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German Pages 382 [384] Year 2008
Magnus Schallenberg Freiheit und Determinismus
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Quellen und Studien zur Philosophie Herausgegeben von Jens Halfwassen, Jürgen Mittelstraß, Dominik Perler
Band 75
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Freiheit und Determinismus Ein philosophischer Kommentar zu Ciceros Schrift De fato von
Magnus Schallenberg
Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-018940-7 ISSN 0344-8142 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
쑔 Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen
In tiefer Dankbarkeit für Armgard, Hans und Ingrun
Vorwort Die philosophische Auseinandersetzung mit Ciceros Schrift De fato ist von jeher nur mit großer Zurückhaltung geführt worden. Ein Grund dafür ist die schlechte Überlieferung des Textes. De fato ist nur fragmentarisch, mit zum Teil großen Lücken erhalten geblieben. Schon allein diese Tatsache erschwert das Verständnis der gesamten Schrift hinsichtlich ihrer Komposition und ihrer argumentativen Stringenz. Ein anderer Grund ist zweifellos in der Thematik der Schrift zu finden. Die philosophische Auseinandersetzung mit dem ‚Schicksal‘ muß bereits in der hellenistischen Zeit ein für den Leser schwieriger und geradezu befremdlicher Stoff gewesen sein, denn schon Cicero selbst bezeichnet die Untersuchung über das, was in der Zukunft möglich oder nicht möglich ist, als eine ‚dunkle‘, d. h. vom Verständnis her schwierige Untersuchung (§ 1: obscura quaestio). Neben der inhaltlichen Problematik wird die Diskussion über das Fatum dadurch noch erschwert, daß sie sich gleichermaßen auf alle drei Teildisziplinen der hellenistischen Philosophie – nämlich auf die Physik, auf die Ethik und auf die Logik – bezieht. Dies bedeutet, daß Überlegungen innerhalb einer Disziplin Implikationen für die anderen Disziplinen nach sich ziehen können. Die zurückhaltende Beschäftigung mit De fato spiegelt sich in der Rezeptionsgeschichte dieser Schrift wider. Die erste Edition, die sich in einem ausführlichen Kommentar mit dem philosophischen Gehalt von De fato auseinandersetzt, stellt die lateinisch-französische Ausgabe von Albert Yon aus dem Jahre 1933 dar. Die deutsche kommentierte „StandardAusgabe“ erscheint im Jahre 1963 mit der von Karl Bayer erstellten zweisprachigen Ausgabe und ist seitdem jeweils mit kleineren Überarbeitungen zuletzt im Jahre 2000 aufgelegt worden. Einen wertvollen philosophischen Kommentar enthält die im Jahre 1991 von Robert W. Sharples vorgelegte lateinisch-englische Edition.1 Eine deutsche Paraphrase der Schrift De fato ist bei Johann Werdermann in seinem Buch „Versuch einer Geschichte der Meinungen über Schicksal und menschliche Freiheit von den ältesten Zeiten an bis auf die _____________ 1
Weitere, teilweise auch kommentierte Ausgaben von De fato sind im Literaturverzeichnis aufgeführt.
VIII
Vorwort
neuesten Denker“ aus dem Jahre 1793 zu lesen.2 Die erste deutsche Übersetzung von De fato wurde – soweit ersichtlich und zugänglich – 1807 von Johann F. von Meyer vorgelegt. Es folgten die deutschen Ausgaben von Ernst W. Eckermann (1828), Georg H. Moser (1828), Friedrich Chr. W. Jacobs (1840) und die bereits erwähnte Übersetzung aus dem Jahre 1963 von Karl Bayer. Ferner ist auch eine deutsche Übersetzung von HansGeorg Gadamer erstellt worden, die 1965 in seinem „Philosophischen Lesebuch I“ zusammen mit anderen antiken und mittelalterlichen Texten erschienen ist. Schließlich sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß Hermann Weidemann eine zweisprachige, mit erläuternden Anmerkungen versehene Ausgabe von De fato vorbereitet, die in der Philosophischen Bibliothek des Meiner Verlags erscheinen wird. Was die Sekundärliteratur betrifft, sind folgende Abhandlungen zu De fato veröffentlicht worden: Max Meinecke, De fontibus, quos Cicero in libello de fato secutus esse videatur (1887). Wilhelm Stüve, Ad Ciceronis de Fato librum observationes variae (1895). Adolf Lörcher, De compositione et fonte libri Ciceronis, qui est de fato (1907). Henricus Skassis, Adnotationes criticae ad Ciceronis librum qui de fato inscribitur (1915). Bärbel Platz, Fatum et libertas. Untersuchungen zu Leibniz’ ‚Theodizee‘ und verwandten Schriften sowie Ciceros ‚De fato‘ (1973). Octave Hamelin. Etwa um 1900 verfaßte Octave Hamelin einen Kommentar zu De fato, der aber erst 1978 aus seinem Nachlaß von Marcel Conche unter dem Titel „Sur le De Fato“ veröffentlicht wurde. David P. Marwede, A Commentary on Cicero’s „De Fato“ (1984). Josip Talanga, Zukunftsurteile und Fatum. Eine Untersuchung über Aristoteles’ De interpretatione 9 und Ciceros De fato, mit einem Überblick über die spätantiken Heimarmene-Lehren (1986). Ferner sei darauf hingewiesen, daß die Vorträge, die während eines De fato gewidmeten, von Anna Maria Ioppolo, Stefano Maso und Carlo Natali vom 10.–12. Juli 2006 in Venedig veranstalteten internationalen Seminars gehalten wurden, in der Zeitschrift Lexis. Poetica, retorica e comunicazione nella tradizione classica 25 (2007), 1–162 erschienen sind. Die Tatsache, daß Ciceros De fato eine zurückhaltende Auseinandersetzung erfahren hat, ist eines der Motive, einen Kommentar zu verfassen, der sich insbesondere dem philosophischen Gehalt dieser ciceronischen Schrift widmet. Zum anderen motiviert das Thema von De fato _____________ 2
Vgl. Werdermann (1793), 56–62.
Vorwort
IX
selbst zu einer intensiveren Beschäftigung. Cicero stellt aus antiker Perspektive das Problem um die Vereinbarkeit von Freiheit und Determinismus dar. Der Determinismus findet in der Antike mit der Bezeichnung fatum (gr. ǏʉǖNjǛǖɨǗǑ) seinen Ausdruck. Die Auseinandersetzung mit diesem wurde in der hellenistischen Epoche unter dem Titel De fato (gr. ƻǏǛʈ ǏʉǖNjǛǖɨǗǑǜ) mit großer Vehemenz geführt – eine Vehemenz, die bis in die gegenwärtigen Freiheitsdebatten nicht verlorengegangen ist. In diesen Debatten werden Positionen vertreten, die in ihrer grundsätzlichen Form bereits von Cicero diskutiert wurden. Das Kernproblem in der Fatumsdiskussion stellt sich wie folgt dar: Wenn das Fatum durch die auf dem Gebiet der Physik und der Logik vorgebrachten Argumente der Fatalisten seine Bestätigung fände, dann hätte dies zur Konsequenz, daß die Zukunft bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt in der Weise determiniert wäre, daß alle zukünftigen Ereignisse mit Notwendigkeit eintreten oder mit Notwendigkeit ausbleiben müßten. Die Vorstellung von einer derart vollständig determinierten Welt widerspricht dem intuitiven Selbstverständnis des Menschen, als ein frei handelndes Individuum die Zukunft beeinflussen und durch Fleiß und festen Willen (§ 11: voluntate, studio, disciplina) ‚seines Glückes Schmied‘3 sein zu können. Wenn aber nun durch die Existenz des Fatums die Möglichkeit des freien Handelns nicht mehr bestehen sollte, dann ist auch jeglichen ethischen Überlegungen und moralischen Maximen der Boden entzogen; denn nur dann, wenn der Mensch aus (einer wie auch immer gearteten) Freiheit handelt, kann ihm auch die Verantwortlichkeit für seine Taten zugeschrieben werden. Cicero, selbst ein leidenschaftlicher Gegner des Fatalismus, sieht sich daher vor die Aufgabe gestellt, die Freiheit des Menschen gegen die scheinbar stichhaltigen Argumentationen der Fatalisten zu verteidigen. Mit seiner Schrift De fato stellt er sich dieser Herausforderung, indem er die Argumente der jeweiligen hellenistischen Philosophenschulen darstellt und diskutiert, um so Licht in diese ‚dunkle Untersuchung‘ zu bringen. Bemerkenswert ist der Umstand, daß Ciceros Untersuchung über das Schicksal ein einzigartiges Zeugnis dieser Auseinandersetzung mit dem fatum darstellt – einzigartig insofern, als dieses Werk die einzige erhaltene Schrift aus der hellenistischen Zeit ist, die über die Fatumsdiskussion in dieser Ausführlichkeit berichtet. Die früheren Schriften aus der hellenistischen Zeit sind nicht erhalten geblieben und die Abhandlungen ƻǏǛʈ ǏʉǖNjǛǖɨǗǑǜ von Ps.-Plutarch und von Alexander von Aphrodisias stammen bereits aus dem zweiten bzw. dritten nachchristlichen Jahrhundert. _____________ 3
Dieser Ausspruch wird Appius Claudius Caecus zugeschrieben (vgl. Ps.-Sallust, Ep. ad Caes. I, 1.2: fabrum esse suae quemque fortunae).
X
Vorwort
Den philosophischen Gehalt der Schrift De fato zu erfassen und möglichst angemessen zu erläutern, soll daher auch das Ziel der vorliegenden Arbeit sein. Durch diese Erläuterungen soll aber auch das allgemeine Verständnis für die in der hellenistischen Zeit so vehement geführte Fatumsdiskussion gefördert werden. In diesem Zusammenhang spielt die sorgfältige Unterscheidung zwischen dem schwachen und dem starken Wahrheitsbegriff eine wichtige Rolle. Letzterer lag der antiken Logik üblicherweise zugrunde und stellt – im Gegensatz zum schwachen Wahrheitsbegriff – eine für den heutigen Leser ungewöhnlich starke Bedingung für die Wahrheit von Aussagen dar. Dieser starke Wahrheitsbegriff ist in der Auseinandersetzung mit dem logischen Determinismus von entscheidender Bedeutung. Die Struktur des vorliegenden Kommentars gestaltet sich wie folgt: Nach der Einleitung werden der kausale und der logische Determinismus dargestellt, da vornehmlich diese beiden Formen des Determinismus in der Antike diskutiert wurden. Nach einigen Bemerkungen zur verwendeten Terminologie schließt sich ein Überblick über die an der hellenistischen Fatumsdiskussion beteiligten Schulen an. Darauf folgen einige Vorbemerkungen zu De fato. Im Hauptteil wird der Text von De fato in Form eines fortlaufenden Kommentars sukzessive besprochen. Die Arbeit schließt mit einer Zusammenfassung, in der die Positionen der einzelnen Schulen aus heutiger Sicht systematisiert und evaluiert werden. Für den lateinischen Text von De fato wurden die Editionen von Karl Bayer, Remo Giomini und Robert W. Sharples verwendet. Die mit „§“ gekennzeichneten Verweise beziehen sich auf die übliche Paragrapheneinteilung von De fato, die sich ebenfalls in den zuvor genannten Ausgaben findet. Mit römischen Ziffern beginnende Verweise beziehen sich auf die Gliederung des vorliegenden Buches. Alle Übersetzungen gehen, soweit nicht anders vermerkt, auf den Autor zurück. Das vorliegende Buch stellt eine überarbeitete Fassung meiner Dissertation dar, die im Juli 2004 an der Westfälischen Wilhelms-Universität zu Münster angenommen wurde. Besonderer Dank gebührt Herrn Prof. Dr. Hermann Weidemann, der das ganze Promotionsprojekt mit viel Engagement betreut und mit zahlreichen Anregungen gefördert hat. Herrn Prof. Dr. Alfons Weische sei für seinen fachlichen Rat und für das Erstellen des Zweitgutachtens gedankt. Ferner bin ich Frau Susanne PinkernellKreidt und Herrn Dipl.-Bibl. Norbert Mertens für ihre Unterstützung sehr verbunden. Schließlich gilt mein Dank all denen, die mir in privater Initiative Beistand und Hilfe verschiedenster Art haben zuteil werden lassen. Münster, November 2007
Magnus Schallenberg
Inhalt I. Einleitung.............................................................................................................. 1 II. Die Problemstellung .......................................................................................... 4 1. Der kausale Determinismus ................................................................................................... 4 2. Der logische Determinismus.................................................................................................. 5
III. Die Bedeutung des Wortes fatum ................................................................. 10 IV. Die Terminologie............................................................................................ 14 V. Die hellenistischen Philosophen in der Fatumsdiskussion........................ 16 1. Diodor.....................................................................................................................................17 2. Die Stoiker: Chrysipp und Poseidonios..............................................................................23 3. Epikur......................................................................................................................................27 4. Die Neuakademiker unter Karneades.................................................................................28
VI. Vorbemerkungen zu De fato .......................................................................... 32 1. Historische Einordnung .......................................................................................................32 2. Der Gesprächspartner Hirtius .............................................................................................34 3. Datierung ................................................................................................................................38 4. Überlieferung .........................................................................................................................42 5. Die Fragmente .......................................................................................................................43 6. Die Quellen ............................................................................................................................47 a. Antiochos von Askalon..................................................................................................49 Das „Albinos-Argument“ ...........................................................................................56 b. Poseidonios......................................................................................................................60 c. Panaitios ...........................................................................................................................61 d. Chrysipp...........................................................................................................................61 e. Karneades.........................................................................................................................62 f. Lukrez (epikureische Schule) .........................................................................................69 g. Mehrere Quellen .............................................................................................................71 h. Ergebnis ...........................................................................................................................72 7. Komposition ..........................................................................................................................77 8. Gliederung ..............................................................................................................................81
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Inhalt
VII. Kommentar zu De fato.................................................................................. 82 1. Lacuna A – § 4: Das Proömium ..........................................................................................82 a. Lacuna A ..........................................................................................................................82 b. § 1: Die Teilgebiete der Philosophie, das stoische ɒǘʇǣǖNj und die Methodik.....87 c. § 2: Der Gesprächsrahmen und der Gesprächspartner .............................................91 d. §§ 3–4: Rhetorik und Philosophie ................................................................................92 2. Lacuna B .................................................................................................................................94 3. §§ 5–6: Kritik an der Sympathielehre des Poseidonios ................................................. 100 4. §§ 7–11: Kritik an der Sympathielehre Chrysipps.......................................................... 105 5. §§ 11–14: Die Mantik: Chrysipps Widerspruch zur eigenen Modaltheorie................ 114 a. Die Wahrheitsbedingungen für die Implikation ...................................................... 115 b. Die Rekonstruktion des Fabius-Arguments............................................................. 118 c. Philons Möglichkeitsdefinition................................................................................... 124 d. Diodors Möglichkeitsdefinition................................................................................. 125 e. Chrysipps Möglichkeitsdefinition .............................................................................. 127 f. Die zweite Darstellung des Fabius-Arguments ........................................................ 137 g. Chrysipps Ablehnung der zweiten Prämisse des Meisterarguments..................... 138 h. Ciceros Einwand: die naturalis causa........................................................................... 140 6. §§ 15–17: Chrysipps Sprachregelung ............................................................................... 141 7. §§ 17–20: Wahrheit und Falschheit zukunftsbezogener Aussagen (I) ........................ 155 a. Die ‚umkippenden Aussagen‘ (ǖǏǞNjǚʇǚǞǙǗǞNj)...................................................... 156 b. Die Unveränderlichkeit des Wahrheitswertes.......................................................... 157 c. Die causae fortuito antegressae .......................................................................................... 160 d. Die Wahrheitsbedingung für zukunftsbezogene Aussagen ................................... 163 e. Ciceros indeterministische Interpretation des Diodor............................................ 165 f. Ciceros Resümee........................................................................................................... 167 8. §§ 20–21: Das Verhältnis von Bivalenzprinzip und Fatum .......................................... 168 9. §§ 22–23: Epikurs Theorie der Bahnabweichung .......................................................... 172 10. §§ 23–25: Karneades’ Ursachenunterscheidung und seine Kritik an Epikur........... 188 11. §§ 26–28: Wahrheit und Falschheit zukunftsbezogener Aussagen (II)..................... 192 12. §§ 28–30: Das Untätigkeitsargument ............................................................................. 196 13. §§ 31–33: Karneades’ Argumentation gegen das Fatum............................................. 205 a. Das Argument des Karneades.................................................................................... 205 b. Die Ablehnung der Mantik......................................................................................... 208 14. §§ 34–36: Die Definition des Begriffs „Ursache“........................................................ 210 15. §§ 37–38: Die Einschränkung des Bivalenzprinzips durch die Epikureer ............... 217 16. §§ 39–40: Der stoische Fatalismus als Mittelweg......................................................... 221 a. Die entgegengesetzten Meinungen und Chrysipps Mittelweg ............................... 221 b. Die stoische Erkenntnis- und Handlungstheorie.................................................... 226 c. Die Rekonstruktion des ethischen Arguments ........................................................ 229
Inhalt
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17. §§ 41–43: Chrysipps Ursachenunterscheidung............................................................. 239 a. Die stoische Ursachenunterscheidung und ihre Anwendung................................ 240 b. Das Zylinder-Kreisel-Gleichnis als Ausdruck des stoischen Kompatibilismus.. 252 18. §§ 44–45: Die angebliche Übereinstimmung der Positionen ..................................... 262 a. Die textkritischen Probleme....................................................................................... 262 Die inhaltliche Bedeutung des ersten Satzes ......................................................... 262 Die Bedeutung von continens..................................................................................... 265 Die Interpretation von neque ... neque ...................................................................... 269 b. Die Gegenüberstellung der verschiedenen Lehrmeinungen.................................. 274 c. Ciceros Darstellung der Lehre Chrysipps................................................................. 277 19. Lacuna C............................................................................................................................ 290 20. §§ 46–48: Die abschließende Kritik an Epikur............................................................. 295 21. Lacuna D ........................................................................................................................... 296
VIII. Zusammenfassung..................................................................................... 298 IX. Literaturverzeichnis...................................................................................... 307 1. Editionen von De fato......................................................................................................... 307 2. Editionen weiterer antiker Autoren ................................................................................. 310 3. Fragmentsammlungen........................................................................................................ 316 4. Sekundärliteratur................................................................................................................. 317
X. Indizes.............................................................................................................. 345 1. Abkürzungen....................................................................................................................... 345 2. Index Locorum ................................................................................................................... 346 3. Index Fragmentorum ......................................................................................................... 355 4. Index Nominum ................................................................................................................. 359 5. Index Rerum........................................................................................................................ 366 6. De fato in den Fragmentsammlungen ............................................................................... 368
I. Einleitung Das Fatum ( fatum), griechisch ǏʉǖNjǛǖɨǗǑ,1 war ein fester Bestandteil der antiken Gedankenwelt. Während das Wort „Schicksal“ im heutigen Verständnis vornehmlich zur Beschreibung der „unverfügbaren Kontingenzen des Lebens“2 Verwendung findet, galt es in der Antike als Ausdruck einer den ganzen Kosmos ordnenden Kraft. Schon für die alten Griechen war jegliches Geschehen durch eine alles umfassende Schicksalsmacht bestimmt, der selbst die Götter unterworfen sein konnten.3 Daher empfand der antike Mensch das Schicksal, von dem er seiner Meinung nach kaum Gutes zu erwarten hatte, immer als feindselig – war er dem unbeugsamen Walten des Schicksals doch hilflos ausgeliefert.4 Auf der anderen Seite aber war bei den Griechen das Gefühl für die persönliche Freiheit so stark ausgeprägt, daß der Glaube an diese Freiheit auch durch den Glauben an eine Schicksalsmacht nicht erschüttert werden konnte.5 Erst in der hellenistischen Zeit trat eine Auseinandersetzung über die mögliche Kollision zwischen Fatum und menschlicher Freiheit bzw. Verantwortlichkeit auf den philosophischen Plan. Diese philosophische Entwicklung ging mit den politischen Veränderungen in der hellenistischen Welt einher. Nach dem Tode Alexanders des Großen zerfiel dessen riesiges Reich. Griechenland verlor seine Hegemonie, und die alten Polisstrukturen, in die der Grieche fest eingebunden war, wurden durch die Diadochenkämpfe aufgehoben. Gerade diese „Ungeborgenheit des hellenistischen Menschen“6 ließ der Lehre vom Schicksal besondere Aufmerksamkeit zukommen, da in der ǏʉǖNjǛǖɨǗǑ als der mächtigsten Kraft (ǎʡǗNjǖǓǜ) im ganzen Kosmos _____________ 1 2 3 4 5
6
In der Dichtung und im mythisch-religiösen Kontext finden sich insbesondere die Ausdrücke ɒǗɏǍǔǑ, ǖǙʏǛNj oder NjʐǝNj. HistWb (Bd. 8) Schicksal, 1275. Vgl. Alexander (1898), 9; Engel (1926), 94, 109; Straaten (1977), 502; HistWb (Bd. 8) Schicksal, 1275; D. Frede (1990), 196; Pohlenz (1992) I, 102. Vgl. Göring (1874), 8; Roscher (Bd. I) Fatum, 1448. Vgl. Jacobs (1840), 329; Leach (1915), 400f.; zurückhaltender Wüst (1958), insbesondere 87–90; Straaten (1977), 503; Gould (1983), 480; D. Frede (1990), 196; Pohlenz (1992) I, 103f. Engel (1926), 108 betont, daß der antike Glaube an das Schicksal nicht in einen „stumpfen Fatalismus ausartete“, allerdings stelle der Gedanke „jeder ist seines Glückes Schmied“ eine „strafbare Überhebung“ dar. Theiler (1966), 136. Vgl. Müller (1987), 6f.; (1991), 26.
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I. Einleitung
eine Ursache für „das Ungeheuerliche des geschichtlichen Wandels“7 gefunden werden konnte. Die fehlende politische Einheit spiegelte sich in der Philosophie wider. Nunmehr traten das Individuum und die Frage nach seinem persönlichen ‚Glück‘ (ǏʤǎNjǓǖǙǗʇNj) in den Mittelpunkt der philosophischen Betrachtung. Die Suche nach der ǏʤǎNjǓǖǙǗʇNj setzt aber ethische Überlegungen voraus, die ohne die Gewißheit, daß die Möglichkeit für ein freies und willentliches Handeln gegeben ist, völlig überflüssig oder sogar unsinnig wären. Daraus ergibt sich die zentrale Frage, inwieweit sich die Vorstellung vom Schicksal überhaupt mit ethischen Überlegungen, mit moralischer Verantwortlichkeit und mit menschlicher Freiheit vereinbaren läßt. Ein Zeugnis, in dem genau diese Probleme diskutiert werden, liegt mit Ciceros Abhandlung De fato vor. Der Titel der Schrift, der in den maßgeblichen Handschriften (siehe VI.4.) nicht überliefert ist,8 wird durch Ciceros eigene Erwähnungen in den vorangegangenen Schriften De natura deorum, De divinatione und schließlich auch in De fato selbst (§ 1: in hac disputatione de fato) bestätigt.9 Die Abhandlung De fato gehört eng zu dem Themenkreis der vorangegangenen Schriften De natura deorum und De divinatione. Bereits an der erwähnten Stelle in De natura deorum spricht Cicero davon, sich gesondert mit der Mantik und dem Fatum beschäftigen zu wollen. In De divinatione berührt er dann bereits die Problematik des Fatalismus,10 beleuchtet sie aber nicht eingehender, sondern stellt in Aussicht, dieses Problem an anderer Stelle11 gesondert zu betrachten, so daß er dann mit der Schrift über das Fatum das theologisch-metaphysische Themengebiet12 umfassend behandelt hat.13 In De fato schließlich setzt er seine Ankündigung in die _____________ 7 8
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Theiler (1966), 136. Vgl. Ax (1938), 130b („Inscriptionem primitus nullam habuerunt AVB“); Giomini (1975), 149; Bayer (1980), 102. Auf der Basis der von Ferrucci entdeckten Fragmente (siehe VII.1.a.) vermutet Schneidewin (1853), 1918, daß der Titel der Schrift „De fato disputacio“ gelautet habe, „gleichwie Cicero die Tusculanen disputationes nannte“. Vgl. nat. III, 19: itaque maximae res tacitae praeterierunt, de divinatione, de fato, quibus de quaestionibus tu quidem strictim, nostri autem multa solent dicere; div. II, 3: de divinatione ingressi sumus his libris scribere; quibus, ut est in animo, de fato si adiunxerimus, erit abunde satis factum toti huic quaestioni. Eine weitere Bestätigung findet sich ebenfalls bei Macrobius (Sat. I, 24.4: cum ipse Tullius, qui non minus professus est philosophandi studium quam loquendi, quotiens aut de natura deorum aut de fato aut de divinatione disputat) und bei Gellius (VII, 2.15: itaque M. Cicero in libro, quem de fato conscripsit). Vgl. z. B. div. I, 127 (SVF II, 944; LS 55O); II, 21. Vgl. div. I, 127 (LS 55O): id quod alio loco ostendetur; II, 19. Vgl. div. II, 3 (siehe o. Anm. 9). Einen Überblick über den Zusammenhang dieser drei Werke geben z. B. Hunt (1954), 125–158, Bringmann (1971), 171–195 und Bleich-Schade (1996).
