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German Pages 281 Year 2018
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1365
Freiheit und Wettbewerb in der Republik Bemerkungen zum Wettbewerb aus der Perspektive von Kants Freiheits-, Rechts- und Staatsphilosophie
Von
Matthias Rost
Duncker & Humblot · Berlin
MATTHIAS ROST
Freiheit und Wettbewerb in der Republik
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1365
Freiheit und Wettbewerb in der Republik Bemerkungen zum Wettbewerb aus der Perspektive von Kants Freiheits-, Rechts- und Staatsphilosophie
Von
Matthias Rost
Duncker & Humblot · Berlin
Die Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg hat diese Arbeit im Jahr 2017 als Dissertation angenommen.
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Vorwort Ursprünglich hatte ich die Absicht, eine Dissertation über die Wettbewerbsfreiheit zu verfassen. Als „Grundprobleme der Wettbewerbsfreiheit“, so der damalige Titel, sollten die verfassungsrechtliche Begründung der Wettbewerbsfreiheit nach Maßgabe des Grundgesetzes und die sich daraus ergebenden Konsequenzen insbesondere für die Kartellrechtsproblematik behandelt werden. Doch damit war ich mit den vielfältigsten und mir unüberwindbar erscheinenden Schwierigkeiten konfrontiert. Die (verfassungs-)rechtsdogmatische Argumentation überzeugte mich als Wirtschaftswissenschaftler, der ich von Hause aus bin, nicht. Da war zum einen die Textlosigkeit, oder anders formuliert: wie läßt sich eine Wettbewerbsfreiheit als ein durch das Grundgesetz gewährleistetes Recht in Stellung bringen, obwohl es dort gar nicht steht? Namhafte Rechtswissenschaftler dogmatisieren aber dennoch eine Wettbewerbsfreiheit als unbenanntes Freiheitsrecht. Zum zweiten fehlt es an einer einheitlichen und überzeugenden Definition des Wettbewerbsbegriffs. Eine Legaldefinition findet sich nirgends. Gleichwohl sprechen viele Rechtswissenschaftler vom Wettbewerb als einer staatlichen Veranstaltung, ohne allerdings konkret sagen zu können, was der Staat da veranstaltet. Auch aus der nationalökonomischen Theorienlage läßt sich eine einheitliche Definition nicht ableiten. Und schließlich, drittens, worin besteht denn wesentlich das freiheitliche Moment bei der Wettbewerbsfreiheit, wenn es wahr ist, daß der Wettbewerb zwischen Unternehmern und Unternehmen nötigende Wirkung für die Konkurrenz entfaltet und so zu einem (gewollten) Leistungswettbewerb mit etwa einer verbesserten Faktorallokation und technischem Fortschritt führt? Zusammengefaßt: für eine Wettbewerbsfreiheit ließ sich so nicht überzeugend argumentieren. Bei diesem Sachstand schien nur noch eine andere Herangehensweise erfolgversprechend, nämlich die Argumentation mit der Freiheit beginnen zu lassen. Dabei war aber an Kants Freiheitsphilosophie nicht vorbei zu kommen, aus welcher Kant seine Rechts- und Staatsphilosophie überzeugend ableitet. Auffallend ist, wie sehr das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland der Lehre Kants und insbesondere seiner Logik der Freiheit folgt, ohne sich allerdings explizit auf Kant zu berufen. Wenn man die verfassungsrechtliche Ordnung Deutschlands am höchsten Wert festmacht, nämlich an der Würde des Menschen und damit wesentlich an seiner Freiheit, so schließt dies jede Form von Herrschaft aus und führt mit logischer Stringenz zu einer (kantianisch geprägten) Republiklehre. Diese hat durchaus weitreichende Konsequenzen auch auf der einfachgesetzlichen Ebene, hier insbesondere auf das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkun-
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Vorwort
gen und auf die Behandlung des Problems wirtschaftlicher Macht. Macht ist per se nicht zu kritisieren, weil sie im Grunde jeder inne hat, soweit er frei und handlungsmächtig ist. Auch große Unternehmen, welche durch wirtschaftliches Wachstum zu mehr Einfluß und damit auch zu Macht gekommen sind als andere, trifft kein generelles Unbilligkeitsurteil. Damit kommt es wesentlich auf die Art und Weise an, wie diese Macht ausgeübt wird: sie muß, wie jedes Handeln, für alle in der bürgerlichen Gemeinschaft zumutbar sein; denn die Freiheit als einziges angeborenes Recht besteht nur nach Maßgabe der Gleichheit aller in eben dieser Freiheit: „Alle Menschen sind frei und gleich an Rechten und Würde geboren“ – Art. 1 S. 1 der Allgemeiner Erklärung der Menschenrechte von 1948. Der Mensch ist durch Freiheit definiert, und diese macht seine Würde aus. Es ist das große Verdienst Kants, dieser Idee der Freiheit eine aufklärerische Vernunftbegründung gegeben zu haben. Größten Dank schulde ich meinem Doktorvater, Professor Karl Albrecht Schachtschneider, für die zahllosen intensiven Gespräche, die teilweise bis in die frühen Morgenstunden dauerten und in welchen wir Kants Texte regelrecht auseinandergenommen und als Interpretationsgrundlage und Begründung seiner republikanischen Staatsrechtslehre wieder zusammengefügt haben, und ohne diese wäre die hier vorgestellte republikanische Wettbewerbsauffassung nicht zustande gekommen. Mein tief empfundener Dank gilt auch meinen Eltern, Gisela und Werner Rost, sowie meiner Frau Bärbel für ihr großes Verständnis, ihre Unterstützung und Ermutigungen, insbesondere in den Phasen, in welchen meine Studien und Überlegungen zu dieser Schrift nicht recht fort wollten. Auch danke ich Herrn Dr. Peter Wollenschläger, der mir mit seinen umfassenden juristischen Kenntnissen und bei der redaktionellen Aufarbeitung dieser Schrift zur Seite stand, und Frau Dr. Christiane Classen für die mühevolle Übernahme der Korrekturarbeiten. Schwäbisch Gmünd, den 22. November 2017
Matthias Rost
Inhaltsverzeichnis Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Kapitel Kants Freiheitslehre
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I. Freiheit als transzendentalphilosophisch letztbegründete Idee . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kants Vernunftkritizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Humes Skeptizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kants neue Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Freiheit als transzendentale Idee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kants Zweiweltenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der kritische Verstandesbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der kritische Vernunftbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Das Schlechthinunbedingte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Die Kausalität aus Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Freiheit als Begriff der reinen praktischen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der praktische Gebrauch der reinen Vernunft als rein praktische Vernunft b) Das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft als Faktum des Sollens c) Das Handeln als Beweis der reinen praktischen Vernunft . . . . . . . . . . . . . d) Der Wille als Bestimmungsgrund der menschlichen Tat . . . . . . . . . . . . . . e) Die Autonomie des Willens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Die Maximen als Grundsätze menschlichen Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . g) Die Freiheit der Willkür . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15 15 15 25 33 35 36 39 41 43 45 45 46 48 50 53 54 56
II. Kants Konzeption einer freiheitlichen Moralphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der kategorische Imperativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das erste, objektive Prinzip des Willens: die Naturgesetzformel . . . . . . . b) Das zweite, subjektive Prinzip des Willens, die Selbstzweckformel . . . . . c) Die Autonomie als drittes praktisches Prinzip des Willens . . . . . . . . . . . . 2. Die Pflicht und die Achtung fürs Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) „Handle pflichtmäßig, aus Pflicht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Achtung als Triebfeder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kants Pflichtenlehre als Ergebnis eines verzerrten Menschenbildes? . . . 3. Die praktische Vernunft als Sittlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Sittlichkeit durch Moralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
59 59 61 65 67 70 70 71 73 74 76
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Inhaltsverzeichnis
III. Kants freiheitliche Rechts- und Staatsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Freiheit als innere und äußere Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die innere (positive) Freiheit als Tugendpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die äußere (negative) Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die wechselseitige Verwiesenheit von innerer und äußerer Freiheit . . . . . 2. Die Freiheit als angeborenes Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zur Vernunftbegründung des Rechts aus der angeborenen Freiheit . . . . . . . . . 4. Die Erwerbung nach Maßgabe des intelligiblen Besitzes . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Der bürgerliche Zustand als Voraussetzung für Recht und Eigentum . . . . . . . 6. Die Vernunftidee des ursprünglichen Vertrags als Begründung des Staates . . 7. Kants Idee der Republik als Staat der Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Würde des Menschen im Staat als Reich der Zwecke . . . . . . . . . . . . . b) Kants Unterscheidung zwischen republikanischer und demokratischer Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Selbständigkeit des Bürgers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die republikanische Regierungsform als Voraussetzung rechtlicher Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Die Rechtsstaatlichkeit der Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
77 78 78 80 82 82 84 91 94 97 100 101 105 108 111 113
2. Kapitel Republikanische Freiheit unter dem Grundgesetz Deutschlands I. Herrschaft und Freiheit als unvereinbare Gegensätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Max Webers Herrschaftslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die kopernikanische Wende der Staatslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das freiheitliche Demokratieprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Die politische Freiheit als Souveränität des Volkes und der Bürger . . . . . . . . . . . 123 III. Die Würde des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Problematische Materialisierung des Würdebegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Würde des Menschen als Zweck an sich selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Würde als Autonomie des Willens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Würde des Menschen und seine Glückseligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Würde des Menschen und die Idee des Sozialstaates . . . . . . . . . . . . . . . . .
135 135 138 139 141 142
IV. Das Recht zur freien Entfaltung der Persönlichkeit – Art. 2 Abs. 1 GG . . . . . . . 1. Die unzureichende Materialisierbarkeit des Glücks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Keine Heteronomie der Willkür . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Recht zur freien Willkür aus Art. 2 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Grundsatz der Privatheit der Lebensbewältigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Freiheitlicher Interessenausgleich Privater durch Verträge . . . . . . . . . . . . . b) Keine Freiheitsbeschränkung durch die sogenannte Schrankentrias . . . . .
144 145 147 148 150 153 155
Inhaltsverzeichnis
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c) Die Grund- und Menschenrechte begründen keine Freiheit vom Staat . . 157 5. Keine materiale Vorbestimmtheit von staatlichen und privaten Aufgaben . . 159 V. Das Eigentum als besondere Ausprägung des Rechts zur freien Willkür . . . . . . 161 1. Das Privateigentum ist keine verdinglichte Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 2. Rechtliches Eigentum als ein Apriori der Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 3. Republikanische Eigentumsbegründung in der Staatsrechtsliteratur . . . . . . . 166 VI. Die Verteilung des Eigentums als Frage der Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 1. Die Gleichheit in der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 2. Gleichheit bedeutet nicht materiale Unterschiedslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 172 3. Die Formalität der Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 4. Die Prinzipien der Verteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174
3. Kapitel Der Bürger als homo oeconomicus bei Kant
177
I. Das Eigentum als Voraussetzung der Bürgerlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 II. Exkurs: Das Wirtschaften als konstituierender Bestandteil des Daseins bei Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 III. Der Wettbewerb als Faktum der Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
4. Kapitel Der Wettbewerb als Bestandteil des Privatheitsprinzips
191
I. Der Vorrang privater vor staatlicher Lebensbewältigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 II. Grundgesetzliche Wirtschaftsverfassung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 1. Kein Ordoliberalismus als Verfassungsauftrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 2. Kein verfassungsrechtlich hinreichend bestimmbarer Lebensbereich der Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 3. Keine „freie Marktwirtschaft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 4. Keine Zentralverwaltungswirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 5. Keine liberalistische Trennung von Staat und Wirtschaftsgesellschaft . . . . . 202 6. Republikanische Begrenzung der Ausübung wirtschaftlicher Macht . . . . . . . 204 7. Die volonté générale als Maßgabe republikanischer Wirtschaftspolitik . . . . . 205 III. Die Marktliche Sozialwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 IV. Privatheitsprinzip und Marktlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 V. Sittliche Verpflichtung allen Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
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Inhaltsverzeichnis 5. Kapitel Wettbewerb der Unternehmen als Faktum und als Rechtsprinzip: Karl Albrecht Schachtschneiders republikanische Wettbewerbslehre
214
I. Wettbewerb als Faktum geordneten Unternehmertums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 1. Wettkampf als Paradigma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 2. Neben-, Gegen- oder Miteinander der Unternehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 II. Pflicht zum und Recht auf Wettbewerb? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 III. Wettbewerbsfreiheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wettbewerb als Entmachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Freiheit als Abwehrrecht gegen den Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Freiheit als Schutzpflicht des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Administration des Unternehmenswettbewerbs im Rechtsstaat . . . . . . . . . . . . . . . 1. Abwehr von Wettbewerbsbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wirksamer Wettbewerb als Ziel der Wettbewerbsordnung . . . . . . . . . . . . . b) Allokative Effizienz und Verbraucherschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Administration des Wettbewerbs ohne Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Modell optimaler Allokation durch vollkommene Konkurrenz. . . . . . . . . . b) Wirksamer Wettbewerb ohne Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtsstaatliche Unternehmensverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wettbewerb nicht rechtsstaatlich administrierbar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wettbewerbsverwaltung versus Marktrationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zieloffene Wirksamkeit des Wettbewerbs? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V. Sittliche Lebensbewältigung und Grenzen der Privatheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verwaltung des Staates keine Unternehmen im Wettbewerb . . . . . . . . . . . . . . 2. Grenzen des Privatheitsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Wettbewerbsprinzip versus Sittlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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6. Kapitel Das Kartell als Problem des Privatheitsprinzips und Regelungstatbestand des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen 239 I. Das Kartell als ein Typus des Vertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 II. Die Rechtfertigung der Kartelle durch das Privatheitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . 243 III. Zur Wettbewerbsbeschränkung durch Kartelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 IV. Zum Problem wirtschaftlicher Macht durch Kartelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Schlußbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274
Einführung Die Wettbewerbsfreiheit zählt in Deutschland nach herrschender Auffassung zu den grundrechtsgeschützten Rechtsgütern1, obwohl der Begriff der Wettbewerbsfreiheit im Grundgesetz nicht vorkommt. Einerseits wird die Wettbewerbsfreiheit zum wirtschafts- und ordnungspolitischen Leitbild der sogenannten sozialen Marktwirtschaft gezählt, andererseits ist aber das Grundgesetz nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts2 wirtschaftspolitisch neutral und verpflichtet den Gesetzgeber nicht auf die Verwirklichung eines wirtschafts- und ordnungspolitischen Modells. Vor diesem Hintergrund erscheint völlig offen, welche verfassungsrechtliche (und damit auch politische) Bedeutung der Wettbe1 Das Bundesverfassungsgericht hat den Grundrechtsschutz aus Art. 12 Abs. 1 GG hergeleitet, BVerfGE 32, 311 (317 f.); G. Dürig dagegen sieht sie in Art. 2 Abs. 1 GG verankert und zählt sie zu den unbenannten Freiheitsrechten dieses Grundrechts, Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 2 Abs. 1, Rdn. 48; H.-U. Erichsen, Allgemeine Handlungsfreiheit, Handbuch des Staatsrechts, Bd.VI, § 152, S. 1211, Rdn. 62, für den die Wettbewerbsfreiheit kaum aus Art. 2 Abs. 1 herauszulesen sei, es gelte der Vorrang der lex specialis, Rdn. 25; H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 14, Rdn. 210, argumentiert dahin gehend, daß die Eigentumsgewährleistung aus Art. 14 Abs. 1 GG als lex specialis zu Art. 2 Abs. 1 GG das Grundrechtschutz gewährleistende Verfassungsgesetz sei. Die Wettbewerbsfreiheit sei Bestandteil der darin garantierten Unternehmerund Unternehmensfreiheit; bemerkenswert die Darstellung von R. Scholz, in: Maunz/ Dürig, Grundgesetz, Art. 12 GG, Rdn. 136 ff., der die Wettbewerbsfreiheit im Zusammenwirken von Art. 12 GG und Art. 14 GG von Verfassungs wegen für gewährleistet hält. Die Wettbewerbsfreiheit sei eine „Annexfreiheit“ wie etwa die unternehmerische Dispositions-, Investitions-, Produktions-, Markt-, Wachstums- und Preisfreiheit als wirtschaftlich-unternehmensmäßige Teilfreiheiten der wirtschaftlichen Betätigung. Dies seien Handlungen, die in das typische Berufsbild des Unternehmers als selbständigen Beruf fielen und von daher Berufsausübung im Sinne des Art. 12 Abs. 1 GG darstellten. Auch seien diese Teilfreiheiten gleichzeitig Ausfluß eigentumsrechtlicher Nutzung und als Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs über Art. 14 Abs. 1 GG geschützt. Allerdings sollen diese Teilfreiheiten lediglich Ausübungsformen der Berufsund Eigentumsfreiheit darstellen, ihr Grundrechtschutz sei damit nur ein mittelbarer. Nur die Wettbewerbsfreiheit wäre als Annexfreiheit zu den unmittelbar durch Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Rechtsgütern zu zählen, weil der Wettbewerb das Ergebnis freiheitlicher Grundrechtsausübung konkurrierender Grundrechtsträger darstellt und „funktionstypische Bedeutung (. . .) für die plurale Ausübung und Nutzung der GR aus Art. 12 und Art. 14 besitzt“. Die Wettbewerbsfreiheit zähle zur „verallgemeinerungsfähigen Funktionstypik“ des grundrechtlich geschützten Bildes von Unternehmer und Gewerbetreibenden, oder anders formuliert, der für das Grundgesetz charakteristische Unternehmer und Gewerbetreibende ist stets einer im Konkurrenzverhältnis mit anderen stehender. Von der Konstellation des Einzelfalls abhängig verortet U. Di Fabio die Wettbewerbsfreiheit sowohl bei Art. 12 Abs. 1 GG als auch bei Art. 2 Abs. 1 GG, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 2 Abs. 1 GG, Rdn. 116. 2 BVerfGE 4, 7 (17); 50, 290 (337).
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Einführung
werbsfreiheit in Deutschland nun zukommt, weil schon eine exakte Bestimmung des Begriffs3 der Wettbewerbsfreiheit fehlt. Die Wettbewerbsgesetze leisten keinen Beitrag zu einer begrifflichen Klärung von Wettbewerb und Wettbewerbsfreiheit, eine Legaldefinition jedenfalls findet sich nirgends. Nur ein einziges Mal tauchte der Begriff „Wettbewerbsfreiheit“ in der alten Fassung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (§ 18 Abs. 1 lit. a) auf. Angesprochen dabei war aber lediglich die Offenhaltung der Märkte4. Zwischenzeitlich ist dieser textliche Hinweis auf die Wettbewerbsfreiheit im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen gestrichen worden. Ebenso gestrichen sind Formulierungen wie etwa die „Freiheit bei der Gestaltung von Preisen oder Geschäftsbedingungen“ (§ 14 GWB a. F.), die „Freiheit der Verwendung der gelieferten Waren“ (§ 16 Nr. 1 GWB a. F.), die „wirtschaftliche Bewegungsfreiheit“ (u. a. in § 17 Abs. 3 GWB a. F.) oder die „Wettbewerbsmöglichkeiten“ (§ 19 Abs. 4 Nr. 1 GWB a. F.). Konnte seinerzeit noch darüber spekuliert werden, ob diese Formulierungen Synonyme für die Wettbewerbsfreiheit oder wesentliche Bestandteile oder nur vage Umschreibungen derselben darstellen, entbehren solchen Spekulationen aufgrund der Textlage der aktuellen Fassung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen der Grundlage. Die Wettbewerbsgesetze sind Gesetze „gegen“ unlauteren Wettbewerb und „gegen“ Wettbewerbsbeschränkungen, durch die bestimmte Verhaltensweisen der Unternehmen im Wettbewerb untersagt oder einer staatlichen Wettbewerbsaufsicht unterstellt werden in den Fällen, in welchen der Gesetzgeber gesetzliche Ausnahmen von diesen Verboten vorgesehen hat. Die Wettbewerbsfreiheit ist nach Lage des einfachen Rechts negativ bestimmt als Verhaltensweisen, die erlaubt, weil sie nicht gesetzlich verboten sind. Unzureichend bestimmte Begriffe durchziehen auch das Europäische Unionsrecht. Der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union enthält das Bekenntnis zu einer Wirtschaftsordnung, die gekennzeichnet ist vom „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“, Art. 120 S. 2 und Art. 127 Abs. 1 S. 3 AEUV. Durch diesen Grundsatz und die Wettbewerbsregeln der Art. 101 ff. AEUV sind die Wirtschaftspolitiken der Union und der Mitgliedstaaten dem Wettbewerbsprinzip verpflichtet5. Fraglich ist, was angesichts umfangreicher rechtlicher Kataloge unerlaubter unternehmerischer Handlungen und 3 Sokrates hatte den Begriff an sich in seiner Tragweite entdeckt und Platon insbesondere in der Politeía als eines der großen Mittel allen wissenschaftlichen Erkennens bewußt gemacht, vgl. hierzu M. Weber, Wissenschaft als Beruf, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, S. 596. Zur Bedeutung des Begriffs und der Begriffsbildung in der Jurisprudenz und der Rechtswissenschaft K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 429 ff., insb. S. 431. 4 So V. Emmerich, in: Immenga/Mestmäcker, GWB, Kommentar, § 18, Rdn. 158 ff., Rdn. 166. 5 R. Streinz, Europarecht, S. 400 f., Rdn. 1008 ff.; K. A. Schachtschneider, Wirtschaftsverfassung mit Welthandelsordnung, S. 48 ff., 470 f.
Einführung
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Verhaltensweisen das Freie am Wettbewerb ist, wenn „freier Wettbewerb“ nicht ein bloßer Pleonasmus sein soll. Nach umgangssprachlicher Auffassung6 verträgt sich das Wort „frei“ zunächst einmal nicht mit umfangreichen Verboten und staatlicher Aufsicht, geschweige denn, daß es sich dadurch definieren und bestimmen ließe. Diese Überlegungen kreisen im Kern um die Frage nach Freiheit und Wettbewerb, nach Freiheitlichkeit und Wettbewerblichkeit, nach Freiheit im Wettbewerb, nach Freiheit zum Wettbewerb, also um die Wettbewerbsfreiheit. Begreift man die Wettbewerbsfreiheit als Bestandteil der unternehmerischen Freiheit, so wäre sie neuerdings auch zu den europäischen Grundrechten zu zählen: „Die unternehmerische Freiheit wird anerkannt“ (Art. 16 der Charta der Europäischen Grundrechte). Die unmittelbare Geltung des europäischen Unionsrechts7 könnte auch vor diesem Hintergrund der Diskussion um die Wettbewerbsfreiheit zu neuer Aktualität verhelfen. Von zentraler Bedeutung ist der Freiheitsbegriff. Will man die Freiheit nicht als ein irgendwie verworren Geglaubtes verstehen, sondern als einen durch Vernunfteinsicht gewonnenen Begriff, und nur als solcher ist Freiheit überhaupt einer wissenschaftlichen Erkenntnis zugänglich, so ist am transzendentalphilosophisch begründeten Freiheitsansatz Immanuel Kants nicht vorbei zu kommen. Ein aus der Empirie abgeleiteter Freiheitsbegriff ist eine logische Denkunmöglichkeit, das erweist insbesondere der Hume’sche Skeptizismus. Es ist das Verdienst Kants, diesen Skeptizismus durch die sogenannte kopernikanische Wende seiner vernunftkritischen Erkenntnislehre überwunden zu haben. Damit rettet er gleichzeitig den Freiheitsbegriff als eine denklogische Möglichkeit, die aber nicht im Transzendentalen stecken bleibt, sondern wegen des Sittengesetzes als Faktum des Sollens eine denklogische Notwendigkeit darstellt: es ist nicht nur möglich, sondern auch zwingend, den Menschen qua Menschseins als frei zu denken. Daraus lassen sich sehr weitreichende Konsequenzen für eine praktische Freiheits-, Rechts- und Staatslehre ableiten. Freiheit in praktischer Hinsicht bedeutet die Gesetzmäßigkeit menschlicher Handlungen in der Gemeinschaft. Der Mensch ist stets gesetzesunterworfen, aber dennoch und gerade deshalb frei, weil er Mitgesetzgeber ist; denn er befolgt nur selbst (und in der Republik mit-)gegebene Gesetze: er ist autonom (auto = selbst, nomos = Gesetz). Freiheit wird durch die Gesetze verwirklicht und ist damit die Autonomie jedes Menschen. Im Zentrum aller staatsrechtlichen Überlegungen steht damit der Bürger mit seiner Freiheit und seiner Würde.
6 Zur Bedeutung der Sprachauffassung für das Recht vgl. R. Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs: Studien zur Rechtsphilosophie, S. 73. 7 Dazu etwa T. Oppermann, Europarecht, S. 152, Rdn. 385; R. Streinz, Europarecht, S. 153, Rdn. 448; zur unmittelbaren Wirkung von Gemeinschaftsrichtlinien, C. Claßen, Nichtumsetzung von Gemeinschaftsrichtlinien, S. 45 ff.
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Einführung
Diese kantianische Freiheitsauffassung hat Ausstrahlungswirkungen für das gesamte Leben in der menschlichen Gemeinschaft, damit auch im Wirtschaftsleben. Wettbewerb ist ein Faktum, wie das Leben zeigt. Dadurch ergeben sich aber (vordergründig) Unvereinbarkeiten mit der praktischen Freiheit: Wettbewerb nötigt, weil der einzelne Unternehmer durch die Konkurrenten bei funktionierendem Wettbewerb zur unternehmerischen Besser- und Bestleistungen gezwungen wird. Andererseits ist er aber frei. Diese (äußere) Freiheit als Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür (Kant)8, die unabhängige Selbst- und Alleinbestimmung unternehmerischer Handlungen also, ist elementare Voraussetzung für das Funktionieren des Wettbewerbs. Freiheit und Wettbewerb stecken augenscheinlich in einer dialektischen Falle, aus welcher es aber in der verwirklichten Republik ein Entkommen gibt. Dafür zeigt Kant den Weg. Gegenstand der vorliegenden Arbeit sind die Freiheit, die Republiklehre und der Wettbewerb.
8 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 345, dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 67 ff.; ders., Souveränität, S. 240 ff.
1. Kapitel
Kants Freiheitslehre I. Freiheit als transzendentalphilosophisch letztbegründete Idee 1. Kants Vernunftkritizismus Die Naturwissenschaft, vorbildlich für Kant die Physik Isaac Newtons1, basiert auf der Annahme des Kausalitätsgesetzes der Natur, also auf der universellen gesetzmäßigen Gültigkeit eines Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs. Danach wäre die reale empirische Welt des Menschen eine deterministische, Freiheit aber undenkbar. Soll dagegen Freiheit möglich sein, kann die Kausalität keine objektive Gültigkeit haben, wodurch aber keine gesicherten Erkenntnisse und wirkliches Wissen über die Natur und die reale empirische Welt des Menschen möglich sind. Freiheit und Kausalität wären demnach unvereinbare Gegensätze. Eine mögliche Lösung dieses augenscheinlichen Widerspruchs ist untrennbar mit der Frage nach der menschlichen Erkenntnis und der menschlichen Erkenntnisfähigkeit überhaupt verbunden, oder mit Kants Worten: „Was kann ich wissen?“ 2 Nun kann im Rahmen dieser Abhandlung Kants Erkenntnislehre nicht umfassend dargestellt werden; dennoch sind einige Aspekte davon für Kants Freiheitslehre elementare Voraussetzung und verdienen eine knappe Darstellung. a) Humes Skeptizismus Kant spricht anerkennend von Hume als seinem „scharfsinnigen Vorgänger“ 3, Humes sogenannter Skeptizismus war für Kant völlig überzeugend4, weil er auf rein logischem Wege nicht zu widerlegen ist. Für Hume basieren menschliche 1 Kant spricht von der „Newtonischen Weltweisheit“, Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, S. 242; Isaac Newton sei ein Mann, „nicht sowohl von großem Umfange des Geistes, als intensiver Größe desselben, in allem Epoche zu machen, was er unternimmt“; ders., Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, S. 546; ders., Metaphysik der Sitten, S. 319. 2 „Alles Interesse meiner Vernunft (das spekulative sowohl, als das praktische) vereinigt sich in folgenden drei Fragen: 1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen?“, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 677. 3 Kant, Prolegomena zu einer künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, S. 115. 4 Kant, Fortschritte der Metaphysik, S. 594.
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1. Kap.: Kants Freiheitslehre
Erkenntnisse ausschließlich auf Erfahrung und nicht auf dem Denken. Jedwede Metaphysik, die zu erfahrungsunabhängigen Erkenntnissen a priori führen soll, hat für Hume, wie vor ihm schon für John Locke5, keine Berechtigung6. Humes Frage war, wie der Mensch die sinnlich wahrgenommen und damit empirisch gewonnenen Daten ordnen und so zu einer einheitlichen Vorstellung von der Welt gelangen könne. Ohne eine Ordnung würden die Wahrnehmungen ein zusammenhangloses Datensammelsurium darstellen. Für diese Ordnung des Erkenntnisvermögens schien ihm insbesondere die Vorstellung von Kausalität und Substanz von Bedeutung zu sein, die aber objektive Gültigkeit haben muß, um funktional ordnend sein zu können. Er war davon überzeugt, daß insbesondere die Kausalität weder ein Erfahrungsbegriff noch ein Begriff der Vernunft sei7. Humes Erkenntnistheorie ist eine empirisch verfahrende Erkenntnispsychologie, ein „Perzeptionsempirismus“ 8, bei dem die sinnliche Wahrnehmung zentral für die menschliche Erkenntnis ist. Aber die sinnliche Wahrnehmung ist grundsätzlich der Gefahr der Täuschung ausgesetzt. Damit sind objektiv gültige Aussagen, seien sie alltägliche oder wissenschaftliche, über die existierende Außenwelt und das sie betrachtende Subjekt nicht zu rechtfertigen. Ist die Möglichkeit gesicherter Erkenntnis über die Wirklichkeit, also sowohl über die Außenwelt wie auch über das perzipierende Ich, nicht gegeben, so ist die tatsächliche Existenz einer objektiven Außenwelt überhaupt in Frage gestellt. Objektive Wahrheit über die real existierende Welt würde Kenntnis über „eben das einheitliche allumfassende und notwendige Gesetz allen Geschehens bedeuten“ 9. Die menschliche Erkenntnis müßte also eine totale sein, aber dafür ist in der Tat das Erkenntnisvermögen bei weitem zu beschränkt10. 5 Für Locke ist das gesamte Erkenntnisvermögen erlernt. Nicht einmal die Vernunft selbst sei angeboren, vermöge derer man die Wirklichkeit entdecken könne, J. Locke, Versuch über den menschlichen Verstand, Bd. I, S. 31. Auch sei es kein Argument, daß man die Vernunft gebrauchen lerne, folglich vorausgesetzt und vorhanden sein müsse, wenn sie erlernbar sein soll, S. 33. Weder spekulative Prinzipien oder Ideen, noch Begriffe seien dem Menschen mit der Geburt gegeben. Erkenntnisse a priori oder metaphysisches Wissen könne es nicht geben, weil diese nicht mit Gewißheit gewußt werden könnten. Das gelte auch für praktische Prinzipien. Folglich müßten auch alle moralischen Regeln bewiesen werden, auch sie seien nicht angeboren, S. 85. 6 Zwar ist Hume nicht der Auffassung, daß es eine metaphysische Realität nicht geben kann, vermutlich nicht einmal, daß es eine metaphysische Realität de facto nicht gibt, sondern nur, daß es dem Menschen niemals möglich sein wird, eine solche zu erfassen, N. Hoerster, David Hume, in: Klassiker des philosophischen Denkens, Bd. 2, S. 11. 7 H. M. Baumgartner, Kants Kritik der reinen Vernunft, Anleitung zur Lektüre, S. 20. 8 N. Hoerster, David Hume, S. 16. Nach R. Brandt, Einleitung zu Humes Treatise, S. XVIII, wurde seit Francis Bacon und John Locke der Begriff der Logik meist mit Erkenntnispsychologie inhaltlich belegt. 9 E. Cassirer, Zur modernen Physik, S. 46. 10 Der Hume’sche Skeptizismus kommt Fausts Bankrotterklärung gleich: „Da steh’ ich nun ich armer Thor und bin so klug als wie zuvor, heiße Magister, heiße Doktor gar,
I. Freiheit als transzendentalphilosophisch letztbegründete Idee
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Aber, Hume weiß, daß für den Menschen ein Mindestmaß an zumindest halbwegs sicheren Erkenntnissen über seine Außenwelt lebens- und überlebensnotwendig ist, sonst wäre es ihm unmöglich, zu denken, zu urteilen und damit zu handeln11. Um sich die Welt für die praktische Lebensbewältigung zu erschließen, sei es ausreichend, daß der Mensch gerechtfertigte Annahmen über die Realität trifft und von ungerechtfertigten, die mit der Wirklichkeit offensichtlich in Widerspruch stehen, unterscheidet, eine Gratwanderung, weil nach Hume richtige, d.h. mit der Realität übereinstimmende Aussagen grundsätzlich gleichermaßen logisch möglich und zulässig sind wie solche, welche die Realität nicht erfassen12. Wahrheit liegt für Hume in der Wirksamkeit und der Bewährung, und nicht in einer apriori-Demonstration13. Das Wissen wird aus Schlußfolgerungen generiert, indem das Muster vergangener Erfahrung ins Unbekannte und in die Zukunft hinein ausgedehnt wird und nicht durch Deduktion wahrer Konklusionen aus wahren gesicherten Prämissen14; denn schon letzteres gibt es nach Hume nicht. Die empirische Erkenntnis wird auf das Prinzip der Gewohnheit zurückgeführt und erhält dadurch seine pragmatische Rechtfertigung15. Das beobachtete Prinzip der Gewohnheit rechtfertigt durch seine Bewährung in der Vergangenheit den Induktionsschluß für die Zukunft16. Daraus resultieren aber nur ungefähre
und führe nun seit schon zehn Jahr, meine Schüler an der Nase herum, und sehe, daß wir nicht wissen können“, Goethe, Faust, Gesamtausgabe (1988), S. 167. 11 N. Hoerster, David Hume, S. 15. 12 „Daß die Sonne morgen nicht aufgehen wird, ist ein nicht minder verständlicher Satz und nicht widerspruchsvoller, als die Behauptung, daß sie aufgehen wird. Wir würden daher vergeblich versuchen, seine Falschheit zu demonstrieren. Wäre er demonstrativ falsch, so enthielte er einen Widerspruch und ließe sich niemals deutlich vom Geiste vorstellen“, D. Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, S. 36. 13 R. Brandt, Einleitung zu Humes Treatise, S. XVII. 14 J. Kulenkampff, Einleitung zu David Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, S. XX. 15 D. Hume, „Meiner Lehre gemäß sind alle (kausalen) Schlußfolgerungen lediglich die Wirkungen der Gewohnheit“, Treatise, S. 203. 16 Von Bedeutung ist die Unterscheidung zwischen besonderen und allgemeinen Wirklichkeitsaussagen. Besondere Wirklichkeitsaussagen sind grundsätzlich verifizierbar und falsifizierbar. Es gibt keine logischen Gründe, die einer empirischen Verifikation und Falsifikation entgegenstehen. Allgemeine Wirklichkeitsaussagen dagegen sind grundsätzlich nur falsifizierbar. Aus logischen Gründen kann nur über ihre Falschheit, nicht aber über ihre Wahrheit abschließend entschieden werden. Kein logischer Satz berechtigt zu einem Urteil a priori darüber, ob eine allgemeine Wirklichkeitsaussage falsch ist. Wohl aber kann a priori behaupten werden, daß ihre Wahrheit durch Erfahrung nicht beweisbar ist, auch dann nicht, wenn die allgemeine Wirklichkeitsaussage tatsächlich wahr sein sollte. Auch Naturgesetze sind allgemeinen Wirklichkeitsaussagen, vgl. K. R. Popper, Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, S. 301. Weil sich demnach eine allgemeine Wirklichkeitsaussage, also auch ein Naturgesetz, nicht als wahr erweisen läßt, ist ihr Wert für die menschliche Erkenntnis ein rein pragmatischer, und der bestimmt sich nach der Eignung des Naturgesetzes zur Ableitung von wahren Prognosen. Ein Naturgesetz ist zur Ableitung von Prognosen dann brauchbar,
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1. Kap.: Kants Freiheitslehre
Aussagen über die Realität ohne wirkliche Beweiskraft17. Eine logische Begründung, warum der Mensch zum Ziehen solcher Induktionsschlüsse befähigt und berechtigt ist, kann Hume allerdings nicht liefern18, weil sie nicht zu leisten ist19. Der Induktionsschluß basiert auf zwei Voraussetzungen. Erstens, für die Beobachtung der Gleichförmigkeit des Weltverlaufs, die eine entsprechende Erwartung in der Zukunft rechtfertigt, ist die Denkkategorie des Vorher–Nachher, also einer besonderen Form der Kausalität, nämlich der Kausalität in der Zeit20, erforwenn sich die Prognose als wahr, und unbrauchbar, wenn sich die Prognose als falsch erweist, S. 165. Ein Naturgesetz ist dann eine allgemeine Wirklichkeitsaussage, wenn es falsifizierbar ist und wenn weiter aus ihm brauchbare Prognosen abgeleitet werden können. Das stimmt insoweit auch mit Humes Konzept der Bewährung beobachteter Gleichförmigkeit des Geschehnisverlaufs und daraus abgeleiteter Prognosen überein. Fundamental ist für Popper aber die Entdeckung Kants, daß jede Wirklichkeitserkenntnis als Möglichkeit der Erfahrung und somit die Objektivität des Erkennens grundsätzlich auf dem Bestehen von Gesetzmäßigkeiten beruht, S. 68. Erkennen ist überhaupt nur das Suchen nach Gesetzmäßigkeiten, genauer, Gesetze aufstellen und methodisch überprüfen, S. 78. Erforderlich ist dafür nicht, daß es streng allgemeine Gesetzmäßigkeiten auch tatsächlich gibt, sondern das Erkennen besteht darin, „nach strengen allgemeinen Gesetzmäßigkeiten zu suchen, als ob es sie gäbe“, S. 79, und daß sich alles so verhält, „als ob es streng allgemeine Gesetzmäßigkeiten gäbe“, S. 71. Dies ist im Kern auch der Gesetzmäßigkeitsbegriff nach Kant: „so viel wir bisher wahrgenommen haben, findet sich von dieser oder jener Regel keine Ausnahme“, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 46. Popper bezeichnet dies mit „Als-Ob-Gesetzmäßigkeit“, S. 438. 17 „Die zwei Sätze sind weit davon entfernt, dasselbe auszusagen: ich habe gefunden, daß ein solcher Gegenstand immer von einer solchen Wirkung begleitet gewesen ist, und: ich sehe voraus, daß andere Gegenstände, die in der Erscheinung gleichartig sind, von gleichartigen Wirkungen begleitet sein werden“. Aber, ich „will gern zugeben, daß der eine Satz mit Recht aus dem anderen abgeleitet werden kann; ich weiß sogar, daß er immer so abgeleitet wird“, D. Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, S. 45. Aufgrund der Beobachtung, daß in der Vergangenheit die Sonne allmorgendlich aufgegangen ist, rechtfertigt sich die Annahme hinreichend, daß sie auch morgen aufgehen wird. Aber beweisen läßt sich dies durch die gewohnte Beobachtung in der Vergangenheit nicht; denn die Sonne könnte morgen ausnahmsweise auch nicht aufgehen. Rein logisch wäre dies keine Unmöglichkeit, sondern durchaus denk- und vorstellbar. 18 „Die Verknüpfung zwischen diesen Sätzen ist nicht intuitiver Art; es bedarf eines Mitteldings, das den Geist befähigt, solche Ableitungen zu vollziehen, wenn sie in der Tat durch Gedankengänge und durch Begründung vollzogen sein sollte. Welche Art dieses Mittelglied ist, das übersteigt, gestehe ich, mein Verständnis“, D. Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, S. 45. 19 Es ist demnach „nicht abzusehen, wie wir von dieser Anschauung des Einzelnen und der Einzelnen jemals zur Anschauung einer objektiven Form des Ganzen gelangen können. So wenig sich aus der Summierung bloßer ausdehnungsloser Punkte je das Kontinuum aufbauen und erzeugen läßt: so wenig kann ein wahrhaft objektives und notwendiges Gesetz aus der einfachen Aneinanderreihung noch so vieler Einzelfälle erreicht und abgeleitet werden“, E. Cassirer, Zur modernen Physik, S. 46. 20 A. Schopenhauer, Preisschrift über die Freiheit des Willens, S. 158. Die Zeit ist eine der vier Wurzeln des „Satzes vom zureichenden Grund“, die Kausalität in der Zeit nannte er den „zureichenden Grunde des Seins“. Für Schopenhauer ist die Einsicht des Menschen in die Denkkategorie des Vorher–Nachher eine Erkenntnis a priori, kann also nur metaphysisch vorgestellt werden. Die Bedeutung des Satzes vom zureichenden
I. Freiheit als transzendentalphilosophisch letztbegründete Idee
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derlich21. Die zweite Voraussetzung ist die Kenntnis von Ursache und Wirkung, weil auch ein empirischer Sachzusammenhang22 zwischen einer Beobachtung in der Vergangenheit und der Prognose in der Zukunft existieren muß23. Dieser Sachzusammenhang ist aber unbeweisbar; denn wir wissen, „daß die Annahme, die Zukunft gleiche der Vergangenheit, nicht durch Argumente irgendwelcher Art bewiesen werden kann“ 24. Empirische Erkenntnisse können also nicht mit Gewißheit gewußt, sondern nur als wahrscheinlich angenommen werden25: der Mensch ist berechtigt, einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zu unterstellen, weil er ein Zusammen-in-Erscheinung-Treten zweier Tatsachen beobachten kann. Weil aber der Mensch nicht mehr als diese empirischen Beobachtungen ausmachen kann, steht für Hume außer Frage, daß die Kenntnis von Ursache und Wirkung „in keinem Falle durch Denkakte a priori gewonnen wird, sondern daß sie ganz und gar aus der Erfahrung stammt, indem wir finden, daß gewisse Gegenstände beständig in Zusammenhang stehen“ 26. Die Kenntnis der Kausalität erweist sich erst nach einer langen Reihe von Erfahrungen. Sonst würde man „sich ersichtlich im Kreise drehen und das für zugestanden nehmen, das gerade der in Frage stehende Punkt ist“ 27. Für Hume ist die Apriorität des Ursache-WirkungsZusammenhangs entweder Erfindung oder Willkür28. Grund des Seins und damit der Dimension Zeit für die menschliche Erkenntnis bleibt Hume völlig verborgen. 21 D. Hume widmet im 1. Band des Treatise den zweiten Teil (S. 41 ff.) der empirischen Vorstellung von Zeit und Raum. Für Hume ist der Begriff der Zeit nur empirisch erfaßbar. Der Zeitbegriff offenbart sich dem Menschen durch Beobachten der Veränderung von Objekten in der realen Welt. Damit ist der Zeitbegriff niemals losgelöst von der materialen Welt zu erfassen, womit Hume jedwede metaphysische Apriorität des Zeitbegriffs zu widerlegen versucht. Welche Bedeutung die Zeitvorstellung für die menschliche Erkenntnisfähigkeit hat, klärt er allenfalls ansatzweise; seine Vorstellung, daß der Ursache-Wirkung-Zusammenhang mit der Zeitfolge in Zusammenhang steht, bleibt vage (Treatise, S. 102). Diese Einsicht liefert erst später Kant. 22 „Die Vorstellung der Ursächlichkeit muß also irgend einer Beziehung zwischen den Gegenständen entnommen sein“, D. Hume, Treatise, S. 101. Schopenhauer hat die Einsicht in einen Sachzusammenhang den „Satz vom zureichenden Grund des Werdens“ genannt, A. Schopenhauer, Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grund, S. 48 ff., wobei der Kausalbegriff für ihn Apriorität besitzt, S. 67 ff. 23 Wobei diese Kausalrelation grundsätzlich „sowohl eine philosophische als auch natürliche (assoziative) Vorstellungsverknüpfung darstellt“, R. Brandt, Einleitung zu Hume’s Treatise, S. XXIV. 24 D. Hume, Treatise, S. 183. 25 D. Hume, Treatise, S. 119. „Die Vernunft kann uns niemals von der (notwendigen) Verknüpfung eines Gegenstandes mit einem anderen überzeugen, auch wenn sie durch die Erfahrung und die Beobachtung, daß in allen früheren Fällen eine konstante Verbindung zwischen ihnen bestanden hat, unterstützt wird“, Treatise, S. 123. 26 D. Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, S. 37. 27 D. Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, S. 46 f. Hume’s feste Überzeugung von der Unmöglichkeit aller Denkakte a priori ist erstaunlich: woher weiß denn Hume mit Gewißheit, daß es kein Wissen a priori gibt? Empirisch beweisen läßt sich dies nicht, sondern bestenfalls wegen der empirischen Beobachtungen als
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1. Kap.: Kants Freiheitslehre
Weil ein Ursache-Wirkungs-Zusammenhang sich empirisch nicht objektiv beweisen läßt und auch nicht a priori angenommen werden könne, muß Hume erst recht die Gesetzlichkeit der Kausalität in Abrede stellen. Für ihn gibt es keine erkennbare Notwendigkeit der Konjunktion, weil jedes der beiden Glieder, also sowohl die Ursache wie auch die Wirkung, als distinktes Ereignis ohne das andere denkbar und möglich sei29. Die Notwendigkeit (und damit die Gesetzlichkeit) der Folge ist nach Hume eine fiktive Unterstellung30. Jeder Versuch, bestimmte Kausalrelationen oder das Kausalgesetz im allgemeinen und in ihrer Notwendigkeit zu erweisen, wären somit hinfällig31. Es sind zwei Gründe, die Hume veranlassen, am Kausalitätsgesetz zu zweifeln. Der erste liegt für ihn in einer völlig unzureichenden Definition des Begriffs der Ursache. Er glaubt nicht, „daß es gelänge, eine Ursache zu definieren, ohne als einen Teil der Definition eine notwendige Verknüpfung mit ihrer Wirkung miteinzubegreifen“ und auch nicht, den Ursprung der in der ausgedrückten Vorstellung aufzuzeigen32, weil der Begriff der Ursache schon definitionsgemäß einen notwendigen Zusammenhang mit der Wirkung als Folge der Ursache hat. „In der Tat setzt jede Wirkung notwendig eine Ursache voraus, weil nämlich Wirkung und Ursache korrelate Begriffe sind“ 33. Eine Ursache ohne ihre logische Verknüpfung mit einer Wirkung kann für sich allein unmöglich definiert werden. Der Begriff der Ursache wäre damit Fiktion. Dieser Gesichtspunkt hat natürlich seine Berechtigung; denn in der Tat sind Ursache und Wirkung korrelate Begriffe, die für sich genommen nicht zu begreifen sind, sondern erst durch ihre und in ihrer Verwiesenheit auf den jeweils korrelaten Gegenbegriff. Aber, die Kausalität ist der Ursache-Wirkungs-Zusammenhang. Damit ist dieser Einwand Humes kein hinreichendes Argument gegen die Annahme eines Kausalitätsgesetzes. Der zweite Einwand Humes ist sein Zweifel, daß es gelänge, exakt eine Ursache für eine festgestellte Wirkung empirisch auszumachen, weil ja der Beweis für einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang nur empirisch erbracht werden darf. Damit wäre es erforderlich, daß empirisch festgestellte Beobachtungen nach der empirischen Methode zu beweisen wären, die Gültigkeit der Empirie also empirisch festgestellt werden müßte. Das Induktionsprinzip soll die induktive Metho-
wahrscheinlich annehmen. Hume unterliegt hier offensichtlich seinem eigenen Zirkelschluß. 28 D. Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, S. 42. 29 R. Brandt, Einleitung zu Hume’s Treatise, S. XXIV. 30 E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, S. 91. 31 R. Brandt, Einleitung zu Humes Treatise, S. IV. 32 D. Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, S. 113. 33 D. Hume, Treatise, S. 109.
I. Freiheit als transzendentalphilosophisch letztbegründete Idee
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de rechtfertigen, ein offensichtlich zirkuläres Verfahren34. Läßt sich empirische Methode empirisch nicht beweisen35, müßte sie auf einer höheren Begründungsebene durch Denkakte a priori bewiesen werden36. Ein derartiger Beweis wäre 34 N. Hoerster, David Hume, S. 20; auch für E. Cassirer, Zur modernen Physik, S. 154, hat sich die Hume’sche Skepsis in einem Zirkel verfangen: „daß sie zu ihrem Erweis implizit auf einen Sachverhalt zurückgreift, den sie explizit leugnen mußte“. 35 Erfahrung allein kann allgemeingültige Wirklichkeitsaussagen nicht abschließend verifizieren. Für den strengen Positivisten dagegen müssen sich allgemeingültige Wirklichkeitsaussagen ausschließlich durch Erfahrung begründen lassen. Popper dagegen weist nach, daß gerade der strenge Positivismus beim Auffinden dieser Gesetzmäßigkeiten auf Transzendenzen beruht, und zwar namentlich auf der Transzendenz der Darstellung überhaupt sowie auf der Transzendenz der Verallgemeinerung. Ersteres bedeutet, daß jedes Urteil, jede Darstellung insbesondere aber jedes wissenschaftliche Urteil über das unmittelbar Gegebene transzendiert, also mehr ist, als eine pedantische genaue Beschreibung von reinen Erlebnissen, K. R. Popper, Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, S. 45 ff. Von sämtlich möglichen empirisch feststellbaren Daten wird nämlich eine Selektion der Daten vorgenommen, die für diese allgemeine Wirklichkeitsaussage als relevant erscheinen, und zwar vor der Erfahrung, weil diese Selektion sich empirisch nicht begründen läßt, S. 46. Der zweite, noch gewichtigere Einwand ist der der Transzendenz der Verallgemeinerung. Was berechtigt denn, empirische Einzelbeobachtungen für allgemeine und allgemeingültige Aussagen zu halten? Eine Begründung, die rein empirisch geführt werden könnte, läßt sich nicht geben, zumal sich in praktischer Hinsicht die vermeintlich allgemeinen Wirklichkeitsaussagen oft genug als falsch erwiesen haben, S. 47. Zwar muß auch Popper eingestehen, daß der strenge Positivismus auf rein logischem Wege nicht widerlegbar ist. Er enthält keinen inneren Widerspruch und ist demnach nicht logisch und demonstrativ falsch. Soll eine Wirklichkeitsaussage allgemeingültig sein, muß eine logisch daraus abgeleitete Prognose immer eintreffen. Die Empirie zeigt aber, daß dies nicht immer der Fall ist. Allgemeine Wirklichkeitsaussagen sind also mehr als eine bloße Extrapolation empirischer Beobachtungen, weil für ihre Annahme oder Verwerfung, insbesondere beim Naturgesetz, auch andere Beobachtungen von Bedeutung sind, als nur diejenigen, die bei der Aufstellung und Ableitung der allgemeinen Wirklichkeitsaussagen herangezogen wurden, S. 50. Auf rein empirischem Wege lassen sich keine wissenschaftlich objektiven Wirklichkeitsaussagen finden oder formulieren. Der Grund dafür ist, daß der strenge Positivismus das Induktionsproblem nicht zu lösen vermag. 36 Kern des Hume’schen Skeptizismus ist der sogenannte unendliche Induktionsregreß. Durch die Induktion versuche man nach Hume mehr zu wissen, als man tatsächlich weiß, weil vorausgesetzt wird, daß es strenge Gesetzmäßigkeiten als allgemeine Sachverhalte gibt, die durch strenge allgemeine Wirklichkeitsaussagen dargestellt werden könnten, K. R. Popper, Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, S. 33. Wenn das zutrifft, dann haben synthetische Urteile a priori keine Gültigkeit, sondern nur die Erfahrung kann über diese Gesetzmäßigkeiten entscheiden. Das bedeutet konsequenterweise, daß die Zulässigkeit der Anwendung des Induktionsprinzips selbst nicht apriori angenommen werden kann, sondern wir müssen verlangen, „daß auch das Induktionsprinzip durch Erfahrung (aposteriori) begründet wird“, S. 37. Nach Popper entsteht somit eine Hierarchie: „Die Induktion eines Naturgesetzes erfordert ein Induktionsprinzip erster Ordnung, das als Aussage über Naturgesetze von höherem Typus sind als diese; die Induktion eines Induktionsprinzips erfordert wieder ein Induktionsprinzip zweiter Ordnung, das als Aussage über Induktionsprinzipien erster Ordnung wieder von höherem Typus ist als diese; und so weiter. Jede allgemeine Wirklichkeitsaussage braucht, um als Induktum überhaupt Geltungswert (sei er nun wahr oder falsch) aposteriori besitzen zu können, ein Induktionsprinzip, das von höherem Typus sein muß als das Induktum. Darin besteht der unendliche Regress“. Und weiter: „Der unendliche Re-
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aber Metaphysik, die Hume ablehnt. Dieser Zirkel in Humes Argumentation führt zur Unbeweisbarkeit des Kausalitätsgesetzes. Sollen überhaupt Aussagen über die Welt möglich sein, so gelingt dies nur durch das psychologisch begründete Induktionsprinzip beobachteter Gleichförmigkeit, mit welcher der Mensch geistig die ganze Welt und nicht nur ein Bild davon erzeugt. Aber „dieses Erzeugnis war bloß eine Fiktion, eine innerlich zurechtgemachte und eigentlich ganz vage Vorstellung“ 37. Damit ist Humes Erkenntnistheorie insgesamt nicht zu retten38, sein Skeptizismus ist total. Die Unhaltbarkeit der Hume’schen Erkenntnistheorie hat Konsequenzen für einen empirisch gewonnenen Freiheitsbegriff. Die empirische Möglichkeit der Freiheit ist aber auch für Hume untrennbar mit dem Problem der Kausalität verbunden, was er im achten Abschnitt des Enquiry Concerning Human Understanding thematisiert. Hume’s Prüfung der Lehre von der Notwendigkeit39 führt ihn zum Ergebnis, daß die Notwendigkeit nicht mehr als eine subjektive Empfindung ist, gewohnheitsmäßig aus der beobachteten Gleichförmigkeit des Weltverlaufs andere Erscheinungen antreffen zu können40. Der Begriff der Notwendigkeit ist
gress („Induktionsregress“) präzisiert Humes Argument gegen die Zulässigkeit der Induktion. Es besagt, daß der reine Induktionsschluß sich logisch nicht rechtfertigen läßt, daß aus besonderen Beobachtungen niemals allgemeine Sätze abgeleitet werden können“, S. 39. Noch grundsätzlicher sieht das Martin Heidegger unter Bezugnahme auf Kants Kritik der reinen Vernunft. Das Wesen der Wissenschaft als solcher liegt in der Enthüllung des Seienden, durch den Entwurf einer Seinsverfassung. Wissenschaft ist demnach nicht Tatsachenbeobachtung, auch nicht im Bereich der Naturwissenschaften, weil es so etwas wie Tatsachen nicht gibt; denn in „jeder vermeintlich reinen Tatsachenforschung liegen immer schon Vormeinungen über die Bestimmtheit des Gebiets, innerhalb dessen sie aufgefunden werden, und die Tatsachen für sich vermögen die Seinsverfassung als solche nicht aufzuhellen“, M. Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, S. 30. Diese Seinsverfassung, die die Vormeinungen des jeweiligen Wissenschaftsgebietes mit umfaßt, ist in letzter Konsequenz nur unter Zuhilfenahme der Philosophie mit ihren Wurzeln zu erfassen und zu ergründen, S. 39. Und genau dies ist der Grund, wieso die Philosophie bemüht werden muß, um die begriffliche Klärung der Freiheit angehen zu können. Zur Erläuterung: synthetische Urteile sind Erweiterungsurteile, analytische Urteile Erläuterungsurteile, ausführlich dazu Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 52 f. 37 E. Husserl, Krisis der europäischen Wissenschaften, S. 99. 38 N. Hoerster, David Hume, S. 26. 39 D. Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, S. 98 f.: „So entsteht unsere Vorstellung von Notwendigkeit und Verursachung denn ganz und gar aus der Einförmigkeit, die sich in den Vorgängen der Natur beobachten läßt: wo gleichartige Gegenstände beständig zusammenhängen, und der Geist durch Gewohnheit veranlaßt wird, den einen aus dem Erscheinen des anderen abzuleiten. Diese beiden Umstände machen den ganzen Inhalt jener Notwendigkeit aus, die wir dem Reich der Materie zuschreiben. Über den zuständigen Zusammenhang gleichartiger Gegenstände und die daraus folgende Herleitung des einen aus dem anderen hinaus haben wir keinen Begriff irgend einer Notwendigkeit der Materie“. 40 „Die Notwendigkeit also wird konstruiert wie eine sekundäre Eigenschaft, die den Dingen selbst nicht anhaftet, sondern nur im perzipierenden Subjekt erzeugt wird und
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psychologisch und damit rein empirisch aufzufassen, dem kein Gesetzlichkeitscharakter zugeschrieben werden kann, weil die Einsicht in eine Gesetzmäßigkeit nur durch einen Denkakt a priori möglich sei. Für Hume gilt, daß eine prophezeite Wirkung als Fortschreibung empirisch gewonnener Einsichten der Vergangenheit auch nicht eintreten könne41. So „werden wir finden, daß all unsere Fähigkeiten uns nie weiter in die Kenntnis dieser Beziehung bringen können, als bis zu der Beobachtung, daß bestimmte Gegenstände dauernd zusammenhängen, und daß der Geist durch gewohnheitsmäßigen Übergang vom Erscheinen des einen zum Glauben an den anderen geführt wird“ 42. Die Notwendigkeit resultiert aus der Nötigung des menschlichen Geistes, aus den permanent zu beobachtenden Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen in Form eines Zusammen-in-ErscheinungTretens in der empirischen Welt, ein notwendiges Prinzip ableiten zu müssen43, weil jede andere Auffassung der Erfahrung widersprechen würde. Damit erzeugt ausschließlich der menschliche Geist die Notwendigkeit44, weil „die Notwendigkeit der Verknüpfung durch den Schluß, nicht aber der Schluß durch die Notwendigkeit der Verknüpfung bedingt ist“ 45. Doch hat dieser Induktionsschluß keine Beweiskraft für eine objektive Gültigkeit einer Notwendigkeit der Verknüpfung zwischen Ursache und Wirkung auf der Seite der beobachteten Objekte, kurz, für ein Kausalitätsgesetz in der tatsächlichen empirischen Welt. Bei einer Gültigkeit des Kausalitätsgesetzes wäre die empirische Welt vollständig determiniert, in der aber logisch kein Platz für die Freiheit wäre46. Nur wenn Hume die Notwendigkeit der Verknüpfung von Ursache und Wirkung (also mit Gesetzlichkeitscharakter) negiert, kann er einen empirisch gewonnenen Freiheitsbegriff ermöglichen: „So ist Freiheit als Gegensatz zur Notwendigkeit nur das Fehlen dieser Nötigung und eine gewisse Ungebundenheit oder Gleichgültigkeit, die wir bei dem Übergehen oder Nichtübergehen von der Vorstellung eines Dings zu irgend eines fol-
dann auf Grund einer natürlichen unausweichlichen Illusion nach außen projiziert wird.“, R. Brandt, Einleitung zu Hume’s Treatise, S. XXV. 41 Das sieht später auch Wittgenstein so. „Auf keine Weise kann aus dem Bestehen irgend einer Sachlage auf das Bestehen einer von ihr gänzlich verschiedenen geschlossen werden. Einen Kausalnexus, der einen solchen Schluß rechtfertige, gibt es nicht.“, L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, S. 135 f., S. 48. 42 D. Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, S. 109. 43 D. Hume, Treatise, S. 211. Für Hume ist es dennoch unverständlich, warum manche Menschen immer eine „starke Hinneigung zu dem Glauben“ hegen, „daß sie tiefer in die Kräfte der Natur dringen und so etwas wie eine notwendige Verknüpfung zwischen Ursache und Wirkung auffassen“, ders., Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, S. 109. 44 D. Hume, Treatise, S. 214. 45 D. Hume, Treatise, S. 119. 46 Nicht einmal der Begriff „Anfang“ ließe sich in Stellung bringen, weil der unter diesen Umständen auch nur durch einen Denkakt a priori gewonnen werden könnte, denn empirisch müßte sich die Kausalreihe unendlich in die Vergangenheit zurückführen lassen, was aber alle Vorstellungskraft sprengt, D. Hume, Treatise, S. 107.
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genden empfinden“ 47. Diese Definition allerdings endet im logischen Widerspruch: Freiheit ist das Fehlen nötigender Notwendigkeit, die Hume in seiner Erkenntnislehre gerade nicht akzeptiert. Um Freiheit zu retten, wird sie zur subjektiven Empfindung erklärt: Freiheit ist das Nicht-Empfinden subjektiv empfundener Notwendigkeit. So kann aber Freiheit als objektives Faktum der Welt nicht bewiesen werden, weil sie als Begriff je nach subjektiver Empfindung beliebig ist. Dieser Widerspruch findet sich auch auf der praktischen Ebene menschlichen Handelns, auch hier erliegt Hume der Zirkularität seiner Argumentation. Demnach „können wir unter Freiheit nur verstehen: eine Macht zu handeln oder nicht zu handeln, je nach den Entschließungen des Willens“ 48. Wenn aber der Mensch aufgrund seines Willens die Macht zum Handeln oder Nichthandeln hat, so bedeutet „die Macht haben“, eine Handlung mit Notwendigkeit, durch Nötigung des Willens, auszuführen. Damit hat aber Hume den Begriff der Notwendigkeit (im Sinne der Kausalität) durch die logische Hintertür wieder eingeführt. Durch bloßes Leugnen der Kausalität ist der Freiheitsbegriff nicht zu retten49. Die Gratwanderung mißlingt, auf der Seite der Logik die Kausalität zu benötigen und sie bezüglich der Frage: ,Kausalität oder Freiheit?‘ zugunsten der Freiheit in Abrede zu stellen. „Das Gesetz der Kausalität ist also nicht so gefällig, sich brauchen zu lassen wie ein Fiaker, den man, angekommen wo man hingewollt, nach Hause schickt“ 50. Der Hume’sche Skeptizismus ist Ausfluß zweier Überzeugungen: zum einen, daß der Mensch über die reale Welt außer seinen empirischen Beobachtungen keine gesicherten Erkenntnisse haben kann und zum zweiten, daß die empirische Methode viel zu unzulänglich ist, als daß sich damit die Gesetze der realen Welt objektiv beweisen ließen. Hume verteidigt aber die Empirie, weil sie eben der einzige Weg sei, der dem Menschen eine (subjektive) Einschätzung seiner Umwelt liefern könne, was für sein Überleben wichtig sei. Eine Reduzierung des Freiheitsbegriffs auf die Möglichkeit des (freien weil ungehinderten) Handelns kann für Hume offenbar hingenommen werden: das freie Handeln, Spontaneität, ist beobachtbar und funktional existenzsichernd. Auch sieht Hume, daß er als Empirist methodologisch die Empirie ohnehin nicht retten kann. Der Begriff der Freiheit endet also auch dort, wo die Möglichkeit des freien Handelns endet. Wegen des unaufgelösten Antagonismus von Freiheit und Kausalität bleibt der Frei-
47 D. Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, S. 111. Freiheit bedeutet damit empirisch auch, einen Anfang von der Existenz der Dinge zumindest denken zu können. 48 D. Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, S. 113. 49 Erst Kant gelingt es, trotz Kausalitätsgesetz den Begriff der Freiheit zu ermöglichen, ja mehr noch, zu erklären, daß Freiheit gerade Kausalität voraussetzt. 50 A. Schopenhauer, Preisschrift über die Freiheit der Willens, S. 53.
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heitsbegriff in einer dialektischen Falle verfangen. Dieses Problem läßt sich erst mit Kants Erkenntniskritik lösen. b) Kants neue Metaphysik Für Kant hatte die alte Metaphysik ausgedient51, Hume hatte mit seinem Skeptizismus gründliche Überzeugungsarbeit geleistet52. Auch Kant war überzeugt davon, daß der Mensch tatsächlich nichts von Geburt an oder qua Menschseins über die Begriffe und ihre Inhalte, vor aller Erfahrung, a priori, wissen könne. Dennoch war Kant der Überzeugung, daß sich in der menschlichen Vernunft Prinzipien, Kategorien und Gesetzmäßigkeiten aufspüren lassen müssen, die rein formal zu denken sind, die also zunächst keine empirische Anschauung in der menschlichen Erkenntniswelt bedeuten53. Wenn Kant also die Metaphysik als strenge Wissenschaft analog zur Physik begründen will, so muß er zunächst einmal der Physik selbst ein tragfähiges erkenntnistheoretisches Fundament geben, weil die Physik, insbesondere die Newtonische Mechanik, die Gültigkeit des Kausalitätsgesetzes und damit das deterministisch-mechanistische Weltbild voraussetzt54. Aber eine objektive allgemeingültige Gesetzmäßigkeit der Kausalität und in der Folge auch den Determinismus hatte Hume mit seinem Skeptizismus logisch unmöglich gemacht, und damit auch die Entdeckungen Newtons erst einmal in einen erkenntnistheoretisch undefinierten Raum gestellt. Läßt sich aber andererseits die Kausalität als objektiv allgemeingültige Gesetzmäßigkeit erwei51 Mit der alten Metaphysik ist „alle Vernunft ins Stecken“ geraten, ihr Verfahren sei „bisher ein großes Herumtappen, und, was das Schlimmste ist, unter bloßen Begriffen gewesen“, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 24; „Man kann und muß alle bisher gemachten Versuche, eine Metaphysik dogmatisch zu Stande zu bringen, als ungeschehen betrachten“, S. 61. 52 Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, S. 115, spricht anerkennend über Hume von seinem „scharfsinnigen Vorgänger“. 53 Hume „brachte kein Licht in diese Art von Erkenntnis, aber er schlug doch einen Funken, bei welchem man wohl ein Licht hätte anzünden können, wenn er einen empfänglichen Zunder getroffen hätte und dessen Glimmer sorgfältig wäre unterhalten und vergrößert worden“, Kant, Prolegomena zu einer künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, S. 115. 54 O. Höffe, Immanuel Kant, S. 117. Es sei das ganz große Verdienst Kants als Metatheoretiker, der, im Gegensatz zur Skepsis David Humes, der Newton’schen Mechanik ein sicheres philosophisches Fundament gegeben habe. Verhängnisvoll sei es jedoch, daß sich damit Kants Denken in die Sphäre der klassischen Physik hat hineinziehen lassen, so daß sich mit dem Fortschritt der physikalischen Erkenntnis Kants Kritik der reinen Vernunft relativiere, wenn nicht sogar zunichte gemacht würde. Ein folgenschwerer Irrtum Höffes! Daß die sogenannte moderne Physik, die insbesondere mit der Speziellen Relativitätstheorie Einsteins und der Heisenberg’schen Unschärferelation in Verbindung gebracht wird, mit Kants Kritik der reinen Vernunft nicht in Widerspruch steht, sondern diese als erkenntnistheoretisches Fundament gerade voraussetzt, hat E. Cassirer, Zur modernen Physik zweifelsfrei nachgewiesen.
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sen und kann damit das deterministisch-mechanistische Weltbild auf ein erkenntnistheoretisch sauberes Fundament gestellt werden, so scheint das nur um die Preisgabe der Freiheit möglich zu sein; denn, besteht die reale Welt aus lauter Kausalverhältnissen, aus nichts als aus Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen, kann es keine Freiheit geben. Geht man andererseits von der Möglichkeit der Freiheit aus, so opfert man das Kausalitätsgesetz: alles wäre beliebig und die Welt nichts als Chaos. Freiheit und Kausalität schließen sich augenscheinlich aus. Bei Hume hatte es diese zugespitzte Brisanz nicht gegeben: Weil er der Kausalität jedweden Gesetzlichkeitscharakter abgesprochen hatte, waren in der realen empirischen Welt Freiheitsgrade möglich (die Sonne könnte ausnahmsweise morgen auch nicht aufgehen), Freiheit also zumindest denkbar. Trotz grundsätzlicher Einsicht in den Hume’schen Skeptizismus, ließ Kant dieses ungelöste Problem nicht in Ruhe. Er benötigte etwa zwölf Jahre des Nachdenkens, hatte dann aber innerhalb von wenigen Monaten die Kritik der reinen Vernunft zu Papier gebracht, in der er einen richtungsweisenden Ausweg aus diesem Dilemma aufzeigte. Dieser Durchbruch gelang mit seiner Entdeckung, die als kopernikanische Wende in die Philosophiegeschichte eingegangen ist55. Zur kopernikanischen Wende der Denkungsart56 schreibt Kant in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft: „Es ist hiemit eben so, als mit den ersten Gedanken des Kopernikus gewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in Ruhe ließ. In der Metaphysik kann man nun, was die Anschauung der Gegenstände betrifft, es auf ähnliche Weise versuchen. Wenn die Anschauung sich nach der Beschaffenheit der Gegenstände richten müßte, so sehe ich nicht ein, wie man a priori von ihr etwas wissen könne; richtet sich aber der Gegenstand (als Objekt der Sinne) nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens, so kann ich mir diese Möglichkeit ganz wohl vorstellen. Weil ich aber bei diesen Anschauungen, wenn sie Erkenntnisse werden sollen, nicht stehen bleiben kann, sondern sie als Vorstellungen auf irgend etwas als Gegenstand beziehen und diesen durch jene bestimmen muß, so kann ich entweder annehmen, die Begriffe, wodurch ich diese Bestimmung zu Stande bringe, richten sich auch nach dem Gegenstande, und dann bin ich wiederum in derselben Verlegenheit, wegen der Art, wie ich hievon etwas wissen könne; oder ich nehme an, oder, welches einerlei ist, die Erfahrung, in welcher sie allein (als gegebene Gegenstände) erkannt 55 Vgl. hierzu ausführlich L. Kreimendahl, Kant – der Durchbruch von 1769. Zur Intensität des Hume’schen Einflusses auf Kant S. 61 ff.; zur kopernikanischen Wende vgl. auch M. Forschner, Gesetz und Freiheit, Zum Problem der Autonomie bei I. Kant, S. 141 ff. 56 Zur „Entdeckung des kritischen Grundproblems“ ausführlich E. Cassirer, Kants Leben und Lehre, S. 123 ff.
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werden, richte sich nach diesen Begriffen, so sehe ich sofort eine leichtere Auskunft, weil Erfahrung selbst eine Erkenntnisart ist, die Verstand erfordert, dessen Regel ich in mir, noch ehe mir Gegenstände gegeben werden, mithin a priori voraussetzen muß, welche in Begriffen a priori ausgedrückt wird, nach denen sich also alle Gegenstände der Erfahrung notwendig richten und mit ihnen übereinstimmen müssen. Was Gegenstände betrifft, so fern sie durch Vernunft und zwar notwendig gedacht, die aber (so wenigstens, wie die Vernunft sie denkt) gar nicht in der Erfahrung gegeben werden können, so werden die Versuche, sie zu denken (denn denken müssen sie sich doch lassen), hernach ein herrlicher Probierstein desjenigen abgeben, was wir als die veränderte Methode der Denkungsart annehmen, daß wir nämlich von den Dingen nur das a priori erkennen, was wir selbst in sie legen“ 57. Kern der veränderten Methode der Denkungsart ist die Erkenntnisfunktion58. Dadurch wird eine neue Stellung des Subjekts zur Objektivität begründet, wenn sich Erkenntnis nicht länger nach dem Gegenstand, sondern der Gegenstand nach der Erkenntnis richtet. Kant setzt somit die Vernunftkritik an die Stelle einer Ontologie59 und überwindet damit gleichzeitig den Rationalismus, den Empirismus und den Skeptizismus60, weist den Weg aus der dialektischen Falle zwischen Skeptizismus und dogmatischer Metaphysik61. Seiendes ist also in keiner Weise zugänglich ohne vorgängiges Seinsverständnis, das dem Menschen begegnende Seiende muß zuvor schon in seiner Seinsverfassung verstanden sein62. Ausgangspunkt der veränderten Methode der Denkungsart ist die Trennung der menschlichen Anschauung eines Gegenstandes von eben diesem Gegenstand als solchem, den Kant das „Ding an sich“ 63 nennt64. Das Ding an sich kann der Mensch nicht erkennen und damit seine Wesensgesamtheit erfassen. Das Dasein 57
Kant, Kritik der reinen Vernunft, Vorrede zur zweiten Auflage, S. 25 f. E. Cassirer, Kants Leben und Lehre, S. 160 f. 59 E. Cassirer, Kants Leben und Lehre, S. 165. A. A. M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, nicht alle Erkenntnis „ist ontische, und wo solche vorliegt, wird sie nur möglich durch eine ontologische. Durch die Kopernikanische Wendung wird der ,alte‘ Wahrheitsbegriff im Sinne der ,Angleichung‘ (adaequatio) der Erkenntnis an das Seiende so wenig erschüttert, daß sie ihn gerade voraussetzt, ja ihn allererst begründet. An Seiendes (,Gegenstände‘) kann sich ontische Erkenntnis nur angleichen, wenn dieses Seiende als Seiendes zuvor schon offenbar, d.h. in seiner Seinsverfassung erkannt ist. Nach dieser letzten Erkenntnis müssen sich die Gegenstände, d.h. ihre ontische Bestimmbarkeit richten“, S. 13. Insofern sei die Kritik der reinen Vernunft keine (ontische) Erkenntnistheorie, sondern die Frage nach der Möglichkeit der ontologischen Erkenntnis, S. 17. 60 O. Höffe, Immanuel Kant, S. 53. 61 H. Arendt, Das Urteilen, S. 47. 62 M. Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, S. 55; Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 29. 63 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 26 ff., Anmerkung S. 27. 64 Wie Locke hatte schon Leibniz Substanz von Erscheinung klar getrennt, E. Cassirer, Kants Leben und Lehre, S. 107. 58
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der Materie wird vorausgesetzt65, bewirkt beim Menschen aber nur eine sinnliche Anschauung: „Denn sonst würde der ungereimte Satz daraus folgen, daß Erscheinung ohne etwas wäre, was da erscheint“ 66. Gleichwohl aber kann der Mensch „von keinen Gegenstand als Ding an sich selbst, sondern nur so fern es Objekt der sinnlichen Anschauung ist, d. i. als Erscheinung, Erkenntnis“ haben67. Menschliche Erkenntnis ist also nur möglich über Erscheinungen von Gegenständen, die Objekte der sinnlichen Anschauung sind. Das betrachtete Objekt hat folglich eine (gleichwertige68) Doppelnatur, „nämlich als Erscheinung oder als Ding an sich selbst“ 69. Es hat aber keinen Sinn, das Wesen des Dings an sich weiter zu ergründen oder hinterfragen zu wollen; denn: „Was die Dinge an sich sein mögen, weiß ich nicht, und brauche es auch gar nicht zu wissen, weil mir doch niemals ein Ding anders als in der Erscheinung vorkommen kann“ 70. Man kann ein Ding an sich auch gar nicht erkennen können, weil jedwede Erkenntnis ein Vorstellungsvermögen von Größe, Realität und Substanz voraussetzt, die aber „immer sinnliche Formen erfordern, in denen sie einen Gegenstand bestimmen“ 71. Für Kant ist die reale Welt nicht eine gegebene oder vorgefundene Ordnung von Einzeldingen oder eine Reihe von Einzeldingen, sondern sie besteht aus einem System von Begriffen72, das sich im Denken manifestiert und eben in der Sinnlichkeit seinen (material anschaulichen) Erkenntnisgrund findet73. Zu diesem System von Begriffen gehört zwingend die Kausalität74. Das Kausalitätsgesetz ist eine Bedingung der Möglichkeit jeder menschlichen Erkenntnis75, und damit a priori gegeben. Alle Erscheinungen sind nicht nur einem Ursache-Wirkungs-Zusammenhang unterworfen, sondern werden durch diesen erst möglich gemacht76, ganz im Sinne der kopernikanischen Wende. Die Wahrneh-
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E. Cassirer, Kants Leben und Lehre, S. 64. Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 31. 67 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 30. 68 J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 125. 69 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 31. 70 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 297. 71 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 305. 72 Dazu Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 528 ff. 73 So auch E. Cassirer, Kants Leben und Lehre, S. 63 ff. 74 Auf die übrigen apriorischen Voraussetzungen jeder menschlichen Erkenntnis, wie etwa die transzendentale Idealität von Raum und Zeit, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 69 ff., ders., De mundi sensibilis, S. 47 ff., S. 57 ff.; oder die Kategorienlehre, ders., Kritik der reinen Vernunft, S. 116 ff., S. 170 ff., kann hier nicht eingegangen werden. 75 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 227; zum Begriff der Kausalität vgl. M. Forschner, Gesetz und Freiheit, S. 153 ff.; zur Kausalität als zwingende transzendentalphilosophische Basisannahme auch A. Schopenhauer, Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grund, S. 40 ff. 76 „Erfahrung ist nur durch die Vorstellung einer notwendigen Verknüpfung von Wahrnehmungen möglich“, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 216. 66
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mung von Veränderungen77 in der empirischen Welt ist die Feststellung, daß zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedliche Zustände an demselben Objekt festgestellt werden: „Ich verknüpfe also eigentlich zwei Wahrnehmungen in der Zeit“. Diese Verknüpfung ist aber dem Kausalitätsgesetz unterworfen. Nur dieses „synthetische Vermögen der Einbildungskraft“ ermöglicht, daß der menschliche Geist einen vorigen Zustand mit einem folgenden in Verbindung bringen kann, wofür aber „der Begriff des Verhältnisses von Ursache und Wirkung“ erforderlich ist. Ursache ist, was einer Wirkung als Folge in der Zeit vorausgeht. Gegenstände der Erfahrung sind nur nach dem Gesetz der Kausalität denkbar und möglich78, der Kausalsatz konstituiert die Gegenstände der Erfahrung79. Eine Veränderung ist als eine solche nur empirisch erkennbar, wenn man die Wahrnehmung von Folge-Erscheinungen dem Kausalitätsgesetz unterwirft, anders formuliert, Veränderungen können erst als Veränderung erkannt werden, wenn man das Kausalitätsgesetz a priori zugrunde legt. Die Bewegung ist das kausale Hervorgehen der Wirkung aus der Ursache80. Andernfalls wäre eine Wirkung als Folge einer Ursache nur, „was bloß in der Einbildung vorhergehen (oder überall gar nicht wahrgenommen sein) könnte“ 81. Voraussetzung für die Wahrnehmung der Veränderung ist aber die Annahme einer Stetigkeit in der Entwicklung der physischen Veränderungen, eine Annahme, die als Grundsatz Voraussetzung für jede Naturerkenntnis überhaupt ist82. Die zeitliche Folge von Erscheinungen kann aber erst dann als objektiv gültige Veränderung eines Gegenstandes erkannt werden, wenn „die Folge nicht dem Belieben des Wahrnehmenden überlassen, sondern als Fall einer Ursache-Wirkungsregel, deshalb – relativ zur vorliegenden Erscheinungsfolge – als nicht umkehrbar durchschaut wird“ 83. Stetigkeit der Veränderung bedeutet demnach die Unumkehrbarkeit des Veränderungsprozesses. Die Verknüpfung zweier Wahrnehmungen zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten zu einem Ursache-Wirkungs-Zusammenhang84 setzt eine notwendige Verbindung zwischen Ursache und Wirkung voraus. Dann ist der menschliche Beobachter hinreichend zu der Annahme berechtigt, daß die subjektive Folge der
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Zum Begriff der Veränderung, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 224 f. „Also ist nur dadurch, daß wir die Folge der Erscheinungen, mithin alle Veränderung dem Gesetz der Kausalität unterwerfen, selbst Erfahrung, d.i. empirische Erkenntnis von denselben, möglich; mithin sind sie selbst, als Gegenstände der Erfahrung, nur nach diesem Gesetze möglich“, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 227. 79 E. Cassirer, Zur modernen Physik, S. 137, 197. 80 F. Kaulbach, Immanuel Kant, S. 149. 81 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 227. 82 E. Cassirer, Kants Leben und Lehre, S. 193. 83 O. Höffe, Immanuel Kant, S. 127. 84 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 230. 78
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Wahrnehmungen einer objektiven Folge von Erscheinungen zugrunde liegt85, daß also aufgrund der Folge in der Wahrnehmung auch eine Folge der betrachteten Objekte besteht. Erst die Regel, daß die Folge eben notwendig eintritt, bewirkt die Objektivität der Wahrnehmung und führt zu einer objektiven Erkenntnis86. Der Mensch ist berechtigt, aus dem bloßen Nacheinander der Wahrnehmungen auch einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang hinsichtlich der erscheinenden Objekte zu unterstellen87. Erfahrung nach dem Kausalitätsprinzip ist also Einsicht in diese natürlichen Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge88. Kant beweist mit der Auflösung dieser „zweiten Analogie der Erfahrung“ 89, daß der Mensch dieses Prinzip vom Schluß aus der zeitlichen Sukzession der Beobachtung auf die Kausalität in der objektiven Wirklichkeit unterstellen müsse, wenn er objektive Wahrnehmungsurteile über die Reihenfolge von Erscheinungen in der Zeit fällen will90, weil Erscheinungen außerhalb der Zeit nicht denkbar sind. Dieses Gesetz von der Verknüpfung der Ursache mit der Wirkung bedeutet, daß nichts Gegenstand der menschlichen Betrachtung sein kann, dessen Realität nicht entweder als Ursache oder als Wirkung eines anderen begriffen werden kann91. Das Zugrundelegen der Regel, daß die Wahrnehmung der Sukzession in der Erscheinung notwendig der Sukzession der Veränderung der realen Dinge folgt, macht eben das Kausalverhältnis zwischen Ursache und Wirkung objektiv und erzeugt damit die Gegenständlichkeit eines Gegenstandes. Erst die Wechselwirkung des Objektes ermöglicht es, Gegenstand einer Erfahrung zu sein. Eine für sich isolierte Sache, die in keinem wechselseitigen Verhältnis steht, kann nicht Gegenstand einer möglichen Erfahrung sein92. Der Kausalsatz konstituiert somit die 85
Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 230. St. Kröner, Kant, S. 70. 87 Ohne diese Regel „würde ich nicht von dem Objekt sagen, daß es folge, weil die bloße Folge meiner Apprehension, wenn sie nicht durch eine Regel in Beziehung auf ein Vorhergehendes bestimmt ist, keine Folge im Objekt berechtiget. Also geschieht es immer in Rücksicht auf die Regel, nach welcher die Erscheinungen in ihrer Folge, d. i. so wie sie geschehen, durch den vorigen Zustand bestimmt sind, daß ich meine subjektive Synthesis (der Apprehension) objektiv mache, und, nur unter dieser Voraussetzung allein, ist selbst die Erfahrung von etwas, was geschieht, möglich“, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 231. 88 O. Höffe, Immanuel Kant, S. 127. 89 Die zweite Analogie der Erfahrung ist der „Grundsatz der Zeitfolge nach dem Gesetz der Kausalität“. Ausgangspunkt ist eine objektive Ordnung in der Zeit, und „daß in die Mannigfaltigkeit des Zeitflusses bereits der reine Verstandesbegriff der Kausalität hineingearbeitet ist. Allein dadurch nämlich gewinnen wir den Begriff einer Veränderung, wodurch wir allererst eine objektive Folge in der Zeit, und d.h. ein objektives Früher und Später feststellen können. Diese Zeitordnung ergibt sich dem Gesagten zufolge aus der aller Erfahrung zugrunde liegenden Verknüpfung der Erscheinungen nach dem Verhältnis von Ursache und Wirkung“. H. M. Baumgartner, Kants Kritik der reinen Vernunft, S. 90. 90 St. Kröner, Kant, S. 70. 91 F. Kaulbach, Immanuel Kant, S. 154. 92 F. Kaulbach, Immanuel Kant, S. 155 f. 86
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Gegenständlichkeit der Erfahrung93, er bildet die „Bedingung der synthetischen Einheit der Erscheinungen in der Zeit“ 94, die Einheit von Wahrnehmungen von Ursache und Wirkung und Erscheinung von Ursache und Wirkung der betrachteten Objekte95, und stellt eine Voraussetzung a priori für jede sinnliche Wahrnehmung, ein „notwendiges Gesetz unserer Sinnlichkeit, mithin eine formale Bedingung aller Wahrnehmungen“ dar96. Für Kant ist das Kausalitätsgesetz das konstitutive Prinzip des Verstandes97. Das Kausalitätsgesetz ist aber auch eine formale Bedingung der Möglichkeit, sich den Zeitablauf als solchen vorstellen zu können. Es ist „ein unentbehrliches Gesetz der empirischen Vorstellung der Zeitreihe“. Erst aufgrund der aufeinander folgenden Erscheinungen ist der Zeitablauf erkennbar98. Die angesprochene Objektivierung der Erkenntnisse der Erscheinungen innerhalb und in Ansehung der Zeitreihe ist nur möglich, wenn man voraussetzt, „daß in dem, was vorhergeht, die Bedingung anzutreffen sei, unter welcher die Begebenheit jederzeit (d. i. notwendiger Weise) folgt“. Dies ist der Satz vom zureichenden Grund als Grund möglicher Erfahrung. Er gilt immer und „vor allen Gegenständen der Erfahrung“, also a priori, weil er selbst „der Grund seiner solchen Erfahrung“ ist99. Das Kausalverhältnis, daß die Bedingung im Vorherigen anzutreffen sei, auf wel93
Mit überzeugendem Nachweis E. Cassirer, Zur modernen Physik, S. 195 ff. Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 232. 95 Dazu Kants längere Beweisführung: „In der Synthesis der Erscheinungen folgt das Mannigfaltige der Vorstellungen jederzeit nacheinander. Hierdurch wird nun gar kein Objekt vorgestellt, weil durch diese Folge, die allen Apprehensionen gemein ist, nichts von andern unterschieden wird. Sobald ich aber wahrnehme, oder im voraus annehme, daß in dieser Folge eine Beziehung auf den vorherigen Zustand sei, aus welchen die Vorstellung nach einer Regel folgt: so stellt sich etwas vor als Begebenheit, oder was da geschieht, d. i. ich erkenne einen Gegenstand, den ich in der Zeit auf eine gewisse bestimmte Stelle setzen muß, die ihm, nach dem vorherigen Zustande, nicht anders erteilt werden kann. Wenn ich also wahrnehme, daß etwas geschieht, so ist in dieser Vorstellung erstlich enthalten: daß etwas vorhergehe, weil eben in Beziehung auf diese die Erscheinung ihr Zeitverhältnis bekommt, nämlich nach einer vorhergehenden Zeit, in der sie nicht war, zu existieren. Aber ihre bestimmte Zeitstelle in diesem Verhältnisse kann sie nur dadurch bekommen, daß im vorhergehenden Zustande etwas vorausgesetzt wird, worauf es jederzeit, d. i. nach einer Regel, folgt; woraus sich dann ergibt, daß ich erstlich nicht die Reihe umkehren, und das, was geschieht, demjenigen voransetzen kann, worauf es folgt: zweitens daß, wenn der Zustand, der vorhergeht, gesetzt wird, diese bestimmte Begebenheit unausbleiblich und notwendig folge. Dadurch geschieht es: daß eine Ordnung unter unsern Vorstellungen wird, in welcher das Gegenwärtige (so fern es geworden) auf irgend einen vorhergehenden Zustand Anweisung gibt, als ein, obzwar noch unbestimmtes Correlatum dieser Eräugnis, die gegeben ist, welches sich aber auf diese, als seine Folge, bestimmend bezieht, und sie notwendig mit sich in der Zeitreihe verknüpft.“, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 233 f. 96 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 234. 97 J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 121. 98 „Denn nur an den Erscheinungen können wir diese Kontinuität im Zusammenhange der Zeiten empirisch erkennen“, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 234. 99 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 235. 94
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che die Folge mit Notwendigkeit100 eintritt, kann auch gedacht werden, wenn die beobachtbaren Zeitunterschiede immer geringer werden, bis hin zur Gleichzeitigkeit: auch bei Gleichzeitigkeit der beobachteten Erscheinungen verliert das Kausalitätsgesetz nicht seine Gültigkeit, es gilt somit losgelöst von der reinen Anschauung der Zeit an sich. Der stetige Fortgang der Kausalverhältnisse im Ablauf der Zeit, „eine kontinuierliche Handlung der Kausalität“ also, bildet das Gesetz der Kontinuität101. Die Stetigkeit der Veränderung ist Grundsatz der Naturerkenntnis. Alles, was der Mensch empirisch erkennen kann, ist nichts weiter als eine ununterbrochene Fortführung der Wahrnehmung unter Berücksichtigung des Gesetzes der Kontinuität. Alles Wahrnehmbare ist über dieses Gesetz auf die Kausalität zurückgeführt, die zu jedem beliebigen Zeitpunkt und immer gültig ist. Damit besteht nur die „Möglichkeit einer kontinuierlichen Bestimmung aller Stellen für die Erscheinungen in dieser Zeit, durch die Reihe von Ursachen und Wirkungen, deren erstere der letzteren ihr Dasein unausbleiblich nach sich ziehen, und dadurch die empirische Erkenntnis der Zeitverhältnisse für jede Zeit (allgemein) mithin objektiv gültig ist“ 102. Durch diesen Regelmechanismus103 ist die Kausalität mit der Kontinuität des Geschehnisablaufs verflochten: Kausalität setzt die Annahme der Gesetzmäßigkeit des Naturgeschehens in Form von Ursache und Wirkung voraus, aber eben diese Gesetzmäßigkeit ist gegründet auf die Annahme der Stetigkeit des Geschehnisablaufes, somit auf die Kontinuität der Kausalreihe, die ihrerseits nun wieder auf die Zeit verweist104. Alles, was geschieht und damit alles Wahrnehmbare, ist demnach dem Gesetz der Kausalität und der Kontinuität der Veränderung unterworfen105. Jede mögliche Erfahrung setzt also Notwendig100 Notwendig ist, was wirklich und zugleich Wirkung einer Ursache ist, H. M. Baumgartner, Kants Kritik der reinen Vernunft, S. 92. 101 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 240. 102 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 242. „Das Gesetz der Kontinuität kann daher so formuliert werden: in der Natur gibt es keine Sprünge, non datur saltus; das Gesetz der Kausalität und Notwendigkeit so: in der Natur gibt es weder Zufall noch Verhängnis, non datur casus, non datur fatum“, H. M. Baumgartner, Kants Kritik der reinen Vernunft, S. 94. Das Gesetz der Kontinuität ist kein originäres Postulat Kants gewesen, sondern geht auf das Kontinuitätsprinzip Leibniz’ zurück. Das Kontinuitätsprinzip ist, als allgemeines Ordnungsprinzip, eine Grundvoraussetzung für exaktes Wissen von der Natur. Schon bei Leibniz ist es kein empirisches Prinzip, das sich aus Einzelbeobachtungen ableiten ließe. Aber es gilt nach Leibniz unbedingt für die Logik und die Geometrie, sowie deswegen auch ausnahmslos für die Naturerkenntnis, E. Cassirer, Zur modernen Physik, S. 309. 103 „Alles, was geschieht (anhebt zu sein), setzt etwas voraus, worauf es nach einer Regel folgt“, Kant, Kritik der reinen Vernunft, Überschrift der Zweiten Analogie in der ersten Auflage, S. 226. 104 E. Cassirer, Zur modernen Physik, S. 314. 105 „Aller Zuwachs des empirischen Erkenntnisses, und jeder Fortschritt der Wahrnehmung ist nichts, als eine Erweiterung der Bestimmung des innern Sinnes, d. i. ein Fortgang in der Zeit, die Gegenstände mögen sein, welche sie wollen, Erscheinungen
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keit im empirischen Dasein voraus106. Die Kausalität liegt damit eben auch notwendig im Erkenntnisobjekt begründet107, wobei diese Notwendigkeit ihrerseits der Gesetzlichkeit der Erkenntnis folgt108. Die Wirklichkeit des Menschen ist damit eine stetige und letztlich völlig determinierte Kausalreihe, aus der zwar einzelne Erscheinungen ausgemacht werden können, indem man die beobachteten Zeitdifferenzen minimiert, die aber wegen der Gesetzlichkeit der Kausalität immer noch eine Ursache haben müssen. Wenn die menschliche Realität eine deterministische ist, es also nicht beliebig ist, ob eine Erscheinung eines Dings an sich ist oder nicht ist, sie also wegen der Notwendigkeit des Kausalitätsgesetzes mit Notwendigkeit erscheint, kann es keine Freiheit geben, die dem Menschen irgendwie erscheinen könnte, wenn man wie Hume Freiheit als etwas definiert, welches sich von der Notwendigkeit differenziert109. Alles, was als real durch den Menschen erkannt werden kann, ist die Folge einer Ursache. Für einen Freiheitsbegriff, der Freiheit in der empirischen Welt für den Menschen erklärbar machte110, gibt es keine Erkenntnismöglichkeit: Freiheit kann kein Phaenomenon sein. 2. Freiheit als transzendentale Idee „Der Begriff der Freiheit ist ein reiner Vernunftbegriff, der eben darum für die theoretische Philosophie transzendent, d. i. dem kein angemessenes Beispiel in oder reine Anschauungen. Dieser Fortgang in der Zeit bestimmt alles, und ist an sich selbst durch nichts weiter bestimmt; d. i. die Teile desselben sind nur in der Zeit, und durch die Synthesis derselben, sie aber nicht vor ihr gegeben. Um deswillen ist ein jeder Übergang in der Wahrnehmung zu etwas, was in der Zeit folgt, eine Bestimmung der Zeit durch die Erzeugung dieser Wahrnehmung, und da jene, immer und in allen ihren Teilen, eine Größe ist, die Erzeugung einer Wahrnehmung als einer Größe durch alle Grade, deren keiner der kleinste ist, von dem Zero an, bis zu ihrem bestimmten Grad. Hieraus erhellet nun die Möglichkeit, ein Gesetz der Veränderung, ihrer Form nach, a priori zu erkennen. Wir antizipieren nur unsere eigene Apprehension, deren formale Bedingung, da sie uns vor aller gegebenen Erscheinung selbst beiwohnt, allerdings a priori muß erkannt werden können“. Und eben diese formale Bedingung ist die Kausalität, die, wie auch erläutert, a priori vom Verstand erkannt und eingesehen wird, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 241 f. 106 „Alles, was geschieht, ist hypothetisch notwendig; das ist ein Grundsatz, welcher die Veränderung in der Welt einem Gesetz unterwirft; d. i. einer Regel des notwendigen Daseins, ohne welche gar nicht einmal die Natur stattfinden würde. Daher ist der Satz: nichts geschieht durch ein blindes Ohngefähr (. . .) ein Naturgesetz a priori, imgleichen: keine Notwendigkeit der Natur ist blinde, sondern bedingte, mithin verständliche Notwendigkeit“, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 257 f. 107 E. Cassirer, Kants Leben und Lehre, S. 199. 108 E. Cassirer, Kants Leben und Lehre, S. 205. 109 „So ist die Freiheit als Gegensatz zu Notwendigkeit nur das Fehlen dieser Nötigung“, D. Hume, Untersuchung über den menschlichen Verstand, S. 111, Anm. 1. 110 Metaphysik und Freiheit sind nicht erklärbar, allenfalls zu denken, F. Kaulbach, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 172.
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irgendeiner möglichen Erfahrung gegeben werden kann, welcher also keinen Gegenstand einer uns möglichen theoretischen Erkenntnis ausmacht“ 111. Freiheit muß erfahrungsunabhängig gedacht werden112, der Freiheitsbegriff ist ein transzendentaler113. Kant geht davon aus, daß es nicht gelingen werde, die „Wirklichkeit der Freiheit“ beweisen zu können. Ob also Freiheit wirklich existiert, darüber kann die menschliche Erkenntnisfähigkeit zu keinem Ergebnis kommen. Es läßt sich nicht einmal die „Möglichkeit der Freiheit“ beweisen, weil dies dem Kausalitätsgesetz widerspräche. Freiheit läßt sich dann nur als transzendentale Idee begreifen, „wodurch die Vernunft die Reihe der Bedingungen in der Erscheinung durch das Sinnlichunbedingte schlechthin anzuheben gedenkt, dabei sich aber in eine Antinomie mit ihren eigenen Gesetzen, welche sie dem Verstand vorschreibt, verwickelt“ 114. Kant muß beweisen, daß die Natur und ihre Kausalität der „Kausalität aus Freiheit“, wie er sie nennt, „wenigstens nicht widerstreite“ 115. Diesen Beweis erbringt er in der Auflösung der sogenannten Dritten Antinomie116, weil ohne den Nachweis der Möglichkeit einer transzendental verstandenen Freiheitsidee auch keine Möglichkeit für Freiheit in praktischer Hinsicht bestehen könne117. 111
Kant, Metaphysik der Sitten, Einleitung, S. 326. Auch für Vaihinger ist der Freiheitsbegriff von herausragender Bedeutung. Auf der Schwelle des Ethisch-Praktischen „begegnet uns sogleich einer der wichtigsten Begriffe, den die Menschheit gebildet hat: es ist der Begriff der Freiheit; die menschlichen Handlungen werden als freie und darum als verantwortliche betrachtet und dem notwendigen Naturverlauf gegenübergestellt“. Der Freiheitsbegriff ist bei Vaihinger eine Fiktion, weil er „widerspricht nicht nur der beobachteten Wirklichkeit, in der Alles an unabänderlichen Gesetzen folgt, sondern auch sich selbst: denn eine absolut freie, zufällige Handlung, die also aus nichts folgt, ist sittlich gerade so wertlos wie eine absolut notwendige“, H. Vaihinger, Die Philosophie des Als-Ob, S. 59. Die Fiktion der Freiheit ist notwendig und zweckmäßig nicht nur für die Ethik schlechthin, S. 64, sondern auch für den Handlungsbegriff. Freiheit ist keine Hypothese und kein Dogma, sondern ein „Gedankending“, S. 61, eine logische Möglichkeit und keine empirische. Die Idee der Freiheit ist eine „praktische Fiktion“ und deshalb ein „Ideal“, S. 67. Die Fiktionalität der Freiheit begründet eigentlich erst den sittlichen Charakter der Kantischen Ethik überhaupt: Freiheit ist ein Ideal, das es unter Beachtung des moralischen Gesetzes bestmöglich zu verwirklichen gilt. Darin besteht das sittliche Gebot, S. 68. 113 J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 83 ff.; K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 19 ff., 34 ff.; ders., Res publica res populi, S. 333; M. Forschner, Gesetz und Freiheit, S. 247 f. 114 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 505 f. 115 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 506. H. Jonas, Das Prinzip Leben, S. 198 f., spricht von Freiheit als einer eigentümlichen Notwendigkeit, insofern gäbe es nur eine Freiheit des Tuns, nicht des Unterlassens. Freiheit sei der Ariadnefaden für die Deutung dessen, was wir Leben nennen, S. 18. Es gibt kein Reich der Freiheit außerhalb des Reiches der Notwendigkeit, das wäre sonst eine leere Freiheit, die sich selbst aufhebte, ders., Das Prinzip Verantwortung, S. 364. 116 Kant, Kritik der reinen Vernunft, „Auflösung der kosmologischen Ideen von der Totalität der Ableitung der Weltgegebenheiten aus ihren Ursachen“, S. 488 ff. 117 Wenn „alle Kausalität in der Sinnenwelt (. . .) jede Handlung als ihren natürlichen Erfolg notwendig machen müßte(n), so würde die Aufhebung der transzendentalen Frei112
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a) Kants Zweiweltenlehre Die Dritte Antinomie in Kants Kritik der reinen Vernunft besteht kurz gefaßt in dem (vermeintlichen) Widerspruch zwischen Freiheit und Kausalität118, dessen Auflösung an der Erkenntnis festmacht, daß die Kausalität lediglich in der Welt der Erscheinungen, nicht aber für ein Ding an sich bewiesen werden kann. „Wenn Erscheinungen Dinge an sich selbst wären, mithin Raum und Zeit Formen des Daseins der Dinge an sich selbst: so würden die Bedingungen mit dem Bedingten jederzeit als Glieder zu einer und derselben Reihe gehören“ 119, der Kausalreihe der Natur nämlich: „Denn sind Erscheinungen Dinge an sich selbst, so ist Freiheit nicht zu retten“ 120. Wenn aber die Erscheinungen nicht Dinge an sich, sondern nur Vorstellungen sind, „so müssen sie selbst noch Gründe haben, die nicht Erscheinung sind“, d.h., daß zwar eine Wirkung als Erscheinung erkennbar ist, damit aber noch nicht zwangsläufig feststeht, daß die Ursache für diese erkannte Wirkung ebenfalls als Erscheinung zwingend auftreten muß. Diese Ursache kann auch im Ding an sich begründet liegen, welches den formalen Bedingungen von Raum und Zeit jeder empirischen Erkenntnis nicht unterworfen ist. In diesem Falle kann die Ursache „samt ihrer Kausalität außerhalb der Reihe, dagegen ihre Wirkungen in der Reihe der empirischen Bedingungen angetroffen werden. Die Wirkung kann also in Ansehung ihrer intelligiblen Ursache als frei gedacht, und doch zugleich in Ansehung der Erscheinungen als Erfolg aus denselben nach der Notwendigkeit der Natur, angesehen werden“ 121. Dadurch ist es zumindest denkbar, daß nicht „eine jede Wirkung in der Welt entweder aus Natur, oder aus Freiheit entspringen müsse“, sondern „vielmehr beides in verschiedener Beziehung bei einer und derselben Begebenheit zugleich stattfinden kann“ 122. Zwar hat jede Beobachtung zwingend eine Ursache, und die Kausalität ist im Reich der Erscheinungen demnach immer gegeben. Doch muß dies nicht zwingend für das Ding an sich selbst gelten, sondern es besteht grundsätzlich die Möglichkeit, daß der Grund für diese Beobachtung trotz notwendiger Ursache als Erscheinung dennoch als losgelöst von der Kausalität der Erscheinung, von selbst anfangend, zumindest gedacht werden kann123. Kant geht damit von einer Doppelperspektive von Freiheit und Notwendigkeit aus, seine „Zweiweltenlehre“ basiert auf zwei heit zugleich alle praktische Freiheit vertilgen“, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 489 f.; vgl. hierzu L. Kreimendahl, Kant – der Durchbruch von 1769, S. 199. 118 Vgl. M. Forschner, Gesetz und Freiheit, S. 165 ff. 119 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 490. 120 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 491. 121 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 491. 122 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 491. 123 Wenn man Freiheit retten wolle, so „bleibt kein Weg übrig, als das Dasein eines Dinges, so fern es in der Zeit bestimmbar ist, folglich auch eine Kausalität nach dem Gesetze der Naturnotwendigkeit, bloß der Erscheinung, die Freiheit aber eben demselben Wesen, als Dinge an sich selbst beizulegen“, Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 220.
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verschiedenen Weltbegriffen: zum einen auf dem sensiblen, zum anderen auf dem intelligiblen124. Freiheit ist eine transzendentale Idee, ein Noumenon. b) Der kritische Verstandesbegriff Um die Bedeutung von Kants Zweiweltenlehre für die Freiheit als transzendentale Idee darstellen zu können, ist Kants Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft grundlegend. Der kritische Verstandesbegriff125 ist „selbst nichts weiter“ „als das Vermögen, a priori zu verbinden, und das mannigfaltige gegebener Vorstellungen unter die Einheit der Apperzeption zu bringen, welcher Grundsatz der oberste im ganzen menschlichen Erkenntnis ist“ 126. „Und so ist die synthetische Einheit der Apperzeption der höchste Punkt, an dem man allen Verstandesgebrauch (. . .) heften muß, ja, dieses Vermögen ist der Verstand selbst“ 127. Der Verstand ist also die eine Seite der Erkenntnis, mit dem Verstand kann gedacht werden. Aber, unsere „Natur bringe es so mit sich, daß (. . .) die Anschauung niemals anders als sinnlich sein kann, d. i. nur die Art enthält, wie wir von den Gegenständen affiziert werden. Dagegen ist das Vermögen, den Gegenstand sinnlicher Anschauung zu denken, der Verstand. Keine dieser Eigenschaften ist der anderen vorzuziehen. Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, ohne Verstand keiner gedacht werden (. . .). Der Verstand vermag nichts anzuschauen, und die Sinne nichts zu denken. Nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen“ 128. Das oberste Prinzip des Verstandes ist die synthetische Einheit der Apperzeption129, die Einheit des Bewußtseins130. Überhaupt ist das Vorstellen von Einheit ein Grundakt des Verstandes131. Die sinnliche Wahrnehmung hingegen ist den formalen Bedingungen von Raum und Zeit unterworfen und damit eine endliche Anschauung. Die synthetische Einheit der Apperzeption und die formalen Bedingungen von Raum und Zeit sind die höchsten Grundsätze jeder menschlichen Erkenntnisfähigkeit132. Der Verstand ist damit
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F. Kaulbach, Immanuel Kant, S. 176. Kants vorkritische und noch sehr allgemeine Auffassung war, daß der Verstand „das Vermögen der Erkenntnis überhaupt“ sei, und zwar mit folgenden Bestandteilen: „das Auffassungsvermögen (attentio) gegebener Vorstellungen, um Anschauung, das Absonderungsvermögen dessen, was mehreren gemein ist (abstractio), um Begriff, und das Überlegungsvermögen (reflexio), um Erkenntnis des Gegenstandes hervorzubringen“, Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, S. 422. 126 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 138. 127 Kant, Kritik der reinen Vernunft, Anmerkung auf S. 137 f. 128 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 97 f.; vgl. auch M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, S. 36 f. 129 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 138. 130 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 139. 131 M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, S. 54. 132 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 139. 125
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insgesamt das oberste Vermögen in der Endlichkeit der Erkenntnis133. Der reine Verstand dagegen ist nach Kant losgelöst von der Sinnlichkeit, ist damit also nur eine Form der möglichen Erkenntnis134. Er enthält die apriorischen Begriffe (die Kategorien135) und Grundsätze, die nur zur empirischen Erkenntnis gebraucht werden können136. Sie stellen „reine Schemata zur möglichen Erfahrung“ 137 dar. Die Metaphysik ist für Kant die Philosophie, „welche die ersten Grundsätze des Gebrauchs des reinen Verstandes enthält“ 138. Die Begriffe des reinen Verstandes sind aber nicht angeboren, sondern solche, „die aus den der Erkenntniskraft eingepflanzten Gesetzen (dadurch, daß man auf ihre Handlungen bei Gelegenheit achtet) abgezogen und folglich erworben“ 139 sind. Die Grundsätze des reinen Verstandes sind Gesetze, Verstandesgesetze. Kants These ist, daß sich der Begriff des Naturgesetzes und die Vorstellung der Natur insgesamt nach den Gesetzen der Verstandestätigkeit richten. Kants Argumentation steht also ganz im Sinne der kopernikanischen Wende der Metaphysik: die Erkenntnis richtet sich nicht nach den Gegenständen, sondern die Gegenstände nach der Erkenntnis(-fähigkeit): „Allein Erscheinungen sind nur Vorstellungen von Dingen, die nach dem, was sie an sich sein mögen, unerkannt da sind. Als bloße Vorstellungen aber stehen sie unter gar keinem Gesetze der Verknüpfung, als demjenigen, welches das verknüpfende Vermögen vorschreibt“ 140. Dieses verknüpfende Vermögen ist der Verstand als „das Vermögen der Regeln“ 141, und diese „Regeln, sofern sie objektiv sind (mithin der Erkenntnis des Gegenstandes notwendig anhängen) heißen Gesetze“ 142. Dieses Regelwerk ist aber transzendental zu deduzieren143, weil 133
M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, S. 75. Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 271. 135 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 116 ff., S. 170 ff. 136 Zur transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S.116 ff. Die transzendentalen Kategorien sind „Funktionen in Aussagen über Gegenstände“. Sie sind „eine rein logische Grammatik“ zur Erkenntnis der empirischen Welt, Th. M. Seebohm, Über die unmögliche Möglichkeit, andere Kategorien zu denken als die unseren; in: Kants transzendentale Deduktion und die Möglichkeit von Transzendentalphilosophie, S. 16 f. 137 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 268. 138 Kant, De Mundi Sensibilis, S. 37. 139 Kant, De Mundi Sensibilis, S. 38. 140 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 156. 141 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 180. 142 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 156. 143 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 125 ff. Vgl. hierzu etwa auch Th. M. Seebohm, Über die unmögliche Möglichkeit, anderer Kategorien zu denken als die unseren; in: Kants transzendentale Deduktion und die Möglichkeit von Transzendentalphilosophie, S. 11 ff. Seebohm nimmt hier Kant sehr überzeugend gegen die Kritik an seinem Kategoriensystem, die zuerst von Hegel und Fichte vorgetragen wurde, in Schutz. Seiner Überzeugung nach stellt das Kantische Kategoriensystem die „rein logische Grammatik“ im Husserl’schen Sinne dar, ohne die der Mensch nicht urteilsfähig ist. Andere kategorialen Systeme als das Kantische sind zwar grundsätzlich denkbar, kön134
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nämlich sonst der Gesetzlichkeitscharakter eines Naturgesetzes ein reines Erfahrungsurteil darstellt und man sich im Skeptizismus David Humes verfängt. „Denn Gesetze existieren eben so wenig in den Erscheinungen, sondern nur relativ auf das Subjekt“ 144. Die gesamte (erkannte) Natur wird durch den menschlichen Verstand erzeugt145. Die Verstandesgesetze bilden das formale Konstruktionsprinzip der Natur, der Verstand ist somit gesetzgebend für die Natur146. Insgesamt sind die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung zugleich die Bedingungen der Möglichkeit von den Gegenständen der Erfahrung147, und gibt „allen unseren Erfahrungen a priori objektive Realität“ 148. Ohne die regelnde Tätigkeit des Verstandes in der Synthetisierung von Verstandes- und Sinnestätigkeit gibt es keinerlei Erkenntnismöglichkeiten, die Erscheinungen von den Gegenständen wären nichts weiter als „eine Rhapsodie von Wahrnehmungen“ 149. Somit gilt, daß „so widersinnlich es also auch lautet, zu sagen: der Verstand ist nen aber keine logisch sinnvolle Bedeutung haben. Die Erkenntnis über die Welt ist nur unter Bezugnahme auf eben dieses Kategoriensystem sinnvoll möglich. Warum es aber gerade dieses Kategoriensystem ist, das dem Menschen die Welt erschließt, ist nicht weiter hinterfragbar. Die Kategorien stellen die „Voraussetzungen unseres Erfahrens“ dar, S. 29. Zwar liefert auch Kant nicht den Nachweis, daß das von ihm aufgezeigte System mit 12 Kategorien vollständig ist, dennoch ist auch Baumgartner der Auffassung, daß die Synthesisfunktion des Verstandes nicht anders als über diese 12 Kategorien als Urteile a priori erfolgen kann, H. M. Baumgartner, Kants „Kritik der reinen Vernunft“, S. 74. 144 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 156. 145 „Auf mehrere Gesetzgeber, als die, auf denen eine Natur überhaupt als Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen in Raum und Zeit beruht, reicht auch das reine Verstandesvermögen nicht zu, durch bloße Kategorien den Erscheinungen a priori Gesetze vorzuschreiben“, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 157. 146 Die Naturgesetze sind besondere „Spezifikationen allgemeiner Verstandesgrundsätze“, E. Cassirer, Kants Leben und Lehre, S. 178. 147 E. Cassirer, Kants Leben und Lehre, S. 182; vgl. auch M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, S. 118 f. Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung sind überhaupt die Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung, dieser Satz bildet den obersten Grundsatz der Transzendenz. „Daher läßt er sich kurz auch so fassen: das ein Erfahren Ermöglichende ermöglicht zugleich das Erfahrbare bzw. Erfahrene als ein solches. Das sagt: Transzendenz macht einem endlichen Wesen das Seiende an ihm selbst zugänglich. Das ,Zugleichsein‘ in der Formel des obersten synthetischen Grundsatzes bedeutet nicht nur, daß die beiden Bedingungen immer zugleich vorkommen, oder daß, wenn man die eine denke, auch die andere gedacht werden müsse, oder gar, daß beide Bedingungen identisch seien. Der Grundsatz ist überhaupt kein im Rückschluß gewonnenes Prinzip, das man als gültig ansetzen muß, wenn die Erfahrung gelten soll, sondern er ist der Ausdruck der ursprünglichsten phänomenologischen Erkenntnis der innersten einheitlichen Struktur der Transzendenz“, ders., Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, S. 207, 402. 148 So auch M. Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, S. 400. Die Kategorien als reine Verstandesbegriffe konstituieren objektive Realität, und darin liegt ihre eigene Objektivität begründet. Insofern ist es durchaus richtig, wenn Heidegger auch die Zeit als konstitutiv für den Begriff des Gegenstandes betrachtet, S. 391. 149 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 200.
