlichen Kleinstadt stammte, lebte Vater Bromme bis in sein viertes Lebensjahrzehnt in Leipzig, wo er der SPD angehörte und während des Sozialistengesetzes illegal für sie arbeitete. Der Sohn Moritz Bromme 'besuchte unter großen Opfern der Eltern und auch unter eignen Strapazen - er mußte bald schon nebenher Geld verdienen - die Mittelschule, bekam aber als Kind eines Sozialdemokraten nach Schulabschluß kein seinen Leistungen entsprechendes Stipendium. So konnte er nicht studieren und, wie er es sich wünschte, Lehrer werden, ja bekam noch nicht einmal eine Stelle als Schreiber. Er war erst Kellner, dann Arbeiter in einer 'Knopffabrik und später Metallarbeiter. Das Fehlschlagen seines Planes, durch Studium eine bürgerliche Karriere einzuschlagen, das feste Verhaftetsein in den Reihen •des kämpferischen Proletariats bildeten die Grundlage für seine politische Entwicklung, die ihn befähigte, eine Autobiographie zu schreiben, die, wie Franz Mehring 1907 in der Neuen Zeit formulierte, „wie in einem Mikroskop die zu Grabe keuchende Misere der kapitalistischen Produktionsweise widerspiegelt und zugleich auch die siegreiche Erhebung aus der Misere durch den proletarischen Klassenkampf."25 Der erzwungene Verzicht auf den Wunschberuf hat in Brommes Leben Spuren hinterlassen. Trotz der im täglichen Klas29
senkampf geschliffenen Schärfe des Blicks für das Wesentliche der gesellschaftlichen Zusammenhänge blieb ihm zeitlebens ein einseitiger Bildungsoptimismus eigen, der ihn dazu verleitete, die Arbeiter in Gebildete und Ungebildete aufzuteilen und den ersteren die Erlangung der sozialen „Gleichberechtigung" zuzusichern. Andererseits führte sein eigenes stark ausgeprägtes Bildungsbedürfnis dazu, daß er neben seiner schweren Lohnarbeit und seiner abendlichen Parteiarbeit Arbeitspausen und Nachtstunden dazu benutzte, sich eine umfangreiche Belesenheit anzueignen, die dann wiederum den Drang selbst zu schreiben erweckte. Zwei miteinander in Verbindung stehende Faktoren sind also entscheidend für die Entstehung seines breitangelegten Buches (das Manuskript zu einem zweiten Memoirenband ist während des ersten Weltkrieges verloren gegangen) : seine sozialdemokratische Weltanschauung und seine als Sozialdemokrat erworbene enge Beziehung zur Literatur. Daneben zeigen sich individuelle Anlagen wie ein seit Generationen in der Familie vorhandenes Erzähltalent, ein vorzügliches Gedächtnis für Personen und Ereignisse, kulminierende Erlebnisse und Episoden aus seinem eigenen Leben wie für Geschichten, Anekdoten und Legenden, die er von anderen gehört hat. Außerdem fällt seine besondere Begabung für statistisch genaues Reproduzieren sozialökonomischer Sachverhalte, für Arbeitsvorgänge, Arbeitsprozesse und Arbeitsverhältnisse ins Auge. Obwohl Lassalles These vom friedlichen Hineinwachsen in den Sozialismus schon in der Zeit der heroischen Kämpfe der Sozialdemokratie gegen Bismarcks Terrorgesetz, an dem sich Brommes Vater aktiv beteiligt hatte, ad absurdum geführt worden war, hat dessen Einfluß die deutsche Arbeiterbewegung noch lange belastet. Sie hat auch Spuren in Brommes Autobiographie hinterlassen. Als Gegengewicht haben die Schriften von Engels und Bebel gewirkt, insbesondere Die Lage der arbeitenden Klasse in England von Friedrich Engels und August Bebels Die Frau und der Sozialismus. Im Unterschied zu Fischer, der sich trotz großer Liebe zur Mutter für die Frauenfrage nicht interessierte, hat Bebels Buch Brommes Lebensgeschichte ihren besonderen Stempel aufgedrückt. Die Frauenarbeit, die Notwendigkeit der Organisiertheit der Frau und die proletarische Ehe spielen eine Rolle. 30
Bromme behandelt zahlreiche Probleme der damaligen Arbeiterbewegung von einem konsequenten sozialdemokratischen Standpunkt. Göhre, der durch frühe Veröffentlichungen auf Bromme aufmerksam wurde und ihn zum Schreiben seines Buches anregte, hat ihm deshalb den Titel Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters gegeben, womit er zweifellos eine neue Stufe der Arbeiterautobiographie bezeichnen wollte. In seiner Einleitung gibt er zu, daß „modern" eigentlich „sozialdemokratisch" heißen sollte, was „aber bei der vielfach noch herrschenden unglaublichen Voreingenommenheit gegen die Sozialdemokratie für die Verbreitung des Buches wahrlich nicht günstig gewesen wäre." 26 Andererseits weist er auf das Neue hin: „Nur ein tiefgehender Unterschied findet sich inhaltlich zwischen der Fischerschen und der Brommeschen Lebens- und Menschenschilderung: bei jenem tritt die Sozialdemokratie gar nicht hervor, bei diesem steht sie in immer neu beleuchtetem Vordergrund. Sozialistische Erlebnisse, Gedanken und Interessen, sozialistische Arbeit und Gesinnung durchzieht wie ein - hier gilt also das Wort einmal buchstäblich - roter Faden jedes neue Kapitel des Brommeschen Buches» Man sieht deutlich, welche Bedeutung die sozialistische Weltanschauung für den Verfasser, seine engeren und auch weiteren Freunde und Arbeitsgenossen gewonnen hat: sie ist die geistige Lebensluft, in der sie atmen und ihre schwere Existenz überhaupt noch weiter zu führen den starken Mut haben; sie ist ihnen allen mehr oder weniger Lebensinhalt, Stecken und Stab, Schwert und Harnisch, Ideal und Wirklichkeit. Schließlich auch das Spalier, an dem sich auch die übrigen allgemeinen Bildungs- und insbesondere schöngeistigen und literarischen Interessen Brommes und seiner nächsten Freunde emporranken." 27 Und um die widerspruchsvolle Haltung Göhres herauszuarbeiten, zitieren wir auch sein eigenes Bekenntnis zur SPD, das er innerhalb seiner Ausführungen über Bromme ablegt: „Und wer noch hoffen wollte, dieheutigen Arbeitermassen der Sozialdemokratieabspenstig zu machen, der sehe sich die wirtschaftliche Lage, Entwicklung und Gesinnung eines Bromme und seiner Freunde an, die die Typen des modernen Fabrikproletariers bester Qualität sind - um alle derartigen Hoffnungen für immer begraben zu kön31
nen. - Ich schreibe das alles hier, nicht um eine, in diesem Zusammenhang übrigens gänzlich zwecklose Lobrede auf meine Partei zu halten, sondern um an Hand eines schlagenden und zugleich sehr neuartigen Materials einen organischen politischen Prozeß aufzuweisen, der, eben weil er organisch, auch unaufhaltsam ist und schließlich nicht nur Arbeiter, sondern alle nicht kapitalistischen Massen ergreifen muß."28 So weit ist Göhre in keiner von ihm eingeführten Autobiographie gegangen. Es scheint, daß ihn Bramme mit seinem vorgelegten Manuskript weiter mitgerissen hat, als er ursprünglich beabsichtigte. Auch in diesen Versuchen, sich nach (beiden Seiten anzupassen, zeigt sich der Charakter des Opportunismus. Bromme hat seinen Text selbst in Kapitel und Abschnitte gegliedert. Göhre hat ein Drittel des Umfangs, vor allem Weitschweifigkeiten gestrichen und die Namen der Nebenpersonen geändert. Wichtig ist für die Entstehung der Lebensgeschichte, zu berücksichtigen, daß Bromme im Gegensatz zu Fischer, der von der Warte eines abgeschlossenen Lebens an seine Denkwürdig• heiten heranging, seine Arbeit schon als 33jähriger begann und über die Hälfte des Manuskripts schrieb, als er noch selbst mitten im Produktionsprozeß stand, also in Nachtstunden nach anstrengender Fron als Metallarbeiter und unter beengten Wohnverhältnissen. Fischer war Junggeselle, Bromme Vater von sechs Kindern. Die zweite Hälfte schrieb er in etwas mehr Muße nieder, während des Aufenthalts in einer Lungenheilstätte, also unter starkem seelischen Druck: „Nach drei bis vier Jahren wird dann gewiß der heimtückische Bazillus sein Zerstörungswerk vollendet haben, und es wird eine Witwe mit sechs Waisen mehr in der Welt geben. Ein trauriges Los, so ein Proletarierleben . . . " Aber diesem persönlichen Verzweiflungsschrei setzt er kennzeichnenderweise die Worte hinzu: „Gleichwohl betrachte ich mich durchaus nicht als ein Märtyrer besonderer Art. Ich weiß genau, daß ich hunderttausende von Leidensgenossen habe, denen es ebenso schlecht geht als mir, und daß es aberhunderttausend gibt, die noch schlimmer und schwerer mit dem Dasein zu kämpfen haben als ich."29 Mit diesen Schwierigkeiten der Entstehung hängt die Erzählweise 32
der Lebensgeschichte der Denkwürdigkeiten
zusammen, die mit der epischen Breite Fischers nicht mehr vergleichbar ist.
Das agitatorische Moment, das bei Bromme erstmals hervortrat, beherrscht die 1909 zunächst anonym in München erschie-
nene Jugendgeschichte einer Arbeiterin von ihr selbst erzählt. Mit einführenden Worten von August Bebel. Die Verfasserin ist Adelheid Popp, eine österreichische Fabrikarbeiterin, die 1869 bei Wien geboren, also vier Jahre älter ist als Bromme. Diese Schrift war von großer agitatorischer, propagandistischer und bewußtseinsbildender Bedeutung für die Arbeiterklasse, insbesondere als Entwicklungsgeschichte einer proletarischen Frau. In bewußt knapper und plastischer Darstellungsweise der Umfang des Buches entspricht dem einer politischen Broschüre - wird in dieser Jugendgeschichte nachgewiesen, daß sich der Arbeiter aus dem größten Elend befreien kann mit Hilfe sozialistischer Erkenntnisse und durch Parteiarbeit, deren Ziel die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse ist. In diesem Sinne ist auch das Vorwort Bebels abgefaßt, das sich durch die klare theoretische, marxistische Einstellung zum Phänomen Arbeiterautobiographie von den widerspruchsvollen und opportunistischen Äußerungen Göhres zum gleichen Gegenstand unterscheidet. Auch Bebel, der damals bereits an seiner eigenen Autobiographie arbeitete, weist darauf hin, welche Bedeutung die Veröffentlichung von Arbeiterautobiographien „für die höhere Schicht unserer Gesellschaft" hat; ihr werde dadurch eine vollkommen neue Welt eröffnet, „eine Welt des Jammers, des Elends, der moralischen und geistigen Verkümmerung, daß man entsetzt fragt, wie ist solches in unserer auf ihr Christentum und ihre Zivilisation so stolzen Gesellschaft möglich?" 30 Bebel drückt klar aus, daß proletarische Lebensbilder von allgemeiner Wichtigkeit sind. Ebenso klar ist es, daß der alleinige Zweck solcher den proletarischen Kommunikationskreis durchbrechenden Veröffentlichung nicht lediglich Information sein kann oder sogar Erziehung des Bürgertums. Arbeitermemoiren sind Mittel des Klassenkampfes, wenn in ihnen die Ursachen des Mißverhältnisses zwischen Kapital und Arbeit und die daraus erwachsenden Konsequenzen dargestellt werden. 3
Münchow
33
Popps Buch hat bis 1930 sechs Auflagen erlebt. Die dritte Auflage erschien 1910 auf Rat Bebels nicht mehr anonym, und im Unterschied zur Erstfassung, die bis 1893 reicht, wurde die Biographie gestrafft bis zum Jahre 1910 weitergeführt. Die ]ugendgeschichte der Wiener Arbeiterin war besonders in Deutschland weit verbreitet. Die Entstehung und Vorgeschichte weist Parallelen zu der Brommes auf. Aber die Emanzipation Adelheid Popps ging rigoroser und kompromißloser vor sich als bei Bromme, weil sie als Frau noch mehr zu gewinnen hatte. Deshalb ist auch ihre Selbstverständigung rigoroser. Popp ist kritischer sich selbst gegenüber, sie bezeichnet ihre Fehler und Irrtümer, z. B. ihre zunächst „blinde" Lesewut, prägnanter. Wichtige Faktoren sind ferner, daß ihre Entwicklung in einer großen Industriestadt erfolgte, während Bromme in Thüringen unter vergleichsweise provinziellen Verhältnissen lebte, und daß sie nur auf eine alte Mutter Rücksicht zu nehmen hatte, Bromme aber früh die Verantwortung für eine eigene wachsende Familie auferlegt war. Die Popp stammt aus größerem Elend, aucli aus größerem geistigen Elend als Bromme. Sie hat nur vier Jahre die Grundschule besuchen können und einen Säufer zum Vater gehabt, der früh starb und die Sorge für die Familie der Mutter überließ, die nur daran interessiert war, die Kinder so früh wie möglich in Lohnarbeit zu bringen. Auch war Popp als junge weibliche Arbeitskraft dem Unternehmer gegenüber doppelt versklavt. Desto eruptiver und schneller ging der Prozeß der Wahrheitsfindung, der doppelten Emanzipation durch geradezu leidenschaftliche Lernbegierde und durch politische Schulung unter Einfluß der Sozialdemokratie vor sich. Popp ist wie Bromme durch Erzähltalent, durch ein enges Verhältnis zur Literatur und durch die Bindung an die Arbeiterbewegung zum Schreiben gekommen. Doch während Brommes Veranlagung mehr zur Darbietung von Materialfülle neigt, ist Popp die geborene Agitatorin und Rednerin, die zur stärkeren Auswahl und zugespitzten Zusammenraffung von Fakten talentiert ist und sie in ihrer ]ugendgeschichte in pädagogischer Absicht für ihre Klassengenossinnen darbietet, „um allen Arbeiterinnen zu zeigen, daß sie, wenn sie nur Mut und Selbstvertrauen aufbringen, sich ebenfalls vom Druck der proletari34
sehen Not befreien und zu Vorkämpferinnen für den Sozialismus werden können".31 Ebenfalls 1909 erschien der Lebensgang eines deutsch-tschechischen Handarbeiters von Wenzel Holek, wiederum durch Fischers Denkwürdigkeiten angeregt und von Göhre herausgegeben. Holek hat sich von fast unvorstellbarem Druck befreit, ehe er zum Schreiben kam. Der 1864 in Böhmen geborene Sohn tschechischer Wanderarbeiter wurde immer wieder gezwungen, für die Familie betteln zu gehen, bis er dann vom 10. Lebensjahr an durch schwere Lohnarbeit zum Lebensunterhalt beizutragen in der Lage war. Seine Eltern konnten weder lesen noch schreiben. Er selbst hat kaum drei Jahre eine Schule besuchen können. Desto größer war sein Nachholebedarf, besonders nachdem er 1883 in Aussig Kontakt mit der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung bekam. Die vier Jahre in Aussig sind Höhepunkt und Wende in seinem bisherigen Leben. Das Kapitel seiner Autobiographie, das darüber berichtet, nennt er noch 25 Jahre später Befreiung. Wie es bei Popp und später bei Rehbein war, machte ihn ein älterer Arbeiter mit Parteiliteratur bekannt. Danach besuchte er einen sozialdemokratischen Arbeiterbildungsverein, der damals noch halb illegal war, und begann systematisch zu lesen und schrieb auch einen ersten Beitrag für 'die Parteipresse. Wegen seiner politischen Tätigkeit verfolgt und aus der Arbeit entlassen, mußte er wie vorher wieder auf Wanderschaft gehen. Er blieb Sozialdemokrat, aiuoh nachdem er in Sachsen seßhaft geworden war. Ohne die Arbeiterbewegung wäre der Sohn von Analphabeten nicht zum Schreiben gekommen. In dem 1921 folgenden zweiten Band seiner Selbstbiographie Vom Handarbeiter zum Jugenderzieher, herausgegeben von Theodor Greyerz, ebenfalls bei Diederichs erschienen, berichtet Holek Einzelheiten über die Entstehung seines Lebensganges, und zwar im Kapitel: Fronarbeiter und Schriftsteller. Er erzählt, er habe 1907 in Dresden in einer Glashütte gearbeitet und zusammen mit einem Kollegen täglich einen Glasofen zu entschlacken gehabt. Da er die Handgriffe so zu vereinfachen verstand, daß die Arbeit drei bis vier Stunden früher beendet war als gefordert, konnte er sich Freizeit zum Schreiben erobern. Er hatte bis dahin 3*
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schon mehrere Artikel für die Parteipresse geschrieben. Als ihm der sozial denkende junge Deutsch-Schweizer Greyerz, der in Deutschland Philologie studierte, zusammen mit anderen Büchern eines Tages auch Fischers Denkwürdigkeiten lieh, wurde in ihm die Idee wach, sein Leben aufzuschreiben: „Als ich das Buch gelesen hatte und es ihm zurückbrachte, besprachen wir dessen Inhalt, die Erlebnissedes Arbeiters Fischer. Ich fand nichts Übertriebenes in seinen Schilderungen; ich hielt sie für so wahr wie die Sterne am Himmel. Endlich äußerte ich mich dahin, daß auch ich Stoffe genug hätte, ein solches Buch zu schreiben. Er munterte mich nun in allem Ernst auf, es zu versuchen."32 Holek legte sich einen Gesamtüberblick für seine Autobiographie an, eine Art Gliederung des Stoffes und gedachte sein Buch mit dem Kapitel Befreiung abzuschließen. Ähnlich wie Popp kam es ihm also in der Hauptsache auf die Geschichte seiner Jugend an, die mit der Hinwendung zur Sozialdemokratie ihre entscheidende Zäsur erhalten hatte. Wir haben von keinem Memoirenschreiber so genaue Angaben über die Herstellung des Textes wie von Holek. Während der Arbeit am Glasofen stellte er in Gedanken seine Erinnerungen zusammen, zu Hause schrieb er sie dann nieder, täglich bis zu vier Seiten, die ihm dann seine Frau, die die deutsche Rechtschreibung besser beherrschte als er, durchsah. Am Sonntag schaffte er das Doppelte. „Es kam aber auch vor, daß ich von der Arbeit, der Hitze und dem Schwitzen so geschwächt war, daß ich lieber ausruhte und das Schreiben unterließ, weil ich nichts Ordentliches zusammengebracht hätte."33 Nach Überstehen von Schwierigkeiten in der Arbeitsstelle hatte er schließlich mit 360 Seiten sein Manuskript nach dem ursprünglichen Plan abgeschlossen. Erst nachdem es ihm mehrmals mißlungen war, selbst einen Verleger für seinen Text zu finden, wandte er sich an Göhre, der ihm seine Hilfe zusagte, ihn aber bezeichnenderweise überredete, den Text zu erweitern, weil die Leser das Recht hätten, sich auch über seinen weiteren Lebensweg zu informieren. Mitte Dezember 1908 war Holek auch damit fertig, im Mai 1909 erschien der erste Band seiner Autobiographie, der Lebensgang eines deutsch-tschechischen Handarbeiters auf dem Büchermarkt, aus 600 Manuskriptseiten sind 326 Druckseiten geworden. 200 Mark Vorschuß, die er 36
wegen einer schweren Erkrankung seiner Frau gleich nach Ablieferung des Manuskriptes erhalten hatte, sind vein Kapital, das er noch nie besessen hat. Im Zusammenhang damit bekennt Holek, welche Absicht er mit der Aufzeichnung seiner Memoiren verfolgt habe: „Er (Göhre - U. M.) suchte mir die etwaigen Hoffnungen auf großen schriftstellerischen Verdienst, den die meisten Leute voraussetzen, zu zerstreuen. Das hätte er nicht nötig gehabt; soviel hatte ich schon erfahren, daß es den meisten Schriftstellern miserabel geht. Allerdings wollte ich die Arbeit nicht ganz umsonst gemacht haben; aber die Hauptsache, an der mir zunächst lag, war die, daß ein Dokument des Arbeiterlebens in die Welt komme. Diese Sicherheit hatte ich nun und war zufrieden. Das war der Leitgedanke, der mich überhaupt dazu bewogen hatte, die Feder in die Hand zu nehmen."34 Von diesem ersten Band, der zum Schwerpunkt unserer Untersuchungen rechnen wird und auch die Bedeutung der Holekschen Autobiographie ausmacht, brachte der DiederichsVerlag bis 1930 viertausend Exemplare heraus. Den zweiten Band beziehen wir ein, weil er als Fortsetzungsband dazugehört und auch bereits 1916 abgeschlossen wurde. Außerdem ist er ein besonders interessantes Dokument für die Fehlentwicklung der SPD und eins der wenigen, das von den ideologischen Auseinandersetzungen innerhalb der Arbeiterklasse dieser Jahre zeugt. Holeks Lebensgang I und II zeigen die Gefährlichkeit des in Brommes Autobiographie nur ansatzweise in seiner Auswirkung sichtbar gewordenen einseitigen Bildungsoptimismus mit allen Konsequenzen. Der bürgerliche Freund Greyerz, der so glücklich darüber war, daß Holek sich zum Geistesarbeiter entwickelt hatte und die deutsche Sprache besser beherrschte und sogar lieber und sicherer sprach als seine Muttersprache, das Tschechische, und Göhre, der mit der reformistischen Entwicklung der SPD ganz einverstanden war, haben im Falle Holeks ihren Teil Schuld daran. Welcher Art die Kürzungen sind, die Göhre neben den grammatischen Zurechtstellungen am Originalmanuskript Holeks vorgenommen hat, ist heute leider nicht mehr feststellbar. Wohl aber muß an dieser Stelle der berechtigten Polemik Mehrings gegen Göhre zugestimmt werden, der sich gegen die 37
„ästhetische Verseichtbeutelung des modernen Proletarierloses" wandte, die dieser in seiner Einleitung zu Holeks Buch betrieben hat, indem er dessen Lebensgang als tragisch bezeichnete. Es handelt sich um Göhres Sätze: „Für Herrn Holek ist, nach seinen Schilderungen, die Sozialdemokratie seines Lebens höchstes Glück und Unglück zugleich geworden. Sie gab dem Zwanzigjährigen, der bis dahin in geistiger Dumpfheit dahingedarbt, das, wonach er mit allen Fasern hungerte: Licht, Bildung, Kameraden, Selbstbewußtsein, Selbständigkeit, Freiheit und Kampf. Und sie nahm ihm, der alle diese neuen Güter, Kräfte und Möglichkeiten nun in jugendlichem Feuereifer auch betätigte, zugleich allmählich jeden sicheren Existenzboden, brachte ihm dafür Verfolgung, Isolierung und Hunger. Selbst die vermeintliche Untreue seiner ersten Frau und der Zusammenbruch seines ohnehin kärglichen Eheglücks, schließlich auch der unausweichbare Zwang zur Auswanderung, selbst das ist auf das Konto seiner sozialdemokratischen Gesinnung und Betätigung zu setzen. Die Sozialdemokratie, die ihm alles Höchste in seinem Leben gab, raubte ihm zugleich alles Notwendige. Dänin liegt wohl auch der tragische Höhepunkt im Leben dieses Mannes, 'der sich meines Wissens heute nicht mehr politisch betätigt. Und doch ist er auch in dieser Beziehung keine Ausnahmeerscheinung, sondern ein Typus." 3 5 Man kann, um einen Einblick in die um die frühen Arbeiterautobiographien entbrannten Diskussionen zu vermitteln, nicht darauf verzichten, Mehrings Entgegnung direkt wiederzugeben: „Jede Tragik setzt eine Schuld des tragischen Opfers voraus; insofern mag es zum Beispiel vom theologischen Standpunkt aus tragisch sein, wenn eine ,wilde Ehe', die auf den Pfaffensegen verzichtet hat, durch die .vermutliche Untreue' der Frau zerrüttet wird. Aber ein tragisches Schicksal darin zu entdecken, daß die Arbeiter durch die kapitalistische Produktionsweise mit Geißeln und, wenn sie sich dagegen auflehnen, mit Skorpionen gezüchtigt werden, das ist sinn-, hoffentlich auch zweck-, aber keinesfalls wirkungsloses Gerede, vielmehr das geeignete Mittel, die harte Kost solcher Arbeiterbiographien für Bourgeoisleser schmackhaft zu machen, besonders wenn sich diese Leser in dem Wahn wiegen können, daß sich das tragische Schicksal in keinem tragischen Tod entladen, sondern das tra-
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gische Opfer nur so mürbe gemacht hat, daß es im Dienste des Kapitalismus weiterschuftet, ohne zu räsonieren." Und Mehring fügt zur Verteidigung Holeks hinzu: „Um der Gerechtigkeit willen wollen wir übrigens noch hervorheben, daß für den Verzicht Holeks auf politische Betätigung nur das .Wissen' Göhres als Beweis vorliegt; aus Holeks Erzählung geht allein hervor, daß er durch harte Schicksale aus den vorderen Reihen des proletarischen Emanzipationskampfes zurückgedrängt, aber keineswegs, daß er diesem untreu geworden ist." 36 Die letzte von Göhre herausgegebene Arbeiterautobiographie, Franz Rehbeins Das Leben eines Landarbeiters, ist wie die Holeks 1907 entstanden, aber erst postum (Rehbein ist schon 1909 in Berlin gestorben) 1911 erschienen. Rehbein ist einen ähnlichen Weg gegangen wie alle mit der SPD verbundenen Biographen. Er ist jedoch der ideologisch am weitesten Entwickelte, was sich auch auf sein Buch auswirkt. Sein revolutionärer Klassenstandpunkt, sein klares Wissen vom notwendigen Sieg der deutschen Arbeiterklasse über die junkerlioh-bourgeoise Ordnung bestimmen die Warte, von der aus seine Selbstbiographie geschrieben ist. Sie unterscheidet sich auch durch inhaltliche und stilistische Geschlossenheit und Ausgeglichenheit von den vorhergegangenen. Sie zeigt keine so ausladende epische Breite wie die Fischers, kein Einschalten von Statistiken wie in . der Brommes, keine Häufung subjektiver Reflexionen, zu denen Holek neigte, und dennoch im Unterschied zu Popp, die über die Ereignisse ihres eigenen Lebens hinaus nur ihre unmittelbare Umwelt erfaßt hat, ausgehend von den ländlichen Verhältnissen Norddeutschlands die Gestaltung eines realistischen Zeitbildes. Rehbeins Buch hat schon ausgesprochen poetische Züge. Rehbein ist 1867 im ehemaligen Hinterpommern geboren als Sohn eines Dorfschneiders und einer Landarbeiterin. Mit 14 Jahren wurde er auf Wanderschaft geschickt und mußte hinfort für sich selber sorgen. Er war als Hütejunge, Knecht und Tagelöhner in Schleswig-Holstein tätig, bis er mit 28 Jahren, flachdem er schon eine eigene Familie gegründet hatte, durch einen Unfall am Dreschkasten einen Arm verlor und für Landarbeit untauglich wurde. 39
Für die Entstehungsgeschichte seiner Autobiographie ist wichtig zu wissen, daß Rehbein schon als Landarbeiter zur SPD gestoßen ist und für sie aktiv war, ferner daß schon damals der Einfluß marxistischer Schriften auf ihn stärker wirkte als der Lassalles. Als Invalide war er zunächst zusammen mit seiner Frau Austräger der sozialdemokratischen Schleswig-Holsteinischen Volkszeitung in Kiel, dann übernahm er den selbständigen Vertrieb dieser Zeitung. Schon in Kiel setzte eine strenge autodidaktische Weiterbildung ein. Nachdem er 1899 den Verlag der SPD-Zeitung in Elmshorn übernommen hatte, wurde aus dem lesenden der schreibende Arbeiter, indem er Artikel über die Lage der Landarbeiter veröffentlichte. Ab 1902 war er Berichterstatter des Vorwärts und ab 1907 Mitglied der zentralen Gewerkschaftsleitung in Berlin. Sein Buch ist aus eigener Initiative entstanden, als Extrakt seiner politisch-journalistischen Tätigkeit. Die Verbindung zu Göhre ist ähnlich wie bei Holek erst später hergestellt worden. Die Alternative seiner Autobiographie ist vorwiegend politisch, sie geht über das Niveau der damaligen SPD hinaus, die Maßnahmen zur engeren Verbindung von Stadt und Land vernachlässigte. Rehbeins Alternative ist von vornherein nicht bloße Information, sondern scharfer Angriff. Das Bilanzziehen über sein eigenes Leben ist ihm mehr Mittel zum Zweck. Sein persönliches Credo ist mit der Parteilichkeit seiner Ausführungen über die gesellschaftlichen Verhältnisse, die die menschenunwürdige Situation des ländlichen Proletariats verursachen, identifizierbär. Deshalb bricht er seinen Lebensbericht mit der Schilderung seines Arbeitsunfalls und mit einem kurzen, sein Anliegen noch einmal zusammenfassenden Epilog ab. Im Gegensatz zu Holek hat er sich offenbar auch durch Göhre nicht bewegen lassen, etwas über seine weitere Entwicklung, die immerhin für ihn selbst bedeutungsvoll war, in das Buchmanuskript aufzunehmen. Daß noch Verhandlungen stattgefunden haben, geht aus den brieflichen Berichten Rehbeins an Göhre hervor. In diesem Falle besteht Göhres Verdienst darin, daß er in seiner Einleitung noch zusätzliches biographisches Material über Rehbein aus seiner Korrespondenz mit ihm aufbereitet und mitgeteilt hat, wodurch dem heutigen Leser die Entstehungssituation der Lebensgeschichte eines Landarbeiters mit 40
ihren einzelnen ideologischen Merkmalen verständlicher wird. Aus welchen Gründen sich die Drucklegung dieses Werkes bald vier Jahre hingezogen hat, so daß Rehbein sie nicht mehr erlebte, bleibt unklar. Diese erste Landarbeiterbiographie hat ihren besonderen historischen Stellenwert in der Entwicklung einer sozialistischen Literatur. Der Hinweis auf ein etwa zur gleichen Zeit im zaristischen Rußland veröffentlichtes autobiographisches Werk, das die ländlichen Verhältnisse aus der Perspektive der unterdrückten Klasse schildert, macht den internationalen Zusammenhang und die nationalen Besonderheiten dieser Entwicklung deutlich. Es handelt sich um die 1912 in Moskau erschienene Trilogie von Iwan Wolnow Erzählung aus meinem Leben, die vom Umbruch im russischen Dorf Zeugnis gibt, das sich auf den Widerstand gegen die herrschende Ordnung vorbereitet. Waren in Deutschland die von der SPD erfaßten Landarbeiter Träger der notwendigen Opposition gegen die bestehenden Verhältnisse in den rückständigen Agrargebieten, so ging die Auflehnung der ländlichen Bevölkerung in Rußland zunächst von den armen Bauern aus. Tolstoi hatte 1904 in Hadschi Murat noch die politische Naivität und Rückständigkeit der Bauern, aber auch ihren Haß gegen die Unterdrücker gestaltet. Die sozialen Gegensätze waren im zaristischen Rußland, wo die Leibeigenschaft erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts beseitigt worden war, auf dem Lande besonders groß. Stürmische Bauernunruhen hatte es zu Beginn des 20. Jährhunderts in ganz Rußland gegeben. Die wachsende Kraft der Arbeiterklasse begann sich dann auch auf die Landbevölkerung auszudehnen. Solch ein von 'der russischen Sozialdemokratie beeinflußter armer Bauernsohn war auch Iwan Wolnow (1885 bis 1931), der in seiner Autobiographie von seiner Entwicklung zum Empörer berichtet. Dies zumindest verbindet den jungen, vorrevolutionären Wolnow mit Rehbein:
Die repräsentative Autobiographie des sozialdemokratischen Politikers Die große Bedeutung der Autobiographie August Bebels kann nicht besser gekennzeichnet werden als mit den Worten Rosa Luxemburgs, die 1913 schrieb: „Die deutsche Sozialdemokratie hat in ihrem Werdegang viele imposante Charaktere, talentvolle Köpfe an ihrer Spitze gesehen. Sie hat keinen gehabt, der die Vorbedingungen eines Führers der modernen proletarischen Klassenbewegung, wie sie durch die objektiven Bedingungen dieser Bewegung gegeben sind, in so hohem Maße und in so glücklicher Mischung besessen hätte wie August Bebel. Vor allem ist die geistige Lebensgeschichte Bebels mit der Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie gleichbedeutend. Weder hat sich Bebel als geistig Fertiger der Klassenpartei des Proletariats angeschlossen, noch war die Sozialdemokratie ein reifes Parteigebilde, als er in ihre Reihen trat. Bebel hat den ganzen Werdegang der Partei seit den 60er Jahren mitgemacht, er rang sich von bürgerlich-demokratischer zu proletarischrevolutionärer Auffassung zusammen mit der Vorhut der Arbeiterklasse durch, er hatte alle inneren und äußeren Kämpfe und Krisen der jungen Partei mitgemacht."37 Bebel schritt, selbst ein Arbeiter, Schulter an Schulter mit dem sich entwikkelnden deutschen Proletariat. Er lebte das Schicksal seiner Klasse wie jeder bewußte Arbeiter und entwickelte sich dabei zur großen geschichtsbildenden sozialistischen Persönlichkeit. Die dreibändigen Memoiren August Bebels - den Lenin einen Revolutionär nannte, der sich zum fähigsten Parlamentarier entwickelt hat - Aus meinem Leben (1910-1914) sind groß angelegt. Bebel hat sich bei seinen Vorarbeiten dazu einer umfangreichen Quellensammlung bedient, weil er sich nicht allein auf sein Gedächtnis verlassen wollte. Der Plan dazu stammt noch aus den 80er Jahren. Doch erst nach der Jahrhundertwende konnte er die Realisierung in Angriff nehmen. Ein Jahrzehnt beschäftigte er sich mit Vorarbeiten, ehe er 1909 zu schreiben anfing. Der Zeitpunkt des intensiven Beginnens mag vom Erscheinen der Jubiläumsauflage von Die Frau und der Sozialismus (50. Auflage) beeinflußt worden sein, vor allem aber vom Gesundheitszustand des bald 70jährigen, dem daran 42
gelegen war, seiner Partei eine Art Vermächtnis, ein politisches Testament zu widmen. Die besondere Absicht, die Bebel mit seiner Autobiographie verfolgte, war, in der Zeit des sich immer mehr zuspitzenden Klassenkampfes und der zunehmenden Abweichungen und Schwankungen in den eignen Reihen die revolutionären Traditionen der Sozialdemokratie heraufzubeschwören und so das Bewußtsein der deutschen Arbeiterklasse neu zu festigen. Dabei sah er Wahrheitsliebe und Aufrichtigkeit als oberste Maxime zur Verwirklichung der erzieherischen Tendenz seines Werkes an. Anfang 1910 erschien der erste Band von Aus meinem Leben, der mit Berichten aus Bebels Kinder- und Jugendjahren beginnt und mit dem Eisenacher Kongreß von 1869 endet. Im Vorwort hat er sein Credo genau formuliert: „Ich habe die Wahrheit gesagt, auch dort wo mancher denken wird, ich hätte besser daran getan, sie zu verschweigen. Diese Absicht teile ich nicht. Es gibt keinen fehlerlosen Menschen, und manchmal ist es das Bekenntnis eines Fehlers, das den Leser am lebhaftesten interessiert und zur richtigen Beurteilung befähigt."38 Es ist seine feste Überzeugung, daß sich die revolutionäre Arbeiterklasse durch mutige Erkenntnis von Fehlern und Irrtümern weiterentwickeln und dadurch reif werden wird zum Endkampf gegen die Bourgeoisie. Lenin knüpft in seinem Gedenkartikel für Bebel in diesem Sinne an dessen Bekenntnis zur Wahrheit und Ehrlichkeit an, unter Anführung einzelner Beispiele aus der Autobiographie, und schließt mit den Worten: „Die Periode der Vorbereitung und Sammlung der Kräfte der Arbeiterklasse stellt in allen Ländern eine notwendige Etappe der Entwicklung des internationalen Befreiungskampfes des Proletariats dar. Niemand hat so ausgeprägt die Besonderheiten und Aufgaben dieser Periode verkörpert wie August Bebel." 39 Der zweite Banid von Aus meinem Leben erschien im Dezember 1911. Er ist mit 420 Seiten der umfangreichste der Autobiographie, obwohl er nur bis zum Jahre 1878 führt, also knapp ein Jahrzehnt beschreibt. Bebel schrieb deshalb im Geleitwort zu diesem Band: „Er wuchs mir unter den Händen zu einer Art Geschichte der Partei." Und in einem Brief an Victor Adler bekannte er: „Im übrigen kommt der Band ganz ä propos für die jetzige Situation." 43
In einer Situation, da die Revisionisten nach Zusammenarbeit mit der Bourgeoisie strebten und die Zentristen jede revolutionäre Politik ablehnten, war eine Abrechnung mit dem Lassalleanismus und eine anschauliche Darstellung der Herausbildung der marxistischen Arbeiterpartei, wie sie Bebel im zweiten Band vorgenommen hat, in der Tat am Platze. Der dritte Band sollte bis zum Jahre 1890 führen, also die Zeit des Sozialistengesetzes behandeln und mit der Legalisierung der Partei abschließen. Weiter wollte er seine Erinnerungen nicht schreiben.- Dieser Band bricht aber mit der Schilderung der Ereignisse des Jahres 1883 ab. Der Tod nahm Bebel 1913 die Feder aus der Hand. Er hatte jedoch testamentarisch verfügt, daß sein Text unverfälscht und ohne Hinzufügung oder Fortsetzungen gedruckt werden sollte. Insbesondere sollten auch Namen nicht etwa abgekürzt wiedergegeben werden, soweit er dies nicht selbst im Manuskript getan habe: „Da ich mit Wissen niemand Unrecht getan habe und die historische Wahrheit erfordert, daß nicht gefärbt wird, so liegt kein Grund vor, an dem Niedergeschriebenen zu ändern."4" Kautsky hat sich als Herausgeber des 1914 veröffentlichten Bandes daran gehalten und nur die Arbeit des „feilenden Redakteurs" geleistet.41 Clara Zetkin hat am offenen Grabe Bebels prophetische Worte gesprochen: „Das größte und dauerndste Denkmal von Deinem Leben und Tun wird die sozialistische Gesellschaft sein, das Heim der befreiten Menschheit"42 und damit bezeichnet, was die Lebensgeschichte Bebels uns heute bedeutet. In ihrem Gedenkartikel in der Gleichheit hat sie noch genauer formuliert: „Bebels Wesen und Wirken ist mehr als eine bloße Widerspiegelung der zeitgenössischen Geschichte des proletarischen Befreiungskampfes. Es ist das Fleisch und Blut gewordene proletarische Klassenleben, dessen unbezwingliche Wesensäußerung eben diese Geschichte ist. Daher wurde Bebel mehr als ein Träger, er wurde ein Gestalter, der Gestalter der Geschichte."43
Schriftstellerautobiograpbien Die Memoiren früher proletarischer Schriftsteller haben den gleichen Ursprung, sind vom gleichen Klassenstandpunkt geschrieben wie die aus der Sozialdemokratie hervorgegangenen Arbeiterautobiographien. Sie haben nur stärker die Möglichkeit zum Selbstbekenntnis und z. T. zur kritischen Selbstverständigung genutzt. Außerdem treten in der Schriftstellerautobiographie erzählerische Formen gegenüber der autobiographischen Dokumentation mehr in den Vordergrund, geben ihr den Hauptakzent. Das ist eine Erscheinung, die sich schon aus der bewußteren künstlerischen Aufgabenstellung der Arbeiterdichter ergab, wenn sie beispielsweise vorher mit Lyrik und Dramatik hervorgetreten waren und mit ihrer Autobiographie zugleich ein erzählerisches Werk begannen. Sie gaben ihm deshalb auch einen den Inhalt veranschaulichenden, aussagekräftigen Haupttitel und bekannten sich erst im Untertitel zum autobiographischen Genre. Die Neigung zur Selbstdarstellung ist bei allen frühen sozialistischen Schriftstellern mehr oder weniger vorhanden gewesen, weil, wenn proletarisches Leben, Sehnsucht und Ziel der Klasse, darzustellen waren, das eigene Leben den konkretesten Ausgangspunkt lieferte. Ernst Preczang und Emil Rosenow haben in ihren frühen Familiendramen das Milieu, aus dem sie stammen, und entscheidende Jugenderlebnisse gestaltet. Autobiographischen Charakter hatten schon Rudolf Lavants Roman Auf verlorenem Posten (1878) und August Otto-Walsters im amerikanischen Exil entstandenen Erzählungen Amerikanische Geschäftsleute (1877) und Deutsche Tramps in Amerika (1879). Selbst in der Lyrik dieser Periode gibt es in Ich-Form geschriebene Bekenntnis- und Erlebnisgedichte, in denen persönliche Verhältnisse beschrieben, dabei Los und Kampfziel der Klasse ausgedrückt werden. Doch reduzieren solche symptomatischen Erscheinungen nicht die Eigenständigkeit des autobiographischen Genres. Lu Märten und Otto Krille haben ihre Memoirenwerke geschrieben, nachdem sie schon mehrere Jahre als sozialdemokratische Schriftsteller hervorgetreten waren und einen gewissen künstlerischen Reifegrad erreicht hatten. Kennzeichnend ist,
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daß beide Werke - Lu Märtens Torso. Das Buch eines Kindes (1909) und Krilles Unter dem Jocb. Die Geschichte einer Jugend (1914) - Kindheits- und Jugendgeschichten sind, was nicht erstrangig poetische Gründe hat, die mit den Reizen dieses Lebensalters zusammenhängen. Die Schilderung proletarischer Kindheit ergibt eindrucksvolle Ansätze zur Gesellschaftskritik. Lu Märten entstammte keiner Arbeiterfamilie, wie vielfach behauptet wurde 44 , sondern aus mittellosem und durch Krankheit verarmtem Kleinbürgertum, also wie Preczang, Rosenow und auch Bebel aus proletarisierten Verhältnissen. Und sie ist in ihrer Jugend Arbeiterin gewesen, ebenso wie ihre Geschwister von Lohnarbeit lebten. Wir halten uns an persönliche Aufzeichnungen Lu Märtens, die sie im Alter für den mit ihr befreundeten Alexander Mette 45 * angefertigt hat, und die es ermöglichen, die in ihrem Buch Torso teilweise verhüllt dargebotenen Fakten über sich selbst und die Hintergründe der Entstehung dieses in Tagebuchform und mit verschlüsselten Namen versehenen Bekenntniswerkes deutlicher zu sehen. Lu Märten ist 1879 in Berlin geboren und, obwohl sie aus einer mit der damals als „Proletarierkrankheit" bezeichneten Schwindsucht behafteten Familie stammt, deshalb in jungen Jahren beide Eltern und drei Geschwister verlor, und obwohl sie selbst als Kind viel krank war, sehr alt geworden. Sie starb mit 91 Jahren in Berlin-Steglitz. Der in ihrer Kindheitsgeschichte verwendete Familienname Loewen ist eine poetische Umformung des Geburtsnamens ihrer Mutter, von Loeben, die einer zu Handwerkern gewordenen verarmten Adelsfamilie entstammte. Märtens Vater hatte sich wie der Bebels als Soldat ein Lungenleiden zugezogen, 1871 eine kleine Beamtenstellung erhalten, war dann aber später arbeitsunfähig geworden und mit seiner Familie proletarisiert. Sie selbst konnte wegen Krankheit die Schule nur unregelmäßig besuchen, las aber schon früh sehr viel, bildete sich als Gelegenheitsarbeiterin autodidaktisch in Geschichte, Philosophie und Kunstgeschichte weiter und begann ab 1896 Artikel für Zeitungen und Zeitschriften zu schreiben. Mit 19 Jahren ist Märten in die SPD eingetreten und hat schon nach der Jahrhundertwende kunsttheoretische Beiträge für die Parteipresse geschrieben, die 46
Rückschlüsse auf gründliches Studium des wissenschaftlichen Sozialismus schließen lassen. Sie gehört zu den wenigen SPDMitgliedern, die die Konsequenz aus der Fehlentwicklung ihrer Partei zogen und 1920 der K P D beitraten. Ihr Gedichtband Meine Liedsprachen (1907) und das Schauspiel in einem Akt Bergarbeiter (1909) zeigen ihre Neigung, psychologische Vorgänge bzw. inneres Ringen zu gestalten und die feinen seelischen Entwicklungsphasen und Nuancen wiederzugeben, die beispielsweise dem Entschluß zu einer politischen Tat vorausgehen. Mehring nannte ihr im Dietz Verlag erschienenes Stück „eine ergreifende und erschütternde Szene aus dem Leben der Bergarbeiter, in der feine Psychologie in glücklichem Gleichmaß mit der dramatischen Kraft steht." 46 Dieser Einakter hat sie weithin bekannt gemacht, er ist, wie sie Mette berichtet, bis 1931 selbst in vielen Städten Japans aufgeführt und sogar ins Chinesische übersetzt worden. Der Geist, der aus diesem Werk spricht, macht auch das Beste von Torso aus. Zwar schrieb sie an Mette, daß dies Buch „weiterhin ohne Glauben an eigene Lebensfähigkeit" entstand. Und aus diesem Gefühl der Unvollständigkeit, aus der bangen Frage nach dem Weiterhin, die vor allem den letzten Teil des Buches beherrscht und manchmal selbstkritisch seelische Wirren dokumentiert, ist zweifellos auch der Titel Torso abgeleitet. Doch wie die Elendsschilderung in Bergarbeiter durch das Aufzeigen der revolutionären Lösung überstrahlt ist, so steckt die Autobiographie voll kluger ideologischer und ökonomischer Erkenntnisse und gibt ein gutes Bild proletarischer Entwicklung bei aller Eigenart der Darstellung. Ein Bekenntnis zum proletarischen Leben sind auch die ausführlichen Berichte über ihren Bruder, der Arbeiter war und eine Arbeiterin geheiratet hatte. Die Qualität der Darstellung besteht darin, daß Lu Märten, ohne auf revolutionäre, gegen jegliohen Reformismus gerichtete Parteinahme zu verzichten, bestrebt ist, Vereinfachungen zu vermeiden, die Erlebnisse und Erscheinungen in ihrer Kompliziertheit zu erfassen und mit Mitteln poetischer Überhöhung zu gestalten. Ein 1906 in der Neuen Welt veröffentlichter Aphorismus zum Thema Kunst, Klasse und Sozialismus gehört zur Vorge47
schichte, kennzeichnet Eigenart und Ideengehalt dieser Schriftstellerautobiographie am besten und soll an dieser Stelle dem Leser einen Eindruck vom Sprachstil der Verfasserin geben: „Der neue Zukunftsgedanke der Menschheit ist zugleich die Heimat des neuen Künstlers. Wo Arbeiter und Wissenschaft die Wege dahin ebnen, wo einzelne Spitzen und Türme die junge, neue Menschenstadt bezeichnen, da rauscht auch sein Flügel drüberhin. Nicht so, als ob er den Sozialismus nur im alten, utopischen Sinne zu deuten wüßte. Er kann wissenschaftlich sehr wohl erkennen, daß es sich beim Sozialismus zunächst um die Richtung handelt, in die das Proletariat gemäß seinem wirtschaftlichen Sein und dessen Erkenntnis in seinem geschichtlich notwendigen Kampfe gezwungen wird. Aber es liegt in seinem Wesen als Künstler - und es liegt im Wesen der Kunst, daß, sobald sie die ökonomischen und allgemeinen Kulturkämpfe und Ziele in ihre Gestaltung zieht, diese verdichtet, unter dem Gesetz der künstlerischen Gestaltung utopisch erscheinen läßt. Aus dem Tropfen das Meer zu ahnen, aus den Blüten den Wald zu wissen, aus dem Verlorenen wieder zu finden und aus Zersplitterung und Unbewußtem Ganzes und Bewußtes zu schaffen, gehört zur Wesenswirklichkeit des Künstlers. Und unbeschadet seiner wissenschaftlichen Erkenntnis wird er als Schaffender die Summe aller Erkenntnis nicht als Trümmer von Idealen, sondern als Bausteine eines wahrhaften, gründlichen Ideals seiner Zeit und Zukunft zu fassen wissen." 47 Dieser Aphorismus ist nicht nur interessant für die Zielsetzung sozialdemokratischer Schriftsteller am Anfang unseres Jahrhunderts, er enthält auch jene Lu Märtens Autobiographie kennzeichnende Mischung von intellektueller Erkenntnis gesellschaftlicher Zusammenhänge und historischer Gesetzmäßigkeit mit dem Streben nach phantasievoller, poetischer Sprachgestaltung. Otto Krille kam 1878 bereits vaterlos auf die Welt. Sein Vater, ein Maurer, war tödlich verunglückt. Das Erscheinen der autobiographischen Erzählung Unter dem Joch (1914) fällt in eine Zeit, in der sich der von Clara Zetkin und Mehring geschätzte frühe sozialistische Schriftsteller bereits von seiner klassenkämpferischen Ausgangsposition entfernt hatte, 48
dem Gros seiner Partei folgend. Im Unterschied zu Lu Märtens Selbstdarstellung ist die Kindheits- und Jugendgeschichte Krilles wieder in Ichform geschrieben. Der Bericht über seine Kinderzeit und die Jahre in der kgl.-sächsischen Soldatenknabenerziehungsanstalt Kleinstruppen bei Pirna bis zu seiner Flucht aus diesem unerträglichen Joch ist sehr lebendig und in sich geschlossen. Er hat novellistischen Charakter: Hier wird die Entwicklung eines Knaben bis zu jenem Zeitpunkt geschildert, da er zur selbständigen, sich von Unterdrückung befreienden Tat herangereift ist. Es gibt hier einen einheitlichen Personenkreis, eine sich steigernde einheitliche Handlung, die mit einer „unerhörten Begebenheit", in der sich der Held bewährt, endet. Der sich anschließende Teil, in dem geschildert wird, wie der Autor das Joch der Militäranstalt mit dem der Fabrik vertauscht, ist unorganisch angefügt und hat mehr sachlich berichtenden, autobiographisch-dokumentarischen Charakter. Es wird hier der Weg Krilles zur SPD, gleichzeitig der vom lesenden zum schreibenden Arbeiter geschildert, die Entwicklung Krilles bis zu seinem 22. Lebensjahr, also bis zu der Zeit, da seine erste Gedichtsammlung Aus engen Gassen (1904) im Entstehen war, die Clara Zetkin mit jenem denkwürdigen Vorwort einleitete, in dem sie sich grundsätzlich zur proletarischen Literatur bekannte, und auf die Mehring mit einer heftigen Polemik gegen ästhetisierende bürgerliche Kritiker reagierte. Julius Bab hatte ein Weberlied Krilles unhistorisch und einseitig an Heines Weberlied gemessen und den jungen proletarischen Lyriker, unsachlich witzelnd, herabesetzt. Über diese erste Gedichtsammlung Krilles hatte Mehring 1904 in der Neuen Zeit noch geschrieben: „Es ist echtes und zukunftsfrohes Leben in diesen Gedichten, und auch wo er noch mit der Form ringt, raunt in ihnen die unbändige Kraft des Proletariats, die unaufhaltsam zur Sonne drängt und dermaleinst einen reicheren Frühling in der Kunst schaffen wird, als er jemals geblüht hat." 48 Krilles Gedichtsammlungen, die seiner Autobiographie unmittelbar vorausgingen (Neue Fahrt, 1910, und Das stille Buch, 1913), hatten jedoch nicht mehr die alte Kraft und waren für den Klassenkampf belanglos geworden. Dies ist ein Beispiel mehr für die Tatsache, daß der von seiner revolutionären Tradition entfernte klassenversöhnlerische Sozialdemo4
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kratismus eine höchst brüchige Basis für die Entfaltung eines proletarischen Schriftstellers ist. Das Schreiben seiner Autobiographie war für Krille Rückbesinnung auf seine Emanzipation. Die guten klassenkämpferischen Ansätze, ohne die er niemals proletarischer Schriftsteller geworden wäre, treten in Unter dem Joch klar zutage. Seinen besonderen Akzent erhält das Werk durch das antimilitaristische Credo, das den jungen Krille zu der Entscheidung geführt hat, lieber hungernder Fabrikarbeiter als kgl.-sächsischer bzw. preußischer Unteroffizier zu werden. Auch sein Weg zur SPD ist überzeugend gestaltet. Doch manche Verkehrtheit in den Anführungen des Schlußteils zeugt von der Zwiespältigkeit seiner späteren Entwicklung. Die sichtbare Sympathie für die zuletzt im Mittelpunkt des Berichts stehende bürgerliche „Ethikerin" verrät seine verhängnisvolle Anfälligkeit für alle Versionen von bürgerlichem Philantropismus und für soziale Mitleidstendenzen. Am Schluß von Lu Märiens Torso hat das Auftreten einer wohlhabenden, freisinnigen Freundin, die ihr nach schwerer Krankheit einen Erholungsaufenthalt am Walchensee ermöglicht, die künstlerische Funktion, die vorläufig noch unvollendete, alles Weitere scheinbar offenlassende Phase einer Jugendentwicklung zu veranschaulichen. Dieser Eindruck des Übergangsstadiums und die Wirklichkeit nicht voll Erfassenden wird durch die poetisch überhöhte, stimmungsbetonte Art der Darstellungsweise unterstrichen. Die bürgerliche Gönnerin am Schluß von Unter dem Joch, die dem dichtenden Fabrikarbeiter Weiterbildungsmöglichkeiten eröffnet, ist Gegenstand eines sachlichen Berichts. Sie wird vom Autor ernst genommen, und sie steht für ihn mit am Anfang eines neuen Lebensabschnittes, der ihm eine seiner Meinung nach bessere Perspektive eröffnet: die Befreiung aus dem Joch der Fabrikarbeit, nicht ohne eigene Kraft, aber mit bürgerlicher Hilfe. Kritiklose Eingenommenheit setzt ihn ungeschützt dem Einfluß bürgerlicher Ideologie aus. Krille ist sich als Selbstdarsteller, aber auch als proletarischer Schriftsteller der Unkonsequentheit der eigenen Entwicklung nicht bewußt geworden. Er fühlte sich sein Leben lang seiner Klasse eng verbunden und war ein redlicher, wenn auch ideologisch schwacher Sozialdemokrat, der sich nicht zum
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Renegaten eignete. Wie Ernst Preczang und andere sozialdemokratische Schriftsteller emigrierte er 1933 aus Protest gegen den Faschismus in die Schweiz.