I. Einleitung
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Tat um, indem er die Lehrmeinungen der verschiedenen Schulen darstellt und sich mit ihren Strategien, Verantwortlichkeit und Freiheit des Menschen zu gewährleisten, auseinandersetzt. Es handelt sich dabei um die Lehren von Chrysipp (alte Stoa), Poseidonios (mittlere Stoa), Diodor (dialektische/megarische Schule), Epikur (Atomismus) und Karneades (Neue Akademie, Skepsis).14
_____________ 14
Vgl. Bayer (2000), 98–101. Siehe auch V.
II. Die Problemstellung 1. Der kausale Determinismus Wer dem Kausalitätsprinzip uneingeschränkte Gültigkeit zuspricht, vertritt die Auffassung, daß nichts ohne Ursache geschieht.1 Wenn aber alles, was geschieht, eine Ursache hat und das Verursachte selbst wieder zu einer Ursache für etwas Folgendes wird, dann hat dies allem Anschein nach zur Konsequenz, daß alle Geschehnisse, eben auch menschliche Entscheidungen und Handlungen, immer auch vorausgehende Ursachen haben und so lediglich Glieder in einer unendlich weit in die Vergangenheit zurückreichenden Ursachenkette darstellen, in der sich Ursache und Wirkung mit Notwendigkeit aneinanderreihen. Durch eine derartige Ursachenverkettung scheint jegliches Geschehen von Ewigkeit her bis in alle Zukunft unabänderlich vorherbestimmt und somit jegliche Möglichkeit zur Freiheit aufgehoben zu sein. Die Vorstellung eines derart strikten und umfassenden Determinismus beschreibt der französiche Mathematiker Pierre Simon de Laplace (1749–1827) im Vorwort zu seiner Abhandlung „Essai philosophique sur les probabilités“ (1814) sehr eindrucksvoll: Wir müssen also den gegenwärtigen Zustand des Weltalls als die Wirkung seines früheren und als die Ursache des folgenden Zustands betrachten. Eine Intelligenz, welche für einen gegebenen Augenblick alle in der Natur wirkenden Kräfte sowie die gegenseitige Lage der sie zusammensetzenden Elemente kennte, und überdies umfassend genug wäre, um diese gegebenen Größen der Analysis zu unterwerfen, würde in derselben Formel die Bewegungen der größten Weltkörper wie des leichtesten Atoms umschließen; nichts würde ihr ungewiß sein und Zukunft wie Vergangenheit würde ihr offen vor Augen liegen.2
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Dieser Gedanke findet sich bereits bei Parmenides (DK I, S. 235f. (B8.7–9)) und Empedokles (DK I, S. 313f. (B12)) (vgl. Fowler (2002), 362f.). Vgl. z. B. Cicero, div. II, 60f.: nihil fieri potuisse sine causa; nihil enim fieri sine causa potest; Lukrez II, 287 (LS 20F): de nilo quoniam fieri nihil posse videmus (vgl. I, 159–160 (LS 4B), 265–266); Ps.-Plutarch, fat. 11, 574e (SVF II, 912): ǖǑǎɩǗ ɒǗNjǓǞʇǣǜ ǍʇǍǗǏǝǒNjǓ; AvA, fat. XXII, 192.8–9 (SVF II, 945; LS 55N): ǖǑǎɩǗ ǍɐǛ ɒǗNjǓǞʇǣǜ ǖɰǞǏ ǏʐǗNjǓ ǖɰǞǏ ǍʇǗǏǝǒNjǓ; SE PH III, 67f.; DL X, 38 (LS 4A). Pierre Simon de Laplace. Philosophischer Versuch über die Wahrscheinlichkeit. Hrsg.: R. v. Mises. Leipzig 1932. S. 1f. Vgl. Sambursky (1959), 58f.; (1965), 227–282, insbesondere 253. Dieser
II.2. Der logische Determinismus
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Diese „Intelligenz“, der sogenannte „Laplacesche Dämon“, könnte also erkennen, wie sich der gesamte zukünftige Weltzustand vollständig und eindeutig bestimmt aus dem vorausgegangenen Weltzustand kausal ableitet. Dies bedeutet nichts anderes, als daß heute nur ein einziger Weltzustand für morgen möglich ist. Eine derart deterministische Weltsicht kann, ganz exakt formuliert, mit der Formel p/t o (t´)(t´ t o N/t´( p/t)) zum Ausdruck gebracht werden, d. h., wenn es zu einem beliebigen Zeitpunkt t der Fall ist, daß p, dann war es bereits zu jedem vorangegangenen Zeitpunkt t´ notwendig, daß es zu t der Fall sein würde, daß p.
2. Der logische Determinismus Für das Verständnis dieses Determinismusarguments ist es notwendig, sich zu vergegenwärtigen, daß es auf einem sogenannten „starken Wahrheitsbegriff“ basiert, dem zufolge die Wahrheit zukunftsbezogener Aussagen an eine starke Bedingung geknüpft ist.3 Diese für den heutigen Leser ungewöhnlich starke Wahrheitsbedingung ergibt sich aus einer „reduktionistischen“ Auffassung der Zeit. Die Peripatetiker, die Stoiker und die Epikureer hatten allem Anschein nach eine Zeitauffassung, der zufolge die Zeit nicht eine lineare Anordnung (ǞɏǘǓǜ) von Ereignissen darstellt (statische Zeitauffassung), sondern eine ‚Bewegung des Kosmos‘. Dies bedeutet, daß sich jeder Weltzustand sukzessive, in Form eines Bewegungsintervalls (ǎǓɏǝǞǑǖNj ǔǓǗɰǝǏǣǜ) aus dem vorausgegangenen Weltzustand entfaltet (dynamische Zeitauffassung). Aus dieser Vorstellung ergibt sich, daß immer nur die Gegenwart existent ist (ʣǚɏǛǡǏǓǗ), während die Vergangenheit nicht mehr existiert und die Zukunft noch nicht existiert, sondern nur subsistiert (ʣǠǏǝǞɏǗNjǓ).4 Wenn aber die Zukunft jetzt noch nicht real ist, kann das Eintreten oder Ausbleiben eines Ereignisses in der Zukunft nicht bereits in der Gegenwart die Wahrheit oder Falschheit einer auf dieses Ereignis bezogenen Aussage bedingen. Daher ist es plausibel, _____________
3 4
Gedanke ist auch bei Cicero (div. I, 127 (SVF II, 944; LS 55O); siehe u. S. 133 Anm. 201) zu finden. Zum folgenden vgl. White (1983) und die ausführlichen Erläuterungen in Weidemann (2002), 251–260. Vgl. Simplikios, In Arist. Cat. 9, 350.14–16 (SVF II, 510; LS 51A; FDS 807); 351.19–28 (FDS 807); Stobaeus, Ecl. I 8, 40e, p. 104.7–11 (FDS 808); 42, p. 105.8–106.23 (teilw. SVF II, 509; teilw. LS 51B; FDS 808); Plutarch, comm. not. 41, 1081c–1082a (teilw. SVF II, 517, 518, 519; LS 51C; FDS 809); Cicero, div. I, 127 (SVF II, 944; LS 55O). Vgl. Rist (1969b); Graeser (1975), 78–81; White (1983), 46f.; LS I, 306–308; Drozdek (2002), 407–412. Zu „ʣǚɏǛǡǏǓǗ und ʣǠʇǝǞNjǝǒNjǓ bei den Stoiker“ siehe ausführlich Schubert (1994), 149–174, 246–260.
6
II. Die Problemstellung
daß auf der Basis einer dynamischen Zeitauffassung eine Wahrheitsbedingung für zukunftsbezogene Aussagen akzeptiert werden muß, deren Erfülltsein bereits in der Gegenwart die Wahrheit der zukunftsbezogenen Aussagen garantiert („(causally or logically)-sufficient-to-guarantee“)5. Diese starke Wahrheitsauffassung soll an einem topologischen Baum („Baumuniversum“) veranschaulicht werden:
p w1 p
w2
w1, w2 w3, w4
w3
p
w4 p Vergangenheit
t Gegenwart
t´ Zukunft
Die Linien, die sich von links aus der Vergangenheit über den gegenwärtigen Zeitpunkt t bis in die Zukunft nach rechts erstrecken, sollen die mögliche Entwicklung der Welt symbolisieren. Alle Wege haben bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt t in der Vergangenheit denselben Verlauf genommen. Es sei angenommen, daß es zu diesem Zeitpunkt noch vier mögliche Wege w1, w2, w3 und w4 gibt, auf denen sich die Weltentwicklung fortsetzen kann. Auf der Grundlage des starken Wahrheitsbegriffs kann eine zukunftsbezogene Aussage p zum gegenwärtigen Zeitpunkt t nur dann wahr (oder falsch) sein, wenn sie unabhängig von der Weiterentwicklung der Welt, d. h. relativ zu jedem zukünftig noch möglichen Weltverlauf, wahr (oder falsch) ist. Dies wird im obigen Schaubild dadurch zum Ausdruck gebracht, daß es auf allen vier zum gegenwärtigen Zeitpunkt t noch möglichen Wegen w1, w2, w3 und w4 zum Zeitpunkt t´ der Fall ist, daß p. Damit aber die Wahrheit der zukunftsbezogenen Aussage p zum gegenwärtigen Zeitpunkt t gewährleistet ist, müssen bereits in der Gegenwart Ursachen _____________ 5
White (1983), 52.
II.2. Der logische Determinismus
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vorliegen, die das Eintreten des in p beschriebenen Ereignisses zu t´ notwendig machen, völlig unabhängig davon, welcher zukünftig noch mögliche Weltverlauf sich als der tatsächliche herausstellen wird. Eine im starken Sinne wahre zukunftsbezogene Aussage ist also deshalb wahr (oder falsch), weil bereits in der Gegenwart hinreichende Bedingungen dafür vorliegen, daß das in p beschriebene Ereignis eintreten (oder nicht eintreten) wird. Auf der Basis des starken Wahrheitsbegriffs impliziert die Wahrheit einer Aussage p folglich die physisch-kausale Notwendigkeit des in p beschriebenen Ereignisses, so daß gilt: Wenn es zum Zeitpunkt t wahr ist, daß es zum Zeitpunkt t´ der Fall sein wird, daß p, dann ist es zum Zeitpunkt t notwendig, daß es zum Zeitpunkt t´ der Fall sein wird, daß p (W/t( p/t´) o N/t( p/t´)). Nun ist es aber auch möglich, die Wahrheit zukunftsbezogener Aussagen an eine schwächere Bedingung zu knüpfen, nämlich in der Weise, daß sich das in p beschriebene Ereignis im tatsächlichen Weltverlauf und nicht in allen noch möglichen Weltverläufen realisieren muß. Diese schwächere Bedingung hat sich allem Anschein nach im Laufe der Zeit in der Neuen Akademie entwickelt und resultiert aus einer linearen Vorstellung der Zeit (statische Zeitauffassung). Es handelt sich dabei um eine „omnitemporale Zeitkonzeption“, die in ihrer Betrachtung ohne Unterschied die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichermaßen umfaßt. Daher ist es auch möglich, das faktische Eintreten eines zukünftigen Ereignisses als eine Bedingung zu akzeptieren, welche die Wahrheit einer zukunftsbezogenen Aussage bereits in der Gegenwart bedingt. Dieser sogenannte „schwache Wahrheitsbegriff“ spielt in De fato für Ciceros Auseinandersetzung mit dem Fatalismus eine zentrale Rolle und wird in den Paragraphen 17–20 und 26–28 ausführlich behandelt. Das Determinismusproblem ergibt sich nun, wenn auf der Grundlage des starken Wahrheitsbegriffs das Bivalenzprinzip akzeptiert wird. Dieses besagt, daß es nur zwei Wahrheitswerte, nämlich „wahr“ und „falsch“, gibt und daß jede Aussage einen dieser Wahrheitswerte besitzt.6 Wenn diesem Prinzip die uneingeschränkte Gültigkeit zugesprochen wird, bedeutet dies, daß weder ein dritter Wahrheitswert noch eine Wahrheitswertlücke existiert. Jede Aussage hat also immer einen Wahrheitswert. Weiterhin bezieht sich das Bivalenzprinzip dann ohne Berücksichtigung der _____________ 6
Das Bivalenzprinzip ist nicht mit dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten (Tertium non datur) und auch nicht mit dem Satz vom Widerspruch zu verwechseln (vgl. van Fraassen (1966), 493; Bobzien (1998a), 77 mit Anm. 41; O’Keefe (2005), 126 mit Anm. 6): Das Bivalenzprinzip besagt, daß jede Aussage genau einen der beiden Wahrheitswerte hat, also entweder wahr oder falsch ist. Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten hingegen besagt, daß die aus einer Aussage und ihrem kontradiktorischen Gegenteil gebildete Disjunktion wahr ist. Diese Unterscheidung wird in den Paragraphen 37–38 eine wichtige Rolle spielen.
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II. Die Problemstellung
Zeitstufe gleichermaßen auf alle Aussagen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Dabei erweisen sich gerade die Aussagen als problematisch, die sich auf Zukünftiges, genauer gesagt auf kontingente singuläre Ereignisse in der Zukunft beziehen. Aufgrund der uneingeschränkten Gültigkeit des Bivalenzprinzips besitzen auch diese Aussagen den Wahrheitswert „wahr“ oder „falsch“, was bedeutet, daß alle in der Gegenwart ausgesprochenen Zukunftsaussagen bereits zu diesem Zeitpunkt entweder wahr oder falsch sind und somit das in ihnen beschriebene Ereignis – dies ist gerade die dargestellte Konsequenz des starken Wahrheitsbegriffs – notwendigerweise auf sein Eintreten oder Nicht-Eintreten festgelegt ist. Vor diesem Hintergrund kann nun das deterministische Argument formuliert werden: 1. Prämisse: Wenn das Bivalenzprinzip allgemeingültig ist (d. h., wenn jede Aussage den Wahrheitswert „wahr“ oder „falsch“ hat), dann muß jedes Ereignis notwendigerweise eintreten oder (p)(Wp Fp) o notwendigerweise nicht eintreten. (p) (Np N~p) 2. Prämisse: Nun ist das Bivalenzprinzip aber allgemeingültig. (p)(Wp Fp) Konklusion mit Modus ponens: Also tritt jedes Ereignis notwendigerweise ein oder notwendigerweise nicht ein.
(p)(Np N~p)
Wenn nun aber das in einer zukunftsbezogenen Aussage beschriebene Ereignis mit Notwendigkeit eintreten oder mit Notwendigkeit ausbleiben muß, dann bedeutet dies nichts anderes, als daß die Zukunft bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt determiniert ist. Eine offene Zukunft – „offen“ in dem Sinne, daß ein Ereignis sowohl eintreten als auch nicht eintreten kann (Mp & M~p) – existiert nicht. Die uneingeschränkte Gültigkeit des Bivalenzprinzips ist auf der Basis des starken Wahrheitsbegriffs mit der Vorstellung kontingenter zukünftiger Ereignisse nicht vereinbar. Noch einmal muß betont werden, daß die erste Prämisse dieses Arguments, in der eine Korrelation zwischen dem Wahrheitswert einer Aussage und einer physisch-kausalen Notwendigkeit zum Ausdruck gebracht wird, nur auf der Grundlage des starken Wahrheitsbegriffs gültig ist. Die
II.2. Der logische Determinismus
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Konsequenz der physisch-kausalen Notwendigkeit ergibt sich nicht aus der Wahrheit oder Falschheit schlechthin, sondern aus der Bedingung, unter der eine Aussage auf der Basis des starken Wahrheitsbegriffs wahr oder falsch ist. Dieses Verständnis des starken Wahrheitsbegriffs ist für die ganze Diskussion um das Problem des logischen Determinismus in der hellenistischen Zeit und für Ciceros Auseinandersetzung mit diesem von entscheidender Bedeutung. Aus der vorangegangenen Darlegung ist deutlich geworden, daß der kausale und der logische Determinismus nicht isoliert nebeneinander stehen, sondern, wie die Konzeption des starken Wahrheitsbegriffs zeigt, ineinandergreifen. Der kausale und der logische Determinismus sind gewissermaßen die beiden Seiten der hellenistischen „DeterminismusMedaille“.
III. Die Bedeutung des Wortes fatum Das Wort fatum ist das substantivierte Partizip Perfekt Passiv von fari (‚sagen‘, ‚sprechen‘) und bedeutet wörtlich übersetzt ‚das Gesagte‘.1 Aus dieser Grundbedeutung sind im Laufe der Zeit abgeleitete Bedeutungen entstanden, wobei vor allem zwischen einem mythisch-religiösen und einem philosophischen Kontext unterschieden werden muß.2 Im mythisch-religiösen Verständnis wurde fatum der Grundbedeutung des Wortes entsprechend als ein Ausspruch (dictum) einer Gottheit oder eines mit den Göttern in Verbindung stehenden Sehers verstanden.3 Aus dieser Auffassung entwickelte sich die Vorstellung, daß sich durch das Fatum der Wille der Götter, allen voran der Jupiters, manifestiert.4 Diese Sprüche oder Willensbekundungen wurden personifiziert und schließlich selbst zu Gottheiten erhoben.5 So wurden die Fata (oder auch Tria Fata) mit den Moiren (ƷǙʏǛNjǓ) bzw. Parzen (Parcae) identifiziert6 und zur Geburt eines Kindes angerufen, um dessen ganzes Lebensgeschick bestimmen zu lassen. Durch diesen symbolischen Akt sah man die körperliche und geistige Ausprägung, den Charakter, vor allem die Anzahl der Lebensjahre als unabänderlich festgelegt an.7 Aus diesem Grund wurde das Wort _____________ 1 2 3 4
5 6
7
In der Dichtung und im mythisch-religiösen Kontext findet sich oft auch der Plural fata, siehe hierzu RE (VI,2) Fatum, 2048; TLL VI.1, 356.24–357.13. Vgl. insbesondere RE (VII,2) Heimarmene; RE (VI,2) Fatum; RAC (Bd. 7) Fatum; HistWb (Bd. 8) Schicksal; Pötscher (1974); (1978). Vgl. TLL VI.1, 356.24–357.13; vgl. Varro, ling. Lat. VI, 7.52. In der Bedeutung von ‚Orakel‘ oder ‚Schicksalssprüche‘ vgl. Cicero, div. I, 100: eumque dixisse ex fatis, quae Veientes scripta haberent und Livius X, 8.2: carminum Sibyllae ac fatorum populi huius interpretes. Vgl. z. B. Vergil, Aen. VII, 50: fato divum; VII, 239: fata de(or)um; IV, 614: sic fata Iovis poscunt (analog zu ƯǓʘǜ NjʐǝNj). Servius (In Vergilii Carmina commentarii ) kommentiert diese Stelle mit id est Iovis voluntas; vgl. seine Kommentare zu Aen. X, 628: vox enim Iovis fatum est und Aen. XII, 808: fatum esse quicquid Iovis dixerit. Vgl. z. B. Properz IV, 7.51: iuro ego Fatorum nulli revolubile carmen. Vgl. Klausen (1840); RE (VI,2) Fatum, 2050f.; Engel (1926), 112; van der Horst (1943); Pötscher (1974), 172–175. Zu den ƷǙʏǛNjǓ siehe z. B. Engel (1926), 95–106; Leitzke (1930); Eitrem (1934); Berry (1940). Wie aus Grabinschriften zu entnehmen ist, haben sich besonders in den niederen Volksschichten auch die maskulinen und femininen Formen Fatus/Fati und Fata/Fatae herausgebildet. Vgl. Roscher (Bd. I) Fatus, 1452f. mit Belegen; RE (VI,2) Fatum, 2049f. Vgl. Varro, ling. Lat. VI, 7.52. Vgl. Roscher (Bd. I) Fatum, 1447; Engel (1926), 102, 108; Leitzke (1930), 68f.; van der Horst (1943), 219f.; Pötscher (1974), 173f.
III. Die Bedeutung des Wortes fatum
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fatum in einem engeren Sinne auch für die Bezeichnung des konkreten Schicksals einzelner Menschen (aber auch ganzer Städte oder Völker) verwendet, wobei es dann insbesondere auf das zu erwartende Unglück oder die Todesumstände der betreffenden Person bezogen wurde.8 Daher ergab sich für den Römer bei der Verwendung des Substantivs fatum und des Adjektivs fatalis eine überwiegend negative Konnotation.9 In der breiten Volksschicht war der Fatalismus vor allem in seiner aus dem Osten stammenden astrologisch-mystischen Ausprägung vertreten, so daß in diesem Kontext das Fatum üblicherweise als ein ‚Beschluß der Sterne‘ (decretum stellarum) aufgefaßt wurde.10 Die philosophische Bedeutung des Wortes fatum wird zuerst bei Cicero in seiner Schrift De divinatione formuliert: Als „Fatum“ aber bezeichne ich das, was die Griechen als „Heimarmenē“ bezeichnen; es ist die Ordnung und Abfolge der Ursachen, weil die Ursache verbunden mit einer [anderen] Ursache die Wirkung aus sich selbst hervorbringt.11
Somit stellt fatum die Übersetzung des griechischen Wortes ǏʉǖNjǛǖɨǗǑ dar und wird mit ordo seriesque causarum erklärt.12 Ciceros Erklärung läßt annehmen, daß er das Wort ganz im stoischen Sinne versteht,13 denn gerade in dieser ewigen und sich mit strenger Notwendigkeit vollziehenden ‚An_____________ 8 9 10 11
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Vgl. RE (VI,2) Fatum, 2049; RAC (Bd. 7) Fatum, 526; TLL VI.1, 359.4–360.77; Leitzke (1930), 14–17, 19–21; Eitrem (1934), 53–56; Theunissen (2004), 20. Vgl. Roscher (Bd. I) Fatum, 1448; TLL VI.1, 359.4–360.77. Vgl. RAC (Bd. 7) Fatum, 526; RE (VII,2) Heimarmene, 2632–2634; Theiler (1946), 42. div. I, 125 (SVF II, 921; LS 55L): fatum autem id appello, quod Graeci ǏʉǖNjǛǖɨǗǑǗ, id est ordinem seriemque causarum, cum causae causa nexa rem ex se gignat. ea est ex omni aeternitate fluens veritas sempiterna. Vgl. nat. I, 55: hinc vobis extitit primum illa fatalis necessitas, quam ǏʉǖNjǛǖɨǗǑǗ dicitis, ut, quicquid accidat, id ex aeterna veritate causarumque continuatione fluxisse dicatis, nat. III, 14 (SVF II, 922): praesertim cum vos idem fato fieri dicatis omnia, quod autem semper ex omni aeternitate verum fuerit, id esse fatum und die Definition, die Servius, Aen. III, 376 (SVF II, 919) im Fragment 2 Cicero zuschreibt (siehe VI.5.): fatum est conexio rerum per aeternitatem se invicem tenens. Ganz ähnlich beschreibt Seneca das Fatum als die ‚Reihe ineinandergeflochtener Ursachen‘ (ben. IV, 7.2 (SVF II, 1024): fatum nihil aliud sit quam series implexa causarum; vgl. prov. V, 7: causa pendet ex causa). Vgl. Augustinus, civ. V, 8 (SVF II, 932): qui [sc. Stoici] vero non astrorum constitutionem […] sed omnium conexionem seriemque causarum, qua fit omne, quod fit, fati nomine appellant. Vielleicht geht die Definition sogar auf Chrysipp selbst zurück, da Gellius VII, 2.1. (SVF II, 1000; FDS 998) ihm eine ganz ähnliche zuschreibt: fatum, quod ǏʉǖNjǛǖɨǗǑǗ Graeci vocant, ad hanc ferme sententiam Chrysippus, Stoicae princeps philosophiae, definit : ‚ fatum est‘ inquit ‚sempiterna quaedam et indeclinabilis series rerum et catena volvens semetipsa sese et inplicans per aeternos consequentiae ordines, ex quibus apta nexaque est‘; vgl. VII, 2.3, 2.9 (SVF II, 1000; LS 62D; FDS 998): naturalis illa et necessaria rerum consequentia […], quae fatum vocatur. Weitere Definitionen der Stoiker finden sich in SVF II, 912–927 und in LS 55J–M. Vgl. TLL VI.1, 355.49–356.23; Stein (1888), 340 Anm. 770; Theiler (1946), 44f.; Sambursky (1959), 57f.; Gould (1970), 142f.; Szekeres (1990), 58f.; Gourinat (2005b), 258f. Zur bildhaften Darstellung des Fatums als Kette oder Tau siehe Rolke (1975), 214–219.