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selbst der Quell der Gesetze der Natur, so richtig, um dem Gegenstande nämlich der Erfahrung angemessen ist gleichwohl eine solche Behauptung. Zwar können empirische Gesetze, als solche, ihren Ursprung keineswegs vom reinen Verstande herleiten, so wenig als die unermeßliche Mannigfaltigkeit der Erscheinungen aus der reinen Form der sinnlichen Anschauung hinlänglich begriffen werden kann. Aber alle empirischen Gesetze sind nur besondere Bestimmungen der reinen Gesetze des Verstandes“ 150. Die Verstandesgesetze bilden somit die Grundlage für die exakten Naturwissenschaften, allen voran für die Physik151. c) Der kritische Vernunftbegriff Kant trennt, wie vor ihm etwa schon Aristoteles152, den Verstand von der Vernunft. Der Verstand enthält die Regeln, mit deren Hilfe die empirische Erkenntnisfähigkeit möglich wird. Die Vernunft dagegen bezieht sich nicht auf die empirische Erkenntnis, sondern auf die Tätigkeit des Verstandes per se und liefert dafür die Regeln und Prinzipien153. Die Aufgabe der Vernunft ist es, die Einheit der Verstandesregeln durch Prinzipien zu schaffen154. Die Erkenntnis dieser Prinzipien der Vernunft erfolgt über Vernunftschlüsse155, die sich nicht auf Gegenstände, sondern auf Begriffe in bezug auf den Verstand und dessen Urteile beziehen, wobei nur diese wiederum Sinnliches und Gegenständliches betreffen156. 150
Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 181. E. Cassirer, Zur modernen Physik, S. 13, 19. 152 E. R. Sandvoss, Immanuel Kant, S. 76. 153 „Der Verstand mag ein Vermögen der Einheit der Erscheinungen vermittelst der Regeln sein, so ist die Vernunft das Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipien. Sie geht also niemals zunächst auf Erfahrung, oder auf irgend einen Gegenstand, sondern auf den Verstand, um den mannigfaltigen Erkenntnissen desselben Einheit a priori durch Begriffe zu geben, welche Vernunfteinheit heißen mag, und von ganz anderer Art ist, als sie von dem Verstande geleistet werden kann“, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 314. 154 Daß „die Vernunft im Schließen die große Mannigfaltigkeit der Erkenntnis des Verstandes auf die kleinste Zahl der Prinzipien (allgemeiner Bedingungen) zu bringen und dadurch die höchste Einheit derselben zu bewirken suche“, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 316. 155 Der Vernunftschluß ist an sich eine Subsumtionsleistung, die wesensbildend für die Vernunft ist. „In jedem Vernunftschlusse denke ich zuerst eine Regel (maior) durch den Verstand. Zweitens subsumiere ich eine Erkenntnis unter die Bedingung der Regel (minor) vermittelst der Urteilskraft. Endlich bestimme ich meine Erkenntnis durch das Prädikat der Regel (conclusio), mithin a priori durch die Vernunft“. Nach Kant gibt es drei Kategorien von Vernunftschlüssen, kategorische, hypothetische und disjunktive, die sich nach dem Verhältnis der Regel als Obersatz und zwischen der Erkenntnis und ihren Bedingungen richtet, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 315. 156 „Die reine Vernunft hat unter ihren Ideen nicht besondere Gegenstände, die über das Feld der Erfahrung hinauslägen, zur Absicht, sondern fordert nur Vollständigkeit des Verstandesgebrauchs im Zusammenhange der Erfahrung. Diese Vollständigkeit kann aber nur eine Vollständigkeit der Prinzipien, aber nicht der Anschauung und Ge151
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Der Vernunftschluß ist „selbst nichts weiter als ein Urteil, vermittelst der Subsumtion seiner Bedingung unter eine allgemeine Regel“ 157. Der logische Gebrauch der Vernunft ist die reine Vernunft und verläuft nach dem Grundsatz, „zu dem bedingten Erkenntnisse des Verstandes das Unbedingte zu finden, womit die Einheit desselben vollendet wird. Diese logische Maxime kann aber nicht anders ein Principium der reinen Vernunft werden, als dadurch, daß man annimmt: wenn das Bedingte gegeben ist, so sei auch die ganze Reihe einander untergeordneter Bedingungen, die mithin selbst unbedingt ist, gegeben (d. i. in dem Gegenstande seiner Verknüpfung enthalten)“ 158. Die reine Vernunft als rein logische Form, als logische Maxime wie Kant es ausdrückt, ist das Antriebsmoment für den Verstand, zu einem Bedingten und einer Reihe von Bedingungen das übergeordnete Unbedingte zu suchen, und dies ausschließlich über Begriffe, nicht über die Anschauung. Die höchste Einheit der begrifflichen Erkenntnis ist dann erreicht, wenn bei der aufsteigenden Suche innerhalb der Reihe von Bedingungen diejenige Bedingung gefunden wurde, die selbst nicht mehr bedingt ist159, sie ist das Schlechthinunbedingte. Dieser Grundsatz der reinen Vernunft enthält also die logische Maxime des Strebens nach der Erkenntnis des Schlechthinunbedingten160. Das Erfahrungsganze ist genau genommen kein Sein, sondern ein Werden161. Weil sich die Tätigkeit der Vernunft nicht auf Gegenstände der Empirie bezieht, sondern auf die schließenden Urteile über Begriffe als Tätigkeit des Verstandes162, müssen die einheitsstiftenden Vernunftbegriffe transzendentale sein. Die Begriffe der reinen Vernunft, die reinen Vernunftbegriffe also, nennt Kant transzendentale Ideen163. Eine Idee oder der Vernunftbegriff geht über die Erfahrung der reinen Verstandesbegriffe hinaus164. Hervorzuheben ist, daß die Idee oder der genstände sein“, Kant, Prolegomena zu einer künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, S. 202. 157 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 317. 158 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 318. 159 O. Höffe, Immanuel Kant, S. 135. 160 St. Kröner, Kant, S. 89. 161 E. Cassirer, Kants Leben und Lehre, S. 218. 162 Verstehen heißt Urteilen durch Begriffe, H. M. Baumgartner, Kants „Kritik der reinen Vernunft“, S. 72. 163 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 320. Zum Begriff der transzendentalen Idee F. Kaulbach, Immanuel Kant, S. 165 ff.; H. M. Baumgartner, Kants „Kritik der reinen Vernunft“, S. 103, 118. 164 Der „reine Begriff, so fern er lediglich im Verstande seinen Ursprung hat (nicht im reinen Bilde der Sinnlichkeit) heißt Notio. Ein Begriff aus Notionen, der die Möglichkeit der Erfahrung übersteigt, ist die Idee, oder der Vernunftbegriff“, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 325. Zum Begriff der Notionen ausführlich M. Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, S. 244. Reine Verstandesbegriffe sind a priori gegebene Notionen. „Der reine Verstandesbegriff wird gar nicht durch die reine formallogische Funktion des Urteils gegeben, sondern er entspringt der imaginativen, anschauungs-, d.h. zeitbezogenen Synthesis“, S. 284; vgl. zur Verstandesbegriffsbildung, ders., Kant und das Problem der Metaphysik, S. 51 ff. Die
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Vernunftbegriff nicht mit objektiver Erkenntnis verwechselt werden darf, weil sie sich nicht originär auf Gegenständliches beziehen, sondern sie haben primär regulative Funktion, sprechen Regeln für das Verfahren des Verstandes aus, sie sind gedankliche Bewegungen, „Schemate“ 165 eben. Weil aber die Verstandesleistung auf die Empirie zielt, muß sich die Idee dennoch auf die erfahrbaren Objekte anwenden lassen, sie ist die Zielprojektion, der sich die empirische Erkenntnisfähigkeit des Menschen bei der Objekterkenntnis annähert, ohne sie allerdings in ihrer Begrifflichkeit je abschließend erfassen zu können. Somit soll sich die empirische Erkenntnis eben auch der systematischen Einheit der Erkenntnis annähern. Die Idee hat also eine doppelte Funktion: sie soll einheitsstiftend sowohl für den erkennenden Verstand als auch für das empirisch Erkannte sein. Dieser Sachverhalt bildet das „kritische“ Ökonomieprinzip des Denkens166. d) Das Schlechthinunbedingte Bei der Tätigkeit der Vernunft ist nach Kant von Bedeutung, daß das (vernünftige) Schließen selbst unter Bedingungen steht. Die „vollendete Größe des Umfanges, in Beziehung auf eine solche Bedingung“ nennt Kant „Totalität der Bedingungen“ 167, und eben diese Totalität der Bedingungen stellt das Wesentliche des transzendentalen Vernunftbegriffes dar168. Die Vernunft treibt den Verstand an, den letzten Grund der menschlichen Erkenntnis und die Totalität der
Vorstellung bildet sich zum Begriff „im Grundakt des vorgängigen Heraussehens des vielgültigen Einen“, S. 53. 165 F. Kaulbach, Immanuel Kant, S. 166. 166 Vgl. hierzu sehr überzeugend F. Kaulbach, Immanuel Kant, S. 192 f. 167 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 328. 168 „Also ist der transzendentale Vernunftbegriff kein anderer, als der von der Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten. Da nun das Unbedingte alleine die Totalität der Bedingungen möglich macht, und umgekehrt die Totalität der Bedingungen jederzeit selbst unbedingt ist: so kann ein reiner Vernunftbegriff überhaupt durch den Begriff des Unbedingten, so fern er einen Grund der Synthesis des Bedingten enthält, erklärt werden“, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 328. H. Cohen, Kants Begründung der Ethik, S. 79, zufolge ist dieses Unbedingte mit dem Ding an sich identisch. „Das Prinzip des Schlusses ist die Idee des Unbedingten. Man kann es so formulieren: wenn das Bedingte gegeben ist, so ist die vollendete Reihe der Bedingungen, das Unbedingte, welches als ein Gegenstand vorgestellt wird, als Aufgabe zu denken. Die Idee des Unbedingten ist die vollendete Reihe, ist die Idee der Totalität der Bedingungen für das Bedingte. Es ist die Idee des Ding an sich für die Begriffe der Erscheinungen“. Ideen sind also Vernunfteinheiten des Unbedingten, S. 87. Darüber hinaus sind sie Realitätsmesser, S. 89, dahin gehend, daß Erkenntnis sich dann einstellt, wenn das sinnlich Wahrgenommene mit dem Inhalt der Idee weitgehend identisch ist. Die Idee selbst konstruiert aber nicht selbst die Erkenntnis, sondern wird zur Erkenntnisfindung regulativ gebraucht, sie ist eine Vernunfteinheit, der sich die Erkenntnis annähern soll. „Alles Denken der Erscheinungen in Begriffen bildet Einheiten: die Ideen stellen die zur Vollständigkeit erweiterten Einheiten dar. Das ist das Ziel alles Forschens: die systematische Einheit“, S. 96.
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Bedingungen menschlicher Konklusionen hervorzubringen, die ihrerseits das Unbedingte ausmachen169. Die Totalität der Bedingungen als das letztlich Unbedingte und die Reihe der Bedingungen bilden die Einheit des Verstandes, diese Synthesis, die das Ziel der Vernunfttätigkeit darstellt170. Der transzendentale Vernunftbegriff zielt „auf die absolute Totalität der Synthesis der Bedingungen und endigt niemals, als bei dem schlechthin, d. i. in jeder Beziehung, Unbedingten“ 171. Die absolute Totalität im Gebrauch der Verstandesbegriffe ist die Aufgabe der Vernunft mit dem Ziel, dem Verstand „die Richtung auf eine gewisse Einheit vorzuschreiben, von der der Verstand keinen Begriff hat, und die darauf hinaus geht, alle Verstandeshandlungen (sic. als Tätigkeit des Verstandes) in Ansehung eines jeden Gegenstandes, in ein absolutes Ganzes zusammen zu fassen“. Weil aber die reinen Vernunftbegriffe auf den Verstand rekurrieren und eben nicht direkt auf Gegenstände der Erfahrung, bedingen sie nur die Möglichkeit der Erfahrung und sind deswegen transzendental172. Sie sind also „endlich transzendent und übersteigen die Grenze aller Erfahrung“. Damit sagt der Begriff der Idee „in Ansehung seiner Wirklichkeit unter empirischen Bedingungen“ sehr wenig, weil die Idee, „als Begriff eines Maximum, in concreto niemals kongruent kann gegeben werden“. Folglich kann die Vernunft lediglich eine „Annäherung zu einem Begriffe“ bewirken. „So würde man sagen können: das absolute Ganze aller Erscheinungen ist nur eine Idee, denn, da wir dergleichen niemals im Bilde entwerfen können, so bleibt es ein Problem ohne alle Auflösung“ 173. Dennoch gehören Vernunft und Verstand untrennbar zur menschlichen Erkenntnisfähigkeit, sie bilden gewissermaßen die zwei Seiten derselben Medaille174. Insofern 169 J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 84, spricht in diesem Zusammenhang von einem unrealistischen intellektuellen Appetit unserer diskursiven Vernunft. 170 „Daher sind die reinen Vernunftbegriffe von der Totalität in der Synthesis der Bedingungen wenigstens als Aufgaben, um die Einheit des Verstandes, wo möglich, bis zum Unbedingten fortzusetzen, notwendig und in der Natur der menschlichen Vernunft gegründet, (. . .) und sie mithin keinen anderen Nutzen haben, als den Verstand in die Richtung zu bringen, darin sein Gebrauch, indem er aufs äußerste erweitert, zugleich mit sich selbst durchgehends einstimmig gemacht wird“, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 328. 171 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 330. 172 „Ich verstehe unter einer Idee einen notwendigen Vernunftbegriff, dem kein kongruierender Gegenstand in den Sinnen gegeben werden kann. Also sind unsere jetzt erwogene reine Vernunftbegriffe transzendentale Ideen“, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 331. 173 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 331. 174 Kant, Prolegomena zu einer künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, S. 198: „Jede einzelne Erfahrung ist nur ein Teil von der ganzen Sphäre ihres Gebietes, das absolute Ganze aller möglichen Erfahrung ist aber selbst keine Erfahrung, und dennoch ein notwendiges Problem vor die Vernunft, zu dessen bloßer Vorstellung sie ganz andere Begriffe notwendig hat, als jener reinen Verstandesbegriffe, (. . .), indessen daß Vernunftbegriffe auf die Vollständigkeit, d. i. die kollektive Einheit der ganzen möglichen Erfahrung und dadurch über jede gegebene Erfahrung hinausgehen, und transzendent werden.“
I. Freiheit als transzendentalphilosophisch letztbegründete Idee
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können aber die reinen Vernunftbegriffe vom Verstand zwar nicht abschließend erkannt und erfahren werden, doch trotz ihrer tiefen Unergründlichkeit zumindest als logische Maxime, als regulative Schemata gedacht werden, auch für die Erkenntnis der Vernunftprinzipien selbst. Es bleibt dennoch „ein Problem ohne alle Auflösung“. e) Die Kausalität aus Freiheit Der Verstand steuert die Wahrnehmung in der Sinnenwelt, um damit die Welt der Erscheinungen zu erschließen. Damit kann der Verstand aber nur den Istzustand der den Menschen umgebenen natürlichen Umwelt erkennen. Die Vernunft dagegen regelt die Tätigkeit des Verstandes und ist „von allen empirischbedingten Kräften unterschieden, da sie ihre Gegenstände bloß nach Ideen erwägt und den Verstand darnach bestimmt, der denn von seinen (zwar auch reinen) Begriffen einen empirischen Gebrauch macht“ 175. Die Vernunft schreibt also dem Verstand bei seinem empirischen Gebrauch die Regeln, die Imperative vor. Damit ist das empirisch unbedingte Sollen als Begriff in Stellung gebracht worden. Das Sollen kann in der Natur nicht vorkommen, der Verstand jedenfalls könnte es empirisch nicht erkennen, sondern lediglich den Istzustand ermitteln176. „Dieses Sollen nun drückt eine mögliche Handlung aus, davon der Grund nichts anders, als ein bloßer Begriff ist; da hingegen von einer bloßen Naturhandlung der Grund jederzeit eine Erscheinung sein muß. Nun muß die Handlung unter Naturbedingungen möglich sein, wenn auf sie das Sollen gerichtet ist“, wobei allerdings „diese Naturbedingungen nur die Wirkung und den Erfolg derselben in der Erscheinung“ betreffen177. Damit hat die Vernunft wirklich Kausalität „in Ansehung der Erscheinungen“ 178. Das Wesentliche des Vernunftbegriffs ist die Totalität der Bedingungen als das an sich Unbedingte. Dies bedeutet, daß die Vernunft empirisch unbedingt und somit „außer der Reihe der Erscheinungen (im Intelligiblen) und mithin keiner sinnlichen Bedingung und keiner Zeitbestimmung durch vorhergehende Ursachen unterworfen“ ist. Das Kausalitätsgesetz kann also auf die reine Vernunft nicht angewendet werden, weil sie der Zeitfolge nicht unter-
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Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 498. „Daß diese Vernunft nun Kausalität habe, wenigstens wir uns eine dergleichen an ihr vorstellen, ist aus den Imperativen klar, welche wir in allem Praktischen den ausübenden Kräften als Regeln aufgeben. Das Sollen drückt eine Art von Notwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen aus, die in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt. Der Verstand kann von dieser nur erkennen, was da ist, oder gewesen ist, oder sein wird. Es ist unmöglich, daß etwas darin anders sein soll, als es in allen diesen Zeitverhältnissen in der Tat ist, ja das Sollen, wenn man bloß den Lauf der Natur vor Augen hat, hat ganz und gar keine Bedeutung“, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 498; dazu J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 38 f. 177 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 499. 178 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 499. 176
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worfen ist179. Die Vernunft erzeugt den Anfang der Bedingungen und der Reihe der Bedingungen aus sich selbst heraus180, sie ist das letztlich Unbedingte. Nachdem aber die Vernunft durch den Begriff des Sollens die Möglichkeit einer Handlung darstellt, stellt sie eine Kausalität aus Freiheit dar, weil jede menschliche Handlung nur und ausschließlich empirischen Bedingungen unterworfen, von den Zeitbedingungen also nicht unabhängig ist und auch von selbst nicht anfangen kann. Weil der Mensch aber selbst nur eine Erscheinung ist, hat das Kausalitätsgesetz auch durch die Zeitunabhängigkeit der Vernunft seine grundsätzliche Gültigkeit nicht verloren. Wenn die Naturkausalität an der Bedingung der Zeit festgemacht ist, also ein Ereignis in der Welt der Erscheinungen eine der Zeit nach vorhergehende Ursache haben muß, kann sich dennoch das handelnde Subjekt als Ding an sich zumindest denken. Es begreift sich selbst (und nicht nur seine Vernunft) als nicht unter Zeitbedingungen stehend, und dabei als durch selbst gegebene Gesetze der Vernunft bestimmt181: Das Ich-Bewußtsein steht demnach außerhalb der Zeit182. Die Vernunft ist der letztlich und schlechthin unbedingte Grund für die willkürlichen Handlungen, die als frei zumindest gedacht werden können, obwohl sie gleichzeitig in der empirischen Welt unter der Bedingung der Naturkausalität stehen183: „Freiheit ist die Denkbarkeit, einen neuen 179 „Denn da Vernunft selbst keine Erscheinung und gar keinen Bedingungen der Sinnlichkeit unterworfen ist, so findet in ihr, selbst in Betreff ihrer Kausalität, keine Zeitfolge statt, und auf sie kann also das dynamische Gesetz der Natur, was die Zeitfolge nach Regeln bestimmt, nicht angewandt werden“, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 502. 180 Wenn „Vernunft Kausalität in Ansehung der Erscheinungen haben kann: so ist sie ein Vermögen, durch welches die sinnliche Bedingung einer empirischen Reihe von Wirkungen zuerst anfängt. Denn die Bedingung, die in der Vernunft liegt, ist nicht sinnlich, und fängt also selbst nicht an“, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 501. 181 „Die Vernunft ist also die beharrliche Bedingung aller willkürlichen Handlungen, unter denen der Mensch erscheint. Jede derselben ist im empirischen Charakter des Menschen vorher bestimmt, ehe noch sie geschieht. In Ansehung des intelligiblen Charakters, wovon jener nur das sinnliche Schema ist, gilt kein Vorher, oder Nachher, und jede Handlung, unangesehen des Zeitverhältnisses, darin sie mit anderen Erscheinungen steht, ist die unmittelbare Wirkung des intelligiblen Charakters der reinen Vernunft, welche mithin frei handelt, ohne in der Kette der Naturursachen, durch äußere oder innere, aber der Zeit nach vorhergehende Gründe, dynamisch bestimmt zu sein, und diese ihre Freiheit kann man nicht allein negativ als Unabhängigkeit von empirischen Bedingungen ansehen (denn dadurch würde das Vernunftvermögen aufhören, eine Ursache der Erscheinungen zu sein), sondern auch positiv durch ein Vermögen bezeichnen, eine Reihe von Begebenheiten von selbst anzufangen, so, daß in ihr selbst nicht anfängt, sondern sie, als unbedingte Bedingung jeder willkürlichen Handlung, über sich keine der Zeit nach vorhergehende Bedingungen verstattet, indessen daß doch ihre Wirkung in der Reihe der Erscheinungen anfängt, aber darin niemals einen schlechthin ersten Anfang ausmachen kann“, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 502 f. 182 F. Kaulbach, Immanuel Kant, S. 169. 183 Daß „obgleich etwas nicht geschehen ist, es doch habe geschehen sollen, und seine Ursache in der Erscheinung also nicht so bestimmend war, daß nicht in unserer Willkür eine Kausalität liege, unabhängig von jenen Naturursachen und selbst wider ihre Gewalt und Einfluß etwas hervorzubringen, was in der Zeitordnung nach empiri-
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Anfang zu setzen“ 184. Der Mensch kann sich als „intelligible Ursache“ 185 einer neuen Kausalreihe denken. Andererseits kann der alleinige Grund für willkürliches Handeln gar nicht anders als in der Vernunft begründet gesehen werden, weil die Wirkung der Handlung nur in der Empirie ausgemacht werden kann, in der wegen der Naturkausalität ein schlechthin erster Anfang, ein von selbst Beginnen, eine Ursache oder Grund, nicht gefunden werden kann, in Kants Worten: „keine absolute Totalität der Bedingungen im Kausalverhältnisse heraus zu bekommen ist“ 186. Die Kausalität behält nach Kant damit zwar ihre universelle Gültigkeit. Gedanklich zu unterscheiden ist aber die Kausalität der Natur von der Kausalität aus Freiheit. Kausalität aus Freiheit ist eine besondere Kausalität, bei der die absolute Spontaneität als Ursache einer neuen Kausalreihe aufgefaßt wird187, wenn die Vernunft „in der Reihe der Kausalverbindungen sich das Unbedingte denken will“ 188. Spontaneität als ein produktives Vermögen des Bewußtseins189 durchdringt den menschlichen Geist durchgängig190. Begrifflich ist Freiheit eine logische Möglichkeit, eine transzendentale Idee, ein Noumenon, und keine empirische Realität; „denn im noumenalen Bereich ist eine Kausalität aus Freiheit widerspruchsfrei zu denken“ 191. Die Freiheit als transzendentale Idee muß zumindest als denklogische Möglichkeit zwingend voraus gesetzt werden, wenn Freiheit praktisch möglich sein soll192. 3. Freiheit als Begriff der reinen praktischen Vernunft a) Der praktische Gebrauch der reinen Vernunft als rein praktische Vernunft Nach Kant hat die Vernunft auch ein praktisches Interesse, soweit es die drei transzendentalen Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit der Seele beschen Gesetzen bestimmt ist, mithin eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen“, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 490; dazu J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 116 ff. 184 H. Arendt, Was ist Politik?, S. 34, 49. 185 J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 117. 186 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 489. 187 Mithin „eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen“, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 490; Freiheit ist Spontaneität, aus uns selbst heraus, unabhängig und von allein einen Zustand zuerst anzufangen, J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 12, 92 f. 188 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 107. 189 „Das, ich denke, drückt den Actus aus, mein Dasein zu bestimmen“, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 152, Anm. 2. 190 Th. W. Adorno, Probleme der Moralphilosophie, S. 64 f. 191 Th. M. Seebohm, Über die unmögliche Möglichkeit, andere Kategorien zu denken als die unseren, S. 17. 192 Sonst „würde die Aufhebung der transzendentalen Freiheit zugleich alle praktische Freiheit vertilgen“, Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 489 f.
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trifft193. Reine Vernunft und praktische Vernunft unterscheiden sich nicht wesentlich194. Es gibt nur eine Vernunft195, weil es dasselbe Erkenntnisvermögen ist196. Praktische Vernunft ist der praktische Gebrauch der (reinen) Vernunft197, Kant spricht von rein praktischer Vernunft198. Der Unterschied zwischen „rein praktischer Vernunft“ und „praktischer Vernunft“ besteht darin, daß die rein praktische Vernunft a priori gilt, das erweist das Wort „rein“. Praktische Vernunft gilt hingegen a posteriori199. b) Das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft als Faktum des Sollens Der „Begriff der Freiheit, so fern dessen Realität durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen ist“ 200, bekommt „objektive Realität, d. i. die Möglichkeit derselben wird dadurch bewiesen, daß Freiheit wirklich ist“ 201. Und dieses praktische Gesetz ist das „Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft“: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“ 202. Durch dieses moralische Gesetz, durch das Sittengesetz also, offenbart sich die Idee der Freiheit203. Es zeigt nämlich, daß der Mensch nicht ausschließlich durch die Gesetze der Natur determiniert ist, sondern sich als Intelligenz davon losgelöst und mit Spontaneität begabt zumindest denken kann und denken muß, wenn er handeln können soll204. 193 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 264, bezeichnet sie als „Postulate der reinen praktischen Vernunft“: „Diese Postulate sind die der Unsterblichkeit, der Freiheit, positiv betrachtet (als der Kausalität eines Wesens, so fern es zur intelligiblen Welt gehört), und des Daseins Gottes.“ 194 F. Kaulbach, Immanuel Kant, S. 190. 195 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 16; Th. W. Adorno, Probleme der Moralphilosophie, S. 45. 196 M. Horkheimer, Über Kants Kritik der Urteilskraft als Bindeglied zwischen theoretischer und praktischer Philosophie, S. 3 f. 197 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 120 und S. 121; vgl. auch F. Kaulbach, Immanuel Kant, S. 203 f.; O. Höffe, Immanuel Kant, S. 173. 198 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 107. 199 F. Kaulbach, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 43. 200 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 107; die praktische Vernunft soll die Freiheit aus sich selbst durch ein Faktum bestätigen, S. 110. 201 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 107. 202 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 140. 203 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 107. 204 Allerdings gibt Kant zu, daß diese transzendentalphilosophisch begründete Denknotwendigkeit letztlich unbegreiflich ist: „Und so begreifen wir zwar nicht die praktische unbedingte Notwendigkeit des moralischen Imperativs, wir begreifen aber doch seine Unbegreiflichkeit, welches alles ist, was billigermaßen von einer Philosophie, die bis zur Grenze der menschlichen Vernunft in Prinzipien strebt, gefordert werden kann“, Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 102; dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 36 ff.
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Das Sittengesetz ist also die Erkenntnis eines freien Schöpfungsaktes in unserer Welt205. Es ist ein Faktum206, dessen Faktizität der Mensch weiß207. Das moralische Gesetz ist die conditio sine qua non für die Erkenntnis der Freiheit, Freiheit dagegen der Wesensgrund des moralischen Gesetzes: „daß die Freiheit allerdings die ratio essendi des moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz aber die ratio cognescendi der Freiheit sei“ 208. Es ist ein Gesetz der Logik209. Das moralische Gesetz, „welches wir wissen“ 210, gilt als Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft mit Apriorität211. Folglich kann der Mensch auch die Möglichkeit der 205
J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 99. O. Höffe, Immanuel Kant, S. 202 f.; der Terminus ,Faktum‘ ließe durchblicken, „daß Kant seine Bemühungen um eine Deduktion der Sittlichkeit aus der Selbstgewißheit des Denkens und dessen evidenten Prinzipien für gescheitert erklärt“ habe, M. Forschner, Gesetz und Freiheit, S. 250. Das sei aber hinnehmbar, weil das Gute als Folge der Sittlichkeit zustimmende Billigung erfahre, woraus sich Anspruch und Legitimität des Anspruchs ergebe, S. 252. Im übrigen sei Vernunft die Sehnsucht nach Vernunft, diese wiederum eine Faktizität, die das menschliche Sollen kategorisch gebiete, S. 256, weil „reine Vernunft selbst praktisch“ ist, Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 107; zum Faktum des Sollens K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 36 ff. 207 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 142; J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 28. 208 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 108, Anmerkung; M. Forschner, Gesetz und Freiheit, S. 272, spricht vom Sittengesetz als Implikat menschlicher Freiheit. 209 H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 35, insofern seien die Grundüberlegungen der Moral bei Kant nicht moralisch, sondern logisch. 210 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 108. 211 Das Sittliche ist kein Erfahrungsbegriff und ist höherrangig als die Erfahrung, weil aus der Erfahrung kein Sollen abgeleitet werden kann, H. Cohen, Kants Begründung der Ethik, S. 218. Das Sollen ist die Notwendigkeit eines vom (sinnlichen) Begehrungsvermögen unterschiedenen Wollens, S. 141, liegt jenseits der Erfahrung und ist auch methodisch unabhängig von ihr zu denken, S. 144. Das Sittliche ist selbst nur als regulative Idee zu begreifen und damit als eine Grenzbestimmung der Erfahrung. An dieser Grenze gelten dann die Ideen, damit auch das Sittliche, als noumenale Maximen, und zwar a priori, S. 177. Bei der Entdeckung des Moralischen geht es um die Entdeckung dieses Aprioris, S. 180. Im Bereich des Praktischen hingegen ist diese nun möglich durch die Form der allgemeinen Gesetzgebung, „das allein dürfte das Apriori der Ethik sein: das wir die Gesetzmäßigkeit einer allgemeinen Gesetzgebung denken. Dieser Gedanke selbst sei der alleinige Beweggrund des praktischen Vernunftgebrauchs. Sonst gibt es kein Gesetz“. Das praktisch-ethische Apriori besteht in der Gesetzmäßigkeit, die ihrerseits zweierlei erfordert: zu einen, der Gedanke einer allgemeinen Gesetzgebung. Das Gesetz als Vernunftbegriff kann nur gedacht werden in Form einer allgemeinen Gesetzgebung, also „nicht bloß in sinnlichen Einschränkung, für wechselnde Zeitverhältnisse, noch für eine ablösbare Anzahl von Individuen geltend: der Vernunftidee einer noumenalen Begrenzung aller Erfahrung, auf den praktischen Vernunftgebrauch bezogen, muss diese Gesetzgebung entsprechend als eine allgemeine“, S. 213 f. Diese Form der allgemeinen Gesetzgebung als Apriori ist Ausdruck der ethischen Realität. Zweitens ist erforderlich, daß diese allgemeine Gesetzgebung der alleinige Bestimmungsgrund des Willens ist, soll heißen, daß diese Gesetzgebung selbst „das Gesetz der Erzeugung des Willens“ ist, S. 215. Die Gesetzmäßigkeit des Wollens entspricht der Form des Gesetzes und stellt den reinen Willen dar. Es ist nicht das Gesetz der Bestim206
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Freiheit a priori wissen212. Das (nicht zu leugnende) Sittengesetz ist also das Erkenntnisgesetz der Freiheit: Jemand „urteilt also, daß er etwas kann, darum, weil er sich bewußt ist, daß er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre“ 213. c) Das Handeln als Beweis der reinen praktischen Vernunft Rein praktische Vernunft ist das „Vermögen zum Wollen“ 214 und gleichzeitig die Erkenntnis des Sollens an sich215, also daß es ein Sollen überhaupt gibt, unabhängig davon, was material gesollt wird. Die rein praktische Vernunft ist die allgemeine sittliche Bestimmung des Menschen216: „Reine Vernunft ist für sich allein praktisch, und gibt (dem Menschen) ein allgemeines Gesetz, welches wir das Sittengesetz nennen“ 217. Der praktische Gebrauch der reinen Vernunft im Hinblick auf die Freiheit218 läßt sich durch das Handeln beweisen219. Eine Handlung ist eine Tat, bei der der Handelnde Urheber einer Wirkung ist220, und zwar bei strenger Gültigkeit des Kausalitätsgesetzes als Naturgesetz im Reich der menschlichen Lebenswirklichkeit221. Die Tat beweist zusammen mit dem Faktum des Sittengesetzes die praktische Realität der reinen Vernunft222. Damit liegt die Moralität in der reinen Vernunft begründet, wobei der Ausdruck rein in einem mungsgrund der Moral, sondern nur die formale Gesetzmäßigkeit des Wollens, weil sonst dieser Bestimmungsgrund nicht a priori gedacht werden könnte, weil der nämlich auf ein Objekt zielte, auf das Gesetz selbst. Der Bestimmungsgrund der Moral läge dann in der Willensgesinnung im objektiv Empirischen und nicht im erforderlichen apriorisch-noumenalen Bereich. Der reine Wille rekurriert eben auf diese Gesetzmäßigkeit des Wollens. 212 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 108. 213 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 139 f.; ders., Metaphysik der Sitten, S. 347; W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 75 ff.; vgl. M. Forschner, Gesetz und Freiheit, S. 226 ff., 260 ff. 214 O. Höffe, Immanuel Kant, S. 174. 215 F. Kaulbach, Immanuel Kant, S. 214. 216 E. Cassirer, Kants Leben und Lehre, S. 50; das unmittelbare Interesse der Vernunft an der Verwirklichung des Sollens wird von Kant auch als „reines Interesse“ bezeichnet, dazu F. Kaulbach, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 178, mit Bezug auf Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 97, Anmerkung, der an dieser Stelle von „reinem Vernunftinteresse“ spricht. 217 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 142. 218 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 111. 219 F. Kaulbach, Immanuel Kant, S. 213; „Denn wenn sie, als reine Vernunft, wirklich praktisch ist, so beweiset sie ihre und ihrer Begriffe Realität durch die Tat, und alles Vernünfteln wider die Möglichkeit es zu sein, ist vergeblich“, Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 107. 220 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 329 auf die weiteren Kennzeichen für eine Tat soll hier aber nicht eingegangen werden. 221 F. Kaulbach, Immanuel Kant, S. 214. 222 Dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 36 ff.
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doppelten Sinn von Kant verwendet wird: rein vernunftgemäß bedeutet im Hinblick auf die Erkenntnis „von sinnlichem Material unentstellt“, und in bezug auf das Handeln, daß es „rein nach Gesetzen der Vernunft“ erfolgt223. Allerdings gilt auch in praktischer Hinsicht, daß der Antagonismus zwischen der Kausalität „als Naturmechanism“ und der Freiheit im Grunde bestehen bleibt und im erkennenden Subjekt nur dadurch in Einklang gebracht werden kann, indem die Kausalität aus Freiheit lediglich gedacht, die Kausalität der Natur dagegen in den Erscheinungen vorgestellt wird224. Der Mensch ist als Verstandeswesen nicht nur zur empirischen, sondern gleichzeitig zur intelligiblen Welt zugehörig und insoweit nicht dem Kausalitätsgesetz (der Natur) unterworfen. So kann er sich zumindest denken, als unbedingte Ursache einer Kausalität in der empirischen Welt zu wirken225. Dadurch kann eine Handlung als zwar physisch bedingt, weil in der empirischen Welt der Naturkausalität unterworfen, gleichzeitig als frei gedacht werden, wenn sich der Handelnde mit seinem Ich-Bewußtsein als physisch unbedingt begreift. Die Vorstellung einer freien Handlung ist ja insofern ein Problem, weil die Handlung in der empirischen Welt erfolgt, also der Naturkausalität unterworfen ist226, die ihrerseits der Bedingung der Zeit unterworfen ist. In der Welt der Erscheinungen hat eine jetzt erfolgende Handlung ihren Bestimmungsgrund in der Vergangenheit227, auf die aber der Handelnde keine Einflußmöglichkeit be-
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Th. W. Adorno, Probleme der Moralphilosophie, S. 45. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 110, Anmerkung. 225 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 225. Kant weist hier nochmals nach, daß der Mensch frei sei, weil er eben auch Ding an sich selbst ist und ihm insofern auch die Spontaneität zugeschrieben werden müsse, soll heißen, daß es ihm möglich sei, einen selbständigen Anfang in der Kausalreihe zu machen, vgl. auch die Ausführungen auf S. 162 f., 220. 226 Zwar muß der Handelnde mit seiner Handlung „aber doch Naturnotwendigkeit bei sich führen, mithin keine transzendentale Freiheit übrig lassen, welche als Unabhängigkeit von allem Empirischen und also von der Natur überhaupt gedacht werden muß“. Aber ohne gedachte Loslösung von der Naturnotwendigkeit in der empirischen Welt wäre die Vorstellung einer Freiheit als praktisch freie Handlung des Menschen nicht mehr als die „Freiheit eines Bratenwenders (. . .), der auch, wenn er einmal aufgezogen worden, von selbst seine Bewegungen verrichtet“, Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 222. 227 Kant hat darauf hingewiesen, daß man die menschlichen Handlungen nach empirischen Gesetzen – in die Vergangenheit gerichtet – erklären, nicht aber, diese dadurch mit Sicherheit – in die Zukunft gerichtet – voraussagen könne, J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 128 f. Dies kann überhaupt nur gelingen, wenn man beim Menschen Freiheit voraussetzt, und damit voraussetzt, daß er sich als Intelligenz auch bei entgegen gesetzten empirischen Motivlagen dafür entscheidet, vernünftig und dem Sollen gemäß zu handeln. Das menschliche Zusammenleben wäre praktisch unmöglich, wenn die Menschen in der Gemeinschaft nicht einigermaßen richtig einschätzen könnten, wie die Mitmenschen handeln werden. So wäre jeder Vertragsabschluß völlig sinnlos, wenn die Einhaltung des Vertrages etwa lediglich vom empirischen Charakter der Vertragsschließenden abhinge. Das Risiko, daß die Menschen das Sollen verfehlen, kann natürlich niemals ausgeschlossen werden; dies allerdings ist sittlich/ethisch und 224
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sitzt. Es würde in der Welt der Erscheinungen eine freie Handlung unmöglich sein, weil das handelnde Subjekt eben auch Erscheinung ist und keine Gewalt über die Vergangenheit hat. Weil aber das handelnde Subjekt als nicht unter Zeitbedingungen stehend zumindest gedacht werden kann228 und die Vernunft selbst ebenfalls zeitlos ist, kann eine menschliche Handlung als unabhängig von der Naturkausalität und somit als von selbst anfangend, eben als frei gedacht werden229. Jede menschliche Handlung, auch die freie, steht aber damit unter Gesetzen. Ein und derselbe Mensch lebt in zwei Welten, das ergab die Auflösung der Dritten Antinomie. Als vernünftiges Wesen nimmt er „zwei Standpunkte“ ein, nämlich sowohl als zur Sinnenwelt als auch zur Verstandeswelt zugehörig, wobei sich der Mensch innerhalb der letzteren lediglich als „Intelligenz“ und damit unabhängig von der Sinnenwelt denkt230. d) Der Wille als Bestimmungsgrund der menschlichen Tat Die praktische Realität der Freiheit läßt sich nur durch die Bestimmungsgründe für die menschliche Tat beweisen, die rein, also empirisch unbedingt sein müssen, und nur den Gesetzen der Vernunft entsprechen dürfen. Nach Kants Definition ist der Wille das Vermögen, sein Begehren durch Zweckvorstellungen bestimmen zu lassen: „Das Vermögen, sofern es nur durch Begriffe, d. i. der Vorstellung eines Zwecks gemäß zu handeln, bestimmbar ist, würde der Wille sein“ 231, er ist das „Begehrungsvermögen, sofern es nur durch Begriffe, d. i. der Vorstellung eines Zweckes gemäß zu handeln, bestimmbar ist“ 232: „Keine Handlung kann zwecklos sein“ 233. Nun kann sich die Vernunft aber auch auf den damit auch rechtlich bewertbar, was ohne Annahme von Freiheit und Sollen nicht möglich wäre. 228 „Aber eben dasselbe Subjekt, das sich andererseits auch seiner, als Dinges an sich selbst, bewußt ist, betrachtet auch sein Dasein, so fern es nicht unter Zeitbedingungen steht“, Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 223. 229 Kant liefert in der Kritik der reinen Vernunft, S. 490, ein Argument für die Handlungsmächtigkeit des Menschen und damit für die praktische Freiheit. Es ist die Erkenntnis, daß der Mensch den empirischen Geschehnisverlauf, der nach der Erfahrung hätte geschehen sollen, beeinflussen kann: Praktische Freiheit setzt voraus, „daß, obgleich etwas nicht geschehen ist, es doch habe geschehen sollen, und seine Ursache in der Erscheinung also nicht so bestimmend war, daß nicht in unserer Willkür eine Kausalität liege, unabhängig von jeden Naturursachen und selbst wider ihre Gewalt und Einfluß etwas hervorzubringen, was in der Zeitordnung nach empirischen Gesetzen bestimmt ist, mithin einen Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen“. 230 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 88. 231 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 299. 232 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 135. 233 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 66 ff.; ders., Kritik der praktischen Vernunft, S. 144 ff.; ders., Metaphysik der Sitten, S. 514 f.; dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 62 f.
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menschlichen Willen als Antriebsmoment für die menschlichen Handlungen beziehen, wenn die Vernunft praktisch ist: „Ein jedes Ding der Natur wirkt nach Gesetzen. Nur ein vernünftiges Wesen hat das Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze, d. i. nach Prinzipien, zu handeln, oder einen Willen. Da zur Ableitung der Handlung von Gesetzen Vernunft erfordert wird, so ist der Wille nichts anderes als praktische Vernunft“ 234 und bedeutet die umfassende Selbstbestimmung des Menschen zum Handeln, „der Vorstellung gewisser Gesetze gemäß sich selbst zum Handeln zu bestimmen“ 235. Der Wille ist eine „Art von Kausalität lebender Wesen, so fern sie vernünftig sind“ 236. Objekt des Willens als „eines durch Vernunft bestimmten Begehrungsvermögens“ ist das Gute237. Nach Kant ist ein Imperativ „eine Regel, durch die ein Sollen, welches die objektive Nötigung der Handlung ausdrückt, bezeichnet wird, und bedeutet, daß, wenn die Vernunft den Willen gänzlich bestimmte, die Handlung unausbleiblich nach dieser Regel geschehen würde“ 238. Das Wollen ist identisch mit einem auf das wollende Subjekt bezogenen Sollen239, ein Imperativ eben240. Das Subjektive wird objektiv und das Objektive subjektiv, weil die individuellen Entscheidungen entpersönlicht werden. Dadurch werden sie generalisierbar241. Freies Handeln ist die Übereinstimmung des Handelns mit dem inneren Gesetz der praktischen Vernunft242. Das Sittengesetz ist „als die subjektive Vernunft selber als ein schlechterdings und als ein objektiv Gültiges“ zu begreifen243. Diese Imperative gelten dann als objektiv, wenn sie „von pathologischen, mithin dem Willen zufällig anklebenden Bedingungen unabhängig“ sind244. Die Bestimmungsgründe für die (freie) Tat müssen objektiv und damit durch die Vernunft einsehbar sein, dürfen 234 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 41; zu den unterschiedlichen Interpretationen dieser Textstelle J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 66 ff. 235 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 59; K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 60 ff.; J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 30, bezeichnet den Willen als „Variante der Kausalität, weil wir durch ihn als Ursache auf die Welt einwirken“. 236 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 81 f.; dazu M. Forschner, Gesetz und Freiheit, S. 227 ff.; K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 60 ff. 237 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 122. 238 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 126. 239 „Wenn die Vernunft den Willen unausbleiblich bestimmt, so sind die Handlungen eines solchen Wesens, die als objektiv notwendig erkannt werden auch subjektiv notwendig, d. i. der Wille ist ein Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft, unabhängig von der Neigung, als praktisch notwendig, d. i. als gut erkennt“, Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 41. 240 „Die Vorstellung eines objektiven Prinzips, sofern es für einen Willen nötigend ist, heißt ein Gebot (der Vernunft) und die Formel des Gebots heißt Imperativ“, Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 41. 241 E. R. Sandvoss, Immanuel Kant, S. 98. 242 F. Kaulbach, Immanuel Kant, S. 210; Kant, Metaphysik der Sitten, S. 333. 243 Th. W. Adorno, Probleme der Moralphilosophie, S. 53. 244 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 126.
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also keine bloß subjektiven, psychischen, pathologischen oder andere empirische Triebfedern245 darstellen, auch deshalb, weil diese bei jedem Menschen unterschiedlich sein können. Objektive Imperative gebieten kategorisch, wenn sie lediglich den Willen als solchen, losgelöst von der Frage, ob dieser Wille im Reich der Empirie einen gewünschten Erfolg bringt oder nicht, behandeln246. Nur ein kategorischer Imperativ kann zum Gesetz qualifizieren, weil nur er objektiv ist247, wenn er praktisch richtig ist. „Also beziehen sich praktische Gesetze allein auf den Willen, unangesehen dessen, was durch die Kausalität desselben ausgerichtet wird, und man kann von der letzteren (als zur Sinnenwelt gehörig) abstrahieren, um sie rein zu halten“ 248. Wenn also praktische Gesetze sich auf den Willen als solchen beziehen, so ist dieser Wille ein reiner Wille, losgelöst von der empirischen Welt249. Der reine Wille ist, weil gesetzlich gebunden250, ein Begriff der reinen Vernunft und in der empirischen Welt nicht nachweisbar, sondern gehört zur „intelligiblen Welt“ 251. Die Idee eines reinen Willens ist deswegen der transzendentalen Idee der Freiheit gemäß: „Alle Menschen denken sich dem Willen nach als frei“ 252, und jeder Mensch kann „die Kausalität seines eigenen Willens niemals anders als unter der Idee der Freiheit denken“ 253. Ein Mensch kann also nur dem Sollen gemäß handeln, wenn er frei ist, wenn er also seinen Willen frei von empirischen Bestimmungsgründen, bestmöglich rein, bildet254. Die Frei245 Triebfedern sind rein subjektive Gründe des Begehrens, Bewegungsgründe objektive Gründe des Wollens, letztere gelten für alle vernünftige Wesen, Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 59. 246 F. Kaulbach, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 10, weist darauf hin, daß der praktisch moralische Wille den gebotenen Pflichteninhalt nicht außer Acht lassen darf. Aber, der moralische Wille darf sich vom Gedanken an den Erfolg nicht bestimmen lassen. Er sieht durch den kategorischen Imperativ einen „transzendentalen Perspektivismus“ der praktischen Philosophie Kants begründet, weil die moralische Bewertung davon abhinge, die in Frage kommende Handlungsmaxime in der Perspektive der praktischen Gesetzlichkeit zu beurteilen und auszuwählen, S. 24. Dementsprechend wird auch Verantwortung aus der Perspektive der Gesinnung zum guten Willen, wodurch es erst möglich ist, die Verwirklichung von Zwecken selbst als wertvoll zu beurteilen und zu entscheiden, was Verantwortung wert ist, S. 28, vgl. auch S. 138 ff. 247 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 126. 248 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 127. 249 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 15; Kant bezeichnet den Willen, „der ohne alle empirische Bewegungsgründe, völlig aus Prinzipien a priori, bestimmt werde, und den man einen reinen Willen nennen könnte“. Insofern ist es korrekt, wenn A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. I, S. 170, den Willen als Ding an sich qualifiziert, wobei allerdings nicht übersehen werden darf, daß für ihn der Wille das alleinige Ding an sich ist: der Wille ist die „Objektität“ aller „Vorstellung, alles Objekt, die Erscheinung, die Sichtbarkeit“. 250 E. Cassirer, Kants Leben und Lehre, S. 263. 251 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 96. 252 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 91. 253 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 88. 254 Dazu J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 27.
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heit des Willens ist das Vermögen, unabhängig von Naturursachen vernünftig255, damit aber ausschließlich dem Sittengesetz gemäß zu handeln: „Denn wo das sittliche Gesetz spricht, da gibt es objektiv keine freie Wahl in Ansehung dessen, was zu tun sei“ 256. Eine Handlung ist nicht frei, wenn sie nicht gesetzlich ist, und Gesetzlosigkeit ist ein Unvermögen zur Freiheit257. e) Die Autonomie des Willens Der Wille ist die „wirkende Ursache“ der menschlichen Handlung, sofern sich der Mensch als „Intelligenz zur Verstandeswelt“ denkt. Weil aber jede Handlung unter Gesetzen steht, also empirisch unter Naturgesetzen und intelligibel unter Verstandesgesetzen, muß der Wille als „unmittelbar gesetzgebend“ gedacht werden. Die Idee der Freiheit beinhaltet immer das Gesetz und ist daher untrennbar mit der Autonomie des Willens verbunden. Wäre der Mensch nichts als Intelligenz, so wären alle seine Handlungen „dem Prinzip der Autonomie des reinen Willens vollkommen gemäß“, der menschliche Wille wäre „der Idealfall eines heiligen Willens“ 258. Aber, der Mensch ist eben nicht ausschließlich Intelligenz, sondern auch ein sinnliches Wesen. Aus diesem Grunde kann nur gefordert werden, daß seine Handlungen der Autonomie des Willens „gemäß sein sollen“, und dieses Sollen gilt kategorisch und a priori259, mit anderen Worten, das kategorische Sollen, das Sollen an sich, kann überhaupt nur gedacht werden, weil der Mensch ein sinnliches Wesen und nicht bloß Intelligenz ist. Aus dieser anthropologischen Dichotomie des Menschen als Vernunft- und Naturwesen zugleich260 ergeben sich für Kant alle moralischen Probleme261. Werden nun beide Standpunkte, die zwei Welten zusammen betrachtet, weil es ein und derselbe Mensch ist, so bedeutet dies: „Das moralische Sollen ist also eigenes notwendiges Wollen als Gliedes einer intelligiblen Welt, und wird nur so fern von ihm als Sollen gedacht, als er sich zugleich wie ein Glied der Sinnenwelt betrachtet“. Das ist die Konsequenz der Auflösung der Dritten Antinomie in Hinblick auf die menschlichen Handlungen: es besteht „kein wahrer Widerspruch zwischen Freiheit und Naturnotwendigkeit ebenderselben menschlichen Handlungen“, sondern beide müssen als „notwendig vereint, in demselben Subjekt gedacht werden“ 262. Wenn 255
J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 41. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 123; ders., Metaphysik der Sitten, S. 333; dazu J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 57. 257 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 333; dazu J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 139; K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 60 ff. 258 J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 32; Kant, Metaphysik der Sitten, S. 228. 259 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 89 f. 260 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 94 ff. 261 J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 56. 262 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 92 f. 256
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der Mensch dem Sollen gemäß handeln können soll, so ist dies nur denkbar, wenn er seinen Willen durch das Sittengesetz und nicht durch das Naturgesetz bestimmen läßt263. Ohne das kategorische Sollen kann die Frage nach Moralität und Ethik nicht gestellt werden, praktische Philosophie264 als normative Handlungswissenschaft oder gar die Rechtswissenschaft wären unmöglich, weil ohne moralisches Sollen keine Beurteilung über Handlungen, „die hätten geschehen sollen, ob sie gleich nicht geschehen sind“ 265, denkbar ist. Das Sollen als das „eigene notwendige Wollen“ ist die Autonomie des Willens. Freiheit und eigene Gesetzgebung des Willens sind „beides Autonomie, mithin Wechselbegriffe“ 266. Was „kann denn wohl die Freiheit des Willens sonst sein, als Autonomie, d. i. die Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein“ 267? Angesprochen ist dabei die „Idee eines vernünftigen Wesen, das keinem Gesetze gehorcht, als dem, das es zugleich selbst gibt“ 268. Die Autonomie des Willens zielt auf ein Gesetz des Handelns, das sich der Wille selbst und unabhängig von aller Beschaffenheit der Willensobjekte (der Materie des Wollens)269, also rein, nur durch seine Form bestimmt, gibt. Der „schlechterdings gute Wille“ zielt auf die „Form des Wollens“ und ist als Autonomie „selbst das alleinige Gesetz, das sich der Wille eines jeden vernünftigen Wesens selbst auferlegt, ohne irgend eine Triebfeder und Interesse derselben als Grund unterzulegen“ 270. f) Die Maximen als Grundsätze menschlichen Handelns Eine Maxime ist ein subjektiver Grundsatz271 für menschliches Handeln272, das „subjektive Prinzip des Wollens“ 273, das „subjektive Prinzip zu handeln, was sich das Subjekt selbst zur Regel macht (wie es nämlich handeln will)“ 274. Maximen sind Grundsätze, die Gegenstand vernünftiger Überprüfung sein können und sind auf Regelmäßigkeit angelegt275. Maximen wählen heißt Handlungsweisen 263
J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 35. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 93. 265 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 91 f. 266 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 86. 267 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 81. 268 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 67. 269 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 76. 270 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 80. 271 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 682. 272 Th. W. Adorno, Probleme der Moralphilosophie, S. 185. 273 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 27. 274 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 332; dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 63 ff. 275 J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 157; dies bedeutet allerdings nicht, daß man, wenn man in einer Situation nach einer bestimmten Maxime gehandelt hat, nach dieser Maxime auch weiterhin handeln wird. 264
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wählen276. Sie sind Vorschriften der „Geschicklichkeit“ 277, wie der Mensch handeln sollte, um einen bestimmten Effekt in seiner Lebenswirklichkeit zu erzielen278, setzen also einen gewollten Zweck bereits voraus279. Die Maxime schließt also den Zweck ein, um dessentwillen der Mensch in einer Situation eines bestimmten Typs eine Handlung einer bestimmten Art auszuführen gedenkt280. Kant nennt die Maxime hypothetische Imperative. Sie sind „zwar praktische Vorschriften, aber keine Gesetze“, weil „sie bedingt sind, d. i. nicht den Willen schlechthin als Willen, sondern nur in Ansehung einer begehrten Wirkung bestimmen“ 281. Dies liegt daran, daß die Handlung, die einer Maxime folgt, lediglich vom subjektiven „Begehrungsvermögen“ abhängt, also nicht objektiv zwingend erfolgt. Hypothetische Imperative sind im Wesentlichen nicht mehr als Feststellungen über den Lauf der Natur282. Sie schreiben die Mittel zur Erreichung eines beabsichtigten Zweckes vor, und „stellen die praktische Notwendigkeit einer möglichen Handlung als Mittel, zu etwas anderem, was man will (oder doch 276 St. Kröner, Kant, S. 110. O. Höffe, Ethik und Politik, S. 88 f., hat darauf hingewiesen, daß Maximen nicht für einen unwiederholbaren Fall gelten, sondern für eine Mehrzahl gleicher Fälle. Außerdem beträfen sie nicht eine Gleichförmigkeit der Handlungen, sondern als selbstgesetzte Regel die Bestimmungsgründe individuellen Wollens. Dementsprechend bezieht sich Sittlichkeit nicht auf das Handlungsergebnis, sondern auf den zugrunde liegenden Willen. Diese Auffassung führt dann auch zu der Erkenntnis, daß Maximen keine bloßen Handlungsregeln darstellen, die verabsolutiert werden, sondern daß Handlungen situationsabhängig erfolgen können, S. 96. Sittlichkeit und Moralität des Handelns erfordern gerade kein starres Handlungskorsett; in diese Richtung argumentiert auch J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 157 f. 277 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 44. 278 Generell werden derartige „subjektive Grundsätze, die nicht von der Beschaffenheit des Objekts, sondern dem Interesse der Vernunft in Ansehung einer gewissen möglichen Vollkommenheit der Erkenntnis dieses Objekts hergenommen sind“, von Kant als „Maximen“ (der Vernunfterkenntnis) bezeichnet, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 580. Das bedeutet, daß die Instellungbringung der Freiheitsidee eine subjektive Maxime ist, die notwendig ist, um die systematische Einheit der Vernunfterkenntnis zu ermöglichen. Freiheit ist also nicht nur eine logische Möglichkeit, sondern eine zwingende Basisannahme auch für die empirische Erkenntnis. Damit ist die Ethik als Darstellung des regulativen Gebrauchs der (kosmologischen) Ideen auch erforderlich für die empirische Erkenntnis, H. Cohen, Kants Begründung der Ethik, S. 102. Als „kosmologisch“ bezeichnet Kant alle Ideen, die über die Grenze möglicher Erfahrung hinausreichen. Es sind die Ideen, die bis zum „Unbedingten erweiterte Kategorien“ sind, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 402. Darüber hinaus ist die Freiheitsidee als regulative Maxime natürlich für die Möglichkeit der ethischen Erkenntnis, als für das, was nicht ist, zwingende Voraussetzung, H. Cohen, Kants Begründung der Ethik, S. 129. Die Idee der Freiheit ist der höchste, im Transzendentalen festzumachende Punkt der menschlichen Erkenntnisfähigkeit überhaupt. 279 J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 77. 280 J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 151 f. 281 „Alle praktischen Prinzipien, die ein Objekt (Materie) des Begehrungsvermögens, als Bestimmungsgrund des Willens voraussetzen, sind insgesamt empirisch und können keine praktischen Gesetze abgeben“, Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 126 f. 282 St. Kröner, Kant, S. 112; so auch O. Höffe, Immanuel Kant, S. 184.
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möglich ist, daß man es wolle), zu gelangen, vor“ 283. Alle Prinzipien, die sich auf die sinnlich-empirische Welt beziehen, können keine Gesetze darstellen, sondern gehören zum Prinzip der Selbstliebe oder eigenen Glückseligkeit und somit in das Reich der Gefühle und Sinnen. Sie gehören zum „unteren Begehrungsvermögen“ 284. Die „Absichten, die wir bei Handlungen haben mögen, und ihre Wirkungen, als Zwecke und Triebfedern“ haben „keinen unbedingten und moralischen Wert“ 285: hypothetische Imperative sind moralisch neutral 286. g) Die Freiheit der Willkür Reine Vernunft aber muß für sich allein praktisch sein287, also ohne Rücksicht auf die Sinnen- und Gefühlswelt, weil nur die objektive Nötigung zur Handlung hinreichend zum Gesetz qualifiziert288. Der Wille darf nur von der Vernunft allein bestimmt werden289, und dann schreibt die Vernunft dem Willen das prak-
283 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 43. Kant unterteilt die hypothetischen Imperative noch in ein problematisches und ein assertorisch-praktisches Prinzip: der problematisch hypothetische Imperativ bezieht sich auf eine mögliche Absicht, der assertorisch-praktische auf eine wirkliche Absicht. 284 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 128 f. 285 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 26. 286 J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 77. 287 E. Cassirer, Kants Leben und Lehre, S. 50. 288 H. Cohen, Kants Begründung der Ethik, S. 213 f. Im Bereich des Praktischen hingegen ist diese nur möglich durch die Form der allgemeinen Gesetzgebung, „das allein dürfte das Apriori der Ethik sein: daß wir die Gesetzmäßigkeit einer allgemeinen Gesetzgebung denken. Dieser Gedanke selbst sei der alleinige Beweggrund des praktischen Vernunftgebrauchs. Sonst gibt es kein Gesetz“. Das praktisch-ethische Apriori besteht in der Gesetzmäßigkeit, die ihrerseits zweierlei erfordert: zu einen, der Gedanke einer allgemeinen Gesetzgebung. Das Gesetz als Vernunftbegriff kann nur gedacht werden in Form einer allgemeinen Gesetzgebung, also „nicht bloß in sinnlichen Einschränkung, für wechselnde Zeitverhältnisse, noch für eine ablösbare Anzahl von Individuen geltend: der Vernunftidee einer noumenalen Begrenzung aller Erfahrung, auf den praktischen Vernunftgebrauch bezogen, muss diese Gesetzgebung entsprechend als eine allgemeine“. Diese Form der allgemeinen Gesetzgebung als Apriori ist Ausdruck der ethischen Realität. Zweitens ist erforderlich, daß diese allgemeine Gesetzgebung der alleinige Bestimmungsgrund des Willens ist, soll heißen, daß diese Gesetzgebung selbst „das Gesetz der Erzeugung des Willens“ ist, S. 215. Die Gesetzmäßigkeit des Wollens entspricht der Form des Gesetzes und stellt den reinen Willen dar. Es ist nicht das Gesetz der Bestimmungsgrund der Moral, sondern nur die formale Gesetzmäßigkeit des Wollens, weil sonst dieser Bestimmungsgrund nicht a priori gedacht werden könnte, weil der nämlich auf ein Objekt zielte, auf das Gesetz selbst. Der Bestimmungsgrund der Moral läge dann in der Willensgesinnung im objektiv Empirischen und nicht im erforderlichen apriorisch-noumenalen Bereich. Der reine Wille rekurriert eben auf diese Gesetzmäßigkeit des Wollens. 289 Für Adorno ist – metaphysisch gesprochen – der Wille sogar identisch mit der Vernunft. Th. W. Adorno, Probleme der Moralphilosophie, S. 171. Einen Willen haben bedeutet, vernunftbegabt zu sein.
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tische Gesetz unmittelbar vor290, was also „die Vernunft schlechthin, mithin objektiv gebietet (wie es (sic. das Subjekt) handeln soll)“ 291. Das praktische Gesetz ist das objektive Prinzip, die Maxime das subjektive Prinzip des Wollens292. Die Willkür nun ist das „Begehrungsvermögen“, sofern „es mit dem Bewußtsein seiner Handlung zur Hervorbringung eines Objektes verbunden ist“. Die menschliche Willkür wird zwar sinnlich „affiziert“, aber dadurch nicht (allein) bestimmt, sondern die „Freiheit der Willkür ist jene Unabhängigkeit ihrer Bestimmung durch sinnliche Antriebe“: reine Vernunft soll die Willkür bestimmen293, und zwar unabhängig vom konkret verfolgten materialen Zweck294. Dies geschieht dadurch, daß der Mensch unter der Vielzahl möglicher Handlungsweisen nur diejenige wählt, die so verallgemeinerungsfähig ist, daß sie sich zum allgemeinen Gesetz eignet. Umgekehrt gilt allerdings, daß bei einem allgemeinen Gesetz die möglichen individuellen Handlungsmaximen sehr unterschiedlich sein können295, je nach Zwecksetzung und Zweckverfolgung durch den einzelnen Menschen296. „Von dem Willen gehen die Gesetze aus, von der Willkür die Maximen. Die letztere ist im Menschen eine freie Willkür; der Wille, der auf nichts anderes, als bloß aufs Gesetz geht, kann weder frei noch unfrei genannt werden, weil er nicht auf Handlungen, sondern unmittelbar auf die Gesetzgebung für die Maxime der Handlung (also die praktische Vernunft selbst) geht, daher auch schlechterdings notwendig und selbst keiner Nötigung fähig ist. Nur die Willkür also kann frei genannt werden. Die Freiheit der Willkür aber kann nicht durch das Vermögen der Wahl, für oder wider das Gesetz zu handeln (libertas indiffe290 Und „nur, daß sie als reine Vernunft praktisch sein kann, macht es ihr möglich, gesetzgebend zu sein“, Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 133. 291 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 332. 292 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 27, erste Anmerkung; ders., Metaphysik der Sitten, S. 332. 293 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 317 f.; „Die Freiheit im praktischen Verstand ist die Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit. Denn eine Willkür ist sinnlich, so fern sie pathologisch (durch Bewegursachen der Sinnlichkeit) affiziert ist; sie heißt tierisch (arbitrium brutum), wenn sie pathologisch necessitiert werden kann. Die menschliche Willkür ist zwar ein arbitrium sensitivum, aber nicht brutum, sondern liberum, weil Sinnlichkeit ihre Handlung nicht notwendig macht, sondern dem Menschen ein Vermögen beiwohnt, sich, unabhängig von der Nötigung durch sinnliche Antriebe, von selbst zu bestimmen“, ders., Kritik der reinen Vernunft, S. 489; dazu J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 3 ff. 294 J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 107. 295 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 331. Insofern erscheint es nicht unproblematisch, wenn J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 146 ff., den Willen als „legislative“ und die Willkür als „exekutive Instanz des Begehrungsvermögens“ qualifiziert. Es geht bei der freien Willkür nicht um die Ausführung von Gesetzen, sondern um deren Beachtung bei der Wahl und Verfolgung selbst gegebener Zweckvorstellungen. 296 Die jeweiligen Zwecke des Menschen sind also subjektiv, M. Forschner, Gesetz und Freiheit, S. 182 f., 212; L. W. Beck, Kants „Kritik der praktischen Vernunft“, S. 94; F. Kaulbach, Immanuel Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, S. 53 ff., S. 110 ff.; K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 62 f.
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rentiae) definiert werden“ 297; denn das ist ein Versagen298 oder Unvermögen299. Die Freiheit der Willkür bedeutet, daß nur diejenige Handlungsmaxime gewählt wird, welche dem durch den reinen Willen autonom hervorgebrachten Gesetz gemäß ist und das kategorische Sollen, den kategorischen Imperativ beachtet. Die Übereinstimmung der „Maxime der Handlung mit dem Gesetz ist die Sittlichkeit (moralitas)“ dieser Handlung. „Der oberste Grundsatz der Sittenlehre ist also: handle nach einer Maxime, die zugleich als allgemeines Gesetz gelten kann. – Jede Maxime, die sich hierzu nicht qualifiziert, ist der Moral zuwider“ 300, und damit der Freiheit301. Die Willkür hat noch einen zweiten Bezug zur Freiheit. Die Willkür bestimmt die Wahl der verfolgten Handlungsmaximen302, wobei die Maxime aber bereits einen beabsichtigten Zweck einer Handlung enthält. Das freiheitliche Moment besteht darin, daß der Mensch die Zwecke seines Handelns selbst und damit auch einen neuen Anfang einer Kausalreihe setzen kann: es ist keine freie Handlung möglich, „ohne daß der Handelnde zugleich einen Zweck (als Materie der Willkür) beabsichtigte“. Die Willkür soll die Maximen bestimmen, „indem der subjektive Zweck (den jedermann hat) dem objektiven (den sich jedermann dazu machen soll) untergeordnet wird“. „Denn Maximen der Handlung können willkürlich sein und stehen nur unter der einschränkenden Bedingung der Habilität zu einer allgemeinen Gesetzgebung, als formalem Prinzip der Handlungen. Ein Gesetz aber hebt das Willkürliche der Handlungen auf“ 303, indem es die Beach297 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 332 f., so auch ders., Opus postumum, Akademieausgabe Bd. 21, S. 470 f. Kant kann nicht erklären, wieso der Mensch gegen die Gesetze und damit gegen seine eigene Vernunft handelt, „obzwar die Willkür als Phänomen davon in der Erfahrung Beispiele gibt“. Umgangssprachlich bezeichnet man eine Handlung als reine Willkür, wenn sie jeden juridischen oder sonstigen ethisch-moralischen Sollenssatz ignoriert. Es ist zwar zur Kenntnis zu nehmen, kann aber nicht erklärt werden, „daß das Subjekt auch wider das Vernunftgesetz seine Wahl treffen kann (wovon wir aber die Möglichkeit nicht begreifen können); denn ein Anderes ist, einen Satz einzuräumen, ein Anderes, ihm zum Erklärungsprinzip machen und in ihm das unterscheidende Merkmal finden wollen“: Wie ließe es sich mit Vernunft erklären, daß jemand gegen die Vernunft handelt? 298 J. Timmermann, Gesetz und Freiheit, S. 61. 299 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 333; K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 60 ff., 67 ff. 300 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 332. 301 „Die Freyheit der Willkür in Ansehung des Gesetzmäßigen und Gesetzwidrigen ist blos respektive Spontaneität u. ist libertas phaenomenon“, Kant, Opus postumum, Akademieausgabe, Bd. 21, S. 470. 302 Die Freiheit der Willkür im Hinblick auf „die Wahl der Maximen der Handlungen ist absolute Spontaneität u. ist libertas noumenon“, Kant, Opus postumum, Akademieausgabe, Bd. 21, S. 470. 303 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 519 f.; für J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 162, ist die oberste Maxime der Moral rein formal „Ich will den Anforderungen der Moral als solchen nachkommen und erst dann auf meine egoistischen Interessen sehen“.
II. Kants Konzeption einer freiheitlichen Moralphilosophie
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tung der allgemeinen Gesetze zur Pflicht macht: die Freiheit der Willkür kann nicht, um es zu wiederholen, dadurch definiert werden, für oder wider das Gesetz zu handeln. Das ist Kants Logik der praktischen Freiheit304: Der Wille bestimmt die Gesetzgebung für die Maximen der Handlung objektiv, welche dann von der Willkür subjektiver Zwecke entsprechend unter Beachtung dieser Gesetze gewählt wird. Die Freiheit der Willkür setzt die Rechtlichkeit des gemeinsamen Lebens der Menschen voraus: die Verallgemeinerungsfähigkeit einer Maxime, also ihre bloße Tauglichkeit zu einem denkbar möglichen allgemeinen Gesetz genügt nicht, weil nur durch den Akt der Gesetzgebung ihre objektive Allgemeinverträglichkeit festgestellt werden kann. Die Maxime eines Unternehmers, etwa seinen Gewinn zu maximieren, ist nur dann eine freie, wenn dafür eine gesetzliche Grundlage existiert. Eine etwaige gesetzliche Beschränkung dieser Maxime, so seltsam dies auch klingen mag, verletzt die Freiheit dieses Unternehmers nicht, bloß weil er in seiner beliebigen Zwecksetzung beschnitten wurde, sondern verwirklicht sie305.
II. Kants Konzeption einer freiheitlichen Moralphilosophie In den vorigen Abschnitten wurde deutlich zu machen versucht, was der Mensch aufgrund seiner eigenen Erkenntnisfähigkeit, aus reiner Vernunft, über die Freiheit selbst einsehen kann, ganz im Sinne von Kants erster philosophischen Grundsatzfrage: Was kann ich wissen? Darauf aufbauend geht es nun um Kants zweite Frage: Was soll ich tun?306 „Es ist überaus merkwürdig, daß auf diese transzendentale Idee der Freiheit sich der praktische Begriff derselben gründe“ 307. Das hat Konsequenzen auf die praktische Lebenswirklichkeit des Menschen: er ist praktisch und nicht nur seinem Denken nach frei, sofern er vernünftig handelt, wenn er also handelt, wie er handeln soll308. Dieses Sollen tritt an dem Menschen als kategorischer Imperativ, als Grundsatz der praktischen Vernunft schlechthin, heran. 1. Der kategorische Imperativ Das Sittengesetz ist als Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft das Erkenntnisgesetz der Freiheit als transzendentale Idee, die der Mensch kraft seiner eigenen Erkenntnisfähigkeit nicht leugnen kann: er muß sich selbst als frei den304
Dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 63 ff. Das setzt natürlich immer voraus, daß das Gesetz Ergebnis vernünftiger Politik eines moralischen Gesetzgebers und damit sittlich ist; zur Republik als moralisierte Moralität K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 63 ff. 306 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 677. 307 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 489. 308 J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 105 f. 305
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1. Kap.: Kants Freiheitslehre
ken. Das wurde dargestellt. In der praktischen Lebenswirklichkeit nun und auf die menschlichen Handlungen bezogen formuliert Kant das Sittengesetz als kategorischen Imperativ. Es geht um die Sittlichkeit im „bloß gemeinen und praktischen Gebrauche“ 309. Ein Imperativ ist die Formel eines Gebotes, wird durch ein Sollen ausgedrückt310 und ist kategorisch, wenn er eine Handlung gebietet, die für sich selbst und ohne Beziehung auf einen anderen Zweck als objektiv-notwendig vorgestellt werden muß. Eine solche Handlung ist „an sich gut“. Der kategorische Imperativ ist der Imperativ der Sittlichkeit311. Es gibt nur einen einzigen kategorischen Imperativ: „handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“ 312. Der kategorische Imperativ gebietet also, daß der Mensch nur nach denjenigen frei wählbaren Maximen handelt, welche als allgemeines Gesetz gelten könnten, und ist demnach ein Kriterium für die sittliche Unbedenklichkeit von Maximen: jeder darf seine Maximen so ausbilden, solange er dabei nicht in Konflikt mit sittlichen Geboten gerät313. Die Ethik setzt Kenntnis der Vernunftprinzipien314 voraus. Die Beachtung des kategorischen Imperativs ist notwendige Voraussetzung315 sitt309
Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 40. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 41 f. 311 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 43. 312 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 51. 313 J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 16; auch O. Höffe, Ethik und Politik, S. 103, hat darauf hingewiesen, daß der kategorische Imperativ nur zeige, was verboten, aber noch nicht, welche der Maximen geboten sei; für E. Husserl, Vorlesungen über Ethik und Wertlehre, S. 41, ist der kategorische Imperativ formal und ein Schutzwehr „gegen die formale Falschheit, also nicht gegen jede Falschheit, sondern nur gegen diejenige, die an der bloß logischen Form hängt“. In diese Richtung argumentiert auch Th. W. Adorno, Grundprobleme der Moralphilosophie, S. 144 f.: der kategorische Imperativ sei formal, erweise damit aber nicht die materiale Vernünftigkeit; denn dazu müsse die Vernunft das gesamte Feld der Moralphilosophie und auch notwendigerweise sich selbst völlig durchdringen können. Dieses „Sichselbstdurchdringen“ sei aber nicht denkbar, es bliebe ein Rest übrig, der irgendwo an der Grenze einer vernünftigen Bestimmbarkeit liege. 314 E. Husserl, Vorlesungen über Ethik und Wertlehre, S. 23. 315 E. Husserl, Vorlesungen über Ethik und Wertlehre, S. 63. Der kategorische Imperativ als logisches Prinzip sei nicht hinreichend, das ethisch Richtige und moralisch Geforderte herauszubekommen, unter den kategorischen Imperativ könne nichts Materiales unmittelbar subsumiert werden, S. 66. In der empirischen Welt könne das Beste keinen Absolutwert erreichen, der objektiv wäre. Aber nur ein solcher hätte kategoriale Bedeutung; nur das Beste ist das Gesollte, weil nur das Beste das Prädikat „kategorisch“ verdiene: „Unter allen erreichbaren Gütern dann das Beste zu tun, das ist das absolut Richtige und somit kategorisch Geforderte. Was gut ist, kann formaliter nicht entschieden werden, ebenso wenig wie, was wahr ist, durch die bloß formale Logik, und somit auch nicht, was das objektiv Beste ist und das praktische Geforderte“, S. 137 f. Richtiges Handeln wäre erst dann richtig, wenn es objektiv richtig ist. Axiologischpraktisch vernünftig ließe sich das nur beurteilen, wenn jedes faktische Subjekt in derselben konkreten Einzelsituation ebenso würde handeln können und sollen. Diese Beurteilung erfolge durch die „Fiktion des unbeteiligten Zuschauers“: „Wir setzen uns selbst in die Rolle des unbeteiligten Zuschauers, wenn wir unser eigenes Handeln nach Rich310
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lichen Handelns. Von Bedeutung ist, daß sich der kategorische Imperativ nicht auf die äußerliche Handlung, sondern auf die Maxime derselben bezieht316. a) Das erste, objektive Prinzip des Willens: die Naturgesetzformel Kant hebt auf den objektiven Bestimmungsgrund des Willens ab, daß die Regel in sich selbst begründet liegt und wegen der Form der Allgemeinheit seiner Gültigkeit Gesetzesqualität besitzt, also wie ein Naturgesetz gilt317. Der kategorische Imperativ läßt sich zur Naturgesetzformel umformulieren: „Weil die Allgemeinheit des Gesetzes, wornach Wirkungen geschehen, dasjenige ausmacht, tigkeit beurteilen. Der unbeteiligte Zuschauer ist hier ein vernünftig auswertendes Subjekt, das sich davon überzeugt, daß die Überzeugungen, die das Handeln fundieren, richtig sind, daß die Wertungen richtig vollzogen sind, daß das, was gut-werten, in der Tat seinem Wesen nach, also generell und nach apriorisch materialen Wertgesetzen, als gut gewertet werden müßte, daß ebenso im Wesen der Gutwerte keinen anderen Bevorzugungen ihren rechtmäßigen Anhalt haben, daß demgemäß das Beste wirklich das Beste ist“, S. 138 f. Nachdem aber durch den kategorischen Imperativ alleine dieses Beste in jeder konkreten Einzelsituation und für alle Subjekte nicht ermitteln ließe, könne auch das praktisch Geforderte als etwas absolut Gesolltes nicht bestimmt werden. Dieser hohe moralische Anspruch müsse demnach herunter geschraubt werden. Hinreichend für sittliches Sollen ist bei Husserl demnach die Beachtung des formal objektiven Imperativs: „Tue das Beste unter dem erreichbar Guten innerhalb deiner jeweiligen praktischen Gesamtsphäre“, S. 142. Aber auch für Husserl ist von Bedeutung, daß es auf das Werturteil über den guten Willen, der das Beste will, ankommt, und dieses Urteil darf kein zufälliges oder blindes, sondern muß vielmehr ein einsichtiges sein: „Ich muß also nicht nur sonst fragen, was ich kann, und erwägen, was das Beste ist, und dabei von selbst Vernunfteinstellungen nehmen, sondern ich muß absichtlich das Ziel möglichster Klarheit und Vernünftigkeit anstreben, wodurch ich nicht nur das sonst und nur relativ Beste sichere, sondern in der Einsicht selbst einen neuen Wert hinzufüge“, S. 145; denn: „Nur vernünftiges Wollen ist wertvoll“, S. 153. Diese Auffassung Husserls ist Ergebnis seiner phänomenologischen Interpretation des kategorischen Imperativs. Er ignoriert dabei aber das Autonomieprinzip: das Beste bestimmen in einer Gemeinschaft von Menschen die allgemeinen Gesetze des moralischen Gesetzgebers als volonté générale. 316 J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 174 f.; „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille“. „Der gute Wille ist nicht durch das, was er bewirkt, oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zu Erreichung irgend eines vorgesetzten Zwecks, sondern allein durch das Wollen, d. i. an sich, gut, und für sich selbst betrachtet, ohne Vergleich weit höher zu schätzen, als alles, was durch ihn zu Gunsten irgend einer Neigung, ja, wenn man will, der Summe aller Neigungen nur immer zu Stande gebracht werden könnte“, Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 18 f. Die Sittlichkeit einer Handlung kann eben nicht (allein) an der Handlung selbst oder am Handlungsergebnis bewertet werden, sondern am Willen, richtig, vernünftig und sittlich zu handeln. Menschen können die richtigen Zwecke verfolgen, und sich dennoch bei der Wahl der Mittel irren. Und niemand kann die Konsequenzen seines Handelns abschließend voraussehen, das würde Allwissenheit erfordern, insbesondere die Zukunft zu kennen, die niemand kennt. 317 „Es liegt nämlich der Grund aller praktischen Gesetzgebung objektiv in der Regel und der Form der Allgemeinheit, die sie ein Gesetz (allenfalls Naturgesetz) zu sein fähig macht“, Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 63.
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was eigentlich Natur im allgemeinsten Verstande (der Form nach), d. i. das Dasein der Dinge, heißt, so fern es nach allgemeinen Gesetze bestimmt ist, so könnte der allgemeine Imperativ der Pflicht auch so lauten: handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte“ 318. Dieses erste, objektive Prinzip des Willens319 enthält zwei Komponenten: zum einen muß die subjektive Maxime auch als Naturgesetz gedacht werden können, und zum zweiten muß der Handelnde wollen können, daß seine Maxime ein Naturgesetz werde. Kant erläutert dieses objektive Prinzip des Willens an Beispielen320. So fehlt etwa der Maxime, bei auftretenden unüberwindlich erscheinenden Problemen bei der Lebensbewältigung, sich selbst zu töten, die grundsätzliche Eignung zum allgemeinen Gesetz, sie widerspricht dem Naturgesetz. Die andere Maxime, einem anderen Menschen in dessen Not nicht beizustehen und eine erbetene Hilfe nicht zu gewähren, ist zwar grundsätzlich als allgemeines Gesetz denkbar, weil letztlich jeder selbst und allein für sich verantwortlich ist. Diese Maxime kann aber nicht gewollt werden, weil derjenige, der sie verfolgt, selbst einmal auf den Beistand anderer angewiesen sein könnte. Wenn es dann ein derartiges Gesetz gäbe, so wäre er gegebenenfalls sämtlicher Hoffnungen auf die Hilfe in der Not beraubt321. Beim ersten, objektiven Prinzip des Willens wird deutlich, wie Kant den kategorischen Imperativ verstanden wissen will. Er ist ein intelligibel gewirktes Analogon des Naturgesetzes322, das aus der reinen Vernunft entspringt und deshalb ein Gesetz der Freiheit darstellt. Der kategorische Imperativ ist nur der Form nach mit dem Naturgesetz identisch, jenes entfaltet die Kausalität aus Freiheit, dieses die Kausalität der Natur. Aus der reinen Vernunft heraus führt der reine Wille unter Zugrundelegung des Grundgesetzes der rein praktischen Vernunft zum Bewußtsein der Freiheit, das wiederum die (freien) Handlungsmaximen unter Beachtung des kategorischen Imperativs bestimmt. Folgt die Handlung dann dieser Handlungsmaxime, so muß sie mit Notwendigkeit erfolgen, um eine freie Handlung zu sein, darf also nicht von bloß sinnlichen Triebfedern gesteuert werden, sondern die Vernunft bestimmt die Handlung in der empirischen Welt der Naturkausalität. Der kategorische Imperativ ist also in der Tat der Form nach mit dem Naturgesetz identisch. Das ist die logische Konsequenz der Auflösung der 318
Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 51. Vgl. O. Höffe, Immanuel Kant, S. 189. 320 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 52 ff. 321 „Einige Handlungen sind so beschaffen, daß ihre Maxime ohne Widerspruch nicht einmal als allgemeines Naturgesetz gedacht werden kann; weit gefehlt, daß man noch wollen könne, es sollte ein solches werden. Bei andern ist zwar jene innere Unmöglichkeit nicht anzutreffen, aber es ist doch unmöglich, zu wollen, daß ihre Maxime zur Allgemeinheit eines Naturgesetzes erhoben werde, weil ein solcher Wille sich selbst widersprechen würde“, Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 54 f. 322 F. Kaulbach, Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 33; M. Forschner, Gesetz und Freiheit, S. 230 f. 319
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Dritten Antinomie. Das Problem dabei aber ist, daß beurteilt werden muß, ob eine in der empirischen Welt vollzogene Handlung dem kategorischen Imperativ gemäß ist. Dafür besitzt der Mensch die Urteilskraft323 als ein unselbständiges Erkenntnisvermögen. Sie bildet zusammen mit dem Verstand und der Vernunft das „Denkungsvermögen“, und ist das vermittelnde Bindeglied zwischen Verstand und Vernunft. Die Urteilskraft ist aber nicht nur ein Vermögen, „das Besondere unter dem Allgemeinen (dessen Begriff gegeben ist) zu subsumieren, sondern auch umgekehrt, zu dem Besonderen das Allgemeine zu finden“ 324. Das erste ist die bestimmende Urteilskraft, das zweite die reflektierende Urteilskraft325. Die Urteilskraft bezieht sich zunächst auf die empirische Welt der Natur. Vorausgesetzt dabei wird eine formale Zweckmäßigkeit der Natur, also „denkt sich die Urteilskraft durch ihr Prinzip eine Zweckmäßigkeit der Natur, in der Spezifikation ihrer Formen durch empirische Gesetze“ 326. Die Natur wird als ein System mit einer aufsteigenden (Kausal-)Reihe gedacht, in der sich stets das Besondere unter das Allgemeine bringen läßt327. Die Vernunft enthält das Antriebsmoment für den Verstand bei seiner empirischen Erkenntnisfunktion, in der nach oben fortschreitenden Kausalreihe das Schlechthinunbedingte aufzuspüren. Die Urteilskraft, als von der Vernunft nicht unabhängiges Erkenntnisvermögen, soll damit analog zum empirisch Schlechthinunbedingten den absolut allgemeinen Begriff hervorbringen. Die Urteilskraft ist die Verbindung zwischen Naturerkenntnis und begrifflichem Denken, ja mehr noch, ist Voraussetzung des begrifflichen Denkens. Weil der kategorische Imperativ wegen seines Gesetzlichkeitscharakters der Form nach mit dem Naturgesetz identisch ist, kann die Urteilskraft auch im Bereich der praktischen Handlungswelt des Menschen angewendet werden; denn die Handlung geschieht in der empirischen Welt der Natur. Dieser formale Gesichtspunkt ist „der Typus des Sittengesetzes“ 328. Die Leistung der Urteilskraft für die 323
Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 15. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 22. 325 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 24. 326 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 17. 327 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 27. 328 „Dem Naturgesetze, als Gesetz, welchem die Gegenstände sinnlicher Anschauung, als solche, unterworfen sind, muß ein Schema, d. i. ein allgemeines Verfahren der Einbildungskraft (den reinen Verstandesbegriff, den das Gesetz bestimmt, den Sinnen a priori darzustellen), korrespondieren. Aber dem Gesetze der Freiheit (als einer gar nicht sinnlich bedingten Kausalität), mithin auch dem Begriffe des unbedingt-Guten, kann keine Anschauung in concreto unterlegt werden. Folglich hat das Sittengesetz kein anderes, die Anwendung desselben auf Gegenstände der Natur vermittelndes Erkenntnisvermögen, als den Verstand (nicht die Einbildungskraft), welcher einer Idee der Vernunft nicht ein Schema der Sinnlichkeit, sondern ein Gesetz, aber doch ein solches, das an Gegenständen der Sinne in concreto dargestellt werden kann, mithin ein Naturgesetz, 324
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Naturerkenntnis ist ein Schema, welches mit Hilfe der menschlichen Einbildungskraft auf den kategorischen Imperativ ausgedehnt wird, weil er der Form nach denselben Typus des Naturgesetzes hat. Eine Handlungsmaxime wird durch den Verstand, der kategorische Imperativ durch die (praktische) Vernunft gedacht. Die Urteilskraft schlägt nun die Brücke zwischen beiden Erkenntnisvermögen329: Es ist grundsätzlich denkbar, eine Handlung, die durch den Verstand erkannt oder vorgestellt wird, nach Maßgabe des kategorischen Imperativs als Vernunfterkenntnis zu beurteilen. Das ist die „praktische Urteilskraft“ 330. Ihre Leistung hat selbst Gesetzescharakter, weil sie auch im Bereich des Praktischen eine Regel enthält: „Die Regel der Urteilskraft unter Gesetzen der reinen praktischen Vernunft ist diese: Frage dich selbst, ob die Handlung, die du vorhast, wenn sie nach einem Gesetze der Natur, von der du selbst ein Teil wärest, geschehen sollte, sie du wohl, als durch deinen Willen möglich, ansehen könntest“ 331. Diese Regel der praktischen Urteilskraft ermöglicht die Beurteilung, ob eine Handlung sittlichgut oder sittlich-böse ist332. Zwar ist das Sittlich-Gute nur ein Vernunftbegriff, eine Idee, die nicht unmittelbar anschaulich-konkret, besser material, ist. Weil aber die konkrete Handlung vernünftig auf seine sittliche Qualität hin beurteilt wird, kann sie auf die Idee des Sittlich-Guten hin ausgerichtet werden. Der Begriff des Guten wird durch die Verbindung mit einer gewollten Handlung, die zum Objekt des Begehrungsvermögens gemacht wird333, materialisiert. Das Sittlich-Gute ist durch die rein praktische Vernunft einsehbar und nicht nur etwas verworren Gemeintes. Wichtig ist aber, daß die Beurteilung einer Handlung als sittlich-gut oder sittlich-böse nur dann ein vernünftiges und objektives Urteil darstellen kann, wenn der kategorische Imperativ als ein Analogon des Naturgesetzes aufgefaßt wird. Das erste, objektive Prinzip des Willens ist für die Beurteilung der sittlichen Qualität menschlichen Handelns von zentraler Bedeutung. Gut und böse werden also erst durch den kategorischen Imperativ bestimmt und nicht schon vorausgesetzt334. aber nur seiner Form nach, als Gesetz zum Behuf der Urteilskraft unterlegen kann, und dieses können wir daher den Typus des Sittengesetzes nennen“, Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 188. 329 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 106 ff. Die Urteilskraft gibt a priori „den vermittelnden Begriff zwischen den Naturbegriffen und dem Freiheitsbegriff“, der den Übergang von der reinen theoretischen zur reinen praktischen Vernunft darstellt. Dieser vermittelnde Begriff ist die „Zweckmäßigkeit der Natur“, S. 108; vgl. hierzu die exzellenten Ausführungen von M. Horkheimer, Über Kants Kritik der Urteilskraft als Bindeglied zwischen theoretischer und praktischer Philosophie, S. 15 ff. 330 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 186. 331 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 188. 332 „Nach dieser Regel beurteilt in der Tat jedermann Handlungen, ob sie sittlich-gut oder sittlich-böse sind“, Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 188. 333 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 177 f. 334 „Daß nämlich der Begriff des Guten und Bösen nicht vor dem moralischen Gesetze (dem es dem Anschein nach so gar zum Grunde gelegt werden müßte), sondern
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b) Das zweite, subjektive Prinzip des Willens, die Selbstzweckformel Das subjektive Prinzip des Willens335 liegt in der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen begründet336. Das menschliche Dasein an sich selbst hat einen absoluten Wert. In dieser Selbstzweckhaftigkeit liegt der einzige Grund für den kategorischen Imperativ. Sie macht den Menschen zur Person, weil alle vernünftigen Wesen ihrer Natur nach, d.h. qua Vernunftwesen, Zwecke an sich selbst sind337. Damit hat Kant die Würde338 des Menschen formuliert. Jeder Mensch muß sich selbst, aber auch jeden anderen Menschen als Selbstzweck sehen. Er darf den anderen nicht nur als Mittel gebrauchen, sich aber auch von anderen nicht so gebrauchen lassen. Das Dasein an sich selbst ist ein objektiver Zweck339. Allerdings, Kants Vorstellung vom Zweck ist wiederum nur eine Idee340. Was für das Dasein als Natur gilt, muß auch für die formale Natur gelten. Die „vernünftige Natur existiert als Zweck an sich selbst. So stellt sich notwendig der Mensch sein eigenes Dasein vor; so fern ist es also ein subjektives Prinzip menschlicher Handlungen“ 341. Auf dieses subjektive Prinzip bezogen läßt sich der kategorische Imperativ auch so formulieren. „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“ 342.
nur (wie hier auch geschieht) nach demselben und durch dasselbe bestimmt werden müsse“, ausführlich dazu Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 174 ff., hier S. 180. 335 Vgl. hierzu E. Cassirer, Kants Leben und Lehre, S. 264; E. R. Sandvoss, Immanuel Kant, S. 97; St. Kröner, Immanuel Kant, S. 121 ff. 336 „Der Mensch existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauch für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen, sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichtete Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden“, Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 59 f. Die Selbstzweckformel ist ein vorkritischer Standpunkt Kants, den er bereits in den Bemerkungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen zum Ausdruck bringt, M. Forschner, Gesetz und Freiheit, S. 94. Zwar nicht wörtlich, aber der Sache nach Kant, Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, S. 835, 849. 337 „D. i. als etwas, das nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf, auszeichnet, mithin so fern alle Willkür einschränkt (und ein Gegenstand der Achtung ist)“, Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 60. 338 „Was sich auf die allgemeinen menschlichen Neigungen und Bedürfnisse bezieht, hat einen Marktpreis; (. . .); das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Wert, d. i. einen Preis, sondern einen innern Wert, d. i. Würde“, Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 68. 339 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 60. 340 St. Kröner, Kant, S. 171. Die „objektive und innere Zweckmäßigkeit des Lebendigen läßt sich empirisch nicht beobachten“, O. Höffe, Immanuel Kant, S. 277. 341 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 61. 342 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 61.
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Kant erörtert die Frage nach den Zwecken im zweiten Teil seiner Kritik der Urteilskraft, genauer in der Kritik der teleologischen Urteilskraft343. Der Mensch muß bei seiner Erkenntnis über die Natur zwingend von der Idee ausgehen, daß die Natur ein System von Zwecken ist344 und deshalb keine Naturerscheinung von ungefähr erscheint. Dies galt bereits bei der Erörterung des ersten, objektiven Prinzips des Willens. Diese Technik der Natur ist allerdings nur eine formale, sie ist Richtschnur der Erkenntnis, aber kein in der Natur selbst vorfindbarer Grundzug345. Die zwingende Annahme von der Natur als ein System von Zwecken basiert auf der Beschaffenheit des menschlichen Verstandes346. Der Zweck ist ein geistiges Verknüpfungsprinzip347, das Zweckprinzip ist also regulativ348. Erst aus der Annahme dieses zweckorientierten Naturzusammenhangs rührt die notwendige Annahme der Kausalität her. Kant formuliert den „Grundsatz der Teleologie: daß, nach der Beschaffenheit des menschlichen Verstandes, für die Möglichkeit organischer Wesen in der Natur keine andere als absichtlich wirkende Ursache könne angenommen werden, und der bloße Mechanism der Natur zur Erklärung dieser ihrer Produkte gar nicht hinlänglich sein könne“ 349. Alle Produkte und Ereignisse der Natur müssen sich als Folge der Kausalität Zwecken unterordnen350. Es existiert demnach keine Antinomie zwischen dem Zweckbegriff und dem Kausalbegriff 351. Kant geht im weiteren Verlauf seiner Abhandlung der Frage nach dem „Endzweck des Daseins einer Welt, d. i. der Schöpfung selbst“ nach. „Endzweck ist derjenige Zweck, der keines anderen als Bedingung seiner Möglichkeit bedarf“ 352. Allerdings, auch der Endzweck ist nur eine Idee353. Der Mensch ist also nicht nur Zweck an sich selbst, sondern der 343 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 305 ff.; vgl. zur teleologischen Urteilskraft übersichtlich D. Teichert, Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 105 ff. 344 Vgl. M. Horkheimer, Über Kants Kritik der Urteilskraft als Bindeglied zwischen theoretischer und praktischer Philosophie, S. 15 ff. 345 E. Cassirer, Kants Leben und Lehre, S. 318 f., 379. 346 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 358 ff.: Von der Eigentümlichkeit des menschlichen Verstandes, wodurch uns der Begriff eines Naturzweckes möglich wird. 347 E. Cassirer, Kants Leben und Lehre, S. 357. 348 E. Cassirer, Kants Leben und Lehre, S. 366. 349 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 368 f. 350 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 371. 351 E. Cassirer, Kants Leben und Lehre, S. 369. 352 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 393 ff. 353 „Ein Ding aber, was notwendig seiner objektiven Beschaffenheit wegen, als Endzweck einer verständigen Ursache existieren soll, muß von der Art sein, daß es in der Ordnung der Zwecke von keiner anderweitigen Bedingung, als bloß seiner Idee, abhängig ist. Nun haben wir nur eine einzige Art Wesen in der Welt, deren Kausalität teleologisch, d. i. auf Zwecke gerichtet und doch zugleich so beschaffen ist, daß das Gesetz, nach welchem sie sich Zwecke zu bestimmen haben, von ihnen selbst als unbedingt und von Naturbedingungen unabhängig, an sich aber als notwendig vorgestellt wird. Das Wesen dieser Art ist der Mensch, aber als Noumenon betrachtet; das einzige Naturwesen, an welchem wir doch ein übersinnliches Vermögen (die Freiheit) und sogar das
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Idee nach Endzweck der Schöpfung. Der Idee nach bedeutet, daß sich diese Endzweckhaftigkeit in der empirischen Realität nicht beweisen läßt354. Die Denkbarkeit der menschlichen Freiheit qualifiziert ihn zum Endzweck der Schöpfung, weil er durch diese Denkbarkeit als der Naturkausalität enthoben gedacht werden kann. Gleichzeitig aber kann nur die Sittlichkeit diese Endzweckhaftigkeit bewirken, weil durch den kategorischen Imperativ Sittlichkeit und Freiheit eine untrennbare gedankliche Einheit bilden; denn die Freiheit bildet die ratio essendi des moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz die ratio cognescendi der Freiheit355. End- und Selbstzweckhaftigkeit des Menschen korrespondieren wechselseitig mit dem Prinzip des Sittlichen, die Selbstzweckhaftigkeit ist der Selbstwert des Subjekts des Willens356 und ist das symbolische Gegenbild im Bereich des objektiven Daseins357. Das sittliche Wesen ist stets ein Unbedingtes, und so „beweist sich die Freiheit als praktische Idee, indem sie sich als Zweckprinzip bewährt“ 358. c) Die Autonomie als drittes praktisches Prinzip des Willens Aus diesen beiden Prinzipien, also dem objektiven Bestimmungsgrund und dem subjektiven Bestimmungsgrund des Willens leitet Kant nun das „dritte praktische Prinzip des Willens“ ab359. Es ist „die Idee des Willens jedes vernünftigen Wesen als eines allgemein gesetzgebenden Willens“ 360. Dadurch sollen der individuelle Wille und der allgemein gesetzgebende Wille zusammen bestehen kön-
Gesetz der Kausalität, samt dem Objekte derselben, welches es sich als höchsten Zweck vorsetzen kann (das höchste Gut in der Welt) von Seiten seiner eigenen Beschaffenheit erkennen können. Von dem Menschen nun (und so jedem vernünftigen Wesen in der Welt) als einem moralischen Wesen, kann nicht weiter gefragt werden: wozu (quem in finem) er existiere. Sein Dasein hat den höchsten Zweck selbst in sich, dem, so viel er vermag, er die ganze Natur unterwerfen kann, wenigstens welchem zuwider er sich keinem Einflusse der Natur unterworfen halten darf (. . .); und nur im Menschen, aber auch in diesem nur als Subjekte der Moralität, ist die unbedingte Gesetzgebung in Ansehung der Zwecke anzutreffen, welche ihn also allein fähig macht, ein Endzweck zu sein, dem die ganze Natur teleologisch untergeordnet ist“, Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 394 f. 354 D. Teichert, Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 119; vgl. auch H. Cohen, Kants Begründung der Aesthetik, S. 139. 355 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 108. 356 Die Selbstzweckhaftigkeit ist der Person wegen ihrer Befähigung zur Selbstgesetzgebung zuzusprechen und beweist so die Wirklichkeit des kategorischen Imperativs, F. Kaulbach, Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 77 f. 357 E. Cassirer, Kants Leben und Lehre, S. 363. 358 H. Cohen, Kants Begründung der Aesthetik, S. 134. 359 Vgl. F. Kaulbach, Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 82 ff. 360 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 64: „Der Wille wird also nicht lediglich dem Gesetz unterworfen, sondern so unterworfen, daß er auch als selbstgesetzgebend, und eben um deswillen allererst den Gesetzen (davon er selbst sich als Urheber betrachten kann) unterworfen, angesehen werden muß.“
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nen, ohne daß es zu Widersprüchen kommt. Nur so ist es möglich, daß der Wille als wirklich selbstgesetzgebend gedacht werden kann: Der Mensch handelt nach eigenen Gesetzen, die zugleich allgemeine Gesetze sind, weil er diese selbst mit gegeben hat361. Wie die Selbstzweckhaftigkeit zählt es zur Würde des Menschen, nur selbst gegebenen Gesetzen zu gehorchen362: die „Idee der Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetz gehorcht, als dem, das es zugleich selbst gibt“ 363. Damit ist die politische Freiheit die (einzig denkbare) Würde des Menschen364. Dies impliziert natürlich die Verwirklichung der Idee eines republikanischen Staates. Die Gemeinschaft der Menschen ist idealerweise ein „Reich der Zwecke“ 365. Darin sind die Individuen systematisch durch objektive gemeinschaftliche Gesetze untereinander ver- und gebunden. Diese Gesetze regeln die individuellen Zweck-Mittel-Beziehungen untereinander366. In dieser Gemeinschaft ist der Einzelne (Mit-)Glied, weil er diesen Gesetzen unterworfen ist, aber auch Oberhaupt, weil er diese Gesetze mitbestimmt367. Sittlichkeit besteht „in der Beziehung aller Handlungen auf die Gesetzgebung, dadurch allein ein Reich der Zwecke möglich ist“ 368. Es geht um „das Verhältnis der Handlungen zur Autonomie des Willens, das ist, zur möglichen allgemeinen Gesetzgebung durch die Maximen“ 369. Sittlichkeit ist die „Bedingung, unter der allein ein vernünftiges Wesen Zweck an
361 Autonomie ist positive Freiheit, M. Forschner, Gesetz und Freiheit, S. 229; dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 83 ff., 203 ff., 274 ff.; ders., Res publica res populi, S. 275 ff., 410 ff., 494 ff. 362 Vgl. F. Kaulbach, Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 92. 363 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 67. 364 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 19 ff. 365 Dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 81 ff. 366 Insofern macht die Gemeinschaft der Menschen aus der subjektiven Selbstzweckhaftigkeit des einzelnen einen Menschen absolut-objektiver Zwecke, F. Kaulbach, Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 80. Das Reich der Zwecke ist eine Idee, die aber wirklich wird, wenn sich eine dieser Idee entsprechende Gesinnung allgemein unter den Bürgern einstellt, S. 103. 367 „Das vernünftige Wesen muß sich jederzeit als gesetzgebend in einem durch Freiheit des Willens möglichen Reich der Zwecke betrachten, es mag nun sein als Glied oder als Oberhaupt. Den Platz des letzteren kann es aber nicht bloß durch die Maxime seines Willens, sondern nur alsdann, wenn es ein völlig unabhängiges Wesen, ohne Bedürfnis und Einschränkungen seines dem Willen adäquaten Vermögens ist, behaupten“, Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 67. Der „Bürger macht sich zum Bürger des Reiches der Zwecke dadurch, daß er sich dem selbstgegebenen Imperativ verpflichtet, seine Handlungen an der Idee des Bürgerseins in der Gemeinschaft mit anderen Bürgern zu orientieren. Autonomie bedeutet demgemäß auch: sich selbst zum Bürger des Reiches der Zwecke zu machen“, F. Kaulbach, Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 106. Kaulbach spricht in diesem Zusammenhang von der „Selbsteinbürgerung in das Reich der Zwecke“. 368 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 67. 369 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 73.
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sich selbst sein kann“ 370, also auch die Bedingung für die Freiheit des Menschen371. Nur die Autonomie des Willens kann eine Handlung zur erlaubten Handlung qualifizieren372. Wer also bei seinen Handlungen den kategorischen Imperativ nicht beachtet, begeht eine unerlaubte Handlung. Diese ist unsittlich. Eine unerlaubte Handlung verstößt gegen die Autonomie des Willens, verletzt deswegen die Freiheit (des Willens)373, und mißachtet dadurch die Würde des Menschen, und zwar nicht nur die des durch die Handlung betroffenen Anderen, sondern auch die des Handelnden selbst. Daraus resultiert die einfache Formel, daß die Würde des Menschen eben Sittlichkeit zwingend erfordert. Der kategorische Imperativ ist auch ein Imperativ der Weisheit374. Einsichtig ist dagegen sofort, daß 370
Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 68. Der kategorische Imperativ macht also Welt als Zwecke notwendig, weil sonst keine Autonomie möglich wäre, so F. Kaulbach, Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 91. Durch die Allgemeinheit der Gesetzgebung läßt sich auch der Vorwurf entkräften, das Sittengesetz wäre bloßer Formalismus. Diese Allgemeinheit der Gesetzgebung zielt auf das Reich der Zwecke, als einer Gemeinschaft von Menschen als Vernunftwesen, die Selbst- und Endzwecke sind. Den Bezug zum Reich der Zwecke als einer Gemeinschaft aller Vernunftwesen hat Kant durch das zweite, subjektive Prinzip des Willens in der Formulierung des kategorischen Imperativs zum Ausdruck gebracht: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“, Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 61. H. Cohen, Kants Begründung der Ethik, S. 260, versteht gerade diese Gemeinschaft der Menschen als Vernunftwesen, die das inhaltliche Apriori des formalen Sittengesetzes ausmacht. Dieses inhaltliche Apriori ist es, was mit dem Terminus „Faktum“ des Sittengesetzes gemeint ist. Das sittliche Selbstbewußtsein des Einzelnen geht dann hervor aus dem Gedanken einer Gemeinschaft von Gesetzen: „Wie das Sittliche nicht in dem Gefühl des Subjekts wurzelt, sondern in einem objektiven Gesetze gegründet sein muß, so zeigt sich nunmehr, daß dieses Gesetz in der Tat auf dem Gedanken der Gemeinschaft beruht, in demselben allein Sinn hat. Diese Gemeinschaft der Gesetze wird zur Gemeinschaft der Gesetzgebung und dadurch auch der Gesetzgeber. Und diese führt zur Gemeinschaft der absoluten Zwecke. Die Gemeinschaft autonomer Wesen also ist der Inhalt des formalen Sittengesetzes“, S. 227. Der Gemeinschafts- oder Sozialbezug der Autonomie ist also a priori gegeben. 372 „Die Handlung, die mit der Autonomie des Willens zusammen bestehen kann, ist erlaubt, die nicht damit stimmt, ist nicht erlaubt“, Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 74. 373 O. Höffe, Immanuel Kant, S. 197; E. R. Sandvoss, Immanuel Kant, S. 98. 374 F. Kaulbach, Immanuel Kant, S. 222 ff.; ders., Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 44; „Die Idee der Autonomie, welche der Wille seinem Entscheiden zugrunde legt, verwandelt sich durch diese Leistung des Willens in die Wirklichkeit der Freiheit“, S. 187. Die Endzweckhaftigkeit des Menschen in seiner Autonomie, Freiheit und Würde entspricht der Qualität des Sittengesetzes als Endgesetz: es bedingt sich selbst und geht aus sich selbst hervor. Durch die Autonomie wird der homo noumenon zum Selbstgesetzgeber des Moralgesetzes und als solcher Endzweck. Frei sein und Endzweck sein ist also identisch. Diese Endzweckhaftigkeit erstreckt sich auf die gesamte Menschheit, schon deshalb, weil die Gemeinschaft der Menschen ein Apriori darstellt, und zwar die des Sittengesetzes, vgl. H. Cohen, Kants Begründung der Ethik, S. 274. „Die kürzeste Formel, in welcher sich der kategorische Imperativ, und damit die regula371
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1. Kap.: Kants Freiheitslehre
eine Handlung dann erlaubt ist, wenn sie mit den allgemeinen Gesetzen in Einklang steht. Aber, Quelle auch des allgemeinen Gesetzes ist die Autonomie des Willens. Die Autonomie des Willens erfaßt also nicht nur die Beachtung der allgemeinen Gesetze, sondern immanent auch die Beachtung des kategorischen Imperativs. Das einem freien Willen folgende Handeln ist nur dann frei, wenn es der Autonomie des Willens entspricht, weil der autonome Wille nur auf die Form des Gesetzes zielt375. Nicht erlaubt sind damit Handlungen, die gegen allgemeine Gesetze und dadurch den kategorischen Imperativ verstoßen376; denn es gibt keine sittlliche Rechtfertigung für Rechtsverletzungen377. Freies Handeln ist also stets gesetzesgemäßes Handeln, und diese Gesetzlichkeit schafft Verbindlichkeit378, deren Einhaltung durch (gesetzliche und daher meist staatliche) Zwangsmöglichkeiten gewährleistet wird379. 2. Die Pflicht und die Achtung fürs Gesetz a) „Handle pflichtmäßig, aus Pflicht“ 380 Die „objektive Notwendigkeit einer Handlung aus Verbindlichkeit heißt Pflicht“ 381, wobei Verbindlichkeit „die Notwendigkeit einer freien Handlung unter einem kategorischen Imperativ der Vernunft“ ist382. Daß der Mensch pflichtmäßig handelt, seine Pflichten erfüllt, seinen Pflichten nachkommt, auch wenn er dazu „unmittelbar keine Neigung“ hat, ist für Kant eine Selbstverständlichkeit. Moralischen Gehalt hat eine Maxime erst dann, wenn die Handlung „aus Pflicht“ und nicht etwa aus Furcht oder Neigung erfolgt383. Die Handlung muß, zweitens, nach dem „formellen Prinzip des Wollens“ bestimmt worden sein. Es kommt demnach nicht auf Absichten oder Zwecke an, welche der Handelnde verfolgt, weil Absichten und Wirkungen als Zwecke und Triebfedern empirisch sind und keinen unbedingten moralischen Wert haben. Daraus folgt, drittens: „Pflicht ist die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz“ 384. tive Bedeutung der Freiheitsidee sowie des Sittengesetz des Endzwecks ausdrücken lassen dürfte, lautet: handle in Selbstbehauptung deiner Freiheit, als deines Endzwecks“, S. 287. 375 O. Höffe, Immanuel Kant, S. 199 f. 376 Insofern ist es richtig, wenn W. Kersting, Recht, Gerechtigkeit und demokratische Tugend, S. 29, behauptet, daß das Rechtsgesetz eine spezielle Version des kategorischen Imperativs mit Bezug auf die erzwingbaren Pflichten darstellt. 377 Dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 81 ff. 378 E. R. Sandvoss, Immanuel Kant, S. 101. 379 Dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 100 ff. 380 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 521. 381 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 74. 382 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 327. 383 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 22 f. 384 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 26.