Erste aus der Sozialdemokratie hervorgegangene autobiographische Romane Die Bemühungen des sozialdemokratischen Verlages Vorwärts um die Arbeiterautobiographie und um den autobiographischen Roman sind anzuerkennen als zumindest ehrliche Versuche, Literatur für die Arbeiterklasse zu schaffen. Wenn man die Bücher von Alwin Ger Erweckt. Ein Roman aus dem Proletarierleben, Berlin 1911; Der Gotteslästerer. Roman aus dem Leben der erzgebirgischen Waldarbeiter, Berlin 1917, und Erzgebirgiscbes Volk. Erinnerungen, Berlin 1918, im Zusammenhang betrachtet, so wird nach Einblick in das Erinnerungsbuch klar, daß es sich auch bei den Romanen um auf Erlebnisgrundlage beruhende Werke aus dem Alltag des erzgebirgischen Proletariats handelt und darüber hinaus um Gers eigene weltanschauliche und geistig-schöpferische Entwicklung. Aus allem geht hervor, wie ernsthaft er bestrebt war, die Öffentlichkeit auf die Not und auf die von der sozialdemokratischen Agitation nur partiell erfaßte und daher noch rückständig arbeitende Bevölkerung der waldreichen, abgelegenen erzgebirgischen Gebiete aufmerksam zu machen. Wie Rehbein mit seinen Bemühungen um die Lage der norddeutschen Landarbeiter, will Ger offensichtlich das Leben der Waldarbeiter verändern helfen und ihnen auch Wege zeigen, wie sie sich selbst helfen können: durch politische Organisation in Arbeiterpartei und Gewerkschaft. Mit großer Detailtreue schildert er ihre materielle und geistige Not sowie die Vorteile solidarischen Handelns. Was Ger über sich selbst berichtet, ist typisch für die Entwicklung eines Proletariers zum lesenden und schreibenden Arbeiter und zum Schriftsteller. Das Waldarbeiterkind, der Dorfschüler, der Lehrling einer kleinstädtischen Maschinenbauerei, den während dieser Zeit schon Lesewut erfaßt, stellt sich die Aufgabe, ein Lehrbuch der Physik durchzuarbeiten. Sie ver4*
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setzt ihn in die Lage, den anderen Lehrlingen gegenüber als Lehrer aufzutreten und sich oft sogar dem Meister überlegen zu zeigen. Erist der einzige,derdessenaltmodischeMaschinenreparieren kann, so ¡daß die Arbeit nicht stockte. Im zweiten Lehrjahr erhält er Kontakt zu Sozialdemokraten. Die Lektüre einer Agitationsnummer des Leipziger Volksstaats mit dem Programm der SPD bewirkt seine ideologische Entwicklung. Zunächst äußert sie sich scharf antikirchlich. Mit 16 Jahren schreibt er einen ersten Artikel gegen einen Pfarrer, der von der Kanzel die SPD 'beschimpft 'hat, und kann ihn im Crimmitschauer Arbeiter- und Bauernfreund veröffentlichen. Ger schließt seine Erinnerungen mit dem Bekenntnis, daß er seitdem zehntausende von Zeilen „in dem großen Kampfe wider des Volkes Bedrücker und Bedränger geschrieben" habe. Aber auf diesen ersten Artikel sei er besonders stolz, schreibt er weiter: als einen „kräftigen Stoß, den ich damit dem Autoritätsglauben einer beschränkten, geistig zurückgebliebenen Arbeiterschicht versetzte."49 Dieses Bemühen, das verelendete erzgebirgische Proletariat zu klassenbewußten Arbeitern zu erziehen, verleitete ihn in den seiner Autobiographie vorausgegangenen Romanen zur Überbewertung der vorgeschrittenen proletarischen Einzelpersönlichkeit. Aus seinen eigenen Erfolgserlebnissen schafft er den beispielhaften, außerordentlichen Helden, dem es gelingt, im abseitigen Gebirgsdorf so etwas wie Klassenkampf zu entfachen. Ger hat versucht, vor dem Hintergrund des modernen Klassenkampfes, auf der Grundlage seiner eigenen Lebensstationen, einen proletarischen Entwicklungsroman zu schreiben. Dieser Versuch ist als erster dieser Art historisch zu werten und zu würdigen. Es ist in dieser Phase der sozialistischen Literatur verständlich, daß der proletarische Autor, ähnlich wie der frühbürgerliche einst an den Ritterroman anknüpfte, sich bei diesem ersten Experiment an der ihm dafür als geeignet erscheinenden bürgerlichen Literatur orientierte. Der belesene Ger hielt sich in bezug auf den Entwicklungsroman an Goethes Wilhelm Meister und in bezug auf die Gestaltung proletarischer Kollisionen an Max Kretzer. Ob bewußt oder unbewußt, gewissermaßen als Ergebnis seiner Lesefreudigkeit, ist nicht feststellbar. 52
Die Geschichte des Arbeiters im Roman Erweckt, der zusammen mit einem Kollegen ein Kreuz, auf der Kirchturmspitze anbringen muß, bei Herabtropfen flüssigen Bleis schwer verletzt wurde, aber stehen blieb, um seinen Kameraden vor dem Herunterstürzen in die Tiefe zu bewahren, ist nachweisbar eine Anlehnung an Kretzers Erzählung Ein Schritt vom Tode, um die für Ger typische antikirchliche Polemik bereichert und dementsprechend im Unterschied zu Kretzer mit tragischem Ausgang, mit dem Tode 'des aufopfernden Arbeiters. Beide Romane, Erweckt und Der Gotteslästerer, in denen Verhältnisse der erzgebirgischen Waldarbeiter gestaltet und eine Reihe lebensechter Gestalten geschaffen worden sind, geben der proletarischen Literatur dieser Phase einen neuen Akzent. Rosenow hatte in seinem erzgebirgischen Dialektdrama, der Komödie Kater Lampe (1903), die Waldarbeiter nur als undifferenzierte Masse im Hintergrund der Auseinandersetzung zwischen Holzschnitzern und dem sie ausbeutenden Fabrikanten erscheinen lassen. Bei der Darstellung der proletarischen Einzelpersönlichkeit, die in beiden Romanen ihre Umwelt durch in die Zukunft greifende technische Erfindungen und industrielle Unternehmungen überragt, ist Ger jedoch, auch wenn diese Unternehmungen zum Wohle der arbeitenden Menschen gedacht sind, in historisch ungerechtfertigte utopische Gefilde gelangt. Das Anknüpfen an die Tradition der Wilhelm-Meister-Romane ist bis heute eine legitime Möglichkeit der sozialistischen Literatur. Doch ist es Ger noch nicht gelungen, solche Anregungen selbständig zu meistern. Er ist trotz bester Absicht zu Fehlleistungen gekommen, die auf das Konto seiner ideologischen Schwächen gehören. Er war nicht in der Lage, die richtigen Proportionen in den Wechselwirkungen zwischen proletarischem Individuum und Klasse zu sehen. Infolgedessen stehen seine literarischen Arbeiten autobiographischen Charakters hinter den meisten früheren Arbeiterautobiographien zurück. Nicht nur die Selbstbetrachtungen Bebels, sondern auch die Brommes und Popps, aber auch die Fischers, Holeks und Krilles, vor allem auch die Rehbeins beweisen gerade, daß die proletarische Persönlichkeit sich nicht isoliert und außerhalb ihrer Klasse entfalten kann. 53
Einiges zum Stellenwert in der Geschichte des Genres
Seit langem gibt es Autobiographien, und spätestens seit dem 18. Jahrhundert macht man sich Gedanken über den besonderen Charakter der Autobiographie als literarisches Genre, das von den Anfängen an auf seine Art die jeweiligen historischen Epochen widerspiegelt und sich mit ihnen verändert hat, aber ebensosehr die Zeiten überdauernde Verbindungslinien erkennen läßt. Die Entwicklung der Autobiographie ist zum Gegenstand der Literaturhistorie geworden. Es ist freilich nicht verwunderlich, daß im allgemeinen und bis heute die proletarische Autobiographie in bürgerlichen Darstellungen ignoriert bzw. als literarisch unwürdiges Objekt behandelt wurde. 50 Wird doch schon in der frühen proletarischen Lebensgeschichte eine neue Etappe des autobiographischen Genres eingeleitet, die von der notwendigen Ablösung der bürgerlichen Ordnung kündet. Uns dagegen muß die erkennbar werdende Fülle des literarischen Materials, seine Bedeutung als Sammlung von Dokumenten der modernen Arbeiterbewegung sowie der sich in ihr vollziehenden proletarischen Persönlichkeitsentwicklung, als unersetzbare, bei weitem noch nicht ausgeschöpfte Vielfalt von Zeugnissen veranlassen, über die Stellung der Arbeiterautobiographie in der Geschichte dieser eigenartigen Gattung nachzudenken. Hinzu kommt, daß die proletarische bzw. sozialistische Autobiographie von den Anfängen bis in unsere Tage, bis zum Entstehen einer sozialistischen Welt und des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden, demnach über mehrere Generationen hinweg, selbst schon eine innere Geschichte bekommen hat. Wir wollen den Stellenwert der proletarischen Erinnerungswerke innerhalb der Geschichte der Gattung untersuchen, weil 54
es innerhalb dieses Entwicklungsprozesses, insbesondere seit der frühbürgerlichen Revolution, Verbindungslinien gibt, die zur Arbeiterautobiographie hinführen. Statt einer ausführlichen Analyse soll hier nur an wenige Merkmale der Lebensbeschreibungen früherer Jahrhunderte angeknüpft werden, die Zusammenhänge mit unserm Gegenstand aufweisen.
Vergleichs möglich keiten mit der frühbürgerlichen Autobiographie Im Gegensatz zu mittelalterlichen, größtenteils noch in Klöstern entstandenen, in metaphysischen und religiösen Bindungen verhafteten Lebensgeschichten, spiegeln die Autobiographien des Frühkapitalismus das immer stärker werdende Drängen nach freier Entfaltung der Persönlichkeit wider. Die Autobiographie der Neuzeit wurde geprägt von dem neuen Selbstgefühl der Bürger der freien Städte, das dem Individuum gestattete, sich von einengenden Fesseln zu befreien und sich auf seine eigene originelle Weise auszusprechen. Vergleiche zwischen der frühen proletarischen und der frühen bürgerlichen Lebensbeschreibung sind berechtigt, besonders, wenn es sich um Lebensläufe aus dem 16. Jahrhundert handelt, die das Ringen und den Aufstieg des einzelnen aus den unteren Volksschichten zum Gegenstand haben. Die Aufstiegskämpfe schlecht lebender Plebejer, die sich schließlich zu freien Bürgern entwickeln, sind dem proletarischen Emanzipationskampf vergleichbar. Memoiren aus dem 16. Jahrhundert, die von Hunger und Armut berichten, aber auch von menschlicher Freude und von Stolz über bezwungene Nöte erfüllt sind, stehen uns heute noch nahe. Wir rechnen die Autobiographien von Bartholomäus Sastrow (Greifswald 1823), der sich nach mannigfaltigen Existenzkämpfen zum evangelischen Bürgermeister von Stralsund emporgearbeitet hat, und die des Deutschschweizers Thomas Platter (Leipzig 1878), der aus eigener Kraft vom armen Sennbuben zum Schulmeister und zum Freund Zwingiis wurde, zweifellos heute zu unserem literarischen Erbe. Jene frühen Kämpfe gegen den Feudalismus, die sich in solchen Selbstdarstellungen widerspiegeln, gehörten 55
bekanntlich sehr früh zum Traditionsbewußtsein der revolutionären Arbeiterbewegung. Man denke nur an Marx, Engels und Lassalle. Auch sozialdemokratische Schriftsteller wie Robert Schweichel, Manfred Wittich und Friedrich Bosse knüpften an die Reformationszeit und an die Bauernkriege an. Sie popularisierten die Gedanken und Kampfziele der revolutionären Bauern, von Hutten oder Hans Sachs in ihren für die Arbeiterklasse geschriebenen Erzählungen (Schweichel: Rote Ostern, 1875, und Florian Geyers Heldentod, 1876), Romanen (Schweichel: Um die Freiheit, 1898/99) und Agitationsstücken (Wittich: Ulrich von Hutten, 1887 und Bosse: Die Alten und die Neuen, 1888) und machten sie für die proletarische Emanzipationsbewegung nutzbar. Sie erhoben das Ideengut der frühbürgerlichen Revolution zum Erbe der Arbeiterklasse. Die Autobiographien der Reformationszeit liefern als authentische Quellen den Beweis, daß sie dazu berechtigt waren. Aber auch die Unterschiede sind ablesbar. Der Radius der gesellschaftlichen Beziehungen ist ungleich größer geworden. Die frühbürgerlichen Autobiographien waren nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, sondern für ein vergleichsweise kleines Klassenkollektiv. Sastrow zeichnete sein Leben für seine Familie mit Kindern und Kindeskindern auf, Platter für den Kreis seiner Schüler. Die Initiative zur Autobiographie war wie in allen anderen literarischen Genres bewußt oder unbewußt stets klassengebunden. Hier soll nur hervorgehoben werden, daß der bürgerliche Individualismus als wichtiges Klassenmerkmal in der Frühzeit noch mit dem Kollektivgeist einer aufsteigenden Klasse verbunden war, die sich der Fesseln des Feudalismus zu entledigen, sich gegen eine herrschende Klasse durchzusetzen hatte. Erst das kapitalistische System, das das Proletariat hervorgebracht hat, zerstörte von der Mitte des 19. Jahrhunderts ab immer mehr die engsten persönlichen Bindungen, auch die innerhalb der bürgerlichen Familie. In den Lebensläufen der bürgerlichen Frühe herrscht noch, den Ärbeiterautobiographien vergleichbar, das Bemühen, das individuelle Ringen im Rahmen der Klasse zu sehen und dementsprechend eine Reihe plastischer Porträts beispielhafter und typischer Menschenbilder zu zeichnen.
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Autobiographie als Volksliteratur Im 17. Jahrhundert und im 18. Jahrhundert vor der Großen Französischen Revolution waren Lebensbeschreibungen aus den untersten Schichten des Volkes nur Randerscheinungen innerhalb der herrschenden Literatur des Feudalabsolutismus. Sie müssen in den großen Kreis der Volksliteratur einbezogen werden, die in jeder antagonistischen Klassengesellschaft die Literatur der Ausgebeuteten ist. In diesem Sinne gehört auch die frühe Arbeiterautobiographie zur Volksliteratur. Sie durchbricht jedoch deren Grenzen in dem Maße, wie sie Sprecher der Klasse wird, die zur Herrschaft drängt und zur Beseitigung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Solche Autobiographien wie die Augustin Güntzers und Ulrich Bräkers haben einen gemeinsamen Nenner mit den frühen Arbeiterautobiographien. Die in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts entstandene Selbstdarstellung des wandernden Handwerkers Güntzer wurde 1896 in Elberfeld-Barmen, der Geburtsstadt von Friedrich Engels, gedruckt. Die durch die Wirren des 30jährigen Krieges verursachten Abenteuer und Nöte, die Güntzer auf seinen Gesellenwanderungen zu überstehen hatte, waren zwar anderer Art, sind aber im Prinzip denen der wandernden Handarbeiter Carl Fischer und Wenzel Holek vergleichbar und stehen noch denen nahe, die Ludwig Turek auf der Flucht vor dem ersten Weltkrieg unternehmen mußte (Ein Prolet erzählt. Lebensschilderungen eines deutschen Arbeiters, Berlin 1930). Sie alle verbindet die Nähe zur aus dem Volke hervorgegangenen Simpliziade, ein Thema, auf das wir noch im Zusammenhang mit der Interpretation der Autobiographie von Franz Rehbein genauer eingehen werden. Des armen Güntzer utopische Träume, nach Indien zu segeln, um dort ein besseres Leben zu führen, waren durch die modernen Klassenkampferfahrungen überholt. Aber als Ausdruck der Sehnsucht nach einer Welt, die dem arbeitenden Menschen Heimat sein kann, sind uns solche Bücher ebenso nahe, wie uns der kühne Realismus eines Grimmelshausen anspricht, auch wenn er seiner Erzählung über die Abenteuer des Simplizius Simplizissimus nur die utopische Perspektive einer gesellschafts- und geschichtsfernen friedlichen Einsiedelei zu geben wußte. 57
Ulrich Bräkers Lebensgeschichte und natürliche Abenteuer des armen Mannes in Tockenburg (1788/89) hat im urwüchsigen Grundton, in der unbedingten Wahrheitsliebe, aber auch in bestimmten Grunderlebnissen seiner Kindheit und Jugend manches mit den frühen proletarischen Denkwürdigkeiten gemeinsam. Am stärksten verbindet das Geschick des sozial Unterdrückten, der dies auch als solches empfindet und sich mit aller Kraft, allen widrigen Umständen zum Trotz daraus zu befreien trachtet. Als Sohn eines armen Kleinbauern und Köhlers mußte Bräker schon als Kind hart arbeiten und blieb ohne geregelten Schulunterricht. Seine Bildung eignete er sich später autodidaktisch an, nachdem er den Militärwerbern und Heeren Friedrichs II. entronnen war, und zwar durch vieles Lesen. Seine Lebensgeschichte konnte er nur unter schwierigsten Bedingungen schreiben: bei schwacher Lampe an Sonntagen oder in sonst freien Augenblicken. Man soll das Beispielgebende, das von solchen Volksschriftstellern auf den lesenden Arbeiter ausstrahlt, nicht unterschätzen. Der Chemiieprolet und Dichter Hans Lorbeer erinnerte sich z. B. noch idaran, welchen Mut ihm als jungem Arbeiter die Erfahrung gemacht hat, daß Peter Rosegger ein dörflicher Schneiderlehrling war. 51 Roseggers erzählerisches Naturtalent zeigte sich auch in mehreren autobiographischen Büchern. Doch ist seine Entwicklung - seine Werke wurden zu Bestsellern der bürgerlichen Heimatliteratur - nicht typisch für einen echten Volksschriftsteller. Er ist nie über seine kleinbürgerlich beschränkte Ideologie hinausgewachsen und wurde vom Ausgebeuteten zum Mißbrauchten, ohne sich dessen bewußt zu werden. Seine Erinnerungen Als ich noch ein Waldbauernbub war sind letztlich eine die Wirklichkeit verschleiernde Idylle. Sie gehören im Sinne unserer Definition trotz des Volkstons nicht zur Volksliteratur und stehen im Erkenntnisrwert weit hinter den frühen proletarischen Erinnerungswerken zurück. Sie haben auch kaum authentischen Wert, weil Rosegger nach eigenen Bekenntnissen die Dinge schöner und besser schilderte als sie waren. Ihm fehlte der zweifellos anstrengende Mut zur Wahrheit, der die autobiographischen Dokumente der echten Volksliteratur auszeichnet. 58
Als ich noch ein Waldbauernbub war erschien 1902. Anachronismus dieser Art kleinbürgerlicher Bescheidung Idyllisierung tritt um so deutlicher hervor, wenn man an ganz andere Art denkt, in der einzelne Arbeiter damals neuen Gegebenheiten des Kapitalismus dokumentieren ein verändertes Selbstverständnis aussprechen.
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Be^ug auf Jkousseau und Goethe — Hinwendung %um Geschichtsdenken Die historische Standortbestimmung der frühen Arbeiterautobiographie kommt ohne den Bezug auf die großen Autobiographien der aufsteigenden bürgerlichen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts nicht aus. Am ergiebigsten ist es, auf die herausragenden Confessions Jean-Jacques Rousseaus, auf Goethes Dichtung und Wahrheit sowie auf seine Überlegungen zum autobiographischen Genre einzugehen. Die Arbeiterklasse des 19. Jahrhunderts bezog das Werk Rousseaus in das Kulturerbe ein, das ihr nahestand. Mit Rousseau verband sie „der Kampfstil, der Wille, die völlige Aufhebung der bestehenden Verhältnisse darzustellen". 52 Deshalb ist in der frühen sozialistischen Literatur auf der Suche nach historischen Leitbildern neben den großen Gestalten der Reformation und des Bauernkrieges auch auf Rousseau zurückgegriffen worden. 53 * Das Stichwort der Emanzipation der menschlichen Person von allen lastenden Konventionen, das 1781 durch seine berühmten Confessions gegeben wurde, hat auch bis heute seine Bedeutung nicht verloren. Das ungestüme Drängen nach Entfaltung der Persönlichkeit war bereits ein wichtiger Faktor des proletarischen Emanzipationskampfes gegen die Fesseln des Kapitalismus. Aber wenn unbegrenzte Freiheit der individuellen Initiative des Bürgers den Bedürfnissen des Kapitalismus in der Epoche des Aufstiegs entsprochen hatte, so wurde diese Einstellung durch das Proletariat umgewandelt. Die proletarische Einzelpersönlichkeit kann sich als solche nur im Klassenkampf entwickeln. Die Überlegenheit der proletarischen^ Position, die sich im Kampf mit dem Kapitalismus herausgebildet hat, besteht entsprechend der Situation der Produktivkräfte in der Forderung nach Kooperation und 59
solidarischem Handeln. Gewiß ist das Ziel des Sozialismus auch völlige Emanzipierung der Persönlichkeit von aller ökonomischen Bedrückung, dabei ist die individuelle Initiative des sozialistischen Menschen unentbehrlich. Aber Rousseaus Forderung nach unbegrenzter Freiheit der Einzelpersönlichkeit greift heute ins Leere; der Weg zur klassenlosen Gesellschaft kann nur durch Akte der Solidarisierung beschritten werden.54 Damit ist auch der Stellenwert der proletarischen Autobiographie bezeichnet, die die Eingliederung, das Hineinwachsen des proletarischen Individuums in die gemeinsam handelnde Klassengemeinschaft 2um Gegenstand hat. Goethes Lebensbeschreibung und seine theoretischen Arbeiten über die Selbstbiographie als literarische Gattung sind bis in unsere Tage hinein richtungweisend für die realistische Selbstdarstellung. Fritz Selbmann bezieht sich mit seiner Konzeption zu Alternative, Bilanz und Credo, Versuch einer Selbstdarstellung ( 2 1969) ausdrücklich auf den „Alten von Weimar", „den größten und menschlichsten Menschen unter den Dichtern deutscher Zunge", der bei aller Verpflichtung, die er als Autobiograph vor der Geschichte hatte, bei aller Bereitschaft zur historischen Wahrheit die Erinnerungen seines frühen Lebens „ahnungsvoll und unbedenklich ,Dichtung und Wahrheit' nannte". 55 In einer Rezension über eine Sammlung von Selbstbiographien hat Goethe jedoch 1807 sehr deutlich den Vorzug bezeichnet, den die Autobiographie gegenüber dem Roman hat. Bei „der Absicht, eine große Einheit darzustellen", legt Goethe dem Autor die Verpflichtung auf, „auch das Einzelne unnachläßlich zu überliefern". Die Veranstaltung von Sammlungen autobiographischer Werke, wünscht er, soll sich über „das ganze industriöse Deutschland verbreiten . . . , um einigermaßen im Einzelnen zu erhalten, was im Ganzen verloren geht". E r empfiehlt dem Selbstbiographen, den Vorteil wahrzunehmen, „daß er gute, wackere, jedoch für die Welt im Großen unbedeutende Menschen, als Eltern, Lehrer, Verwandte, Gespielen, namentlich" vorführen „und sie als ein vorzüglicher Mensch ins Gefolge seines bedeutenden Daseins" mit aufnehmen muß. 56 Im Roman könnte die Fülle von Episodenfiguren, mit denen der Einzelne im Laufe seines Lebens oft nur zufällig in Berüh-
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rung kommt, kompositorisch schlecht verarbeitet werden. Für das autobiographische Werk, in dem auf detaillierte Weise der Einzelne im Ganzen und das Ganze im Einzelnen vorgeführt werden kann und soll, ist diese Methode jedoch die geeignete. Goethe hat sie in seiner Lebensgeschichte erfolgreich angewandt. Sie stellt dementsprechend nicht nur die Entwicklung einer überragenden Einzelpersönlichkeit bis zu einer bestimmten Phase dar, sondern darüber hinaus in einer großen Anzahl authentischer Einzelcharakteristiken das Antlitz einer historischen Epoche. Der Mut zur Wahrheit, der sich bei Rousseau hauptsächlich in der psychologischen Zergliederung seiner eigenen Person zeigt und in der Beschreibung seiner Kontrahenten, strahlt bei Goethe auf weitem Felde und hat sich zum Geschichtssinn gewandelt, der das Bekenntnis zur für die Gesellschaft tätigen vorgeschrittenen Persönlichkeit enthält. Goethe hat mit seinen theoretischen Ansichten über Nutzen und Wert des biographischen Genres und mit Dichtung und Wahrheit die Richtung angegeben, in der sich neue Versuche auf autobiographischem Gebiet zu bewegen hatten. Im 19. Jahrhundert beschränken sich die meisten der sehr zahlreichen Lebenserinnerungen auf die Wiedergabe persönlicher Leistungen und Schwierigkeiten, auf eine Art Rechenschaft oder Anklage. Historisch gesehen konnte jetzt eine Erneuerung des autobiographischen Genres, eine Weiterbildung der Gattung nur von der Arbeiterklasse geleistet werden, weil sie allein ihrer Mission entsprechend imstande war, eine Entwicklung in aufsteigender, vorwärtsschreitender Linie darzustellen. Die Methode, detailliert den Einzelnen im Ganzen und das Ganze im Einzelnen vorzuführen, erhält in der proletarischen Autobiographie bereits eine neue Qualität. In einer außerordentlichen Fülle proletarischer Einzelporträts wurde authentisch und erstmalig in der deutschen Literatur das proletarische Menschenbild als das Bild einer Klasse gestaltet, die sich vorbereitet, die Fesseln des Kapitalismus zu zerschneiden. Goethe hatte gefordert, daß die Personen, die den Weg des Selbstdarstellers gekreuzt haben, namentlich aufgeführt werden, um den historisch authentischen Charakter des Lebensberichtes zu wahren. In den von Göhre betreuten frühen proletarischen Autobiographien wurden die Namen der Nebenpersonen geändert und ihre Gestalten in das 61
Dunkel der Anonymität gerückt. Bei Popp und dann besonders bei Bebel geschah das nicht mehr. Gerade Bebel, der mit seinen Lebenserinnerungen ein Stück Geschichte der Arbeiterbewegung beispielgebend aufzeichnen wollte, legte Wert auf die Authentizität aller angeführten Personen. Die Beachtung des historischen Gesichtspunktes ist in der sozialistischen Autobiographie unserer Gegenwart zur Selbstverständlichkeit geworden. In den Erinnerungswerken von Selbmann und E d u a r d Claudius werden über den Kreis der engsten Angehörigen hinaus Sozialdemokraten, Kommunisten, Antifaschisten und auch Faschisten aus dem Leben in das Buch der Geschichte eingetragen. In engem Zusammenhang mit dem authentischen Bild von den Menschen steht die Dokumentation ihrer Tätigkeit. D a es sich bei der Arbeiterbewegung um eine politische Bewegung wachsenden Ausmaßes handelt, ist in der proletarischen Selbstdarstellung von den Anfängen bis zur Gegenwart die politische Dokumentation in zunehmendem Maße eine hervorstechende Eigenschaft: von Brommes statistischen Angaben über Bebels Parlamentsberichte bis zu Selbmanns Dokumenten über den antifaschistischen Kampf, die er, sein persönliches Leben betreffend, sogar als aktenmäßig belegt in den Anhang aufgenommen hat. Damit werden in dialektischem Zusammenhang mit dem Menschenbild das Rechenschaftsabiegen, der Bericht von der Geschichte für die Geschichte ins Licht der Betrachtung gerückt. In aus der Sozialdemokratie hervorgegangenen Selbstberichten vor 1918 hat die literarische Dokumentation vorwiegend die ökonomische L a g e des Proletariats, die allgemeinen Fakten .der Arbeitsverhältnisse und den daraus erwachsenden Klassenkampf zum Gegenstand. Außer Bebel haben Popp, Bromme und Holek gelegentlich auch Berichte über kleinere politische Versammlungen aufgenommen. In der zweiten Phase der Entwicklung der Arbeiterautobiographie, mit der regeren Entfaltung des politischen Lebens unterFührungderKPDtrittetwavonl930 ab als neues Element der Bericht über große gesellschaftliche Ereignisse wie Streiks oder Massenversammlungen in Hamburg oder an der Ruhr in den Vordergrund. Nach Gründung des ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaates werden in den sozialistischen Autobiographien der 50er und 60er Jahre dann der geschichtlichen Entwicklung entsprechend nicht nur einzelne 62
Aktionen des deutschen Proletariats in der Novemberrevolution, im Kampf gegen Hitler, im Spanischen Bürgerkrieg und im zweiten Weltkrieg mit einbezogen, sondern die Abfolge historischer Phasen als P r o z e ß gezeigt. Damit tritt ein interessantes theoretisches Problem der Arbeiterautobiographie in den Mittelpunkt: das der Periodisierung der Lebensgeschichte. Goethe hatte seine Biographie mit der Übersiedlung nach Weimar abgeschlossen, also mit einem Zeitpunkt, in dem seine Jugendentwicklung einen gewissen Abschluß gefunden hatte und ein Wendepunkt in seinem Leben eintrat. Dichtung und Wahrheit handelt von der Hinwendung einer hervorragenden bürgerlichen Einzelpersönlichkeit zu breiterer gesellschaftlicher Tätigkeit, die sich, wenn auch bereits in diesem Ausnahmefalle mit weitgehend eigener Initiative, im Dienste des Feudalabsolutismus vollzieht. In den Arbeiterautobiographien entspricht die getroffene Zäsur bzw. zeitliche Begrenzung Wendepunkten im Leben des einzelnen, die ausgeprägt mit denen der Entwicklung der Arbeiterklasse identisch sind. Eduard Claudius schildert in seinen Erinnerungen Ruhelose Jahre als Hintergrund seiner Kindheit den ersten Weltkrieg, die Nöte und Wirren der Weimarer Zeit mit ihrem Einfluß auf seinen politischen Reifeprozeß, seine Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg in den Reihen der Internationalen Brigaden und am zweiten Weltkrieg in der Partisanenbrigade Garibaldi. Die ruhelosen Jahre finden ein Ende mit seiner Übersiedlung in die DDR, die mit dem Entschluß, den Sozialismus in einem Teil Deutschlands mit aufzubauen, identisch ist. Fritz Selbmann wählt für seine Selbstdarstellung die Periode von 1900 bis 1945 und beendet sein Buch mit dem Wort des alten Fontane aus dem Jahre 1870: „Ich fange erst an!" Schon diese drei Jahreszahlen sprechen für das historische Denken des Autors, für den Geschichtssinn, der sich in der Arbeiterautobiographie immer stärker Bahn gebrochen hat. Der Patriziersohn und Dichterfürst Johann Wolfgang Goethe hatte vor der bürgerlichen Revolution in doppeltem Sinne das Recht, sich als Repräsentant des aufsteigenden Bürgertums zu fühlen und noch unter feudalabsolutistischer Herrschaft eine demokratisch-humanistische Ordnung zu verkünden, in der der 63
Mensch als Mensch und nach seiner Leistung für das Wohl der menschlichen Gesellschaft gewertet wird. Er durfte in diesem Sinne die Forderung stellen, daß „der Fleiß und die Tüchtigkeit und die edle Gesinnung der besten Bürger des industriösen Deutschlands" in Biographien für die Nachwelt festgehalten werde. Doch die Verwirklichung, die Errichtung der realen humanistischen Ordnung, blieb dem Proletariat vorbehalten. Der .deutsche Arbeiterautohiograph kann deshalb von einem neu gewonnenen Standort, vom Standpunkt des Siegers über eine unhumanistische Gesellschaftsordnung Rückschau halten, beispielsweise wie Selbmann über die Periode von 1900-1945, also von der Schwelle des deutschen Imperialismus, der zwei Weltkriege entfachte, bis zu seinem Zusammenbruch im Jahre 1945, der in einem Teil Deutschlands zu seiner völligen Vernichtung und zur Aufrichtung eines sozialistischen deutschen Staates führte. Claudius und Selbmann haben deshalb ihre Lebensgeschichte nicht wie die frühen proletarischen Autoren in chronologischem Fluß geschrieben, sondern von Kulminationspunkten der Entwicklung Rückschau auf frühere Perioden ihres Lebenslaufes gehalten. Doch offenbart sich uns der enge Zusammenhang von Geschichtsdenken und Bewußtseinsbildung anhand der Arbeiterautobiographien, wenn wir die nach 1945 entstandenen mit unseren frühen proletarischen vergleichen. Ansätze zu der Methode des Rückschauhaltens von neu gewonnenen Positionen sind, wie wir im nächsten Kapitel näher sehen werden, bereits bei Arbeitern vorhanden, die politisch denken gelernt haben und zum Kampf für eine antiimperialistische, sozialistische Ordnung bereit sind. In dem Maße, wie sie sich ihrer eigenen Entwicklung in einer nach Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse drängenden Klasse bewußt werden, sehen sie ihre eigenen überwundenen Lebensphasen als der Vergangenheit angehörig, als historisch an.
Dokumentation und Erzählung
Der Gegenstand der Dokumentation Die literarische Dokumentation in der Arbeiterautobiographie ist eine materialreiche Quelle für die Geschichte der Arbeiterbewegung. Sie ist von den Historikern nicht ausgeschöpft, ja vielleicht teilweise überhaupt noch nicht als solche erkannt. Goethes These vom dialektischen Zusammenhang zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos, vom Allgemeinen im Einzelnen und vom Einzelnen im Allgemeinen meint auch die historische Wahrheit, die sich in Einzelerscheinungen ebenso sehr wie im Ganzen zeigen kann. Bei der Erforschung der Lebensverhältnisse des deutschen Proletariats, die eine wichtige Ausgangsbasis für den Klassenkampf waren, sollte man sich nicht vorrangig nur auf die Feststellung allgemeiner Gesetzmäßigkeiten beschränken, sondern mehr als bisher auch individuelle Vorgänge, beispielsweise die persönlichen Erfahrungen und Selbstzeugnisse der Proletarier, auswerten. So enthalten die frühen proletarischen Selbstdarstellungen erschütternde Erlebnisberichte von Wanderarbeitern, wie sie in solcher Detailliertheit und Anschaulichkeit in keinem Geschichtsbuch zu finden sind. Gerade die ungelernten Wanderarbeiter aber machten einen großen Teil des Proletariats aus, bevor sie in großen Industriezentren erfaßt wurden und sich zu qualifizierten Facharbeitern entwickeln konnten. In jüngster Zeit erschienen, um nur ein Beispiel herauszugreifen, das im Zusammenhang mit Carl Fischers Memoiren genauer erörtert werden wird, zwei interessante historische Aufsätze über erste Massenaktionen solcher Wanderarbeiter im Vormärz, die beim Eisenbahnbau beschäftigt waren. Die Autoren berufen sich auf Angaben von Marx aus dem Jahre 1862 und auf statistische Ausführungen bürgerlicher Wissenschaftler aus der Zeit des 5
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Vormärz. Es fehlt aber jeder Hinweis auf vorhandene Zeugnisse wandernder Erdarbeiter, die in den 70er Jahren unter allem Anschein nach wesentlich schlimmeren Bedingungen beim Eisenbahnbau beschäftigt waren. Auch für die Bewußtseinsforschung wäre es aufschlußreich, die frühen Arbeiterautobiographien auszuwerten. Man würde eine neue Möglichkeit gewinnen, vergröbernde oder zumindest vereinfachende Verallgemeinerungen über die generelle Kluft zwischen geistiger und körperlicher Arbeit unter kapitalistischen Verhältnissen zu vermeiden. Die Dokumentation von Arbeitsvorgängen und Arbeitsverhältnissen in den frühen proletarischen Erinnerungswerken zeugt vom positiven Verhältnis des Proletariers zur sinnvollen qualifizierten Arbeit und von seinem entwickelten Selbstbewußtsein, das aus der Erkenntnis erwachsen ist, daß der Arbeiter als ausführende Produktivkraft dem Besitzer der Produktionsmittel überlegen ist, da dieser nicht durch Kenntnis und manuelles Können, sondern nur durch Profitinteressen an die Arbeit geknüpft ist. Es geht eindeutig aus den frühen Arbeiterautobiographien hervor, daß 1. das Klassenbewußtsein des Arbeiters mit dem Qualifizierungsgrad seiner Arbeit wächst. Je primitiver er arbeitet, desto unentwickelter ist er. Je qualifizierter die Arbeit ist, die er leistet und zu leisten imstande ist, desto mehr wird er sich seines Wertes und des Klassenstandpunktes, den er einnehmen muß, bewußt. Desto größer wird sein Selbstbewußtsein gegenüber dem Unternehmer, der, wie er oft feststellt, keine Kenntnis und Fähigkeit zur Arbeit mitbringt, sondern nur dem Kapital verbunden ist, das er aus der Arbeit herausschlagen kann. In dem Maße also, wie der Proletarier den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit am eigenen Leibe spürt, sich dessen am Arbeitsplatz bewußt wird, entwickelt er sich zum Klassenkämpfer; 2. qualifizierte Arbeit schöpferische Freude auslöst und ihre literarische Dokumentation diese schöpferische Freude reproduziert bzw. widerspiegelt; 3. die Entfremdung gegenüber der Arbeit im Kapitalismus, das Unlustgefühl bei der Arbeit, das Bewußtsein des 66
Unerträglichen sich entwickelt aus dem Widerspruch zwischen der Arbeit als schöpferischer Tätigkeit und den unhaltbaren Verhältnissen, unter denen sie ausgeführt werden muß. Deshalb werden in der „Periode der Vorbereitung und der Sammlung der Kräfte der Arbeiterklasse" (Lenin) zuerst die Arbeiter in den großen Industriebetrieben empfänglich für die Ideen des wissenschaftlichen Sozialismus und reif, sich gewerkschaftlich und politisch zu organisieren. Auf diese Art erfolgt der Umschlag von Unlustgefühl zu Opposition und offenem Widerstand. Immer waren zwei Hauptmomente bei der im Gegensatz zu späteren Lebensbeschreibungen häufigen Verwendung der Arbeitsdokumentation bestimmend. Fischer ist vermutlich überhaupt zu seinen Denkwürdigkeiten veranlaßt worden durch das ihn bedrängende Bedürfnis, die Hauptproblematik seines Lebens darzustellen, um sich von dem auf ihm lagernden und ihn belastenden Druck durch Darstellung frei zu machen. Anders ist das Phänomen der Entstehung der Denkwürdigkeiten kaum erklärbar. Es ist der unerträgliche Widerspruch zwischen seinem großen Fleiß, seiner Arbeitsamkeit, seinen wachsenden Arbeitserfahrungen und seinen am Arbeitsobjekt errungenen Fachkenntnissen einerseits unid der mangelhaften Fachkenntnisse, der geistigen Trägheit, dem Bürokratismus, der Gewinnsucht und der Interesselosigkeit am eigentlichen Arbeitsvorgang, die er andererseits bei seinen Vorgesetzten und beim Unternehmer feststellte. Es ist der Widerspruch zwischen aus der Arbeit gewonnenem proletarischen Selbstbewußtsein und dem Mangel, es für die Verbesserung der Arbeit und der Arbeitsverhältnisse nutzbar machen zu können. Heute, wo in der sozialistischen Gesellschaft der antagonistische Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit beseitigt ist und die Aufhebung des Widerspruchs zwischen geistiger und körperlicher Arbeit bewußt gefördert wurde, sind die Konflikte, die Fischer und andere in der damaligen Klassengesellschaft quälten, produktiv gelöst worden. Fischer hatte keine andere Möglichkeit, als seine Erfahrungen und Erkenntnisse aufzuschreiben. Und daraus erwuchs das zweite Hauptmoment, das zur Einführung der Arbeitsdokumentation in die Lebensbeschreibung geführt hat: Sie wurde nicht nur als Bekenntnis der proletarischen Einzelper5*
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sönlichkeit aufgezeichnet, auch nicht nur für die Arbeitskameraden, sondern aus der starken Auseinandersetzung mit dem Widersacher, mit dem Vertreter der unsinnig gewordenen kapitalistischen Ordnung. Also wurde der Lebensbericht auch für die Vertreter der herrschenden Klasse, für die nichtproletarische Öffentlichkeit geschrieben, um diese auf die bestehenden Widersprüche und unerträglichen Verhältnisse hinzuweisen. Es ist verständlich, daß die frühen proletarischen Selbstdarsteller im Gegensatz zu denen der proletarisch-revolutionären Periode, in der der politische und ideologische Kampf im Mittelpunkt steht, so großen Wert darauf legten, über ihre Arbeit zu berichten, über die die Öffentlichkeit so schlecht informiert war und die so gering eingeschätzt wurde. Höhepunkte der Sachdokumentation sind in den frühen Arbeiterautobiographien: die Beschreibung der modernen Großbaustelle des 19. Jahrhunderts, des Eisenbahnbaus, durch Fischer, der Arbeit im Kohlenabbau durch Holek, der Arbeit in der Geraer Maschinenfabrik durch den Metallarbeiter Bromme, ebenfalls die Schilderung der Arbeitsvorgänge und Arbeitsverhältnisse in den Großziegeleien und in der Glashütte durch Holek.