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III. Die Bedeutung des Wortes fatum
einanderreihung der Ursachen‘ (ǏʉǛǖʘǜ NjʊǞǓʸǗ)14 manifestiert sich für die Stoiker das Wirken des Fatums.15 Die Interpretation der ǏʉǖNjǛǖɨǗǑ als ǏʉǛǖʘǜ NjʊǞǓʸǗ diente den Stoikern als Grundlage für ihre etymologische Erklärung des Wortes ǏʉǖNjǛǖɨǗǑ, indem sie es von ǏʍǛǏǓǗ (‚aneinanderreihen‘) ableiteten.16 Diese Erklärung ist aber nicht korrekt, vielmehr leitet sich ǏʉǖNjǛǖɨǗǑ aus der indogermanischen Wurzel *(s)mer ab und stellt die feminine Form des substantivierten Partizips Perfekt Passiv von ǖǏʇǛǏǝǒNjǓ (‚zugeteilt bekommen‘, lat.: merere/mereri) dar. Ursprünglich stand ǏʉǖNjǛǖɨǗǑ mit dem später weggelassenen Wort ǖǙʏǛNj (‚Los‘, ‚Anteil‘) zusammen, so daß ǏʉǖNjǛǖɨǗǑ [ ǖǙʏǛNj] im eigentlichen Sinne ‚das zugeteilte Los‘, ‚der zugewiesene Anteil‘ bedeutet.17 Während sich der _____________ 14 15
16 17
Vgl. Aëtios, Plac. I, 28.4 (SVF II, 917; LS 55J; FDS 999); DL VII, 149 (SVF II, 915; FDS 998A). In SE AM IX, 211 (SVF II, 341; LS 55B; FDS 765) wird ein Verursachungsprozeß mit folgenden Beispielen erklärt: Das Messer (ein Körper) ist bezogen auf das Fleisch (einen Körper) die (materielle) Ursache für das immaterielle Prädikat (ǔNjǞǑǍʗǛǑǖNj) ‚geschnitten werden‘. Oder das Feuer (ein Körper) ist bezogen auf das Holz (einen Körper) die (materielle) Ursache für das immaterielle Prädikat ‚verbrennen‘ (Vgl. M. Frede (1980), 233f.; Barnes (1983), 171–175; LS I, 340, 343; Forschner (1995), 86–89; Bobzien (1998a), 18–21; (1999a), 198–204; Hankinson (1998), 242; (1999a), 484). Für die Stoiker ist eine Ursache somit materiell gedacht, während der Effekt einer Verursachung als etwas Immaterielles verstanden wird. Dieser Umstand scheint kaum mit der Vorstellung einer Kausalreihe (ordo seriesque causarum/ǏʉǛǖʘǜ NjʊǞǓʸǗ), in der eine Ursache einen Effekt hervorbringt, der dann selbst wieder zur Ursache wird usw., vereinbar zu sein, denn der immaterielle Effekt kann nicht wiederum eine materielle Ursache sein. Man muß sich allerdings vor Augen halten, daß bei dieser triadischen Kausalrelation – der Körper x verursacht an dem Körper y den Effekt F (als immaterielles Prädikat) – das bewirkte Prädikat gerade auf einen bestimmten materiellen Zustand des Körpers verweist, an dem eine Verursachung stattgefunden hat. Da nun ein Körper x (aufgrund des ihm eigentümlichen Zustandes) die Fähigkeit besitzt, an dem Körper y das Prädikat F zu bewirken, kann nun auch der Körper y mit dem Prädikat F seinerseits die Ursache für ein Prädikat G an einem Körper z darstellen. Aus stoischer Perspektive kann damit die Ursachenverknüpfung als eine Interaktion verschiedener materieller Körper, die mit bestimmten immateriellen Eigenschaften versehen sind, beschrieben werden (zu diesem Punkt in der stoischen Kausaltheorie siehe Sambursky (1959), 53f.; (1965), 246; Reesor (1965), 287 Anm. 4; Edelstein (1968), 25f.; Bloos (1973), 96; Graeser (1975), 82–89; Barnes (1983), 171f.; LS I, 343; Schubert (1994), 120f.; Bobzien (1998a), 50f.; Hankinson (1998), 242; Meyer (1999), 262–265). Dabei scheint der ordo seriesque causarum/ǏʉǛǖʘǜ NjʊǞǓʸǗ mit Blick auf die Kausaltheorie der Stoiker im allgemeinen und auf ihre Ursachenunterscheidung im besonderen (siehe VII.17.a.) nicht als eine Menge distinkter, linearer Kausalreihen, sondern vielmehr als eine Interaktion von Ursachen in einem umfassenden kausalen Netzwerk verstanden werden zu müssen, in dem sich das Wirken des Fatums manifestiert. Vgl. Faust (1931), 291; D. Frede (1982), 282; (2003), 189f.; Szekeres (1992), 46 mit Verweis auf Sambursky (1959), 77ff.; Hankinson (1996); Bobzien (1998a), 47–53; Meyer (1999), 262–268; Hahmann (2005), 55. Vgl. Theiler (1946), 43 Anm. 1 mit weiteren Belegen; Furley (1967), 174; Pohlenz (1992) I, 102; Hankinson (1996), 191–194. Siehe auch die folgende Anmerkung. Vgl. Prellwitz (1905), 286; Walde (1910), 479; RE (VII,2) Heimarmene, 2623; Leitzke (1930), 5; Cioffari (1935), 46–48; Stegemann (1939), 167; Berry (1940), 1f.; Frisk (1960/72) II,
III. Die Bedeutung des Wortes fatum
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Begriff der ǏʉǖNjǛǖɨǗǑ im Kontext der Philosophie entwickelte und in diesem auch verhaftet blieb, hat das Wort fatum dagegen seine Anwendung sowohl im mythisch-religiösen als auch im philosophischen Kontext gefunden.
_____________ 196f.; Leœniak (1960), 401f.; Dietrich (1967), 11–13 („ ‚to receive as one’s portion‘ (almost – ‚to receive as one’s due‘)“; zu Dietrich siehe auch die Rezension von Adkins (1968)); Widmann (1968), 150; Nava Contreras (1998), 268–271; Gourinat (2005a), 218f.
IV. Die Terminologie Da die verwendeten Termini nicht von allen Autoren im gleichen Sinne verstanden werden, sollen sie kurz bestimmt werden.1 Unter einem Deterministen soll jemand verstanden werden, der von der Annahme ausgeht, daß alles mit einer von jeher bestehenden Notwendigkeit geschieht. Dabei soll es unbestimmt bleiben, ob sich diese Notwendigkeit aus logischen oder aus kausalen Erwägungen ableitet. Von einem Deterministen ist der Fatalist zu unterscheiden.2 Der Fatalist geht von der Annahme aus, daß jegliches Geschehen vorherbestimmt ist und unausweichlich eintreten wird, so daß es ihm unmöglich erscheint, in das Weltgeschehen einzugreifen. Wie die Vergangenheit unabänderlich ist, so gilt dies aus der Sicht eines Fatalisten auch für die Zukunft.3 Daher ist für ihn der Mensch nicht in den Lauf der Dinge integriert, sondern vielmehr dazu verdammt, gleichsam von „außen“ auf den Ablauf der Ereignisse zu schauen, ohne diesen ändern zu können. Diese Haltung kommt in dem sogenannten ‚Untätigkeitsargument‘ zum Ausdruck, das Cicero in den Paragraphen 28–30 behandelt. Der Determinist hingegen leugnet nicht den kausalen Einfluß, den der Mensch durch sein Handeln auf das Geschehen ausübt, und er leugnet daher auch nicht, daß die Zukunft anders verlaufen könnte, wenn die Vergangenheit anders verlaufen _____________ 1 2
3
Vgl. Weidemann (2003a), 122f. mit Bezug auf Walter (1998), 65–71; Taylor (1962); Kapitan (1999); Hahmann (2005), 12–23. Weder Cicero noch die anderen hellenistischen Philosophen kannten eine solche Differenzierung dem Namen nach. In der These „Alles geschieht durch das Fatum“ (omnia fato fiunt) findet der Determinismus allgemein seinen Ausdruck, ganz unabhängig davon, ob dieser aus kausalen oder aus logischen Erwägungen resultiert (der Fatalismus ist oft als eine Folge des logischen Determinismus betrachtet worden (vgl. z. B. Cahn (1967), 8–12 et passim; siehe VII.12.)). Daher soll die verbreitete Bezeichnung „stoischer Fatalismus“ nur deskriptiv verstanden werden und zum Ausdruck bringen, daß die Stoiker in der Existenz des Fatums einen wesentlichen Bestandteil ihrer Lehre sehen. Daß der stoische Fatalismus nicht zu einem Fatalismus im oben dargestellten Sinne führt, soll in der Auseinandersetzung mit der stoischen Lehre deutlich werden. Für die Stoiker spielt die Unterscheidung zwischen Fatalismus und Determinismus der Sache nach eine entscheidende Rolle (siehe VII.12.). Siehe hierzu auch die Auseinandersetzungen in Meyer (1999); Broadie (2001); D. Frede (2003), 201–205; Salles (2004); (2005), xvf., 16–18. Vgl. Taylor (1962), 56: „A fatalist, in short, thinks of the future in the manner in which we all think of the past“. Siehe auch Cahn (1967), 15–23.
IV. Die Terminologie
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wäre. Der Determinist betrachtet das Weltgeschehen zwar als determiniert, erkennt den Menschen aber – anders als der Fatalist – als ein in das determinierte Weltgeschehen eingebundenes, kausales Glied an. Als Indeterminist soll derjenige bezeichnet werden, der die Gegenposition zum Determinismus vertritt, nämlich daß nicht alles mit einer von jeher bestehenden Notwendigkeit geschieht. Diese Haltung wird dadurch deutlich, daß der Indeterminist die Existenz kontrafaktischer Möglichkeiten annimmt. Er geht also davon aus, daß zu einem bestimmten Zeitpunkt ein und dasselbe Ereignis eintreten oder ausbleiben kann, ohne daß es bereits von jeher auf sein Eintreten oder Ausbleiben festgelegt wäre. Als Libertarier soll derjenige bezeichnet werden, der die Auffassung vertritt, daß der Mensch Willensfreiheit in dem starken Sinne besitzt, daß er zur selben Zeit und unter denselben Bedingungen auch anders hätte handeln können, als er tatsächlich gehandelt hat („could have done otherwise“). Der Libertarier verbindet die menschliche Freiheit mit der Möglichkeit der alternativen Wahl. Die Bezeichnung „Kompatibilismus“ ist im eigentlichen Sinne eine rein systematisierende Bezeichnung, die ganz allgemein zum Ausdruck bringen soll, daß zwei konkurrierende Positionen als miteinander vereinbar angesehen werden. Im Zusammenhang mit der Fatumsdiskussion vertritt nun ein Kompatibilist die Auffassung, daß Determinismus und menschliche Freiheit vereinbar sind. Der Inkompatibilist nimmt in diesem Zusammenhang dementsprechend die entgegengesetzte Haltung ein, nämlich daß Determinismus und menschliche Freiheit nicht zugleich angenommen werden können, ohne daß man dabei in Widersprüche geriete.
V. Die hellenistischen Philosophen in der Fatumsdiskussion Das Problem, moralische Verantwortlichkeit und menschliche Freiheit mit der Lehre vom Schicksal zu vereinbaren, stand nicht am Anfang des philosophischen Fragens und Denkens. Die vorsokratischen Philosophen richteten ihre Überlegungen primär darauf, den Aufbau und das Wesen der Welt zu erklären. Dabei spielte die Vorstellung einer geordneten Welt eine wichtige Rolle, so daß bereits seit Thales von Milet (ca. 625–547) der Begriff ‚Schicksal‘ (ɒǗɏǍǔǑ) nicht nur zum Ausdruck des schlichten Naturzwangs, sondern auch als Ausdruck einer kosmischen, auf das Wirken der Götter zurückgeführten Ordnung Verwendung fand. Daher wurde das Schicksalswalten auch personifiziert und zu der Göttin ǩǗɏǍǔǑ erhoben. Vielleicht war es Anaximenes (ca. 585–525), der die Bezeichnung ǏʉǖNjǛǖɨǗǑ für das Schicksal einführte, da in der Zeit nach ihm die Begriffe ǏʉǖNjǛǖɨǗǑ und ɒǗɏǍǔǑ bald nebeneinander, bald synonym verwendet wurden.1 Der Begriff ǏʉǖNjǛǖɨǗǑ etablierte sich als Bezeichnung einer alles ordnenden und alles umfassenden Macht in der antiken Philosophie, und mit diesem „grundlegenden theoretischen Begriff“2 konnten die Vorsokratiker eine harmonische Einheit von persönlicher Lebenswelt und Kosmos schaffen. Die allmächtige Vorherrschaft des Schicksals, zumeist verbunden mit mythisch-religiösen Vorstellungen, wurde akzeptiert, ohne daß die ethischen Konsequenzen eines daraus resultierenden Determinismus diskutiert worden wären.3 Auch in der klassischen Epoche wurde eine solche Diskussion nicht explizit geführt. Offensichtlich wurde das Schicksal nicht als unmittelbar bedrohlich für die individuelle Freiheit empfunden; vielmehr steht bei den großen klassischen Philosophen Sokrates, Platon4 und Aristoteles5 die individuelle Freiheit als Erfahrungstatsache völlig außer Frage. Das Di_____________ 1 2 3 4 5
Vgl. Gundel (1914), 8. Schreckenberg (1964), 110 steht aufgrund des Fehlens direkter oder indirekter Zeugnisse der Annahme Gundels skeptisch gegenüber. Magris (1995), 81. Vgl. Greene (1936), 87. Platon behandelt das Verhältnis zwischen dem einzelnen Menschen, der persönlichen ǏʉǖNjǛǖɨǗǑ und der Göttin ǩǗɏǍǔǑ in dem „Mythos des Er“ (Politeia X, 613e–621b). Zu Aristoteles’ Auseinandersetzung mit dem Determinismus siehe u. S. 222 Anm. 430.
V.1. Diodor
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lemma zwischen menschlicher Freiheit und Schicksal ist ein Stoff, der vornehmlich in den großen Tragödien der klassischen Zeit behandelt wurde.6 Erst in der hellenistischen Zeit wurde die Frage nach der Vereinbarkeit von menschlicher Freiheit und Schicksal aufgeworfen und als ein zentrales Thema vehement von den einzelnen Philosophenschulen diskutiert.7 Auch Cicero widmet sich diesem Thema und setzt sich in De fato mit den Lehrmeinungen von Diodor, den Stoikern, den Epikureern und den Neuakademikern auseinander.
1. Diodor Diodoros Kronos aus Iasos (Kleinasien), gestorben um 307/284, war ein bedeutender Vertreter der dialektischen/megarischen Schule und ein Meister der von ihr herausgearbeiteten Dialektik.8 Mit seiner Logik übte er keinen geringen Einfluß auf die hellenistische Philosophie aus. Zu seinen Schülern zählten die später selbst bedeutenden Philosophen Philon von Megara und Zenon von Kition, der Begründer der Stoa. Zu großer Berühmtheit gelangte Diodor insbesondere durch das sogenannte ‚Meisterargument‘9 (ǔǟǛǓǏʡǣǗ ǕʗǍǙǜ), als dessen Urheber er gilt. Mit diesem Argument beabsichtigte er, seine These zu beweisen, daß nur das möglich ist, was wirklich ist oder wirklich sein wird. Die beste Auskunft über dieses Meisterargument findet sich bei Epiktet (50–138), _____________ 6 7
8
9
Zur Schicksalsidee in der vorhellenistischen Zeit siehe Trendelenburg (1855); Gundel (1914); Leach (1915); Cioffari (1935); Greene (1936); (1963); Berry (1940); Schreckenberg (1964); Magris (1995); Meixner (2002); Früchtel (2006). Stegemann (1939), 168 sieht in Aristoteles den ersten, der sich mit dem Freiheitsproblem auseinandergesetzt hat, auch wenn für ihn – im Gegensatz zur volkstümlicheren ǩǗɏǍǔǑ – die ưʉǖNjǛǖɨǗǑ „nichts Lebendiges“ gewesen sei. Gould (1970), 152 und Straaten (1977), 508 nehmen an, daß die Stoiker die ersten gewesen seien, die dieses Problem diskutiert hätten. Huby (1967), der sich Weidemann (2003a), 111 anschließt, vertritt die Auffassung, daß Epikur das ‚Freiheitsproblem‘ entdeckt habe. Vgl. Sedley (1977), 98. Gegen diese Auffassung wendet sich Bobzien (2000), die in (1998b) zu zeigen versucht, daß das Problem „of physical causal determinism and freedom of decision“ (S. 175) erst ab dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert diskutiert wurde. Diodor wurde lange Zeit zu der Schule der Megariker gezählt (z. B. RE (V,1) Diodoros, 705), die mit der Schule der Dialektiker gleichgesetzt wurde. Sedley (1977), 47–83 vertritt in seinem maßgeblichen Aufsatz „Diodorus Cronus and Hellenistic Philosophy“ die Auffassung, daß die Schule der Megariker und die der Dialektiker zu unterscheiden seien, wobei Diodor zu der letzteren zu zählen sei. Weiterhin sei dieser nicht um 307, sondern erst um 284 gestorben. Diese Ansicht blieb aber nicht ohne Widerspruch, vgl. White (1985), 69–72; Döring (1989). Zur Erklärung des Namens siehe Weidemann (1987), 18 Anm. 1 und Gaskin (1995), 221f.
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V. Die hellenistischen Philosophen in der Fatumsdiskussion
überliefert durch dessen Schüler Arrian (95–175).10 Er gibt drei Sätze an, die zum Meisterargument gehören: 1. Alles Wahre in der Vergangenheit ist notwendig. (ǚɦǗ ǚNjǛǏǕǑǕǟǒʘǜ ɒǕǑǒɩǜ ɒǗNjǍǔNjʏǙǗ ɫǝǞǓǗ) 2. Aus etwas Möglichem folgt nichts Unmögliches. (ǎǟǗNjǞˆ ɒǎʡǗNjǞǙǗ Ǚʤǔ ɒǔǙǕǙǟǒǏʏ) 3. Es gibt etwas Mögliches, das weder wahr ist noch wahr sein wird. (ǎǟǗNjǞʗǗ Ǟ’ ɫǝǞǓǗ, ʜ ǙʧǞ’ ɮǝǞǓǗ ɒǕǑǒɩǜ ǙʧǞ’ ɮǝǞNjǓ) Wenn alle drei Sätze, so berichtet Epiktet, als wahr angenommen werden, dann ergebe sich ein Widerspruch. So sei es nur möglich, zwei Sätze anzunehmen, wobei dann der verbleibende zu verwerfen sei. Diodor selbst befürwortet die Sätze (1) und (2) und versucht, mit deren Hilfe die Falschheit des Satzes (3) und somit seine Auffassung vom Möglichen zu beweisen. Chrysipp hingegen befürwortet die Sätze (1) und (3) und lehnt Satz (2) ab (§ 14). Sein Lehrer Kleanthes dagegen befürwortet die Sätze (2) und (3) und bestreitet so den Satz (1) (§ 14).11 Die Tatsache, daß jeweils einer der beiden Sätze (1) und (2) negiert wurde, um gegen den ǔǟǛǓǏʡǣǗ ǕʗǍǙǜ zu argumentieren, läßt annehmen, daß dieser allgemein als ein gültiger Schluß anerkannt wurde. Obwohl das Meisterargument in der antiken Literatur des öfteren Erwähnung findet und auch viel diskutiert wurde, gibt es keine genaue Kenntnis seines ursprünglichen Inhalts und seines genauen Argumentationsgangs. Auf vielfältige Weise ist daher versucht worden, das Argument zu rekonstruieren.12 Da die Lehrmeinung Diodors auch in De fato eine wichtige Rolle spielt, soll nachfolgend seine mutmaßliche Argumentation skizziert werden. Den Kern des Arguments stellt die _____________ 10
11 12
Vgl. Epiktet, Dissert. II, 19, 1–5 (teilw. SVF I, 489; II, 283; LS 38A; FDS 993; M 131). Weiterhin geben Cicero ( fat. 13, 17; fam. IX, 4(6) (SVF II, 284; FDS 990; M 133)), Plutarch (Stoic. repug. 46, 1055e (SVF II, 202; FDS 1008; M 134)), Alexander von Aphrodisias (In Arist. Anal. pr. 183.34–184.6 (LS 38B; FDS 992; M 135)) und Boethius (In Arist. De interpr. III 9, 234.22–26 (LS 38C; FDS 988; M 138)) einen knappen Überblick über Diodors Modaltheorie. Vgl. Bobzien (1993), 69; (1998a), 102 Anm. 11; Gaskin (1995), 217 Anm. 1. Siehe auch VII.5.d. Zur Chrysipps Entgegnung siehe VII.5.g. Zur mutmaßlichen Entgegnung des Kleanthes siehe Rist (1969a), 117f.; M. Frede (1974), 117; Gaskin (1995), 297–301. Die letzten ausführlichen Rekonstruktionen haben Vuillemin (1996) (zur Kritik an Vuillemin siehe Gaskin (1995), 276–281), White (1985) (zur Kritik an White siehe Gaskin (1995), 265–269), Weidemann (1987), (1993), (1999a), (2008) und Gaskin (1995) unternommen. Weitere Literaturverweise finden sich in der zuvor genannten Literatur sowie in Talanga (1986), 181–183 und in Glei (1993), 330f. Anm. 26.