II. Kants Konzeption einer freiheitlichen Moralphilosophie
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b) Die Achtung als Triebfeder Nur die Achtung fürs Gesetz als Bestimmungsgrund des Wollens gibt einer Handlung ihren moralischen Wert385. Sie ist ein negatives Gefühl (im Sinne von Unbehaglichkeit und Unbequemlichkeit)386, weil die Beachtung des Sittengesetzes sinnliche Triebfedern zum Handeln nicht zum Zuge kommen läßt387. Andererseits aber bewirkt die Beachtung des Sittengesetzes das Bewußtsein der Freiheit, und eben dieses ist „Gegenstand der größten Achtung, mithin auch der Grund eines positiven Gefühls, das nicht empirischen Ursprungs ist, und a priori erkannt wird“ 388. Die „Demütigung auf der sinnlichen Seite“ ist „eine Erhebung auf der moralischen“ 389. Obwohl die Achtung für das moralische Gesetz ein Gefühl ist, gehört es nicht zur sinnlich-empirischen Welt. Die Achtung hat ihren Grund in der Vernunftwelt, weil sie auf die Formalität des moralischen Gesetzes gerichtet ist390, ist also rein intellektuell und damit als ein „rationales Gefühl“ 391 a priori einsehbar392, welches Kant auch „moralisches Gefühl“ nennt393. Dieses moralische Gefühl hat jedermann „ursprünglich in sich“ 394. Die Achtung für das Gesetz ist also der subjektive Bestimmungsgrund395 für die Beachtung des kate385 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 74. Weitere Ausführungen zur Herleitung des Pflichtbegriffs S. 22 ff., 26. 386 „Der Mensch aber findet sich doch als moralisches Wesen zugleich, wenn er sich objektiv, wozu er durch seine reine praktische Vernunft bestimmt ist, (nach der Menschheit in seiner eigenen Person) betrachtet, heilig genug, um das innere Gesetz ungern zu übertreten; denn es gibt keinen so verruchten Menschen, der bei dieser Übertretung in sich nicht einen Widerstand fühlete und eine Verabscheuung seiner selbst, bei der er sich selbst Zwang antun muß“, Kant, Metaphysik der Sitten, S. 508, Anmerkung; dazu J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 194 f. 387 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 192. 388 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 193 f. „Also ist Achtung fürs moralische Gesetz ein Gefühl, welches durch einen intellektuellen Grund gewirkt wird, und dieses Gefühl ist das einzige, welches wir völlig a priori erkennen, und dessen Notwendigkeit wir einsehen können“. 389 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 200; dazu J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 195. 390 F. Kaulbach, Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 18; vgl. auch H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 162 f. und S. 167 ff., der das Sittengesetz als Ursache des Gefühls der Verantwortlichkeit betrachtet. 391 Th. W. Adorno, Probleme der Moralphilosophie, S. 196. 392 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 194; F. Kaulbach, Immanuel Kant, S. 243; ders., Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 112. Kants Entwicklung des Achtungsbegriffs ist „auf eine eminent geistreiche und zugleich phänomenologisch angemessene Weise“ erfolgt, Th. W. Adorno, Probleme der Moralphilosophie, S. 196. 393 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 195. 394 „Ohne alles moralische Gefühl ist kein Mensch; denn bei völliger Unempfänglichkeit dieser Empfindung wäre er sittlich tot und, (. . .) so würde sich die Menschheit (. . .) in die bloße Tierheit auflösen“, Kant, Metaphysik der Sitten, S. 530 f. 395 Weil „das moralische Gesetz auch subjektiv ein Grund der Achtung“ ist, Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 195.
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1. Kap.: Kants Freiheitslehre
gorischen Imperativs als objektiv gültiger Bestimmungsgrund der Maximenbildung in Ansehung des Willens396 und damit elementarer Bestandteil für das erfolgreiche menschliche Streben nach Glückseligkeit397. Nur so ist verständlich, daß ein Wille, aus der formalen gesetzgebenden Form der Maxime entstanden, eben als frei gelten kann, weil das Sittengesetz die Willkür mittels der Achtung bestimmt398. Kant ist kritisiert worden, daß er mit dem „Gefühl der Achtung“ sein eigenes reines Vernunftprinzip durchbräche399. Diese Kritik ist unzutreffend400. Das Gefühl der Lust ist ein Gefühl a priori, das sich im Moment des Erkennens einstellt. Es ist das subjektive Pendant der logischen „Technik der Natur“, es stellt sich im Erkennen des harmonischen Einklangs mit der gesetzlichen Ordnung ein401. Weil die Lust als Gefühl in den Kreis des apriorisch Bestimmbaren und apriorisch Erkennbaren einbezogen wird, ist es also weit mehr als das rein empirische und subjektiv verworrene Emotionale, und deshalb für Jedermann erfahrbar402. Welches Motiv wäre denn sonst „moralpsychologisch“ 403 396
F. Kaulbach, Kants Grundlegung zur Metaphysik, S. 29. Vgl. hierzu St. Kröner, Kant, S. 125; H. M. Baumgartner, Kants „Kritik der reinen Vernunft“, S. 130. 398 „Die Triebfeder, welche der Mensch vorher haben kann, ehe ihm ein Ziel (Zweck) vorgestreckt wird, kann doch offenbar nichts andres sein, als das Gesetz selbst, durch die Achtung, die es (unbestimmt welche Zwecke man haben und durch dessen Befolgung erreichen mag) einflößt“, Kant, Über den Gemeinspruch, S. 135 Anmerkung.; dazu J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 198. 399 Eine intelligible Bewertung des Gefühls sei geradezu „pervers“, E. R. Sandvoss, Immanuel Kant, S. 103; dagegen richtig J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 191, der im moralischen Gefühl eine hinreichende Motivation moralisch richtigen Handelns sieht. 400 So sieht das auch St. Kröner, Kant, S. 134: „Ich glaube jedoch (. . .), daß diese Kritik nicht zu ernst genommen werden sollte. Der Begriff der Achtung für das Sittengesetz wurde schließlich nur eingeführt, um die Art und Weise zu beschreiben, wie das Sittengesetz den Willen bestimmt. Er ist ein Element in den komplexen Situationen, die wir ,Pflichtbewußtsein‘ oder ,Konflikt zwischen Pflicht und Neigung‘ nennen, ein Element, dessen Vorhandensein in keiner Weise die Möglichkeit ausschließt, daß das Sittengesetz unseren Willen direkt bestimmt.“ 401 „Das moralische Gefühl benennt den Ort der Erfahrung unbedingter Verpflichtung, begründet sie aber nicht“, M. Forschner, Gesetz und Freiheit, S. 108. 402 E. Cassirer, Kants Leben und Lehre, S. 323 ff. Martin Heidegger geht sogar noch einen Schritt weiter. Für ihn ermöglicht die Achtung überhaupt erst das Gesetz. „Das Gesetz ist nicht, was es ist, weil wir Achtung davor haben, sondern umgekehrt: dieses achtende Gefühlhaben für das Gesetz und damit diese bestimmende Art des Offenbarmachens des Gesetzes ist die Weise, in der uns das Gesetz als ein solches überhaupt entgegenkommen kann“. Und weiter: „In der Achtung vor dem Gesetz muß demnach das achtende Ich sich selbst zugleich in bestimmter Weise offenbar werden, und dies nicht nachträglich und zuweilen, sondern die Achtung vor dem Gesetz – diese bestimmte Art des Offenbarmachens des Gesetzes als des Bestimmungsgrundes des Handelns – ist in sich ein Offenbarmachen meiner selbst als des handelnden Selbst. Das, wovor die Achtung Achtung ist, das moralische Gesetz, gibt die Vernunft als freie sich selbst. Achtung vor dem Gesetz ist Achtung vor sich selbst als demjenigen Selbst, das nicht durch Eigendünkel und Eigenliebe bestimmt wird. Die Achtung bezieht sich also in ihrem spezifischen Offenbarmachen auf die Person“, M. Heidegger, Grundprobleme 397
II. Kants Konzeption einer freiheitlichen Moralphilosophie
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denkbar, daß Menschen sittlich und vernünftig handeln? Für Kant ist freies Handeln das moralisch gute Handeln nach einer Maxime der Achtung für das Sittengesetz404. c) Kants Pflichtenlehre als Ergebnis eines verzerrten Menschenbildes? Kant ist gegen den Vorwurf in Schutz zu nehmen, er sei durch die Überbetonung des menschlichen Willens zur Gesetzlichkeit ein Vernunftfetischist, und seine praktische Philosophie beruhe auf einer Vorentscheidung gegen die Welt der Sinne, Triebe und Leidenschaften, somit auf einem verzerrten, unnatürlichen und nicht objektiven Menschenbild405. Diese Kritik verkennt Kant. Er klärt, was unter vernünftigem Handeln unter der Idee der Freiheit zu verstehen ist. Sein kategorischer Imperativ lautet im Kern: Handle vernünftig!406 Damit ist sittliches Handeln soviel wie aus reiner Vernunft handeln407. Anders ist die menschliche Freiheit in einer Lebensgemeinschaft nicht zu retten, gerade weil der Mensch eben auch sinnliches, triebhaftes und leidenschaftliches Wesen ist408. Der der Phänomenologie, S. 191; denn, „Achtung geht jederzeit nur auf Personen, niemals auf Sachen“, Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 197. 403 J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 189. 404 J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 15. 405 E. R. Sandvoss, Immanuel Kant, S. 99. 406 „Freiheit ist nicht Freiheit der Wahl zwischen verschiedenen Gütern, sondern Freiheit aufmerksamer Überlegung, libertas deliberationis“, M. Forschner, Gesetz und Freiheit, S. 53, 56. 407 Th. W. Adorno, Probleme der Moralphilosophie, S. 117. 408 Seine Kritik am angeblich verzerrten Menschenbild Kants versucht Sandvoss mit der instinktiven Ablehnung durch Goethe und Schiller zu erhärten. Schillers Spottvers darauf ist bekannt: „Gerne dien’ ich den Freunden, doch tu’ ich es leider mit Neigung. Und so wurmt es mich oft, daß ich nicht tugendhaft bin“. Sandvoss erkennt natürlich, daß Schiller den genauen Wortlaut Kants nicht wiedergibt, denn der lautet nicht „mit Neigung“, sondern „aus Neigung“, E. R. Sandvoss, Immanuel Kant, S. 103. Es wäre vollkommen falsch, Kant zu unterstellen, daß es seine Auffassung war, sich jedweder menschlichen Gefühlsregung zu entziehen, um sittlich-moralisch handeln zu können. Wichtig ist nur, was als Antrieb für die menschliche Handlung dient, die Vernunft oder die Sinne, Triebe und Leidenschaften. Sehr wohl kann bei sittlich moralischem Handeln Neigung mit im Spiel sein, sie dürfen die Handlung nur nicht vollständig bestimmen. Höffe weist in diesem Zusammenhang zutreffend darauf hin, daß sittlich moralisches Handeln eben nicht bedeutet, nur seinen Freunden in der Not beiseite zu stehen, sondern jedem, der in der Notsituation darauf angewiesen ist. Moralität fängt nicht dort schon an, wo die Neigung oder das gesellschaftlich Übliche zur Handlung auffordern, O. Höffe, Immanuel Kant, S. 210. Der Vorwurf, Kant hätte seiner Lehre ein völlig verzerrtes Menschenbild zugrunde gelegt, ist daher haltlos, F. Kaulbach, Immanuel Kant, S. 233. Im übrigen hat auch Schiller seine anfänglich kritische Einstellung gegenüber der Lehre Kants im Laufe seines Lebens aufgegeben, und statt dessen sich zu einem Kenner und Verfechter von Kants Philosophie gewandelt, was in seinen Ästhetischen Briefen klar zu Ausdruck kommt. Die gilt insbesondere für die Kritik der reinen Vernunft, vgl. E. Cassirer, Goethe und die Kantische Philosophie, in: Rousseau, Kant, Goethe, S. 63 ff., 91; zu Schillers Spottvers auch J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 184.
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menschlich-vernünftige Wille bezieht Stellung für die rein praktische Gesetzgebung, weil auch nicht vernünftige Motivationskräfte auf den Willen einwirken409. Es geht um die Herrschaft der Vernunft über die Triebkräfte und über sein Wollen410, weil der Nachweis des moralisch Guten empirisch nicht zu erbringen ist411. „Als ein vernünftiges, mithin zur intelligiblen Welt gehöriges Wesen kann der Mensch die Kausalität seines eigenen Willens niemals anders als unter der Idee der Freiheit denken; denn Unabhängigkeit von den bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt (dergleichen die Vernunft jederzeit sich selbst beilegen muß) ist Freiheit“ 412. Weil aber Freiheit nur eine transzendentale Idee ist, muß Kant beweisen, unter welchen Bedingungen sie auch praktische Bedeutung für das Leben des Menschen haben kann. Diese Bedingungen können keine empirischen, sondern müssen rein vernünftig sein. Kant ist Idealist, er zeigt, was idealerweise als praktisch vernünftig und damit als sittlich in einer Gemeinschaft von Menschen gelten kann. Das herausragende Verdienst Kants ist sein Nachweis, daß Sittlichkeit dem Menschen nicht dogmatisch vorgegeben werden muß, also nicht wie etwa der mosaische Dekalog lediglich von außen an ihn herangetragen wird und an welchen lediglich geglaubt werden kann, sondern daß Sittlichkeit durch eigene Vernunft und eigenes Denken von jedem Menschen einsehbar ist. Die Pflichtenlehre ist Ergebnis eines idealen intellektuellen Standpunktes, welchem sich der Mensch durch sein Handeln lediglich annähern kann; denn: „aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden. Nur die Annäherung zu dieser Idee ist uns von der Natur aufgelegt“ 413. 3. Die praktische Vernunft als Sittlichkeit Kant definiert die praktische Vernunft als „die Vorstellung eines Objekts als einer möglichen Wirkung durch Freiheit“. Diese Objekte sind die vom Guten und Bösen414. Gut und böse kann nun aber nicht auf die Sinnlichkeit oder „den Empfindungszustand der Person“ bezogen werden, hat also per se nichts mit Wohl und Übel, Lust und Unlust, Annehmlichkeit und Unannehmlichkeit zu tun. Gut und böse betrifft keine Sache, sondern nur die handelnde Person als guten oder bösen Menschen. Das Beurteilungskriterium ist dabei die Handlungsmaxime des Handelnden415. Die Begriffe Gut und Böse werden nur durch das moralische Ge-
409
F. Kaulbach, Kants Grundlegung der Metaphysik der Sitten, S. 50. F. Kaulbach, Kants Grundlegung der Metaphysik der Sitten, S. 180. 411 F. Kaulbach, Kants Grundlegung der Metaphysik der Sitten, S. 39. 412 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 88; vgl. auch M. Forschner, Gesetz und Freiheit, S. 247 ff. 413 Kant, Idee zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 41. 414 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 174. 415 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 177 ff. 410
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setz bestimmt, welches der Handelnde in seine Maximen aufnehmen soll416. Nur dieses formale Gesetz kann a priori der Bestimmungsgrund der praktischen Vernunft sein417. Die individuellen Handlungsmaximen müssen so verallgemeinerungsfähig sein, daß sie wie ein Naturgesetz gelten könnten. Sie müssen also allgemeine Handlungsmaximen sein, einem „Gemeinwillen“ 418 als „volonté générale“ als „kollektive Einheit des vereinigten Willens“, welche allerdings nur eine Idee ist419, entsprechen. Das Problem der Sittlichkeit existiert deshalb, weil der Mensch nicht nur Vernunftwesen, homo noumenon, sondern eben auch ein triebhaft-sinnliches Wesen, homo phaenomenon ist. Sittlichkeit bedeutet, daß der Mensch seine Handlungen, die eben sehr wohl auch sinnlichen, triebhaften Motiven und Neigungen entspringen, auf ihre Gemeinschaftsverträglichkeit ausrichtet. Das Prinzip, daß er dabei beachten muß, ist der kategorische Imperativ, „um das Mannigfaltige der Begehrungen der Einheit des Bewußtseins einer im moralischen Gesetze gebietenden praktischen Vernunft, oder eines reinen Willens a priori zu unterwerfen“ 420. Sittlichkeit hat ihre Geltung also „vor aller Erfahrung in der Idee einer den Willen durch Gründe a priori bestimmenden Vernunft“ 421. „Sittlichkeit, d. i. Freiheit unter Gesetzen“ und dadurch auch „Eigenschaft einer Person“ 422, weil der Mensch (auch) ein Vernunftwesen ist. Sittlichkeit ist als praktische Vernunft423 das Ansich-Gute des Menschen in einer Gemeinschaft von Menschen, weil der sittlich gute Wille an sich gut ist424. Die Gemeinschaft der Menschen soll ein Reich der Zwecke sein: „Denn vernünftige Wesen stehen alle unter dem Gesetz, daß jedes derselben sich selbst und alle andere niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst behandeln solle. Hiedurch aber entspringt eine systematische Verbindung vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche objektive Gesetze, d. i. ein Reich, welches, weil diese Gesetze eben die Beziehung dieser Wesen auf einander, als Zwecke und Mittel, zur Absicht haben, ein Reich der Zwecke (freilich nur ein Ideal) heißen kann“. Ein vernünftiges Wesen ist Glied dieses Reiches der Zwecke, wenn es darin gesetzgebend, aber auch diesen selbst gegebenen Gesetzen unterworfen ist425. Der Einzelne muß als durch die Freiheit seines reinen empirisch unbedingten Willens, also durch die Autonomie desselben, Mitgesetzgeber in diesem Reich sein. 416 417 418 419 420 421 422 423 424 425
Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 180. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 182. J. J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 31. Kant, Zum ewigen Frieden, S. 231. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 184. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 35. Kant, Opus postumum, Akademieausgabe Bd. 22, S. 60. K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 83 ff. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 21. K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 76 ff., 81 ff.
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1. Kap.: Kants Freiheitslehre
Darin liegt die „Idee der Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetz gehorcht, als dem, das es zugleich selbst gibt“ begründet426. 4. Sittlichkeit durch Moralität Die Sittlichkeit als praktische Vernunft ist die Bedingung für „das gute Leben aller in allgemeiner und gleicher Freiheit“ 427. Sittlichkeit erfordert Moralität: „Das Wesentliche alles sittlichen Werts der Handlungen kommt darauf an, daß das moralische Gesetz unmittelbar den Willen bestimme. Geschieht die Willensbestimmung zwar gemäß dem moralischen Gesetze, aber nur vermittelst eines Gefühls, welcher Art es auch sei, das vorausgesetzt werden muß, damit jenes ein hinreichender Bestimmungsgrund des Willens werde, mithin nicht um des Gesetzes willen: so wird die Handlung zwar Legalität, aber nicht Moralität enthalten“ 428. Eine gesetzesgemäße Handlung, die lediglich etwa aus Furcht vor Strafe erfolgt, hat keinen moralischen Wert. Der Bestimmungsgrund des Handelns muß das moralische Gesetz selbst sein. Die Beachtung des moralischen Gesetzes um seiner selbst willen hat „negative Wirkung aufs Gefühl“, indem es empirischen Neigungen, etwa dem Eigendünkel, „Abbruch“ tut, ermöglicht dadurch aber eine positive Wirkung, nämlich die „Achtung fürs moralische Gesetz“. Beides zusammen bezeichnet Kant als „moralisches Gefühl“ 429. Das war bereits dargestellt worden. Das moralische Gesetz soll subjektives Handlungsmotiv sein: „Man nennt die bloße Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung einer Handlung mit dem Gesetze, ohne Rücksicht auf die Triebfeder derselben, die Legalität (Gesetzmäßigkeit); diejenige aber, in welcher die Idee der Pflicht aus dem Gesetze zugleich die Triebfeder der Handlung ist, die Moralität (Sittlichkeit) derselben“ 430. Die Moralität als Achtung für das Gesetz ist Bestimmungsgrund des Handelns und führt zur Sittlichkeit einer Handlung431. Die Sittlichkeit hat aber noch einen weiteren Bezug: das allgemeine juridische Gesetz muß praktisch vernünftig, also sittlich sein. Die Autonomie des Willens erfordert Moralität des Gesetzgebers bei der Gesetzgebung. Das gilt für den einzelnen Menschen als Mitgesetzgeber, als Bürger der Republik, als auch für die Vertreter der Bürger, die Parlamentarier in einer repräsentativen parlamentarischen Demokratie: Politik als ausübende Rechtslehre432 erfordert den moralischen 426
Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 66 f. K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 20 f.; ders., Res publica res populi, S. 299 ff., 350 ff., 573 ff., 625 ff. 428 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 191. 429 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 192 ff. 430 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 324. 431 Dazu J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 200 f. 432 Kant, Zum ewigen Frieden, S. 229; dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 925 f. 427
III. Kants freiheitliche Rechts- und Staatsphilosophie
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Politiker433. Es geht also bei der Gesetzgebung nicht um die Verwirklichung von empirischen Einzel- oder Gruppeninteressen, sondern um das Allgemeinwoh und damit die volonté générale434: statt „Verschiedenheit des partikularen Wollens“ „die kollektive Einheit des vereinigten Willens“ 435. Die Sittlichkeit des Gesetzes ist nur möglich, wenn der einzelne Mitgesetzgeber bei der Gesetzgebung moralisch verfährt, also von seinen empirischen Interessen abstrahiert und nur das allgemeine Beste durch das Gesetz zu verwirklichen versucht. Nur das moralisch so zustande gekommene allgemeine Gesetz ist praktisch vernünftig, sittlich und damit freiheitlich. Die Moralität des Bürgers als seine Achtung für das Gesetz führt zur Sittlichkeit in zweifacher Hinsicht: er bringt aus innerem Pflichtgefühl heraus das allgemeine praktisch vernünftige für sich und alle im Staate lebbare Gesetz mit hervor, und er handelt aus demselben Motiv diesen Gesetzen und dem kategorischen Imperativ gemäß. Eine Gemeinschaft von Menschen, in der diese beiden Prinzipien vollumfänglich umgesetzt werden, ist das Ideal eines Reiches der Zwecke, in welchem sich das vernünftige Wesen, „das sich durch alle Maximen seines Willens als allgemein gesetzgebend betrachten muß, um aus diesem Gesichtspunkte sich selbst und seine Handlungen zu beurteilen“ 436. Sittlichkeit und praktische Vernunft sind also nicht herrschaftlich oder obrigkeitlich verordnet, sondern beruhen einzig und allein auf der Moralität des Menschen und Bürgers, der mit „Vernunft und Gewissen begabt“ ist, wie Art. 1 AEM als Erkenntnissatz formuliert. Er ist der Erkenntnis fähig, daß das menschliche Zusammenleben in einer Gemeinschaft unter der Idee der Freiheit in Frieden anders nicht möglich ist.
III. Kants freiheitliche Rechts- und Staatsphilosophie Nun weiß natürlich auch Kant, daß der Mensch nicht nur Vernunftwesen, homo noumenon ist, sondern als homo phaenomenon nicht (immer) so handelt, wie er sollte: „aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden“ 437: „Das größte Problem für die Menschengattung, zu dessen Auflösung die Natur ihn zwingt, ist die Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft. Da nur in der Gesellschaft, und zwar derjenigen, die die größte Freiheit, mithin einen durchgängigen Antagonism ihrer Glieder, und doch die genaueste Bestimmung und Sicherung der Grenzen dieser Freiheit hat, damit sie mit der Freiheit anderer bestehen könne, – da nur in ihr die höchste Absicht der Natur, nämlich die Entwicklung 433 Kant, Zum ewigen Frieden, S. 225; dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 125, 526 ff., 531 ff. 434 J. J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 31. 435 Kant, Zum ewigen Frieden, S. 231. 436 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 66. 437 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 41.
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aller ihrer Anlagen, in der Menschheit erreicht werden kann, die Natur auch will, daß sie diesen, so wie alle Zwecke ihrer Bestimmung, sich selbst verschaffen solle: so muß eine Gesellschaft, in welche Freiheit unter äußeren Gesetzen im größtmöglichen Grade mit unwiderstehlicher Gewalt verbunden angetroffen wird, d. i. eine vollkommen gerechte bürgerliche Verfassung, die höchste Aufgabe der Natur für die Menschengattung sein“ 438. Nun könnte man behaupten, dies „müsse ein Staat von Engeln sein, weil Menschen mit ihren selbstsüchtigen Neigungen einer Verfassung von so sublimer Form nicht fähig wären“. Dieser Auffassung ist Kant nicht, stattdessen behauptet er: „Das Problem der Staatserrichtung ist, so hart wie es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben), auflösbar“. Er vertraut dabei aber nicht auf die moralische Besserung der Menschen, sondern auf einen „Mechanism der Natur“: die Teufel, die nichts als ihre „Privatgesinnungen“ verfolgen, werden sich dabei gegenseitig so behindern, daß sie die Notwendigkeit erkennen (vorausgesetzt, sie haben Verstand!), ihre Mitteufel in diesem Staate in irgendeiner Weise mit einzubeziehen und sich letztlich so verhalten, „als ob sie keine solche böse Gesinnung hätten“ 439. Doch die Errichtung einer gerechten bürgerlichen Verfassung ist das schwerste Problem für die Menschengattung440. 1. Freiheit als innere und äußere Freiheit Die Sittenlehre gründet sich auf den Freiheitsbegriff. Im Hinblick auf die damit verbundenen Pflichten, nämlich pflichtmäßig seine Pflicht zu tun, lassen sich diese in die Pflichten der inneren Freiheit und die Pflichten der äußeren Freiheit einteilen. Auf den Pflichten der inneren Freiheit, welche ethisch sind, ist Kants Tugendlehre441, und auf den Pflichten der äußeren Freiheit, welche äußerer Gesetze fähig sind, seine Rechtslehre begründet442. a) Die innere (positive) Freiheit als Tugendpflicht Die Tugendlehre ist die Lehre von den Pflichten, die „nicht unter äußeren Gesetzen stehen“, sondern einen „Selbstzwang“ darstellen443. Es geht dabei um materiale Zwecke der reinen Vernunft, die zugleich objektiv-notwendige Zwecke sind, also als „Pflicht vorgestellt“ werden, um Zwecke, die „an sich selbst Pflicht“ sind444. Die Tugendlehre fragt nach Zwecken, die der Mensch sich set438 439 440 441 442 443 444
Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 39. Kant, Zum ewigen Frieden, S. 223 f. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 40. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 538 f. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 508. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 508. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 509 f.
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zen soll und welche sich nach moralischen Grundsätzen begründen lassen445. Aber nur ein Zweck, der zugleich Pflicht ist, stellt eine Tugendpflicht dar. Pflichtmäßiges Handeln, etwa die Gesetze bei seinen Handlungen zu beachten, ist durchaus tugendhaft, stellt aber nur dann eine Tugend dar, wenn es aus Pflicht erfolgt446. Einen Zweck sich zur Pflicht zu machen stellt deshalb einen Selbstzwang dar, weil der Mensch zwar zu Handlungen gezwungen werden kann, nicht aber dazu, einen Zweck zu haben: jede Zwecksetzung ist ein „Akt der Freiheit“ 447. Das gilt auch für die Tugendpflichten als innere Freiheit; denn „sich selbst einen Zweck zu setzen, der zugleich Pflicht ist, ist kein Widerspruch; weil ich mich selbst zwinge, welches mit der Freiheit gar wohl zusammen besteht“ 448. Diese Tugendpflichten sind es, welche die Denkbarkeit eines kategorischen Imperativs überhaupt erst ermöglichen: der kategorische Imperativ ist ein Handlungsimperativ und verbindet den Pflichtbegriff mit dem eines Zwecks, weil keine Handlung zwecklos ist; denn „Zweck ist ein Gegenstand der freien Willkür, dessen Vorstellung diese zu einer Handlung bestimmt, wodurch jener hervorgebracht wird“. Es muß also zwingend Zwecke geben, die zugleich Pflicht sind, sonst wäre ein kategorischer Imperativ unmöglich, eine Unmöglichkeit, welche „alle Sittenlehre aufhebt“ 449. Diese innere Freiheit wird durch die Achtung des kategorischen Imperativs verwirklicht450. Die Tugendpflichten sind zwei: eigene Vollkommenheit und fremde Glückseligkeit451. Dagegen können eigene Glückseligkeit und fremde Vollkommenheit keine Zwecke sein, die sich jemand zur Pflicht machen kann. Die eigene Glückseligkeit ist ein Naturtrieb des Menschen und kann keine Pflicht gegen sich selbst sein: „Was jeder schon unvermeidlich schon von selbst will, das gehört nicht unter den Pflichtbegriff.“ Analoges gilt für die fremde Vollkommenheit eines Anderen, es kann nicht meine Pflicht sein, „was kein anderer als er selbst tun kann“ 452. Die eigene Vollkommenheit betrifft erstens die Pflicht, sich aus der „Rohigkeit seiner Natur, aus der Tierheit“ zur Menschheit empor zu arbeiten, um der Menschheit würdig zu sein und sich überhaupt Zwecke setzen zu können. Dafür muß der Mensch bemüht sein, „seine Unwissenheit durch Belehrung zu ergänzen und seine Irrtümer zu verbessern“. Zweitens soll der Mensch seinen Willen bis zur reinsten Tugendgesinnung kultivieren und ein „moralisches Gefühl“ als einen besonderen Sinn entwickeln, welches zu einer inneren moralischpraktischen Vollkommenheit führt, damit das Gesetz zugleich zur Triebfeder sei445 446 447 448 449 450 451 452
Kant, Metaphysik der Sitten, S. 512, 515. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 512. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 514. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 511. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 514 f. K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 83 ff. Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 230 ff., 320 ff. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 515 f.
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ner pflichtmäßigen Handlungen wird. Glückseligkeit definiert Kant als „Zufriedenheit mit seinem Zustande, sofern man der Fortdauer derselben gewiß ist“. Pflicht soll die Glückseligkeit anderer Menschen sein, „derer (erlaubten) Zwecke ich hiemit auch zu dem meinigen mache“. Die fremde Glückseligkeit zu befördern hat Kant zufolge aber zwei Grenzen. Nachdem der Andere bestimmt, was zu seiner Glückseligkeit zählen mag, muß mir das Recht zugestanden werden, das zu verweigern, welches ich eben nicht dazu zähle, es sei denn, der Andere hat ein Recht, etwas von mir zu fordern. Zweitens hat ein Anderer nicht das Recht, von mir die Aufopferung meiner nicht unmoralischen Zwecke zu verlangen453. Es besteht also eine moralische Pflicht zur Sittlichkeit, zur praktischen Vernunft, zur Politik, zur eigenen Vollkommenheit und damit zum Willen zum Gesetz. Die innere Freiheit ist demnach die positive Freiheit, sich selbst und zugleich mit allen Anderen die allgemeinen Gesetze zu geben454, weil nämlich anders nicht geklärt werden kann, welche Zwecke in der menschlichen Gemeinschaft erlaubt sind, womit ein Reich der Zwecke unmöglich wäre. Allseitige Tugend in der menschlichen Gemeinschaft verwirklicht sich demnach in der sittlichen Gesetzlichkeit des gemeinsamen Lebens455. Die Tugend erfordert die Herrschaft über sich selbst. „Zur inneren Freiheit aber werden zwei Stücke erfordert: seiner selbst in einem gegebenen Fall Meister (. . .) und über sich selbst Herr (. . .) zu sein.“ Affekte wie etwa Zorn zählen zum Gefühl, Leidenschaft ist die zur bleibenden Neigung gewordene Begierde456. Pflichtmäßig aus Pflicht und damit überlegt und vernünftig in einer konkreten Situation zu handeln, erfordert ein gehöriges Maß an Selbstbeherrschung. Das bedarf keiner weiteren Erläuterung. b) Die äußere (negative) Freiheit Die äußere Freiheit ist die rechtliche Freiheit; „sie ist die Befugnis, keinen äußeren Gesetzen zu gehorchen, als zu denen ich meine Bestimmung habe geben können“ 457. Handeln hat Wirkung auf Andere, weil es Fakten schafft, und Gesetze regeln die Zumutbarkeit des Handelns für alle458. Das juridische Gesetz ist
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Kant, Metaphysik der Sitten, S. 517 ff. K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 83 ff. 455 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 233. 456 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 539 f. 457 Kant, Zum ewigen Frieden, S. 204, Anmerkung; die äußere Freiheit ist nicht die Befugnis, alles zu tun, was man will, wenn man nur keinem Unrecht tut. Das sei eine leere Tautologie: Wer eine Befugnis zum Handeln hat, kann niemandem Unrecht tun, weil er befugt ist, also ein Einverständnis zum Handeln besteht. 458 K. A. Schachtschneider, S. 54 f.; ders., Grundgesetzliche Aspekte der freiheitlichen Selbstverwaltung, Die Verwaltung 31 (1998), S. 151; ders., Der Anspruch auf materiale Privatisierung, S. 294 ff. 454
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das Einverständnis aller Bürger mit dem Handeln und den Konsequenzen des Handelns einzelner Bürger. Nur allgemeine Gesetze in diesem Sinne genügen nämlich dem Recht, ius459. Der Einzelne muß sich nur legales Handeln Anderer gefallen lassen, welche das allgemeine Gesetz, dem sie selbst zugestimmt haben, achtet. Äußere Freiheit ist also die Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür, „sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann“ 460. Praktische Freiheit bedeutet Rechtlichkeit, und wird als Autonomie des Willens durch die Gesetze verwirklicht461. Nur wer selbst (mit-)gegebenen Gesetzen gehorcht, kann in seiner Freiheit nicht verletzt werden; denn: „volenti non fit iniuria“ 462. Diese politische Freiheit ist untrennbar mit dem Recht zur freien Willkür verbunden463: die politische Freiheit betrifft das Allgemeine, das Recht zur freien Willkür das Besondere, das Personale, das Private. Nur beide Aspekte zusammen genügen der äußeren Freiheit. Die Bürger bestimmen die Gesetze, unter denen sie in Freiheit und Frieden gemeinsam, also sittlich, leben wollen und bestimmen sich in freier Willkür unter Beachtung dieser Gesetze selbst zum Handeln. Umgekehrt muß das Recht zur freien Willkür die Autonomie des Willens mit einschließen; denn es ist die Willkür, welche die Handlungsmaximen bestimmt und sie wird nur zur freien Willkür, wenn sie als Autonomie des Willens diese Handlungsmaxime durch das allgemeine Gesetz als gemeinschaftsverträglich und für alle legalisiert hat. Die Autonomie des Willens und das Recht zur freien Willkür lassen sich zwar gedanklich auseinander halten, sie bilden aber in praktischer Hinsicht unter dem Aspekt der äußeren Freiheit eine Einheit. Das ist der Wesensgehalt der republikanischen Freiheit. Jede Herrschaftsideologie dagegen, nach welcher die Gesetze obrigkeitsstaatlich verordnet und den Untertanen Freiräume gewährt werden, innerhalb derer sie willkürlich handeln dürfen, verkennt den Bürger und ist der Freiheit zuwider464, weil sie die politische Unabhängigkeit und damit Autonomie des Willens der Bürgerschaft mißachtet und deshalb die Willkür der Bürger keine freie sein kann.
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K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 76 ff. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 345. 461 K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 44 ff.; ders., Res publica res populi, S. 275 ff., 325 ff., 410 ff., 449 ff. So auch bei G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, § 485, S. 303 f.: „die einfache Wirklichkeit der Freiheit“ ist „das an sich Allgemeine“. Der Begriffsinhalt der Freiheit ist wahrhaft bestimmt „nur in der Form der Allgemeinheit. In dieser für das Bewußtseins der Intelligenz gesetzt mit der Bestimmung als geltender Macht, ist es das Gesetz – befreit von der Unreinheit und Zufälligkeit, die es im praktischen Gefühle und in den Trieben hat“. 462 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 432; so auch J. J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 41: Das allgemeine Gesetz kann nicht unrecht sein, „da niemand gegen sich ungerecht ist“; dazu auch K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 31; ders., Res publica res populi, S. 293, 436, 532. 463 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 67 ff. 464 Dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 127 ff. 460
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c) Die wechselseitige Verwiesenheit von innerer und äußerer Freiheit Die innere und die äußere Freiheit bilden eine ethische Einheit465. Tugendpflichten und Rechtspflichten sind nicht material wesensverschieden, Differenzierungskriterium ist nur die Erzwingbarkeit: Tugendpflichten unterliegen dem Selbstzwang, Rechtspflichten dagegen dem äußeren (rechtlichen) Zwang (dazu unten). Die Tugendpflicht der fremden Glückseligkeit fordert, die äußere Freiheit der Anderen und damit deren Würde, welche dem kategorischen Imperativ gemäß ein Selbstzweck ist, zu achten. Andererseits ist Sittlichkeit als moralisches Handeln und moralische Gesetzgebung nur möglich, wenn der einzelne eben unabhängig von der nötigenden Willkür anderer ist, also seine äußere Freiheit gewahrt bleibt466. Mit anderen Worten: Die innere positive Freiheit als Autonomie des Willens ermöglicht erst die äußere negative Freiheit als Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür, ohne welche aber wiederum die innere Freiheit als Erfüllung der Pflicht zur Sittlichkeit467 nicht möglich ist468: eine erzwungene Handlung ist ohne moralischen Wert. 2. Die Freiheit als angeborenes Recht Freiheit ist eine transzendentale Idee, die zwar zwingend gedacht werden muß, aber als Begriff der reinen Vernunft nicht weiter hinterfragt werden kann. Dieser Abbruch der Hinterfragbarkeit führt in lebenspraktischer Hinsicht zur logisch zwingenden Erkenntnis, daß Freiheit ein angeborenes Recht ist, welches um der Menschheit des Menschseins willen jedem Menschen als Vernunftwesen zukommt469. Das führt logisch und damit denknotwendig zur Gleichheit aller Menschen in der Freiheit und damit zur Richtigkeit dieses „uralten Naturrechtsgrundsatzes“ 470. Alles Recht aber muß die Freiheit voraussetzen, weil es nämlich nicht 465
K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 320. Dazu K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 26; ders., Res publica res populi, S. 320 ff., 336 ff., 494 ff., 510 ff., 560 ff. 467 M. Forschner, Gesetz und Freiheit, S. 258. 468 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 83 ff. 469 Kant, Über den Gemeinspruch, S. 145; ders., Metaphysik der Sitten, S. 345; ders., Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 67 ff.; dazu W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 89 ff.; W. Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, HVerfR, S. 496 ff.; K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 44 ff.; ders., Res publica res populi, S. 290 ff. 470 W. Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, HVerfR, S. 427 ff., 455 ff.; P. Kirchhof, Der allgemeine Gleichheitsgrundsatz, HStR, Bd. V, § 123, S. 103 ff., Rdn. 44 ff.; M. Kriele, Freiheit und Gleichheit, HVerfR, S. 129 ff.; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 35 ff.; ders., Res publica res populi, S. 4 f.; 275 ff., 325 ff., 410 ff., 422 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 44 ff.; J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 34 ff., 223 ff. 466
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gelingt, Recht aus sich selbst heraus zu erklären471. Diesen systematischen Zusammenhang zwischen Freiheit und Recht472 beweist Kant in den metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre in der Metaphysik der Sitten. Er leistet eine Vernunftbegründung des Rechts durch reines Denken, also losgelöst von historisch vorfindbaren Ordnungsregelungen473. Rechte sind „systematische Lehren“, und zwar erstens als „Naturrecht, das auf lauter Prinzipien a priori beruht“, und zweitens „das positive (statutarische) Recht, was aus dem Willen eines Gesetzgebers hervorgeht“. Rechte sind das moralische „Vermögen, andere zu verpflichten, d. i. als einen gesetzlichen Grund zu den letzteren (titulum), von denen eine Obereinteilung die in das angeborene und erworbene Recht ist, deren ersteres dasjenige ist, welches, unabhängig von allem rechtlichen Akt, jedermann von Natur zukommt; das zweite das, wozu ein solcher Akt erfordert wird“. „Das angeborene Recht ist nur ein einziges: Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehende Recht“ 474, welches Kant auch als das „angeborene Mein und Dein“ wie auch „inneres“ Mein und Dein nennt475. Alle anderen Rechte sind erworben. Die Freiheit als Mein und Dein zu bezeichnen, ist wegen der Apriorität des Gemeinschaftsbezuges des menschlichen Daseins konsequent, weil diese Bezeichnung auch die angeborene Gleichheit in der Freiheit zum Ausdruck bringt476. Zum inneren Mein und Dein zählt die Selbständigkeit, sein eigener Herr zu sein. Freiheit als angeborenes Recht, als inneres Mein und Dein bedeutet weiter, daß der Mensch grundsätzlich als unbescholten gilt, „weil er, vor allem rechtlichen Akt,
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Es geht in der Tat um eine Vorrangstellung des Freiheitsbegriffs in diesem Zusammenhang. Wird nämlich Freiheit nur als subjektive negative Freiheit verstanden, tritt das Recht lediglich von außen an das Subjekt heran. Das führt zur Auffassung von „liberalen“ Grundrechten. Dadurch ist aber das Recht nicht immanent vernünftig. Unter dem Aspekt der objektiven (positiven) Freiheit dient das Recht zur Festlegung und Vorabstimmung der Zwecke und Inhalte des Freiheitsgebrauchs. Beide Sichtweisen müssen vermittelt sein, und auch dazu ist eben das Recht erforderlich; dazu E.-W. Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, S. 20 f., 44 ff. 472 Zur notwendigen Bedingtheit von Freiheit und Recht und zur These, daß Ordnung Freiheit voraussetzt E.-W. Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, S. 42 f. 473 Es geht um die freiheitliche Legitimation des Rechts, welche für herrschaftlich oktroyierte oder durch bloße Macht und Gewalt gesatzte Regelungen nicht geleistet werden kann. So ist etwa ein Legitimationsanspruch „von Gottes Gnaden“ mit Vernunft nicht zu begründen. 474 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 345. 475 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 345; dazu auch H. Cohen, Kants Begründung der Ethik, S. 407. 476 „Die angeborene Gleichheit, d. i. die Unabhängigkeit, nicht zu mehrerem von anderen verbunden zu werden, als wozu man sie wechselseitig auch verbinden kann“, Kant, Metaphysik der Sitten, S. 345.
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keinem Unrecht getan hat“ 477. Und weil die Gemeinschaft der Menschen stets auch eine Kommunikationsgemeinschaft ist, wird auch die Rede- und Argumentationsfreiheit aus der Freiheit als angeborenem Recht abgeleitet478. Aus der Freiheit als angeborenem Recht leitet sich schließlich die Befugnis ab, „das gegen andere zu tun, was an sich ihnen das Ihre nicht schmälert, wenn sie sich dessen nur nicht annehmen wollen“ 479. Rousseau formuliert: „Im Naturzustand (. . .) bin ich dem gegenüber, dem ich nichts versprochen habe, zu nichts verpflichtet, ich erkenne nur das als Besitz des anderen an, was mir zu nichts nütze ist“ 480. Doch was ist das „ihre“, das sich nicht schmälert, wenn sie sich dessen nicht annehmen? Damit aber ist die Frage nach dem Mein und Dein, die Verteilungsfrage, aufgeworfen worden, welche sich befriedend für alle nur durch das Recht klären läßt481. 3. Zur Vernunftbegründung des Rechts aus der angeborenen Freiheit Die Herleitung des positiven gesetzten Rechts aus der angeborenen Freiheit leistet Kant über die Möglichkeit des Besitzes und des Gebrauchs als äußeres Mein und Dein. Das innere Mein und Dein, als angeborenes Recht, muß ein äußeres Mein und Dein, ein erworbenes Recht werden, welches einen gesetzgeberischen Akt voraussetzt, weil außer der Freiheit alle Rechte erworbene sind. Es muß um der (angeborenen) Freiheit willen grundsätzlich möglich sein, „einen 477 Dies formuliert sich etwa im Rechtsprinzip „nulla poena sine lege“, daß nämlich jede Bestrafung ein entsprechendes Gesetz bei Begehung der Tat voraussetzt, wie es Art. 103 Abs. 2 GG und § 1 StGB fordert, dazu K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 361 f.; „Jedermann soll vorhersehen können, welches Handeln mit welcher Strafe bedroht ist, um sein Verhalten dementsprechend einrichten zu können“, BVerfGE 57, 250 (262); es gilt ein „Rückwirkungsverbot im Strafrecht“, BVerfGE 95, 96 (131). 478 Für Kant ist der Zeitpunkt der Abschaffung der Redefreiheit der Augenblick für Rebellion, weil private Handlungsmaximen öffentlich erklärbar sein müssen, wenn sie rechtmäßig sein sollen, H. Arendt, Über das Urteilen, S. 68 f. Im übrigen, Freiheit der Rede bedeutet für Kant Freiheit im Denken, S. 58. Zum Recht der freien Rede K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 41 f.; ders., Res publica res populi, S. 588 ff., 606 ff. 479 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 345 f. 480 J. J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 39. Bei Hegel ist der Mensch nur Person, sofern er das Recht hat, seinen Willen in jede Sache zu legen, und sich so als Eigentümer über Besitz, welcher Eigentum ist, zu anderen Freien als Person verhält, J. Rittner, Person und Eigentum, in: G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts – Kommentar, S. 55. „Erst im Eigentum ist die Person als Vernunft.“ Eigentum ist die „erste Realität meiner Freiheit in einer äußerlichen Sache“, die „Person muß sich eine äußere Sphäre ihrer Freiheit geben, um als Idee zu sein“. Und diese äußere Sphäre ist das Eigentum, G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 102, und zwar das Privateigentum, S. 107 f. 481 Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 376 f.; ders., Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS W. Leisner, S. 764 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 555 ff.
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jeden äußeren Gegenstand meiner Willkür als das Meine zu haben“ 482. Kant definiert: „Das Begehrungsvermögen nach Begriffen, sondern der Bestimmungsgrund desselben zur Handlung in ihm selbst, nicht in dem Objekte angetroffen wird, heißt ein Vermögen, nach Belieben zu tun oder zu lassen. Sofern es mit dem Bewußtsein des Vermögens einer Handlung zur Hervorbringung des Objekts verbunden ist, heißt es Willkür; ist es aber damit nicht verbunden, so heißt der Aktus desselben (der Begehrung) ein Wunsch“ 483. Die Willkür bestimmt, einen selbst gesetzten Zweck durch Handeln zu verfolgen, um ein bestimmtes Handlungsergebnis zu erzielen oder ein begehrtes Objekt hervorzubringen484. Diese äußeren Gegenstände der Willkür können drei sein: „1. eine (körperliche) Sache außer mir; 2. die Willkür eines anderen zu einer bestimmten Tat (. . .); 3. der Zustand eines anderen im Verhältnis auf mich“ 485. Mit dem Punkt 2. sind die Leistungsverpflichtungen anderer einem einzelnen gegenüber486 angesprochen, mit dem Punkt 3. die Rechtsverhältnisse, in denen die Menschen untereinander in Verbindung stehen, etwa durch das Ehe- und Familienrecht487. Grundsätzlich kann ein Mensch an jedem Objekt seiner Willkür ein Eigenes haben488. Das erweist schon der Sprachgebrauch: dies ist mein Beruf, meine Erfindung, mein(e) Lebenspartner(in) etc. Es sind, Kants Systematik des Philosophierens folgend, zwei Fragen zu stellen489: erstens, wie läßt es sich überhaupt denken, daß ein Gegenstand als der meine gedacht werden kann, und zweitens, welche Konsequenzen hat diese Denkbarkeit in der praktischen Lebenswirklichkeit490. Damit ist die Frage nach der (Denk-)Möglichkeit des äußeren Mein und Dein eine Frage der Möglichkeit von Recht per se. Kant zeigt die Denkbarkeit, sich etwas Äußeres als das Meine zu denken, exemplarisch an den körperlichen Gegenständen der Willkür, sie ist 482 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 354. Der Besitz ist die äußerliche Sphäre der Freiheit der Person als Intelligenz, G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, § 488, S. 306. 483 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 317. 484 Maximen sind „Imperative der Geschicklichkeit“, wie ein Zweck erreicht werden könne. Ob dieser Zweck vernünftig und gut sei, ist keine Frage dieser „hypothetischen“ Imperative, „sondern nur, was man tun müsse, um ihn zu erreichen“, Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 43 f. 485 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 355. 486 Wer erwarten kann, daß ein Anderer seine Erwartungen nicht enttäuschen werde, hat ein Eigenes an den Handlungen des Anderen, K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 540 f. 487 Dazu Kant, Metaphysik der Sitten, S. 389 ff. 488 Dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 544 ff. 489 Diese grundsätzliche Art des systematischen Philosophierens zeigt sich bei Kant etwa in der Kritik der reinen Vernunft, S. 69 ff. Auch Kants Differenzierung von materialer und formaler Vernunfterkenntnis sowie der empirischen von der reinen Philosophie weist in diese Richtung, Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 11 f. 490 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 358.
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aber auch auf die beiden anderen möglichen Gegenstände der Willkür anwendbar491. „Das äußere Meine ist dasjenige, in dessen Gebrauch mich zu stören Läsion sein würde, ob ich gleich nicht im Besitz desselben (nicht als Inhaber des Gegenstandes) bin“ 492. Das äußere Meine ist mit der Gebrauchsmöglichkeit eines Gegenstandes verbunden. Unproblematisch ist es, sich einen Gegenstand bei unmittelbarer physischer Sachherrschaft als ein äußeres Meines zu denken: ich kann mir einen Gegenstand als den meinen denken, wenn ich ihn derzeit innehabe und gebrauchen kann und dadurch Andere von einer Gebrauchsmöglichkeiten ausschließe. Der physische Besitz ist die Bedingung der Möglichkeit des Gebrauchs. Schwieriger ist es jedoch, sich einen Gegenstand als das äußere Meine zu denken, wenn diese unmittelbare physische Sachherrschaft nicht vorliegt. Dies kann nur unter der Voraussetzung gelingen, wenn der Begriff des Besitzes als in zwei Ausprägungen gedacht wird: zum einen als empirischer, physischer Besitz als die tatsächliche, sinnlich wahrnehmbare Sachherrschaft eines körperlichen Gegenstandes. Zum zweiten aber muß der Besitz als intelligibler, bloß-rechtlicher Begriff gedacht werden, als ein „Besitz ohne Inhabung“ 493. Der empirische Besitz ist nicht hinreichend für die Qualifizierung zum Meinen, weil jemand definitionsgemäß im äußeren Seinen auch dann lädiert sein können muß, wenn der Gegenstand nicht unter seiner unmittelbaren Sachherrschaft steht, ihn also ein anderer auch ohne dessen Einwilligung gebrauchen könnte. Hinreichendes Kriterium für die Qualifizierung zum Meinen ist der noumenale Begriff des intelligiblen Besitzes494. Dieser kann aber nur als ein „bloß-rechtlicher“ gedacht werden. 491 „Die Frage: wie ist ein äußeres Mein und Dein möglich? löst sich nun in diejenige auf: wie ist ein bloß-rechtlicher (intelligibler) Besitz möglich? und diese wiederum in die dritte: wie ist ein synthetischer Rechtssatz a priori möglich?“ Die Objekte der Willkür sind nicht nur solche, die Erscheinung haben, sondern Kant rückt sie in die Nähe des Ding an sich und nennt sie „Sachen an sich“: „obgleich der Gegenstand, den ich besitze, hier nicht so, wie es in der transzendentalen Analytik geschieht, selbst als Erscheinung, sondern als Sache an sich selbst betrachtet wird“. Das Mein und Dein ist damit nicht notwendigerweise ein sinnlich wahrnehmbarer Gegenstand, sondern er kann auch durch „den reinen Verstand erkennbar sein“, Kant, Metaphysik der Sitten, S. 357 f. Ohne dieses erkenntnistheoretische Zugeständnis, das Mein und Dein nicht an der Erscheinung festzumachen, sondern als Sache an Sich zu betrachten, ließe sich das Mein und Dein auf die Objekte der Willkür, die nicht körperliche Gegenstände sind, also etwa auf die Leistungsverpflichtungen anderer und die Rechtsverhältnisse mit anderen Menschen nicht anwenden. Material ist der Eigentumsbegriff sehr weit zu fassen: Eigentum sind die durch die allgemeinen Gesetze begründeten materialen Rechte des Lebens und des Handelns, Rechte an Handlungen anderer Menschen, Rechte an Sachen, Rechte an Gegenständen aller Art, K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS W. Leisner, S. 753. 492 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 357; vgl. hierzu H. Cohen, Kants Begründung der Ethik, S. 408 ff. 493 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 353. 494 „Im Begriff des intelligiblen Besitzes werden die räumlichen und zeitlichen Distanzen zwischen Subjekt und Objekt aufgehoben und ihr Verhältnis auf eine rein gedankliche Relation verkürzt“. Dementsprechend muß hinsichtlich der Möglichkeit des Gebrauchs „von jeder Bestimmtheit des Gebrauchs, des brauchbaren Gegenstandes wie
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Niemand kann einen außer- oder vorrechtlichen Anspruch auf Besitz haben, weil der Besitz (als Begriff) bereits „bloß-rechtlich“ zu denken ist495. Ein äußeres Mein kann also lediglich als ein Rechtlich-Meines gedacht werden, es „ist dasjenige, womit ich so verbunden bin, daß der Gebrauch, den ein anderer ohne meine Einwilligung von ihm machen möchte, mich lädieren würde“. Diese Verbundenheit mit dem Gegenstand besteht aber nur auf einer rein gedanklichen Ebene, also losgelöst von den tatsächlichen empirischen Raum-Zeit-Bedingungen des physischen Inbesitzstehens496. Doch Kant geht noch weiter, „denn das Recht ist schon ein intellektueller Besitz eines Gegenstandes“, weil nämlich außer der (angeborenen) Freiheit alle anderen Rechte erworben sind. Das Recht selbst ist also nur als intelligible Besitzposition denkbar497. Diese Auffassung deckt sich mit dem Sprachgebrauch, der Mensch hat Recht und hat Rechte. Die Begriffe des intelligiblen Besitzes und des Rechts verweisen wechselseitig aufeinander und sind in diesem Zusammenhang durchaus synomym zu verstehen: der Besitz ist bloß-rechtlich und damit noumenal und intelligibel, Recht aber ist immer schon intelligibler Besitz498. Somit ist das Recht „ein solcher reiner praktischer Vernunftbegriff der Willkür unter Freiheitsgesetzen“. Den intelligiblen Besitz als noumenalen Begriff in Stellung zu bringen, ist auch in der Systematik der Freiheitsphilosophie Kants zwingend: das innere Mein und Dein als angeborenes Recht der Freiheit muß in praktischer Hinsicht als äußeres Mein und Dein Außenwirkung entfalten, also muß auch der Besitz eine Komponente der Freiheit im äußeren Bereich darstellen. Und weil ja die Freiheit selbst nur als eine noumenale gedacht werden kann, muß auch der Begriff des Besitzes als Freiheitskomponente ein noumenaler sein499. auch des Gebrauchsvermögens und der technischen Kompetenz des Subjekts“ abstrahiert werden, „so daß allein das Gebrauchsvermögen oder der Gebrauchswille auf der subjektiven Seite und das Brauchbare auf der objektiven Seite als Relate des intelligiblen Besitzverhältnisses übrig bleiben“, W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 230 f. 495 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 358. 496 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 363. 497 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 353. 498 In ähnlicher Weise argumentiert G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 107. 499 „Es darf auch niemanden befremden, daß die theoretischen Prinzipien des äußeren Mein und Dein sich im Intelligiblen verlieren und kein erweitertes Erkenntnis vorstellen; weil der Begriff der Freiheit, auf dem sie beruhen, keiner theoretischen Deduktion seiner Möglichkeiten fähig ist, und nur aus dem praktischen Gesetze der Vernunft (dem kategorischen Imperativ) als einem Faktum derselben, geschlossen werden kann“, Kant, Metaphysik der Sitten, S. 361. Hegel hat hier offensichtlich eine ähnliche Überzeugung wie Kant: „Die Person muß sich eine äußere Sphäre ihrer Freiheit geben, um als Idee zu sein“. „Das Vernünftige des Eigentums liegt nicht in der Befriedigung der Bedürfnisse, sondern darin, daß sich die bloße Subjektivität der Persönlichkeit aufhebt. Erst im Eigentume ist die Person als Vernunft“, G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 102, wobei anzumerken ist, daß Hegel zwischen Besitz und Eigentum keine substanziellen Unterschiede macht, vgl. hierzu J. Ritter, Person und Eigentum, in: G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts – Kommentar, S. 70 f.
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Als äußere Komponente der Freiheit muß der Begriff des Besitzes auch unter dem Aspekt der Allgemeinheit gedacht werden können, der Gebrauch des äußeren Gegenstandes also einem allgemeinen Gesetz entsprechen. Dies ist entweder dadurch denkbar, daß ein generelles Verbot des Gebrauchs aller äußeren Gegenstände besteht, oder aber, daß alle gleichermaßen zum Gebrauch eines bestimmten Gegenstandes befugt sind. In beiden Fällen läßt sich aber schlechterdings nicht mehr vom Meinen sprechen. Auch der Aspekt der Allgemeinheit zeigt, daß der empirische Besitz, die tatsächliche Sachherrschaft, eben nicht hinreichend ist, um etwas äußeres als das Meine zu qualifizieren, welches, um der allgemeinen Freiheit willen, den allgemeinen Gesetzen entsprechen muß. Natürlich muß der Gegenstand der Willkür auch gebraucht werden können und damit auch unter der tatsächlichen Sachherrschaft eines Menschen stehen500. Das setzt einen Akt der Willkür voraus, nämlich den des In-die-Gewalt-Bringens501. Davon zu unterscheiden ist die Möglichkeit, sich einen Gegenstand der Willkür nur zu denken, wofür es hinreichend ist, „mir bewußt zu sein, daß ich ihn in meiner Macht habe“, also unter meine tatsächliche Sachherrschaft bringen und gebrauchen könnte. Dadurch ist es möglich, jeden Gegenstand unabhängig vom tatsächlichen Gebrauch oder der rein physischen Sachherrschaft zum Gegenstand meiner Willkür „als objektiv-mögliches Mein oder Dein“ anzusehen und zu behandeln502. Diese Möglichkeit ist ein Postulat der praktischen Vernunft, welches Kant „Erlaubnisgesetz (lex permissiva) der praktischen Vernunft“ nennt. Es gilt a priori und anders könnte ein Recht zur freien Willkür aus dem „bloßen Begriffe vom Rechte“ nicht hergeleitet werden503. Die Denkbarkeit des Besitzes eines äußeren Gegenstandes als den Meinen, auch wenn dieser nicht unmittelbar unter der physischen Sachherrschaft steht, ist durch die Vernunft gewirkt, und erst dadurch wird die Willkür freiheitlich, weil sie auf das äußere Mein gerichtet ist und über den intelligiblen Besitz als bloß-rechtlich zum Recht als solchem wird. Das Recht zur freien Willkür folgt damit der Möglichkeit, sich jeden beliebigen Gegenstand als ein objektiv-mögliches Mein oder Dein zu denken. Durch dieses Erlaubnisgesetz der praktischen Vernunft wird die Ethik zur Rechtslehre erweitert504, weil es durch die lex permissiva der praktischen Vernunft grundsätzlich 500 „Ein Gegenstand meiner Willkür aber ist das, wovon beliebigen Gebrauch zu machen ich das physische Vermögen habe, dessen Gebrauch in meiner Macht (potentia) steht: wovon noch unterschieden werden muß, denselben Gegenstand in meiner Gewalt (in potestatem meam redactum) zu haben, welches nicht bloß ein Vermögen, sondern auch ein Akt der Willkür voraussetzt“, Kant, Metaphysik der Sitten, S. 354. 501 Vergleichbar G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 144. 502 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 354 f. 503 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 355. 504 H. Cohen, Kants Begründung der Ethik, S. 409; durch das allgemeine Gesetz und den Staat kann nämlich der Einzelne gezwungen werden, pflichtmäßig aus Pflicht, also moralisch zu handeln, weil sonst das Eigene, also die äußeren Möglichkeiten des Handelns und Lebens, ja das Leben selbst, nicht gesichert ist, K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 544 ff.
III. Kants freiheitliche Rechts- und Staatsphilosophie
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möglich ist, sich etwas Äußeres als Meines zu denken. Dies können neben Sachen und Gegenständen dann auch alle Rechte außer der angeborenen Freiheit sein. Aus dem bloßen Begriff vom Recht allein läßt sich diese Denkmöglichkeit nicht herleiten. Diese logische Möglichkeit, sich ein Objekt der Willkür als das seine zu denken, bedeutet in praktischer Hinsicht eine Notwendigkeit: die lex permissiva der praktischen Vernunft ist ein Postulat a priori, also eine Denknotwendigkeit, weil nämlich ohne die praktische Möglichkeit, „einen äußeren Gegenstand meiner Willkür als das Meine zu haben“, sich die äußere Freiheit mit sich selbst in Widerspruch bringen würde505. Das Mein und Dein ist wegen der Freiheit, ihren Äußerungen und Äußerlichkeiten, dem Leben also, eine zwingende praktische Notwendigkeit506. Die freie Willkür kann freiheitlich nur unter dem allgemeinen Gesetz gedacht werden. Der intelligible Besitz ist ein allgemeingültiges Postulat, ein Grundwert eines freiheitlichen Gemeinwesens, der von jedem Bürger akzeptiert wird507. Das ist auch die Aussage von Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG, der Eigentumsgewährleistung: 505 „Denn ein Gegenstand meiner Willkür ist etwas, was zu gebrauchen ich physisch in meiner Macht habe. Sollte es nun doch rechtlich schlechterdings nicht in meiner Macht stehen, d. i. mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetz nicht zusammen bestehen können (unrecht sein), Gebrauch von demselben zu machen: so würde die Freiheit sich selbst des Gebrauchs ihrer Willkür in Ansehung eines Gegenstandes derselben berauben, dadurch, daß sie brauchbare Gegenstände außer aller Möglichkeit des Gebrauchs setzte: d. i. diese in praktischer Rücksicht vernichtete, und zur res nullius machte; obgleich die Willkür, formaliter, im Gebrauch der Sachen mit jedermanns äußeren Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmte. – Da nun die reine praktische Vernunft keine andere als formale Gesetze des Gebrauchs der Willkür zum Grunde legt, und also von der Materie der Willkür, d. i. der übrigen Beschaffenheit des Objekts, wenn es nur ein Gegenstand der Willkür ist, abstrahiert, so kann sie in Ansehung eines solchen Gegenstandes kein absolutes Verbot seines Gebrauchs enthalten, weil dieses ein Widerspruch der äußeren Freiheit mit sich selbst sein würde“, Kant, Metaphysik der Sitten, S. 354. „Der Gebrauch von Gegenständen stimmt grundsätzlich mit der gesetzlichen Freiheit eines jeden zusammen. Würde daher das Recht Willkürgegenstände der Gewalt der Willkür entziehen, die Willkür ihrer Gegenstände berauben, würde es rechtlich mögliche Willkür rechtlich unmöglich machen und sich damit in einen Widerspruch verwickeln“, W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 243. 506 „Was anfangs als Möglichkeit gesetzt wurde, und in seiner Möglichkeit befragt wurde, zeigt sich am Ende als notwendige Voraussetzung der reinen rechtlich-praktischen Vernunft selbst. Ihr Gesetz, zu einer prinzipiellen rechtlichen Beurteilung der Freiheit der Willkür hinsichtlich des Gebrauchs ihrer Gegenstände herangezogen, erweist die Uneingeschränktheit der Willkürfreiheit gegenüber Sachen und damit die grundsätzliche Eigentumsfähigkeit aller Willkürgegenstände und der Wahrung der Konsistenz der Gesetzgebung der äußeren Freiheit willen als immer schon von ihr vorausgesetzt“, W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 246. 507 Und so „liegt der Grund der Gültigkeit eines solchen Begriffs vom Besitz (possessio noumenon) als einer allgemeingeltenden Gesetzgebung; denn eine solche ist in dem Ausdrucke enthalten: dieser äußere Gegenstand ist mein; weil allen andern dadurch eine Verbindlichkeit auferlegt wird, die sie sonst nicht hätten, sich des Gebrauchs desselben zu enthalten“, Kant, Metaphysik der Sitten, S. 363.
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1. Kap.: Kants Freiheitslehre
in der bürgerlichen Gemeinschaft muß es um der Freiheit willen grundsätzlich möglich sein, einen Gegenstand der Willkür als den seinen zu haben: Es besteht ein Grundrecht auf eine Eigentumsordnung508. Mit Kant wird deutlich, warum der intelligible Besitz bloß-rechtlich ist. Die Möglichkeit des individuellen Besitzes wird durch das allgemeine Gesetz gewährleistet. Dadurch wird gleichzeitig die freie Willkür auf die allgemeinen Gesetze ausgerichtet. Auch dies entspricht Art. 14 Abs. 1 GG, allerdings S. 2: Inhalt und Schranken des Eigentums werden durch die Gesetze bestimmt. Durch den Gleichheitsaspekt der Freiheit als angeborenem und innerem Mein und Dein, als „Unabhängigkeit, nicht zu mehrerem von anderen verbunden zu werden, als wozu man sie wechselseitig auch verbinden kann“ 509, erfährt der bloß-rechtliche intelligible Besitz eine juridische Institutionalisierung. Die Freiheit als originäres angeborenes Recht wird als Freiheit der Willkür in positives Recht transformiert, und zwar über die grundsätzliche Denknotwendigkeit des Besitzes als Rechtsposition. Das innere Mein und Dein wird ausschließlich durch das Recht zum äußeren Mein und Dein: „Etwas Äußeres als das Seine zu haben, ist nur in einem rechtlichen Zustand, unter einer öffentlich gesetzgebenden Gewalt, im bürgerlichen Zustand, möglich“ 510, wobei Recht (als intelligibler bloß-rechtlicher Besitz) ebenfalls nur im bürgerlichen Zustand im Rahmen einer öffentlichen Gesetzgebung denkbar ist. Es geht im bürgerlichen Zustand darum, daß jemandem das Seine rechtlich gesichert wird, er also nicht durch einen Anderen lädiert wird511, falls der sich des Gebrauchs des Gegenstandes der Willkür, welcher nicht der Seine ist, nicht enthält. Nur das allgemeine Gesetz, welches auf dem allgemeinen Willen aller Bürger beruht, macht verbindlich, daß Alle das Seine von jemanden achten und respektieren: ein solcher Besitz ist ein „peremtorischer Besitz“ 512. Jeder hat ein Recht auf Recht, ein Recht auf bürgerliche Verfassung und auf das Eigene sichernde allgemeine Gesetze513. Kant beweist damit eine existenzielle Grunderkenntnis: unter der Idee der Freiheit ist es undenkbar, daß die empirischen oder historisch vorgefundenen Besitzverhältnisse allein die Rechtsordnung bestimmen514, sondern umgekehrt: nur das 508 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 544 ff.; ders., Res publica res populi, S. 387 f. 509 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 345. 510 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 365. 511 Schon die Gefahr, daß jemandem das Seine genommen werden könnte, ist Läsion, K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 544. 512 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 367. 513 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 544 ff. 514 Wofür es in der Geschichte zahllose Bespiele gibt, etwa in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands nach dem Krieg, in der die sowjetischen Besatzungstruppen empirisch die Besitzer, die Herren waren, die zwar eine Ordnung, aber kein Recht zu begründen vermochten, dazu K. A. Schachtschneider (O. Gast), Sozialistische Schulden nach der Revolution, S. 29 ff., 39 ff.
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Recht im bürgerlichen Zustand, in der bestmöglich verwirklichten Republik ordnet die Besitzverhältnisse. Es geht darum, einen physischen Besitz „durch Vereinigung mit dem Willen aller in einer öffentlichen Gesetzgebung, zu einem rechtlichen zu machen“ 515. 4. Die Erwerbung nach Maßgabe des intelligiblen Besitzes Etwas Äußeres ist nicht von Natur aus das Seine von jemandem, sondern muß erworben werden. Der intelligible Besitz ist nur die logische Denkbarkeit, einen Gegenstand der Willkür als „objektiv-mögliches Mein oder Dein“ aufzufassen516. Dies ist aber keine hinreichende Begründung dafür, daß ein Gegenstand auch in praktischer Hinsicht das Seine von jemandem ist, sondern hinreichend ist die Erwerbung. Dabei kommt es nicht auf den bloß empirischen Moment des unter die Sachherrschaft Bringens an, sondern muß entsprechend dem intelligiblen Besitz ein Vernunfttitel517 sein, welcher aber nur durch einen Rechtsakt518 unter der Idee eines a priori vereinigten gesetzgebenden Willen aller in einer Gemeinschaft519, also im bürgerlichen Zustand, denkbar ist, weil durch einen einseitigen Willkürakt eines Einzelnen die Besitzerwerbung keine Verbindlichkeit für Andere schaffen kann, sich des Gebrauchs dieses erworbenen Gegenstandes zu enthalten. Die Erwerbung als Vernunfttitel im bürgerlichen Zustand ist „peremtorisch“ 520. Durch sie erhält der einzelne den Besitz als Recht an den bereits genannten denkbaren Objekten der Willkür, nämlich den an körperlichen Sachen, an Leistungen anderer Personen oder an (Rechts-)Verhältnissen gegenüber anderen Personen521. „Das Prinzip der äußeren Erwerbung ist nun: Was ich (nach dem Gesetz der äußeren Freiheit) in meine Gewalt bringe, und wovon, als Objekt meiner Willkür, Gebrauch zu machen ich (nach dem Postulat der praktischen Vernunft) das Vermögen habe, endlich was ich (gemäß der Idee eines möglichen vereinigten Willens) will, es solle mein sein, das ist mein“ 522. Auch die Ersterwerbung eines bis dahin herrenlosen Gegenstandes bedarf des Akzepts durch „Vereinigung des Willens aller zu einer allgemeinen Gesetzgebung“ 523, wobei anzumerken ist, daß eine derartige Ersterwerbung bei Kant nur 515
Kant, Metaphysik der Sitten, S. 367. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 354. 517 Die Erwerbung bedarf der „Gunst des Gesetzes (lex permissiva), in Ansehung der Bestimmung der Grenzen des rechtlich-möglichen Besitzes“, Kant, Metaphysik der Sitten, S. 378. 518 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 368. 519 So auch G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 155. 520 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 375. 521 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 370. 522 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 368. 523 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 369. 516
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1. Kap.: Kants Freiheitslehre
auf den Boden im Naturzustand als anwendbar gedacht werden kann524, der allerdings in der heutigen Welt angesichts verteilter Besitzverhältnisse gerade in Bezug auf den Boden wohl keine praktische Bedeutung mehr zukommt525. Dennoch ist Kants Auffassung über die Ersterwerbung in unserer Zeit durchaus weiterführend, wenn man die Ersterwerbung nicht lediglich auf Sachen bezieht. Eine Erfindung kann nur aufgrund eines Gesetzes dem Erfinder als seine Erfindung zugeteilt werden, in Deutschland erfolgt dies durch das Patentgesetz. Ein Patent ist das gewerbliche Nutzungsrecht einer neuen Erfindung, die auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht (§ 1 Abs. 1 PatG). Das Patent hat die Wirkung, daß allein der Patentinhaber befugt ist, die patentierte Erfindung zu benutzen. Dies ist ohne seine Zustimmung Dritten verboten (§ 9 PatG). Wegen der angeborenen Freiheit als innerem Mein und Dein hat jeder Mensch einen Anspruch darauf, daß jedes Objekt seiner Willkür ihm, peremtorisch, als rechtlich-seines gesichert wird. Jede peremtorische und damit gesetzesrechtliche Sicherung als das Seine von jemandem setzt voraus, daß es in irgendeiner Weise bereits das Seine von ihm ist, im vorliegenden Fall seine Erfindung aufgrund seiner erfinderischen Tätigkeit ist. Das ist ein „provisorisch-rechtlicher Besitz“, welcher „die rechtliche Präsumtion für sich hat, ihn, durch Vereinigung mit dem Willen aller in einer öffentlichen Gesetzgebung, zu einem rechtlichen zu machen“. Damit hat jeder Mensch wegen der äußeren Freiheit als angeborenem Recht einen (Naturrechts-)Anspruch darauf, daß jedes Objekt seiner Willkür ihm durch ein allgemeines Gesetz gesichert wird526. Der Mensch hat ein provisorisches Recht auf alle denkbaren Objekte seines Begehrungsvermögens, welche ihm aber nur nach Maßgabe allgemeiner Gesetze zugeteilt und (rechtlich) gesichert werden. Allerdings, dieses provisorische Recht ermächtigt nicht zur grenzenlosen Inbesitznahme, sondern freiheitlich ist diese Erwerbung nur nach Maßgabe des kategorischen Imperativs: Die Aneignung darf nur in dem Ausmaße erfolgen, wie es in einer Gemeinschaft von Menschen als allgemein zustimmungsfähig gedacht werden kann. Grenzenlose Raff524
Kant, Metaphysik der Sitten, S. 372. Die Frage nach dem Naturzustand und der provisorischen Erwerbung hat bloß erklärenden Charakter, es ist eine Fiktion. Für Hegel existierte in diesem Zusammenhang überhaupt kein Problem: „Daß die Sache dem in der Zeit zufällig Ersten, der sie in Besitz nimmt, angehört, ist, weil ein zweiter nicht in Besitz nehmen kann, was bereits Eigentum eines anderen ist, eine sich unmittelbar verstehende, überflüssige Bestimmung“, G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 114. 526 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 366 f.; nach diesem Postulat der praktischen Vernunft kommt jedermann das Vermögen zu, „einen äußeren Gegenstand seiner Willkür als das Seine zu haben, mithin jede Inhabung ein Zustand ist, dessen Rechtmäßigkeit sich auf jedem Postulat durch einen Akt des vorhergehenden Willens gründet, und der, wenn nicht ein älterer Besitz eines anderen von ebendemselben Gegenstande dawider ist, also vorläufig, nach dem Gesetz der äußeren (sic. und damit angeborenen) Freiheit, jedermann, der mit mir nicht in den Zustand einer öffentliche gesetzlichen Freiheit treten will, von aller Anmaßung des Gebrauchs eines solchen Gegenstandes abzuhalten berechtigt, um, dem Postulat der Vernunft gemäß, eine Sache, die sonst praktisch vernichtet sein würde, seinem Gebrauch zu unterwerfen“. 525
III. Kants freiheitliche Rechts- und Staatsphilosophie
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und Habgier ist freiheitlich weder im Naturrechtszustand527 noch im bürgerlichen Zustand denkbar. Ein Objekt der Willkür, welches erworben werden kann, ist, neben Sachen, die „Leistung (Kausalität) eines anderen“ 528. Eigenes gibt es nicht nur an Sachen, sondern an allem, was dem Menschen zu eignen vermag, also auch an den Handlungen oder der Willkür der Menschen529: „Der Besitz der Willkür eines anderen, als Vermögen, sie, durch die meine, nach Freiheitsgesetzen zu einer gewissen Tat zu bestimmen, (das äußere Mein und Dein in Ansehung der Kausalität eines anderen), ist ein Recht (dergleichen ich mehrere gegen eben dieselbe Person oder gegen andere haben kann). Der Inbegriff (das System) der Gesetze aber, nach welchen ich in diesem Besitz sein kann, ist das persönliche Recht“. Wie für Sachen gilt auch für das persönliche Recht, daß es niemals ursprünglich oder eigenmächtig sein kann. Erforderlich ist ein Vertrag als „Akt der vereinigten Willkür zweier Personen, wodurch das Seine des einen auf den anderen übergeht“, also Eigentum übertragen wird. Jeder Vertrag hat zwei vorbereitende und zwei konstituierende rechtliche Akte, nämlich Angebot und Billigung, sowie Versprechen und Annehmung530. Das Leistungsversprechen eines Anderen ist als Recht eine intelligible Besitzposition, welche von den empirischen Besitzverhältnissen abstrahiert und so als ein Mein gedacht werden kann. Durch Vertrag erwirbt man nun nicht unmittelbar eine Sache, sondern eine Tat, wodurch „jene Sache in meine Gewalt gebracht wird“ 531. Erworben wird durch Übergabe des Versprochenen, „wodurch der Promissar vom Promittenten in den Besitz derselben gesetzt wird; d. i. durch Übergabe“ 532. Die vereinigte Willkür der vertragsschließenden Parteien ist zwar eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für den Abschluß und die Erfüllung von Verträgen. Hinreichende Voraussetzung dafür ist die „vereinigte Willkür aller“, also das allgemeine Gesetz. Kant begründet dieses Erfordernis damit, daß das Versprechen und die Leistung immer zeitlich auseinander fallen. Die Eigentumsübertragung erfolgt nun nicht durch „Verlassung“ oder „Verzichtung“ des zur Leistung Verpflichteten533, weil dies zu einer 527 So hatte es bereits J. J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 24, gesehen. Die erste Besitznahme eines Stück Landes ist u. a. an die Bedingung geknüpft, daß man nicht mehr in Besitz nimmt, als man zum Unterhalt benötigt und zweitens auch bewirtschaften kann. Die Bewirtschaftung durch Arbeit sei der einzige Ausweis von Eigentum, welchen alle Anderen im vorgesetzlichen Zustande zu achten hätten, zum Eigentum durch Arbeit, K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 579 ff. 528 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 370. 529 Eine Beschränkung des Eigentumsbegriffs auf geldwertes Vermögen ist demnach ohne Sinn, schon weil alle Handlungsmöglichkeiten einen Geldwert haben können, K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS W. Leisner, S. 747 ff. 530 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 382 f. 531 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 386. 532 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 387. 533 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 383.
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Ersterwerbung (eines dadurch herrenlosen Gegenstandes) des Begünstigten führen würde, was aber der Idee des Vertrages widerspräche. Erforderlich ist demnach, daß beide Parteien im Augenblick des Übergangs der geschuldeten Sache Besitzer sind. Nur das allgemeine Gesetz kann bestimmen, daß der Besitz eines Gegenstandes „während diesem Akt in keinem Augenblick unterbrochen“ ist534. Analoges gilt für den Vertragsabschluß; denn auch hier fallen Angebot und Annahme des Angebots zeitlich auseinander. Erst das allgemeine Gesetz bestimmt (genauer: fingiert), daß es sich dabei dennoch um die vereinigte Willkür der vertragsschließenden Parteien handelt535. Jeder gegenseitige Vertrag, sowohl das Erfüllungs- als auch das Verpflichtungsgeschäft, werden auf der Grundlage der allgemeinen Gesetze geschlossen. Das hat natürlich Bedeutung für den Wettbewerb, wenn man Wettbewerb als wettbewerbliches Bemühen um den Abschluß von Verträgen auf einem Markt versteht. Das Gesetz bestimmt, unter welchen Bedingungen etwa ein Unternehmen der Marktgegenseite Angebote zum Abschluß von Verträgen unterbreiten darf und unter welchen nicht, etwa nicht durch irreführende geschäftliche Handlungen (§ 5 UWG). Das Gesetz bestimmt die Maximen des Handelns und dadurch auch die zulässigen wettbewerblichen Handlungen536. Die allgemeinen Gesetze sind Voraussetzung jedes Vertragsabschlusses. Die Willkür, welche auf den Erwerb von Objekten der Willkür durch Vertrag gerichtet ist, wird nur nach Maßgabe der allgemeinen Gesetze zur freien Willkür. 5. Der bürgerliche Zustand als Voraussetzung für Recht und Eigentum Der Naturzustand ist der Zustand von Gesetzlosigkeit, und dadurch schon ein Zustand des Krieges; denn selbst ohne Ausbruch von Feindseligkeiten besteht für jeden eine fortwährende Bedrohung. Dieser Bedrohungszustand ist bei Kant bereits eine „Läsion“ durch jeden Anderen. Der Mensch wird schon durch die Gefahr „lädiert“, daß ihm das Seine durch einen Anderen genommen werden könnte537. Eigentum kann nicht Eigentum sein, solange die Privatheit des Eigenen nicht gesichert und nicht geschützt wird538. Diese Sicherheit kann der Einzelne nur im gesetzlichen Zustand erfahren. Deshalb kann ich den Anderen „nötigen, entweder mit mir in einem gemeinschaftlich-gesetzlichen Zustand zu treten, oder aus meiner Nachbarschaft zu weichen“. Im Naturzustand darf ich
534
Kant, Metaphysik der Sitten, S. 386. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 385. 536 Dazu K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 438 ff., 448 ff., 452; ders., Res publica res populi, S. 55, 383 f. 537 K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS W. Leisner, S. 751; ders., Freiheit in der Republik, S. 544 ff. 538 K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS W. Leisner, S. 754; ders., Freiheit in der Republik, S. 544 ff. 535
III. Kants freiheitliche Rechts- und Staatsphilosophie
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jeden „als meinen Feind behandeln“ 539. Dieser „juridische Naturzustand“ ist „der Zustand einer gesetzlosen äußeren (brutalen) Freiheit und Unabhängigkeit von Zwangsgesetzen“, „ein Zustand der Ungerechtigkeit und des Krieges von jedermann gegen jedermann (. . .), aus welchem der Mensch herausgehen soll, um in einen politischbürgerlichen zu treten“. Dies ist keine Pflicht von Menschen gegen Menschen, sondern eine des „menschlichen Geschlechts gegen sich selbst“ 540. Nach diesem menschheitlichen Recht auf Sicherheit hat jeder Mensch einen Anspruch auf die Sicherheit gewährleistende allgemeine Gesetzlichkeit und damit auf Staatlichkeit, wodurch, allgemein gesprochen, die Möglichkeiten des Handelns und des Lebens, des Eigenen also, gesichert werden. Es besteht ein (menschheitliches) Recht auf (Gesetzes-)Recht, weil sich sonst niemand in seiner Freiheit sicher sein kann541. Voraussetzung allen positiven Rechts und damit der äußeren Freiheit ist der bürgerliche Zustand542, die Republik. „Der bürgerliche Zustand, bloß als rechtlicher Zustand betrachtet, ist auf folgende Prinzipien a priori gegründet: 1. Die Freiheit jedes Gliedes der Sozietät, als Menschen. 2. Die Gleichheit desselben mit jedem anderen, als Untertan. 3. Die Selbständigkeit jedes Gliedes eines gemeinen Wesens, als Bürger“. Die Freiheit als Mensch ist die Leitidee des Gemeinwesens schlechthin und besteht in dem allgemeinen Recht zur freien Willkür für alle: „ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit anderer, einem ähnlichen Zwecke nachzustreben, die mit der Freiheit von jedermann nach einem möglichen, allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann, (d. i. diesem Rechte der anderen) nicht Abbruch tut“. Der bürgerliche Zustand ist unvereinbar mit jeder Form von Herrschaft, auch mit der des Weisen Diktators bei Platon543. Die (denknotwendige) Gleichheit in der Freiheit führt zur Zwangsbefugnis durch das Recht544; denn „Recht ist mit der Befugnis zu zwingen verbunden“ 545. 539
Kant, Zum ewigen Frieden, S. 203 und Anmerkung. Kant, Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, S. 755 f. 541 K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS W. Leisner, S. 752 f. 542 In ähnlicher Weise auch Hegel, für den das Recht an sich der allgemeine Wille ist, G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 173. 543 „Eine Regierung, die auf dem Prinzip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre, d. i. eine väterliche Regierung (imperium paternale), wo also die Untertanen als unmündige Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaftig nützlich oder schädlich ist, sich bloß passiv zu verhalten genötigt sind, um, wie sie glücklich sein sollen, bloß von dem Urteile des Staatsoberhaupts, und, daß dieser es auch wolle, bloß von seiner Gütigkeit zu erwarten: ist der größte denkbare Despotismus (Verfassung, die alle Freiheit der Untertanen, die alsdann keine Rechte haben, aufhebt)“, Kant, Über den Gemeinspruch, S. 145 f.; so auch H. Arendt, Was ist Politik?, S. 41; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 54 ff., 83 ff., 349. 544 Dazu W. Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, HVerfR, S. 454; J. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 45 ff.; F. Kaulbach, Immanuel Kants „Grundlegung 540
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1. Kap.: Kants Freiheitslehre
Das Recht zur freien Willkür, nach eigenen Vorstellungen sein Glück zu suchen, ist kein Recht zur Beliebigkeit der Willkür, sondern nur zu einer eingeschränkten. Die Bürger müssen sich in einem Zustand „der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung einer dem allgemeinen Freiheitsgesetze gemäß einander einschränkenden Willkür (welcher der bürgerliche Zustand heißt) befinden: so ist das angeborene Recht eines jeden in diesem Zustande (d. i. vor aller rechtliche Tat desselben) in Ansehung der Befugnis, jeden andern zu zwingen, damit er immer innerhalb der Grenzen der Einstimmung des Gebrauchs seiner Freiheit mit der meinigen bleibe, durchgängig gleich“. Das ist mit dem Recht identisch; denn „Recht und Befugnis zu zwingen bedeuten also einerlei“ 546. Der Zwang, Recht und Gesetz einzuhalten, ist eine „Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit“ 547. Rousseau sieht darin einen Zwang zur Freiheit548. Aus der Gleichheit in der Freiheit folgt, daß es keine Privilegien als Geburtsrechte oder angeborene Standesunterschiede geben darf 549. Der bürgerliche Zustand ist nicht nur für die logische, sondern auch für die empirisch-praktische Möglichkeit, die Voraussetzung, nicht nur ein Objekt der Willkür als das Seine zu denken, sondern auch etwas Äußeres als das Seine zu haben. Ein Objekt der Willkür als das Seine zu haben, bedeutet eine Verbindlichkeit für alle anderen, sich des Gebrauchs zu enthalten. Diese Verbindlichkeit setzt die allseitige „Reziprozität der Verbindlichkeit aus einer allgemeinen Regel“ voraus550. Weil aber Recht mit der Befugnis zu zwingen verbunden ist, der einzelne aber nicht rechtlos durch Gewaltanwendung und damit freiheitswidrig zwingen darf 551, folgt, daß „nur ein jeden anderen verbindender, mithin kollektiv-allgemeiner (gemeinsamer) und machthabender Wille derjenige (ist), welcher jeder-
zur Metaphysik der Sitten“, S. 209 f.; W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 29 ff.; dazu auch K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 203 ff.; ders., Res publica res populi, S. 553 ff. 545 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 338, 464; ders., Über den Gemeinspruch, S. 144, 169. 546 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 340. 547 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 338. 548 J. J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 21. 549 Kant, Über den Gemeinspruch, S. 148; ders., Zum ewigen Frieden, S. 205 Anmerkung; so bereits J. J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 40 f. 550 „Ich bin also nicht verbunden, das äußere Seine des anderen unangetastet zu lassen, wenn mich nicht jeder andere dagegen auch sicher stellt, er werde in Ansehung des meinigen sich nach ebendemselben Prinzip verhalten“, Kant, Metaphysik der Sitten, S. 365. 551 Der einzelne Mensch darf persönlich Gewalt ausüben, wenn und soweit das allgemeine Gesetz dies zuläßt, etwa bei Notwehr (§ 227 BGB, § 32 StGB). Der Terminus vom Gewaltmonopol des Staates ist daher irreführend, dazu K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 119 ff.
III. Kants freiheitliche Rechts- und Staatsphilosophie
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mann jene Sicherheit leisten kann“ 552. Im bürgerlichen Zustand553, in der Republik obliegt die höchste Zwangsgewalt dem Staate554. Die grundsätzliche logische Möglichkeit und Notwendigkeit des Mein und Dein und die daraus abgeleitete Erforderlichkeit des bürgerlichen Zustandes im Hinblick auf die praktische Möglichkeit des Mein und Dein, führt zur Befugnis eines jeden einzelnen, jeden anderen zu nötigen, mit ihm zusammen in eine bürgerliche Verfassung einzutreten555. Grundsätzlich übernimmt damit der Staat, die Republik als Verwirklichung des bürgerlichen Zustandes, die Garantie des Seinen556, und zwar dort, wo das Besitzrecht als unmittelbares Gebrauchsrecht wegen der bloß physischen Sachherrschaft endet557. (Rechtliches) Eigentum und (Rechts-)Staat stehen also in einer wechselseitigen Voraussetzung558. 6. Die Vernunftidee des ursprünglichen Vertrags als Begründung des Staates Im Naturzustand existiert lediglich provisorisches Recht. Damit ist der Naturzustand ein Kriegszustand, weil das Mein und Dein nicht gesichert ist und der Streit darüber auch mit Privatgewalt ausgetragen wird. Erst im bürgerlichen Zustand wird das Mein und Dein rechtlich gesichert: die Menschen verzichten auf Ausübung der Privatgewalt zum Be- und Erhalt ihres Eigenen, schließen sich zu einer Gemeinschaft zusammen, regeln das Mein und Dein durch allgemeine Rechtsgesetze und lassen das ihre durch staatliche Institutionen, im Streitfall durch Ausübung von Staatsgewalt, sichern. Dadurch wird Freiheit in Frieden möglich559. Die Menschen konstituieren sich durch einen allseitigen Vertrag, 552
Kant, Metaphysik der Sitten, S. 365 f. „Der Zustand aber unter einer allgemeinen äußeren (d. i. öffentlichen) mit Macht begleiteten Gesetzgebung ist der bürgerliche. Also kann es nur im bürgerlichen Zustand ein äußeres Mein und Dein geben, Kant, Metaphysik der Sitten, S. 365. 554 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 194 ff. 555 „Wenn es rechtlich möglich sein muß, einen äußeren Gegenstand als das Seine zu haben: so muß es auch dem Subjekt erlaubt sein, jeden anderen, mit dem es zum Streit des Mein und Dein über ein solches Objekt kommt, zu nötigen, mit ihm zusammen in eine bürgerliche Verfassung zu treten“, Kant, Metaphysik der Sitten, S. 366; dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 141 ff. 556 „Alle Garantie setzt also das Seine von jemandem (dem es gesichert wird) schon voraus. Mithin muß vor der bürgerlichen Verfassung (oder von ihr abgesehen) ein äußeres Mein und Dein als möglich angenommen werden, und zugleich ein Recht, jedermann, mit dem wir irgend auf eine Art in Verkehr kommen könnten, zu nötigen, mit uns in einer Verfassung zusammen zu treten, worin jenes gesichert werden kann“, Kant, Metaphysik der Sitten, S. 366; dazu auch O. Höffe, Ethik und Politik, S. 307. 557 H. Cohen, Kants Begründung der Ethik, S. 422. 558 Historisch gesehen begründet die französische Revolution die „Erwerbsgesellschaft“, E.-W. Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, S. 216; dazu auch W. Kersting, Recht, Gerechtigkeit und demokratische Tugend, S. 70. 559 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 141 ff. 553
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1. Kap.: Kants Freiheitslehre
welchen jeder mit jedem und damit alle mit allen abschließen, zur bürgerlichen Gemeinschaft, zum Staat. Der Staat ist eine „Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“ 560. Kants Staat kann folglich nur als Rechtsstaat begriffen werden561, Rechtlichkeit ist der Zweck des Staates562. Diese Vereinigung zum Staat erfolgt durch den allgemeinen Volkswillen, „in einem ursprünglichen Vertrag (der doch das Prinzip aller Rechte ist)“ 563. Dieser ursprüngliche Vertrag ist allerdings nur eine Idee der Vernunft. Ursprünglich bedeutet nicht uranfänglich und bezieht sich nicht auf den Akt eines historisch tatsächlich vorgenommenen Vertragsschluß, sondern verweist auf eine rechtsmetaphysische Begründung564: die Menschen haben sich der Idee nach durch einen allseitigen Vertrag zu einem Staat zusammengeschlossen. Kant abstrahiert mit dieser Vertragsidee von allen empirischen und geschichtlichen Umständen der Staatsgründung, schon weil die Staatsgründungen in der Vergangenheit ohnehin größtenteils auf Gewalt und Macht beruhten. Außerdem könnte ein tatsächlich stattgefundener Vertragsschluß für die nachfolgenden Generationen kein freiheitlicher Geltungsgrund einer Staatsgründung darstellen: jeder wird in eine bereits existierende Rechtsgemeinschaft hinein geboren. Jedenfalls fehlt eine (empirisch und geschichtlich tatsächlich erfolgte) Legitimation eines Verfassungsgesetzes oder anderer in Kraft befindlicher allgemeiner Gesetze durch die nachfolgenden Generationen, aber auch durch unmündige Kinder oder andere nicht wahlberechtigter Personen565. Kant schreibt: „Hier ist nun ein ursprünglicher Kontrakt, auf den allein eine bürgerliche, mithin durchgängig rechtliche Verfassung unter Menschen gegründet und ein gemeines Wesen errichtet werden kann. – Allein dieser Vertrag (contractus originarius oder pactum sociale genannt), als Koalition jedes besonderen und Privatwillens in einem Volk zu einem gemeinschaftlichen und öffentlichen Willen (zum Behuf einer bloß rechtlichen Gesetzgebung) ist keineswegs als ein Faktum vorauszusetzen nötig (ja als ein solches gar nicht möglich); gleichsam als ob allererst aus der Geschichte vorher bewiesen werden müßte, daß ein Volk, in dessen Rechte und Verbindlichkeiten wir als Nachkommen getreten sind, einmal wirklich einen solchen Actus verrichtet, und eine sichere Nachricht oder ein Instrument davon uns, mündlich oder schriftlich, hinterlassen haben müsse, um sich an eine schon bestehende bürgerliche Verfassung für gebunden zu achten. Sondern es ist eine bloße Idee der Vernunft, die aber ihre unbezweifelbare (praktische) Realität hat: nämlich jeden Ge560
Kant, Metaphysik der Sitten, S. 431. W. Kersting, Kant über Recht, S. 134. 562 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 575; ders., Freiheit in der Republik, S. 141 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 20. 563 Kant, Zum ewigen Frieden, S. 205, Anmerkung. 564 W. Kersting, Kant über Recht, S. 115 ff. 565 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 52, die Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Handlung bleibt also notwendig abstrakt. 561
III. Kants freiheitliche Rechts- und Staatsphilosophie
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setzgeber zu verbinden, daß er seine Gesetze so gebe, als sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volks habe entspringen können, und jeden Untertan, so fern er Bürger sein will, so anzusehen, als ob er zu einem solchen Willen mit zusammen gestimmt habe. Denn das ist der Probierstein der Rechtmäßigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes. Ist nämlich dieses so beschaffen, daß ein ganzes Volk unmöglich dazu seine Einstimmung geben könnte (wie z. B. daß eine gewisse Klasse von Untertanen erblich den Vorzug des Herrenstandes haben sollten), so ist es nicht gerecht; ist es aber nur möglich, daß ein Volk dazu zusammen stimme, so ist es Pflicht, das Gesetz für gerecht zu halten“ 566. Der ursprüngliche Vertrag ist keine Gründungs- sondern eine „Vernunfturkunde“ 567, er ist das Prinzip der öffentlichen distributiven Gerechtigkeit, weil er die Bestimmung der Rechtmäßigkeit der positiven Gesetze ermöglicht568. Der ursprüngliche Vertrag ist außerdem die Fiktion, daß jeder, der Bürger sein will und damit auch ein Vertreter der nachfolgenden Generationen, den Gesetzen, auch einem möglichen Verfassungsgesetz, zugestimmt hat. Jeder Mensch hat aufgrund des angeborenen Menschenrechts der Freiheit einen Anspruch auf „gesetzliche Freiheit, keinem Gesetz zu gehorchen, als zu welchem er seine Beistimmung gegeben hat“ 569 und damit einen Anspruch auf eine rechtssichernde Republik570. Adressiert ist dieser Anspruch an den Gesetzgeber, wer immer im Staatswesen dies auch sein mag: selbst ein Souverän von Gottes Gnaden kann das Gedankenexperiment durchführen, ob das von ihm zu gebende Gesetz auch von seinen Untertanen gegeben sein könnte. Ist dies nicht denkbar, so ist das Gesetz ungerecht. Damit kann in jedem historisch vorgefunden Staatswesen zu jeder Zeit mit der Verwirklichung der Freiheit der Menschen durch gerechte Gesetze begonnen werden. Gleichzeitig kann die Idee des ursprünglichen Vertrages als Richtschnur für die Staatsorganisation dienen: jeder geschichtliche Staat, gleichgültig wie er entstanden sein mag, ist aufgefordert, sich so zu organisieren, als ob seine Organisation dem gemeinschaftlichen Willen einer vertraglich entstandenen Vereinigung entstammen würde571. Die Menschen haben ein Recht auf Recht572 und damit untrennbar verbunden ein Recht auf den (Rechts-) Staat573. 566
Kant, Über den Gemeinspruch, S. 153. W. Kersting, Kant über Recht, S. 116. 568 W. Kersting, Kant über Recht, S. 116 f., sieht im ursprünglichen Vertrag ein Analogon zum kategorischen Imperativ: „Wie der kategorische Imperativ als Moralprinzip die Gesetzmäßigkeit der Maximen zu beurteilen gestattet, so vermag der ursprüngliche Kontrakt als Prinzip der öffentlichen Gerechtigkeit die Rechtmäßigkeit positiver Gesetze zu bestimmen.“ 569 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 432. 570 W. Kersting, Kant über Recht, S. 142. 571 W. Kersting, Kant über Recht, S. 116. 572 K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 52 ff.; ders., Res publica res populi, S. 290 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 52 ff. 567
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Diesen Anspruch auf den Rechtsstaat dürfen die Untertanen allerdings nicht durch Gewalt und Widerstand gegen die Staatsführung durchsetzen. Kant lehnt jedes Widerstandsrecht der Untertanen ab und ist erklärter Gegner der Revolution. Revolution beseitigt die existierende staatliche Ordnung und führt zur Anarchie. Für Kant dagegen ist jede Ordnung, auch die eines rechtswidrig eingerichteten Staates besser als keine574; denn Anarchie ist ein Rückfall in den Naturzustand und damit in den Zustand des Krieges aller gegen alle, aus dem die Menschen herauszutreten aber die Pflicht haben. Daraus leitet Kant die Gehorsamspflicht der Untertanen ab575. Revolution ist rechtlos, weil ein „öffentliches Gesetz“ dazu fehlt576. Außerdem müsste im „Streit zwischen Volk und Souverän“ das strittige Recht erst einmal geklärt sein, was aber einen Richter erfordern würde. Keinesfalls darf sich das Volk zum Richter „in seiner eigenen Sache“ machen577. Die Entwicklung zum Rechtsstaat ist durch Reformen des Souveräns zu bewirken578: die Annäherung an das „Ideal des öffentlichen Rechts“ ist eine Frage der „Staatsweisheit“ 579 und damit der Vernunft. 7. Kants Idee der Republik als Staat der Vernunft Die Rechtlichkeit ist die Wirklichkeit der Freiheit, weil nur die Gesetze, wenn sie rechtens sind, der republikanischen Idee nach die Allgemeinheit der Freiheit verwirklichen können580. Kant spricht von der Freiheit als Autonomie der rein praktischen Vernunft. Das ist die Fähigkeit zur eigenen Gesetzgebung581, Freiheit ist (Selbst-)Gesetzgebung582. Das bezieht sich sowohl auf die individuelle Maximenbestimmung als auch auf die juridische Gesetzgebung, weil der Mensch als Zweck an sich selbst in der Gemeinschaft mit anderen, im Reich der Zwecke lebt: er muß als Bürger (Mit-)Gesetzgeber im Staat sein. Er ist „Oberhaupt“ im Reich der Zwecke, welches die Gesetze gibt, und gleichzeitig Untertan, weil er sie zu befolgen hat. Der einzelne Mensch ist frei, wenn er Gesetzen gehorcht, 573 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 447 f.; ders., Freiheit in der Republik, S. 52 ff.; W. Kersting, Kant über Recht, S. 112. 574 Kant, Zum ewigen Frieden, S. 230, Anmerkung. 575 Dazu W. Kersting, Kant über Recht, S. 143. 576 Der Frage, wie Art. 20 Abs. 4 GG in diesem Zusammenhang zu bewerten ist, soll hier nicht nachgegangen werden. Er lautet: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ 577 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 440. 578 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 441. 579 Kant, Zum ewigen Frieden, S. 234, Anmerkung. 580 Dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 49 ff. 581 Und die Unabhängigkeit von sinnlich-empirischen Antriebsmomenten, Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 144. 582 Freiheit und die eigene Gesetzgebung des Willens sind Wechselbegriffe, Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 86.
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welche er selbst mitgegeben hat. Das entspricht seiner Menschenwürde583 als „Idee der Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetze gehorcht, als dem, das es zugleich selbst gibt“ 584. Damit ist die Gesetzgebung im Staat zentraler Ansatzpunkt, an dem die Freiheit seiner Bürger festzumachen ist585. Jeder Staat soll ein Rechtsstaat sein, in dem die Bürgerschaft sich selbst die Gesetze gibt. Dieses Vermögen zur Gesetzgebung ist, „daß der Wille durch seine Maxime sich selbst zugleich als allgemein gesetzgebend betrachten könne“. a) Die Würde des Menschen im Staat als Reich der Zwecke Die menschliche Gemeinschaft soll ein Reich der Zwecke sein586; denn „der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an sich selbst“ 587. Daraus folgt, daß der Mensch, „dessen Dasein an sich selbst einen absoluten Wert hat, was, als Zweck an sich selbst, ein Grund bestimmter Gesetze sein könnte, so würde in ihm, und nur in ihm allein, der Grund eines möglichen kategorischen Imperativs, d. i. praktischen Gesetzes, liegen“ 588. Nur die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen kann ein objektiver Zweck, ein absoluter Wert589 sein, und als dieser Grund des praktischen Gesetzes erst ist der Mensch Person590. Die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen ist der transzendentalphilosophisch letzte Grund für jede Möglichkeit eines praktischen Gesetzes, und damit auch der Grund- und Menschenrechte. Freiheitliche Grundrechte sind kategorische Grundrechte591. Zum Begriff der Würde macht Kant folgende definitorischen Bemerkungen: „Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde. Was sich auf die allgemeinen menschlichen Neigungen und Bedürfnisse bezieht, hat einen Marktpreis; das, was auch ohne ein Bedürfnis vorauszusetzen, einem gewissen Geschmacke, d. i. einem Wohlgefallen am blo583
K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 57 ff. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 67. 585 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 57 ff. 586 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 41, 67, 81 ff., 86, 95, 284. 587 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 59. 588 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 59. 589 Zwecke, „die sich ein vernünftiges Wesen als Wirkung seiner Handlung nach Belieben vorsetzt (materiale Zwecke), sind insgesamt nur relativ; denn nur bloß ihr Verhältnis auf ein besonders geartetes Begehrungsvermögen des Subjekts gibt ihnen den Wert, der daher keine allgemeine für alle vernünftigen Wesen, und auch nicht für jedes Wollen gültige und notwendige Prinzipien, d. i. praktische Gesetze, an die Hand geben kann“, Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 59. 590 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 60. 591 W. Kersting, Kritik der Gleichheit, S. 29. 584
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ßen zwecklosen Spiel unserer Gemütskräfte, gemäß ist, einen Affektionspreis; das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Wert, d. i. einen Preis, sondern einen inneren Wert, d. i. Würde. Nun ist Moralität die Bedingung, unter der allein ein vernünftiges Wesen Zweck an sich selbst sein kann“ 592. Der Kern der Menschenwürde ist der Mensch als Zweck an sich selbst593, und Moralität ist die Bedingung, unter welcher der Mensch Würde hat, „daß also die Menschheit in unserer Person uns selbst heilig sein müsse“ 594. Der einzelne Mensch sei zwar durchaus unheilig genug, „aber die Menschheit in seiner Person muß ihm heilig sein. (. . .) Er ist nämlich das Subjekt des moralischen Gesetzes, welches heilig ist, vermöge der Autonomie seines Willens“. Deshalb kann Kant schreiben: „Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur“ 595. Das moralische Gesetz ist selbst heilig, d.h. unverletzlich596. Die Heiligkeit der Menschheit führt logisch zur grundsätzlichen Unverletzlichkeit der Freiheit als Autonomie des Willens, und diese Freiheit ist das „einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht“ 597. Das Recht auf Selbstgesetzgebung, die politische Freiheit, ist das allgemeinste Freiheitsrecht, das allgemeinste Menschen- und Grundrecht598. Daraus resultiert dann die bereits oben zitierte „Idee der Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetze gehorcht, als dem, das es zugleich selbst gibt“ 599. Zur Würde des Menschen zählt aber auch seine Endzweckhaftigkeit. „Endzweck ist derjenige Zweck, der keines andern als Bedingung seiner Möglichkeit bedarf“ 600. Der Mensch kann sich als Noumenon außerhalb der Naturkausalität denken, durch seine Kausalität aus Freiheit kann er sich grundsätzlich sein Ver-
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Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 68. W. Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, HVerfR, S. 200. 594 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 263. 595 Kant, Grundlegung der Metaphysik der Sitten, S. 69. 596 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 210. 597 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 345. 598 R. Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs, S. 153. 599 Ein Reich der Zwecke ist „die systematische Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze. Es gehört aber ein vernünftiges Wesen als Glied zum Reiche der Zwecke, wenn es darin zwar allgemein gesetzgebend, aber auch diesen Gesetzen selbst unterworfen ist. Es gehört dazu als Oberhaupt, wenn es als gesetzgebend keinem Willen eines anderen unterworfen ist. Das vernünftige Wesen muß sich jederzeit als gesetzgebend in einem durch Freiheit des Willens möglichen Reiche der Zwecke betrachten, es mag nun sein als Glied, oder als Oberhaupt. Den Platz des letzteren kann es aber nicht bloß durch die Maxime seines Willens, sondern nur alsdann, wenn es ein völlig unabhängiges Wesen, ohne Bedürfnisse und Einschränkungen seines dem Willen adäquaten Vermögens ist, behaupten“, Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 66 f. 600 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 393. 593
III. Kants freiheitliche Rechts- und Staatsphilosophie
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mögen denken, die Natur zu unterwerfen und seine Umwelt zu gestalten. „Ein Ding aber, was notwendig seiner objektiven Beschaffenheit wegen, als Endzweck einer verständigen Ursache existieren soll, muß von der Art sein, daß es in der Ordnung der Zwecke von keiner anderweitigen Bedingung, als bloß seiner Idee, abhängig ist. Nun haben wir nur eine einzige Art Wesen in der Welt, deren Kausalität teleologisch, d. i. auf Zwecke gerichtet und doch zugleich so beschaffen ist, daß das Gesetz, nach welchem sie sich Zwecke zu bestimmen haben (sic. nämlich die Gesetze der menschlichen Erkenntnis), von ihnen selbst als unbedingt und von Naturbedingungen unabhängig, an sich aber als notwendig, vorgestellt wird. Das Wesen dieser Art ist der Mensch, aber als Noumenon betrachtet; das einzige Naturwesen, an welchem wir doch ein übersinnliches Vermögen (die Freiheit) und sogar das Gesetz der Kausalität, samt dem Objekte derselben, welches es sich als höchsten Zweck vorsetzen kann (das höchste Gut in der Welt) von Seiten seiner eigenen Beschaffenheit erkennen können. Von dem Menschen nun (und so jedem vernünftigen Wesen in der Welt), als einem moralischen Wesen, kann nicht weiter gefragt werden: wozu (quem in finem) er existiere. Sein Dasein hat den höchsten Zweck selbst in sich, dem, so viel er vermag, er die ganze Natur unterwerfen kann, wenigstens welchem zuwider er sich keinem Einflusse der Natur unterworfen halten darf. – Wenn nun Dinge der Welt, als ihrer Existenz nach abhängige Wesen, einer nach Zwecken handelnden obersten Ursache bedürfen, so ist der Mensch der Schöpfung Endzweck; denn ohne diesen wäre die Kette der einander untergeordneten Zwecke nicht vollständig gegründet; und nur im Menschen ist die unbedingte Gesetzgebung in Ansehung der Zwecke anzutreffen, welche ihn also allein fähig macht, ein Endzweck zu sein, dem die ganze Natur teleologisch untergeordnet ist“ 601. Kant beweist hier die Notwendigkeit, daß sich der Mensch als Endzweck zu denken hat, schon deshalb, weil er kraft der Gesetzmäßigkeit seines Erkenntnisvermögens schlechterdings Urheber der Naturkausalität ist. Als Endzweck ist der Mensch unbedingt. Aber, als Urheber der Gesetze schlechthin, damit auch der Naturgesetze, und im Bewußtsein seiner Freiheit muß der Mensch als Endzweck zwingend Subjekt der Sittlichkeit sein. Als solches ist er Zweck an sich selbst602. Insgesamt umfaßt damit die Würde des Menschen zum einen seine unbedingte Endzweckhaftigkeit und zum zweiten seine Selbstzweckhaftigkeit in der menschlichen Gemeinschaft als Reich der Zwecke. Für beides, also für die End- und Selbstzweckhaftigkeit, ist die Sittlichkeit die entscheidende Bedingung, nämlich aus Erkenntnisgründen für die Endzweckhaftigkeit und aus Gründen der Gemeinschaftlichkeit des Lebens für die Selbstzweckhaftigkeit. Die Menschenwürde als Selbst- und Endzweckhaftigkeit des Menschen kommt nach den Ausführungen Kants nur dem Menschen als moralischem Wesen zu. 601 602
Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 394 f. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 210.