Eisenbabnbau Von herausragender Bedeutung, außerordentlich aufschlußreich für das Verhältnis von Kapital und Arbeit, wie es sich seit den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts immer mehr zugespitzt hat, aber auch für die Beobachtungsgabe und exakte Gestaltungskraft des ehemaligen Erdarbeiters Fischer und alles in allem einmalig in der deutschen Literatur ist die Darstellung des Eisenbahnbaus. Es geht hier um die Lage der mobilen Tagelöhnermassen, die eine wichtige Rolle im Industrialisierungsprozeß gespielt haben, ohne die weder die Eisenbahnen gebaut, noch die Industrialisierung im Ruhrgebiet und in anderen Gegenden durchgeführt werden konnte. Die große Wanderbewegung, die sich aus der Einbeziehung Tausender bis dahin mur gelegentlich und meist nicht voll beschäftigter Tagelöhner in den industriellen Produktionsprozeß ergab, begann in den 40er Jahren und zog sich bis ins 20. Jahrhundert hinein. Noch
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Marchwitza berichtet in seiner Jugendgeschichte, wie die armen oberschlesischen, im Tagelohn arbeitenden Kumpel ins Ruhrgebiet tippelten, um dort mehr zu verdienen. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Tagelöhner, die zu Tausenden die Erdarbeiten auf den Eisenbahnstrecken verrichteten, ein wichtiger Teil der sich formierenden Arbeiterklasse. In seinem Aufsatz Statistische Betrachtungen über das Eisenbahnwesen, der im Januar 1862 in der Wiener Zeitung Die Presse veröffentlicht wurde, hat Karl Marx schon darauf aufmerksam gemacht, daß bei den enormen Erdarbeiten, die dem Legen der Eisenbahnschienen vorausgingen, die ersten großen Arbeiterarmeen entstanden.57 Die Eisenbahnbauten förderten den Prozeß der Entwicklung des hilflosen Armen zum bewußten Proletarier. „Das Proletariat stellt den Freiheitstrieb der neueren Geschichte zugleich als den Arbeitstrieb dar, und dadurch unterscheidet sich der Proletarier wesentlich von dem Armen, daß der Proletarier arbeiten will, daß er aber in dem ihm aufgegangenen Bewußtsein, daß der freie Organismus der Gesellschaft sich nur auf das Prinzip der Arbeit stützte, den höchsten und angemessenen Lohn für seine Arbeit verlangt", schrieb Friedrich Steinmann schon 1846 in seiner Broschüre Pauperismus und Communismus, ihre Ursachen und die Mittel zur Abhülfe.5Zehntausende der armen, kaum beachteten Tagelöhner und des Gesindes, die bis dahin mit Handlanger- und Gelegenheitsarbeit kümmerlich ihr Leben gefristet hatten, waren z. B. allein auf den Baustellen der sächsischen Bisenbahnlinien zu einer Arbeitermasse geworden, ohne die die Bisenbahngesells chaften kein Projekt verwirklichen konnten. In so großen Kolonnen vereinigt, wie es damals weder in den Fabriken noch in den Manufakturen anzutreffen waren, bildeten sie eine Arbeiterarmee, die nicht nur als Produktivkraft eine wichtige Position im Produktionsprozeß hatte, sondern in der auch gemeinsame Forderungen für menschliche Arbeitsbedingungen und ausreichenden Lohn lebendig wurden und ein Gefühl der Verbundenheit und Klassensolidarität entstand, wie es sich damals noch nirgends in gleichem Maße zeigte. Da Unterbringung, Kost und Lohn der Erdarbeiter miserabel waren, kam es vor 1848 schon zu zahlreichen Streikaktionen der Eisenbahnbauarbeiter, die in erster Reihe neben den heroischen Kampfanstrengungen der 69
schlesischen Weberund der Rebellionder Berliner Kattundrucker genannt werden müssen, wenn von den Kämpfen der deutschen Arbeiter im Vormärz gesprochen wird. Die Eisenbahnbauarbeiter nahmen schon entschieden Stellung gegen die differenzierten Ausbeutungsmethoden der damals noch jungen Bourgeoisie, und ihre Aktionen sind höher zu werten als die bloßen Hungerrevolten und Maschinenstürmereien der schlesischen Weber. 59 Carl Fischer berichtet über die Lage der Erdarbeiter bei den Eisenbahnbauten vor 1870 in der Rhein-Main-Gegend. Er bietet eine erschütternde Dokumentation über die raffinierten Gegenmaßnahmen der Bourgeoisie, diese Arbeitermassen in immer größere Abhängigkeit zu bringen, und über die Versuche, sie auch geistig und moralisch auf ein so niedriges Niveau herabzudrücken, daß jede Form von Opposition und Auflehnung im Keime erstickt werden konnte. Um die Bahnlinien legen zu können, mußte oft ein kleiner Berg „wohl ungefähr an die hundert Fuß hoch am Kegel" etagenweise von oben abgefahren werden „mit zweirädrigen Kippkarren, vor jedem Karren zwei Mann gespannt", erzählt Fischer und fährt fort: „Meine Schippe und meinen Zottel habe ich mitgebracht, denn das Karrenband, das man über die Schulter nahm, mit dem damit verbundenen Strick, das nannten die Leute den Zottel, und statt ziehen sagten sie zotteln, und die-paarweise einen Wagen zogen, die nannten sie die Zottelleute und seinen Kameraden nannte man seinen Zottelmann. Die Zottelmänner waren ebenso verschieden wie die Zottels, und viele waren untadelhaft, und manche waren besser als der Zottel, den sie hatten. Aber ein guter Zottel war eine wichtige Sache, und ehe man mit einem andern Kamerad zusammenspannte, prüfte man erst mißtrauisch sein Geschirr." 60 „Die Arbeit war Akkordarbeit und wurde wagenweise bezahlt. Wer einen Taler verdienen wollte, mußte etwa 50 Wagen rausfahren, wobei von jedem verdienten Taler 6 Pfennige Krankengeld abgezogen wurden. Zahltag war alle 14 Tage, aber in der Zeit kam noch mancher Abzug zustande; wenn es z. B. regnete, fielen Arbeit und Verdienst aus. Auch hackte sich der Boden an manchen Stellen sehr schwer los, so daß man trotz größter Anstrengung weniger schaffte. Spaß war das freilich nicht, wenn der beladene Wagen den Berg heruntersauste, 70
da mußte man mit, da lernte man 'beinig' werden, wenn es in voller Fahrt abwärts ging. Neben der .vollen Fahrt' entlang führte die 'leere Fahrt', da waren Bohlen gelegt, auf welchen man den leeren Wagen den Berg wieder hinaufzog, wobei man vom Markengeber jedesmal eine Marke empfing, soviel Marken man abends abgeben konnte, soviele Wagen hatte man gefahren, aber wer den Wagen nicht ordentlich vollgeladen hatte, der sollte keine Marke haben und der Markengeber mußte dafür aufpassen . . . Aber wenn wir mit dem leeren Wagen wieder oben bei unserer Ladestelle angelangt waren, da . . . schnell den Wagen umgedreht und passend hingestellt, mit einer Hand den Zottel von der Schulter und mit der anderen schon nach der Schippe gelangt; dann ging das Werfen wieder los: was hast du, was kannst du! bis der Wagen wieder voll war, und das durfte gar nicht lange dauern, bei der letzten Schippe sagte einer: 'Gut' und da ließen sie die Schippen bloß aus der Hand fallen, und im Nu hatten sie schon beide den Zottel auf der Schulter und zottelten wieder los." 61 Fischer berichtet, wie es bei diesem Arbeitsdruck oft zu Unfällen kam, die hätten vermieden werden können, wenn die aus allen Gegenden Deutschlands zusammengeströmten Tagelöhner und Handwerksgesellen - er selber war gelernter Bäcker - besser angeleitet worden wären. Dabei drückt er aus, daß er diese Anleitung nicht etwa vom Schachtmeister erwartete, sondern von den eigenen Arbeitskameraden, da der Meister selten mehr als bloßer Antreiber war und in der Hauptsache dafür bezahlt wurde. Es ist eine der eindrucksvollsten Stellen über den Eisenbahnbau, wenn Fischer über solch einen Fall berichtet: „Da war ein junger schlanker Pommer, der trug lange Stiefeln wie in seiner Heimat, und war wohl noch nicht lange von Hause weg; der Wagen, den ich mit meinen Kameraden zu beladen hatte, war der nächstfolgende hinter dem seinigen, und wir waren Nachbarn. Da ladeten wir eines Nachmittags auf, und die Stelle war miserabel schlecht geworden, und hatten eine Wand vor uns kaum 5 Fuß hoch, und unter dem Sande wars tonig, teils weich, teils hart, aber was über dem Sande stand, das war eine Art von versteintem Mutterboden, und war so fest, daß man ihm mit der Hacke nichts anhaben konnte, 71
sondern man mußte die Picke brauchen. D a war das Unterminieren gefährlich, und lohnte auch gar nicht entsprechend, weil die W a n d nicht höher war, da nahm ich die Picke und hackte von oben herunter, und war die Schockschwernot, daß man den Wagen voll kriegte . . . Da rief mich mein Kamerad an, ich antwortete, aber ich ließ mich nicht stören und sah nicht auf, da rief er: 'Na sieh doch einmal hierher, der ist ja hier tot!' Daß Gott erbarm, da lag der junge Pommer, und konnte weiter nichts von ihm sehen, als die Füße mit den langen Stiefeln, und lag auf dem Rücken, und auf seinem Leibe ruhte frei eine runde feste Bodenkugel von etwa einem Meter Durchmesser, die hatte ihn umgerissea und war auf ihm liegen geblieben, und war mit dem Hinterkopf gerade auf die Schiene gefallen, und hatte sich den Schädel zerschmettert, und das Gehirn lag daneben, und hatte niemand von ihm einen Laut gehört. Na ja, das war so. D a hatte er einen vorspringenden Bodenkopf in halber Höhe unterminiert und hatte die Sandader darunter weggehackt, aber der Boden war zu fest, und hat nichts fallen wollen, und hat vermutlich immer tiefer gehackt, bis die Last plötzlich abbrach und ihm auf die Füße rollte und umriß. Aber da war weiter kein Auflauf, dazu hatte keiner Zeit, bloß nach einer Weile kameij die Stellmacher und ein Schmied, die hatten wohl soviel Zeit und wollten sehn, was es für einer wäre, und der Stellmaoher sagte: 'Ach das ist ja der mit die lange Stiefeln, da hat er sie ja noch an.' Aber ein Kamerad konnte das nicht sehen, daß der Tote unter dem Erdklotz lag und kam mit der Picke herbei, um den Klotz zu zerhauen, aber ein anderer wehrte ihm das und sagte: 'Der muß so liegen bleiben, bis das Gericht kommt.' Aber ich konnte das auch nicht sehen, daß er unter der Last lag und sagte: 'So kann er nicht liegen bleiben, die Wagen können ja nicht vorbei, er muß 'doch mit dem Kopfe von der Schiene runter', da wurde der Klotz gespalten, und fiel zu jeder Seite eine Halbkugel herunter, da lag der Tote frei, und wurde ein wenig zurückgezogen, daß die Wagen passieren konnten. Da lag er noch, als Feierabend war, und ist erst später weggeschafft worden. Aber die Leute gaben dem Schachtmeister unter Verwünschungen die Schuld . . . Aber wenn man dem Pommer zugesehen hätte, da hätte man ihn warnen können, denn er 72
wußte sicherlich noch nicht gut Bescheid mit Unterminieren in diesem Boden da, und mußte es mit dem Leben bezahlen. Aber zum Zusehen hatte man d a keine Zeit, und hatte jeder an der eigenen Arbeit genug zu würgen. Dann war der Pommer beerdigt worden. Aber vom Mitgehen war keine Rede gewesen, war aiuch nichts davon bekannt gemacht und keiner aufgefordert worden. Aber ein Kamerad, ein Schlesier, hatte sich darum bekümmert, und war mitgewesen, und kehrte eben vom Kirchhof zurück, und ging nun in seinem altväterlichen Sonntagsanzug oben auf der W a n d die ganze Wagenreihe entlang, und rief dabei immer in seiner breiten Heimatsprache klagend aus: 'Aach, Aach, Ach! su a Begräbnis! ne, ne, ne, su a Begräbnis! Aach, Aach, Ach!' Aber ein einheimischer Kamerad sah auf und ahmte ihn höhnisch nach: Aaaach, Aaaachf aber der Schlesier eben störte sich nicht daran, und ging klagend weiter die ganzen Leute entlang." 6 2 Die Härte der Erdarbeiter erklärt Fischer nicht nur aus dem kargen Lohn, sondern auch aus den schlimmen Lebensbedingungen auf solchen Großbaustellen. Die Erdarbeiter lebten fern von ihren Familien und hatten außerordentlich schlechte und dabei zu teure Unterkünfte bei Wirtsleuten, die zuerst auf Kredit beköstigten, am Zahltag aber so hohe Forderungen stellten, daß der Lohn nicht ausreichte und die Arbeiter in Schulden gerieten. Fischer erzählt von sich selbst, daß er mehrmals wegen solcher Schulden das Logis heimlich verließ und sich ohne einen Pfennig Geld in der Tasche bis zur nächsten Baustelle durchbettelte. Oft bauten sich zwei Arbeiter zusammen eine primitive Bretterbude als Schlafstelle, um sich dem Wucher von meistens mit der Bauleitung unter einer Decke steckenden Logiswirten zu entziehen. Aber sie waren dann gezwungen, in einem Gasthaus bei einem „Budiker" zu essen, wo sie vom Regen in die Traufe kamen. An vielen Baustellen hatten die Gastwirte mit den Schachtmeistern gegen Entgelt Verträge abgeschlossen, die bewirkten, daß diese den Arbeitern anstelle von Geld Blechmarken, sogenannte Puchinchen gaben, für die sie vom „Budiker" Essen und Getränke erhielten. Am Zahltag wurde ihnen der Wert der Marken vom Lohn abgezogen, und da kam es wieder oft genug vor, daß statt Geld Schulden übrig blieben und die betreffenden Arbeiter in ihrer 73
Kleidung immer mehr zerlumpten, weil sie keine Möglichkeit hatten, sich neue Sachen zu kaufen, und daß sie immer tiefer in Abhängigkeit und Schulden gerieten, weil sie ja essen mußten. In den abseitigen Gegenden, durch die die Schienenstränge gelegt wurden, war die Gastwirtschaft oft die einzige Zuflucht der Erdarbeiter in ihrer Freizeit. Fischer schildert auf den 100 Seiten über sein Leben Bei den Erdarbeitern, wie die Proletarier hoffnungsvoll von weither gekommen waren, um etwas Geld für ihre Familien verdienen zu können. Durch die unwürdigen Verhältnisse am Arbeitsplatz und in den verwanzten und verlausten Schlafstellen wurden sie aber geradezu ins Wirtshaus getrieben. Die Bauleitung unternahm bewußt nichts, bessere Verhältnisse zu schaffen, denn erniedrigte und abhängige Arbeitssklaven waren für solche Erdarbeiten am bequemsten zu brauchen. Fischer beschränkte sich in seiner Dokumentation nicht auf die Beschreibung des Negativen. Das Kapitel ist ein Gemälde von Breughelscher Fülle und Vielschichtigkeit. Es zeigt die vielen verschiedenen Menschen nicht nur in ihrem Elend und in ihrer Erniedrigung, sondern auch in ihrer Kraft und Schönheit. Das Gewimmel auf der Großbaustelle macht den Eindruck eines brodelnden Kessels, der einmal überschäumen wird. Die
Abraumaken
Es soll hier auf Holeks Bericht über die Arbeit Auf dem Abraum in Dux63 eingegangen werden, über den Kohlentagebau im ehemaligen Böhmen, der ebenfalls ungelernte Gelegenheitsarbeiter und Tagelöhner beschäftigte. Es handelt sich um Verhältnisse zu Anfang der 70er Jahre, also etwa um die gleiche Zeit, über die Fischer als Erdarbeiter beim Eisenbahnbau berichtet. Doch gibt es in der Dokumentation der beiden Arbeiter Unterschiede in der Art der Darbietung. Holeks Schilderung ist viel drastischer. Er gibt ein völlig schonungsloses, naturalistisches Bild, das abstoßend wirken soll und das diesen Zweck um so mehr erfüllt, als es sich dabei um Erlebnisse eines in diesen harten Arbeitprozeß eingereihten kaum zwölfjährigen Jungen handelt. Ähnliche Elendsschilderungen über Schwerst74
arbeiter gab es in der Literatur nur in Zolas Germinal und bei Friedrich Engels in seinem Buch Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Holeks Erzählungen erhalten im Vergleich mit denen Fischers ihren besonderen Charakter dadurch, daß sie gewissermaßen aus doppelter Sicht entstanden sind: vom Blickpunkt der Kindheitseindrücke und von dem des aufgeklärten Sozialdemokraten. Das in der bürgerlichen Autobiographie von Rousseau eingeführte Prinzip der Schonungslosigkeit, aber ebenso die von den deutschen Naturalisten erhobene Forderung, „die Wahrheit, die nackte Wahrheit" darzustellen, erhält in dem harten Sachbericht der beiden Arbeiter eine neue proletarisch-parteiliche Qualität. Bei dem Sozialdemokraten Holek tritt das noch mehr hervor als bei dem älteren Fischer, dessen Berichte, obwohl auch er nichts verschwiegen hat, von seiner anderen Mentalität her ausgewogener sind. Auf dem Abraum arbeiteten Männer und Frauen zusammen, was sich bei einer bestimmten Schicht, die Holek mit Lumpenproletariat bezeichnet, besonders abscheuerregend auswirkte. Wir finden hier auch zum erstenmal die Einbeziehung des Sexuellen in den Sachbericht. Auch hier geht Holek über Fischer hinaus. Er beschreibt das Verhalten einzelner männlicher und weiblicher Arbeitskräfte mit der Aggressivität des Wissenden, der nichts zu verheimlichen hat, der als Mitglied der SPD und durch Selbststudium auf die Ursachen der sozialen Zustände gestoßen ist und nichts verbergen will, um die Nichtwissenden in Kenntnis zu setzen. Bei ihm, der in sexuellen Dingen eine empfindliche Moral entwickelt hatte, mag noch die Tendenz, abschreckend wirken zu wollen, hinzukommen. Es entsteht jedoch nicht der Eindruck, daß er deshalb übertreibt. Die Präzision, die kühle Genauigkeit, mit der Holek jeden überflüssigen Handgriff vermeidend, seine Arbeit einteilte, um Zeit für seine Autobiographie zu gewinnen, hat sich auf deren Stil übertragen. So schildert er den Abraumvorgang: „Die Kohlenwand konnte wohl ungefähr sieben bis acht Meter hoch sein. Die obere Lehmschicht wurde . . . von den Kohlen abgedeckt und dafür die Löcher, wo die Kohlen ausgeraubt waren, damit ausgefüllt. Das war unsere Arbeit. Und das hießen die Leute Abraum oder auch Tagbau." 64 Die dazu 75
benötigte „zweirädrige Karre mit einer Deichsel, an der vorn ein rundes Querholz zum besseren Ziehen" angebracht war und auf deren Achse „sich ein größerer Kasten mit einer ausziehbaren Schütze" befand und „vorne neben der Deichsel an dem Kasten rechts und links" zwei Haken, an denen die beiden Zugbänder befestigt wurden, die sich die Arbeiter zum Ziehen der Karre über die Achsel warfen 65 , werden exakt beschrieben; ebenso die Beschaffenheit des Weges, den die Karrenleute vielemale am Tage zurückzulegen haben: „ . . . überall war tiefer Staub, so daß, wenn wir Schiener und Fahrer einen Schritt machten, sich eine Wolke in die Höhe hob; auch von den Rädern der Karren wurden solche Staubwolken aufgewühlt. Und darum sah es auf diesem Wege den ganzen Tag aus, als läge über ihm ein dichter Nebel. Wenn man einen Tag 'in diesem Qualm gearbeitet hatte, da fühlte man es abends auf der Brust brennen, und spuckte den Staub stückweise heraus. In den Füßen aber zuckte es, weil die Haut von dem heißen Staub förmlich verbrannt war. Die Glieder taten alle weh, denn das Fahren ging den ganzen Tag im Trab." 66 Ebenso wie bei Fischers Eisenbahnbau mußte wegen der Akkordarbeit alles sehr schnell gehen. Holek weist noch darauf hin, wie die Karrenmänner sich ständig unflätig beschimpften, wenn sie sich in der Schnelligkeit nicht gut genug ausweichen konnten. „Den ganzen Tag hörte man nichts anderes wie Gefluche, gröbste Beleidigungen, gemeinste und ekelhafteste Ausdrücke, nur kein ruhiges und vernünftiges Wort. Dabei schindet sich einer mehr wie der andere, sein Schweiß regnet förmlich von der Stirn, läuft den Körper herunter und durchnäßt Hemd und Hose." 67 Umgangston und Sitten unter den Abraumaken, wozu auch übermäßiges Schnapstrinken gehört, werden von Lumpenproletariern bestimmt, die zu dem festen Stamm der Belegschaft gehören. Alle anderen Arbeiter halten es dort nicht länger als zwei bis drei Wochen aus und ziehen dann weiter wie Vater und Sohn Holek. Obwohl Wenzel diese Wochen als „qualvoll" empfand, begnügt er sich nicht damit, die Verkommenheit der zurückbleibenden Abraumaken zu schildern. Er erklärt, warum sie untereinander so brutal und gegenüber den Vorgesetzten untertänig und schmeichlerisch waren. Es herrscht nämlich das gleiche unbarmherzige Blechmarkensystem, das Fischer schon angriff. Holek 76
kennzeichnet es schärfer als Fischer und differenziert gleichzeitig. Er schreibt über die Stamm-Abraumaken: „Der ganze Lohn, den sie verdienten, blieb gleich in den Händen des Unternehmers, der Kantinenbesitzer und Partieführer zugleich war. Ja, der Lohn reichte bei vielen noch nicht, sie blieben noch in Schuld und Rest. Auf diese Art bekamen die Unglücklichen nie einen baren Kreuzer in die Hand. Das, was sie sich mit hergebracht hatten, wurde heruntergelumpt, neues konnte nicht gekauft werden, höchstens, wenn es schon gar zu schlimm war und sie sich mit Mühe von dem Herrn etwas herausbettelten. Schließlich konnten sie ja doch nicht ganz nackt arbeiten und da warf man ihnen dann ein paar Kreuzer hin, damit sie sich ein Hemd oder eine Hose kaufen konnten. Aus diesem Grund konnten sich die armen Sklaven, wie sie sagten, auch nicht 'rühren', sie mußten bleiben, konnten so zerlumpt, ohne Geld, nicht fort. Ein Gendarm hätte sie beim ersten Begegnen arretiert, als Strolche dem Gericht übergeben. Dennoch bildeten auch sie trotz ihrer großen Armut zwei Klassen. Die in den Baracken waren alle noch ledig, ob jung oder alt; und waren mit allem, was sie brauchten, auf die Kantine angewiesen. Die Leute, die hinter Dux an der Os seger Straße in der 'Kolonie' wohnten, hatten zwar meistens gar keine Möbel oder doch nicht viel, sie waren aber doch verheiratet und führten ein Familienleben. Sie gingen nicht so zerlumpt, wenn auch nur ärmlich angezogen, konnten sich noch selbst etwas zum Essen kochen, und sind doch ein bißchen besser und billiger weggekommen als die Barackenbewohner." 68 Holek wendet hier den Begriff „Klasse" fälschlich für „Schicht" an, aber sein Bericht läßt doch die Schlußfolgerung zu: wenn der Arbeiter sich nur ein bißchen Luft verschafft, wenn er sich nicht ganz in die Abhängigkeit des Unternehmers begibt, kann er menschlicher leben.
Qualifizierte
Saisonarbeit
Für den ungelernten Wanderarbeiter gab es in Agrargebieten die Möglichkeit, sich als Saisonarbeiter in einer Ziegelbrennerei oder in einer Zuckerfabrik zu qualifizieren und so wenig77
stens zweimal im Jahr für längere Zeit einen festen Arbeitsplatz zu haben. Als vierzehnjähriger hatte Holek schon vier Sommer in einer Ziegelei und drei Wochen in einer Zuckerfabrik gearbeitet. Später fand er zusammen mit seiner Frau auch oft nur Saisonarbeit und mußte sich als Arbeitsloser mühsam durchs Leben schlagen. In seinem Lebensbericht ist genau nachzulesen, wie man Mauerziegel oder Dachziegel macht, wie das Herstellungsverfahren von Wasserziegeln oder Sandziegeln ist, daß 12 bis 14 Stunden gearbeitet wurde und für tausend Ziegel siebzehn Groschen bezahlt wurden, woraus die Kost bestand und wie die Unterkunftsmöglichkeiten waren. Pro Tag gab es etwa 1 Pfund Brot, 35 g Butter, Kaffee und 1/2 Liter Bier, abends Wassersuppen. Schlafgeld war nicht zu zahlen. Eine Strohschütte und eine Pferdedecke auf dem Dachboden der Ziegelei war die Heimstatt des Saisonarbeiters: „Im Frühjahr waren noch die Nächte zu k a l t . . . Sehr oft, wenn uns auf dem Dachboden recht fror oder es schon vor dem Schlafengehen kalt war, nahmen wir unsere Decken, schleppten Stroh in den Ziegelofen oder ins Schürhaus und schlugen unsere Lager dort auf. Der Wind blies den Staub von den Wänden herunter, und wenn wir früh aufstanden, waren Kleider, Gesicht und Hände entweder ganz rot oder ganz schwarz. Und so mag es wohl auch in der Kehle und Lunge ausgesehen haben. Im Sommer wieder, da plagten uns auf dem Dachboden die Flöhe, von denen wohl Hunderttausende oben waren. Mir machte das ja nicht allzu viel. Denn ich war so müde, daß ich trotzdem immer gut schlief." 69 Wenn es so kalt war, daß die noch nicht gebrannten Ziegel über Nacht einfroren, konnte nicht weitergearbeitet werden, und es gab tagelang keinen Verdienst. Aber in guten Zeiten machte Holek die Arbeit Spaß, und er war stolz, bald der schnellste Ziegelstreicher zu sein und bis zweitausend Mauerziegel oder siebzehnhundert Dachziegel täglich zu schaffen. Doch bald gab es Lohndrückern und nur noch 15 Groschen fürs Tausend. Um den Schaden wettzumachen, mußten er und seine Kollegen länger arbeiten und womöglich noch schneller. Und wenn die Arbeiter früher oft - wenn der jeweilige Aufseher es erlaubte - bei der Arbeit ihre Lieder gesungen hatten, so verging ihnen das unter diesen Umständen. Der höchstewöchentliche 78
Lohnsatz im Akkord war 13 Mark, die Hälfte davon mußte für Essen und Trinken ausgegeben werden, so daß nur wenig Geld übrig blieb für die Mutter und die kleinen Geschwister daheim. Alle diese Berichte über die jeweilige wirtschaftliche Lage nehmen verständlicherweise in der proletarischen Selbstdarstellung großen Raum ein, und es werden immer wieder neue Schlußfolgerungen gezogen. Holek schildert diesen Prozeß in den einzelnen Phasen. Als Junge hat er über die Erfahrungen beim Abraum in Dux noch lange nachgedacht. Auf seiner Wanderschaft als Saisonarbeiter war er nach dem Zusammentreffen mit einem flüchtenden jungen Abraumhaken, der ßich wegen seiner Zerlumptheit nur nachts auf die Straße traute, zu dem Schluß gelangt: „Wie viele Menschen, die dort ihr Glück suchten, sind da wohl schon totunglücklich geworden? Die 'Herren' aber reich von 'deren Unglück". 70 Schließlich kommt der 18jährige zu dem Ergebnis: „Ja, w e n n w i r n u r a l l e e i n e s S i n n e s w ä r e n !" 7 1 und schreibt dem Arbeitgeber einen anonymen Drohbrief. Er bezeichnet es als Härte, daß der Vater der Mutter so wenig Geld schickt, daß sie unmöglich davon leben kann. Gleichzeitig erkennt er immer mehr, daß der wirklich Schuldige der Gutsbesitzer oder der Bauer ist, dem die Ziegelei gehört. Im dritten Lebensjahrzehnt scheut er sich dann nicht mehr, offen gegen diesen Besitzer aufzutreten. Er ist sich klar darüber, daß dies entwicklungsbedingt war. Als erfahrener und erprobter Ziegelbrenner hatte er in einer Ziegelei gearbeitet, als ob es sein Eigentum wäre: „Niemand mischte sich in mein Fach, ich richtete die Arbeit so ein, wie ich es für gut befand. Das entsprach meinen Wünschen. Und das überwog bei mir die Unzufriedenheit in anderer Hinsicht." 72 Dann kam er als Brenner zum Bauern König, der zugleich Zimmermeister und Stadtratmitglied der Gemeinde Karbitz in Böhmen war. Dessen Stolz und Überheblichkeit gegenüber den Ziegeleiarbeitern stand in keinem Verhältnis zu seinem Fachkönnen, er mäkelte an allem herum und wollte bestimmen über Dinge, von denen er nichts verstand. Holeks Vorgänger war um ihn herumgesprungen „wie ein Pudelhund" und hatte dann, wenn König weg war, doch alles so gehandhabt, wie er selbst es für richtig hielt. Holek dachte nicht daran, diesem 79
Beispiel zu folgen. Er sah in König einen „vermögenden Sonderling", für den seine Arbeiter nur Schmarotzer waren, die an seinem Vermögensbaum nagten, und berichtete: „Als ich dann den ersten Ofen voll Ziegel gefahren hatte und ihn anzündete, da kam der König auch wieder mit seinen veralteten Theorien. Er wollte z. B. in die Feuerung ganz wenig Kohlen angelegt haben. Ich legte aber wieder an, je nachdem der Ofen zog, und es die Ziegel vertrugen, und nach und nach immer mehr, bis ich die nötige Hitze erzielte. Nach seiner Ansicht aber hatten wir die Kohlen verbrannt und die Ziegel halb gebrannt gehabt. Ich sagte es ihm auch offen, daß es nicht so gehe; er gab mir zwar keine Antwort, aber ich sah, daß es ihm nicht recht war, weil er ein Gesicht dazu machte, als hätte er Essig geschluckt. - Wie schwer er zu einer Neuerung und jeder geringsten Geldausgabe zu bewegen war, ist aus folgendem zu ersehen. Als ich sah, daß die im Lehm befindlichen Kiesel- und Kalksteinchen wirklich die Arbeit sehr erschwerten, weil sie beim Graben und Einsümpfen einzeln herausgelesen werden mußten, riet ich ihm, wenigstens für den Dachziegellehm, von starkem Draht einen Durchwurf machen zu lassen. Der gewässerte und ziemlich fertige Lehm wäre dann auf den auf zwei Holzblöcken liegenden Durchwurf geworfen und durchgetreten worden, so daß die Steine oben geblieben und nur der reine Lehm durchgegangen wäre. Die Arbeit an den Dachziegeln hätte auf diese Weise schneller vorwärts gehen können, und wir hätten beide davon Vorteil gehabt. Ich hätte keine Ziegeln wegwerfen und umsonst zu arbeiten brauchen. Und er hätte wieder die Kohlen, die auf den Bruch entfielen, nicht unnötigerweise zu bezahlen gehabt. Nach meiner Information bei einem Schlossermeister hätte der Durchwurf 24 Gulden gekostet, der . . . sich schon im ersten Jahr mehrfach bezahlt gemacht hätte. Aber diese Auslagen waren ihm viel zu hoch, und es blieb beim alten. Sein Schaden war natürlich geringer, wie der meine. Er verlor bei einem Tausend Ziegelbruch 2 Gulden 40 Kreuzer, ich aber 5 Gulden 50 Kreuzer." 73 Weil Holek sich aber immer wieder seinem Chef gegenüber auf seine Arbeitsleistung und seine Fachkenntnisse stützte, nicht daran dachte, ihm gegenüber „ein Waschweib oder einen August abzugeben", nur um seine Stellung zu halten, verlor er sie. 80
Der gleiche dialektische Zusammenhang zwischen der Leistung qualifizierterer Arbeit und der Entwicklung proletarischen Selbstbewußtseins zeigt sich in Holeks Berichten über seine Tätigkeit in ländlichen Zuckerfabriken. Hier lernte der 13jährige zum erstenmal eine Maschine bedienen. Und hier erfuhr er 17 Jahre später, welche Auswirkungen die zunehmende industrielle Zuckergewinnung für die ländlichen Arbeiter hat. Er beschreibt die Betriebsmaschine der Zuckerfabrik, die ihm zur Bedienung und Pflege anvertraut wurde, bis in alle Einzelheiten ihrer Zusammensetzung und Funktion, von Zylinder, Schwungrad, Transmiissionsriemen, Kolbenstangen bis zu den Schmierbüchsen, dem Dampfventil, der Dampfpfeife und dem Dampfrohr in der Erinnerung an seinen jungen Ehrgeiz wie einen schönen, geliebten Gegenstand. Und mit dem gleichen Stolz erzählt er, wie er damals den dicken Zuckermeister mit der Berufung auf die Arbeitsordnung veranlaßt hat, eine ungerechte Strafe zurückzunehmen. Später, gegen Ende seines Buches, berichtet er mit nüchterner Konsequenz von den Auswirkungen des technischen Fortschritts der Zuckerproduktion: „Ein Quantum von Zuckerrüben, das früher eine . Zeit von fünf bis sechs Monaten zur Bearbeitung erforderte, wurde nun in acht bis elf Wochen verarbeitet. - Früher waren die Zuckerfabriken, die sich meistens auf dem Lande befinden, für den Landarbeiter den ganzen Winter über der Halt; nun aber, wo die Kampagne schon vor Weihnachten endete, wurden sie in der schlimmsten Winterzeit vor das Tor gesetzt. Kein Wunder, wenn die armen Teufel vor diesem sie alle Jahre bedrohenden Elend ausreißen und sich in die industriellen Orte drängen. Die Agrarier ärgern sich darüber, nehmen ihnen das Auswandern schwer übel, und vergießen Krokodiltränen über 'ihre' Arbeiternot." 74
Fabrikarbeit Wir halten uns in diesem Falle hauptsächlich an die Memoiren des Metallarbeiters Bromme, die beispielhaft sind für die Dokomentation des Arbeitslebens um 1900, aLs Deutschland in den Imperialismus, in die Epoche des verschärften Klassen6
Münchow
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kampfes am Vorabend der proletarischen Revolution eintrat. Brommes Autobiographie ist in der Dokumentation dieser vorgeschrittenen Phase wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung materialreicher als die anderer Fabrikarbeiter wie Krille oder Popp. D i e Erinnerungen Krilles an seine Fabrikarbeiterzeit beziehen sich in der Hauptsache auf seine individuelle ideologische Entwicklung. D i e proletarische Schriftstellerautobiographie dieser Zeit, das muß an dieser Stelle hinzugefügt werden, ist überhaupt in bezug auf die Darstellung des Arbeitsprozesses und des daraus erwachsenden Klassenkampfes bei weitem nicht so materialreich wie die Arbeiterautobiographie. D e r Fabrikarbeiter Bromme hat, obwohl er lieber Lehrer geworden wäre, in erster Linie und außerordentlich vom Standpunkt und von den Belangen des Fabrikarbeiters geschrieben, und darin liegt die Stärke seines Buches. Für Krille war das Fabrikarbeiterdasein nur eine Durchgangsstation, deren Erlebnisse und Erfahrungen er nicht genügend für seine schriftstellerische Tätigkeit zu nutzen verstand. Darin liegt nicht nur die Schwäche seiner Jugenderinnerungen, sondern auch der ideologische und schöpferische Mangel seiner Existenz. Popps Erinnerungen sind eine gute Agitationsschrift zur Emanzipation der Fabrikarbeiterin. In die ökonomischen und sozialen Probleme der Fabrikarbeit vermochte sie nicht in dem Maße einzudringen, obwohl sie in einer großen Industriestadt viel mehr Gelegenheit dazu gehabt hätte als Moritz Bromme in seinem thüringischen Wirkungsbereich. Das liegt u. a. auch daran, daß Popp ihre Schrift erst verfaßte, als sie schon hauptamtliche sozialdemokratische Funküionärin war und sich als Herausgeberin einer Arbeiterinnenzeitschrift mehr mit allgemeinen ideologischen Fragen beschäftigte. Bromme schrieb seine Lebensgeschichte während seiner Fabrikarbeiterzeit, als ihm die mit dieser Arbeit verbundenen Probleme und Ansprüche gewissermaßen auf den Nägeln brannten. Bromme bringt auf 50 Seiten u. a. eine ausführliche Dokumentation über seine Arbeitserfahrungen in der Werkzeugfabrik Wesselmann - Bohrer & Co., Aktiengesellschaft zu Gera, die sich damals „nur mit Anfertigung von den in allen Ländern patentierten Doppelspiralbohrern und den dazugehörigen Spezialfuttern" befaßte. 7 5 E r stand an einer Zapfenfräsmaschine 82
und mußte nebenbei Butzen abfeilen und zentrieren. „Das letztere bedeutet das Anbohren von Stahlstücken, damit diese' in den Kernspitzen der Drehbank laufen können, in der sie dann die Formen als Bohrer erhalten." 76 Auch dieser Betrieb war schon den Folgen der Monopolisierung ausgesetzt. Der erste Direktor, den Bromme erlebte, hatte lange Jahre in Sheffield in England ein Stahlwerk geleitet und galt als Geschäftsmann mit Weitblick, der, obwohl nicht gerade arbeiterfreundlich, doch an erträglichen Beziehungen zu den in der Fabrik Beschäftigten interessiert war. Doch im Zusammenhang mit der sich nähernden Weltwirtschaftskrise von 1900 bis 1903 befürchteten die Aktionäre der Geraer Firma wie alle Aktionäre in Deutschland eine zu starke Kürzung ihrer Dividende und strebten zu diesem Zweck eine höchstmögliche Ausbeutung der Arbeiter an. Dabei war ihnen der alte Direktor im Wege, und sie erwirkten 1899 seine Entlassung. Durch die Krise wurde der Konzentrationsprozeß sehr stark gefördert. Im Zuge dieser Entwicklung kaufte die Geraer Metallwarenfabrik eine Konkurrenzfirma in Debschwitz auf. Gleichzeitig setzte die Senkung der Arbeitslöhne ein. Bromme berichtet, daß die Krise der Metallwarenindustrie 1901 ihren Höhepunkt erreicht hatte und die Folge für die Beschäftigten gesteigerte Arbeitsleistung und geringerer Lohn waren. In einer genauen Tabelle 77 weist Bromme nach, daß die Löhne von 1898 bis 1903 bis zu 75 % reduziert worden waren. Gleichzeitig, berichtet er, mußte die Produktion beschleunigt werden, was dazu führte, daß z. B. ein Fräser, der bisher zwei Maschinen bedient hatte, vier, ja bis zu sechs Bänke übernehmen mußte. Dazu traten andere willkürliche Maßnahmen der Werkleitung. Wenn Inventur gemacht wurde, fiel die Arbeit für zwei Tage aus, und die Beschäftigten erhielten keinen Lohn. Feiertagsschichten wurden nicht mehr höher bezahlt und manchmal überhaupt nicht. Aber die Fabrik beschäftigte seit 1899 z weihundert Arbeiter. Wir müssen auch das als Ergebnis des imperialistischen Konzentrationsprozesses ansehen. Noch 1895 machte die Anzahl der industriellen Betriebe einen geringen Teil aller Betriebe in Deutschland aus. 1907 beschäftigten nur 548 der insgesamt über zwei Millionen industriellen Betriebe schon fast ein Zehntel (1,27 Millionen) aller Arbeiter in Deutschland. 78 An diesen statistischen Angaben gemessen, muß man die 6'
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Fabrik, in der Bromme arbeitete, auf jeden Fall als mittelgroß bezeichnen. Im Gegensatz zu kleineren Betrieben der Holzverarbeitungsindustrie, in denen Bromme vor 1898 angestellt war, brauchte er hier nur 10 Stunden am Tage zu arbeiten. Auch hatte er in der Holzbranche nur 13 bis 15 Mark wöchentlich verdient, als Metallarbeiter brachte er es 1899 auf 20 bis 21 Mark pro Woche. E r arbeitete im Akkord, aber ein durchschnittlicher Stundenlohn von 30 Pfennigen stellte ihn relativ zufrieden, wenn er sich auch immer stärker strapazieren, „wahnwitzig schuften" mußte, immer häufiger erkrankte und deshalb nach sechs Jahren harter Arbeit die Fabrik sang- und klanglos zu verlassen gezwungen ist: „Ich hatte 6 Jahre lang die riesigen Gewinne für die Fabrik mit zusammenschinden helfen, hatte mir als Extrazulage die Proletarierkrankheit geholt, - nun wurde man ohne ein Wort der Anerkennung gleichgültig entlassen. Wehmütig blickte ich mich noch einmal um, als ich zum letzten Male das Fabriktor passierte. D e r Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr konnte gehen." 7 9 Doch wenn man nach Brommes Erinnerungen die Lage der Fabrikarbeiter mit der der Landarbeiter, der Wander- und Saisonarbeiter vergleicht, kann man deutlich den Fortschritt erkennen. Gewiß waren auch sie der Ausbeutung und der Willkür der Unternehmer ausgesetzt, aber sie hatten sich organisiert und Möglichkeiten, sich durchzusetzen, erkämpft. Viele Fabrikarbeiter waren Sozialdemokraten, die zusammenhielten und sich gegenseitig beistanden. Noch mehr gehörten der Gewerkschaft, dem Metallarbeiterverband an. E s gab einen Arbeiterausschuß von Vertrauensleuten in der Geraer Fabrik, es wurden Werkstattversammlungen abgehalten und Delegierte gewählt, die der Betriebsleitung Wünsche und Beschwerden der Arbeiter vortrugen und oft kleine Erfolge errangen. So erzählt Bromme, wie die Arbeiter durchsetzten, daß sie für die Stunde, die sie über ihre Arbeitszeit hinaus für das Putzen der Drehbänke verwandten, Lohn erhielten. Auch kleine Lohnerhöhungen wurden während der Zeit der rapiden Lohnreduktionen zurückerobert. Bromme berichtet von erfolgreichen Streiks in Nachbarfabriken. All das, was wir aus der Geschichte der Arbeiterbewegung über Lohnstreiks kennen, erfahren wir authen-
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tisch aus dieser Biographie. Und das Wichtigste ist: Sozialdemokraten wurden zwar schikaniert, wenn sich die Möglichkeit ergab, sie wurden aber politisch als existent anerkannt und entwickelten sich unter den Augen der Kapitalisten zu Persönlichkeiten. In der Fabrik konnte die Parteipresse vertrieben werden, und durch einen Kolporteur wurden gute Bücher zu billigen Preisen an die Arbeiter verkauft, über die diese dann miteinander diskutierten. Kein Kapitel der Lebensgeschichte Brommes enthält so viele interessante Arbeiterporträts wie das über seine Metallarbeiterzeit. Er erzählt von sich selbst, daß er in der Zeit, als er nur zwei Drehbänke zu bedienen und große, starke Bohrer zu drehen hatte, sich bei der Arbeit Verse ausdachte, die er dann des Abends in ein Diarium schrieb. 80 Nicht nur die wehmütigen Blicke, die er bei seinem Ausscheiden zur Fabrik zurücklenkte, sondern seine ganze Art des Berichts beweisen, daß Bramme an dieser Arbeit besonders hing. Noch aus der Entfernung der Lungenheilstätte, wo der dies Kapitel enthaltende Teil der Autobiographie niedergeschrieben wurde, berichtet er deshalb bis ins Detail anschaulich über die Einrichtung des neuen Fabriksaales: „Auf die rechte Seite des großen Saales, der unter Schettdach und mit Betonfußboden hergestellt war, kamen die Drehbänke, auf die linke Seite die Fräs- und Schneidmaschinen zu stehen. - Im hintern linken Teile des Saales standen die zum Werkzeugmaschinenbau nötigen Maschinen, wie Hobel-, Schapping-, Bohr-, Horizontalbohr-, Stoß-, Nuten- und Universalfräsmaschinen. Um den ganzen Saal herum, an den Wänden, waren die Schraubstöcke der Schlosser gruppiert. Jetzt wurden außer den Spiralbohrern noch sämtliche andre für die Metallbranche nötigen Werkzeuge wie Schneidkluppen, diverse Fräser, Bohrknarren, Rohrzangen, Richtplatten, Lehren, Handbohrmaschinen, Schneidbohrer, Windeisen, Bohrfutter fabriziert. Neben dem Hauptsaal lagen das Magazin und die Lager- und Packräume, dann folgten die Härterei und Schmiede, dann die Modelltischlerei und endlich Kontor und Direktionsräume. Im linken Flügel war das Kesselhaus mit der Zwillings-Dampfmaschine, der Heißluftanlage und dahinter der Speisesaal mit Kantine." 81 Diese genaue Beschreibung des Arbeitsplatzes wäre auch an dieser Stelle unvollständig ohne Hinweis auf .die Gesundheits85
Schädlichkeit mancher Maschinen und Arbeitsvorgänge und ohne den entsprechenden Angriff auf die Fabrikleitung, die nicht für Arbeitsschutz sorgt, nur am Produkt, aber nicht an den Produzenten interessiert ist. Der Gegenstand der Dokumentation, der Sachbericht über Produktionsmittel und Produktionsinstrumente, über Arbeitsvorgänge und -prozesse im Rahmen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse ist auch in der Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters in dialektischem Zusammenhang mit dem Wunsch nach Veränderung der Produktionsverhältnisse zu sehen. Es geht bei Bromme wie bei Holek und Fischer um mehr als um bloße Eroberung neuer Sachbezirke für die Literatur. Versuche in dieser Richtung gab es schon bei den Naturalisten. Wilhelm von Polenz war als Landwirt imstande, in seinem Roman Der Büttnerbauer einen pflügenden Bauern oder auch einzelne Details aus dem Leben von wandernden Landarbeitern zu beschreiben. Max Kretzer konnte gemäß seiner Herkunft über die Arbeit kleiner Handwerker schreiben. Hauptmann hatte es in seinen Webern darauf angelegt, den Webvorgang in allen Einzelheiten und mit den dazugehörigen Fachausdrücken zu schildern, nachdem er ihn auf einer Studienreise ins Eulengebirge am Objekt beobachten konnte. Bei Polenz, Kretzer und Hauptmann handelte es sich um Versuche der Nachgestaltung aus dem Leben gegriffener Fakten, nicht um eine Darstellung authentischer Erlebnisse und Vorgänge. Doch den stärksten Ausschlag gab das persönliche Engagement der Selbstdarsteller. Bei Traven etwa gibt es bestimmt effektvollere und plastischere Darstellungen über das Leben der untersten Schicht der ausgebeuteten Klasse. Dennoch strahlen Fischers Gemälde vom Eisen bahmbau und Holeks Schilderung der .Abraumaken' etwas Unvergleichliches aus: das beiallersachlichenDarstellung menschlicher Erniedrigung deutlich spürbare Drängen nach ihrer Beseitigung und das Beispielhafte, das daraus erwuchs, daß der, der dabei war und der gleichen Erniedrigung ausgesetzt war, sich befreien konnte und der schöpferischen Tat fähig wurde. Der künstlerisch packenden Fiktion, der Parteiergreifung eines Nicht-Unterdrückten für die Unterdrückten steht die nüchterne Authentizität des Erlebnisberichtes eines Unterdrückten gegenüber, der sich nicht mehr unterdrücken lassen wollte. 86
Die Er^äh/weise der Arbeiterautobiographen Die frühe Arbeiterautobiographie besteht nicht nur aus Dokumentationen des Arbeitslebens; der Selbstbiograph kommt bei der praktischen Ausführung der Aufgabe, die er sich gesetzt hat, ebenso häufig ins Erzählen und Gestalten von Ereignissen und Problemen seines Lebens und entwickelt dabei eine ihm eigene und für die Entwicklungsphase seiner Klasse typische Erzählweise. Es zeigt sich, daß die literarische Höhe des Erzählstils im Zusammenhang steht mit dem Maß der Qualifizierung und der Höhe des Klassenbewußtseins des Erzählers. So entwickelt sich beispielsweise Carl Fischer als Selbstdarsteller während der Niederschrift seiner Denkwürdigkeiten am Gegenstand. Unter den frühen proletarischen Selbstdarstellungen hat Rehbein den höchsten ideologischen Erkenntnisgrad erreicht. Er war fest durchdrungen vom Wissen um das notwendige und absehbare Ende der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, dabei stieß seine Erzählweise ins Humorvolle und Komische vor. Mit seinen von dieser Stufe aus vorgenommenen plastischen, satirischen Charakteristiken des Klassengegners verlieh er am besten dem Überlegenheitsgefühl des schöpferischen Proletariers Ausdruck. Fischer näherte sich im letzten Kapitel seiner Erinnerungen, als er über seine Erlebnisse und Erfahrungen im Stahlwerk berichtet und sich mit dem „Inschenjör" und dem „Kündigungsdirektor" auseinandersetzt, der Höhe Rehbeins. Mit der Kennzeichnung des im kapitalistischen System herrischenden Funktionalismus und Bürokratismus, mit der Verurteilung der Kälte und der Gleichgültigkeit gegenüber den berechtigten Belangen der arbeitenden Menschen, entwickelte er eine Aggressivität, die die Grenzen seiner sonst zurückhaltenden und geduldigen Natur durchbricht. Seine Satire ist verhalten wie das Grollen eines aufziehenden Gewitters. Die Kritik trifft und wirkt, weil sie hintergründig getragen istvomzornigen Selbstbewußtsein des Arbeiters, der sich aus eigener Kraft, ohne Hilfe der Vorgesetzten, die ihn jetzt so gleichgültig behandeln, aus persönlichem Engagement für eine schwierige Arbeit qualifiziert hat und sich so auch menschlich den Kritisierten überlegen fühlt. Von diesem Zusammenhang zwischen Bewußtsein und künstlerischer Höhe legt auch die Rückentwicklung der litera87
rischen Produktion Holeks Zeugnis ab. Seinen ersten Band hat er noch vorwiegend vom Standpunkt des opponierenden sozialdemokratischen Arbeiters geschrieben, und er vermochte dementsprechend ein eindrucksvoller Gestalter proletarischen Lebens, politisch-ökonomische Alternativen einbezogen, zu sein. Im zwölf Jahre später entstandenen zweiten Band Vom Handarbeiter zum Jugenderzieher schrieb er jedoch mehr in dem überheblichen Ton des arrivierten „Geistesarbeiters", den bereits eine Kluft von den klassenbewußten Arbeitskollegen trennt. Von seiner neuen, klassenversöhnlerischen Position her dreht sich seine Lebensgeschichte jetzt hauptsächlich um sich selbst. Er hatte die Kraft, ein anschauliches soziales Zeitbild zu gestalten, eingebüßt. Die Erzählweise der frühen proletarischen Selbstdarsteller bietet sich uns in verschiedenen Entwicklungsstufen dar. Die einfache, an einen 'bestimmten Leser gerichtete Art sich auszudrücken, ist für den Arbeiter zunächst die gangbare Art sich mitzuteilen. Er besitzt zumindest im Proletariat einen gesicherten Leserkreis und schreibt in der ungebrochenen Zuversicht, auch darüber hinaus angehört zu werden. Die distanzierte Erzählweise auf der Grundlage von Humor, Ironie und Satire ist eine höhereStufe der Gestaltung. Sie hat aggressiveren, kämpferischen Charakter, arbeitet Widersprüche und Gegensätze schärfer heraus und soll bewußt zum Denken anregen und den Leser zum Parteiergreifen zwingen. Der im Klassenkampf stehende Proletarier kennt die Ursachen seiner Leiden, weiß, wer dafür verantwortlich zu machen ist; er weiß auch, daß er selbst es durch seine politische Tätigkeit in der Hand hat, mitzuhelfen, 'daß die Verhältnisse, die Mängel, Not und Ausbeutung schaffen, beseitigt werden. Indem er sein Elend schildert, greift er an. Resignation, Ergebung in 'das Proletarierschicksal oder einfaches Lamentieren, Hinneigen zum Mitleidssozialismus bestimmter bürgerlicher Schichten oder zum sozialdemokratischen „Hineinwachsen in den Sozialismus" kommen gewiß nicht aus souveräner Haltung; sie können Zeichen von ideologischen Schwankungen, von vorübergehendem Versagen isein. Sie werden jedoch gefördert durch eine Politik, die über langwierigen parlamentarischen Auseinandersetzungen und sozialer Reformpolitik das Ziel, die Gesellschaft der befreiten Arbeit, aus dem Auge verliert. 88
Die einfache, urwüchsige Erzählweise herrscht in den Jugendgeschichten Fischers und Holeks vor. Bei Holek fallen z. B. die häufigen Interjektionen auf, die sich an das Mitempfinden der Leser richten: „O, du Not, welchen Fluch hast du über die Familie gehen lassen, von der ich abstamme?" 82 „Ich? Ach! ich war nicht lustig, denn ich lag schwerkrank im Bett." 83 „Na, der Dominik! War das ein Geschöpf!" 84 „Ach! Welcher Unterschied war da zwischen unserm Leben und dem von Tieren im Stalle?" 85 „Ach, war das ein schwerer Anfang in dieser Ziegelei!" 86 Fischer begnügt sich in ähnlichen Fällen nicht mit einfachen Ausrufworten, sondern bringt sie im Zusammenhang mit Redewendungen der Volkssprache: „Ei, der Knecht, so ein Knecht, war das ein Knecht." 87 „O, Himmel tu dich auf, wenn ich noch an den Zustand denke." 88 Fischer spricht den Leser nicht nur an, sondern bezieht ihn unmittelbar in die Meinungsbildung ein und unterstreicht damit zugleich bestimmte Fakten auf eindringliche Weise. Bei der Schilderung einer Schulstunde fügt er hinzu: „Aber, Ihr lieben Leute, das zu lesen will nicht viel sagen, aber, wie er das ausrief mit Löwenstimme und himmlischem Zorn, das hättet Ihr einmal hören müssen !" 8 9 Als er beschreibt, wie er einmal an einem Feiertag besonders hart arbeiten mußte, ruft er beschwörend aus: „Solche Pfingsten, nee, nee, nee, solche Pfingsten!" 90 Bei der Schilderung der Erdarbeiten am Eisenbahnbau in Hüneburg travestiert er das Weihnachtslied O Tannenbaum mit den Worten: „O Hüneburg, o Hüneburg, wie brummten mir die Knochen!" und fährt dann fort: „Das war ein Stück Arbeit, das will ich jedem versichern. Wer das nicht mitgemacht hat, der kennt das nicht." 91 Und als höchsten Ausdruck der Verwunderung über bestimmte Arbeitsverhältnisse im Stahlwerk formuliert er: Ei, ei, ei, ei, und Speck dazu ist Rührei, wer hätte das gedacht!" 92 Fischer hat seinen Erzählstil nicht durchweg der Umgangssprache angepaßt, ¡und die Anrufungen des Lesers sind nur e i n Mittel seiner epischen Ausdrucksweise, das auflockernd wirkt und Leser und Autor in einer sehr unmittelbaren Weise konfrontiert. Sonst ist sein epischer Stil oft merkwürdig schwerfällig, strömt in immer neuen Ansätzen, bis diese Ströme zusammenfließen und eine neugewonnene Erkenntnis ins Blickfeld stellen. Häufig fängt er seine Sätze aufeinanderfolgend im 89
Chronik-Stil der Bibelübersetzung an mit „Da", „Und da", „Da aber", wobei er den Bericht über eine Begebenheit immer wieder neu variiert und nach Spannungsstauungen doch zum Abschluß führt. Der Satzbau ist dann seltsam verschachtelt; der Ich-Erzähler berichtet, langsam eins aus dem andern entwickelnd, einiges noch mehrmals hin und her wendend, unter Umständen dann plötzlich eine Rückblende einlegend, wenn es ihm einfällt, daß er an einer vorhergehenden Stelle etwas vergessen hat. So heißt es z. B. in einer Schulgeschichte: „Der Junge fing eben an, noch weiter zu sprechen, da klopfte es an die Tür und als der Kantor herein rief, da ging die Tür auf, und herein trat, mit einem gelben Rohrstöckchen in der Hand, der alte Kringel. Den hatte sich kein einziger von uns vermutet; d a s war noch nicht d a gewesen. Der alte Kringel, unser alter Putz! O Himmel, den habe ich ja vorne, bei der Einwohnerschaft, ganz vergessen. Unser alter, lieber, ehrlicher Kringel. Der uns Jungens alle in Schach hielt mit der Drohung: Wart, ich werde es Deinem Vater sagen, was wir alle respektierten. Der einem nie etwas tat; die Handwerksburschen konnten ihn ins Bein beißen, aber er arretierte keinen. Er hatte auch mehr zu tun; denn außer Polizei- und Ratsdiener war er auch noch Auktionator, und Ausrufer und Briefträger, und Totengräber, und Nachtwächter, alle Morgen um eins, da weckte er meinen Vater. Den konnten sie überall brauchen, und wenn sie den nicht gehabt hätten, dann wären sie manchmal übel daran gewesen." 9 3 Fischer erzählt jedoch sonst vorwiegend kontinuierlich, im Unterschied zu Bromme, dessen Erzählweise manchmal mit vor- oder rückwärts weisenden Episoden, Geschichten und Anekdoten überladen ist. Ein entscheidender Unterschied ist, d a ß Bromme Fakten und Entscheidungen aus der Geschichte seines Lebens vom Standpunkt der Niederschrift beurteilt und nicht unbefangen erzählt, sondern ständig reflektierend, mit häufigen Vor- und Rückblenden, der Form der unmittelbaren Unterhaltung mit dem Leser angepaßt oder die Verständigung mit sich selbst dienend. Im Kapitel über seine Lehrlingszeit in einer Steinnußknopffabrik erzählt er, daß der Sohn des Fabrikbesitzers einer seiner ehemaligen Mitschüler war, und reflektiert dann: „Hätte ich Stipendien erhalten und dadurch
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Gymnasium und Universität besuchen können, diese alle hätte ich übertrumpft. Allerdings in der Länge der Zeit, durch die fortwährenden Familiensorgen stumpfen auch die Geisteskräfte ab. Wenn nicht immer sechs Kinder um mich herum zanken und schreien würden, könnte ich auch diese Lebensbeschreibung viel früher beendet haben. Die Leser dürfen aber nicht glauben, daß ich meine Kinder nicht lieb hätte. Ich würde trostlos sein, wenn mir durch Krankheit oder Unfall eins wegsterben würde. Doch von meinen Familienverhältnissen erst am Ende." 9 4 Daß Bromme beim Schreiben seiner Autobiographie von seiner gegenwärtigen Bewußtseinsstufe ausgegangen ist, zeigt sich auch darin, daß er sehr häufig Erzählungen aus der Vergangenheit unterbricht und sie von seinem gegenwärtigen Standpunkt als Fabrikarbeiter und Sozialdemokrat beleuchtet, oft mit der Redewendung: Das war ein schwerer Fehler. Und er erläutert dann, warum er diese oder jene Aufzeichnung seiner Erinnerungen für falsch erkennt. Ähnlich, wenn auch mit deutlicherer agitatorischer Absicht, verfährt Popp, die bei ihren verschiedenen Schilderungen vom langsamen Erkennen der Wahrheit dann etwa einfügt: „Und wieder fiel ein Teil meiner früheren Anschauungen in Trümmer." 95 Diese Methode der kritischen Erinnerung, die einen Menschen kennzeichnet, der politisch denken gelernt hat, durchzieht die gesamte Selbstdarstellung der frühen Sozialdemokraten Bromme und Popp. In späteren Arbeiterautobiographien wie die der Kommunisten Fritz Selbmann und Eduard Claudius übt sie eine kompositorische Funktion aus. Beide beginnen ihre Lebensbeschreibung mit einer entscheidenden Phase ihres Lebens und blenden von da aus zurück. Claudius beginnt seine Erinnerungen Ruhelose Jahre mit dem Bericht über den Tod Mussolinis, der dem Zusammenbruch der Hitlerherrschaft in Deutschland vorausging, und unterbricht den kontinuierlichen Lebensbericht, den er mit seiner Ubersiedlung in die D D R abschließt, an bestimmten Kulminationspunkten der Erzählung mehrmals mit ganzen Kapiteln, Das Vergangene überschrieben. Selbmann eröffnet seine Lebensbeschreibung mit dem Zeitpunkt, da sein Leben „wesentlich, das will heißen, politisch wurde, als es aus der Phase des Dranges und des Suchens in den Anschluß an eine politische Bewegung ihrer Zeit einmündete"; er meint seinen Ein91
tritt in die USPD im Jahre 1920. Und er fügt dieser Aussage hinzu: „Dies soll nicht heißen, daß ich mich an frühere Jahre nicht an der passenden Stelle zu erinnern gedenke." 96 Selbmann führt dieses Prinzip durch, indem er in bestimmten vorgeschrittenen Phasen seiner Lebensgeschichte auf frühere zurückblendet; so beispielsweise von seinen Sturm- und Drangjahren als Jungkommunist auf seine Kindheit im sozialdemokratischen Elternhaiuse und dann wieder nach Absolvierung der Leninhochschule in Moskau auf seine vorherige, recht sporadische Beschäftigung mit dem Marxismus-Leninismus. • Diese die Erzählweise bestimmende kritische Einstellung zu sich selbst, die sich aus der ideologischen Entwicklung der Arbeiterbewegung ergibt und auch so kenntlich gemacht wird, charakterisiert die politisch akzentuierte proletarische Selbstdarstellung und stellt innerhalb der Entwicklung der autobiographischen Gattung eine neue Errungenschaft dar.