V.1. Diodor
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These dar, daß jede zukunftsbezogene Aussage, die eine falsche vergangenheitsbezogene Aussage impliziert, etwas Unmögliches besagt:13 Satz 1: ‚Alles Wahre in der Vergangenheit ist notwendig‘ kann mit Pp o NPp („Wenn es der Fall gewesen ist, daß p, dann ist es notwendig, daß es der Fall gewesen ist, daß p“) formalisiert werden und ist aufgrund der Äquivalenz von N und ~M~ äquivalent mit: (1) Pp o ~M~Pp Satz 2: ‚Aus etwas Möglichem folgt nichts Unmögliches‘ kann folgendermaßen umschrieben werden: Wenn eine Aussage p die Aussage q strikt impliziert, dann impliziert die Unmöglichkeit von q auch die Unmöglichkeit von p: (2) N( p o q) o (~Mq o ~Mp)14 Nun muß Diodor, um die Korrektheit der Argumentation zu gewährleisten, noch zwei weitere Prämissen angenommen haben, die bei Epiktet nicht explizit erwähnt sind:15 Zusatzprämisse 1: Jede gegenwartsbezogene Aussage p impliziert strikt die entsprechende vergangenheitsbezogene Aussage ~P~Fp („Es ist nicht irgendwann einmal der Fall gewesen, daß es nicht irgendwann einmal der Fall sein wird, daß p“): (4a) N( p o ~P~Fp) _____________ 13
14
15
Die Darstellung folgt den ausführlichen Ausarbeitungen von Weidemann (1987), (1993), (1999a), (2000) und (2008). Die Modifikation in der letzten Ausarbeitung (Diodors These dürfe nicht mit ~Fp o ~MFp, sondern müsse vielmehr mit ~Fp o ~Mp formalisiert werden) ist hier bereits berücksichtigt. Die zeitformenlogischen Operatoren sind wie folgt zu verstehen: Fp „Es wird irgendwann einmal der Fall sein, daß p“; Pp „Es ist irgendwann einmal der Fall gewesen, daß p“; Gp „Es wird immer der Fall sein, daß p“; Hp „Es ist immer der Fall gewesen, daß p“, wobei Hp durch ~P~p und Gp durch ~F~p definiert ist. Alle Operatoren schließen den Bezug auf den gegenwärtigen Zeitpunkt mit ein, so daß z. B. Fp im Sinne von „Es ist jetzt der Fall oder wird irgendwann einmal der Fall sein, daß p“ zu verstehen ist. Zur Erläuterung und Verwendung dieser Operatoren siehe ausführlich Weidemann (1987), 37f., 42f.; (1993), 326. Diese Prämisse leitet sich aus dem modallogischen Gesetz N( p o q) o (Np o Nq) ab, aus dem sich mit Kontraposition N(~q o ~p) o (N~q o N~p) ergibt, was schließlich aufgrund der Äquivalenz von N~p und ~Mp äquivalent mit N( p o q) o (~Mq o ~Mp) ist. Vgl. Weidemann (1987), 38f.; (1993), 326.
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V. Die hellenistischen Philosophen in der Fatumsdiskussion
Zusatzprämisse 2: Die Falschheit der zukunftsbezogenen Aussage Fp („Es wird irgendwann einmal der Fall sein, daß p“) impliziert auch die Falschheit der Aussage ~P~Fp („Es ist nicht irgendwann einmal der Fall gewesen, daß es nicht irgendwann einmal der Fall sein wird, daß p“): (4b) ~Fp o P~Fp16 Die logische Struktur des Arguments kann dann wie folgt wiedergegeben werden: Annahme: Eine gegebene zukunftsbezogene Aussage ist falsch (~Fp) ~Fp o P~Fp ~Fp
1. Aus (4b) und der Annahme ergibt sich mit Modus ponens
2. Mit p/~Fp impliziert P~Fp der Prämisse (1) gemäß die Notwendigkeit von P~Fp, so daß sich ergibt: Hieraus und aus Schritt 1 ergibt sich mit Modus ponens 3. Aus (2) ergibt sich mit q/~P~Fp: Hieraus und aus (4a)
P~Fp
P~Fp o ~M~P~Fp P~Fp ~M~P~Fp
N( p o ~P~Fp) o (~M~P~Fp o ~Mp) N( p o ~P~Fp)
ergibt sich mit Modus ponens 4. Aus Schritt 3 und aus Schritt 2 ergibt sich mit Modus ponens:
~M~P~Fp o ~Mp ~M~P~Fp ~Mp
Mit der Konditionalisierung der Annahme ~Fp und der Konklusion ~Mp aus Schritt 4 ergibt sich die von Diodor vertretene These: ~Fp o ~Mp, nämlich daß das, was nicht ist und nicht sein wird, unmöglich ist. _____________ 16
Werden die zeitformenlogischen Operatoren, wie dies hier der Fall ist, in einer Bedeutung verwendet, in der sie den Bezug auf den gegenwärtigen Zeitpunkt mit einschließen, so ist (4b) logisch wahr und fungiert daher genaugenommen nicht als eine weitere Prämisse, sondern als Theorem. Vgl. Weidemann (2008).
V.1. Diodor
21
Normalsprachlich kann Diodors Argumentation dann folgendermaßen dargestellt werden: Wenn ich weder jetzt in Korinth bin noch jemals in Korinth sein werde, dann ist die zukunftsbezogene Aussage „Ich werde irgendwann einmal in Korinth sein“ (Fp) falsch (Annahme). Nach (4b) ist dann auch die vergangenheitsbezogene Aussage „Es ist nicht irgendwann einmal der Fall gewesen, daß ich nicht irgendwann einmal in Korinth sein werde“ (~P~Fp) falsch und besagt, da nach (1) ihre Negation etwas Notwendiges besagt, etwas Unmögliches (~M~P~Fp). Nach (2) kann etwas Unmögliches nicht aus etwas Möglichem folgen, und da die Aussage „Ich bin in Korinth“ ( p) nach (4a) die genannte vergangenheitsbezogene Aussage (~P~Fp) strikt impliziert, besagt sie mit (2) auch ihrerseits etwas Unmögliches (~Mp), so daß ich, wenn ich weder jetzt in Korinth bin noch jemals in Korinth sein werde, unmöglich in Korinth sein kann. Diodors Meisterargument ist in dieser Form logisch korrekt. Auf dem Boden der modallogischen Semantik Diodors ist es auch schlüssig.17 Verläßt man allerdings diesen Boden, so ist es weder dann schlüssig, wenn es auf der Basis des starken, noch dann, wenn es auf der Basis des schwachen Wahrheitsbegriffs interpretiert wird, und zwar aus dem folgenden Grund: Die erste Zusatzprämisse (4a) N( p o HFp)18 ist nur dann wahr, wenn die Formel HFp auf der Basis des schwachen Wahrheitsbegriffs interpretiert wird. Um dies besser veranschaulichen zu können, soll der Wahrheitsoperator W in die Formel aufgenommen und im schwachen Sinne verstanden werden. Die Formel N( p o HWFp) besagt dann, daß zum gerade gegenwärtigen Zeitpunkt t notwendigerweise, d. h. relativ zu jedem zu t noch möglichen Weg w der Weltentwicklung gilt, daß es dann, wenn es relativ zu w der Fall ist, daß p, relativ zu w schon immer wahr gewesen ist, daß es relativ zu w irgendwann einmal der Fall sein würde, daß p, daß es dann also relativ zu w niemals wahr gewesen ist, daß es relativ zu w niemals der Fall sein würde, daß p (HWFp ~PW~Fp). Daß p auf dieser Basis notwendigerweise HFp impliziert, ist also insofern unmittelbar einsichtig, als sich andernfalls die unmögliche Konsequenz ergäbe, daß zum gerade gegenwärtigen Zeitpunkt t relativ zu irgendeinem zu t noch möglichen Weg w sowohl gelten würde, daß es relativ zu w der Fall ist, daß p, als auch, daß es relativ zu w irgendwann einmal wahr gewesen ist, daß es relativ zu w niemals der Fall sein würde, daß p (N( p o ~PW~Fp) ~M( p & PW~Fp) ~M( p & ~HWFp)). Wird die Formel HFp dagegen auf der Basis des starken Wahrheitsbegriffs interpretiert, muß HWFp als HNWFp verstanden werden, denn _____________ 17 18
Vgl. Weidemann (2008). Der sprachlichen Übersichtlichkeit wegen wird in den folgenden Ausführungen „~P~“ durch das äquivalente „H“ ersetzt.
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V. Die hellenistischen Philosophen in der Fatumsdiskussion
„wahr“ im starken Sinne bedeutet nichts anderes als NW (notwendigerweise wahr im schwachen Sinne). Die Formel N( p o HNWFp) besagt dann, daß zum gerade gegenwärtigen Zeitpunkt t notwendigerweise, d. h. für jeden zu t noch möglichen Weg w der Weltentwicklung gilt, daß es dann, wenn es relativ zu w der Fall ist, daß p, zu jedem bereits vergangenen Zeitpunkt t´ relativ zu jedem zu t´ noch möglich gewesenen Weg w´ wahr gewesen ist, daß es relativ zu w´ irgendwann einmal der Fall sein würde, daß p. Nun muß aber etwas, das relativ zu einem bestimmten jetzt noch möglichen Weg der Fall ist, nicht auch schon relativ zu jedem der früher einmal alternativ zu diesem Weg möglich gewesenen Wege zukünftig gewesen sein, so daß auch nicht gilt, daß p auf der Basis des starken Wahrheitsbegriffs notwendigerweise HFp impliziert. Wenn (4a) N( p o HFp) nur auf der Basis des schwachen Wahrheitsbegriffs gültig ist, dann ergibt sich das Problem, daß die Implikation ~HFp o ~MHFp in Schritt 2 auf dieser Basis (d. h. im Sinne von ~HWFp o ~MHWFp) nicht gültig ist. Denn daraus, daß es relativ zum tatsächlichen Weg der Weltentwicklung nicht schon immer wahr gewesen ist, daß es relativ zu ihm irgendwann einmal der Fall sein würde, daß p, folgt nicht, daß es jetzt zu keinem jetzt noch möglichen Weg der Weltentwicklung schon immer wahr gewesen ist, daß es relativ zu ihm irgendwann einmal der Fall sein würde, daß p. Nur wenn die Formel HFp auf der Basis des starken Wahrheitsbegriffs (also im Sinne von HNWFp) verstanden wird, wenn sie also besagt, daß es zu jedem bereits vergangenen Zeitpunkt t´ relativ zu jedem zu t´ noch möglich gewesenen Weg w´ wahr gewesen ist, daß es relativ zu w´ irgendwann einmal der Fall sein würde, daß p, ist die Implikation ~HFp o ~MHFp gültig. Für das Meisterargument bedeutet dies, daß je nach Interpretation entweder die erste Zusatzprämisse (4a) N( p o HFp) wahr, dann aber die Implikation ~HFp o ~MHFp aus Schritt 2 falsch ist, oder daß letztere wahr, dafür aber die erste Zusatzprämisse falsch ist. Somit ist der ǔǟǛǓǏʡǣǗ ǕʗǍǙǜ zwar logisch korrekt, aber nicht schlüssig.19 Da der schwache Wahrheitsbegriff allem Anschein nach erst nach Diodor seine Ausformung in der Neuen Akademie fand, ist es sehr wahrscheinlich, daß Diodor auf der Grundlage des starken Wahrheitsbegriffs argumentiert hat. Somit vertritt Diodor eine deterministische Position, die aus der Akzeptanz des Bivalenzprinzips auf der Basis des starken Wahrheitsbegriffs resultiert.20 _____________ 19 20
Vgl. Weidemann (1999a), 198–201; (2000), 189f. Vgl. Weidemann (1993), 328; (1999a), 202. In (2008) versucht Weidemann zu zeigen, daß der Modalauffassung Diodors eine semantische Theorie zugrunde liegt, die zwischen einem starken und einem schwachen Wahrheitsbegriff gar nicht zu unterscheiden erlaubt, aber
V.2. Die Stoiker: Chrysipp und Poseidonios
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2. Die Stoiker: Chrysipp und Poseidonios Zenon von Kition (334–262) gründete um 300 in Athen die Philosophenschule der Stoa. Nach Zenon wurde sein Schüler Kleanthes von Assos (331–230) Leiter der Schule. Die Nachfolge des Kleanthes als Schuloberhaupt trat im Jahre 232 Chrysipp aus Soloi (281/77–208/4) an. Er genoß bereits in der Antike hohes Ansehen, da seine Ausarbeitung der stoischen Lehre, vor allem im Bereich der Logik, für ihre Verbreitung und ihr Wirken bis in die späte Kaiserzeit maßgeblich war.21 In seinen Büchern ‚Über das Schicksal‘ (ƻǏǛʈ ǏʉǖNjǛǖɨǗǑǜ), ‚Über die Vorsehung‘ (ƻǏǛʈ ǚǛǙǗǙʇNjǜ) und ‚Über die Weissagung‘ (ƻǏǛʈ ǖNjǗǞǓǔʅǜ) hat er den stoischen Fatalismus umfassend behandelt.22 Der stoischen Lehre zufolge besteht der Kosmos aus einer Vereinigung von der passiven, qualitätslosen, noch zu formenden Materie (Ǟʘ ǚɏǝǡǙǗ) und dem aktiven, schöpferischen Prinzip „Gott“, namentlich Zeus (ƱǏʩǜ). Gott ist die wirkende Kraft, die sich bis in die kleinsten Teile hinein erstreckt und jegliche Materie als ‚Lebenshauch‘ (ǚǗǏʩǖNj) oder als ‚schaffendes Feuer‘ (ǚʩǛ ǞǏǡǗǓǔʗǗ) völlig durchdringt (ǔǛɦǝǓǜ ǎǓ’ ʛǕǙǟ), so daß die Natur (ǠʡǝǓǜ) gewissermaßen als „beseelt“ und so als ‚vernünftiges Lebewesen‘ (ǐˆǙǗ ǕǙǍǓǔʗǗ, animal rationale) betrachtet wird. Durch die schaffende Vernunft Gottes (ǕʗǍǙǜ ǝǚǏǛǖNjǞǓǔʗǜ) ist die Welt geordnet und zeichnet sich aufgrund der göttlichen Vorsehung (ǚǛʗǗǙǓNj) durch die bestmögliche Einrichtung aus. Dies manifestiert sich in der Welt dann sichtbar als das ‚Schicksal‘ (ǏʉǖNjǛǖɨǗǑ). So bringen die Begriffe ǠʡǝǓǜ, ǚǗǏʩǖNj, ǕʗǍǙǜ, ƱǏʩǜ, ǚǛʗǗǙǓNj, ǏʉǖNjǛǖɨǗǑ sowie ɒǗɏǍǔǑ und ɒǕɰǒǏǓNj ein und dasselbe kosmische Prinzip zum Ausdruck und beschreiben es nur aus unterschiedlichen Perspektiven.23 _____________
21 22 23
deshalb deterministisch ist, weil sie voraussetzt, daß die Zukunft nicht in mehrere mögliche Wege der Weltentwicklung verzweigt ist, sondern daß sie ebenso linear und damit festgelegt ist wie die Vergangenheit. Vgl. DL VII, 180 (SVF II, 1; LS 31Q; FDS 154). Vgl. RE (III,2) Chrysippos, 2506; BarthGoedeckemeyer (1946), 52–54; M. und H. Simon (1956), 121; Mates (1973), 7; M. Frede (1974), 26–30; M. und W. Kneale (1986), 115f.; Steinmetz (1994), 595. Vgl. DL VII, 149 (SVF II, 1191; FDS 463); Gellius VII, 2.3 (SVF II, 1000; FDS 998); Cicero, div. I, 6 (FDS 462); FDS 196. Vgl. Duprat (1910), 472–478. Vgl. z. B. Cicero, nat. II, 57f. (SVF I, 171, 172; teilw. LS 53Y), 75 (LS 54J); Seneca, nat. II, 45.2; Ep. 65, 2 (SVF II, 303; LS 55E); Plutarch, Stoic. repug. 47, 1056b–c (SVF II, 997; LS 55R); Aëtios, Plac. I, 27.5 (SVF I, 176; FDS 1001); AvA, fat. XXII, 191.30–192.28 (SVF II, 945; LS 55N); DL VII, 135f. (SVF I, 102; LS 46B), 156 (teilw. SVF I, 171; FDS 421); Lactanz, De vera sap. 9 (SVF I, 160); Areios Didymos in Eusebius, Praep. evang. XV, 15.6 (SVF II, 528); Chalcidius, In Tim. 144 (SVF I, 551; II, 933; LS 54U); Stobaeus, Ecl. I 5, 15, p. 79, 1–12 (SVF II, 913; LS 55M; FDS 327). Vgl. Mansfeld (1979), 129 Anm. 2. Weitere Zeugnisse finden sich in LS 46A–P. Vgl. von Arnim (1905), 4–9; Stahl (1909), 41–50;
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V. Die hellenistischen Philosophen in der Fatumsdiskussion
Die Stoiker vertreten eine monistische Weltauffassung, der zufolge sich Materie und das schöpferische Prinzip „Gott“ in einer einzigen Welt vereinen, so daß sie diese als ein ‚lebendes und vernunftbegabtes Wesen‘ verstehen.24 In dieser mit Vernunft durchströmten Welt stellt das Kausalitätsprinzip die oberste Gesetzmäßigkeit dar: Nichts geschieht ohne Ursache. Ein ursachenloses Geschehen wäre ein Geschehen aus dem Nichts, das die Einheit der Welt zerrisse und nicht im Einklang mit der Wohlgeordnetheit der Welt durch die göttliche Vorsehung stünde.25 Durch die wohlgeordnete und kausal durchstrukturierte Welt besteht ein innerer Zusammenhang zwischen allen Dingen (ǝǟǖǚɏǒǏǓNj ǞʸǗ ʛǕǣǗ).26 Auf diesem Zusammenhang beruht die Mantik, aus deren Gültigkeit aber auch wiederum abgeleitet wird, daß alles dem Schicksal gemäß (ǔNjǒ’ ǏʉǖNjǛǖɨǗǑǗ) geschieht.27 Wie der ganze Kosmos, so unterliegt auch der Mensch als Teil des Kosmos dem Wirken der ǏʉǖNjǛǖɨǗǑ und ist als handelndes Individuum ebenfalls in das Netzwerk der Ursachen eingebunden. Diese Weltauffassung, die im stoischen Fatalismus zum Ausdruck kommt, führt aufgrund ihrer kausalen und teleologischen Geschlossenheit zwangsläufig zu einem alles umspannenden Determinismus. Chrysipp allerdings erkannte die deterministischen Probleme der stoischen Lehre und versuchte mit größter Mühe, die Freiheit und die moralische Verantwortlichkeit des Menschen zu retten, wobei er aber grundsätzlich an der Existenz des Fatums festhielt (§§ 28–30, 39–45). Da diese Strategie nach Ciceros Ansicht zum Scheitern verurteilt ist, stellt Chrysipp als Repräsentant des stoischen Fatalismus auch den „Hauptgegner“ in De fato dar. _____________
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Gilbert (1911), 501–537; RE (VII,2) Heimarmene, 2628f.; Gundel (1914), 63–65; Stegemann (1939), 169f.; Barth-Goedeckemeyer (1946), 18–23; Christensen (1962), 11–22; Gould (1970), 92–160; Long (1974), 147–163; (1996), 227–229; Dragona-Monachou (1976), 25, 31–34, 38f.; Dörrie (1977), 71f., 74; Hahm (1977); Lapidge (1978); Kaiser (1989), 261–264; Colish (1990), 31–35; Hankinson (1996), 196; (1998), 262–265; Sharples (1996), 43–55; Bobzien (1998a), 45–47; Furley (1999), 432–451; Sedley (1999), 382–411; Algra (2003); Inwood (2003), 234–239; White (2003); Brennan (2005), 235–240. Zum Aspekt der ǚǛʗǗǙǓNj und der stoischen Physik als Theologie siehe Wicke-Reuter (2000), 15–33. Vgl. DL VII, 139 (SVF II, 634; LS 47O): ǞʘǗ ʛǕǙǗ ǔʗǝǖǙǗ ǐˆǙǗ ʝǗǞNj ǔNjʈ ɮǖǢǟǡǙǗ ǔNjʈ ǕǙǍǓǔʗǗ; vgl. AvA, fat. XXII, 191.30–192.1 (SVF II, 945; LS 55N); DL VII, 142f. (SVF II, 633; teilw. LS 53X); Cicero, nat. II, 22 (SVF I, 112–114; LS 54G): animans est igitur mundus composque rationis. Weitere Zeugnisse finden sich in SVF II, 633–645. Vgl. AvA, fat. XXII, 192.8–25 (SVF II, 945; LS 55N); Plutarch, Stoic. repug. 23, 1045b–c (SVF II, 973). Der stoische Sympathiegedanke hat sich wahrscheinlich im Bereich der Medizin entwickelt und ist dann auf den Kosmos übertragen worden, der ja als ein beseeltes Lebewesen interpretiert wurde. Vgl. Lapidge (1978), 176. Vgl. DL VII, 149 (SVF II, 915; FDS 998A). Ausführlich zur Mantik der Stoa siehe Pfeffer (1976), 43–112. Zum Verhältnis von Mantik und Fatum siehe u. S. 113f.
V.2. Die Stoiker: Chrysipp und Poseidonios
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Der andere Stoiker, mit dem Cicero sich in De fato (§§ 5–6) auseinandersetzt, ist Poseidonios aus dem syrischen Apameia (135–51). Er war der bedeutendste Schüler des Panaitios (185/180–110/109) und dessen Nachfolger als Schuloberhaupt. Neben der Philosophie im eigentlichen Sinne betrieb er auch in großem Umfang geographische, astronomische sowie historische Studien und unternahm ausgedehnte Forschungsreisen, so daß er ein großes Ansehen als Universalgelehrter genoß.28 Cicero besuchte oft Poseidonios’ Vorlesungen und zählte ihn zu seinen Lehrern.29 Neben zahlreichen anderen Schriften hat Poseidonios auch zwei Bücher ‚Über das Schicksal‘ (ƻǏǛʈ ǏʉǖNjǛǖɨǗǑǜ) und fünf Bücher ‚Über die Weissagung‘ (ƻǏǛʈ ǖNjǗǞǓǔʅǜ) verfaßt.30 Nachdem Panaitios die stoischen Lehren in einigen Punkten gemäßigter interpretiert hatte,31 schien Poseidonios sich im allgemeinen wieder mehr an den altstoischen Dogmen orientiert zu haben,32 wobei er entgegen der üblichen Auffassung der Stoiker, der zufolge die Begriffe „Gott“, „Zeus“, „Natur“ und „Schicksal“ Bezeichnungen für dasselbe Prinzip aus verschiedenen Perspektiven sind, hier eine hierarchische Ordnung sah.33 Poseidonios akzeptierte die Allmacht des Fatums34 und in seiner Lehre betonte er den stoischen Grundgedanken der Sympathie (ǝǟǖǚɏǒǏǓNj), die _____________ 28 29 30 31
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34
Zur Vita siehe Schmekel (1892), 9–14; RE (XXII,1) Poseidonios, 563–567; Long (1974), 217f., 222; Steinmetz (1994), 670–672. Vgl. nat. I, 6; Tusc. II, 61. Vgl. DL VII, 149 (SVF II, 915; FDS 998A/SVF II, 1191; FDS 463); Cicero, div. I, 6 (FDS 462). Zu den einzelnen Werken siehe insbesondere RE (XXII,1) Poseidonios, 567–570, 662– 815 und Steinmetz (1994), 672–677. Besonders bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß Panaitios als einziger Stoiker der Mantik zweifelnd oder sogar ablehnend gegenübersteht (Cicero, div. I, 6 (FDS 462), 12; II, 88; Ac. II, 107 (SVF II, 1188); DL VII, 149 (FDS 463)). Vgl. Schmekel (1892), 191–194, 321; Gundel (1914), 69f.; Strache (1921), 21f.; Barth-Goedeckemeyer (1946), 128–131; Long (1974), 211–216; Pohlenz (1992) I, 206f.; Steinmetz (1994), 650–654. Vgl. Steinmetz (1994), 682f., 686. Aufgrund mangelnder Originaltexte oder anderer Zeugnisse stellt es ein Problem dar, die Lehre des Poseidonios angemessen zu rekonstruieren. Dies hat zu teilweise sehr kontroversen Interpretationen geführt. Ein Überblick über „die Geschichte der poseidonischen Frage“ findet sich in RE (XXII,1) Poseidonios, 570–575 und in Steinmetz (1994), 677–681. Stobaeus, Ecl. I 5, 15, p. 78.15–17 nennt die Rangfolge ‚Zeus – Natur – Schicksal‘ (FDS 1001; EK F103; Th F382a: ƻǙǝǏǓǎʰǗǓǙǜ ǞǛʇǞǑǗ ɒǚʘ ƯǓʘǜ [ǞɱǗ ǏʉǖNjǛǖɨǗǑǗ] ǚǛʸǞǙǗ ǖɩǗ ǍɐǛ ǏʐǗNjǓ ǞʘǗ ƯʇNj, ǎǏʡǞǏǛǙǗ ǎɩ ǞɱǗ ǠʡǝǓǗ, ǞǛʇǞǑǗ ǎɩ ǞɱǗ ǏʉǖNjǛǖɨǗǑǗ), während Cicero, div. I, 125 (SVF II, 921; LS 55L) die Rangfolge ‚Gott – Schicksal – Natur‘ angibt (quocirca primum mihi videtur, ut Posidonius facit, a deo, de quo satis dictum est, deinde a fato, deinde a natura vis omnis divinandi ratioque repetenda). Vgl. Schmekel (1892), 166; Gundel (1914), 70f.; Reinhardt (1921), 41, 124f.; Greene (1963), 352; Theiler (1982) II, 308f.; Steinmetz (1994), 689. Vgl. DL VII, 149 (SVF I, 175; FDS 998A): ǔNjǒ’ ǏʉǖNjǛǖɨǗǑǗ ǎɩ ǠNjǝǓ Ǟɐ ǚɏǗǞNj ǍʇǍǗǏǝǒNjǓ. Vgl. Schmekel (1892), 321f.; Stegemann (1939), 171f., 175; Dragona-Monachou (1976), 164; Dillon (1977), 109.