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Das Reich der Zwecke ist die Umschreibung der Gemeinschaftlichkeit a priori der menschlichen Existenz, wie Martin Heidegger es gesehen hatte603. Die Würde des Menschen ist ein innerer Wert, der zwar absolut und objektiv ist, der aber empirisch, besser material nicht erfaßt werden kann; denn dadurch würde die Würde zu einem Preis relativiert. Kant spricht denn auch von der „Idee der Würde“, die Menschenwürde ist ein Noumenon! Es ist demnach nur die Bedingung angebbar, unter der die Idee der Würde widerspruchsfrei gedacht werden kann, und dies ist die Befähigung des Menschen zur Sittlichkeit, weil eben nur sie die Selbst- und Endzweckhaftigkeit des Menschen und die Gemeinschaft der Menschen als Reich der Zwecke denkbar macht. Insofern ist es völlig richtig, wenn Ernst Benda die Würde des Menschen als einen sittlichen Wert qualifiziert604. Das Reich der Zwecke als „systematische Verbindung vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche objektive Gesetze“ 605 ist der Staat als „die Gemeinschaft der Glieder eines gemeinen Wesens nach Regeln des Rechts“, ein „System, welches Staat heißt“ 606. Damit ist die Sittlichkeit auch die denknotwendige Bedingung für den (Rechts-)Staat selbst. Die Würde des Menschen als moralische Person ist seine Endzweckhaftigkeit der Schöpfung und seine Selbstzweckhaftigkeit in der menschlichen Gemeinschaft, im Reich der Zwecke, in der Republik. Und „Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur“ 607, seine Freiheit demnach. Und diese wiederum ist ein angeborenes Recht, kraft der Heiligkeit der Menschheit in seiner Person. Diese Freiheit als Autonomie ist, weil sie schon aus Erkenntnisgründen moralisch begründet ist, heilig, also unverletzlich. Aus der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen heraus, leitet sich die politische Freiheit des Menschen als Bürger ab, weil rechtlich die Freiheit u. a. so definiert ist, daß der Mensch keinen äußeren Gesetzen gehorchen solle, zu denen er nicht seine „Zustimmung habe geben können“. Damit muß die bürgerliche Verfassung im Staate eine republikanische sein608. Der Mensch muß als Bürger Mitgesetzgeber im Reich der Zwecke sein. Aus der Endzweckhaftigkeit des Menschen leitet Kant die Glückseligkeit als ein davon abgeleiteter Zweck ab: „daß die Glückseligkeit nur bedingter Zweck, der Mensch also, nur als moralisches Wesen, Endzweck der Schöpfung sein könne; was aber seinen Zustand betrifft, Glückseligkeit nur als Folge, nach Maßgabe der Übereinstimmung mit jenem Zweck, als
603
M. Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, S. 200. E. Benda, Menschenwürde und Persönlichkeitsrecht, HVerfR, S. 164; von der Menschenwürde als sittlichen Eigenwert spricht auch G. Dürig, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 1, Rdn. 1. 605 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 66. 606 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 431. 607 Kant, Grundlegung der Metaphysik der Sitten, S. 69. 608 Kant, Zum ewigen Frieden, S. 204. 604
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dem Zweck seines Daseins, in Verbindung stehe“ 609. Die Glückseligkeit ist demnach eine Folge, und zwar durchaus notwendige Folge der Endzweckhaftigkeit des Menschen, weil diese nur noumenal begriffen werden kann, jene aber den empirischen, sozusagen phänomenalen Zustand des Menschen betrifft. Damit leitet sich teleologisch das Recht zur freien Willkür aus der Menschenwürde als Endzweckhaftigkeit des Menschen ab. Die Menschenwürde ist die Freiheit des Menschen als moralische Person. Dies bedeutet im Reich der Zwecke nun zweierlei: zum einen, daß der einzelne Mensch als Bürger Mitgesetzgeber im Staate sein muß, und zum zweiten, daß er ein Recht zur freien Willkür hat, sein eigenes Glück zu suchen und zu befördern. b) Kants Unterscheidung zwischen republikanischer und demokratischer Verfassung Kant unterscheidet grundsätzlich zwischen einer republikanischen und einer demokratischen Verfassung. Es sind zwei Kriterien, nach denen die Staatsformen von einander abzugrenzen sind. Das erste Kriterium ist die Frage nach dem Personenkreis, der die „oberste Staatsgewalt“ innehat, und das zweite, wie der Staat von seiner Staatsgewalt Gebrauch macht, also die Frage nach der Regierungsform. Das erstgenannte Kriterium zielt auf die Begründung von Staatsgewalt: dies können eine Person, mehrere Personen oder alle Personen zusammen, die bürgerliche Gesellschaft, sein. Dementsprechend spricht Kant von der Fürstengewalt als Autokratie (eine Person), der Adelsgewalt als Aristokratie (mehrere Personen) und der Volksgewalt als Demokratie (alle zusammen als bürgerliche Gesellschaft)610. Das zweite Kriterium betrifft die Form der Regierung, und diese ist entweder republikanisch oder despotisch: „Der Republikanism ist das Staatsprinzip der Absonderung der ausführenden Gewalt (der Regierung) von der Gesetzgebung; aller Despotism ist das der eigenmächtigen Vollziehung des Staates von Gesetzen, die er selbst gegeben hat, mithin der öffentliche Wille, sofern er von dem Regenten als sein Privatwille gehandhabt wird“ 611. In der Demokratie als Staatsform werden die Herrscher gewählt, sie „ist notwendig ein Despotism, weil sie eine exekutive Gewalt gründet“, und zwar durch Beschluß der Mehrheit, „welches ein Widerspruch des allgemeinen Willens mit sich selbst und mit der Freiheit ist“, weil dabei die Minderheit nicht berücksichtigt wird612. Die demokratische wie alle nicht repräsentativen Regierungsformen, bei der der oder die Herrscher gewählt werden, „ist eigentlich eine Unform, weil der Gesetzgeber in einer und derselben Person zugleich Vollstrecker seines Willens (. . .) sein 609
Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 395, Anmerkung. So bereits J. J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 71. 611 Kant, Zum ewigen Frieden, S. 206 f. 612 Gegen diese Art der Demokratie bereits J. J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 72 f. 610
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kann“ 613. Wichtig ist hier die Formulierung „sein kann“: auch die bloße Möglichkeit, daß der Gesetzgeber in einer und derselben Person zugleich Vollstrecker sein könnte bzw. der Vollstrecker die Gesetze geben könnte, ist für Kant bereits despotisch. Republikanisch ist nur die strikte Trennung der Legislative von der Exekutive und die größtmögliche repräsentative Beteiligung der Bürger an der Gesetzgebung614. Die Frage nach der Staatsform spielt für den Bürger eine eher untergeordnete Rolle615, weitaus wichtiger ist die Frage nach der Regierungsform, d.h. das Ausmaß der Beteiligung der Bürger an der Gesetzgebung. Erst durch bestmögliche Repräsentation der Bürger am Gesetzgebungsprozeß ist eine vollkommen rechtliche Verfassung möglich616. Kant bringt hier zum Ausdruck, daß eine Regierungsform, die nach „Rechtsbegriffen“, also nach Recht und Gesetz möglich sein soll, nur dann rechtmäßig sein kann, wenn sie republikanisch, also die Legislative von der Exekutive strikt getrennt ist. In der republikanischen Regierungsform erst geht die Forderung nach dem verwirklichten bürgerlichen Zustand auf, weil nur darin wegen der lex permissiva der rein praktischen Vernunft Recht überhaupt erst denkbar ist. So ist das auch grundsätzlich im Grundgesetz verfaßt617. Jede andere Regierungsform als die repräsentative kann dem Erfordernis der Rechtmäßigkeit schon aus Erkenntnisgründen zum Rechtsbegriff nicht gerecht werden, und ist schon begrifflich als despotisch einzustufen618. Der 613 Ähnlich bei Rousseau: „Wenn der Souverän als solcher auch gleichzeitig exekutive Gewalt hätte, würden das Recht und seine Anwendung dermaßen vermengt, daß man nicht mehr wüßte, was Gesetz ist und was nicht, und die so entartete politische Körperschaft wäre alsdann ein Opfer jener Gewalt, gegen die sie eingerichtet worden war“, J. J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 106. 614 Außerdem gibt Kant seiner Skepsis Ausdruck, daß die demokratische Regierungsform überhaupt funktionieren kann, „weil alles da Herr sein will. Man kann also sagen: je kleiner das Personale der Staatsgewalt (die Zahl der Herrscher) je größer dagegen die Repräsentation derselben, desto mehr stimmt die Staatsverfassung zur Möglichkeit des Republikanism“, Kant, Zum ewigen Frieden, S. 207. Auch Rousseau hatte bemerkt, daß „die Erfüllung der Staatsgeschäfte umso schwerfälliger werde, je mehr Leute damit betraut sind“, J. J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 69. 615 Für Kant ist auch die Monarchie durchaus mit einer dem repräsentativen System gemäßen Regierungsart vereinbar. Dies galt für ihn insbesondere für die Regierung unter Friedrich II. von Preußen, der sich selbst als erster Diener im Staate verstand, Kant, Zum ewigen Frieden, S. 207. 616 „Zu einer jeden Regierungsart, wenn sich einem Rechtsbegriffe gemäß sein soll, gehört das repräsentative System, in welchem allein eine republikanische Regierungsart möglich“ ist, Kant, Zum ewigen Frieden, S. 208. 617 Die grundgesetzlich verfaßte Rechtsstaatlichkeit Deutschlands besteht dogmatisch auf den „beiden großen Grundpfeilern der Menschenrechte (Art. 1) als dem subjektiv-rechtlichen und der gewaltenteilenden Verfassungsstaatlichkeit (Art. 20) als dem objektiv-rechtlichen Element“. Also ist auch unter dem Grundgesetz die republikanische Gewaltenteilung neben den Menschenrechten die Basisbedingung für jede Staatlichkeit aus Recht, also Rechtsstaatlichkeit, E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, HStR I, § 24, Rdn. 30, S. 1003. 618 Nun mag man allerdings die Auffassung vertreten, daß Kant es mit seiner Differenzierung zwischen Staats- und Regierungsform übertrieben habe, sie nur aus seinem
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Staat, in dem der einzelne Bürger die Mitgesetzgeberschaft innehat, ist die Republik; denn nur in der Republik kann die Freiheit des einzelnen sowie die Gleichheit aller in eben dieser Freiheit bestmöglich verwirklicht werden. Der Kern der republikanischen Freiheitsidee ist die Autonomie des Willens der Bürger. In der Republik bestimmen die Bürger, unter welchen Gesetzen sie leben wollen. Sie herrschen also über sich selbst, nicht über andere. Und in ihrer gemeinsamen Gesetzgebung besteht das Prinzip ihrer bürgerlichen Freiheit. Die Republik ist damit die „Form der Freiheit“ 619. Zur Autonomie zählt aber auch, nicht durch sinnliche Antriebsmomente im Handeln bestimmt zu werden, sondern Herr und Meister über sich selbst zu sein620. Der autonome Bürger muß sich demnach über seine eigenen Interessen stellen, um „das Richtige für das gute Leben aller in allgemeiner Freiheit, das Rechtsgesetz“ (mit-)hervorbringen zu können621. Damit ist die Sittlichkeit durch Moralität der republikanische Kern der Freiheit. Die republikanische Verfassung ist die einzige, die „erstlich nach Prinzipien der Freiheit der Hang zum Systematisieren heraus zu erklären und im modernen Verfassungsstaat, allemal unter dem Grundgesetz Deutschlands, seine Bedeutung verloren habe. Doch ist diese Sichtweise nicht korrekt. Zum einen darf hier der historische Kontext nicht übersehen werden; denn diese Differenzierung zeigt, daß der Republikanismus sehr wohl auch in einer Monarchie verwirklicht werden könnte (so allerdings schon J. J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 41, Anmerkung), womit dann die Republik vom Schreckgespenst der französischen Revolution, dem grand terreur, befreit ist. Kant war antirevolutionärer Verfechter der Republik, Revolution sei zu jeder Zeit ungerecht, Kant, Streit der Fakultäten, S. 360. Statt dessen begreift Kant den Republikanismus als Grundlage der staatlichen Entwicklung, „daß sich der Staat von Zeit zu Zeit selbst reformiere, und statt Revolution, Evolution versuchend, zum Besseren bestmöglich fortschreite, S. 367; in diese Richtung auch W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 435. Die respublica phaenomenon solle sich der respublica noumenon, der ewigen „Norm für alle bürgerlichen Verfassungen überhaupt“, annähern, S. 364. Diese Auffassung deckt sich übrigens auch mit der Geschichtsphilosophie Kants, dazu R. Dreier, Rechtstheorie und Rechtsgeschichte, in: Rechtsdogmatik und praktische Vernunft, S. 17 ff., 31. So verstanden ist die Aufteilung zwischen Staats- und Regierungsform notwendig, um den Republikanismus als Prozeß zu begreifen, was allerdings bei W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 432, aber noch „vorrepublikanisch“ ist. Das ist insofern richtig, weil jedes personale Element noch nicht die Verwirklichung der respublica noumenon bedeutet; denn erst in der Republik werde aus personaler Herrschaft versachtlichte Herrschaft durch vernünftige Gesetze. Insofern hat Kersting Recht, wenn er behauptet, daß die Republik in Kants Verständnis nicht als parlamentarische Demokratie in das Verfassungsschema zu integrieren sei, weil die Republik keinen gelungenen Demokratieversuch darstelle (S. 433), sondern markiere ein „in der Moralität im Sinne habitualistischer Vernünftigkeit analoges Vollendungsstadium“, S. 434. H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 223, vertritt die Auffassung, daß eine gute Verfassung durch sich selbst die Tugend der Bürger befördern müsse: „Der tugendhafte Bürger wird seine besten Kräfte entwickeln (wofür Freiheit erforderlich ist) und bereit sein, sie, wo immer nötig, ihren Besitz und ihre Ausübung per se auch als Selbsterfüllung zu genießen“, und dies gelte gerade auch im republikanischen Regierungssystem. 619 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 34; zur Republikanität der Ordnung ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 45 ff. 620 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 539. 621 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 34.
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Glieder einer Gesellschaft (als Mensch), zweitens nach der Abhängigkeit aller von einer einzigen gemeinsamen Gesetzgebung (als Untertan) und drittens, die nach dem Gesetz der Gleichheit derselben (als Staatsbürger) gestiftete Verfassung“ gegründet ist.622 Die republikanische Verfassung ist damit die staatsrechtliche Ausprägung des bürgerlichen Zustandes mit seinen drei Konstitutionsprinzipien: erstens, der Freiheit jedes einzelnen als Mensch, zweitens, ihrer Gleichheit und drittens ihrer Selbständigkeit als Bürger623. c) Die Selbständigkeit des Bürgers Die dritte Voraussetzung für den bürgerlichen Zustand ist die Selbständigkeit des Bürgers624, und bedeutet, daß der Bürger wirtschaften muß. Nur wer (hinreichend) selbständig ist, kann Mitgesetzgeber im Staat sein. Das Stimmrecht qualifiziert zum Bürger625. Erforderlich dafür ist aber, „daß er sein eigener Herr (sui iuris) sei“ 626. Demnach besteht ein immanenter Zusammenhang zwischen Freiheit und Wirtschaft, das Erfordernis des Wirtschaftens ist notwendig, richtiges Wirtschaften ist Tugendpflicht. Im Unterschied zur Rechtspflicht, die sich aus der äußeren Freiheit ergibt, ist die Tugendpflicht aus der inneren Freiheit, d.h. Meister und Herr über sich selbst und ein vernünftiger sittlich autonomer Bürger zu sein, abgeleitet. Eine edle Gemütsart besitzt derjenige, der seine Affekte gezähmt und die Leidenschaften beherrscht hat627. Meister und Herr über sich selbst zu sein ist eine Pflicht, die der moralischen Nötigung der eigenen gesetzgebenden Vernunft folgt und damit auf die Endzweckhaftigkeit des Menschen verweist628. Die beiden Kardinaltugenden sind die eigene Vollkommenheit und die fremde Glückseligkeit629. Weil die Verfolgung der eigenen Glückseligkeit bereits schon in der Naturveranlagung des Menschen verwurzelt ist, kann sie nicht auch noch eine originäre und unmittelbare Pflicht sein630; denn das hieße, aus empirischen Gegebenheiten auf das Sollen zu schließen. Wohl aber besteht eine 622
Kant, Zum ewigen Frieden, S. 204. Kant, Über den Gemeinspruch, S. 145. 624 Dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 636 ff. 625 Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 207 ff.; im Ergebnis auch BVerfGE 89, 155 (171 f., 182). 626 Kant, Über den Gemeinspruch, S. 150 f. 627 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 539. 628 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 537. „Die Tugend also, so fern sie auf innerer Freiheit gegründet ist, enthält für die Menschen auch ein bejahendes Gebot, nämlich alle seine Vermögen und Neigungen unter seine (der Vernunft) Gewalt zu bringen, mithin der Herrschaft über sich selbst, welche über das Verbot, nämlich von seinen Gefühlen und Neigungen sich nicht beherrschen zu lassen, (der Pflicht der Apathie) hinzu kommt; weil, ohne daß die Vernunft die Zügel der Regierung in ihre Hände nimmt, jene über den Menschen den Meister spielen“, S. 540. 629 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 515 ff. 630 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 515. 623
III. Kants freiheitliche Rechts- und Staatsphilosophie
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indirekte abgeleitete Pflicht zur Beförderung des eigenen Glücks631. Pflichtmäßig handeln kann nur derjenige, der ein gewisses Mindestmaß an Zufriedenheit und auch Wohlhabenheit besitzt. Herr und Meister über sich selbst zu sein dient der eigenen Sittlichkeit: „Widerwärtigkeiten, Schmerz und Mangel sind große Versuchungen zu Übertretung seiner Pflicht. Wohlhabenheit, Stärke, Gesundheit und Wohlfahrt überhaupt, die jenem Einflusse entgegen stehen, können also auch, wie es scheint, als Zwecke angesehen werden, die zugleich Pflicht sind; nämlich seine eigene Glückseligkeit zu befördern, und sie nicht bloß auf fremde zu richten. – Aber alsdenn ist dies nicht der Zweck, sondern die Sittlichkeit des Subjekts ist es, von welchem die Hindernisse wegzuräumen es bloß das erlaubte Mittel ist; da niemand anders ein Recht hat, von mir Aufopferung meiner nicht unmoralischen Zwecke zu fordern. Wohlhabenheit für sich selbst zu sichern ist direkt nicht Pflicht; aber indirekt kann es eine solche wohl sein: nämlich Armut, als eine große Versuchung zu Lastern, abzuwehren. Alsdann aber ist es nicht meine Glückseligkeit, sondern meine Sittlichkeit, deren Integrität zu erhalten mein Zweck und zugleich meine Pflicht ist“ 632. Ein weiterer Aspekt ist, daß es ohne eigene Wohlfahrt, falls überhaupt, nur eingeschränkt und schwer möglich ist, die Glückseligkeit der Mitmenschen zu befördern, welche die zweite Tugendpflicht darstellt. Beide Tugendpflichten hängen zusammen: der Mensch mit edler Gesinnung ist Herr und Meister über sich selbst. Dazu ist es erforderlich, ein Mindestmaß an Wohlhabenheit für sich selbst zu besitzen, schon um nicht bedürftig zu sein und anderen zur Last zu fallen. Nicht nur die Bezwingung der eigenen Leidenschaften, sondern auch wirtschaftliche Unabhängigkeit umfaßt eben die Pflicht, sein eigener Herr zu sein. Erst dann ist es auch möglich, daß der Einzelne die Glückseligkeit anderer im Auge zu behalten vermag, weil er so in den Stand versetzt ist, überhaupt pflichtmäßig handeln zu können, und weiter, den Bedürftigen auch wirtschaftlich zu helfen. Kant postuliert die tugendliche Pflicht, daß der einzelne eine starke Persönlichkeit mit ausgeprägter sozialer Orientierung sein soll, wofür aber ein Mindestmaß an Wohlhabenheit erforderlich ist. Für die Erlangung dieses Mindestmaßes an Wohlhabenheit empfiehlt Kant die „gute Wirtschaft“ als vernünftiges Maß zwischen dem „kargen Geiz“ als „Knickerei“, bei dem der Erwerb von Besitz reiner Selbstzweck ist, und dem „habsüchtigen Geiz“ als „Verschwendung“ und Habsucht, bei der die Mittelansammlung nur auf den Genuß der Mittel ausgerichtet ist. Dieses Mittelmaß zu finden, ist Sache der (vernünftigen) Urteilskraft633. Wirtschaften und angestrebte 631 „Die eigene Glückseligkeit zu befördern ist Pflicht (wenigstens indirekt), denn der Mangel an Zufriedenheit mit seinem Zustande, in einem Gedränge von vielen Sorgen und mitten unter unbefriedigten Bedürfnissen, können leicht eine Versuchung zur Übertretung der Pflichten werden“, Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 25. 632 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 518. 633 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 566 ff. Dies erhellt aber die These Husserls, daß das richtige Handeln sich nicht allein aus dem Sittengesetz, das ja den Tugendpflichten
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Wohlhabenheit ist also sittliche Tugendpflicht jedes einzelnen. Aus Gründen der Freiheit haben alle Bürger sowohl die ethische Verpflichtung, aber auch die politische Verantwortung für das gemeinsame Leben, zu welcher aber die Solidarität, die Brüderlichkeit, gehört634. Das dritte Prinzip a priori des bürgerlichen Zustandes ist die Selbständigkeit jedes Gliedes der Gemeinschaft als Bürger635. Zur Bürgerschaftlichkeit des Menschen zählt das Stimmrecht, der Bürger ist Mitgesetzgeber im Staat. Einzige Voraussetzung dafür ist die Fähigkeit, sein eigener Herr zu sein, der „mithin ein Eigentum habe, (wozu auch jede Kunst, Handwerk, oder schöne Kunst, oder Wissenschaft gezählt werden kann), welches ihn ernährt; d. i. daß er, in den Fällen, wo er von andern erwerben muß, um zu leben, nur durch Veräußerung dessen was sein ist, erwerbe, nicht durch Bewilligung, die er anderen gibt, von seinen Kräften Gebrauch zu machen, folglich daß er niemandem als dem gemeinen Wesen im eigentlichen Sinne des Wortes diene“ 636. Kant spricht hier das Eigentum durch Arbeit an637, selbständig aber konnte nur der Gewerbetreibende, der Handwerker, der Künstler, der Werke erschafft, oder auch der Wissenschaftler, der Bücher schreibt, sein; nicht dagegen der Ladendiener, der Tagelöhner oder der Friseur, weil dieser Personenkreis anderen diene. Diese Auffassung ist allerdings Ausfluß der Wertvorstellungen, die zu Lebzeiten Kants Geltung hatte638. Kant
zugrunde liegt, ergibt. Denn hier ist es in der Tat erforderlich, seinen formal objektiven Imperativ zu beachten: Tue das Beste unter dem erreichbaren Guten innerhalb deiner jeweiligen praktischen Gesamtsphäre, E. Husserl, Vorlesungen über Ethik und Wertlehre, S. 142. 634 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 636 ff. 635 Kant, Über den Gemeinspruch, S. 145. 636 Kant, Über den Gemeinspruch, S. 151. 637 „Derjenige, welcher ein Opus verfertigt, dann es durch Veräußerung an einen anderen bringen, gleich als ob es sein Eigentum wäre“, Kant, Über den Gemeinspruch, S. 151; dazu K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS W. Leisner, S. 775 ff. 638 Wie etwa Kants Überzeugungen zum Ehe-, Familien- und Hausrecht, Kant, Metaphysik der Sitten, S. 389 ff. Es wäre zur damaligen Zeit in Preußen als revolutionär betrachtet worden, hätte Kant den Personenkreis, der zum eigenen Herrn und damit zum Bürger qualifiziert wäre, dem auch das Stimmrecht hätte zugestanden werden müssen, nicht möglichst eng umgrenzt. Fraglich ist, ob diese enge Umgrenzung tatsächlich Kants eigene Überzeugung war, oder ob sie nicht aus Furcht vor der Zensur und der Obrigkeit erfolgte, von der Kant eben als Professor vor allem wirtschaftlich abhängig war. Überzeugender in diesem Zusammenhang argumentierte Hegel bezüglich des Begriffs der Person und ihrer natürlichen Existenz: „Kenntnisse, Wissenschaften, Talente usf. sind freilich dem freien Geiste eigen und ein innerliches desselben, nicht ein Äußerliches, aber ebensosehr kann er ihnen durch die Äußerung ein äußerliches Dasein geben und sie veräußern, wodurch sie unter die Bestimmung von Sachen gesetzt werden“, wodurch es dann „unter die Bestimmungen eine juristisch-rechtlichen Eigentums fällt“, G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 104 f. Damit ist dieses Innerliche der Kenntnisse, Wissenschaften und Talenten und sonstigen Geschicklichkeiten grundsätzlich veräußerbar, S. 144.
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gibt aber zu, daß es ungemein schwierig sei, diejenigen Erfordernisse zu bestimmen, die zum eigenen Herrn qualifizieren639, hat allerdings die Leistung eines anderen als ein Objekt des äußeren Mein und Dein betrachtet, welches grundsätzlich der Erwerbung und damit auch der Veräußerung fähig ist640. Eine weitere Formulierung geht in dieselbe Richtung: „Der Besitz der Willkür eines anderen, als Vermögen, sie, durch die meine, nach Freiheitsgesetzen zu einer gewissen Tat zu bestimmen (das äußere Mein und Dein in Ansehung der Kausalität eines anderen), ist ein Recht“ 641. Der Einzelne kann also Inhaber eines Rechts sein, einen anderen zu einer Leistung zu verpflichten. Rechtliche Grundlage dafür ist der gegenseitige Vertrag642, durch welchen man aber nicht unmittelbar Eigentümer einer Sache wird, sondern nur das Versprechen eines anderen zu einer bestimmten Leistung erwirbt, und dies kann, nicht nur aus heutiger Sicht, auch eine reine Dienstleistung und nicht bloß die Übereignung eines körperlichen Gegenstandes sein. Jeder wirtschaftende Mensch ist sein eigener Herr und damit Bürger643: der homo republicanicus ist (auch) homo oeconomicus644. d) Die republikanische Regierungsform als Voraussetzung rechtlicher Freiheit Ein wichtiger Gesichtspunkt kommt hinzu: erst durch die repräsentative, republikanische Regierungsform wird Freiheit rechtlich möglich. Es ist das Prinzip der äußeren, rechtlichen Freiheit, daß niemand einem Gesetz gehorchen muß, zu dem er nicht seine „Beistimmung habe geben können“ 645. Das bedeutet nun drei639
Kant, Über den Gemeinspruch, S. 151, Anmerkung. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 370. 641 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 382. 642 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 383. 643 Zum Zusammenhang von individueller Wohlfahrt und politischer Freiheit vgl. auch F. Böhm, Die Bedeutung der Wirtschaftsordnung für die politische Verfassung, S. 85. 644 Dazu K. A. Schachtschneider, Souveränität, S. 258 ff. 645 Kant, Zum ewigen Frieden, S. 204. Diese Formulierung beinhaltet, daß es nicht darauf ankommt, ob der einzelne seine Zustimmung zum Gesetz faktisch und tatsächlich gegeben hat, sondern nur, daß er sie habe geben können, also die (tatsächliche oder repräsentierte) Möglichkeit dazu ist ausreichend, ihm dann auch gehorchen zu müssen. Bei Rousseau dagegen ergibt sich hier eine Schwierigkeit, die er im Gesellschaftsvertrag nicht zu lösen vermochte: Souverän und Untertan sind Wechselbegriffe, „deren Idee in dem einen Begriff des Bürgers vereint ist“, J. J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 100. Der Souverän ist das Gesamtwesen, und nur durch sich selbst vertreten. Demgemäß bedeutet Souveränität die Ausübung des Gemeinwillens, S. 27, der Souverän herrscht als Legislative, S. 98. Und genau hier taucht das Problem auf, weil der Gemeinwille im Gesetz festgestellt werden muß, und zwar bei Rousseau ohne Repräsentation. Weil das aber im Flächenstaat oder im Staat mit großer Bevölkerung undurchführbar ist, wird im modernen Staat die Volksvertretung dazwischen geschaltet. Andererseits aber sieht Rousseau die grundsätzliche Gefahr, daß Sonderinteressen die Volksversammlungen bestimmen und das öffentliche Interesse nicht angemessen zur Geltung 640
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erlei: zum einen, republikanisch, die bestmögliche Beteiligung an der Gesetzgebung646. Der einzelne muß sich als Mitgesetzgeber, als Oberhaupt im Reich der Zwecke, verstehen können, wozu erforderlich ist, daß er in einem großen Gemeinwesen rechtmäßig vertreten worden ist647. Darüber hinaus müssen sich aber die Vertreter mit einem Gedankenexperiment auseinander setzen und sich fragen, ob jeder Bürger Mitgesetzgeber des zu verabschiedenden Gesetzes sein könne, ob es eine Vertragsnorm aller Bürger sein könnte648. Eine demokratische Beteiligung an der Exekutive durch Wahl der Herrscher ist damit nicht vorgesehen649. Zum zweiten, der Einzelne muß in der Lage sein, zu einer Vernunfterkenntnis in die Richtigkeit des Gesetzes gelangen zu können. Deshalb muß jede Gesetzgebung stets eine öffentliche sein650. Das hervorgebrachte Gesetz muß das inhaltlich und sachlich bestmögliche sein, es muß materiell richtig und lebbar, also sittlich und praktisch vernünftig sein. Und schließlich drittens, muß sich der einzelne eine Mehrheitsentscheidung bei der Gesetzgebung gefallen lassen651, der kommt. „Da das Gesetz nur die Bekundung des Gemeinwillens ist, ist es offenbar, daß das Volk als Legislative nicht vertreten werden kann“, S. 104. „Die Abgeordneten des Volkes sind also nicht seine Vertreter, noch können sie es sein, sie sind nur seine Beauftragten; sie können nicht endgültig beschließen. Jedes Gesetz, das das Volk nicht selbst beschlossen hat, ist nichtig; es ist überhaupt kein Gesetz“, S. 103. Einen Ausweg aus diesem Dilemma wollte Rousseau in einer folgenden Abhandlung aufzeigen, S. 106. 646 Dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 318 ff. 647 Zur republikanischen Repräsentation K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 62 ff., 637 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 146 ff., 191 ff., 424 ff., 599 ff.; ders., Souveränität, S. 256. 648 „Die öffentliche Gesetze werden genau dann mit Notwendigkeit der Vertragsnorm widersprechen, wenn sie selbst die Bedingungen verletzen, unter denen der Vertrag allein entstanden sein kann und die diesen Vertrag als den einzig möglichen vernunftrechtskonformen Konstitutionsakt des Rechtszustandes bestimmen (. . .) und dies sind die Momente der Freiheit, Gleichheit, Reziprozität und Wechselseitigkeit. Der kategorische Imperativ ist die Operationsregel des Universalismus der Moral“, W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 32, 36. Die faktische Zustimmung jedes einzelnen Bürgers ist demnach nicht erforderlich, S. 402. 649 Demokratie begründet keine Herrschaft von Menschen über Menschen, dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 136 ff., 173 ff.; ders., Res publica res populi, S. 124 ff.; ders., Souveränität, S. 289 ff. 650 Publizität ist gemäß der Moralphilosophie Kants das Kriterium für Rechtmäßigkeit, H. Arendt, Über das Urteilen, S. 68; zur Rechtsetzung als öffentlicher Diskurs K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 584 ff., 669 ff., 956 ff., 1195 ff.; ders., Souveränität, S. 282. 651 „Es müssen aber auch alle, die dieses Stimmrecht haben, zu diesem Gesetz der öffentlichen Gerechtigkeit zusammenstimmen; denn sonst würde zwischen denen, die dazu nicht übereinstimmen, und den ersteren ein Rechtstreit sein, der selbst noch eines höheren Rechtsprinzips bedürfe, um entschieden zu werden. Wenn also das erstere von einem ganzen Volke nicht erwartet werden darf, mithin nur eine Mehrheit der Stimmen und zwar nicht der Stimmenden unmittelbar (in einem großen Volke), sondern nur der dazu Delegierten, als Repräsentanten des Volkes, dasjenige ist, was allein man als erreichbar voraussetzen kann: so wird doch selbst der Grundsatz, sich diese Mehrheit genügen zu lassen, als mit allgemeiner Zustimmung (. . .) angenommen“, Kant, Über den Gemeinspruch, S. 152 f.; so auch bei J. J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 116.
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Parlamentarismus als Repräsentation der Bürger bei der Gesetzgebung wie auch die Mehrheitsregel sind hinreichend, um die Gesetze als vom Einzelnen mitgegeben zu rechtfertigen (dazu unten). e) Die Rechtsstaatlichkeit der Republik Der Staat ist Republik, wenn er dem Recht genügt. Die Staatlichkeit per se ist immer republikanisch, wenn unter Staat ein Rechtsbegriff verstanden wird652. Damit ist die Republik ein Rechtsstaat, die rechtliche Form des bürgerlichen Zustandes, bei dem alle Bürger das Interesse haben, im rechtlichen Zustand, also frei zu sein. Der rechtliche Zustand bedarf aber einer Verfassung, damit das Volk, als Menge von Menschen, dem Recht auch teilhaftig werden kann. Das Verfassungsgesetz ist in erster Linie Rechtserzeugungsquelle653, der rechtliche Zustand des als vereinigt gedachten Willens des Volkes654 also. Damit ist der Staat selbst eine Form von Rechtsgesetzen, die a priori notwendig sind, damit die wirkliche Vereinigung zur res publica, zum gemeinen Wesen möglich wird. Zur Konstituierung der res publica gehört aber zwingend die Umsetzung des Grundsatzes der Gewaltenteilung. Republikanisch konsequenter ist es allerdings, von gewaltteiligen Funktionenordnung zu sprechen, weil es nur eine Staatsgewalt gibt, die nach Art. 20 GG vom Volke ausgeht und deren Ausübung in die Funktionen Legislative, Exekutive und Judikative ordnend aufgeteilt ist655. „Ein jeder Auch bei der Mehrheitsentscheidung wird die Freiheit insgesamt verwirklicht, wenn das Gesetz die volonté générale beinhaltet, auch dann, wenn sie den Privatinteressen der Minderheit entgegensteht; zur Mehrheitsregel K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 641 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 335; ders., Freiheit in der Republik, S. 163 ff. 652 „Der Inbegriff der Gesetze, die einer allgemeinen Bekanntmachung bedürfen, um einen rechtlichen Zustand hervorzubringen, ist das öffentliche Recht. – Dieses ist also ein System von Gesetzen für ein Volk, d. i. eine Menge von Menschen, (. . .) die, im wechselseitigen Einflusse gegeneinander stehend, des rechtlichen Zustandes unter einem sie vereinigenden Willen, einer Verfassung (constitutio) bedürfen, um dessen, was Rechtens ist, teilhaftig zu werden. – Dieser Zustand der einzelnen im Volke, im Verhältnis untereinander, heißt der bürgerliche (status civilis), und das Ganze derselben, in Beziehung auf seine eigene Glieder, der Staat (civitas), welcher, seiner Form wegen, als verbunden durch das gemeinsame Interesse aller, im rechtlichen Zustand zu sein das gemeine Wesen (res publica latius sic dicta) genannt wird“, Kant, Metaphysik der Sitten, S. 429. 653 Unter dem Grundgesetz allerdings auch Rechtserkenntnisquelle, P. Kirchhof, Die Identität der Verfassung in ihren unabänderlichen Inhalten, HStR I, § 20, S. 778, Rdn. 7. 654 „Ein Staat (civitas) ist die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen. So fern diese als Gesetze a priori notwendig, d. i. aus Begriffen des äußeren Rechts überhaupt von selbst folgend (nicht statutarisch) sind, ist seine Form eine Form des Staates überhaupt, d. i. der Staat in der Idee, wie er nach reinen Rechtsprinzipien sein soll, welche jeder wirklichen Vereinigung zu einem gemeinen Wesen (also im Inneren) zur Richtschnur (norma) hat“, Kant, Metaphysik der Sitten, S. 431. 655 Dazu K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 181 ff.
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Staat enthält drei Gewalten in sich, d. i. den allgemeinen vereinigten Willen in dreifacher Person (trias politica): die Herrschergewalt (Souveränität), in der des Gesetzgebers, die vollziehende Gewalt, in der des Regierers (zu Folge dem Gesetz) und die rechtsprechende Gewalt (als Zuerkennung des Seinen eines jeden nach dem Gesetz), in der Person des Richters“ 656. Alle drei Gewalten sind Würden, besser Staatswürden, die allerdings Moralität der Amtsinhaber657 erfordert, weil generelle Voraussetzung der Idee der Würde die Moralität ist. Die Moralität der Amtsträger umfaßt drei Gesichtspunkte: zum einen die Einsicht, daß jede Teilgewalt die Ergänzung der beiden anderen darstellt, die eben für die Vollständigkeit der Staatsverfassung notwendig sind. Zweitens, daß keine Gewalt die andere oder die anderen usurpiert, sondern daß die sach- und rechtsbedingten Abhängigkeiten akzeptiert werden, und schließlich drittens, daß darauf hingewirkt wird, jedem Bürger zu seinem Recht zu verhelfen658. Die Gesetzgebung kann nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen. Das ist Souveränität als Ausübung des Gemeinwillens659, die nur als Ganzes möglich ist660. Schon wegen der demokratischen Mehrheitsregel kommt somit für die Republik „alles auf die allgemeine Moralität an, insbesondere aber die der Vertreter des Volkes in den Parlamenten, in den Ämtern und in den Gerichten“ 661. Damit ist die Frage der Rechtlichkeit von Gesetzen eine Frage der Moralität des Gesetzgebers662: nur das sittliche juridische Gesetz kann freiheitlich legitimiert werden, weil nur durch sittliche allgemeine Gesetze niemandem Unrecht getan werden kann; denn nur sie sind zustimmungsfähig663. Die zur Gesetzgebung vereinigt gedachten Glieder eines Staates sind die Staatsbürger, und nur die Fähigkeit zur Stimmgebung macht die Qualifikation zum Staatsbürger aus. Die nunmehr auch rechtlichen Attribute als Staatsbürger sind gesetzliche Freiheit, „keinem anderen Gesetz zu gehorchen, als zu welchem er seine Beistimmung gegeben hat“, bürgerliche
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Kant, Metaphysik der Sitten, S. 431. Von J. J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 65, wurde zumindest die Regierung als moralische Person begriffen; zum Erfordernis der Moralität der Abgeordneten in den Parlamenten K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 316 ff.; ders., Res publica res populi, S. 526 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 264 ff.; ders., Souveränität, S. 253 f. 658 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 434 f. 659 J. J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 27. 660 J. J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 63. Die Legislative ist der Wille zum staatlichen Handeln, die Exekutive die Kraft zum staatlichen Handeln. Auch bei Rousseau kommt es auf das Gewaltteilungsprinzip an, S. 61. Souverän ist das Volk, Kant, Metaphysik der Sitten, S. 461 f. 661 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 121. Daraus ergibt sich die sittliche Überlegenheit des Rechtsstaates, H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 305. 662 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 147 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 32 f.; ders., Freiheit in der Republik, S. 264 ff.; ders., Souveränität, S. 253 f. 663 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 432. 657
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Gleichheit, „keinem Oberen im Volk, in Ansehung seiner zu erkennen, als nur einen solchen, den er eben so rechtlich zu verbinden das moralische Vermögen hat, als dieser ihn verbinden kann“, und bürgerliche Selbständigkeit, „seine Existenz und Erhaltung nicht der Willkür eines anderen im Volke, sondern seinen eigenen Rechten und Kräften, als Glied des gemeinen Wesens verdanken zu können, folglich die bürgerliche Persönlichkeit, in Rechtsangelegenheiten durch keinen anderen vorgestellt werden zu dürfen“ 664, also die vollumfängliche Rechts- und Geschäftsfähigkeit. Kant formuliert hier die Verrechtlichung des bürgerlichen Zustandes durch das Verfassungsgesetz zur Republik. Die Herrschergewalt kommt dem vereinigt gedachten Willen des Volkes als Gesetzgeber zu, demnach der repräsentativen Legislative. Die Staatsregierung ist der Agent des Staates, von der Gesetzgebung abhängig, steht unter den Gesetzen und hat nur die Funktion, sie auszuführen665: regieren bedeutet nicht herrschen666. Und die Rechtsprechung darf nur durch Richter erfolgen. Diese allerdings müssen vom Volk gewählt sein, damit ist Rechtsprechung ausschließliche Sache des Volkes667, weil nämlich die Regierung und die Legislative grundsätzlich auch Unrecht tun könnten668. Es geht hier um die Gleichheit der Kräfteverhältnisse: Vertreter der Legislative oder Exekutive sind Amtsträger, damit aber mit öffentlicher Gewalt ausgestattet – der Bürger im Rechtsstreit aber nicht. Damit wäre dann aber der Gleichheitsgrundsatz aller im Reich der Zwecke verletzt. Folglich, um diesen Gleichheitsgrundsatz zu wahren, dürfen nur Gleiche über Gleiche richten. Damit ist Rechtsprechung originäre Sache des Volkes. Das Gericht hat nur das Gesetz im Streitfalle anzuwenden, dann allerdings, falls nötig, die Möglichkeit, 664 „Nun ist es, wenn jemand etwas gegen einen anderen verfügt, immer möglich, daß er ihm dadurch unrecht tue, nie aber in dem, was er über sich selbst beschließt (denn volenti non fit iniuria). Also kann nur der übereinstimmende und vereinigte Wille aller, so fern ein jeder über alle und alle über einen jeden ebendasselbe beschließen, mithin nur der allgemein vereinigte Volkswille gesetzgebend sein“, Kant, Metaphysik der Sitten, S. 432. 665 „Der Regent des Staates (. . .) ist diejenige (moralische oder physische) Person, welcher die ausübende Gewalt (. . .) zukommt: der Agent des Staates. Als moralische Person betrachtet heißt er das Direktorium, die Regierung. (. . .) Eine Regierung, die zugleich gesetzgebend wäre, würde despotisch zu nennen sein“. Und dies deshalb, weil „der Beherrscher des Volkes (der Gesetzgeber)“ nicht zugleich Regent sein kann; „denn dieser steht unter dem Gesetz, und wird durch dasselbe, folglich von einem anderen, dem Souverän, verpflichtet. Jener kann diesem auch seine Gewalt nehmen, ihn absetzen, oder seine Verwaltung reformieren“, Kant, Metaphysik der Sitten, S. 436. 666 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 188 ff. 667 „Das Volk richtet sich selbst durch diejenigen ihrer Mitbürger, welche durch freie Wahl, als Repräsentanten desselben, und zwar für jeden Akt besonders, dazu ernannt werden“, Kant, Metaphysik der Sitten, S. 436. 668 „Denn der Rechtsspruch (die Sentenz) ist ein einzelner Akt der öffentlichen Gerechtigkeit (iustitiae distributivae) durch einen Staatsverwalter (Richter oder Gerichtshof) auf den Untertan, d. i. einen, der zum Volk gehört, mithin mit keiner Gewalt bekleidet ist, ihm das Seine zuzuerkennen (zu erteilen)“, Kant, Metaphysik der Sitten, S. 436 f.
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mit der Hilfe der Exekutive die richterliche Gewalt zu vollstrecken669. Durch die Wahl der Richter, die Stellvertreter des Volkes für die Rechtsprechung sind, richtet das Volk, allerdings nur mittelbar, über seine Bürger670. Durch diese drei gewaltteiligen Funktionen bekommt der Staat seine Autonomie, „d. i. sich selbst nach Freiheitsgesetzen bildet und erhält“, und in ihrer Vereinigung „besteht das Heil des Staates“, das in dem „Zustand der größten Übereinstimmung der Verfassung mit Rechtsprinzipien“ besteht, „als nach welchem zu streben und die Vernunft durch einen kategorischen Imperativ verbindlich macht“ 671, und dies insbesondere deshalb, weil es eine menschliche Vernunfterkenntnis ist, daß es „die höchste Aufgabe der Natur für die Menschengattung“ sei, zu einer „vollkommen gerechten bürgerlichen Verfassung“ zu gelangen, in der die bürgerliche Gesellschaft in Freiheit ihr Recht selbst verwaltet672.
669 Weil Recht mit der Befugnis zu zwingen verbunden ist, Kant, Metaphysik der Sitten, S. 338. 670 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 436 f.; zur demokratischen Legitimation der Richter K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 215 f.; ders., Souveränität, S. 485 ff. 671 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 437. 672 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 39.
2. Kapitel
Republikanische Freiheit unter dem Grundgesetz Deutschlands Die vernunftkritische idealistische Philosophie Kants führt logisch zu einer sittlichen Konzeption des Staatswesens, zur Republik1. Die Verwirklichung der Freiheit erfordert die bestmögliche Annäherung an die Idee der Republik2: „Die Republik als Verfassung der Freiheit bestimmt die Prinzipien des Rechts und des Staates als die der rechtlichen Gesetzlichkeit“ 3. Das Grundgesetz verfaßt Deutschland als einen demokratischen und sozialen Rechtsstaat zur Bundesrepublik. Es würde den Rahmen dieser Abhandlung bei weitem sprengen, sollten die vielfältigen grundgesetzlichen Regelungen und ihre (kantisch) idealrepublikanischen Vorzeichnungen dargestellt werden. In diesem Kapitel sollen diejenigen prinzipiellen Gesichtspunkte der Freiheits- und Staatsphilosophie Kants und ihre (bestmögliche) grundgesetzliche Umsetzung skizziert werden, welche für die Verwirklichung der Freiheit der Bürger in Deutschland von herausragender Bedeutung sind. Diese sind, erstens: die Unvereinbarkeit von Freiheit mit jeder Form von Herrschaft; zweitens: alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, der Staat ist um der Menschen willen da; drittens, die Würde des Menschen ist ein unvergleichlicher Wert, sie ist unantastbar; viertens: jeder hat das Recht, sein Glück auf selbst bestimmten Wegen zu suchen und seine Persönlichkeit frei zu entfalten, wozu schließlich fünftens Eigentum zwingend erforderlich ist, welches allerdings, sechstens, verteilt sein will.
I. Herrschaft und Freiheit als unvereinbare Gegensätze 1. Max Webers Herrschaftslehre Herrschaft, so hatte sie Max Weber definiert, soll die Chance sein, „für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden; Diszi1 Dazu ausführlich K.A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 54 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 37 ff. 2 Mehr als eine bestmögliche Annäherung an die Idee der Republik kann nicht gefordert werden, weil die Republik das Ideal einer freiheitsverwirklichenden Staatskonzeption ist, welches aber immer unerreichbar bleiben wird. Allerdings ist die bestmögliche Annäherung an dieses Ideal aus Gründen der Freiheit des Menschen zwingend zu verfolgen. Es gilt, das Sein an das Sollen anzunähern. 3 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 2.
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2. Kap.: Republikanische Freiheit unter dem Grundgesetz Deutschlands
plin soll die Chance heißen, kraft eingeübter Einstellung für einen Befehl prompten, automatischen und schematischen Gehorsam bei einer angebbaren Vielheit von Menschen zu finden“ 4. Die Ausübung der Herrschaft sei mit oder ohne Existenz eines Verwaltungsstabes denkbar, Herrschaft sei ein „Tatbestand“. Der Staat sei ein „politischer Verband“ als „Anstaltsbetrieb, wenn und insoweit sein Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen in Anspruch nimmt“ 5. Das soziale Handeln des Einzelnen, aber auch des Staates selbst, wäre grundsätzlich durch Herrschaft gekennzeichnet6. Der Staat herrsche mit seinem Verwaltungsstab und bediene sich der Herrschaft als Mittel: „in der Art nämlich, wie eben staatliche Gewalten sie ausüben“, nämlich mit „Gewaltsamkeiten“ 7. Max Weber trennt Herrschaft begrifflich von Macht, wobei Macht jede Chance bedeuten soll, „innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“ 8. Max Webers Frage war in diesem Zusammenhang nur die Frage nach der Legitimität von Herrschaft, weil Herrschaft als ein Tatbestand unabänderlich sei9. Für Max Weber ist legitime Gewaltsamkeit 4
M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 28. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 29. 6 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 11. 7 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 30. 8 Weil das „soziale Handeln (einschließlich des Unterlassens oder Duldens)“ orientiert werden könne „am vergangenen, gegenwärtigen oder für künftig erwarteten Verhalten anderer“. Dies gelte insbesondere für das nach Erwartungen orientierte Handeln im Bereich der Wirtschaft, M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 28. 9 In eine ähnliche Richtung wie Max Weber dachte offensichtlich Hegel in bezug auf den Staat. Nach ihm ist der Staat „eine äußerliche Notwendigkeit und ein höhere Macht“, der die Gesetze und Interessen „der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft“ untergeordnet seien, G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 407. Der Staat wäre damit das verwirklichte Allgemeine: „Der Staat ist als die Wirklichkeit des substanziellen Willens, die er in dem zu seiner Allgemeinheit erhobenen besonderen Selbstbewußtsein hat“, S. 399, also das „mit sich identischen allgemeinen Denkens“, „die eigentlich denkende Sittlichkeit“, das „Irdisch-Göttliche“, B. Bourgeois, Der Begriff des Staates, in: G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Kommentar, S. 231 ff. Der Staat wird zur Hypostase. Erst im Staat und durch den Staat verwirklicht sich die Freiheit der Individuen, allerdings nur insoweit, als sich die Besonderheiten der Individualinteressen unter die Allgemeinheit des Staates als Absolutposition subsumieren lassen. Hegels Paradigma der Staatsrechtsphilosophie lautet, daß die Menschen um des Staates willen da sind: der notwendig vorausgesetzte Staat mache den Menschen zum Menschen, B. Bourgeois, Der Begriff des Staates, S. 225. Die Hegelsche Rechtsphilosophie indoktriniert eine Herrschaftslehre, dem Staat als der an sich selbst gedachten Vernunft hat sich der Einzelne schlicht unterzuordnen. Eine parlamentarische Massendemokratie ist für Hegel jedenfalls keine Verfassung der Freiheit, die Deklaration von Grund- und Menschenrechten hielt er für Ideologie, und eine Appellationsinstanz der Individuen gegen staatliches Handeln gibt es in Hegels Staat nicht, dazu H. Schnädelbach, Die Verfassung der Freiheit, in: G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Kommentar, S. 257 ff. Die Übermacht von Hegels Staat ist absolut. Versteht man Hegels Rechtsphilosophie als den Versuch einer Rekonstruktion des historisch vorgefundenen Staates zu seinen Lebzeiten, was sich etwa an Hegels Lehre 5
I. Herrschaft und Freiheit als unvereinbare Gegensätze
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eine Frage der staatlichen Ordnung, inwieweit sie eben Gewalt erlaubt oder vorschreibt10. Andererseits setze Herrschaft bei der Beherrschten auch ein Mindestmaß an „Gehorchenwollen“ voraus11. Die legitime staatliche Herrschaft beruhe auf ihrer Legalität, also auf dem Recht, welches durch „Paktierung oder Oktroyierung“ gesatzt werden könne, wobei „jedes Recht seinem Wesen nach ein Kosmos abstrakter, normalerweise: absichtsvoll gesatzter Regeln“ sei. Der „legale Herr“ wäre „Vorgesetzter, indem er anordnet und mithin befiehlt, seinerseits der unpersönlichen Ordnung gehorcht, an welche er seine Anordnungen orientiert“, was auch für einen gewählten Staatspräsidenten gelte. Der Gehorchende gehorcht als Genosse dem Recht12. Herrschaftsverhältnisse wären demnach Rechtsverhältnisse, weil diese nicht nur unter gleichrangigen Personen im privaten Bereich gölten, sondern der Staat selbst ein derartiges Rechtsverhältnis darstelle, auch dann, wenn der Herrscher subjektiv allein zum Befehlen berechtigt sei13. Das Recht hat bei Max Weber eine dienende Funktion, es liefert die Rechtssicherheit im Bereich des individuellen Handelns, weil durch das Recht, Max Weber führt hier vor allem das Schuldrecht an, das individuelle Handeln der Mitmenschen berechenbar werde14. Dies wären die subjektiven Rechte, die sich aus der Ordnung ergäben, die gesatzt, aber staatlich garantiert seien15. Die Genossen hätten also ein Interesse am allgemeinen Gehorsam gegenüber der legalen Herrschaft, gegenüber der Herrschaft des Rechts, weil ansonsten ihre individuellen Rechte ebenfalls in Gefahr wären. Die Herrschaft wäre durch ihre allgemeine Akzeptanz und durch die Interessen wahrende Akzeptanz des Rechts legitimiert16. von der Majestät zeigt, G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 455 ff., so wird klar, daß der aufkommende Liberalismus in Deutschland im vorvergangenen Jahrhundert sich gegen diese staatliche Absolutposition wenden mußte: der staatlichen Übermacht mußten Individualrechte, insbesondere Grund- und Menschenrechte und deren verwaltungsgerichtlicher wie auch verfassungsgerichtlicher Schutzmöglichkeiten entgegengesetzt werden, dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 175 ff. Das freiheitliche Recht des Individuums mußte nicht nur Recht zwischen den Bürgern, sondern auch Abwehrrecht gegen die Übermacht des Staates sein. Damit aber bleiben die Position des freien Individuums und die des Staates im wesentlichen unvereinbare Gegensätze, ohne aber auf der anderen Seite das grundsätzliche Über-Unterordnungsverhältnis von Staat und Individuum zu beseitigen: individuelle Freiheitsrechte wurden vom Staat gewährt. 10 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 30. 11 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 122. 12 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 125. 13 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 189. 14 „Das Recht und die Konvention sind als Ursache und Wirkung verflochten in das Mit-, Neben- und Gegeneinanderhandeln der Menschen“ und ermögliche die Abschätzung der „Wahrscheinlichkeit, mit welchem der Handelnde auf bestimmte Folgen seines Handelns zählen kann“, M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 192. 15 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 198. 16 Richtig hat D. Sternberger, Herrschaft und Vereinbarung, kommentiert: „Der große Heidelberger Gelehrte Max Weber, der die moderne Soziologie eigentlich begrün-
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2. Kap.: Republikanische Freiheit unter dem Grundgesetz Deutschlands
In diesem Zusammenhang taucht bei Max Weber der Begriff der Freiheit nicht auf. Herrschaft ist, auch aus der historischen Erfahrung heraus, ein soziologisches Faktum. Die Ordnung ist durch Paktierung oder Oktroyierung gesatzt und steht damit grundsätzlich nicht zur Disposition. Es bleibt damit bei der Herrschaft von Menschen über Menschen. Webers Herrschaftslehre, wie jede andere, indoktriniert den Führerstaat und führt damit auch zur Starrheit des Gemeinwesens17. 2. Die kopernikanische Wende der Staatslehre Im diametralen Gegensatz dazu steht die Position Kants: Der Mensch ist Endzweck der Schöpfung und Zweck an sich selbst, in seiner Freiheit besteht seine Würde. Der Staat ist für die Verwirklichung der Freiheit zwar eine zwingende Notwendigkeit, vor allem wegen des Aspekts der Gleichheit aller in der Freiheit innerhalb des Gemeinwesens, ist damit aber kein absoluter Selbstzweck, der ein Selbstbewußtsein hätte oder dem eine sich selbst denkende Vernünftigkeit zugesprochen werden könnte, wie Hegel18 meinte. Kants Ausgangsposition für seine gesamte praktische Philosophie ist das freie Individuum. Es geht bei Kant nicht um eine Hypostasierung der Staatsidee, sondern der Staat ist um der Menschen willen da und nicht umgekehrt. Darin besteht die „kopernikanische Wende“ der Staatsrechtslehre19. Vor diesem Hintergrund versteht sich Kants Forderung nach der Verwirklichung der Republik: erst in der Republik und durch die Republik kann der Staatsbürger als nicht mehr subordiniert unter dem hoheitlichen Staat begriffen werden; denn jede Art der Über- und Unterordnung widerspricht dem republikanischen Prinzip der Gleichheit aller in der Freiheit20. Vielmehr gewähdet hat, war von dem Begriff der Herrschaft so besessen, daß er kein anderes Motiv politischer Ordnung oder doch keine andere Bezeichnung und Beschreibung politischer Verbände mochte gelten lassen“, S. 16. Er spricht sogar von „Max Webers Verblendung“, S. 19. Natürlich sei es richtig, daß auch der Bürger des Verfassungsstaates dem staatlichen Befehl Gehorsam schulde, allerdings nur unter der Voraussetzung, daß er gesetzlich begründet sei: „das Gute selbst wirkt (wie Hobbes gesagt hat) als Befehl. Dieses Merkmal rührt aber nicht davon her, daß im Verfassungsstaat offen oder verdeckte Herrschaft ausgeübt wird, (. . .) sondern es erwächst ganz im Gegenteil aus der bürgerlichen Vereinbarung, Herrschaft zu verhüten, sie durch verfassungsmäßige Einrichtungen und Verfahrensweisen zu ersetzen“, S. 24. Exakter läßt sich die „Herrschaftsfreiheit“ im Verfassungsstaat kaum formulieren. Verfassungstreue der westlichen Welt lebe „auf und aus dem Grunde bürgerlicher Legitimität“ und eben nicht „aus den Quellen charismatischer Legitimität“ wie bei Max Weber, S. 63. 17 Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 50 ff. 18 „Der Staat ist als die Wirklichkeit des substanziellen Willens, die er in dem zu seiner Allgemeinheit erhobenen besonderen Selbstbewußtsein hat, das an und für sich Vernünftige. Diese substanzielle Einheit ist absoluter unbewegter Selbstzweck“, G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 399. 19 W. Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, HVerfR, S. 195; so auch K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 486; E. W. Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, S. 62. 20 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 131 ff.
I. Herrschaft und Freiheit als unvereinbare Gegensätze
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ren und bestimmen die Bürger ihre Rechte selbst, sie sind der Staat. Der Staat ist ein rechtlicher Verband freier Bürger, der durch das Verfassungsgesetz etabliert wird; Verfassung ist aber nicht Herrschaft21, allerdings auch kein „politisches Schlaraffenland für Emanzipationsschwärmer“, wie Dolf Sternberger es treffend formuliert hat. Es sei am Satze des Aristoteles festzuhalten, „daß es die Tugend des Bürgers wie des Mannes sei, zu regieren und sich regieren zu lassen. Es gibt zur herrschaftlichen – griechisch: zur despotischen – Ordnung nur eine einzige Alternative: Das ist nicht die Anarchie, sondern (. . .) die bürgerliche Regierung, die Verfassungsordnung“ 22. Die kopernikanische Wende in der Staatsrechtslehre führt konsequent zu der Erkenntnis, daß es in der Republik keine liberalistische Trennung von Staat und Gesellschaft gibt23. Die Republik ist nicht so verfaßt, wie es die Verfechter einer indoktrinierten Herrschaftslehre sehen: oben der Staat, der befiehlt, und unten die Gesellschaft, das Volk, dem befohlen wird. Selbstverständlich hat die Freiheit in der Republik einen liberalen Aspekt; denn niemand soll der nötigenden Willkür anderer ausgesetzt sein, auch nicht der des Staates. Die Republik ist notwendig bürgerschaftlich verfaßt und damit demokratisch. Das darf aber nicht als die Herrschaft des Volkes mißverstanden werden24. Der Staat ist kein politischer Verband oder Anstaltsbetrieb, der Herrschaft ausübt, wie Max Weber es gesehen hatte. Stattdessen ist er als sinnvolle Einrichtung von Menschen für die Verwirklichung des guten Lebens aller in allgemeiner Freiheit zu begreifen. Die Ausübung der Staatsgewalt ist Sache des Volkes25 und ist eben keine Herrschaft von Menschen über Menschen. So bestimmt es Art. 20 Abs. 2 S. 1 Grundgesetz: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“. Nach der Logik der Republik kann ein Herrscher nicht demokratisch legitimiert sein, weil das mit der Freiheit in der Republik völlig unvereinbar wäre, in der eben alle die gleiche Freiheit haben. Und es ist die Aufgabe des Rechts, diese gleiche Freiheit zu verwirklichen26. Damit ist der grundgesetzliche Verfassungsstaat notwendigerweise eine Republik27, und die Republik notwendigerweise ein Rechtsstaat. Die Republik ist aus der 21 Allemal dann, wenn der Begriff der Herrschaft keine verfassungsrechtliche Verankerung hat, dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 127 ff. 22 D. Sternberger, Die Stadt als Urbild, S. 152. 23 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 150 ff. 24 „Das demokratische Prinzip der Republik als dem freiheitlichen Gemeinwesen steht gegen jede Art staatlicher Herrschaft; denn Herrschaft des als Bürgerschaft verstandenen Volkes über die Vielheit der Bürger als das Volk ist nicht denkbar, weil der Bürger durch seine Selbständigkeit, durch seine Unabhängigkeit von anderer nötigender Willkür, durch Freiheit nämlich, definiert ist“, K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 3. 25 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 16 f., 537 ff.; so auch E.-W. Bökkenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, HStR I, § 22, S. 890 f., Rdn. 5 ff. 26 Und der Sinn aller Politik ist Freiheit, H. Arendt, Was ist Politik?, S. 28. 27 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 25.
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2. Kap.: Republikanische Freiheit unter dem Grundgesetz Deutschlands
Idee der Freiheit geboren28. Notwendigerweise muß aber diese Freiheit für alle Bürger im Staate gleichermaßen Wirklichkeit sein. Damit reicht die verwirklichte Freiheit aller über die Möglichkeiten liberaler Freiheitsrechte weit hinaus, mit deren Hilfe nur die Verfolgung von Individualinteressen im Zentrum der Betrachtung steht. Die Freiheitsverwirklichung aller im Gemeinwesen erfordert die uneingeschränkte Moralität und eben nicht bloß die liberale Möglichkeit zur uneingeschränkten Verfolgung der Individualinteressen. Die Freiheit aller muß demnach dem Sittlichkeitserfordernis bestmöglich Rechnung tragen, ist also stets eine verantwortete Freiheit und kann deshalb nur in der Republik verwirklicht werden29. 3. Das freiheitliche Demokratieprinzip Eine Republik muß um der Freiheit willen demokratisch sein, und das Demokratieprinzip hat unter anderem die Mehrheitsregel zum Inhalt30. Doch die Entscheidung der Mehrheit begründet keine Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit31 oder die Durchsetzung der Interessen der Mehrheit gegen die Interessen der Minderheit. Noch vernunftwidriger wäre es, die Demokratie als Akklamation des Volkes zur Legitimation der Herrschaft von Parteiführern mißzuverstehen32. Das Demokratieprinzip ist zwar eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für die Verwirklichung der Freiheit33, weil es bei der Verwirklichung der Freiheit auch darum geht, der Gleichheit aller in ihrer Freiheit gerecht zu werden, also das richtige Gesetz zu finden, welches praktisch vernünftig sein muß; denn die staatlichen Organe sollen das gute Leben aller auf der Grundlage der
28 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 155; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 29 f. 29 „Die Freiheit aller und damit die Gleichheit aller in der Freiheit ist die politische Grundentscheidung der Republik, ihre Idee und ihr Zweck, auch die nach dem Grundgesetz“, K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 4 f. 30 Zur freiheitlichen Mehrheitsregel K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 163 ff.; ders., Res publica res populi, S. 119 ff.; J. J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 116 f. 31 Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 92 ff., 106 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 54 f. 32 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 101 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 54 f. 33 D. Sternberger, Herrschaft und Vereinbarung, S. 127. Hier greift auch das Argument von Sternberger, daß die (demokratische) Wahl nicht bloß ein Akt „irgendeiner Bestallungstechnik“ sein dürfe, sondern zu ihrer Legitimität die Identität des Amtes ausmache und der Charakter der Ausübung auf Zeit „wirklicher Grund der Rechtmäßigkeit“ sei, wobei er mit „Identität des Amtes“ seinen Erhalt innerhalb vorgesehener Grenzen und Befugnisse meinte. Auch dies also ein Argument, daß legitime Demokratie und demokratische Wahl keine Herrschaft oder die Wahl von Herrschern sein kann. Zum republikanischen Amtsprinzip K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 346 ff.
II. Die politische Freiheit als Souveränität des Volkes und der Bürger
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Freiheit und der Wahrheit verwirklichen34. Diese Vernünftigkeit ist die Einheit von Sittlichkeit und Legalität35. Der Erkenntnisprozeß des Richtigen und Vernünftigen muß bürgerlich sein, und Politik ist der Diskurs, der Recht hervorbringt. Weil nun Recht grundsätzlich mit der Befugnis zu zwingen verbunden ist, wie Kant richtig lehrt, läßt sich durchaus von der Herrschaft des Rechts sprechen. Doch diese Herrschaft ist keine Herrschaft im Sinne eines Über-Unterordnungsverhältnisses, einer Herrschaft von Menschen über Menschen, sondern schlicht das durchgängige Akzept der Vernunft auf der Erkenntnisgrundlage einer Allgemeinheitlichkeit der Freiheit, damit jeder Bürger „immer innerhalb der Grenzen der Einstimmung des Gebrauchs seiner Freiheit mit der meinigen bleibe“ 36. Nur die Herrschaft des Rechts, und damit die Herrschaft der Vernunft, ist freiheitlich37.
II. Die politische Freiheit als Souveränität des Volkes und der Bürger Freiheit ist für Kant die Autonomie der rein praktischen Vernunft. Dazu gehört die Fähigkeit zur eigenen Gesetzgebung38, Freiheit ist (Selbst-)Gesetzgebung39. Dazu muß der Bürger als politisch freier (Mit-)Gesetzgeber im Reich der Zwecke sein. Er ist „Oberhaupt“ im Staat, welches die Gesetze gibt und gleichzeitig Untertan, weil er sie zu befolgen hat. Der einzelne Mensch ist frei, weil er Gesetzen gehorcht, die er selbst mitgegeben hat. Das entspricht seiner Menschenwürde als 34 Im Übrigen hätte beim Einstimmigkeitserfordernis derjenige ein höheres Gewicht mit seiner Stimme, der sich gegen die Mehrheit stellt als die Mehrheit Stimmengewicht hat. Insofern ist die demokratische Mehrheitsregel durchaus akzeptabel, dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 119 ff. Außerdem würde ein Einstimmigkeitserfordernis den politischen Prozeß in einem großen Gemeinwesen wie Deutschland wohl weitgehend lahmlegen, weil man bei der Gesetzesfindung, die grundsätzlich die Erkenntnis des Richtigen sein soll, auf die Einsichtsfähigkeit auch des letzten Mitgesetzgebers, in der repräsentativen Demokratie auf die des letzten Abgeordneten angewiesen wäre. Es besteht ja durchaus die Möglichkeit des Irrtums des einzelnen Mitgesetzgebers bei der Erkenntnis des Richtigen und Vernünftigen, was Rousseau sagen ließ, daß die Minderheit sich eben geirrt habe, als sie gegen das Gesetz stimmte, und sie sei unter dem richtigen Gesetz, das die Mehrheit gefunden habe, frei, J. J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 117; in keinem Falle bedeutet dies aber die Herrschaft der Mehrheit, K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 153 ff., a. A. aber M. Hättich, Demokratie als Herrschaftsordnung, S. 41 ff., wohl auch W. Maihofer, HVerfR, S. 462 ff., 472 ff. 35 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 115; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 21 ff. 36 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 339. 37 Dazu scharfsinnig H. Arendt, Was ist Politik? S. 39 ff. 38 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 144, und die Unabhängigkeit von sinnlich-empirischen Antriebsmomenten. 39 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 86, Freiheit und die eigene Gesetzgebung des Willens sind Wechselbegriffe.
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2. Kap.: Republikanische Freiheit unter dem Grundgesetz Deutschlands
„Idee der Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetze gehorcht, als dem, das es zugleich selbst gibt“ 40. Damit ist die Gesetzgebung durch die Menschen in der vereinigten Bürgerschaft, der Bürger im Staat also, die elementare Voraussetzung für ihre Würde und ihre Freiheit. „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“, Art. 20 Abs. 1 GG. Die Staatsbezeichnung Bundesrepublik Deutschland ist nicht bloß Firmierung, sondern eine normative Entscheidung für die Republik41, hat also programmatischen Charakter, welcher sich aus der Logik der Gleichheit aller in der Freiheit ergibt42. Damit zählt das republikanische Prinzip zu den von Art. 79 Abs. 3 GG in ihrem Bestand gesicherten Grundsätzen, die auch nicht von einer verfassungsändernden Mehrheit von Bundestag und Bundesrat preisgegeben werden können. Die Unabänderlichkeit des republikanischen Prinzips gilt wegen Art. 28 Abs. 1 GG sowohl für den Bund als auch für die Länder43. In der staatsrechtlichen Literatur wird im republikanischen Prinzip allerdings oft lediglich eine Absage an die Monarchie gesehen44, die alle Staatsgewalt in sich vereinige. Für die Republik sei entscheidend, daß der Präsident seine Legitimation unmittelbar oder mittelbar durch einen Berufungsakt des Volkes erhält45. Dies allerdings ergibt sich ohne Schwierigkeit schon aus dem Wortlaut des Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“. Der Gehalt des republikanischen Prinzips erschöpft sich nicht im Monarchieverbot46, sondern ist ein grundlegendes Verfassungsprinzip47, weil sich sonst der Begriff der Republik zur Demokratie verengt48. Bedeutungsvoll ist, daß das republikanische Prinzip die Verhinderung der Vereinigung der Herrschaftsgewalt in einer Einzelperson 40
Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 67. K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, S. 581; zu Art. 20 GG als Staatsfundamentalnorm R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 20, I, Rdn. 7 f. 42 Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 61 f. 43 W. Henke, Die Republik, HStR I, § 21, S. 864, Rdn. 1. 44 R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 20, III, Rdn. 5. 45 So etwa von K. Stern, Das Staatrecht in der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, S. 581, aber auch R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 20, II, Rdn. 90. 46 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 12 f. 47 W. Henke, Die Republik, HStR I, § 21, S. 867, Rd. 7 ff.; zum republikanischen und monarchischen Prinzip grundlegend auch K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 10 ff. 48 Im übrigen falle es schwer, die Staatsform der konstitutionellen Monarchie richtig einzuschätzen, K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, S. 579. Kaum einsehbar, daß bei einem Monarchen als Staatsoberhaupt die Freiheit der Bürger und die Republik grundsätzlich und aus diesem Grunde schlechter verwirklicht werden könnte als bei einem gewählten Staatpräsidenten. Angesichts der Häufigkeit, mit der die konstitutionelle Monarchie heute in Europa angetroffen wird, scheint die Frage nach dem Staatsoberhaupt hinsichtlich der Freiheit der Bürger nicht die wesentliche Rolle zu spielen, wie schon Kant richtig sieht, aber auch J. J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 41 f. 41
II. Die politische Freiheit als Souveränität des Volkes und der Bürger
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bedeutet, ungeachtet dessen, ob diese Vereinigung auf Lebenszeit unabsetzbar oder erbmonarchisch erfolgt. Das republikanische Prinzip steht dem monarchischen Prinzip, welches durch die fürstliche Herrschaft gekennzeichnet ist, entgegen49. Richtig ist, daß das republikanische Prinzip „jede selbständige und dauernde Regierungsgewalt aus eigenem Recht“ ausschließt50. Aus diesem Grunde besteht die Verankerung der gewaltteiligen Funktionenordnung in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG, um Machtentstehung im Staate zu verhindern51. Und das trifft nun in der Tat den Kantischen Kern, das republikanische Prinzip ist eine Regierungsform, bei der eine Vereinigung von Gesetzgebung und Regierung ausgeschlossen ist. Insofern bedeutet Republik weniger ein Verbot der (Erb-)Monarchie, sondern vielmehr ein Verbot der Despotie! Das demokratische Prinzip und das Rechtsstaatsprinzip sind aufeinander verwiesen52, das ergibt sich schon aus der Verknüpfung von Regierungs- und Staatsform. Das mag dann auch eine Erklärung dafür sein, daß es in der staatsrechtlichen Literatur häufig zu einer Verwechslung von demokratischer und republikanischer Verfassung kommt53. Es erscheint nur schwer möglich, den Demokratiebegriff eindeutig zu erfassen54, denn Demokratie kann vielfältigste Formen annehmen55. Eine Entscheidung für eine Staats- und Regierungsform einer Demokratie läßt sich jedenfalls nicht aus den Worten „demokratisch“ in Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 S. 1 GG abgewinnen56. Was also bedeutet Demokratie in der Republik? Für die Antwort auf diese Frage weist Kant den Weg. Wer mit Kant akzeptiert, daß, erstens, die Freiheit das einzig angeborene Recht und diese Freiheit untrennbar mit der Gleichheit aller in einem Gemeinwesen in eben dieser Freiheit verbunden ist; zweitens, daß diese Freiheit als äußere negative Freiheit die Unabhän49
K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 13. P. Kirchhof, Die Identität der Verfassung in ihren unabänderlichen Inhalten, HStR I, § 19, S. 807, Rdn. 76; so auch W. Henke, Die Republik, HStR I, § 21, S. 878, Rdn. 27. 51 R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 20 GG, V, Rdn. 1 und 4, H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 867 ff.; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 167 ff.; ders., Res publica res populi, S. 168 ff. 52 W. Henke, Die Republik, HStR I, § 21, S. 879, Rdn. 29. 53 Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 28 ff. Schon Kant, Zum ewigen Frieden, S. 206 ff. hatte sie kritisiert. Aber auch Platon, Der Staat, 8. Buch, 564 a 15, S. 391, weist deutlich auf die Gefahren der Entwicklung von der Demokratie zur Tyrannis hin: „Und mit Recht entsteht somit, denke ich, die Tyrannis aus keiner anderen Verfassung als aus der Demokratie.“ F. A. v. Hayek, Verfassung der Freiheit, S. 132, ist der Meinung, daß Demokratie noch nicht Freiheit sei, das bloße Bestehen der Demokratie sichere die Freiheit keineswegs. 54 Zur „Phänomenologie“ des Demokratiebegriffs ausführlich: K. Stern, Staatsrecht, Bd. 1, S. 591 f. Zur Unterschiedlichkeit der Demokratieauffassungen W. Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, HVerfR, S. 175. 55 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 62 f. 56 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 61. 50
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2. Kap.: Republikanische Freiheit unter dem Grundgesetz Deutschlands
gigkeit von eines Anderen nötigender Willkür definiert ist; drittens, daß der Staat als die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen, als vereinigte Bürgerschaft begriffen wird; viertens, daß die Freiheit als Bürger in diesem Staat auch darin besteht, keinem Gesetz zu gehorchen, als zu welchem er seine Zustimmung gegeben hat; und wer dem zufolge und schließlich fünftens, erkannt hat, daß Freiheit und Herrschaft unvereinbare Gegensätze darstellen, weil ein Mensch entweder beherrscht wird oder frei ist, für den rückt die Souveränität des Volkes und der Bürger ins Zentrum der Betrachtung. Demokratie im Rechtsstaat ist nicht die bloße Wahl der Regierung57, schon gar nicht eine Staatsform als „Organisation politischer Herrschaft“ 58; denn Herrschaft und Freiheit sind unvereinbare Gegensätze. Demokratisch bedeutet, daß die Volkssouveränität das bestimmende Prinzip der Staatsform ist59, ganz wie Kant lehrt: das Volk ist Souverän60, ist Herrscher, allerdings nicht als eine Herrschaft von Menschen über Menschen verstanden, sondern als der vereinigte Wille des Volkes, der in der Gesetzgebung seinen Niederschlag findet. Souveränität ist nach allgemeiner Auffassung die höchste Gewalt im Staat, welche zu einer Macht berechtigt, sich gegenüber jeder anderen Gewalt durchzusetzen. Aufgabe des Souveräns ist es, das Gemeinwesen zu befrieden und es zugleich vor Feinden zu schützen. Dies gilt allgemein und unabhängig davon, wem der Status des Souveräns in personaler Hinsicht zukommt, dem Fürsten, dem Volk, der Partei oder den Bürgern61. Volkssouveränität, besser die (höchste) Staatsgewalt des Volkes62, ist insbesondere die Souveränität des Volkes als Gesetzgeber63. Es besteht ein Zusammenhang mit der Regierungsform. Weil das demokratische Prinzip in Deutschland strikt repräsentativ ist64 und unmittelbar auf das parlamentarische
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R. Gröschner, Die Republik, Zweitbearbeitung, HStR, Bd. II, § 23, Rdn. 53. So aber P. Badura, Die parlamentarische Demokratie, HStR, Bd. I, § 23, S. 972. 59 E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, HStR, Bd. I, § 22, S. 888, Rdn. 2 ff. 60 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 461 f. 61 K. A. Schachtschneider, Souveränität, S. 277. 62 K. A. Schachtschneider, Souveränität, S. 281. 63 Anders hingegen K. Stern, Volkssouveränität beträfe den Aufbau des Staates von unten nach oben und damit eine Legitimation der Herrschaft durch das Volk, Staatsrecht, Bd. 1, S. 593. Damit bleibt auch für Stern die Herrschaft das staatstragende Prinzip, S. 592. Stern fordert die Herrschaft „von unten nach oben“, S. 605. Das würde konsequenterweise bedeuten, daß das Volk befiehlt und die Regierung zu gehorchen hat, jedenfalls dann, wenn man den Herrschaftsbegriff Max Webers zugrunde legt. Das dürfte indessen nicht die Herrschaftsvorstellung sein, die Klaus Stern hier vorschwebt. Schon Rousseau hatte festgestellt, daß es keine echte Demokratie gibt oder jemals geben wird: „Es geht gegen die natürliche Ordnung, daß die Mehrzahl regiert und die Minderheit regiert wird.“ Bei Rousseau gilt dies in besonderem Maße für die Regierung, wodurch er seine Ablehnung der Demokratie als Regierungsform im Grundsatz begründete, J. J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 72 f. 64 K. Stern, Staatsrecht, Bd. 1, S. 608. 58
II. Die politische Freiheit als Souveränität des Volkes und der Bürger
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Regierungssystem verweist65, erscheint die Demokratie insofern als Staats- und Regierungsform66, verweist damit aber zugleich auf die Republik. Freiheit und Demokratie sind die Fundamente der politischen Auseinandersetzung, die auch im Verfassungsrecht verankert sind67: das Grundgesetz ist die Verfassung der Freiheit und die Verfassung der parlamentarischen Demokratie68. Jedenfalls bezieht sich Art. 20 Abs. 2 GG auf die Ausübung der Staatsgewalt, die dem demokratischen Prinzip gemäß zu sein hat69: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke durch Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt“. Dadurch kommt zum Ausdruck, „daß das Prinzip der sogenannten Gewaltenteilung, besser (staats-)gewaltteilige Funktionenordnung, nicht in Gegenüberstellung und Konkurrenz zum demokratischen Prinzip, sondern in seinem Rahmen und auf seiner Grundlage gelten soll: es ist allein das Volk, das durch die genannten besonderen Organe, die als seine Organe fungieren, die Staatsgewalt ausübt“ 70. „Demokratie bedeutet somit: das Volk hat das Sagen“ 71. Nach Böckenförde komme es bei der Ausübung der Staatsgewalt darauf an, daß „Innehabung und Ausübung der Staatsgewalt sich konkret vom Volk herleiten muß“, wobei eine „ununterbrochene demokratische Legitimationskette“, die alles staatliche Handeln, auch in Rechtsformen des Privatrechts, umfasse, erforderlich sei72. Dieses Legitimationserfordernis gelte sowohl in organisatorisch-personeller wie auch in sachlich-inhaltlicher Hinsicht73. Diese Sichtweise ist zu kritisieren, weil nämlich das Volk nicht lediglich Quelle der Staatsgewalt74, sondern die Innehabung der Staatsgewalt selbst beim und im Volk zu sehen ist75: sie wird durch Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung lediglich ausgeübt. Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG ist soweit republikanisch zu sehen und zugleich demokratisch, weil die Staatsgewalt auch durch Wahlen und Abstimmungen ausgeübt 65
K. Stern, Staatsrecht, Bd. 1, S. 599. E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, HStR, Bd. I, § 22, S. 888, Rdn. 1. 67 E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, HStR, Bd. I, § 24, S. 560, Rdn. 29. 68 K. Stern, Staatsrecht, Bd. 1, S. 571. 69 E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, HStR I, § 22, S. 892, Rdn. 8. 70 E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, HStR, Bd. I, § 22, S. 943 f., Rdn. 87. 71 K. A. Schachtschneider, Souveränität, S. 293. 72 E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, HStR, Bd. I, § 22, S. 894 f., Rdn. 11. Das ist natürlich auch eine Frage des Rechtsstaatsprinzips, weil die Rechtsstaatlichkeit eine Frage nach Inhalt, Umfang und Verfahrensweisen staatlicher Tätigkeit ist, S. 941, Rd. 83. 73 E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, HStR, Bd. I, § 22, S. 901, Rdn. 22; R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 2 I, Rdn. 46 ff. 74 So aber BVerfGE 47, 253 (275); 52, 95 (130); 83, 60 (71); 107, 59 (87). 75 K. A. Schachtschneider, Souveränität, S. 304. 66
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2. Kap.: Republikanische Freiheit unter dem Grundgesetz Deutschlands
wird. Die politische Willensbildung und die Ausübung der Staatsgewalt haben als „Willensbildung des Volkes“ (Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG) strikt demokratisch zu sein. Dieser Wille manifestiert sich „durchgehend vor allem im Gesetz oder ist das Gesetz76. Das Gesetz ist ein „Akt der Souveränität“ 77 und als Gesetz des Volkes der allgemeine Wille, der Wille aller Bürger als Bürgerschaft, der vereinigte Wille des Volkes, die volonté générale also78: die Freiheit wird durch die Gesetze verwirklicht79. Souveränität ist die Freiheit des Bürgers, und nur der Bürger ist souverän80, nicht der Staat, welcher die Souveränität für die Bürger ausübt. Souveränität ist also ein Rechtsprinzip des Staates81. Genausowenig wie das Volk82 hat der Staat eine von den Bürgern unabhängige Existenz, ein eigenes Sein83. Er ist eine Organisation, welche institutionell der Verwirklichung der Freiheit der Bürger in praktischer Vernunft durch Gesetze dient. Er hat keinen Willen und kann auch nicht herrschen84. Der Staat im weiteren Sinne ist das zum Staat verfaßte Volk, die Bürgerschaft, der existenzielle Staat. Der Staat im engeren Sinne ist die Menge der Organe des Volkes85. Diese Organe, die Staatsorgane, sind keine Subjekte und haben nicht die Souveränität inne86. Sie „sind Einrichtungen, mittels derer das Volk vertreten wird. Sie dienen dem Volk für dessen Zwecke, das gemeinen Wohl nach Maßgabe der Verfassung und des Verfassungsgesetzes. Sie handeln im Namen des Volkes, die Bundesorgane im Namen der Bundesrepublik Deutschland, des Rechtssubjekts, mittels dem die Deutschen sich zum Bundesstaat vereint haben“ 87; denn der „Staat (civitas) ist eine Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“ 88. Der ,pouvoir constitué‘ ist folglich durch das Verfassungsgesetz als Staat organisiert, die Staatsorgane als Organe des Volkes 76
K. A. Schachtschneider, Souveränität, S. 299. C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 146. 78 K. A. Schachtschneider, Souveränität, S. 300. 79 Dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 218 ff.; ders., Res publica res populi, S. 325 ff. 80 Die Begriffe Untertan und Souverän sind identische Begriffe, „deren Idee in dem einen Begriff des Bürgers vereinigt sind“, J. J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 100, vgl. auch S. 63. 81 K. A. Schachtschneider, Souveränität, S. 298. 82 K. A. Schachtschneider, Souveränität, S. 307. 83 K. A. Schachtschneider, Souveränität, S. 310; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 97. 84 K. A. Schachtschneider, Souveränität, S. 310 f. 85 K. A. Schachtschneider, Souveränität, S. 308 f. 86 K. A. Schachtschneider, Souveränität, S. 304 f. 87 K. A. Schachtschneider, Souveränität, S. 306. 88 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 431; dazu K. A. Schachtschneider, Souveränität, S. 416 ff.; zum Staat als Rechtsgemeinschaft, ders., Freiheit in der Republik, S. 49 ff., 285 ff.; ders., Res publica res populi, S. 519 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 30 ff., 55 ff. 77
II. Die politische Freiheit als Souveränität des Volkes und der Bürger
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haben verfassungsrechtlich definierte Zuständigkeiten, Befugnisse und Mittel zur Verwirklichung der allgemeinen Freiheit der Bürger89. Der Zweck des Staates und seiner Organe ist die Verwirklichung der Freiheit als Souveränität des Volkes. Das gilt insbesondere für die Organe der Gesetzgebung, der erklärte allgemeine Wille ist „ein Akt der Souveränität und hat Gesetzeskraft“ 90. Für Rousseau kann das Volk bei der Gesetzgebung grundsätzlich nicht vertreten werden91. Dieser hohe Anspruch kann in einem bevölkerungsreichen Flächenstaat wie Deutschland nicht verwirklicht werden. Andererseits lehrt Kant, daß die bürgerliche Freiheit auch bedeutet, keinem Gesetz zu gehorchen, dem die Bürger in Ausübung ihrer Autonomie des Willens nicht zugestimmt haben. Die Verwirklichung der Freiheit durch die Gesetzgebung erfolgt deshalb durch Organe, stellvertretend für das Volk. Die Befugnis zur Gesetzgebung wird, wie alle Ausübung der Staatsgewalt, nicht auf von den Bürgen losgelöste Staatsorgane übertragen, sondern auf Organe der Bürgerschaft. Das entspricht dem vereinigten Willen des Volkes als demokratische Legitimation und praktisch vernünftiger Rechtstechnik: es sind Organe der Bürgerschaft, des Volkes, welche die freiheitsverwirklichenden Gesetze der Bürger erkennen und beschließen. Dazu gehört auch, daß der politische Willensbildungsprozeß ein öffentlicher zu sein hat92. Das bedeutet, formal, daß jeder Einzelne im Staat zu dem vom Gesetzgebungsorgan beschlossenen Gesetz „seine Beistimmung gegeben hat“ 93, keinesfalls aber, daß die Gesetzgebungsorgane befugt wären, beliebige Gesetze zu verabschieden. Als Gesetze der Bürger müssen diese, material, das allgemeine Beste Aller im Staate zum Inhalt haben, also dem Gemeinwillen, der volonté générale, entsprechen94. „Was nicht Wille des Souveräns (sc. der Bürger, des Volkes) ist, verletzt dessen Souveränität95. Die Ausübung der Staatsgewalt durch das Volk ist im Hinblick auf die Gesetzgebung wesentlich die demokratische Wahl seiner Abgeordneten, die Delegierten im Sinne Kants96 oder die Beauftragten im Sinne Rousseaus97, insbesondere in die Landtage und in den Deutschen Bundestag. „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sind Vertreter des ganzen Volkes“ (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG), vertre89
K. A. Schachtschneider, Souveränität, S. 306. J. J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 28. 91 J. J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 103 f. 92 P. Badura, Die parlamentarische Demokratie, HStR, Bd. I, § 23, S. 970, Rdn. 30; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 560 ff., 584 f.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 354; R. Gröschner, Die Republik, Zweitbearbeitung, § 23, HStR, Bd. II, Rdn. 66. 93 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 432. 94 Dazu W. Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, HVerfR, S. 182. 95 K. A. Schachtschneider, Souveränität, S. 314. 96 Kant, Über den Gemeinspruch, S. 152 f. 97 J. J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 103. 90
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2. Kap.: Republikanische Freiheit unter dem Grundgesetz Deutschlands
ten also weder ihren Wahlkreis, geschweige denn ihre Partei98. Diese Legitimation zur Mitwirkung an der Gesetzgebung im Parlament bedeutet einerseits keine inhaltliche Vorbestimmtheit im Hinblick auf das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten bei der Verabschiedung von Gesetzen99, sie sind etwa an ihre ,Wahlversprechen‘ nicht gebunden. Andererseits sind wegen der Souveränität des Volkes seine Abgeordneten nur dazu legitimiert, das allgemeine Beste aller Bürger durch die Gesetze hervorzubringen und bei der Gesetzgebung nicht Privat- oder Sonderinteressen und damit einer Pfründenwirtschaft gefällig zu sein100. Das ist republikanisch; denn der „im Prinzip der Republik mitklingende Gedanke der res publica, der Verpflichtung auf das gemeine Beste“ 101 muß bestmöglich zum Tragen kommen. Gesetze sind nur richtig und praktisch vernünftig, wenn sie sachgerecht sind. Die Erkenntnis des Richtigen und des praktisch Vernünftigen erfordert also Sachverstand und damit größtmögliche Wissenschaftlichkeit. Die demokratische Wahl der Abgeordneten muß demnach eine Bestenauslese sein, weil grundsätzlich gilt, daß bei der Ausübung der Staatsgewalt eine größtmögliche Befähigung zum Amte erforderlich ist, weil die bestmögliche Ausübung der Staatsgewalt durch die Stellvertreter des Volkes die Maxime für alles staatliche Handeln ist102. Das ist in Art. 33 Abs. 2 und 4 GG geregelt103 und ist der Sinn der res publica104. Die Gesetzgebung muß um der Freiheit der Bürger willen in Moralität des Gesetzgebers erfolgen, nur durch diese Moralität lassen sich Gesetze freiheitlich 98 K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 366; ders., Res publica res populi, S. 810 ff.; R. Gröschner, Die Republik, Zweitbearbeitung, § 23, HStR, Bd. II, Rdn. 67. 99 Der politische Prozeß ist grundsätzlich inhaltlich offen, P. Badura, Die parlamentarische Demokratie, HStR, Bd. I, § 23, S. 971, Rdn. 31, also nicht inhaltlich von vornherein determiniert: es soll die volonté générale als das bestmögliche Gesetz aus der Sicht des Souveräns, des Gesetzgebers also, hervorgebracht werden. Damit steht der Gesetzgeber über den materiellen Interessen der Bürger oder Bürgergruppen und kann nur so auch der Moralität verpflichtet bleiben. Das ist kantisch. 100 J. J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 31, der Gesamtwille sieht nicht auf das Gemeininteresse, sondern „auf das Privatinteresse und ist nichts anderes als eine Summe von Sonderwillen“. 101 P. Kirchhof, Die Identität der Verfassung in ihren unabänderlichen Inhalten, HStR, Bd. I, § 19, S. 807, Rdn. 76, aber auch S. 803, Rdn. 68. 102 In diese Richtung argumentiert E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, HStR, Bd. I, § 22, S. 933 ff., Rdn. 70 ff., gerade vor dem Hintergrund der in der Regel sehr komplex gewordenen Sachfragen, die die Politik zu behandeln und zu entscheiden hat. 103 Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 809 f.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 311 ff. 104 „Jeder Deutsche hat nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amte“ (Art. 33 Abs. 2 GG); „Die Ausübung hoheitlicher Befugnisse ist als ständige Aufgabe in der Regel Angehörigen des öffentlichen Dienstes zu übertragen, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis stehen“ (Art. 33 Abs. 4 GG).
II. Die politische Freiheit als Souveränität des Volkes und der Bürger
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legitimieren105. Die Abgeordneten müssen dazu einen intellektuell überindividuellen Standpunkt einnehmen, von welchem aus sie die Sittlichkeit des zu beschließenden Gesetzes beurteilen106. Dazu sind sie nach Art. 38 Abs. 2 S. 2 GG „an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“; denn das „Gewissen ist der Gerichtshof der Sittlichkeit“ 107, „die sich selbst richtende moralische Urteilskraft“ 108, „ein Bewußtsein, das für sich selbst Pflicht ist“ 109. Recht kann die Gesetzgebung also nur hervorbringen, wenn sie eine ausschließlich moralische ist110. Dies kann man durchaus mit „demokratischen Ethos“ 111 bezeichnen. Menschen können irren, sowohl die Abgeordneten in den Parlamenten, aber auch die Amtswalter in den Verwaltungen und die Richter. Das ist grundsätzlich nicht vorwerfbar. Aber selbst wenn ein Gesetz einstimmig beschlossen werden würde, könnten sich dennoch alle Abgeordneten im Irrtum über seine Richtigkeit befinden, weil nämlich der Gesamtwille, die volonté des tous, nicht der Gemeinwille, die volonté générale ist. Die Möglichkeit des Irrtums muß folglich immer hingenommen werden. Die praktische Vernünftigkeit und die Sittlichkeit der Gesetze können demnach nur bestmöglich verwirklicht werden. Das rechtfertigt die demokratische Mehrheitsregel bei der Gesetzgebung, aber auch bei der Verwaltung und der Rechtsprechung, also bei Ausübung aller staatlichen Gewalt. Die Mehrheitsregel ist keinesfalls die Begründung einer Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit, sondern stellt eine gerechtfertigte Richtigkeitsvermutung zugunsten der Mehrheit bei der Erkenntnis des Rechts dar: die Minderheit hat sich eben geirrt112. Die Mehrheit vertritt auch die irrende Minderheit113. Die Mehrheitsregel ist das wesentlich demokratische Element der Republik114, welches verfassungsrechtlich verankert ist: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“ (Art. 20 Abs. 1 GG). 105 Kant, Zum ewigen Frieden, S. 239; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 526 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 21. 106 Die Moralität ist kein Moralismus, dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 264 ff.; zur Moral als guter Wille im Sinne Kants, ders., Souveränität, S. 245. 107 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 572 ff. 108 Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, S. 858. 109 Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, S. 857. 110 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 520 ff., ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 21. 111 E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, HStR, Bd. I, § 22, S. 937, Rdn. 75. 112 J. J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 116 f.; zur Mehrheitsregel K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 163 ff.; ders., Res publica res populi, S. 641 ff. 113 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 641 f. 114 Dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 163 ff., 424 ff.; ders., Res publica res populi, S. 641 ff.
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2. Kap.: Republikanische Freiheit unter dem Grundgesetz Deutschlands
Beim demokratischen und republikanischen Prinzip geht es nicht um die Begrenzung der staatlichen Herrschaft, als „republikanische Ämterherrschaft“ 115 etwa, auch nicht um eine Etablierung einer Volksherrschaft im Sinne einer Herrschaft von unten nach oben, als einer grundsätzlichen Herrschaft von Menschen über Menschen116, sondern ausschließlich um die Verwirklichung der individuellen Freiheit jedes Einzelnen und die aller Bürger gleichermaßen. Der einzelnen soll Herr seiner selbst und damit auch sein eigener Gesetzgeber sein117. Es ist demokratisch, daß das Volk stets die ihm als am besten geeignet erscheinenden Personen unmittelbar oder mittelbar mit der Ausübung der Staatsgewalt betraut118, das liegt im ureigensten Interesse der Bürger. Insoweit ist es richtig, daß die Bürger von ihresgleichen regiert werden119, weil sie von Bürgern regiert werden. Doch diese Personen üben keine Herrschaft aus120, auch nicht stellvertretend für das Volk. Rousseau lehrt, daß Regierung Geschäftsführung zur Durchführung der Gesetze im Dienste der Erhaltung der bürgerlichen und politischen Freiheit ist121, weil die Autorität des eigenen Gesetzes über allem steht und nicht die Autorität eines fremden Herren122, also keines anderen Herrn als sich selbst. Das ist aber Freiheit, nicht Herrschaft; denn der Bürger hat die sittliche und da115
W. Henke, Die Republik, HStR, Bd. I, § 21, S. 877, Rdn. 23. K. Stern, Staatsrecht, Bd. I, S. 605. 117 Dennoch bringt Böckenförde in ebendiesem Zusammenhang die politische Herrschaft ins Spiel: vor dem Hintergrund kantischen Verständnisses von gesetzlicher Freiheit, daß niemand Gesetzen zu gehorchen hat, denen „er nicht seine Beistimmung gegeben hat“, ein Grundsatz, den Böckenförde bejaht, vertritt er die Auffassung, daß die Demokratie die freiheitsgemäße Form der politischen Herrschaft sei, E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, HStR, Bd. I, § 22, S. 910, Rdn. 35. Demgegenüber wird hier die These vertreten, daß republikanische Freiheit eben nicht demokratische Herrschaft ist! 118 Zur Bestenauslese K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 166 ff.; ders., Res publica res populi, S. 662 ff., 675 ff., 681 ff. 119 W. Henke, Die Republik, HStR, Bd. I, § 21, S. 873, Rdn. 16. 120 So verstanden ist es korrekt, daß es nicht um die Herrschaft der Besten und Geeignetsten geht, vgl. W. Henke, Die Republik, HStR, Bd. I, § 21, S. 873, Rdn. 16. Doch so war das von Henke an dieser Stelle nicht gemeint. Das Republikprinzip besteht eben nicht darin, wie Henke meint, daß zwar in einer gesetzlichen Ordnung Menschen regieren, was unbestritten ist, und daß es nicht darauf ankomme, diese Menschen auch ersetzen zu können, „sondern darauf, ihre Macht zur Amtsgewalt zu wandeln“, S. 883, Rdn. 36. Daß aber auch Amtsgewalt herrschaftlich ist, scheint für Henke kein Problem zu sein, denn die Macht im Staat sei immer schon verteilt, S. 874, Rdn. 17, damit aber immer schon vorhanden. Dies kann allerdings nur dann gelten, wenn man wie Henke davon ausgeht, daß grundsätzlich nicht die Gesetze, sondern Menschen herrschen. Er übersieht dabei offensichtlich, daß jedwede Form von Herrschaft durch Menschen über Menschen nicht mit der Freiheit vereinbar ist, jedenfalls nicht mit dem Freiheitsbegriff Kants, von dem hier als die einzig denklogische Möglichkeit die Rede ist. 121 J. J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 62. 122 W. Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, HVerfR, S. 187, unter Bezugnahme auf Montesquieus „Liebe zu den Gesetzen“ als Tugend der Bürger. Das kann durchaus als Moralität bei Kant gewertet werden. 116
II. Die politische Freiheit als Souveränität des Volkes und der Bürger
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mit freiheitliche Pflicht, die Gesetze zu befolgen, und weil er sie selbst mitgegeben hat, ist er frei: volenti non fit iniuria123. Die Gesetze haben durchaus Zwangscharakter, schon deshalb, weil Recht begrifflich bereits mit der Befugnis zu zwingen verbunden ist124. In praktischer Hinsicht ist dies wegen der Gleichheit aller in der Freiheit erforderlich, damit jeder beim Gebrauch seiner Freiheit stets im Einklang mit der Freiheit der Mitbürger bleibt: Zwang ist das Hindernis eines Hindernisses der Freiheit125. Es kann damit beim demokratischen Prinzip in der Republik nicht um eine Begrenzung von irgendeiner Art von Herrschaft gehen, sondern um die bestmögliche Verwirklichung individueller Freiheit für alle Bürger zusammen126. Das sieht auch das Bundesverfassungsgericht im KPD-Urteil so, in welchem bei der Formulierung der Ziele der Politik im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Begriff der Herrschaft überhaupt nicht vorkommt127. Es geht
123 Es herrsche in der Bundesrepublik Deutschland das Regierungsprinzip der Führerschaft, das der Anerkennung der Geführten bedürfe, E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, HStR, Bd. I, § 22, S. 920, Rdn. 51. Aber wie bei der Herrschaft ist auch bei der Führerschaft stets mitklingende Gedanke der einer gewissen Unmündigkeit der Bürger: die Masse der Bevölkerung bedarf der herrschaftlichen Führung, der sich anvertraut und unterwirft. Darin liegt die Tendenz zum Führerstaat, die das Grundgesetz zu verhindern trachtet. 124 Das Verfassungsgesetz beansprucht Geltung, wodurch eine Befolgungsfähigkeit und prinzipielle Befolgungswilligkeit der Rechtsbetroffenen, der Bürger vorausgesetzt werden muß, P. Kirchhof, Die Identität der Verfassung in ihren unabänderlichen Inhalten, HStR, Bd. I, § 19, S. 796, Rdn. 49. 125 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 338 f.; dazu K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 53 f.; ders., Res publica res populi, S. 556. 126 Zum Aspekt der Gleichheit in der Freiheit E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, HStR, Bd. I, § 22, S. 914, Rdn. 41. Im Zentrum des Rechtsstaates steht die Freiheit der Bürger, R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 20, III, Rdn. 12. 127 Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 17.8.1956, BVerfGE 5, 85 (204 ff.): „In der freiheitlichen Demokratie ist die Würde des Menschen der oberste Wert. Sie ist unantastbar, vom Staate zu achten und zu schützen. Der Mensch ist danach eine mit der Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung begabte ,Persönlichkeit‘. Sein Verhalten und sein Denken können daher durch seine Klassenlage nicht eindeutig determiniert sein. Er wird vielmehr als fähig angesehen, und es wird ihm demgemäß abgefordert, seine Interessen und Ideen mit denen der anderen auszugleichen. Um seiner Würde willen muß ihm eine möglichst weitgehende Entfaltung seiner Persönlichkeit gesichert werden. Für den politisch-sozialen Bereich bedeutet das, daß es nicht genügt, wenn eine Obrigkeit sich bemüht, noch so gut für das Wohl von ,Untertanen‘ zu sorgen; der Einzelne soll vielmehr in möglichst weitem Umfange verantwortlich auch an der Entscheidungen für die Gesamtheit mitwirken. Der Staat hat ihm dazu den Weg zu öffnen; das geschieht in erster Linie dadurch, daß der geistige Kampf, die Auseinandersetzung der Ideen frei ist, daß mit anderen Worten geistige Freiheit gewährleistet wird. Die Geistesfreiheit ist für das System der freiheitlichen Demokratie entscheidend wichtig, sie ist geradezu eine Voraussetzung für das Funktionieren dieser Ordnung; sie bewahrt es insbesondere vor Erstarrung und zeigt die Fülle der Lösungsmöglichkeiten für die Sachprobleme auf. Da Menschenwürde und Freiheit jedem Menschen zukom-
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2. Kap.: Republikanische Freiheit unter dem Grundgesetz Deutschlands
nicht um eine Befugnis zur Herrschaft in der Demokratie als Herrschaft auf Zeit128, sondern um die Freiheitsverwirklichung in der Republik, wobei die Ausübung der Staatgewalt sich an den Gesetzen zu orientieren und auf die Gesetzgebung hin auszurichten hat129. Erst durch diese Sichtweise gelingt die Erkenntnis einer (zumindest als Idee gedachte130) Identität von Regierenden und Regierten in der Republik131. In der Orientierung auf die Freiheit der Bürger besteht der men, die Menschen insoweit gleich sind, ist das Prinzip der Gleichbehandlung aller für die freiheitliche Demokratie ein selbstverständliches Postulat. Das Recht auf Freiheit und Gleichbehandlung durch den Staat schließt jede wirkliche Unterdrückung des Bürgers durch den Staat aus, weil alle staatliche Entscheidungen den Eigenwert der Person achten und die Spannung zwischen Person und Gemeinschaft im Rahmen des auch dem Einzelnen zumutbaren ausgleichen soll. Der kommunistische Begriff von ,Unterdrükkung‘, die in jeder staatlichen Machtausübung überhaupt gesehen wird, ist dem System der freiheitlichen Demokratie von Grund aus fremd; ,Unterdrückung‘ entspringt einer auch den Staat erniedrigenden im Grunde inhumanen Vorstellungswelt. Der Staat ist ein Instrument der ausgleichenden sozialen Gestaltung, nicht der Unterdrückung durch die Ausbeuter zur Aufrechterhaltung ihrer Ausbeuterstellung. Es wird zwischen notwendiger Ordnung und Unterdrückung unterschieden. Unterdrückung wäre in der freiheitlichen Demokratie nur in Staatsmaßnahmen zu erblicken, die nach vernünftigen – freilich nicht unwandelbaren – Maßstäben eine Vergewaltigung des Einzelnen darstellen, als seine Freiheit oder sein Recht auf Gleichbehandlung mit den deren in einer unzumutbaren Weise verletzen würden. Darüber hinaus entnimmt die freiheitlich demokratische Grundordnung dem Gedanken der Würde und Freiheit des Menschen die Aufgabe, auch im Verhältnis der Bürger untereinander für Gerechtigkeit und Menschlichkeit zu sorgen. Dazu gehört, daß eine Ausnutzung des einen durch den anderen verhindert wird. Allerdings lehnt die freiheitliche Demokratie es ab, den wirtschaftlichen Tatbestand der Lohnarbeit im Dienste privater Unternehmer als solchen allgemein als Ausbeutung zu kennzeichnen. Sie sieht es aber als ihre Aufgabe an, wirkliche Ausbeutung, nämlich Ausnutzung der Arbeitskraft zu unwürdigen Bedingungen und unzureichenden Lohn zu unterbinden. Vorzüglich darum ist das Sozialstaatsprinzip zum Verfassungsprinzip erhoben worden; es soll schädliche Auswirkungen schrankenloser Freiheit verhindern und die Gleichheit fortschreitend bis zu dem vernünftigerweise zu fordernden Maß verwirklichen. Die freiheitliche Demokratie ist von der Auffassung durchdrungen, daß es gelingen könnte, Freiheit und Gleichheit der Bürger trotz der nicht zu übersehenden Spannungen zwischen diesen beiden Werten allmählich zu immer größerer Wirksamkeit zu entfalten und bis zum überhaupt erreichbaren Optimum zu steigern“. 128 So aber E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, HStR, Bd. I, § 22, S. 920, Rdn. 51; auch P. Badura, Die parlamentarische Demokratie, HStR I, § 23, S. 972, Rd. 33, ist der Auffassung, Demokratie sei die Ordnung der Herrschaft. 129 „Auch eine Regierung des bürgerlichen Einverständnisses und der bürgerlichen Anvertrauung erteilt Befehle und übt Zwang aus, aber sie tut es vermöge einer fundamentalen Vereinbarung – wir nennen sie die Verfassung. Sie herrscht nicht über Menschen. Regieren ist nicht Herrschaft. Wo immer sie in Herrschaft übergeht, (. . .), da büßt sie ihre bürgerliche Rechtmäßigkeit ein. Denn diese haftet gerade nicht an Herrschaft, sondern an der Vereinbarung, an der Übereinkunft“, D. Sternberger, Herrschaft und Vereinbarung, S. 51. 130 A. A. P. Badura, Die parlamentarische Demokratie, HStR, Bd. I, § 23, S. 973, Rdn. 36. Dennoch, die Identität von Regierenden und Regierten ist sehr wohl eine Fiktion, weil gerade nicht jeder Bürger regiert, sondern Gesetze gibt. 131 E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, HStR, Bd. I, § 23, S. 919, Rdn. 49.
III. Die Würde des Menschen
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Zusammenhang von Demokratie und Rechtsstaat132, weil eben die Freiheit eine rechtlich geordnete Freiheit zu sein hat133, die eine gesetzliche Freiheit ist. Im Zentrum der republikanischen Freiheitslehre steht damit der Bürger als Person134, welche zwei Sollensordnungen untersteht, nämlich einer juridischen und einer moralischen135. Er gehorcht zwar den Gesetzen, die aber seine Freiheit nicht verletzen, weil er sie selbst mitgegeben hat. Dazu sind politische Freiheitsrechte136 erforderlich. Die Forderung nach der Moralität des Gesetzgebers verweist in der Republik zunächst einmal auf die Moralität des Bürgers, denn er ist (Mit-)Gesetzgeber. Sollen die Handlungen der Bürger freie Handlungen sein, so müssen sie dem moralischen Grundgesetz der rein praktischen Vernunft, dem Sittengesetz oder kategorischen Imperativ genügen. Diese Moralität schließt aber die Legalität mit ein, als die Gesetze des Rechts allgemeine Gesetze sind, denen die Handlungsmaximen der Bürger genügen müssen. Es besteht also aus moralischen Gründen eine Pflicht zur Legalität137. Weil aber der Bürger in der verwirklichten Republik diese Gesetze mitgibt, sind sie freiheitlich, und um Recht zu sein, ist Recht mit der Befugnis zu zwingen verbunden138. Die Pflicht zur Legalität bedeutet eine (moralische) Pflicht zur Politik139, das richtige Gesetz mit hervorzubringen. Unter diesen Voraussetzungen allein wird die Freiheit durch die Gesetze verwirklicht140: die Gesetzlichkeit ist die Wirklichkeit der Freiheit141.
III. Die Würde des Menschen 1. Problematische Materialisierung des Würdebegriffs „Die Würde des Menschen in unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ – Art. 1 Abs. 1 GG. Der Verfassungsgesetzgeber habe sich mit der Formulierung zum „sittlichen Wert der Menschen132 E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, HStR, Bd. I, § 22, S. 942, Rdn. 84. 133 E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, HStR, Bd. I, § 24, S. 1003, Rdn. 31. 134 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 217; W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 89 ff.; W. Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, HVerfR, S. 195 ff. 135 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 230. 136 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 187. 137 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 13; ders., Metaphysik der Sitten, S. 334; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 288 f. 138 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 291; W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 29 ff.; J. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 45 ff. 139 Zur Pflicht zur Politik, K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 266; H. H. Klein, Über Grundpflichten, Der Staat 14 (1975), S. 159, S. 167 f. 140 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 292 f.; H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 536 ff. 141 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 294.