Der
'Erzähler
Fran%
Rebbein
Rehbein hat mit seinem Leben eines Landarbeiters literarisch die höchste Stufe der frühen proletarischen Memoiren erreicht, durch bewußte künstlerische Gestaltung typischer Episoden und Konfliktsituationen unter besonderer Berücksichtigung von Menschenbildschilderungen. Kompositorisch hat er es darauf angelegt, Berichte über sich selbst so stark wie möglich zu einem breiten Bild der ländlichen Verhältnisse Norddeutschlands vor dem Hintergrund der Zeit auszuwerten. Die oben erwähnte Häufung von Interjektionen im Erzählstil Fischers und Holeks, die interessanterweise besonders in den Kindheitserinnerungen auftritt, so als ob in der Besinnung auf diese frühe Periode bewußt oder unbewußt das Staunen und die Betroffenheit des Kindes bei seiner Konfrontation mit der Welt reproduziert werden sollen, finden sich auch in Rehbeins Kindheitserinnerungen. Diese Ausrufe wirken aber bestenfalls als Travestie kindlichen Staunens, sind ironiegeladen, wollen dem Leser Denkanstöße zur Erkenntnis bis dahin wenig bekannter Fakten ökonomischer und sozialer Art vermitteln. Sie leiten zupackende Gesellschaftskritik ein. 92
Am Anfang seiner Autobiographie steht der Satz: „Hinterpommern! Puttkamerun!! Ein Adelssitz am anderen, Rittergut an Rittergut; Stammschlösser und Tagelöhnerkaten, Herrenmenschen und Heloten."97 In wenigen Worten gibt Rehbein so eine Soziologie des ehemaligen Hinterpommern. Mit der Wortschöpfung „Puttkamerun", die eine Zusammensetzung aus dem pommerschen Adelsnamen von Puttkammer und dem Namen der damaligen deutschen Kolonie Kamerun ist, karikiert er das ostel'bische Junkertum, das seine Arbeiter ebenso schlecht behandelte wie die Kolonialherren die Bewohner Westafrikas, die rechtmäßigen Herren des Landes. Solche satirischen Wortschöpfungen stehen in der Traditionslinie, die vom Vormärz über den frühen proletarischen Schriststeller Max Kegel bis zu Erich Weinert führt. Das gleiche gilt für Rehbeins Klassiktravestien, so z. B. für die Travestie auf Goethes bekanntes Lied aus dem Wilhelm Meister: Wer nie sein Brot mit Tränen aß . . . Rehbein ruft bei der Schilderung seines Hütejungendaseins aus: „Wer nie sein Brot als Kuhhirt aß - der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte!" 98 Ein anderes Beispiel für die Desillusionierung vom Bürgertum oder Kleinbürgertum verherrlichter Begriffe ist der Ausrufsatz im ersten Kapitel: „Kindheit! Für viele ein wonniges Wort. Heimat! glücklich, wer sie preisen kann!" 99 Ebenso ironisch ist die Anspielung auf die sogenannte gute bürgerliche Küche, die wir heute noch bestaunen, angesichts von Kochbüchern aus der „guten alten Zeit". - „Ach die Küche! Nie werde ich sie vergessen", heißt es bei Erinnerungen an sein Elternhaus, „diese hinterpommersche Kost. Knapp, sehr knapp haben wir beißen müssen."100 Oftmals greift Rehbein auch bei der Beschreibung ländlicher Verhältnisse die unrealistische bürgerliche „Heimatliteratur" an, die zu seiner Zeit schwungvoll vertrieben wurde. Auf besonderer Höhe steht in diesem Zusammenhang das Kapitel Als Hütejunge beim holsteinischen Kleinbauern. „Hirtenknabe! Wie oft ist er schon angedichtet worden! Beinahe so oft wie der stille Mond und die singende Nachtigall. Wer zählt all die reizvollen Schilderungen, in denen naturschwärmende Schriftsteller das Hirtenleben verherrlichen! Fast könnte sich solch ein Hirtenbüblein was darauf einbilden, daß man gerade in ihm so häufig eine poetische 93
Figur erblickt. Ach, er bleibt sein Lebtag frei von solchem Stolz." 101 Indem Rehbein in diesem Kapitel die Gestalt des Hirten vom proletarischen Standpunkt beleuchtet und sie aller verlogener Romantik entkleidet, kann er als Vorläufer Adam Scharrers bezeichnet werden, der 1948 das gleiche vom proletarisch-revolutionären Standpunkt mit seinem Roman Der Hirt von Rauhweiler geleistet hat. Rehbein hat schon 1911 die realistische Schilderung des Hirtendaseins zum direkten Angriff auf die bürgerliche Ideologie seiner Zeit genutzt. In diesem Sinne ist auch die Verspottung der Sonnenanbeter, die er im gleichen Kapitel vornimmt, zu verstehen: „Früh um halbsechs treibt der Hirtenjunge das Vieh aus, es war mitunter noch recht empfindlich kühl an solchen Maimorgen, und das tauige Gras legte sich schneidend um die bloßen Füße. So wanderte man nun huppernd und buppernd neben dem weidenden Vieh die Koppel auf und ab, bis die Sonne höher stieg, der Tau verdunstete und belebende Wärme den Körper durchströmte; dann wurde es gemütlicher. Während dieser ersten Morgenstunde aber mochten die Vögel pfeifen, so schön und lustig die nur konnten - man dachte jedenfalls mehr an seine naßkalten Eisbeine wie an das ganze Vogelgepfeife, und wenn man nach dem Sonnenball dort drüben am Horizont hinschielte, so geschah dies durchaus nicht in der Empfindung: 'anbetend steh ich hier' - sondern mit dem sehr nüchternen Wunsch, 'die alte feurige Großmutter da oben könnte sich auch etwas mehr beeilen, daß sie 'hoch käme'." 102 Rehbeins Buch ist voller Angriffe auf bürgerliche Ideologie, immer im Zusammenhang mit dem Hauptgegenstand. So kommt er, um noch ein Beispiel anzuführen, bei der Schilderung der monotonen Gutswirtschaft ironisch auf die bürgerliche Rassenlehre zu sprechen und konfrontiert sie mit den realen Fakten des Klassenkampfes. Er macht sich lustig über die bürgerlichen Psychologen, die vom „nordischen Phlegma" sprechen und es dem kühlen Klima an der Waterkant zuschreiben. Er fügt hinzu : „Wer aber die Dinge aus eigener Erfahrung heraus kennengelernt hat, der schiebt nicht alles aufs Klima, er findet bald einen gewaltigen Unterschied in dem 'nordischen Pflegma' der besitzenden und der nicht besitzenden Klassen." 103 94
In den Kapiteln über seine Landarbeiterzeit herrscht die beschreibende, erläuternde, den jeweiligen Gegenstand kritisch, humoristisch oder zornig beleuchtende Schreibweise vor, wobei Konfrontation mit dem Klassengegner in drastischen Erlebnisschilderungen und Charakterzeichnungen plastisch hervortreten. Statistisch genaue Angaben über soziale Zustände werden als Mittel der Desillusionierung verwandt. Manchmal finden wir bei Rehbein auch ein Zurückverwandeln der kritischen Distanz in ein emotionelles Nacherleben von Freude, Schmerz, Enttäuschung, Zorn bei bestimmten Kulminationspunkten der Erinnerung, die dann ebenfalls Emotionen im Erzähler auslösen. Beim Bilanzziehen über weite Strecken des eigenen Lebens vermischen sich die Erzählweisen organisch. Emotionelles Nacherleben wechselt mit distanzierter Interpretation, bekenntnishafte Erläuterungen mit belehrenden Passagen. Doch stehen solche unterschiedlichen Erzählweisen nicht wie manchmal bei Bromme schroff nebeneinander, sie fließen ineinander über innerhalb einer von wechselnden Ereignissen bestimmten kontinuierlichen Erzählung. Das Material aus 28 Lebensjahren ist zusammengerafft. Jedes Kapitel ist in sich geschlossen und hat seine besonderen Höhepunkte. Viele Stellen aus dem heben eines Landarbeiters prägen sich ein wie solche eines guten Romans. So z. B. die Beschreibung der nächtlichen Stimmung in einem Vierter-Klasse-Abteil des Zuges von Schneidemühl nach Berlin, wohin die sogenannten Sachsengänger, die von überall her angeworbenen Saisonarbeiter, unter denen auch der 14jährige Rehbein ist, in die Agrargebiete transportiert werden. Der Autobiograph nutzt diesen Erlebnisbericht zur Ironisierung bürgerlicher Stimmungsbilder vom trauten Schein der Lampe. „Unheimlich grotesk wurde das Bild, als wir am Abend 'bei der Lampe Dämmerschein' dahinrüttelten. In dicken Schwaden zog der Tabakrauch von einer Ecke zur anderen, alles in einen dichten nebligen Schleier hüllend, den das Wagenlicht nur mühsam zu durchdringen vermochte. Nur in schemenhaften Umrissen gewahrte man noch die einzelnen Gestalten, die zwanglos und ungeniert aneinandergelehnt teils zu schlafen versuchten, teils ihre lebhafte Unterhaltung weiterführten. In dem durchleuchteten Dunst erschienen ihre Gesichter fast gespenstisch, fahl und gelblich, und 95
die Frauen sahen in ihren Kopftüchern aus, als hätte sich eine Qualmgloriole um ihr Haupt gewoben." 104 Rehbein begnügt sich nicht nur mit der Nachzeichnung des Erlebten, sondern er kommentiert es auch. So fügt er nach weiteren idetaillierten Beschreibungen dieser Nachtfahrt der Landarbeiter hinzu: „Gewiß, dies Bild war traurig, tief traurig sogar; doch wem von uns wäre wohl solcher Gedanke gekommen? Keinem. Wir glaubten eben, arme Leute hätten überhaupt kein Anrecht darauf, bequemer zu reisen." 105 Mit dieser Methode, die in einer Linie zu sehen ist mit seinem Streben, bestimmte Merkmale der „Schönen Literatur" des Bürgertums zu desillusionieren, hat Rehbein einen interessanten Beitrag zur wirklichkeitsgetreuen Darstellung sozialer Verhältnisse im Deutschland der Jahrhundertwende geleistet. Als Selbstdarsteller ist Rehbein immer wieder hauptsächlich Gestalter der Lage der Landarbeiter. Diese Gestaltung wird im letzten Teil der Autobiographie, in der es um die Fron der Tagelöhner geht, immer dynamischer, so als sollte auf diese Weise der Sturm angekündigt werden, der einmal diesen unerträglichen Zuständen ein Ende bereitet wird. Den Höhepunkt bildet in diesem Sinne das 10. Kapitel mit seiner dramatischen Schilderung der Erntearbeit. Neben der bildhaften Schilderung von Mensch und Landschaft zur Erntezeit werden Lohnfragen oder auch Wetterprobleme erörtert und die physische Überanspruchung der Tagelöhner bis ins Detail veranschaulicht. Die Arbeitszeit dauerte oft ohne Unterbrechung einundeinenhalben Tag, knapp gönnte man sich Zeit zum Essen. Im Stabreim verkündet Rehbein die Losung der Erntearbeiter: Schaffen, Schuften, Schinden. Sie hetzten sich ab aus Not, wollen in der Erntezeit möglichst viel verdienen, weil sie bereits wieder den mangelhaften Verdienst oder gar die Arbeitslosigkeit der Wintermonate vor Augen haben, in denen Hunger und Kälte regieren. Diese Angst bestimmt den Arbeitsrhythmus. Rehbein erzählt von sich, daß er meist 18 Stunden arbeitete, manchmal noch länger, bis in die Nacht hinein, um nachzuholen, was seine schwächere Frau nicht geschafft hatte. Dann ging er gar nicht erst nach Hause, sondern schlief nur zwei Stunden auf dem Felde, um bei Morgengrauen gleich wieder arbeitsbereit zu sein. Die Erinnerung daran hat den Selbst96
darsteiler beim Schreiben so gepackt, daß sich der Arbeitsrhythmus auf den Sprachrhythmus übertrug. Beinahe wie in einem Gedicht fließt die Sprache dynamisch dahin: „Mit vermehrter Wucht schwingt der Arm die scharfe Sichte; Schwad legt sich an Schwad, betropft vom Schweiß der Schaffenden. Garbe um Garbe schnürt die Binderin mit flinker Hand." i 0 6 * Es gelingt Rehbein, nicht nur die Hast und Qual, sondern auch die Großartigkeit des Erntevorgangs zu gestalten, das Gleichnishafte, das in der ungeheuren Kraftanstrengung des Menschen liegt, sich die Früchte der Natur nutzbar zu machen, um leben zu können. Von dem feinen Empfinden für alle Nuancen des Arbeitsvorgangs zeugt auch die Schilderung des Getreideausdruschs. „Niemand hat Zeit zum Sprechen: In der Scheune hört man nur noch das tickende Aufklappern der Forken und das keuchende Atmen der Abstaker und Zuschmeißer." 107 Doch läßt sich Rehbein, auch wenn ihn die Erinnerung an das Durchlebte packt, niemals von dem jeweiligen Gegenstand überwältigen. Er distanziert sich im nächsten Augenblick und läßt keinen Zweifel darüber aufkommen, daß die, deren Schweiß am stärksten bei der Einbringung der Ernte fließt, dennoch nur knapp davon leben können. Und der Leser der Erinnerungen eines Landarbeiters, der beim Aufschlagen des Erntekapitels vielleicht farbenprächtige Gemälde vor sich sieht, auf denen sich goldgelbe Garben vom blauen Sommerhimmel abheben, Bilder, die von buntgekleideten Schnittern und Schnitterinnen belebt sind, die gerade unter einem schattigen Baum am Feldrain Vesper abhalten - dem wird die Vorstellung von der schönen Idylle mindestens vergehen, wenn er liest, wie Rehbein bekennt, daß seine junge Frau in den wenigen Arbeitspausen vor Überanstrengung so von der Müdigkeit übermannt wurde, daß ihr die Augen zufielen, wenn sie ihrem Kinde die Brust gab. 108 Die gestaltete Autobiographie bricht ab mit dem Bericht über den Arbeitsunfall Rehbeins und die Amputation des 7
Münchow
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rechten Armes, die dazu führte, daß der 28jährige hinfort wegen Arbeitunfähigkeit zu den Dorfarmen gerechnet wurde. Ein unsäglich trauriger. Schluß, ein authentischer, aus dem Leben gegriffener, der zwar das Leben des Landarbeiters Rehbein abschließt, dem Autor Rehbein aber seinem aggressiven zukunftsgerichteten Anliegen entsprechend als Abschluß seines Buches nicht genügt. Von seinem sonstigen Erzählstil abweichend, hat er ein kurzes Schlußkapitel angehängt, das eine Apotheose auf den trotz allem unausbleiblichen Sieg der Arbeiter über ihre Ausbeuter ist.
Gestaltung des Menschenbildes
Es geht um die Frage: Was haben die frühen proletarischen Selbstdarsteller zur Entwicklung des sozialistischen Menschenbildes in der deutschen Nationalliteratur beigetragen? Im autobiographischen Genre besteht die Möglichkeit, in den einzelnen Stationen der Entwicklung des Selbstbiographen und im Zusammenhang damit in Porträts von Personen seiner Umwelt das Menschenbild einer bestimmten historischen Epoche zu zeichnen. Die Aufgliederung einer Lebensgeschichte nach Stationen ist zumindest seit Beginn der Neuzeit allgemein üblich. Im einfachsten Falle entsprechen sie den verschiedenen Stufen des Lebensalters. Komplizierter ist bereits die Ausrichtung nach einschneidenden persönlichen Erlebnissen, wozu beim frühen Bürgertum auch ökonomische Erfolgsergebnisse gehören. Die vorliegenden frühen Arbeiterautobiographien tragen auf originelle Weise zur Entdeckung neuartiger Persönlichkeiten und ihrer Lebensgeschichte bei. Es sind Persönlichkeiten, die unter den Bedingungen der Abhängigkeit und Unfreiheit entstanden sind, aber mir so werden konnten im Aufbäumen, im Kampf gegen diese Bedingungen der ihnen feindlichen kapitalistischen Gesellschaft. Die Erinnerungen an die Kindheit mit ihrer spielerischen Eroberung der Wirklichkeit und an die Jugend mit ihren ersten Liebes- und Bildungserlebnissen, die in bürgerlichen Autobiographien eine so große Rolle spielen, werden in den proletarischen überlagert von dem ökonomischen Zwang des Kapitalismus gegenüber seinen Ausgebeuteten und Unterdrückten. Hier wird in aller Deutlichkeit und Härte vorgeführt, wie beides, Liebe und Bildung, abhängig sind von ökonomischen Faktoren. Alle Stationen der Entwicklung des proletarischen Menschen T
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sind hauptsächlich im Bereich des ökonomischen angesiedelt. Liebesbeziehungen sind innerhalb der Arbeiterklasse ehrlicher und unkomplizierter; unter Besitzlosen ist die Liebe nicht abhängig vom Geld und von Konventionen, die die besitzende Klasse zur Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft ausgeklügelt hat. Aber Liebe, Ehe und Familienleben können sich im Proletariat, wie das Leben Brommes, Holeks und Rehbeins zeigt, nur unter großen Schwierigkeiten entfalten. Auch Bildung ein Privileg der herrschenden Klasse - muß schwer errungen werden. Selbst Kindheit, Soldatenjahre und Krankheit sind, soweit sie die Entwicklung des Menschenbildes bestimmen, dem ökonomischen Kampf untergeordnet, aus dem schließlich der politische Kampf am Arbeitsplatz, in Solidarität mit den Klassengenossen erwächst. Die verschiedenen Arbeitsstellen hilden vielmehr den Kern der Stationen, in denen sich das Bild d e s Menschen präsentiert, der im Laufe des 20. Jahrhunderts immer mehr die Weltgeschichte bestimmt und einmal die Herrschaft des Bürgertums gerade aus entwicklungsgeschichtlichen Gründen völlig ablösen wird. Solche Stationen sind bei Fischer seine Lehrzeit in der Bäckerei, die Arbeit beim Eisenbahnbau und die Jahre im Stahlwerk (Am Brennofen. Bei den Formern. In der neuen Steinfabrik). Bei Bromme, der sich, einer jüngeren Generation angehörend, bis zu seinem 33. Lebensjahr weiter entwickelt hat als Fischer bis zum 60., sind diese Stationen differenzierter: Als Arbeiter in den Steinnußknopffabriken Schmöllns, als Kellner, als Pantoffelmacher in der Holzverarbeitungsindustrie, als Metallarbeiter in der Geraer Werkzeug- und Maschinenfabrik und zuletzt in einem Automobilwerk. Bei Holek geht die Kurve der Entwicklung seiner Tätigkeit als wandernder Handarbeiter entsprechend langsam und unruhig bergan, bis er längere Zeit in Aussig in der Glasfabrikation arbeitet und Sozialdemokrat wird. Danach verläuft sein Weg wiederum höchst wechselvoll - die Kapitelüberschriften Wandlungen und Wanderungen, Allmählich bergab, Not nur Not und Wechselnde Schicksale zeigen es an - , bis er in Dresden einen festen Arbeitsplatz findet. Bei Popp und Rehbein wieder sind die Stationen der Erkenntnis und Reife kontinuierlich, von Stufe zu Stufe emporsteigend, aneinandergereiht. 100
Eine Fundgrube für die Bestimmung des Menschenbildes sind in allen frühen Arbeiterautobiographien, die Schriftstellerautobiographien einbezogen, die zahlreichen Porträts von Arbeitern und Arbeiterinnen, aber auch von Bauern und Bürgern, Gutsbesitzern, Fabrikanten und ihren Angestellten, die das proletarische Menschenbild vom Gegensatz her beleuchten. Eine besondere Fülle von Arbeiterporträts haben wir beim Fabrikarbeiter Bromme. Ehe wir auf Details eingehen, ist es wichtig, auf folgendes hinzuweisen. Bromme gibt, wie schon im Zusammenhang mit seiner Erzählweise angedeutet wurde, bei jedem Arbeiterporträt so viel charakteristische Fakten und Episoden wieder, daß Stoff genug zur literarischen Gestaltung vorhanden ist. Das heißt, er beschränkt sich nicht nur auf Angaben über die Tätigkeit der einzelnen Arbeitskollegen, sondern er berichtet Kennzeichnendes über ihr Verhalten, ihre Eigenart, über Höhen und Tiefen ihrer Moral, ihres Wissens, ihres Klassenbewußtseins, selbstverständlich auch über ihr Aussehen, ihr Temperament und ihr weiteres Schicksal, so daß Menschen aus Fleisch und Blut vor uns entstehen. Und er schildert den einzelnen nicht leidenschaftslos, sondern parteilich, denn er urteilt über seine Klassengenossen. Ganz gleich, ob dies Urteil positiv oder negativ ausfällt, immer verrät es das Engagement für das Schicksal seiner Klasse. Und indem er parteiliche Porträts entwirft, werden Wechselbeziehungen zwischen ihm und den Dargestellten sichtbar, die auf dem Kontakt der Arbeiter untereinander beruhen. Diese Tatsache behält ihre Gültigkeit auch dann, wenn Bromme negative Merkmale herausarbeitet. Das gemeinsame proletarische Geschick wiegt stärker als die individuellen Unterschiede der in einem Arbeitsprozeß Vereinigten.
Die „gute Kinderstube" des
"Proletariats
Die Kindheibserinnerungen - auch die August Bebels - nehmen in allen frühen Arbeiterautobiographien einen besonderen, kompositorisch in sich geschlossenen Raum ein, weil die Selbstdarsteller ihrer Kindheitsperiode große Bedeutung beimessen. Einige haben sich, wie schon angeführt, sogar ganz 101
auf die Gestaltung dieser Lebensphase beschränkt. Aus allen Zeugnissen geht hervor, daß die schreibenden Arbeiter und proletarischen Schriftsteller die Kindheit als Ausgangsbasis für ihr ganzes weiteres Leben betrachteten, als ihre eigene Vorgeschichte, als die Vorgeschichte des proletarischen Klassenkämpfers. In diesem Sinne können wir von einer proletarischen Kinderstube sprechen. Noch heute hört man oft von älteren Arbeiterfunktionären und Parteiveteranen, wenn von der sogenannten guten Kinderstube gesprochen wird, die den Menschen aufs Leben vorbereitet hat, daß sie trotz Not und Elend die beste Kinderstube gehabt hätten, weil dort all die Keime gelegt wurden, die sie später befähigten, Kämpfer für den Sozialismus zu werden. Von Romantik umwobene Vorstellungen von der „Wiege der Menschheit" oder vom „Kindheitsparadies", die einen sorglosen, unbeschwerten, harmonischen Urzustand bezeichnen, der sich kraß von den späteren Entwicklungsphasen abhebt, sind von der modernen Wissenschaft längst ad absurdum geführt. Pädagogik und Psychologie unterstreichen, daß Erziehung, Umweltseinflüsse, Klassenzugehörigkeit wichtige Faktoren sind, die von früh an zur Charakterbildung beitragen. Proletarische Kindheitserinnerungen sind deshalb bereits wichtige Quellen zur Erforschung des sich formenden Menschenbildes. Als Frage erhebt sich, warum Kindheitserinnerungen in den frühen proletarischen Selbstdarstellungen so ganz besonders in sich geschlossen, so farbenreich, plastisch und eindrucksvoll sind. Sogar Bebels Bericht über diese erste Phase seines Lebens hebt sich in der Art der Darstellung von dem Weiteren ab. In der Erzählung über den Vater, die prächtige Mutter, über das Leben der preußischen Unteroffiziersfamilie in den Kasematten von Köln-Deutz, über den Tod des Vaters und des Stiefvaters, über den Umzug der Familie nach Wetzlar, über Landleben und kecke Jungenstreiche und schließlich über den Tod der Mutter werden einprägsame Menschen und Szenen aus dem Volksleben festgehalten. In nichts gleicht Bebels Aus meinem Leben so den übrigen frühen Arbeitermemoiren wie in den 50 Seiten über seine Kindheit und seine Lehr- und Wanderjahre. Hier bleibt nichts offen, braucht nichts hinzugefügt zu werden. 102
Alle hier behandelten Autobiographien sind nur bis zu einem bestimmten Punkt der Entwicklung geführt, der allerdings in den meisten Fällen wichtig und entscheidend ist. Aber alle Erinnerungen außer der Bebels, dessen Lebenslauf historisch ist, legt man zum Schluß mit der Feststellung aus der Hand, jetzt müßte es eigentlich erst richtig anfangen. Die Geschlossenheit der Kindheits- und Jugenderinnerungen dagegen erklärt sich aus der Tatsache, daß der Arbeiter, der mitten im Lebenskampf steht und weiß, daß ihm jeder kommende Tag neue Aufgaben stellen wird, seine Kindheit als etwas Vergangenes betrachtet, das absolut feststehend und unveränderbar ist, dem nichts Neues an Erkenntniswert hinzugefügt zu werden braucht. In seinem Kampf für eine bessere Gesellschaftsordnung steht er jedoch erst am Anfang. Von diesem Standpunkt aus hat der Rückblick auf die Kinderjahre seine besondere Note erhalten. Bewegt gedenken die Schreiber der Märchen und Geschichten, die Großeltern, Vater oder Mutter an Feierabenden oder sonntags den Kindern erzählt oder vorgelesen haben, an wilde und romantische Spiele, an erste Freundschaften und Jahrmarktbesuche. Mit den Jugendspielen, die aus der engen Proletarierwohnung oder der dumpfen Schulstube hinausführten, sind erste Freiheitsempfindungen und frühe Naturerlebnisse verbunden. Einzig Adelheid Popp betont, daß sie sich nicht gern an ihre Kindheit erinnere, ja, daß sie als Kind keinen guten Tag gehabt habe, weil der Vater ein schwerer Trinker war, die Familie schlug, ihre Ernährung der Mutter überließ, bis er schließlich früh starb. Auch Fischer berichtet von einem Vater, der ihn viel schlug und ihn schon sehr früh zu harter Arbeit anhielt, so daß er als kleiner Junge mehrmals aus dem Hause floh, um wenigstens einmal leichter atmen und in Sommerluft und Sonnenschein spielen zu können, obwohl er wußte, daß er dafür besonders schwer bestraft werden würde. Recht schlimm war auch Holek als Kind dran. Als Sohn von Wanderarbeitern wurde er erst bei fremden Leuten untergebracht. Sowie er laufen konnte, schleppte man ihn von einem Arbeitsplatz zum anderen mit und zwang ihn schon früh zum Betteln. Der intelligente Junge hat, wie er bekennt, sehr unter der Rückständigkeit der Eltern gelitten. Während Fischer schon lesen, schreiben 103
und rechnen konnte - das hatte ihm sein Großvater früh beigebracht - , ehe er zur Schule kam, mußte der junge Holek, von natürlichem Bildungshunger besessen, den Eltern, die ihn als Arbeitskraft brauchten, jedes bißchen Schulunterricht geradezu abringen. Aber noch mehr hat er unter dem Bettelnmüssen gelitten, so daß er es als Befreiung empfand, als er im Alter von zehn Jahren mit dem Vater auf Lohnarbeit gehen konnte. Kinderarbeit und Bettelei sind besonders düstere Kapitel proletarischer Lebensläufe. Die Kinderarbeit in den Fabriken, die schlimmste Form der Ausbeutung in der Frühzeit der Industrialisierung, war zur Zeit der frühen Arbeiterautobiographen seltener geworden; Holek berichtet nur noch über Einzelfälle. Uber die Kinderarbeit in den englischen und niederrheinischen Textilfabriken vor der Jahrhundertmitte informiert eine einst sehr beachtete bürgerliche Familiengeschichte. 109 „In den Fundamenten der niederrheinischen Textilindustrie modern die Seelchen Tausender von Kindern. Von Kindern, die keine Kindheit gehabt haben, weil sie, oft schon vom sechsten Lebensjahr an 'auf die Fabrik' mußten, um im Staub und Getöse der überhitzten Säle täglich ihre zwölf bis sechzehn Stunden mitzuarbeiten. Sie hatten keinen Fluch, sie hatten nicht einmal Tränen, sie kannten es nicht anders. Dumpf und stumpf, wie kleine Tiere, siechten sie dahin, stumme und ungepflegte Maschinchen zwischen ihren Herren, den lauten und blanken Maschinen, und wie diese nur dazu auf der Welt, das Geld, das in der Fabrik steckte, möglichst hoch zu verzinsen. Die staubige Hitze fraß an ihren Lungen, und wenn ihre Seelen eine Zeitlang den Schmutz, der hier gedieh, eingeatmet hatten, dann begannen die elenden Körperchen frühe, eignen und fremden Lüsten sich hinzugeben. Fünfzehn und wenn es hoch kam zwanzig Jahre hielten sie dieses Leben aus. Dazu machten sie dem Doktor wenig und im Sarge dem Pfarrer auch nicht gerade viel Mühe. Und ein bleicher Nachwuchs, der meist den Vater, oft auch die Mutter nicht kannte, schickte sich an, auf ihren Spuren den Weg in die Fabrik und durch die Fabrik zu gehen."««* Aber auch die Kinder, denen dies Schicksal erspart blieb, kamen zeitig mit Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten in Berührung, schöpften durch Begegnungen und Erlebnisse mit den 104
Besitzenden frühe Erkenntnisse über die soziale Ungleichheit in der Welt. Und sie erlebten auch Scheußlichkeiten und Grausamkeiten in ihrer proletarischen Umwelt, ja in der eigenen Familie. So berichtet Fischer, wie sein Vater, der in der Öffentlichkeit als freundlicher und umgänglicher Mensch galt, nicht nur seine Kinder, sondern mit Vorliebe seine Frau unbändig schlug, mit einem Stück Holz oder was ihm gerade in den Weg kam: „Denn sie war meinem Vater sein Geselle, und sein Knecht, und sein Lehrjunge, und seine Laden- und Marktfrau, und seine Dienst- und Kindermagd, und seine Wasch- und Scheuerfrau, und sein Flickschneider und was weiß ich noch; aber sie stand weit unter diesen allen in der Behandlung, und sie bekam weiter nichts dafür, als das bißchen kärgliche Futter, und mehr als einmal wußte es der Vater so einzurichten, daß sie das zu Mittag auch noch nicht bekam." 111 Von den Schilderungen der abscheulichen Familienszenen in den Lebensgeschichten Fischers und Popps kann man typologische Parallelen zur Figur des alten Arbeiters Wlassow in Gorkis Mutter und vor allem zu Gorkis autobiographischem Werk Meine Kindheit ziehen. Gorki erzählt, wie er einmal dazu kam, als der Stiefvater die Mutter schlug, und wie er in diesem Augenblick so zornig war, daß er mit dem Messer auf den Wütenden losging. Dann reflektiert er: „Wenn ich mich all dieser bleiern lastenden Scheußlichkeiten des russischen Lebens erinnere, frag ich mich bisweilen: Lohnt es sich denn, davon zu sprechen? Und mit voller Überzeugung sage ich zu mir selbst - es lohnt sich; denn diese zählebige, gemeine Wirklichkeit ist bis auf den heutigen Tag nicht verreckt. Es ist jene Wirklichkeit, die man bis in die Wurzel hinein kennen muß, um sie mit ihrer Wurzel auszureißen - aus dem Gedächtnis, aus der menschlichen Seele, aus unserm ganzen so mühseligen und schändlichen Dasein. Es gibt auch einen anderen, mehr positiven Grund, der mich veranlaßt, diese Abscheulichkeiten aufzuzeichnen. Wenn sie auch widerlich sind und uns beklemmen, wenn sie auch manche schöne Seele niederdrücken, der russische Mensch bleibt trotz allem noch so gesund und von Herzen jung, daß er sie zu überwinden sucht und überwinden wird. Unser Leben ist nicht nur erstaunlich, weil die Schicht von allerlei viehischen Gemeinheiten so dick in ihm ist und so 105
üppig weiterwuchert, sondern auch darum, weil selbst durch diese Schicht hindurch das Starke, Gesunde und Schöpferische, das Menschlich-Gute siegreich emporwächst und die unerschütterliche Hoffnung auf unsere Wiedergeburt nährt - die Wiedergeburt zu einem schönen, menschenwürdigen Leben."112 Adelheid Popp berichtet aus ihrem fünften Lebensjahr, daß die Mutter ihr als ihrem jüngsten Kinde einmal zeigen wollte, was Weihnachten ist und zu diesem Zweck einen Tannenbaum schmückte. Mit dem Anzünden der Lichter wurde aber auf den Vater gewartet, der dann erst in der Nacht betrunken nach Hause kam und im Streit mit der Mutter den Weihnachtsbaum zerhackte. Popp erklärt aber das Verhalten des Vaters. Er hatte einen zwei Stunden langen Weg von der Arbeitsstelle, war in der Winterkälte unterwegs in einem Gasthaus eingekehrt, um sich zu erwärmen und hatte mehr getrunken, als er vertrug. Zu Hause hatte ihm dann die Mutter noch Vorwürfe gemacht, daß er zu wenig Geld mitgebracht habe und ihn so vollends aus der Fassung gebracht. Carl Fischer, der ein kränkliches stilles, sensibles, schon früh auf die Beobachtung seiner Umwelt eingestelltes Kind war, nimmt seinen Kindheitserlebnissen gegenüber einen objektiven Standpunkt ein, mit dem er die Darstellungen Popps über diesen Lebensabschnitt überragt. Er beurteilt die ältere Generation mit einer bemerkenswerten Menschlichkeit, die nicht beschönigt, für die böse aber auch nicht einfach nur böse ist, sondern die den Ursachen bestimmter Verhaltensweisen auf den Grund geht. Dieser einfache Arbeiter, der nichts von der Wissenschaft der Psychologie wußte, hat sich in einer Gründlichkeit mit der Persönlichkeit seines Vaters auseinandergesetzt, die jeden Vergleich mit ähnlichen Unternehmungen in der bürgerlichen Literatur aushält. Er hatte es freilich beispielsweise insofern leichter als J. R. Becher mit seinem autobiographischen Roman Abschied, weil er seinen Vater als seinesgleichen, als Proletarier beurteilen konnte und nicht als Glied einer verhaßten Klasse, von der er sich zu distanzieren wünschte. Fischer hat seinem Vater in seinen Kindheitserinnerungen mehrmals heftige Vorwürfe gemacht, aber immer hinzugesetzt, daß es nicht leicht sei, ihn richtig zu beurteilen, und er hat den Leser aufgefordert, nicht ungerecht von ihm zu denken, denn 106
er habe auch die und die guten Eigenschaften gehabt. An einer Stelle heißt es sogar: „Aber trotz alledem braucht keiner zu denken, daß mich mein Vater nicht hätte lieb gehabt; o nein, mein Vater hatte mich ganz lieb." 113 In dem seine Autobiographie kennzeichnenden analytischen Stil - eins aus dem andern entwickelnd - kommt Fischer 'dann schließlich zu einem Ergebnis, das aufhellt, warum sein Vater so geworden ist und die Mutter oft „weder menschlich noch viehisch, sondern einfach teuflisch" behandelt hat. Aus dieser Beschreibung ersteht vor uns die Welt des frühen Proletariats. 1814 als Sohn eines Mansfelder Bergzimmermanns geboren, hatte Vater Fischer idas Bäckerhandwerk gelernt und sein Leben lang immer schwer gearbeitet. Aber nach anfänglichem Glück war er ökonomisch von Stufe zu Stufe gesunken und endlich mit Frau und fünf Kindern völlig verarmt, obwohl er ein sehr guter Bäcker war. Er war geistig interessiert, las Ernst Moritz Arndt, Matthiäs Claudius und vor allem - wie in einem Dichtwerk - in der Lutherschen Bibel. Aber als mittelloser Handwerker, der noch dazu mehrmals von bürgerlichen Geschäftemachern betrogen wurde, konnte er sich keinen Gesellen und keinen Lehrling halten. Seine Selbständigkeit als Meister wollte er auch nicht aufgeben, so fristete er ein ziemlich kümmerliches Dasein. Ein auf sich allein gestellter pröletarisierter kleinstädtischer Handwerker, der in den 50er Jahren noch kaum Möglichkeiten fand, sich zu solidarisieren, und auch noch ein sehr unentwickeltes proletarisches Bewußtsein hatte, ist verständlicherweise unglücklich und verzweifelt. Vor allem ist er hilflos, solange er nicht weiß, wen er für seine Lage verantwortlich machen soll, solange er nicht erkennt, daß er seine Lage nur durch Solidarisierung, durch Kampf für eine bessere gesellschaftliche Ordnung ändern kann. Engels hat am Beispiel der englischen Fabrikarbeiter auf die verschiedenen Phasen der Auflehnung hingewiesen, die der Solidarisierung vorausgehen. Eine Form von Auflehnung ist die Selbstzerstörung durch Trunksuoht. Bin Beispiel dafür ist das, was Adelheid Popp über ihren Vater aussagt. Hans Marchwitzas Vater ist auf gleiche Weise zugrunde gegangen. Eine andere Form der Auflehnung ist das Verbrechen oder auch nur die Brutalität gegen 107
andere. Wenn die Fabrikarbeiter nach langer Zeit eingesehen haben, daß diese Art der Empörung die roheste und unfruchtbarste ist, so ist das für einen einsam auf sich gestellten und dem Sinn seiner Arbeit doppelt entfremdeten, verelendeten Handwerker in seiner ländlichen Kleinstadt viel schwieriger. Fischers Erkenntnis, daß die immer wieder ausbrechende Brutalität des Vaters gegenüber Frau und Kindern fehlgeleiteter Protest war, ist als wichtiger Schritt in seiner eigenen Entwicklung anzusehen. Diese Kindheitserfahrung hat ihn zumindest davor bewahrt, später als Erdarbeiter und als Fabrikarbeiter ähnlich verkehrte Wege zu beschreiten, wenn ihm auch die Kraft zur Solidarisierung versagt blieb. Wie sehr das natürliche Gerechtigkeitsgefühl durch das Erlebnis des Unrechts entwickelt wind, beweisen Fischers sehr lebendig geschriebene Schulgeschichten. Es war die Zeit der geistlichen Schulaufsicht, die sich in kleinen Orten weit über Fischers Kindheit hinaus bis in die Jahre der Weimarer Republik als staatserhaltendes Prinzip äußerte und sioh gegenüber fortschrittlich und demokratisch gesinnten Lehrern unangenehm bemerkbar gemacht hat. Die authentischen Berichte der Arbeiterautobiographie lassen uns Wilhelm Raabes reizvolle Erzählung vom armen Horacker, der durch das vereinte menschenfreundliche Wirken von Pfarrer und Lehrer gerettet wird, als humanistische Idylle erscheinen, die zeigt, wie es sein könnte, aber nicht war. Der 1841 in Schlesien, also als Preuße geborene Fischer ist hauptsächlich nach 1848 zur Schule gegangen. Er erinnert sich aber noch daran, wie dem Sohn eines Fabrikarbeiters seine aus dem Elternhaus mitgebrachte Freisinnigkeit unter Aufsicht des vom Kantor herbeizitierten Bürgermeisters aus dem Leibe geprügelt wurde. Der preußische Drill, gegen den sich Raabes 1867 spielende Erzählung wendet, hat nicht erst 1866 gesiegt, er wurde schon 1848 nicht abgeschafft. Fischers Denkwürdigkeiten bezeugen, daß die kleinste Klippschule schon 'damals eine Standesschule war, in der die ärmsten Kinder am schlechtesten behandelt wurden. Und Fischer schildert ausführlich, weil ihn dies am tiefsten getroffen hat, daß der Pfarrer den Lehrer darin noch überbot. Hier taucht das Motiv vom Pfarrer, der Liebe predigt, aber als Diener der herrschenden Klasse unter den Ausgebeuteten Haß sät, auch 108
im autobiographischen Genre auf, nachdem es in der frühen proletarischen Literatur des 19. Jahrhunderts schon eine große Rolle gespielt hat. Und in der Schilderung der Kindheitsphase hat dieses Motiv eine besonders desillusionierende Funktion. Fischer bekennt in seiner Selbstdarstellung, daß er, unter Einfluß des Vaters mit den schönsten biblischen Geschichten groß geworden, dem geistlichen Stande großes Vertrauen entgegengebracht habe, aber - mit der Wirklichkeit konfrontiert - enttäuscht und abgestoßen war. Mit bitterem Humor schildert er, wie der Pfarrer bei seinen Schulbesuchen mit laut tönender Predigerstimme und in dieser Situation grotesk wirkendem Pathos besonders gern gegen arme und unattraktive Kinder vorgegangen sei: „So kam der Pastor auch einmal in die Schule, da war ein Junge, der saß auf der letzten Bank, war 11-12 Jahre alt, und saß immer still da, freilich auch, wenn er antworten sollte, als ob ihm was fehlte. E r trug Sommer und Winter eine alte dicke Jacke, die ihm aber viel zu groß und weit war, da sah er kein bißchen hübsch drin aus, lief auch fast das ganze Jahr barfuß, und so ungefähr bloß mit halben Hosenbeinen; um den mochte sich wohl keiner recht kümmern. Wenn die Reihe an ihn kam zum Lesen in der Bibel, das ging nur schlecht, und mitten im Lesen, und ohne daß ihm einer was sagte oder tat, da war er ängstlich und fing wohl an dabei zu schluchzen. Diesen Jungen fragte der Kantor grade etwas, erhielt aber wie in der Regel keine Antwort, das mochte ihn wohl genieren, und er fragte in drohendem Tone: na weißt Du das denn nicht? Aber da hatte er den Pastor schon angesteckt; der hob an mit seiner mächtigen herrlichen Stimme voller Zorn: Der Junge ist wohl verstockt! Der will Ihnen wohl trotzen! D a verfahren Sie 'doch anders mit ihm! So einem Flegel wird der Kopf noch zu beugen sein! Steh einmal grade Du Lümmel! Als aber der Junge sich nicht rührte, nooh muckte, noch antwortete, da ging der Pastor einige Male erregt auf und ab, da sagte er grollend, aber doch ziemlich ruhig: Dann bestrafen Sie ihn, behalten Sie 'n hier, sperren Sie 'n ein. Das ist vielleicht das einzige Mal gewesen, seit seiner Taufe, daß sich ein Geistlicher um das arme Wurm gekümmert hat, und wie? Aber eingesperrt hat ihn der Kantor nicht, er konnte ihm auch nicht gut was zu essen geben, denn er hatte selber sechs Kinder." 1 1 4 109
Daß Fischer sich diese Szene so genau eingeprägt hat und sie noch mit 60 Jahren aufzeichnete, läßt darauf schließen, daß er sich mit diesem Jungen identifizierte. Und er hatte allen Grund dazu, denn der Pastor behandelte ihn genau so, obwohl er ein guter Schüler war, einfach aus Voreingenommenheit. Auch er war ein schüchterner, kränklicher Junge, nicht zerlumpt, aber doch ärmlich gekleidet. Zumindest den Sommer über ging er ohne Schuhe und Strümpfe. Dazu war er kurzsichtig und saß deshalb in der Schule nicht immer kerzengerade, was eines der schlimmsten Vergehen war. Ohne Grund machte ihn der Pastor immer wieder vor allen Kindern lächerlich und beschimpfte ihn mit so lauter Stimme, daß die ganze Schulstube dröhnte. Diese Kindheitserlebnisse waren die Ursache, bekennt Fischer, daß er immer und überall in seinem Leben Geistlichen aus dem Wege ging, mit keinem sprach und keinen grüßte und sich auch von keinem ansprechen ließ. 1 1 5 Die Unrechtserlebnisse seiner Kindheit haben das Wesen des Arbeiters Fischer geprägt. E r ist Zank und Streit möglichst aus dem Wege gegangen, hat seine Arbeit so gut wie möglich geleistet und sich deshalb gegen jede ihm in diesem Zusammenhang zugefügte Ungerechtigkeit zur Wehr gesetzt. Und er empfand gegenüber seinen Arbeitsbrüdern ein aus persönlicher Erfahrung erwachsenes Mitgefühl, fühlte sich als einer der ihren. Die Kindheitserlebnisse Moritz Brommes gliedern sich in fünf Hauptkomplexe. Bei seinen normalen kindlichen Eindrükken und Erlebnissen in einer kleinen Industriestadt mit ländlicher Umgebung ergaben sich Besonderheiten aus der Tatsache, daß der Vater aktiver Sozialdemokrat war. D i e Zeit des Sozialistengesetzes und das Unglück, das der Familie Bromme daraus erwuchs, daß dem Vater unverschuldet, nur wegen seiner politischen Gesinnung, ein Prozeß und eine Gefängnisstrafe angehängt wurden, machten den „sorglosen" Kinderjahren ein E n d e und stellten den Jungen früh an der Seite seiner Mutter in den Lebenskampf. Dabei spielt das sich aus der Notlage der Mutter ergebende „Kostgänger"-Problem eine Rolle. Und davon ist die durch frühe Lohnarbeit gestörte Schulzeit gezeichnet.