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V. Die hellenistischen Philosophen in der Fatumsdiskussion
für ihn das entscheidende Prinzip zur Erklärung der kosmologischen Zusammenhänge darstellt:35 Durch die göttliche Vorsehung ist die Welt sinnvoll, vernünftig und in der Weise kausal geschlossen eingerichtet, daß alles durch einen Kausalnexus miteinander verbunden ist. Dadurch ist eine einzelne Veränderung im gesamten Kosmos spürbar, genauso wie auch einzelne Veränderungen in einem lebenden Organismus Auswirkungen auf den gesamten Organismus haben. Die poseidonische Weltformel heißt daher ɬǗ Ǟʘ ǚɦǗ: Die „Einheit in der Vielheit und Vielheit in der Einheit […], das Einzelne im Ganzen und das Ganze im Einzelnen, den Makrokosmos in der Form des Mikrokosmos und den Mikrokosmos nach Analogie des Makrokosmos“36. Der gesamte Kosmos wird quasi als ein Lebewesen betrachtet, der mit all seinen Teilen bis ins Kleinste hinein dynamisch abgestimmt ist und eine harmonische Einheit bildet.37 Daher ist auch Poseidonios, wie jeder Stoiker, der Mantik verpflichtet und glaubt, daß aus bestimmten in der Welt zu beobachtenden Naturerscheinungen nicht nur Rückschlüsse auf den Verlauf zukünftiger Ereignisse, sondern auch Rückschlüsse auf die Ausprägung eines Individuums gezogen werden können. Wohl bedingt durch seine astronomischen Studien, scheint Poseidonios solche Rückschlüsse vor allem aus der Bewegung der Himmelskörper und der Sternenkonstellation abgeleitet zu haben, weshalb ihm eine erhebliche Affinität zum (östlichen) Astrologismus zugesprochen wurde,38 den er allem Anschein nach selbst gar nicht vertreten wollte.39
_____________ 35 36 37 38
39
Vgl. Bloos (1973), 95 („ätiologisches Prinzip“); Long (1974), 221f.; Steinmetz (1994), 686. Reinhardt (1921), 346; vgl. (1926), 244–249; RE (XXII,1) Poseidonios, 800. Vgl. RE (XXII,1) Poseidonios, 653–656; Reinhardt (1921), 343–352; Pohlenz (1992) I, 217f.; Steinmetz (1994), 686–688. Augustinus bezeichnet Poseidonios in civ. V, 2 (EK T74, F111; Th F384) als Stoicus multum astrologiae deditus und in V, 5 (EK T69, F111; Th F384) als magnus astrologus idemque philosophus. Vgl. Gundel (1914), 71f.; Stegemann (1939), 171f., 175; Theiler (1946), 42; RE (VII,2) Heimarmene, 2631; HistWb (Bd. 8) Schicksal, 1276f.; Dillon (1977), 110; Pohlenz (1992) I, 217f., 233. Die orientalische Astrologie scheint noch keinen oder noch keinen starken Einfluß auf den Sympathiegedanken von Zenon und Chrysipp gehabt zu haben. Sie drang erst in der Folgezeit aus dem Osten in die hellenistische Welt ein. Dadurch, daß die Stoiker die Mantik akzeptierten, erhielt die stoische Lehre auch einen leichteren Zugang zu den breiteren Volksschichten, in denen zur Zeit Ciceros ein Astrologismus ohnehin verbreitet war. Vgl. Gundel (1914), 68f.; RE (VII,2) Heimarmene, 2632–2634; Stegemann (1939), 171–180; Theiler (1946), 42. Siehe auch u. S. 151 Anm. 251. Reinhardt (1921), 455, 463f. betont nachdrücklich, daß Poseidonios bei weitem kein bloß die orientalische Sternenmystik vertretender „Asiat“ gewesen sei. Vielmehr habe er auf eine physikalische Betrachtung der Sympathie und auf eine wissenschaftliche Erklärung der Mantik Wert gelegt. Vgl. Long (1974), 221f.; (1982), 170f.; Theiler (1982) II, 311; EK II.1, 59f.
V.3. Epikur
27
3. Epikur Epikur (342/341–271/270) von der Insel Samos gründete die nach ihm benannte Schule 307/306 im Geiste des von Leukipp (zweite Hälfte des 5. Jh.) und Demokrit (470/460–380/370) ausgearbeiteten Atomismus.40 Epikur war ein entschiedener Gegner des stoischen Fatalismus. Auch er soll eine Abhandlung ‚Über das Schicksal‘ (ƻǏǛʈ ǏʉǖNjǛǖɨǗǑǜ) verfaßt haben.41 Allerdings ist seine Argumentation gegen den Determinismus nur spärlich überliefert: Die deterministische Position widerlege sich selbst und es sei besser, dem Götterglauben zu folgen, als den Determinismus der Naturphilosophen zu akzeptieren. Im ersten Fall bestehe immerhin noch Hoffnung für die Menschen, im zweiten Fall überhaupt keine mehr.42 Die göttliche Vorsehung (ǚǛʗǗǙǓNj), aufgrund deren die Welt nach Auffassung der Stoiker vernünftig und bestmöglich eingerichtet ist, wird von den Epikureern als ‚weissagende Greisin‘ (anus fatidica) verspottet.43 Die Atomisten lehnen generell jegliches ideelle Sein im platonischen Sinne, jegliche den Dingen immanente Teleologie im aristotelischen Sinne und jegliche Form einer göttlichen Vorsehung im stoischen Sinne ab.44 Die Götter existieren zwar, aber sie greifen nicht in das Weltgeschehen oder in den Ablauf des menschlichen Lebens ein, sondern halten sich außerhalb der Erde in den ‚Zwischenwelten‘ (intermundia, ǖǏǞNjǔʗǝǖǓNj) auf.45 Das Weltgeschehen wird vielmehr aus dem mechanischen Wirken der Atome, aus denen jegliches Sein besteht, erklärt. In dieser materialistischen Weltsicht gibt es weder für in das Weltgeschehen eingreifende Götter noch für andere Schicksalsmächte einen Platz. Da die Atome grundsätzlich der Naturkausalität unterliegen, führt der Atomismus zunächst zu einem Determinismus, dem auch der Mensch mit seinen Handlungen unterliegt (siehe VII.9.). Epikur zeigte sich aber sehr wohl der deterministischen Konsequenzen dieser atomistischen Weltsicht bewußt und versuchte entschieden, die innere Freiheit des Menschen zu verteidigen (§§ 18, 19, 21–23, 37–38). _____________ 40 41 42 43 44
45
Zur Vita und zur Überlieferungsgeschichte siehe Jürß (1988), 45–56; Erler (1994), 64–72; Sharples (1996), 5–8; Hossenfelder (2006), 14–26. Vgl. DL X, 28. Vgl. Epikur, De natura XXV, 34.26–30 (LS 20C); DL X, 134 (LS 20A). Vgl. Cicero, nat. I, 18: anum fatidicam Stoicorum Pronoeam. Vgl. Aëtios Plac. II, 3.1 in Jürß (1988), 320: „Während alle anderen meinen, der Kosmos sei beseelt und von einer Vorsehung verwaltet, nehmen Leukippos, Demokrit und Epikur … an, er funktioniere mechanisch und bestehe aus Atomen“. Weitere Zeugnisse finden sich in LS 13A–J. Vgl. Erler (1994), 144f. Vgl. Cicero, nat. I, 18; vgl. div. II, 40; DL X, 89. Vgl. Farrington (1967), 115f.; Erler (1992), 311–314; (1994), 149–153; Mansfeld (1999b), 456, 462–464.
28
V. Die hellenistischen Philosophen in der Fatumsdiskussion
4. Die Neuakademiker unter Karneades Arkesilaos aus Pitane (316/315–241/240) begründete die skeptische Phase46 in der ursprünglich dogmatischen Akademie Platons und läutete damit die ‚mittlere (‚zweite‘) Akademie‘ ein.47 Er bestreitet die Möglichkeit, die Wirklichkeit zu erkennen, da es kein sicheres Kriterium für die Erkenntnis der Dinge gebe. Daher müsse man sich eines Urteils enthalten (ɫǚǙǡɰ). Mit Karneades aus Kyrene (214–129)48 beginnt nach Sextus Empiricus die Zeit der ‚neuen (‚dritten‘) Akademie‘.49 Er war der vierte Scholarch nach Arkesilaos und folgte grundsätzlich dessen skeptischer Lehre.50 Allerdings modifizierte Karneades unter dem Eindruck der stoischen Kritik, daß die geforderte Enthaltung eines Urteils zur ‚Untätigkeit‘ (ɒǚǛNjǘʇNj) führe, in maßgeblicher Weise die neuakademische Skepsis, indem er eine Wahrscheinlichkeitslehre ausarbeitete, der zufolge es zwar kein sicheres Wissen gebe, man sich aber auf ‚Überzeugendes‘ (ǚǓǒNjǗʗǗ) bzw. ‚Wahrscheinliches‘ ( probabile) berufen könne, so daß dem Menschen nicht die Möglichkeit zu handeln entzogen werde. Karneades selbst schrieb in bewußter Anlehnung an Sokrates seine Lehren nicht nieder. Diese hielt erst später sein Schüler und Nachfolger Kleitomachos von Karthago (187/186–110/109) in schriftlicher Form fest. Cicero hat sich dieser Schriften, die in der Folgezeit allerdings verlorengingen, mit Vorliebe bedient.51 _____________ 46
47 48 49 50 51
Das Adjektiv ǝǔǏǚǞǓǔʗǜ beschreibt wörtlich jemanden, ‚der (etwas) untersucht‘; ǝǔɨǢǓǜ heißt also zunächst nichts anderes als ‚eingehende Untersuchung‘, ‚Bedenken‘. Später wurden dann die Philosophen, die sich aus philosophischen Gründen eines Urteils enthielten, als ǝǔǏǚǞǓǔǙʇ bezeichnet. Unter diesen unterschied man in der Antike zunächst diejenigen Skeptiker, die der Lehre des Pyrrhon von Elis (ca. 365–275) folgten (die ƻǟǛǛʰǗǏǓǙǓ), von denjenigen, die der skeptischen Richtung der Akademie (die ǩǔNjǎǏǖNjǤǔǙʇ) angehörten (siehe hierzu Striker (1981)). Allerdings muß dieser Unterschied spätestens ab der Kaiserzeit schon sehr verschwommen gewesen sein. Die skeptische Phase der Akademie erstreckte sich von Arkesilaos bis zu Philon (‚vierte Akademie‘). Antiochos, der Begründer der ‚fünften Akademie‘, vollzog schließlich eine Rückkehr zum ursprünglichen Dogmatismus. Cicero selbst unterschied nur zwischen der ‚alten‘ und der ‚neuen Akademie‘, wobei er mit den Bezeichnungen Academia bzw. Academici im allgemeinen die skeptische Ausrichtung vor Augen hatte. Zum Ursprung, zur Entwicklung und zur Haltung des Skeptizismus siehe z. B. Gigon (1944); Hirzel (1964) III, 1–250; Long (1974), 75–106; M. Frede (1979); (1987); (2003); Burnyeat (1980); Striker (1980); (1981); Ryan (1982), 19–99; Sedley (1983b); Allen (1994); Görler (1994); Ricken (1994); Burnyeat und M. Frede (1997); Schofield (1999). Vgl. SE PH I, 220; DL IV, 28. Zur Vita siehe RE (X,2) Karneades, 1964–1966; Görler (1994), 851–855. Vgl. SE PH I, 220. Schon in der Antike gab es unterschiedliche Einteilungen der Akademie. Siehe hierzu Gigon (1944), 62f.; Glucker (1978), 344–346; Görler (1994), 779–781. Vgl. Cicero, Ac. I, 46 (LS 68A). Vick (1901), 35f. führt hierzu zahlreiche Belegstellen an. Vgl. Couissin (1983), 44; Kristeller (1993), 88f.
V.4. Die Neuakademiker unter Karneades
29
Karneades’ Faszination für die Philosophie muß so groß gewesen sein, daß er – so berichtet Diogenes Laërtios – sogar vergessen habe, seine Haare und Nägel zu schneiden.52 Mit größter Leidenschaft bekämpfte er die stoische Philosophie, die für ihn durch Chrysipp personifiziert wurde. So entgegnete er auf ironische Weise dem Ausspruch ‚Wenn es Chrysipp nicht gäbe, dann gäbe es auch keine Stoa‘53 mit der Abwandlung ‚Wenn es Chrysipp nicht gäbe, dann gäbe es auch mich nicht‘.54 Nicht nur gegen die stoische Erkenntnistheorie, sondern vor allem gegen den stoischen Götterglauben,55 gegen den stoischen Fatalismus und gegen die mit diesem in Zusammenhang stehende Mantik und Sympathielehre führte Karneades zahlreiche Einwände an:56 Der Sternenhimmel kann generell nur des Nachts beobachtet werden, aber selbst dann können bestimmte Witterungsbedingungen eine exakte Beobachtung verhindern. Das Ergebnis der Himmelsbeobachtung kann durch eine Sehschwäche des Beobachters oder durch optische Täuschungen entscheidend verfälscht werden. Es besteht keine Möglichkeit, den Himmel in der Weise genau zu betrachten, daß die exakte Sternenkonstellation ermittelt werden kann. Dies ist aber eine unabdingbare Voraussetzung für die Erstellung eines korrekten Horoskops. Die Sternenkonstellation ist nur relativ zu dem Beobachtungsort auf der Erde zu betrachten. Der Vorgang der Geburt ist kein punktueller, sondern erstreckt sich über einen gewissen Zeitraum, so daß der Geburtszeitpunkt nicht exakt bestimmt werden kann. Aus diesem Grund muß die Erstellung eines Horoskops ungenau bleiben. Die Himmelskörper sind voneinander so weit entfernt, daß ein Einfluß auf andere Gestirne oder gar auf das menschliche Leben kaum möglich erscheint. _____________ 52 53 54 55 56
Vgl. DL IV, 62. DL VII, 183 (SVF II, 6; FDS 154). DL IV, 62 (FDS 156). Die Argumente gegen die Existenz der Götter finden sich bei Sextus Empiricus (AM IX, 137–190; vgl. Cicero, nat. III, 29–34, 38f.), diejenigen gegen die Vorsehungslehre bei Cicero (nat. III, 65–93). Vgl. RE (X,2) Karneades, 1971–1973; Mansfeld (1999b), 475–478. Vgl. SE AM V; Cicero, div. II, 9f., 87–98. Wiœniewski (1970) hat die stoische Kritik an der Götterverehrung und an der Mantik in den Fragmenten 93–107 mit Kommentar (S. 103– 113) zusammengestellt. Vgl. auch die Kritik des Favorinus in Gellius XIV, 1.1–36 (siehe hierzu Schmekel (1892), 158–160; RAC (Bd. 7) Fatum, 559–561). Vgl. Schmekel (1892), 155–158; RE (VII,2) Heimarmene, 2643–2645; RE (X,2) Karneades, 1973–1975; Amand (1973), 41–68; RAC (Bd. 7) Fatum, 553–558; Blänsdorf (1991), 61–64.
30
V. Die hellenistischen Philosophen in der Fatumsdiskussion
Das Verhältnis zwischen Himmel und Mensch entspricht nicht dem Verhältnis zwischen einem Körper und seinen Gliedern. Auch wenn mehrere Personen unter derselben Sternenkonstellation geboren sind, verläuft ihr Schicksal unterschiedlich; andererseits teilen Menschen auch das gleiche Schicksal, obwohl sie unter verschiedenen Sternenkonstellationen geboren sind. Wenn die charakterliche Ausprägung eines Menschen durch die Sternenkonstellation bestimmt ist, wie sind dann die bestehenden Volkssitten zu erklären? Es herrschen zahlreiche regionale Unterschiede hinsichtlich der Wahl der Opfertiere und der Methode ihrer Ausdeutung. Welche Vorgehensweise ist aber die richtige, damit ein korrektes Horoskop erstellt werden kann? Wenn die Sterne die Geschicke auf der Erde lenken würden, dann müßten auch Tiere ein Horoskop haben. Die Mantik hielten die Neuakademiker im Gegensatz zu den Stoikern überhaupt für unsinnig. Zum einen sei der Bereich, auf den sich die Mantik nur beziehen könne, der des Zukünftigen, aber über diesen könne man nichts Definitives aussagen (§§ 32–33, siehe VII.13.b.). Zum anderen bringe es dem Menschen keinen Nutzen, von einem kommenden Unglück zu wissen, es aber doch nicht abwenden zu können, da jegliches Geschehen durch das Fatum unabänderlich festgelegt sei.57 Vor dem Hintergrund dieses Einwandes ist auch der Versuch unternommen worden, den Stoikern einen Widerspruch zwischen ihrem Glauben an das Fatum und ihrem Glauben an die Mantik nachzuweisen:58 Entweder ist die Mantik nützlich, da ein prophezeites Unglück abgewendet werden kann, dann ist aber das Fatum nicht unabänderlich; oder das Fatum ist unabänderlich, dann ist aber die Mantik nicht nützlich, da ein prophezeites Unglück nicht abgewendet werden kann. Daher können die Stoiker nicht gleichzeitig die Nützlichkeit der Mantik und die Existenz eines unabänderlichen Fatums behaupten.59 _____________ 57
58 59
Vgl. Cicero, nat. III, 14: effugere enim nemo id potest, quod futurum est. saepe autem ne utile quidem est scire, quid futurum sit; miserum est enim nihil proficientem angi nec habere ne spei quidem extremum et tamen commune solacium; div. II, 20–22: si omnia fato, quid mihi divinatio prodest? […] ubi est igitur ista divinatio Stoicorum? quae, si fato omnia fiunt, nihil nos admonere potest, ut cautiores simus; quoquo enim modo nos gesserimus, fiet tamen illud, quod futurum est; sin autem id potest flecti, nullum est fatum; ita ne divinatio quidem, quoniam ea rerum futurarum est. nihil autem est pro certo futurum, quod potest aliqua procuratione accidere ne fiat. atque ego ne utilem quidem arbitror esse nobis futurarum rerum scientiam; vgl. Seneca, nat. II, 37. Vgl. Diogenianos in Eusebius, Praep. evang. IV, 3.1–13 (SVF II, 939, teilw. LS 55P); AvA, fat. XXXI, 202.4–8 (SVF II, 941). Siehe hierzu Gourinat (2005a), insbesondere 230–232.
V.4. Die Neuakademiker unter Karneades
31
In moralphilosophischer Hinsicht wird gegen den stoischen Fatalismus argumentiert, daß unter der Herrschaft des Fatums ethische Überlegungen sowie Gesetze sinnlos seien (§ 40, siehe VII.16.c.) und jegliches Handeln sogar überflüssig werde (§§ 28–30, siehe VII.12.). Gegen die stoische Vorsehung (ǚǛʗǗǙǓNj) wird angeführt, daß sie den Menschen mit Vernunft ausgestattet habe, auf deren Grundlage dieser aber auch moralisch schlecht handeln könne. Wenn ein Mensch nun eine schlechte Handlung begehe, dann treffe entweder die Vorsehung die Schuld, oder die Gabe der Vernunft sei kein Zeichen der zweckmäßigen Fürsorge, wovon die stoische Lehre aber gerade ausgehe. Unter der stoischen ǏʉǖNjǛǖɨǗǑ seien die Menschen keine vernunftbegabten Lebewesen, sondern ‚Marionetten des Schicksals‘.60
_____________ 60
Vgl. RE (X,2) Karneades, 1973; RAC (Bd. 7) Fatum, 558.
VI. Vorbemerkungen zu De fato 1. Historische Einordnung Caesars Tod an den Iden des März 44 hinterließ ein Vakuum in der Republik. Die Republikaner waren von dem Gedanken getragen, daß mit dem Tod des Tyrannen auch die Tyrannei selbst besiegt sei. Nicht ohne ein gewisses Maß an Naivität glaubten sie, daß sich die Restauration der alten Republik von selbst wieder einstellen werde. Die republikanischen Verschwörer hatten aber für die Zeit nach ihrer Tat keinen Aktionsplan bereitgelegt, um die Verhältnisse in ihrem Sinne zu ordnen. Der Rumpf der Republik war ohne sein Haupt Caesar politisch gelähmt, das Volk reagierte mit Verunsicherung und Tumulten auf diese Situation. Als erster schien sich Marcus Antonius, neben Caesar der zweite Konsul in jenem Jahr, zu besinnen und die Initiative zu ergreifen. Er brachte den schriftlichen Nachlaß Caesars (acta Caesaris) und dessen Vermögen in seine Gewalt, wodurch er seine Machtposition schnell ausbauen konnte. Als Amtskollege Caesars beanspruchte Antonius zugleich, dessen politisches Erbe anzutreten. Diesen Anspruch machte ihm der 19jährige Oktavian streitig, der von Caesar adoptiert und testamentarisch als Erbe eingesetzt worden war. Oktavian schickte sich an, aus Caesars hinterlassenen Armeen eigenmächtig ein privates Heer zusammenzustellen und begab sich nach Rom. Jeder der beiden konnte also den erhobenen Anspruch in gewisser Hinsicht legitimieren: Antonius durch sein Amt, Octavian durch seine Adoption. Ihnen standen die republikanisch gesinnten Männer, unter ihnen auch Cicero, gegenüber, deren Absicht es war, möglichst schnell die alte res publica libera wiederherzustellen. Aufgrund dieser konkurrierenden politischen Kräfte bestand die ernstzunehmende Gefahr, daß Rom erneut von einem Bürgerkrieg heimgesucht würde. Um die Restauration der alten Republik zu erreichen, verfolgte Cicero den Plan, sowohl Oktavian als auch die ehemaligen Caesaranhänger für die republikanische Sache zu gewinnen. Mit ihnen beabsichtigte Cicero eine Front gegen Antonius zu bilden, dessen Handlungen nach scheinbarer Zusammenarbeit mit dem Senat immer eigenmächtiger wurden. Vielen Senatoren erschien die unsichere politische Situation zu bedrohlich, um noch länger in der Stadt zu
VI.1. Historische Einordnung
33
weilen, so daß sie sich entschlossen, Anfang April 44 Rom zu verlassen, unter ihnen auch Cicero. Er begab sich auf eine längere Reise, die ihn in zahlreiche Munizipalstädte und auf seine Landgüter bei Puteoli, Pompeji und Tusculum führte. Oft verweilte er aber nur einen Tag und reiste dann sofort weiter. Nicht nur aus Gründen der Sicherheit unternahm er diese mühevollen Reisen, sondern auch, um mit vielen hochrangigen Politikern außerhalb Roms die politische Lage der Republik zu erörtern. In dieser Zeit wurde sein Wunsch stärker, seinen Sohn Marcus in Athen zu besuchen. Doch sein Plan, gerade jetzt nach Griechenland zu reisen, blieb nicht ohne Kritik seiner Freunde, schien es doch für einen republikanisch gesinnten Konsular sehr ungebührlich, das Land in einer so ernsten Situation zu verlassen. Um für diese Reise den Status einer offiziellen Gesandtschaft zu erlangen, verschaffte Cicero sich einen Sonderauftrag als Legat (legatio libera), was ihm eine unbehelligte und uneingeschränkte Bewegungsfreiheit ermöglichte. Seine Abreise nach Griechenland zog sich noch bis zum 21. Juli hin. Es ist offensichtlich, daß Cicero die Zeit von den Iden des März bis zu seiner Abfahrt nach Griechenland in großer Unruhe verbrachte. Er reiste viel, führte ständig Gespräche über die sich fast täglich ändernde politische Lage und stand in ständigem Briefverkehr, nicht nur mit seinem Freund Atticus in Rom, sondern auch mit allen wichtigen Persönlichkeiten der Politik. In dieser unglücklichen Zeit, so schrieb er an Atticus, finde er Trost in literarischen Beschäftigungen. Zu diesen literarischen Beschäftigungen zählte auch die Abfassung von De fato.1 Die politischen Verhältnisse nach den Iden des März 44 bilden den historischen Hintergrund für das Gespräch mit Hirtius in der Einleitung von De fato. Unmißverständlich rekurriert Cicero in § 2 mit den Worten cum enim omnes post interitum Caesaris novarum perturbationum causae quaeri viderentur iisque esse occurrendum putaremus auf die innerpolitischen Wirren nach Caesars Tod. Sie stellten das Thema des ganzen vorangegangenen Gespräches mit Hirtius dar (omnis fere nostra in his deliberationibus consumebatur oratio), in dem man sich um Frieden und Eintracht für die Bürger bemühte (maxime nos quidem exquirentes ea consilia, quae ad pacem et ad concordiam civium pertinerent), bevor mit etwas Muße ‚über das Schicksal‘ philosophiert werden konnte.2 Diese politisch zugespitzten Umstände prägten die persönliche Situation Ciceros zur Abfassungszeit. Immer wieder ist von Kommentatoren _____________ 1 2
Vgl. Seel (1961), 443–467; Gelzer (1969), 325–345; Sihler (1969), 395–433; Shackleton Bailey (1971), 227–236; Stockton (1971), 280–306; Grimal (1988), 477–525; Mitchell (1991), 289–326; Fuhrmann (1997), 231–245; Everitt (2003), 366–399. Den politischen Aspekt von De fato untersucht Takahata (2004), 131–154.