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2. Kap.: Republikanische Freiheit unter dem Grundgesetz Deutschlands
würde bekannt“, „nachdem ein Hinweis auf Gott als den Urgrund alles Geschaffenen nicht durchgesetzt werden konnte“ 142. Die beste Ausformulierung dieses sittlichen Wertes der Menschenwürde findet Günter Dürig in einer Formel des bayerischen Verfassungsgerichtshofes: „Der Mensch als Person ist Träger höchster geistig-sittlicher Werte und verkörpert einen sittlichen Eigenwert, der unverlierbar und auch jedem Anspruch der Gemeinschaft, insbesondere allen politischen und rechtlichen Zugriffen des Staates und der Gesellschaft gegenüber eigenständig und unantastbar ist. Die Würde der menschlichen Persönlichkeit ist dieser innere und zugleich soziale Wert- und Achtungsanspruch, der dem Menschen um dessentwillen zukommt“. Zwar habe im Zuge der Rechtsentwicklung Art. 1 Abs. 1 GG seine Klagestütze und Anspruchsgrundlage eingebüßt, weil dieses Grundrecht kein Individualrecht mehr sei, gewonnen wurde aber ein Wertsystem, „das sich weitgehend zugleich als ein rechtslogisches Anspruchssystem erweist, in dem sich der Hauptwert zu den Teilwerten wie der rechtliche Obersatz zu den Teilrechtssätzen verhält“ 143. Damit würde die Verfassung mit einem objektiven Wert begründet144. Das Bundesverfassungsgericht stellt die Grundrechte in einen wertsystematischen Zusammenhang mit der Menschenwürde und erkennt in ihr den Ausgangspunkt der Grundrechte, insbesondere des Rechts zur freien Entfaltung der Persönlichkeit aus Art. 2 Abs. 1 GG145. Die Menschenwürde, als raum-zeit-unabhängige Wertaussage „besteht in folgendem: Jeder Mensch ist Mensch kraft seines Geistes, der ihn abhebt von der unpersönlichen Natur und ihn aus eigener Entscheidung dazu befähigt, seiner selbst bewußt zu werden, sich selbst zu bestimmen und sich die Umwelt zu gestalten“, so Dürigs Definition der Menschenwürde. Sie teile sich dann dogmatisch in zwei Hauptgrundrechte auf, nämlich in die Freiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und die Gleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG), wobei allerdings zu beachten sei, daß es sich bei der inhaltlichen Bestimmung dieser Freiheit denknotwendiger Weise lediglich um eine abstrakte Freiheit handeln könne, also um eine Freiheit „die dem Menschen an sich eigen ist. Der allgemein menschliche Eigenwert der Würde kann somit von vornherein nicht in der jederzeitigen gleichen Verwirklichung beim konkreten Menschen bestehen, sondern in der gleichen abstrakten Möglichkeit (potentielle Fähigkeit) zur Verwirklichung“ 146. So gesehen wäre die Menschenwürde ein abstraktes Recht im Sinne Hegels, also eine Erlaubnis oder Befugnis. Aber „es ist nicht absolut notwendig, daß ich mein Recht verfolge, weil es nur eine Seite des ganzen Verhältnisses ist. Möglichkeit ist nämlich Sein, das die Bedeutung hat,
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G. Dürig, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 1, Rdn. 1. G. Dürig, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 1, Rdn. 5. 144 G. Dürig, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 1, Rdn. 1. 145 Dazu mit weiteren Nachweisen P. Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, HStR, Bd. I, § 20, S. 820, Rdn. 6. 146 G. Dürig, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 1, Rdn. 17 f. 143
III. Die Würde des Menschen
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auch nicht zu sein“ 147. Nach dieser Interpretation hätte die Menschenwürde ihren Absolutwert eingebüßt und wäre lediglich ein relativer Wert, ein Preis im Sinne Kants, mit welchem in der Konsequenz die Verfassung nicht objektiv begründet werden könnte. Gerade dies aber ist der verfassungsrechtliche Anspruch, wenn Art. 1 Abs. 2 GG unter Verweis auf die Unantastbarkeit der Menschenwürde („darum“) das Bekenntnis zu den Menschenrechten formuliert und den Absatz 1 zur Grundlage dieses Bekenntnisses macht148. Die Menschenwürde kann nur dann als der höchste Rechtswert innerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung, als oberster Verfassungswert gelten149, wenn sie absolut und objektiv Geltung hat und entgegen Dürig in der Verwirklichung beim konkreten Menschen besteht. Die bloße Akklamation der Menschenwürde zu einem absoluten Wert ist nicht hinreichend für eine objektive Wertbegründung der Verfassung. Ein objektiver Wert muß a priori durch rein praktische Vernunft einsehbar sein, was aber bei dem Versuch einer bloß materialen Bestimmung der Menschenwürde fehlschlägt. Selbstbewußtsein, Selbstbestimmung und die Gestaltung der Umwelt haben lediglich relative Bedeutung: Zwecke, „die sich ein vernünftiges Wesen als Wirkung seiner Handlung nach Belieben vorsetzt (materiale Zwecke), sind insgesamt nur relativ; denn nur bloß ihr Verhältnis auf ein besonders geartetes Begehrungsvermögen des Subjekts gibt ihnen den Wert, der daher keine allgemeine für alle vernünftigen Wesen, und auch nicht für jedes Wollen gültige und notwendige Prinzipien, d. i. praktische Gesetze, an die Hand geben kann“ 150. Genau dies aber ist zu fordern: die Würde muß auch einem Menschen zugesprochen werden, der die Fähigkeit zur freien Selbst- und Lebensgestaltung von vornherein nicht hat151, etwa der geistig Behinderte. Richtig erkennt das Bundesverfassungsgericht: „Das menschliche Leben ist die vitale Basis der Menschenwürde und oberster Verfassungswert. Jeder Mensch besitzt als Person die Würde, ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seinen körperlichen oder geistigen Zustand, seine Leistungen und seinen sozialen Status“ 152..Keinesfalls kann einem Menschen seine Würde abgesprochen werden, schon gar nicht mit Vernunftgründen, „sie kann keinem Menschen genommen werden“ 153 Die Menschenwürde ist ein allgemeiner menschlicher Eigenwert154; denn wo „menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu; es ist nicht entscheidend, ob der Träger sich dieser 147
G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 96 f. G. Dürig, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 1, Rdn. 55. 149 Unter Verweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts P. Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, HStR, Bd. I, § 20, S. 821, Rdn. 7. 150 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 59. 151 H. Hofmann, Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 1, Rdn. 7. 152 BVerfGE 115, 118 (151); aber auch 87, 209 (288); 96, 375 (399). 153 BVerfGE 115, 118 (151); 87, 209, (228). 154 G. Dürig, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 1, Rdn. 20. 148
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2. Kap.: Republikanische Freiheit unter dem Grundgesetz Deutschlands
Würde bewußt ist und sie selbst zu wahren weiß. Die von Anfang an im menschlichen Sein angelegten potentiellen Fähigkeiten genügen, um die Menschenwürde zu begründen“ 155. Die Menschenwürde ist entgegen der Auffassung Dürigs ein subjektives öffentliches Recht156; die Menschenwürde „zu achten und zu schützen ist Aufgabe aller staatlichen Gewalt“, welche eine Achtungs- und eine Schutzpflicht des Staates begründet157 und die Gesetzgebung, die Rechtsprechung und die Verwaltung an die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht bindet158. Sie schützen die Menschheit des Menschen im Menschen und damit den Menschen als Person.159 Die Menschheitlichkeit des Menschen begründet seine Würde, der Begriff der Würde selbst bedarf keiner „weiteren juristischen Definition“ 160; denn verletzbar ist der Achtungsanspruch, der sich aus der Würde ergibt161, die Würde selbst ist unverletzlich, unantastbar162. 2. Die Würde des Menschen als Zweck an sich selbst Mit Kant ist es möglich, den Begriff der Würde des Menschen exakt zu bestimmen163. Der Mensch ist Selbstzweck, „der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an sich selbst“ 164. Die Menschenwürde ist „getroffen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird“, so Günter Dürigs Objektformel165. Daraus folgt, daß der Mensch, „dessen Dasein an sich selbst einen absoluten 155
BVerfGE 31, 1 (40). So bereits BVerfGE 1, 343 (347), BGHZ 13, 338. 157 Und in einen Anspruch auf Unterlassung von Verletzungen der Menschenwürde mündet, H. Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 1, Rdn. 8; zur Schutzpflichtdogmatik K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 822 ff.; ders., Der Anspruch auf materiale Privatisierung, S. 177 f. 158 H. Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 1, Rdn. 3. 159 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 370 f. 160 H. Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 1, Rdn. 13. 161 BVerfGE 87, 209 (228). 162 BVerfGE 1, 332 (242); 12, 113 (123); 15, 283 (286). 163 Überhaupt stünde die Menschenwürde „im Kontext von interdisziplinär-kulturwissenschaftlich zu behandelnden Vorgängen“ und sei von Kant mit auf den Weg gebracht worden, P. Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, HStR, Bd. I, § 20, S. 833, Rdn. 32. 164 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 59. 165 G. Dürig, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 1, Rdn. 28; dazu auch K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 99 ff.; ders., Res publica res populi, S. 208, 320; ders., Freiheit in der Republik, S. 608; P. Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, HStR, Bd. I, § 20, S. 836, Rdn. 38; E. Benda, Menschenwürde und Persönlichkeitsrecht, HVerfR, S. 169; BVerfGE 4, 7 (15); 7, 198 (205); 24, 119 (144); 27, 1 (7); 30, 173 (193); 33, 303 (334); 48, 127 (163); 49, 286 (298); 50, 166 (175). 156
III. Die Würde des Menschen
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Wert hat, was, als Zweck an sich selbst, ein Grund bestimmter Gesetze sein könnte, so würde in ihm, und nur in ihm allein, der Grund eines möglichen kategorischen Imperativs, d. i. praktischen Gesetzes, liegen“ 166. Die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen ist der transzendentalphilosophisch letzte Grund für jede Möglichkeit eines praktischen Gesetzes, und damit auch der Grund- und Menschenrechte. Nur die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen kann als objektiver Zweck, als absoluter Wert gewertet werden, und als dieser Grund des praktischen Gesetzes erst ist der Mensch Person167. Der Kern der Menschenwürde besteht darin, daß der Mensch Zweck an sich selbst ist168. 3. Die Würde als Autonomie des Willens Die Würde des Menschen als moralische Person ist seine Selbstzweckhaftigkeit in der menschlichen Gemeinschaft, im Reich der Zwecke, im Staat. Freiheit als „Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur“ 169. Und diese wiederum ist ein angeborenes Recht, kraft der Heiligkeit der Menschheit in der Person jedes Menschen. Die Würde ist als (innere) Freiheit die Autonomie des Willens170, und ist, weil sie schon aus Erkenntnisgründen ethisch begründet ist, heilig, also unverletzlich. Demnach gilt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – Art. 1 Abs. 1 GG171. Dieser Satz ist auch
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Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 59. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 60. 168 W. Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, HVerfR, S. 200. 169 Kant, Grundlegung der Metaphysik der Sitten, S. 69. 170 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 83 ff., 203 ff., 274 ff. 171 K. Stern vertritt dagegen die These, daß „Kants Würdebegriff der in Art. 1 Abs. 1 GG getroffenen Regelung nicht zugrunde liegen“ kann: das entscheidende Kriterium bei Kant sei die sittliche Autonomie, sie sei der Grund für die Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur. In Kants Werk sei die Würde selbst kein zentrales Thema, weil sie nur gelegentlich und beiläufig angesprochen werde. Die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen als Ausgangspunkt von Kants Argumentation sei rein subjektiv und der auf dieser Basis gewonnene kategorische Imperativ rein formal und inhaltsarm. Damit würde Kant nicht ohne weiteres allen Menschen Würde zubilligen, weil für Kant Würde das ausmache, unter der etwas Zweck an sich selbst sein könne, und diese Bedingung sei eben die Moralität, und zwar im überaus strengen Sinne seiner Pflichtenlehre. Würde setze bei Kant also die Erfüllung bestimmter einschränkender Anforderungen im Hinblick auf Vernunft und Moral voraus, und demnach hätte bei Kant eben nicht jeder Mensch allein kraft seines Menschseins Würde, ganz gleich wie er beschaffen sei und wie er sich verhielte. Manches deute bei Kant darauf hin, daß er Würde im Grunde genommen überhaupt nicht unmittelbar dem einzelnen Menschen, sondern nur der Menschheit schlechthin, oder gar nur der autonomen Sittlichkeit, mithin einem objektiven Prinzip zubillige, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 7 ff. Gründlicher kann Kant kaum mißverstanden werden. Stern verkennt hier Kants zentrales Anliegen seines gesamten philosophischen Denkens, und in diesem Zusammenhang konkret die Frage, wie sich denn die Menschenwürde aus der Vernunft heraus begründen läßt, wenn sie gerade nicht von einem christlichen oder sonstigen Glaubensbekenntnis abgeleitet werden soll, 167
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2. Kap.: Republikanische Freiheit unter dem Grundgesetz Deutschlands
ein Erkenntnissatz, und zwar ein transzendentalphilosophisch letztbegründeter172. Durch die „Ewigkeitsentscheidung“ des Artikel 79 Absatz 3 GG ist die Menzumal Stern selbst die imago-dei-Lehre mit dem Hinweis ablehnt, daß der christliche Glaube nicht mehr Gemeingut der Rechtsgemeinschaft sei, Staatsrecht, Bd. III/1 S. 9 f. Im Zeitalter der Aufklärung verbleibt dann nur eine Vernunftbegründung, und es ist doch die entscheidende Frage, wie dem Menschen, gleich wie er beschaffen ist und wie er sich verhält, diesem empirischen Wesen als homo phaenomenon, der selbst unheilig genug ist, weil er durch Schwächen gekennzeichnet ist und dem bei seinen Handlungen auch enorme Fehler unterlaufen, weil er durchaus seinen Mitmenschen schweres Unrecht antun kann, wie eben diesem Wesen dennoch der unvergleichlich hohe und absolute Wert der Würde zugesprochen werden kann? Darauf macht Stern nicht einmal den Versuch einer Antwort. Statt dessen weist er auf die Jahrhunderte alte Tradition des Personenbegriffs hin: jedem einzelnen Menschen muß die Personeneigenschaft zugesprochen werden, und als Person kommen ihm dann zwingend angeborene Rechte auch gegenüber dem Staat zu. Die Menschenwürde sei damit eine (wohl bloß positivistische) Rechtsfrage und damit Schlüsselbegriff des Verhältnisses des Menschen zum Staat, Staatsrecht Bd. III/1 S. 14 f. Auf die Darstellung zur „Idee der Persönlichkeit“ und die Zusprechung der Personenhaftigkeit jeden einzelnen Menschen bei Kant, vor allem in der Kritik der praktischen Vernunft, S. 210 f., geht Stern geflissentlich überhaupt nicht ein; zum Menschen als Person überzeugend J. Hruschka, Die Würde des Menschen bei Kant, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie (ARSP), 2002, S. 436 ff., 474 ff. Sterns Behauptung ist falsch, daß Kant nicht jedem Menschen Würde zugesprochen und sich zur Würde eher bloß beiläufig geäußert habe. „Allein der Mensch als Person betrachtet (. . .) besitzt eine Würde (einen absolut inneren Wert), wodurch er allen anderen vernünftigen Weltwesen Achtung für ihn abnötigt, sich mit jedem anderen dieser Art messen und auf den Fuß der Gleichheit schätzen kann“, Kant, Metaphysik der Sitten, S. 569. „Es ist nämlich etwas in uns, was zu bewundern wir niemals aufhören können, wenn wir es einmal ins Auge gefaßt haben, und dieses ist zugleich dasjenige, was die Menschheit in der Idee zu einer Würde erhebt, die man am Menschen, als Gegenstand der Erfahrung, nicht vermuten sollte“. Angesprochen ist hier die Befähigung zur Moralität jedes Einzelnen, „diese moralische von der Menschheit unzertrennliche Anlage in uns ist ein Gegenstand der höchsten Bewunderung“ und deshalb muß sie jedem einzelnen Menschen zugesprochen werden, weil er eben an der Idee der Würde der Menschheit teilhaftig ist, Kant, Streit der Fakultäten, S. 327 f. Kant, Von der Pädagogik, S. 749, hält es für eine Pflicht, „diese Würde der Menschheit in seiner eigenen Person nicht zu verleugnen“. Die „Menschheit in der Person“ eines jeden Einzelnen ist zu erhalten und zu ehren, gleich wie die Lebensumstände auch sein mögen, Lebenswürdigkeit bedeutet die Erhaltung der eigenen Menschenwürde, Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 211. Es kann überhaupt kein Zweifel daran bestehen, daß Kant jedem Menschen qua Menschseins Würde zuspricht, so auch J. Hruschka, Die Würde des Menschen bei Kant, ARSP, 2002, S. 477 f. Im übrigen, Kants kategorischer Imperativ ist nicht bloß rein formal und inhaltsarm, wie Stern meint, worauf R. Dreier, Recht, Moral, Ideologie, S. 302, zu Recht hinweist; Formalität ist weder Offenheit noch Inhaltslosigkeit, dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 69 ff., zur Formalität des Sittengesetzes, ders., Res publica res populi, S. 267 ff.; ders., Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 107 ff. 172 Dies bleibt Stern aber mit seiner Kantkritik offensichtlich völlig verborgen, daß nämlich bei Kant nun gerade in diesem Zusammenhang der Mensch nicht als empirisches Wesen, sondern als der intelligiblen Welt zugehörig gedacht werden muß, der Mensch also als Noumenon angesprochen ist. Als Noumenon ist er reines Vernunftwesen, das durch freiheitliche Autonomie gekennzeichnet ist: es hat das Bewußtsein des Faktums des Sittengesetzes als ratio cognescendi der Freiheit. Als homo noumenon kommt dem Menschen die Idee der Würde zu, schon deshalb, weil die Würde selbst
III. Die Würde des Menschen
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schenwürde die Staatsfundamentalnorm173. Sie ist aber auch eine menschheitliche a priori Fundamentalerkenntnis der Vernunft, und als solche muß sie allemal auch gegen eine verfassungsändernde Mehrheit immun sein. Allerdings ist Art. 1 Abs. 1 GG durchaus programmatisch zu verstehen: aus der Menschenwürde, namentlich aus der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen heraus, leitet sich die politische Freiheit des Menschen als Bürger ab, weil rechtlich die Freiheit u. a. so definiert ist, daß der Mensch keinen äußeren Gesetzen gehorchen solle, zu denen er nicht seine „Zustimmung habe geben können“. Damit muß die bürgerliche Verfassung im Staate eine republikanische sein174. Der Mensch muß als Bürger Mitgesetzgeber im Reich der Zwecke, also im Staat sein. 4. Die Würde des Menschen und seine Glückseligkeit Aber die Menschenwürde besteht auch in der Endweckhaftigkeit des Menschen: jeder Mensch verkörpert die Heiligkeit der Menschheit in seiner Person175. Es ist eine absurde These, daß es minderwertiges oder gar unwürdiges menschliches Leben geben könne Aus dem Endzweck leitet Kant den Zweck der Glückseligkeit ab: „daß die Glückseligkeit nur bedingter Zweck, der Mensch also, nur als moralisches Wesen, Endzweck der Schöpfung sein könne; was aber seinen Zustand betrifft, Glückseligkeit nur als Folge, nach Maßgabe der Übereinstimmung mit jenem Zweck, als dem Zweck seines Daseins, in Verbindung stehe“ 176. Die Glückseligkeit ist demnach eine Folge, und zwar durchaus notwendige Folge der Endzweckhaftigkeit des Menschen, weil diese nur noumenal beeine Idee ist, Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 67. Es ist also zwingend, wenn Kant zunächst nur der Sittlichkeit und der Menschheit eine Würde zugesteht, weil nämlich das Sittengesetz selbst heilig weil unverletzlich ist, es ist ein Erkenntnissatz. Kant begreift die Menschheit als die Noumenalität des Menschen, woraus dann folgt, daß wegen der Freiheit nur die Moralität die einzige Bedingung für die Würde des Menschen sein kann. Das bedeutet aber, weil der Mensch aufgrund seiner Zweiweltenzugehörigkeit zwingend auch als ein empirisches Wesen gedacht werden muß, jeder einzelne Mensch diese „Menschheit in deiner Person, und in der Person jedes anderen“ repräsentiert, Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 69. Deswegen kommt jedem Menschen qua Menschseins Würde zu, und zwar unabhängig davon, wie er beschaffen ist und wie er sich verhält, weil niemanden die Vernunftbegabung und damit die grundsätzliche Befähigung zur Moralität abgesprochen werden kann: es gibt keine Vernunftbegründung, einem einzelnen Menschen die Würde abzusprechen; denn man müßte begründen, daß ein Einzelner unter bestimmten Umständen nicht Teil der Menschheit sei. Das ist schlicht undenkbar. 173 G. Dürig, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 1, Rdn. 9; dazu auch W. Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, HVerfR, S. 203. 174 Kant, Zum ewigen Frieden, S. 204. 175 Der einzelne Mensch mag zwar durchaus unheilig sein, „aber die Menschheit in seiner Person muß ihm heilig sein. (. . .) Er ist nämlich das Subjekt des moralischen Gesetzes, welches heilig ist, vermöge der Autonomie seines Willens“, Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 69. 176 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 395, Fußnote.
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2. Kap.: Republikanische Freiheit unter dem Grundgesetz Deutschlands
griffen werden kann, jene aber den empirischen, sozusagen phänomenalen Zustand des Menschen betrifft. Damit leitet sich teleologisch das Recht zur freien Willkür aus der Menschenwürde als Endzweck des Menschen ab. Dieser Zusammenhang, auf den Kant hier verweist, ist allerdings empirischer Natur; denn die Glückseligkeit zu befördern ist zwar nicht Selbstzweck, sondern letztlich ein Mittel zur Aufrechterhaltung der eigenen Sittlichkeit, insofern ist die Verfolgung der eigenen Glückseligkeit funktional notwendig, weil eben nur der Mensch als moralisches Wesen die Heiligkeit der Menschheit in seiner Person verkörpert. Damit ist aber auch das Recht zur freien Willkür aus der Menschenwürde abgeleitet. Wenn man nun richtigerweise davon ausgeht, daß das Recht zur freien Willkür durch Art. 2 Abs. 1 GG verwirklicht wird, so bedeutet dies dann auch rechtsdogmatisch seine Ableitung aus Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG, wie Günter Dürig das gesehen hat. 5. Die Würde des Menschen und die Idee des Sozialstaates Die Würde des Menschen ist eine transzendentale Idee und als solche material nicht definierbar. Wohl aber sind die Bedingungen bestimmbar, unter denen sie verwirklicht werden kann. Dies ist zum einen die politische Freiheit der Bürger als ihre Autonomie des Willens und zweitens ihr Recht, auf selbst und allein bestimmen Wegen ihr Glück zu suchen und zu verfolgen. Dies gilt dann auch notwendigerweise für diejenigen Personenkreise, welche dazu nicht oder nur eingeschränkt fähig sind, seien es etwa Kinder oder sozial Schwächere. Auch diesen Menschen muß ein glückswürdiges Leben beschieden werden, auch ihre Glückseligkeit ist bestmöglich im Reich der Zwecke zu befördern, weil sie eben eine indirekte Voraussetzung für Autonomie und Sittlichkeit Aller im Staat darstellt. Die Idee der Würde begründet die Idee des Sozialstaates, weil die Gemeinschaft der Menschen wegen der Allgemeinheit der Freiheit Verantwortung auch für jeden Einzelnen trägt. Es ist zwingend, daß der Staat die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein schafft177; denn die Menschenwürde zu achten und zu schützen ist „Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ – Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG. Die Sozialstaatlichkeit, welche in Art. 20 Abs. 1 GG verankert ist, ist (auch) der Menschenwürde verpflichtet. Insofern geht es also nicht darum, die Menschenwürde mit Sozialstandards „aufzuladen“ 178, sondern der Staat soll den einzelnen bestmöglich in die Lage versetzen, ein autonomer Bürger in der 177
H. Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 20, Rdn. 27. Ch. Starck, Das Bonner Grundgesetz – Kommentar, Art. 1 Abs. 1, Rdn. 11; die Freiheitsrechte selbst stellen tatbestandlich keine Rechtsgrundlage auf soziale Leistungen dar, weil das Sozialprinzip zu seiner Verwirklichung der allgemeinen Gesetze bedarf, auch um der jeweiligen Lage genügen zu können, K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 636 ff.; der Staat ist kein „Versorgungsstaat“ im Sinne eines „egalitär entarteten Wohlfahrtsstaates“, G. Dürig, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 3 Abs. 1, Rdn. 149. 178
III. Die Würde des Menschen
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Gemeinschaft zu sein oder zu werden. Daraus ergibt sich dann in der Tat ein „leistungsrechtlicher Anspruch des einzelnen auf das materielle Existenzminimum“, grundsätzlich aber auch der staatliche Schul- und Bildungsauftrag179. Der Sozialstaat dient der Selbständigkeit seiner Bürger180, sie ist ein Rechtsgut, welches zu schützen Aufgabe des Staates ist181. Der Sozialstaat ist der „Freiheitsfürsorge“ seiner Bürger verpflichtet, welche „die Gewährleistung des Maßes an faktischer Freiheit, das Menschen brauchen, um handeln und das Leben einer Person führen zu können“, verlangt182. Gerade der die Freiheit verwirklichende Sozialstaat bedarf einer privatheitlichen Eigentumsordnung183, weil die Grundrechte auch soziale Teilhaberechte sind184. Das Selbständigkeitsprinzip allerdings bedeutet für jeden Bürger die Selbst- und Alleinverantwortung. Durch die soziale Fürsorge dürfen die Menschen nicht zu materiellen Untertanen werden und dadurch ihre Bürgerlichkeit einbüßen; sie ist demnach auf das erforderliche Minimum zu begrenzen. Nur wenn es dem Bürger nicht gelingt, die Chancen, welche ihm die allgemeinen Gesetze geben, sich seine Selbständigkeit zu erarbeiten und zu erhalten, ist der Staat zur Hilfe verpflichtet185: „Der Sozialstaat übernimmt gleichsam in solchen Fällen die freiheitliche Ausfallbürgschaft“ 186. „Alle Menschen sind frei und gleich an Rechten und Würde geboren“ – Art. 1 S. 1 AEMR, welcher die (aufklärerische) Formel Kants von der angeborenen Gleichheit als Prinzip der angeborenen Freiheit187 klar zum Ausdruck bringt. Freiheit als Autonomie des Willens ist der Bestimmungsgrund der Würde des Menschen. Die Gleichheit in der Freiheit bedeutet folglich die Gleichheit in der Würde. Wegen dieser Gleichheit ist es richtig, daß sich die Menschen „im Geiste der Brüderlichkeit begegnen“ sollen – Art. 1 S. 2 AEMR. Das bedeutet aber auch, daß die materiellen Güter in einer bürgerlichen Gemeinschaft brüderlich zu
179 P. Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, HStR, Bd. I, § 20, S. 851 f., Rdn. 77 f.; G. Dürig, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 3 Abs. 1, Rdn. 91, spricht in diesem Zusammenhang von der Rechtsgleichheit „der Startchancen und Förderungschancen“, diese „Startchancengleichheit“ zähle zu den „Sockelrechten“, Rdn. 140. 180 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 636 ff. 181 W. Kersting, Kritik der Gleichheit, S. 45. 182 W. Kersting, Kritik der Gleichheit, S. 47 ff.; so auch K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 481 ff. 183 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 636 ff., der den Sozialstaat grundgesetzlich in besonderem Maße durch Art. 14 GG verankert sieht. 184 R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 20, VIII, Rdn. 49. 185 K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS W. Leisner, S. 772; ders., Freiheit in der Republik, S. 72. 186 W. Kersting, Kritik der Gleichheit, S. 54. 187 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 345 f., so schon J. J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 6; dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 20 ff., 164 ff., 405 ff., 599 ff.; ders., Res publica res populi, S. 4, 34, 40.
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2. Kap.: Republikanische Freiheit unter dem Grundgesetz Deutschlands
teilen sind188. Das führt zwingend zum Sozialprinzip. Freilich darf das Sozialprinzip nicht zu einem (sozialistischen) Egalitarismus führen189, sozial heißt nicht Unterschiedslosigkeit. Andererseits müssen die Unterschiede insbesondere im Hinblick auf die Verteilung von Einkommen und Vermögen für Alle im Staat zumutbar und gerechtfertigt sein. Dies aber erfordert die Moralität des Gesetzgebers, der das praktisch vernünftige und damit sozial befriedende, also sittliche Gesetz hervorbringen soll. Alles andere verletzt die Autonomie der Bürger. Folglich gilt: die Würde des Menschen begründet die Idee des Sozialstaats, allerdings auch nur als Idee; denn verfassungsrechtlich wird die Sozialstaatlichkeit aus Art. 20 Abs. 1 GG nicht mit der Menschenwürde des Art. 1 GG in Zusammenhang gebracht190.
IV. Das Recht zur freien Entfaltung der Persönlichkeit – Art. 2 Abs. 1 GG Die Freiheit erschöpft sich nicht in der Autonomie des Willens als Gesetzgebung, sondern Freiheit bedeutet in praktischer Hinsicht auch, seine Glücksvorstellungen auf selbst und allein bestimmten Wegen zu suchen und zu verfolgen. Das ist die Freiheit zur Willkür. Aber, die Willkür muß eine freie sein. Das Recht zur freien Willkür ist kein Recht zur Beliebigkeit. Der Gemeinschaftsbezug der gesamten menschlichen Existenz ist ein Apriori der Vernunft, von welchem der einzelne Mensch nicht abstrahieren kann. Alle in der menschlichen Gemeinschaft, im Staat, haben die gleiche Freiheit als Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür. Das führt dann zu der Erkenntnis, daß die Menschen zwar nach ihren Vorstellungen handeln, sich dabei aber nur so wenig wie möglich stören dürfen. Das Streben nach Glück muß sittlich sein und darf nicht zu Lasten Anderer gehen, also „alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet“ – Nr. 4 der Deklaration der Rechte des Menschen und des Bürgers von 1789. Was aber der Einzelne von Anderen hinzunehmen hat und was nicht, das regeln frei-
188 Dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 551 ff.; ders., Das Sozialprinzip, S. 40 ff., 48 ff.; vgl. auch Kant, Metaphysik der Sitten, S. 365 ff., 432 ff.; ders., Über den Gemeinspruch, S. 150 f. 189 Es gibt keinen einseitigen Vorrang des Sozialstaatsprinzips, R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 20, VIII, Rdn. 42. 190 Auch läßt sich aus den Verfassungsbestimmungen der Art. 14 Abs. 2, Art. 15, Art. 74, Art. 119 und Art. 120 GG kein geschlossenes Bild, keine „Ausführungskonzeption“ des Sozialstaatsprinzips entwickeln, R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 20, VIII, Rdn. 5 u. 21. Letztendlich bleiben das Sozialprinzip und das Sozialstaatsprinzip in ihrer Ideenhaftigkeit stecken. Sie werden, wie die Freiheit auch, durch (sittliche) Gesetze des moralischen Gesetzgebers verwirklicht. Dies aber kann praktisch vernünftig nur lagebedingt erfolgen. Die Materialisierung des Sozialprinzips und des Sozialstaatsprinzips ist also wandelbar, weil das Leben dynamisch zu begreifen ist. Ein geschlossenes Bild, eine Ausführungskonzeption ist aus diesem Grunde nicht möglich.
IV. Das Recht zur freien Entfaltung der Persönlichkeit
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heitlich für alle die allgemeinen Gesetze191. „Jeder hat das Recht zur freien Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt“ – Art. 2 Abs. 1 GG. Nun ist hier nicht der Ort, die republikanische Interpretation von Art. 2 Abs. 1 GG umfassend darzustellen. Für diese Thematik ist allerdings von Bedeutung, daß Art. 2 Abs. 1 GG den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Privatheit der Lebensbewältigung enthält192. Dieser hat entscheidende Bedeutung für die republikanische Sicht auf Wirtschaft und Wettbewerb. Vorangestellt werden soll, daß bei allem Recht, sein Leben nach eigenen Vorstellungen einzurichten und sein Glück zu versuchen, eine materiale Bestimmung dessen, was das Glück denn ausmacht, unsicher ist. 1. Die unzureichende Materialisierbarkeit des Glücks Bei allem berechtigen menschlichen Streben nach Glück stellt sich die Frage, was darunter zu verstehen ist: „Allein es ist ein Unglück, daß der Begriff der Glückseligkeit ein so unbestimmter Begriff ist, daß, obgleich jeder Mensch zu dieser zu gelangen wünscht, er doch niemals bestimmt und mit sich selbst einstimmig sagen kann, was er eigentlich wünsche und wolle. Die Ursache davon ist: daß alle Elemente, die zum Begriff der Glückseligkeit gehören, insgesamt empirisch sind, d. i. aus der Erfahrung müssen entlehnt werden, daß gleichwohl zur Idee der Glückseligkeit ein absolutes Ganzes, ein Maximum des Wohlbefindens, in meinem gegenwärtigen und jedem zukünftigen Zustandes erforderlich ist. (. . .) Kurz, er ist nicht vermögend, nach irgend einem Grundsatze, mit völliger Gewißheit zu bestimmen, was ihn wahrhaft glücklich machen werde, darum, weil hierzu Allwissenheit erforderlich sein würde“. Die Glückseligkeit als „das ganze Wohlbefinden und Zufriedenheit mit seinem Zustande“ 193 ist damit keine Vernunftangelegenheit, sondern ein Ideal der Einbildungskraft194, welches der Mensch besser durch Instinkt als durch Vernunft befördern könne195: der Mensch stellt sich zunächst nur vor, was ihn glücklich machen könnte, um anschließend danach zu handeln. Eine korrekte Beurteilung darüber, ob sich der angestrebte Glückszustand einstellt, wenn die verfolgten Verhältnisse sich eingestellt haben, ist aber nur ex post möglich. Der Glückszustand ist im Grunde immer nur rein zufällig: wir können ex ante nicht wissen, was uns wirklich glücklich macht; denn dazu wäre Allwissenheit erforderlich. Dennoch schreibt Kant: „Glücklich 191 Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 332 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 465 ff. 192 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 449 ff. 193 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 18. 194 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 47 f. 195 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 20.
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zu sein, ist notwendig das Verlangen jedes vernünftigen, aber endlichen Wesens, und also ein unvermeintlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens. Denn Zufriedenheit mit seinem ganzen Dasein ist nicht etwa ein ursprünglicher Besitz, und eine Seligkeit, welche ein Bewußtsein seiner unabhängigen Selbstgenügsamkeit voraussetzen würde, sondern ein durch seine endliche Natur selbst ihm aufgedrungenes Problem, weil es bedürftig ist, und dieses Bedürfnis betrifft die Materie seines Begehrungsvermögens“ 196. Dazu zählt auch das Streben nach materiellen Gütern197. Das menschliche Streben nach Glück ist demnach eine notwendige Folge des endlichen irdischen Daseins des Menschen198, welches durch Knappheit und damit grundsätzlicher von Bedürftigkeit gekennzeichnet ist: um (auch über-)leben zu können, muß er nach Glückseligkeit streben, und dies, ohne eindeutig zu wissen, worin sie material besteht. Der Begriff der Glückseligkeit ist also ein „schwankender“ Begriff. Im übrigen würde das, „was der Mensch unter Glückseligkeit versteht, und was in der Tat sein eigener letzter Naturzweck (nicht Zweck der Freiheit) ist, von ihm nie erreicht werden; denn seine Natur ist nicht von der Art, irgendwo im Besitze und Genusse aufzuhören und befriedigt zu werden“ 199. Das Einzige, was der Mensch tun kann, ist es, sich so zu verhalten, daß er des Glücks würdig ist200: „Die Natur hat gewollt, daß der Mensch alles, was über die mechanische Anordnung seines tierischen Daseins geht, gänzlich aus sich selbst herausbringe und keiner anderen Glückseligkeit oder Vollkommenheit teilhaftig werde, als die er sich selbst, frei von Instinkt durch eigene Vernunft verschafft hat“. Insofern scheint „der Natur darum gar nicht zu tun gewesen zu sein, daß er wohl lebe; sondern daß er sich so weit hervorarbeite, um sich, durch sein Verhalten, des Lebens und des Wohlbefindens würdig zumachen“ 201. Der Glückseligkeit unwürdig wird der Mensch durch Übertretung seiner Pflichten202. Das höchste Gut besteht in der Glückseligkeit „in dem genauen Ebenmaße mit der Sittlichkeit der vernünftigen Wesen, dadurch sie derselben würdig sind“ 203. Allerdings, Moral ist lediglich die „Vernunftbe196
Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 133. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 133. 198 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 179. 199 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 388. 200 Das gesamte „Interesse“ der menschlichen Vernunft zielt auf die Beantwortung der drei Fragen: 1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen? Die zweite Frage beantwortet Kant mit dem Satz: „Tue das, wodurch du würdig wirst, glücklich zu sein“. Als Antwort auf die dritte Frage formuliert Kant die durch die menschliche Vernunft mit Notwendigkeit zu treffende Annahme, „daß jedermann die Glückseligkeit in demselben Maße zu hoffen Ursache habe, als er sich derselben in seinem Verhalten würdig gemacht hat, und das also das System der Sittlichkeit mit dem der Glückseligkeit unzertrennlich (. . .) verbunden sei“, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 679 f. 201 Kant, Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 36 f. 202 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 623. 203 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 683. 197
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dingung (conditio sine qua non)“ und kein „Erwerbsmittel“ für Glückseligkeit204: sie lehrt nicht, „wie wir glücklich, sondern der Glückseligkeit würdig werden sollen“ 205. 2. Keine Heteronomie der Willkür Die Welt ist dem Menschen als Endzweck der Schöpfung teleologisch untergeordnet. Deshalb kann er durch seine Kausalität aus Freiheit sein Umfeld nach seinen Vorstellungen gestalten. Dies zählt zur Entfaltung seiner Persönlichkeit. Aber, als Endzweck der Schöpfung kann der Mensch nur als moralische Person gedacht werden. Das Streben nach Glück verliert sich nicht im bloß Empirischen. Das Streben nach Glückseligkeit ist eine Maxime206, als subjektives Prinzips des Willens207. Alle Imperative, welche bestimmte Handlungen als Mittel für etwas anderes, zur Erreichung eines materialen Zwecks, empfehlen, sind hypothetisch. Sie sind Klugheitsregeln, mit welchen Mitteln die eigene Glückseligkeit befördert werden kann208, „Imperative der Geschicklichkeit“ 209: „ich soll etwas tun darum, weil ich etwas anderes will“. Dabei „kommt jederzeit Heteronomie heraus“ 210. Durch die Beachtung hypothetischer Imperative ist der Mensch aber nicht frei, weil die Bedingung für die negative innere Freiheit nicht erfüllt ist, nämlich nicht durch sinnliche Antriebsmomente zum Handeln genötigt zu werden. Nun könnte man dafür argumentieren, daß es dem Einzelnen völlig gleichgültig sein könne, ob er innerlich und negativ frei sei oder nicht, Hauptsache, das Glück(-sgefühl) stelle sich ein. Insofern wäre dann die Beachtung der hypothetischen Imperative als Regeln der Geschicklichkeit ausreichend. Aber, alles Handeln und damit auch das Streben nach Glück setzt aus Erkenntnisgründen die Kausalität aus Freiheit voraus. Das Bewußtsein der Freiheit, nämlich daß der Mensch sich als frei denken muß, wenn er handeln will, ist a priori mit dem Bewußtsein der Faktizität des Sollens verbunden. Die Verwirklichung der Frei204
Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 262. „Die Würdigkeit glücklich zu sein ist diejenige, auf demselbst eigenen Willen des Subjekts beruhende Qualität einer Person, in Gemäßheit mit welcher eine allgemeine (der Natur sowohl als dem freien Willen) gesetzgebenden Vernunft zu allen Zwecken dieser Person zusammenstimmen würde. Sie ist also von der Geschicklichkeit, sich ein Glück zu erwerben, gänzlich unterschieden. Denn selbst dieser, und des Talents, welches ihm die Natur dazu verliehen hat, ist er nicht wert, wenn er einen Willen hat, der mit dem, welcher allein sich zu einer allgemeinen Gesetzgebung der Vernunft schickt, nicht zusammen stimmt, und darin nicht enthalten sein kann (d. i. welcher der Moralität widerstreitet)“, Kant, Über den Gemeinspruch, S. 131 und Anmerkung; dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 60 ff.; F. Kaulbach, Immanuel Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, S. 23, 111. 206 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 135. 207 Kant, Grundlegung Metaphysik der Sitten, Fußnote auf S. 51. 208 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 43 ff. 209 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 46. 210 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 75. 205
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heit erfordert wegen der Gemeinschaftlichkeit des Lebens die Beachtung des Sittengesetzes. Das ist aber nicht Heteronomie, sondern die freie Willkür. Dennoch gilt, daß Ausgangspunkt allen menschlichen Handelns das Streben nach Glück ist, weil der Mensch eben der empirischen Natur nicht entkommen kann; er ist und bleibt grundsätzlich bedürftig. 3. Das Recht zur freien Willkür aus Art. 2 Abs. 1 GG Gewährt211 wird aber nicht das Recht zur Willkür, also zur Beliebigkeit individueller Handlungsmaximen, sondern nur das Recht zur freien Willkür: die freie Willkür ist wegen der Autonomie auf die Gesetzlichkeit der Handlungsmaximen hinorientiert, d.h. die willkürliche Selbstbestimmung der Handlungsmaximen hat die juridischen Gesetze als auch das Sittengesetz zu beachten. Die Entfaltung des Einzelnen ist frei, es gibt also keine materielle Determiniertheit212 durch das Gesetz. Daneben sind selbstverständlich auch die Grundsätze für die freiheitliche politische Willensbildung im Gesetzgebungsprozeß aller zu beachten, die ja den formalen Aspekt der Freiheit betreffen, demnach die republikanische Verfassung. All diese Aspekte sind im Begriff der Autonomie des Willens angesprochen213. Art. 2 Abs. 1 GG ist das Recht zur freien Willkür als äußeres Mein und Dein: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt“. Die Entfaltung der Persönlichkeit umfaßt sowohl die Gestaltung der eigenen individuellen äußeren Lebensumstände, aber auch, die individuellen Anlagen und Befähigungen bestmöglich zu befördern, und zwar nach ausschließlich eigenen Vorstellungen. Das ist die (Heteronomie der) Willkür. Die Entfaltung der Persönlichkeit darf aber nur eine freie sein, und ist deswegen an die Autonomie des Willens gebunden, darf also nicht gegen die Gesetzlichkeit gerichtet sein; denn die Autonomie des Willens umfaßt nicht nur das individuelle Recht zur Allein- und Selbstbestimmung als Selbstgesetzgebung214, sondern weiter die bürgerliche Pflicht zur Mitgesetzgebung im Staat, als 211 Die Gewährung ist aber wegen der Apriorität der lex permissiva im bürgerlichen Zustand genau genommen eine menschheitliche Fundamentalerkenntnis. So hat etwa M. Wertenbruch, Der Grundrechtsbegriff und der Art. 2 Abs. 1 GG, DVBl. 1958, S. 482 ff., 485, darauf hingewiesen, daß jeder Mensch „natürlich handlungsfrei“ sei und daher Grundrechte habe. Außerdem lägen in Art. 2 Abs.1 GG keine Schranken im Grundrechtssinne vor, sondern „es werden fundamentale, allgemeingültige und umfassende Ordnungsbereiche definiert, welche selbstverständlich sind, wenn die Würde aller Menschen unantastbar (Art. 1 Abs. 1 GG) und Art. 1 Abs. 2 überhaupt einen Sinn haben sollen“. 212 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 334; ders., Freiheit in der Republik, S. 297 ff. 213 Zur republikanischen Freiheit als Autonomie des Willens K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 274 ff., 297 ff. 214 „Private Autonomie“, R. Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs, S. 127.
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der Bürger durch die (politische) Freiheit definiert ist, keinem Gesetze zu gehorchen, das er nicht selbst mitgegeben hat215. Dies verdeutlicht der Soweit-Satz, er ist im Grunde eine Erläuterung des Wortes „frei“: die Willkür des Einzelnen ist keine beliebige, sondern eine freie, d.h. die Rechte der Mitmenschen, vor allem ihre Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür, dürfen nicht verletzt werden. Der Einzelne darf, zweitens, nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung, die gesamte Rechtsordnung also, verstoßen. Eine Freiheit gegen die allgemeinen staatlichen Gesetze ist in der Republik nicht denkbar; denn die Gesetze sind vom einzelnen Bürger qua seiner Willensautonomie selbst mitgegeben. Gleiches gilt auch für Verträge; denn sie werden auf der Grundlage der allgemeinen staatlichen Gesetze geschlossen und sind verbindlich216. Drittens darf auch nicht gegen das Sittengesetz, gegen den kategorischen Imperativ, verstoßen werden und zwar für die Fälle, in denen die individuelle Handlungsmaxime nicht durch ein gesetzliches Ge- oder Verbot ihre materiale Orientierung erfahren. Art. 2 Abs. 1 GG beinhaltet kein Recht zur Beliebigkeit der Willkür: erlaubt ist nicht, was nur nicht verboten ist, sondern eben nur insoweit, wie die Maxime als einem allgemeinen Gesetz fähig angesehen werden kann. In jedem Falle muß also das individuelle Handeln um der Freiheit willen dem kategorischen Imperativ gemäß sein, weil es schon begrifflich Freiheit ohne sittliche Bindung nicht geben kann217. Sittlichkeit ist um der Freiheit aller willen oberster Grundsatz in einem freiheitlichen Gemeinwesen, im Staat. Die Konstruktionslogik ist einfach: freies Handeln muß sittliches Handeln sein. Was aber sittlich und damit rechtens ist, das muß wegen der erforderlichen Allgemeinverträglichkeit des individuellen Handelns in erster Linie durch das allgemeine Gesetz festgelegt werden. Aus diesem Grunde kommt es zunächst einmal auf die Legalität des individuellen Handelns an218. Nur in Fällen, in denen das Gesetz nicht positiv bestimmt, besteht für die freie Willkür des Einzelnen ein gewisser Handlungsspielraum219, welchen er aber durch die Moralität seiner Sittlichkeit, an Gesetzes statt, auszufüllen hat. Erlaubt und rechtens ist nicht, was gesetzlich nicht verboten, sondern wegen der Gleichheit in der Freiheit für Alle in einer Gemeinschaft zumutbar ist. Die nicht erzwingbaren Tugendpflichten, in diesem Zusammenhang die der eigenen Vollkommenheit, dürfen das Legalitätsprinzip nicht relativieren220. Nur Moralität 215
„Öffentliche Autonomie“, R. Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs, S. 127. Zur Verbindlichkeit von Verträgen unter Privaten K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 405 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 540 ff., 632 ff. 217 „Darum ist Freiheit (sc. in der Republik) negativ und positiv zugleich zu begreifen und als Willensautonomie und gesetzesabhängige Privatheit zu identifizieren“, K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 506. 218 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 49 ff. 219 Gegen die Raumdoktrin der Freiheit K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 343 ff. 220 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 49 ff., weist darauf hin, daß bei Auftreten von Gesetzeslücken wegen des Legalitätsprinzips es eine Pflicht des Han216
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führt zur Sittlichkeit und damit auch zur Rechtlichkeit, das gilt gleichermaßen für die Gesetze wie für individuelles Handeln: ein unsittliches Gesetz schafft genauso wenig Recht wie unsittliches Handeln rechtens sein kann, selbst wenn hierbei eine Gesetzeslücke vorhanden sein sollte. Die Beachtung des kategorischen Imperativs ist zwar nicht erzwingbar, weil dazu ein Gesetz erforderlich wäre. Sie ist aber eine ethische Pflicht, welche auch privat gelebt werden muß, weil andernfalls der totale Staat erforderlich wäre, welcher keine oder nur geringe Privatheit zuließe, wenn und weil die Privatheit entgegen dem Sittengesetz mißbraucht werden würde. Private Sittlichkeit rechtfertigt und ermöglicht den Grundsatz der Privatheit des Lebensbewältigung, das Privatheitsprinzip also221. Dadurch gelingt in (lebens-)praktischer Hinsicht eine größtmögliche Selbstbestimmung jedes einzelnen Menschen bei gleichzeitiger Ausrichtung auf die Gemeinschaftlichkeit des menschlichen Daseins: soviel individuelle willkürliche Handlungsmaximenbestimmung und -verfolgung wie möglich bei soviel Gemeinschaftsbezogenheit wie nötig. Denn es ist in der Tat so, wie Kant es sieht, durch Handeln ist Unrecht immer denkbar222, welchem aber durch die Bestimmungen des Soweit-Satzes in Art. 2 Abs. 1 GG bestmöglich begegnet werden soll. 4. Der Grundsatz der Privatheit der Lebensbewältigung Ein Aspekt der republikanischen Freiheit ist der Vorrang der Privatheit der Lebensbewältigung223 im Verhältnis zur staatlichen Aufgabenbewältigung, das menschenrechtliche Subsidiaritätsprinzip224. Der Begriff der Privatheit ist der Gegenbegriff zum Staatlichen, zum Allgemeinen, zum Öffentlichen. Die Grenzziehung zwischen dem Staatlichen und dem Privaten ist allerdings variabel, dynamisch und damit politisch. Das Private ist das, was der Bürger allein bestimmt, wenn es durch die allgemeinen Gesetze legalisiert ist225. Kant lehrt: „Die Freiheit als Mensch, deren Prinzip für die Konstruktion eines gemeinsamen Wesens ich in der Formel ausdrücke: Niemand kann mich zwingen, auf seine Art (wie er sich das Wohlsein anderer Menschen denkt) glücklich zu sein, sondern ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit anderer, einem ähnlichen Zwecke nachzustreben, die delnden gebe, für ein wirksames Gesetz zu sorgen, bevor die Handlung vollzogen werde, weil ohne allgemeines Gesetz die Handlung nicht legal sein könne. 221 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 455 ff. 222 „Nun ist es, wenn jemand etwas gegen einen anderen verfügt, immer möglich, daß er ihm dadurch unrecht tue“, Kant, Metaphysik der Sitten, S. 432. 223 Zum Vorrang privater Lebensbewältigung K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 189, 386 ff.; ders., Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 158; ders., Freiheit in der Republik, S. 449 ff.; BVerfGE 5, 85 (197). 224 Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 346 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 45 f. 225 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 449 ff.
IV. Das Recht zur freien Entfaltung der Persönlichkeit
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mit der Freiheit von jedermann nach einem möglichen allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann, (d. i. diesem Rechte des anderen) nicht Abbruch tut“ 226. Die Nähe zu Art. 2 Abs. 1 GG ist nicht zu übersehen. Das Streben nach dem eigenen Glück ist eine Grundbestimmung des menschlichen Daseins227. Dazu zählt auch das Streben nach materiellen Gütern228. Weil aber Freiheit nur als gleiche Freiheit aller gedacht werden kann, kann kein Mensch einem anderen das Recht einräumen, glücklich zu sein229, sondern jeder besitzt dieses Recht schon von vornherein, weil eben Freiheit ein angeborenes Recht ist230. Aus der Menschheit des Menschen, aus seiner Freiheit, läßt sich der Grundsatz privater Lebensbewältigung herleiten231. Die Freiheit, auch im Streben nach Glück, ist also kein (herrschaftlich wohlwollend) gewährtes Recht, sondern ein ursprüngliches. Jeder hat das Recht, das eigene Glück zu suchen, nach eigenen Vorstellungen gut zu leben, seine Interessen und Zwecke selbst zu bestimmen232. Das ist das angeborene Recht der Freiheit als die äußere negative Freiheit, nämlich die „Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür“ 233. Daraus folgt zwingend, daß die Bürger verpflichtet sind, sich im individuellen Streben nach Glück und dem eigenen guten Leben so wenig wie möglich gegenseitig zu stören234. Damit ist auch die individuelle Willkür des Einzelnen dahin gehend begrenzt, daß Maßstab für das Recht zur freien Willkür die allgemeinen Gesetze sind235, aber auch privat gelebte Sittlichkeit236. Die Staatlichkeit ist unabdingbar mit der allgemeinen Gesetzgebung verbunden, staatliche Aufgabenbereiche werden durch Gesetze be-
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Kant, Über den Gemeinspruch, S. 145. „Glücklich zu sein, ist notwendig das Verlangen jedes vernünftigen, aber endlichen Wesens, und also ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens. Denn die Zufriedenheit mit seinem ganzen Dasein ist nicht etwa ein ursprünglicher Besitz, und seine Seligkeit, welche ein Bewußtsein seiner unabhängigen Selbstgenügsamkeit voraussetzen würde, sondern ein durch seine endliche Natur selbst ihm aufgedrungenes Problem, weil es bedürftig ist“, Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 133. 228 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 133. 229 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 300; ders., Freiheit in der Republik, S. 60 ff. 230 „Dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit, zustehende Recht“, Kant, Metaphysik der Sitten, S. 345. 231 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 455 ff. 232 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 301; ders., Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 104 ff.; R. Dreier, Recht, Moral, Ideologie, S. 297. 233 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 345; ders., Kritik der praktischen Vernunft, S. 144 ff. 234 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 300 f. 235 „Diese allgemeine Gesetzgebung muß, um nicht nötigend, d.h. herrschaftlich zu sein, Einigung aller über richtigen Maximen für das gute Leben sein“, K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 301; so auch ders., Freiheit in der Republik, S. 78 ff. 236 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 455 ff. 227
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stimmt. Zwar gibt es Aufgaben, die typisch staatlich bewältigt werden, aber keine Aufgaben, die begrifflich und per se staatlich wären: die Bürgerschaft bestimmt, welche Aufgaben die Allgemeinheit und welche der Einzelne, als das Besondere und Private, erfüllt. Der Gemeinschaftsbezug des menschlichen Daseins beinhaltet natürlich auch ein gewisses Erfordernis an gemeinsamer Lebensbewältigung, aber es sind Gesetze, die dem Staat die Aufgaben zuweisen. Dabei ist aus Gründen der individuellen (und durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützten) Freiheit vom Vorrang der privaten vor der staatlichen Aufgabenbewältigung auszugehen237, damit nämlich die grundrechtsgeschützte Freiheit der freien Entfaltung der Persönlichkeit nicht leerläuft. Das Privatheitsprinzip ist das judiziable menschenrechtliche Subsidiaritätsprinzip der Staatlichkeit, muß aber eine Grundlage im Verfassungsgesetz oder in den Gesetzen haben, weil es nämlich die staatlichen Gesetze sind, welche die private und die staatliche Lebensbewältigung vernünftig verteilen. Dabei sind Aufgaben dem Staat so zweckbestimmt wie möglich, den Privaten dagegen zweckoffen zu übertragen. Der Grundsatz der Privatheit der Lebensbewältigung folgt formal aus der Gesetzlichkeit des Staatlichen, erfordert aber subjektive Rechte der Privatheit238: die transzendentale Idee der Freiheit ist in praktischer Hinsicht formal und wird durch die Gesetze verwirklicht. Art. 2 Abs. 1 GG gewährt das Recht zur freien Entfaltung der Persönlichkeit. Weil aber die Freiheit formal ist, kann auch die Privatheit der Lebensbewältigung nur als formaler Grundsatz239 gedacht werden, welcher durch die allgemeinen Gesetze, aber auch durch die besonderen Grundrechte, näher materialisiert wird, die dann allerdings subjektive Rechte der Bürger als Private begründen. Insofern enthält Art. 2 Abs. 1 GG keine materialen subjektiven Rechte wie etwa eine allgemeine Handlungsfreiheit240 oder gar ein unbenanntes Freiheitsrecht, auch wenn dies so dogmatisiert wird241, etwa für die Wettbewerbsfreiheit242. Er enthält allerdings das freiheitliche Menschenrecht auf Recht und größtmögliche Privatheit243, also einen verfassungsrechtlich verankerten Anspruch etwa auf eine Eigentumsordnung, welche die Privatnützigkeit des Eigentums so weit wie irgend möglich ge-
237 Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 198 ff.; ders., Der Anspruch auf materiale Privatisierung, S. 67 ff.; J. Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, HStR, Bd. III, § 57, S. 77 f., Rdn. 170. 238 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 455 ff. 239 Jedenfalls ist er nicht subsumibel, K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 475. 240 Es gibt keine allgemeine Handlungsfreiheit, die material begriffen werden könnte und benannte oder unbenannte Freiheiten als irgendwelche Handlungsweisen, K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 313; als Handlungsrecht setzt sie ein Gesetz voraus, S. 429; ders., Freiheit in der Republik, S. 231 ff. 241 So aber das Bundesverfassungsgericht, insbes. BVerfGE 6, 32 (36). 242 Vgl. Hinweise in Fn. 1. 243 So im Ergebnis K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 449 ff.
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währleistet244, vorausgesetzt, die Nutzung des Eigentums Privater erfolgt sittlich; denn sein „Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“ – Art. 14 Abs. 2 S. 2 GG. a) Freiheitlicher Interessenausgleich Privater durch Verträge Wesentlicher Bestandteil der privaten Autonomie des institutionell und funktional Privaten245, der sogenannten Privatautonomie246, ist die Vertragsfreiheit. Die Verfolgung der Interessen und die Zweckbestimmung des eigenen Handelns erfordern in der bürgerlichen Gemeinschaft auch den Interessenausgleich der Bürger untereinander, unter Privaten. Das gute Leben in der Gemeinschaft wird nach der Erfahrung durch weitgehende Rechte der Privaten, Verträge zu schließen, gefördert. Verfassungsgrundlage für die Vertragsfreiheit ist das formale Recht aus Art. 2 Abs. 1 GG: zur freien Entfaltung der Persönlichkeit gehört grundsätzlich, daß die Bürger ihr Leben privat durch Verträge gestalten247. Allerdings kann aus diesem formalen Freiheitsrecht kein subjektives Recht unmittelbar abgeleitet werden, Verträge zu schließen, weil es keinen Anhaltspunkt für eine bestimmte Materialisierung und auch nicht für bestimmte Schranken der Vertragsfreiheit gibt. Der eigentliche Gehalt des materialen Handlungsrechts ist demnach nur den Gesetzen zu entnehmen248. Aber auch die besonderen Grundrechte, die der Privatheit dienen wie etwa die Eigentumsgewährleistung des Art. 14 GG, die Berufsfreiheit des Art. 12 GG oder die Koalitionsfreiheit des Artikel 9 GG machen Vertragsordnungen, wie etwa das Tarifvertragsrecht249 erforderlich: die Bürger haben ein verfassungsrechtlich garantiertes Recht auf (Vertrags-)Recht. Der Vertrag ist demnach ein notwendiges Rechtsinstitut privater Wirtschaft, insbesondere der Wettbewerbswirtschaft250. Die private Lebensgestaltung basiert wesentlich auf der Grundlage von (privatrechtlich genannten) Verträgen, die aber insoweit nicht privat sind, weil sie auf der Grundlage der allgemei244 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 387; ders., Freiheit in der Republik, S. 544 ff. 245 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 506 ff. 246 BVerfGE 8 274 (328); 72, 155 (170); 81, 242 (254 ff.); dazu K. Larenz, Allgemeiner Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts, S. 91 ff. 247 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 506 ff. 248 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 506 ff.; H. C. Nipperdey, Soziale Marktwirtschaft und Grundgesetz, S. 43, hält die „Preisfreiheit“ für ein „wesentliches Element der Vertragsfreiheit“. Die rechtliche Befugnis, daß die Vertragspartner Preise aushandeln dürfen, steht aber dennoch unter dem Vorbehalt des Gesetzes wie etwa das Beispiel der Preisbindung für Verlagserzeugnisse im Sinne des § 30 GWB zeigt, dazu V. Emmerich, Kartellrecht, S. 108 f.; i. d. S. BVerfGE 10, 118 (121) st. Rspr.; zur Buchpreisbindung etwa BGHZ 135, 74 (77). 249 Dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 500 ff. 250 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 513 ff.; dazu B. Rebe, Privatrecht und Wirtschaftsordnung, S. 162 ff.
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nen staatlichen Gesetze, etwa dem Bürgerlichen Gesetzbuch, abgeschlossen werden251. Auch diese Gesetze verwirklichen die allgemeine Freiheit durch das Recht252. Zwar könnte man sagen, daß sich das Gesetz erübrige, wenn private Verträge hinreichend befrieden und diesen Interessenausgleich herstellten. Der Vorrang der Privatheit der Lebensbewältigung und damit auch die Möglichkeit, private Verträge zu schließen, ist zurückverwiesen an die Politik und damit an den Gesetzgeber, weil nämlich die Notwendigkeit des (die Freiheit aller verwirklichenden) Gesetzes eine Beurteilung darüber ist, ob das individuelle Handeln störende Außenwirkungen hat und die Interessenverwirklichung in nicht hinnehmbarer Weise zu Lasten anderer geht. Darüber entscheidet aber der Gesetzgeber stellvertretend für das ganze Volk253. Freiheitliche Privatheit beruht auf Gesetzen und achtet die Sittlichkeit: der Private darf seine Interessen verfolgen, ohne Rücksicht auf Andere nehmen zu müssen; denn ihre Interessen sichert das Gesetz254. Das Gesetz ist nicht nur Grundlage für den Abschluß von Verträgen, sondern gewährleistet auch deren Einhaltung. Die Bürger schließen in freier Willkür miteinander Verträge, allerdings nur dann, wenn sie erwarten können, daß der Vertragspartner seinen Vertragspflichten gemäß handelt. Tut er dies nicht, können sie ihre frei gewählten Zwecke nicht erreichen und werden freiheitswidrig vom vertragsbrüchigen Partner genötigt und in ihrer äußeren Freiheit im Sinne Kants „lädiert“ 255. Das Gesetz gewährleistet, daß das Vertrauen der Vertragspartner nicht enttäuscht wird, weil die Erfüllung der Verträge mit Hilfe von staatlichen Zwangsmaßnahmen durchgesetzt werden kann: das Vertrauensschutzprinzip ist ein Rechtsprinzip und enttäuschtes Vertrauen ist Rechtsverletzung256. Die Rechtsordnung schützt also die Verbindlichkeit von Verträgen und damit die Möglichkeit der Bürger, sich zu binden257; denn ohne die Verwirklichung des privatautonomen Willens, sich zu binden, wäre eine alleinbestimmte Lebensweise als Ausdruck der freien Entfaltung der Persönlichkeit in Privatheit im Sinne von Art. 2 Abs. 1 GG nicht möglich. Allerdings müssen die Verträge den
251 Recht ist immer öffentlich, weil es allgemeine öffentliche Gesetze sind: „Der Inbegriff der Gesetze, die einer allgemeinen Bekanntmachung bedürfen, um einen rechtlichen Zustand hervorzubringen, ist das öffentliche Recht“, Kant, Metaphysik der Sitten, S. 429. 252 Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 336. 253 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 338; ders., Freiheit in der Republik, S. 318 ff. 254 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 449 ff., 511 ff. 255 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 353. 256 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 506 ff. 257 „Die Fähigkeit, sich selbst – moralisch und rechtlich – zu binden, ist ein Teil der sittlichen Freiheit des Menschen“, K. Larenz, Allgemeiner Teil des deutschen bürgerlichen Rechts, S. 81 ff.
IV. Das Recht zur freien Entfaltung der Persönlichkeit
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Gesetzen gemäß sein und den guten Sitten entsprechen. Deshalb kann die Vertragsfreiheit nicht grenzenlos gewährt werden und sollte dies auch nicht258. Zur Vertragsfreiheit zählt schließlich auch, daß sich jeder Bürger seinen Vertragspartner aussuchen darf. Folglich müssen es Menschen hinnehmen, wenn ihre Vertragsangebote abgelehnt und ihre besonderen Interessen nicht berücksichtigt werden. Gerade darauf beruht das Wettbewerbsprinzip des Marktes. b) Keine Freiheitsbeschränkung durch die sogenannte Schrankentrias „Das Grundgesetz folgt Kant“ 259, das gilt insbesondere für Art. 2 Abs. 1 GG260. Die Persönlichkeitsentfaltung ist frei261: der einzelne Bürger hat das Recht zur freien Willkür, bei der seine Maximenwahl durch die Gesetzestauglichkeit seiner Handlungsmaximen bestimmt ist. Das erweist schon aus Erkenntnisgründen das Wort „frei“. Die sogenannte Schrankentrias des Soweit-Satzes von Art. 2 Abs. 1 GG bindet den Einzelnen in die Gemeinschaft der Bürger ein: er ist kein „isoliertes und selbstherrliches Individuum, sondern gemeinschaftsbezogene und gemeinschaftsgebundene Person“ 262 und darf bei der Entfaltung seiner Persönlichkeit, bei seinem Recht auf freie Willkür, nicht die Rechte anderer als deren Recht auf freie Willkür verletzten, und auch nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung als Inbegriff der Gesetzlichkeit Deutschlands oder gegen das Sittengesetz verstoßen263. Gleichwohl ist die Freiheit mit ihrer grundsätzlichen Gesetzesabhängigkeit keine beschränkte, sondern eine uneingeschränkte264, weil Freiheit in der Republik formal zu begreifen ist. Das gilt auch für Art. 2 Abs. 1 GG, weil dieses Recht kein materiales, sondern ein formales ist265. Die Privatheit 258
K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 506 ff. K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 485. 260 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 333. 261 Also ohne materiale (Vor-)Determiniertheit durch die Gesetze, K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 334, darf jeder die Zwecke seines Handelns selbst und allein bestimmen; ders., Freiheit in der Republik, S. 314 ff. 262 BVerfGE 4, 7 (15 f.); 12, 45 (51); 30, 173 (193); 32, 98 (108); 33, 303 (334); 50, 166 (175); 65, 1 (44); zur Apriorität des Gemeinschaftsbezuges K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 34 ff. 263 „Darum ist Freiheit (sc. in der Republik) negativ und positiv zugleich zu begreifen und als Willensautonomie und gesetzesabhängige Privatheit zu identifizieren“, K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 337; so auch ders., Freiheit in der Republik, S. 300 f. 264 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 49 ff. 265 Denn „der eigentliche Gegenstand des geschützten Rechts, die Freiheit, bleibt formal. Der Rechtscharakter dieses Rechts der Freiheit ist identisch mit dem Prinzip der Gesetzlichkeit des gemeinsamen Lebens; denn Freiheit ist Autonomie des Willens. Diese Willensautonomie schließt logisch die Privatheit ein, soweit allgemeine Gesetze diese ermöglichen und damit die Freiheit verwirklichen. Dieses Prinzip ist Ausdruck der bürgerlichen Verfassung, die das Grundgesetz gibt. Es garantiert nicht nur Gesetze 259
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als solche ist keine Entscheidung des Gesetzgebers, sie ist ein staatlich geschütztes und begrenztes Recht zur privaten freien Willkür266. Aus Art. 2 Abs. 1 GG leitet sich der Grundsatz und der Vorrang der privaten Lebensbewältigung ab267. Das Recht zur Privatheit ist das Recht zur freien Willkür des Einzelnen, nämlich daß die Maximen des Handelns durch den Einzelnen allein, also unabhängig von allgemeiner staatlicher Bestimmung268, materialisiert werden dürfen. Gleichwohl aber gibt es keine allgemeine Handlungsfreiheit, in dem Sinne, daß der Einzelne nun tun und lassen könne, was er gerade will; denn die individuellen Handlungen müssen den Rechts- und Tugendpflichten genügen269, um eben freie Handlungen zu sein. Die grundsätzliche Möglichkeit, die Zwecke des eigenen Handelns selbst und allein bestimmen und auch verfolgen zu dürfen, entbindet keinesfalls von der Beachtung der Gesetze in der Privatsphäre270. Es gibt keinen Gegensatz zwischen Freiheit und Recht271; denn die staatliche Gesetzlichkeit verwirklicht die gleiche Freiheit aller272. Die Staatlichkeit der Republik dient der Verwirklichung der Freiheit273, weil die Republik die Staatsform der Gesetzlichkeit ist274. Der der Freiheit, sondern auch deren Verwirklichung als Schutz der Freiheit“, K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 357, dazu ders., Freiheit in der Republik, S. 297 ff. 266 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 455 ff., anders noch als Recht zur Willkür, ders., Res publica res populi, S. 377. 267 „Die grundrechtlichen Leitentscheidungen der Verfassung verpflichten die Gesetzgeber, eine Rechtsordnung zu gestalten, welche den Bürgern und Menschen die größtmögliche Vielfalt der Persönlichkeitsentfaltung, der alleinbestimmten Wege zum Glück, ermöglichen, wenn sie dadurch nur anderen nicht schaden, d.h., wenn ihr Leben, ihr Handeln also, allgemeinverträglich bleibt“, K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 387. 268 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 375; ders., Freiheit in der Republik, S. 67 ff., 279 ff., 308, 508 ff. 269 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 308 f., ders., Freiheit in der Republik, S. 311 ff. 270 „Privatheit kann unterschiedliche Rechte zur Willkür zum Gegenstand haben, je nachdem welche Zwecke die allgemeinen Gesetze verfolgen. Die subjektiven Rechte der Privatheit können unterschiedlich materialisiert sein. Grundsätzlich sind die Rechte der Privatheit aber subjektive Rechte des Menschen, sein Glück zu suchen, die nicht zweckbestimmt und damit einer funktionalen Begrenzung nicht fähig sind. Diese Rechte machen den Lebensbereich aus, der vielfach als ,Privatsphäre‘ oder auch ,Freiheitssphäre‘ dogmatisiert wird. Auch in diesem Bereich muß der Mensch vielfältige allgemeine Gesetze achten. Alles Handeln von Privaten ist nämlich staatlich und allgemeine Gesetze und privat durch private Gesetze zugeich bestimmt“, K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 458. 271 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 484, ders., Freiheit in der Republik, S. 194 ff.; i. d. S. bereits J. Locke, Über die Regierung, S. 19, 43. 272 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 84 ff., J. Isensee, Staat und Verfassung, HStR, Bd. I, § 13, S. 640 ff., 660, Rdn. 174; H. Hofmann, Grundpflichten als verfassungsrechtliche Dimension, VVDStRL 41 (1983), S. 42 ff., 69. 273 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 519 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 522 ff.; P Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, HStR, Bd. I, § 20, S. 845 ff., Rdn. 60 ff. 274 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 534 f.
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Zweck des Staates ist damit das gute Leben aller und das Recht275, welches durch rechtmäßige Gesetze materialisiert wird, wodurch die allgemeine Moralität im Gemeinwesen gesichert wird, weil eben nur unter dieser Voraussetzung die allgemeine Freiheit verwirklicht werden kann. c) Die Grund- und Menschenrechte begründen keine Freiheit vom Staat Die Menschenrechte werden nicht von Staat herrschaftlich gewährt, sondern sind als Erkenntnissätze der Menschheit Rechte a priori, welche aus Gründen der Vernunft nicht geleugnet, in der Rechtspraxis allerdings durchaus verkannt werden können. Der Staat hat die Aufgabe, die Menschenrechte zu achten und zu schützen276. Die Qualität der Grundrechte ist weiter zu sehen. Sie sind Leitentscheidungen des Verfassungsgesetzes277, also Rechte in subjektiver und objektiver Dimension278. Zwar ist richtig, daß die Grundrechte den Bürger vor der Übermacht des Staates schützen sollen, genauer vor Fehl- und Mißbrauch staatlicher Befugnisse, nicht aber sind sie privatistische Freiheiten vor staatlicher Reglementierung, schon weil subjektive Rechte nicht als Freiheiten zu mißverstehen sind279. Staatliche Befugnisse reichen nicht soweit, um den Vorrang der Privatheit der Lebensbewältigung280 zu beseitigen, weil die Privatheit auch Verwirklichung der allgemeinen Freiheit ist, nach der eben jeder sein eigenes Glück nach seinen individuellen Vorstellungen suchen darf. Weil der Zweck der Staatlichkeit in der Republik die Verwirklichung der allgemeinen Freiheit ist281, ist auch die Privatheit eine Form der Staatlichkeit282, weil Privates (und damit auch unternehmerisches) Handeln immer auch staatlich zu werten ist283, sei es, weil die Folgen 275 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 451, ders., Freiheit in der Republik, S. 100 ff. 276 Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 446 f., 827 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 374. 277 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 353 ff., 456, 819 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 355 ff.; i. d. S. auch J. Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und staatliche Schutzpflicht, HStR, Bd. V, § 111, S. 181 ff., Rdn. 77 ff. 278 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 444; ders., Freiheit in der Republik, S. 355 ff.; R. Alexy, Grundrechte als subjektive Rechte und als objektive Normen, Der Staat, 29 (1990) S. 49 ff., 65, 68. 279 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 465; ders., Freiheit in der Republik, S. 348 ff. 280 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 474 mit Bezug auf Kant, der die eigene Glückseligkeit des Menschen als seinen Naturzweck gesehen hat. In diesem Sinne auch S. 575 und insbesondere S. 631 f., ders., Freiheit in der Republik, S. 465 ff. 281 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 519; ders., Freiheit in der Republik, S. 49 ff. 282 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 453. 283 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 219 ff., 470; ders., Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 184, weil der „Private nicht nur Privatrechts-, sondern auch Staatsrechtssubjekt“ ist; ders., Freiheit in der Republik, S. 449 ff.
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des privaten Handelns einen Bezug zur Allgemeinheit haben, oder weil privates Handeln auf der Grundlage staatlicher Gesetze vollzogen wird (wie etwa beim Abschluß privater Verträge), oder weil die Gesetze den Vollzug bestimmter individueller Handlungsmaximen entweder vorschreiben oder untersagen. Es ist schlechterdings eine Illusion, daß es einen Freiheitsraum geben könnte, der einer gesetzlichen Reglementierung nicht zugänglich wäre284. Privatheit und staatliche Gesetzlichkeit verwirklichen die allgemeine Freiheit in der Gleichheit. Die Grenze zwischen dem, was für die Verwirklichung der allgemeinen Freiheit an Privatheit notwendig und ab wann das staatliche Gesetz erforderlich ist, ist eine Grenze, die die Politik mit praktischer Vernunft, mit Sittlichkeit durch Moralität, ziehen muß. Dabei sind aber durch den Gesetzgeber Verfassungsprinzipien zu beachten, etwa das Verhältnismäßigkeitsprinzip285. Über den vernünftigen Abgleich der subjektiven Dimension der Grundrechte, soweit sich also subjektive Rechte aus den Grundrechten herleiten lassen, und der objektiven Dimension, also auch die politisch Entscheidung darüber, ob und inwieweit Gesetze zur Verwirklichung der Freiheit notwendig und zulässig sind, darüber „wachen die Hüter der Verfassung, insbesondere die Verfassungsgerichte“ 286. Die Grundrechte sind Leitentscheidungen der und für die Politik287. Sie sind Prinzipien288, sie sind Rechte, die oft als Freiheiten bezeichnet werden, welche die formale Freiheit (als Recht) in besonderer Weise verwirklichen289. Weil aber die Grundrechte Leitent284 Was etwa ein privater Grundstückseigentümer auf seinem Eigentum für Gebäude errichten darf, ist den Reglementierungen des Baugesetzbuches unterworfen – trotz der vermeintlichen „Eigentumsfreiheit“ des Art. 14 GG, und die Unverletzlichkeit der Wohnung aus Art. 13 GG steht dem Sexualstrafrecht nicht entgegen. Einen Freiheitsraum der Bürger, der sich einer Reglementierung durch den Gesetzgeber entziehen könnte, kann es nicht geben. Dies schon deshalb nicht, weil Freiheit eben keine räumliche Kategorie ist, K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 466, insbesondere schon aus Erkenntnisgründen nicht; zur herrschaftlichen Gewährung von Freiheitsräumen, ders., Freiheit in der Republik, S. 274 ff.; P. Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, S. 145 f. 285 „In der Bundesrepublik Deutschland hat der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verfassungsrechtlichen Rang. Es ergibt sich aus dem Rechtsstaatsprinzip, im Grunde bereits aus dem Wesen der Grundrechte selbst, die als Ausdruck des allgemeinen Freiheitsanspruchs des Bürgers gegenüber dem Staat von der öffentlichen Gewalt nur so weit beschränkt werden dürfen, als es zum Schutz öffentlicher Interessen unerläßlich ist“, BVerfGE 19, 342 (348 f.); 43, 242 (288 f.); 61, 126 (134); 69, 1 (35); 76, 256 (359); 80, 109 (120); dazu K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 342 ff.; zum Verhältnismäßigkeitsprinzip umfassend A. Emmerich-Fritsche, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Direktive und Schranke der der EG-Rechtsetzung. 286 Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 819 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 424 ff. 287 BVerfGE 84, 130 (142); 84, 212 (228); K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 1034. 288 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 825 f.; J. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 302; R. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 32 ff. 289 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 834.
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scheidungen sind, können sie material nicht abschließend bestimmt sein. Es besteht eine relative materiale Offenheit der Grundrechte290, relativ deshalb, weil sie Leitentscheidungen für die Politik und damit für die Gesetzgebung sind und damit grundsätzlich einer näheren materialen Bestimmung durch die Gesetze bedürfen. Andererseits binden sie den Gesetzgeber und stellen somit eine Grenze bei der Gesetzgebungsbefugnis dar291. Dadurch bleibt der materiale Gehalt des Rechts durch die Politik gestaltbar, das Recht ist flexibel, um auf die sich wandelnden Lebensverhältnisse in der Gemeinschaft der Bürger reagieren zu können, ermöglicht also die Sachgerechtigkeit der Politik292. Andererseits bleibt die Politik der Freiheit verpflichtet und damit auch dem Vorrang der Privatheit der Lebensbewältigung der Bürger. Insofern kann es auch keinen Widerspruch zwischen Recht und Politik geben293. Die Grundrechte als liberalistische Abwehrrechte gegen den Staat als Gemeinschaft der Bürger zu qualifizieren, ist nach republikanischer Rechtsdogmatik verfehlt, schon deshalb, weil es nach ihr keine liberalistische Trennung von Staat und Gesellschaft gibt294. Allerdings schützen die Grundrechte vor Fehl- und Mißbrauch staatlicher Kompetenzen. 5. Keine materiale Vorbestimmtheit von staatlichen und privaten Aufgaben Staatliche und private Aufgaben unterscheiden sich ihrem materialen Wesensgehalt nach nicht, Staat und Private dagegen aber wesentlich. Privatrecht und Privatrechtssubjekte sind vom Privaten her zu begreifen: Privater ist, wer Träger des Rechts zur freien Willkür und des Rechts zur Autonomie des Willens ist, somit aber nicht der Staat295. Der Staat ist das Volk und als res publica allgemein. Er nimmt ausschließlich Staatsaufgaben war, ist damit institutionell und funktional staatlich296 und unterliegt strikter Gemeinwohlbindung297. Er verfügt nicht über das Fundamentalprinzip der Privatrechtsordnung, nämlich die sogenannte Privat290 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 823 ff., zu den besonderen Grundrechten S. 831 ff. 291 So K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 833 f.; zur republikanischen Funktion der Grundrechte, ders., Freiheit in der Republik, S. 370 ff. 292 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 861; vgl. P. Kirchhof, Der allgemeine Gleichheitssatz, HStR, Bd. V, § 124, S. 943 ff., Rdn. 235 ff. 293 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 926 ff. 294 Dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 395 ff. 295 K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 253 ff., 440; ders., Res publica res populi, S. 211 ff., 370 ff.; ders., Grundgesetzliche Aspekte der freiberuflichen Selbstverwaltung; Die Verwaltung 31 (1998), S. 140 ff. 296 K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 253 ff., 261 ff., 275 ff.; ders., Res publica res populi, S. 211 ff., 259 ff.; ders., Grundgesetzliche Aspekte der freiberuflichen Selbstverwaltung; Die Verwaltung 31 (1998), S. 140 ff. 297 K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 235 ff., 261 ff., 440; ders., Res publica res populi, S. 519 ff.; ders., Grundgesetzliche Aspekte der freiberuflichen Selbstverwaltung, Die Verwaltung 31 (1998), S. 140 ff.
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autonomie298, auch dann nicht, wenn er sich in Rechtsformen des Privatrechts betätigt: durch den Abschluß etwa von Kauf- oder Dienstverträgen auf der Grundlage des Bürgerlichen Gesetzbuches werden der Staat oder seine Untergliederungen nicht zu Privaten. Daran ändert ein allgemein anerkanntes Rechtsformenwahlrecht299 nichts. Alles Handeln und damit auch alle Rechtsakte der staatlichen Einrichtungen sind staatlich, Privatheit kommt ihnen entgegen dem Fiskusdogma und der weit verbreiteten Praxis nicht zu300. Öffentliches Recht ist Sonderrecht des Staates, welches aus der Gesamtheit der Rechtssätze besteht, die sich auf sämtliche Rechtsverhältnisse bezieht, an denen der Staat beteiligt ist (strenge Subjektslehre)301. Es gibt keine materiale Vorbestimmtheit von staatlichen Aufgaben, die sich in irgendeiner Weise aus der Sache heraus ergeben könnten302. Das Staatliche ist wie das Private formal definiert, und beides ist in freier Willkür selbstbestimmt: das Staatliche allgemein durch die (gemeinschaftliche) Autonomie des Willens, die von allen als Gesetzgeber materialisiert wird, das Private allein durch den Bürger303. Eine staatliche Aufgabe ist diejenige, welche dem (institutionellen) Staat, also den Einrichtungen der Bürgerschaft für ihr gemeinsames Leben, durch Gesetz zugeordnet worden ist; denn sonst handelt der Staat ultra vires304, also ohne gesetzliche Befugnis. Staatliche Aufgabenbewältigung ist dem Gemeinwohl verpflichtet und betrifft damit immer eine öffentliche Aufgabe, eine res publica. Aber, nicht jede Aufgabe von öffentlichem Interesse muß durch den institutionellen Staat erfolgen305; denn die (institutionell) Privaten verwirklichen auch das 298 W. Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. II, Das Rechtsgeschäft, S. 1 ff.; K. Larenz, Allgemeiner Teil des deutschen bürgerlichen Rechts, S. 91 f., 94 f. 299 BGHZ 9, 145 (147); 16, 111 (112 f.); i. d. S. BVerfGE 27, 364 (374); H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 40; ablehnend K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 181 ff. 300 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 449 ff.; ders., Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 5 ff.; ders., Der Anspruch auf materiale Privatisierung, S. 184 ff., so aber BVerfGE 27, 364 (374 f.); BVerwGE 7, 180 (181 f.); 38, 281 (283 f.); 39, 364 (374); 89, 329 (377). 301 K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 181, 260 ff., 288 ff. 302 Dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 465 ff. 303 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 449 ff. 304 K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 22 f., 41, 256, 262; ders., Res publica res populi, S. 184, 202, 451 f., 473. 305 Die Abgrenzung, was öffentlich ist und was nicht, ist lagebedingt zu beurteilen. Ein großes multinational tätiges deutsches Unternehmen ist sicher für Deutschland von öffentlichem Interesse. Dies kann aber in einer Gemeinde auch ein weitaus kleineres Unternehmen sein, wenn es in dieser etwa der größte Arbeitgeber ist. Die Versorgung der Bevölkerung mit Gütern und Leistungen ist von herausragendem öffentlichem Interesse und stellt eine öffentliche Aufgabe dar. Das bedeutet nun aber keinesfalls, daß der Staat die Verteilung zu übernehmen hätte, solange dies durch Private am Markt befriedigend erfolgt.
V. Das Eigentum
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funktional Staatliche, wenn sie die allgemeinen Gesetze verwirklichen306. Welche Aufgaben dem institutionellen Staat per Gesetz zugewiesen werden und welche den institutionellen Privaten überlassen bleiben, hat der Gesetzgeber lagebedingt und praktisch vernünftig zu entscheiden. Dabei hat er aber den Grundsatz des Vorrangs der Privatheit der Lebensbewältigung aus Art. 2 Abs. 1 GG zu beachten: was Private an Aufgaben bewältigen können, sollen auch Private erledigen. Insofern besteht sehr wohl auch ein verfassungsrechtlicher Anspruch auf materiale Privatisierung staatlicher Aufgaben, wenn dies praktisch (etwa ökonomisch) vernünftig ist und nicht zwingende Belange des Allgemeinwohls entgegenstehen. Art. 2 Abs. 1 GG fordert im Ergebnis den schlanken Staat.
V. Das Eigentum als besondere Ausprägung des Rechts zur freien Willkür 1. Das Privateigentum ist keine verdinglichte Freiheit Die Eigentumsgewährleistung (Art. 14 Abs. 1 GG) ist eine Leitentscheidung der Verfassung307, nämlich daß es grundsätzlich Eigentum privater Bürger (und seine Vererbbarkeit) in Deutschland geben muß. Diese Leitentscheidung ist von herausragender Bedeutung für den Grundsatz der privaten Lebensbewältigung der Bürger. Das Eigentum dient der Privatheit308. Es gibt somit kein staatliches Eigentum309. Das wäre auch rechtsdogmatisch falsch: was Eigentum ist, regeln begrifflich die Gesetze: Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt – Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG. Diese Gesetze dienen der Privatheit der Lebensbewältigung der Bürger, sind „Programme des Lebens in der Gemeinschaft“ 310. Die Eigentumsfrage (und auch die der Verteilung, dazu unten) ist damit offen. Nach herrschender Meinung und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist der Eigentumsschutz aus Art. 14 GG am einfachen Recht und hier insbesondere am bürgerlichen Recht orientiert311. „Der typische verfassungsrechtliche Schutz für die im buchstäblichen Sinne vergegenständlichten Erscheinungsformen der menschlichen Freiheit (und nichts anderes ist das Eigentum) findet sich in Art. 14 GG“ 312 – Günter Dürig313. Die Nähe zu Hegel ist allerdings kaum 306
K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 449 ff. K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 845 f. 308 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 1025. 309 Die Übertragung der Idee des Eigentums auf den Staat schon an der Begrifflichkeit des Eigenen, denn eigen verweist stets auf das Individuelle, K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 1025. 310 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 849. 311 H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 14, Rdn. 35 ff. 312 G. Dürig, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 2 Abs. 1, Rdn. 11. 313 Dagegen richtig K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS W. Leisner, S. 744, für den Eigentum in seiner Materialität gerade nicht die Freiheit ist. 307
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zu übersehen314. Der hatte die Freiheit, die das bürgerliche Recht im Eigentum setzt, als Dasein (Existenz) der Freiheit in allen Stufen ihrer Verwirklichung begriffen315. Eigentum wäre demnach verdinglichte Freiheit, wenn der freie Wille 314 So auch K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS W. Leisner, S. 770. 315 J. Ritter, Person und Eigentum, in: G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts – Kommentar, S. 62; dazu auch H. Rittstieg, Alternativkommentar zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Art. 14 GG, Rdn. 72. Hegels Argumentation ist folgende: Freiheit ist eine Tatsache des Bewußtseins, an welche geglaubt werden müsse, G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 48. Der freie Wille zielt dabei stets auf die empirischen Dinge, auf Sachen. Der Einzelne kann alle Dinge zum Bestimmungsgrund seines Willens machen, weil sich sein Wille notwendigerweise auf diese bezieht. Deshalb können alle Dinge Eigentum des Menschen sein: „Jeder hat also das Recht, seinen Willen zur Sache zu machen oder die Sache zu seinem Willen“; Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 106 f. Die Freiheit ist demnach das grundsätzliche Recht a priori auf alle empirischen Dinge. Aus der Freiheit wird durch die Möglichkeit von Besitz und Eigentum Recht, das Recht erhält von daher gesehen erst sein freiheitliches erstes Dasein: Das unmittelbare Dasein des Rechts, „welches sich die Freiheit auf unmittelbare Weise gibt“, ist „Besitz, welcher Eigentum ist“, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 98. Folglich wird der Einzelne überhaupt nur im Eigentum zur Person,: „sofern er das Recht hat, seinen Willen in jede Sache zu legen, und sich so als ,Eigentümer‘ über ,Besitz, welcher Eigentum ist‘, zu anderen Freien als Personen verhält“, J. Ritter, Person und Eigentum, in: G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts – Kommentar, S. 55, und im dinglichen Eigentum verwirklicht sich seine Freiheit: „Erst im Eigentum ist die Person als Vernunft“. Eigentum ist die „erste Realität meiner Freiheit in einer äußerlichen Sache“, im Eigentum hebt sich die bloße Subjektivität der Persönlichkeit auf, wodurch der sonst abstrakt bleibenden Persönlichkeit ein unmittelbares Dasein gegeben wird. „Die Person muß sich eine äußere Sphäre ihrer Freiheit geben, um als Idee zu sein“. Und diese äußere Sphäre ist das Eigentum, G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 102, und zwar das Privateigentum, S. 107 f. Das Verhältnis des Einzelnen zu seinen Mitmenschen wird überhaupt erst im Eigentum möglich und haben „nur als Eigentümer für einander Dasein“, weil eben nur das Eigentum zur Person qualifiziert. Dieses Verhältnis wird dann durch private Verträge geregelt, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 98. Das Recht wird erst und nur zum Recht, soweit es Besitz und Eigentum betrifft: „Daß ich etwas in meiner selbst äußeren Gewalt habe, macht den Besitz aus, so wie die besondere Seite, daß ich etwas aus natürlichem Bedürfnisse, Triebe und der Willkür zu dem Meinigen mache, das besondere Interesse des Besitzers ist. Die Seite aber, daß ich als freier Wille mir im Besitze gegenständlich und hiermit auch erst wirklicher Wille bin, macht das Wahrhafte und Rechtliche darin, die Bestimmung des Eigentums aus“, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 107. Von Bedeutung ist dabei allerdings, daß auch „Kenntnisse, Wissenschaft, Talente usf.“ „unter die Bestimmungen von Sachen gesetzt werden können“, weil der menschliche Geist diese „durch Äußerung ein äußerliches Dasein geben und sie veräußern“ kann. Das gesamte Recht ist bei Hegel Sachenrecht, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 100, und zwar auf der Grundlage privater Verträge, welche stets Erwerb und Veräußerung von Besitz und Eigentum betreffen. Schuldrechtliche Verbindungen schaffen also Eigenes, das Eigene ist personal und gehört zur Persönlichkeit des Menschen, die er nach Art. 2 Abs. 1 GG frei entfalten darf, so K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS W. Leisner, S. 745. Die Freiheit, an die zunächst nur geglaubt werden muß, erhält im dinglichen Besitz und Eigentum sein Dasein: „daß vom Standpunkt der Freiheit aus das Eigentum, als das erste Dasein derselben, wesentlicher Zweck für sich ist“, G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 107. Zum Eigentum als Dasein der Person gehört für Hegel
V. Das Eigentum
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sich auf Sachen bezöge. Das Grundgesetz hingegen folgt Kant, nicht Hegel, was gerade bei der Eigentumsfrage deutlich wird. Eigentum ist in erster Konsequenz eine Rechtsfrage316, und weil Recht originär eine Frage der Freiheit als Autonomie des Willens ist, ist das Eigentum nur mittelbar und in zweiter Konsequenz eine Frage der Freiheit. Das Eigentum vergegenständlicht nicht die Freiheit; denn die Freiheit selbst ist formal317. Nicht die (formale) Freiheit, sondern erst die allgemeinen staatlichen Gesetze ermöglichen Eigentum318. Nur die „Eigentumsordnung ist kraft der allgemeinen Gesetze der Freiheit gleich, nicht aber das Eigentum, das von Möglichkeiten abhängt. Wäre Eigentum Freiheit, so wäre die Freiheit ungleich verteilt“ 319. Dieses Argument überzeugt. Nur das Recht schafft die Eigentumsordnung320, nach der bestimmt werden kann, woran der Einzelne überhaupt Eigentum haben und erwerben kann321; denn, weil „ein absoluter Eigentumsbegriff fehlt, ist die Regelungsbefugnis bei der gesetzlichen Inhalts- und Schrankenbefugnis nach Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG notwendig und auch verfassungsgemäß“ 322. Wäre das Recht nicht die Voraussetzung des Eigentums, so
zwingend die Besitzergreifung: „Sich zueignen heißt im Grunde somit nur die Hoheit meines Willens gegen die Sache manifestieren und aufweisen, daß diese nicht an und für sich, nicht Selbstzweck ist“, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 114 f. 316 Empirisch vorgefundene Besitzverhältnisse stellen keine Vernunftbegründung für die Verteilung des Eigentums dar, schon deshalb nicht, weil sie keine Vernunftbegründung des Rechts in der Republik sind. Natürlich kann historisch nicht übersehen werden, daß die Klasse der Besitzenden vielfach in der Lage gewesen ist, ihre Besitz- und Eigentumsinteressen durch Macht, Gewalt und Zwang über eine oktroyierte Ordnung herrschaftlich durchzusetzen. Das ist aber freiheitswidrig und damit antirepublikanisch. Kants Paradigma könnte man so formulieren: erst kommt das Recht, und dann das Eigentum, nicht umgekehrt. 317 K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS W. Leisner, S. 744. 318 Nur das Recht sichert jedem das Seine, damit ist auch die Wirklichkeit des Eigentums Zweck des Staates, K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS W. Leisner, S. 751; dazu auch W. Leisner, Freiheit und Eigentum, S. 7 ff., S. 19 f. 319 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 511. Erst die Eigentumsordnung klärt die Verteilungsfrage, dazu K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS W. Leisner, S. 755. 320 Aus der Allgemeinheit der Freiheit folgt logisch ein Recht auf Recht, K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS W. Leisner, S. 753. Im Hinblick auf das Eigentum bedeutet dies, daß es zumindest ein Recht auf eine Eigentumsordnung geben muß. Dazu zählt dann eben auch der Schutz des Eigentums, weil ohne diesen das Eigene nicht gesichert sein kann, wie es eben das Privatnützigkeitsprinzip erfordert. Erst der Schutz des Eigenen macht Eigenes zu Eigentum, S. 754. 321 Nur das den Gesetzen gemäß Erworbene kann gerechtes Eigentum sein, welches durch die Eigentumsgewährleistung gesichert wird, K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS W. Leisner, S. 754 f. 322 H. Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 14, Rdn. 40; BVerfGE 38, 348 (370).
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2. Kap.: Republikanische Freiheit unter dem Grundgesetz Deutschlands
könnte es auch keine befriedende Funktion323 im Hinblick auf die Frage der Eigentumsverteilung haben, der Krieg aller gegen alle324 wäre die Folge. Auch die Wirklichkeit des Eigentums ist Zweck des Staates325. Das aus Gründen der Menschenwürde normative Leitbild besteht darin, daß der Mensch eine eigenverantwortlich, zur selbstbestimmten Lebensführung berechtigte (und gleichzeitig tugendlich verpflichtete) Person ist. Materielle Ressourcen dienen nicht nur der Existenzsicherung, sondern sind freiheitliche Voraussetzungen der Selbständigkeit, sind Voraussetzungen „von Recht, personaler Würde und bürgerlicher Existenz“ 326. Das Eigene ist personal, das Seine gehört zur Persönlichkeit des Menschen, welche er nach Art. 2 Abs. 1 GG frei entfalten darf327. 2. Rechtliches Eigentum als ein Apriori der Vernunft Daß es Eigentum geben muß, es also grundsätzlich möglich sein muß, einen äußeren Gegenstand als den seinen zu betrachten, ist eine logische Denknotwendigkeit, die sich aus der (Idee der) Freiheit ableitet. Das Rechtsinstitut des Eigentums folgt unmittelbar der Logik vom Recht überhaupt: jeder hat die Möglichkeit, sich einen beliebigen Gegenstand seiner Willkür als den Seinen zu denken, und diese Möglichkeit als intelligibler Besitz begründet ein Recht auf Recht, ein Recht auf eine bürgerliche Verfassung328 und damit auch wesentlich ein Recht auf eine gesetzliche Eigentumsordnung329. Ohne diese Möglichkeit, etwas als das Seine zu haben, wäre Recht nicht denkbar. Die Ermangelung einer Rechtsbefugnis zum Gebrauch von Gegenständen der eigenen Willkür wäre darüber hinaus auch ein Widerspruch mit der Freiheit330, so aber ist der Gebrauch dieser
323 Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 8 f.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 70 f. 324 Th. Hobbes, Leviathan, I, 14, II, 17, 18; dazu K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS W. Leisner, S. 752. 325 K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS W. Leisner, S. 751; W. Leisner, Freiheit und Eigentum, S. 7 ff., 19 ff. 326 W. Kersting, Kritik der Gleichheit, S. 38 f. 327 K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS W. Leisner, S. 745. 328 Zur Freiheit des Art. 2 Abs. 1 GG als Recht auf Recht K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 288 ff. 329 Aus dem provisorischen Rechtscharakters des Mein und Dein im Naturzustand folgert Kant, Metaphysik der Sitten, S. 366, die Erlaubnis des einzelnen Menschen, „jeden anderen, mit dem es zum Streit des Mein und Dein über ein solches Objekt zukommt, zu nötigen, mit ihm zusammen in eine bürgerliche Verfassung zu treten“ . . . „worin jenes (sic. das äußere Mein und Dein) gesichert werden kann“; dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 44 ff.; ders., Res publica res populi, S. 209 f.; dazu auch W. Kersting, Kant über Recht, S. 51 ff., 107 ff. 330 Für die Eigentumsverhältnisse ist es wesentlich, wer Eigentümer ist, weil die Eigentümerposition die Möglichkeiten der Eigentumsnutzung bestimmt, die für jeden je-
V. Das Eigentum
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Gegenstände nur nach der Maßgabe der allgemeinen Gesetze freiheitlich möglich. Durch das allgemeine Gesetz wird anderen eine Verbindlichkeit auferlegt, sich des Gebrauchs dieser Gegenstände zu enthalten, weil sonst die Freiheit als Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür lädiert würde: „Der äußere Gegenstand, welcher der Substanz nach das Seine von jemandem ist, ist dessen Eigentum (dominium), welchem alle Rechte in dieser Sache (. . .) inhärieren, über welche der Eigentümer (dominus) nach Belieben verfügen kann“. Eigentum ist damit das Recht der uneingeschränkten Sachherrschaft, d.h. der Geltendmachung aller Rechte gegenüber Dritten, die der Sache inhärieren. Welche materialen Rechte dies nun sind, muß sich zwar aus dem Gesetz ergeben, dies aber kann nicht losgelöst von der Natur der Sache sein. Es kommt also darauf an, um welche Objekte es sich handelt. Eigentum ist eine Rechtsposition, welche dem Eigentümer zusteht, als solche aber auch eine intelligible Besitzposition, durch die sich der Eigentümer mit den Gegenständen seiner Willkür als das Seine verbunden fühlt. Dieses ist sein rechtliches Eigentum, weil es nämlich andere von deren Einwirkungsmöglichkeiten rechtlich ausschließt. Damit ist Eigentum stets nur als Eigentum Privater denkbar331. Es ist zum einen ein Rechtsinstitut, weil es die Rechte aus den Gegenständen der Willkür zuordnet. Es ist zum zweiten aber auch das subjektive Recht auf Eigentum332. Beides zusammen ist der Gehalt der Eigentumsgewährleistung aus Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG. Eigentum setzt Recht voraus333, weil ohne staatlichen Rechtsschutz Eigentum aufhört, eben Eigentum als staatlich geschütztes Eigenes zu sein. Das durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Recht ist das Eigentum Privater, das es wegen der „lex permissiva der rein praktischen Vernunft“ und dem daraus abgeleiteten intelligiblen Besitz im Rechtsstaat zwingend geben muß. Eigentum wird also nicht herrschaftlich vom Staat gewährt, sondern das Rechtsinstitut der Eigentumsgewährleistung ist ein Rechtssatz a priori334. Weil aber Eigentum durch Art. 14 GG ein positives juridisches Recht ist, ist es durch die allgemeinen Gesetze gestaltbar: das Gesetz bestimmt die Eigentumsordnung, also welche Rechte der Sache inhärieren und zudem, wie das Eigentum erworben oder veräußert werden kann. Art. 14 Abs. 1 GG folgt nach
weiligen Eigentümer unterschiedlich sind; das ist Ausfluß der Personalität des Eigentums, dazu näher K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS W. Leisner, S. 747. 331 Dem steht natürlich eine Sachherrschaft des Staates grundsätzlich nicht entgegen, nur ist sie nicht als Eigentum zu werten. Staatseigentum, verstanden als Sachherrschaft des Staates fällt jedenfalls nicht unter die Eigentumsgewährleistung des Art.14 GG, dazu K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 278. 332 Dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 527 ff. 333 H. Rittstieg, Alternativkommentar zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, Art. 14, Rdn. 45. 334 Die Eigentumsordnung ist nicht Schöpfung, sondern Erkenntnis des sittlichen Mein und Dein der Bürger, K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS W. Leisner, S. 767.
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2. Kap.: Republikanische Freiheit unter dem Grundgesetz Deutschlands
alledem Kant: „Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt“. 3. Republikanische Eigentumsbegründung in der Staatsrechtsliteratur Ein kurzer Blick in die Staatsrechtsliteratur zur Eigentumsgewährleistung des Grundgesetzes soll dies verdeutlichen. Nach allgemein herrschender Lehrmeinung besteht ein elementarer Zusammenhang zwischen Eigentum und Freiheit335. Das Bundesverfassungsgericht sieht in ständiger Rechtsprechung in der Eigentumsgewährleistung ein elementares Grundrecht, das in einem inneren Zusammenhang mit der Garantie der persönlichen Freiheit stehe. Das Gericht spricht von „Eigentumsfreiheit“ 336. So sichere die Eigentumsgewährleistung dem Einzelnen einen Freiheitsraum im vermögensrechtlichen Bereich und ermögliche ihm dadurch eine eigenverantwortliche Gestaltung seines Lebens337. Problematisch an dieser Sicht ist die materiale, räumliche Freiheitsauffassung, die auf den Begriff des Eigentums ausgedehnt wird. Andererseits und über die Sicht des Gerichts hinausgehend, ist Eigentum nicht nur eine, sondern schlechterdings die Basisvoraussetzung für die private Lebensbewältigung. Freiheit in praktischer Hinsicht ist das Recht zur freien Willkür, und die freie Willkür zielt aufs Empirische. Es muß also rechtlich möglich sein, Gegenstände der Willkür als die seinen, in der Form des Eigentums als juridisches Recht, anzusehen. Art. 14 Abs. 1 GG enthält genau wie Art. 2 Abs. 1 GG in erster Linie ein Recht auf Recht338. Die Eigentumsgewährleistung ist also zunächst kein Recht auf eine materielle Basis der Freiheitsentfaltung, das allen gleichermaßen zukommt. Das wäre unvereinbar mit der Grundstruktur des Art. 14 GG als ein staatliches Vermögensentziehungs-, Minderungs- und Umschichtungsverbot339. Auch das ist im Ergebnis gegen Hegel gerichtet: Art. 14 GG ergibt kein grundsätzliches materiales Recht auf alles, also keinen allgemeinen Vermögensschutz; denn sonst würde eine Inhaltsbestim-
335 „Zwischen der Garantie des Privateigentums und den grundrechtlichen Gewährleistungen der persönlichen Freiheit bestehen enge Zusammenhänge“, H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 14, Rdn. 1. 336 BVerfGE 105, 17 (31). 337 BVerfGE 24, 367 (389). Dazu H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 14, Rdn. 1, 12. 338 Vgl. H. Rittstieg, Alternativkommentar zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Art. 14, Rdn. 48. Insofern ist es terminologisch verfehlt, von einer Eigentumsfreiheit zu sprechen im Sinne eines Abwehrrechts gegenüber dem Staat. 339 H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 14, Rdn. 2. Die Eigentumsgarantie ist kein Recht auf Eigentum, „auf Verschaffung oder Bereitstellung vermögenswerter Rechte für den Einzelnen. Sie gibt keinen Anspruch auf staatliche Verschaffung von Rechten, z. B. auf Subventionen, selbst wenn sie zur Existenzsicherung erforderlich wären“; P. Badura, Eigentum, HVerfR, S. 342.
V. Das Eigentum
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mung im Rahmen der Privatrechtsordnung über Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG letztlich leerlaufen340. Eigentum im Sinne von Art. 14 GG ist ein offener und dynamischer Begriff, der durch die Gesetze verwirklicht wird: die Privatheit, die Privatnützigkeit und die Verfügungsbefugnis sind durch sie bestmöglich zu befördern341. Darüber hinaus stellt das Eigentum als subjektives („Privat“-)Recht ein Mittel zur Gestaltung des Sozialordnung dar, weil der Einzelne eigenverantwortlich und mit privatnütziger Zielsetzung am Aufbau und an der Gestaltung der Rechts- und Gemeinschaftsordnung als Ausfluß seines Rechts zur freien Willkür mitwirken soll342. Weil die freiheitliche Autonomie jedem zukommt, ist für jeden Einzelnen ein Mindestbestand an Eigentum erforderlich. Das gebietet das Sozialprinzip. In der Eigentumsgewährleistung ist also auch ein Teilhaberecht zu sehen, insbesondere bei sozialversicherungsrechtlichen Leistungen343, das dem Einzelnen ein lebenswürdiges Dasein in Freiheit durch Absicherung seines Existenzminimums ermöglicht. Auch das ergibt sich aus Art. 14 Abs. 1 GG: die Gewährleistung des Eigentums ist so aufzufassen, daß jeder einen rechtlichen Anspruch auf etwas Eigenes hat. Daneben ist die Institutsgarantie des Eigentums darin verankert344, sie ist die verfassungsrechtliche Ausprägung der apriorischen „lex permissiva der praktischen Vernunft“ Kants, einen äußeren Gegenstand der Willkür als den seinen zu betrachten, welcher durch Art. 14 Abs. 1 GG in juridisches Recht am und auf Eigentum transformiert wird. Weil Eigentum Recht ist, sind Inhalt und Schranken des Eigentums durch die Gesetze bestimmbar – Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG. Was also Eigentum ist, wird durch die Privatrechtsordnung als auch durch das öffentliche Recht geregelt345. Nicht jeder Gegenstand der Willkür ist demnach (durch die Institutsgarantie) von Art. 14 GG geschützt346. Eigentum ist nur nach Maßgabe der einfachen Gesetze möglich347, steht damit unter der grundsätzlichen Gestaltungsmöglichkeit des einfachen Gesetzgebers. Der Gesetzgeber kann also nicht das Eigentum Privater abschaffen348, folglich ist auch die Zentralverwaltungswirtschaft als wirtschaftliche Ordnungsvorstellung nach dem Grundgesetz nicht möglich349. Die Eigentumsgewährleistung schützt demnach vor einem Fehl- und Mißbrauch staatlicher Kompetenzen350, worüber das Bun-
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H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 14, Rdn. 3. K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 1024 f. 342 H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 14, Rdn. 4 und 12. 343 Dazu H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 14, Rdn. 6 f. 344 Zur Institutsgarantie des Eigentums H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 14, Rdn. 11 ff. 345 H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 14, Rdn. 37. 346 H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 14, Rdn. 13. 347 H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 14, Rdn. 38. 348 H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 14, Rdn. 34. 349 H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 14, Rdn. 32. 350 So im Ergebnis H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 14, Rdn. 35. 341
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2. Kap.: Republikanische Freiheit unter dem Grundgesetz Deutschlands
desverfassungsgericht wacht351: so hatte es auch das Bundesverfassungsgericht im Hamburger Deichurteil festgelegt, nach welchem es dem Gesetzgeber verwehrt sei, an die Stelle des „Privateigentums“ etwas anderes zu setzen, was den Namen Eigentum nicht mehr verdiene352. Im Vordergrund steht also die Privatnützigkeit des Eigentums353. Erst die Institutsgarantie des Eigentums ermöglicht die individuelle Geltendmachung als subjektives Recht354. Gefragt werden muß aber in diesem Zusammenhang, wie weit die Regelungsbefugnisse des Gesetzgebers gehen können, also nach dem materialen Kern des Eigentumsbegriffs. Gewährleistet wird das individuelle Jeweils-Seine, als etwas der Person Zugehöriges355, Eigentum ist wesentlich Eigenes356 und der damit verbundenen Gebrauchsmöglichkeit als Rechts- und Sachherrschaft357. Zwar ist Eigentum grundsätzlich ein Bündel von Rechten und Pflichten358, kennzeichnender Kern ist aber die Veräußerbarkeit: Eigentümer ist, wer das Recht hat, die Gegenstände seiner Willkür zu veräußern359. Für die Bürgerlichkeit des Bürgers und die Zuspre351 Dann natürlich mit funktional gesetzgebender Funktion: „Mit dem Begriff Eigentum delegiert das Grundgesetz mittels der Wesensgehaltsgarantie des Art.19 Abs. 2 GG die Entscheidung über die den legislativen Gesetzgeber bindende Eigentumsverfassung des Grundgesetzes wesentlich dem Bundesverfassungsgericht, diesem in besonderer Weise der Politik und damit richtiger Gesetzgebung verpflichteten Gericht“, K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 1024. 352 Mit weiteren Nachweisen H. Rittstieg, Alternativkommentar zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Art. 14, Rdn. 33. Dabei ist aber festzuhalten, daß das Bundesverfassungsgericht in einer späteren Entscheidung zu Recht bestimmt hat, daß Art. 14 GG nicht das Privateigentum, sondern das „Eigentum Privater“ schütze, BVerfGE 61, 82 (108 f.). Diese Differenzierung ist deshalb von Bedeutung, weil damit klar gestellt wird, daß staatliches Eigentum im Grunde genommen ein Widerspruch in sich darstellt und folglich keinen Grundrechtsschutz genießt, K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 1025; ders., Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 277 ff., insbes. S. 278. 353 P. Badura, Eigentum, HVerfR, S. 342; K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS W. Leisner, S. 747 ff. 354 H. Rittstieg, Alternativkommentar zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Art. 14, Rdn. 45. 355 H. Rittstieg, Alternativkommentar zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Art. 14, Rdn. 61. 356 K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS W. Leisner, S. 748 f. 357 Dazu H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 14, Rdn. 8. 358 H. Rittstieg, Alternativkommentar zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Art. 14, Rdn. 65. 359 Dazu R. Breuer, Freiheit des Berufes, HStR, Bd. VI, § 147, S. 953, Rdn. 100; „Zum Kernbestand der Rechtsnormen, die Art. 14 Abs. 1 zur Sicherung des Instituts ,Privateigentum‘ gewährleistet, gehört grundsätzlich die Veräußerungsfreiheit des Eigentümers“, so H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 14, Rdn. 14, wobei man besser nicht von „Veräußerungsfreiheit“ sprechen sollte, sondern richtigerweise vom Recht zur beliebigen Veräußerung. Ungeachtet dieser terminologischen Kritik kennzeichnet die Veräußerungsmöglichkeit jedenfalls die Eigentümerposition, das hatten bereits Hegel und Kant so gesehen.
V. Das Eigentum
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chung des Stimmrechts im Staat ist es Voraussetzung360, daß er sein eigener Herr sei, „mithin irgend ein Eigentum habe (wozu auch jede Kunst, Handwerk, oder schöne Kunst, oder Wissenschaft gezählt werden kann), welches ihn ernährt; d. i. daß er, in den Fällen, wo er von andern erwerben muß, um zu leben, nur durch Veräußerung dessen, was sein ist erwerbe“. Kunst, Handwerk, schöne Kunst und Wissenschaft zählen zum Eigentum, wobei wichtig ist, daß Kant damit das daraus resultierende Werk im Auge hat361, Eigentum ist alles selbst erschaffene, ein Kunstwerk, eine Erfindung, eine wissenschaftliche Erkenntnis, ein selbst gefertigtes Produkt, eine handwerkliche Leistung etc. In dieselbe Richtung argumentiert Hegel. Zu den näheren Bestimmungen des Eigentums zählen u. a. das Recht zur Besitznahme und die Veräußerbarkeit362. Das, was nach Kant und Hegel Eigentum darstellt oder wie Eigentum anzusehen ist, sofern es veräußerbar ist, fällt nach der herrschenden Lehrmeinung unter den Eigentumsschutz des Art. 14 Abs. 1 GG, soweit es sich dabei um in der Regel in Geldgrößen bewertbare Rechtspositionen, als Vermögen handelt: das vermögenswerte Ergebnis eigener schöpferischer Leistung, patentfähige Erfindungen, Warenzeichen als Vermögensrechte363, aber auch in weitem Umfange das, was zum Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb gehört364, wie auch sonstige Rechte wie Materialgüterrechte, Forderungen, Renten und Aktien, Anteilseigentum und das Eigentum der Unternehmensträger365. Das kann hier im Detail nicht weiter vertieft werden. Festzuhalten ist aber, daß es sich beim grundgesetzlich geschützten Eigentum um vermögenswerte Rechtspositionen handelt366, die grundsätzlich auch den Gesetzen gemäß367 veräußerbar sind. Jedenfalls sind Veräußerungsver360 Vgl. zum Zusammenhang von Eigentum und Wahlrecht H. Rittstieg, Alternativkommentar zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Art. 14, Rdn. 70 a. 361 „Derjenige, welcher ein Opus verfertigt, kann es durch Veräußerung an einen anderen bringen, gleich als ob es sein Eigentum wäre“, Kant, Über den Gemeinspruch, S. 151. 362 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 117 f. „Meines Eigentums kann ich mich entäußern, da es das meinige nur ist, insofern ich meinen Willen darein lege, – so daß ich meine Sache überhaupt von mir als herrenlos lasse (derelinquire) oder sie dem Willen eines anderen zum Besitzen überlasse“, S. 140. Auch „Kenntnisse, Wissenschaften Talente usf.“ sind veräußerbar, „wodurch sie unter die Bestimmung von Sachen gesetzt werden“, S. 104. „Von meinen besonderen, körperlichen und geistigen Geschicklichkeiten und Möglichkeiten der Tätigkeit kann ich einzelnen Produktionen und einen in der Zeit beschränkten Gebrauch von einem anderen veräußern“, S. 144. 363 H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 14, Rdn. 187 ff. 364 H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 14, Rdn. 96 ff. 365 H. Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 14, Rdn. 15 f. 366 So auch P. Badura, Eigentum, HVerfR, S. 329. 367 Folglich fällt nicht das irgendwie in den Besitz gekommene Mein und Dein unter die Eigentumsgewährleistung des Art. 14 Abs. 1 GG, sondern nur das den Gesetzen gemäß erworbene, K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS Walter Leisner, S. 765.