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Das Familienleben der Brommes war, soweit es im Kapitel Kindheit in Schmölln geschildert wird, harmonisch, schon weil Eduard Bromme nicht die patriarchalische Haltung von Vater Fischer einnahm und mit seiner Frau trotz kleiner Unstimmigkeiten in Liebe und Sympathie verbunden war. Die ersten Kindheitserlebnisse, über die Moritz Bromme berichtet, sind nur getrübt durch den Tod des Lieblingsbruders und durch eigene Krankheiten. Die Geschichten vom zerbrochenen Milchkrug, vom Schweineschlachten, vom Einbrechen ins Eis am Neujahrstag, vom Puppentheater oder vom Herbstmanöver sind erfüllt vom Spaß an kleinen Abenteuern. Als der Verfasser der Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters acht Jahre alt war, wurde Bismarcks Terrorgesetz gegen die Sozialdemokratie erlassen. Ein junger, irgendwo ausgewiesener Sozialdemokrat hielt sich bei den Brommes als sogenannter Kostgänger verborgen. Er las und zeichnete viel. Seinem Einfluß verdankt es Moritz, daß der Vater ihn auf die Mittelschule schickte. In abendlicher Stunde wanderte er mit dem Vater und jenem Ausgewiesenen öfter nach Crimmitschau. Bebel hat dem Heroismus der Sozialdemokratie während des Sozialistengesetzes im dritten Band seiner Lebensbeschreibung das am längsten bleibende und größte Denkmal gesetzt. Aber auch das, was in der Selbstdarstellung eines Industriearbeiters über diese Periode der deutschen Arbeiterbewegung 'ausgesagt ist, hat Bedeutung. Bromme erzählt: „Dann trafen wir gewöhnlich mit einem oder mehreren Männern zusammen. Mein Vater sagte ein Wort, wenn es Unbekannte waren, und erhielt dann immer ein Paket ausgehändigt. Ich wußte aber niemals, um was es sich handelte. Heute weiß ich es, daß es verbotene Ware, daß es sozialistische Schriften gewesen sind, die während des Ausnahmegesetzes eingeschmuggelt worden waren." 116 Er bekam von seinem Vater das erste sozialistische Kinderbuch König Mammon117 geschenkt, in dem in allegorischen Bildern das Wesen des Kapitalismus veranschaulicht wird. Als besonders begabter Sohn und Schüler mußte er zu Hause aus Zeitungen und Zeitschriften laut vorlesen, während des Sozialistengesetzes auch aus getarnten sozialdemokratischen Zeitungen. Sozialdemokraten gingen beim Vater ein und aus, da 111
dieser eine illegale sozialdemokratische Krankenkasse gegründet hatte. Moritz Bromme wurde also schon früh mit politischen Fragen konfrontiert. In seiner Selbstdarstellung bekennt er, daß er zwar als 13- bis 14jähriger wie sein Schulfreund Dietzmann, an dem er sehr hing, mehr mit den Freisinnigen sympathisiert habe, von Sozialismus noch nicht viel verstand, aber über die Sozialdemokratie einigermaßen informiert gewesen sei. Was er damals erlebt hat, entbehrt zwar nicht der Komik, wenn man es heute liest, gleichzeitig muß man sich aber sagen, daß die Dummheit bzw. die Dummdreistigkeit, mit der sozialistische Ideen interpretiert bzw. verfälscht werden, heute noch nicht ausgestorben sind. „Als d a n n . . . einmal der Lehrer Patuscha in der Schule während des Unterrichts sagte: 'Bs gibt jetzt eine Sorte Menschen, die nennen sich Sozialdemokraten, die wollen die Ehe und das Familienleben zerstören, den Staat und die Könige abschaffen, alles Privateigentum aufheben, wodurch der intelligente Besitzende gewärtig sein muß, daß er anstelle des Knechtes Dünger laden und Sand karren wird, während der ungebildete Mensch seine Stelle einnehmen wird', wollte ich ihm entgegnen, daß er die Ziele der Sozialdemokratie falsch auslegte. Ich als Schüler kannte sie besser als derjenige, von dem wir unsere Lebensweisheit erwerben sollten.""» Sein Freund Dietzmann war Pfarrerssohn, und es ist nicht uninteressant, zu verfolgen, wie diese Gestalt in der Autobiographie Brommes immer wieder auftaucht, fast leitmotivartig, auch als sich nach Beendigung der Schulzeit ihre Wege trennten. Er erwähnt ihn immer wieder, auch wenn er ihn nur einmal flüchtig getroifen oder einen Brief von ihm bekommen oder auch nur an ihn gedacht hat. Noch gegen Schluß seiner Memoiren, von der Lungenheilstätte aus, erinnert er sich seiner etwa mit den Worten: Er ist Lehrer geworden, ich bin Fabrikproletarier geblieben. Es tritt hier schon etwas auf, was uns später in Marchwitzas Jugendgeschichte wieder begegnet. Allerdings ist dort mit eindrucksvolleren künstlerischen Mitteln ausgeführt, was hier nur angedeutet, ja dem Selbstdarsteller vielleicht in seiner Bedeutung nicht völlig bewußt geworden ist. Bei Marchwitza ist die seine Jugender112
innerungen mit immer wieder neuen starken Akzenten begleitende Gestalt des bewunderten Freundes Martin Marrek so etwas wie die andere Hälfte, die Ergänzung des Ich-Erzählers. Bei Bromme ist der „Intimus" Dietzmann nicht nur ein Jugendfreund, sondern gleichzeitig die Vorstellung dessen, was er selbst gern aus seinem Leben gemacht hätte. E r schreibt es trotzig hin: Und ich bin Fabrikproletarier geblieben. Aber die Tatsache, daß er dem Kindheitsgefährten so lange nachgetrauert hat, daß er seinen Werdegang in die Selbstdarstellung einbezieht, auch als er nicht mehr mit ihm zusammenkommt, läßt darauf schließen, daß er ihn beneidet, daß er selber gern Lehrer geworden wäre. Dafür spricht auch die Dramatik und Intensität, mit der Bromme die durch die Inhaftierung des Vaters herbeigeführte Wende beschreibt, die seine Kindheit belastet hat. Allein in dem einen Satz: „Denn es traten nun Ereignisse ein, die zu den traurigsten meines Lebens gehören und durch die sich meine liebe Mutter so gegrämt hat, daß sie sich buchstäblich die Schwindsucht an den Hals ärgerte und auch daran gestorben ist", liegt eine proletarische Familientragödie. 1 1 9 Und in einem anderen seine eigene uneingestandene: „Mein Liebstes waren meine Bücher. Ein schönes Gedicht so recht lebhaft vor mich her zu deklamieren, historische oder geographische Bücher zu lesen, das war mein Element. Zu diesem Zweck habe ich gar manches Buch von Dietzmanns Ernst bekommen, der mir trotz meines Unglücks treu blieb und mich fast alle Wochen einmal besuchte, denn zu ihm zu kommen, gab es für mich keine Zeit mehr; das Blättern im Orbis pictus und sonstigen Büchern, das Spielen am Trapez und anderes im Diakonat war für mich nur noch eine Erinnerung an vergangene glückliche Zeiten." 1 2 0 „Bisher hatte ich eine sorgenlose fröhliche Kinderzeit gehabt", heißt es an anderer Stelle, „aber von diesem Augenblick an würden wir erst Proletarierkinder in des Wortes wahrster Bedeutung sein." 1 2 1 Damit meint er offensichtlich, daß jetzt das Gespenst der proletarischen Verelendung sich auch in der Familie Bromme breit gemacht hatte. Und es muß zu seiner Ehre hinzugefügt werden, daß er sich dem gestellt hat, mit der sachlichen Selbstverständlichkeit eines Proletarierkindes. 8
Münchow
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Von der Lateinstunde ging er direkt zum Flaschenbierhändler Schmidt in den Pferdestall und als „Mädchen für alles", als eine Art Hausknecht, wofür er sonnabends 1 Mark20 und eine Flasche Bier mit nach Hause gebracht hat, aber sonst an Wochentagen erst nach 1/2 9 Uhr seine recht reichlichen Schulaufgaben erledigen konnte. Dann verdingte er sich, wie der junge August Bebel, als Kegeljunge, wochentags von abends 8 Uhr bis Mitternacht, Samstag und Sonntag bis früh 4 Uhr. Diese für einen Schuljungen anstrengende und ermüdende Tätigkeit brachte ihm - jedesmal zusammen mit seinem Bruder - nur 30 Pfennige ein. Er bekennt aus der Erinnerung an diese Zeit: „Wir taten es der Mutter zuliebe. Aber von 8 Uhr abends bis 4 Uhr morgens 30 Pfennige für uns 2 Mann! War das nicht mehr wie Ausbeutung?" 122 Dann wieder trug er für einen Kolportagebuchhändler Tag für Tag, treppauf, treppab, Hefte aus, warb neue Abonnenten für einen Wochenverdienst von 1 Mark und bereicherte auch dadurch, wie er erzählt, seinen Erfahrungsschatz über die verschiedenen Methoden der Ausnutzung von Menschen durch Menschen. Am schwersten waren jedoch die häuslichen Verhältnisse. Die Mutter schlug sich durch, indem sie 5 bis 6 Kostgänger Arbeiter und Arbeiterinnen, vorübergehende Jahrmarktsgäste oder Budenbesitzer - in ihre kleine Wohnung aufnahm und verpflegte. Von einem geordneten Familienleben konnte man nicht mehr sprechen, auch hier mußten die Kinder anpacken, so sehr sie konnten. Was der junge Bromme von den wechselnden „Aftermietern" zu sehen und zu hören bekam, war eine glänzende Vorbereitung auf sein späteres Fabrikarbeiterdasein. Hier konnte er die ersten Menschenstudien treiben, die 'die Berichte über seine Metallarbeiterzeit so bedeutungsvoll akzentuierten. Hier lernte er in mannigfaltigen Variationen Höhen und Tiefen des proletarischen Lebens kennen. Auch der sexuelle Bereich steht gerade in Brommes Memoiren bei Gelegenheit immer wieder im Mittelpunkt der Betrachtung, wie etwas selbstverständlich Dazugehöriges, ganz gleich, ob es positiv oder negativ gewertet wird. Der Leser der Lebensgeschichte muß feststellen, daß die sogenannte sorglose Kindheit ohne wirkliche Höhepunkte, 114
die glückliche Vergangenheit - die Freunidschaft mit „Dietzmanns Ernst" einbezogen - deshalb nicht von Dauer war, weil sie auf Illusion beruhte. Unter den Bedingungen des Klassenkampfes in den 70er und 80er Jahren des 19. Jahrhunderts konnte es für das Kind eines Sozialdemokraten kein dauerhaftes „Kinderparadies" geben. Als der sozialdemokratische Vater unter der Auswirkung der bürgerlich-junkerlichen Klassenjustiz des Bismarckreiches für zwei Jahre ins Gefängnis mußte, zeigte sich für den Sohn das proletarische Leben sehr schnell von der typischen Seite. Und die Autobiographie hat von diesem Zeitpunkt an wesentlich stärkeren und packenderen Realitätsgehalt. Das Bild des Arbeiters Bromme, der einen Lebensweg beginnt, dem der behütete, „glückliche" Bürgersohn Dietzmann kaum so gewachsen gewesen wäre, fängt an, sich zu formen. Als Moritz Bromme nach beendeter Schulzeit auf der Suche nach einem seiner Ausbildung entsprechenden Beruf überall verschlossene Türen antraf, weil er vermögenslos und Kind eines sozialdemokratischen Arbeiters war, fand er sich gewappnet und kämpfte ¡bald selbst in den Reihen der Sozialdemokratie. Seine Bürgerschulkenntnisse haben ihm dabei letztlich mehr geschadet als genützt, weil sie dazu beigetragen haben, einen zu einseitigen Bildungsoptimismus im Klassenkampf zu fördern. Die „gute Kinderstube" der Arbeiterklasse beruht unter kapitalistischen Verhältnissen auf dem Prinzip der möglichst schnellen Desdllusionierung: dem Abbau der Vorstellung, daß der Proletarier in einer von Gott so gewollten, geordneten Welt lebt, der Öffnung des Blicks für eine Welt, in der die Früchte schweren Lebens und harter Arbeit von den Verkehrten, von den anderen geerntet werden und in der die, die schon als Kind hart arbeiten, gut daran tun, sich ihrer Haut zu wehren. Wenzel Holek, der die schlimmste Kindheit von allen frühen proletarischen Selbstdarstellern hatte, wuchs kaum in Illusionen auf. Aber daß man sich wehren muß, erfuhr er im Gegensatz zu Bromme nicht von seinem Vater. Die Erkenntnis dazu erwuchs erst aus der eigenen Situation. Wer als Kind von, Wanderarbeitern sein „Heimatdorf" kaum zu sehen 8*
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bekam, den Namen seines Geburtsortes erst später erfuhr und vom zehnten Lebensjahr ab das Leben eines Lohnarbeiters zu führen gezwungen war, wer sich in Zeiten der Arbeitslosigkeit das Stück Brot mit betteln verdienen mußte, der lernte früh, daß der Proletarier nichts zu verlieren hat als seine Ketten. Weniger extrem, sozusagen „normaler" ist der Prozeß der Desillusionierung in den Memoiren des Landarbeiters Rehbein gestaltet. Wirklich gestaltet, man kann beinahe sagen: von der überlegenen Blickhöhe des Schelmenromanes dargestellt, in dem von Anfang an nicht im unklaren bleibt, daß der vielmals Betrogene eines Tages den Spieß umkehren wird. Rehbein schildert seine Kindheit in einer hinterpommerschen Kleinstadt bei aller Anschaulichkeit distanziert. E r reiht Kindheitserlebnisse nicht wahllos aneinander. Jedes hat seine besondere Bedeutung im dargestellten Entwicklungsprozeß. Gleich eines der frühesten Erlebnisse ist ein wahres Rechenexempel. D i e Kinder des armen Schneiders Rehbein mußten für ihre Ziege das nötige Futter zusammenstehlen, damit sie möglichst viel Dung produzierte, der dann dem Ackerbürger abgeliefert wurde. Soviel Land sie mit dem Dung bestreuen konnten, so viel Kartoffeln durften sie dann bei den Ackerbürgern auspflanzen und ernten. Der junge Rehbein mußte deshalb noch zusätzlich Roßäpfel und Kuhfladen auf Straßen und Feldwegen auflesen, so sehr ihm das, wie er es spaßig beschreibt, „auf die Geruchsnerven" 1 2 3 ging. Der ernste Kern dieser noch ganz vergnüglichen Geschichte ist, daß die Rehbeins kein Geld hatten, sich Kartoffeln zu kaufen. Der Vater nähte mit der Hand für Ackerbürger, Arbeiter und Bauern und konnte für den geringen Verdienst weder Gesellen noch Lehrlinge beschäftigen, geschweige denn eine Familie ernähren. Franz Rehbein, der seinen Vater sehr liebte, mokiert sich dennoch über die Rückständigkeit der Arbeitsweise und die unmodische Linie der Produkte aus dessen Hand. Mit der gleichen Ironie schildert er die „politischen" Gespräche im Vaterhause, die er nur spöttisch als politisch bezeichnet, denn man erzählte sich nur Kriegsgeschichten, die von der Rückständigkeit hinterpommerscher Denkungsart
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zeugten. Er bekennt, daß er selbst als Kind auch für den Kaiser, für Bismarck und Moltke schwärmte und, bevor er diesen näher kennenlernte, natürlich auch für den zuständigen Gutsbesitzer. Das Wort eines Instmanns hat sich ihm eingeprägt: „Min Wort is - Uns Herr ower uß, un d'Kaiser ower uß alle; so mutt dat wäse!" 124 Er erklärt im Nachhinein seine kindliche Begeisterung für die preußischen Kriege: „Ein begeistertes gegenseitiges Morden 'Mit Gott für König und Vaterland'. So ungefähr wurde es uns ja auch in der Schule gelehrt."125 Er erinnert sich seiner Bewunderung für Moltke in der Schlacht bei Gravelotte. Diesen Eindruck hatte er vom Ruppiner Bilderbogen, in den er so verliebt war, und bemerkt ironisch: „Wirklich, dabei mußte doch jedes - Kind patriotisch werden."126 Mit der Einfügung des Gedankenstrichs vor dem Wort „Kind" will Rehbein sagen, daß ein erwachsener Mensch dieser Art preußischer Kriegsverherrlichung nicht verfallen dürfe. Das Familienleben war trotz der großen Not - Eltern und vier Kinder bewohnten nur eine Stube, die gleichzeitig Werkstatt war - offenbar harmonisch, weil die Eltern gewissermaßen an einem Strang zogen, die Mutter dem Vater in seinem Beruf half. Als Franz Rehbein zehn Jahre alt war, wurde der über seine mühsame Arbeit schwindsüchtig gewordene Schneider bettlägerig, eineinhalb Jahre später starb er. In dieser Zeit, berichtet Rehbein, als die Mutter für zwei arbeiten, den Kranken pflegen und die Kinder versorgen mußte, habe sich ihr Gemütsleben sichtbar verhärtet. Dennoch zeigte sie den Kindern immer noch ein Lächeln, und den Vater nahm sie wie ein kleines Kind in ihre Arme, wenn sie ihn umbetten mußte. Das Bild der proletarischen Mutter, wie es alle Arbeiterautobiographen - von Fischer bis Bromme, Popp und Rehbein, Krille und Märten eingeschlossen - dargestellt haben, hat heroische Merkmale. Einzig Holeks Charakteristik seiner sehr abergläubischen und bildungsfeindlichen Mutter ist, wenn auch nicht lieblos, so doch verhalten. Nur in einem stimmt Holek mit allen anderen Selbstdarstellern überein: Er bedauert die Mutter, die sehr oft den Hauptanteil der wirtschaftlichen Last für die Familie tragen muß. Alle proletari117
sehen Mütter jener älteren Generationen vor der Jahrhundertwende waren gleicherweise politisch unentwickelt, worunter Söhne wie Bromme und Rehbein, ebenso Holek und besonders die Arbeiterin Adelheid Popp litten, die sich dann später erfolgreich bemüht haben, eine fortschrittlichere Ehe zu führen. Rehbein, der seiner Mutter in den Kindheitserinnerungen ein bleibendes Denkmal gesetzt hat, konnte es dennoch sein ganzes Leben nicht verwinden, daß sie ihn, als er gerade erst vierzehn Jahre alt war, im wahrsten Sinne mutterseelenallein auf Lohnarbeit in die Fremde schickte, ergeben, dem sogenannten Lauf der Welt gehorsam und mit den Worten: „ N a denn geh; es ist ja einmal das Schicksal von uns armen Leuten, daß wir unsere Kinder in die Welt hinausstoßen müssen, wenn sie nur eben die Finger rühren können." 1 2 7 Rehbein hat seine Mutter erst nach vielen Jahren, als er selbst schon eine Familie gegründet hatte, wiedergesehen und sie im übrigen Teil seiner Memoiren kaum wieder erwähnt. In den beiden Jahren nach dem Tode seines Vaters hat Rehbein zwei wichtige Lebenserfahrungen gewonnen, die als Stationen geschildert werden, durch die der Abschied von der Kindheit vorbereitet wurde. E s sind die Erlebnisse im Pfarrhause und die Konfrontation mit dem Großgrundbesitzer. Die Mutter bemühte sich, die Kinder in der Kleinstadt als Waschfrau und als Tagelöhnerin auf dem benachbarten Gut durchzubringen. D i e Kinder halfen mit verdienen, so gut sie es vermochten. Rehbein schildert in seinen Memoiren sehr witzig, wie er im Pfarrhaus täglich als Stiefelputzer für die Pfarrersfamilie und die als Pensionäre aufgenommenen Gymnasiasten antreten mußte. Dabei lernt er, daß der Bürger zwar besser lebt als der Proletarier und bessere Bildungsmöglichkeiten hat, aber deshalb keinesfalls besser ist. Zwar freute sich der Junge, daß er Bücher geliehen bekam, aber die Lebensweise und die Moral derjenigen, denen er die Stiefel putzen darf, erschienen ihm, wie er aufzeichnet, bereits damals recht fragwürdig. Aus der Tatsache, daß er unter seinesgleichen Mißtrauen erweckt, wenn er sich auch nur dem Anschein nach mit den anderen liiert, erfährt er auf einfache Weise von der Existenz der Klassengegensätze und davon, daß es einem Proleten nicht bekommt, wenn er ins bürgerliche
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Lager überwechselt. In einem späteren Teil seiner Memoiren blendet er noch einmal mit der Feststellung auf die Erfahrungen im Pfarrhaus zurück, daß das, was er in den Büchern des Pfarrers gelesen, mit der Wirklichkeit wenig zu tun gehabt habe. Als er an der Seite der Mutter bei der Kartoffelernte eingesetzt wurde, die er humorvoll und ohne großes Gejammer über die Strapazen beschreibt, denen er dabei ausgesetzt war, begegnet er zum erstenmal dem „Gnädigen Herrn", den alle so „über sich" duldeten. Die Erzählung über diese Begegnung hat satirische Züge: „Etwa um elf Uhr sahen wir einen Reiter vom Gut auf uns zukommen. Mit ungezwungener Eleganz saß er im Sattel, die rechte Hand leicht auf die Lende gestemmt. Sein Fuchs ging den ruhigen aber elastischen Schritt, der das schöne Tier ohne weiteres als edles Reitpferd kennzeichnete. 'De Gnä' Herr!' murmelte man, und fleißiger noch rührten sich die Hände. Jetzt setzte der Vogt seine Kartoffelkiepe auf die Erde, wischte sich schnell die Hände an den Hosen ab und ging seinem Gebieter entgegen. Sechs Schritt vor ihm blieb er stehen, nahm kurz die Hacken zusammen und zog ehrerbietig seine Mütze. Wie das aussah! Dort der Herr, hoch zu Roß, jeder Zug aristokratische Vornehmheit; hier der Vogt, barhäuptig in urpommerscher Hölzernheit - ein Bild disziplinierter Demut. Beide kamen näher. Nun zogen auch die Tagelöhner mechanisch ihre Kopfbedeckung, die sie so lange in •der Hand behielten, bis der 'Herr' leicht an seinen graugrünen Agrarierhut tippte. Ich hatte die Gelegenheit wahrgenommen, schnell eine kleine Kiepe mit Kartoffeln nach dem Wagen zu bringen. Meine Gedanken dabei waren, mir auf diese Weise den vornehmen Reiter und sein prächtiges Pferd in der Nähe 'besser betrachten zu können. Gerade stand ich am Wagen, als die Tagelöhner ihre Mützen abgenommen hatten. Ich vergaß mich fast, so sehr imponierten mir Roß und Reiter. Mit offenem Munde starrte ich bald auf den adligen Herrn mit dem graumelierten Bart und den eleganten Reithosen, bald auf die ungeduldig scharrende Fuchsstute, die zeitweilig den schöngeformten Kopf in die Höhe warf und Schaumflocken von dem blanken Gebiß schüttelte. 119
Da plötzlich wurde ich aus meinen Betrachtungen gerissen. Herr von Damerow ließ sein Pferd dicht auf mich zugehen und sah mich einen Moment durchdringend an. 'Hat dich dein Schulmeister noch nicht gelehrt, den Deckel zu ziehen?', fragte er scharf. Ich wußte vor Verlegenheit nicht, was ich antworten sollte. Wahrhaftig, ich hatte vor lauter Bewunderung des 'gnädigen Herrn' gar nicht daran gedacht, ebenfalls die Mütze abzunehmen. Verblüfft senkte ich deshalb den Kopf und schwieg. 'Welcher Person gehört der Junge?', wandte sich der Herr darauf an die Reihe der Sammler. 'Er ist mein Sohn', meldete sich meine Mutter. 'Dann wird's Zeit, daß Sie ihrem Bengel beibringt, wie er einen Gutsherrn zu grüßen hat.' Sprach's und ritt zu den Knechten. Sinnend blickte ich ihm nach. Wie verächtlich er das Wort 'Person' ausgesprochen hatte. Und in dem Er-Tone redete er meine Mutter an, wie es zur Zeit des alten Fritz mal Mode gewesen war! Ich fühlte, daß sich meine ursprüngliche Bewunderung für den vornehmen Herrn -Wesentlich abkühlte." 128 Diese in der Erinnerung sehr gut festgehaltene zeitige Desillusionierung, die zur frühen Erkenntnis der Klassengegensätze und der Fragwürdigkeit der sogenannten herrschenden Klasse führte, ist von Rehibein ganz klar als wichtige Vorstufe seiner späteren Entwicklung zum Sozialdemokraten und Klassenkämpfer dargestellt worden.
Schule gegen Militarismus
und Krieg
Der preußische MiLitärstiefel, der seit den Kriegen Friedrichs II. in ganz Europa von sich reden gemacht hatte und dem einst Uli Bräker mit Mühe und Not entweichen konnte, war auch in Friedenszeiten immer mehr zum volksfeindlichen Machtinstrument geworden, ohne daß im allgemeinen die Volksmassen dazu in der Lage waren, dies zu erkennen und dementsprechend zu bewerten. Im Vormärz beispielsweise war die Verelendung in manchen Bevölkerungsschichten so groß, daß die Einberufung zum Militärdienst als Befreiung und so120
gar als Fortschritt empfunden wurde. Hauptmanns Weber bezeugen dies historisch echt. Noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als der Militarismus zur massiven politischen Stütze des kapitalistischen Systems geworden war, wurde seine Gefahr, vor allem in den politisch unaufgeklärten Schichten, verkannt. Selbst mit dem Anbruch des Imperialismus, als der deutsche Militarismus die Eroberung der Welt auf seine Fahnen geschrieben hatte, gab es noch Millionen, die seine Unternehmungen nicht durchschauten, abgesehen von denen, die sie offen unterstützten. Hans Marchwitza legte in seinem autobiographischen Roman Meine ]ugend Zeugnis ab, wie selbst Bergarbeiter, die vom Kriegdienst hätten befreit werden können, sich 1914 freiwillig meldeten - er seihst einbegriffen - , weil sie meinten, sich dort besonders hervortun und über ihr verhaßtes Proletendasein hinauswachsen zu können. Der Kampf gegen den Militarismus war deshalb einer der wichtigsten Programmpunkte der deutschen Arbeiterbewegung und wurde von Marx und Engels, Bebel und Wilhelm Liebknecht sowie von den linken Führern der SPD heftig geführt. Karl Liebknecht schrieb 1907 in seinem berühmten Werk Militarismus und Antimilitarismus unter besonderer Berücksichtigung der internationalen Jugendbewegung: „Schwächung des Militarismus heißt Förderung der Möglichkeiten friedlich organischer Fortentwicklung oder wenigstens Einschränkung der Möglichkeiten gewaltsamer Zusammenstöße; sie heißt aber weiter vor allem Gesundung, Auffrischung des politischen Lebens, des Parteikampfes. Schon der rücksichtslose und systematisierte Kampf an und für sich gegen den Militarismus führt zur revolutionären Befruchtung und Kräftigung der Partei, ist ein Jungborn revolutionären Geistes." 129 Der Antimilitarismus ist von Anbeginn an ein wichtiges Merkmal der sozialistischen Literatur. Er ist dementsprechend auch ein Entwicklungsmoment in den frühen proletarischen Selbstdarstellungen vor dem ersten imperialistischen Weltkrieg. Aus diesen Autobiographien geht hervor, daß die Generation, aus der die Verfasser stammen, im Gegensatz zu den älteren unaufgeklärten Arbeitern, die noch z. T. vom 121
66er und 70/71er Krieg als besonderem Erlebnis sprachen, nach Überwindung anfänglich falscher Vorstellungen durch die Erlebnisse des Militärdienstes zu überzeugten Antimilitaristen wurden. Die jungen Arbeiter sahen meist - wie aus den Lebensläufen hervorgeht - die Einberufung zum Militär als Befreiung aus der alltäglichen Misere an,/freuten sich auf das Soldatendasein oder ließen die Einberufung zum preußischen Militärdienst mit Gleichmut, ohne negative Erwartungen über sich ergehen. Manche fühlten sich enttäuscht, degradiert, wenn sie wie Fischer oder Bromme wegen körperlicher Schwäche nicht einberufen wurden. Auch die Wienerin Popp kann sich ein Leben ohne Militär zunächst nicht vorstellen. Popp und Bromme erhielten ihre antimilitaristische Ausrichtung in der sozialdemokratischen Parteischulung. Popp bekennt: „Die Polizei duldete keine Frauen in diesen politischen Versammlungen, und doch wollte ich so gerne einer beiwohnen. Einmal gelang es meinen flehentlichen Bitten, die Ordner zu überreden, mich einzulassen, doch mußte ich ganz rückwärts in einer Ecke bleiben. Zum erstenmale hörte ich hier vom sozialdemokratischen Standpunkt über den Militarismus reden. Und wieder fiel ein Teil meiner früheren Anschauung in Trümmer. Bis dahin hatte ich den Militarismus als etwas Selbstverständliches und Unentbehrliches angesehen. D a ß meine Brüder des 'Kaisers Rock' getragen, hatte mich mit Stolz erfüllt, und der war mir nicht als rechter Mann erschienen, der diese patriotische Pflicht nicht erfüllt hatte. Wenn ich mir in meinen Mädchenträumen den Mann vorstellte, der mein Gatte werden würde, dann gehörte auch die militärische Tauglichkeit zu den Eigenschaften, die er besitzen mußte. Und jetzt fiel auch dieses Ideal. Als Volksbelastung wurde der Militarismus geschildert, und ich mußte dem beistimmen. Der Krieg, ein Menschenmorden, nicht zur Verteidigung der Landesgrenzen vor einem bösen wilden Feind, sondern im Interesse der Dynastien, diktiert von Ländergier oder eingefädelt durch diplomatische Intriguen." 130 Der sture, sinnlose und menschenunwürdige Drill, der im deutschen Kaiserreich immer schlimmere Formen annahm und besonders die mittellosen Soldaten traf, war für den tnili122
täfverpflichteten Proletarier eine besonders bittere Schule der Erkenntnis über die Gesellschaftsordnung, die dergleichen ausgeheckt hatte. Der Militärdienst wird zur Schule des Antimilitarismus, wenn zur spontanen Auflehnung politisches Bewußtsein hinzutritt. Der Einfluß der Sozialdemokratie kann dabei nicht hoch genug eingeschätzt werden. Franz Rehbein, über dessen hinterpommersche, kindliche Einstellung zum Militarismus wir schon berichteten, hat in einem späteren wichtigen Teil seiner Memoiren den Satz formuliert: „Wäre ich nicht schon vorher Sozialdemokrat gewesen, beim Militär wäre ich es geworden." Sein umfangreiches Kapitel Drei Jahre Kavallerist131 ist idie wichtigste antimilitaristische. Quelle der proletarischen Memoirenliteratur vor dem ersten Weltkrieg und als eins der anschaulichsten Beispiele aus der frühen sozialistischen Literatur außerordentlich lesenswert. Wir wollen hier nur auf seine aus dem Erlebnis der Militärzeit erwachsenen politischen Erkenntnisse eingehen und sie wegen ihrer Bedeutung wörtlich zitieren: „ . . . ich sah die Welt mit anderen Augen an und wußte nun, daß all die schönen Soldatengeschichten der Literatur nichts weiter sind wie Märchen, gemacht, um einen Pseudopatriotismus zu hegen und zu pflegen, der das nüchterne Denken der unteren Volksschichten umnebeln soll. Wie ein Hohn auf die nackte Wirklichkeit erschienen mir nun schon längst Lobpreisungen des Militarismus, wie ich sie häufig in Büchern und Zeitungen gelesen. Das einzig Gute, was ich mir beim Militär angeeignet, war ein bißchen körperliche Gewandtheit. Aber mit welchen Opfern und welchen Mitteln hatte man mir die beigebracht! Welche entwürdigende Behandlung hatte ich derentwegen ertragen müssen! . . . Mindestens die Hälfte unseres ganzen militärischen Drills war überflüssig gewesen." Auch hier haben wir ein authentisches Zeugnis dafür, wie lang und umwegreich der Weg des Proletariats zum Antimilitarismus war. Interessant ist bei Rehbein die Verwendung des Begriffs „Pseudopatriotismus" für die militärische Manipulation. Darin steckt das Bekenntnis, daß der echte Patriotismus nur vom kämpferischen Proletariat vertreten wird, das allein imstande ist, die wahren Interessen der Nation zu vertreten und mit der sozialen Frage auch die nationale Frage zu lösen. 123
Selbsverständlich ist die primäre Frage der Entwicklung des neuen Menschenbildes die wachsende Vertrautheit mit dem wissenschaftlichen Sozialismus und der Entschluß, für eine neue Gesellschaftsordnung zu kämpfen. Doch zeigt uns das Wort Rehbeins: W ä r e ich nicht schon vorher Sozialdemokrat gewesen, beim Militär wäre ich es geworden - den dialektischen Zusammenhang, der zwischen dem Kampf für den Sozialismus und dem Kampf gegen den Militarismus besteht. Den repräsentativen Beweis dafür liefern uns Leben und Taten August Bebels. Seine Autobiographie ist der beste Beweis dafür, wie eng er selbst den Zusammenhang dieser beiden Komplexe sah. Der Kampf gegen den preußisch-deutschen Militarismus war einer der Kernpunkte der gesamten parlamentarischen Tätigkeit Bebels. Doch war .der Sohn eines preußischen Unteroffiziers nicht schon von Anfang an Antimilitarist. Auch Bebel ist deshalb ein gutes Beispiel für die langsame, aber unausbleibliche Entwicklung des Proletariers zum Klassenkämpfer und Antimilitaristen. Bebel schreibt über sich selbst, daß es noch geraumer Zeit bedurfte, ehe er sich „aus den Banden der Vorurteile befreite, in die das Leben in der Kasematte und die späteren Jugendeindrücke" ihn versetzten. 132 Und weiter: „Sobald ich die ersten Hosen und den ersten Rock anhatte, die selbstverständlich beide aus einem alten Militärmantel meines Vaters gezimmert worden waren, stellte ich mich, ausgestattet mit der nötigen Bewaffnung, neben oder hinter die auf dem freien Platz vor der Kasematte übenden Mannschaften und ahmte ihre Bewegungen nach. Wie mir meine Mutter später öfter humorvoll erzählte, soll ich namentlich das rechts und links Aufrücken meisterlich fertig bekommen haben, eine Übung, die den Mannschaften viel Schweiß verursachte und bei der ich ihnen manchmal von dem kommandierenden Offizier oder Unteroffizier als Muster hingestellt worden sein soll." 1 3 3 Diese „Reize" des Soldatendaseins, die einen wilden Buben, wie Bebel in seiner Kindheit einer war, entzückten, wogen noch lange schwerer als die negativen Eindrücke, die Vater und Stiefvater früh ein Opfer des Militarismus werden ließen. Noch in Wetzlar bezog er im Revolutionsjahr 1848 Prügel von seinen Schulkameraden, weil er für die preußische Monarchie 124
eingetreten war. Und mit 13 Jahren fühlte er sich unglücklich, daß er körperlich zu schwach war, um das Militärwaisenhaus zu besuchen und später Berufssoldat zu werden. 1 3 4 Ähnlich ging es ihm noch, als er 1860 als Drechslergeselle wegen „allgemeiner Körperschwäche" vom Militärdienst zurückgestellt worden war. 1 3 5 Der 20jährige ging nach Leipzig. Und für ihn wurde jetzt das langsame Hereinwachsen in die Arbeiterbewegung die Schule gegen Militarismus und Krieg. In der Auseinandersetzung mit Bismarcks Plänen der militaristischen Einigung Deutschlands von oben und mit Lassalles Orientierung des Proletariats auf die Unterstützung der militaristischen Blut- und Eisenpolitik Bismarcks baute Bebel alte Vorstellungen rapide ab. Das Jahr 1864 brachte ihn bereits einen großen Schritt vorwärts. D i e Zuspitzung der nationalrevolutionären Krise nach dem dänischen Krieg, die Tätigkeit Bebels im leitenden Gremium der deutschen Arbeitervereine, die Bekanntschaft mit Liebknecht und der Beginn des Studiums marxistischer Schriften taten 'das Ihrige. Dieser Ruck nach links wurde durch den 66er Krieg noch bestärkt. 1867, also mit 27 Jahren, zog Bebel als Arbeitervertreter in den Norddeutschen Reichstag ein. In seiner ersten Rede im Plenum am 15. Apriil zum Artikel 14 der Verfassung des neugegründeten Staates (Verhältnis der süddeutschen Staaten zum Norddeutschen Bund) protestierte er gegen die Unterdrückung der nicht in den Bund aufgenommenen deutschen Staaten durch Militärgewalt. In seinen Erinnerungen heißt es: „Ich protestiere 'dagegen, d a ß man eine solche Politik eine deutsche nenne, ich protestiere gegen einen Bund, der nicht die Einheit, sondern die Z e r r e i ß u n g Deutschlands proklamiere, gegen einen Bund, der Deutschland zu e i n e r g r o ß e n K a s e r n e mache (lebhafter Widerspruch) und den letzten Rest von Freiheit und Volksrecht vernichte." 1 3 3 Das Jahr 1870 erlebte Bebel bereits als ausgereifter Antimilitarist, obwohl er als Vertreter der erst 1869 gegründeten revolutionären deutschen Arbeiterpartei in der schwierigen Lage war, sich vom preußisch-deutschen Militarismus und von der Bourgeoisie entfachtem Chauvinismus abzugrenzen, ohne den anfangs gerechten nationalen Verteidigungskrieg gegen das Napoleonische Frankreich zu übersehen. Bebel entzog sich
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der Zustimmung zur Bewilligung der von Bismarck beantragten Kriegsanleihe durch Stimmenthaltung und begründete seine Entscheidung in einer zusammen mit Liebknecht eingereichten schriftlichen Erklärung, die mit der Formulierung endete: „ . . . und enthalten uns daher der Abstimmung, indem wir die zuversichtliche Hoffnung aussprechen, daß die Völker Europas . . . alles aufbieten werden, um sich ihr Selbstbestimmungsrecht zu erobern und die heutige S ä b e l - u n d K l a s s e n h e r r s c h a f t (Hervorhebung - U. M.), als die Ursache aller staatlichen und gesellschaftlichen Übel, zu beseitigen". 1 3 7 Bebels Memoiren bezeugen, daß ein großer Teil der deutschen Sozialdemokratie nach Ausrufung der französischen Republik vieles unternahm, um den Umschlag des Krieges in einen Eroberungskrieg zu vermeiden. Hier sei ein Hinweis auf das antimilitaristische Arbeiterlied eingefügt, daß Bromme in seiner Autobiographie zitiert, als er über seinen ersten Besuch einer großen SPD-Versammlung im Jahre 1890 berichtet, der ersten, die nach Aufhebung des Sozialistengesetzes in Meerane stattfand und zu der Hunderte von Arbeitern aus allen Gegenden herbeigeströmt waren. Auf dem Rückweg wurden begeistert Arbeiterlieder gesungen, von denen sich dieses antimilitaristische, das im September 1870 eine große Rolle gespielt hat 1 3 8 *, dem jungen Bromme so einprägte, daß er es in seine Memoiren aufnahm: „Ich bin Soldat, doch bin ich es nicht gerne, als ich es ward, hat man mich nicht gefragt. Man riß mich fort, hinein in die Kaserne, gefangen ward ich, wie ein Wild gejagt. J a von der Heimat und des Liebchens Herzen mußt ich hinweg und von der Freunde Kreis. Denk ich daran, fühl ich der Wehmut Schmerzen, fühl in der Brust des Zornes Glut so heiß." 1 3 9 * Der Braunschweiger Parteiausschuß erließ sogar, allzu optimistisch freilich, einen Aufruf zur Beendigung des Krieges und zur Errichtung eines sozialdemokratischen Volksstaates, wofür die einzelnen Mitglieder dann auch sofort unter unwürdigsten Bedingungen auf die Festung Lotzen geschleppt wurden. 1 4 0 Bebel und Liebknecht lehnten diesmal im Reichstag 126
die Bewilligung neuer Mittel zur Weiterführung des Krieges mit scharfen Worten ab und wurden danach in Arbeiterversammlungen, die massenhaften Volksversammlungen glichen, für ihr tapferes Verhalten stürmisch gefeiert. In allen Teilen Deutschlands erhoben die Arbeiter damals ihre Stimmen für einen ehrenvollen Frieden mit der französischen Republik. Hervorzuheben ist noch, daß sich Bebel und Liebknecht im Parlament auch gegen die Kaiserkrönung in Versailles aussprachen und daß Liebknecht treffend formulierte, die Krönung solle man lieber auf dem Berliner Gendarmenmarkt vornehmen, der das geeignete Symbol hierfür sei, denn solch ein Kaisertum könne nur durch Gendarmen aufrechterhalten werden.141 In allen Reden brandmarkten sie die preußische Militärdiktatur und retteten mit einem großen Teil der Arbeiterklasse damals die Ehre der deutschen Nation. Nach dem Siege des preußisch-deutschen Militarismus im Februar 1871 und dem Präliminarfrieden zu Versailles hatte es die junge Eisenacher Partei nicht leicht, weil sie wegen ihrer Haltung allgemein angefeindet wurde und noch dazu ihre besten Führer, unter ihnen Bebel und Liebknecht, im Gefängnis saßen. Trotzdem fielen bei den Neuwahlen im März 1871 mehr als hunderttausend Stimmen auf sozialdemokratische Kandidaten: Bebel wurde als einziger Abgeordneter der Arbeiterpartei in den neuen Reichstag gewählt. Wie stark die Rolle Bebels als Antimilitarist und Freund der Kommunarden in der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung nachwirkt, beweist Willi Bredels Roman Die Väter (1943), in dem Bebel zum Kristallisationspunkt der Auseinandersetzungen wird. Im Gespräch mit ihm durchdenkt der alte Johann Hardekopf, die Mittelpunktfigur des Romans, seine eigene Vergangenheit. Hardekopf hat auf Grund seiner sozialdemokratischen Entwicklung sein ganzes Leben darunter gelitten, daß er 1871 als junger Soldat vier Kommunarden ausgeliefert und so Klassenbrüder in den Tod geschickt hat. Als Bebel wenige Jahre vor seinem Tode auf einer sozialdemokratischen Versammlung in Hamburg redet und danach ein langes vertrautes Gespräch mit Hardekopf anknüpft, mit dem ihn 25 Jahre deutsche Arbeiterbewegung verbinden, denkt dieser besonders intensiv an die ihn belasten127
den Ereignisse des Jahres 1871. Er möchte sich so gern mit Bebel darüber aussprechen. Aber er wagt es dann doch nicht, weil er sich ihm gegenüber zu sehr schämt. Bebel war im Reichstag für die Pariser Kommune eingetreten mit der Losung: Krieg den Palästen, Friede den Hütten! Aber als er in seinen Memoiren darüber berichtet, setzt er hinzu: Die Ausführungen, die ich in den von mir zitierten Reden über die Pariser Kommune machte, werden einem sehr erheblichen Teil meiner Leser unverständlich sein. Ein Teil derselben weiß überhaupt nicht, was die Kommune war, ein anderer Teil ist in Vorurteilen befangen durch das, was er gegen die Kommune las, nur der kleinste Teil kennt die Geschichte der Kommune."142 Die Autobiographien jüngerer Sozialdemokraten wie die von Bromme und Rehbein geben diesem Urteil Bebels über das historische Bewußtsein großer Teile der Arbeiterklasse recht; für sie war die Pariser Kommune weder eine wesentliche historische Zäsur noch ein Lehrbeispiel. Das kann ihnen selbstverständlich nicht persönlich angelastet werden, ist vielmehr Ausdruck von Tendenzen, die in der deutschen sozialdemokratischen Bewegung wirkten. Bredel hat die Folgen dieser Entwicklung sehr anschaulich in Die Väter gestaltet. Der alte Hardekopf, der Weggenosse Bebels im Roman von Bredel, der viele authentische Ereignisse und Gestalten verarbeitet, stirbt nach Ausbruch des Krieges von 1914 verzweifelt unter dem bitteren Nachdenken über seine und der Partei Fehler. Sein Schwiegersohn Brenten, hinter dem sich Bredels Vater verbirgt, wird wegen seines antimilitaristischen Credos nach Ausbruch des Krieges in der Gewerkschaftsversammlung verprügelt und aus der SPD ausgeschlossen, und der Werftarbeiter Mengers, der den Auslauf eines Kriegsschiffs verhindern wollte, wird erschossen. Aber ebenso muß konstatiert werden, daß die Munitionsarbeiterstreiks, die Antikriegsdemonstrationen und die Verbrüderung deutscher Arbeiter an der Front mit revolutionären russischen Arbeitern, der Aufstand der Matrosen während des Krieges und schließlich auch die Novemberrevolution nicht möglich gewesen wären ohne den sozialistischen Antimilitarismus der Arbeitermassen. Lenin schrieb schon 1907 an Lunatscharski: „Wir müssen beispielsweise Bebel selbstverständlich kriti128
sieren. Aber man muß dabei zugleich betonen, daß dies Fehler eines Menschen sind, mit dem wir denselben Weg gehen, Fehler, die nur auf diesem marxistischen sozialdemokratischen Weg zu korrigieren sind." 143 Im gegenwärtig verschärften Kampf gegen Militarismus und Krieg, der über unsere Grenzen hinaus zu einem weltweiten Friedenskampf geworden ist, können wir die antimilitaristischen Arbeiterautobiographien, Otto Krilles noch 1914 erschienenes Werk Unter dem Joch eingeschlossen, zu unserm literarischen Erbe rechnen. Daß es sozialdemokratische Arbeiter gab, die vor 1914 vom notwendigen Ende des Militarismus eine wenn auch unvollkommene Vorstellung hatten, können wir im zweiten Band der Memoiren von Holek nachlesen, der sich zwar selbst jeder persönlichen Meinungsäußerung zum Thema Militarismus und Krieg entzieht, aber sehr interessante Arbeitergespräche aufgezeichnet hat, die 1907 in den Deutschen Werkstätten für Handwerkskunst zu Dresden geführt wurden. In diesen Werkstätten waren nur sozialdemokratisch organisierte Arbeiter beschäftigt. 1907 hatte der Internationale Sozialistenkongreß in Stuttgart getagt, an dem zum ersten Mal auch Lenin teilgenommen hatte und auf dem im Einverständnis zwischen Bebel, Rosa Luxemburg und Lenin erstmalig seit Eintritt in die Epoche des Imperialismus die Prinzipien der internationalen Arbeiterbewegung für den Kampf gegen Militarismus und imperialistischen Krieg formuliert wurden. Die Resolution hält fest, daß die Arbeiterklasse eines Landes, in dem ein Krieg auszubrechen droht, zusammen mit seiner parlamentarischen Vertretung verpflichtet ist, ihn zu verhindern und, falls dies mißlingt, die durch den Krieg erzeugte Krise zur Aufrüttelung der Volksmassen, zur schnellen Beendigung des Krieges und zur Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft auszunutzen. Es ist während dieser Zeit, wie die Berichte Holeks bezeugen, unter den sozialistischen Arbeitern in den Betrieben oft über den Militarismus diskutiert worden. Holek bekennt, daß er sich dann manchmal den Spaß erlaubt habe, mitten in den heftigsten Militarismusdebatten an die Militärzeit der Arbeitskollegen zu erinnern, was dann zu vergnüglichen Erlebnisaustauschen geführt habe. Er ist aber ehrlich genug zu ergänzen, daß sie auch oft genug von Soldatenmiß9
Münch ou-
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handlungen und ungerechten Strafen berichtet und sich alle durch die Bank gegen den Militarismus ausgesprochen hätten. Genaueres ist wert, wörtlich wiedergegeben zu werden: „Der Militarismus wurde vielmehr als eine gegen die Arbeiterinteressen gerichtete Einrichtung betrachtet. Es wurde auch ausgerechnet, wieviel das Heer jährlich koste, und wie die Ausgaben von Jahr zu Jahr wüchsen, woraus man den Schluß zog, daß die Ausgaben doch einmal diejenige Höhe erreichen müßte, die das Volk überlaste, so daß dann alles mit einem Schlage zusammenbrechen werde. Die Meinung, daß die Regierung in Anbetracht des Wettrüstens eben auch rüsten müsse, ward bloß von einem geteilt. Stark war der Glaube und die Hoffnung, daß die bürgerliche Gesellschaft mit all ihren Einrichtungen wohl dann der Zusammenbruch ereile, wenn es doch mal zum Kriege kommen sollte. Man spekulierte, daß der ganze Handel und Wandel stehenbliebe, Hungersnot und nachher die Revolution ausbrechen müßte, aus der die Arbeiterschaft als Sieger hervorgehen würde. Was nachher werden würde, darüber war man sich im unklaren. Daß das Heer aufzulösen, eine Volksmiliz und die sozialistische Produktion einzuführen sei, das waren die Gedanken, die man sich davon übereinstimmend machte." 144
Arbeitsplatz und
Arheiterporträts
Die Darstellung der vielen unterschiedlichen Arbeitsplätze und die Charakterisierung -der jeweiligen Arbeitskollegen ist ein wichtiges realistisches Element der frühen Arbeiterautobiographien. Die erstaunliche Fülle dieser die Volksmassen differenzierenden Einzelporträts bereichert das proletarische Menschenbild der frühen sozialistischen Literatur ganz besonders. Das ist nicht nur eine Sache des Genres, sondern vor allem eine Angelegenheit des modernen Industrieproletariats, in dem sowohl im Arbeitsprozeß als auch in Partei und Gewerkschaft viele Menschen zusammenkommen, aufeinander angewiesen sind, Kontakte aufnehmen und sich füreinander interessieren, nicht zuletzt, weil sie das gleiche Geschick vereint. 130
Aus diesem Grunde bieten die Lebensgeschichten der Arbeiter Bromme und Holek, die bis in die Periode des Imperialismus in kleineren und größeren Industriebetrieben tätig gewesen sind, das reichhaltigste Material. Die Erinnerungen Adelheid Popps treten in dieser Beziehung etwas dahinter zurück, weil sie damals mit wenigen Ausnahmen nicht die Beziehungen 2u männlichen Arbeitskollegen hatte, die jene untereinander zu pflegen in der Lage waren. Die sich aus der sozialen Situation ergebende Methode der Einbeziehung der zahlreichen und oft wechselnden Arbeitskollegen in die Lebensbeschreibung hat neben der Bereicherung des Menschenbildes noch eine andere, freilich damit zusammenhängende Bedeutung. In der Art und Weise, wie der Selbstdarsteller die anderen vorführt und schildert, enthüllt er sein eigenes Wesen, seinen Charakter, seine Anschauungen, seine Erkenntnis- und Urteilsfähigkeit, nicht zuletzt schließlich auch den Grad seiner Klassenverbundenheit. In dem Maße, wie er in der Lage ist, bei der Zeichnung eines anderen sein subjektives Urteil, seine individuelle Einstellung zum Gegenstand zurückzudrängen und den Erscheinungen auf den Grund zu gehen, sie richtig zu deuten und zu sehen, trägt er ungewollt selbst zur qualitativen Bereicherung des proletarischen Menschenbildes seiner Zeit bei. Bei der Herausarbeitung der Entwicklungslinie des proletarischen Menschenbildes ist die in einigen Fällen geübte Gewohnheit der Selbstdarsteller von Nutzen, die unterschiedliche Haltung der Arbeitskameraden zum Unternehmer und seinen Angestellten zu kennzeichnen bzw. sich selbst mit dem Arbeitgeber zu konfrontieren. In der Autobiographie, die sich streng nach Fakten richtet, fällt im Gegensatz zum Roman die Möglichkeit der perspektivischen Gestaltung weitgehend aus. Die Perspektive, die Richtung, in der die Weiterentwicklung erfolgen muß, ist in den Lebensbeschreibungen lediglich aus der parteilichen Gestaltung der Autoren ablesbar, aus der Art und Weise, wie der Autor die Arbeitsplatzverhältnisse schildert bzw. kritisiert und was ihm bei der Charakterisierung seiner Kollegen besonders auffällt, was er hervorhebt, was er kritisch beleuchtet, was er lobt, worauf er besonders stolz ist, welches für ihn die besten Klassengenossen sind. 9*
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Wenn der kulturhistorische Wert der frühen Arbeiterautobiographien zum großen Teil in der Einbeziehung der Arbeitsvorgänge, Arbeitsprozesse und Arbeitsverhältnisse ihrer Zeit liegt, so trifft das auch für die Arbeiterporträts zu. Gerade bei der Erforschung des proletarischen Menschenbildes ist es interessant, die Folgen der immer notwendiger werdenden und sich deshalb im Kapitalismus bereits vorbereitenden Beseitigung der Kluft zwischen manueller und geistiger Aröeit herauszuarbeiten. Die durch Industrialisierung und Technisierung veränderte Produktionsweise stellt höhere geistige Ansprüche an die Lohnarbeiter, die zum Mitdenken veranlassen, ja dazu führen, daß intelligente Arbeiter dem Meister oder dem verantwortlichen Ingenieur Vorschläge machen, die zur Beschleunigung des Arbeitsvorganges und zur Qualitätsverbesserung des Produktes führen könnten. Schon in den ständigen Auseinandersetzungen zwischen Facharbeiter und Meister in Fischers Denkwürdigkeiten, aber auch bei Bromme und Holek gibt es Beispiele, die zeigen, daß sich auch von daher eine Explosion, eine notwendige Sprengung der alten Produktionsverhältnisse vorbereitet. Dieses aus der ökonomischen Basis erwachsende Drängen nach Mitdenken steht in dialektischem Zusammenhang mit dem breiten Bildungsstreben, das sich der Arbeiterklasse immer mehr bemächtigte, in erster Linie in den Kreisen des politisch aufgeklärten und organisierten Proletariats. Aus der Tatsache, daß die meisten Arbeiterporträts der frühen Memoiren im Zusammenhang mit dem Arbeitsplatz geschildert werden und nur zu einem kleineren Teil in Verbindung mit Partei- und Gewerkschaftsarbeit - im Gegensatz zu den Arbeiterautobiographien der 30er bis 70er Jahre des 20. Jahrhunderts, wo die Proportionen gerade umgekehrt sind geht überzeugend hervor, wie sehr diese Darstellungen überhaupt von der Arbeitsleistung als solcher ausgingen, wenn auch natürlich immer im Zusammenhang mit den einen proletarischen Lebenslauf bestimmenden öko omischen Verhältnissen, und daß die ideologische Entwicklung sich wesentlich langsamer und mühevoller Bahn brach. Daher empfiehlt es sich, für die folgenden Untersuchungen die Skala der Arbeiterbildnisse, wie sie aus der plastischen Schilderung Brommes und Holeks dem Leser oft äußerst le132
bendig vor Augen treten, nach ihren ökonomischen und ideologischen Entwicklungsstufen zu ordnen. Dabei ist es ein literarisches Phänomen, daß diese Arbeiter, die sich selbst durch Willenskraft und Talent, durch den Entschluß zur politischen Arbeit, durch die Erfüllung überdurchschnittlicher Bildungsbedürfnisse und vor allem durch schöpferische Tätigkeit von der dumpfen Hinnahme des proletarischen Daseins weitgehend befreiten, in ihren Memoiren keine Gelegenheit versäumt haben, Reliquien der Häßlichkeit und des Schmutzes aus dem Leben ihrer Klassengenossen aufzuzeichnen. So schildert Bromme eine Szene zwischen zwei Arbeiterinnen, die wegen eines Arbeiters so brutal aufeinander losschlagen, d a ß ihnen die Kleider in Fetzen herunterfallen. Sie steht an Drastik in nichts hinter einer ähnlichen Szene aus Zolas Totschläger (1877) zurück. Das gleiche gilt für das Porträt einer jungen Fabrikarbeiterin, die sich unzüchtigen Annäherungsversuchen ihres Vorgesetzten widersetzt hatte, zuletzt sogar mit einer Ohrfeige, und dafür eines Tages während der Arbeit aus Rache langsam und systematisch his zur Besinnungslosigkeit unter Alkoholeinfluß gesetzt und dann völlig nackt ausgezogen wurde. Über den Rahmen der in der Schilderung enthaltenen allgemeinen sozialen Problematik der doppelten Ausbeutung, der die Arbeiterinnen ausgesetzt waren, hinausgehend, übt Bromme bei dieser Gelegenheit Selbstkritik. Er berichtet, daß er dieser Szene beigewohnt und, obwohl er innerlich empört war, dennoch nichts zum Schutz dieses Mädchens unternommen, sondern ohne Widerspruch auf Befehl des „Herrn" immer mehr Alkohol geholt habe. Obwohl er darauf hinweist, daß er damals schon Vater von fünf Kindern war und seine Stelle nicht verlieren wollte, kommt dieser Bericht einer Selbstbezichtigung gleich. Wenn man Brommes Erinnerungen als Ganzes überschaut, muß man konstatieren, daß ihn solche Erlebnisse mit Fabrikarbeiterinnen abstießen und er mit ihrer Beschreibung Anklage erhob gegen die das Proletariat ausbeutende Gesellschaftsordnung. In seiner Selbstdarstellung legt er zusätzlich Wert auf den Hinweis, daß er als kaum schulentlassener junger Arbeiter auf ähnliche Erlebnisse wesentlich empfindlicher reagiert habe. So erzählt er ausführlich, ein etwas älteres sympa133