34
VI. Vorbemerkungen zu De fato
darauf hingewiesen worden, daß in der offensichtlich kurzen und hektischen Abfassungszeit auch die Sorgfalt bei der Niederschrift von De fato gelitten zu haben scheint.3
2. Der Gesprächspartner Hirtius Aulus Hirtius, ein wohlhabender Ritter aus plebejischem Geschlecht, stammte aus Ferentium, südlich von Rom. Sein Geburtsjahr ist nicht genau bekannt (vielleicht um 90). Die ersten verläßlichen Auskünfte besagen, daß er sich 54–50 in Gallien bei Caesar aufhielt. Da er nie in einer militärischen Funktion in Erscheinung trat, vermutet man, daß er der Leiter von Caesars Kanzlei war. Er genoß offensichtlich großes Vertrauen, da Caesar ihn mit den letzten Verhandlungen in Rom vor dem Bürgerkrieg betraute. Hirtius begleitete dann im Jahre 49 Caesars Feldzug nach Spanien. Ob er im Jahre 48 Volkstribun war, ist unsicher. Während des Feldzuges in Griechenland war Hirtius im Jahre 47 bei Caesar in Antiochia. An den Feldzügen in Ägypten und in Afrika nahm er nach eigenem Bekunden nicht teil. Im Jahre 46 bekleidete er das Amt des Praetors und war im Jahr darauf Propraetor in der Provinz Gallia Narbonensis. Später soll er auch als Augur tätig gewesen sein. Caesar hatte die Ämtervergabe bereits Jahre im voraus festgelegt und für das Jahr 43 seinen treuen Gefolgsmann Hirtius zusammen mit Gaius Vibius Pansa für das Amt des Konsuls bestimmt. Einem Senatsbeschluß gemäß sollten diese Verordnungen auch nach Caesars Tod Gültigkeit besitzen, und somit traten Hirtius und Pansa am 1. Januar 43 ihr Konsulat an. Als ehemalige Caesarianer hatten sie keinen leichten Stand zwischen den politischen Strömungen und gaben sich zunächst unverbindlich. Doch das immer eigenmächtiger werdende Verhalten des Antonius, der _____________ 3
Häfner (1928), 115 sieht Cicero nach Caesars Tod wieder stärker in das politische Leben hineingezogen. Er sei jedoch nur mit halbem Herzen bei der Politik gewesen, da sie nicht nach seinen Vorstellungen verlaufen sei; ebenso habe er aufgrund der fehlenden Muße die Schriftstellerei nur halbherzig betrieben. Appuhn (1937), 584f. Anm. 364, 588 Anm. 382 gewinnt den Eindruck, daß De fato schnell mit ineinander gefügten Teilen verfaßt worden sei und so keine ‚Muster-Komposition‘ darstelle. Für Cappelletti (1964), 13f., 16 ist die eilige Abfassung deutlich erkennbar. Im Vergleich zu De divinatione und De natura deorum wirke De fato wie eine Skizze dessen, was geplant war, nämlich ein so ausführliches Werk wie die beiden vorangegangenen Schriften. Die mangelnde klare Line in De fato sei auf diese rasche Abfassung zurückzuführen. Janssen (1992), 22, 186 glaubt, daß Cicero die Schrift in großer Eile verfaßt habe, weil er wieder die bedeutende Rolle in der Politik habe spielen wollen, die Caesar ihm zuvor genommen habe. Vgl. Pohlenz (1910a), 327; Kroll (1913/20), 418; van den Bruwaene (1937), 41 Anm. 1; Leœniak (1960), 402; Adamczyk (1961), 297; Huby (1970), 83; Duhot (1989), 210; Bobzien (1998a), 322; Nava Contreras (1998), 268.
VI.2. Der Gesprächspartner Hirtius
35
mittlerweile versuchte, die von D. Brutus verwalteten gallischen Provinzen mit Waffengewalt in seine Macht zu bekommen, ließ die beiden Konsuln näher an den Senat rücken. Auf einer Senatssitzung am 20. Dezember 44 wurde unter massivem Drängen Ciceros die Entsendung von Truppen beschlossen, um D. Brutus aus der Belagerung des Antonius zu befreien.4 Durch das Los wurde bestimmt, daß Hirtius das Heer führen und Pansa weitere Truppenaushebungen leiten solle. Nach seinem Amtsantritt kam Hirtius trotz schwerer Erkrankung diesem Beschluß nach.5 Schließlich kam es am 21. April 43 zur Entscheidungsschlacht vor Mutina. Es gelang zwar, Antonius zurückzudrängen und damit D. Brutus aus der Belagerung zu befreien, aber der Sieg hatte einen hohen Preis. Hirtius fiel noch in der Schlacht, und Pansa erlag nur wenige Tage später den Verletzungen, die er im Kampf davon getragen hatte.6 Beide Konsuln wurden nach Rom überführt und öffentlich beigesetzt.7 Ciceros Wahl, Hirtius als Gesprächspartner in De fato auftreten zu lassen, liegt keineswegs auf der Hand. In De divinatione läßt Cicero seinen Bruder die Absicht ankündigen, daß er, Quintus, sich mit der These ‚Alles geschieht dem Schicksal gemäß‘ an anderer Stelle auseinandersetzen wolle,8 wodurch die Vermutung naheliegt, daß Cicero ursprünglich plante, De fato mit seinem Bruder Quintus als Gesprächspartner zu verfassen,9 viel_____________ 4 5 6
7 8 9
Vgl. die dritte und vierte Philippische Rede. Vgl. z. B. Cicero, Phil. VII, 12; X, 16; fam. XII, 22(20).2. Auf dieses außergewöhnliche Ereignis verweist schon Augustus, Res Gestae 1.4: populus autem eodem anno me consulem, cum cos. uterque in bello cecidisset, et triumvirum rei publicae constituendae creavit. Diese Anspielung nahm Ovid auf und brachte sie in die Form des Pentameters cum cecidit fato consul uterque pari (Tristia IV, 10.6), um sein Geburtsjahr zu umschreiben. In dieser Form ebenso in Tibull (Lygdamus) III, 5.18 (siehe hierzu O. Skutsch, „cum cecidit fato consul uterque pari“, in: Philologus 103 (1959), 152–154 und H. Tränkle, Appendix Tibulliana. Berlin 1990. S. 145–147). Vgl. RE (VIII,2) Hirtius, 1956–1962; Daly (1951), 113; Pini (1969), 545f. Anm. 9. Vgl. div. I, 127 (LS 55O): fato omnia fiant, id quod alio loco ostendetur. Hunt (1954), 142 Anm. 60 mißt dieser Ankündigung keine große Bedeutung bei. Cicero sei zu diesem Zeitpunkt mit dem Hinweis auf die Einigkeit aller Schulen, daß die Frage nach dem Fatum noch erörtert werden müsse, zufrieden gewesen, ohne daß er sich dabei auf eine bestimmte Form des noch ausstehenden Werkes habe festlegen wollen. Hirzel (1963) I, 540f. Anm. 4 glaubt, daß Cicero ein Versehen unterlaufen sei, indem er seine eigene Absicht als Verfasser „Quintus in den Mund gelegt habe“. Später dann, als Cicero mit De fato begonnen habe, habe er seine Ankündigung in De divinatione vergessen. Vgl. Pease (1963), 322f. Süss (1966), 336f. beurteilt die Aussagekraft dieser Stelle ebenfalls als gering. Da diese Worte zwar von Ciceros Bruder Quintus gesprochen würden, dieser aber in De fato nicht auftrete und dort zudem genau das Gegenteil der Ankündigung (nämlich daß nicht alles dem Schicksal gemäß geschieht) gezeigt werde, sei diese Äußerung in einigen früheren Ausgaben entweder als Glosse interpretiert und getilgt oder als ein Versehen Ciceros verstanden worden. Das seien aber Verlegenheitserklärungen, und ebensowenig sei die Annahme, daß Cicero tatsächlich beabsichtigt habe, Quintus die Rolle in De fato sprechen zu
36
VI. Vorbemerkungen zu De fato
leicht in zwei Büchern, so wie er auch bereits De divinatione konzipiert hatte.10 Ferner war Hirtius weder ein Aristokrat noch ein loyaler Republikaner noch ein geübter Philosoph, sondern ein moderater Caesarianer.11 Gerade aus politischen Gründen fiel Ciceros Haltung gegenüber den designierten Konsuln eher reserviert aus. In despektierlicher Weise bezeichnete er sie Atticus gegenüber als ‚jene Bande‘12 und als ‚die sogenannten designierten Konsuln‘13, für die er nur bedingt Sympathie empfand. Als ‚Schüler und große Kinder‘ soll Cicero sie bezeichnet haben, als sie Rhetorikunterricht bei ihm nahmen,14 zu dem sie ihn, so beklagt sich Cicero, genötigt hätten.15 Aber nicht nur aufgrund der Tatsache, daß Hirtius sich als treuer Caesarianer erwiesen hatte, hegte Cicero Animositäten gegen ihn, sondern auch aus ganz persönlichen Gründen. Cicero hatte 45 die heute verlorene Schrift Laus Catonis verfaßt, in der er das Leben und die Taten des Cato (Marcus Porcius Cato Uticensis) preisend darstellte. Nun scheint die erste bekannte literarische Tätigkeit des Hirtius gerade darin bestanden zu haben, gewissermaßen als Antwort auf Ciceros Laus Catonis, seinerseits „eine uituperatio des jüngeren Cato, die Cäsars Anticatones präludierte“16, zu verfassen.17 Ferner mag sich Cicero auch dem Urteil seines _____________
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lassen und sich erst im nachhinein für Hirtius entschieden habe, plausibel. „Eine solche Ankündigung wie die aus ‚de divinatione‘, nicht durch den Autor in einer Vorrede oder wenigstens in einer Dialogpartie, in der er den principatus führt, sondern durch einen Gesprächspartner, und das für eine Partie, die dann später vom Autor selbst widerlegt wird, entbehrt jeder Wahrscheinlichkeit“. Vielmehr müsse man annehmen, daß Cicero hier aus seiner Rolle als Quintus herausgefallen sei und in eigener Sache spreche. Mit solchen Flüchtigkeiten, so Süss mit Verweis auf div. I, 87 und Ac. I, 46 abschließend, müsse man rechnen. Siehe ferner Yon (1950), IX Anm. 1 und Pease (1963), 322f., die mehrere Interpretationen dieser Stelle diskutieren. Vgl. Lörcher (1907), 344(8)f.; (1932), 89; Schanz (1927), 517; Appuhn (1937), 256; Gillingham (1950), 89; Yon (1950), VIIIf.; Paolillo (1957), 13f.; Leœniak (1960), 400; Greene (1963), 363; Hirzel (1963) I, 540; Pini (1969), 480; Kerschensteiner (1986), 570f.; Grimal (1988), 483; Magris (1994), 9; Barabino (1995), 78 Anm. 8; Pimentel Álvarez (2005), IX, XXI. Vgl. Adamczyk (1961), 296. Vgl. Att. XIV, 8.1: chorumque illum. Vgl. Att. XIV, 9.2: duo quidem quasi designati consules; „quasi“ deshalb, weil die zukünftigen Konsuln eben nicht gewählt wurden, sondern vom Tyrannen Caesar für das Konsulat bestimmt worden waren. So hatten Caesars Beschlüsse auch nach seinem Tode noch Einfluß auf die Geschicke des Staates. Daher auch die im Brief folgende Klage Ciceros: O di boni! vivit tyrannis, tyrannus occidit! eius interfecti morte laetamur, cuius facta defendimus! Vgl. Sueton, De rethor. 25.6: cum consulibus Hirtio et Pansa, quos discipulos et grandis praetextatos vocabat. Vgl. Att. XIV, 12.2: haud amo vel hos designatos, qui etiam declamare me coegerunt. Patzer (1993), 121, 124. Ausführlich zu Caesars Anticato siehe Tschiedel (1981). Vgl. Sueton, Div. Jul. 56.5; Cicero Att. XII, 40(44).1, 41(46).4, 44(48).1; Gellius XIII, 20.3. Vgl. RE (VIII,2) Hirtius, 1958; Seel (1935), 102; Daly (1951), 114; Adamczyk (1961), 295; Gelzer (1969), 315; Pini (1969), 545f. Anm. 9.
VI.2. Der Gesprächspartner Hirtius
37
Bruders Quintus angeschlossen haben, der in einem Brief an Tiro beklagte, daß er die beiden designierten Konsuln ‚voll der Lüsternheit, der Schlaffheit und eines sehr verweichlichten Gemütes‘ erlebt habe.18 Es ist offensichtlich, daß für Cicero weder seine literarischen Pläne noch seine politische und persönliche Einstellung gegenüber Hirtius ausschlaggebend waren, gerade ihn als Gesprächspartner zu wählen. Ciceros Motivation, Hirtius dennoch mit einer Aufnahme in De fato zu bedenken, entspringt vielmehr politischen Überlegungen. Nach der Ermordung Caesars war es für die Republikaner wichtig, möglichst viele und einflußreiche Fürsprecher für ihre Sache zu gewinnen, um eine Front gegen Antonius aufzubauen. Dabei spielten die designierten Konsuln als baldige Inhaber des höchsten Staatsamtes natürlich eine wichtige Rolle. Sie aber für die republikanische Seite zu gewinnen, schien nicht unproblematisch, denn immerhin handelte es sich bei Hirtius und Pansa um ehemalige Caesar-Günstlinge, die eng mit ihrem Mentor verbunden waren und ihre politische Machtposition nur diesem allein zu verdanken hatten. Trotzdem wurde Cicero von Cassius und M. Brutus explizit aufgefordert, sich vornehmlich um die Gunst des Hirtius zu bemühen. Dieser allerdings, urteilt Cicero, habe Caesar sehr geliebt und sehe dem Frieden mit Furcht entgegen.19 Cicero spürte in ihm Unentschlossenheit sowie mangelnde Loyalität, und obwohl er bezweifelte, durch sein eigenes Zutun Hirtius im republikanischen Sinne beeinflussen zu können,20 versicherte er dennoch, dies zu versuchen. Bereits Ende April besuchten die beiden designierten Konsuln Cicero auf seinem Landsitz in Puteoli.21 In den persönlichen Gesprächen wird sich Cicero auch um Verständigung bemüht haben. Mitte Mai machte Cicero seinerseits Hirtius seine Aufwartung zu einem Gastmahl,22 ein paar Tage später war Hirtius wiederum Ciceros Gast auf dem Puteolanum.23 In der Folgezeit blieb Cicero mit ihm auch weiterhin in schriftlichem Kontakt.24 Als sich im Laufe der Zeit dann herausstellte, daß Hirtius auf den von Cicero beabsichtigten Kurs ein_____________ 18 19 20
21 22 23 24
Vgl. fam. XVI, 27(25).1: quos ego penitus novi libidinum et languoris effeminatissimi animi plenos. Vgl. Att. XIV, 22.1: meus vero discipulus [Hirtius], qui hodie apud me cenat valde amat illum, quem Brutus noster sauciavit. et si quaeris ( perspexi enim plane), timent otium; vgl. VII, 4.2: venisse Hirtium a Caesare, qui esset illi familiarissimus. Att. XIV, 20.4: quod Hirtium per me meliorem fieri volunt, do equidem operam; XIV, 21.4(3): sic hominem traducere ad optimatis paro; XV, 5(9).1: Cassius vero vehementer orat ac petit, ut Hirtium quam optimum faciam. sanum putas?; XV, 6(8).1: cum ad me Brutus noster scripsisset et Cassius, ut Hirtium, qui adhuc bonus fuisset, ¢meliorem facerem, quem neque adhuc bonum fuisse² sciebam, neque eum confidebam fore mea auctoritate meliorem. Vgl. Att. XIV, 11.2. Vgl. Att. XIV, 21.4(3). Vgl. Att. XV, 1.2. Vgl. Att. XV, 6(8).
38
VI. Vorbemerkungen zu De fato
schwenkte, änderte sich auch Ciceros Haltung ihm gegenüber. Davon zeugen die Philippischen Reden, in denen er in freundschaftlichem Ton die Leistung des Hirtius für die Republik lobt.25 Mit dieser Geste also, Hirtius die Rolle des Gesprächspartners in De fato anzuvertrauen, konnte Cicero dem designierten Konsul eine große Ehrung auf literarischer Ebene zuteil werden lassen, in der Hoffnung, ihn auf diese Weise für die republikanische Sache empfänglicher zu machen.26 Hirtius wurde somit der erste Caesarianer, den Cicero in einer seiner Schriften als Gesprächspartner auftreten ließ.27
3. Datierung Ein erster Hinweis zur Abfassungszeit von De fato ist im Vorwort zum zweiten Buch von De divinatione zu finden. Cicero äußert den Plan, zu den bereits verfaßten Büchern De natura deorum und zu den begonnenen Büchern De divinatione noch eine Schrift De fato hinzuzufügen, damit dieser Themenkreis erschöpfend behandelt werde.28 Da Cicero in De divinatione auf die Ermordung Caesars anspielt,29 kann mit Sicherheit davon ausge_____________ 25 26
27 28 29
Vgl. z. B. Phil. VII, 12: quid igitur profectus est vir fortissimus, meus collega et familiaris, A. Hirtius consul ? Vgl. Appuhn (1937), 255; Gillingham (1950), 90; Adamczyk (1961), 295f.; Cappelletti (1964), 12; Pini (1969), 480; Pesce (1970), 29 Anm. 13; Bringmann (1971), 195 („Die Politik hatte in Ciceros Denken wieder ein solches Gewicht erlangt, daß taktische Erfordernisse in einem Werk berücksichtigt werden, dessen Inhalt so unpolitisch wie nur möglich ist“); Schmidt (1974), 174; Eisenberger (1979), 154f. mit Anm. 3; Marwede (1984), 3, 25f. Anm. 7, 85; Kerschensteiner (1986), 574; Glei (1993), 322; Magris (1994), 9; Barabino (1995), 78 Anm. 8; Bayer (2000), 111; Takahata (2004), 136, 143. Ruch (1958), 299f. nimmt an, daß nicht nur die politischen Überlegungen entscheidend gewesen seien, sondern auch der Umstand, daß Cicero in Hirtius’ Anti-Cato lobend erwähnt worden sei (vgl. Att. XII, 40(44).1). Strasburger (1990), 48 urteilt: „So war die überraschende Erfüllung eines alten Wunsches des Hirtius mit De fato für Cicero sozusagen ein sacrificium intellectus auf dem Altar der Vaterlandsliebe“, überlegt aber auch, ob die Widmung vielleicht auf etwas hinterhältige Weise Hirtius beim kundigen Publikum „auf die republikanische Gesinnung festlegen soll bzw. ihn den Caesarianern verdächtig machen soll“ (S. 88). Falconer (1923), 313f. ist skeptisch, ob Cicero wirklich sein Werk habe Hirtius widmen wollen, da er dieses Vorhaben nicht in seinen Briefen an Atticus erwähnt habe. Ferner sei es auch fraglich, ob Hirtius ein solches Zeichen der Ehrung erwartet habe. Denn wenn eine derartige Ehrung von Cicero als Republikaner und Vertrautem von M. Brutus und Cassius gekommen wäre, hätte Hirtius bei Antonius und den Caesarianern in Verdacht geraten können, die Seite gewechselt zu haben, was für ihn unbehaglich, wenn nicht gar gefährlich hätte werden können. Pimentel Álvarez (2005), XXI nimmt hingegen an, daß Hirtius selbst seinen Lehrer Cicero um die Aufnahme in eines seiner Werke gebeten habe. Vgl. Adamczyk (1961), 296; Strasburger (1990), 47; Takahata (2004), 135. Vgl. div. II, 3 (siehe o. S. 2 Anm. 9). Vgl. div. II, 23.
VI.3. Datierung
39
gangen werden, daß das zweite Buch von De divinatione und, aufgrund der Ankündigung im Vorwort, auch De fato erst nach diesem Ereignis verfaßt worden sind. In De fato selbst finden sich ebenfalls weitere Hinweise für die Datierung. Zum einen verweist Cicero mit post interitum Caesaris (§ 2) wieder auf Caesars Ermordung und zum anderen bezeichnet er Hirtius als consul designatus. So konnte Cicero ihn nur bezeichnen, solange er sein Amt als Konsul noch nicht angetreten hatte, also vor dem 1. Januar 43. Dies bedeutet, daß De fato nach Caesars Tod am 15. März 44 (terminus post quem), aber vor dem Amtsantritt des Hirtius am 1. Januar 43 (terminus ante quem) verfaßt worden ist. Doch der Entstehungszeitraum kann noch weiter eingegrenzt werden. Auf seiner Reise erreichte Cicero am 17. April sein Landgut bei Puteoli. Die folgenden Tage zeichneten sich durch zunehmende Betriebsamkeit aus. Am 19. April war er in Cumae und am 21. April wieder in Puteoli.30 Es fand ein Treffen mit Octavian statt,31 und da sich Hirtius und Pansa zur gleichen Zeit auch in der Nähe aufhielten, besuchten sie Cicero noch im April auf dem Puteolanum.32 Ob sich bei diesem Aufenthalt auch Muße für rhetorische Übungen oder philosophische Gespräche bot, ist aus Ciceros Korrespondenz nicht eindeutig zu erkennen; dies mag aber wegen der erwähnten Betriebsamkeit (siehe VI.1.) eher unwahrscheinlich sein.33 Sicher ist dann, daß Cicero am 1. Mai in Richtung seines Landgutes bei Pompeji aufbrach, das er am 3. Mai erreichte.34 Seinen dortigen Aufenthalt beendete er am 10. Mai und war einen Tag später wieder auf dem Puteolanum,35 wo er am 14. Mai gemeinsam mit Hirtius speiste. Zweifellos wurden wieder Gespräche zur politischen Lage geführt, und Cicero wird versucht haben, Hirtius für die republikanische Sache zu gewinnen. In dieser Zeit wird Cicero mit Hirtius, der bereits seit Juni 46 sein Rhetorikschüler war,36 auch rhetorische Übungen (declamare) abgehalten haben, da er ihn explizit als seinen ‚Schüler‘ (discipulus) bezeichnete.37 Diese historisch bezeugten Aufenthalte des Hirtius auf Ciceros Puteolanum stellen Ort und Zeit für die literarische Komposition von De fato dar. Cicero brach dann _____________ 30 31 32 33 34 35 36 37
Vgl. Att. XIV, 9.2 (hic turba magna est eritque, ut audio, maior), 10, 11. Vgl. Att. XIV, 10.3, 11.2. Vgl. Att. XIV, 11.2. Appuhn (1937), 255 hält es für höchst unwahrscheinlich, daß Cicero mit Hirtius über das Fatum philosophiert habe. Falconer (1923), 311 sieht nicht einmal einen Hinweis für eine politische Unterredung. Vgl. Att. XIV, 15.3, 17.1. Vgl. Att. XIV, 18(19).4, 20.1. Vgl. fam. IX, 16.7: Hirtium ego et Dolabellam dicendi discipulos habeo. Vgl. Att. XIV, 12.2, 22.1; Sueton, De rethor. 25.6. Vgl. Att. XIV, 22.1: meus vero discipulus, qui hodie apud me cenat.