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2. Kap.: Republikanische Freiheit unter dem Grundgesetz Deutschlands
bote nur unter sehr engen Voraussetzungen zulässig, und auch nur dann, wenn sie durch Gemeinwohlbelange gerechtfertigt sind, „denen im Verhältnis zur Eigentumsgewährleistung eindeutig der Vorrang gebührt, und sich außerdem strikt am Übermaßverbot orientieren“ 368. Wesentliches Kriterium des Eigentums bleibt damit die Veräußerbarkeit. Art. 14 GG schützt neben Eigentumsbestand, Eigentumsgebrauch- und -nutzungsmöglichkeit auch den Eigentumswert als Tauschwert369, weil nämlich die Veräußerbarkeit einen grundsätzlichen Tauschwert des Eigentums voraussetzt. Dem steht nicht entgegen, daß die Eigentumsgewährleistung das Erworbene schützt, weil nämlich die Veräußerungsmöglichkeit grundsätzlich seine Erwerbsmöglichkeit mit einschließt, Erwerb und Veräußerung in einem inneren sachlogischen Zusammenhang stehen370. Wichtig ist die Sichtweise, daß die Gewährleistung des Eigentums eine Ausprägung des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 GG darstellt371, in der hier vorgestellten Ausformulierung als Recht zur freien Willkür. „Zum Bereich des persönlichen Eigentums gehören allerdings über körperliche Gegenstände hinaus auch Forderungen und sonstige vermögenswerte Rechte, soweit sie der persönlichen Lebensgestaltung und Lebensvorsorge sowie der eigenen Arbeit dienen“ 372. Damit steht das Eigentum in engstem Verhältnis zum Grundsatz der Privatheit der Lebensbewältigung, wie er in Art. 2 Abs. 1 GG verankert ist, weil sonst die Sozialpflichtigkeit des Eigentums aus Art. 14 Abs. 2 GG im Grunde sinnlos wäre373. Weil der Einzelne wirtschaften muß, um zu leben, gehören damit auch Produktionsmittel und Unternehmen zum grundgesetzlich geschützten Eigentum374. Der Eigentumsschutz des Art. 14 Abs. 1 GG bezieht sich zunächst einmal auf die oft so bezeichnete Garantie des Eigentums Privater375. Eigentum ist also ein Recht zur Privatheit als Recht zur freien Willkür. § 903 BGB zeigt das“ 376. Eigentum ermöglicht Selbständigkeit und Personalität in der Privatheit377. 368
H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 14, Rdn. 14. H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 14, Rdn. 8. 370 Insofern ist es nicht nachvollziehbar, wieso das Bundesverfassungsgericht ausführt: „Art. 14 Abs. 1 GG schütze das Erworbene, das Ergebnis der Betätigung („das Ergebnis geleisteter Arbeit“), Art. 12 Abs. 1 GG dagegen den Erwerb, die Betätigung selbst“, BVerfGE 30, 292 (344 f.). 371 H. Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 14, Rdn. 14. 372 H. Rittstieg, Alternativkommentar zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Art. 14, Rdn. 75; so auch K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS W. Leisner, S. 748 f., 753. 373 In diese Richtung argumentiert K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 387. 374 H. Rittstieg, Alternativkommentar zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Art. 14, Rdn. 95 ff. 375 P. Badura, Eigentum, HVerfR, S. 346. 376 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 1025. „Der Eigentümer einer Sache kann, soweit nicht das Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen, mit der Sache 369
VI. Die Verteilung des Eigentums als Frage der Gleichheit
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VI. Die Verteilung des Eigentums als Frage der Gleichheit Nachdem alle irdischen Güter grundsätzlich nur in begrenztem Umfang vorhanden sind, stellt sich unter dieser Maßgabe der Knappheit die Frage nach der Verteilung, auch der von Eigentum. Kants metaphysische Begründung der Rechtslehre folgt der Frage nach dem Mein und Dein, wodurch auch die Frage nach der Verteilung des jeweils Eigenen im bürgerlichen Zustand, im Staat aufgeworfen ist. Rein ökonomische Maßstäbe vermögen die Verteilungsfrage nicht zu beantworten, sondern nur die Maßstäbe der sozialen Gerechtigkeit, „das Bild vom freien, aber in die Gemeinschaft eingefügten Menschen“ 378. 1. Die Gleichheit in der Freiheit Freiheit ist ein angeborenes Recht, welches jedem Menschen qua seiner Menschheit zugesprochen werden muß. Demnach sind alle Menschen in ihrer Freiheit gleich. „Die Ungleichheit kann nicht angeboren sein, sonst wäre der Mangel an Freiheit angeboren“ 379. Um in praktischer Hinsicht frei sein zu können, bedarf es aber des Eigentums. Dadurch liegt der Schluß nahe, daß die Gleichheit der Freiheit auch die materiale Gleichheit der Verteilung des Eigentums rechtfertige. Auf der anderen Seite bedeutet Freiheit aber auch, daß jedermann seine Persönlichkeit frei entfalten darf (Art. 2 Abs. 1 GG), und demnach selbst und allein bestimmt, worin sein Glück besteht und damit auch, wie viel Besitz und Eigentum nach seinen Vorstellungen dafür erforderlich sind. Die Frage nach der Verteilung des Eigentums veranschaulicht das in der Staatsrechtsliteratur gern dogmatisierte Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit380: „Zwischen Freiheit und Gleichheit besteht ein inneres Spannungsverhältnis. Je mehr Gleichheit verwirklicht wird, um so fragwürdiger wird die Freiheit. Und je mehr Freiheit gesichert ist, um so problematischer wird die Gleichheit“ 381. Auch das Bundesverfassungsgericht folgt dieser Dogmatik: „Die freiheitliche Demokratie ist von der Auffassung durchdrungen, daß es gelingen nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen“ – § 903 S. 1 BGB. 377 K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS W. Leisner, S. 769. 378 L. Raiser, Wirtschaftsverfassung als Rechtsproblem, FS J. Gierke, 1950, S. 121. 379 Kant, Opus postumum, Akademieausgabe, Bd. 21, S. 462; zur Ungleichheit der Menschen im Hinblick auf das allgemeine Menschrecht, der Freiheit nämlich, hat „die Natur den Menschen gewiß nicht bestimmt“, ders., Idee zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Anm. S. 95. 380 Dazu mit ausführlichen Nachweisen K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 405 ff. 381 G. Leibholz, Strukturprinzipien des modernen Verfassungsstaates, S. 19.
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2. Kap.: Republikanische Freiheit unter dem Grundgesetz Deutschlands
könne, Freiheit und Gleichheit der Bürger trotz der nicht zu übersehenden Spannungen zwischen diesen beiden Werten allmählich zu immer größerer Wirksamkeit zu entfalten und bis zum überhaupt erreichbaren Optimum zu steigern“ 382. Ein Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit gibt es nicht383. Statt dessen liegt die angeborene Gleichheit „schon im Prinzip der angeborenen Freiheit“ begründet384. Die Forderung nach Gleichheit geht aus der vorgängigen Ordnung der Freiheit hervor385. Das beinhaltet die Formel von der Gleichheit in der Freiheit386. Die freie Entfaltung der Persönlichkeit erfolgt in einer Gemeinschaft von Menschen mit der gleichen Freiheit387. 2. Gleichheit bedeutet nicht materiale Unterschiedslosigkeit Jeder Mensch ist einzigartig. Und diese Einzigartigkeit ist es, die seine Persönlichkeit ausmacht und in der sich jeder Mensch von allen anderen Menschen dieser Welt unterscheidet. Vor dem Hintergrund dieser empirischen Erkenntnis erscheint es geradezu absurd, die Frage der Gleichheit überhaupt zu stellen, geschweige denn sie zu einem Verfassungsprinzip machen zu wollen. Das ist überhaupt nur denkbar, wenn, erstens, Gleichheit nicht materiale Unterschiedslosigkeit bedeutet388. Das erfordert angesichts der Einzigartigkeit jedes Menschen und der Heterogenität der Lebenswirklichkeit, zweitens, einen Maßstab, anhand dessen die Gleichheit oder die Ungleichheit festgestellt werden kann. 3. Die Formalität der Gleichheit Die Gleichheit kann demnach nicht material, sondern, wie die Freiheit auch, nur formal begriffen werden. Gleichheit ist also eine Frage des (vernünftigen) Beurteilungskriteriums, welches freiheitsverwirklichend für alle Bürger im Staat nur durch den Gesetzgeber festgelegt werden kann. Es gibt also keine Gleichheit ohne Recht389, sondern die Gleichheit in der Freiheit wird, wie die Freiheit auch, 382
BVerfGE 5, 85 (206). K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 405 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 38 ff. 384 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 345 f.; K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 436 ff. 385 W. Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, HVerfR, S. 508. 386 G. Dürig, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 3 Abs. 1, Rdn. 134 spricht von der „Freiheits-Gleichheit“. 387 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 405 ff. 388 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 132. Sonst wäre etwa eine Progression des Einkommensteuersatzes gleichheitswidrig. Aber die sich dann aufdrängende Frage, ob ein einheitlicher Einkommensteuersatz oder eine Kopfsteuer der materialen Gleichheit gerecht würde, ließe sich damit nicht beantworten. 389 P. Kirchhof, Der allgemeine Gleichheitssatz, HStR, Bd. V, § 124, S. 153 ff. 383
VI. Die Verteilung des Eigentums als Frage der Gleichheit
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durch das Gesetz verwirklicht: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“ – Art. 3 Abs. 1 GG. Republikanisch verwirklicht sich die Gleichheit also im Gesetzlichkeitsprinzip, weil das Gesetz allgemein sein muß, um ein Gesetz aller in der Republik zu sein. Diese Rechtsetzungsgleichheit ist die Logik der Gleichheit in der Freiheit. Diese formale Gesetzgebungsgleichheit verpflichtet den Gesetzgeber allerdings nicht, gleichheitliche Gesetze zu geben, sondern er darf und muß Unterschiede machen, welche sich aber sachlich rechtfertigen lassen müssen. Jedes Gesetz muß, wie jede Politik, sachlich, vernünftig und willkürfrei sein. Die Gesetzgebungsgleichheit ist das Willkürverbot: „Der Gleichheitssatz ist verletzt, wenn sich ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonst wie sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden lässt, kurzum, wenn die Bestimmung als willkürlich bezeichnet werden muß“ 390. Dieses Willkürverbot aus Art. 3 Abs. 1 GG hat das Bundesverfassungsgericht in einer späteren Entscheidung zum Begründbarkeitsgebot umformuliert: „Die Verfassungsnorm gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Demgemäß ist dieses Grundrecht vor allem dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten“ 391. Differenzierungen des Gesetzgebers sind durch Begründungen zu rechtfertigen. Das ergibt sich aus dem Sachlichkeitsprinzip. Demnach sind gesetzlich vorgeschriebene Ungleichbehandlungen, wenn sie sachlich begründet und gerechtfertigt sind, gleichheitlich. Bei der Wahl des Maßstabes oder Beurteilungskriteriums, welches das allgemeine Gesetz bestimmt, ist der Gesetzgeber im Rahmen seines „Beurteilungs- und Gestaltungsermessens“ allerdings weitgehend frei392. Die Gleichheit ist damit auf die Moralität der Abgeordneten als Gesetzgeber verwiesen393, welche das sittliche Gesetz hervor zu bringen haben, welches für alle Bürger leb- und zumutbar sein muß. Gleichheit in der Republik bedeutet dann einen fairen und sachlich begründeten Interessenausgleich in der Gemeinschaft der Bürger, im Staat394. Soziale Demokratie als Ordnung der Gleichheit in Freiheit bedeutet „größtmögliche und gleichberechtigte Wohlfahrt des Einzelnen bei notwendiger Gerechtigkeit für Alle“ 395.
390 BVerfGE 1, 14 (52); vgl. auch BVerfGE 33, 367 (384); 54 11 (25 f.); 102, 254 (299, 302). 391 BVerfGE 55, 72 (88); so etwa auch BVerfGE 58, 369 (374); 60, 329 (346); 70, 230 (239 f.); 75, 348 (357); 78, 249 (287). 392 So BVerfGE 71, 39 (53); 102, 254 (309). 393 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 411 ff. 394 Dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 405 ff. 395 W. Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, HVerfR, S. 507.
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2. Kap.: Republikanische Freiheit unter dem Grundgesetz Deutschlands
4. Die Prinzipien der Verteilung Wolfgang Kersting hat die These vertreten, dem Sozialstaat liege ein „duales Schema“ von Staat und Markt zugrunde396. Allerdings stehen Staat und Markt nicht in einem dichotomen Verhältnis zueinander. Einerseits ist es richtig, daß staatliche Institutionen selbst Anbieter von öffentlichen Gütern sind. Andererseits bezieht ein Sozialhilfeempfänger seine Güter eben auch über den Markt, wobei die dafür erforderlichen finanziellen Mittel von staatlichen Stellen zur Verfügung gestellt werden. Eine trennscharfe Unterscheidung, ob staatlich oder marktlich verteilt wird, ist mit diesem dualen Schema demnach nicht möglich und greift dann auch bei der Beantwortung der Frage nach der praktisch vernünftigen und gerechten Verteilung zu kurz. Dafür erscheint es geboten, zusätzlich drei unterscheidbare Verteilungsprinzipien heran zu ziehen: das Bedarfsprinzip, das Leistungsprinzip397 und das Wettbewerbsprinzip398. Die Sicherung des wirtschaftlichen Existenzminimums der Bürger399 hat staatlich nach dem Bedarfsprinzip zu erfolgen400. Die Verteilung nach dem Wettbewerbsprinzip erfolgt ausschließlich nach dem rationalen Mechanismus von Angebot und Nachfrage von Gütern und Dienstleistungen am Markt401 und fragt nicht nach dem existenziellen Minimum und auch nicht nach der sozialen Gerechtigkeit des Verteilungsergebnisses: der Markt ist kein „Gerechtigkeitsgarant“ 402. Beim Leistungsprinzip erfolgt die Verteilung äquivalent zur erbrachten Leistung, etwa der Arbeitsleistung eines Menschen. Das Problem des Leistungsprinzips ist, daß ein Bewertungsmaßstab erforderlich ist, mit dessen Hilfe die Leistung ökonomisch gemessen werden kann. Dieser Bewertungsmaßstab kann nun einerseits das Ergebnis des Preismechanismus des Marktes sein, er kann auch administrativ auf der Grundlage staatlicher Gesetze festgelegt werden403. Der Markt ist nicht allein 396
W. Kersting, Kritik der Gleichheit, S. 34. Zum Leistungsprinzip K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 551 ff. 398 Zum Wettbewerbsprinzip K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 586 ff. 399 „Egalitär ist das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum. Wo es vorhanden ist, darf es nicht angetastet werden. Wo es fehlt, ist es zu schaffen, auch wenn dadurch Güterumverteilungsvorgänge erforderlich sind“, G. Dürig, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 3 Abs. 1, Rdn. 69. 400 Zur Sicherung des materiellen Existenzminimums W. Kersting, Kritik der Gleichheit, S. 44 f.; K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS W. Leisner, S. 767 f.; zum Bedarfsprinzip bei der Sozialhilfe, ders., Freiheit in der Republik, S. 544 ff. 401 Das Marktprinzip und das Wettbewerbsprinzip sind keine identischen Prinzipien. Zwar setzt Wettbewerb stets den Markt voraus, umgekehrt bedeutet Marktlichkeit nicht notwendigerweise Wettbewerb, weil etwa ein Monopolist seine Güter und Leistungen auch über den Markt absetzt. 402 W. Kersting, Kritik der Gleichheit, S. 51. 403 So etwa durch das gemeinsame Preissystem im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik der Europäischen Union, dazu Th. Oppermann, Europarecht, § 21, S. 445, 397
VI. Die Verteilung des Eigentums als Frage der Gleichheit
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legitimiert, den Wert der Leistung zu bestimmen404. Welches der genannten Kriterien zum Tragen kommen soll, läßt sich generell nicht entscheiden: „Die Frage gerechter Verteilungskriterien für materiale Güter gehört zu den dunkelsten Zonen des moralischen Bewußtseins“. Dem Sozialstaat ermangelt bis heute einer verbindlichen normativen Hintergrundtheorie405. Daraus kann man aber dennoch einen Schluß ziehen: jedes der genannten Verteilungskriterien hat für sich gesehen seine vernünftige Berechtigung, und keines kann gegen die übrigen ausgespielt werden. Die Entscheidung darüber, welches der Kriterien in welchem Umfang zum Tragen kommt, ist in der Republik Sache des moralischen Gesetzgebers als Ergebnis vernünftiger und sachgerechter Politik: „Der Sozialstaat ist konsequent ausgeübte Rechtslehre“ 406. Damit steht aber auch das Markt- und Wettbewerbsprinzip grundsätzlich zur Disposition des Gesetzgebers, obwohl dies mitunter nicht den Anschein hat, wenn etwa Art. 4 Abs. 1 EGV/Art. 119 Abs. 1 und 2 AEUV die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft auf den Grundsatz „einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet“. Wenn es wahr ist, daß die Privatheit der Lebensbewältigung Marktund Wettbewerblichkeit im Lebensbereich der Wirtschaft bedeutet, so folgt daraus, daß der verfassungsrechtlich geforderte Vorrang dieser Privatheit auch einen Vorrang des Markt- und Wettbewerbsprinzips umfasst. Damit kann das Marktund Wettbewerbsprinzip nur insoweit gerechtfertigt werden, wie das Privatheitsprinzip gerechtfertigt ist: der empirisch schwer zu leugnende Effekt, daß Markt und Wettbewerb eine effizientere Alloziierung volkswirtschaftlicher Ressourcen bewirkt, ist für sich gesehen normativ ohne Bedeutung; denn dies hieße, vom Sein auf das Sollen zu schließen, eine nach Kants Erkenntnislehre logisch unmögliche geistige Operation, welche auch seine Rechtslehre nicht erlaubt407. Und die Rechtfertigung des Markt- und Wettbewerbsprinzips aus dem Privatheitsprinzip heraus gilt auch nicht ohne Einschränkung. Die wettbewerbliche Verteilung über den Markt ist nur zu rechtfertigen, wenn der Wettbewerb sittlich
Rdn. 31; K. A. Schachtschneider, Wirtschaftsverfassung mit Welthandelsrecht, S. 393 f. Zur Administration der Vergütung ärztlicher Leistungen durch die gesetzlichen Krankenkassen im Ganzen H. Sodan, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung. 404 K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS W. Leisner, S. 777. 405 W. Kersting, Kritik der Gleichheit, S. 23 f. 406 W. Kersting, Kritik der Gleichheit, S. 45. 407 „Denn in Betracht der Natur gibt uns Erfahrung die Regel an die Hand und ist der Quell der Wahrheit; in Ansehung der sittlichen Gesetze aber ist Erfahrung (leider) die Mutter des Scheins, und es ist höchst verwerflich, die Gesetze über das, was ich tun soll, von demjenigen herzunehmen, oder dadurch einschränken zu wollen, was getan wird“, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 325; L. W. Beck, „Kants Kritik der praktischen Vernunft“, S. 77, 112, 153; K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 101; ders., Freiheit in der Republik, S. 34 ff.
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2. Kap.: Republikanische Freiheit unter dem Grundgesetz Deutschlands
ist408. Dies sollen die Wettbewerbsgesetze leisten. Zweitens müssen die Unterschiede in der Verteilung wegen der angeborenen Gleichheit in der Freiheit begründbar sein. Als Kriterium dafür kommt die Leistung des Einzelnen in Betracht, welche sich formal als Erfüllung der Pflichten gegenüber der Gemeinschaft der Bürger definieren läßt409. Das Leistungsprinzip rechtfertigt es nicht, daß arm und reich übermäßig auseinanderklaffen410. Jedenfalls ist das dezentrale wettbewerbliche Marktsystem weder ein Heiligtum noch ein etwa aus Gründen der Globalisierung der bürgerlichen Gemeinschaft exogen aufgedrungenes Prinzip. Um der Gerechtigkeit und der Freiheit willen müssen „Ressourcen der Verteilungshoheit des Marktes entzogen und in die Verteilungszuständigkeit des Staates übergehen“ 411; denn es ist eine Staatsaufgabe, das soziale Gleichgewicht zu sichern412. Dies klug auszutarieren, ist Ergebnis vernünftiger Politik und damit Sache des Gesetzgebers.
408 K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS W. Leisner, S. 761. 409 K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS W. Leisner, S. 759 ff. 410 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 636 ff. 411 W. Kersting, Kritik der Gleichheit, S. 25. 412 P. Saladin, Unternehmen und Unternehmer in der verfassungsrechtlichen Ordnung der Wirtschaft, VVDStRL 35 (1976), S. 45.
3. Kapitel
Der Bürger als homo oeconomicus bei Kant Die Mitgesetzgeberschaft des Bürgers in der Gemeinschaft setzt seine Selbständigkeit voraus. Dafür ist es erforderlich, „daß er sein eigener Herr (sui iuris) sei“ 1. Diese dritte Voraussetzung für den bürgerlichen Zustand, die Selbständigkeit des Bürgers2, führt zur Notwendigkeit des Wirtschaftens. Wirtschaften ist eine notwendige Bedingung auch für die verfaßte Bürgerschaft, für den Staat.
I. Das Eigentum als Voraussetzung der Bürgerlichkeit Das dritte Prinzip a priori des bürgerlichen Zustandes ist die Selbständigkeit jedes Gliedes der Gemeinschaft als Bürger3 und setzt voraus, daß er „ein Eigentum habe, (wozu auch jede Kunst, Handwerk, oder schöne Kunst, oder Wissenschaft gezählt werden kann), welches ihn ernährt; d. i. daß er, in denen Fällen, wo er von andern erwerben muß, um zu leben, nur durch Veräußerung dessen was sein ist erwerbe, nicht durch Bewilligung, die er anderen gibt, von seinen Kräften Gebrauch zu machen, folglich daß er niemandem als dem gemeinen Wesen im eigentlichen Sinne des Wortes diene“ 4. Kant spricht hier das Eigentum durch Arbeit an5, selbständig aber konnte nur der Gewerbetreibende, der Handwerker, der Künstler, der Werke erschafft, oder auch der Wissenschaftler, der Bücher schreibt, sein; nicht dagegen der Ladendiener, der Taglöhner oder der Friseur, weil dieser Personenkreis anderen diene. Diese Auffassung ist allerdings Ausfluß der Wertvorstellungen, die zu Lebzeiten Kants Geltung hatte6. Einsehbar ist sie 1
Kant, Über den Gemeinspruch, S. 150 f. Zur Selbständigkeit des Bürgers K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 636 ff.; ders., Res publica res populi, S. 203, 234 ff. 3 Kant, Über den Gemeinspruch, S. 145. 4 Kant, Über den Gemeinspruch, S. 151. 5 Dazu K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS W. Leisner, S. 775 ff. 6 Wie etwa Kants Überzeugungen zum Ehe-, Familien- und Hausrecht, Kant, Metaphysik der Sitten, S. 389 ff. Es wäre zur damaligen Zeit in Preußen als revolutionär betrachtet worden, hätte Kant den Personenkreis, der zum eigenen Herrn und damit zum Bürger qualifiziert wäre, dem auch das Stimmrecht hätte zugestanden werden müssen, nicht möglichst eng umgrenzt. Fraglich ist, ob dieser engen Umgrenzung tatsächlich Kants eigene Überzeugung war, oder ob sie nicht aus Furcht vor der Zensur und der Obrigkeit erfolgte, von der Kant eben als Professor vor allem wirtschaftlich abhängig war. Überzeugender in diesem Zusammenhang argumentierte Hegel bezüglich des 2
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3. Kap.: Der Bürger als homo oeconomicus bei Kant
jedenfalls aus heutiger Sicht nicht, reine Dienstleister könnten sonst keine Bürger sein. Überdies gibt Kant selbst zu, daß es ungemein schwierig sei, diejenigen Erfordernisse zu bestimmen, die zum eigenen Herrn qualifizieren7. Kant hat aber die Leistung eines anderen als ein Objekt des äußeren Mein und Dein betrachtet, welches grundsätzlich der Erwerbung und damit auch der Veräußerung fähig ist8: „Der Besitz der Willkür eines anderen, als Vermögen, sie, durch die meine, nach Freiheitsgesetzen zu einer gewissen Tat zu bestimmen (das äußere Mein und Dein in Ansehung der Kausalität eines anderen), ist ein Recht“ 9. Der Einzelne kann also Inhaber eines Rechts sein, einen anderen zu einer Leistung zu verpflichten. Grundlage dafür ist der gegenseitige Vertrag10, durch den man aber nicht unmittelbar Eigentümer einer Sache wird, sondern nur das Versprechen eines anderen zu einer bestimmten Leistung erwirbt, und dies kann, nicht nur aus heutiger Sicht, auch eine reine Dienstleistung und nicht bloß die Übereignung eines körperlichen Gegenstandes sein. Kants Differenzierung, daß nur bestimmte Berufe zum Bürger qualifizieren und andere nicht, ist damit nicht zu halten. Unabhängig und damit Bürger ist jeder, der eine eigene Leistung erbringt und damit wirtschaftet11: der homo republicanicus ist homo oeconomicus.
II. Exkurs: Das Wirtschaften als konstituierender Bestandteil des Daseins bei Heidegger Das Wirtschaften ist eine mittelbare Tugendpflicht, ist aber funktional für die existenzielle Unabhängigkeit des Menschen, ohne welche ihm kein Stimmrecht im Staat und der Status als Bürger nicht zugesprochen werden kann. Diese Notwendigkeit des Wirtschaftens deduziert Kant aber nicht aus der transzendentalen Idee der Freiheit und damit nicht rein logisch, sondern der Zusammenhang zwischen Freiheit und Wirtschaft ist bei ihm lediglich empirisch. Wenn aber das Wirtschaften nur als indirekte Pflicht zu denken ist, dann kann die Wirtschaft nur als empirische Nebenbedingung für die Verwirklichung der Freiheit aufgefaßt Begriffs der Person und ihrer natürlichen Existenz: „Kenntnisse, Wissenschaften, Talente usf. sind freilich dem freien Geiste eigen und ein innerliches desselben, nicht ein Äußerliches, aber ebensosehr kann er ihnen durch die Äußerung ein äußerliches Dasein geben und sie veräußern, wodurch sie unter die Bestimmung von Sachen gesetzt werden“, wodurch es dann „unter die Bestimmungen eine juristisch-rechtlichen Eigentums fällt“, G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 104 f. Damit ist dieses Innerliche der Kenntnisse, Wissenschaften und Talenten und sonstigen Geschicklichkeiten grundsätzlich veräußerbar, S. 144. 7 Kant, Über den Gemeinspruch, Fußnote auf S. 151. 8 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 370. 9 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 382. 10 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 383. 11 Zum Zusammenhang von individueller Wohlfahrt und politischer Freiheit vgl. auch F. Böhm, Die Bedeutung der Wirtschaftsordnung für die politische Verfassung, S. 85.
II. Exkurs: Das Wirtschaften bei Heidegger
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werden, weil die empirische Rationalität des Wirtschaftens eben eine gewisse Funktionalität für das Autonomieprinzip besitzt. Damit stellt sich folglich die Frage, ob dem Wirtschaften als empirische Notwendigkeit überhaupt ein normativer Charakter zugesprochen werden kann; denn man unterläge dem naturalistischen Fehlschluß, wenn man von einer empirischen Notwendigkeit auf das Sollen schlösse. Es ist bereits mehrfach darauf hingewiesen worden, daß dies nach Kants Erkenntnislehre eine logisch unmögliche Denkoperation darstellt. Wie ist es also denkbar, daß empirisch rationales Wirtschaften und damit auch wirtschaftlicher Wettbewerb einer Sollensordnung unterliegen kann? Dafür kann nur unter der Voraussetzung argumentiert werden, wenn das Wirtschaften nicht ausschließlich dem empirischen Dasein zugeordnet wird, sondern in der transzendentalen Seinsverfassung des Menschen zumindest angelegt ist. Wirtschaft und Wettbewerb müssen sowohl zur empirischen, als auch zur intelligiblen Welt zugehörig gedacht werden können, ganz im Sinne von Kants Zweiweltenlehre. Das Erfordernis des Wirtschaftens läßt sich aber durchaus transzendental begründen, allerdings nicht mit Kant, aber durchaus kantianisch mit Heidegger: „Freilich ist die Autorität nicht als solche begründend, und etwas ist nicht deshalb wahr, weil Kant es gesagt hat. Wohl aber hat Kant die große Bedeutung in der Erziehung zum wissenschaftlichen philosophischen Antrieb: man kann ihm schlechthin vertrauen. Man hat bei Kant wie bei keinem Denker sonst die unmittelbare Gewißheit: er schwindelt nicht. Und es ist die ungeheuerste Gefahr, die in der Philosophie selbst liegt, zu schwindeln, weil alle Bemühung nicht den massiven Charakter eines naturwissenschaftlichen Experiments oder einer geschichtlichen Quelle hat. Aber wo die größte Gefahr des Schwindelns ist, da ist auch die höchste Möglichkeit der Echtheit des Denkens und Fragens“ 12. Es sollen zunächst aber einige Parallelen zwischen Heideggers Denken zu zentralen Positionen Kants skizziert werden, um zu zeigen, daß in diesem Punkt über Kant hinaus gegangen wird, ansonsten aber Kants Positionen mit Heidegger nicht verlassen werden. Für Heidegger ist die Freiheit eine Frage der menschlichen Existenz überhaupt, das menschliche Dasein ist konstituierend für seine Welt13. Das Ich als ein ,Ich denke‘ ist Freiheit, weil der Verstand in sich frei ist14. Das Sein ist gebunden 12 M. Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, S. 431. 13 „Das menschliche Dasein, das eine Welt hat, ist ein Seiendes, dem es um seine eigene Existenz geht, so zwar, daß es sich selbst wählt oder sich der Wahl begibt. Die Existenz, die je unser Sein mit ausmacht, nicht aber allein bestimmt, ist das unserer Freiheit, und nur Seiendes, das sich entschließen kann und zu sich so oder so entschlossen hat, kann eine Welt haben. Welt und Freiheit stehen als Grundbestimmung menschlicher Existenz im engsten Zusammenhang“, M. Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, S. 20. Das ist wohl auch gegen Adorno in Stellung zu bringen, bei dem Unfreiheit und Welt im Zusammenhang stehen, Th. W. Adorno, Metakritik der Erkenntnistheorie, S. 23 f. 14 M. Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, S. 382.
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3. Kap.: Der Bürger als homo oeconomicus bei Kant
an die Zeit, die menschliche Erkenntnisfähigkeit und die Einheit der Apperzeption sind wie bei Kant an die Zeitlichkeit gebunden, ja mehr noch, der Ursprung der Verstandeskategorien ist die Zeit selbst15. Dies kann der Mensch wissen, weil er sich in jeden beliebigen Zeitpunkt geistig hineinversetzen kann16. Die Möglichkeit dieser Bindung an die Zeit liegt bei Heidegger in der Freiheit des menschlichen Geistes begründet17 und bedeutet in ihrer Erweiterung, daß die menschliche Erkenntnisfähigkeit als solche eben an gewisse apriorischen Regeln überhaupt gebunden ist, dies aber aus der Freiheit, verstanden als geistige Spontaneität. Dieses freie Sich-Binden des Subjekts an die apriorischen Regeln der Verstandestätigkeit intendiert die Gegenständlichkeit als solche, mit dem Wort Gegenstand ist dann das gemeint, was eine apriorische Regelung aller empirischen Erkenntnis vorgibt. Damit ist die Erkenntnis eines Gegenstandes nun nicht mehr ein beliebiges, ungebundenes, regelloses Zusammenstellen von Vorstellungen18. Das Ausschlagen der Beliebigkeit innerhalb der menschlichen Erkenntnis ist dann auch das, was mit dem Begriff des Sollens zum Ausdruck gebracht wird. Der Verstand ist frei und eine reine Selbsttätigkeit, die sich nur durch sich selbst bestimmt; denn ohne diese Spontaneität wären alle menschlichen Gedanken nur empirischen Gesetzen unterworfen, eine Erkenntnis a priori demnach völlig unmöglich. Und das Vermögen, a priori zu denken, ist die einzige Bedingung der Möglichkeit des Ursprunges aller Erscheinungen überhaupt19. Die Freiheit des
15 M. Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, S. 364 f.: „Die Synthesis der Apprehension ist bezogen auf die Gegenwart, die der Reproduktion auf die Vergangenheit und die der Prae-cognition auf die Zukunft. Sofern alle drei Modi der Synthesis auf die Zeit bezogen sind, diese Momente der Zeit aber die Einheit der Zeit selbst ausmachen, erhalten die drei Synthesen den einheitlichen Grund ihrer Selbst in der Einheit der Zeit“, und weiter, „Wenn aber auch die Synthesis des Verstandes als Synthesis der Recognition im Begriff zeitbezogen ist, und wenn gerade dieser Synthesis als Verstandeshandlung die Kategorien entwachsen, dann ist der Ursprung der Kategorien – wenn anders die drei Synthesen auf dem Grunde der Zeit zusammengehören – die Zeit selbst“. Ursprung der Kategorien des Verstandes ist damit die Zeit; Heidegger erweitert hier sehr überzeugend den Bezug der menschlichen Verstandestätigkeit zur Zeit auf sämtliche Verstandeskategorien, den Kant allerdings nur bei der Ableitung des Kausalitätsgesetzes sehr deutlich gemacht hatte. 16 M. Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, S. 353. 17 „Im Subjekt selbst also liegt für es und seine apriorischen Handlungen als solche eine Bindung, die nichts mit physischem Zwang zu tun hat, sondern die im Gegenteil gerade im Zentrum des Subjekts selbst, in seiner Spontaneität verwurzelt ist – eine Bindung, die ihrem Wesen nach die Freiheit ist. Diese Freiheit ist in sich die Voraussetzung für die Möglichkeit aller apriorischen Notwendigkeit der Einigungen der reinen Synthesen in der Zeit“, M. Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, S. 370. 18 M. Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, S. 369. 19 M. Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, S. 371.
II. Exkurs: Das Wirtschaften bei Heidegger
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Verstandes liegt also in seiner Sich-selbst-Bindung begründet, insofern fallen Freiheit und die Bindung als Regeln des Verstandes, das Sollen also, zusammen. Das ,Ich denke‘ ist zunächst ein freies ,Ich kann‘, nämlich die freie Möglichkeit des Bewußtseins eines Sich-Versetzens in sich selbst. „Das: Ich denke“, sagt Kant, muß alle meine Vorstellungen begleiten können20. Die Kausalität etwa ist also stets eine Ich-denke-Kausalität. Dies ist die transzendentale Apperzeption des Ichs, die alles Denken als zu einem Bewußtsein gehörig führt21: „Das Ich muß von sich aus als es selbst sich selbst als einem Selbigen zugehören können. Damit ist gesagt: Dieses sich in sich selbst Versetzen als Selbstbesitz konstituiert die ursprüngliche handelnde Selbstidentifizierung des Ich mit sich selbst“ 22. In dieser Selbstidentifizierung des Ich mit sich selbst liegt die Freiheit begründet, das Ich muß von sich aus als es selbst sich selbst zugehören können, es gehört sich selbst. „Weil nun das Ich als Ich-denke seinem Wesen nach Selbständigkeit ist, Freiheit, eignet jeder Verstandeshandlung der Charakter, von sich selbst her vollzogen zu sein. Der Verstand ist in sich frei, und nur darum kann er offen sein für eine Bindung und Regelung“ 23. Freiheit wird auch von Heidegger nicht empirisch-material verstanden, sondern der Befund Kants, daß Freiheit eine transzendentale Idee ist, bleibt durch die phänomenologische Interpretation Heideggers unberührt. Das liegt schon daran, daß mit Kant das Ich nicht als etwas Vorhandenes aufzufassen ist24, sondern das Ich ist die ursprüngliche synthetische Einheit der Apperzeption als ontologische Grundbestimmung für alles Sein25. Das ,Ich‘ ist stets ein ,Ich denke‘ und damit „die formale Struktur der Personalität als personalitas transcendentalis“ 26. Das Wesentliche daran ist, daß das Subjekt als Person ein ausgezeichnetes subjectum ist, „sofern zu ihm das Wissen um seine Prädikate, d.h. um sich selbst gehört. Die Subjektivität des Subjekts ist daher gleichbedeu-
20 „Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte, welches eben so viel heißt, als die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für nicht nichts sein“, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 136; zu Descartes ego cogito als transzendentale Subjektivität überzeugend auch E. Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 20 ff., S. 22: „Ich kann in keine andere Welt hineinleben, hineinerfahren, hineindenken, hineinwerten und -handeln als die in mir und aus mir selbst Sinn und Geltung hat“. 21 D.h. als „gehörig zu einem ursprünglichen Wissen um Einheit“, M. Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, S. 377. 22 M. Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, S. 378. 23 M. Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, S. 382. 24 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, S. 209. 25 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, S. 181. 26 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, S. 182.
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3. Kap.: Der Bürger als homo oeconomicus bei Kant
tend mit Selbstbewußtsein“ 27. Das Selbstbewußtsein, die Selbstidentifizierung des Ich mit all seinen Prädikaten, das Wissen um sich selbst, konstituiert die Personenhaftigkeit aus sich selbst heraus. Genau dies ist die phänomenologische Interpretation des Satzes von Rousseau, daß der Mensch eben frei geboren ist, als personalitas transcendentalis28. An dieser Stelle wird der Begriff der personalitas moralis bedeutsam. Nachdem das Sein immer auch schon ein Selbstsein und das Subjekt die Selbstsubjektivierung seiner selbst ist, kann sich die empirische Existenz des Menschen nur als das Dasein „umwillen seiner selbst“ verstehen29. Das Dasein muß sich sein eigenes Seinkönnen zu verstehen geben30, die ontologische Bestimmung der Existenz überhaupt bedeutet ein „In-der-Welt-sein-können“ 31. Das Dasein als Inder-Welt-sein ist aber stets ein Mitsein mit anderem Dasein32. Das menschliche Dasein als Existenz umfaßt grundsätzlich das Miteinandersein mit anderen Personen: der Einzelne muß als Person wegen dieses Bezuges zu Anderen stets personalitas moralis sein33. Hier ist Heidegger wieder ganz bei Kant. Der Mensch 27
M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, S. 216. Die ontologische Idee des Menschen erzeugt einen kategorischen Imperativ, nämlich daß es Menschen geben soll. Dies sei der einzige kategorische Imperativ im Sinne Kants, H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 91 f. 29 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, S. 418. 30 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, S. 419. 31 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, S. 420, so auch ders., Sein und Zeit, S. 52 f. und S. 116. 32 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, S. 408; ders., Sein und Zeit, S. 118: Die Welt des Daseins ist Mitwelt. 33 Im heutigen Recht erscheine für den Menschen der Mitmensch nicht als Bedingung des eigenen Menschseins zu sein, sondern als Grenze und Begrenzung der eigenen rechtlichen Freiheit, eben nur als der Andere, dessen Recht zu achten ist. Das Menschenrecht der Freiheit basiere, mit Karl Marx, nicht auf Verbindung des Menschen mit den Menschen, sondern es sei das Recht auf Absonderung, das Recht des auf sich selbst beschränkten Individuums. In die heutige Rechtsordnung ginge der Mensch nicht mit seiner metaphysischen oder transzendentalen Bestimmung ein, sondern lediglich als ein in rechtliche Freiheit gesetztes Individuum, das seine Bestimmung selbst suchen und wählen, sie aber auch verfehlen könne, ohne vom Recht eine Vorgabe für diese Wahl zu erhalten, E.-W. Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, S. 59 f. Diese Darstellung überzeugt nicht. Natürlich ist es richtig, daß Freiheit in praktischer Hinsicht auch ein Selbstbestimmungsrecht darstellt. Dies aber als Absonderungsrecht zu qualifizieren, ist verfehlt. Es stellt sich nämlich zum einen die Frage, wovon der Mensch sich abzusondern das Recht hätte. Vom Mitdasein Anderer kann aber nicht abstrahiert werden, denn dies ist die Bedingung der Möglichkeit von Freiheit überhaupt, das ist der transzendentale Sinn des Sittengesetzes und damit, als ratio cognescendi der Freiheit, Bedingung der Möglichkeit der eigenen Freiheit auch in praktischer Hinsicht und damit eben auch Bedingung der Möglichkeit des eigenen Menschseins, der durch Freiheit definiert ist. Zweitens stellt sich die Frage, wieso es für diese Absonderung überhaupt ein Recht geben müsse, wie Böckenförde meint, weil es auch Recht ohne Mitmenschen nicht geben kann, was das Autonomieprinzip als Ausprägung des kategorischen Imperativs erweist; denn dem Recht kommt ja überhaupt erst dann Bedeutung zu, wenn die abgesonderte Individualsphäre verlassen wird, weil individuelle Handlungen eben Außenwirkung entfalten. In 28
II. Exkurs: Das Wirtschaften bei Heidegger
183
als personalitas moralis ist Zweck an sich selbst34, das Reich der Zwecke ist das Miteinandersein der freien Personen als das intelligible Reich der Freiheit35. Das Menschsein ist intellektuell, als Intelligenz bestimmt: „Die Intelligenzen, die moralischen Personen, sind Subjekte, deren Sein das Handeln ist“ 36; denn es geht im Reich der Zwecke, in einer intelligiblen Welt, um das Offenbarmachen des eigenen Ich als Subjekt, was aber nur durch die Offenbarmachung seiner selbst als des Handelnden gelingen kann. In diesem Zusammenhang spielt das moralische Selbstbewußtsein die Ausschlag gebende Bedeutung: es ist als das moralische Gefühl das Gefühl der eigenen Existenz, das sich in der Handlung offenbart. Es ist zu unterscheiden vom bloß theoretischen Wissen des „Ich denke mich“ 37. Das moralische Gefühl ist für Kant die Achtung, die als Achtung vor dem Gesetz rein von der Vernunft gewirkt ist. „Kants Interpretation des Phänomens der Achtung ist wohl die glänzendste phänomenologische Analyse des Phänomens der Moralität, die wir von Kant besitzen“ 38. Diese Achtung vor dem Gesetz ist aber auch die Achtung des handelnden Ich „vor sich selbst als dem Selbst, das nicht durch Eigendünkel und Eigenliebe verstanden (ist). Achtung als Achtung vor dem Gesetz bezieht sich zugleich in ihrem spezifischen Offenbarmachen auf die Person“ 39. Also ist Achtung vor dem Gesetz „nichts anderes als das Verantwortlichsein des Selbst sich selbst gegenüber und für sich selbst. Dieses moralische Gefühl ist eine ausgezeichnete Weise, in der das Ich sich selbst als Ich direkt, rein und frei von aller sinnlichen Bestimmtheit versteht. Und durch das Unterwerfen unter das Gesetz, unterwirft sich der Einzelne selbst seiner reinen Vernunft, erhebt sich aber dadurch gleichzeitig zu einem freien, sich selbst bestimmten Wesen. Dieses unterwerfende Sicherheben meiner selbst zu mir selbst offenbart, erschließt als solches mich mir selbst in meiner Würde“. Und: „Die Achtung ist die Weise des Bei-sich-selbst-seins des Ich“ 40. Diese Achtung vor dem Gesetz ist damit seinskonstituierend für die Person, „daß ich in der Achtung selbst bin, d.h. handele. Achtung vor dem Gesetz heißt eo ipso Handeln“ 41. Weil der Mensch Selbstzweck ist, ist die Moral der Endzweck des Menschen als
die Rechtsordnung geht der Mensch damit sehr wohl mit seiner metaphysischen oder transzendentalen Bestimmung ein, sie ist der letzte Grund des Rechts überhaupt: ohne die transzendentale Idee der Freiheit gibt es weder Recht noch Ethik und Moral. Heidegger überzeugt mit seinen Ausführungen zur personalitas moralis und der menschlichen Daseinsbestimmung aus dem ontologischen Mitdasein Anderer. 34 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, S. 195. 35 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, S. 200. 36 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, S. 200. 37 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, S. 188. 38 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, S. 189. 39 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, S. 191. 40 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, S. 192. 41 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, S. 194.
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3. Kap.: Der Bürger als homo oeconomicus bei Kant
Menschen42. Kants Achtung vor dem Gesetz ist bei Heidegger wegen der damit mitbegriffenen Seinskonstitution des Handelns im Ergebnis nichts anderes als die Achtung vor dem Mitdasein Anderer, also vor der Existenz an sich und damit sowohl der eigenen Würde wie der der Mitmenschen. Es ist also zwingend, daß jeder Mensch nur als auch moralische Person verstanden werden kann. Das ist kantianisch gedacht. Die Notwendigkeit des Wirtschaftens erweist sich auch durch einen weiteren seinskonstituierenden Gesichtspunkt, der aber über Kant hinausgeht. Es ist Heideggers Versuch, das Sein und das Dasein des Menschen aus der Sorge heraus zu erklären43. Ontologisch gesprochen ist der Sinn des Seins Sorge überhaupt44, wobei Sorge hier nun nicht als etwas ontisch-konkretes aufzufassen ist, sondern gemeint ist das abstrakt-ontologische Sich-Sorgen-Um45. Das Dasein existiert zwar faktisch46, ist aber gleichwohl ein Noch-Nicht47, weil das Dasein dem Tode entgegenstrebt. Insofern ist der Tod als Ende des Daseins nach Heidegger eine „unbestimmte, unüberholbare Möglichkeit des Daseins“ 48, Dasein ist also eine ontologische Möglichkeit als ein „Vorlaufen zum Tode“ 49. Der Mensch hat demnach eine Angst vor dem Verfall schlechthin, und das, wovor er sich ängstigt, ist das In-der-Welt-sein als solches, die Welt als solche50. Das Dasein ist ein permanentes Sich-vorweg-sein51, weil es unaufhaltsam dem Tode entgegenstrebt. Es überzeugt durchaus, wenn Heidegger die Zeitlichkeit auch als den ontologischen Sinn der Sorge qualifiziert52. Das In-der-Welt-sein ist wesenhaft Sorge53, die Sorge ist ontologisch betrachtet daseinskonstituierend54. Weil eben Dasein auf das NochNicht verweist, setzt auch Wünschen die Sorge voraus55. Und so blickt auch im Phänomen des Wollens die zugrundeliegende Ganzheit der Sorge durch56. Die Sorge hat also fundamentale Bedeutung für die Konstitution des Seins als Dasein, für ein faktisches In-der-Welt-sein. Weil das Dasein nur als Faktizität des 42 M. Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, S. 60. 43 M. Heidegger, „Die Sorge als Sein des Daseins“, Sein und Zeit, S. 180 ff. 44 M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 183. 45 M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 192. 46 M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 181. 47 M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 244. 48 M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 258 f. 49 M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 267. 50 M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 186 f 51 M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 192. 52 M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 323 ff. 53 M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 193. 54 Denn erst der Tod ermöglicht den Selbsterhaltungstrieb, H. Jonas, Das Prinzip Leben, S. 391. 55 M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 195. 56 M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 194.
II. Exkurs: Das Wirtschaften bei Heidegger
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In-der-Welt-seins aufgefaßt werden kann, gehört dazu aber auch das Besorgen des eigenen Daseins. „Weil zu Dasein wesenhaft das In-der-Welt-sein gehört, ist sein Sein zur Welt wesenhaft Besorgen“. Dazu zählt es aber auch, daß „das Dasein zunächst und in großem Ausmaß ökonomisch und praktisch ist“ 57. Die Sorge ist also nicht nur ontologisch für das Sein konstituierend, sondern auch ontisch bedeutsam für das Dasein in der real existierenden Welt. Die Sorge bezieht sich auf die Zukunftssicherung des Daseins, weil das Dasein ein NochNicht, ein Entwurf in die Zukunft ist. Die Zukunftssicherung des eigenen Daseins bedeutet aber immer auch die Absicherung der wirtschaftlichen Existenz für die und in der Zukunft. Das Erfordernis des Wirtschaftens erklärt sich demnach aus der existenziellen weil seinskonstituierenden Sorge heraus. Insofern ist der Mensch stets homo oeconomicus, zwar nicht ausschließlich, wohl aber mitbegriffen. Das Sein des Daseins des Menschen umschließt demnach sein Bewußtsein als homo oeconomicus. Erklärt sich das Erfordernis des Wirtschaftens aus dem Sorgecharakter des eigenen Daseins, und ist weiter das Dasein stets auch das Mitdasein Anderer und mit Anderen, so erhellt dies, daß jeder für sich und alle zusammen für die Zukunftssicherung jedes Einzelnen und aller zusammen eben wirtschaften müssen. Dieses zwingende Wirtschaftenmüssen führt dann notwendigerweise zum Wettbewerb. Das wird noch zu erläutern sein. Als Grund der Seinssorge war die Angst um den (eigenen) Verfall genannt worden, weil das Dasein dem Tode geweiht, also endlich ist. Diese seinsbegründende Endlichkeit des Daseins kann aber auch als die zwingende Gewißheit über die Knappheit aller irdischen Güter gewertet werden; denn Endlichkeit des Daseins in der Welt ist stets Beschränkung des In-der-Welt-vorhandenen schlechthin. Es ist als nie unbegrenzt, sondern immer nur knapp vorhanden. Das ist schon deshalb richtig, weil nämlich die menschliche Erkenntnisfähigkeit nur eine endliche ist. Heidegger bestätigt die Freiheit als transzendentale Idee, sie wird mit dem Ichdenke identifiziert, weil das Ich-denke Selbständigkeit darstellt. Diese Selbständigkeit ist aber an die Regeln des Verstandes von sich selbst heraus und insofern aus eigener Freiheit heraus gebunden. Die Freiheit liegt damit transzendental in der Selbstidentifizierung des Ich mit sich selbst begründet. Aus dieser Selbstidentifizierung des Ich ergibt sich die Personenhaftigkeit, soweit es sich der eigenen reinen Vernunft und damit der eigenen Gesetzgebung unterwirft. In der Achtung vor eben diesem Gesetz liegt die Würde des Menschen begründet in der Weise des Bei-sich-selbst-seins des Ich. Offenbar wird die Personenhaftigkeit über die Achtung durch das Handeln. Der Mensch ist damit Selbstzweck, und die menschliche Freiheit existiert im intelligiblen Reich der Zwecke. Es ist schon von großer Bedeutung, daß Heidegger aus seiner phänomenologisch-ontologischen Sicht an Kants transzendentaler Idee der Freiheit nicht vorbeikommt. 57
M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 57.
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3. Kap.: Der Bürger als homo oeconomicus bei Kant
Freiheit offenbart sich grundsätzlich im Bereich des menschlichen Handelns. Wenn Freiheit aber wegen der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen ein Faktum im intelligiblen Reich der Zwecke ist, so bedeutet die Selbst- und Endzweckhaftigkeit des Menschen aus der Sorge des Menschen um das (eigene) Dasein auch die Notwendigkeit des Wirtschaftens, das war oben gesagt worden. Das intelligible Reich der Zwecke ist damit gar nicht anders als ein Reich der wirtschaftenden, eigenverantwortlich und frei handelnden Menschen als Personen denkbar, weil eben alle in der Gemeinschaft Lebenden notwendig aus der Sorge um das eigene existenzielle Dasein wirtschaftlich handeln müssen. Die allgemeine Freiheit umfaßt damit auch das ökonomische Seinkönnen aller einzelnen Personen. Eigenverantwortliches wirtschaftliches Handeln ist für die Personenhaftigkeit mitkonstituierend, dieses Handeln muß allerdings stets der Autonomie des Willens gemäß sein. Es ist also gesetzlich gebunden, aber aus Freiheit. Damit ist gutes Wirtschaften als vernünftiges wirtschaftliches Handeln nicht nur eine Handlungsmaxime, die auf die empirische Welt gerichtet ist, sondern seinskonstituierendes Tätigwerden aus der Sorge um das existenzielle Dasein heraus. Vernünftiges wirtschaftliches und damit seinskonstituierendes Handeln kann somit durchaus mit Kants Begriff des guten Willens bezeichnet werden, wobei die Richtigkeit dieses Handelns durch die Autonomie des Willens bestimmt wird. Wirtschaftliches Handeln muß damit dem reinen Willen im Verständnis Kants gemäß sein. Es kommt also alles auf die allgemeine Zumutbarkeit des individuellen Handelns in der Gemeinschaft der Menschen an. Die Notwendigkeit des Wirtschaftens ist zwar eine empirisch-rationale Bedingung der menschlichen Existenz und ihrer Sicherung, sie ist aber nicht ausschließlich als Naturgesetz zu begreifen, sondern ist im Sinne von Kants Zweiweltenlehre auch der intelligiblen Welt des Menschen zuzurechnen. Damit ist das Wirtschaften als praktisches Handeln grundsätzlich dem Faktum des Sollens und der Sollensordnung unterworfen. Freies wirtschaftliches Handeln und damit auch der Wettbewerb als wettbewerbliches Handeln sind überhaupt nur nach der Maßgabe von Recht und Gesetz widerspruchsfrei denkbar.
III. Der Wettbewerb als Faktum der Vernunft Heidegger hatte die Notwendigkeit des Wirtschaftens aus dem Sorgecharakter des menschlichen Seins und aus dem Besorgen des individuellen Daseins heraus erklärt. Das menschliche Dasein ist darüber hinaus aber auch das Mitdasein Anderer, aus dem sich dann das Phänomen der Fürsorge erklärt58; denn ist für das eigene selbstige Sein das (phänomenologisch-ontologische) Mitdasein Anderer erforderlich, und ist weiter die Sorge für dieses Sein bestimmend, so folgt daraus, daß eben die Fürsorge als Sorge um das Mitdasein Anderer auch für das eigene 58
M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 193.
III. Der Wettbewerb als Faktum der Vernunft
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Sein mitkonstituierend ist: vom Mitdasein der Anderen kann aus transzendentalphilosophischen Gründen nicht abstrahiert werden, es ist somit a priori stets mitbegriffen. Weil nun aber die ontologisch begründete Seinssorge auf der Seite des ontischen Daseins die Knappheit stets die Begrenztheit und Endlichkeit alles Empirischen erfaßt, bedeutet Wirtschaften als Besorgen des eigenen Daseins eine Konfrontation mit der Knappheit und eine bestmögliche Bewältigung derselben. Das gilt auch in zeitlicher Hinsicht; denn was zu einem Zeitpunkt im Überfluß vorhanden ist, daran kann zu einem anderen Zeitpunkt großer Mangel herrschen: von der Zeitlichkeit des gesamten menschlichen Seins kann nicht abstrahiert werden. Weil nun weiter das selbstige ontologisch begründete Sein das Mitdasein anderer umschließt, die ja vor eben demselben Problem der Endlichkeit und Begrenztheit des ontischen Daseins und der irdischen Güter stehen und damit in einem Konkurrenzverhältnis mit den Mitmenschen; denn die seinskonstituierende Endlichkeit der ontischen Gegebenheiten ist eine absolute. Notwendigerweise muß damit jeder das Bewußtsein haben, mit anderen im Wettbewerb zu stehen. Weil dies nicht nur in ökonomischer Hinsicht gilt59 und das Dasein als Faktum des In-der-Welt-Seins stets auch mit Anderen ist, besitzt der Wettbewerb dieselbe Faktizität wie das Dasein selbst, das Faktum des Wettbewerbs erklärt sich aus der unleugbaren Faktizität des Daseins und der darin begründeten Gemeinschaftlichkeit a priori der menschlichen Existenz. Kant argumentiert in diesem Zusammenhang weniger transzendentalphilosophisch als praktisch-empirisch, zielt aber mit seinen Aussagen in dieselbe Richtung wie Heidegger. Den (ontologischen) Sorgecharakter des Seins und das (ontische) Besorgen des eigenen Daseins leitet Kant empirisch schlicht aus der Natur ab: „Die Natur hat gewollt: daß der Mensch alles, was über die mechanische Anordnung seines tierischen Daseins geht, gänzlich aus sich selbst herausbringe, und keiner anderen Glückseligkeit, oder Vollkommenheit, teilhaftig werde, als die er sich selbst, frei von Instinkt, durch eigene Vernunft, verschafft hat“ 60. Der Mensch muß sich neben der Sicherung der rein physischen Existenz „alle Ergötzlichkeit, die das Leben angenehm machen kann“, erarbeiten und versuchen, durch seine Vernunft „zur größten Geschicklichkeit“ und „innerer Vollkommenheit der Denkungsart“ zu gelangen und sich dadurch zur „Glückseligkeit empor gearbeitet haben“ 61. Er wird dabei mit einem „ganzen Heer von Mühseligkeiten“ konfrontiert, weil ihn die Natur nicht dazu bestimmt hat, „daß er wohl lebe; son-
59 Politiker stehen um die Gunst der Wähler genau so mit einander im Wettbewerb wie Wissenschaftler um die Wahrheit und Richtigkeit wissenschaftlicher Theorien. Und auch unter Eheleuten kann es unterschiedliche und konkurrierende Auffassungen darüber geben, wie das Familieneinkommen zu verwenden sei. Das Wettbewerbsprinzip transzendiert die gesamte menschliche Existenz. 60 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 31 ff., S. 36. 61 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 36.
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3. Kap.: Der Bürger als homo oeconomicus bei Kant
dern, daß er sich so weit hervorarbeite, um sich, durch sein Verhalten, des Lebens und des Wohlbefindens würdig zu machen“ 62. Die Vernunft ermöglicht eine „vernünftige Selbstschätzung“, sich des Lebens und Wohlbefindens würdig zu machen, obwohl eben auch dies durch vernünftiges Handeln besorgt sein will und muß. Auch die Gemeinschaft des menschlichen Daseins ist ein von der Natur bestimmtes Phänomen, ein Mittel der Natur, um die natürliche Veranlagung des Menschen offenbar zu machen und voranzutreiben. Es ist eine Naturveranlagung des Menschen, daß er einerseits die Gesellschaft seiner Mitmenschen braucht und sucht, sich andererseits aber auch von ihr distanziert und separiert63. Dieser „Antagonismus“ mobilisiert die menschlichen Kräfte, um „sich einen Rang unter den Mitgenossen zu verschaffen, die er nicht wohl leiden, von denen er aber auch nicht lassen kann“. Die „mißgünstige wetteifernde Eitelkeit“ ist von der Natur und von einem weisen Schöpfer vorbestimmt, und dient der Kultivierung der menschlichen Fähigkeiten, das eigene Dasein trotz vieler Mühseligkeiten zu besorgen: „Dank sei also der Natur für die Unvertragsamkeit, für die mißgünstige wetteifernde Eitelkeit, für die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben oder auch zum Herrschen! Ohne sie würden alle vortrefflichen Naturanlagen in der Menschheit ewig unterentwickelt schlummern. Der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß es besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht. Er will gemächlich und vergnügt leben; die Natur aber will, er soll aus der Lässigkeit und untätigen Genügsamkeit hinaus, sich in Arbeit und Mühseligkeiten stürzen, um dagegen auch Mittel auszufinden, sich klüglich wiederum aus den letzteren heraus zu ziehen“ 64. Das Leben ist also mühevoll und erfordert Anstrengungen, sich gegenüber den naturbedingten Widrigkeiten des Daseins und gegenüber der wetteifernden Mißgunst der Mitmenschen zu behaupten. Es erfordert aber auch Arbeit an der eigenen Persönlichkeit, weil der Mensch vernunftgeleitet handeln muß, um durch Vervollkommnung der eigenen Veranlagung glückswürdig zu werden. Damit ist auch das Wettbewerbsprinzip ein Apriori der Vernunft und als solches eben ein Faktum menschlichen Lebens65. Allerdings berechtigt dieses Kantzitat auch zu der These, daß das Wettbewerbsprinzip trotz seiner Apriorität empirisch unter der Bedingung der Eintracht unter den Men62
Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 37. „Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwicklung aller ihrer Anlagen zu Stande zu bringen, ist der Antagonism derselben in der Gesellschaft, so fern dieser doch am Ende die Ursache einer gesetzmäßigen Ordnung derselben wird. Ich verstehe hier unter dem Antagonism die ungesellige Geselligkeit der Menschen; d. i. den Hang derselben, in Gesellschaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstande, welcher diese Gesellschaft beständig zu trennen droht, verbunden ist“, Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 37 f. 64 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 38 f. 65 So im Ergebnis K. A. Schachtschneider, Wirtschaftsverfassung mit Welthandelsordnung, S. 266, 290. 63
III. Der Wettbewerb als Faktum der Vernunft
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schen keine Wirkung entfaltet: Einigkeit unter den Menschen setzt das Wettbewerbsprinzip zwischen ihnen über die Sachverhalte, über die Einigkeit besteht, außer Kraft. Das wird für die noch zu behandelnde Kartellproblematik von Bedeutung sein. Die größte Freiheit besteht nach Kant in diesem Antagonismus der ungeselligen Geselligkeit des Menschen, in welcher die wetteifernde Eitelkeit zum Wohle der eigenen Entwicklung und des eigenen Daseins voll zum Tragen kommt66. Das Wettbewerbsprinzip fördert also die eigene Glückseligkeit und führt dazu, ihrer würdig zu werden. Als Mittel der Natur dient es empirisch der Entfaltung der Persönlichkeit des Einzelnen. In einer Gemeinschaft von Menschen muß die wetteifernde Eitelkeit aber mit der gleichen Freiheit aller vereinbar sein, und dies gelingt nur durch die allgemeine Gesetzlichkeit innerhalb der Bürgerschaft67: die Entfaltung der Persönlichkeit muß eine freie sein. Wettbewerb setzt also das allgemeine staatliche Gesetz voraus. Das entspricht auch Kants Zweiweltenlehre. Die wetteifernde Eitelkeit ist die empirische Triebfeder für das Streben nach freiheitlicher Glückseligkeit durch das menschliche Handeln. Aber der Wetteifer setzt a priori wenigstens einen Mitmenschen voraus, mit dem man wetteifern kann. Wetteiferndes Bemühen kann freiheitlich wegen der Apriorität des Mitdaseins des Konkurrenten überhaupt nur nach der Maßgabe des Faktums des Sollens gedacht werden. Das beweist das Sittengesetz als ratio cognescendi der Freiheit, welche als negative Eigenschaft einer Person definiert ist, nämlich nicht durch empirische Triebfedern zum Handeln genötigt zu werden. Freies wettbewerbliches Handeln ist damit gleichzeitig der intelligiblen Welt zuzuordnen und kann daher grundsätzlich nur im Rahmen einer Sollensordnung praktisch verwirklicht werden. Der Mensch ist nach alledem der wetteifernden Eitelkeit seiner Mitmenschen eben nicht mit der Unausweichlichkeit eines Naturgesetzes ausgesetzt, sondern nur insoweit, wie deren wettbewerbliches Handeln nach Maßgabe der allgemeinen juridischen Gesetze zumutbar ist. Und dies ist in erster Linie 66 Selbstbehauptung, Daseinssicherung und Daseinserweiterung sind für F. Böhm, Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, S. 39, in der Naturveranlagung des Menschen begründet: der „menschliche Trieb der Selbstbehauptung und das dem Menschen innewohnende Vermögen, zum Zweck der Daseinserweiterung mit seinesgleichen auf der Basis der Koordination zu kooperieren, gehört rein der Natur an“. Damit seien Wettbewerb und Preismechanismus ein Verfahren zur Koordination individueller und autonomer Wirtschaftspläne, aber auch ein Leistungs- und Bestenausleseverfahren. 67 „Da nur in der Gesellschaft, und zwar derjenigen, die die größte Freiheit, mithin einen durchgängigen Antagonism ihrer Glieder, und doch die genaueste Bestimmung und Sicherung ihrer Grenzen dieser Freiheit hat, damit sie mit der Freiheit anderer bestehen könne, – da nur in ihr die höchste Absicht der Natur, nämlich die Entwicklung aller ihrer Anlagen, in der Menschheit erreicht werden kann, die Natur auch will, daß sie diesen, so wie alle Zwecke ihrer Bestimmung, sich selbst verschaffen solle: so muß eine Gesellschaft, in welcher Freiheit unter äußeren Gesetzen im größtmöglichen Grade mit unwiderstehlicher Gewalt verbunden angetroffen wird, d. i. eine vollkommen gerechte bürgerliche Verfassung, die höchste Aufgabe der Natur für die Menschengattung sein“, Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 39.
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3. Kap.: Der Bürger als homo oeconomicus bei Kant
eine Frage der Moralität des Gesetzgebers. Ökonomische Zweckrationalität des wirtschaftlichen und wettbewerblichen Handelns führt allein noch lange nicht zur praktischen Vernunft, sondern muß sittlich, also für alle in einer Gemeinschaft zumutbar sein. Für Kant hat das Wettbewerbsprinzip entscheidende Bedeutung für die Entwicklung der gesamten Menschheit, es stellt nämlich die Triebfeder zur Entwicklung der Menschheit selbst dar68. Die gesamte Zivilisation basiert sowohl auf dem Wettbewerbsprinzip69, aber auch auf den Säulen einer bürgerlichen Verfassung des Staates zur Republik. Die Verwirklichung der republikanischen Idee ist als Problem „zugleich das schwerste“; denn „aus so krummen Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden. Nur die Annäherung zu dieser Idee ist uns von der Natur auferlegt“ 70. Die bürgerliche Verfassung ist ein Ideal, welches es bestmöglich zu verwirklichen gilt71.
68 „Alle Kultur und Kunst, welche die Menschheit zieret, die schönste gesellschaftliche Ordnung, sind Früchte der Ungeselligkeit, die durch sich selbst genötigt wird, sich zu disziplinieren, und so, durch abgedrungene Kunst, die Keime der Natur vollständig zu entwickeln“, Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 40. 69 „Die Zivilisation führt zu einer endlosen Vielfalt von verschiedenen Lebensaktivitäten und zu einer auf Wettbewerb beruhenden Entwicklung aller menschlichen Fähigkeiten“, A. W. Wood, Kants Entwurf für einen ewigen Frieden, in: Zum ewigen Frieden; Grundlagen, Aktualität und Aussichten einer Idee von Immanuel Kant, S. 67 ff., 83; H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 467, spricht von der gesellschaftlichen Ergiebigkeit des Wettbewerbs: die Konkurrenz individueller Motivationen sei der „Zauberstab“, der eine Gesamtleistung von unübertroffener Höhe in jeder Beziehung aus den eingesetzten Elementen hervorgehen ließe. Indem jeder Wettbewerber sich für sich anstrenge, leiste er zugleich der Allgemeinheit den besten Dienst, der er ihr zu leisten vermöge. 70 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 40 f. 71 Die bürgerliche Verfassung ist nun aber nicht für einen Staat alleine zu verwirklichen, es bedarf einer Staatengemeinschaft, die wiederum gesetzlich untereinander verbunden ist, Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 40; dazu auch ders., Zum ewigen Frieden, S. 208 ff.
4. Kapitel
Der Wettbewerb als Bestandteil des Privatheitsprinzips I. Der Vorrang privater vor staatlicher Lebensbewältigung Es gibt grundsätzlich keine materiale Vorbestimmtheit von staatlichen und privat zu bewältigenden Aufgaben: das Staatliche und das Private sind als Begriffe formal definiert, ihre Materialität findet sich in den Gesetzen1. So können etwa Krankenhäuser staatlich, aber auch privatwirtschaftlich betrieben werden. Zwar gibt es Aufgaben, welche typischerweise vom Staat bewältigt werden, insbesondere in den Fällen, wenn die Gesetzlichkeit notfalls auch mit Zwangsmaßnahmen sichergestellt werden muß2. Damit bestimmen die allgemeinen Gesetze nach Maßgabe des geltenden Verfassungsrechts, welche Aufgaben staatlich und welche durch Private zu bewältigen sind. Dabei hat der Gesetzgeber insbesondere Art. 2 Abs. 1 GG zu beachten. Die freie Entfaltung der Persönlichkeit enthält auch den Vorrang der Privatheit der Lebensbewältigung, fordert als menschenrechtliches Subsidiaritätsprinzip Zurückhaltung des Staates bei der Übernahme von Aufgaben3: was Private an Aufgaben bewältigen können, sollen sie auch übernehmen, es besteht ein subjektiver Rechtsanspruch auf materiale Privatisierung von Staatsaufgaben4. Das liegt daran, daß das Rechte auf Privatheit als subjektives Recht des Menschen, sein Glück nach seinen Vorstellungen zu suchen, nicht zweckbestimmt und deshalb einer funktionalen Begrenzung nicht fähig ist5. Art. 2 Abs. 1 GG beinhaltet einen subjektiven Rechtsanspruch der Bürger auf eine materiale Privatisierung von Staatsaufgaben und fordert (zumindest im Ergebnis) den sogenannten schlanken Staat6. Muß aber das Privatheitsprinzip in größtmöglichem Umfang durch die Gesetze verwirklicht werden, so bedeutet 1 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 449 ff.; ders., Der Anspruch auf materiale Privatisierung, S. 40. 2 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 100 ff.; ders., Res publica res populi, S. 545 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 55 ff., 118 ff. 3 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 465 ff., S. 481 ff.; ders., Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 272 f.; ders., Der Anspruch auf materiale Privatisierung, S. 61 ff., 146 ff.; H. H. Rupp, HStR, Bd. I, § 28, Rdn. 51 ff.; A. Emmerich-Fritsche, Privatisierung der Wasserversorgung in Bayern und kommunale Aufgabenverwaltung, BayVBl. 2007, S. 1ff. 4 K. A. Schachtschneider, Der Anspruch auf materiale Privatisierung, S. 75 ff. 5 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 455 ff. 6 Dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 473 ff.
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4. Kap.: Der Wettbewerb als Bestandteil des Privatheitsprinzips
dies einen Vorrang der Wettbewerblichkeit des gemeinsamen Lebens der Menschen in der Gemeinschaft7; denn der Wettbewerb hat den Charakter eines Naturgesetzes und führt wegen der grundsätzlichen „Zwietracht“ unter den Menschen zur „ungeselligen Geselligkeit“, zum Wettbewerb unter den Menschen. Der Wettbewerb ist Bestandteil der gesamten menschlichen Existenz, weil vom Mitdasein Anderer und ihren besonderen Vorstellungen vom Glück nicht abstrahiert werden kann. Der grundgesetzliche Vorrang der Privatheit der Lebensbewältigung beinhaltet immer auch die vorrangige Wettbewerblichkeit des Lebens, allemal dann, wenn es um die Verteilung, insbesondere von Einkommen und Vermögen, geht. Eine Verpflichtung des Gesetzgebers zu einer der Wettbewerbsordnung prinzipientreuen Wirtschaftspolitik ist nicht nur dem Grundgesetz nicht zu entnehmen, wie das Bundesverfassungsgericht völlig zu Recht erkennt, sondern sie ist wegen des Naturgesetzescharakters des Wettbewerbs auch überflüssig: der Wettbewerb ist ein Faktum, wenn und soweit das Privatheitsprinzip verwirklicht ist8. Ob und wieweit das Privatheitsprinzip aber verwirklicht wird, ist eine Frage der praktischen Vernunft, welche der Gesetzgeber zu beantworten hat9; sie ist damit aber eine Frage der vernünftigen Abwägung mit anderen Rechtsgütern insbesondere nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Der Staat muß die Privatheit und den Wettbewerb in größtmöglichem Umfange zulassen, alles andere würde die Natur des Menschen völlig verkennen; größtmögliche Privatheit ist Humanität10. Eine Entscheidung des Gesetzgebers, daß bestimmte Aufgaben von Privaten zu bewältigen sind, bedeutet aber keine Beliebigkeit der Handlungsmaximen der am Wettbewerbsprozeß beteiligten Akteure; denn die Funktionsbedingungen des Wettbewerbs unterliegen grundsätzlich der Regelung durch den Gesetzgeber. So überlässt der Gesetzgeber etwa die Gesundheitsfürsorge der Bevölkerung in weitem Umfang den niedergelassenen Ärzten, den Privaten also. Die Vergütungen für kassenärztliche Leistungen unterliegen nach den gesetzlichen Bestimmungen aber gerade keinem Preiswettbewerb11, obwohl der Preis sicherlich einen äußerst bedeutsamen Wettbewerbsparameter 7 Dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 475 ff., die weitestmögliche Privatheit ist eine praktische Notwendigkeit des gemeinsamen Lebens; in diesem Sinne auch W. Maihofer, HVerfR, S. 500 ff., der die „größtmögliche und gleichberechtigte Freiheit des Einzelnen bei notwendiger Sicherheit Aller“ und „dem größten möglichen Freiheitsraum für die Entfesselung des Wettstreits der Freiheit in einer Gesellschaft“ als das „Prinzip einer liberalen Demokratie“ erkennt, S. 502 f. 8 „Die Ausübung der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie führt zum Wettbewerb“, E.-J. Mestmäcker, Über das Verhältnis des Rechts der Wettbewerbsbeschränkungen zum Privatrecht, AcP 168 (1968), S. 235 ff., 235. 9 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 473 ff. 10 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 513. 11 Zur Ausschaltung des Preismechanismus durch das Vergütungssystem der Vertrags(zahn-)ärzte H. Sodan, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenkassen, S. 119 ff., 281 ff.; es gibt keine freien Preise, weil der Aufwand des gesetzlichen Krankenversicherungen „preispolitisch steuerbar“ sein soll, S. 121.
II. Grundgesetzliche Wirtschaftsverfassung?
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darstellt. Die Sachgerechtigkeit dieser gesetzlichen Regelungen ist grundsätzlich lageabhängig zu beurteilen und soll hier nicht erörtert werden. Privatheit ist keine liberalistische Freiheit vom Staat, sondern die allgemeinen staatlichen Gesetze moderieren die Privatheit in vielfältigster Hinsicht und damit auch das Wettbewerbsprinzip. Erst durch das staatliche Gesetz wird die Allgemeinverträglichkeit der Privatheit gewährleistet, weil nämlich die Sittlichkeit des privaten Handelns als ethische Pflicht nicht erzwingbar ist12. So bestimmen die Wettbewerbsgesetze, welche Handlungsmaximen und Handlungen von Unternehmen bei ihrem wettbewerblichen Bemühen um den Abschluß von Verträgen am Markt zulässig sind und welche nicht. Insofern ist es also völlig korrekt, vom moderierten Wettbewerb zu sprechen.
II. Grundgesetzliche Wirtschaftsverfassung? 1. Kein Ordoliberalismus als Verfassungsauftrag Zur Zeit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland war der Ordoliberalismus die vorrangige Ordnungsvorstellung für den Bereich der Wirtschaft. Die Wirtschaftsordnung Deutschlands ist entscheidend von neo- oder ordoliberalen Vorstellungen geprägt worden, nach welchen die Verkehrswirtschaft nur in der Form der Wettbewerbswirtschaft wirtschafts- und sozialpolitisch vertretbar sein soll13. Der zentrale Gedanke des ORDO war eine „von Menschen vorgefundene, nicht geschaffene Ordnung, eine Ordnung, die gekennzeichnet ist durch Freiheit des Planens unter der Herrschaft eines Gesetzes (also eine Ordnung, wie sie etwa durch die Privatrechtsordnung bei voll verwirklichter Privatautonomie gewährt wird) im Gegensatz zu einer durch Befehl und Gehorsam charakterisierten Ordnung, bei der von Menschen entworfene Gesamtpläne durch andere Menschen in Unterwerfung unter die Weisungsgewalt rechtlich übergeordneter Individuen, die ihr Recht zur Herrschaft entweder von Gott oder vom Volkwillen ableiten, ausgeführt wird“. Der wettbewerbliche Marktpreismechanismus sei auf wirtschaftlichem Gebiet die steuernde Kraft, der sich der einzelne wie einem Naturgesetz unterwerfe und seine Pläne daran ausrichte, ansonsten aber selbst und allein bestimme. Dies führe dann zu einer gleichgewichtigen „Harmonie“, weil niemand, auch nicht der Staat, einem anderen Wirtschaftssubjekt Wirtschaftspläne aufnötigen dürfe14. Zwar ist die Verfassung des Menschen, seine Freiheit nämlich, eine menschheitliche Erkenntnis a priori. Das beweist das Sittengesetz. Ordnung da12
K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 455 ff. H.-J. Papier, Grundgesetz und Wirtschaftsordnung, HVerfR, S. 803. 14 F. Böhm, Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, S. 38 f. Diese Ordnungsvorstellung lehnt Böhm an die „prästabilisierte Harmonie“ von Leibniz, womit die liberale Freiheit deistisch letztbegründet werden soll, Freiheit damit aber eben keine menschheitliche Vernunfterkenntnis im Sinne Kants darstellt. Zum Naturgesetzcharakter der Verkehrswirtschaft E.-J. Mestmäcker, Recht und ökonomisches Gesetz, S. 34 ff. 13
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gegen ist aber kein Naturgesetz, sondern eine Kulturleistung, weil sie von Menschen geschaffen wird15. Eine (mögliche Wirtschafts-)Verfassung ist grundsätzlich gestaltbar, damit aber Sache des Volkes, und nur ihm kommt als zum Staat verfaßte Bürgerschaft die Verfassungsgesetzgebungshoheit zu. Dieses Prinzip ist in Art. 20 GG verankert und durch Art. 79 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich geschützt16. 2. Kein verfassungsrechtlich hinreichend bestimmbarer Lebensbereich der Wirtschaft Eine Wirtschaftsverfassung soll vier Dimensionen haben: Zum einen soll dem Grundgesetz Deutschlands die Normierung eines bestimmten ökonomischen Modells, nämlich der sozialen Marktwirtschaft zu entnehmen sein; zweitens soll es bei der Wirtschaftsverfassung um die Summe der Verfassungsvorschriften, die der staatlichen Intervention eine bestimmte Richtung und Aufgabe zuweisen; drittens, soll es sich um die von der Verfassung zur Verfügung gestellten Instrumente für die Staatsintervention handeln und schließlich viertens um die verfassungsrechtlichen Schranken und Grenzen der Staatsintervention17. Wichtig sei, daß die Wirtschaftsverfassung, verstanden als rechtliche Fixierung ökonomischer Postulate „ohne Blick auf die ökonomische Entwicklung der Gesellschaft nicht zu begreifen ist“ 18. Diese Auffassung bleibt aber der liberalistischen Trennung von Staat und Gesellschaft verhaftet: die Wirtschaft vollzieht sich innerhalb der Gesellschaft, welcher der intervenierende Staat gegenübersteht. Das ist antikantianisch und wider die Idee der Republik gedacht. Außerdem wird der Staat als Wirtschaftsfaktor bei dieser Sichtweise völlig ignoriert; denn auch der Staat ist Anbieter und Nachfrager von Gütern und Leistungen. Angesichts einer Staatsquote (Anteil der Gesamtausgaben des Staates am Bruttoinlandsprodukt) in Höhe von 44,3 % im Jahr 201419 ist das Dogma von der Trennung von Staat und Gesellschaft gerade im Hinblick auf die Wirtschaft völlig überholt. Zweitens ist der Begriff der Wirtschaftsverfassung selbst problematisch, weil es „die Wirtschaft“ per se nicht gibt; denn die Wirtschaft stellt lediglich eine Aggregation von planerisch selbständigen Einzelwirtschaften, nämlich den der privaten Haushalte, der Unternehmen und der staatlichen Institutionen dar20. Die Volkswirtschaft 15 „Kultur ist immer das Ergebnis menschlicher Gestaltung aus Freiheit“, L. Raiser, Wirtschaftsverfassung als Rechtsproblem, FS. J. Gierke, S. 116. 16 Dazu K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 89 ff.; ders., Die existenzielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 79 ff. 17 N. Reich, Markt und Recht, S. 74 ff. 18 N. Reich, Markt und Recht, S. 78. 19 Bundesministerium der Finanzen, Monatsbericht v. 29.1.2016, bundesfinanzministerium.de, öffentliche Finanzen, Staatsquote. 20 „Die Volkswirtschaft umfaßt alle Einrichtungen und Maßnahmen zur Deckung des menschlichen Bedarfs an privaten und öffentlichen Gütern“ und wird durch die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung beschrieben, H. C. Recktenwald, Wörterbuch der Wirt-
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Deutschlands, also das Bruttoinlandsprodukt, das vom deutschen Volk erwirtschaftet wird, ist eine statistische Größe und hat als solche eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für die Wirtschaftspolitik, wenn etwa §1 StWG (Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft) das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht dem Gesetzgeber als zu erreichendes Ziel vorgibt und Deutschland gemäß Art. 20 Abs. 1 GG Sozialstaat ist. Gleichwohl aber läßt sich ein abgeschlossener Lebensbereich der Wirtschaft material nicht definieren: die Notwendigkeit des Wirtschaftens bestimmt die gesamte menschliche Existenz in all ihren Ausprägungen21: Der Bürger ist unausweichlich immer auch homo oeconomicus, weil sich die menschlichen Lebensbereiche nicht wirklich voneinander trennen lassen. Es ist eine Frage des Einzelfalls, ob verfassungsrechtliche Normen, allemal die Grundrechte, in wirtschaftlicher Hinsicht relevant sind22. Das Grundgesetz verfaßt die Staatlichkeit Deutschlands23. Für ein geordnetes Wirtschaftsleben ist das gesamte Verfassungsgesetz grundlegend24. Der Begriff schaft, S. 621 f. Diese Aggregation begründet dann wohl auch die Idee einer Volkswirtschaft als Einheit. 21 „Der Mensch verwirklicht sich wesentlich auch als wirtschaftendes Wesen“, R. Schmidt, Wirtschaftspolitik und Verfassung – Grundprobleme, S. 134. 22 Auch die Kirchen, ihre Institutionen und Organisationen müssen für ihre Existenzsicherung wirtschaften. So ist die unternehmerische Betätigung der Diakonischen Werke der Evangelischen Kirche in Deutschland durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG grundrechtsgeschützt, dazu K. A. Schachtschneider (St. Jungheim/S. Dorner), Fallstudie Konkurrentenklage gegen Subventionen, (2005), S. 482 ff.; Diakonie ist Religionsausübung, BVerfGE 19, 129 (132); 24, 236 (246 ff.); 30, 112 (119 f.); 42, 312 (321 f.); 46, 73 (83 ff.); 53, 266 (387 f., 391 ff.); unternehmerische Betätigung und Religionsausübung sind kein Widerspruch, BVerwGE 90, 112, (116 f.), womit unternehmerische Betätigung durchaus Religionsausübung sein kann. Insoweit wäre Art. 4 Abs. 1 und 2 GG dem Wirtschaftsverfassungsrecht zuzuordnen. Auch kann die Freiheit der Kunst aus Art. 5 Abs. 3 GG im Bereich der Modeschöpfung oder der Wirtschaftswerbung in wirtschaftlicher Hinsicht aktuell sein, weil sich etwa die Werbebranche häufig künstlerischer Gestaltungs- und Vermittlungsformen bedient. Zwar sieht R. Scholz, in: Maunz/ Dürig, Grundgesetz, Art. 5 III, Rdn. 35, den Werbekünstler und damit wohl auch dessen wirtschaftliche Betätigung durch Art. 5 Abs. 3 GG grundrechtsgeschützt, nicht dagegen den Träger der werblichen Aussage, also dem die Ware oder Leistung anbietenden Wirtschaftssubjekt. Das soll hier nicht weiter vertieft werden. Festzuhalten ist aber, daß es den Bereich der Wirtschaft, welcher sich durch sachliche Kriterien per se definieren ließe, nicht gibt. 23 Dazu K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 87 ff. 24 R. Schmidt, Wirtschaftspolitik und Verfassung – Grundprobleme, S. 135: „Die Verteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern, der bis auf die Gemeinden durchgreifende Finanzausgleich, die Prinzipien der Sozialstaatlichkeit, der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie; die allgemeinen Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der Erforderlichkeit, der Geeignetheit und der Subsidiarität; die speziellen Probleme der Überwachung rechtsetzender Gewalt auf die Exekutive, der Ausdehnung des Vorbehalts des Gesetzes auf die Leistungsverwaltung, des Maßnahmegesetzes und des Plangewährleistungsanspruchs; die Probleme um die Wirtschaftspolitik durch Steuern, Haushaltsgesetz und Subventionen und schließlich das grundsätzliche Verhältnis des Staates zur Gesellschaft, wie es mit der konzertierten Aktion und Hearing-Praktiken angesprochen wird, alle diese und zahlreiche weitere Fragenkreise gehören zur Wirtschaftsverfassung.“
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der Wirtschaftsverfassung scheint dagegen den Schluß nahe zu legen, daß es sich dabei um eine besondere oder spezielle Verfaßtheit (des Lebensbereichs) der Wirtschaft handele, die sich aus dem Grundgesetz ergibt25. Weil die allgemeine Gleichheit in der Freiheit die Verfassung des gemeinsamen Lebens aller Bürger ist, gibt es keinen Bereich, der (. . .) etwa nur ökonomisch“ wäre.26 Das Grundgesetz gilt allgemein und universell für alle menschlichen Lebensbereiche gleichermaßen27 und enthält die Prinzipien der Freiheit und die Grundsätze für die Politik, die beachtet werden müssen, damit das gute Leben aller und das Zusammenleben der Bürger in allgemeiner und gleicher Freiheit möglich ist28. Durch die Politik soll das gute Leben Aller, das grundsätzlich dynamisch zu begreifen ist, gestaltet und so an die wechselnden Lebensumstände angepaßt werden können29. Die Frage nach einer möglichen oder geforderten Wirtschaftsverfassung unter dem Grundgesetz ist unergiebig30, wenn damit die Frage nach einem (wirtschaftspolitischen oder ordnungspolitischen) Modell gestellt ist31. Zwar hatte etwa Walter Eucken die Notwendigkeit betont, Modelle zu bilden, weil die Wirklichkeit viel zu komplex sei und ohne Modellbildung keine generellen oder allgemeingültigen Aussagen formuliert werden könnten. Er sprach von der „Morphologie“ der wirtschaftlichen Wirklichkeit, aus der sich grundsätzlich die reinen Formen der Wirtschaft von Privathaushalten und Unternehmen ableiten ließen. Im Ergebnis liefe dies immer auf die Marktformenlehre hinaus32. Die Modellbildung mag für die Wissenschaft der Nationalökonomie erforderlich sein, weil sie der Komplexitätsreduzierung der wirtschaftlichen Wirklichkeit dient. Theoretische Modelle können aber nicht zur Maßgabe des richtigen und sachgerechten 25 So aber F. Böhm, Wettbewerb und Monopolkampf, S. 388 ff., der in der Wirtschaftsverfassung der freien Volkswirtschaft eine Teilordnung sieht. 26 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 635. 27 „Die Frage nach den empirischen Bedingungen und den Funktionen von Freiheitsrechten, wie sie in der Lehre von der Wirtschaftsverfassung gestellt wird, hat methodisch weit über ihren unmittelbaren Gegenstand hinausreichende Bedeutung“, E.-J. Mestmäcker, Recht und ökonomisches Gesetz, S. 42. 28 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 275 ff., 325 ff., 410 ff., 422 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 24 f., 29 ff. 29 Zum Sachlichkeitsprinzip des modernen Staates K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 674 ff., 897 ff., 984 ff., 990 ff. 30 Jedenfalls dann, wenn damit mehr als die dezentrale Wirtschaftsplanung durch die Bürger auszudrücken versucht wird, so im Ergebnis E.-J. Mestmäcker, Recht und ökonomisches Gesetz, S. 61 f. Angesprochen ist also nicht mehr als der Grundsatz der Privatheit der Lebensbewältigung, dazu K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 34; ders., Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS W. Leisner, S. 744 ff. 31 Weil modelltheoretische ökonomische Aussagen bei der Frage von Wettbewerb und Wettbewerbsfreiheit als Problem des Rechts keine entscheidende Rolle spielen, R. Lukes, Zum Verständnis des Wettbewerbs und des Marktes in der Denkkategorie des Rechts, S. 217. 32 W. Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, S. 20 f.
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staatlichen Handelns gemacht werden33, welches das Leben der Bürger und Zusammenleben der Bürgerschaft in Freiheit ermöglichen soll: Das Leben steht nicht unter ceteris paribus Bedingungen wie nationalökonomische Modelle34. Nationalökonomische Modelle sind deskriptiv und sollen die Wirklichkeit als empirisches Dasein beschreiben. Sie haben aber keinen normativen Gehalt; denn das würde bedeuten, vom empirischen Dasein auf das Sollen zu schließen, was nach Kants Erkenntnislehre eine logisch unmögliche Operation darstellt. Darauf wurde bereits hingewiesen. Dem gegenüber kennt das Grundgesetz keine Wirtschaftsverfassung „im Sinne eines ordnungspolitisch geschlossenen Systems“ 35 und ist wirtschaftspolitisch neutral36. Der Gesetzgeber darf „jede ihm sachgemäß erscheinende Wirtschaftspolitik verfolgen (. . .), sofern er dabei das Grundgesetz, insbesondere die Grundrechte beachtet“ 37. „Allerdings darf die Berücksichtigung der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers nicht zu einer Verkürzung dessen führen, was die Verfassung in allem Wandel unverändert gewährleisten will, namentlich nicht zu einer Verkürzung der in den Einzelgrundrechten garantierten individuellen Freiheiten“ 38. Da-
33 Ein theoretisches Modell kann nicht zur Kategorie des Rechts gemacht werden, weil Recht keine Theorie ist, R. Lukes, Zum Verständnis des Wettbewerbs und des Marktes in der Denkkategorie des Rechts, S. 214. 34 Es stellt sich ohnehin die Frage, wie denn Modelle, die die Wirklichkeit komplexitätsreduzierend beschreiben, zu einem allgemeinen Gesetze führen sollen, in dessen Form ja der Staat handelt, um dadurch dieselbe komplexe Wirklichkeit zu reglementieren und zu normieren. Eine theoretische Aussage, die die Wirklichkeit bestenfalls ansatzweise erfaßt, kann und darf nicht zur Norm für diese Wirklichkeit gemacht werden. Das wäre unsachlich und praktisch nicht vernünftig. 35 R. Scholz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 12, Rdn. 77. 36 Das Grundgesetz kenne keinen wirtschaftsverfassungsrechtlichen Systementwurf. So habe das Bundesverfassungsgericht wirtschaftspolitische Maßnahmen nicht auf ihre Marktkonformität oder Prinzipientreue zur Wettbewerbsordnung überprüft, H.-J. Papier, Grundgesetz und Wirtschaftsordnung, HVerfR, S. 800 f. 37 BVerfGE 50, 290 (338). 38 BVerfGE 50, 290 (338). H. Sodan, Vorrang der Privatheit als Prinzip der Wirtschaftsverfassung, DÖV 2000, S. 361 ff., 363, hält die These von der wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes für irreführend. Insbesondere die ausdifferenzierte Judikatur des Bundesverfassungsgerichts zu einzelnen Freiheitsrechten ließe sich als „Kronzeugin“ gegen die Neutralitätsthese anführen. Dagegen bedeutet Neutralität nicht Beliebigkeit, sondern lediglich, daß das Grundgesetz im Hinblick auf wirtschaftspolitische Systementwürfe, ordnungspolitische Leitvorstellungen und nationalökonomische Theoriengebäude wertneutral ist, und welche deshalb durch die Wirtschaftspolitik nicht zwingend zu beachten sind. Sinn und Zweck aller Politik ist die Verwirklichung der Freiheit der Bürger. Bewertungsmaßstab für die praktische Wirtschaftspolitik kann daher nur die in den Einzelgrundrechten materialisierte Freiheit sein. Das Grundgesetz ist wirtschaftspolitisch (wert-)neutral, die Wirtschaftspolitik dagegen nicht beliebig, sondern an die Beachtung der Grundrechte gebunden. Insoweit ist es dann richtig, daß die Wirtschaftsordnung „nicht beliebig gestaltbar, sondern eingebunden in das vielschichtige Mosaik grundrechtlicher Normativität“ ist, H. H. Rupp, Grundgesetz und „Wirtschaftsverfassung“, S. 7: „Die Rechtsverfassung läßt sich also durchaus darnach befra-
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mit ist der Gesetzgeber nicht einem wirtschafts- oder ordnungspolitischen Modell39, sondern ausschließlich dem Grundgesetz verpflichtet40. Es steht völlig außer Frage, daß die Grundrechte der staatlichen Wirtschaftsplanung Grenzen setzen, wohl aber hat das Bundesverfassungsgericht „die Funktionalisierung der Grundrechte im Dienste eines Wirtschaftssystems“ zurückgewiesen41. Aus republikanischer Sicht bedeutet dies für die Wirtschaftspolitik erstens, daß der Gesetzgeber das Gesetz als volonté générale42 als das allgemeine Beste und eben dadurch die Freiheit aller Bürger verwirklicht43. Wettbewerb ist nicht uneingeschränkt nützlich und auch nicht uneingeschränkt akzeptabel44. Das erfordert zweitens, daß die Bürger politisch durch den moralischen Gesetzgeber vertreten gen, ob bestimmte wirtschaftspolitische Postulate mit ihr in Einklang stehen oder nicht“, S. 14. 39 Jedenfalls sei das Marktmodell der vollständigen Konkurrenz ein „utopisches Leitbild“, R. Blum, Soziale Marktwirtschaft, S. 83. Auch H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 473, hat sich gegen die „Vergötzung des Modells“ ausgesprochen; F. Böhm hat die grundsätzliche Frage aufgeworfen, ob eine Wirtschaftsordnung überhaupt politisch durchgesetzt werden könne, die tatsächlichen Wettbewerb auf allen Märkten gewährleisten soll. Unternehmen, jedenfalls ein einflußreicher Teil von ihnen, seien eben keine Freunde der Wettbewerbsordnung, Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, S. 35. Die Inhaber von Marktmacht hätten auch politischen Einfluß, weil sie der politisch herrschenden Schicht angehörten und auf die Willensbildung des Staates einwirkten, S. 73. Dies gilt in besonderem Maße, wenn wirtschaftlich starke Unternehmen von großer Bedeutung für die Parteienfinanzierung sind, dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 168. 40 Nach dem Willen der „Verfassungsgeber des Jahres 1949“ sollten die klassischen Freiheitsrechte durch das Grundgesetz garantiert, also unmittelbar geltendes und vollziehbares Recht und keine Programmsätze und Verfassungsaufträge geschaffen werden, H.-J. Papier, Grundgesetz und Wirtschaftsordnung, HVerfR, S. 801. 41 M. Kriele, Recht – Vernunft – Wirklichkeit, S. 332. 42 F. Böhm hat die volonté générale darin gesehen, daß ein wirtschaftliches Lenkungssystem etabliert werde, welches der Verhinderung und Auflösung von Marktmacht verpflichtet ist, F. Böhm, Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, S. 124, weil ihre staatliche Kontrolle nicht ausreichend sei, S. 79, insbesondere aus Gründen der Aufrechterhaltung des Rechts: „sobald wirtschaftliche Macht auf dem Plan erscheint, gerät die Rechtsordnung ins Hintertreffen, sie mag so vortrefflich sein wie sie will“, weil nämlich der wirtschaftlich Mächtige auf seine eigene Macht vertraue und nicht auf die Macht des Gesetzes, dabei aber den Schwachen überrenne, der seinen Interessen im Wege stünde, S. 72. 43 Die wirtschaftspolitischen Zielsetzungen seien keine ökonomischen, sondern politische, H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 582. Kritisch zu Krüger E.-J. Mestmäcker, Recht und ökonomisches Gesetz, S. 49 ff., der andererseits aber auch sieht, daß „die rechtliche Gestaltung des Wirtschaftssystems (. . .) nicht ausschließlich von der Eigengesetzlichkeit dieses Systems bestimmt“ werde; vgl. auch K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 303 ff., 340 ff., 526 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 20, 45. 44 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 487 ff.; man darf den Wettbewerb nicht „im Vertrauen auf eine Unfehlbarkeit sich selbst überlassen. Es bedarf vielmehr gerade hier der ständigen Überwachung von Arbeit und Leistung, und zwar nicht etwa nur darauf, ob die Teilnehmer nicht selbst den Wettbewerb beschränken“, H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 473.
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werden45, daß also die Parlamentarier nur ihrem Gewissen (und nicht etwa einer Partei oder anderen Interessengruppen verpflichtet) unterworfen und bestmöglich sachkundig sind46. Daß der Gesetzgeber die Grundrechte als unverzichtbare Freiheitsrechte und Prinzipien der Freiheit zu beachten hat, ist selbstverständlich, weil dies nicht nur für die Wirtschaftspolitik, sondern generell zwingend ist. Die Leitlinie der Gesetzgebung muß die Beachtung des sich aus Art. 2 Abs. 1 GG ergebenden Grundsatzes der Privatheit der Lebensbewältigung sein, mit der Folge, daß der Einzelne seine Handlungsmaxime so weit wie irgend möglich selbst und allein bestimmt. Aus diesem Grunde ist grundsätzlich von einer verkehrswirtschaftlichen Koordination der Wirtschaft und damit verbunden einer „autonomen“ Planung bei privaten Unternehmen und den Haushalten der Bürger auszugehen47. Die Privatheit der Unternehmen und der Verbraucher führt in der Konsequenz zu Markt und Wettbewerb. Weil aber nach aller Erfahrung die Marktlichkeit und die Wettbewerblichkeit der Wirtschaft dem Gemeinwohl dienlich ist, gebietet das in Art. 2 Abs. 1 GG immanent verankerte Privatheitsprinzip eine Wirtschaftsordnung der Marktlichkeit und Wettbewerblichkeit, welche auch durch andere Grundrechte, insbesondere durch die Eigentumsgewährleistung des Art. 14 Abs. 1 GG gestützt wird48. Allerdings bedeutet dies nicht, daß die Freiheitsrechte für eine „optimale Wettbewerbsordnung“ instrumentalisiert oder funktionalisiert werden dürfen, sie sind keine Verpflichtung zu ausschließlich ökonomisch-zweckrationalem oder rein ökonomisch determinierten Handeln49; denn der Mensch ist eben nicht nur homo oeconomicus. Aber der Zutritt zum Markt und die Teilnahme am Wettbewerb muß für Jedermann gestattet sein50. 3. Keine „freie Marktwirtschaft“ Die Freiheit als Begriff der praktischen Vernunft ist das Recht zur freien Willkür, welches durch Art. 2 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich geschützt ist. Das bedeutet, daß jeder nach seinen individuellen Maximen mit dem ökonomischen 45 Die Herrschaft des Gesetzes setzt die Moralität des Gesetzgebers voraus. Zwar ist in einer Demokratie die Mehrheitsregel akzeptabel, entbindet aber diese Mehrheit nicht von der Pflicht zur Moralität, F. A. v. Hayek, Die Verfassung der Freiheit, S. 130, schon deshalb nicht, weil Mehrheitsbeschlüsse keine höhere Weisheit darstellten, S. 135. 46 Dazu K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 312, 365 ff. 47 Insofern bestünde dann doch eine gewisse Komplementarität zwischen freiheitsverbürgender Staatsverfassung und Wirtschaftsordnung, wobei aber die rechtliche und tatsächliche Ausgestaltung des Wirtschaftssystems nicht durch die Eigengesetzmäßigkeiten eines nationalökonomischen Lehrsystems bestimmt werde, H.-J. Papier, Grundgesetz und Wirtschaftsordnung, HVerfR, S. 801. Für F. Böhm, Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, S. 42, liegt der Freiheitsgehalt der Wettbewerbsordnung in der Autonomie des wirtschaftlichen Planens der Wirtschaftssubjekte begründet. 48 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 491 ff. 49 H.-J. Papier, Grundgesetz und Wirtschaftsordnung, HVerfR, S. 810. 50 H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 458.
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Grundproblem des Menschen, der Überwindung der Knappheit, umgehen darf 51. Allerdings ist das Recht zur freien Willkür nicht das Recht zur Beliebigkeit. Die Selbst- und Alleinbestimmung der Handlungsmaximen hat sittlich zu erfolgen52, die Handlungsmaximen müssen also den allgemeinen staatlichen Gesetzen gemäß sein. Die Beachtung des Gesetzes bei der Ausbildung von Handlungsmaximen schließt in einer Gemeinschaft von Menschen immer das soziale Moment mit ein53. Ein unsoziales Gesetz kann nicht der volonté générale entsprechen, weil es nicht die allgemeine Freiheit verwirklicht. Die Freiheit des Einzelnen ist in ihrer praktischen Dimension stets eine sozial verantwortete Freiheit54. Auch das ergibt sich etwa aus Art. 14 Abs. 2 GG: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen“. Damit scheidet eine freie Marktwirtschaft, verstanden als eine monistisch an den Kapitaleignerinteressen orientierte Wirtschaftsform aus55. Genau genommen bedeutet das Wort „frei“ in diesem Zusammenhang eben diese soziale Verantwortung und damit die Sittlichkeit der Wirtschaftssubjekte und gerade nicht die Freiheit von gesetzlicher Reglementierung und Sittlichkeit56. Republikanisch gewendet ist damit eine soziale Marktwirtschaft eine marktliche Sozialwirtschaft57, weil nur einer sozialen wirtschaftlichen Betätigung das Attribut „frei“ zugesprochen werden kann: Frei-
51 Allen Individuen in der Gesellschaft sei „ein und derselbe, gleiche rechtlich Status einzuräumen, nämlich die Privatautonomie als gleiche Kompetenz aller zu eigenständigem wirtschaftlichen Planen, frei von allen Herrschafts- und Repräsentationsbefugnissen“, F. Böhm, Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, S. 108 f. 52 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 303 ff., 309; ders., Freiheit in der Republik, S. 456. 53 Dazu K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 53 f. 54 „Sowenig der Mensch (. . .) seine eigene Freiheit selber aufheben darf, sowenig darf er die Freiheitssphäre der anderen mißachten“. „Hier an der Freiheitssphäre der anderen findet seine Person ihre Grenzen. Indem er diese Freiheitssphäre achtet, übt er Humanität aus“, W. Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, S. 199. Das Prinzip Freiheit ist an das Prinzip Verantwortung gebunden, sie bilden eine Einheit, G. Prosi, Wettbewerb – Das Prinzip Freiheit und das Prinzip Verantwortung, S. 129. 55 Zwar sei das Privateigentum an Produktionsmitteln eine Voraussetzung der Wettbewerbsordnung, diese aber wiederum Voraussetzung dafür, daß Privateigentum an Produktionsmitteln nicht zu wirtschaftlichen und sozialen Mißständen führt. Wettbewerb lenke die Ausübung des Privateigentums in sozialverträgliche Bahnen. Die Frage nach einer gerechten Eigentumsordnung und Einkommensverteilung wird bei den ORDOLiberalen der Wirtschaftsordnung überantwortet: Wettbewerbsordnung ist Mittel der Sozialpolitik, dazu R. Blum, Soziale Marktwirtschaft, S. 52. 56 Für W. Eucken muß die Gesamtordnung so gestaltet sein, daß sie den Menschen das Leben nach ethischen Prinzipien ermögliche, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, S. 199. 57 K. A. Schachtschneider, Der Anspruch auf materielle Privatisierung des staatlichen und kommunalen Vermessungswesens in Bayern, 2000, S. 65; ders., Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS W. Leisner, S. 743 ff., 768; ders., W. Hankel, W. Nölling, J. Starbatty, Die Euro-Klage, 1998, S. 200 ff., 254 f.; ders., (O Gast), Sozialistische Schulden nach der Revolution, S. 8, 155.
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heit bedeutet auch Brüderlichkeit, und Brüderlichkeit bedeutet Sozialpflichtigkeit der Bürger untereinander58. 4. Keine Zentralverwaltungswirtschaft Dagegen ist eine Zentralverwaltungswirtschaft unter dem Grundgesetz ausgeschlossen59. Sie ist gänzlich unvereinbar mit dem grundgesetzlichen Grundsatz der Privatheit der Lebensbewältigung, weil nämlich der einzelne Bürger lediglich Erfüllungsgehilfe bei der Ausführung und Umsetzung eines staatlichen wirtschaftlichen Zentralplanes ist60. Er kann also in ökonomischen Fragen nicht mehr selbst und allein seine Maximen bestimmen, sondern hat seine Angebotsund Nachfrageentscheidung am staatlich fixierten Gesamtplan zu orientieren und umzusetzen61. Was sein Glück sein soll und wie er es in ökonomischer Hinsicht erreichen und verfolgen darf, bestimmen staatliche Institutionen. Ein derartiger Kollektivismus ist eine Missachtung der Menschenwürde62. Der ideologisch überhöhte Staat im Sinne Hegels als einer sich selbst denkenden Vernunft63 maßt sich an, allein das Problem der Knappheit mit Absolutheitsanspruch lösen zu können64. Das für die Zentralverwaltungswirtschaft erforderliche etatistische Unfehlbarkeitsdogma65 steht dabei im Widerspruch zur Willensautonomie des Bür58
G. Dürig, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 3 I, Rdn. 159. H.-J. Papier, Grundgesetz und Wirtschaftsordnung, HVerfR, S. 803; M. Kriele, Recht – Vernunft – Wirklichkeit, S. 328 ff. 60 Die Zentralverwaltungswirtschaft kompromittiere die Demokratie, weil die staatliche Dirigismuskompetenz ein Element der politischen Willkür darstellten und ihre wirtschaftlichen Auswirkungen wenig berechenbar und durchsichtig seien, F. Böhm, Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, S. 27 f. 61 Wirtschaftspläne sollen in einer arbeitsteiligen Gesellschaft nicht subordiniert, sondern koordiniert werden, dazu F. Böhm, Die Bedeutung der Wirtschaftsordnung für die politische Verfassung, S. 93. Die Zentralverwaltungswirtschaft sei die schlechteste aller möglichen Wirtschaftsordnungen, selbst Zerrformen der Verkehrswirtschaft sei der Vorzug zu geben; ders., Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, S. 20. 62 Außerdem führt eine Plan- und Befehlswirtschaft zu schweren Funktionsstörungen in der Wirtschaft, welche letztlich immer zu Lasten der Verbraucher gehen, H. C. Nipperdey, Soziale Marktwirtschaft und Grundgesetz, S. 15 f. 63 „Der Staat ist als die Wirklichkeit des substanziellen Willens, die er in dem zu seiner Allgemeinheit erhobenen besonderen Selbstbewußtseins hat, das an und für sich Vernünftige“. Der Staat ist „objektiver Geist“, das Individuum hat selbst nur „Objektivität, Wahrheit und Sittlichkeit, als es ein Glied desselben ist“, G. F. W. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 399 f. 64 Dies schon allein deshalb nicht, weil das dafür erforderliche staatliche Handlungsinstrumentarium dem Grundgesetz völlig fremd sei, H.-J. Papier, Grundgesetz und Wirtschaftsordnung, HVerfR, S. 808. 65 Gegen die Möglichkeit einer effizienten zentralen Planung aller wirtschaftlichen Tätigkeit, schon weil die dafür erforderlichen quantitativen Methoden weit überschätzt werden, wendet sich zu Recht H.-J. Papier, Grundgesetz und Wirtschaftsordnung, HVerfR, S. 804. 59
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gers66 und verletzt seine Menschenwürde. Wenn die Zentralverwaltungswirtschaft nicht schon am Autonomieprinzip in seiner praktischen Dimension des Art. 2 Abs. 1 GG scheitern würde, so wäre dies allemal wegen Art. 1 Abs. 1 GG mit dem darin verankerten Menschenbild der Fall67. Der Staat ist keine sich selbst denkende Vernunft, wie Hegel meinte, sondern die als Einheit gedachte Organisiertheit einer Gemeinschaft willensautonomer Bürger68. Deshalb muß die Verantwortung bei der Bewältigung des ökonomischen Grundproblems der Knappheitsüberwindung in erster Linie beim Bürger liegen69, die allerdings stets auch eine soziale (Mit-)Verantwortung ist70. Obliegt die Verantwortung des ökonomischen Grundproblems als Selbstverantwortung71 dem Einzelnen selbst, so ist seine Lösung zunächst einmal über den Marktprozeß zu sehen; denn nur am Markt kann die unendliche Vielzahl der äußerst differenzierten ökonomischen Einzelpläne der Wirtschaftssubjekte aufeinander abgestimmt werden72, und zwar so, daß ein größtmögliches Maß an Selbst- und Alleinbestimmtheit beim Streben eines jeden Einzelnen nach dem guten Leben in Freiheit möglich ist73. 5. Keine liberalistische Trennung von Staat und Wirtschaftsgesellschaft Dies bedeutet nun kein „laisser faire, laisser aller“ in Fragen zur Wirtschaft durch den Staat74, mit der Konsequenz einer ausschließlichen Marktlichkeit öko66 So im Ergebnis H.-J. Papier, Grundgesetz und Wirtschaftsordnung, HVerfR, S. 802, aber auch F. Böhm, Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, S. 28, 42. 67 Weil nämlich das Autonomieprinzip elementarer Bestandteil der Menschenrechte ist, welche die Menschenwürde materialisieren, dazu K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 30 ff. 68 Der Staat ermögliche Freiheit, bezwecke sie aber nicht nur, sondern sei die Freiheit selbst, H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 44. 69 Die Wirtschaftsplanung ist dezentralisiert, deren Koordination aber durch ein System von Marktpreisen vollzogen werde, H.-J. Papier, Grundgesetz und Wirtschaftsordnung, HVerfR, S. 802. 70 So auch H.-J. Papier, Grundgesetz und Wirtschaftsordnung, HVerfR, S. 806. 71 Der Grundsatz der Privatheit der Lebensbewältigung bedeutet das Primat der Selbstverantwortung und führt im Sozialrecht zur Subsidiarität, zur Nachrangigkeit der Sozialhilfe gemäß § 2 Abs. 1 SGB XII. Sozialhilfe ist Hilfe zur Selbsthilfe, K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 244. 72 Wofür aber funktionierende Wettbewerbsmärkte erforderlich seien, ohne die das Preissystem seine volkswirtschaftliche Orientierungskraft einbüße, H.-J. Papier, Grundgesetz und Wirtschaftsordnung, HVerfR, S. 803. Der Preis ist Indikator der Knappheit, dazu F. Böhm, Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, S. 60. 73 Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 202 f., 351 ff., 475 f. 74 So schon E. R. Huber, Der Streit um das Wirtschaftsverfassungsrecht, DÖV 1956, S. 137 ff. Wettbewerb ist „kein Krieg aller gegen alle“ im Sinne Th. Hobbes, Leviathan, I, 14, II, 17, 18. Dazu auch H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 457, es sei ein „utopischer Liberalismus“, wenn sich zumindest im Wirtschaftsbereich, die beste Ordnung einer natürlichen Gesetzlichkeit heraus von selbst ergäbe, „die Menschen aber werden,
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nomischer Problemlösungen75 und einer ausschließlichen Eigenverantwortlichkeit der Wirtschaftssubjekte76. Schon gar nicht bedeutet dies ein generelles Abwehrrecht der Wirtschaftssubjekte gegenüber staatlichen Wirtschaftsgesetzen77. Der Grundsatz der Privatheit der Lebensbewältigung78 darf nicht dahin gehend interpretiert werden, daß die Wirtschaftssubjekte die alleinige Verantwortung für ihr gutes Leben haben, sondern die private Verantwortung durch größtmögliche Selbst- und Alleinbestimmtheit ihrer Handlungsmaximen. Das schließt aber nicht aus, daß die Gemeinschaft der Bürger, also die Bürgerschaft oder der Staat gemeinschaftlicher Verantwortungsträger ist, schon deshalb nicht, weil die bürgerliche Freiheit als Mitgesetzgebung im Staat verstanden werden muß und weil, zweitens, jeder Bürger ein Mindestmaß an Eigentum haben muß, um frei leben zu können79. Daraus resultiert dann etwa der Anspruch auf Sozialhilfe80 als Ausprägung der Brüderlichkeit und Selbständigkeit im Sozialstaat (Art. 20 Abs. 1 GG). Genau genommen wäre die Diskussion um die Wirtschaftsverfassung nur in einem liberalistischen Staat sinnvoll, wobei auf der einen Seite der die Wirtschaft lenkende Staat, der über Gesetze die Rahmenbedingungen der Wirtschaft und in zunehmenden Maße auch die Ergebnisse der Wirtschaftsprozesse reglementiert und der der dadurch gelenkten Wirtschaftsgesellschaft auf der anderen Seite gegenüber steht. Stattdessen ist ein Gegenüberstellen von Staat und Gesellschaft in der Republik gegenstandslos: auch die Privatheit der Lebensbewältigung erfordert in vielfältigster Hinsicht das staatliche Gesetz81, weil auch der private Vertrag auf der Grundlage des allgemeinen staatlichen Gesetzes abgeschlossen wird. Es kann demnach keine Wirtschaftsverfassung als eine Sonderverfassung oder Teilordnung einer Wirtschafts- oder Privatrechtsgesellschaft geben. Die Bürgerschaft regelt ihre Angelegenheiten, also auch die ökonomischen, über die allgemeinen Gesetze. Diese bilden dann die freiheitliche Grundlage für die indi-
lediglich von ihren natürlichen Trieben bestimmt, diese Ordnung vollziehen und sie dadurch reiche Frucht tragen lassen“. 75 Eine völlig freie, reine oder liberalistische Marktwirtschaft, welche verfassungsrechtlich auf „die Garantie des Grundsatzes der staatlichen Nichtintervention“ gegründet ist, gibt es unter dem Grundgesetz nicht, H. C. Nipperdey, Soziale Marktwirtschaft und Grundgesetz, S. 9 ff. 76 Ohnehin sei das reale Wirtschaftssystem ein „Mischsystem“, in dem „marktmäßige und planwirtschaftliche Elemente kombiniert“ seien, H.-J. Papier, Grundgesetz und Wirtschaftsordnung, HVerfR, S. 803 ff. 77 H.-J. Papier, Grundgesetz und Wirtschaftsordnung, HVerfR, S. 806. 78 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 386 ff. 79 K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS für W. Leisner, S. 766 ff.; zum republikanischen Sozialprinzip ders., Res publica res populi, S. 234 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 553 ff. 80 Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 234 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 636 ff.; W. Freitag, Unternehmen in der Republik, S. 122 ff. 81 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 221 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 465 ff.