thisches Mädchen habe sich mit ihm, dem Jungen, auf dem Weg zur Arbeit immer nett und interessiert unterhalten; als er dieses Mädchen aber eines Tages zufällig in einer Ecke der Fabrik auf einem Stoß leerer Säcke mit einem „Herrn" im Geschlechtsverkehr angetroffen habe, sei er tief enttäuscht gewesen, und auch das Mädchen habe ihm seitdem nicht mehr in die Augen sehen können und sich nicht mehr mit ihm unterhalten. Er reflektiert an dieser Stelle, daß die weiblichen Arbeitskräfte sich oft zur Erleichterung ihrer Situation der Prostitution nicht entziehen konnten, läßt aber durchblicken, daß er selbst an die Arbeiterin den Anspruch der Standhaftigkeit stelle. Ähnliches finden wir in Holeks Aufzeichnungen. Er ist schon mit zwölf Jahren auf sexuelle Verrohung, auch unter den Arbeitern selbst, gestoßen und hat sich wie Bromme davon distanziert. Seine erste Frau Luis begann er zu lieben, als er erfuhr, daß sie ihren Arbeitsplatz gewechselt hatte, um den Nachstellungen eines Vorgesetzten zu entgehen. Als ihm später, als sie schon mit ihm verheiratet war, die Verdächtigung hinterbracht wird, sie habe ein Verhältnis mit einem Arbeitskollegen, will er sich vor Schmerz das Leben nehmen. Und obwohl sie ihm ihre Unschuld beteuert und er ihr auch glaubt, ist ihm bis zu ihrem Tode der Gedanke unerträglich, daß etwas Wahres an dem Gerücht gewesen sein könnte. Eine ganz klare Haltung, die die Standhaftigkeit der Arbeiterin in den Klassenkampf einbezieht, zeigt Adelheid Popp sowohl in ihrem eigenen Verhalten als auch in Erzählungen über ihre Kolleginnen. Alle drei, Bromme, Holek und Popp, schildern in ihren Memoiren die unter dem Proletariat noch verbreitete Trunksucht in Erlebnisberichten, die z. T. plastisch und lebendig wie in einem Roman gestaltet sind. Bromme und Holek machen sie darüber hinaus zum Gegenstand parteilicher Arbeiterporträts. Sie erklären die Ursachen der Trunksucht aus der miserablen sozialen Lage und aus dem unentwickelten Bewußtsein mancher proletarischer Schichten. Bromme verleiht solchen Trinkerporträts bewußt abschreckende Züge, indem er drastisch die Folgen beschreibt, die solche Lebensformen für die Arbeiter selbst und für ihre Familie nach sich ziehen. Ebenso deut134
lieh tritt diese pädagogische Absicht gegenüber den Klassengenossen bei der Schilderung politisch indifferenter Kollegen zutage, die er auf eine Stufe stellt mit den geistig Bedürfnislosen. Bromme und Holek sind jedoch bei der Schilderung solcher Arbeitertypen sehr gewissenhaft vorgegangen. Sie differenzieren, scheren keineswegs alle über einen Kamm. Bromme erklärt die Rückständigkeit der Landarbeiter gegenüber den Industriearbeitern aus ihrer eintönigen Arbeits- und Lebensweise. Darin trifft er sich mit Rehbein, der allerdings aus eigener Anschauung nicht in erster Linie die Landarbeit selbst, sondern die Abgeschiedenheit von jeder kulturellen und geistigen Anregung, die von den Großbauern und Gutsbesitzern noch bewußt aufrechterhalten wird, für die traurige Sturheit und Rückständigkeit vieler Knechte und Tagelöhner verantwortlich macht. Auch Holek beschönigt die Rückständigkeit der vom Lande kommenden Arbeiter nicht. Er kritisiert sie aber auch nicht. Die Böhmen, Schlesier oder Pommern werden in ihrer Eigenart geschildert, was von der Beobachtungsgabe und dem Erzähltalent des Schreibers Zeugnis ablegt. Diese Freude und Lust an der treffenden Charakteristik verselbständigt sich bei Bromme manchmal so, daß er darüber jede politisch-pädagogische Tendenz hintenanstellt. Besonders humorvoll und äußerst einprägsam gezeichnet sind die Porträts vom langen Brüger, von Äppelmonke und dem Tuitam. 1/l5 Sie stehen für viele ähnliche und bezeugen, welchen Spaß er doch auch im Umgang mit seinen Arbeitskameraden hatte, welche Lebenskraft diese ärmlich lebenden Menschen hatten und welche Originalität. In der Pantoffelfabrik „kam fast täglich ein langer schwächlicher Bursche, der eine scharfe Brille trug und stets zu Scherzen und Dummheiten aufgelegt war" an den Arbeitstisch der Pantoffelnagler und half die Schnapsflaschen der Schuster mit leeren. „Er gab dafür gewöhnlich einige Kunststücke zum Besten, machte Handstände auf den Schemeln, verrenkte die Glieder rückwärts oder balancierte einen Hammer oder eine Mütze oder ein Streichholz auf der Nase und Stirne". Das war der Brüger, ein äußerst geschickter und flinker Arbeiter. Er wickelte meist Mausefallen, die auch in der Fabrik hergestellt wurden. „Der Draht wird dabei mit ganz feinem Wickeldraht 135
an dem Geripp befestigt, und das machte Brüger mit solcher Virtuosität, daß man gar nicht so schnell sehen konnte, wie er es ausführte. Die Finger spielten dann um die Falle herum. Allein er hatte kein Sitzefleisch. Wenn er eine Stunde gearbeitet hatte, dann bummelte er wieder zwei, was ihm leicht möglich war, denn es ging alles im Akkord, und ihm sagte deshalb niemand etwas; 'dann kam er zu uns .und sagte: 'Mich ekeln die Fallen ordentlich an'. Montags kam er überhaupt selten zur Arbeit." Bromme erzählt, daß Brüger vaterlos war, die Mutter keine Macht mehr über den Benigel gehabt habe, „und der stürmte nun in sein Leben hinein." Hemmungslos und übermütig beim Biere und beim Kartenspiel, war er doch immer bei allen beliebt. Er war einer der besten Reckturner der Stadt. Einen Saltomortale lieferte er, wie er im Buche steht, schreibt Bromme begeistert in seinen Erinnerungen und fügt hinzu: „Später hat er eine Verwandte in Dresden geheiratet. Dort soll er jetzt in einer Glashütte arbeiten, vier oder fünf Kinder haben und in recht gedrückten Verhältnissen leben. Auch er hätte es besser haben können." Äppelmonke - er hatte seinen Spitznamen bekommen wegen seiner Redewendung: Meine Kenger (Kinder - U. M.) müssen alle Äppelmonke zu ihr'n Bemm' asse - , ein älterer Arbeiter vom Lande, war stets vielseitig beschäftigt, für alles interessiert, hatte viel erlebt und wußte ebenso viel zu erzählen. Bromme erinnert sich so an ihn, weil er neben ihm im Fabriklager gearbeitet hat und dabei nicht nur mit ihm politisiert, sondern auch über „Wandern und Reisen" gesprochen hat. Das Reisen war eine der unerfüllten Sehnsüchte Brommes. Mehrmals äußert er beklommen, wie sehr er .bedaure, niemals in die Welt, ja nicht einmal über die Grenzen Thüringens hinaus gelangt zu sein. Äppelmonke hatte bei einem feudalen Grundbesitzer und bei Bourgeois Livree getragen, bevor er Industriearbeiter wurde. Aber nicht die charakteristischen Geschichten, die „Monke" aus dem adligen und bürgerlichen Milieu zu berichten weiß, interessieren Bromme, sondern die Mitteilungen über andere Länder, denn „Monke" hatte mehrere Brüder, die sich in der Fremde niedergelassen hatten, und einen Sohn, der als Schneider weit herumgekommen w a r : in deutschen Großstädten, dann in Zürich, Genf, Nizza, Cannes 136
und Paris. Die Gestalt dieses älteren, erfahrenen, vielseitig interessierten und ihm väterlich gesonnenen Arbeiters hat in Brommes Autobiographie noch eine besondere Bedeutung. Brommes Mutter war an der Tuberkulose gestorben, der Vater hatte wieder geheiratet und im persönlichen, nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis noch erschwerten Daseinskampf nur wenig Interesse für seine heranwachsenden Söhne. An die Stelle der Eltern traten bei Moritz Bromme die Arbeitskollegen, sie bildeten das große Kollektiv, in dem er sich weiterentwickelte. Und dem „Monke" fühlte er sich offenbar, besonders in der krisenreichen Zeit, da er sich allzu früh entschließen mußte, eine eigene Familie zu gründen, zu Dank verpflichtet. Bromme kann man nach dem, was er über sich aussagt, nicht als kraftvolle Natur bezeichnen. Er tritt uns aus seinen Memoiren als ein nie besonders gesunder, wenn auch stets strebsamer, fleißiger, bildungshungriger, durch Aneignung von Wissen emporstrebender und als Sozialdemokrat einsatzbereiter Mann entgegen, der auch, was die materiellen Genüsse des Lebens betrifft, Mäßigkeit walten ließ und ein gutes Buch allem anderen verzog. Aber die Intensität, mit der er eine ihm völlig entgegengesetzte Persönlichkeit wie den „Tuitam" beschreibt, den er trotz seines schlimmen Lebenswandels nicht abgelehnt, sondern als Arbeitskollegen behandelt hat, läßt den Gedanken aufkommen, daß er sich manchmal aus seiner eigenen braven Haut herausgesehnt hat, daß er gern die Fesseln seines engen Daseins gesprengt hätte, sei es auch um den Preis der Selbstzerstörung. Das Porträt dieses „Tuitam" - seinen Spitznamen erhielt er, weil er seine Kollegen mehrmals am Tage mit einem zungenzerbrecherischen Wortspiel: „Schingschagn-gali-buri-tonn-tui-tusche-schup-schip-psia-krew" zum Lachen brachte - ist so einprägsam und detailliert, daß es Stoff für einen ganzen Roman liefern könnte. Er war ein Trinker, und die Kinder aus zwei Ehen haben darunter gelitten, bis er eines Tages auf Nimmerwiedersehen verschwand, in der Welt untertauchte. Aber wenn es sich nur um einen haltlosen Trinker handelte, hätte ihm Bromme nicht hundert Zeilen seiner Selbstbiographie gewidmet. Tuitam war ein vor Kraft überschäumender, höchst origineller Mann und so gesund, daß 137
ihm nichts etwas anhaben konnte. Er „rauchte, priemte, schnupfte, liebte und trank, hatte also alle Untugenden. Arbeiten konnte er wie kein zweiter; da kam ihm niemand nach, dabei lieferte er auch noch gute Arbeit", schreibt Bromme. Er schuftete in der Knopffabrik in einem Tempo, daß er stets den höchsten Lohn erhielt. Trotzdem geriet er immer wieder in Schulden, weil er, wenn er Geld hatte, trank und für andere mit bezahlte, lustig und guter Dinge war. Danach arbeitete er wieder wie ein Besessener, um Geld zusammenzubekommen. Aber wie wenig verdiente ein Arbeiter schon trotz größter Kraftanstrengung! Solange seine erste Frau noch lebte, hielt er sich trotzdem noch über Wasser. Nachdem sie an einer unheilbaren Krankheit gestorben war, ging es von Stufe zu Stufe bergab; er zog in die Fremde, tippelte, übernahm Gelegenheitsarbeiten, wurde aber, als er eines Tages wieder vor dem Fabriktor stand, sofort eingestellt, weil er wegen seiner guten Leistungen bekannt war. E r heiratete wieder, machte sich als Schuhmachermeister selbständig, lieferte stets gute Arbeit, kam aber doch auf keinen grünen Zweig und führte sein wüstes Leben weiter, bis er eines Tages spurlos untertauchte. Bromme schreibt moralisierend: „Wenn er sich ordentlich gehalten hätte und nicht getrunken und gewüstet, so wäre er wohl schön durchgekommen und hätte ein ruhiges und zufriedenes Leben führen können." Gorki hat in seinem Schaffen das Porträt authentischer Personen als selbständige literarische Form behandelt. Eine Persönlichkeit wie die des „Tuitam" hätte ihn jedoch vermutlich über die Porträtskizze hinaus zu künstlerischer Gestaltung angeregt. Dieser Mann, bei dem Kraft nie in Brutalität, Fleiß und Können nie in Raffgier und Gewinnsucht zum Schaden anderer umschlug, der unter kapitalistischen Verhältnissen kein lohnendes Ziel für eine harmonische Entfaltung von Kraft und Können sah und deshalb wie ein ungestümer Strom immer wieder aus seiner Bahn geworfen wurde, bis er sich in der Weite der Welt verlor, hätte genug Substanz für eine Romanfigur geboten. Bromme hat eine große Anzahl im wesentlichen unproblematischer Porträtskizzen von sozialdemokratischen oder gewerkschaftlich organisierten Arbeitern in seinen Erinnerungen 138
entworfen. Die Problematik lag für ihn in der ungerechten Behandlung von Sozialdemokraten durch die herrschende Klasse, nicht in ihnen selbst, da er jegliche Tätigkeit für Partei und Gewerkschaft von vornherein für positiv hielt. Holek hatte es viel schwerer, zur Arbeiterbewegung zu stoßen, und porträtierte deshalb, gewollt oder nicht gewollt, im Unterschied zu Bromme gute und schlechte Sozialdemokraten gleichermaßen. Bei Bromme kommt im Zusammenhang mit der Parteiarbeit noch ein anderes Problem hinzu. Wegen seiner schwächlichen Konstitution und seines immer wiederkehrenden Lungenleidens hätte er gern die schwere körperliche Arbeit aufgegeben. Bei seiner Freude am Schreiben und bei seiner hingebungsvollen Einstellung zur SPD wäre er sehr gern Redakteur oder hauptamtlicher Parteifunktionär geworden. Dieser Wunsch ging ihm erst nach Erscheinen seiner Memoiren in Erfüllung. Vermutlich haben sie entscheidend dazu beigetragen, daß die Parteileitung sich um ihn kümmerte. Bromme besuchte 1906 die Parteihochschule in Berlin und war danach als Redakteur in Leipzig und Altenburg tätig. Ab 1909 war er hauptamtlicher Parteisekretär von Lübeck, wo er 1919 zum sozialdemokratischen Senator gewählt wurde. Er blieb bis zu seinem Tode 1926 Sozialdemokrat. Den ersten Wunsch in dieser Richtung äußerte er in seiner Autobiographie, als er seinen Genossen Koblischke beschreibt, der Anfang der 90er Jahre in der Geraer Maschinenfabrik eine Zeitlang neben ihm arbeitete. Interessant ist der literarische „Aufhänger", mit dem er die Erzählung über Koblischke einleitet. Bromme hatte am Vortage zufällig im Vorübergehen auf dem Bahnhof seinen alten Schulfreund Dietzmann, über den wir schon im Zusammenhang mit den Kindheitserinnerungen berichteten, getroffen. Dieser hatte ihm mitgeteilt, daß er die letzten Sommerferien in Norderney war und die künftigen in den Alpen zu verbringen gedenke. Im Zusammenhang damit bekennt Bromme: „Ich habe am nächsten Tage hinter meiner Maschine geweint, daß ich diese Naturschönheiten niemals genießen, niemals das Brausen des Meeres vernehmen werde." 146 Sein „Nebenkollege" habe ihn aufzurichten versucht, „denn wir hielten zusammen und vertrieben die Zeit nach Möglichkeit mit wis139
senschaftlichen Disputen". 1 4 7 Beide hatten sich schon mehrmals darüber unterhalten, daß die SPD-Führer in den Großstädten und die Verleger von SPD-Zeitschriften es bestimmt leichter hätten als sie und daß sie auch das Zeug zu einer gehobeneren Tätigkeit in sich fühlten. Um dies an seinem Freund Koblischke zu beweisen, rühmt Bromme dessen großes Wissen, das er sich autodidaktisch oder in Arbeiterbildungsvereinen angeeignet habe, wo er z. B . einen Stenographiekursus absolviert habe. Über Spezialkenntnisse verfügte er auf elektrotechnischem Gebiet, er habe sich zu Hause nicht nur eine elektrische Klingel, sondern auch einen elektrischen Wecker konstruiert und könne mit einem einige Häuser weiter wohnenden Bekannten telefonieren. „Im übrigen war er gerade so arm wie ich", fügt Bromme hinzu und erzählt noch, wie schlecht es ihm später ergangen sei, als er sein Recht in der Fabrik durchsetzen wollte. Nach einer zwei Tage dauernden Inventur bekamen die Arbeiter der Maschinenfabrik am Lohntag für diese beiden Tage kein Geld. Als sich Koblischke unter Berufung auf § 616 des Bürgerlichen Gesetzbuches dagegen wehrte, wurde er fristlos entlassen. Danach hat er, vermutlich wegen eines Vermerks in seinen Papieren, schwer neue Arbeit bekommen und ist schließlich „über den großen Teich" nach Chicago gegangen und dort verschollen. Bromme berichtet mehrmals über ähnliche Beispiele. Sowurde auch der Schlosser Elling, der sehr geistreich und witzig war und u. a. auch «in besonders guter Schiller-Kenner, fristlos entlassen, als er auf einer Werkstattversammlung als Wortführer gegen Lohnreduktionen aufgetreten war. 1 4 8 Fritz Rodeck, der Bevollmächtigte des Metallarbeiterverbandes, von herkulischem Körperbau und strotzender Gesundheit, war ein zugkräftiger Redner. Obwohl ein vorzüglicher Arbeiter er verdiente im Akkord bis zu 40 Mark in der Woche - war er trotzdem „mißliebig". Als er am ersten Mai erst mittags in der Fabrik erschien, wurde er sofort entlassen und bekam in ganz Gera keine Arbeit mehr. Bromme hat diesen Genossen offensichtlich bewundert und seine weitere Entwicklung verfolgt. Rodeck ging zunächst zu Zeiß nach Jena - die Zeißwerke waren damals bei allen Arbeitern wegen ihrer genossenschaftlichen Unternehmungen und sozialen Fürsorge, obwohl' 140
sie dadurch vom Klassenkampf ablenkten, auch unter sozialdemokratischen Arbeitern hoch angesehen; nicht nur Bromme, auch Holek schwärmt von ihnen. Rodek wurde 1903 „zum Geschäftsführer der Kölner Filiale des Metallarbeiterverbandes gewählt, mit 1500 Mark angestellt, erhielt für jede Versammlung im Weichbild der Stadt Köln 3 Mark und für jede auswärts 8 Mark. E r ist inzwischen der zugkräftigste Agitator des Rheinlandes geworden." 149 Aus diesen genauen Zahlenangaben spricht der Statistiker Bromme, der sich in seinen Memoiren keine Gelegenheit zu ähnlichen Angaben hat entgehen lassen. Ob insgeheim auch der subjektive Faktor der bisher eigenen Erfolglosigkeit eine Rolle gespielt hat, geht aus den Aufzeichnungen nicht hervor. Nur so viel steht fest, daß ihm die Genossen, die im engeren Sinne auch zugleich seine Leidensgenossen waren, sehr nahe standen, daß sie einen größeren Raum in seiner immer wieder auch der Selbstverständigung dienenden Autobiographie einnehmen. Er erzählt von sich selbst, daß er als junger Arbeiter in der Holzverar,beitungsindustrie gemaßregelt und sogar vor Gericht geladen wurde, obwohl die „soziale" Gesetzgebung des Hohenzollernreiches auf seiner Seite stand. Es geht hier wie in allen früheren Arbeiterautobiographien auch um die Auflehnung gegen mangelhafte Arbeitsschutzverhältnisse. Bromme hatte die staatlichen Kontrollorgane auf das Fehlen der notwendigen und erforderlichen Belüftungsanlagen in der Holzverarbeitungsindustrie hingewiesen. Es versetzte ihm dann einen schweren Schock, als er sah, wie sehr er der Willkür des Unternehmers ausgesetzt war, der ihn wegen seiner berechtigten Kritik fristlos entlassen konnte. Bei der Direktion der Geraer Maschinenfabrik genoß er wegen dieser Vorgeschichte den Ruf eines „roten Wühlers" und wurde bei passender Gelegenheit sofort wieder entlassen. Er berichtet, daß er diesen „Hinausschmiß" erst in letzter Minute rückgängig machen konnte, indem er dem Direktor erklärte, daß er an der beanstandeten Werkstättenversammlung nicht teilgenommen habe und außerdem dem Metallarbeiterverband gar nicht angehöre, sondern dem Holzarbeiterverband. Als er die Auseinandersetzung mit dem Fabrikdirektor in seine Memoiren niederschrieb, hat er noch einmal überprüft, ob er damals richtig 141
gehandelt hat, als er quasi um Zurückziehung der Entlassung bat. Er notiert: „So wie ich es getan, war ich es einfach meiner Familie schuldig, um meine Maßregelung mit allen Kräften rückgängig zu machen. Viele Kollegen freuten sich auch, daß ich wiederkam. Nur der Meister und zwei andere ärgerten sich schwer. Ich aber war glücklich. Meiner Frau habe ich gar nichts davon erzählt, um sie nicht zu beunruhigen." 1 5 0 Bromme hatte als Familienvater verständlicherweise große Angst davor, von einer Arbeitsstelle zur andern getrieben und zwischendurch vielleicht sogar noch arbeitslos zu werden, obwohl dies das Schicksal vieler, ja der meisten Arbeiter war. E r fühlte sich deshalb zu dem von ihm aus vielerlei Gründen bewunderten Arbeitskollegen Ernst Schuchardt besonders hingezogen, der sich selbst „Ahasver" nannte wegen seines ewigen Umherirrens. Diesem detailliertesten und eindrucksvollsten Arbeiterporträt in der Lebenisgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters wollen auch wir vor etwa noch vierzig anderen unsere besondere Aufmerksamkeit schenken. Daß sich Bromme bei seinen Aufzeichnungen so intensiv mit dem Arbeiter Ernst Schuchardt beschäftigte, hat subjektive und objektive Ursachen. E r schuf dieses für seine Zeit beispielhafte Arbeiterporträt für den proletarischen und - wie aus einigen Bemerkungen ganz deutlich hervorgeht - für den bürgerlichen Leser. E r selbst nahm so besonderen Anteil an ihm, weil Schuchardt, von seinen Geraer Arbeitskollegen Kollex genannt, für einen Arbeiter überdurchschnittlich gebildet und weil er Junggeselle war. D a s proletarische Eheproblem wird in diesen Fabrikarbeitererinnerungen häufig behandelt. Wie an anderer Stelle schon herausgearbeitet wurde, legt Bromme Wert darauf mitzuteilen, daß er Frau und Kinder liebt; doch findet man auch viele Stellen, in denen er offen ausspricht, daß die Emanzipation für den Arbeiter leichter ist, wenn er nicht auf eine Familie Rücksicht zu nehmen braucht und nicht bei jedem Buch, das er sich anschafft, K ä m p f e mit seiner Frau ausfechten muß, die das Geld notwendiger für die materiellen Bedürfnisse der Familie benötigte. D a s Eheproblem und das der Weiterbildung hängen bei Bromme eng zusammen. Er fügt deshalb bei den Berichten
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über Kollex einen Hinweis auf den Holzschuhmacher Grau ein, der mit 36 Jahren noch Junggeselle war und alle seine Ersparnisse in Büchern anlegte: „Er besitzt neben einem großen Lexikon sämtliche Klassiker, sodann Weltall und Menschheit, zahlreiche Geschichtswerke, fast die gesamte Parteiliteratur, die internationale Bibliothek von Dietz - Stuttgart, Gedichtsammlungen, viel philosophische, atheistische und nationalökonomische Schriften und neben guten Romanen eine enorme Menge Reisewerke!" 151 Dieses Problem spielt in der dramatischen und epischen Literatur nach der Jahrhundertwende besonders bei einem der profiliertesten frühen sozialistischen Schriftsteller, bei Ernst Preczang, in seinem vieraktigen Berliner Drama Im Hinterhaus (1903) und in seiner Novelle Der Ausweg (1913) eine entscheidende Rolle: daß sich Arbeiterfunktionäre für Ehelosigkeit entschieden, weil sie in entscheidenden Situationen des Klassenkampfes unabhängig, nur sich selbst verantwortlich, handeln wollten. Es ist dies zweifellos eine ernstzunehmende Lebensfrage, aber keine Lösung, im Höchstfall eine individuelle, aber keine allgemeingültige. Der Befreiungskampf des Proletariats erhält gerade durch die neuen zwischenmenschlichen Beziehungen, die der Klassenkampf auch innerhalb einer Familie schafft, seine das Menschenbild bereichernde Note. Bebel hat in seiner Lebensbeschreibung ausgesprochen, daß seine Arbeitsleistung undenkbar sei ohne die kameradschaftliche Unterstützung seiner Frau. In der frühen sozialistischen Literatur gibt es deshalb sehr viele Beispiele, in denen sich die Frau an der Seite des Mannes zur Klassenkämpferin entwickelt und sich dadurch wahrhaft emanzipiert. Bromme hat schließlich auch erreicht, daß sich seine Frau gewerkschaftlich organisierte. Die Gestalt des Ahasver-Kollex ist deshalb ein einprägsames authentisches Arbeiterporträt und in mehrfacher Hinsicht eine außerordentlich interessante Randfigur, doch im Ensemble der Arbeitergestalten der frühen Memoiren kein Beispiel eines typischen Klassenkämpfers. Dieser Kollex - als Vierzigjähriger schon ein gesundheitlich völlig ruinierter Mann - war ein erbitterter Feind des Kapitalismus. Davon zeugt ein Traum, den er Bromme, mit dem er einige Zeit in Gera zusammengearbeitet hat, in einem Brief 143
aus Leipzig mitteilt, und den dieser neben mehreren anderen in seine Autobiographie aufgenommen hat: „Also ich träumte, Schlag 12 Uhr Nachts wäre ich in den Palast eines bekannten Geraer Multimillionärs gekommen. Mit einem Schlage war dieser aber in den Vorhof der Hölle verwandelt; es war alles glutrot und drückend heiß; auf dem Throne Belzebubs saß ein feister Teufel mit krummer Nase, ich glaube, ich war in die semitische Hölle geraten. Fünf Teufel brachten diesem Höllenfürst Bericht über den von Arbeiterhänden zusammengeschundenen Mammon. E r aber schimpfte über zu wenig Dividende von seinen Schwitzbuden: Färbereien, Webereien, Werkzeug- und Maschinenfabriken. Mit einem Höllenfluch entließ er seine Knechte; wenn nächstes Jahr nicht mehr aus den Arbeitsbienen herausgepreßt würde, würde er ihnen den Laufpaß geben und sich miserabelere Teufel dazu aussuchen. Die Szene änderte sich dann. Ich machte den stillen Beobachter in einer Werkzeugfabrik. Es herrschte eine Höllentemperatur. Man schwitzte vom Zuschauen. Überall war eine fieberhafte Tätigkeit. Arbeiter bedienten 3 bis 4 Maschinen und trotzdem trieb der Obermeister mehr an. Der technische Direktor erschien und schimpfte den Meister: die Leute müssen mehr arbeiten, wenn die Geldgeber befriedigt werden sollen. Der Meister antwortete: Gut, wir ziehen das letzte ab, die Leute müssen 5 Bänke bedienen. Es wurde gemacht. Der Versuch mißlang aber, die Arbeiter konnten nicht mehr. Die Oberteufel wurden zur Hölle geholt. Ich erwachte. Mir war ganz höllisch zumute. Ich war in Schweiß gebadet." 1 5 2 * Hier ist das gleiche, allegorisch zugespitzt und mit einem anderen Schluß, geschildert, was Bromme schon in seiner Dokumentation über die Arbeitsverhältnisse in der Geraer Maschinenfabrik berichtet hat. Kollex wünscht sich, daß die Arbeiter eines Tages die .bei gleich miserablen Bedingungen immer höher geschraubten Forderungen der Kapitalisten nicht mehr erfüllen. Er selbst hat als Einzelperson oftmals in seinem Leben so gehandelt. E r ist ein auf der Suche nach Arbeit ewig umherirrender „Ahasver", also ein der legendären Figur entsprechend Verfluchter, der nach Erlösung strebt, nicht nur, weil ihm das Recht auf Arbeit immer wieder verweigert 144
wurde, sondern weil er auch oft genug von sich aus ein Arbeitsverhältnis löste, das ihm länger zu ertragen als menschenunwürdig erschien. Entweder war der Lohn für die kräfteschindende Arbeit zu gering, oder es gab keine Arbeitsschutzbestimmungen, so daß der Proletarier in seiner Fron auch noch Leib und Leben riskierte. Oder aber er konnte es nicht mehr mit ansehen, daß die Arbeiter in einem bestimmten Betrieb die ¡unwürdigsten Bedingungen ertrugen und, um sie ertragen zu können, sich selbst entmenschten. Dieser gelernte Schuhmacher aus Gotha ist ein hochinteressanter T y p : intelligent, sensibel, musikalisch, sehr belesen und vielseitig autodidaktisch gebildet, dabei ein überall flinker Arbeiter, auch Mitglied von Partei und Gewerkschaft, der Vorträge für S P D Vereine hält und Artikel für die SPD-Presse schreibt. Aber er kann sein proletarisches Dasein mit seinem durch seine geistigen Bedürfnisse noch gesteigerten Selbstbewußtsein nicht in Einklang bringen. Auch das z. T . aus N o t und unverschuldeter Arbeitslosigkeit, z. T . aus eigenem Entschluß geborene Herumvagabundieren, das zeitweilige Saufen und mit dem Landstraßenleben verbundene Betteln sind Proteste gegen die bestehenden Verhältnisse. E s nützt ihm aber letztlich wenig, führt ins Gefängnis und Arbeitshaus und vergrößert dadurch nur noch die Demütigung, der er am Arbeitsplatz entgehen wollte. Die einzigen Mittel, die ihn wenigstens vorübergehend aus dieser tiefsten Verelendung erheben, sind geistige Beschäftigung, Lesen und lange Briefe schreiben. A b und an solidarisieren sich Arbeitskameraden mit ihm, veranstalten Geldsammlungen und lassen ihn einen Vortrag im Parteiverein oder Arbeiterbildungsverein halten. Aber er regt niemals von sich aus eine politische Solidarisierung an, sondern begnügt sich mit seinen individuellen antikapitalistischen Protesten. So verkörpert er eine unglückselige Mischung aus klassenbewußtem Arbeiter und individualistischem Antikapitalisten. Bromme hat Schuchardt kennengelernt, als er eines Tages als „Bohrmichel" in der Geraer Maschinenfabrik eingestellt wurde, und er schildert, dieser habe ein lebhaftes Gebärdenspiel, aber einen pessimistischen Gesichtsaus druck gehabt und mit seiner vornübergeneigten Körperhaltung, seinem schlechten Gesundheitszustand und seiner starken Nervosität wie
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ein alter Mann gewirkt, obwohl er kaum 40 Jahre alt war. „Im übrigen bewegte er sich flink und arbeitete den ganzen Tag ohne sich umzusehen. - Am Freitag darauf, als er mich für Fuchs die Zeitschriften austeilen sah, hielt er mich für den Kolporteur und bestellte bei mir den Wahren ]akob für die eine Woche, für die andere den Süddeutschen Postillon und extra die Reclamausgabe von Goethes Faust. Ich staunte darüber."153 In der Mittagspause lag Bromme im Grase des Bahndamms und las in den Meyerausgaben von Heines Harzreise und Florentinische Nächte, als „der Alte angewackelt kam"154 und ein Gespräch über Heine begann, den er „durch und durch kannte", was er dadurch bewies, daß er „sofort das Sklavenschiff, die drei Grenadiere, das Hohelied und einige Stellen aus dem Wintermärchen" zitierte.155 Da Heine der Lieblingsautor Brommes war, er außerdem erfuhr, daß Kollex seit sechs Jahren politisch organisert war, stand seiner Zuneigung gegenüber dem Älteren und der Freundschaft zwischen beiden bald nichts mehr im Wege. Sehr imponiert hat dem immer wieder von Fernweh Gepackten, daß sein neuer Freund sechs Jahre als Tramp in Nordamerika bis nach St. Louis hinaufgelangt war. 156 * Ein unvergleichlicher Tag, bekennt Bromme, sei ein Pfingstausflug mit Kollex und Freund Grau gewesen. Nach einem dreistündigen Marsch von Ronneburg in das Elstertal bei Wünschendorf seien sie auf die Teufelskanzel gestiegen, und dort oben habe Kollex lange Stellen aus Goethes Faust deklamiert: „Die tiefsinnigen Stellen wie z. B. ,Ich bin ein Geist von jener Kraft, die stets das Böse will und doch das Gute schafft', betonte er mit besonderer Emphase."157 Am Ende des Sommers schlug dann die Trennungsstunde. Der Obermeister wollte Kollex an der Rundschleifmaschine einsetzen, dieser weigerte sich mit der Begründung, daß ihm diese Arbeit zu ungesund sei, er leide schon an Neurasthenie und wolle sich nicht noch die Schwindsucht dazu holen. Als er sich einem nochmaligen ausdrücklichen Befehl des Meisters dennoch widersetzte, hieß es: „Also wenn Sie die Arbeit nicht ausführen wollen, so sind Sie entlassen." Schuchardts kurze Erwiderung war: „Na, dann is gut, dann gehen wir." 158 Beim Abschied - und das ist für uns heute interessant - legt er sei146
nem Genossen Bromme nahe, doch unbedingt Zolas Germi' nal und Tolstois Auferstehung zu lesen. Zählt der Biograph in seinem Bericht sonst manchmal die unterschiedlichsten Lesefrüchte auf, so scheint uns der Hinweis des Scheidenden gerade auf diese Titel nicht ganz zufällig zu sein. In Germinal geht Zola über die oben im Totschläger zitierten Elendsschilderungen hinaus und zeigt Klassenschlachten des Proletariats. Und an Auferstehung mag Kollex im Zusammenhang mit seinem Ahasvermotiv die Erlösung aus tiefster Erniedrigung und der emsthafte Versuch eines Neuanfangs gefesselt haben. Bromme hat „einige seiner zahlreichen Briefe, im Auszug" in seiner Autobiographie aufgenommen mit folgender Begründung: „Sie zeigen, daß auf der Landstraße mancher denkende und tief empfindende Vagabund herumläuft, der, wenn er in der Wahl seiner Eltern vorsichtiger gewesen wäre, wohl eine glänzende Stellung im Leben eingenommen hätte. Ein jeder wird, wenn er seinen Klassenstandpunkt vergißt, mir zugeben, daß in diesen Briefen Stellen vorkommen, die eine wirkliche und starke Kraft und Eigenart haben."159 Das sind Worte, an die herrschende Klasse gerichtet, die zweifellos die sozialen Gegensätze anklagen, aber nicht ausdrücklich in Betracht ziehen, daß nicht die soziale Herkunft, sondern die kapitalistische Ordnung die Menschen in Besitzende und Besitzlose, Privilegierte und Rechtlose aufteilt. Doch ungewollt widerlegt er die einseitige sozialdemokratische These: "Wissen ist Macht. Gerade am Beispiel seines Freundes beweist er, daß ein Prolet, der sich Wissen aneignet und Urteilskraft hat, doch immer ein Unterdrückter bleibt, solange die anderen die Macht und das Recht zur Schikane haben. Kollex hat seine Briefe an den Sozialdemokraten Bromme und an den Bildungshungrigen gerichtet. Dem letzteren gelten Bemerkungen über idie Bayreuther Festspiele, über Zola anläßlich dessen Todes, über Gerhart Hauptmann und Gorki sowie über die klassischen deutschen „Geistesriesen Schiller, Goethe, Börne, Grabbe, Lessing, Lenau und den unvergeßlichen Heinrich Heine".160 Eindrucksvoller sind noch die politischen Stellungnahmen: zur Arbeitslosigkeit in Leipzig („Das widerliche Gespenst der Existenzlosigkeit spukt leider auch hier allzusehr. Scharenweise durchströmen Arbeits10*
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lose die Stadt . ,.") 1 6 1 , z u r Klassenjustiz („Wer aber trägt die Schuld? Die Arbeiter selbst! Die 10 Prozent Organisierte können nicht gegen solche Klassenurteile Front machen. Sie können lediglich kritisieren") 162 , zum schweren Kampf der Tagelöhner gegen die thüringischen Bauern („daß . . . sogar Handwerksburschen im Sommer bei 17stündiger Arbeitszeit mit einem Tagelohn von 0,80 bis 1 Mark eingestellt würden, um die 1,20 bis 1,50 Mark für hiesige Arbeiter zu sparen.")- 163 In den letzten Briefen an Bromme bricht immer mehr die Verzweiflung durch. Erschütternd sind die Zeilen über Ostertage, die der Arbeitslose bettelnd auf der Landstraße verbringen muß: „So etwas nennt man göttliche Weltordnung, die von ewig satten Menschen gutgeheißen wird! Die Gedanken eines Arbeitslosen gleichen ganz genau denen des Gefängnisinsassen; dieser mag noch so still auf seiner Pritsche liegen, die Gesichtszüge mögen noch so glatt sein, hinter seiner Stirn arbeiten die Gedanken, die Gedanken der Sehnsucht, frei - nur frei - und nochmals frei zu sein. Und genaai so ich auf der Landstraße. Ich muß betteln gehen, muß betteln wie ein Blumenmädchen: Gebt mir doch Existenzberechtigung, gebt mir ein Stückchen Brot, gebt mir die Mittel, um die Nacht nicht unter freiem Himmel zubringen zu müssen. Ist dies keine Prostitution? Und da sagen die Moralphilosophen, es gebe keine Verelendungstheorie! Nun, wenn es keine Theorie gibt, so ist es eben eine Verelendungspraxis. Wir arbeitslosen denkenden Proletarier können das am besten beurteilen. Doch was ist das? Jetzt unterbricht Glockengeläute meine revoltierenden Sinne. Ach richtig, heute ist ja Ostern, das Fest der Auferstehung Christi, des angenommenen Zimmermannssohnes. Wir täten besser, bald den Völkerfrühling zu feiern. Wir könnten alles genießen, alles teilen in Freude und Schmerz, wenn alles einig wäre. 'O Volk wag es nur einen Tag, nur einen, frei zu sein', sagt Max Kegel . . . O Volk wage, wage es! Dann wird die allgemeine Menschenliebe herrschen und jeder sich als Mensch fühlen." 164 * Ganz abgesehen davon, daß hier zum erstenmal in einer frühen Arbeiterautobiographie ein zeitgenössischer proletarischer Lyriker genannt wind, erschüttert an diesem Brief am 148
meisten die Hilflosigkeit dessen, der die zu geringe Aktivität seiner Klassengenossen kritisiert. Das gilt auch für seinen letzten Verzweiflungsschrei: „Ich bin lebensmüde . . . Anstatt daß ich meiner Mutter einen sorgenfreien Lebensabend bereite, mache ich den Hampelmann bei geldgierigen Kapitalisten. Das ist eine Tantalusqual." 165 Es ist eine Tatsache, daß auch nach Legalisierung ihrer Partei Sozialdemokraten noch überall der Willkür der Unternehmer und Behörden ausgesetzt waren, obwohl dies in keinem Verhältnis mehr zu dem stand, was während des Sozialistengesetzes geschah. In Österreich existierte kein Sozialistengesetz von dem Ausmaße des Bismarckschen Terrorgesetzes, zumal es noch keine parlamentarisch zugelassene SPÖ gab, aber die Sozialdemokraten wurden trotzdem verfolgt und verfemt, wenn man ihrer habhaft wurde. Holek weist in seinen Erinnerungen auf einen deutschen Genossen Hanke hin, der wegen seiner sozialistischen Gesinnung immer wieder arbeitslos und so umhergehetzt wurde, 'daß er mit 35 Jahren so elend und niedergeschlagen war, daß der Weg ins Ausland für ihn die letzte Hoffnung war. 166 Holek nennt in seinem Kapitel Befreiung, 'das über seinen eigenen Weg zur Arbeiterbewegung berichtet, mehrere ähnliche Beispiele. Aber ein ausführliches Porträt entwirft er nur von dem Maurer Wenzel Novotny, dem er seine eigene frühe politische Entwicklung verdankt. Nach schlechten Erfahrungen mit dem Schuster Honsa, der ihm zwar unter großen Vorsichtsmaßregeln ein Exemplar des Duch Casu (Geist der Zeit), der einzigen sozialistischen Zeitung, die es in tschechischer Sprache in Österreich gab und die den Untertitel Organ für die Interessen des vierten Standes trug, verschaffte, aber ihm aus Ängstlichkeit und Unwissenheit nicht weiter behilflich sein konnte, war er auf Novotny gestoßen. „Er bekannte sich schon mehrere Jahre zum Sozialismus und kannte gut seine Grundsätze und dessen Endziel. Er war Abonnent der allerersten Arbeiterblätter in Österreich gewesen und besaß sie, hübsch eingebunden, noch. Auch war er Mitbegründer von mehreren Arbeiterbildungsvereinen, die behördlich wieder aufgelöst worden waren. Seine Bibliothek zeigte, daß er ein sehr strebsamer Mann war." 167 Novotny war ruhig, freundlich, auch humorvoll mit offenbar ausgeprägt 149
pädagogischer Begabung. E r brachte dem jungen Holek schonend bei, daß er einen Fehler begangen habe, als Prolet für eine jungtschechische Zeitung zu schreiben, die die Arbeiter durch gelegentliche Aufnahme ihrer Artikel nur „als Schlepper für ihre Parteizwecke" benutzte. Scharf kritisierte er die alt- und die jungtschechische Partei und führte aus, daß die Arbeiterklasse international gesinnt sein müsse, „weil auch das moderne Kapital keine Grenzen kenne, die Arbeiter aller Nationen in den industriellen Bezirken zusammenziehe und sie dort ohne Rücksicht auf ihre Sprache oder Religion ausbeute." Ausführlich klärte er Holek über die Ziele des internationalen Kapitals auf: „Nach ungefähr zwei Stunden beendete er seinen Vortrag, ohne daß er sich von der alten Truhe, auf der er saß, gerührt hätte. Und ich saß während der ganzen Zeit auf dem altmodischen Stuhle ihm gegenüber und horchte andächtig mit größter Spannung auf jedes Wort, das aus seinem Munde herauskam, und ich zweifelte nicht an ihrer reinen Wahrheit. Ich war glückselig, fühlte mich höchst zufrieden darüber, daß ich endlich so einen Mann gefunden habe, der mir mit solchem Verständnis alles so klarlegen konnte. So etwas hatte ich in meinem Leben nie gehört. Der Mann schien mir unübertrefflich! . . . Mein Gesicht glühte vor Seligkeit und die Augen strahlten vor Freude. Auch Novotnys Blicke, und das Lächeln, das von Zeit zu Zeit über seine Lippen flog, verriet, daß er sich mitfreute. Es machte ihm gewiß Freude, daß er wieder einen neuen Anhänger für die sozialistische Idee geworben hatte." 1 6 8 Diesem Gespräch waren der Duxer Bergarbeiterstreik und dann der Brünner Weberstreik von 1885 vorausgegangen, die die Sozialdemokraten aktivierten und entsprechende Verstärkung der Polizeischikanen zur Folge hatten. Obwohl die wenige sozialistische bzw. sozialdemokratische Literatur, die gedruckt wurde, nicht verboten war, wurde ihr Besitz als staatsgefährdend gewertet. Höchste Vorsicht war also geboten für die, die ungefährdet und erfolgreich politisch weiterarbeiten wollten. In dieser Situation kann man eine Gestalt wie Wenzel Novotny, so wie er uns aus der Autobiographie Holeks entgegentritt, als Leitbild für die Arbeiterbewegung be150
zeichnen. Das Kapitel, das über die illegale Arbeit der sozialistischen Partei in Aussig berichtet, hat novellistischen Charakter. In den Mittelpunkt rückt der Icherzähler immer wieder Novotny, der sich in der Gruppe von neun Männern als der Erfahrenste und am klarsten Sehende erweist. Erst nach längerer Zeit, nachdem er sich von seiner Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit überzeugt hatte, nahm Novotny den 22jährigen Holek in die Gruppe auf, was damit begann, daß er ihn einweihte, auf welche Art die der Polizei nicht genehmen Bücher und Schriften sicher verborgen wurden. Zuerst trafen sie sich in einem Gasthause, später im Walde. Im Gasthaus hatten auch Arbeiter, die den nationalistischen Jungtschechen angehörten, ihre Zusammenkünfte. D a gab es oft ideologische Auseinandersetzungen zwischen den Nationalisten und den jungen, noch lernenden Internationalisten, in die Novotny dann entwirrend eingriff, „denn er war ein guter Debattierer und besaß mehr Wissen wie wir alle, und konnte jedesmal die Kerle ordentlich heimleuchten. Überhaupt war der Novotny von allen in jeder Beziehung der reifste, der seine Prinzipien auf das strengste und konsequenteste wahrte. Er war zwar sehr vorsichtig, zeigte aber deshalb nie Furcht, agitierte, wie und wo es nur ging, mündlich und mit Schriften, um neue Anhänger zu gewinnen, vertrat und verteidigte überall offen und ehrlich seine Sache, wenn ihr irgend jemand irgendwo zu nahe trat oder sie herabzusetzen suchte. D a gab's dann keine Rücksichten; wer es auch sein mochte, ihm wurde der Standpunkt gründlich, mutig und klar dargelegt. Ebenso forderte er dieselbe Konsequenz auch von jedem andern, der als wahrer Sozialdemokrat gelten wollte. Wer sich zweideutig zeigte, anders dachte als handelte, der taugte nach seiner Auffassung nicht zum Sozialisten. Das widersprach der neuen Idee, die nur unverfälschte Gesinnung verlangte." 169 Hier sind Situationen geschildert, die für jene Phase der Arbeiterbewegung typisch sind. Lernen, lernen und nochmals lernen war damals besonders notwendig. Holek erzählt, daß er die Schriften, die er von Novotny bekam, oft mehrmals durcharbeiten mußte, ehe er sie begriff. Die zweite Schwierigkeit war, die Theorie in die Praxis umzusetzen. Das war viel151
leicht sogar noch schwerer. „Die meisten machten das Leben eben so mit, wie es sich traf. Sie ließen ihre Grundsätze hübsch zu Hause und hielten ihren Schnabel auch dann, wenn ihre eigene Sache beschimpft wurde." 170 „Und eben das empörte den alten Novotny aufs höchlichste. Er ließ oft die Zügel seiner Zunge schießen und geißelte solches Vorgehen unbarmherzig."171 Unter den neun Genossen standen zwei dem Novotny wissensmäßdg recht nahe, einer wieder war ein besonders geschickter Agitator. Aber aus aller Notlage geboren, war verständlicherweise ein Thema ganz besonders interessant; wie wird es wohl im sozialistischen Zukunftsstaat aussehen? Wir wissen aus der Geschichte der Arbeiterbewegung und auch aus literarischen Zeugnissen wie z. B. Bredels Die Väter, daß Spekulationen über den Zukunftsstaat zum proletarischen Menschenbild der damaligen Zeit gehört haben. Holeks Memoiren sind ein-authentisches Zeugnis dafür. Da habe ein neu gebackener Genosse Paletschek sich geradezu leidenschaftlich über Fragen der zukünftigen Ernährung ereifert: „Wenn dann jeder wählen kann, was seinem Appetit entspricht, wird selbstverständlich niemand Kartoffeln essen wollen. Und der Champagnerwein, den heute nur die Reichen trinken, reicht dann nioht aus." 172 Holek fügt hinzu, daß solche Gespräche aber nie in Gegenwart von Novotny aufkommen konnten: „Solange die Abende noch warm waren, kamen wir auch oft, wenn es schön war, hinter der Elbstraße am Rande des Waldes zusammen und debattierten dort. Die meiste Zeit wurde mit den Auseinandersetzungen über den Zukunftsstaat vergeudet. In dieser Beziehung hatte ein jeder von uns seine besonderen Ansichten und wollte sie nun auch behaupten. Ach, das war manchmal eine erbitterte Redeschlacht. Wenn freilich Novotny anwesend war, kam es selten zu solchen Debatten, da er uns jedesmal schnell einen Strich durchmachte. 'Kümmert euch lieber um die Gegenwart! Wie der Zukunftsstaat sein wird, kann erst in der Zukunft besprochen werden!' Mit diesen und ähnlichen Worten fiel er immer in unser Lieblingsthema und verdarb uns die Freude." 173 So verständlich die Bemühungen des sozialistischen Agitators waren, die von ihm angesprochenen Arbeiter für die auf 152
den Nägeln brennenden Aufgaben des Tages zu gewinnen, so sehr rühren uns heute aber auch die scheinbar naiven Zukunftsvorstellungen des Genossen Paletschek an. Die Träume von einer Welt, in der es einmal nicht nur für die Reichen, sondern Champagnerwein für alle Schaffenden geben werde, sind nicht bloß im wörtlichen Sinn zu verstehen, sie haben Gleichnisgehalt. Sie erinnern an Heinrich Heines Kaput I aus Deutschland. Ein Winter mär eben, in dem er das Himmelreich auf Erden besingt, wo nicht mehr der faule Bauch verschlemmt, was fleißige Hände erwarben, denn: „Es wächst hienieden Brot genug Für alle Menschenkinder, Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust, Und Zuckererbsen nicht minder." Wenn sich der kämpferische, politisch organisierte Proletarier im 19. Jahrhundert gegen 'das ihm von seinen Unterdrückern eingeimpfte „alte Entsagungslied, das Eiapopeia vom Himmel" 174 auflehnte und von einer Umgestaltung des Lebens träumte, die allen arbeitenden Menschen die Erfüllung einst unerreichbarer Wünsche bringt, so ist das der Anfang zu einer aktiven Veränderung der Welt durch die Arbeiterklasse, den wir nicht gering einschätzen dürfen, zumal - wie ja auch die Arbeiterporträts beweisen - die das Zukunftträumen begleitenden Aktivitäten beträchtlich waren.
Bewußtsein von der Veränderbarkeit der Welt
Die Beleuchtung des Menschenbildes, insbesondere des kennzeichnenden Arbeiterporträts aus der Zeit der beginnenden imperialistischen Entwicklung und des Heranreifens der proletarischen Revolution zeigt, wie sehr die frühe deutsche Arbeiterautobiographie mit dem Entstehen der sozialistischen Literatur zusammenhängt. Hat doch die parteiliche Darstellung von Gestalten der Arbeiterklasse die Herausbildung des sozialistischen Charakters unserer Literatur und Kunst entscheidend beeinflußt. Wenn man die Arbeiterautobiographie als Zeugnis der Geschichte und als Dokument schöpferischer Durchdringung der gesellschaftlichen Wirklichkeit durch Vertreter des deutschen Proletariats auswertet, wird das Wissen vom Wesen und Werden des Sozialismus vervollständigt. Besonders aufschlußreich ist, wenn man vom Standpunkt unserer sich ständig verändernden und vorwärtsschreitenden sozialistischen Gesellschaft untersucht, wie stark unter den schwierigen Bedingungen dieser Anfangszeit das Bewußtsein von der Veränderbarkeit der Welt war. Dabei kommt es darauf an, nicht nur das Streben nach Veränderung zu sehen, sondern herauszuarbeiten, wie die Schreiber der Autobiographien Zeugnis ablegen von den durch den Klassenkampf in den Reihen der Arbeiterklasse bereits vollzogenen oder zumindest sich vollziehenden Veränderungen, beispielsweise von der Entwicklung proletarischer Persönlichkeiten, die sozialistisch zu denken und handeln beginnen. Zwei Faktoren sind wirksam bei der Entstehung des Bewußtseins von der Veränderbarkeit der Welt: die Erfahrungen im Klassenkampf gegen unhaltbare gesellschaftliche Zustände und im Zusammenhang damit die Erkenntnis von der eigenen Entwicklungsfähigkeit. Die 154
erste Stufe innerhalb dieses Prozesses ist das Erlebnis des unüberbrückbaren Gegensatzes zwischen Kapital und Arbeit, das den Willen zur Veränderung erzeugt.
Die Forderung nach Veränderung wird geweckt In den Prozeß der sozialistischen Menschwerdung eingeschlossen ist die Stellungnahme gegen Kompromiß und Reform, die ¡bei der Manipulation durch die Kräfte des Imperialismus für den einzelnen nicht immer leicht zu treffen war. Die offizielle Politik der SPD war in der Pihase, in der die hier behandelten Selbstdarstelhingen entstanden, bereits reformistisch. Im folgenden sollen indessen aus den Texten Gnmderlebnisse sichtbar gemacht werden, die den Lebensnerv des Proleten so scharf trafen, daß sie den Gedanken an eine bloße Reform ausschlössen.
Der Gesindemarkt Es geht hier ganz allgemein um die Verhandlung der menschlichen Arbeitskraft als Ware auf dem kapitalistischen Arbeitsmarkt und insbesondere um den Erlebnisbericht Franz Rehbeins über die ländliche Arbeitsvermittlung. Rehbein prägt äußerst aggressiv anstelle der dafür üblichen Bezeichnung Gesindemarkt, die Brecht noch 30 Jahre später in seinem Volksstück Herr Puntila und sein Knecht Matti verwendet, den Begriff Menschenmarkt: „In Wesselburen, dem Zentralflecken Norddithmarschens, werden regelmäßig jeden Sonntag und Mittwoch derartige Menschenmärkte abgehalten; der Haupttag ist der Sonntag. Auf diesen Menschenmärkten stehen nun die Arbeitssuchenden . . . mit ihren Tagelöhnerpfeifen im Munde und warten . . . In der Zeit der Ernte... steigt die Zahl der Arbeitsuchenden zeitweilig auf mehrere Tausende. Neulinge, die solch Schauspiel zum ersten Mal sehen, wissen in der Tat gar nicht, was hier eigentlich los ist; sie können sich das bis dahin Ungewohnte kaum zusammenreimen, daß hier über die Arbeitskraft der Menschen regelrecht börsenmäßig gehandelt wird, wie man 155
über den Wert von Nutztieren handelt. Doch das geschieht. . . . Die Höhe des Tageslohnes richtet sich lediglich nach Angebot und Nachfrage, und gerade hierin liegt das börsenmäßige dieser Art Arbeitsvermittlung. Je mehr 'Hände' am Markt sind, die nach Arbeit verlangen, und je schwächer die Nachfrage nach solchen, desto geringer ist der Tagelohn; umgekehrt steigt der Lohn bei stärkerer Nachfrage und mäßigem Angebot." 175 Was Rehbein weiter von dieser Arbeitsvermittlungsmethode zu berichten weiß, gleicht faktenmäßig zum Teil dem, was Brecht in seinem bekannten Volksstück mitteilt. Der authentische Bericht der Landarbeiter-Erinnerungen geht allerdings in der Schilderung der doppelten Ausbeutung der Menschenware über das Stück hinaus. Für die Bauern, die vom nahen Gasthaus die Menschenhaufen beobachten, werben Vermieter, sogenannte Seelenverkäufer, die Arbeiter an. Die doppelte Ausbeutung besteht darin, daß die Vermieter, die fast immer Gastwirte sind, nur denjenigen, die im Gasthaus am meisten verzehren, die guten Stellen vermitteln. Wer gut schmert, der gut fährt, kommentiert Rehbein. Und er erzählt weiter: wenn nach etwa drei Stunden das Geschäft beendet ist, nehmen die Bauern „ihre Leute" entweder gleich nach dem Hof mit, oder diese stellen sich am Sonntagabend oder Montagmorgen zu Fuß bei ihnen ein. Das widerlich Inhumane des Gesindemarkts gestaltet Brecht so, daß Puntila die Tagelöhner wie Vieh auf ihre Brauchbarkeit abtastet und sie danach, als er sie gemietet hat, seiner Willkür unterwirft; am andern Tage schickt er sie den weiten Weg, den sie sich in der Aussicht auf Arbeit bis zu seinem Gut gemacht haben, aus einer Laune wieder zurück. Die besondere kritische Leistung Rehbeins besteht darin, daß er die Erzählung über den Gesindemarkt dazu benutzt, das kapitalistische System bloßzustellen und auf dessen Verbindung mit dem reaktionären Junkertum hinzuweisen. Brechts Knecht Matti verläßt am Schluß den Herrn Puntila mit den Worten: „'s wird Zeit, daß deine Knechte dir den Rücken kehren. Den guten Herrn, den finden sie geschwind Wenn sie erst ihre eignen Herren sind." 156
Diese Schlußfolgerung wird bei Rehbein noch nicht gezogen. Er schildert nur die Unhaltbarkeit der Zustände.