40
VI. Vorbemerkungen zu De fato
am 17. Mai auf,38 um über Arpinum zu seinem Tusculanum zu reisen, wo er am 27. Mai eintraf.39 Den dortigen Aufenthalt unterbrach er für eine Reise, die ihn am 7. Juni nach Antium und darauf nach Astura führte.40 Vom 16./19. Juni an weilte er wieder auf seinem Landgut bei Tusculum, das er schließlich am 30. Juni verließ,41 um nach Pompeji zu reisen, wo er sich am 17. Juli zu seiner geplanten Griechenlandreise einschiffte. Ausgehend von zwei Überlegungen kann angenommen werden, daß Cicero De fato vor dem Antritt seiner Griechenlandreise am 17. Juli bereits beendet hatte. Zum einen sprechen die äußeren Umstände nach der Abfahrt für eine solche Annahme. Während der Seereise arbeitete Cicero bereits an der Niederschrift der Topica,42 und nach seiner Rückkehr haben die politischen Ereignisse in Rom seine ganze Aufmerksamkeit erfordert, da er die zentrale Rolle im Widerstand gegen Antonius übernommen hatte. In diesem Zusammenhang verfaßte er die Philippischen Reden. Ferner war er in dieser Zeit mit der Ausarbeitung seiner Schrift De officiis beschäftigt, von der im November 44 bereits zwei Bücher vorlagen.43 Zum anderen hatte Cicero offensichtlich die Absicht, mit der Wahl des Hirtius als Dialogpartner ihm eine literarische Ehrung zuteil werden zu lassen. Eine Veröffentlichung nach seiner Reise erscheint recht spät, zumal Antonius’ eigenmächtiges Handeln die designierten Konsuln Hirtius und Pansa zu jener Zeit ohnehin näher an die Republikaner heranrükken ließ. In der Zeit vor dem Antritt seiner Griechenlandreise war Cicero ab dem 30. Juni ohne längeren Aufenthalt auf Reisen und dabei, wie er betonte, sehr in Eile.44 Am 27. Juni arbeitete er allem Anschein nach bereits an der Vollendung der nur in wenigen Fragmenten erhaltenen Schrift De gloria und kündigte Atticus am 3. Juli an, ihm das Werk bald zuschicken zu wollen,45 was am 11. Juli auch geschah.46 Nach einer Überarbeitung ließ er Atticus die endgültige Fassung am 17. Juli zukommen.47 Wenn man mit _____________ 38
39 40 41 42 43 44 45 46 47
Appuhn (1937), 255; Ruch (1958), 300, Cappelletti (1964), 11 und Sharples (1991), 5 geben als letzten Tag des Aufenthalts den 23. Mai an. Allerdings kündigt Cicero am 14. Mai seine Abreise für den 17. Mai an (Att. XIV, 22.1: primum igitur scire te volui me hinc Arpinum XVI Kalend. Iun.) und schreibt Atticus dann in einem Brief vom 18. Mai 44: heri dederam ad te litteras exiens e Puteolano deverteramque in Cumanum (Att. XV, 1a(2).1). Vgl. Att. XV, 3(5).1, 4(6).2. Vgl. Att. XV, 11(14), 12(15). Vgl. Att. XV, 19(20), 25(27). Vgl. Top. 5. Vgl. Sharples (1995), 247. Vgl. Att. XVI, 11.4. Vgl. Att. XV, 26(28).3: valde enim festino. Vgl. Att. XV, 14(26).4, 27(29).2: librum tibi celeriter mittam ‚de gloria‘. Vgl. Att. XVI, 2(4).6: ‚de gloria‘ misi tibi. Vgl. Att. XVI, 3(5).1. Vgl. Häfner (1928), 60; Philippson (RE), 1167; Adamczyk (1961), 305f., der in Anlehnung an Sullivan (siehe u. S. 42 Anm. 50) vermutet, daß De gloria zwei
VI.3. Datierung
41
Yon annehmen möchte, daß Cicero 15–20 Arbeitstage ausgereicht haben, um die vermutlich kurze Schrift De gloria abzufassen,48 deckt sich dieser Zeitraum etwa mit seinem längeren Aufenthalt ab dem 16./19. Juni auf dem Tusculanum. Vor diesem Aufenthalt bereiste Cicero am 7. Juni Antium und darauf Astura. Wenn er De fato nicht bereits fertiggestellt hatte, bot sein Aufenthalt auf dem Tusculanum vom 27. Mai an einige Tage der Muße, in denen Cicero De fato gut hätte vollenden können.49 Dieser aus chronologischen Gründen angenommene Zeitraum ist auch gut mit Ciceros Absicht vereinbar, Hirtius literarisch zu ehren, um ihn so für die republikanische Seite einzunehmen. Die Vermutung liegt nahe, daß Cicero, um seine beabsichtigte Wirkung erzielen zu können, De fato schon sehr bald nach den historisch bezeugten Treffen auf dem Puteolanum vollendet und veröffentlicht hat. Die Abfassung von De fato scheint also in die Zeit von Ciceros Aufenthalt in Puteoli Mitte April bis spätestens zu seinem Aufenthalt in Tusculum Anfang Juni 44 zu fallen.50 _____________ 48 49 50
Wochen vor den Topica abgefaßt worden sei, während Cicero aber noch an De fato gearbeitet habe; Bringmann (1971), 198–204; Kerschensteiner (1986), 575; Sharples (1991), 5f. Vgl. Yon (1950), IVf. Paolillo (1957), 13 nimmt eine Arbeitszeit von ungefähr einem Monat an. Vgl. Appuhn (1937), 256; Philippson (RE), 1161; Yon (1950), II–V; Ruch (1958), 300; Leœniak (1960), 398; Giomini (1975), VII; Guillaumont (1994), 389. Van den Bruwaene (1937), 41 Anm. 1, 193f. Anm. 2 glaubt, daß De fato ein schnell unter dem Einfluß der Vorlesungen des Antiochos abgefaßter Text aus Ciceros Jugendzeit sei. Die beispiellos häufige Ankündigung von De fato (nat. III, 19; div. I, 127; II, 3) und Ciceros Bemerkung longo intervallo (§ 4), die sich nur mit einer früheren Abfassung von De fato erklären lasse, seien ein sicheres Indiz für diese Annahme. Cicero habe nur noch das Vorwort an die politischen Umstände angepaßt und De fato dann im Mai/Juni 44 vollendet. In Anlehnung an Boyancé (1936), 306–308 und van den Bruwaene nimmt Pini (1969), 471–477 an, daß De fato zwischen den Tusculanae Disputationes und De natura deorum entstanden sei. Durch die Umstände nach Caesars Tod habe Cicero sein Werk kurz überarbeitet, um es der neuen politischen Situation anzupassen. Er habe es dann bald, spätestens Ende Juni, veröffentlicht. Philippson (RE), 1161 möchte ebenfalls nicht ausschließen, daß das Werk in den Grundzügen auch vor den Treffen mit Hirtius vollendet gewesen sei. Bayer (2000), 96, dem sich Takahata (2004), 132, 152 anschließt, nimmt an, daß De fato zwischen dem 15. März 44 und Juni 44 (vgl. MacKendrick (1989), 199) vollendet und veröffentlicht worden sei, wobei Cicero das Werk sicher schon früher konzipiert habe. Sedley (2005), 241 vermutet, daß die Schrift im Mai innerhalb eines Zeitraumes von vierzehn Tagen oder sogar in noch kürzerer Zeit verfaßt worden sei. Paolillo (1957), 13, 15 glaubt, daß De fato in der zweiten Maihälfte abgefaßt worden sei, bevor Cicero mit De gloria begonnen habe. Cappelletti (1964), 11 geht davon aus, daß es für Cicero keinen Grund gegeben habe, die Beendigung von De fato bis Anfang Juni aufzuschieben. Mit Sicherheit sei die Schrift schon in der zweiten oder dritten Maiwoche beendet gewesen, noch bevor Cicero von Puteoli aufgebrochen sei, um nach Tusculum zu reisen. Bringmann (1971), 171 Anm. 1 nimmt an, daß der Abschluß von De fato „durch die dialogische Einkleidung auf die zweite Maihälfte festgelegt“ sei. Die Vollendung von De fato im Mai oder Juni 44 nehmen an: Durand (1903), 175f.; Lörcher (1932), 89; Gillingham (1950), 89; Bréhier (1962), 469; Büchner (1964), 415; Süss (1966), 341; Gelzer (1969), 338; Pesce (1970), 29 Anm. 12; Marwede (1984), 1–3;
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VI. Vorbemerkungen zu De fato
4. Überlieferung De fato ist nur als Fragment mit vier teilweise großen Lücken überliefert. Sämtliche Handschriften, in denen De fato überliefert ist, stammen ohne bekannte Ausnahme von den drei Handschriften A (Leidensis Vossianus 84), B (Leidensis Vossianus 86) und V (Vindobonensis 189) ab, die etwa aus dem 9./10. Jh. stammen.51 Diese können mit Sicherheit wiederum als Abschriften von einem einzigen Korpus Q aus dem 8. Jh., dem Archetypus, angesehen werden. Das Korpus Q enthielt die unsystematisch zusammengestellten Werke De natura deorum, De divinatione, Timaeus, De fato, Topica, Paradoxa Stoicorum, Lucullus (Ac. II) und De legibus. Es war sehr ungeordnet und dazu noch teilweise beschädigt.52 So ist anzunehmen, daß bereits im Archetypus selbst Textlücken vorhanden waren, die vielleicht durch den frühen Versuch, ihn zu ordnen, noch vergrößert wurden. Von diesen Textlücken ist besonders De fato betroffen.53 Über das Verhältnis der Handschriften A, B, V zueinander und zum Archetypus Q herrscht keine endgültige Klarheit.54 Sicher ist letztlich nur, daß die Handschriften A, B, V allein für die Textüberlieferung maßgeblich sind.55 _____________
51 52 53 54 55
Steinmetz (1990), 143; Strasburger (1990), 47; Sharples (1991), 5; (1995), 247; Janssen (1992), 22; Gawlick und Görler (1994), 1045 („Frühsommer“); Magris (1994), 9; Barabino (1995), XXXVIII; Nava Contreras (1998), 265, 268; Escobar (1999), 273; Nickel (1999), 209. Kerschensteiner (1986), 570 vermutet, daß De fato während Ciceros Aufenthalt in Austura (10./14. Juni) vollendet worden sei. Adamczyk (1961), 293 sieht in der Äußerung maxime nos quidem … esse occurrendum putaremus ein Indiz dafür, daß die Schrift bereits vor August oder September abgeschlossen worden sein müsse, weil Cicero mit dieser Aussage noch auf die politische Ungewißheit anspiele. Sullivan (The Plan of Cicero’s Philosophical Corpus. Boston 1951. S. 313–315, 321, in Adamczyk (1961), 292f. Anm. 203 und 205) setzt das literarische Datum im Mai an, da in den Briefen vorher kein Hinweis auf ein Bemühen um Hirtius zu finden sei. Die Abfassung sei von Juni bis August erfolgt. In der Zeit vom 20. August bis zum 25. Oktober 44, so Pimentel Álvarez (2005), XXI, habe kein Briefwechsel zwischen Cicero und Atticus stattgefunden, da sich beide zu dieser Zeit in Rom aufgehalten hätten. Mit der Annahme, daß Cicero während dieses Aufenthalts De fato verfaßt habe, lasse sich auch der Umstand erklären, daß er dieses Werk in seinen Briefen an Atticus nicht erwähnt habe. Hamelin (1978), 1 glaubt, daß De fato kurz nach der Vollendung des Laelius (De amicitia) etwa im Oktober 44 fertiggestellt worden sei. Vgl. Clark (1918), 324f.; Yon (1950), LIV; Schmidt (1967), 496f.; Bayer (1980), 99–111; Marwede (1984), 19–24. Vgl. Schneidewin (1853), 1918; Schwenke (1889), 523; Bayer (1980), 103. Vgl. Bayer (1980), 103f. Hoyer (1898), 64f. führt den Textverlust auf eine spätere christliche Zensur zurück. Verschiedene Varianten werden diskutiert in Schwenke (1889), 524f.; Clark (1918), 324– 363; Philippson (1939), 343; Yon (1950), LII–LV; Schmidt (1967), 497f.; Bayer (1980), 103–111; Montanari Caldini (1980); Marwede (1984), 39f. Anm. 79; M. und K. Zelzer (2001). Zu den Handschriften siehe Deiter (1882); (1885/1886); Schwenke (1889), 522f.; Skassis (1915), 5–8; Clark (1918), 324–363; Ax (1938), VII–XI; Yon (1950), L–LVI; Giomini (1975), XVII–XXXV; Bayer (1980), 99–111; Vretska (1980), 4; Antonini (1994), 21f.; aus-
VI.5. Die Fragmente
43
Ferner sind noch einige Exzerpte56 aus dem 6./7. Jahrhundert57 oder aus dem 9./10. Jahrhundert58 erhalten geblieben, die ein gewisser „Presbyter Hadoardus“59 aus den philosophischen Schriften Ciceros angefertigt hat. Allerdings scheint Hadoardus nur mit bescheidener philosophischer Kenntnis und teilweise recht geringer Treue zum Originaltext exzerpiert zu haben. Zuweilen kürzte, veränderte oder überging er bestimmte Stellen, die er offenbar für uninteressant oder für philosophisch unergiebig erachtete, und mitunter stimmt die Reihenfolge der Exzerpte nicht mit dem Cicerotext überein. Außerdem versuchte Hadoardus, was aus seiner Sicht religiös anstößig erschien, zu bereinigen (z. B. wurde aus dem Plural von deus der Singular) oder schlichtweg unberücksichtigt zu lassen. Aus diesen Gründen können die Hadoard-Exzerpte nur mit größter Vorsicht für die Textkritik herangezogen werden.60
5. Die Fragmente Neben dem eigentlichen Corpus von De fato sind auch noch Zitate oder Paraphrasen bei anderen antiken Autoren zu finden, die vermutlich aus den nicht mehr erhaltenen Passagen von De fato stammen. Allerdings ist nicht jedes der mutmaßlichen Fragmente in seiner Authentizität anerkannt und auch über die Frage, an welcher Stelle sie im ursprünglichen Text von von De fato standen, herrscht keine Einigkeit.61 Sechs solcher Fragmente sind überliefert:62 _____________
56 57 58 59 60
61 62
führlich M. und K. Zelzer (2001). O. Plasberg hat ein photographisches Facsimile der Handschrift A (Leidensis Vossianus 84) angefertigt (Operum philosophicorum codex Leidensis Vossianus Lat. Fol. 84 phototypice editus. Leiden 1915). Die sogenannten Excerpta Hadoardi: Vaticanus Reginensis lat. 1762 (K in Schwenke (1886), 270; (1889), 522f.; R in Giomini (1975), XXVIII–XXX; H in Bayer (2000), 77). Vgl. Mollweide (1912), 386; (1915), 182. Vgl. Schwenke (1883), 75; (1889), 399f.; Philippson (1939), 343; Yon (1950), LII; Giomini (1975), XXIX; M. und K. Zelzer (2001), 187, 211. Über den Autor dieser Exzerpte existieren keine weiteren Informationen. Zu seiner möglichen Identität siehe Schwenke (1883), 75; (1886), 270; (1889), 401f. Ausführlich zu diesen Exzerpten siehe Schwenke (1889) und Mollweide (1911–15). Vgl. ferner Schwenke (1886), 269–271; Lörcher (1925), 147–154; Philippson (1939), 343; Yon (1950), LV; Giomini (1975), XXVIII–XXX; M. und K. Zelzer (2001), 211f., 186 Anm. 10 mit weiteren Literaturverweisen. Eine ausführliche Besprechung der Fragmente findet sich in Lörcher (1907), 370(34)– 375(39); Skassis (1915), 40–44; Marwede (1984), 244–248; Sharples (1991), 161–163; Magris (1994), 12f. Die Numerierung der Fragmente entspricht der z. B. in Yon (1950), 26–28, Gomini (1975), 174–176, Antonini (1994), 92–97, Bayer (2000), 70–75 und Pimentel Álvarez (2005), 29– 31, die alle sechs Fragmente aufgenommen haben.
44
VI. Vorbemerkungen zu De fato
Fragment 1: Gellius, Noctes Atticae VII, 2.15 Gellius scheint auf Chrysipps Versöhnungsversuch zwischen Fatum und moralischer Verantwortlichkeit (explicet et fato omnia fieri et esse aliquid in nobis) zu verweisen. Mit diesem Versöhnungsversuch setzt sich Cicero auch in De fato auseinander. Da Gellius explizit auf De fato rekurriert, ist es sehr wahrscheinlich, daß er tatsächlich aus einer verlorenen Passage dieser Schrift zitiert. Aufgrund der Tatsache, daß Cicero den Versöhnungsversuch Chrysipps in den Paragraphen 39–45 behandelt, nimmt die überwiegende Mehrheit der Kommentatoren an, daß dieses Fragment in die Lacuna C einzuordnen sei.63 Sharples allerdings sieht dessen ursprünglichen Platz in der Lacuna B, da er es für unwahrscheinlich hält, daß Chrysipps Versöhnungsversuch erstmals in § 39 erwähnt worden sei.64 Fragment 2: Servius, In Vergilii carmina commentarii, ad Aen. III, 376 Servius referiert eine Definition des Fatums, die er namentlich Cicero zuweist. Diese Definition ist der in div. I, 125 (siehe III.) zu findenden ähnlich, aber nicht mit ihr identisch. Es ist plausibel anzunehmen, daß Cicero gerade auch in De fato eine Definition des Fatums angeführt hat. Da eine solche aber in dem erhaltenen Text nicht überliefert ist, ist es wahrscheinlich, daß sich Servius mit seinem Referat auf eine verlorene Passage aus De fato bezieht, auch wenn er nicht explizit diese Schrift als Quelle angibt. Wenn die fragliche Definition aus De fato stammt, wird Cicero sie am Anfang der Schrift vorgelegt haben. Entweder stand sie dann direkt in der Einleitung, also in der Lacuna A,65 oder erst zu Beginn der eigentlichen Untersuchung, also am Anfang der Lacuna B.66 _____________ 63
64 65 66
Vgl. Meinecke (1887), 12; Skassis (1915), 41 („maxime videtur veri simile inter capita undevicesimum et vicesimum; neque vero pro certo affirmari potest“); Eisenberger (1979), 167; Marwede (1984), 244; Schröder (1990), 150. Philippson (1934), 1035f.; (1939), 348 begründet seine Annahme mit der Tatsache, daß die ersten Worte, die hinter der Lacuna C überliefert worden sind, hoc modo lauten: „Es ist mir wahrscheinlich, daß dies nachhinkende ‚hoc modo‘ von Gellius versehentlich zu diesem Satze gesetzt ist und in Wirklichkeit das ‚hoc modo‘ ist, mit dem […] der Schlußteil (§ 46) beginnt“. Mit Sharples (1991), 194 darf man allerdings annehmen, daß das Fragment, wenn es in der Lacuna C stand, nicht am Ende der Lücke seinen Platz hatte, sondern, nachdem Cicero die Argumentation Chrysipps dargestellt hatte, seine Kritik einleitete. Schon dies allein spricht gegen die Annahme Philippsons, daß die bei Gellius überlieferten Worte den letzten Satz in der Lacuna C dargestellt haben könnten. Zur Kritik an Philippson siehe Eisenberger (1979), 167 Anm. 40 und Schröder (1990), 150f. Anm. 27, dem sich Sharples (1991), 194 anschließt. Sharples (1991), 54–58, 161f. plaziert alle Fragmente in der Abfolge 5, 1, 2, 3, 4 in Lacuna B. Vgl. Eisenberger (1979), 155. Vgl. Philippson (1934), 1033; Theiler (1982) II, 313; Marwede (1984), 244f.; Sharples (1991), 161; Antonini (1994), 44 Anm. 13, 92 Anm. 80. Lörcher (1913), 59f. hält dieses Fragment für die „Überschrift der pars moralis“, das die Übersetzung der in Gellius VII, 2.3 überlieferten Definition Chrysipps darstelle.
VI.5. Die Fragmente
45
Fragment 3: Augustinus, De civitate dei V, 8 Augustinus berichtet, ohne dabei aber explizit auf De fato zu verweisen, daß Cicero ein Homerzitat (Odyssee XVIII, 136–137) ins Lateinische übersetzt habe, in dem Jupiter genannt wird. Die Erwähnung des Gottes Jupiter, der dem griechischen Gott Zeus entspricht, im Zusammenhang mit der stoischen Fatumstheorie wäre nicht ungewöhnlich, aber im überlieferten Text läßt sich kein Hinweis auf eine solche Erwähnung finden. Cicero scheint in De fato mehr den physischen und logischen, weniger den theologischen und teleologischen Aspekt des stoischen Fatalismus zu behandeln. Die Zuordnung dieses Fragments zu De fato ist daher unsicher. Skassis hält eine Herkunft aus De divinatione für wahrscheinlicher,67 auch eine Herkunft aus den Academici libri wird diskutiert.68 Sollte sich Augustinus’ Bericht tatsächlich auf eine Stelle aus De fato beziehen, ist ihr ursprünglicher Ort wohl in der Lacuna B anzunehmen.69 Fragment 4: Augustinus, De civitate dei V, 2 Augustinus erwähnt, bei Cicero sei die Vermutung des Arztes Hippokrates zu lesen gewesen, daß es sich bei den Brüdern, die zur gleichen Zeit erkrankten und gesund wurden, um Zwillinge gehandelt habe. Da in De fato nur eine kurze Anspielung auf dieses Beispiel überliefert ist (§ 5), kann angenommen werden, daß Cicero es in der vorangehenden Lacuna ausführlicher behandelt hat. Dabei hat er vielleicht auch die besagte Vermutung des Hippokrates erwähnt. Es wäre sicher im Sinne Ciceros gewesen, die gleichzeitige Erkrankung und Genesung der beiden Brüder nicht mit dem Wirken der Sterne oder mit der kosmischen Sympathie zu erklären, sondern mit dem Hinweis darauf, daß die Brüder Zwillinge waren und somit eine gleiche physische Konstitution aufwiesen. Auch wenn Augustinus nicht explizit auf De fato verweist, wird man in seinem Bericht einen Bezug auf eine in der Lacuna B verlorene Textstelle annehmen dürfen.70 Fragment 5: Macrobius, Saturnalia III, 16.3–4 Macrobius erzählt eine Anekdote über Scipio den Jüngeren, die in De fato zu lesen gewesen sein soll. Scipio hat tatsächlich noch mehrfach Erwäh_____________ 67 68 69 70
Vgl. Skassis (1915), 42 („in extrema primi de divinatione libri parte“). Schmekel (1892), 162–165 nimmt dagegen eine Herkunft aus De fato an. Er verweist ferner darauf, daß Augustinus De fato als einen Teil von De divinatione betrachtet haben könnte (S. 163 Anm. 1). Vgl. Tolkiehn (1905), der selbst aber De fato für den wahrscheinlichsten Ursprungsort hält. Vgl. Theiler (1982) II, 313; Sharples (1991), 162. Philippson (1934), 1036 Anm. 7 nimmt die Lacuna C an. Vgl. Meinecke (1887), 4f., 12; Schmekel (1892), 165; Skassis (1915), 42; Eisenberger (1979), 164 Anm. 32; Marwede (1984), 246; Sharples (1991), 162f.; Escobar (1999), 334 Anm. 163.