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4. Kap.: Der Wettbewerb als Bestandteil des Privatheitsprinzips
viduellen Handlungen. Gleichzeitig sind die Wirtschaftsgesetze Ausdruck der gemeinsamen Verantwortung der Bürgerschaft für die wirtschaftlichen Probleme der Gemeinschaft aller Bürger, damit aber notwendigerweise immer auch (eine Mindestverantwortung) für den Einzelnen. Was dies in materiellrechtlicher Hinsicht und im konkreten Fall bedeutet, ist Sache des Gesetzgebers, der eben das richtige, sachgemäße Gesetz zu erkennen hat. Selbstverständlich muß der Gesetzgeber die verfassungsrechtlich garantierten Freiheitsrechte beachten, weil sonst ein menschenwürdiges Leben in Freiheit nicht möglich ist. Der Gesetzgeber darf diese Grundrechte nicht in ihrem Wesensgehalt antasten – Art. 19 Abs. 2 GG, auch nicht im Hinblick auf die ökonomische Bewältigung des menschlichen Daseins82. 6. Republikanische Begrenzung der Ausübung wirtschaftlicher Macht Die Würde des Menschen ist seine Freiheit. Grundsätzlich ist der Staat aus Art. 1 Abs. 1 GG verpflichtet, Einflüsse abzuwehren, welche die Freiheit der Menschen gefährden83. Demgemäß muß der Staat die Ausübung privater Macht begrenzen84. Die politische Gleichberechtigung der Bürger läßt in der Republik keine Privilegierten zu85. Durch die Begrenzung wirtschaftlicher Macht soll bestmöglich erreicht werden, daß es nicht zu einer nicht zu rechtfertigenden Ungleichverteilung der Chancen unter den Bürgern kommt86. Das ergibt sich aus dem demokratischen Prinzip87. Das Wettbewerbsrecht dient damit dem Schutz der freien Willkür und der Willensautonomie Aller, nicht einem vermeintlichen Schutz des Wettbewerbs an sich88. Selbständigkeit und ökonomische Selbstverantwortung sind nur bei weitgehender Unabhängigkeit von der Willkür anderer möglich. Es darf also weder politisch noch wirtschaftlich zu Machtansammlun82
So auch H.-J. Papier, Grundgesetz und Wirtschaftsordnung, HVerfR, S. 802, 806. Der Mensch muß immer Zweck an sich selbst bleiben, dazu W. Höfling, Grundgesetz, Kommentar, Art. 1, Rdn. 28 ff., S. 110 ff.; Art. 1 Abs. 1 GG schützt die Würde des Menschen, wie er sich in seiner Individualität selbst begreift und seiner selbst bewußt wird, BVerfGE 49, 286 (298), angesprochen ist die Fähigkeit des Menschen, zu „eigenverantwortlicher Lebensgestaltung“, BVerfGE 5, 85 (204), dazu auch W. Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, HVerfR, S. 492 ff. 84 K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 141; dazu auch F. Böhm, Reden und Schriften, S. 40 f. 85 F. A. v. Hayek, Die Verfassung der Freiheit, S. 17. 86 F. Böhm, Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, S. 78, wirtschaftliche Macht korrumpiere den Rechtsstaat. 87 K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 142. 88 R. Scholz, Wirtschaftsaufsicht, S. 24 ff., S. 27 f.; H. C. Nipperdey, Soziale Marktwirtschaft und Grundgesetz, S. 20 argumentiert, daß die Marktwirtschaft im Interesse aller und somit eine soziale Marktwirtschaft sein müsse. Der Staat müsse die Freiheitsrechte, auf denen das System beruhe, rechtssatzmäßig garantieren, was sich aus Art. 2 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip ergebe. Demnach müsse der Staat seine rechtliche Macht für die Freiheit der Märkte und des Wettbewerbs einsetzen. 83
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gen kommen89. Was aber an Willkür und damit an (privater) Machtausübung Anderer hingenommen werden muß, können freiheitlich nur die Gesetze, in diesem Zusammenhang also die Wettbewerbsgesetze bestimmen. 7. Die volonté générale als Maßgabe republikanischer Wirtschaftspolitik Nun darf aber nicht übersehen werden, daß der Staat nicht dem Privatwohl oder dem Wohl privater Interessengruppen verpflichtet ist, sondern dem Gemeinwohl90. Das selbst- und alleinbestimmte Privatwohl ist deshalb keineswegs identisch mit dem Gemeinwohl, weil ersteres Privatinteressen beinhaltet. Alles Staatliche hat aber das allgemeine Beste für alle zum Ziel, und das allgemeine Beste ist nicht die Summe bestmöglich verwirklichter Privatinteressen in einer Gemeinschaft. Zwar wird gerade in Bezug auf die Wettbewerbswirtschaft oft in diese Richtung argumentiert, weil eben in der Wettbewerbswirtschaft es zum einen den Wirtschaftssubjekten möglich ist, ihren wirtschaftlichen (Netto-)Nutzen an ihren subjektiven Nutzenkalkülen hin auszurichten und ihn nach Möglichkeit zu maximieren91. Diese maximierten Individualnutzen würden dann auch zu einem Maximum an Wohlfahrt der Gemeinschaft der Wirtschaftssubjekte führen, weil eben der Wettbewerbsmechanismus zu einer Optimierung volkswirtschaftlicher Ressourcen führe und die Summe maximierter Individualnutzen auch das Maximum an Gemeinwohl sei. Doch wird das Gemeinwohl durch die volonté générale und eben nicht durch die volonté des tous definiert92. Folglich ist das Gemeinwohl gerade nicht die Summe wenn auch maximierter Individualnutzen oder bestmöglich verwirklichter Individualinteressen93, weil eine Summe keine Aussagen über die (gerechte) Verteilung beinhaltet94. Der Gesetzgeber hat zwar dafür zu sorgen, 89 Daß wirtschaftliche Macht politischen Einfluß indiziiert, darauf hat zutreffend F. Böhm, Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, S. 73 hingewiesen; dazu auch K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 168. 90 K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 236 f. 91 Der Wirtschaftspolitik solle es nicht um eine Maximierung des aggregierten Volkseinkommens gehen, sondern vielmehr darum, daß der Einzelne zu größtmöglichem Einkommen gelangen kann, genauer, daß der reale Gegenwert seines Anteils am Gesamteinkommen so groß wie möglich werde, F. A. v. Hayek, Freiburger Studien, S. 121. Die Wirtschaftsordnung könne demnach eben nicht auf konkrete materiale Ziele hin ausgerichtet sein, weil das Leben dynamisch verliefe und alle wirtschaftliche Tätigkeit eine Anpassung an unvorhergesehene Veränderungen sei, S. 187. 92 J. J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 31. 93 Wettbewerb führt nicht zu Höchstleistungen, weil nämlich zum „Sieg“ ausreicht, wenn „der Beste nur ein klein wenig besser ist als alle seine Konkurrenten –, womit bei Lichte besehen und bildlich gesprochen festgestellt ist, daß im Grunde das schlechteste Pferd die Geschwindigkeit des Spitzenpferdes bestimmt“, H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 458. 94 Die Verteilungsgerechtigkeit aber ist material nicht zu definieren, jedenfalls würden (staatliche) Bestrebungen, eine solche sicher zu stellen, zu einer totalitären Ord-
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4. Kap.: Der Wettbewerb als Bestandteil des Privatheitsprinzips
daß der Einzelne seinen Vorstellungen gemäß seinen Nutzen auch maximieren oder bestmöglich seinen eigenen Interessen nachgehen kann, bleibt aber dennoch ausschließlich dem Gemeinwohl verpflichtet95, wie das etwa § 1 StWG vorschreibt: „Bund und Länder haben bei ihren wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu beachten. Die Maßnahmen sind so zu treffen, daß sie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig zur Stabilität des Preisniveaus, zu einen hohen Beschäftigungsgrad und außenwirtschaftlichen Gleichgewicht bei stetigem und angemessenen Wirtschaftswachstum beitragen“. In der Republik ist dies aber kein Widerspruch, weil es keine Trennung von Staat und Gesellschaft gibt. Institutionell kann der grundgesetzliche Staat nur als Staat des Volkes begriffen werden, und dieses Volk ist die Gesamtheit aller Deutschen. In diesem Staat geht alle Staatsgewalt vom Volke aus – Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG96. Demnach dürfen die Zwecke des Staates allein durch das Volk festgelegt werden und sind in der grundgesetzlichen Demokratie prinzipiell nicht materiell
nung führen, weil das individuelle menschliche Handeln auf bestimmte Zwecke hin ausgerichtet würde, was aber die Grundlage für einen funktionierenden Markt zerstöre, F. A. v. Hayek, Freiburger Studien, S. 119. So aber im Ansatz schon Kant: „Denn mit Freiheit begabten Wesen genügt nicht der Genuß an Lebensannehmlichkeit, die ihm auch von anderen (und hier von der Regierung) zu Teil werden kann; sondern auf das Prinzip kommt es an, nach welchem es sich solche verschafft. Wohlfahrt aber hat kein Prinzip, weder für den der sie empfängt, noch für den der sie austeilt (der eine setzt sie hierin, der andere darin); weil es dabei auf das Materiale des Willens ankommt, welches empirisch, und so der Allgemeinheit einer Regel unfähig ist“, Kant, Streit der Fakultäten, S. 359 f., zweite Anmerkung. Die Gerechtigkeit der Verteilung kann also nur auf der Grundlage formaler Prinzipien erreicht werden. Neben dem Leistungsprinzip und dem Bedarfsprinzip ist dies das Wettbewerbsprinzip, dazu K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS W. Leisner, S. 760 ff. Die Verteilung über (Wettbewerbs-)Märkte hat also zumindest eine Gerechtigkeitsvermutung für sich, S. 781. Sozialpolitik hat demnach die entscheidende Frage zu beantworten, in welchem Bereich welches der drei Verteilungsprinzipien bis zu welchem Grad Anwendung finden soll. 95 H.-J. Papier spricht davon, daß der „Mischcharakter der realen Wirtschaftsordnung“ Deutschlands im Nebeneinander der Eigentumsgarantie und der Wirtschaftsfreiheiten mit den Staatszielbestimmungen der Sozialstaatlichkeit (Art. 20 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 GG) und den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (allerdings nur für die Haushaltsführung von Bund und Ländern, Art. 109 Abs. 2 GG) seine verfassungsrechtliche Verankerung fände. Die staatliche Verantwortung für die soziale und ökonomische Ordnung, das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht und das angemessene wirtschaftliche Wachstum sei ein von der Verfassung anerkanntes „Gegengewicht zu den dezentralen Steuerungsmechanismen der Privatautonomie“, Grundgesetz und Wirtschaftsordnung, HVerfR, S. 808 f. Aber auch er scheint der liberalistischen Trennung von Staat und Gesellschaft verhaftet zu sein: auf der einen Seite der Staat mit „Gegengewicht“ zur Privatautonomie in der Wirtschaftsgesellschaft auf der anderen. Selbst wenn man dieser Trennung verhaftet bliebe, verböten sich ordnungspolitische Strukturmodelle wegen der Selbständigkeit der Gesellschaft erst recht, H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 455. 96 K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 175.
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vorbestimmt. Das folgt daraus, daß sich die Autonomie des Willens (schon begrifflich) auf die Gesetzgebung97 und nicht auf beliebige materiale Zwecke Privater bezieht; denn letzteres tut die freie Willkür. Die prinzipielle Unbestimmtheit von staatlichen Zwecksetzungen basiert also auf der Autonomie des Willens und damit auf der Menschenwürde98. Es ist Sache des Volkes, ob Zwecke staatlich oder nichtstaatlich verwirklicht werden99. Das ergibt sich aus dem „Repräsentationsprinzip als Realisierung des Konsensprinzips“ bei der Gesetzgebung. „Der Gesetzgeber muß also legeferieren, als ob er das Volk wäre“ 100; so sieht es schon Kant: „Was ein Volk nicht über sich selbst beschließen kann, das kann der Gesetzgeber auch nicht über das Volk beschließen“ 101. Genauso wenig wie das Volk sind auch die Vertreter des Volkes als parlamentarische Gesetzgeber an materielle Orientierungsrahmen gebunden. Das bedeutet aber keine Beliebigkeit, sondern lediglich eine materielle Unbestimmtheit. Auch die Vertreter des Volkes sind bei der Gemeinwohlbestimmung an allgemeine Rechtsprinzipien gebunden102, neben prozeduralen Verfahrensvorschriften103 auch formale Rechtsprinzipien wie etwa dem der Sachlichkeit und dem der Wissenschaftlichkeit104. Schon wegen der erforderlichen lagebedingten Sachgemäßheit kann der Gesetzgeber keine vorbestimmten materiellen Werte oder Lehrmeinungen umsetzen, also auch nicht ein bestimmtes wirtschafts- oder ordnungspolitisches Modell105. 97 Allerdings nicht nur auf die staatliche Gesetzgebung, sondern auch auf die private, verstanden als den Abschluß von Verträgen, welche zwar nicht allgemein verbindlich sind, wohl aber für die Vertragsparteien. Verträge machen das Handeln der Vertragsschließenden genauso verbindlich wie das staatliche allgemeine Gesetz. 98 K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 237. 99 K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 240: „Wenn eine Aufgabe entsteht, die von hinreichend vielen Menschen oder von maßgeblichen Persönlichkeiten so eingeschätzt wird, daß sie vom Staat erfüllt werden sollte, so kann und darf es zu einer rechtsverbindlichen Entscheidung des Staates kommen, diese Aufgabe zu übernehmen, wenn die Grundrechte der Menschen und die sonstigen Verfassungsbestimmungen das erlauben und die Aufgabenerweiterung des Staates eine legitimierende Ermächtigung im Grundgesetz findet. Die Grundrechte schützen wiederum die Menschen, die der Übernahme der Aufgabe durch den Staat nicht zustimmen. Jede Etablierung von Staatsaufgaben beeinträchtigt die Privatheit der Lebensbewältigung. Schon das ergibt einen umfassenden demokratiefreiheitsrechtlichen, nicht individualfreiheitsrechtlichen Verfassungsvorbehalt für die Begründung von Staatsaufgaben.“ 100 K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 241. 101 Kant, Über den Gemeinspruch, S. 162. 102 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 658 ff. 103 Zum Verfahrensprinzip K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 333, 339 ff., bei der Gesetzgebung, S. 46, 212, 245. 104 K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 228. 105 K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 242 ff. „Spezifisch wegen der Offenheit des Gemeinwohls sind jedoch Kompetenz- und Verfahrensregelungen die Essenz für die Rechtmäßigkeit staatlichen Verhaltens, also die besonderen staatsadäquaten Verhaltensregeln des Grundgesetzes und des einfachen Rechts. Richtig-
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4. Kap.: Der Wettbewerb als Bestandteil des Privatheitsprinzips
Damit ist die Frage nach der Wirtschaftsverfassung und dem damit verbundenen Problem nach den staatlichen Kompetenzen zur Wirtschaftssteuerung zurück zu führen auf die Frage nach Sachlichkeit und Rechtlichkeit der Gemeinwohlmaterialisierung durch den Staat: der Staat hat ausschließlich nach der Maßgabe des Rechts zu agieren106, und eben dies bedeutet auch die Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Der Staat darf sich Ziele setzen, allerdings nur nach Maßgabe der materiellen und prozeduralen Gesetze. Auch darf er die dazu erforderlichen und geeigneten Mittel einsetzen. Ziele und Mittel müssen verfassungsgemäß sein, mit dem Ergebnis, daß auch die Ziel-Mittel-Relationen angemessen sein müssen: das Übermaßverbot oder das Proportionalitätsprinzip sind zu beachten107. Dieses Verhältnismäßigkeitsprinzip ist eine allgemeine Verhaltensmaxime für den Staat und keine grundrechtliche Schrankenschranke108, durch welches staatliches Handeln zum verfassungsgemäßen Handeln wird. Staatliche Wirtschaftssteuerung, auch die staatliche Wirtschaftsbetätigung in Formen des Privatrechts, ist ausschließlich dem Gemeinwohl verpflichtet109, soll aber gleichzeitig die Verfolgung von Privatinteressen durch die Bürger bestmöglich gewährleisten. Es ist vom Prinzip des Vorrangs privater Wirtschaft auszugehen. Dieses Prinzip hat hinter den im Grundgesetz verankerten Gemeinwohlinteressen mit der Maßgabe zurückzutreten, daß das zwar weite Sozialprinzip zu beachten ist, welches „aber doch verschiedenartige Politiken des Gesetzgebers verfassungsmäßig“ zu rechtfertigen vermag110. Die Materialisierung des Gemeinwohls kann nur im Einzelfall und lagebedingt vorgenommen werden111. Eingriffe in den Wettbewerb sind jedenfalls kein Sakrileg, trotz der grundsätzlichen Marktlichkeit des wirtschaftlichen Geschehens112. Wenn es keine materielle Vorbestimmtheit des Gemeinwohls gibt, kann es folglich auch keine grundgesetzlich materiell vorbestimmte Wirtschaftsverfassung geben. keit staatlichen Verhaltens ist unter einem Begriff offenen Gemeinwohls allein dessen staatsrechtliche Gesetzmäßigkeit. Staatsrechtsmäßigkeit wird damit zum ausschließlichen Kriterium der verfassungsgemäßen Gemeinwohlverwirklichung durch der Staat“, S. 248. 106 K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 253. 107 K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 384 ff., 393 ff. 108 K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 254. 109 K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 255 ff. 110 K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 319. 111 Grundsätzlich gäbe es drei Funktionsweisen der staatlichen Wirtschaftslenkung: erstens, die über den Wettbewerb; zweitens könne der Staat aus nationalen Gründen bestimmte Wirtschaftszweige entwickeln, fördern oder zurück drängen, um dadurch einer normalen Entwicklung, die sich nach den Kräften des Marktes ergeben würde, entgegenzuwirken; und drittens könne sich der Staat als Platzhalter des Wettbewerbs verstehen, um durch die Ordnung der Wirtschaftsabläufe die Ergebnisse zu erzielen, die sich einspielen würden, wenn Wettbewerb existierte, das Wettbewerbsprinzip sich aber praktisch nicht anwenden läßt, R. Blum, Soziale Marktwirtschaft, S. 59. Im letztgenannten Fall könne von einer „Wirtschaftspolitik des Als-Ob“ gesprochen werden, S. 77. 112 H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 473.
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Die Frage nach einem durch die Verfassung festgelegten oder (vor-)bestimmten oder anzustrebenden wirtschafts- und ordnungspolitischen Modell stellt sich demnach nicht. Der Gesetzgeber kann jede Wirtschaftspolitik verfolgen, die er für die Gemeinwohlmaterialisierung für sachlich erforderlich und angemessen hält, sofern er dabei das Grundgesetz, insbesondere die Grundrechte, die verfassungsgemäßen Verfahrensregeln bei der Gesetzgebung, die materiellen Verfassungsprinzipien wie etwa das Sozialprinzip und den Grundsatz der Privatheit der Lebensbewältigung beachtet. Der wirtschaftspolitische Gesetzgeber ist damit an prinzipielle Leitentscheidungen des Grundgesetzes gebunden. Aus denen lassen sich aber keine Aussagen zu einem ökonomischen Modell herleiten, das für das Wirtschaftsgeschehen und die politischen Steuerungs- und Einflußmöglichkeiten des Gesetzgebers einen normativen Orientierungsrahmen abgeben könnte. Jedes Modell wird zur Komplexitätsreduzierung gebildet, reduziert die Wirklichkeit damit aber stets auf eine Formelmäßigkeit, die nur in den wenigsten konkreten Anwendungsfällen sachgerecht sein kann. Wirtschaftsverfassung beinhaltet die Kompetenzen des Staates für die Intervention im Bereich der Wirtschaft sowie die Grundrechte der Bürger, damit sie in ökonomischer Hinsicht ihre selbst- und alleinbestimmten Vorstellungen vom guten Leben und Glück verwirklichen. Welche Kompetenzen und Grundrechte dies sind, hängt lagebedingt vom konkreten Einzelfall ab. Das schließt nun nicht aus, daß es Grundrechte gibt, welche einen sehr engen Bezug zum Bereich der Wirtschaft aufweisen, wie etwa die Berufsfreiheit des Art. 12 GG und die Eigentumsgewährleistung des Art. 14 GG, und weswegen sie mit Recht auch als Wirtschaftsgrundrechte bezeichnet werden. Aber es gibt eben auch andere Grundrechte, welche keinen vordergründig wirtschaftlichen Bezug haben, wie etwa Art. 4 Abs. 1 GG, als sogenannte Religionsfreiheit113 dogmatisiert, welche auch die wirtschaftliche Betätigung der caritativen Organisationen der Kirchen schützt114. Wenn also im folgenden dem allgemeinen Sprachgebrauch gemäß von Wirtschaftsverfassung die Rede ist, so soll damit nicht eine in sich geschlossene verfassungsrechtliche Teilordnung im Sinne Franz Böhms gemeint sein. Wirtschaftsverfassung umfaßt somit alle verfassungsrechtlichen Regelungen, welche den Bürger als homo oeconomicus betreffen können.115 Und dies ergibt sich, wie gesagt, lagebedingt nach dem konkreten Einzelfall und ist eine Frage der Sachlichkeit, der praktischen Vernunft. 113 Dazu ausführlich K. A. Schachtschneider, Grenzen der Religionsfreiheit am Beispiel des Islam, zur Religionsfreiheit in der Praxis S. 15 ff. 114 Zur Religionsfreiheit und den Wirtschaftsgrundrechten der Diakonie als Unternehmen K. A. Schachtschneider, Aspekte der Innovation in der Diakonie aus staats- und wettbewerblicher Sicht, in: ders., Freiheit – Recht – Staat, S. 348 ff., 354 ff. 115 R. Schmidt, Wirtschaftspolitik und Verfassung – Grundprobleme, S. 135: „Die Verteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern, der bis auf die Gemeinden durchgreifende Finanzausgleich, die Prinzipien der Sozialstaatlichkeit, der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie; die allgemeinen Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der Erforderlichkeit, der Geeignetheit und der Subsidiarität; die speziellen Probleme der
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III. Die Marktliche Sozialwirtschaft Der Vorrang der Privatheit der Lebensbewältigung bedeutet auch die bestmögliche Marktlichkeit der Wirtschaft, um den republikanischen Grundprinzipien der Freiheit und des Eigentums zu genügen. Das Markt- und Wettbewerbsprinzip ist aber nicht der einzige und nicht zwingend der beste Weg zur Lösung ökonomischer Probleme116, neben dem Markt- und Wettbewerbsprinzip sind eben auch das Bedarfs- und das Leistungsprinzip117 zu beachten. Welches Prinzip zum Tragen kommen sollte, ist Sache der praktischen Vernunft und der politischen Klugheit, damit also in erster Linie Sache des Gesetzgebers. Und es sind die Gesetze, die Inhalt und Schranken des Eigentums bestimmen (Art. 14 Abs.1 S.2 GG). Die Eigentumsgewährleistung des Art. 14 GG läßt sich nicht liberalistisch oder neoliberal konzipieren. Die Politik ist dem höchstrangigen Sozialprinzip verpflichtet; denn die Bundesrepublik Deutschland ist ausweislich Art. 20 Abs. 1 GG Sozialstaat. Neben der Privatnützigkeit des Eigentums118 steht gleichrangig seine Sozialpflichtigkeit: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen“ (Art. 14 Abs. 2 GG). Leitprinzip des Eigentumsgebrauchs ist damit der kategorische Imperativ119. In der Republik hat demnach das Eigentum trotz aller Privatnützigkeit eine dienende Funktion, welche desto stärker zur Geltung kommen muß, je mehr der Eigentumsgebrauch für das Gemeinwesen, die Bürgerschaft, von allgemeiner Bedeutung ist. Die Bayerische Verfassung von 1946 bringt das in Art. 151 in aller Klarheit zum Ausdruck: (1) Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl, insbesondere der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle und der allmählichen Erhöhung der Lebenshaltung aller Volksschichten. (2) Innerhalb dieser Zwecke gilt Vertragsfreiheit nach Maßgabe der Gesetze. Die Freiheit der Entwicklung persönlicher Entschlußkraft und die Freiheit der selbständigen Betätigung des einzelnen in der Wirtschaft werden grundsätzlich anerkannt. Die wirtschaftliche Freiheit des einzelnen findet ihre Grenze in der Rücksicht auf den Nächsten und auf die sittlichen Forderungen des Gemeinwohls. Gemeinschädliche und unsittliche Rechtsgeschäfte,
Übertragung rechtsetzender Gewalt auf die Exekutive, der Ausdehnung des Vorbehalts des Gesetzes auf die Leistungspolitik durch Steuern, Haushaltsgesetz und Subventionen und schließlich das grundsätzliche Verhältnis des Staates zur Gesellschaft, wie es mit der konzertierten Aktion und Hearing-Praktiken angesprochen wird, alle diese und zahlreiche weitere Fragenkreise gehören zur Wirtschaftsverfassung.“ 116 Es gibt keinen Beweis dafür, daß der Wettbewerb für die Allgemeinheit stets das beste Ergebnis hervorbringt, H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 472. 117 Dazu K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS für W. Leisner, S. 755 ff. 118 BVerfGE 1, 15 (17); 8, 71 (80); 24, 367 (390); 50, 290 (339); st. Rspr. 119 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 565 ff., 572.
III. Die Marktliche Sozialwirtschaft
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insbesondere alle wirtschaftlichen Ausbeutungsverträge sind rechtswidrig und nichtig. Das stimmt mit der katholischen Soziallehre, etwa in der Formulierung der Enzyklika Quadragesimo Anno des Papstes Pius XI genauso überein wie mit der protestantischen Ethik120, welche Kant ausgearbeitet hat121. Das wirtschaftspolitische Paradigma des Grundgesetzes ist das einer marktlichen Sozialwirtschaft122. Ein Wettbewerbsprinzip nennt das Grundgesetz jedenfalls nicht. Im Gegensatz dazu ist die Europäische Union durch Art. 120 S. 2 und Art. 127 Abs. 1 S. 3 AEUV dem „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ und den Wettbewerbsregeln des Art. 101 ff. AEUV und somit dem Wettbewerbsprinzip verpflichtet. Es kann als richtig hingestellt bleiben, daß das Wettbewerbsprinzip funktionale Bedeutung für die Wohlfahrt eines Gemeinwesens hat, weil es zu einer gesamtoder volkswirtschaftlich höheren Effizienz als andere Wirtschaftsformen und eben dadurch zu Wohlfahrtsgewinnen führt. Der Wettbewerb ist also funktional staatlich, weil dadurch die Verwirklichung des Allgemeinen, also des Staatlichen, erreicht werden soll, und dies über die allgemeinen Wettbewerbsgesetze und Wettbewerbsregeln. Diese aber betreffen die institutionell Privaten, weil sie deren Handlungsmaximen bestimmen. Das funktional Staatliche soll demnach über die Handlungsweisen und Handlungen institutionell Privater als Wirtschaftsbürger erreicht werden können123. Allerdings sollen die institutionell Privaten nicht unmittelbar das funktional Staatliche verwirklichen, sondern sie dürfen ihre Handlungsmaximen selbst und allein materialisieren, also das funktional Private verwirklichen, eben die eigenen Vorstellungen vom guten Leben verfolgen. Alles andere wäre nämlich zentralverwaltungswirtschaftlich124, weil die Privaten auf das allgemeine Beste hin ihre Handlungen und individuellen Wirtschaftsplänen ausrichten müßten. Das würde den Einzelnen aber völlig überfordern. Die aggregierten Maximalnutzen der Individuen entsprechen nicht per se dem Allgemeinwohl, dem allgemeinen Besten, wie auch die volonté des tous nicht die volonté 120 Zur Berufsethik des asketischen Protestantismus M. Weber, Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, S. 139 ff. 121 Ganz so R. Marx, Das Kapital. Ein Plädoyer für den Menschen, S. 174. 122 K. A. Schachtschneider, Wirtschaftsverfassung mit Welthandelsordnung, S. 25 ff. 123 Privatheit und Staatlichkeit sind formale Begriffe K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 449 ff. 124 Und damit despotisch: „Eine Regierung, die auf dem Prinzip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre, d. i. eine väterliche Regierung (imperium paternale), wo die Untertanen als unmündige Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaft nützlich oder schädlich ist, sich bloß passiv zu verhalten genötigt sind, um, wie sie glücklich sein sollen, bloß von dem Urteile des Staatsoberhauptes, und daß dieser es auch wolle, bloß von seiner Gütigkeit zu erwarten: ist der größte denkbare Despotismus (Verfassung, die alle Freiheit der Untertanen, die alsdann gar keine Recht haben, aufhebt)“, Kant, Über den Gemeinspruch, S. 146 f.
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4. Kap.: Der Wettbewerb als Bestandteil des Privatheitsprinzips
générale ist125 Dieses Allgemeine aber kann sich nur aus den allgemeinen Gesetzen und nicht aus dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb ergeben. Das Wettbewerbsprinzip ist keine ultima ratio, weil der Wettbewerb nicht mit Notwendigkeit zum allgemeinen Besten führt. Zwar gibt es eine Gerechtigkeitsvermutung zugunsten der Verteilung von Gütern und Einkommen am Markt, allemal unter Wettbewerbsbedingungen, Beurteilungsmaßstab ist aber das grundgesetzlich höchstrangige Sozialprinzip.
IV. Privatheitsprinzip und Marktlichkeit Das Grundgesetz verpflichtet zur marktlichen Sozialwirtschaft und nicht zum Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb. In der Republik, wie sie das Grundgesetz verfaßt, muß um der Freiheit und damit der Menschheit der Menschen willen die Wirtschaftsordnung der Privatheit genügen, soweit das Sozialprinzip dies zuläßt126. Diese Privatheit führt ohne weitere Regelungen zur Marktlichkeit. Der Gesetzgeber ist befugt und hat die Aufgabe, die Staatlichkeit und die Privatheitlichkeit der Lebensbewältigung zu bestimmen. Dabei hat er den Grundsatz und damit den Vorrang der Privatheit der Lebensbewältigung zu respektieren. Das zeigt Art. 2 Abs. 1 GG. Daraus ergibt sich aber kein Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb. Das Privatheitsprinzip läßt sich nämlich auch anders als mittels eines Marktes mit Wettbewerb verwirklichen. So war etwa die freiberufliche Tätigkeit lange Zeit im Grundsatz ständisch, nicht aber marktlich und wettbewerblich geordnet. Heute erbringen die Vertragsärzte in der gesetzlichen Krankenversicherung ihre Leistungen den Patienten, den Mitgliedern der gesetzlichen Krankenkassen, nicht wesentlich im Wettbewerb. Im System der gesetzlichen Krankenkassen wird mit verschiedenen Instrumenten, insbesondere dem der Budgetierung, im Interesse der Beitragssatzstabilität die Leistungsmenge gesteuert, ohne daß dadurch ihre Privatheit aufgehoben wäre127. Auch die Landwirtschaft, welche durch die Europäischen Marktordnungen geregelt ist, ist privatheitlich. Die Landwirte sind gemäß § 14 Abs. 1 BGB Unternehmer, deren unternehmerisches Handeln aber keinen eigentlichen Wettbewerb hervorbringt, weil sowohl ihre Produktion als auch ihre Distribution derart geregelt ist, daß ein landwirtschaftlicher Unternehmer anderen nur in sehr engen Grenzen den Umsatz streitig machen kann. Die Ordnung der Landwirtschaft folgt sehr weitgehend dem Fichte’schen Modell des
125 J. J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 31 f.; zum Gesamtinteresse des Volkes K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 655 ff. 126 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 471 ff.; ders., Res publica res populi, S. 387 ff. 127 Dazu W. Hankel/K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Revolution der Krankenversicherung. Prinzipien, Thesen und Gesetz, 2002.
V. Sittliche Verpflichtung allen Handelns
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geschlossenen Handelsstaates128, ohne daß dadurch die Privatheitlichkeit der Landwirte aufgehoben wäre. Die Privatheitlichkeit der Lebensbewältigung läßt sich in der Wirtschaft eben auch ohne Marktlichkeit und Wettbewerblichkeit durch den Gesetzgeber regeln, Markt freilich wettbewerblich verstanden und nicht im Sinne unionsrechtlicher Marktordnungen.
V. Sittliche Verpflichtung allen Handelns Die Freiheit des Menschen, sei sie nun staatlich oder privat verwirklich, ist untrennbar mit dem Sozialprinzip verbunden. Freies Handeln, welches sein Gesetz nicht im kategorischen Imperativ hat, ist nicht denkbar, weil dies kein Handeln als Vernunftwesen, kein Handeln in praktischer Vernunft ist. Vom Menschen als einem Wesen in einer Gemeinschaft von anderen Menschen kann nicht abstrahiert werden. Der kategorische Imperativ bedeutet immer die Einbeziehung des Anderen, die Brüderlichkeit, die Nächstenliebe, und in Bezug auf die vereinigte Bürgerschaft, die Republik nämlich, das Sozialprinzip. Freies Handeln ist sittliches Handeln, und etwas Anderes schützt das Grundgesetz ausweislich Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG nicht. Die freiheitlich vom Sozialprinzip bestimmten Begriffe von Eigentum und Freiheit erlauben eine dogmatische Einheit der Grundprinzipien der Republik, wie sie das Grundgesetz in Art. 20 Abs. 1 GG verfaßt, nämlich die Einheit des demokratischen, des sozialen und des rechtsstaatlichen, aber auch des föderativen Prinzips und des republikanischen Prinzips, zusammengefaßt des Rechtsprinzips. Nur an einer Europäischen Union, welche diesem Rechtsprinzip genügt, darf die Bundesrepublik Deutschland ausweislich Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG mitwirken, um ein vereinigtes Europa zu verwirklichen. Nichts anderes lassen auch die Art. 1 und 20 GG nach Maßgabe der sogenannten Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG zu, welche die Verfassung der Deutschen formulieren. Ein liberalistischer Freiheitsbegriff, der mit einem Herrschaftsprinzip verbunden ist und die Freiheit von der Sittlichkeit löst, ist völlig unvereinbar mit dem demokratischen Prinzip, unvereinbar mit dem Sozialprinzip und unvereinbar mit dem Rechtsprinzip, weil er die staatliche wie die private Lebensverwirklichung der Herrschaft ausliefert und gerade nicht der praktischen Vernunft verpflichtet. Auf einem solchen Freiheitsbegriff läßt sich keine Republik bauen, das Gemeinwesen freier Menschen, die Gemeinschaft der Bürger als freier Bürgerschaft.
128 J. G. Fichte, Der geschlossene Handelsstaat, Ein philosophischer Entwurf als Anhang zu Rechtslehre und Probe einer künftig zu liefernden Politik, 1800, 1922.
5. Kapitel
Wettbewerb der Unternehmen als Faktum und als Rechtsprinzip: Karl Albrecht Schachtschneiders republikanische Wettbewerbslehre Karl Albrecht Schachtschneider hat mit seiner Wettbewerbslehre einen wichtigen Beitrag zu einer allgemeinen Republiklehre geleistet. Seine republikanische Wettbewerbskonzeption richtet sich gegen eine liberalistische Begründung von Marktwirtschaft und Wettbewerb sowie gegen eine demgemäße Gesetzgebung zum Wettbewerb und gegen eine entsprechende Administration des Wettbewerbs, insbesondere im Rahmen der Rechtsetzungs- und Verwaltungspraxis der Europäischen Union. Es ist durchaus nicht überhöht, seine Wettbewerbslehre als „vernunftkritisch“ (ganz im Sinne Kants) zu bezeichnen; denn die Grundlage und Zielrichtung seiner Argumentation ist auch dabei die Freiheit und die Gleichheit in der Freiheit des Einzelnen als Mensch und Bürger in einem freiheitlichen Gemeinwesen, der Republik. In diesem Kapitel wird die republikanische Wettbewerbslehre Karl Albrecht Schachtschneiders dargestellt. Dabei sind wesentliche Passagen seiner Schrift: „Verfassungsrecht der Europäischen Union, Teil 2, Wirtschaftsverfassung mit Welthandelsordnung“ aus § 6 (Wettbewerbspolitik, S. 258 ff.) und § 7 (Administration wirksamen Wettbewerbs, S. 294 ff.) entnommen.
I. Wettbewerb als Faktum geordneten Unternehmertums 1. Wettkampf als Paradigma Ein Wettkampf von Läufern ergibt sich erst, wenn zwei Läufer um den Sieg laufen. Ein Wettkampf ist das auch nur, wenn beide Läufer gleiche Chancen zu siegen haben, wenn also der gemeinsame Lauf um den Sieg fair geregelt ist. Selbst wenn einer der beiden Läufer einen Vorsprung bekommt, weil er schwächer ist, ist das ein Wettkampf. Auch ist der Siegeswillen jedes der beiden Läufer eine notwendige Voraussetzung allen Wettkampfes. Wettkampf setzt die verbindliche Ordnung voraus, also die Wettkampfordnung. Es ist kein Wettkampf mehr, wenn selbst der schnellere Läufer gegenüber dem langsameren Läufer aufgrund der Laufregelung keine Chance hat, den Lauf zu gewinnen. Eine solche Auseinandersetzung widerspricht nicht nur dem Fairneßprinzip, das aus dem Gleichbehandlungsprinzip1 erwächst, sondern verletzt mit der Sittlichkeit, dem katego1
J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 283 ff.
I. Wettbewerb als Faktum geordneten Unternehmertums
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rischen Imperativ, auch die Menschenwürde. Das ist eine Verhöhnung des Wettkampfprinzips, welches das menschliche Leistungsprinzip mit dem ebenso menschlichen Gleichheitsprinzip verbindet2. Konkurrenz (concurrere – zusammenlaufen/treffen) ohne Chancengleichheit ist rechtlos, nämlich Willkür, also grobes Unrecht3. Diese Überlegungen zum sportlichen Wettbewerb sind auch für das Verständnis des unternehmerischen Wettbewerbs hilfreich. 2. Neben-, Gegen- oder Miteinander der Unternehmer Unternehmer handeln, um ein Ziel zu erreichen, typischerweise Gewinn, sei es kurz-, mittel- oder langfristig. Sie handeln unternehmensspezifisch, aber in einer Vielfalt von Handlungsweisen. Sie stellen Produkte her und vertreiben diese, sie werben für ihre Angebote, bieten diese an und erbringen ihre Leistungen dem Abnehmer, falls sie einen solchen gefunden haben und diesen zur Abnahme zu verpflichten vermochten. Eine Abnahmeverpflichtung wird selten durch Rechtsvorschriften begründet wie durch die Agrarmarktordnungen4, oder durch das Gesetz für den Vorrang Erneuerbarer Energien vom 25. Oktober 2008 (§ 8 EEG), sondern regelmäßig durch Vertrag. Der Abnehmer hat (ebenso wie der Anbieter) die Vertragsfreiheit und kann sich für die Annahme der Leistung eines anderen Anbieters entscheiden, falls er einen anderen Anbieter findet, der die gleiche Leistung oder eine Leistung, welche die Leistung surrogiert, zu erbringen vermag. Erst durch das zweifache oder mehrfache Angebot entsteht Wettbewerb. Es gibt nicht nur diesen Angebotswettbewerb, sondern auch den Nachfragewettbewerb, in dem zwei oder mehrere Nachfrager den Anbieter zur Leistung verpflichten wollen, der sie aber nur einmal erbringen kann. Der Unternehmer (als Anbieter oder Nachfrager) bemüht sich um den Vertrag, den er auch erfüllen können muß, aber sein Handeln ist nicht spezifisch das Wettbewerben. Erst der oder die anderen Unternehmer, welcher bzw. welche die gleiche oder vergleichbare Leistung anbieten, um den Vertrag zu schließen, den nur einer von den Unternehmern schließen kann (Zielkongruenz), führen zum Wettbewerb. Das „Unternehmertum“, das „allen Menschen eigen“ ist5, bringt den Marktprozeß hervor. „Wett2 K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, Kritik der Fiskustheorie, exemplifiziert an § 1 UWG, S. 323 ff. 3 Zum Willkürbegriff als grobes Unrecht P. Kirchhof, Der allgemeine Gleichheitssatz, HStR, Bd. V, § 129, Rdn. 235 ff. 4 Für Getreide, Reis, Zucker, Olivenöl und Tafeloliven, Rindfleisch, Milch und Milcherzeugnisse, Schweinefleisch, Schaf- und Ziegenfleisch gemäß festgesetzten Referenzgrenzen; VO EG Nr. 1234/2007 des Rates vom 22.10.2007 über die gemeinsame Organisation der Agrarmärkte und mit Sondervorschriften für bestimme landwirtschaftliche Erzeugnisse (Verordnung über die einheitliche GMO) näherhin Teil II (Binnenmarkt) Titel I (Marktintervention) Kapitel I (Öffentliche Intervention und private Lagerhaltung), Abl. L 299/1, Art. 6 ff. 5 Zum Begriff des Unternehmens und der Unternehmers grundsätzlich W. Freitag, Unternehmen in der Republik, S. 157 ff.
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5. Kap.: Wettbewerb der Unternehmen als Faktum und als Rechtsprinzip
bewerb“ und Unternehmertum sind so „zwei Seiten einer Medaille“, der des „Marktprozesses“. Der Wettbewerb ist somit ein Faktum, das sich aus der Mehrheit des Angebots gleicher oder austauschbarer Leistungen ergibt, unter denen die jeweilige Marktgegenseite, nämlich Nachfrager oder Anbieter, wählen können. Auch die Chance zum Markteinstieg muß man als Wettbewerbslage insbesondere eines Monopols ansehen. Wie das Laufen zum Wettkampf führt, schafft die Rivalität der Konkurrenten den Wettbewerb. Die Marktgegenseite entscheidet, welcher der Unternehmer das Geschäft macht, nach der Vorstellung der Wettbewerbstheoretiker (und bisweilen auch in der Praxis) derjenige, der das bessere Angebot unterbreitet, insbesondere den geringeren Preis für die gleiche oder sogar bessere Leistung verlangt. Das ist freilich Modelltheorie, nicht Empirie6. Das allseitige Streben nach Glück kann zum Wettbewerb führen. Das entspricht der Natur des Menschen7. Kant hat die neuronale Natur des Menschen noch nicht gekannt und formuliert: „Dank sei der Natur für die Unvertragsamkeiten, für die mißgünstige wetteifernde Eitelkeit, für die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben, oder auch zum Herrschen. Ohne sie würden die vortrefflichen Naturanlagen in der Menschheit ewig unterentwickelt schlummern. Der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß es besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht“ 8. Der Wille zur Eintracht ist das lebenswichtige Bedürfnis nach Zusammenarbeit, das freilich den Wettbewerb nicht ausschließt, wie das Leben zeigt.
II. Pflicht zum und Recht auf Wettbewerb? Der Wettbewerb ist also Folge privaten unternehmerischen Handelns, nicht verfassungsgesetzliche Aufgabe oder Verwirklichungspflicht des Staates. Deswegen ist es auch nicht richtig, dem Grundgesetz eine (soziale) Marktwirtschaft als Wirtschaftsordnung unterschieben zu wollen. Eine solche würde ein Wettbewerbsprinzip mit sich bringen, das es erlauben würde, in irgendeiner Weise von einer Wettbewerbsfreiheit zu sprechen. Das Gemeinwesen hat Interesse am Wettbewerb, weil und insoweit vom Wettbewerb der Unternehmen bestmöglich Leistungen der Wirtschaft erwartet werden, eine kontingente Erwartung. Demgemäß darf der Staat schon wegen des verfassungsrechtlichen Sozialprinzips, das auch den allseitigen Wohlstand zu fördern gebietet, den Wettbewerb der Unternehmen gemeinwohlverträglich gestalten. Das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen und erst recht die Wettbewerbsregeln der Europäischen Union sind allerdings ihrem Zweck nach und mehr noch in ihrer Praxis um Veranstaltung des Wettbe6 E. Hoppmann, Wettbewerbspolitik in Deutschland, Unternehmer zwischen Markt und Staat, S. 192, in: ders., Wirtschaftsordnung und Wettbewerb. 7 Dazu ironisierend H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S.482. 8 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 38 f.
II. Pflicht zum und Recht auf Wettbewerb?
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werbs bemüht, mit wenig Erfolg. Wettbewerbspolitik erlaubt es somit, die Wirtschaftsgrundrechte, die (materiale) Handlungsfreiheit (selbstverständlich nicht die formale Freiheit) usw. einzuschränken; dabei dürfen aber die Grundrechte nicht verletzt werden. Die Substanz der Wirtschaftsgrundrechte ist die grundsätzliche Privatheit auch der Wirtschaft, also eine Unternehmensfreiheit, die durch Privatheit gekennzeichnet ist. Es kann keine Pflicht zum Wettbewerb9 und darum auch kein Recht auf Wettbewerb geben, solange und soweit das unternehmerische Handeln privatheitlich, also selbst- und alleinbestimmt ist10. Ein Rechtssatz, der Menschen zum Wettbewerb berechtigen oder verpflichten wollte, wäre menschheitswidrig. Es gibt einen solchen Rechtssatz nicht11. Das Wettbewerbsprinzip bringt keinen Rechtssatz hervor, der geböte, Wettbewerb zu betreiben, wettbewerblich zu handeln. Wettbewerb müßte als Gegenstand eines besonderen Rechtssatzes selbst eine besonders geregelte Handlungsweise sein, etwa die des Rivalisierens. Dieses ist aber eine unternehmerische Handlungsweise unter mannigfachen anderen und als Unternehmensfreiheit durch Art. 16 Grundrechtecharta der Europäischen Union schwach und wenig klar geschützt: „Die unternehmerische Freiheit wird nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften anerkannt“. Die Freiheit, welche das Recht einschließt, sein Glück im Rahmen der Gesetze alleinbestimmt zu suchen, die freiheitliche Privatheit12, ist die Grundlage des Rechts aller Menschen, ihr Leben zu unternehmen, und damit die Grundlage des gemeinsamen Lebens, das Wettbewerb mit sich bringen kann, auch insbesondere den Wettbewerb der Unternehmer im engeren Sinne des Wettbewerbsrechts. Die Privatheitlichkeit ist somit die wesentliche Voraussetzung des Wettbewerbs und dessen alleiniges Rechtsprinzip. Darum spricht das Bundesverfassungsgericht auch nur vom Recht auf „Teilhabe am Wettbewerb nach Maßgabe seiner Funktionsbedingungen“ 13. Dies aber setzt den Wettbewerb als Faktum voraus. Ein Recht auf Wettbewerb hätte dagegen zum Inhalt, daß die Unternehmer Dritte oder der Staat Private verpflichten könnten, sich durch konkurrierende Angebote oder konkurrierende Nachfrage in Rivalität und damit in gewollten Wettbewerb um be9 F. Böhm, Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, S. 256, sieht eine (wahrlich schiefe) „Parallele“ zum Wahlrecht: es werde gewährt, damit freie Wahlvorgänge stattfänden. Gleichwohl bestünde keine gesetzliche Pflicht zur Wahl. Ebenso verhielte es sich mit dem Wettbewerb: Wettbewerbsfreiheit werde gewährt, damit tatsächlicher Wettbewerb stattfinden könne. 10 Gegen eine Wettbewerbspflicht auch F. Böhm, Wettbewerbsfreiheit und Kartellfreiheit, in: Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, S. 256, aber für die Wettbewerbsfreiheit, S. 233 ff.; E.-J. Mestmäcker/H. Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, § 2, Rdn. 73 f., S. 72, Rdn. 5, S. 262. 11 H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 467 ff.; E.-J. Mestmäcker/H. Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, § 2, Rdn. 74, S. 72, § 10, Rdn. 5, S. 262. 12 Zum Begriff der Privatheit K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 455; ders., Der Anspruch auf materiale Privatisierung, S. 40 ff., 44 ff. 13 BVerfGE 105, 252, (265 f.); i. d. S. auch BVerfGE 110, 274 (288 ff.).
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5. Kap.: Wettbewerb der Unternehmen als Faktum und als Rechtsprinzip
stimmte Geschäfte oder Marktanteile zu begeben14. Es gibt aber nicht einmal eine Unternehmenspflicht, jedenfalls keine zu einem bestimmten Unternehmen oder zu bestimmtem unternehmerischen Handeln, wenn auch die Verhältnisse die Menschen zu unternehmerischem Handeln bestimmter Art nötigen können. Eine derartige Unternehmenspflicht, die irgendwie bestimmt oder von einer Administration bestimmt werden könnte, würde das menschheitliche Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, nüchterner formuliert, das Recht zu Handeln, wie man will, wenn man nur keinem anderen schadet, die Freiheit nämlich (vgl. Art. 4 der Erklärung der Menschen – und Bürgerrechte von 1789), mißachten. Wenn der Staat selbst konkurrierend anbietet oder nachfragt, ist das kein Wettbewerb, sondern wettbewerbsinadäquate Ingerenz15, etwa um einem Monopol die Wirkung zu nehmen. Eine Pflicht zum Wettbewerb setzt ebenfalls den rivalisierenden Konkurrenten voraus.
III. Wettbewerbsfreiheit? Die bemerkenswerte und vielfach, wenn nicht überwiegend vertretene Auffassung, unternehmerischer Wettbewerb lasse sich nicht definieren, überzeugt für einen verfassungsgesetzlichen Wettbewerbsbegriff nicht. Ein solcher kann dem Gesetzgeber eine verbindliche Orientierung für die Ordnung der Wirtschaft geben. Weil kein Rechtssatz spezifisch zum Wettbewerb berechtigt oder verpflichtet, gibt es entgegen verbreiteter Meinung auch kein besonders Grundrecht des Wettbewerbs16, also keine grundgesetzliche Wettbewerbsfreiheit, weder in der subjektiven noch gar in der objektiven Dimension eines Grundrechts. Freilich wird das Wort Wettbewerbsfreiheit mit ganz unterschiedlicher Begriffsmaterie benutzt, meist ohne Definition. 1. Wettbewerb als Entmachtung Wettbewerbsfreiheit meint zunächst eine Freiheit von Unternehmern17 und Verbrauchern18, Freiheit in den privaten Verhältnissen gegenüber anderen Unter14 Ein Läufer muß eben aus eigenem Antrieb am Wettkampf teilnehmen und auch siegen wollen. 15 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 395; ders., Der Anspruch auf materiale Privatisierung, S. 183 ff.; ders., Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 173 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 250, 496 f. 16 So aber BVerfGE 30, 191 (198); 60, 154 (159); 65, 167 (174); tendenziell auch BVerfGE 105, 252 (265 ff.); klar F. Böhm, Wettbewerbsfreiheit und Kartellfreiheit, S. 233 ff. (als Vertragsfreiheit); aber auch E.-J. Mestmäcker/H. Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, § 2, Rdn. 74, 81, 95, S. 72, 75, 81; § 10, Rdn. 5 f., S. 262 u. ö. 17 § 14 BGB: „(1) Unternehmer ist eine natürliche oder juristische Person oder eine rechtsfähige Personengesellschaft, die bei Abschluß eines Rechtsgeschäfts in Ausübung ihrer gewerblichen oder selbständigen beruflichen Tätigkeit handelt. (2) Eine rechtsfähige Personengesellschaft ist eine Personengesellschaft, die mit der Fähigkeit ausgestattet ist, Rechte zu erwerben und Verbindlichkeiten einzugehen.“
III. Wettbewerbsfreiheit?
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nehmern und auch Verbrauchern als substanzielle Privatheit. Erich Hoppmann identifiziert sogar Wettbewerbsfreiheit und Marktmacht als „alternative Begriffe“ 19, ein aufschlußreiches Mißverständnis von Freiheit. Im Antitrustrecht schützt Wettbewerbsfreiheit vor unternehmerischer Macht, welche vor allem den Verbrauchern die Vertragsmaterie aufzuzwingen ermöglicht. Wettbewerb soll die Vermachtung der Wirtschaft verhindern auch den Zwang von Unternehmen gegenüber anderen Unternehmern. Mit dem Antitrustrecht verwirklicht der Staat die rule of law gegen die freiheitsgefährdende Unternehmensmacht20. Demgemäß preist Franz Böhm den (preistheoretischen) „vollkommenen Wettbewerb“ als „großartigstes und genialstes Entmachtungsinstrument der Geschichte“ 21, die große Illusion des Ordoliberalismus vom Gleichgewicht der vollkommenen Konkurrenz („total statisch“, „Konkurrenz-Sozialismus“)22. Es gibt kein Leben ohne Macht, ohne Möglichkeiten des Handelns nämlich; Leben erfordert Handlungsmächtigkeit, „Kausalität durch Freiheit“ als „Faktum der reinen Vernunft“ 23. Die Möglichkeit jedes Menschen, jedes Unternehmers, sind andere, und die Möglichkeiten sind unterschiedlich. Die Macht, die wesentlich unterschiedlich ist, hat Erich Hoppmann als Voraussetzung von Wettbewerb erkannt; „Machtlosigkeit“ oder „Machtgleichheit“ sind ein „wettbewerbsloser Zustand“ 24. Der deutsche Gesetzgeber hat, vornehmlich ordoliberal belehrt, das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen gegen die Entfaltung und den Mißbrauch von Wirtschaftsmacht in Stellung gebracht25, nämlich das Kartellverbot, die Mißbrauchsaufsicht und schließlich die Fusionskontrolle. Ziel des Gesetzes war die „Erhaltung der vollständigen Konkurrenz in einem möglichst großem Umfang“ 26. Unternehmerisches Handeln kann zum Wettbewerb führen und nötigt, weil es die Welt der anderen Unternehmer ändert, wie im übrigen alles Handeln nötigt, nämlich Wir18 § 13 BGB: „Verbraucher ist jede natürliche Person, die ein Rechtsgeschäft zu einem Zweck abschließt, der weder ihrer gewerblichen noch ihrer beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden kann.“ 19 E. Hoppmann, Zum Problem einer wirtschaftspolitisch praktikablen Definition des Wettbewerbs, in: ders., Wirtschaftsordnung und Wettbewerb, S. 242; allgemein so ders., Freiheit und Ordnung in der Demokratie, daselbst, S. 149 (für persönliche Freiheit). 20 N. Neumann, Wettbewerbspolitik, Geschichte, Theorie und Praxis, S. 36 ff. 21 F. Böhm, Wettbewerb und Monopolkampf, S. 179; zustimmend auch für die unvollständige Konkurrenz, E.-J. Mestmäcker/H. Schweitzer, Europäisches Verfassungsrecht § 2, Rdn. 99, S. 82 (Mestmäcker ist Schüler F. Böhms). 22 J. Stiglitz, Die Chancen der Globalisierung, S. 98 („mythische Welt vollkommener Märkte“); zur Orientierung nützliches Modell meint M. Neumann, Wettbewerbspolitik, S. 7, 12, 33. 23 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 161, 163; dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 256 ff., 333 ff.; L.-W. Beck, Kants „Kritik der praktischen Vernunft“, S. 169 ff. 24 E. Hoppmann, Marktmacht und Wettbewerb, in: ders., Wirtschaftsordnung und Wettbewerb, S. 228 ff. 25 Vgl. E. Hoppmann, Zum Schutzobjekt des GWB, S. 81 ff., 87 ff. 26 BT-Drs. II/1258, S. 22.
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5. Kap.: Wettbewerb der Unternehmen als Faktum und als Rechtsprinzip
kung (Kausalität) auf andere, letztlich auf alle, hat. Äußere Freiheit ist aber die „Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür“ (Kant). Freiheit ist ein Lebens- und damit ein Rechtsprinzip. Der Bürger ist dem Staat gegenüber durch verschiedene Grundrechte, vor allem durch die allgemeine Freiheit des Art. 2 Abs. 1 GG geschützt. Wesentlich für das Freiheitsverständnis im gemeinsamen Leben mit anderen Menschen ist, daß die Freiheit nicht individualistisch als vorstaatliche, vorbürgerliche „wilde“ Freiheit (miß-)verstanden wird, weil sonst die Menschen durch all ihr Handeln die Freiheit der anderen verletzen würden. Freiheit in einer menschlichen Gemeinschaft und damit im Staat ist nur die allgemeine Freiheit, welche durch die freiheitliche Gesetzlichkeit aller Bürger und Menschen gekennzeichnet ist. Sie ist ohne die Gesetzlichkeit als Gesetze aller Bürger nicht denkbar und darum ist die äußere Freiheit eine Einheit mit der inneren Freiheit, der Sittlichkeit, deren Gesetz der kategorische Imperativ, das Rechtsprinzip ist. Demgemäß definiert Kant das „einzige“ „angeborene Recht“: „Freiheit, (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür); sofern sie mit der Freiheit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige ursprünglich, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehende Recht“ 27. Diese Freiheit schützt Art. 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte28 und das Grundgesetz in Art. 2 Abs. 1. Die Wirklichkeit der Freiheit durch Gesetzlichkeit macht den Staat notwendig29. Die Gesetze begründen und begrenzen die Privatheit, die wiederum die unternehmerische Tätigkeit ermöglicht. Die Freiheit im Staat, die bürgerliche Freiheit, ist das Leben und Handeln unter den Gesetzen, die Gesetzlichkeit des gemeinsamen Lebens und damit die Unternehmensfreiheit als Recht, im Rahmen der Gesetze die eigenen unternehmerischen Zwecke zu verfolgen. Wenn Unternehmer die Gesetze achten, achten sie auch die Freiheit der anderen. Wettbewerbsfreiheit gegenüber anderen Unternehmern wäre demnach nichts anderes als, objektiv, die Rechtlichkeit des gemeinsamen Lebens, die allgemeine Gesetzlichkeit, und, subjektiv, das Recht auf Recht30. Folglich gibt es keine eigenständige Wettbewerbsfreiheit gegenüber anderen oder Dritten, welche zum Gesetzlichkeitsprinzip, zum Prinzip der Legalität, hinzukäme. Kein Unternehmer muß eine Wettbewerbsfrei27
Kant, Metaphysik der Sitten, S. 345. „Alle Menschen sind frei und gleich an Rechten und Würde geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“ Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1949 haben 193 Staaten mit ihrem Beitritt zu den Vereinten Nationen als rechtverbindlich anerkannt. Demnach kann die Freiheit jedes einzelnen und die Gleichheit aller in eben dieser Freiheit nach Maßgabe der Brüderlichkeit, der Sittlichkeit, durchaus als Weltrechtsprinzip gewertet werden, wenn auch die Menschenrechte mannigfach und weltweit verletzt werden. 29 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 345, 430 f.; ders., Zum ewigen Frieden, S. 203; K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 235 ff. 30 Dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 44 ff., 288 ff.; ders., Souveränität, S. 25, 257, 265, 370, 380, 512. 28
III. Wettbewerbsfreiheit?
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heit seiner Wettbewerber berücksichtigen, er muß vielmehr die Gesetze einhalten. Alles andere hätte auch absurd anmutende Konsequenzen: wäre ein Unternehmer verpflichtet, die Wettbewerbsfreiheit seiner Konkurrenten zu achten, führte dies zu dem Ergebnis, daß es ihm versagt bliebe, durch sein unternehmerisches Handeln seinen Konkurrenten vom Markt zu verdrängen und in seiner wirtschaftlichen und nach Maßgabe des Insolvenzrechts auch rechtlichen Existenz zu gefährden oder gar zu berauben. Auch dies wäre ein (weitgehend) wettbewerbsloser Zustand. Es kommt demnach nur auf die Legalität unternehmerischen Handels an: hält der verdrängende Unternehmer die Gesetze ein, ist der verdrängte Unternehmer nicht in seiner Freiheit verletzt; denn er hätte es besser machen können. Zu den Gesetzen können freilich auch Regelungen gehören, welche den Wettbewerb der Unternehmen (als Faktum) gegen dessen Beschränkungen zu schützen versuchen. Dieser Schutz des Wettbewerbs der „Privatrechtsgesellschaft“ 31 ist Sache des Staates und dessen Schutz bezwecken die Wettbewerbsregeln der Europäischen Union und das deutsche Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen. Das Problem ist, ob der Wettbewerb als solcher durch Gesetz rechtsstaatlich geschützt und gefördert werden kann. Kein Problem ist das Verbot wettbewerbsrelevanter Handlungen, etwa von Täuschungen und von Werbung32. Für einen Wettbewerb, der angestrebt wird, einem Sollwettbewerb, fehlt es aber bereits an einem materialisierenden Begriff, der hinreichend und damit auch rechtsstaatlich vollziehbar wäre. „Wirksamer Wettbewerb“, der Begriff der Unionspraxis33, ist dieser materialisierte Begriff nicht. Er ist nicht nur unbestimmt, sondern beansprucht, eine Entwicklung des Wettbewerbs vorhersehen zu können, die aber im Ungewissen liegt; denn der Wettbewerb ist ein „Entdeckungsverfahren“ 34. 2. Freiheit als Abwehrrecht gegen den Staat Wettbewerbsfreiheit als Abwehrgrundrecht, das vor Eingriffen des Staates in den Wettbewerb schützt, würde einen dahin gehenden Text voraussetzen. Als unbenanntes Freiheitsrecht, wie die Wettbewerbsfreiheit vielfach verstanden zu werden scheint, wäre sie ein fragwürdiges Grundrecht, weil zum einen der Wettbewerb, der vor dem Staat geschützt werden sollte, nicht hinreichend bestimmt 31 F. Böhm, Privatrechtsgesellschaft und Marktwirtschaft, ORDO 17. Bd. 1966, S. 75 ff.; ders., Wettbewerbsfreiheit und Kartellfreiheit, S. 233 ff. 32 „Die Vorschriften gegen den unlauteren Wettbewerb gewähren kein Ausschließlichkeitsrecht an einem bestimmten Schutzobjekt. Sie dienen der Verhinderung von Mißbräuchen im Konkurrenzkampf, indem sie den Wettbewerbern verbieten, sich in diesem Kampf unlauterer Mittel zu bedienen. Sie untersagen zwar gewisse wirtschaftliche Betätigungen ohne Rücksicht auf einen Verletzungserfolg, gehen aber davon aus, daß durch fragliche Handlungen schutzwürdige Interessen von Mitbewerbern beeinträchtigt werden können“, BGHZ 35, 329 (333). 33 K. A. Schachtschneider, Wirtschaftsverfassung mit Welthandelsordnung, S. 294 ff. 34 F. A. v. Hayek, Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, 1968.
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5. Kap.: Wettbewerb der Unternehmen als Faktum und als Rechtsprinzip
definiert werden könnte und zum anderen ein Gemeinwesen ein solches Recht nicht hinnehmen könnte; denn dadurch würde die Wirtschaftsverfassung festgelegt, die der Staat aber nach den Notwendigkeiten der Lage gestalten können muß. Das Grundgesetz verfaßt eben keine Marktwirtschaft, sondern eine marktliche Sozialwirtschaft. Das primäre Unionsrecht ist gespalten und die Unionspraxis (außer in der Agrarpolitik) marktwirtschaftlich (neoliberal). Freilich müßte, jedenfalls im deutschen Recht, ein Grundrecht der Wettbewerbsfreiheit einen Gesetzesvorbehalt haben. Im Übrigen wäre eine allgemeine Wettbewerbsfreiheit ein Widerspruch zur Sozialisierungsermächtigung des Art. 15 GG. Wettbewerb entfaltet sich durch die Tätigkeiten der Unternehmer, die sich auf die durch die sogenannten (Wirtschafts-)Grundrechte geschützte Unternehmensfreiheit berufen können. Diese ergeben ein Privatheitsprinzip, das zudem von den unionsrechtlichen Grundfreiheiten verstärkt wird35. Das Privatheitsprinzip hat Schutzwirkung für den Wettbewerb, freilich nur nach Maßgabe der Wirtschaftsgrundrechte. Eine Wettbewerbsfreiheit, etwa im Sinne eines verfassungsgeschützten Rechts, „sich durch freie Leistungskonkurrenz auf dem Markt gegenüber anderen Unternehmen durchzusetzen“ 36, macht das nicht aus. Das Bundesverfassungsgericht sieht demgemäß nur ein Recht auf „Teilhabe am Wettbewerb nach Maßgabe seiner Funktionsbedingungen“ 37, wie dieses auch gestaltet sei, durch die Berufsausübungsfreiheit des Art. 12 Abs.1 S. 2 GG geschützt. Die Reduzierung der Privatheit der Unternehmer, der Unternehmensfreiheit, auf eine Wettbewerbsfreiheit, wäre, abgesehen von dem Begriffsproblem, eine menschheitswidrige Verkürzung des freiheitlichen Privatheitsprinzips; denn der Mensch kann nicht verpflichtet werden, mit anderen zu rivalisieren. Er darf auch kooperieren. Er darf auch Bruder sein, seinen Nächsten lieben. Er soll das sogar. Eine irregeleitete Grundrechtsdogmatik würde der positiven Wettbewerbsfreiheit, eine negative an die Seite stellen38. 3. Freiheit als Schutzpflicht des Staates Mit der (vermeintlichen) Wettbewerbsfreiheit kann auch ein verfassungsgeschütztes Recht gegen den Staat auf Schutz und Förderung der Chance, am Wettbewerb teilzunehmen, postuliert werden. Diese Chance am Markt schützt der 35 Dazu K. A. Schachtschneider, Wirtschaftsverfassung mit Welthandelsordnung, S. 71 f. 36 So E. R. Huber, Der Streit um die Wirtschaftsverfassung, DÖV 1956, S. 137; folgend G. Dürig, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 2 Abs. 1, Rdn. 48. 37 BVerfGE 105, 252 (265 f.); i. d. S. auch BVerfGE 110, 274 (288 ff.); dazu K. A. Schachtschneider, Wirtschaftsverfassung mit Welthandelsordnung, S. 262 ff. 38 Im Sinne der fragwürdigen Dogmatik der negativen Freiheitsrechte, vgl. BAGE 20, 175 (207 ff., 215 ff.); 30, 195 (203); BVerfGE 50, 290 (366 ff.), 5, 7 (22), 57, 224 (245); 64, 208 (213 f.); 73, 261 (270); 84, 212 (224); 93, 352 (357); grundsätzliche Kritik M. Schuhmann, Negative Freiheitsrechte, zugleich ein Beitrag zur negativen Koalitionsfreiheit, S. 48 ff., 143 ff.
III. Wettbewerbsfreiheit?
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Staat denn auch dadurch, daß er bestimmte (sogenannte) Wettbewerbsbeschränkungen, etwa Behinderungen des Marktzutritts durch Nutzungs- oder Informationsverweigerung (§ 19 Abs. 2 Nr. 4 GWB) unterbindet, jedenfalls zu unterbinden versucht, freilich nicht um der Unternehmer willen, sondern um der Effizienz der Wirtschaft und auch um der Interessen der Verbraucher willen, schon lange um einer offenen Funktionalität des Wettbewerbs für das gemeine Wohl willen. Aus allen Grundrechten folgt die Pflicht des Staates, die grundrechtlichen Rechtsgüter auch gegenüber nichtstaatlicher Schädigung oder Gefährdung zu schützen39, nicht nur Leben, Gesundheit und Eigentum, sondern auch die wirtschaftliche Freiheit als Teil der Privatheit und damit die Vertragsfreiheit. Die Vertragsfreiheit unter den Menschen und Unternehmern wird auch beeinträchtigt, wenn private Maßnahmen des Dritten unmöglich machen oder erschweren, freie Verträge zu schließen. Das ist der Grund des freilich immer schon relativierten und jetzt durch die Legalausnahme (Art. 1 Abs. 1 und 2 VO EG 1/2003; §§ 2 f., 22 GWB) effizienzpolitisch entrechtlichten Kartellverbots. Gesetzliche Regelungen zum Schutz der Vertragsfreiheit sind dem formalen Charakter der Freiheit gemäß immer zugleich Einschränkungen der Vertragsfreiheit anderer, wie das durch Richtlinien der Union erzwungene allgemeine Gleichbehandlungsgesetz vom 14. August 2006 (BGBl. I, S. 1887) zeigt, das Diskriminierungen wegen vielerlei Umstände unterbinden soll. Die Vertragsfreiheit ist aber die wesentliche Grundlage des Wettbewerbs. Der Staat verstärkt die Vertragsfreiheit insbesondere dadurch, daß er die wirtschaftliche Selbständigkeit der Menschen schützt und fördert. Dazu verpflichtet ihn das Sozialprinzip40. Die Selbständigkeit ermöglicht eine Privatheit, die einem Menschen den wirtschaftlichen Status eines Bürgers gibt, die es ihm möglich macht, den anderen Menschen und Bürgern frei zu begegnen, weil er sich ihnen nicht aufgrund seiner Unselbständigkeit, etwa wegen Armut unterwerfen muß. Die Selbständigkeit ermöglicht die Autonomie des Willens, als die Freiheit. Darum muß jeder Bürger im Gemeinwesen ein hinreichendes Eigentum haben und darum folgt aus der Eigentumsgewährleistung des Art. 14 Abs. 1 GG (auch) ein Recht auf Eigentum41. Die Schutzpflichten des Staates aus den Grundrechten, zumal die Pflicht des Staates, für die allseitige Selbständigkeit Sorge zu tragen, stützt und fördert den Wettbewerb, weil das Privatheitsprinzip Substanz gewinnt. Eine spezifische Pflicht des Staates, den Wettbewerb durch allseitige Wettbewerbsfähigkeit zu schützen und zu fördern, ergibt das nicht.
39 Zur Schutzpflichtdogmatik J. Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, HStR, Bd. V, Rdn. 1 ff., 77 ff.: K. A. Schachtschneider, Umweltschutz, in: ders., Fallstudien zum Öffentlichen Wirtschaftsrecht, S. 304 ff.; etwa BVerfGE 39, 1 (41 ff.); 49, 89 (140 ff.); 53, 30 (57 ff., 65 ff.); 99 145 (156 ff.). 40 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 636 ff. 41 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 551 ff.
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5. Kap.: Wettbewerb der Unternehmen als Faktum und als Rechtsprinzip
IV. Administration des Unternehmenswettbewerbs im Rechtsstaat 1. Abwehr von Wettbewerbsbeschränkungen a) Wirksamer Wettbewerb als Ziel der Wettbewerbsordnung Wettbewerb ist keine staatsfreie Angelegenheit.42 Auf der Verfassungsgrundlage des Privatheitsprinzips entfaltet sich Wettbewerb, den im Interesse des Gemeinwohls zu moderieren Sache des Staates ist. Möglich sind also Rechtssätze, welche den Wettbewerb als Faktum und Institution, wie Friedrich August von Hayek sagt, als „spontane Ordnung“ (Katalaxie)43, als freiheitlicher/privater „Koordinations-“, „Informations-“ und „Anpassungsprozeß“ 44 schützen und fördern. Das bezwecken die Wettbewerbsregeln der Union wie das deutsche Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen, das sogenannte Kartellgesetz, soweit diese unternehmerisches Handeln verbieten, das den Wettbewerb beschränkt, nämlich verhindert, einschränkt oder verfälscht (Art. 101 Abs. 1 AEUV; auch Art. 107 Abs. 1 AEUV, § 1 GWB) oder auch einen besonderen Vorteil im Wettbewerb, nämlich eine marktbeherrschende Stellung, mißbraucht (Art. 102 AEUV, § 19 GWB). Wettbewerbsbeschränkungen definiert Erich Hoppmann als „Verhinderung von Wettbewerb“ 45. Die Wettbewerbsbeschränkungsverbote versuchen bestimmtes Handeln von Unternehmern, zu denen nach fragwürdiger Praxis auch der Staat gehören kann (Art. 106 AEUV)46, zu unterbinden. Die Wettbewerbsregeln machen den Wettbewerb zur staatlichen Aufgabe. Freilich werden diese Rechtsgrundlagen über den Schutz und die Förderung der spontanen Ordnung hinaus als Instrumente der unternehmens- und wirtschaftslenkenden Intervention vor allem durch die Kommission eingesetzt. Dieser Mißstand ist angesichts der Tatbestandsmerkmale jedenfalls der Mißbrauchsaufsicht und der Fusionskontrolle und neuerdings des Kartellverbots wegen der Legalausnahme geradezu unausweichlich, weil die Wettbewerbspolitik auf „wirksamen Wettbewerb“ zielt, den der Staat nicht gewährleisten kann. Er hat nicht einmal einen Begriff davon und kann einen solchen auch nicht haben. Entgegen dem durch die inkriminierten Beschränkungen verfälschten Wettbewerb soll der „normale“ Wettbewerb verwirk42 Die Freiheit der Wirtschaftstätigkeit ist keine liberalistische Freiheit vom Staat, sondern Freiheit unter den Gesetzen, weil nämlich die Freisetzung individueller Zwecksetzung nur unter den Rahmenbedingungen, welche durch Recht und Politik geschaffen wurden, möglich und vertretbar sind, F. A. v. Hayek, Die Verfassung der Freiheit, S. 285. 43 Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, S. 8 f. 44 E. Hoppmann, Wettbewerbspolitik in Deutschland, S. 356 f.; ders., Marktmacht und Wettbewerb, S. 335 ff. 45 E. Hoppmann, Marktmacht und Wettbewerb, S. 341 ff. 46 Zur Kritik K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, Kritik der Fiskustheorie, exemplifiziert an § 1 UWG; ders., Wirtschaftsverfassung und Welthandelsordnung, S. 351 ff.
IV. Administration des Unternehmenswettbewerbs im Rechtsstaat
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licht werden47. Den kennt niemand und kann niemand kennen. Wenn und weil der Staat das versucht, „pervertiert“ er den Wettbewerb48. b) Allokative Effizienz und Verbraucherschutz Die einzigen Zwecke von Vorschriften gegen Wettbewerbsbeschränkungen seien der Verbraucherschutz und die möglichst effiziente Allokation der Produktionsfaktoren, lehrt, für viele Wettbewerbstheoretiker und Wettbewerbsrechtler in Deutschland und Europa wegweisend, die Chicago School49. Wettbewerbsbeschränkungen seien deshalb danach zu beurteilen, ob sie die Wirtschaftlichkeit für die beteiligten Unternehmen (efficency) erhöhen. Das sei nur auszuschließen, wenn die Unternehmen über Monopolmacht verfügten, die zur Einschränkung der Produktion bei höheren Preisen und zu Fehlallokationen führe. Vorausschauend würden sich bei dieser Betrachtungsweise nur wenige Sachverhalte als eindeutig wettbewerbsschädlich beurteilen lassen. Das seien hauptsächlich Preiskartelle, Gebietsaufteilungen und horizontale Unternehmenszusammenschlüsse, die zur Marktbeherrschung führen würden. Nützlich seinen dagegen im Allgemeinen vertikale Wettbewerbsbeschränkungen. Gerade weil ein modelltheoretisches (neoklassisches) und interventionistisches Wettbewerbsprinzip mangels Wissen in concreto administrativ und judikativ, wenn überhaupt, wenig handhabbar ist, zumal wenn es mit Friedrich August von Hayek als ein auf Enttäuschung angelegtes Entdeckungsverfahren50 verstanden wird, erscheinen allein Verbote von „Wettbewerbsbeschränkungen“ rechtlich tragfähig, nämlich „allgemein-abstrakte“, „innovativ-funktionale“ und dadurch rechtsstaatliche „Spielregeln“ „im Rahmen einer Kampfordnung“ 51. Der Sache nach sind das unternehmensrechtliche Handlungsverbote, die ein begründbares Handlungsunrecht zu unterbinden versuchen müssen. Selbst Ernst-Joachim Mestmäcker und Heike Schweitzer müssen einräumen, daß die nachträgliche Bewertung von Marktergebnissen (Mißbrauchskontrolle) oder die vorausschauende Bewertung erwünschter Marktergebnisse (Art. 101 Abs. 3 AEUV, § 2 Abs. 2 GWB), der „performance test“ also, mit hohen Risiken verbunden seien und die für die Rechtskontrolle zugrundegelegten Maßstäbe sich häufig nur als eine Art Willkürverbot erweisen wür47 EuGH v. 13.2.1979 – Rs. 85/76 (Hoffmann-La Roche & Co. AG/Kommission), Slg. 1979, 461, Rdn. 91; EuGH v. 11.12.1980 – Rs. 31/80 (L’Oréal/De nieuwe Amck), Slg. 1980, 3775, Rdn. 28. 48 E. Hoppmann, Wettbewerbspolitik in Deutschland, S. 366 ff. 49 Vgl. R. A. Posner, The Economics of Antitrust, 1949, Neuauflage: Antitrust Law, 2001. 50 F. A. v. Hayek, Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, S. 3, 10; E. Hoppmann, Grundsätze marktwirtschaftlicher Wettbewerbspolitik, S. 305; K. A. Schachtschneider, Wirtschaftsverfassung mit Welthandelsordnung, S. 279, 290, 337. 51 F. Böhm, Wettbewerb und Monopolkampf, S. 266 ff.; E. Hoppmann, Marktmacht und Wettbewerb, S. 336; eher vorsichtig M. Neumann, Wettbewerbspolitik, S. 33, 119.
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5. Kap.: Wettbewerb der Unternehmen als Faktum und als Rechtsprinzip
den.52 Erich Hoppmann hält Voraussagen „individueller Wirkungen“ „am konkreten Einzelfall“ wettbewerbstheoretisch für unmöglich53. So ist es. Damit ist eine rechtsstaatliche Administration des Wettbewerbs, die auf das Tatbestandsmerkmal „wirksamer Wettbewerb“ abstellt, ausgeschlossen, denn es gibt Verwaltung nur im Einzelfall54. 2. Administration des Wettbewerbs ohne Wissen a) Modell optimaler Allokation durch vollkommene Konkurrenz. Eine vielfache genannte Wirkung des Wettbewerbs und damit einer seiner wichtigsten Zwecke ist die optimale Allokation der Ressourcen. Das soll „als Institution der Marktwirtschaft“ Wohlstand und Fortschritt fördern55. Optimale Allokation ist der Zustand vollkommener Konkurrenz auf allen Märkten, also ein fragwürdiger gleichgewichtstheoretischer Begriff, bei dem alle Marktteilnehmer über Produkte und Preise vollständig informiert sind, der Marktzutritt keinerlei Beschränkungen unterliegt, tatsächlich oder potenziell zahlreiche Anbieter vorhanden sind und deswegen die Preise auf Dauer nicht höher sein können als die durchschnittlichen Produktionskosten56. Diese durch keine Empirie erwiesene (neoliberale oder neoklassische markt-, preis- und gleichgewichtstheoretische) Modellvorstellung57 ideologisiert gegenwärtig sogar den Standortwechsel von Unternehmen, ein wesentlicher Schritt der Gewinnmaximierung zu Lasten vor allem der entwickelten Volkswirtschaften mit hohen Kosten, wie Deutschland. Meist sind es die Gesetze, vor allem die Steuergesetze. Für den Wettbewerb ist die Allokation allenfalls nachrangig, es sei denn, man bezieht alle Aspekte im
52 E.-J. Mestmäcker/H. Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, § 2, Rdn. 86, S. 78. 53 E. Hoppmann, Grundsätze marktwirtschaftlicher Wettbewerbspolitik, in: ders., Wirtschaftsordnung und Wettbewerb, S. 309 ff., 315 ff.; deutlich ders., Workable Competition als wettbewerbspolitisches Konzept, daselbst S. 226 ff. (gegen das Kriterium „wesentlicher Wettbewerb“). 54 Zur Verdeutlichung § 35 S. 1 des Verwaltungsverfahrensgesetz: „Verwaltungsakt ist jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalls auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist.“ 55 BGHZ 13, 33 ff.; W. Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, S. 245 (für den „vollständigen Wettbewerb“). 56 M. Neumann, Wettbewerbspolitik, S. 7, gestützt auf F. H. Knight, Risk, Uncertainty and Profit, 1921. 57 So auch F. A. Hayek, Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, S. 4; E. Hoppmann, Grundsätze marktwirtschaftlicher Wettbewerbspolitik, S. 307 ff.; auch F. Böhm, Wettbewerbsfreiheit und Kartellfreiheit, S. 233 ff.; auch M. Neumann, Wettbewerbspolitik, S. 733 („in der Realität selbst nur selten anzutreffen“, gibt aber theoretische Orientierung).
IV. Administration des Unternehmenswettbewerbs im Rechtsstaat
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Sinne eines Systemwettbewerbs58 in den Wettbewerbsbegriff ein. Das widerspräche aber dem Wettbewerbsbegriff der Wettbewerbsregeln des Unionsrechts. b) Wirksamer Wettbewerb ohne Begriff Der funktionsfähige Wettbewerb, den Erhard Kantzenbach in Fortbildung der Theorien vom unvollkommenen (monopolistischen) Wettbewerb, zumal der Theorie der workable competition von John M. Clark59, oligopolgerecht („weites Oligopol“, optimale Marktstrukturen) konzipiert60, ein Konzept, aus dem, weiter beeinflußt von der Efficiency-Doktrin der Chicago-School, die Praxis des „wirksamen Wettbewerbs“ der Europäischen Union und auch Deutschlands entwickelt worden ist61, ist keine empirisch gestützte Theorie, sondern ein normatives, funktionalistisches (wiederum modellhaftes) Postulat, das die Wettbewerbspolitik und Wettbewerbsadministration zu verwirklichen versucht. Es strebt an: (1) leistungsgerechte Einkommensverteilung (Verhinderung von Ausbeutung), (2) „Konsumsouveränität“ (optimale Befriedigung der individuellen Bedürfnisse), (3) optimale Faktorallokation (Senkung der Gesamtkosten oder Steigerung des Outputs), (4) Anpassungsflexibilität (Anpassung an außenwirtschaftliche Daten, insbesondere an Nachfragestruktur und Produktionstechnik, Senkung von Fehlinvestitionen, Senkung volkwirtschaftlicher Kosten von Strukturwandlungen), (5) technischer Fortschritt (Produkt- und Prozeßinnovation), (6) Wettbewerbsfreiheit (Handlungs- und Entschließungsfreiheit, Kontrolle wirtschaftlicher Macht)62. Diese Maximen umzusetzen ist ein hehres Ziel. Bisher hat die wettbewerbliche Wirtschaft, so wie sie veranstaltet wurde, das Ziel immer verfehlt. Ein Verfahren, das den Prinzipien des Rechtsstaates genügt, ist nicht erkennbar. Empirisch ist nicht überprüfbar, ob staatliche Wettbewerbsmaßnahmen die genannten Ziele zu erreichen gefördert haben. Die „optimale Marktstruktur empirisch gehaltvoll zu definieren“ ist unmöglich, schon gar nicht „judiziabel“. Erich Hoppmann erhebt
58
Dazu A. G. Scherer, Multinationale Unternehmen und Globalisierung, S. 89, 197 f.
u. ö. 59
J. M. Clark, Competition as a Dynamic Process, 1961; zustimmend BGHZ 41, 42
(51). 60 E. Kantzenbach, Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs, S. 15 ff., 32 ff., 148 ff.; scharfe Kritik an Kantzenbachs Konzept E. Hoppmann, Workable Competition als wettbewerbspolitisches Konzept, S. 233 f., Fn. 104 m.w. H.; kritisch auch M. Neumann, Wettbewerbspolitik, S. 34 ff. 61 E. Hoppmann, Workable Competition als wettbewerbspolitisches Konzept, S. 196 f., mit Fn. 45 (zum Bundeskartellamt, für das „funktionsfähig“ und „wirksam“ synonyme Begriffe seien); E.-J. Mestmäcker/H. Schweitzer, Europäisches Verfassungsrecht, § 2, Rdn. 88 f., S. 79. 62 Vgl. I. Schmidt, Wettbewerbstheorie, in: Gabler, Volkswirtschaftslexikon, S. 1278 ff., 1280 f.; vgl. E. Kantzenbach, Die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs S. 15 ff., bei dem das 6. Kriterium bemerkenswerterweise nicht genannt ist.
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5. Kap.: Wettbewerb der Unternehmen als Faktum und als Rechtsprinzip
zu Recht den Willkürvorwurf: „Das marktwirtschaftliche Interaktionssystem ist also prinzipiell kein Instrument in der Hand des Wirtschaftspolitikers, der mit ihn ganz konkret vorgegebene Einzelziele bewirkt. Es ist überhaupt kein Instrument, es ist vielmehr ein ökonomisch bewährtes Verfahren, eine Technik zur Ordnung der arbeitsteiligen Wirtschaft. Dieses Verfahren dient keinem konkreten Einzelzweck, sondern es dient unbekannten Individuen und einer Vielfalt von individuellen Zwecken, die in ihrer Gesamtheit niemand kennt“ 63. Wettbewerb ist Faktum, kein definierbarer Gegenstand eines Handlungsgebotes, wenn auch ein möglicher Gegenstand eines ordnungspolitischen Verfassungsauftrags. Mit dem Konzept des „wirksamen Wettbewerbs“ wechseln Theorie, Lehre und Praxis von dem freiheitlichen Paradigma des Wettbewerbs, der sich auf der Grundlage des grundrechtlichen Privatheitsprinzips als Faktum entfaltet, zu dem der wirtschaftslenkenden Administration des Wettbewerbs im Interesse des (vermeintlichen) Wohlstandes (Wohlfahrtstheorie)64, also zum Vollzug eines Gesetzesbegriff, nämlich Wettbewerb, der mangels materiellen Gehalts nicht bestimmen kann, was gemacht werden soll. 3. Rechtsstaatliche Unternehmensverwaltung a) Wettbewerb nicht rechtsstaatlich administrierbar Wettbewerb hat zu viele Erscheinungsformen, als daß sein Begriff mit verwaltungsrechtlicher65 Bestimmtheit definiert werden könnte. Wettbewerb ereignet sich als jeweiliges Faktum privaten Handelns, das sich aus den vielfältigen Handlungen von Unternehmen, aber auch von Arbeitnehmern und Verbrauchern, Verbänden und Medien, Staat und Staaten, aus dem bunten Leben entwickelt, nicht
63 E. Hoppmann, „Neue Wettbewerbspolitik“, in: Wirtschaftsordnung und Wettbewerb, S. 389 f.; ders., Wettbewerbspolitik in Deutschland, daselbst, S. 362 ff.; ähnliche Kritik am „Konstruktivismus“ M. Neumann, Wettbewerbspolitik S. 34 f., weil dieser den „evolutionären Ansatz“ des Wettbewerbs, den „dynamischen Prozeß“, das „Entdeckungsverfahren“ verkenne. 64 I. d. S. (kritisch) E. Hoppmann, Zum Schutzobjekt des GWB. Die sogenannten volkswirtschaftlichen Erkenntnisse und ihre Bedeutung für die Schutzobjektdiskussion, in: E. Heuss/E.-J. Mestmäcker (Hrsg.), Wettbewerb als Aufgabe. Nach zehn Jahren Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen, S. 76 ff., 99 ff. u. ö.; (zur deutschen Wirtschaftspolitik im Gegensatz zum Antitrust), auch M. Neumann, Wettbewerbspolitik, S. 34 ff. 65 Zum „verwalteten Wettbewerb“ E.-J. Mestmäcker, Der verwaltete Wettbewerb; F. Böhm, Wettbewerb und Monopolkampf, S. 210 ff.; E. Hoppmann, Zum Schutzobjekt des GWB. Die sogenannten volkswirtschaftlichen Erkenntnisse und ihre Bedeutung für die Schutzobjektdiskussion, in: E.-J. Mestmäcker (Hrsg.), Wettbewerb als Aufgabe. Nach zehn Jahren Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen, S. 61 ff.; H. H. Rupp, HStR, Bd. II, § 31, Rdn. 42 f.; K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 495 ff.; ders., Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 355, 393 f.; ders., Res publica res populi, S. 396 ff.
IV. Administration des Unternehmenswettbewerbs im Rechtsstaat
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voraussehbar und keinesfalls für die Zukunft, die niemand kennt, verbindlich festlegbar, wenn man so will, als „spontane Ordnung“, ständig in Bewegung, insgesamt ohne Ziel und Zweck. Eine materiale, das unternehmerische Handeln und wettbewerbsbehördliches Verwalten verpflichtende Definition könnte und würde die unternehmerische Entfaltung folgenschwer lähmen, das wettbewerbliche Entdeckungsverfahren behindern. Der notwendigen Dynamik des Wettbewerbs genügt nur eine Offenheit des Wettbewerbsbegriffs, welcher die Erscheinungsvielfalt des Wettbewerbs nicht grundlos einengt, zumal Wettbewerb nicht die einzige mögliche Option von Unternehmern ist, die auch im Unternehmensinteresse und durchaus auch zum Wohle des Gemeinwesens auf Wettbewerb verzichten, also anstatt eines Gegeneinanders ein Miteinander betreiben können, wie es der kooperativen Natur des Menschen eher entspricht als das im Kern darwinistische Konzept des Fortschritts durch den Sieg des Stärkeren über den Schwächeren. Als Verwaltungsbegriff kann ein derart offener Wettbewerbsbegriff der Vielfalt des Lebens gemäß unterschiedlich, zudem orientiert an unterschiedlichen Wettbewerbstheorien (dem „Schlachtfeld von Modellruinen, auf denen in erhabener Einsamkeit je ein Nationalökonom sitzt“)66, materialisiert werden. Wegen der mit administrativen Wettbewerbsregelungen verbundenen Grundrechtseingriffe ist ein solcher Vertrags- und Gesetzesbegriff rechtsstaatswidrig. Rechtsstaatlich tragfähig sind allein Verwaltungsakte, welche Gesetze vollziehen, die bestimmte wettbewerbsrelevante (nämlich privatheitliche) Unternehmenshandlungen verbieten, weil diese erfahrungsgemäß dem Gemeinwohl schaden, wie insbesondere die Kartelle (als Verträge zu Lasten Dritter). Die Verbote müssen hinreichend bestimmt sein. Der Begriff des Wettbewerbs, der allenfalls eine geringe Materialität hat, kann deswegen kein Verbotskriterium sein. Er eignet sich nur als wirtschaftspolitischer Leitbegriff auf Verfassungsebene, der in Abwägung mit anderen politischen Leitentscheidungen des Verfassungsgesetzes die Wirtschafts- und Unternehmenspolitik des Gesetzgebers leitet. Als orientierende Entscheidungsmaxime wird der Wettbewerbsbegriff denn auch angewendet, durchaus in Abwägung mit anderen Maximen und Zielen, etwa den vielfältigen Zielen des Unionsrechts67, aber eben von der Exekutive, nicht von der Legislative und damit entgegen dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsprinzip68 und der gewaltteiligen Funktionenordnung69. Das rechtsstaatliche Dilemma der Wettbewerbspolitik ist unentrinnbar, aber ein offener Wettbewerbsbegriff ist rechtsstaatlich nicht administrierbar.
66 E. Böhler, Der Mythos in Wirtschaft und Wissenschaft, S. 20, zitiert nach E. Hoppmann, Marktmacht und Wettbewerb, S. 334. 67 Kommission XXII. Wettbewerbsbericht 1993 (1994), Rdn. 190. 68 Dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 467 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 273 ff. 69 Dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 218 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 167 ff.
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5. Kap.: Wettbewerb der Unternehmen als Faktum und als Rechtsprinzip
b) Wettbewerbsverwaltung versus Marktrationalität Im übrigen widerspricht der Versuch des Staates, Wettbewerb zu veranstalten, der Marktrationalität70. Wettbewerbsmaßnahmen der Wettbewerbsbehörden haben breite Wirkungen im Gemeinwesen und greifen so oder so in die Wirtschaftsgrundrechte nicht nur der Unternehmer ein, sondern auch in die der Verbraucher, etwa deren Preisfreiheit, wenn Kartelle, Marktmachtmißbrauch oder auch Fusionen nicht unterbunden werden und die Preise steigen, der Staat also den über Art. 2 Abs. 1 GG grundrechtlich gestützten Verbraucherschutz zugunsten der Unternehmerinteressen vernachlässigt hat. Wettbewerbspolitik im eigentlichen Sinne bestmöglichen (wirksamen) Wettbewerbs ist nicht möglich. Wenn Wettbewerbspolitik Entmachtung der Unternehmen zum Gegenstand hat, ist sie Unternehmenspolitik. Als solche ist sie notwendig, wenn die Unternehmen durch ihre Macht (allein oder durch Bündnisse) oder durch ihr Handeln das Gemeinwohl gefährden71. Auch sonst kennt die Rechtsordnung machtbeschränkende Einrichtungen, insbesondere im Staatsrecht die Gewaltenteilung, sei diese horizontal oder vertikal. Dazu gehört auch das Prinzip der kleinen Einheit72. Machtlosigkeit jedenfalls gibt es nicht, wie David gegen Goliath bewiesen hat, also auch keine Entmachtung, aber das Gemeinwesen, die Republik, muß die allzu große Macht, also auch die großen und mächtigen Unternehmen abwehren, nicht nur deren (nicht definierbaren) Machtmißbrauch. Skalenerträge rechtfertigen Größe und Macht nicht. Wenn die Produktionstechnik (etwa im Flugzeugbau) eine gewisse Unternehmensgröße erfordert, die über gesetzliche Grenzen hinausgeht, bedarf das der staatlichen Genehmigung. Ohnehin müssen die Unternehmen vom Staat beaufsichtigt werden (Gewerbeüberwachung)73, auch deren Preispolitik. Die Preise müssen eine hinreichende Nähe zu den Kosten wahren, freilich auch eine begrenzte Kapitalrendite ermöglichen. Allein dem Markt kann das Gemeinwesen die Preisbildung nicht überlassen. Auch das Marktmodell der vollständigen Konkurrenz will möglichst Grenzkostenpreise erreichen, ist an diesem Ziel aber gescheitert. Es rechtfertigt weder Ausbeutung noch Einnahmen (Gewinn) ohne Lei70 Dazu H.-J. Papier, Grundgesetz und Wirtschaftsordnung, HVerfR, S. 802 f. Für F. Böhm, Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, S. 11, ist Voraussetzung der Marktrationalität die uneingeschränkte Entscheidungs- und Dispositionsfreiheit der Marktteilnehmer. Dem Preismechanismus komme die zentrale Steuerungsfunktion zu, die eine rationale Abstimmung Millionen individueller Wirtschaftspläne in einer arbeitsteiligen Gesellschaft ermögliche, ohne daß der Einzelne sich einem fremden Wirtschaftsplan unterordnen müsse. Auch würde durch die Wettbewerbsordnung der Reibungswiderstand asozialer Motive und Interessen auf ein Mindestmaß herabgemindert. 71 I. d. S. Senator John Sherman, der den Sherman Act 1890 eingebracht hat, gegen „an autocrat of trade“, vgl. M. Neumann, Wettbewerbspolitik, S. 38. 72 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 252; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 45, 171. 73 Dazu grundlegend R. Gröschner, Das Überwachungsrechtsverhältnis. Wirtschaftsüberwachung in gewerbepolizeilicher Tradition und wirtschaftsverwaltungsrechtlicher Wandel, 1992.
IV. Administration des Unternehmenswettbewerbs im Rechtsstaat
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stungen, wie immer diese auch definiert werden, keinesfalls Millionengehälter von Unternehmensvorständen oder Fußballspielern als jeweils Angestellte ohne wirtschaftliches Risiko, welche mit den guten Sitten i. S. d. § 138 BGB, nämlich „dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“ 74, unvereinbar sind. Der Staat muß und darf regulierend eingreifen, ohne daß er die Vertragsfreiheit und damit die marktlichen Anreize gänzlich ausschalten sollte. In bestimmte Branchen, in denen der Markt tragfähige Verbraucherpreise nicht gewährleistet, gibt es Regulierungsbehörden (Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahn). Der Gesetzgeber muß und darf das Gemeinwohl, insbesondere die Verbraucherpreisinteressen, zur Geltung bringen. Nicht jede Zusammenarbeit oder abgestimmtes Handeln zu Lasten der Abnehmer widerspricht dem Gemeinwohl, aber Verträge zu Lasten der Abnehmer, vor allem der Verbraucher, also Kartelle im eigentlichen Sinne, mißachten als Verträge zu Lasten Dritter das Sittengesetz, den kategorischen Imperativ, und werden wegen dieses der Menschheit immer schon geläufigen Rechtsprinzips zu Recht verboten. Das folgt nicht spezifisch einem Wettbewerbs- sondern eben dem Rechtsprinzip75. Das Reichsgericht hat demgemäß aus § 1 UWG, dem Lauterkeitsprinzip, ein Kartellverbot76 hergeleitet. Unternehmen- und Verbraucher(schutz)politik muß aber demokratisch verantwortet werden, also auf Gesetzen mit bestimmten Regelungen beruhen. Zudem muß die Macht von Unternehmen auch der davon ausgehenden politischen Gefahren für die allgemeine Freiheit in Grenzen gehalten werden, zumal die Macht multinationaler Unternehmen, welche nicht fähig sein dürfen, Staaten ihrer Herrschaft zu unterwerfen77. c) Zieloffene Wirksamkeit des Wettbewerbs? Der Wettbewerbsbegriff gewinnt nicht dadurch an Bestimmtheit, daß ihm das Adjektiv „wirksam“ vorangestellt wird. Danach soll der Wettbewerb, wenn das Wort „wirksam“ irgendeinen Sinn haben soll, für das wirtschaftliche Wohl des Gemeinwesens wirksam, also effizient sein. Effizienz hat ihren Maßstab in den unterschiedlichen Zielen des wirtschaftlichen Gemeinwesens, also der Europäischen Union und Deutschlands. Das öffnet den Entscheidungsmaßstab der Wettbewerbsbehörden, der Kommission und auch der Unionsgerichte sowie der nationalen Gerichte noch erheblich weiter. Rechtsstaatliche Verwaltung ist mit dem 74 Zu dieser klassischen Definition der guten Sitten K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 374 ff.; etwa RGZ 48, 114 (124), 1901; RGZ Gr. S. 150, 1 (5), 1936 („gesundes Volksempfinden“); RGZ 166 315 (318 f.); BGHZ 10, 228 (232); 34, 169 (176). 75 K. A. Schachtschneider, Wirtschaftsverfassung mit Welthandelsordnung, S. 304 ff. 76 RGZ 134, 342 (353 f.), Benrather Tankstellenfall, 1931. 77 K. A. Schachtschneider, Wirtschaftsverfassung und Welthandelsordnung, S. 624 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 592 ff.; zu den Unternehmen von öffentlicher Bedeutung H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 407 ff., 430 ff.
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5. Kap.: Wettbewerb der Unternehmen als Faktum und als Rechtsprinzip
unvermeidlich interventionistischen Begriff „wirksamer Wettbewerb“ nicht möglich. Die Praxis beweist das78. Die wirtschaftslenkende Administration der Unternehmen ist denn doch der Versuch, der „Veranstaltung des Wettbewerbs“, der nicht nur dem Wesen des Wettbewerbs als „spontaner Ordnung“ widerspricht, der spezifischen Marktrationalität79, sondern vor allem der unternehmerischen Freiheit. Die „Galbraithsche These gewinnt immer wieder an Überzeugungskraft, das Kartell- und Monopolrecht sei zu nichts nütze und diene lediglich der Vollbeschäftigung der Kartell- und Monopoljuristen, und, das sei hinzugefügt, -volkswirten“ 80.
V. Sittliche Lebensbewältigung und Grenzen der Privatheit 1. Verwaltung des Staates keine Unternehmen im Wettbewerb Lebensbewältigung durch den Staat erfolgt durch staatsgemäße Verwaltungen, dem Republikprinzip gemäß durch einen öffentlichen Dienst, in dem Beamte tätig sind81. Die Verwaltung ist den Prinzipien des Rechtsstaates, vor allem dem Prinzip des rechten Maßes, also dem Sachlichkeitsprinzip, verpflichtet82. Entgegen der Praxis erfolgt sie nicht unternehmerisch im Wettbewerb mit Unternehmen, die durch ihre Privatheit definiert sind83. Die formelle Privatisierung staatlichen Handelns, welche vornehmlich zur Anwendung des Wettbewerbsrechts auf vermeintlich unternehmerisches Handeln des Staates geführt hat84, ist staatswidrig und verfassungswidrig. Handeln des Staates und Handeln von Privaten führen nicht zum Wettbewerb im Rechtssinne, weil dafür alle Voraussetzungen eines Wettbewerbsverhältnisses fehlen, insbesondere die hinreichende Gleichheit, welche die Praxis vergeblich zu erzwingen versucht, letztlich die Privatheit des Staates. Die Besonderheit der öffentlichen Unternehmen, die in der Verantwortung des Staates betrieben werden, muß das Unionsrecht akzeptieren, wie Art. 106 AEUV, aber auch Art. 14 AEUV zeigen. Insbesondere ist dem Staat die Gewinn78 Dazu K. A. Schachtschneider, Wirtschaftsverfassung mit Welthandelsordnung, S. 294 ff. 79 Dazu F. A. v. Hayek, Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, S. 8 f.; E. Hoppmann, Marktmacht und Wettbewerbs, S. 335; i. d. S. auch M. Neumann, Wettbewerbspolitik S. 34 ff. (evolutionärer Ansatz). 80 K. A. Schachtschneider, Wirtschaftsverfassung mit Welthandelsordnung, S. 286. 81 K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 310 ff.; R. Balzer, Republikprinzip und Berufsbeamtentum, S. 64 ff., 89 ff., 165 f., 188 ff. 82 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 411 ff., 424 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 263 u. ö.; ders., Souveränität, S. 253. 83 K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 181 ff., 253 ff., 322 f.; ders., Freiheit in der Republik, S. 492 ff.; ders., Der Anspruch auf materiale Privatisierung, S. 190 ff., 300 ff., 306. 84 BGHZ 37, 1 (126 ff.); 51, 236 (242); 66, 229 (232 f.); 67, 81 (84); 81, 291 (295); 82, 375 (381 ff.); 102, 280 (285); BVerfGE 17, 306, (313); 39, 329 (337).
V. Sittliche Lebensbewältigung und Grenzen der Privatheit
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maxime verwehrt85. Die Entgelte für staatliches Handeln (Gebühren) bestimmen sich nach dem Äquivalenz- und dem Kostendeckungsprinzip86. Mehr kann das Wettbewerbsprinzip auch nicht bewirken, weil Einnahmen und damit Preise, welche die Kosten nicht decken, nicht nur dem unternehmerischen Ziel, dem Gewinn, widersprechen, sondern zur Insolvenz führen, wenn das Unternehmen nicht (intern oder extern) subventioniert wird. Wirtschaftliche Argumente können die Überlegenheit privater versus staatlicher Lebensbewältigung nicht begründen, jedenfalls nicht grundsätzlich und allgemein. Es kommt jeweils auf die besonderen Gegebenheiten der unternehmerischen Tätigkeit oder der staatlichen Aufgaben an. Das Argument höherer Effizienz überzeugt nicht allgemein, sondern nur aufgrund unternehmens- oder verwaltungsspezifischer Einzeluntersuchungen. Keinesfalls überzeugt es, die Leistungen im öffentlichen Dienst herabzuwürdigen. Das übersieht vielfältige Vorteile des öffentlichen Dienstes, die auch ökonomisch zu Buche schlagen. Freilich kommt es darauf an, wie der öffentliche Dienst geleistet wird. Das gilt jedoch auch für das private Unternehmertum. Die gegenwärtige Entwicklung zeigt, daß die unternehmerische Lebensbewältigung nicht nur weniger Sicherheit als die staatliche gewährleistet, sondern auch zu höheren Verbraucherpreisen führen kann, etwa in manchen Bereichen der Daseinsvorsorge wie der Strom-, Gas-, und Wasserversorgung. Nur besondere Gegebenheiten führen zur größerer ökonomischer Effizienz unternehmerischer gegenüber verwaltungsmäßiger Lebensbewältigung. Das mag etwa für die Telekommunikation gelten, dabei ist zu berücksichtigen, daß die Inanspruchnahme der Gebührenerträge der Verwaltungen für die Subvention anderer Verwaltungen, wie lange Zeit die der Stromwirtschaft für die Verkehrsbetriebe (u. a.) der Kommunen, nicht die Effizienz dieser daseinsvorsorgenden Verwaltung in Frage stellt, sondern eine fragwürdige Art verdeckter Steuererhebung ist. Daß der (geradezu) erzwungene Wettbewerb der privaten Daseinsvorsorge die erhofften Wirkungen nicht erzielt, erweisen die Regulierungen, zu denen der Staat (die Europäische Union) sich gezwungen sieht, weil nicht der Preiswettbewerb die unternehmerische Wirklichkeit bestimmt, sondern das Preiskartell. Die formelle Privatisierung staatlichen Agenden dient nicht der Effizienz, sondern schafft Pfründen87. 2. Grenzen des Privatheitsprinzips Das Privatheitsprinzip verpflichtet den Staat, sich aus Aufgaben zurückzuziehen, welche er nicht besser zu bewältigen vermag als private Unternehmen, wenn 85 BVerfGE 61, 82 (107); ebenso BVerwGE 39, 329 (333 f.); BGHZ 82, 375 (381 ff.). 86 Vgl. BVerfGE 20, 257 (270); BVerwGE 12, 162 (167); 13, 214 (222 f.); 26, 305 (368 ff.). 87 Zum rent-seeking in den USA J. Stieglitz, Der Preis der Ungleichheit: Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft zerstört, 2012, S. 73 ff.
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5. Kap.: Wettbewerb der Unternehmen als Faktum und als Rechtsprinzip
sich die staatliche Aufgabenbewältigung also ökonomisch nicht begründen läßt. Das ergibt das Sachlichkeitsprinzip88. Wesentlich für das Privatheitsprinzip ist aber das Freiheitsprinzip, aus dem der Grundsatz folgt, daß der Staat nur die Aufgaben übernehmen darf, die zu übernehmen das gemeine Wohl gebietet. Das gemeine Wohl bestimmt sich auch ökonomisch, aber keinesfalls nur ökonomisch. Bemerkenswert ist, daß es die Rechtsprechung bisher (weitestgehend) abgelehnt hat, das Privatheitsprinzip, meist (menschenrechtliches) Subsidiaritätsprinzip89 genannt, wegen der Komplexität der Gemeinwohlfrage zu judizieren90. Das Privatheitsprinzip schützt vornehmlich die Menschen und Bürger in ihrem Gewerbe und Beruf, mehr die kleinen und mittelständischen, weniger die Großunternehmen, zumal nicht die multinationale agierenden Unternehmen91. Die multinationalen Unternehmen schaden dem Gemeinwohl, weil sie sich nicht in die einzelstaatliche definierte Sozialpflichtigkeit einbinden lassen. Darum fehlt diesen die Voraussetzung für den grundrechtlichen Eigentumsschutz und damit den der Privatheit. Sie entziehen sich durch die Internationalität der Sittlichkeit; denn diese verwirklicht sich in der Rechtlichkeit und verträgt keine Unterwerfung des Gesetzgebers, des Volkes, unter Unternehmen. Die allein-, also unternehmensbestimmte Ausrichtung des Unternehmens am Rechtsprinzip, zumal an universalistischen Menschenrechten, welche von den Unternehmensethikern92 empfohlen wird, scheitert an der Heterogenität der Volkswirtschaften und damit der Gemeinwohle, die jeweils lagegemäß bestimmt werden müssen. Die Unterschiede der Verhältnisse sind gerade das Geschäft der international agierenden Unternehmen. Ohne Schutzzölle ist das mit dem Sozialprinzip nicht in Übereinstimmung zu bringen. Die Freihandelsideologie der Welthandelsordnung ist in der heterogenen Welt demokratie- und sozialwidrig. Für das Gemeinwesen sind vorteilhafte Wirkungen des Wettbewerbs von Großunternehmen, jedenfalls wenn diese global agieren, nicht zu erkennen. Ganz im Gegenteil ist eine Verarmung der Völker durch die globale Tätigkeit multinationaler Unternehmen zu beobachten, weil sie nicht genötigt sind, sich den Gemeinwohlinteressen der Völker zu
88 K. A. Schachtschneider, Der Anspruch auf materiale Privatisierung, S. 153 ff., 159 ff., 171 ff., 174 ff. 89 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 566 ff. 90 Vgl. BayVGH, BayVBl. 1959, 90 ff., BayVBl. 1976, 628 ff.; OVG Münster, NVwZ 1986, 1045 ff.; tendenziell wie der Text des OLG Hamm, JZ 1998, 577; VGH Mannheim, NJW 1984, 251 ff.; vgl. auch BVerwGE 39, 329 (330 ff.); dazu K. A. Schachtschneider, Der Anspruch auf materiale Privatisierung, S. 153 ff. 91 K. A. Schachtschneider, Grenzen der Kapitalverkehrsfreiheit, in: ders. (Hrsg.), Rechtsfragen der Weltwirtschaft, S. 274 ff., 289 ff., 308 ff.; ders., Demokratische und soziale Defizite, der Globalisierung, in: Freiheit – Recht – Staat, hrsg. v. D. Siebold/ A. Emmerich-Fritsche, S. 683 ff., 692 ff. 92 Dazu nicht unkritisch H. Steinmann/A. Löhr, Grundlagen der Unternehmensethik, S. 106 ff., ausführlich A. G. Scherer, Multinationale Unternehmen und Globalisierung S. 430 ff., 624 ff.