Proletarierweihnachten C. Fischer, Bromme, Popp, Holek und Rehbein legen in ihren Autobiographien besonderen Nachdruck auf die Beschreibung proletarischer Weihnachten. Sie begnügen sich dabei nicht mit Elendsschilderungen, sondern nutzen ihre Weihnachtsgeschichten als Möglichkeit des Angriffs auf den Antihumanismus der bourgeoisen Ordnung, in der das gepriesene „Fest der Liebe" zum Tag der Wahrheit wird für die Millionen rücksichtslos ausgebeuteter Proletarier. Auch der Weber Stöhr in Alwin Gers Roman Erweckt wird gerade am Weihnaohtstage ausgewiesen und löst damit eine Solidaritätsaktion seiner Kollegen aus. In allen Genres der frühen so2ialistischen Literatur ist das Weihnachtsfest ein besonderes Motiv zur Beleuchtung des Klassenkampfes. So schloß schon 1876 die Weihnachtsmarseillaise von Max Kegel mit der Strophe: „Und wenn vertilgt die letzten Reste Des Elends und der Sklaverei, Wenn alle Menschen froh und frei, Dann feiern w i r Erlösungsfeste." Der 1879 in Hamburg verstorbene proletarische Lyriker August Geib, der uns vor allem durch seine Gedichte zum Ruhme der Kommunarden nahesteht, schrieb ein erstes Arbeitertheaterstück Weihnachten, das vom Geist der proletarischen Solidarität getragen war. Von anderen Autoren folgten dann viele Stücke zur gleichen Thematik, so daß der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete und Verleger Richard Lipinski - er schrieb 1895 selbst das Stück Friede auf Erden! oder Die Ausweisimg am Weihnachtsabend - am Anfang des 20. Jahrhunderts Arbeitertheaterstücke unterschiedlichster Autoren in zwei Schriftenreihen Soziale Weihnachtsbühne und Neue Soziale Weihnachtsbühne herausgab. Solche Stücke repräsentieren die positive, klassenkämpferische Reaktion auf das negative proletarische Weihnachtserlebnis. 157
Wie aktuell dieses Verhalten damals war, zeigt sich uns darin, daß Bromme ebenfalls einen Schwank Unterm Tannenbaum verfaßt hat. Positive Reaktion auf das weihnachtliche Elend beweist auch Adelheid Popp; sie berichtet in ihrer Autobiographie, daß sie einen ersten Weihnachtstag mit dem Besuch einer wichtigen sozialdemokratischen Parteiversammlung feierte: „ . . . eine trockene Kälte hatte seit Wochen geherrscht. Viele Leute waren arbeitslos und sehnsüchtig wurde der Himmel beobachtet, ob denn noch immer kein Schnee zu erwarten sei. 'Auch der Herrgott vergißt die armen Leute', konnte man sehr oft aussprechen hören . . . endlich war der ersehnte Schnee gefallen. Man mußte sich förmlich durch die Schneemassen durcharbeiten. Die Versammlung war in einem großen Saale eines entlegenen Arbeiterbezirkes. Als wir kamen, standen die Menschen schon Kopf an Kopf; sie rieben sich die Hände und stampften mit den Füßen, um sich zu erwärmen. Ich hatte Herzklopfen und spürte, wie mein Gesicht glühte, als wir uns durch die Menge drängten, um in die Nähe der Rednertribüne zu gelangen. Ich war das einzige weibliche Wesen im Saale und alle Blicke, als wir uns durchdrängten, richteten sich erstaunt auf mich. Den Redner konnte ich nur undeutlich sehen, denn er war in eine Wolke von Tabak- und Zigarrenrauch gehüllt. Er sprach über: Die kapitalistische Produktionsweise . . . Der Redner begann mit dem Hinweis auf den Schneefall und beleuchtete daran das Verkehrte und Sinnlose der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung. Das, was in einer vernünftigen Gesellschaft als Elementarereignis und Verkehrshindernis angesehen würde, wird heute als ein Glück gepriesen, durch 'das Hunderte Menschen vor dem Verhungern bewahrt werden; Menschen, die keine Arbeit haben, nicht weil sie nicht arbeiten wollen, sondern deshalb, weil durch die wahnsinnigen Gesellschaftseinrichtungen und eine kurzsichtige Gesetzgebung andere Menschen solange arbeiten müssen, bis sie vor Erschöpfung zusammenbrechen."176 Im Jahr darauf erlebte A. Popp einen ähnlichen Weihnachtsfeiertag, an dem ein Redner „gut, wirkungsvoll, hinreißend" über das Thema Klassengegensätze sprach.177 Popp, über deren erstes Weihnachtserlebnis im Zusammenhang mit der 158
proletarischen Kinderstube berichtet wurde, haben diese weihnachtlichen Parteiversammlungen so bewegt, daß sie in ihrer Autobiographie immer wieder Weihnachtserlebnisse vom Standpunkt ihrer neu gewonnenen Erkenntnis agitatorisch interpretierte. Die weihnachtliche Erschütterung im Kindesalter war so groß, hat so nachhaltig gewirkt, daß sie im Prozeß der sozialistischen Menschwerdung der Fabrikarbeiterin mit zur Triebkraft wurde, die gesellschaftlichen Verhältnisse, die dies hervorbringen, verändern zu helfen. Die Sitte reicher Fabrikanten oder Gutsbesitzer, am Weihnachtsheiligabend arme Kinder zu beschenken, ist in vielen rührenden Geschichten der bürgerlichen Literatur verherrlicht worden. Auch Popp hat als Schulmädchen so etwas erlebt und schreibt: „Wie dankbar war ich dem guten reichen Mann, der ein so mildtätiges Herz für die Armen hatte." Aber sie setzt hinzu: „Als später meine verwitwete Mutter in einer Fabrik für drei Gulden Wochenlohn täglich zwölf Stunden arbeiten mußte, konnte ich noch nicht beurteilen, daß darin die 'Quelle' für seine Großmut gelegen war. Erst viel später kam ich zu dieser Erkenntnis." 178 Die Fünfzehnjährige irrte in einem besonders kalten Dezember von früh bis spät auf der Suche nach Arbeit durch die Straßen der Großstadt. Vergeblich! Selbst in den Zuckerwarenfabriken, von denen sie annahm, daß diese vor Weihnachten Arbeitskräfte brauchten, wird sie abgewiesen und ist verzweifelt, daß sie aus dem warmen Büro mit ihren von Schnee feuchten Keidern wieder hinaus in die Kälte muß. Sie kommentiert: „Heute weiß ich, daß fast die ganze Weihnachtsarbeit einige Wochen v o r den Feiertagen getan ist; daß wochenlang vorher die Arbeiterinnen Tag und Nacht arbeiten müssen und daß sie knapp vor den Feiertagen ohne Rücksicht entlassen werden. Damals hatte ich noch keine Ahnung von der Art, wie sich der Produktionsprozeß abwickelt." 179 In den anderen proletarischen Selbstdarstellungen wird eine ähnliche Position zu diesem Thema bezogen. Während vor der Jahrhundertwende begabte oppositionelle bürgerliche Schriftsteller wie der junge Hauptmann oder Holz und Schlaf in minutiösen, äußerst deprimierenden Zustandisschdlderungen finstere Bilder bürgerlichen und proletarischen Weih159
nächtens gestalten - gemeint sind die naturalistischen Dramen Das Friedensfest von Hauptmann und Die Familie Selicke von Holz und Schlaf - , demonstrieren die Erinnerungen und Bekenntnisse proletarischer Autoren wie die Arbeitertheaterstücke zum gleichen Thema den Willen zur Veränderung der Welt. Indem sie so ihre Mission erfüllen, kommen sie dem christlichen Erneuerungsgedanken, wie er mit dem Weihnachtsfest verbunden ist, näher als die bürgerliche Gesellschaft, die sich heuchlerisch als Vollstrecker des christlichen Humanismus bezeichnet.
Gefängnis und Krankenhaus Friedrich Engels wies 1842 in der Weihnachtsnummer der Rheinischen Zeitung als Ergebnis seiner ersten Studien über die Lage der arbeitenden Klassen in England schon darauf hin, daß als Folge der industriellen Revolution bei der geringsten Schwankung im Handel Tausende von Arbeitern brotlos werden, bald vor 'dem Hungertod stehen und sehen müssen, wie sie sich durchschlagen. Mit der Industrie wurde nicht nur eine große Klasse von Besitzlosen, sondern auch von Brotlosen geschaffen, die, wenn sie Glück hatten, nicht auf der Landstraße zugrunde gingen, sondern in Gefängnissen und Asylen landeten. 180 In Deutschland, wo diese Entwicklung später und nicht so heftig einsetzte, waren die Gefängnisse vergleichsweise erträglicher als die englischen Verbrecherkolonien, so daß sich der arbeitslose Proletarier vor der Jahrhundertwende oft als letzte Rettung eines kleinen Verbrechens schuldig machte, um wenigstens im Winter für einige Zeit „ein Dach über dem Kopf" zu haben. Carl Fischer, der in seinen Denkwürdigkeiten bei Ausführungen über sich selbst sehr zurückhaltend ist, eröffnet einen Einblick in sein menschliches Sein bei der Beschreibung seiner Flucht ins Gefängnis. Diese von jeder Selbstbemitleidung freie Erinnerung an Zeiten äußerster Existenzangst, in der er völlig mittellos, ohne Unterkunft und von Krätze befallen, alles tun mußte, um von einem Polizisten beim Betteln ertappt und ins Gefängnis gesperrt zu -werden, wirkt gerade durch die fast unbarmherzige Sachlich160
keit des Erzähltons. Diese Sachlichkeit, mit der der ins G e fängnis führende Feldzugsplan aufgezeigt wurde, zeigt keine Spur von darüberstehendem Humor, wie er Fischers Berichte sonst oft kennzeichnet. Sie enthält aber auch keine Klage, sondern nur kühles Wissen um die Härte der Welt, die wiederum nicht identifizierbar ist mit Abgestumpftsein oder mit einem Sicha'bfinden. Indem er sich der tiefsten Erniedrigung ohne Lamento mannhaft und sachlich stellt, hebt er sie subjektiv auf. Vom Gefängnis kommt er wegen Krätze und anderer Leiden in das ersehnte Krankenhaus. In seinen Erinnerungen an diese Zeit geht er wesentlich mehr aus sich heraus. Wir wissen heute, daß die Spitäler vor hundert Jahren alles andere als einen Erholungsaufenthalt verschafften. Aber aus der detaillierten, beinahe entzückten Beschreibung alles dessen, was man im Krankenhaus für ihn tat, wie er gebettet war, was er zu essen bekam, wie sich Schwestern und Ärzte um ihn kümmerten, ist ablesbar, daß sich Fischer zum erstenmal während seines Proletarierdaseins halbwegs wie ein Mensch fühlte. D e r Widersinn der kapitalistischen Ordnung kann nicht drastischer zum Ausdruck gebracht werden. Eine andere Ursache hat der Krankenhausaufenthalt bei entwickelteren Industriearbeitern wie Popp und Bromme. Sie haben sich durch zu lange Arbeitszeit bei mangelndem Arbeitsschutz und physischer Überspannung eine schwere Krankheit am Arbeitsplatz zugezogen. Popp; die wie Holek vom zehnten Lebensjahr ab dem Lohnerwerb nachgehen mußte, wird als Dreizehnjährige durch die Arbeit in einer Bronzefabrik und dann in einer Patronenfabrik körperlich so überfordert, daß sie schwerkrank ins Spital eingeliefert wurde: „Drei Wochen 'brachte ich im Krankensaal zu und - so paradox es klingen mag, es war die beste Zeit, die ich bisher gehabt hatte. Alle waren gut gegen mich; die Ärzte, die Pflegerinnen, die Patienten. Ich bekam regelmäßig gute Nahrung, hatte allein ein Bett und immer reine Wäsche. Ich machte mich überall nützlich, verfertigte Handarbeiten und erhielt vom Arzt Bücher. Damals lernte ich Friedrich Schiller kennen und Alfons Daudet. Die dramatischen Gedichte Friedrich Schillers und von den Dramen 'Die Braut von Messina' begeisterten mich 11
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am meisten. Auch 'Fromont junior und Risler senior' von Daudet machte großen Eindruck auf mich." 1 8 1 Das heranwachsende Mädchen, das sich vorher in jeder freien Minute durch das Lesen von Indianergeschichten und Schundromanen, die damals schon ein beliebtes Manipulierungsmittel des Kapitalismus waren, regelrecht betäubt hatte, so daß sie nach ihrer eignen Aussage wie im Taumel lebte und so ihr Elend scheinbar nicht empfand, kam im Spital zum erstenmal zur Besinnung - sie bezeichnet es selbst als paradox - und 'Zum 'Nachdenken über sich selbst. Der jungen Fabrikarbeiterin wird im Spital erst bewußt, daß sie bisher menschenunwürdig gelebt hat und daß es anders sein könnte. Daß das Krankenhaus letztlich auch nur die Funktion hat, die W a r e Arbeitskraft wieder herzustellen und leistungsfähig, d. h. erneut ausbeutungsfähig zu machen, konnte die junge Popp noch nicht begreifen, im Gegensatz zu Bromme. Aber so viel hat sie damals doch schon erkannt, d a ß ihr proletarisches Dasein veränderungsbedürftig ist und daß auch sie selbst sich zum Anderswerden entschließen muß, wenn sie helfen will, die Welt zu verändern. Der wiederholte Aufenthalt Brommes in der Lungenheilstätte, der sogenannten Hustenburg in Berka, verhilft ihm, schon durch das Erlebnis konzentrierter Anhäufung von Proletarierelend, zur höchsten Stufe seiner eigenen Erkenntnis. Er begreift, daß die Heilanstalt letztlich keine entscheidende Wirkung hat, weil die kapitalistischen Verhältnisse unheilbar sind. Die Kur ist nur ein Aufschub, und er sieht ihrem Ende deshalb mit großer Angst und Sorge entgegen, ja er meint, während er noch an seiner Autobiographie schreibt, dem sicheren Tod ins Auge blicken zu müssen. Eine grundlegende Veränderung der Lebensverhältnisse, die nur durch eine Veränderung der Gesellschaftsordnung erreicht werden kann, wird hier zur notwendigen Forderung. Die Tuberkulose hat damals so verheerend in der Arbeiterklasse gehaust, d a ß sie allgemein als „Proletarierkrankheit" bezeichnet wurde. Bromme wirkte in der „Hustenburg", obwohl selbst schwer leidend, als mitfühlender, kritischer und auch aggressiver Statistiker der soziologischen und ökonomischen Ursachen der Tuberkulose unter den Arbeitern. Er hat 162
deshalb mit seinen Aufzeichnungen nicht nur Krankheitsbilder, sondern auch Menschenbilder geliefert. Der Klassenkampf hörte auch in der Lungenheilstätte nicht auf. SPD-Zeitschriften waren eine Zeitlang verboten, bis ihr Abonnement erkämpft wurde. Der Pfarrer, der die Patienten „betreut", zeigte sich konservativ und arbeiterfeindlich. Das Betreten der Kurpromenade war den „Hustenburgern" untersagt. Der Forstaufseher möchte die kranken Arbeiter am liebsten auch aus dem Wald vertreiben, um den bürgerlichen Kurgästen einen „unangenehmen" Anblick zu ersparen. Der Versuch stieß aber auf den Widerstand der Arbeiter. Die Möglichkeit, weite Spaziergänge zu unternehmen, die der Proletarier sich damals im Notfall zu Ostern oder Pfingsten leisten konnte, empfindet Bromme als berauschendes Glück. Aber es verdunkelt ihm nicht den Blick für die Klassengegensätze. Im Gegenteil, er sohildert sie in diesem Teil seiner Autobiographie, gewissermaßen aus stärkerer Distanz gesehen, plastischer als vorher. Auf einem ihrer Spaziergänge bot sich den kranken Arbeitern vor dem Rittergut München ein ergreifender Anblick: „Im strömenden Regen hielt ein Töpfergespann, innen und außen voll Töpfe gepfropft. Der Wagen diente aber auch gleichzeitig der ganzen Familie als Wohnstätte und zwei ganz kleine Kinder waren mit dabei, die kränklich aussahen und ebenfalls nur eine Wagenplandecke als einzigen Schutz gegen die Nässe hatten; sie dauerten mich ganz besonders." 182 Fünf Tage später, Bromme datiert den 5. August, konnten sie ein „Gegenstück zu dem Töpferwagen" sehen: „Ein großes komfortables Automobil, dem ein Herr und eine elegante Dame entstiegen, mußte beim Gasthaus München Halt machen, um ihren Chauffeur eine Reparatur an der Kilometerfreßmaschine vornehmen zu lassen. Sie nahm einige Stunden in Anspruch. Der Chauffeur teilte uns dabei mit, d a ß die Herrschaften aus Leipzig seien und heute noch bis Ilmenau fahren wollten, dann sollte die Ausstellung in Düsseldorf besucht und daran anschließend eine Rheinreise unternommen werden, um endlich nach Tirol zu auteln und dort in einem schattigen Gebirgsnest für längere Zeit Aufenthalt zu nehmen. Vor kurzem sei er mit seinem Brotgeberpaar erst einige W o 11*
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chen in Misdroy und Heringsdorf gewesen. Das ist das Los der oberen Zehntausend, von einem fashionablen Badeort zum andern zu reisen und in den Zwischenpausen noch da und dort bei bester Lebensweise Naturschönheiten mit anzusehen! Wir drei, die wir bei der Maschine standen, wären froh gewesen, wenn wir nur die Mittel gehabt hätten, um unsere Frauen einmal nach der Heilstätte kommen zu lassen, um ihnen auch einmal die Schönheit dieser Landschaft zu zeigen. Aber da sie dabei unbedingt übernachten müssen, was im Gasthaus zu München 1,25 Mark kostet, obwohl das Bett noch extra in der Kammer des Dienstmädchens steht, und da außerdem gegen 5 Mark Fahrgeld nötig sind, so mußte selbst dies unterbleiben. Selbst ineine Fraiu wäre trotz der Kinder gar zu gern einmal hierher gekommen; aber das Geld, das G e l d . . .".183
Auf dem Wege %um offenen Widerstand Individuelle Auflehnung als Vorstufe des Klassenkampfes Durch individuelle Auflehnung gegen unzumutbare Maßnahmen seines Meisters entfachte der Drechslergeselle August Bebel im Jahre 1860 einen Streik, noch ehe er überhaupt das Wort „Streik" gehört hatte. „Die Form der Abwehr ergab sich aus der Sache selbst", schreibt er in seiner Lebensgeschichte. So gelang es ihm zusammen mit seinen Kollegen, innerhalb einiger Wochen durchzusetzen, daß der Beginn der Arbeitszeit von morgens fünf Uhr auf sechs Uhr hinausgeschoben wurde, daß der Lohn nach Stückarbeit berechnet wurde, daß die Gesellen nicht im Hause des Meisters zu wohnen brauchten und sich selbst beköstigen durften. 184 Individuelle Auflehnung sind auch die Auseinandersetzungen des Arbeiters Fischer mit seinen Meistern, die nur Antreiber, Werkzeuge des Kapitalisten waren, aber von der Arbeit selbst wenig verstanden. Auch sein Aufbegehren gegen den ungerechten „Kündigungsdirektor" des Stahlwerks rechnet dazu. Am eindruckvollsten, gleichsam den Prozeß entwickelnd, der zum offenen Widerstand führt, sind die Eulenspiegeleien 164
Rehbeins im Kampf gegen die Großbauern. Mit 18 Jahren, als Dienstknecht beim geizigen und brutalen Bauern Jan Gnurr, bäumt sich Rehbein zum erstenmal auf. Lange hat er sich alle Schikanen gefallen lassen, auch die Prügel und Launen d e s Bauernsohnes Jörg. E r fühlte sich vorher zu schwach zur Opposition. Außerdem hatte er den üblichen Mietsvertrag abgeschlossen, nach dem der Bauer ihm erst nach Ablauf eines Jahres den ihm zustehenden Lohn zu zahlen hatte. „ E s lag mir wie Blei in den Knochen", schreibt er in Erinnerung an diese Monate, „auch über mich war nach und nach schon jener gewisse Stumpfsinn gekommen, wie ich ihn früher bei den Knechten meiner Heimat gesehen und wie ihn auch die Tagelöhner auf Bunsloh zur Schau getragen, eine Niedergedrücktheit, die das Aufbäumen gegen Unrecht gar nicht mehr zulassen will." 1 8 5 Doch nagte es unentwegt in ihm, der Gedanke # ließ ihm keine Ruhe, daß er es als 18jähriger Mensch doch seiner Selbstachtung schuldig ist, sich die schlechte Behandlung nicht länger gefallen zu lassen. Als Jörg die Mißhandlungen auf die Spitze treibt und ihm eines Tages wegen nichts Peitschenhiebe versetzte, kam beim jungen Rehbein der Umschlag zum Widerstand: „Also wie einen Sklaven wollte mich der Lümmel peitschen?! Schnell drehte ich mich um - ließ die Pferde stehen und: klitsch, klatsch, hieb ich ihm mit m e i n e r Ackerpeitsche um die Ohren." 1 8 6 Vom Acker ging er dann auf den Hof zurück, kündigte dem Bauern, hielt ihm, als dieser mit dem Stock ausholte, die Mistforke entgegen und ging davon, „arm wie eine Kirchenmaus". Aber er fühlte sich frei wie ein Vogel: „Nun mochte kommen, was da wollte; war mir's doch, als hätte ich ein Sklavenjoch abgeschüttelt." 187 Für seine nächste Arbeitsstelle hatte er einen Wunsch: „ N u r als Mensch wollte ich behandelt sein, und nicht wie ein Stück Vieh, und Lohn wollte ich haben für meine Arbeit und nicht umsonst mich schinden." 1 8 8 Aber er mußte erfahren, daß es mal einen freundlicheren und als Landwirt fortschrittlicheren Bauern gibt, daß sich aber in einem alle gleichen: in der Ausbeutung der gemieteten menschlichen Arbeitskraft zu ihren eigenen Gunsten. Schon ein Jahr später protestierte er erfolgreich gegen die Zumutung, nachdem er von Karfreitag bis zum
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ersten Ostertag auf dem Acker geschuftet hat, auch noch den zweiten Feiertag weiterzuarbeiten. Seine gewachsene Aggressivität zeigte sich darin, daß er den Bauern duzt wie dieser ihn und ihn auffordert: „Gah du doch hen und befehl d e Höhner; arbeid' doch sölben, wenn di dat soveel Spaß makt!" Der Großknecht brachte Rehbein bei, wie man den Bauern, damit dieser einen nicht verklagen kann, durch p a s s i v e n W i d e r s t a n d derartig zu ärgern in der Lage ist, daß ihm die Lust zu weiteren Schikanen vergeht: „Man braucht nur immer wortwörtlich zu tun, was einem gesagt wird, dann hat auch der rabiateste Landwirt bald g e n u g . . . Dazu markiert man ein bißchen den Eulenspiegel, und das kuriert auch den klobigsten Bauern."«® Rehbein bekennt in seiner Autobiographie wie er e i n i g e J a h r e s p ä t e r , nach den Erfahrungen seiner Militärzeit reifer und entschlossener geworden, diese Methode erfolgreich, und durchschlagend beim Bauern Breetfoot anwandte. Er schildert die näheren Umstände so ausführlich, um ein Beispiel zu geben, wie man sich seiner Haut wehren kann. Breetfoot zahlte relativ hohe Löhne und zog dadurch die Arbeitskräfte an. Er rechnete jedoch damit, daß die Knechte bei schlechtem Essen und schlechter Behandlung das Kontraktjahr nicht durchhielten, wodurch er dann ähnlich wie Jan Gnurr den Lohn sparen würde. Aber Rehbein, der inzwischen Großknecht geworden ist, gelingt es, den Spieß umzudrehen, indem er Breetfoot durch taktisch geschicktes Verhalten und auch durch kompakten Widerstand so wehrlos macht, daß dieser ihn endlich unter Auszahlung des vollen Jahreslohnes bitten muß, ihn sofort, lange vor Ablauf des Vertrages, zu verlassen. Ausnahmsweise war dadurch der Bauer einmal der Geprellte und nicht der rechtlose Knecht. Er hat den unverschämten, tyrannischen und geizigen Bauer systematisch zermürbt: zuerst durch seine witzig-aggressive Redeweise, die den groben Klotz mundtot machte, dann durch eine Serie handgreiflicher Eulenspiegeleien, gegen die der sich nicht wehren konnte. Er fügte ihm Schaden zu, für den der Bauer selbst verantwortlich ist, da der Knecht nur schelmenhaft wortwörtlich ihm gegebene Befehle ausgeführt hatte. Als Breetfoot dann einen noch schulpflichtigen Kleinjungen in halber Nacht aufweckte und ihn 166
mißhandelte, weil der nicht gleich aus dem Bett sprang, erledigte Rehibein den Bauern moralisch durch eine Tracht Prügel. Er schreibt: „Zehn Minuten später war mein Bauer kaum wiederzuerkennen. Der ganze Kerl sah aus, als sei er frisch aus einem Misthaufen gezogen. Die weißen Hemdsärmel, Hose, Gesicht und Haar waren über und über mit Jauche und Stallmist besudelt. Seine Morgenlatschen hatte er verloren, und seine Strümpfe quutschten." Während der ganzen Prozedur habe er in seiner Wut auf den Bauern immer nur hervorgestoßen: „Töw, du Burlaps verdammter, dir will ick hölp e n l " 1 9 0 £) er stellte keinen Strafantrag, weil er sich vor Gericht nicht in der Rolle des vom eignen Knecht Verprügelten blamieren wollte. Aber seinen Denkzettel hatte er weg. 1907 wird noch nicht die Perspektive eröffnet, die in Brechts Volksstück der Knecht Matti zum Schluß verkündet: daß eine Zeit heranreife, in der die Knechte ihre eigenen Herren sein werden. Aber zumindest wird sehr tatkräftig bewiesen, daß die Welt veränderbar ist, daß der Willkür der Unterdrücker gegen die Unterdrückten ein Ende bereitet werden kann. Daß der Bauer verprügelt und geprellt wird, der Knecht aber vom Hof geht, der dem Bauern bleibt, ist noch keine endgültige Lösung. Der folgerichtige letzte Schritt ist jedoch absehbar. Der Großbauer als Ausbeuter wird eines Tages gehen müssen, und der Knecht wird das Land, für das er geschuftet, als Eigentum zum Wohle einer neuen Gesellschaft bestellen. Die Richtung, in der sich diese gesellschaftliche Umwälzung vollziehen wird, ist bei Rehbein angegeben. Das Gegenbeispiel zu dieser historisch richtigen Entwicklung finden wir bei Gustav Hänfling, dem Autor der Denkwürdigkeiten eines Porzellanmalers. Auch Hänfling will nicht arm und abhängig bleiben. Aber er macht für seine ökonomisch miserable Lage nur seine proletarische Herkunft verantwortlich. Er tut daher alles, sich außerhalb seiner Klasse zu stellen und in die bürgerliche Klasse aufzusteigen. Er ist nicht ohne Stolz, sondern baut auf die Qualität seiner Arbeit und auf seinen Fleiß. Aber sein einziges Streben geht dahin, seine Fähigkeiten und Eigenschaften in Profit umzumünzen. Obwohl er trotz größter Anstrengungen arm bleibt und krank wird, und darüber in seinen Tagebuchaufzeichnungen lamen167
tiert verrennt er sich dennoch völlig in die Idee, durch Schuften und Sparen zu Ansehen zu kommen, hält sie für so unbedingt richtig, daß ihm die Ungerechtigkeit der sozialen Verhältnisse und ihre wahren Ursachen überhaupt nicht bewußt werden. Er denkt deshalb nicht einmal im Traum an eine Auflehnung gegen die bestehende Ordnung. Im Gegenteil, er meint und hofft, die Vorteile der herrschenden Klasse eines Tages mitgenießen zu können, wenn er sich ihr immer mehr unterwirft. Hänfling bewies durch sein jämmerliches Leben, daß der Proletarier, der sich ins Schlepptau der Bourgeoisie begibt, die ihn auch mißbraucht, wenn er sich ihr unterwirft, am Ende schwer dafür bezahlen muß.
Der W e g zur Arbeiterpartei und die Entwicklung zur sozialistischen Persönlichkeit Rehbein, der seine Autobiographie zwei Jahrzehnte nach seiner ersten Begegnung mit dem Marxismus vorlegte, wies nach, was durch den Einfluß der Arbeiterbewegung aus einem Knecht und Tagelöhner werden kann. Schon 1887 hatte er unter den Tagelöhnern der umliegenden Dörfer Stimmzettel der SPD zur Vorbereitung der Wahlen verteilt. Allerdings war die Anhängerschaft der SPD in reinen Agrargebieten, wo die Bevormundung durch Bauern, Großgrundbesitzer und Kirche noch vorherrschte und die Landarbeiter bewußt in geistiger Rückständigkeit belassen wurden, nicht groß. Das Parteileben war nicht rege, u. a. auch, weil die SPD-Führung zu wenig tat, das notwendige Bündnis zwischen Industriearbeitern und Landarbeitern zu festigen. Aus dieser mangelnden Aktivität der Arbeiterpartei auf dem Lande erklären sich auch die Einzelaktionen Rehbeins gegen die reaktionären Großbauern. Desto eindrucksvoller ist es zu lesen, daß Rehbein gerade während des Ausnahmegesetzes zur SPD gefunden hat. Authentische Berichte über das Werden einer sozialistischen Persönlichkeit unter den geschilderten rückständigen Bedingungen sind besonders wertvoll. Von einem Krabbenfischer lieh er 168
sich den Wahren Jakob, und durch das Verdienst eines Schusters aus Südereiche, der später nach Amerika auswanderte, ist Rehbein 1886, also als Einundzwanzigjähriger, mit dem illegalen Züricher Sozialdemokrat bekannt geworden. Das war eine Wende für ihn. Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen, schreibt er, als er die Artikel des Parteiorgans las. Er fand plötzlich den 'Schlüssel für alles, was ihn in seinem bisherigen Leben so gequält hatte. Er wurde sich bewußt, ein Proletarier zu sein, dessen Recht es ist, sich von den Fesseln der Ausbeutung zu befreien. Er erfuhr, was ihm im Laufe der Jahre durch das Studium marxistischer Schriften noch intensiver bestätigt wurde, daß die Welt veränderbar ist durch die geschichtsbildende Kraft des Proletariats. Da diese Erkenntnis ein wichtiges Element für die Einsicht in die Notwendigkeit einer proletarischen Revolution ist, erlangt das Buch von Rehbein eine beachtenswerte Bedeutung: als Dokumentation für die Möglichkeit revolutionärer Entwicklung auf dem Lande. Es führt eine Brücke von Fritz Reuters Kein Hüsung über Rehbein zu Adam Scharrer und Oskar Maria Graf und letztlich bis zu Helmut Sakowskis Fernsehroman Wege übers Land. Moritz Bromme ist in der Verehrung Bebels aufgewachsen, den er noch in der Lungenheilstätte gegen die Anwürfe eines kleinbürgerlichen Räsoneurs verteidigt. Er gehört zur Generation Carl Brentens aus Bredels Väter. Ein Vergleich zwischen beiden Gestalten ist um so eher möglich, da Brenten als fiktive Figur viele authentische Züge trägt und eine wichtige ideologische Schlüsselfigur der Trilogie Verwandte und Bekannte ist. Man kann den Bildungsoptimismus Brommes mit der Vorstellung Brentens vergleichen, daß die Arbeiterklasse durch parlamentarischen Sieg an die Macht kommen wird. Bromme greift als Icherzähler, Autobiograph und Betrachter einer verändernswerten Welt tief in die sozialen Gegensätze seiner Zeit. Als Sozialdemokrat einer thüringischen Kleinstadt mußte er noch ständig um Anerkennung kämpfen. Brenten ist als Hamburger Sozialdemokrat vergleichsweise saturiert und des sehr nahen Sieges gewiß. Die Bedeutung dieser Figur liegt mehr in der Perspektive ihrer Weiterentwicklung unter historischen Bedingungen, die in Brommes Lebensbeschreibung 169
noch keine Rolle spielen. Für Bromme war die alte SPD Richtschnur seiner Entwicklung. Der Sechzehnjährige besuchte die ersten sozialdemokratischen Wählerversammlungen. Mit siebzehn Jahren, als Kellner ständig geohrfeigt und beschimpft, erinnerte er sich an sozialdemokratische Vorträge über die römische Sklavenzeit und des Ausspruchs eines Patriziers: „Wehe uns, wenn unsere Sklaven anfangen, sich zu zählen" und widersetzte sich. Nach Altenburger Gesetz hätte er erst vom 21. Lebensjahr ab überhaupt politische Versammlungen besuchen dürfen. Aber ganz selbstverständlich ließ er sich in der Vorbereitung der Reichstagswahlen von 1893 keine SPD-Versammlung entgehen und verteilte Flugblätter, Aufklärungsmaterial und Stimmzettel. Außerdem schrieb er seinen ersten Artikel für den sozialdemokratischen Wähler. Diese ersten Schritte waren für Brommes weiteres Leben symptomatisch. Er war immer einer der aktivsten Parteiarbeiter gewesen, sowohl bei aktuellen Anlässen - 1903 ließ er sich z. B. sogar aus der Lungenheilstätte wegen der Reichstagswahl beurlauben - als auch in der täglichen Kleinarbeit unter den Arbeitskollegen. Interessant ist zu erfahren, daß in der Geraer Maschinenfabrik jeder neu eintretende Arbeiter so lange agitiert wurde, bis er zumindest Mitglied des Gewerkschaftsverbandes geworden war. Das muß in den Großbetrieben ganz Deutschlands so gehandhabt worden sein, denn der Renegat Bröger beklagt sich z. B. in seinem autobiographischen Roman Der Held im Schatten gerade über diesen ihm unangenehmen Sachverhalt. Bromme berichtet: „Sogar junge Bürschchen, die erst vom Lande hereingekommen waren und nur für Soldaten und Mädchen schwärmten, wurden im Laufe der Zeit, oft schon nach wenigen Monaten, zu ganz tüchtigen und ernsten Gesinnungsgenossen. So habe ich besonders zwei aus der nächsten Umgebung von Gera soweit in die Partei- und Gewerkschaftsgeschichte eingeweiht, daß sie mir wirklichen Dank dafür wußten." 191 Er wollte sich mit solchem Bekenntnis gewiß nicht hervortun. Nicht zufällig hat er sich am Schluß seiner Autobiographie mit „aberhunderttausend anderen Proletariern in eine Reihe gestellt". Er handelte aus der festen Überzeugung, als poli170
tisch organisierter Arbeiter für die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse zugunsten des Proletariats beitragen zu können. Das Bild des älteren Genossen, der den Jüngeren längere Zeit zur Seite steht, enthält jede der frühen Arbeiterautobiographien. Auch Adelheid Popp, für die der W e g zur Sozialdemokratie als Frau besonders schwer war, hatte den entscheidenden Impuls von einem älteren Sozialdemokraten erhalten : „Er war der erste Sozialdemokrat, mit dem ich bekannt w u r d e . . . Von ihm erhielt ich viele Bücher, mit ihm konnte ich über alles reden, was ich dachte und empfand. Von ihm ließ ich mir auch den Unterschied zwischen Anarchismus und Sozialismus erklären. Von ihm hörte ich auch zum erstenmal, was eine Republik sei - und trotz einer früheren dynastischen Schwärmerei entschied ich mich für die republikanische Staatsform . . . Von diesem Arbeiter erhielt ich auch die erste sozialdemokratische Zeitung. Er kaufte sie nicht regelmäßig, sondern nur, wenn er gerade dazu kam, wie es leider so viele machten (Agitation innerhalb 'der Lebensbeschreibung - U. M.). Ich aber bat ihn jetzt, sie jede Woche zu bringen und wurde selbst ständige Käuferin. Die theoretischen Abhandlungen konnte ich nicht sofort verstehen, was aber über die Leiden der Arbeiterschaft geschrieben wurde, das verstand und begriff ich und daran lernte ich mein eigenes Schicksal verstehen und beurteilen. Ich lernte einsehen, daß alles, was ich erduldet hatte, keine göttliche Fügung, sondern von den ungerechten Gesellschaftseinrichtungen bedingt war. Mit grenzenloser Empörung erfüllten mich die Schilderungen von der willkürlichen Handhaibung .der Gesetze gegen die Arbeiter." 1 9 So wird die Fabrikarbeiterin Popp zur klassenbewußten Persönlichkeit, die zu selbständigen Aktionen übergeht, um die immer mehr gehaßten Verhältnisse verändern zu helfen. Eine aufschlußreiche historische Quelle ist in diesem Zusammenhang ihr Bericht, wie sie in ihrer Fabrik die Feier des Ersten Mai als internationalen Kampftag der Arbeiterklasse durchsetzte. Allerdings gelang ihr dies erst 1891 durch intensive Propaganda. Sie mußte zuvor erst bestimmte Erfahrungen sammeln. Im Jahre 1890, als der Erste Mai zum erstenmal 171
verkündet wurde, fiel er auf einen Donnerstag. Der Fabrikbesitzer hatte bekanntgegeben, wer an der Maidemonstration teilnehmen wollte, dürfte erst Montag wieder zur Arbeit kommen. Das bedeutete vier Tage Lohnausfall, den sich auch Popp nicht leisten konnte, sosehr sie mit sich rang. Außerdem fürchtete sie, ganz entlassen z/u werden und wieder wie früher arbeitslos umherirren zu müssen. Also fügte sie sich „mit geballten Fäusten und empörtem Herzen": „Am 1. Mai, als ich in meinem Sonntagskleid zur Fabrik ging, sah ich schon Tausende von Menschen mit dem Maizeichen geschmückt in die Versammlungen eilen. - Ich weiß nicht, welchen Schmerz ich mit jenem vergleichen könnte, der den ganzen 1. Mai nicht von mir wich. W i e wartete ich immer, d a ß die Sozialdemokraten kommen und uns im Sturm aus der Fabrik holen würden! Ich freute mich darauf, die andern fürchteten sich. Die Holzläden vor den Fenstern durften den ganzen Tag nicht geöffnet werden, damit man nicht mit Steinen die Fenster einschlagen könnte. Bei der nächsten Lohnauszahlung bekam jeder Arbeiter, jede Arbeiterin ein gedrucktes Formular, auf 'dem zu lesen war: 'In Anerkennung für die Pflichttreue meines Personals am 1. Mai erhält jeder Arbeiter zwei Gulden, jede Arbeiterin einen Gulden Belohnung.' Ich trug meinen Gulden, den ich dem Unternehmer am liebsten vor die Füße geworfen hätte, in die Redaktion für 'Fond der Gemaßregelten vom 1. Mai'. Den nächsten 1. Mai feierte auch ich. Keinen Tag ruhte ich, ohne dafür Propaganda zu machen. Und wie ich noch heute, nach so vielen Jahren mit Befriedigung empfinde, habe ich eine ganz gute Taktik eingeschlagen. Unter meinen Kolleginnen waren einige, die mit Werkmeistern verwandt waren und daher eine bevorzugte Stellung einnahmen. Diese hatte ich für den 1. Mai gewonnen, ich hatte sie für die Ziele, denen die Arbeitsruhe galt, begeistert, und sie ließen sich in die Deputation wählen, die unserm Arbeitgeber das Ansuchen um Freigabe des Arbeiterfeiertages zu unterbreiten hatte. Es war eine kleine Revolution! Frauen, Töchter, Schwestern der Vorgesetzten für den 1. M a i ! Auch mein Freund von der Männerabteilung hatte redlich seine Pflicht getan, und wir 172
konnten den Arbeiterfeiertag unter den Bedingungen begehen, daß wir allen jenen, welche nicht feiern wollten, den Lohnverlust zu ersetzen hatten. Wir plünderten unsere Sparkassen, die wir uns für Weihnachten angelegt hatten, denn drei Kollegen hatten sich gefunden, die sich nicht schämten, sich das Arbeitsversäumnis von uns bezahlen zu lassen."193 Bewußtwerden der Veränderbarkeit der Welt als Element proletarischer Kultur Mit 22 Jahren hielt Adelheid Popp ihre erste öffentliche Rede. Sie hat die Sicherheit und den Mut dazu durch regelmäßiges Studium der Parteipresse erhalten, vor allem der Neuen Zeit und verschiedener marxistischer Schriften. Sie erwähnt besonders Engels und sein Buch Lage der arbeitenden Klasse in England, Lafargues Das Recht auf Faulheit, W. Liebknechts Wissen ist Macht, daneben aber auch Lassalles Die Wissenschaft und die Arbeiter und Die Feste, die Presse und die Arbeiter. Außerdem hat sie mit großer Anteilnahme 'die in der Parteipresse nachgedruckte oder zum erstenmal veröffentlichte politische Lyrik gelesen und „eine große Anzahl revolutionärer Freiheitsgedichte" auswendig gelernt. Wie bei Bromme und bei Rehbein werden hier auch bei Popp im Prozeß des Bewußtwerdens der revolutionären Veränderbarkeit der Welt wesentliche Elemente proletarischer Kultur sichtbar, die seit den Anfängen der Arbeiterbewegung ein wichtiger Teil des Klassenkampfes sind. Die frühe Arbeiterautobiographie selbst ist eine kulturelle Leistung ersten Grades. Ein knappes Dutzend äußerst schlecht Lebender, aber von der Gerechtigkeit ihrer Sache Durchdrungener schrieben ihr Leben auf und meldeten damit den menschlichen Anspruch von Millionen unterdrückter Werktätiger an. Die Stummheit wurde durchbrochen, die Arbeiter begannen zu reden, über sich und .ihre Klasse zu berichten, und proklamierten damit eine notwendig durch diese zu errichtende neue Gesellschaftsordnung. Gleichzeitig wiesen sie in ihren autobiographischen Büchern schon auf einige wichtige Elemente hin, die im Schöße der alten Gesellschaft be173
reits zum Aufbau einer von den werktätigen Massen unter Führung der Arbeiterpartei initiierten, neuen Kultur beigetragen haben. Noch vor der nur durch den Sturz der kapitalistischen Ordnung erreichbaren ökonomischen Veränderung haben sozialdemokratische Presse, Parteiliteratur und Propaganda, organisiertes Arbeiterbildungsstreben, durch den Klassenkampf angeregtes und befördertes Lesen und Lernen und schließlich die zunehmende schöpferische Betätigung, das Schreiben, das literarische Schaffen die Menschen verändert, die einmal zur revolutionären Umwälzung führen oder aus deren Reihen zumindest die revolutionären Veränderer hervorgehen werden. Aus den Memoiren der sozialdemokratischen Selbstdarsteller, die Holeks eingeschlossen, erfahren wir einige Einzelheiten, die zum Anwachsen der Arbeiterbewegung beigetragen haben. Der durch Parteiliteratur aus der Lethargie des Duldens und Hinnehmens zur Aktivität Erweckte hat z. B. sofort damit begonnen, Gesinnungsgenossen zu gewinnen, die dann ihrerseits nach geraumer Zeit wiederum daziu beitrugen, daß aus indifferenten oder verbitterten Proletariern vielseitig interessierte und zuversichtliche Klassengenossen wurden. Die junge Adelheid Popp warb, nachdem sie zum Bewußtsein der Veränderbarkeit der sozialen Verhältnisse erwacht war, sogleich unter den Kolleginnen ihrer Fabrik Abonnenten für die Parteipresse, indem sie in den Arbeitspausen Artikel aus der SPD-Zeitung vorlas, sie ihren Zuhörerinnen interpretierte, Gespräche und Auseinandersetzungen entfachte und so neue Interessen und Aktivitäten weckte. Indem Arbeiter und Arbeiterinnen denken lernten, befreiten sie sich auch von der manipulierten Unkultur, in die das Bürgertum sie gezwungen hatte. Popp, Rehbein und besonders Bromme berichten von der billigen Schundliteratur, mit der die Proleten massenhaft versorgt wurden, aber auch von der apologetischen sogenannten höheren Literatur des Hohenzollernreiches, deren Verlogenheit der entwickelte, klassenbewußte Arbeiter sehr bald durchschaute. Der Wirklichkeitssinn des Emanzipierten wandte sich den Klassikern und den großen kritischen Realisten zu. Heinrich Heine war der Lieblingsdichter Brommes, und auch in der Art und Weise, in der sich Rehbein in seiner Auto174
biographie mit der überholten bürgerlichen Welt auseinandersetzt, ist Heines Einfluß zu spüren. Die Agitatorin Popp hatte eine besondere Vorliebe für das revolutionäre Pathos Georg Herweghs. Brommes Berichte und seine fast pedantische Buchführung über seine Lektüre weisen auf eine intensive Beschäftigung mit Autoren der Weltliteratur hin (Shakespeare, Shelley, Byron, Petöfi, Maupassant, Zola, Tolstoi, Korolenko, Gorki). Sie helfen ihm, sich selbst tiefer zu begreifen. Doch wenn ein Arbeiter über sich zu schreiben anfing, hat er kaum an die Vergangenheit angeknüpft. Die Gegenwart mit ihren Klassenkampfproblemen war die starke Kraft im Erkenntnisprozeß. In der Gestaltung dieser Gegenwartsprobleme, aus denen allein sich die zukünftige Lösung ableiten ließ, hat die frühe proletarische Selbstdarstellung etwas geleistet, wozu die bürgerliche Literatur dieser Zeit nicht imstande war. Die frühe deutsche Arbeiterautobiographie hat im Gegensatz zur krisenhaften Situation des bürgerlichen Erzählens am Anfang des 20. Jahrhunderts Ansatzpunkte zw einer grundsätzlichen Erneuerung des Erzählens geschaffen. Sie hat erzählend die Welt der werktätigen Massen, ihrer Arbeit, ihres Lebens, ihres Kampfes aufgeschlossen. Die Begebenheiten und Lebensläufe, über die die proletarischen Verfasser berichten, sind nicht nur festhaltenswerte, sondern notwendige Mitteilungen. Die Selbstdarsteller erzählen, indem sie in großen Bögen die Individualentwicklung mit der Klassen- und Gesellschaftsentwicklung in Beziehung setzen. Im Gegensatz zu den bürgerlichen Schriftstellern vermögen sie, nicht vom wachsenden Verlust, sondern vom wachsenden Gewinn der menschlichen Persönlichkeit zu reden. Ihr Amt, das mitzuteilen, sehen sie auch hier im Gegensatz zur Krise des bürgerlichen Erzählens als gesellschaftlich notwendig an. Sie zweifeln nicht daran, daß das auch Leser findet, proletarische und bürgerliche, weil der Kampf, der dargestellt wird, nicht nur den eigenen Interessen dient. Klassenrepräsentanz ist hier zugleich Menschheitsrepräsentanz. Die aus dem Klassenkampf geborene proletarische Kultur war damals schon ein wichtiges Mittel zur Bewältigung der brennenden Gegenwartsprobleme und der Eroberung einer besseren Zukunft für alle. Menschlich leben hieß .damals in erster Linie, frei zu sein von der Ausbeutung des Menschen 175
durch den Menschen. Aber es war damals auch schon gleichbedeutend mit dem Streben nach Entfaltung in befriedigender qualifizierter Arbeit -und den Alltag krönender schöpferischer Betätigung, nach einem sinnvollen und inhaltsreichen Leben mit Angehörigen und Freunden, im Arbeitskollektiv und in Verbundenheit mit der kämpfenden Arbeiterklasse in der ganzen Welt. In den frühen Arbeiterautobiographien drückt sich, wenn auch nicht besonders betont, schon der Anspruch auf eine dem Menschen gemäße, von Ausbeutung und Unterdrückung freie Gesellschaft aus.