V. Sittliche Lebensbewältigung und Grenzen der Privatheit
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beugen. Richtig ist, daß bestimmte technische Entwicklungen eine hinreichende Leistungsfähigkeit von Unternehmen, die auch von deren Größe abhängen kann, voraussetzt. Zum einen werden diese Entwicklungen ohnehin regelmäßig von Staaten, also den Völkern (mit-)finanziert und zum anderen können diese Entwicklungen auch von staatlichen Verwaltungen geleistet werden. Die Forschungsleistung erbringt ohnehin sehr weitgehend der Staat durch seine Universitäten, jedenfalls in Deutschland. Daß große Unternehmen politische Macht ausüben können, machen auch die Wettbewerbsregeln des Wettbewerbsprinzips nicht tragfähig. Die Macht beruht wesentlich auf fragwürdigen Regelungen des Verteilungsrechts, aber auch auf fragwürdigen Regelungen des Unternehmensrechts, vor allem des Unternehmensgesellschaftsrechts, wie die Gesellschaftsformen der Gesellschaft mit beschränkter Haftung und der Aktiengesellschaft, welche die außerordentliche Machtentfaltung erst ermöglichen, insbesondere Grundlage der Verantwortungslosigkeit der Unternehmensführung93, aber auch des ausbeuterischen Charakters des Unternehmenseigentums, sind. Es gibt außerhalb des Wettbewerbsrechts, das seinem Zweck nicht gerecht wird, wie die Konzentrationsentwicklung zum einen und die zunehmende Ausbeutung der Menschen und Völker zeigen, vielfältige Möglichkeiten der sozialen Ordnung der Wirtschaft, insbesondere der staatlichen Lebensbewältigung; denn das Privatheitsprinzip, das den Prinzipien der Freiheit und des Eigentums verpflichtet ist, hat Grenzen, vor allem die Grenze, daß die Ordnung der Wirtschaft die Selbständigkeit aller Bürger gewährleisten muß und damit jedenfalls politisch bestimmende Macht von Unternehmen verbietet. Die Antwort auf solche Machtentfaltung ist die Sozialisierung, welche Art. 15 GG 94 ermöglicht95, nicht der klägliche Versuch, mittels Wettbewerbspolitik unternehmerische Effizienz, gegenwärtig zu Lasten der Völker, zu erreichen. Es gibt keine Rechtfertigung für staatliches Handeln, das dem Rechtsprinzip, wie es in den einzelnen
93 Zur Diskussion um die Einführung eines Unternehmensstrafrechts vgl. Beschluß der Justizministerkonferenz vom 15.11.2012, WiJ 01-2013 v. 14.1.2013. 94 Art. 15 GG lautet: „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden. Für die Entschädigung gilt Art. 14 Abs. 3 Satz 3 und 4 entsprechend.“ 95 Für Th. Maunz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 15, Rdn. 7, kann die internationale Wettbewerbssituation (ausnahmsweise) eine Sozialisierung notwendig machen; entgegen des Wortlauts von Art. 15 GG und der h. M. hält H. Hofmann, in: SchmidtBleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 15 Rdn. 5, auch Institute des Finanzsektors bei vorliegender Systemrelevanz etwa im Zuge der gegenwärtigen Banken-, Finanzmarkt-, Staatsfinanz- und Eurokrise unter Art. 15 GG einbeziehbar. Art. 15 GG erscheint als „Reserveoption in krisenhaften Notsituationen“ jedenfalls nicht ausschließbar, weil diese Unternehmen eine auch behördlich festgestellte ökonomische Schlüsselposition innehaben, welcher der von Grund und Boden, Naturschätzen und Produktionsmitteln nicht nachsteht.
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5. Kap.: Wettbewerb der Unternehmen als Faktum und als Rechtsprinzip
Prinzipien des Rechtsstaates materialisiert ist, widerspricht. Das Wettbewerbsprinzip als Entmachtungsprinzip, als das es gern gepriesen wird, ist gescheitert, insbesondere in der globalisierten Wirtschaft. Die Verbindlichkeit eines fundamentalistischen Wettbewerbsprinzips für Deutschland wegen der Integration Deutschlands in die Europäische Union und die damit eng verbundene Integration in das tendenziell weltstaatliche Wirtschaftssystem ist mit den Strukturprinzipien Deutschlands, vor allem mit dem Rechtsstaatsprinzip, aber auch mit dem Demokratie- und Sozialprinzip unvereinbar. Nur der Staat darf entmachten. Sein Mittel ist das Gesetz. In angemessenen Grenzen kann und sollte das Wettbewerbsprinzip eingesetzt werden, weil und insoweit es dem Gemeinwesen nützt, in praktischer Vernunft durch allgemeine Gesetze zugemessen. Gesetze, müssen dem Recht genügen, also zum einen die grundrechtlich geschützte Unternehmensfreiheit, die Privatheit der Lebensbewältigung, und zum anderen deren Sozialpflichtigkeit, das Sozialprinzip. Ohne Außenschutz, gegebenenfalls durch Zölle, geht das nicht. 3. Wettbewerbsprinzip versus Sittlichkeit Das Wettbewerbsprinzip ist dem Prinzip der Sittlichkeit, dessen Gesetz der kategorische Imperativ ist, geradezu entgegengesetzt. Es setzt auf die Neigungen des Menschen, nämlich dessen Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht96, nicht aber auf dessen praktische Vernunft. Die Idee der Freiheit als Menschheit der Menschen, also die republikanische Freiheit, ist dem vermeintlichen Realismus der Wettbewerbstheorien und Wettbewerbsregeln fremd. Für einen solchen Wettbewerbsrealismus fehlt allerdings die hinreichende Möglichkeit, die Wirklichkeit zu kennen, welche zu ermitteln nicht nur die Unternehmen, sondern vor allem die Behörden und Gerichte überfordert97. Friedrich August von Hayek hat das mit seiner von so gut wie allen Wettbewerbstheoretikern nachempfundenen Vorstellung von Wettbewerb als Entdeckungsverfahren vor Augen geführt. Das könnte der Grund sein, warum der Urvater des Wettbewerbsprinzips, Adam Smith, von der „invisible hand“ gesprochen hat, welche die Vielheit der Handlungen, mit denen die Unternehmer und Verbraucher ihre eigenen Interessen ohne Rücksicht auf die Interessen anderer verfolgen, damit „wealth of nations“ 98 forme. Recht 96 H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 439 f., 463 ff.; zum Begriff der Neigung Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 37 f. 97 Ganz so E.-J. Mestmäcker/H. Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, § 2, Rdn. 88 ff., S. 79 ff. 98 A. Smith, Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, 1776, übersetzt von H. C. Recktenwald, 1974; vgl. H. C. Recktenwald, Adam Smith (1723–1790), in: J. Starbatty (Hrsg.), Klassiker des ökonomischen Denkens, 1, Von Platon bis John Stuart Mill, S. 134 ff., 139 ff., insb. 142; zustimmend M. Neumann, Wettbewerbspolitik, S. 5, dazu kritisch H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 467 ff., 471; R. Marx, Das Kapital, S. 73 ff.
V. Sittliche Lebensbewältigung und Grenzen der Privatheit
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aber beruht auf Sittlichkeit und Moralität99. Der Wettbewerb trägt zur Rechtlichkeit nur insoweit bei, als er im Interesse des guten Lebens aller, des allgemeinen Wohlstandes, vom Staat gestaltet wird, also trotz seiner nötigenden Wirkung legal ist. Als Rechtsprinzip muß auch das Wettbewerbsprinzip auf der allgemeinen Freiheit als praktischer Vernunft beruhen, also auf dem allgemeinen Gesetz, das ein Gesetz des Rechts sein muß. Das Wettbewerbsprinzip will die Neigungen der Menschen nutzen, den starken erotischen (Verlangen, Gier) oder thymotischen Antrieb (Mut, Zorn, Herz) vieler Menschen100, und ist folglich dem Recht des Menschen als (sozialem, kooperierendem) Vernunftwesen entgegengesetzt. Wettbewerb entsteht, wenn Menschen, durchaus auch als Unternehmer, nach freier Willkür, also sittlich, handeln. Das schützen die Menschen- und Grundrechte. Das schützt der Staat. Das Gegen- und Miteinander, der menschliche Antagonismus, die „ungesellige Geselligkeit“, ist in der Natur des Menschen, eines Primaten, angelegt, sowohl das „Konkurrenzdenken“ als auch das „Prinzip der Gegenseitigkeit“ 101, das aus dem kategorischen Imperativ erwächst. Das Faktum des Wettbewerbs wird von den Menschen toleriert, weil die Menschen die allseitige Freiheit, zu der die Privatheit gehört, akzeptieren und um der Menschheit des Menschen willen, die in den Grundtexten des Rechts, wie vor allem in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, aber auch im Grundgesetz in Art. 1 und Art. 2 formuliert ist, als ihre Verfassung dem gemeinsamen Leben zugrundelegen. Die Handlungen von Unternehmern freilich, welche ein Volk sich nicht zumuten lassen will, unterbindet es durch seine Gesetze, wie etwa die Kartelle, eben durch das mißlungene Recht der Wettbewerbsbeschränkungen. Freilich müssen Gesetze, welche das Handeln von Menschen unterbindet, demokratisch erkannt und beschlossen sein und die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung hinreichend binden, also dem Bestimmtheitsprinzip genügen102. Die Wirklichkeit des Rechtsstaates, nicht irgendein nicht definierbarer wirksamer Wettbewerb, ist das sittliche Gebot der Menschheit. Freilich muß das Recht die „Unvertragsamkeit“ des Menschen, dessen „mißgünstig wetteifernde Eitelkeit“, seine „nicht zu befriedigende Begierde zum Haben und auch zum Herrschen“ berücksichtigen, um der stets gefährdeten Sittlichkeit des gemeinsamen Lebens eine Chance zu geben. Das Gemeinwesen darf und soll durchaus auch die Triebkräfte, die Kant „vortreffliche Naturanlagen“ nennt103, nutzen, soweit das dem Gemeinwohl dient. Die Grenzen sind Sache der praktischen Vernunft, der Gesetze also. 99 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 290 ff., 325 ff., 493 ff., 519 ff.; ders., Sittlichkeit und Moralität, S. 23 ff., insb. S. 40 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 49 ff., 83 ff., 281 ff., 318 ff., 405 ff. 100 P. Sloterdijk, Zorn und Zeit, ein politisch-psychologischer Versuch, insb. S. 50 ff. 101 Kant, Idee zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 37. 102 K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 273 ff. 103 Beide Zitate Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 38.
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5. Kap.: Wettbewerb der Unternehmen als Faktum und als Rechtsprinzip
Ein Staat jedoch, der Effizienz eigennützigen Handelns der Unternehmer erzwingen will und sei es aufgrund der Erfahrung eines Nutzens von Wettbewerb, hat die Grundprinzipien freiheitlicher Gemeinwesen verkannt. Ein solcher Staat, der sich berechtigt und verpflichtet sieht, die Effizienz unternehmerischen Handelns sicherzustellen, ist der Sache nach ein totalitär auf von der Zinswirtschaft erzwungenes Wachstum ausgerichteter Staat, selbst wenn er reklamiert, eine Freiheit zu verwirklichen, nämlich die vermeintliche Wettbewerbsfreiheit. Sie wäre ohnehin nur die Freiheit der Unternehmer zu Lasten der Freiheit der Verbraucher. Wesentlich ist, daß der der neoliberalen Wettbewerbsideologie zugrundeliegende Freiheitsbegriff der menschheitswidrige Freiheitsbegriff ist. Ein fundamentales Wettbewerbsprinzip erweist sich als staatswidrig. Es will den Schlachten der Unternehmen Nutzen für die Allgemeinheit abgewinnen. Dieses Projekt ist allenfalls in engen Grenzen erfolgreich. Vor allem findet das Wettbewerbsprinzip nicht zu Rechtsbegriffen, welche dem Rechtsprinzip gemäß gehandhabt werden können, und ist deshalb mit den Prinzipien eines Rechtsstaates unvereinbar.
6. Kapitel
Das Kartell als Problem des Privatheitsprinzips und Regelungstatbestand des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen I. Das Kartell als ein Typus des Vertrages Der Vorrang der Privatheit der Lebensbewältigung, welcher insbesondere über Art. 2 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich gewährleistet wird, bedeutet, daß die Menschen in einer Gemeinschaft in größtmöglichem Umfang nach selbst und allein bestimmten Vorstellungen ihr Glück suchen und verfolgen und ihre individuellen, besser besonderen Lebensvorstellungen allein materialisieren, ohne den Staat. Soweit die Verwirklichung dieses Besonderen nicht mehr durch jeden allein möglich ist und es auf das Zusammenwirken mit einem oder mehreren Mitmenschen ankommt, regeln die Bürger dies untereinander mit Hilfe von Verträgen. Das Allgemeine, Staatliche, wird durch die allgemeinen Gesetze, das Besondere, Private, durch die Verträge materialisiert. Grundsätzlich gibt es zwei unterscheidbare Typen von Verträgen. Der eine Typus ist der gegenseitige Vertrag, welcher auf den Austausch von Leistungen gerichtet ist. Idealtypisch für eine derartige synallagmatische Verknüpfung von Leistung und Gegenleistung1 ist der Kaufvertrag gemäß § 433 BGB. Der andere Vertragstypus ist der gleichgerichtete Vertrag2, welchen die Parteien zur Erreichung eines gemeinsamen Zweckes schließen. So war der Wortlaut des § 1 GWB in der Fassung, welche bis zum 31. Dezember 1998 Gültigkeit hatte: „Verträge, die Unternehmen oder Vereinigungen von Unternehmen zu einem gemeinsamen Zweck schließen und Beschlüsse von Vereinigungen von Unternehmen sind unwirksam, soweit sie geeignet sind, die Erzeugung oder die Marktverhältnisse für den Verkehr mit Waren oder gewerblichen Leistungen durch Beschränkung des Wettbewerbs zu beeinflussen“. Zwar hat der Gesetzgeber davon abgesehen, den Kartellbegriff 3 im Gesetz gegen Wettbewerbsbe1 Dazu Ch. Grüneberg in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, Einf. v. § 320 BGB, Rdn. 4; R. Schwarze, in: Staudinger/Schwarze, (2015), Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Allgemeiner Teil, Teil 3, Vorbem. §§ 320–326, S. 200 ff., Rdn. 21 ff. 2 Austauschverträge jedenfalls begründen kein Kartell, H. Müller-Henneberg, Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen, Kommentar, Vorbemerkung zu § 1, Rdn. 1. 3 Als Kartell (lat. ,charta‘ für ,beschriebens Papier‘ ,Urkunde‘) bezeichnete man ursprünglich die Kampfordnung bei Turnieren. Als Begriff des Völkerrechts i. S. e. Ab-
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6. Kap.: Das Kartell als Problem des Privatheitsprinzips
schränkungen zu definieren4. Kennzeichnend für den Begriff des Kartells im Sinne des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen ist aber, daß die Marktbeeinflussung durch Beschränkung des Wettbewerbs gemeinsam bezweckt wird, das Wesen der Kartelle ist „die Vereinbarung zum Zwecke der Wettbewerbsbeschränkung“ 5, wobei die Beeinträchtigung nicht formal, sondern aufgrund einer ökonomischen Analyse festzustellen ist6. Die begriffliche Unbestimmtheit betrifft auch den Wettbewerbsbegriff, jedenfalls existiert keine umfassend allgemeingültige Festlegung im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen7. § 1 GWB in seiner aktuell gültigen Fassung verbietet diese Vereinbarungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen. Unternehmen sollen keine Vereinbarungen treffen8, welche ihre eigene wirtschaftliche Betätigungsfreiheit oder die Dritter einengen9. Aber nicht nur Vereinbarungen, sondern auch abgestimmtes Verhalten, also eine Abstimmung über das konkrete wettbewerbsrelevante Marktverhalten10, ist ein Kartell, zumal auch konkludentes Verhalten grundsätzlich einen Vertrag zu begründen vermag11. Auch Absprachen begründen Erwartungen
kommens zwischen Staaten betraf ein Kartell Regelungen von geringerer politischer Bedeutung zur Verbesserung oder Erleichterung von Verwaltungsmaßnahmen, etwa im Zollwesen, aber auch die wechselseitige Auslieferung von Deserteuren. Ansonsten ist ein Kartell eine „vertragsmäßige Vereinbarung zwischen selbständig bleibenden Unternehmen des gleichen Gewerbezweigs, die durch Regelungen von Einkauf, Erzeugung oder Absatz ihren Markt beeinflussen und dabei vielfach monopolistische Zwecke verfolgen“, Der große Brockhaus, Bd. 15, 1931, S. 748 f.; zum Ursprung des Kartellbegriffs auch K. Krauß, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 1, § 1 GWB, Rdn. 2, S. 59. 4 K. Krauß, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 1, § 1 GWB, Rdn. 1, S. 59, in der 8. GWB-Novelle taucht der Begriff des Kartells nicht auf. Der EuGH versteht unter Wettbewerb die „wirtschaftliche Betätigungsfreiheit der Unternehmen auf dem von ihnen vorgefundenen Markt“ (EuGH, 29.10.1980, „FEDETAB“, Slg. 1980, 3125; „Javico“, 28.4.1998, C – 306/96, Slg.1998, I – 01983, Tz. 13; „Asnef-Equifax“, 23.11. 2006 – C 238/05, Slg. 2006, I – 11125, Tz. 52). 5 W. Fikentscher, Wettbewerb und gewerblicher Rechtsschutz, S. 54. 6 F. J. Säcker, in: Münchner Kommentar, Europäisches und Deutsches Wettbewerbsrecht, Bd. 2, § 1 GWB, Rdn. 14, S. 18. 7 K. Krauß, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 1, § 1, Rdn. 16, S. 65; der Wettbewerbsbegriff wird vom Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen vorausgesetzt, H.-J. Bunte, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 1, Einl. zum GWB, Rdn. 78, S. 26. 8 Eine Vereinbarung ist getroffen worden, wenn die Unternehmen den übereinstimmenden Willen haben, sich auf dem Markt in bestimmter Weise zu verhalten, M. Paschke, in: Münchner Kommentar, Europäisches und Deutsches Wettbewerbsrecht, Bd. 1, Art. 101 AEUV, Rdn. 11. 9 K. Krauß, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 1, § 1, Rdn. 17, S. 65. 10 K. Krauß, in: Langen/Beute, Kartellrecht, Bd. 1, § 1, Rdn. 92, S. 95, wobei ein Parallelverhalten noch keine Abstimmung bewußter oder gewollter praktischer Zusammenarbeit darstellt, Rdn. 93, S. 95. Allerdings genügt die Eignung zur Wettbewerbsbeschränkung, M. Paschke, in: Münchner Kommentar, Europäisches und Deutsches Wettbewerbsrecht, Bd. 1, Art. 101 AEUV, Rdn. 60. 11 Zur konkludenten Willenserklärung A. Feuerborn in: Heidel/Heißtege/Masch/ Noack, NK-BGB, Vor. § 116–124, S. 69, Rdn. 12; R. Singer, in: Staudinger/Hertel, Kom-
I. Das Kartell als ein Typus des Vertrages
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bestimmten Verhaltens, auf welches dann das eigene Handeln abgestellt wird12. Auf die Form von Verträgen kommt es grundsätzlich nicht an13, es sei denn, daß sich aus den allgemeinen Gesetzen bestimmte Formvorschriften ergeben14. Der Begriff der Vereinbarung ist demnach weit auszulegen, Vereinbarungen bedürfen keinen besonderen Form15, obwohl Kartelle als Verbindungen des Privatrechts vielfach in der Rechtsform einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts auftreten, aber auch als rechtsfähiger oder nichtrechtsfähiger Verein oder als Doppelgesellschaft (eine GbR mit z. B. einer GmbH als Ausführungsorgan)16. Die Menschen schließen sich zu einer Gemeinschaft zusammen, weil sie der Meinung sind, daß sie so ihre Ziele besser verwirklichen können, als wenn dies jeder für sich allein versucht. Kartelle im Sinne des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen sind „Vereinbarungen von durch ein Gesellschaftsverhältnis verbundenen, in ihren Beziehungen zueinander selbständig bleibenden Unternehmen zur Beschränkung des zwischen ihnen ohne diese Verbindung möglichen Wettbewerbs, die geeignet sind, die Faktoren, die bei vollständiger Konkurrenz allein für den Ablauf des Marktgeschehens maßgeblich sein sollten, nämlich eine sich aus den natürlichen Gegebenheiten des Marktes ergebende Bildung von Angebot und Nachfrage und einen sich daraus entwickelnden Preis und Absatz, zu beeinflussen“ 17. Grundsätzlich beinhaltet Art. 9 Abs. 1 GG mit seinem individualrechtlichen Grundbezug18 den Schutz des „Sich-Vereinigens“ 19 und damit die „Persönlichkeitsvermentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 1, Allgem. Teil 3, § 116, S. 467, Rdn. 53 f.; R. Brock, Allgemeiner Teil des BGB, § 116, S. 223, Rdn. 573, S. 408. 12 Zur Vertragsverbindlichkeit K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 508 ff., 509; ders., Res publica res populi, S. 199. 13 Zum Grundsatz der Formfreiheit Ch. Hertel in: Staudinger/Hertel, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 1, Allgem. Teil 3, § 125, Rdn. 3, S. 4. 14 Zur Nichtigkeit von Verträgen wegen Formmangels U. Noack, S. Kremer, in: Heidel/Heißtege/Masch/Noack, NK-BGB, § 125, S. 759, Rdn. 30. 15 Für die Annahme einer Vereinbarung genügt es, daß die Unternehmen ihren gemeinsamen Willen, sich auf dem Markt in bestimmter Weise zu verhalten, tatsächlich zum Ausdruck gebracht haben. Das muß nicht schriftlich oder mündlich erfolgen, K. Krauß, in: Langen/Beute, Kartellrecht, Bd. 1, § 1, Rdn. 64 f., S. 84 f., auch ist kein Rechtsbindungswille erforderlich, Rdn. 68, S. 86; so auch M. Paschke, in: Münchner Kommentar, Europäisches und Deutsches Wettbewerbsrecht, Bd. 1, Art. 101 AEUV, Rdn. 18, 63 a. 16 Zu den Rechtsformen der Kartelle auch W. Fikentscher, Die Interessengemeinschaft, S. 21 ff.; zum gesellschaftsähnlichen Verhältnis von Kartellen, K. Krauß, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 1, § 1 GWB, Rdn. 3, S. 59 f., wobei es aber auf die Rechtsform von Vereinigungen nicht ankommt, Ch. Kannengießer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 9, Rdn. 9. 17 H. Müller-Henneberg, Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen, Kommentar, Vorbemerkung zu § 1, Rdn. 1. 18 R. Scholz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 9, Rdn. 21; Ch. Kannengießer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 9, Rdn. 6. 19 R. Scholz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 9, Rdn. 26, Ch. Kannengießer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 9, Rdn. 7.
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6. Kap.: Das Kartell als Problem des Privatheitsprinzips
wirklichung in Gruppenform“ 20. Geschützt ist aber auch die „freiheitlich-private Zweckgemeinschaft“ bei größtmöglicher Zweckoffenheit, allerdings nur insoweit, wie damit erlaubte Zwecke verfolgt werden21. Kooperationen spielen „auch in der sozialen Marktwirtschaft eine wesensnotwendige Rolle“ 22. Das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen verbietet demnach nicht die Kooperation an sich, sondern lediglich, daß durch Vertrag, Vereinbarung oder abgestimmtes Verhalten ein bestimmter Zweck verfolgt wird, nämlich die Marktverhältnisse durch Beschränkung des Wettbewerbs zu beeinflussen23. Nur solche Verträge oder Vereinbarungen sind verboten (und waren bis zum 31. Dezember 1998 ex lege unwirksam). Die Wirklichkeit des Wirtschaftslebens ist eben auch durch Kooperation gekennzeichnet wie etwa eine Arbeitsgemeinschaft mehrerer Unternehmen24 zur Realisierung eines großen Bauvorhabens25 oder die Gründung eines Gemeinschaftsunternehmens26 als Form wettbewerbsbeschränkungsfreier Zusammenarbeit27. Ein Kooperationsvertrag ist grundsätzlich ebenso wenig unsittlich wie ein gegenseitiger Vertrag und daher kein Vertragstypus, der deswegen zu verbieten wäre, bloß weil die Vertragspartner ihre Interessen nicht jeder für sich allein, sondern gemeinsam in ihrer Privatheit verfolgen. Auch Kartelle sind durch Art. 9 Abs. 1 GG grundrechtsgeschützt28. Durch Vertrag sichert der Mensch seine Interessen, welche er ohne die Menschen, mit denen er in der Gemein-
20 R. Scholz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 9, Rdn. 34, Ch. Kannengießer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 9, Rdn. 10. 21 R. Scholz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 9, Rdn. 38, Ch. Kannengießer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 9, Rdn. 11. 22 W. Fikentscher, Die Interessengemeinschaft, S. 9. 23 § 1 GWB erfaßt nicht alle Wettbewerbsbeschränkungen, sondern nur bestimmte Vorgänge, die durch eine Reihe persönlicher, formeller und sachlich-inhaltlicher Kriterien abgegrenzt werden, K. Krauß, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 1, § 1 GWB, Rdn. 3, S. 59 f. 24 Arbeitsgemeinschaften können auch zu einer Intensivierung des Wettbewerbs führen, wenn „die Untenehmen ohne Zusammenarbeit überhaupt nicht imstande wären, auf dem Markt tätig zu werden“, (notwendige Arbeitsgemeinschaft), F. J. Säcker, in: Münchner Kommentar, Europäisches und Deutsches Kartellrecht, Bd. 2, § 1 GWB, Rdn. 39, S. 26. 25 Ch. Hootz, Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen und Europäisches Kartellrecht, Gemeinschaftskommentar, 1. Lieferung, Rdn. 147 ff. 26 Ch. Hootz, Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen und Europäisches Kartellrecht, Gemeinschaftskommentar, 1. Lieferung, Rdn. 176 ff. 27 Solche wettbewerbsbeschränkungsfreie Zusammenarbeit ist kartellrechtlich zulässig. Sie kann aber kartellrechtlich relevant werden, wenn sie die wettbewerbliche Handlungsfreiheit der beteiligten Unternehmen spürbar einschränkt, wobei die Grenzen zur wettbewerbsbeschränkungsfreien Zusammenarbeit „nicht immer und augenfällig erkennbar“ sind, Ch. Hootz, Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen und Europäisches Kartellrecht, Gemeinschaftskommentar, 1. Lieferung, Rdn. 145. 28 R. Scholz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 9, Rdn. 64.
II. Die Rechtfertigung der Kartelle durch das Privatheitsprinzip
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schaft lebt, nicht verwirklichen könnte29. Auch Kooperationsprozesse sind Bestandteil privater Lebensbewältigung30.
II. Die Rechtfertigung der Kartelle durch das Privatheitsprinzip Das Privatheitsprinzip rechtfertigt sowohl den gegenseitigen Vertrag als auch das Kartell, weil sich nämlich aus dem gewählten Vertragstypus per se keine Rückschlüsse auf eine mögliche Schädigung Dritter, also der am Vertrag nicht Beteiligten, ziehen lassen. Die Tatbestände, die das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen erfaßt, gehören ausnahmslos dem Privatrecht an31. Es bleibt richtig, daß durch eine Kartellierung eine wirtschaftliche Machtstellung begründet oder verstärkt werden kann, welche dann zum ökonomischen Nachteil von Wettbewerbern und Verbrauchern mißbraucht werden kann. Die Vereinigungsfreiheit des Art. 9 Abs. 1 GG darf nicht als Mittel zur Begründung übermäßiger wirtschaftlicher Machtstellungen in Anspruch genommen werden32. Das mißbräuchliche Ausnutzen einer wirtschaftlichen Machtstellung ist in keinem Fall gerechtfertigt; denn die allgemeine Freiheit der Wirtschaftsbürger ist zu gewährleisten. Allerdings darf nicht übersehen werden, daß auch der gegenseitige Vertrag, welcher unter Wettbewerbsbedingungen geschlossen wurde, durchaus zum Nachteil der Mitbewerber geschlossen wird, weil diese zum begehrten Vertragsabschluß nicht gekommen sind. Dieses Ausschlußprinzip ist ja gerade die Funktionsweise jeden Wettbewerbs unter Knappheitsbedingungen. Die Nachteilhaftigkeit für Dritte kann per se also kein Kriterium für den Mißbrauch einer wirtschaftlichen Machtstellung durch Kartellierung sein. Das wäre dann der Fall, wenn die übrigen Marktteilnehmer nicht nur einen hinzunehmenden Nachteil, sondern einen Schaden erleiden würden. Was aber ein Schaden ist, bestimmt das allgemeine Gesetz, und nicht jeder Nachteil muß vom Gesetzgeber als Schaden eingestuft werden. Maßgeblich dafür ist, was für das gemeinsame Leben praktisch vernünftig ist33. Dies zu beurteilen ist problematisch. Die aktuelle Version des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (in der Fassung vom 26. Juni 201334) enthält ein Kartellverbot (§ 1 GWB). Entfallen 29 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 513 ff.; ders., Res publica res populi, S. 408 f. 30 So im Ergebnis E.-J. Mestmäcker, Über das Verhältnis des Rechts der Wettbewerbsbeschränkungen zum Privatrecht, AcP 168 (1968), S. 235 ff., 247. 31 E.-J. Mestmäcker, Über das Verhältnis des Rechts der Wettbewerbsbeschränkungen zum Privatrecht, AcP 168 (1968), S. 235 ff., 236. 32 R. Scholz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 9, Rdn. 152; dem „Monopolsyndikalismus bislang unbekannten Ausmaßes müsse „ein Riegel vorgeschoben werden“, H. H. Rupp, Grundgesetz und Wirtschaftsverfassung, S. 21 f. 33 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 353 f. 34 BGBl. I S. 1750, 3245.
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6. Kap.: Das Kartell als Problem des Privatheitsprinzips
sind aber die Ausnahmen vom Kartellverbot, nämlich die Normen- und Typenkartelle sowie die Konditionenkartelle (§ 2 GWB a. F.), die Spezialisierungskartelle (§ 3 GWB a. F.), die Rationalisierungskartelle (§ 5 GWB a. F.) und die Strukturkrisenkartelle (§ 6 GWB a. F.). Beibehalten wurden die Ausnahmen für Mittelstandskartelle (§ 3 GWB, § 4 GWB a. F.) und die sonstigen Kartelle, welche vom Verbot des § 1 GWB freigestellt sind, wenn sie unter angemessener Beteiligung der Verbraucher an dem entstehenden Gewinn „zur Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts beitragen“ (§ 2 GWB, § 7 GWB a. F.)35. Das GWB geht von der grundsätzlichen Zulässigkeit von Kartellen aus, auch von solchen, welche den Wettbewerb beschränken. Das ist wegen des umfassenden Privatheitsprinzip und dem damit verbundenen Recht zur Kooperation auch zwingend. Kartelle im Sinne des § 2 GWB sind ohne Verwaltungsverfahren vom Kartellverbot des § 1 GWB freistellt36: „Vom Verbot des § 1 freigestellt sind Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen oder aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, die unter angemessener Beteiligungen der Verbraucher an dem entstehenden Gewinn zur Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts betragen, ohne dass den beteiligten Unternehmen 1. Beschränkungen auferlegt werden, die für die Verwirklichung dieser Ziele nicht unerläßlich sind, oder 2. Möglichkeiten eröffnet werden, für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren den Wettbewerb auszuschalten.“ Ob die in § 2 Abs. 1 GWB aufgeführten Freistellungstatbestände erfüllt sind, entscheiden nicht mehr die Wettbewerbsbehörden im Rahmen eines entsprechenden Verwaltungsverfahrens ex ante, sondern darüber befinden die kartellierenden Unternehmen in ihrer Privatheit37 zunächst allein38. Die Befugnisse der Kartell35 Daß sich der Gesetzgeber positive ökonomische Wirkungen von den zugelassenen Wettbewerbsbeschränkungen versprochen hat, basiere auf einer trügerischen Erwartung, W. Möschel, Ökonomische Kriterien in der Anwendung des Kartellgesetzes; JA 1986, S. 525 ff., 527. 36 Dazu H.-H. Schneider, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 1, § 2 GWB, Rdn. 26, S. 210. 37 „Auf Basis ihrer Selbsteinschätzung“, H.-H. Schneider, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 1, § 2 GWB, Rdn. 26, S. 211. 38 Kartellierende Unternehmen können sich unter den entsprechenden Voraussetzungen auf die verschiedenen Gruppenfreistellungsverordnungen gemäß Art. 101 Abs. 3 AEUV berufen, sie gelten auch im deutschen Recht. Die wichtigsten Gruppenfreistellungsverordnungen sind: die Vertikal-GVO (VO 330-2101 der Kommission vom 20.4. 2010), die Kfz-GVO (VO 461/2010 der Kommission vom 27.5.2010), die Versicherungs-GVO (VO 267/2010 der Kommission vom 24.3.2010), die F&E-GVO (VO 1217/ 2010 der Kommission vom 14.12.2010), die Spezialisierungs-GVO (VO 1218/2010 der Kommission vom 14.12.2010), die Technologietransfer-GVO (VO 316/2014 der Kom-
II. Die Rechtfertigung der Kartelle durch das Privatheitsprinzip
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behörden reduzieren sich auf eine Mißbrauchsaufsicht39 ex post40, indem sie gemäß § 32 GWB41 Zuwiderhandlungen nachträglich feststellen und abstellen können42. Damit sind alle Kartelle von Anfang an rechtswirksam und dürfen zunächst praktiziert werden. Es gibt keine generelle Vermutung der Nichtigkeit von Kartellen43. Dazu gehören „die vertragliche Festsetzung von Preisen, die Einschränkung des Wettbewerbs in der Produktion, im Absatz oder bei den Investitionen sowie die Aufteilung von Märkten oder Versorgungsquellen“ 44. Das Verbot einer wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung greift nur dann ein, wenn die Kartellbehörden oder die Gerichte durch ihre Entscheidung feststellen, daß Freistellungsmerkmale nicht zu den in § 2 Abs. 1 GWB genannt Vorteilen beitragen45. Dann müssen Beschränkungen auferlegt werden, die für diese positiven Ziele46 nicht unerläßlich sind, und es ist darzulegen, ob die Möglichkeit eröffnet
mission vom 21.3.2014). Dazu F. J. Säcker, in: Münchner Kommentar, Europäisches und Deutsches Kartellrecht, Bd. 2, § 2 GWB, Rdn. 5, S. 32; H.-H. Schneider, in: Langen/ Bunte, Kartellrecht, Bd. 1, § 2 GWB, Rdn. 63 ff., S. 225 ff. 39 E.-J. Mestmäcker, Versuch einer kartellpolitischen Wende in der EU, EuZW 1999, S. 523 ff., 524. 40 Mit der entsprechenden Rechtsunsicherheit für die Unternehmen, H.-H. Schneider, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 1, § 2 GWB, Rdn. 56 f., S. 222 f. Um diese Rechtsunsicherheit zu reduzieren, besteht für die Unternehmen die Möglichkeit eines sogenannten Negativtests gemäß § 32 c GWB: „Sind die Voraussetzungen für ein Verbot nach den §§ 1, 19 bis 21 und 29, nach Artikel 101 Absatz 1 oder Artikel 102 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union nach den der Kartellbehörde vorliegenden Erkenntnissen nicht gegeben, so kann sie entscheiden, daß für sie keine Anlass besteht, tätig zu werden. Die Entscheidung hat zum Inhalt, dass die Kartellbehörde vorbehaltlich neuer Erkenntnisse von ihren Befugnissen nach den §§ 32 und 32a keinen Gebrauch machen wird. Sie hat keine Freistellung von einem Verbot im Sinne des Satzes 1 zum Inhalt“. Dazu J. Keßler, in: Münchner Kommentar, Europäisches und Deutsches Kartellrecht, Bd. 2, § 32 c GWB, Rdn. 1, S. 526. 41 § 32 GWB lautet: „(1) Die Kartellbehörde kann Unternehmen oder Vereinigungen von Unternehmen verpflichten, eine Zuwiderhandlung gegen eine Vorschrift dieses Gesetzes oder gegen Artikel 101 oder 102 des Vertrages über die Arbeitsweise der Union abstellen.“ 42 Zur Funktion der Abstellungsverfügung, J. Bornmann, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 1, § 32 GWB, Rdn. 7, S. 809 f. 43 So jedenfalls sah das bereits die Europäische Kommission, Weissbuch über die Modernisierung der Vorschriften zur Anwendung der Artikel 85 und 86 EG-Vertrag, ABl. EG 1999 C 12/1, 21, Tz. 78. 44 E.-J. Mestmäcker, Versuch einer kartellpolitischen Wende in der EU, EuZW 1999, S. 523 ff., 525. 45 Bei dieser Feststellung durch die Kartellbehörden handelt es sich aber nicht um eine Feststellung einer Zuwiderhandlung, J. Bornmann, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 1, § 32 GWB, Rdn. 28, S. 813, auf ein Verschulden der Unternehmen kommt es nicht an, Rdn. 5, S. 809. 46 Daß sich der Gesetzgeber positive ökonomische Wirkungen von den zugelassenen Wettbewerbsbeschränkungen versprochen hat, basiert auf einer trügerischen Erwartung, W. Möschel, Ökonomische Kriterien in der Anwendung des Kartellgesetzes, JA 1986, S. 525 ff., 527.
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6. Kap.: Das Kartell als Problem des Privatheitsprinzips
wird, für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren den Wettbewerb auszuschalten47. Die Unternehmen, welche sich auf diese Voraussetzungen für eine Ausnahme vom Kartellverbot berufen, haben insoweit auch die Darlegungs- und Beweislast48. Die Unternehmen müssen nicht mehr vor der Ausübung der Kartellierung ihre Anhaltspunkte darlegen, die für eine Ausnahme vom Kartellverbot sprechen, sondern erst dann, wenn sie ins Visier der Mißbrauchsaufsicht durch die Kartellbehörden geraten. Diese Legitimationskriterien im Rahmen der Rechtsund Verwaltungspraxis näher zu materialisieren erfordert aber Daten, welche sich erst durch den Wettbewerb als Entdeckungsverfahren ergeben müßten, obwohl gerade dieser empirisch nicht stattgefunden hat. Die Kritik Karl Albrecht Schachtschneiders an dieser Praxis wurde im vergangenen Kapitel dargestellt. Obwohl Kartelle zur wirtschaftlichen Wirklichkeit zählen und an der Tagesordnung sind, ist aber dennoch kein Kartelliberalismus49 gerechtfertigt. Gleichwohl bleiben Kartelle aber ein Massenproblem50. Eine Grenze, wie weit das Privatheitsprinzip reicht und ab welchem Punkt eine Kooperation von Unternehmen die Freiheit von Konkurrenten und Mitbewerbern am Markt in unzumutbarer Weise beschränkt, läßt sich nicht mit Marktrationalität bestimmen. Das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen enthält aber auch klare Handlungsverbote, etwa das Boykottverbot gemäß § 21 Abs. 1 GWB: „Unternehmen und Vereinigungen von Unternehmen dürfen nicht ein anderes Unternehmen oder Vereinigungen von Unternehmen in der Absicht, bestimmte Unternehmen unbillig zu beeinträchtigen, zu Liefersperren oder Bezugssperren auffordern.“ Diese Vorschrift stellt nicht auf eine Beeinträchtigung der Marktrationalität durch Wettbewerbsbeschränkung ab, sondern unmittelbar auf den Schutz der unternehmerischen Freiheit von Konkurrenten und Mitbewerbern, welche nicht durch Boykott47 Die Kartellbehörden können „alle erforderlichen Abhilfemaßnahmen verhaltensorientierter oder struktureller Art vorschreiben, die gegenüber der festgestellten Zuwiderhandlung verhältnismäßig und für eine wirksame Abstellung der Zuwiderhandlung erforderlich sind“, H.-H. Schneider, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 1, § 32 GWB, Rdn. 29, S. 815, unter Bezugnahmen auf Begr.Reg.E., BT-Drucks. 17/9852, S. 26. 48 E.-J. Mestmäcker, Versuch einer kartellpolitischen Wende in der EU, EuZW 1999, S. 523 ff., 526; zur Beweislast auch F. J. Säcker, in: Münchner Kommentar, Europäisches und Deutsches Kartellrecht, Bd. 2, § 2 GWB, Rdn. 12, S. 34. 49 Dem „Monopolsyndikalismus bislang unbekannten Ausmaßes“ müsse „ein Riegel vorgeschoben“ werden, H. H. Rupp, Grundgesetz und „Wirtschaftsverfassung“, S. 21 f. 50 E.-J. Mestmäcker, Versuch einer kartellpolitischen Wende in der EU, EuZW 1999, S. 523 ff., 524; „Jedenfalls ist es undenkbar, daß die Unternehmen Tausende von Vereinbarungen anmelden, die die Kommission zu untersuchen hätte“, Europäische Kommission, Weissbuch über die Modernisierung der Vorschriften der Artikel 85 und 86 EG-Vertrag, EG Abl. C 132/16 vom 12.5.1999, im Übrigen sind in der über 35jährigen Anwendung der Verordnung 17/62 nach Anmeldung einer Vereinbarung (ohne Vorliegen einer Beschwerde) nur neun Verbotsentscheidungen erlassen worden, 132/21 Fußnote; in Deutschland konnten in den Jahren 2006–2009 lediglich 14 Kartellverfahren abgeschlossen werden, Bundeskartellamt, Erfolgversprechende Kartellverfahren, Nutzen für Wirtschaft und Verbraucher, Bonn, 2011, S. 7.
II. Die Rechtfertigung der Kartelle durch das Privatheitsprinzip
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handlungen in ihrer Freiheit unbillig und in unzumutbarer Weise, „zum Nachteil im geschäftlichen Verkehr“ 51, beeinträchtigt werden dürfen. Verbotskriterium ist also nicht eine mangelnde Marktrationalität, sondern mangelnde Sittlichkeit der Boykotthandlungen von Unternehmen. Sind klar bestimmte oder bestimmbare Handlungen und Handlungsweisen durch Gesetz verboten, sind diese Verbote auch von Wettbewerbsbehörden und Gerichten ohne hilfsweisen Rückgriff auf fragwürdige nationalökonomische Theorien vergleichsweise einfach zu judizieren, insbesondere durch Unterlassungs- und Abstellungverfügungen52. Gesetze verwirklichen die Freiheit der Bürger und kein Marktergebnis. Marktrationalität durch Gesetz durchzusetzen, vermag damit auch das deutsche GWB nicht, wohl aber den Schutz der Freiheit von Unternehmern und Unternehmen sowie der Verbraucher durch Handlungsverbote53.
51 J. Nothdurft, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 1, § 21 GWB, Rdn. 35, S. 624, wobei es aber eine beabsichtige Beeinträchtigung sein muß; der „tatsächlich Eintritt einer Beeinträchtigung reicht nicht aus, wenn sich die Absicht des Auffordernden nicht hierauf richtete. Andererseits ist die tatsächlich Nachteilszuführung nicht erforderlich, sofern eine entsprechende Absicht des Auffordernden feststellbar ist“. 52 J. Keßler, in: Münchner Kommentar, Europäisches und Deutsches Kartellrecht, Bd. 2, § 32 GWB, Rdn. 47 ff., S. 492 ff. Diese Verfügungen müssen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen, Rdn. 50 ff., S. 593 ff. Zum Verhältnismäßigkeitsprinzip grundsätzlich K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 342 ff. 53 Fraglich ist, ob das allgemeine Unbilligkeitsurteil von Preiskartellen gerechtfertigt ist oder ob sie nicht vielleicht doch durch das Privatheitsprinzip gedeckt sind, auch dann, wenn sie zu erheblichen Mehreinnahmen seitens der sich kartellierenden Unternehmen führen. Als Beispiel soll die Entscheidung der EU-Kommission vom 21. November 2001 angeführt werden (zusammenfassend EC IP/01/1625), in welcher die EUKommission „gegen acht Vitaminhersteller wegen Beteiligung an acht geheimen Marktaufteilungs- und Preisfestsetzungsabsprachen Geldbußen in Höhe von insgesamt 855,22 Mio. EUR verhängt“ hatte, wobei auf die deutsche BASF AG A 296,16 Mio. entfielen. Wenn und soweit die Einnahme von Vitaminpräparaten aus gesundheitlichen Gründen nicht zwingend erforderlich ist, damit eher eine Frage der Mode oder des Lifestyles und ihr Konsum durchaus verzichtbar ist, könnte man durchaus dafür argumentieren, daß die durch die Kartellabsprachen höheren Preise zu einem für die Verbraucher lediglich wirtschaftlichen Nachteil führen, welcher aber hinnehmbar ist, nachdem Unternehmen grundsätzlich auch in Kooperation ihre Gewinne maximieren dürfen. Ohnehin ist richtig, daß Unternehmen nicht wirklich zum Wettbewerb gezwungen werden können. Genau darum ist die Kommission mit ihrer Entscheidung aber bemüht. Anders ist die Sachlage zu bewerten, wenn die Einnahme von Vitaminen aus medizinischen Gründen erforderlich ist. Dann sind solche Präparate Arzneimittel und werden regelmäßig ärztlich verordnet. In diesen Fällen sind die Patienten und Krankenkassen, falls und soweit diese die überhöhten Kosten für diese Mittel mittragen, der nötigenden Willkür der sich kartellierenden Unternehmen zwingend ausgesetzt und dadurch in ihrer (äußeren) Freiheit verletzt, weil Patienten auf die Einnahme solcher Präparate nicht verzichten können und dadurch gezwungen sind, die höheren Preise zu bezahlen. Unter diesen Umständen wären solche Kartelle aus Gründen der Sittlichkeit nicht durch das Privatheitsprinzip gedeckt und damit zu verbieten, allemal in einer marktlichen Sozialwirtschaft. Solche sachlich durchaus gerechtfertigten Differenzierungen kennt das GWB aber nicht. Diese wenigen Hinweise mögen genügen.
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6. Kap.: Das Kartell als Problem des Privatheitsprinzips
Das gilt auch für das Verbot des Mißbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung gemäß § 19 Abs. 1 GWB: „Die missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung durch ein oder mehrere Unternehmen ist verboten“. Absatz 2 hat die besonderen Tatbestandsmerkmale für den Mißbrauch zum Inhalt. § 19 GWB schützt die unternehmerische „Freiheit als Freiheit von Machtausübung“ 54, oder in Kants Worten, die „Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür“ 55. Es geht also um die vom Staat „zu schützende Freiheitsausübung der Akteure“ am Markt. Dabei sei es Aufgabe des Rechts, auf die Wahrung der Grundrechtspositionen der beteiligten Parteien (Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 12. Abs. 1 GG, Art. 14 Abs. 1 GG) hinzuwirken um zu verhindern, daß sich für die einzelnen Vertragsparteien „die Selbstbestimmung in Fremdbestimmung verkehrt“. Damit ließen sich viele der übrigen Zielfunktionen des Wettbewerbsrechts insgesamt abbilden56, also auch der Schutz des Wettbewerbs als Institution57. Vor diesem Hintergrund sind der Schadensersatzanspruch und der Unterlassungsanspruch aus § 33 GWB differenziert zu betrachten. Den Unterlassungsanspruch bei Verstoß gegen eine Vorschrift des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen oder eine erlassene Verfügung der Kartellbehörde oder der Beschwerdegerichte, welche den Schutz eines Anderen58 bezwecken, wie das bereits genannte Boykottverbot aus § 21 Abs. 1 GWB rechtlich durchzusetzen, ist unproblematisch59. Anders ist das im Hinblick auf den Schadensersatzanspruch zu bewerten, soweit es die Feststellung der Höhe des entstandenen Schadens für Mitbewerber und Konkurrenten betrifft60. Auch das Bundeskartellamt muß eingestehen, daß im konkreten Einzelfall die Bestimmung des Preiseffekts des Kartells auf verschiedenen „Annahmen“ beruhe, welche unvermeidlich seien und zu Schätzungen führen, welche mit Unsicherheiten behaftet seien. Das gelte auch für die Vorhersage, wie lange ein Kartell ohne Aufdeckung noch bestanden hätte61. 54
J. Nothdurft, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 1, § 19 GWB, Rdn. 5, S. 429. Kant, Metaphysik der Sitten, 345. 56 J. Nothdurft, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 1, § 19 GWB, Rdn. 2, S. 428 f. 57 Für J. Bornkamm, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 1, § 33 GWB, Rdn. 39, S. 864, schützen alle kartellrechtlichen Verbote den Wettbewerb als Institution. 58 J. Bornkamm, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 1, § 33 GWB, Rdn. 35, S. 863, das Interesse des Einzelnen soll geschützt werden, wobei § 33 GWB kein Schutzgesetz i. S. d. § 823 Abs. 2 BGB darstellt. Der geschützte Personenkreis ist grundsätzlich unterschiedlich, entweder nur Mitbewerber oder nur Abnehmer und Lieferanten, oder alle diese Gruppen, Rdn. 34, S. 863. 59 Zur Durchsetzung von Beseitigungs- und Unterlassungsansprüchen, ggf. auch durch konkrete Handlungsgebote oder Kontrahierungszwang, H. Bornkamm, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 1, § 33 GWB, Rdn. 108 ff., S. 881 ff. 60 Zu den besonderen Schwierigkeiten eines Nachweises des Schadens Th. Lübbig, in: Münchner Kommentar, Europäisches und Deutsches Kartellrecht, Bd. 2, § 33 GWB, Rdn. 9 ff., S. 548 ff. 61 Bundeskartellamt, Erfolgversprechende Kartellverfahren, Nutzen für Wirtschaft und Verbraucher, S. 14, Fn. 12, wobei für das Bundeskartellamt „solche Schätzungen 55
III. Zur Wettbewerbsbeschränkung durch Kartelle
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Auch das Bundeskartellamt kennt die Zukunft nicht, insofern sind solche Schätzungen des Schadens spekulativ62 und eine entsprechende Quantifizierung der Schadensersatzleistung, welche auf der Grundlage der Ermittlung der Schadenshöhe etwa nach der Differenzhypothese erfolgt63, fragwürdig.
III. Zur Wettbewerbsbeschränkung durch Kartelle Im Wettbewerb ist jeder Unternehmer der Gefahr von Fehlentscheidungen und sonstigen, außerhalb seines Einflußbereichs liegenden Risiken ausgesetzt64. Die Ergebnisse des Wettbewerbs sind unvoraussagbar, und die Wirkung des Wettbewerbs ist, daß er gewisse Absichten vereitelt und gewisse Erwartungen enttäuscht65. Durch Kartellierung reduzieren Unternehmen, welche eigentlich im Wettbewerb gegeneinander stehen, ihr Marktrisiko, welches durch eben diesen Wettbewerb besteht, indem sie sich dem Wettbewerb entziehen; denn Ziel der Konkurrenz ist die Verdrängung vom Markt66, weshalb die Unternehmen versuchen, alles aus der Sphäre eines solchen Wettbewerbes herauszuhalten, was zu einer Gefahr des Zugrundegehens werden könnte67. Sie wollen, in Kants Worten, in der ungeselligen Geselligkeit der Zwietracht entgehen und Eintracht erreichen. Nun ist es nicht vorwerfbar, wenn Menschen in Einträchtigkeit miteinander auskommen wollen, indem sie sich im besten Sinne des Wortes vertragen, also auch einen Vertrag abschließen und so ein Kartell gründen. Aber niemand ist verpflichtet, sich dem Wettbewerb zu stellen und Anderen zu deren (und möglicherweise auch zum eigenen) Nachteil Konkurrenz zu machen. Obwohl sich kartellierte Unternehmen dem Wettbewerb entziehen und so durchaus den Wettbewerb einen wertvollen Eindruck von der Sozialschädlichkeit dieser extremen Form der Wettbewerbsbeschränkung und einen entsprechend vorsichtigen Wert für die mit der Kartellverfolgung direkt verbundenen wirtschaftlichen Vorteile“ vermitteln. 62 Auch die OECD geht davon aus, daß Kartelle zwar Schäden verursachten, wie groß der angerichtete Schaden allerdings sei, darüber gebe es kaum Erkenntnisse, OECD, Übersicht Bekämpfung von Hard-Core-Kartellen, verursachter Schaden, wirksame Sanktionen und Bonusregelung, 2002, S. 2. Unter Hard-Core-Kartellen werden hier Preis-, Submissions-, Mengen- und Marktaufteilungsabsprachen verstanden. 63 Dazu H. Bornkamm, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 1, § 33 GWB, Rdn. 117, S. 883, der Umfang und die Anspruchshöhe ist die Differenz zwischen dem tatsächlich gezahlten Kartellpreis und dem hypothetischen Preis, der sich unter Wettbewerbsbedingungen ergeben hätte. Zu weiteren Methoden und Möglichkeiten, etwa der Vergleichsmarktmethode oder der Regressionsanalyse Th. Lübbig, in: Münchner Kommentar, Europäisches und Deutsches Wettbewerbsrecht, Bd. 2, § 33 GWB, Rdn. 9 ff., S. 548 ff.; vgl. dazu die Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen „Praktischer Leitfaden zur Ermittlung des Schadensumfangs bei Schadensersatzklagen im Zusammenhang mit Zuwiderhandlungen gegen Artikel 101 oder 102 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union“, Abl. C 167/19 v. 13.9.2013. 64 W. Fikentscher, Die Interessengemeinschaft, S. 17. 65 F. A. v. Hayek, Freiburger Studien, S. 250. 66 K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 309. 67 H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 479.
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6. Kap.: Das Kartell als Problem des Privatheitsprinzips
beschränken, ist dies keine hinreichende Legitimation für ein generelles Kartellverbot. So hatte die Europäische Kommission die Auffassung vertreten, daß Art. 101 AEUV keine Vermutung zu entnehmen sei, wonach wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen gegen Art. 101 AEUV verstoßen würden68. Maßgeblich ist demnach nicht die Wettbewerbsbeschränkung per se, sondern die daraus resultierende Marktbeeinflussung. Es geht um den Schutz der Freiheit der nicht am Kartell beteiligten Personen, seien es Mitbewerber, Lieferanten oder Kunden, um deren „Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür“, wie Kant die äußere Freiheit definierte69, zu schützen70. Der Wettbewerb kann nicht dadurch definiert werden, daß die Verbraucher Wahlmöglichkeiten haben71, dennoch ist es eine Voraussetzung für den funktionierenden Wettbewerb, daß die Kunden nach ihren Präferenzen zwischen mehreren potentiellen Anbietern und deren Leistungsangeboten auswählen können. „Die Vorteile des Wettbewerbs sollen den Verbrauchern in Form niedriger Preise, höherer Qualität und eines größtmöglichen Angebots an neuen oder verbesserten Waren oder Dienstleistungen zugutekommen“ 72. Es ist durchaus von Bedeutung, daß auf dem Markt eine hinreichende Anzahl von Anbietern und Nachfragern vorhanden ist, welche unternehmerisch und wirtschaftlich unabhängig voneinander auf dem Markt agieren73. Durch Kartellierung von Unternehmen reduziert sich die Anzahl von Unternehmen mit unkoordiniertem Marktauftritt, wodurch die Wahlmöglichkeiten der Kunden auf der Marktgegenseite abnehmen. Durch diese Wettbewerbsbeschränkungen werden die Entscheidungs- und Dispositionsfreiheit der Akteure auf der Marktgegenseite eingeschränkt, weil sie auf ein reduziertes Leistungsangebot, welches im Verhältnis zu einer Situation ohne kartellierte Unternehmen differenzierter und vielfältiger vorhanden wäre, angewiesen sind. Wegen dieser Verknappung des Leistungsangebots durch Kartelle können die Präferenzen der Verbraucher nicht mehr in ihrer Vielfältigkeit befriedigt werden und wären demnach der nötigenden Willkür kartellierter Unternehmen ausgesetzt74. Es gelte vor diesem 68 E.-J. Mestmäcker, Versuch einer kartellpolitischen Wende in der EU, EuZW 1999, S. 523 ff., 526. 69 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 345; dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 443 ff., 494 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 50 ff., 67 ff., 322 ff., 456 ff., 509 ff. 70 So im Ergebnis W. Möschel, Ökonomische Kriterien in der Anwendung des Kartellgesetzes, JA 1986, S. 525 ff., 525. 71 K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 303. 72 H.-J. Bunte, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 1, Einl. zum GWB, Rdn. 77, S. 26. 73 Zwar seien Kartelle durch Art. 9 Abs. 1 GG grundrechtsgeschützt, allerdings nicht, wenn die Unternehmen lediglich ein bestimmtes Marktverhalten kartellmäßig koordinierten, R. Scholz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 9, Rdn. 64 übersieht hier den wesentlichen Zweck eines Kartells. 74 Wirtschaftliche Transaktionen kommen in der Marktwirtschaft nur zustande, wenn sie auch für den Partner vorteilhaft sind; denn sie beruhen auf dem Prinzip des freiwilli-
IV. Zum Problem wirtschaftlicher Macht durch Kartelle
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Hintergrund als praktisch vernünftig, wenn der Staat die Bildung von Kartellen durch Unternehmen überwacht, um so „die Marktteilnehmer immer wieder zu Vereinzelung und zur Gegnerschaft“ zu nötigen75. Diese Argumentation überzeugt nicht. Zwar sind bestimmte Kartelle durch das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen verboten, wodurch diese Kooperationen von Unternehmen unterbunden werden sollen und diese so zur „Vereinzelung“ genötigt werden. Zum Wettbewerb hingegen kann wegen des Privatheitsprinzips niemand gezwungen werden, auch Unternehmen nicht. Die These mag dahingestellt bleiben, daß Kartelle zu einer Verknappung des Leistungsangebots führen oder führen können, wodurch die Präferenzen der Verbraucher nicht mehr in ihrer Vielfältigkeit befriedigt werden. Das ist aber unproblematisch, es sei denn, es bestünde ein Anspruch der Verbraucher auf größtmögliche Vielfalt der Leistungsspektren von Unternehmen zu geringstmöglichen Preisen. Das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen jedenfalls gibt einen solchen rechtlichen Anspruch nicht her. Auf einen Wettbewerb, welcher die größtmögliche Befriedigung der Präferenzen von Verbrauchern gewährleisten soll, kommt es nicht an; denn in der Republik muß alles Handeln, auch das von einzelnen oder miteinander kooperierenden Unternehmen, für alle, also etwa Verbraucher, Konkurrenten und Mitbewerber am Markt, Lieferanten, Kredit- und Kapitalgeber sowie für die Arbeitnehmer, zumutbar und damit sittlich sein. Sittlichkeit verlangt die Sozialbindung des Eigentums und damit auch die Sozialbindung des Eigentums am Unternehmen; denn „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen“, Art. 14 Abs. 2 GG. Das Wohl der Allgemeinheit verwirklichen die allgemeinen staatlichen Gesetze, nicht der Wettbewerb, welcher als marktliches Verteilungsinstrument keine Gewähr für eine Verteilungsgerechtigkeit leistet; denn suum cuique.
IV. Zum Problem wirtschaftlicher Macht durch Kartelle Wirtschaftliche Stärke und unternehmerische Größe sind aus kartellrechtlicher Sicht kein grundsätzliches Problem: das deutsche Recht kennt kein Monopolisiegen Tausches. Ein Unternehmen kann also nur dann überleben, wenn es allen Vertragspartnern Angebote macht, die so attraktiv sind, daß es sich für die Partner lohnt, sie anzunehmen. Das gilt generell, also etwa für die Abnehmer unternehmerischer Leistungen, aber auch für Arbeitnehmer und Kapitaleigner, H. Demmler, Profit und Moral – Eine Auseinandersetzung mit der Kritik am Gewinnprinzip in der Marktwirtschaft, in: Marktwirtschaft, P. Harbusch, D. Wiek (Hrsg.), 1975, S. 2 ff. Reduziert sich durch Kartellierung die Vorteilhaftigkeit des Vertragsangebotes, reduziert sich damit auch die Freiwilligkeit der Vertragsannahme. Ist die unternehmerische Leistung bei funktionierendem Wettbewerb das Kriterium für die Annahme von Vertragsangeboten, so bietet der Wettbewerb auch „Minderheiten Schutz von der Anwendung willkürlicher Kriterien“, S. 30. 75 H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 479.
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6. Kap.: Das Kartell als Problem des Privatheitsprinzips
rungsverbot nach dem Muster des Section 2 Sherman Act im amerikanischen Recht76. Eine unternehmerische Handlungsmaxime, welche auf steigende Profitabilität und Wachstum des Unternehmens gerichtet ist, entspricht durchaus dem Grundsatz der Privatheit der Lebensbewältigung und der freien Entfaltung der Persönlichkeit des Unternehmers, welche durch Art. 2 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich geschützt sind. „Die mißgünstige wetteifernde Eitelkeit“ und „die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben oder auch zum Herrschen“, ohne welche „alle vortrefflichen Naturanlagen in der Menschheit ewig unterentwickelt schlummern“ würden77 liegt in der Natur des Menschen. Die Möglichkeit, daß Menschen zu Besitz und Einfluß gelangen, muß rechtlich zugestanden werden, alles Andere würde die menschliche Natur völlig verkennen. Es ist aus Gründen der Freiheit unproblematisch, wenn Menschen mehr an Eigentum und Einflußmöglichkeiten besitzen als andere, weil sie mehr und besser arbeiten als andere78. Ein wirtschaftlich starkes Unternehmen, welches die Marktführerschaft innehat, ist durchaus in der Lage, entscheidenden Einfluß auf die gesamte Branche auszuüben, indem es neue Produkte auf dem Markt einführt oder technische Standards setzt79, was die Mitbewerber der Branche im Rahmen ihrer unternehmerischen Planungen und Handlungen nicht unberücksichtigt lassen können. Unternehmerische Stärke und wirtschaftliche Einflußmöglichkeiten, welche auf der Leistung am Markt basieren, ist aus freiheitlich-republikanischer Sicht unproblematisch; denn es sind die Verbraucher und Kunden auf der Nachfrageseite, welche entscheiden, mit wem sie Verträge auf der Angebotsseite schließen. Einfluß und Einflußmöglichkeiten zu haben, ist nicht kritisierbar, weil jeder diese hat; denn alles Handeln hat Wirkung auf Alle und beeinflußt das Handeln aller Anderen. Auch dies macht das Leben in einer Gemeinschaft aus. Es kann aber nicht übersehen werden, daß große und wirtschaftlich starke Unternehmen größere Einflußmöglichkeiten haben und gewichtigeren Einfluß ausüben können als kleinere Unternehmen oder gar der einzelne Verbraucher. Wenn einzelne große oder miteinander kooperierende Unternehmen ihren Einfluß zur Verwirklichung ihrer Ziele und Zwecke nutzen, ist dies durch Art. 2 Abs. 1 GG, aber auch durch Art. 14 GG80 verfassungsrechtlich gedeckt. Kartellierende Unternehmen gebrauchen ihre Marktmacht, sie haben hierzu ein Gebrauchsrecht, wenn auch 76 W. Möschel, Ökonomische Kriterien in der Anwendung des Kartellgesetzes, JA 1986, S. 525 ff., 526; dazu M. Paschke, in: Münchner Kommentar, Europäisches und Deutsches Wettbewerbsrecht, Bd. 1, Art. 101 AEUV, Rdn. 81 ff. 77 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 38 f. 78 Zum Eigentum aus Arbeit K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 579. 79 Zu den unternehmerischen Wettbewerbsstrategien etwa H. Steinmann/G. Schreyögg, Management, Grundlagen der Unternehmensführung, S. 123 ff.; H. Hungenberg, Strategisches Management in Unternehmen, S. 198 ff. 80 Dazu K. A. Schachtschneider, Produktwarnung der Bundesregierung (Glykol-Skandal), in: ders., Fallstudien zum Öffentlichen Wirtschaftsrecht, S. 83 ff.
IV. Zum Problem wirtschaftlicher Macht durch Kartelle
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nicht übersehen werden kann, daß durch Kartelle die wirtschaftliche Macht der sich kartellierenden Unternehmen regelmäßig verstärkt wird oder sich zumindest verstärken kann. Das Recht, seine Marktmacht zu gebrauchen, ist kritisch zu bewerten, wenn Macht mit Max Weber als Chance verstanden wird, „innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“ 81; denn setzen Unternehmen ihre Ziele und Zwecke mit Macht durch, sind die übrigen Marktteilnehmer in ihrer äußeren (negativen) Freiheit als „Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür“ getroffen. Fraglich ist, ob und inwieweit diese den Machteinfluß hinzunehmen haben oder anders formuliert, wie weit der rechtmäßige Gebrauch wirtschaftlicher Macht reicht und ab wann dieser in einen unrechtmäßigen Gebrauch, in Mißbrauch der Marktmacht umschlägt. Die Antwort auf diese Frage hat auch verfassungsrechtliche Relevanz. Die „Verhütung des Mißbrauchs wirtschaftlicher Machtstellung“ ist Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 16 GG). Die Zuständigkeit des Gesetzgebers „erstreckt sich nur auf den Mißbrauch wirtschaftlicher Machtstellung, nicht auf den Gebrauch, und auch beim Mißbrauch nur auf die Verhütung“, und „Mißbrauch ist ein Gebrauch, der vom normalen, von der Rechtsordnung gebilligten Gebrauch abweicht und eine entartete Machtausübung darstellt“ 82. Mißbrauchsabwehr bedeutet nicht die Beseitigung von wirtschaftlicher Machtstellung und auch nicht die Verhütung des Entstehens wirtschaftlicher Macht83. Das Grundgesetz geht demnach von der Existenz wirtschaftlicher Macht und deren rechtmäßigen Gebrauch durch Unternehmen aus. Zu verhüten ist der unrechtmäßige Gebrauch als Mißbrauch. Dabei „kann ein Mißbrauch auch dadurch verhütet werden, daß gewisse, für Mißbrauch besonders anfällige Tätigkeiten durch Gesetz verboten oder darauf sich beziehende Verträge und Beschlüsse für unwirksam erklärt werden“ 84. Ersteres hat der Gesetzgeber in § 19 Abs. 2 in Verbindung mit Abs. 1 GWB getan85. Es liegt die Vermutung nahe, daß marktbeherr81 Weil das „soziale Handeln (einschließlich des Unterlassens oder Duldens)“ orientiert werden könne „am vergangenen, gegenwärtigen oder für künftig erwarteten Verhalten anderer“. Dies gelte insbesondere für das nach Erwartungen orientierte Handeln im Bereich der Wirtschaft, M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 28. 82 Th. Maunz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 74 Nr. 16, Rdn. 191 f.; dazu K. A. Schachtschneider, Wirtschaftsverfassung mit Welthandelsordnung, S. 302 f. 83 R. Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 74, Rdn. 194. 84 Th. Maunz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 74 Nr. 16, Rdn. 192. 85 § 19 Abs. 1 GWB: „Die missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung durch ein oder mehrere Unternehmen ist verboten“. Abs. 2: „Ein Mißbrauch liegt insbesondere vor, wenn ein marktbeherrschendes Unternehmen als Anbieter oder Nachfrager einer bestimmten Art von Waren oder gewerblichen Leistungen 1. Ein anderes Unternehmen unmittelbar oder mittelbar unbillig behindert oder ohne sachlich gerechtfertigten Grund unmittelbar oder mittelbar anders behandelt als gleichartige Unternehmen;
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schende Unternehmen im Sinne des § 18 GWB ihre Machtpotentiale zu Lasten anderer Unternehmen und zum Nachteil des Verbrauchers auch zu nutzen bereit sind. Insoweit ist die Verhütung des Mißbrauchs einer wirtschaftlichen Machtstellung mit der Abwehr einer Polizeigefahr als Schadenswahrscheinlichkeit nach der Lebenserfahrung86 vergleichbar. Von Bedeutung sind auch die Regelungen über verbotenes Verhalten von Unternehmen mit relativer oder überlegener Marktmacht. § 20 Abs. 1 GWB definiert relative Marktmacht: „§ 19 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 Nr. 1 gilt auch für Unternehmen und Vereinigungen von Unternehmen, soweit von ihnen kleine oder mittlere Unternehmen als Anbieter oder Nachfrager einer bestimmten Art von Waren oder gewerblichen Leistungen in der Weise abhängig sind, dass ausreichende und zumutbare Möglichkeiten, auf anderer Unternehmen auszuweichen, nicht bestehen (relative Marktmacht)“. Geschützt wird nicht der Wettbewerb vor Beschränkungen oder Beeinträchtigungen, sondern die Unternehmen in ihrer Freiheit als Voraussetzung allen Wettbewerbs. Die hier angesprochenen Regelungen des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen kommen demnach ohne (wirtschaftswissenschaftliche) Theorien zum Wettbewerb aus, weil sie das Handeln von Unternehmen gesetzlich regeln. In der Republik wird die Freiheit durch die Gesetze verwirklicht, welche die Willkür auch von großen und marktmächtigen Unternehmen auf die freie Willkür, die der Sittlichkeit verpflichtet ist, begrenzen. Das entspricht der Lehre Kants. Das ändert aber nichts am Befund Karl Albrecht Schachtschneiders, daß der Mißbrauchsbegriff nicht mit fiktiven Maßstäben, vor allem nicht mit dem Vergleichsmarkt- und dem Als-Ob-Marktkonzept, wie in der staatlichen Mißbrauchsaufsicht etwa gemäß § 19 Abs. 2 Nr. 2 GWB praktiziert, bestimmbar ist87, zumal die in § 19 Abs. 2 GWB genannten Tatbestände lediglich Typenfälle 2. Entgelte oder sonstige Geschäftsbedingungen fordert, die von denjenigen abweichen, die sich bei wirksamen Wettbewerb mit hoher Wahrscheinlichkeit ergeben würde; hierbei sind insbesondere die Verhaltensweisen von Unternehmen auf vergleichbaren Märkten mit wirksamem Wettbewerb zu berücksichtigen; 3. Ungünstigere Entgelte oder sonstige Geschäftsbedingungen fordert, als sie das marktbeherrschende Unternehmen selbst auf vergleichbaren Märkten von gleichartigen Abnehmern fordert, es sei denn, dass der Unterschied sachlich gerechtfertigt ist; 4. sich weigert, einem anderen Unternehmen gegen angemessenes Entgelt Zugang zu den eigenen Netzen oder anderen Infrastruktureinrichtungen zu gewähren, wenn es dem anderen Unternehmen aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen ohne die Mitbenutzung nicht möglich ist, auf dem vor- oder nachgelagerten Markt als Wettbewerber des machtbeherrschenden Unternehmens tätig zu werden; dies gilt nicht, wenn das marktbeherrschende Unternehmen nachweist, dass die Mitbenutzung aus betriebsbedingten oder sonstigen Gründen nicht möglich oder nicht zumutbar ist; 5. seine Machtstellung dazu ausnutzt, andere Unternehmen dazu aufzufordern oder zu veranlassen, ihm ohne sachlich gerechtfertigten Grund Vorteile zu gewähren.“ 86 Dazu K. A. Schachtschneider, Der Rechtsbegriff „Stand von Wissenschaft und Technik“, in: Freiheit – Recht – Staat, S. 121 ff., 137 f.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 352. 87 K. A. Schachtschneider, Wirtschaftsverfassung mit Welthandelsordnung, S. 311 ff. m.v. w. Nachw.
IV. Zum Problem wirtschaftlicher Macht durch Kartelle
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für den Mißbrauch einer wirtschaftlichen Machtstellung darstellen. Der Mißbrauchsbegriff selbst entzieht sich einer präzisen Definierbarkeit. Das liegt in der Natur der Sache; denn Mißbrauch ist immer auch Gebrauch, welcher grundsätzlich zulässig ist. Kartelle müssen demnach nicht Mißbrauch einer wirtschaftlichen Machtstellung sein88. Sollen Behörden und Gerichte den Mißbrauch einer wirtschaftlichen Machtstellung durch Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren feststellen und abstellen können, so bedarf es eines praktisch vernünftigen Kriteriums, um den rechtmäßigen Gebrauch vom unrechtmäßigen Gebrauch als Mißbrauch zu unterscheiden. Dabei weist Kant den Weg; denn dieses Abgrenzungskriterium ist die Sittlichkeit. Grundsätzlich gilt, daß eine Handlung nur erlaubt ist, falls diese einer Verbindlichkeit nicht entgegen steht89, wobei Verbindlichkeit „die Notwendigkeit einer freien Handlung unter einem kategorischen Imperativ der Vernunft“ 90 ist, „und diese Freiheit, die durch keinen entgegengesetzten Imperativ eingeschränkt wird, heißt Befugnis (facultas moralis)“ 91. „Der kategorische Imperativ, indem er eine Verbindlichkeit in Ansehung gewisser Handlungen aussagt, ist ein moralisch-praktisches Gesetz“ 92. Es ist das moralische Gesetz, welches „allererst den Begriff des Guten, so fern es diesen Namen schlechthin verdient, bestimme und möglich mache“ 93. Der Begriff des Guten wird also nach Maßgabe des Sittengesetzes, des kategorischen Imperativs bestimmt94. „Die Regel der Urteilskraft unter Gesetzen der reinen praktischen Vernunft ist diese: Frage dich selbst, ob die Handlung, die du vorhast, wenn sie nach einem Gesetz der Natur, von der du selbst ein Teil wärest, geschehen sollte, sie du wohl, als durch deinen Willen möglich, ansehen könntest. Nach dieser Regel beurteilt in der Tat jedermann Handlungen, ob sie sittlich-gut oder sittlich-böse sind“ 95. Daraus folgt: „Wenn die Maxime der Handlung nicht so beschaffen ist, daß sie an der Form eines Naturgesetzes überhaupt die Probe hält, so ist sie sittlich-unmöglich“ 96. Die Handlungsmaxime muß so verallgemeinerungsfähig sein, daß sie wie ein Gesetz der Natur gelten könnte, also für alle in einer menschlichen Gemeinschaft zumutbar ist. Nur sittlich mögliche Handlungen sind erlaubt, sittlich unmögliche Handlungen sind nicht erlaubt97. Die Mißachtung des kategorischen Imperativs ist sittlich-böse und führt zu einer unerlaubten Handlung. 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97
K. A. Schachtschneider, Wirtschaftsverfassung mit Welthandelsordnung, S. 302 f. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 328. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 327. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 328. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 328 f. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 182. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 180. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 188. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 189. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 327.
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6. Kap.: Das Kartell als Problem des Privatheitsprinzips
Ein Beispiel soll dies verdeutlichen. Gesetzt, ein marktmächtiges Unternehmen setzt am Markt höhere Preise durch, einzig weil es dies aufgrund seiner Marktmacht kann und nicht deshalb, weil die höheren Preise etwa durch ein verbessertes Leistungsangebot gerechtfertigt werden könnten. Diese Handlungsweise verstößt gegen den kategorischen Imperativ in der Formulierung als zweites, subjektives Prinzip des Willens, der Selbstzweckformel: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“ 98. Für diesen Unternehmer sind seine Abnehmer ausschließlich Mittel für die eigene Gewinnmaximierung, verletzt seine Vertragspartner in ihrer Selbstzweckhaftigkeit und damit in ihrer Würde. Diese Handlungsweise ist sittlich-unmöglich und deshalb nicht erlaubt. Dieser Gebrauch der Marktmacht ist demnach Mißbrauch derselben und verboten (§ 19 Abs. 1 GWB). Ließen sich aber die höheren Preise durch ein verbessertes Leitungsangebot rechtfertigen, so hätten die Abnehmer einen Vorteil, wodurch ihre Selbstzweckhaftigkeit und damit ihre Würde als Menschen gewahrt blieben, weil sie nicht bloßes Mittel zur Gewinnmaximierung dieses Unternehmens wären. Es ist die Sittlichkeit, welche den (legalen) Gebrauch der Marktmacht vom (illegalen) Mißbrauch unterscheidet. Letzteres als „entartete Machtausübung“ zu bezeichnen99, erscheint allerdings überhöht. Die Sittlichkeit darf nicht mit den „guten Sitten“ verwechselt werden. Zwar tauchte im Wettbewerbsrecht der Begriff der „guten Sitten“ in der alten Fassung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb100 in § 1 auf: „Wer im geschäftlichen Verkehr zu Zwecken des Wettbewerbs Handlungen vornimmt, die gegen die guten Sitten verstoßen, kann auf Unterlassung und Schadensersatz in Anspruch genommen werden“. Die „guten Sitten“ sind als „private Gesetze“ Übereinkünfte von Menschen in ihren besonderen, aber gemeinsamen privaten Belangen101. Das freiheitliche Sittengesetz ist formal, die „guten Sitten“ sind dagegen material zu begreifen102. Der formale kategorische Imperativ hat die Allgemeinverträglichkeit individueller Handlungen und Handlungsweisen zum Ziel, die materialen „guten Sitten“ dagegen sind Übereinkünfte im Sinne eines wie auch immer gearteten Moralismus besonderer privater Gruppen und sollen das Zusammenwirken innerhalb dieser Gruppen regeln. Deren „guten Sitten“ schaffen Verbindlichkeit durch Betroffenheit. Die „guten Sitten“ sind spezifisch privatheitlich103 und unmittelbare Gesetzgebung des Volkes, wenn sie allgemein sind. Ein 98
Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 61. Th. Maunz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 74 Nr. 16, Rdn. 191. 100 Gesetz vom 7. Juni 1909. RGBl 1909, 499. 101 K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 421 f. 102 K. A. Schachtschneider, Das Sittengesetz und die guten Sitten, in: Freiheit – Recht – Staat, S. 90 ff., 101 f. 103 K. A. Schachtschneider, Das Sittengesetz und die guten Sitten, in: Freiheit – Recht – Staat, S. 90 ff., 119. 99
IV. Zum Problem wirtschaftlicher Macht durch Kartelle
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material-wertethisches Verständnis der „guten Sitten“, welches sich mit einem materialen Begriff der Sittlichkeit als eine allgemein verbindliche Sittlichkeit verbindet, ist in der Republik freiheitswidrig, weil sie die bürgerliche Autonomie aufhebt104. Private Gruppenübereinkünfte über ein Sollen sind keine verbindlichen allgemeinen staatlichen Gesetze, führen nicht zum Recht und sind als Moralismen nicht erzwingbar; denn nur Recht ist mit der Befugnis zu zwingen verbunden105. Und nur die Beachtung des (formalen) kategorischen Imperativs genügt der Sittlichkeit, die „guten Sitten“ mögen sein, welche sie wollen. Das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen setzt vermachtete Märkte voraus, weil diese bei der wachsenden Größe und Stärke von Unternehmen völlig unvermeidbar sind. Alles andere hieße die Augen vor der Realität zu verschließen. Das betrifft aber auch die Erkenntnis, daß wirtschaftliche Macht durchaus auch politische Macht indiziert106. Dieses heutzutage brisante Problem ist aber nicht durch Regelungen des Wettbewerbsrechts zu lösen, weil das Streben nach Marktmacht per se nicht rechtswidrig ist107. Eine andere Sichtweise ergibt sich, wenn die wirtschaftliche Machtstellung nicht auf der Marktleistung und der entsprechenden Nachfrage, sondern auf einem Kartell oder einer Fusion basiert108; denn dabei wird die freie Willkür der Nachfrager und Bürger109 durch die Entscheidungen der Unternehmensleitungen und der Kapitaleigner ersetzt. Zwar ist 104 K. A. Schachtschneider, Das Sittengesetz und die guten Sitten, in: Freiheit – Recht – Staat, S. 90 ff., 109. 105 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 338 f.; dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 553 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 110 ff. 106 F. Böhm, Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung, S. 30, „sobald wirtschaftliche Macht auf dem Plan erscheint, gerät die Rechtsordnung ins Hintertreffen, mag sie so vortrefflich sein wie sie will“; dazu auch K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 140 ff. 107 E.-J. Mestmäcker, Über das Verhältnis des Rechts der Wettbewerbsbeschränkungen zum Privatrecht, AcP 168 (1968), S. 235 ff., 253. 108 Insoweit darf die Vereinigungsfreiheit des Art. 9 Abs. 1 GG nicht zur Begründung von wirtschaftlicher Macht gebraucht werden, R. Scholz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 9, Rdn. 152. 109 F. Böhm, Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung, sah in den Marktgesetzen „eine aufs Äußerste getriebene, technisch aufs Raffinierteste vervollkommnete tägliche und stündliche plebiszitäre Demokratie, ein das ganze Jahr hindurch vom Morgen bis in die Nacht währendes Volksreferendum, die technisch idealste Erscheinungsform von Demokratie, die überhaupt existiert“, weil diese Marktgesetzlichkeiten soziale Ordnungszusammenhänge darstellten, welche den „Charakter von täglichen Abstimmungsund Wahlvorgängen“ hätten, S. 50 f. Angebots- und Nachfrageentscheidungen der Marktteilnehmer aber sind Ergebnis ihrer freien Willkür und damit der Privatheit zuzuordnen, weil sie das Besondere materialisieren. Demokratische Plebiszite dagegen sind Ausfluß der politischen Freiheit der Bürger, zielen auf das staatliche Gesetz, welches das Allgemeine materialisiert und betreffen demnach das Staatliche. Diese Differenzierung ist zwingend; denn wären Nachfrage- und Angebotsentscheidungen ein plebiszitärer demokratischer Vorgang, wäre der Handel mit bestimmten Gütern und Leistungen, etwa der Drogenhandel, nicht verbietbar. Angebot und Nachfrage allein vermögen grundsätzlich nichts zu rechtfertigen.
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6. Kap.: Das Kartell als Problem des Privatheitsprinzips
es durch den Grundsatz der Privatheit grundsätzlich gerechtfertigt, wenn Unternehmer ihre Interessen auch gemeinsam mit anderen Unternehmern auf der Grundlage eines Kartells oder einer Fusion verfolgen, allerdings nur, solange es dabei nicht zur freiheitswidrigen Ausübung wirtschaftlicher Macht kommt110. Jede für Andere unzumutbare und deshalb unsittliche Machtausübung ist demnach mit der äußeren Freiheit der Menschen und Bürger unvereinbar. Sie ist durch staatliche Gesetze zu unterbinden, weil es ansonsten zu einer Gefahr für ein freiheitlich demokratisches Gemeinwesen kommt111. Rechtserheblich ist aber nicht eine Monopolstellung112, sondern die Beherrschung des Marktes, welche dem Schutz vor gegenwärtiger oder potentieller Konkurrenz und der Kontrolle von vor- oder nachgelagerten Stufen dient, indem marktbeherrschende Unternehmen andere Marktteilnehmer durch Androhung oder Zufügen von Nachteilen zu einem bestimmten Handeln nötigen113. Rechtswidrig ist der Einsatz von Marktmacht, um dadurch Vorsprünge im Wettbewerb zu erzielen, nicht aber das Streben nach einer solchen Position114. Wenn eine wirtschaftlich starke Position von Unternehmen und damit verbundene Machtpotentiale nicht zu verhindern sind, jedenfalls dann nicht, wenn sie auf unternehmerischem Wachstum durch die Marktleistung beruhen, muß das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen wettbewerbsbeschränkendes Verhalten, welches durch eine marktbeherrschende Stellung von einem oder mehreren Unternehmen durchgesetzt werden kann, verbieten (§§ 19 ff. GWB). Wenn also diese innere Grenze marktmächtiger Privatheit überschritten wird, muß der Staat eingreifen, um die Gemeinschaftsverträglichkeit des wettbewerblichen Handelns der Privaten sicherzustellen115. Dafür kommen etwa Preisvorschriften, aber auch die (sogenannte) Sozialisierung von Produktionsmitteln nach Art. 15 GG116 in Betracht. Die Handlungsmöglichkeiten eines marktbeherrschenden Unternehmens sind dahingehend gesetzlich zu be-
110 Nicht der Erwerb, sondern die Verteidigung und Ausdehnung von Marktmacht sind die typischen Tatbestände des Machtmißbrauchs. Insofern zählt auch der Erwerb von anderen Unternehmen zum Machtmißbrauch, E.-J. Mestmäcker, Europäisches Wettbewerbsrecht, S. 414. 111 So schon die Begründung des Regierungsentwurfes zum Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkung von 1955, Begr.Reg.E, 1955, BT-Drucks. 1158, daß nämlich der Mißbrauch von Monopolmacht geeignet sei, die Wettbewerbsordnung und die Rechtsordnung an sich zu gefährden, S. 21. Die Wettbewerbsordnung unter Einschluß der Verhinderung der mißbräuchlichen Ausnutzung der Marktstellung sei das wirtschaftliche Gegenstück zur politischen Demokratie, S. 22, und führe zu Vorteilen für den Verbraucherschutz und die Optimierung der Allokation von Produktionsfaktoren, S. 21. 112 W. Möschel, Ökonomische Kriterien in der Anwendung des Kartellgesetzes, JA 1986, S. 525 ff., 533. 113 E.-J. Mestmäcker, Europäisches Wettbewerbsrecht, S. 390. 114 E.-J. Mestmäcker, Über das Verhältnis des Rechts der Wettbewerbsbeschränkungen zum Privatrecht, AcP 168 (1968), S. 235 ff., 253. 115 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 455 ff. 116 Dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 492 ff., 548.
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grenzen, daß die „wirtschaftliche Bewegungsfreiheit“ und die Vertragsfreiheit von Konkurrenten, Lieferanten und Abnehmern gewährleistet bleiben117. Die Freiheit wird durch die Gesetze verwirklicht. Deshalb beruht das Unwerturteil über den Mißbrauch einer marktbeherrschenden Stellung nicht auf dem Vorwurf fehlerhaften Handelns, sondern folgt aus dem Konflikt mit dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen118. Wenn die Privatheit der Lebensbewältigung in allgemeiner Freiheit praktisch möglich bleiben und nicht der Vermachtung von Märkten zum Opfer fallen soll, ist es unerläßlich, daß die Entstehung wirtschaftlicher Macht durch mit den Rechtsinstrumenten das Kartellverbots (§ 1 GWB), der Freistellung (§§ 2 und 3 GWB) und der präventive Fusionskontrolle (§§ 35 ff. GWB) der staatlichen Aufsicht unterliegt. Das Kartellverbot bedarf allerdings keiner Legitimation durch die Wettbewerbsfreiheit als ein in Art. 2 Abs. 1 GG unbenanntes Freiheitsrecht. Auch das Argument einer Drittwirkung der Wettbewerbsfreiheit als Grundrecht überzeugt in diesem Zusammenhang nicht119. Art. 2 Abs. 1 GG enthält das Recht zur freien Willkür, aber auch die Autonomie des Willens der Bürger120. Aufgrund ihres menschheitlichen Rechts auf Recht haben die Bürger einen Anspruch auf Gesetzlichkeit, durch welche ihre Freiheit als Unabhängigkeit von der Willkür Anderer gewährleistet und geschützt wird121. Es ist also eine Verpflichtung des Staates, das Wettbewerbsprinzip und das Marktprinzip gegenüber Vermachtungen zu schützen122. Der Einfluß großer und mächtiger Unternehmen und ihrer Verbände auf die Gesetzgebung muß durch geeignete Mittel verhindert werden. Der Gesetzgeber hat das praktisch vernünftige Gesetz für alle als volonté générale zu verwirklichen und eben nicht den besonderen Interessen mächtiger Privater zu dienen; denn die „Abgeordneten des Deutschen Bundestages sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“, Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG. Der Primat der Politik ist im Rechtsstaat unerläßlich, insbesondere wegen der Sozialbindung des Eigentums, allemal des unternehmerischen aus Art. 14 Abs. 2 GG und darf nicht durch Korruption, Kriminalität, Konzentration, Lobbyismus und Protektionismus unterminiert werden123. Aber wie gesagt, dies vermögen Wettbewerbsgesetze nicht zu leisten.
117 E.-J. Mestmäcker, Über das Verhältnis des Rechts der Wettbewerbsbeschränkungen zum Privatrecht, AcP 168 (1968), S. 235 ff., 252. 118 E.-J. Mestmäcker, Über das Verhältnis des Rechts der Wettbewerbsbeschränkungen zum Privatrecht, AcP 168 (1968), S. 235 ff., 253. 119 So aber H. C. Nipperdey, Soziale Marktwirtschaft und Grundgesetz, S. 38. 120 K. A. Schachtschneider, Der Anspruch auf materiale Privatisierung, S. 165 ff. 121 K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 50 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 44 ff., 288 ff. 122 H. C. Nipperdey, Soziale Marktwirtschaft und Grundgesetz, S. 63. 123 Dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 586 ff., 590; H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 457; W. Leisner, Die Demokratische Anarchie, S. 93, 359.
Schlußbemerkungen Kant ist der Denker der deutschen Geistesgeschichte, der die Aufklärung in besonderem Maße vorangetrieben hat. Auf die Frage: „Was ist Aufklärung?“ gibt Kant seine berühmte Antwort: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“. . . „Es ist so bequem, unmündig zu sein“ 1. Das Philosophieren Kants schult auch das eigene Denken: was kann ich qua eigenen Erkenntnisvermögens, eigener Vernunft und eigenem Verstand über die Freiheit, das Sollen, die Moralität und die Sittlichkeit, über Recht und Gesetz und über den Staat wissen? Wie ist Freiheit denkbar und wie kann sie praktisch verwirklicht werden, wenn es eine menschheitliche Erkenntnis ist, daß die Freiheit das einzige mit dem Menschen geborene Recht ist und diese Freiheit in einer Gemeinschaft von Menschen nur als gleiche Freiheit aller verstanden werden kann? Kants Philosophie ist wesentlich eine Logik der Freiheit. Das Grundgesetz folgt nicht spezifisch Kant, wohl aber seiner Logik der Freiheit, wie insbesondere Art. 2 Abs. 1 GG, aber auch viele andere verfassungsrechtliche Bestimmungen zeigen. Kant begründet die Republik vernunftkritisch, macht sie, für jeden einsehbar, zu dem staatlichen Gebilde, in welchem die Menschen freie Bürger sind. Die Gesetze in der Republik sind die Gesetze freier Bürger, dem Souverän. Die Bürger befolgen selbst gegebene Gesetze, das ist nicht Herrschaft, sondern Freiheit. Es sind diese (allgemeinen staatlichen) Gesetze, welche die Freiheit aller verwirklichen, wenn sie der Sittlichkeit durch Moralität genügen, wenn sie sachgerecht und praktisch vernünftig sind, damit das Handeln der Menschen für alle Anderen zumutbar ist. Insoweit ist Kant Stand der Rechtswissenschaft. Das gilt auch für das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen. Menschen dürfen miteinander kooperieren, auch Unternehmen im Rahmen ihrer freiheitlichen Privatheit, etwa indem sie sich kartellieren. Es wäre freiheitswidrig, Unternehmen zum Wettbewerb mit anderen Unternehmen zwingen zu wollen. Unter1
Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, S. 53.
Schlußbemerkungen
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nehmerisches Wachstum, wirtschaftliche Stärke und selbst Marktmacht bedrohen niemanden in seiner Freiheit. Auch der Gebrauch von Marktmacht tut dies nicht, sondern erst dann, wenn dieser rechtmäßige Gebrauch zu einem unrechtmäßigen Gebrauch, zum Mißbrauch führt. Auch das Grundgesetz geht von der Existenz von Marktmacht und dessen Gebrauch aus, zu verhindern ist lediglich der Mißbrauch derselben; denn die Freiheit der übrigen Marktteilnehmer in wirtschaftlichen Angelegenheiten, ihre Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür, darf nicht in unzumutbarer und nicht hinnehmbarer Weise beeinträchtigt werden. Dies gilt es durch gesetzliche Regelungen zu verhindern. Wissenschaftliche Theorien zum Wettbewerb sind dabei allerdings wenig hilfreich; denn nicht der Wettbewerb entmachtet, wie vielfach betont wird, sondern die Gesetze tun dies. Das ist die republikanische Wende des Wettbewerbsrechts. Fraglos haben Markt und Wettbewerb viele auch gesamtwirtschaftliche Vorzüge, wie etwa eine verbesserte Allokation (auch volkswirtschaftlicher) Ressourcen oder den technischen Fortschritt, der Wettbewerb ist ein Entdeckungsverfahren. Auch hat die Verteilung von Vermögen und Einkommen am Markt, insbesondere unter Wettbewerbsbedingungen, eine freiheitliche Gerechtigkeitsvermutung für sich; denn die Marktteilnehmer entscheiden nach ihren Präferenzen, mit wem sie Verträge schießen. Gleichwohl besteht keine Veranlassung, das Wettbewerbsprinzip zu vergötzen, erst recht nicht im Rahmen der marktliche Sozialwirtschaft in der Republik. Was die Verwirklichung der Freiheit und der Gleichheit in der Freiheit angeht, so dürfte auch Rousseau Recht behalten: „Das setzt auf seiten der Großen Mäßigung bezüglich Vermögen und wirtschaftlicher Macht voraus, auf seiten der Kleinen Mäßigung in Neid und Begehrlichkeit“ 2.
2
J. J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 57.
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Sachwortverzeichnis Abgeordnete 129 Abnahmeverpflichtung 215 Absprachen 240 Achtung – als rationales Gefühl 71 – als Triebfeder 71 – fürs Gesetz 70, 77, 183 Allokation, optimale 226 Als-Ob-Marktkonzept 254 Anschauung, sinnlich 28 Antinomie, dritte 35 Autonomie – als Privatautonomie 153 – des Bürgers 202 – des Staates 116 – des Willens 53, 68, 75, 81, 102, 129, 143, 148, 201, 207 – freiheitliche 167 Bedarfsprinzip 210 Begehrungsvermögen 64 Berufsfreiheit 153, 209 Besitz – bloß-rechtlicher 86, 90 – der Willkür eines Anderen 93 – empirischer 86 – intelligibler 86 – peremtorischer 91 – provisorischer 92 Bestenauslese 130 Bestimmtheitsprinzip 229, 237 Boykottverbot 246 Brüderlichkeit 110 Bürger 132 – als Mitgesetzgeber 104 Bürgerschaft 128, 129, 160, 189, 203
Chicago School 225 Daseinsvorsorge 233 Demokratie 125 Demokratieprinzip 122 Despotie 125 Determiniertheit, materielle 148 Differenzhypothese 249 Ding an sich 27 Diskurs 123 Dritte Antinomie 53, 63 Effizienz 233, 238 – allokative 225 Eigentum 93 – als a priori der Vernunft 165 – als absoluter Begriff 163 – als Recht zur Sachherrschaft 165 – als Teilhaberecht 167 – als verdinglichte Freiheit 162 – als wesentlich Eigenes 168 – durch Arbeit 110, 177 – Institutsgarantie 167 – Privater 167 – Privatnützigkeit 168 – Recht auf 223 – rechtliches 97 – Sozialbindung 259 – Sozialpflichtigkeit 210 – staatliches 161 Eigentumsfreiheit 166 Eigentumsgewährleistung 89, 161, 165, 166, 170, 209 Eigentumsordnung 90, 143, 152, 163 Eigentumsverteilung 164, 171
Sachwortverzeichnis Einheit – der Apperzeption 36 – des Bewußtseins 36 – synthetische der Apperzeption 36 Eitelkeit, wetteifernde 188 Endzweck 67, 103, 120, 147 Erfahrung 16 Erkenntnisfunktion 27 Erkenntnispsychologie 16 Erkenntnisvermögen 16 Ersterwerbung 91, 94 Erwerbung 91 Erworbenes 170 Freihandelsideologie 234 Freiheit – als angeborenes Recht 82, 125, 151, 171 – als Autonomie der reinen praktischen Vernunft 123 – als Autonomie des Willens 104 – als Idee 90 – als Mein und Dein 83 – als Noumenon 36, 45 – als räumliche Auffassung 166 – als Recht zur freien Rede 81, 84 – als Schutzpflicht des Staates 222 – als Selbstidentifizierung des Ich 185 – als transzendentale Idee 34, 152, 181 – als Unabhängigkeit 144 – als Wirklichkeit 34 – äußere 80, 82 – der Willkür 59 – gesetzliche 99, 114 – gesetzlose 95 – innere 78, 80, 82 – politische 68, 104 – positive 80 – praktische 81 – rechtliche 80 – und eigene Gesetzgebung 54 – und Frieden 97
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– und Gleichheit 95, 107, 125, 151, 171, 173 – Verwirklichung durch Gesetze 99 – vom Staat 155 – Zwang zur 96 Freiheiten 157 Freiheitsbegriff – bei Hume 22 – transzendentaler 34 Fusionskontrolle 219 Gemeinwohlbindung 159 Gerechtigkeit, soziale 171 Geschäftsfähigkeit 115 Geselligkeit, ungesellige 189, 192 Gesellschaft 121, 194 Gesetz, allgemeines 57 Gesetzgebung – in Moralität 114 – öffentliche 112 Gesetzgebungsgleichheit 173 Gewaltenteilung 113 Gewerbeüberwachung 230 Gleichgewicht, gesamtwirtschaftliches 195 Gleichheit 232 – als materiale Unterschiedlosigkeit 172 – formale 172 – in der Würde 143 – ohne Recht 172 – vor dem Gesetz 173 Gleichheitsgrundsatz 115 Glück 201 Glückseligkeit 72, 79, 80, 105, 109, 145, 187, 189 Glückswürdigkeit 146 Grundgesetz, wirtschaftspolitische Neutralität 197 Grundrechte – als Leitentscheidung für die Politik 159 – als Leitentscheidungen des Verfassung 159
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Sachwortverzeichnis
– als liberalistische Abwehrrechte 159 gut und böse 74 gute Sitten 256 Handeln – legales 81 – und Wirkung auf Andere 80 – willkürliches 44 Handlungsverbot 225 Heiligkeit – als Begriff 102 – der Menschheit 102, 139 Herrschaft – als Begriff 117 – als soziologisches Faktum 120 – der Mehrheit 122, 131 – der Vernunft 74 – des Rechts 123 – des Volkes 121 – legale 119 – Legitimität 118 – politisch 126 – staatliche 119, 132 – über sich selbst 80 – und Macht 118 höchstes Gut 146 homo noumenon 75, 77, 102 homo oeconomicus 111, 178, 185, 195 homo phaenomenon 75, 77 homo republicanicus 111, 178 Humanität, als größtmögliche Privatheit 192 Ich-Bewußtsein 44, 49 Idee, als Vernunftbegriff 41 Imperativ – als Begriff 51 – der Sittlichkeit 60 – hypothetischer 55, 147 – kategorischer 52, 60, 135, 149, 210, 213, 220, 236, 255 – kategorischer, als Autonomieformel 67
– kategorischer, als Imperativ der Weisheit 69 – kategorischer, als Naturgesetzformel 61 – kategorischer, als Selbstzweckformel 65 Induktionsschluß 17 Ingerenz, wettbewerbsinadäquate 218 Insolvenzrecht 221 Kartell – als Begriff 240 – als Massenproblem 246 – als Typus des Vertrages 239 – als Verbindung des Privatrechts 241 – als Vertrag zu Lasten Dritter 229, 231 – Freistellungstatbestände 244 – grundsätzliche Zulässigkeit 244 – Rechtswirksamkeit 245 – und Privatheitsprinzip 243 – und wirtschaftliche Macht 251 Kartelliberalismus 246 Kartellverbot 219, 224, 231, 243 – Ausnahme 246 Kausalität 25 – als ich-denke 181 Kausalität, bei Hume 19 Kausalität aus Freiheit 44, 45, 49, 62, 219 Kausalität der Natur 62 Kausalität und Kontinuität 32 Kausalitätsgesetz 20, 28 – als konstitutives Prinzip 31 Knappheit 146, 187, 201, 243 Koalitionsfreiheit 153 Konkurrenz, vollkommene 226 Kontinuitätsgesetz 32 Kooperation 242 Krankenkassen 212 Läsion 86, 94, 154 Lebensbewältigung 233 Lebensbewältigung, Vorrang privater 156
Sachwortverzeichnis Legalität 135, 149 Legalitätsprinzip 220 Leistungsprinzip 210, 215 lex permissiva 88, 106 – als Postulat a priori 89 Macht – Begrenzung wirtschaftlicher 204 – Mißbrauch wirtschaftlicher 230, 255 – politische 257 – politische durch Untenehmen 235 – unternehmerische 219 – wirtschaftliche 243 – zum Handeln 24 Markt und Wettbewerb 175 Marktbeeinflussung 240, 250 Marktbeherrschung 225, 258 Markteintritt 216, 226 Marktführerschaft 252 Marktmacht 252, 258 – Mißbrauch 253 Marktpreismechanismus 193 Marktprozeß 215, 216 Marktrationalität 230, 246, 247 Marktrisiko 249 Marktwirtschaft, freie 200 Marktwirtschaft, soziale 194, 216, 242 Maximen 54, 156 – als hypothetische Imperative 55 – als subjektives Prinzip 57 Mehrheitsregel 113, 122, 131 Menschenrechte 157 Metaphysik 16, 22 – als strenge Wissenschaft 25 Mißbrauch – als Begriff 255 – wirtschaftlicher Macht 243 Mißbrauch, marktbeherrschende Stellung 248 Mißbrauchsaufsicht 219 Modelle, nationalökonomische 197 Monarchieverbot 124
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Monopolisierungsverbot 252 Monopolmacht 225 Moralität 149, 237 – des Bürgers 77 – des Gesetzgebers 76, 130, 135, 198 Naturerkenntnis 29 Notwendigkeit 23 Ordoliberalismus 193 personalitas moralis 182 Persönlichkeit, freie Entfaltung 148 Perzeptionsempirismus 16 Pflicht 59, 70, 108 Politik, als ausübende Rechtslehre 76 Preisvorschriften 258 Private – funktional 211 – institutionell 160, 211 Privatheit 199, 220 – als Form der Staatlichkeit 157 – der Lebensbewältigung 145, 150, 151, 157, 170, 191, 201, 203, 210, 212, 239, 252, 259 – der Lebensbewältigung, Vorrang 154 – freiheitliche 154 – Grenzen 235 Privatheitsprinzip 150, 175, 191, 199, 212, 222, 234, 244, 251 Privatrechtsgesllschaft 221 Recht – als Befugnis zu zwingen 95, 133 – auf Recht 99, 152 – aus Recht 220 – provisorisches 92 – zur freien Willkür 96, 105 – zur Kooperation 244 Rechtsfähigkeit 115 Rechtsprechung 115 Rechtsprinzip 213, 220 Rechtsstaat 101, 113, 121, 135 Rechtsstaatsprinzip 125
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Sachwortverzeichnis
Regierung – als Agent des Staates 115 – despotische Form 105 – republikanische Form 105, 111, 125 Reich der Zwecke 68, 75, 77, 141, 183, 185 – Bürger als Oberhaupt 100 – Bürger als Untertan 100 – und Endzweckhaftigkeit 103 – und Selbstzweckhaftigkeit 103 Religionsfreiheit 209 Republik 95, 99, 117, 120 – als Rechtsstaat 113 – als Staat der Vernunft 100 Revolution 100 Sachlichkeit, durch Wissenschaft 207 Sachlichkeitsprinzip 173, 232 Schadensersatzanspruch 248 Schadenswahrscheinlichkeit 254 Schlechthinunbedingte 40, 63 Schrankentrias 155 Selbständigkeit 83, 143, 177, 203, 223 – des Bürgers 108 Selbstbewußtsein 182 Selbstzweckhaftigkeit 101, 186 Sittengesetz 135, 193 – als Faktum 47 – als kategorischere Imperativ 52 – als objektiver Imperativ 51 – als ratio cognescendi 47, 189 – als Typus 63 sittlich-böse 64, 255 sittlich-gut 64 Sittlichkeit 60, 67, 75, 149, 200, 234, 236, 247, 254, 255 – als Freiheit unter Gesetzen 75 – als praktische Vernunft 75 – Befähigung zur 104 – durch Moralität 76, 150 – private 151 – und gute Sitten 256 – und Legalität 123
Skeptizismus 15, 25 Sollen – als Faktum 147, 189 – empirisch unbedingt 43 Sollwettbewerb 221 Sorge 185 Souveränität 114 – als Freiheit des Bürgers 128 – als Gesetzgebung 128 – als Rechtsprinzip 128 – des Volkes 126 – Verletzung 129 Sozialhilfe 203 Sozialisierung 258 Sozialordnung 167 Sozialprinzip 144, 208, 210, 212, 213, 216 – und Brüderlichkeit 144 Sozialstaat 175, 195, 203 – als ausgeübte Rechtslehre 175 Sozialstaatlichkeit 142 Sozialwirtschaft, marktliche 200, 211, 212, 222 Spontaneität 45, 180 Staat – als abslotuer Selbstzweck 120 – als politischer Verband 118 – bei Hegel 202 – existenzieller 128 – funktionaler 161 – institutioneller 160 Staatliche, funktional 211 Staatsaufgaben 159 Staatsbürger 114 Staatsformen 105 Staatsgewalt 97, 105, 121, 124, 127, 129 Staatsintervention 194 Subjektlehre, strenge 160 Subsidiaritätsprinzip, menschenrechtliches 150, 152, 191, 234 Totalität der Bedingungen 42, 43 Tugendpflicht 79, 149
Sachwortverzeichnis – als Wirtschaften 108 – und kategorischer Imperativ 79 Unterlassungsanspruch 248 Unternehmensfreiheit 217, 218, 220 Unternehmertum 215 Ursache-Wirkungs-Zusammenhang 19, 28, 29 Urteilskraft 63 – praktische 64 – reflektierende 63 – teleologische 66 Veräußerung 170 Verbraucher 244 – Präferenzen 250 Verbraucherfreiheit 218 Verbraucherschutz 225 Vereinigungsfreiheit 241, 243 Verfassung – bürgerliche 104 – demokratische 105 – republikanische 104, 105, 107 Verfassungsgesetz 98, 113, 128 Verfassungsprinzip 158 Vergleichsmarktkonzept 254 Verhalten, abgestimmtes 240 Verhältnismäßigkeitsprinzip 158, 208 Vernunft – Aufgabe 39 – praktische 46, 74 – rein praktische 46, 64 – als Grundgesetz des Sittengesetzes 46 – als sittliche Bestimmung 48 – reine 40 Vernunftbegriff – kritischer 39 – transzendentaler 41 Verstandesbegriff, kritischer 36 Verstandesgesetze 38 Verteilung – Bedarfsprinzip 174
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– Leistungsprinzip 174 – marktlich 174 – staatlich 174 – Wettbewerbsprinzip 174 Vertrag 93 – als Idee 98 – gegenseitiger 111, 239 – gleichgerichteter 239 – privater 153 – ursprünglicher 98 – ursprünglicher, als Vernunfturkunde 99 – zu Lasten Dritter 243 Vertragsärzte 212 Vertragsfreiheit 153, 215, 223, 231 Vertrauensschutzprinzip 154 Volk von Teufeln 78 Volkswirtschaft 194 Vollkommenheit 79, 146 volonté des tous 131, 205 volonté générale 77, 129, 198, 205, 259 Welthandelsordnung 234 Wende, kopernikanische 26, 37, 120 Wettbewerb 185, 192, 215 – administierbar 229 – als Begriff 240 – als Entdeckungsverfahren 221, 225, 229, 236, 246 – als Entmachtung 219, 236 – als Faktum 186, 187, 192, 216, 217, 224, 228, 237 – als Institution 248 – als Pflicht 217 – als Preiswettbewerb 192 – als Recht 217 – als staatliche Aufgabe 224 – als staatliche Veranstaltung 232 – der Unternehmen 216, 217 – funktional staatlich 211 – funktionsfähiger 227 – moderierter 193 – nötigende Wirkung 219 – Recht auf Teilhabe 217
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Sachwortverzeichnis
– Sittlichkeit 176 – vollkommener 219 – wirksamer 221, 224, 227, 230, 231, 237 Wettbewerben 215 Wettbewerbsbeschränkung 224, 250 – vertikale 225 Wettbewerbsfreiheit 216, 218, 220, 222 – als Abwehrrecht 221 Wettbewerbsgesetze 176, 193 Wettbewerbsmechanismus 205 Wettbewerbsordnung 192 Wettbewerbspolitik 230 Wettbewerbsprinzip 189, 190, 193, 210, 211, 216, 233, 235, 236 Wettbewerbsrecht 217 Wettbewerbsregeln 211, 224, 235 – der EU 216, 221, 224 Wettkampf 214 Wettkampfordnung 214 Widerstandsrecht 100 Wille – als drittes praktisches Prinzip 67 – als erstes, objektives Prinzip 62 – als öffentlicher und allgemeiner 98 – als praktische Vernunft 51 – als Privatwille 98 – als zweites, subjektives Prinzip 65 – des Volkes 114 – durch Zweckvorstellung bestimmt 50 – guter 54 – reiner 52 – unmittelbar gesetzgebend 53 Willkür 57, 85 – als Heteronomie 147 – als Recht 144, 155 – als Recht zur freien 88, 148 – der Maximen 57 – vereinigte 93 – Wahl der Maximen 58 Willkür, freie 58, 89, 254
Willkürverbot 173 Wirtschaften 178 – seinskonstituierend 184 – transzendental begründet 179 Wirtschaftsordnung 199, 216 Wirtschaftsverfassung 194, 196, 203, 208 – als ordnungspolitisches Modell 196 Wissenschaftlichkeit 130 Wohlfahrt 109, 205, 211 Wohlhabenheit 109 Würde – als Autonomie des Willens 139 – als Begriff 101 – als objektiver Wert 136 – des Meschen 201 – und Glückseligkeit 141 – und Idee des Sozialstaates 142 Würde des Menschen 101, 135, 164 – als absoluter Wert 137 – als Eigenwert 137 – als innerer Wert 104 – als Noumenon 104 – als seine Autonomie 104 – als Selbstzweck 65, 138 – als subjektives öffentliches Recht 138 – als transzendentale Idee 142 – und Endzweckhaftigkeit 102 – und Recht zur freien Willkür 105 Zentralverwaltungswirtschaft 167, 201 Zinswirtschaft 238 Zustand – bürgerlicher 90, 96, 97, 110 – rechtlicher 113 – wettbewerbsloser 219 Zwang 133 Zweck 66 Zwecke des Handelns 58 Zweiweltenlehre 36, 49, 186, 189