Die Gewinnung der Arbeiterinnen Als ein Redner in einer sozialdemokratischen Versammlung vor dreihundert Männern und neun Frauen über Bebels Die Frau und der Sozialismus sprach und zur Diskussion aufforderte, beteiligte sich die zweiundzwanzigjährige Adelheid Popp mit einem Beitrag über die Ausbeutung und geistige Vernachlässigung der Arbeiterinnen. Diesem ersten erfolgreichen Auftreten folgte der erste Artikel, trotz großer Unsicherheit wegen der in drei Schuljahren nicht besonders weit gediehenen Übungen in Orthographie und Grammatik. 1892, ein Jahr später schon, wurde sie zur Mitbegründerin und verantwortlichen Redakteurin der Arbeiterinnen-Zeitung und seitdem zur einflußreichsten Vorkämpferin der sozialdemokratischen Frauenbewegung Österreichs. Sie wirkte auch über die Grenzen Österreichs hinaus. Es gab damals nur wenige aus dem Proletariat hervorgegangene Funktionärinnen, die ihr gleichzusetzen sind, in Hamburg Luise Zietz und Wilhelmine Kahler, in Berlin Ottilie Baader und Emma Döltz. Auch Friedrich Engels und August Bebel waren schon damals auf sie aufmerksam geworden und besuchten sie zusammen in Wien. Engels hatte Adelheid Dworschak (dies war ihr Geburtsname, sie heiratete Ende 1893 den Arbeiterfunktionär Julius Popp) schon als österreichische Delegierte auf dem Züricher Kongreß der Internationale von 1893 kennengelernt und ins Herz geschlossen. 194 Im Anschluß an den Kongreß fuhren Engels und Bebel über München, Salzburg nach Wien, wo am 176
14. September eine große Volksversammlung zu Ehren von Engels stattfand. Mehrere tausend Arbeiter Wiens gestalteten diese Versammlung zu einem eindrucksvollen Bekenntnis für den Sozialismus und für den proletarischen Internationalismus. Engels sprach damals die denkwürdigen Worte: „Alles, was geschieht in der ganzen Welt, geschieht mit Rücksicht auf uns. Wir sind eine Großmacht, die zu fürchten ist, von der mehr abhängt, als von anderen Großmächten. Das ist mein Stolz! Wir haben nicht umsonst gelebt und können auf unsere Arbeiten mit Stolz und Zufriedenheit zurückblicken." 195 Nach dieser Versammlung traf er mit Popp zusammen, und die kleine Episode, die sich am Rande des großen Geschehens zutrug und über die die Sozialdemokratin ausführlich in ihrer Autobiographie berichtet, zeugt von der großen Menschlichkeit der Arbeiterbewegung und ihrer Führer. Engels hatte erfahren, daß die alte Mutter Dworschak ihre Tochter wegen ihrer politischen Arbeit schmähte und beschimpfte, ja sogar verfluchte. Er besuchte sie deshalb und versuchte ihr, von Bebel unterstützt, klarzumachen, daß sie auf die Tüchtigkeit ihrer Tochter stolz sein müßte. Doch vergebliche Liebesmüh! Ein wenig belustigt lesen wir heute in der Jugendgeschichte einer Arbeiterin: „Als wir wieder allein waren, sagte sie geringschätzig: 'So Alte bringst du daher.' In ihren Augen handelte es sich bei jedem Mann, der kam, um einen Freier für mich, und d a es ihr seligster Wunsch war, mich verheiratet zu sehen, so wurde jeder daraufhin betrachtet." 196 Diese kleine Geschichte hat einen ernsten Kern. Sie zeigt einmal, wie wichtig den revolutionären Arbeiterführern die Gewinnung der Arbeiterinnen war. Zum anderen wird durch die Konfrontierung von Mutter und Tochter ein authentisches Beispiel des Kampfes zwischen Altem und Neuem vorgeführt. Dem vom Bürgertum übernommenen, aber überholten Prinzipien, wonach die Frau, mag es ihr dort auch noch so schlecht ergehen, nur in der Ehe und in der Familie etwas darstelle, steht das sozialistische Pathos der jungen Arbeiterin gegenüber, die im Zusammenhang mit diesem Erlebnis in ihrer jugendgeschichte schreibt: „Einer großen Sache aus Begeisterung dienen, gibt soviel innere Freude und verleiht dem Leben einen so hohen Wert, 12
Münchow
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daß man viel ertragen kann, ohne mutlos zu werden. Das lernte ich an mir erkennen. Wie hatte mich der Sozialismus verwandelt! und je mehr ich ihn verstand, je bewußter ich Sozialistin wurde, um so freier fühlte ich mich allen Anfeindungen gegenüber."197 Auch eine andere Geschichte aus den Anfängen der Arbeiterinnenbewegung liefert authentisches Material über die Veränderbarkeit .der Welt. Im Uraufführungsjahr von Hauptmanns Die Weber, wenige Wochen, nachdem ein Darsteller des Webers Ansorge zum erstenmal auf der Bühne die aufrüttelnden Worte gesprochen hatte: „Und das muß anderscher wem, sprech ich, jetz uf der Stelle. Mir leiden's nimehr!", am 3. Mai 1893, riefen siebenhundert Textilarbeiterinnen „Wir ertragen das nicht mehr! Wir streiken!" Die Quellen, die über diesen Streik informieren, sind die Erinnerungen der jungen Arbeiterin Amalie Seidel, die ihn entfacht hat198, und die Erinnerungen von Popp, die bei der Organisation dieses Streiks geholfen hat.199 Der Vergleich mit den Webern drängt sich auf, weil hier ein Beweis geliefert wurde, daß es, wenn auch unter anderen Verhältnissen, 1893 immer noch ähnliches Proletarierelend gab wie 1844. Eine Erklärung für die starke Wirkung des Weberdramas auf das internationale Proletariat! Popp schreibt: „Diese Frauen waren keine Revolutionärinnen. Mit Fatalismus hatten sie bisher ihr schweres Los ertragen. Eine täglich 12stündige Arbeitszeit war ihnen auferlegt, bei einem Lohn, der nicht mehr als 3-5 Gulden in der Woche betrug. Nur halb bekleidet, mit bloßen Füßen mußten viele ihre Arbeit, im Wasser stehend, verrichten. Andere wieder arbeiteten bei Temperaturen von mehr als 40 Grad, wobei sie gesundheitsgefährliche Dämpfe einatmen mußten. Alle ohne Ausnahme, junge Mädchen wie Frauen mit gesegnetem Leib und Mütter mehrerer Kinder, alle hatten dasselbe schwere Los zu ertragen. Von Jugendblüte war an diesen Frauen wenig zu merken, aber keiner war noch der Gedanke gekommen, daß es möglich sei, sich gegen dieses Los aufzulehnen. Sie waren zum Arbeiten geboren, die anderen zum Herrenlos, das war so, und dem mußte man sich fügen. Da auf einmal hatte eine junge Arbeiterin angefangen, eine neue Sprache zu sprechen." 178
Es war die 17jährige Amalie Seidel, die 1893 in einer Appreturfabrik die Freigabe des Ersten Mai durchgesetzt hatte und - als sie in der darauf folgenden Mittagspause zu den Arbeiterinnen darüber sprach, daß sie noch mehr erreichen und etwas unternehmen müßten, um durch entsprechende Organisation ihre Verhältnisse zu verbessern - fristlos entlassen wurde. Als sie später nach Hause kam, war der Hof voll von Arbeiterinnen ihrer Fabrik, die ihr stürmisch zuriefen, daß sie ihre Entlassung nicht dulden würden. Darauf hielt die junge Arbeiterin vom Hackstock herab eine Rede, in der sie vorschlug, nun diese Gelegenheit wahrzunehmen und mehr zu fordern. Als am 3. Mai Delegierte vom Unternehmer die Wiedereinstellung der Seidel und die Reduzierung der Arbeit von zwölf auf zehn Stunden forderten, wurde dies abgelehnt. Da brach der Streik aus. Seidel berichtet: „Und momentan, so wie die Arbeiterinnen gingen und standen, barfuß, der großen Hitze wegen, die in manchen Arbeitsräumen herrschte, nur halb bekleidet, am Arm die Kleider, in der Hand die Körbchen mit dem dürftigen Mittagessen oder die Kaffeekannen, so verließ alles die Fabrik. In einem nahegelegenen Gasthausgarteil machten die Frauen Toilette, während ich zur Genossin Dworschak (Popp - U. M.) stürzte, um ihr die Streiknachricht zu überbringen. Nachmittags schon war die erste Versammlung auf einer Wiese in Meidling, der bald andere folgten. Auch die Arbeiterinnen von drei anderen Fabriken schlössen sich an, so daß nach einigen Tagen gegen 700 Frauen und Mädchen im Streik standen. Da dies der erste Frauenstreik war, mächte er natürlich Aufsehen; auch die bürgerliche Presse beschäftigte sich damit, natürlich, um darüber zu klagen, daß nun auch die Arbeiterinnen 'aufgehetzt' wurden. Es gab auch Ausnahmen. So schrieb der Korrespondent einer englischen bürgerlichen Zeitung, daß 'die Streikenden, die die 14 Tage hauptsächlich zu ihrer Erholung in freier Luft benützten, am Ende des Streiks bedeutend besser aussähen als früher'. Es war ja auch kein Wunder! Denn bei 12 bis 13 Stunden täglich arbeiten in Räumen, wo manchmal 54 Grad Hitze herrschte, oder in der Bleicherei, die von Chlorgestank erfüllt war, oder in der Färberei, wo auch liebliche Düfte das Atmen zur Qual machten, konnten 12*
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ja die Frauen nicht gut aussehen. Dank der Solidarität der Arbeiterschaft konnten die Streikenden so ausreichend unterstützt werden, daß sie nicht viel weniger hatten als sonst in der Fabrik. Und so wurden nach einer Streikdauer von 14 Tagen die Forderungen durchgesetzt." 200 Adelheid Popp ergänzt die Erinnerungen Amalie Seidels noch anschaulicher: „Nun gab es viele Demonstrationen vor den Fabriken, in denen gestreikt wurde. Die Frauen und Mädchen wachten eifrig darüber, daß Arbeitswillige nicht in die Fabriken gelangen konnten. Bei einem solchen Anlaß versuchte eines Tages die Polizei, die Streikenden zu verjagen. Es entstand ein großer T u m u l t . . . Frauen, die sich ihr Leben lang redlich geplagt hatten, wurden dem Gericht eingeliefert, darunter die Mutter eines Säuglings. D a den Streikenden von allen Seiten die tätigsten Sympathiebeweise zukamen, neben reichlichen Geldspenden auch Lebensmittel und Kleiderstoffe, so ging es den Frauen viel besser als zur Zeit, wo sie arbeiteten. Es war keine Täuschung, sie blühten gesundheitlich auf während des Streiks. Sie waren jetzt täglich viele Stunden in frischer Luft, das Streikkomitee veranstaltete Ausflüge, und fröhlich singend zogen die Arbeiterinnen durch die Straßen. Manche Mütter lernten in dieser Zeit erst kennen, was ihre Kinder entbehren mußten. Nun konnten sie zusammen sein, gemeinsam konnten sie sich an den Ausflügen beteiligen, und dabei hatten sie dank der Solidarität der Arbeiterklasse satt zu essen." Die einzige politische Forderung war die Durchsetzung der ständigen Freigabe des Ersten Mai. Seidel berichtet dann noch weiter in ihren Erinnerungen, daß sie seitdem aktive Sozialdemokratin gewesen sei, einigemal ins Gefängnis geworfen wurde, aber trotzdem seither in Hunderten von Versammlungen gesprochen habe. Sie schließt 1912 mit dem Bekenntnis: „In der Partei betätigte ich mich eben, soweit es meine Familienverhältnisse erlaubten; am meisten in den letzten Jahren, wo meine Kinder mich weniger brauchten und ich mich besonders für die Genossenschaftsbewegung interessierte, die so wie die gewerkschaftliche und politische Bewegung notwendig ist für den Aufstieg und den endlichen Sieg der Arbeiterklasse." 201 180
Wie die neue, sozialistische Welt aussehen soll Der Glaube an die Veränderbarkeit der Welt und die Überzeugung vom kommenden Sieg des Proletariats über die herrschende Gesellschaftsordnung tritt in allen aus der Arbeiterbewegung hervorgegangenen Autobiographien deutlich hervor. Am Schluß der ]ugendgeschichte einer Arbeiterin steht das Bekenntnis: „Unerschütterlich wurde mein Vertrauen, daß der schöne Spruch..., der oft bei Arbeiterfesten die Wände schmückt, durch die sieghafte Kraft des proletarischen Befreiungskampfes verwirklicht werden wird. Er lautet: Was Daß Daß Und
wir begehren von der Zukunft Fernen? Brot und Arbeit uns gerüstet stehn; unsere Kinder in der Schule lernen unsre Greise nicht mehr betteln gehn."
Dieser schlichte und wirklich sehr schöne Spruch, den Popp irrtümlich Georg Herwegh zuschrieb, enthält in dem glücklich gewählten Symbol von „Brot und Arbeit" und in dem zukunftsweisenden Bild von den lernenden Kindern und den versorgten Alten wichtige sozialistische Forderungen. W i e der Sozialismus durchgeführt werden und wie die veränderte Welt aussehen soll, darüber gab es damals unter den sozialdemokratischen Arbeitern wenig konkrete Vorstellungen, meist sind sie indirekt aius Sehnsüchten, Wünschen, Vorschlägen und Forderungen ableitbar. Auf jeden Fall ist gerade in dieser Hinsicht das in den Autobiographien enthaltene Material, das rund 75 Jahre Geschichte der deutschen Arbeiterklasse umfaßt, für uns heute besonders aufschlußreich. Wenn auch, an den in Geschichtsbüchern aufgezeichneten Fakten der Arbeiterbewegung gemessen, in den vorliegenden Erinnerungsbüchern viele Lücken sind, so legen die Selbstdarsteller doch Schichten des proletarischen Lebens, Denkens, Fühlens und Handelns frei, die, vom Historiker bisher wenig erfaßt, das Geschichtsbild sehr bereichern. Aus dem Drängen nach Beseitigung der Kluft zwischen geistiger und körperlicher Arbeit, das wir anhand der Auto181
biographien nachgewiesen haben, geht z. B. hervor, daß sich nicht nur der bewußte Industriearbeiter im Sozialismus eine bessere Organisation der Arbeit wünscht, sondern auch der fortschrittliche Landarbeiter, der sich wie Rehbein für die wissenschaftliche Verbesserung der landwirtschaftlichen Produktion interessiert. Solch ein Interesse an der Arbeit kann in immer stärkerem Maße mit dem Wunsch nach Mitbestimmung identifiziert werden, der noch verstärkt wird durch den Eindruck der chaotischen Organisation und Planung der nur von Profit und Weltmarktlage bestimmten kapitalistischen Wirtschaftsführung. Selbst Fischer und Holek, die sich vom ungelernten Wanderarbeiter zum Industriearbeiter entwickelt haben, betonen in ihren Memoiren, daß durch besseres Durchdenken des Arbeitsvorganges Ausschußware vermieden und die Qualität erhöht, ferner durch rationelles Kombinieren einzelner Arbeitsvorgänge die Arbeitszeit für ein bestimmtes Produktionsverfahren gesenkt werden kann. Beide erkennen das unabhängig von ihren Vorgesetzten, ja sogar im Gegensatz zu diesen. Sie kritisieren auch, daß bei dem häufigen Wechsel der Arbeitskräfte immer wieder neue ungelernte eingestellt werden, die sich mühsam die Arbeitsfertigkeit bei ihren Kollegen absehen müssen. Daraus erwächst die Forderung nach planmäßiger Schulung von Facharbeitern, nach Mitwirken des einzelnen Arbeiters bei Maßnahmen zur Vereinfachung und Beschleunigung von Arbeitsvorgängen, zur plan- und termingerechten Produktion und, alles in allem, das Ersetzen der Akkordarbeit durch L,eistungsarbeit. Alle Arbeiterautobiographen verlangen einen stärkeren Arbeitsschutz und grundsätzliche Veränderung der Arbeitsbedingungen und Arbeitsverhältnisse. Daß sie all dies nicht vom Unternehmer erhoffen, sondern von der zur Herrschaft gelangten Arbeiterklasse, ist nach den Erfahrungen, die sie mit dem Kapitalismus gemacht haben, selbstverständlich, auch wenn es nicht von jedem Autor offen ausgesprochen wird, oder wenn dies einem Mann wie Fischer nicht unmittelbar bewußt ist. Ein anderer Ausgangspunkt für konkrete Sozialismusvorstellungen ist die Feststellung 'des unterschiedlichen Bewußtseinsgrads in den eigenen Reihen. Überzeugte eifrige Agitatoren wie Bromme und Popp wußten bereits, wie wichtig das, was 182
wir heute sozialistische Erziehung nennen, Tag für Tag ist und sein wird. Alle wußten, weil sie es am eigenen Leibe erfahren hatten, daß wichtige Voraussetzungen dafür sind: die Beseitigung der für Kapitalist und Großgrundbesitzer so nützlichen Kinderarbeit und eine gründliche Schulbildung für Arbeiterkinder. Popp fordert darüber hinaus auch gleichen Lohn für Mann und Frau. Es ist natürlich, daß als Ziel des Klassenkampfes im Mittelpunkt aller Vorstellungen von einer besseren Gesellschaftsordnung die Hebung der materiellen Lage des Proletariats steht, woraus als Hauptforderung die nach Veränderung der Produktionsverhältnisse erwächst: die Beseitigung des Privateigentums an Produktionsmitteln durch Überführung in gesellschaftliches Eigentum. Diese zentrale Frage erscheint jedoch stets im Zusammenhang mit differenzierten anderen Problemen, z. B. mit solchen der Bildung und Kultur. Die Autobiographien veranschaulichen, daß der Klassenkampf nicht aus dem Lohnkampf erwachsen ist. Gerade der klassenbewußte Arbeiter hat ein persönliches, schöpferisches Verhältnis zu seiner Arbeit gehabt und sie nicht nur als Mittel, seinen Magen zu füllen betrachtet. Aus dem Widerspruch zwischen der natürlichen Freude an der Arbeit und den menschenunwürdigen Bedingungen, unter denen sie geleistet werden mußte, folgt, daß die Entwicklung der Produktivkräfte, von der die Weiterentwicklung der menschlichen Gesellschaft überhaupt abhängt, unter kapitalistischen und insbesondere unter monopolkapitalistischen Verhältnissen so erschwert ist, daß diese historisch notwendig durch sozialistische ersetzt werden müssen. Diese Konsequenz wird aus Brommes Lebenisgeschichte besonders deutlich. Wenn ein Interpret aus jüngster Zeit, der Westberliner Literaturwissenschaftler Bernd Neumann 202 , Brommes Geschick mit dem Problem der Entfremdung in Verbindung bringt und klagt, daß Proletarier und Bourgeois im kapitalistischen Produktionsprozeß in gleicher Weise der Vereinzelung unterworfen seien, so negiert er den Klassenkampf, dessen Kern gerade die Solidarisierung des Proletariats gegen Ausbeutung und Entfremdung i s t . Neumann schreibt: „Andererseits resultieren Brommes häufige Arbeitsplatzwechsel aus den Bezie183
hungen der Arbeiter untereinander; wie aus seinen Erinnerungen hervorgeht, erschöpften sich diese Beziehungen meist in Gehässigkeiten, Beleidigungen und allenfalls stumpfer Gleichgültigkeit, unterbrochen nur durch kurzlebige Verbrüderungen im Trunk. Denn das Interesse, das diese Arbeiter zusammenführte, war nicht ihr eigenes; es ist das Interesse des Kapitals, das den Arbeiter in Fabriken zusammenführt, wo er in arbeitsteiliger Kooperation, unter Bedingungen, die nicht er sich wählen kann, zu einem Zweck arbeitet, der ihm fremd sein muß: zur Produktionssteigerung, die der Gewinnmaximierung der Bourgeoisie dient. - Der Markt als Form gesellschaftlicher Kommunikation treibt beide Klassen, die von ihm abhängen, in die Vereinzelung: den Proletarier ebenso wie den Bourgeois. Die zufälligen, entpersönlichten und brutalen Beziehungen unter den Arbeitern selbst, wie Bromme sie schildert, stellen sich dar als Reflex einer durch Besitzverhältnisse und fortschreitende Rationalisierung immer mehr entfremdeten Arbeit, über deren Organisation wie deren Produkte nicht die unmittelbar beteiligten Arbeiter, sondern die Kapitalisten verfügen." 203 Ebenso bezieht er auch das Proletariat in die Feststellung ein, daß in einer kapitalistischen Gesellschaft jeder der Wolf des andern ist. Auch Mitteilungen Brommes aus der Bildungs- und Intimsphäre benutzt Neumann, indem er sie aus dem Zusammenhang reißt und einseitig grell beleuchtet, um das Proletariat in den gesellschaftlichen Verfall einzubeziehen. Er widmet Brommes Offenheit in der Erwähnung sexueller Fragen breite Ausführungen und zieht die Schlußfolgerung, daß die materielle Not zum völligen Zerfall des proletarischen Familienlebens führe und daß in den Beziehungen der Geschlechter aus gleichem Grunde die Sexualität sich nicht zur Erotik entfalten könne. Zur Untermauerung seiner Verfallsthese vergißt er auch nicht, die von Bromme erwähnte Tatsache, daß es unglückliche Arbeiter gibt, die sich mit Narkotika, Alkohol, Schundlektüre und Tagträumerei betäuben, verallgemeinernd der ganzen Klasse anzuhängen. Die Einseitigkeit dieser Methode, Schwierigkeiten und Mißstände, die Bromme beschreibt, übertreibend zu verabsolutieren und dabei zugleich Interesse für die von der kapitalistischen Gesellschaft ungelöste soziale Frage zu demonstrie184
ren, wird besonders durchsichtig bei der Behandlung des Bildungsproblems. Die von uns im Abschnitt über die proletarischen Kindheitserlebnisse ebenfalls angeführte Tatsache, daß der Schüler Bromme, um seine während des Sozialistengesetzes allein dastehende Mutter zu unterstützen, u. a. eine Zeitlang bei einem Kolportagebuchhändler arbeitete und 'die vertriebenen Bücher auch las, legt Neumann als „Flucht aus der Wirklichkeit" in übermäßige Lektüre von Schundromanen aus. Nach allen hier vorangegangenen Analysen ist es überflüssig, Bromme gegen Neumann zu verteidigen. Es genügt zu konstatieren, daß der Neuherausgeber der Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters in 14 Seiten Nachwort kein einziges Wort über das diese Autobiographie immanent durchziehende imponierende Bildungstreben verliert, daß ihn die große und sachkundige Belesenheit Brommes, 'die von den Klassikern über die Realisten der Weltliteratur bis zur Gegenwartsliteratur reicht, offenbar nicht interessiert. Er scheint es zumindest nicht für nützlich zu halten, die bundesdeutschen Leser darauf aufmerksam zu machen. Sie könnten sonst angesichts der Tatsache, daß Bromme seine Engagiertheit für Fragen der Kunst und Literatur nicht als Einzelfall darstellt, auf den Gedanken kommen, daß sich schon damals vorbereitete, was noch heute bestimmte bürgerliche Schichten nicht für existent halten möchten: eine eigenständige, kräftige und zukunftsweisende sozialistische Kultur. Die entmenschlichende Wirkung des kapitalistischen Systems, die u. a. zur Entfremdung des Arbeiters von seiner Arbeit führt, hat in der Entstehungszeit des Proletariats auch zu moralischen Ungeheuerlichkeiten in seinen eigenen Reihen geführt. Wir haben anhand der frühen Arbeiterautobiographien und mit Hinweis auf den Quellenwert von Engels' Lage der arbeitenden Klasse in England Beispiele dafür angeführt, wie die Verzehrung der physischen Substanz der Arbeiter und die ökonomische Verelendung zu Verrohung der Sitten geführt hat. Aber gerade die Arbeiterautobiographie ist Ausdruck und Mittel des Ringens g e g e n diese entmenschlichende Wirkung des Kapitalismus. Sie ist Ausdruck des revolutionären Anspruchs, Mensch zu sein, und entwickelt im Gegensatz zur kapitalistischen Gesellschaft die Vorstellung eines 185
•menschenwürdigen Lebens in einer veränderten Welt. Ebenso sind die authentischen Mitteilungen über das proletarische Bildungsstreben ganz gegen den Kapitalismus und auf den Aufbau einer neuen, besseren Gesellschaft ausgerichtet. Das Bildungsstreben ist nur wirksam im Zusammenhang mit dem Klassenkampf. Es erscheint deshalb auch in Brommes Lebensgeschichte immer gekoppelt mit dem Bewußtsein von der welterneuernden Mission der Arbeiterklasse. Wenn man den Nachdruck der Lebensgeschicbte eines modernen Fabrikarbeiters - über dies an sich verdienstvolle verlegerische Unternehmen erfreut - in die Hand genommen hat, so fragt man sich nach der Lektüre des Nachworts, welche Absicht denn eigentlich mit dieser Edition verbunden ist und kommt zu dem Ergebnis, daß diese Neuherausgabe der Tendenz des Textes diametral entgegengesetzt und das Nachwort geschrieben ist, um ihn zu verfälschen und die für proletarische Literatur interessierten bundesdeutschen Leser irrezuführen. Es wird hier eine Einstellung bestimmter intellektueller westdeutscher Schichten deutlich, die in Opposition zur bestehenden kapitalistischen Ordnung stehen, den Klassenkampf jedoch negieren. Sie trauen die Lösung der gesellschaftlichen Probleme weder dem Bürgertum noch dem Proletariat zu und propagieren einen dritten, zwischen den Klassen liegenden Weg. Sie geben sich dabei sozialen Veränderungsvorstellungen hin, die völlig utopisch und letztlich wiederum arbeiterfeindlich sind. Dem Sozialismus, nach dem sich Arbeiter wie Bromme sehnten und der seitdem auf einem großen Teil der Erde, organisch aus der internationalen revolutionären Arbeiterbewegung erwachsen, Wirklichkeit geworden ist, bringen sie kaum Sympathie entgegen. Sie erstreben eine neue, andere Art von „Sozialismus", der den widerspruchsvollen Interessen einer dünnen Schicht von Intellektuellen entspricht. Diese widerspruchsvolle Spontaneität der Auffassungen zeigt sich auch darin, daß Neumann zwar richtig Brommes Autobiographie als Zeugnis einer aufsteigenden Klasse bezeichnet und gegen die Ausbeutung durch die Bourgeoisie Partei ergreift, aber die sich aus dem Aufsteigen der ausgebeuteten Klasse •ergebenden Konsequenzen negiert und im übrigen alles tut, diese Klasse herabzusetzen. 186
Bromme unterscheidet ganz klar zwei Gruppen des Proletariats: die politisch und gewerkschaftlich organisierten klassenbewußten Arbeiter, denen er sich im Klassenkampf besonders eng verbunden fühlt, und n o c h unentwickelte, zu denen er vor allem die Jugend rechnet, oder unentwickelte, die er nicht in Bausch und Bogen verwirft, sondern denen er Verständnis entgegenbringt und die er in seine Agitation einbezieht. Selbst hinter seinem manchmal überbetonten Bildungsoptimismus steht etwas durchaus Positives, und das gilt auch für die anderen frühen Arbeiterautobiographien, die Neumann nicht erwähnt oder nicht kennt, für Rehbein, Popp, Märten, Krille und, die späten opportunistischen Schrullen abgerechnet, auch für Holek. Es ist der Wunsch nach der Entwicklung eines neuen proletarischen Menschenbildes in einer Gesellschaftsordnung, in der die Bildung nicht mehr nur Privileg des Bürgertums ist, sondern der ganzen Menschheit zugute kommt, und es ist die gewiß nicht utopische Vorstellung vom Arbeiter, der Wissenschaft, Literatur und Kunst als seine Angelegenheit betrachtet. Zur Vorstellung vom Menschenbild, das sich in einer sozialistischen Gesellschaft entfalten kann, gehören auch die schon im Ansatz vorhandenen neuen zwischenmenschlichen Beziehungen, die in der Familie beginnen, aber weit darüber hinausgehen bis zur Solidarisierung von Massen. Bromme war so ehrlich zuzugeben, wie schwierig es für ihn war, die Sorge für die wachsende Familie mit seiner politischen Arbeit und mit seinem Bildungshunger auf einen Nenner zu bringen. So mancher erschütternde Verzweiflungsschrei über die das materielle Elend noch vergrößernde Aussicht auf neuen Familienzuwachs verschafft sich Luft. Und es gab manchen Ehe„krach", wenn ein neues Buch gekauft wurde anstelle eines notwendigen Kleidungsstückes für die Kinder. Doch ist daraus in keiner Weise ein Zerfall der Arbeiterfamilie Bromme ablesbar, wie ihn Neumann konstruiert. Bromme hat in seiner Lebensgeschichte immer wieder betont, daß er seine Kinder geliebt hat und wie ihm jedes ans Herz gewachsen war. Ebenso verkehrt ist Neumanns Auslegung, daß die Eheleute außer dem Sexuellen nichts verband. Hier wird künstlich ein Primitivismus in das proletarische Leben hineingetragen, der nicht 187
charakteristisch ist. Gerade Bromme hat oft über das harte Leben seiner Frau nachgedacht, hat sie mit Erfolg angeregt, sich gewerkschaftlich zu organisieren, damit sie über ihre Hausfrauen- und Kinderstubenwelt hinauswachsen konnte, und hat z. B. in Berka keinen sehnlicheren Wunsch gehabt, als auch einmal diese schöne Gegend kennenlernen zu können. Der Klassenkampf hat das Proletariat in Ehe und Familie, auf dem Arbeitsplatz, in Partei und Gewerkschaft allen Schwierigkeiten zum Trotz allmählich immer fester zusammengeschweißt. Mit der Herausbildung kultureller Lebensgewohnheiten. begann die Entfaltung einer sozialistischen Lebensweise - Marx und Engels sprechen in der Deutschen Ideologie von einer massenhaften Veränderung der Menschen 204 - , die sich im Keim durchaus schon in den proletarischen Selbstzeugnissen am Anfang unseres Jahrhunderts widerspiegelt. Dennoch: Die unbestechliche Wahrheitsliebe der frühen deutschen Arbeiterautobiographie deckt auch die entmenschlichenden Auswirkungen des kapitalistischen Systems auf, die erst dann und in dem Maße allmählich überwunden werden, wie sich im Klassenkampf, in den Reihen der Kämpfenden, Gemeinschaftsbeziehungen herausbilden, die eine höhere Form der Humanität repräsentieren. Diese Bücher gehören zu unserem sozialistischen Kulturerbe, geben uns wichtige und interessante Auskunft über die widerspruchsvolle, schwierige, aber auch mutige und entschlossene sozialistische Menschwerdung, auch über ideologische Gefährdungen und Abweichungen, über Mißbrauch und Zerstörung besserer Möglichkeiten, über Unvollkommenes und Beispielhaftes, Vorbildliches, das uns, indem wir es erkennen und durchdenken, eine Hilfe auf unserem eigenen Lebensweg zu sein vermag. Aus den frühen deutschen Arbeiterautobiographien spricht ein neues Geschlecht, eine neue Welt tut sich auf, die das Tor zum Sozialismus öffnet.
Anmerkungen
A b kür^ungs Verzeichnis Aufsätze
Bebel 1 - 3
Bromme
Fischer Holek I
Hplek II Lenin 1 - 4 0 MEW 1-39
Popp
Rehbein
Franz Mehring: Gesammelte Schriften. Hg. v. Thomas Höhle / Hans Koch / Josef Schleifstein. (15 Bde) Bd. 11: Aufsätze zur deutschen Literatur von Hebbel bis Schweichel. Berlin 1961. August Bebel: Aus meinem Leben. Teil 1. Stuttgart 1910; Teil 2. Stuttgart 1911; Teil 3. Hg. v. Karl Kautsky. Stuttgart 1914. Moritz William Theodor Bromme: Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters. Hg. v. Paul Göhre. J e n a Leipzig 1905. Carl Fischer: Denkwürdigkeiten und Erinnerungen eines Arbeiters. Hg. v. Faul Göhre. Leipzig 1903. Wenzel Holek: Lebensgang eines deutsch-tschechischen Handarbeiters. Hg. v. Paul Göhre. Jena 1930. Neuaufl. der Ausg. v. 1909. Wenzel Holek: Vom Handarbeiter zum Jugenderzieher. Hg. v. Theodor Greyerz. Jena 1921. W. I. Lenin: Werke. (40 Bde) Berlin 1959-1968 (Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU). Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. (39 Bde) Berlin 1956-1968 (Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED). Adelheid Popp: Die Jugendgeschichte einer Arbeiterin von ihr selbst erzählt. Mit einführenden Worten v. August Bebel. München 1909. Franz Rehbein: Das Leben eines Landarbeiters. Hg. v. Paul Göhre. Jena 1911.
1 Jourde: Souvenirs d'un membre de la Commune (Erinnerungen eines Mitglieds der Commune). O. O. 1877; Jules Vallès: L'Enfant (Das Kind). [O. O.] 1879. - Le Bachelier (Der Abiturient). [O. O.] 1881; L'Insurgé (Der Aufrührer). O. O. 1886. Autobiographische Trilogie, den Toten von 1871, den Kommunarden, gewidmet; Henri Bauer: Mémoires d'un jenue homme (Erinnerungen eines jungen ¡Mannes). O. O. 1895. 2 Jules Vallès: Der Aufrührer. Aus dem Französischen. Hg. v. Rudolf Noack. Berlin 1971, S. 6-8. 3 Das Buchmanuskript wurde nach dem Tode Tressells 1911 aufgefunden, 1914 bearbeitet, 1918 gekürzt und erst 1955 vollständig herausgegeben. 4 William Gallacher: Revolt on the Clyde (Erhebung an der Clyde). London 1936. - Eine autobiographische Schrift von John Bunyan ist „Relation of the Imprisonmant of Mr. John Bunyan" (1665). Bunyan wurde nach dem Fall der englischen Republik (1660) wegen seiner revolutionären Predigten 12 Jahre eingekerkert. 5 Engels an Bebel, London, v. 8. 10. 1866. Zit. nach: Karl Marx/ Friedrich Engels. Über Kunst und Literatur. Eine Sammlung aus ihren Schriften. Hg. v. Michail Lifschitz. Berlin 1948, S. 244. 6 Ebenda. 7 Schiller-Seff ist 1846 in Reichenberg geboren und 1896 in den USA gestorben, wohin der revolutionäre Sozialdemokrat nach heftigen Konflikten mit den opportunistischen Elementen der österreichischen Parteiführung 1895 ausgewandert war. 8 Solche meist vieraktige Dramen sind: Emil Rosenow: Kater Lampe. Berlin 1902; Ernst Preczang: Im Hinterhause. Berlin 1903; Paul Mehnert: Golgatha. Berlin 1908; Franz Starosson/Robert Nespital: Tutenhusen. Alle abgedruckt bei Ursula Münchow: Aus den Anfängen der sozialistischen Dramatik. II u. III. Berlin 1965 u. Berlin 1972 (Textausgaben zur frühen sozialistischen Literatur in Deutschland. Bd. 5 u. Bd. 11). 9 10 11 12 13 14 15
Fischer, S. XI-XII. Ebenda, S.V. Ebenda, S. IV. Aufsätze, S. 498. Clara Zetkin: Über Kunst und Literatur. Berlin 1955, S. 103-104. Aufsätze, S. 498. Rudolf Lavant: Gedichte. Berlin 1965, S. 52 (Textausgaben zur frühen sozialistischen Literatur in Deutschland. Bd. 6). 16 Die Äußerungen von Hegeler und Avenarius zit. nach: Pressestimmen im Anhang von : Fischer.
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17 Louis Fischer: Aubeiterschicksale. Berlin 1906. 3. S. des Vorworts, ohne Seitenzahl. 18 Ebenda, S. 141. 19 Ebenda, S. 140. 20 Der Herausgeber Heinrich E. Kromer ist ein 1866 geborener .Schriftsteller, Maler und Graphiker. E r veröffentlichte 1908 unter dem Decknamen Heinrich Amann in der Zeitschrift Die Schweiz die Novelle: Der schlesische Porzellanmaler. Die seit 1915 erschienenen Denkwürdigkeiten eines Porzellanmalers von Gustav Hänfling, hg. v. Heinrich E. Kromer, wurden 1922, 1931 (mit 11 Holzschnitten v. Frans Masereel) und 1947 neu aufgelegt. Aus der Novelle sowie aus den Erläuterungen zur Ausgabe von 1947 geht hervor, daß der tagebuchschreibende Porzellanmaler wirklich gelebt hat. Ob der Name Hänfling fingiert ist, bleibt offen. In der Ausgabe von 1947 heißt es, „das Urbild des Gustav Hänfling" sei bald nach seinen letzten Aufzeichnungen verstorben. 21 Gustav Hänfling: Denkwürdigkeiten eines Porzellanmalers. Leipzig 1915, S. 46. 22 Ebenda, S. 143. 23 Zit. nach: W. I. Lenin: Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus. Berlin 1971, S. 12. 24 Gustav Hänfling: Denkwürdigkeiten eines Porzellanmalers. Leipzig 1915, S. 169-170. 25 Aufsätze, S. 494-495. 26 Bromme, S. V-VI. 27 Ebenda, S. VII-VIII. 28 Ebenda, S. VIII-IX. 29 Ebenda, S. 368. 30 Popp, Vorwort, S. I. 31 Ebenda, S. 85. 32 Holek II, S. 81. 33 Ebenda, S. 82. 34 Ebenda, S. 87. 35 Aufsätze, S. 498-499. 36 Ebenda, S. 764. 37 Zit. nach: August Bebel: Eine Biographie. Von einem Autorenkollektiv des Institut« für Geschichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin unter Leitung von Horst Bartel. Berlin 1963, S. 287. 38 Bebel 1, S. VII. 39 Lenin, Bd. 19, S. 291. 40 Bebel 3, S. V. 41 Ebenda, S. VI.
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42 Zit. nach: (August Bebel: Eine Biographie. Von einem Autorenkollektiv des Instituts für Geschichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin unter Leitung von Horst Bartel. Berlin 1963, S. 234. 4 3 Ebenda, S. 299. 44 Zum Beispiel in: Lexikon sozialistischer deutscher Literatur. 2. Aufl. Leipzig 1964, S. 350. 45 Prof. Dr. med. Alexander Mette, 1897 geboren, Nervenarzt mit engen Beziehungen zu Kunst und Literatur, zum Kreis von Herwarth Waiden gehörend, während der Weimarer Zeit Verleger von Arno Holz, in der D D R Universitätsprofessor und u. a. mit zahlreichen literarischen Arbeiten hervorgetreten im Zusammenhang mit der Widerlegung Freuds und der Anwendung der Lehre Pawlows auf Probleme der Kunst und Literatur. Zu unserem Gegenstand vgl. Alexander Mette: Stil einer neuen Universalität. Bemerkungen über Lu Märten. In: Aufbau 2 (1946) 12, S. 1266 bis 1267. 46 Aufsätze, S. 476. Belehrung 47 Die Neue Welt, Wöchentliche Beilage für Wissenschaft, und Unterhaltung zu Parteizeitungen 15 (1906) Nr. 45, S. 339. 48 Aufsätze, S. 484. 49 Erzgebirgisches Volk. Erinnerungen von A[lwin] Ger. Berlin 1918, S. 160. 50 Zum Beispiel bei Georg Misch: Geschichte der Autobiographie. (4 Bde) Frankfurt/Main 1949-1969. 51 Vgl. Dieter Heinemann: Interview mit Hans Lorbeer. I n : Weimarer Beiträge 17 (1971) 12, S. 64. 52 Werner Krauss: Einführung. I n : Jean-Jaques Rousseau: Bekenntnisse. 6. Aufl. Leipzig 1965, S. 33. 53 Vgl. Hugo Müller: Rousseau. Leipzig 1894. - 3. Aufl. als Nr. 1 der Reihe: Arbeiterbühne. Leipzig 1910. - Das Stück wurde während des Sozialistengesetzes im Auftrage der illegalen Parteileitung für das Arbeitertheater geschrieben, aber schon 'während der Einstudierung verboten, so daß es erst nach der Legalisierung der SPD gedruckt werden konnte. D i e mehrmalige Auflage spricht dafür, daß es oft gespielt worden ist. 54 Werner Krauss: Einführung. I n : Jean-Jaques Rousseau: Bekenntnisse. 6. Aufl. Leipzig 1965, S. 32. 55 Fritz Selbmann: Alternative, Bilanz, Credo. Versuch einer Selbstdarstellung. Halle 1969, S. 5 - 6 . 56 Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden. Hg. v. Eduard von der Hellen. Stuttgart-Berlin [1902-1912], S. 219, 221 u. 220.
192
57 MEW, Bd. 15, S. 447. 58 Friedrich Steinmann: Pauperismus und Communismus, ihre Ursachen und die Mittel zur Abhülfe. Solingen-Mühlheim/Rhein 1846, S. 28. 59 Vgl. Ausführliches bei Dietrich Eichholtz: Bewegungen unter den preußischen Eisenbahnbauarbeiten im Vormärz. In: Beiträge zur deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. Berlin 1962, S. 251-284, u. bei Karl Obermann: Zur Rolle der Eisenbahnarbeiter im Prozeß der Formierung der Arbeiterklasse in Deutschland. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte. Teil 2. Berlin 1970, S. 129-172. 60 Fischer, S. 124. 61 Ebenda, S. 126. 62 Ebenda, S. 193-196. 63 Holek I, S. 102-126. 64 Ebenda, S. 117. 65 Ebenda, S. 113. 66 Ebenda, S. 113-114. 67 Ebenda, S. 114. 68 Ebenda, S. 120. 69 Ebenda, S. 141. 70 Ebenda, S. 145. 71 Ebenda, S. 173. 72 Ebenda, S. 312. 73 Ebenda, S. 313-314. 74 Ebenda, S. 309. 75 Bramme, S. 234. 76 Ebenda. 77 Ebenda, S. 255-256. 78 Vgl. Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Bd. 2 : Vom Ausgang des 19. Jahrhunderts bis 1917. Kap. 4 : Periode vom Ausgang des 19. Jahrhunderts bis 1914. Berlin 1966, S. 20 (Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED). 79 Bromme, S. 292. 80 Ebenda, S. 252. 81 Ebenda, S. 251-252. 82 Holek I, S. 51. 83 Ebenda, S. 56. 84 Ebenda, S. 67. 85 Ebenda, S. 70. 86 Ebenda, S. 182. 87 Fischer, S. 32. 88 Ebenda, S. 35.
13 Münchow
193
89 90 91 92 93 94 95 96
Ebenda, S. 51. Ebenda, S. 82. Ebenda, S. 134. Ebenda, S. 356. Ebenda, S. 39. Bromme, S. 105. Popp, S. 74. Fritz Selbmann: Alternative, Bilanz, Credo. Versuch einer Selbstdarstellung. Halle 1969, S. 6. 97 Rehbein, S. 14. 98 Ebenda, S. 76. 99 Ebenda, S. 14. 100 Ebenda, S. 15. ' 101 Ebenda, S. 74. 102 Ebenda, S. 75. 103 Ebenda. 104 Ebenda, S. 64-65. 105 Ebenda. 106 Ebenda, S. 236. - Die Textstelle wurde zur Veranschaulichung in Verszeilen gesetzt. 107 Ebenda, S. 237. 108 Ebenda. 109 Wolfs, Geschichten um ein Bürgerhaus. Erzählt von Wilhelm Langewiesche. München-Leipzig o. J., S. 123-124. 110 Die klassische Quelle über die Kinderarbeit im Kapitalismus ist die bekannte Beschreibung von Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England (In: MEW, Bd. 2, S. 391-394). Der Bericht aus dem bürgerlichen Memoirenwerk wirft ein Licht auf die deutschen Verhältnisse. 111 Fischer, S. 72. 112 Maxim Gorki: Meine Kindheit. Berlin-Weimar 1970, S. 264. 113 Fischer, S. 30. 114 Ebenda, S. 46. 115 Ebenda, S. 53. 116 Bromme, S. 51. 117 Lorenz Berg: König Mammon und die Freiheit. Ein Bilderbuch für große und kleine Kinder. O. O. 1878. 118 Bromme, S. 60. 119 Ebenda, S. 65. 120 Ebenda, S. 83. 121 Ebenda, S. 68 122 Ebenda, S. 77. 123 Rehbein, S. 18.
194
124 125 126 127 128 129
130 131 132 133 134 135 136 137 138
139
140 141 142 143 144 145 146 147 148 149
Ebenda, S. 59. Ebenda, S. 21. Ebenda. Ebenda, S. 62. Ebenda, S. 40-41. Karl Liebknecht: Gesammelte Reden und Schriften. (9 Bde) Berlin 1958-1968. Bd. 1, S. 440 (Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED). Popp, S. 73-74. Rehbein, S. 157-193. - Das folgende Zitat ist dem Schluß des Kapitels entnommen. Bebel 1, S. 2. Ebenda, S. 5. Ebenda, S. 17. Ebenda, S. 41. Bebel 2, S. 145. Ebenda, S. 179. Vgl. Wolfgang Steinitz: Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten. (2 Bde) Berlin 1955-1962. Bd. 2, S. 336 (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Volkskunde. Bd. 4. 2.). - Nach den neuesten Forschungen von Klaus Völkerling stammt der Text dieses Liedes ursprünglich von dem frühen sozialistischen Lyriker und Publizisten Max Kegel. Bromme, S. 132. - Bromme zitiert in seiner Autobiographie auch noch einige Zeilen einer dritten Strophe, die den proletarischen Internationalismus kennzeichnen: „Ihr Brüder all, ob Deutsche, ob Franzosen / ob Ungarn, Dänen, Ruß- und Niederland, / ob grün, ob rot, ob blau, ob -weiß die Hosen, / reicht Euch statt Blei zum Gruß die Bruderhand." Steinitz berichtet, daß deutsche Arbeiter oft wegen Singens dieses Liedes auf die Festung kamen und daß es dort auch noch während des ersten Weltkrieges gesungen wurde. Bebel 2, S. 183-184. Ebenda, S. 201. Ebenda, S. 226. Lenin, Bd. 34, S. 358-359. Holek II, S. 105. Bromme, S. 199-209. - Das folgende Zitat ist dort entnommen. Ebenda, S. 253. Ebenda. Ebenda, S. 258-259. Ebenda, S. 284.
195
150 Ebenda, S. 260. 151 Ebenda, S. 262. 152 Ebenda, S. 267. - Von einem 1866 in Gotha geb. Industriearbeiter und Vagabund Ernst Schuchardt erschien: Sechs Monate Arbeitshaus. Erlebnisse eines wandernden Arbeiters. Hg. v. Hans Osterwald. Berlin 1907. 3. Aufl. - Es ist nicht eindeutig nachzuweisen, daß es sich hier um den Freund Brommes handelt. 153 154 155 156
157 158 159 160 161 162 163 164
165 166 167 168 169 170 171 172 173 174 175 176 177 178 179 180 181 182
Ebenda, S. 260-261. Ebenda, S. 261. Ebenda. Vgl. dazu auch: August Otto-Walster: Deutsche Tramps in Amerika. Skizzen. Braunschweiger Volkskalender 1879, in denen von deutschen Auswanderern berichtet wird, die bis nach St. Louis hinauf gelangt sind. Bromme, S. 262. Ebenda, S. 263. Ebenda. Ebenda, S. 277. Ebenda, S. 266. Ebenda, S. 286. Ebenda, S. 271. Ebenda, S. 274-275. - Dieses Gedicht ist in dem weit verbreiteten Sozialdemokratischen Liederbuch (1891) von Max Kegel abgedruckt. Der Text stammt von Georg Herwegh. Ebenda, S. 280. Holek I, S. 216. Ebenda, S. 204-205. Ebenda, S. 205-206. Ebenda, S. 209. Ebenda. Ebenda, S. 210. Ebenda, S. 211. Ebenda, S. 210. Zitat aus Heinrich Heine: Deutschland ein Wintermärchen. Kaput I. Rehbein, S. 225-226. Popp, S. 71-72. Ebenda, S. 75. Ebenda, S. 4. Ebenda, S. 30. MEW, Bd. 1, S. 464-465. Popp, S. 22. Bromme, S. 182.
196
183 184 185 186
Ebenda. Bebel 1, S. 44-45. Rebbein, S. 135. Ebenda, S. 136.
187 Ebenda, S. 137. 188 Ebenda, S. 138. 189 190 191 192
Ebenda, Ebenda, Bromme, Popp, S.
S. 151. S. 211-213. S. 258. 61.
193 Ebenda, S. 77-78. 194 Friedrich Engels: Eine Biographie. Berlin 1970, S. 595 (Institut für Marxismus-Leninismus beim Z K der SED). 195 Ebenda. - Dort zit. nach: MEW, Bd. 22, S. 410. 196 Popp, S. 92. 197 Ebenda. 198 Amalie Seidel: Der erste Arbeiterinnenstreik in Wien. In: Gedenkbuch. Zwanzig Jahre österreichische Arbeiterinnenbewegung. Hg. v. Adelheid Popp. Wien 1915, S. 46-49. 199 Adelheid Popp: Erinnerungen. Aus der Agitation und anderes. Stuttgart 1915, S. 46-49. - Das folgende Zitat ist dort entnommen. 202 Vgl. Moritz Th. W. Bromme: Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters. Nachdruck der Ausg. v. 1905. Mit einem Nachwort hg. v. Bernd Neumann. Frankfurt/Main 1971. 203 Ebenda, S. 373-374. 204 MEW, Bd. 3, S. 78.
Personenregister
Adler, Viktor 43 Äppelmonke 135 137 Arndt, Ernst Moritz 107 Auer, Ignaz 9 Avenarius, Ferdinand
24 25 27
163 169 170 173 174 188 196 Brüger 135 136 Bunyan, John 8 190 Byron, George 175
182-
Baader, Ottilie 176 Bab, Julius 49 Bauer, Henri 7
Claudius, Eduard 107
Bebel, August 8 9 10 11 12 18 30 33 34 42 43 44 46 53 62 101 102 103 111 114 121 124 125 126 127 128 129 143 164 169 176 177 Becher, Johannes R. 106 Becker, Johann Philipp 8 10 Bismarck, Otto v. 117 125 126 Börne, Ludwig 147 Borckheim, Sigismund 8 Bosse, Friedrich 56 Bräker, Ulrich 57 58 120 Brecht, Bertolt 155 156 167 Bredel, Willi 127 128 169 Bröger, Karl 170 Bromme, Eduard 29 30 111 Bromme, Moritz William Theodor 12 18 22 27 29 30-32 33 34 37 39 53 62 68 81-86 9 0 - 9 1 95 100 101 110-115 117 118 122 126 128 131-133 134 135 136 137 138 139 140 141 142 143 145-148 157 158 161-
Daudet, Alfons 161 162 Diederichs, Eugen 21 29 35 37 Dietzmann, Ernst 112 113 115 139
62 63 64 91
Döltz, Emma 176 Dworschak (Mutter) 177 Dworschak, Adelheid (verehelichte Popp) 176 179 Elling
140
Engels, Friedrich 8 9 10 27 30 56 75 107 121 160 173 176177 185 188 Fischer, Carl 10 18-26 29 30 32 33 35 36 39 53 57 65 67 68 70 71 73 74 75 76 77 86 87 89 90 92 100 103 105 106 107 108-110 117 122 132 157 160 161 164 182 Fischer, Louis 25 28 Fontane, Theodor 63 Friedrich II. 26
Gallacher, William 8 Geib, August 157 Ger, Alwin 11 51 52 53 157 Göhre, Paul 20 21 22 23 24 25 26 31 32 33 35 36 37 38 39 40 61 Goethe, Johann Wolfgang v. 52
Koblischke 139-140 Korolenko, Wladimir 175 Kretzer, Max 52 - 53 86 Krille, Otto 11 18 45 46 48 49 50 53 82 117 129 187 Kromer, Heinrich E. 26 191
59 60 61 63 65 93 147 Gorki, Maxim 8 16 105 138 147 175 Grabbe, Christian Dietrich 147 Graf, Oskar Maria 169 Grau, Richard 146 Greyerz, Theodor 35 36 37 Grimmelshausen, Hans Jacob Christoffel 57 Güntzer, Augustin 57
Lafargues, Paul 173 Lassalle, Ferdinand 30 40 125 173 Lavant, Rudolf 13 23 45 Lenau, Nikolaus 147 Lenin, Wladimir Iljitsch 23 42 43 67 128 129 Lepp, Adolf 13 Lessing, Gotthold Ephraim Liebknecht, Karl 121 Liebknecht, Wilhelm 9 121 126 127 173 Lipinski, Richard 157 Lorbeer, Hans 58 Lunatscharski, Anatoli 128 Luxemburg, Rosa 42 129
Hänfling, Gustav 26-28 167 168 Hanke 149 Hauptmann, Gerhart 21 26 86 121 147 159 160 178 Hegeler, Wilhelm 24 Heine, Heinrich 13 49 146 147 153 174 175 Herwegh, Georg 175 181 196 Hitler, Adolf 63 Holek, Wenzel 18 22 28 35 36 37 38 39 40 53 57 62 68 74 75 76 77 78 79 81 86 88 89 92 100 103 104 115 117 118 129 131 132 134 135 139 141 149 150 151 152 157 161 174 182 187 Holz, Arno 159 160 Hutten, Ulrich v. 56 Jourde
7
Kähler, Wilhelmine 176 Kautsky, Karl 44 Kautsky, Minna 14 Kegel, Max 13 93 148 157 196 Klaar, Ernst 13
56
27
147 125
Märten, Lu 11 18 45 46 47 48 49 50 117 187 Mann, Tom 8 27 Marchwitza, Hans 69 107 112 121 Marrek, Martin 113 Marx, Karl 10 56 65 69 121 188 Maupassant, Guy 175 Mehring, Franz 8 22 24 29 37 38 39 47 48 49 Mette, Alexander 46 47 192 Moltke, Helmut v. 117 Motteier, Julius 9 Mussolini, Benito 91 Naumann, Friedrich 25 Neumann, Bernd 183 184 186 187
199
185
Novotny, Wenzel
149 150
151
152 Otto-Walster, August O'Brien, Bronter
14 4 5 '
8
Palatschek 152 Petöfi, Sandor 175 Platter, Thomas 55 56 Polenz, Wilhelm v. 86 Popp, Adelheid (geb. Dworschak) 12 18 33 34 35 36 39 53 62 82 91 100 103 105 106 107 117 118 122 131 134 157 158 159 161 162 171 173 174 175 176 177 178 179 180 181 182 183 187 Popp, Julius 176 Preczang, Ernst 14 45 46 51 143 Raabe, Wilhelm 108 Rehbein, Franz 12 18 35 39 40 41 51 53 57 87 92 - 98 100 116 117 118 120 123 124 128 135 155 156 157 164 165 166 168 169 173 174 182 187 Reuter, Fritz 169 Rodeck, Karl 140 141 Rosegger, Peter 58 Rosenow, Emil 14 27 45 46 53 Rousseau, Jean-Jacques 59 60 61 75 Sachs, Hans 56 Sakowski, Helmut 169 Sastrow, Bartholomäus 55 56
Shakespeare, William 27 175 Shelley, Percy 175 Seidel, Amalie 178 179 180 Selbmann, Fritz 60 62 63 64 91 92 Sorge, Friedrich 27 Scharrer, Adam 94 169 Schiller, Friedrich 147 161 Schiller, Josef, gen. Schiller-Seff 10 190 Schlaf, Johannes 159 160 Schuchardt, Ernst (genannt: Kollex und Ashasver) 142 145 146 147 196 Schweichel, Robert 14 56 Steinmann, Friedrich 69 Tolstoi,
Lew Nikolajewitsch
41
147 175 Traven, B. 86 Tressel, Robert 7 Tuitam 135 Turek, Ludwig 57 Vallès, Jules
7
Vogeler, Heinrich
21
Weerth, Georg 8 13 Weinert, Erich 13 93 Wittich, Manfred 56 Wolff, Wilhelm 8 Wolnow, Iwan 41 Zetkin, Clara 22 23 44 48 49 Zietz, Luise 176 Zola, Emile 75 133 147 175 Zwingli, Ulrich 55