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VI. Vorbemerkungen zu De fato
nung in De fato gefunden (§§ 13, 17, 18, 27), und da Macrobius explizit auf De fato verweist, ist anzunehmen, daß hier ein Zitat aus einer verlorenen Passage vorliegt. Der wahrscheinlichste Ursprungsort für dieses Fragment scheint die Lacuna B zu sein.71 Fragment 6: Nonius I, 50 L Der Satz, den Nonius zitiert und De fato zuweist, findet sich in De finibus IV, 37. Es scheint aber recht unwahrscheinlich zu sein, daß Cicero zweimal eine identische Formulierung gewählt haben soll.72 Ferner gibt es keinen Hinweis darauf, daß die erwähnte virtus einen expliziten Diskussionsgegenstand in De fato darstellte. Lindsay vermutet in seiner Edition, daß es sich bei den Wörtern „de fato et“ um eine fehlerhafte Dublette der Titelabkürzung handle.73 Dies bedeutet, daß aus dem ursprünglich im Text richtig abgekürzten Titel de fi(nibus) bo(norum) zusätzlich noch der Titel de fato entstanden und dann in den Text hineingerutscht ist. Die Zuordnung dieses „Fragments“ zu De fato basiert also allem Anschein nach auf einem Fehler in der Überlieferung.74 Seneca, Epistulae morales ad Lucilium 107, 11 Tolkiehn nimmt an, daß die bekannten lateinischen Verse duc, o parens celsique dominator poli, quocumque placuit; nulla parendi mora est. adsum inpiger. fac nolle, comitabor gemens malusque patiar facere, quod licuit bono. ducunt volentem fata, nolentem trahunt,75 die Seneca unter Berufung auf Cicero (scies me in hoc secutum Ciceronis exemplum) zitiert,76 ebenfalls ursprünglich in De fato zu lesen gewesen seien.77 _____________ 71 72 73 74
75 76 77
Vgl. Eisenberger (1979), 160 Anm. 17; Sharples (1991), 161. Philippson (1934), 1032 nimmt dagegen die Lacuna A als ursprünglichen Ort an. Vgl. Skassis (1915), 43f. Nonii Marcelli De compendiosa doctrina libros XX. Hrsg.: W. M. Lindsay. Leipzig 1903, Nachdr. Hildesheim 1964, München 2003. Bd. I, S. 50. Vgl. Skassis (1915), 43f.; Pini (1969), 483; Sharples (1991), 163. Bevor man die Wörter „de fato et“ tilge, meint Marwede (1984), 247f., sei es besser anzunehmen, daß der von Nonius zitierte Satz auch in De fato gestanden habe. Antonini (1994), 97 Anm. 83 hält es ebenfalls für wahrscheinlicher, daß das fragliche Zitat aus De fato ausgefallen sei. Zu diesem Vers siehe Bobzien (1998a), 345–357, insbesondere 346–351 und Sharples (2005), der sich mit Bobzien auseinandersetzt. Siehe auch u. S. 259 Anm. 540. Vgl. Seneca, Ep. 107, 10f. (SVF I, 527); vgl. Augustinus, civ. V, 8. Vgl. Tolkiehn (1905), 557 und die Auseinandersetzung in Pini (1969), 483–485, der es zumindest nicht für unmöglich hält, daß die Verse aus De fato entnommen seien.
VI.6. Die Quellen
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6. Die Quellen Ciceros philosophische Schriften stellen eine wichtige, zuweilen sogar die einzige Quelle dar, um die Lehren hellenistischer Philosophen zu rekonstruieren, da er deren Meinungen teilweise frei darstellt, teilweise ausdrücklich referiert und sich mit ihnen kritisch auseinandersetzt. Oft schließt er sich auch den Lehren bestimmter hellenistischer Philosophen mehr oder weniger eng an. So ist es seit je von Interesse gewesen, welcher Vorlagen – wie auch immer sie beschaffen gewesen sein mögen – Cicero sich bei der Abfassung seiner Schriften bedient hat. Das Vorgehen, Ciceros philosophische Schriften unter dem primären Aspekt der Quellenfrage zu betrachten, entspringt besonders dem Geist der im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert vorherrschenden „Quellenforschung“.78 Zu jener Zeit entstand die extreme Auffassung, daß sich Cicero bei der Niederschrift seiner philosophischen Schriften so eng an seine griechischen Vorlagen gehalten habe, daß seine Werke kaum mehr als Übersetzungen der Originale seien und jeglicher Eigenständigkeit entbehrten. Diese Meinung führte zum einen zu zweifelhaften Textzuordnungen zu bestimmten Philosophen und zum anderen zu einer nicht unerheblichen Abwertung der Person Ciceros selbst und seiner philosophischen Tätigkeit.79 Als paradigmatische Urteile jener Zeit seien nur die beiden folgenden angeführt. Uri fällt über das systematische Vorgehen, das Cicero in seinen philosophischen Schriften zu erkennen gibt, das grundsätzliche Urteil: Überall, wo es uns möglich ist, aus der Darstellung Ciceros einen einheitlich gegliederten, organischen Gesamtaufbau nachzuweisen, stammt dieser aus einer einheitlichen griechischen Quelle. […] Als Forschungsmethode wird man den oben ausgesprochenen Grundsatz als allgemein anerkannt bezeichnen dürfen.80
Im Hinblick auf De fato zieht Lörcher ein geradezu vernichtendes Resümee: Zur Sache hat er [Cicero] in der vorliegenden Erörterung von sich aus nichts beigetragen und das, was er anderswoher hergenommen hat, schweift zumeist aus dem thematischen Bereich ab. […] Also, soweit er übersetzt hat, ist er zu loben,
_____________ 78
79 80
Lörcher (1907), 337(1) beschreibt die Aufgabe der Quellenforschung wie folgt: „Aetatis nostrae est de maximo quoque viro atque praecipue de scriptoribus illustrissimis id primum interrogare, utrum, quae ediderint, exquisiverint ipsi an aliunde sumpserint“. Siehe hierzu auch Harder (1971), 23–26. Diese Methodik war zu jener Zeit so dominant, daß der Begriff „Quellenforschung“ als Terminus technicus in andere Sprachen übernommen wurde. Vgl. z. B. Christensen (1962), 78 („Quellenkritik“); Douglas (1968), 29; Barnes (1985a), 229; (1989), 64; Donini (1989), 126 Anm. 7; Antonini (1994), 18; Mansfeld (1999a), 13–16. Siehe hierzu z. B. Harder (1971), 22f.; Boyancé (1973), 11–19; Schmid (1973), insbesondere 33–38; Schmidt (1978/79), 117f.; MancƷl (1982), 31–64; Haltenhoff (2000), 219 Anm. 1. Uri (1914), 3 mit Anm. 1.
48
VI. Vorbemerkungen zu De fato
soweit er selbst versucht hat, nach seinem eigenen Dafürhalten die Abfolge der Quelle zu ändern, ist er zu tadeln, weil es nicht dienlich ist, ja im Gegenteil, er hat den Argumentationsgang des Autors verdorben.81
Die Vorgehensweise der Quellenforschung ist grundsätzlich mit zwei Problemen behaftet. Zum einen sind die von der Quellenforschung angelegten Maßstäbe verschwommen, da unklar bleibt, was genau unter einer „Quelle“ zu verstehen ist. Kann nur dann von einer solchen gesprochen werden, wenn es sich um eine Übersetzung oder zumindest um eine Paraphrase eines fremden Textes handelt, oder auch dann schon, wenn ein Schriftsteller früher Gelesenes später verarbeitet hat? Zum anderen wird der Text selbst aus der Quellenperspektive in der Weise betrachtet, daß er Vorurteilen ausgesetzt ist, noch bevor der Versuch unternommen wird, sich ihm als solchem zu widmen. Durch diese Herangehensweise ist die Gefahr gegeben, daß die literarische Leistung und die Intention des Autors eine zu geringe oder überhaupt keine Beachtung findet.82 Auch wenn Ciceros philosophische Werke in der heutigen Forschung nicht mehr unter dem primären Aspekt der Quellenfrage behandelt werden, ist diese doch von Interesse geblieben und immer wieder diskutiert worden.83 Im folgenden Abschnitt soll die Quellenfrage im Hinblick auf De fato besonders unter Berücksichtigung der philosophischen Implikationen des Textes selbst behandelt werden. Da nun weder im Text von De fato noch an anderer Stelle ein zuverlässiger Hinweis gefunden werden kann, in welchem Maße Cicero bestimmten Quellen gefolgt sein könnte, werden viele Namen und Varianten in der Sekundärliteratur diskutiert. _____________ 81
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Lörcher (1907), 383(47): „Ad rem de suo nihil attulit in disputatione nostra et ea, quae aliunde adsumpsit, plerumque extra rem digrediuntur“. S. 384(48): „Ergo quantum convertit, laudandus, quantum ipse conatus est suo arbitrio fontis ordinem mutare, reprehendendus est, quoniam nihil proficit, immo corrupit argumentationem auctoris“. Vgl. S. 370(34): „constat igitur […] disputationem Antiochi tres habuisse partes: quas restituere conati sumus et, quantum fieri potuit, a Ciceronis interpolationibus, ut ita dicam, purgare et ostendimus, quae qua ratione mutavisset aut corrupisset“. S. 375(39): „D e f o n t e demonstravimus librum A n t i o c h i Ciceronem secutum esse, atque ita, ut non solum singula argumenta inde sumeret, sed universam describeret argumentationem ordine totius disputationis servato“. Vgl. S. 337(1)–339(3). Yon (1950), XVII urteilt, daß es sich bei der Komposition von De fato um ein Plagiat griechischer Autoren handle. Zur Auseinandersetzung mit der Quellenforschung siehe Reinhardt (1921), 208; Boyancé (1936), 288–293; Gawlick (1956), 1 Anm. 4; Douglas (1968), 28–30; Harder (1971), 23–26; Barnes (1985a), 229f.; Antonini (1994), 17–19; Bleich-Schade (1996), 29–31; Dyck (1996), 18–21; Mansfeld (1999a), 13–16, der resümiert: „So Quellenforschung, even when done properly, may remain somewhat inexact“ (S. 16). Steinmetz (1989), 18 betont, daß jede Quellenanalyse „Wesen, Art und Intention jeder einzelnen philosophischen Schrift Ciceros beachten“ müsse. Insbesondere sei darauf zu achten, in welcher Rolle Cicero selbst, ob als Berichterstatter, Kritiker oder eigenständiger Philosoph, auftrete. Zuletzt Szekeres (1995).
VI.6. Die Quellen
49
a. Antiochos von Askalon Den größten Zuspruch als mögliche Quelle für De fato hat der Neuakademiker Antiochos aus dem südöstlichen Askalon (heute Süd-Israel) erfahren. Sein Geburtsjahr ist nicht genau zu bestimmen, es wird zwischen den Jahren 140 und 125 vermutet. Er starb etwa 69/68.84 Als Schuloberhaupt vollzog Antiochos den Wandel von der skeptischen zurück zur dogmatischen Ausrichtung der Akademie und läutete damit die Phase der ‚fünften Akademie‘ ein (siehe V.4.). Mit den Lehren des Antiochos war Cicero sehr vertraut, da er selbst dessen Vorlesungen zuerst im Jahre 88 in Rom, später noch einmal im Jahre 79 in Athen besuchte.85 Allerdings sind weder Originalschriften des Antiochos überliefert, noch sind Umfang oder Inhalt seiner philosophischen Werke ausreichend bekannt, so daß seine Lehren aus den Berichten anderer antiker Autoren rekonstruiert werden müssen.86 Als gesicherte Quelle wird nach dem jetzigen Forschungsstand gerade Cicero87 und in wesentlich bescheidenerem Maße Sextus Empiricus88 angesehen. Weitere Zuordnungen sind mit großer Unsicherheit verbunden und unterliegen einer kontroversen Diskussion.89 Antiochos trat bereits in früher Jugend der Neuen Akademie unter Philon von Larissa bei, dessen Schüler er für sehr lange Zeit blieb. Auch soll er die Vorlesungen des Stoikers Mnesarchos, eines Schülers des Panaitios, gehört haben, dessen Lehren einen nicht geringen Einfluß auf ihn ausübten.90 Nach einem langen Studium wuchs seine Unzufriedenheit über die skeptische Haltung und philosophische Entwicklung der Neuen _____________ 84 85 86
87 88
89 90
Zur Vita siehe Lueder (1940), 1–7; Luck (1953), 13–20; Görler (1994), 939–945. Vgl. Cicero, Brut. 315; Plutarch, Cic. IV.1. Nur die Titel dreier Bücher sind in den antiken Quellen überliefert worden: Sosos, eine gegen Philon gerichtete Schrift (Cicero, Ac. II, 12), ƵNjǗǙǗǓǔɏ (SE AM VII, 202) und ƻǏǛʈ ǒǏʸǗ (Plutarch, Luc. XXVIII.7). Ciceros Äußerungen in Tusc. III, 59; V, 22 und nat. I, 16 mögen Hinweise auf weitere Bücher sein. Ob sich Antiochos in dem wohl kurz vor seinem Tode verfaßten Buch ƻǏǛʈ ǒǏʸǗ auch mit dem Fatalismus auseinandergesetzt hat, ist höchst unsicher und durch keinerlei Belege zu stützen. Zu Antiochos’ Schriften siehe ausführlich Luck (1953), 13–20; Mette (1986/87), 56–58; Barnes (1989), 62–64; Görler (1994), 945–947. De finibus Buch V (in den Grundzügen vielleicht auch Buch IV), Academica Priora (Lucullus) §§ 11–60 und Academica Posteriora §§ 15–42. Nur in SE AM VII, 162 (SVF II, 63; LS 70A; FDS 330; Luck (1953), fr. 65) und 201f. (Luck (1953), fr. 66) wird explizit Bezug auf Antiochos genommen. Tarrant (1985), 89–114 sieht in Antiochos die Vorlage für den gesamten Passus AM VII, 89–260. Siehe hierzu auch seinen Aufsatz „Agreement and the Self-Evident in Philo of Larissa“, in: Dionysius 5 (1981), 66–97, insbesondere 78–83. Zur Kritik an Tarrants These siehe Barnes (1989), 64f. Zu den Zuweisungsversuchen siehe Lueder (1940), 8–18; Witt (1971), 29–41; Mette (1986/87), 27–29; Barnes (1989), 64–68; Kristeller (1993), 144–148. Vgl. Lueder (1940), 2; Luck (1953), 13–15; Glucker (1978), 14 Anm. 4, 28 mit Anm. 52.
50
VI. Vorbemerkungen zu De fato
Akademie. Dies führte zu einem tiefen Zerwürfnis mit Philon und schließlich zu einem öffentlichen Bruch mit der Akademie. Die Neue Akademie mit ihrer skeptischen Ausrichtung, so der grundsätzliche Vorwurf des Antiochos, breche mit der Tradition der alten, dogmatischen Akademie,91 zu der man zurückkehren müsse.92 In seinen Augen sei grundsätzlich nur den veteres, den alten, dogmatischen Philosophen (ɒǛǡNjʏǙǓ), zu folgen.93 Diese Forderung ist allgemein zu verstehen, denn Antiochos berücksichtigte bei seiner Wertschätzung der alten, dogmatischen Philosophen nicht sonderlich ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schule. Im Gegenteil, es war sein großes Anliegen zu zeigen, daß die einzelnen Schulen nicht philosophische Rivalen, sondern der Sache nach vielmehr Verbündete gewesen seien. So glaubte er, daß sich stoisches Gedankengut bereits bei Platon finde, da die Stoa selbst die philosophische Lehre von den alten Akademikern übernommen habe.94 Die stoische Philosophie sei, so referiert Cicero dessen Standpunkt, weniger eine neue Lehre als vielmehr eine ‚Korrektur‘ der altakademischen Philosophie.95 Darüber hinaus war Antiochos überzeugt, daß die Stoiker in der Sache jedenfalls mit den Peripatetikern übereinstimmten und sich nur den Worten nach von diesen unterschieden,96 so daß es faktisch auch keinen Unterschied zwischen Akademikern und Peripatetikern gebe.97 Nach Antiochos’ Auffassung soll es also letztlich keine drei verschiedenen, untereinander rivalisierenden Schulen, sondern nur eine gemeinsame altdogmatische Philosophie gegeben haben.98 Ebendieser antiocheische Synkretismus stellt die Basis für das Hauptargument dar, daß Cicero bei der Abfassung von De fato auf Antiochos als Quelle zurückgegriffen habe. Die Protagonisten dieser Annahme stützen _____________ 91
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98
Vgl. Ac. II, 15: ¢ut² in optuma re publica Tib. Gracchus, qui otium perturbaret, sic Arcesilas, qui constitutam philosophiam everteret. Philon dagegen sah die Einheit gewahrt und Antiochos wiederum wurde des Bruches mit der Akademie bezichtigt (Ac. II, 69f.). Zu Philons Neuerungen, gegen die Antiochos so heftig anstritt, siehe z. B. Glucker (1978), 64–90; Barnes (1989), 68–76; Fladerer (1996), 80f. Vgl. Ac. I, 13 (LS 68B), Ac. II, 70. Vgl. Barnes (1989), 78. Vgl. Lueder (1940), 59f., 66f., 73f. Vgl. SE PH I, 235. Vgl. Gigon (1944), 62; Mette (1986/87), 58; Görler (1990), 123f. Vgl. Ac. I, 43 (FDS 253): […] ratio et Stoicorum. horum esse autem arbitror, ut Antiocho nostro familiari placebat, correctionem veteris Academiae potius quam aliquam novam diciplinam putandam. Vgl. Cicero, nat. I, 16: Antiocho enim Stoici cum Peripateticis re concinere videntur, verbis discrepare. Vgl. Ac. II, 15: Peripateticos et Academicos nominibus differentes, re congruentes, a quibus Stoici ipsi verbis magis quam sententiis dissenserunt; Ac. I, 17: Platonis autem auctoritate, […], una et consentiens duobus vocabulis philosophiae forma instituta est, Academicorum et Peripateticorum, qui rebus congruentes nominibus differebant; Ac. I, 18: nihil enim inter Peripateticos et illam veterem Academiam differebat; fin. V, 7: tamen audebo te ab hac Academia nova ad veterem illam vocare, in qua, ut dicere Antiochum audiebas, non ii soli numerantur, qui Academici vocantur, Speusippus, Xenocrates, Polemo, Crantor ceterique, sed etiam Peripatetici veteres. Vgl. Barnes (1989), 78–81 und die anschauliche Darstellung in Fladerer (1996), 43–46.
VI.6. Die Quellen
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sich letztlich auf Ciceros Worte verbis eos, non re dissidere in § 44.99 Ganz in der Art des Antiochos soll Cicero argumentiert haben, daß es zwischen Chrysipp und seinen Gegnern nur rein sprachliche, aber keine sachlichen Unterschiede gebe.100 Der Verweis auf De natura deorum soll diese Annahme stützen, da dort mit der Aussage Antiocho enim Stoici cum Peripateticis re concinere videntur, verbis discrepare 101 eine ähnliche Formulierung wie an besagter Stelle in De fato vorliege, in der sogar namentlich auf Antiochos Bezug genommen werde.102 Die Argumentation zugunsten des Antiochos als Gewährsmann von De fato muß nun notwendigerweise auf der Annahme basieren, daß die gesamte Untersuchung mit dem § 45 abgeschlossen ist und in der folgenden Lacuna keine weitere Bearbeitung des Themas, genauer, keine abschließende Kritik an der stoischen Lehre mehr erfolgt ist. Genau diese _____________ 99
Vgl. Gercke (1885), 693: „Certo CICERO in componendo de fato libello secutus est Antiochum Ascalonitam, id quod inde elucet, quia non solum inde a § 31 Carneadis auctoritas evocatur tamquam philosophi victoris sed etiam § 44 adversariorum sententiae ita comparantur aliaque alii accomodatur, ut conclusio fiat ‚verbis eos non re dissidere‘ “. Lörcher (1907) widmet seine ganze Schrift (vgl. (1913), 58; (1925), 102) dem Nachweis, daß Antiochos die Quelle sei (zu obigem Argument siehe insbesondere S. 366(30)–369(33)). Seiner Argumentation wird in den Rezensionen von Pohlenz (1910a) und Schmekel (1910), danach von Lueder (1940), 16 („wenig aussichtsvollen Versuch“) zu Recht widersprochen. Paolillo (1957), 20 vermutet, daß Cicero nicht völlig Antiochos gefolgt sei und einige schwierige Punkte übergangen habe. Er habe aber einen versöhnlichen Abschluß angestrebt, weil er eine gewisse Sympathie für die moralische Strenge der Stoa empfunden habe. Unter Berufung auf Lörcher urteilt Amand (1973), 66, 78 über die Quelle „Clitomaque ou plus vraisemblablement Antiochos d’Ascalon“. Dillon (1977), 85f. glaubt zwar, daß die von Cicero vorgelegte ‚positive Lehre‘ deutlich auf einer Ausarbeitung des ‚Voluntarismus des Karneades‘ beruhe, schließt sich im ganzen aber Yon an, der ebenfalls Antiochos als Quelle betrachtet. Der Gesamtduktus von De fato, so Baldassari (1985), 9, lasse zwar Klitomachos/Karneades als Quelle vermuten, aber die versöhnliche Tendenz (§§ 39–45) könne auf keinen Fall auf diesen zurückgeführt werden, so daß doch Antiochos als Quelle anzusehen sei. Janssen (1992), 22, 179 nimmt an, daß Cicero bedingt durch die eilige Abfassung von De fato auf Material zurückgegriffen habe, das er in den Vorlesungen des Antiochos mitgeschrieben habe. Vgl. ferner Hoyer (1898), 64f.; Bonhöffer (1909), 20f.; Kroll (1913/20), 418; van den Bruwaene (1937), 41 Anm. 1; Mattioli (1939/40), 184f.; Yon (1950), XLVf.; Hunt (1954), 14; Schmidt (1967), 500; Long (1971a), 194 Anm. 1; Witt (1971), 86 („some influence“); Ryan (1982), 106 mit Anm. 111; Magris (1994), 11f., 92 Anm. 83. 100 Vgl. Cicero, leg. I, 55; Ac. I, 43 (siehe o. S. 50 Anm. 95). 101 nat. I, 16. 102 Aber schon Pohlenz (1910a), 329 betont: „Wenn L. [Lörcher] dabei bei den Worten: facile intellectu est . . verbis eos non re dissidere (44) Antiochos leibhaftig vor sich zu sehen glaubt (S. 366), so wollen wir nicht vergessen, daß schon Karneades bei seiner systematischen Bekämpfung der anderen Schulen mehrere Gegner unter einen Hut zu bringen liebte“ und verweist auf fin. III, 41 (FDS 250): Carneades tuus egregia quadam exercitatione in dialecticis summaque eloquentia rem in summum discrimen adduxit, propterea quod pugnare non destitit in omni hac quaestione, quae de bonis et malis appelletur, non esse rerum Stoicis cum Peripateticis controversiam, sed nominum.
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VI. Vorbemerkungen zu De fato
Annahme scheint aber unter der Berücksichtigung sowohl der Indizien im überlieferten Text selbst als auch der Gesamtkomposition von De fato unwahrscheinlich zu sein (siehe VII.19.). Neben diesen Überlegungen spricht aber auch die Berücksichtigung der philosophischen Standpunkte, die für Antiochos aus den antiken Berichten rekonstruiert werden können, gegen den Versuch, ihn als ausschließliche Quelle für De fato anzusehen. Auch wenn Antiochos sich nach eigenem Bekunden der „alten Akademie“ verpflichtet fühlt, muß bei diesem Bekenntnis sein synkretistisches Philosophieren berücksichtigt werden. Was seine naturphilosophische Haltung anbelangt, urteilt Dillon, handle es sich um eine Mischung aus der platonischen und der stoischen Lehre, wobei Antiochos die immateriellen Entitäten Platons gänzlich ignoriere und so größere Gemeinsamkeiten mit der stoischen Lehre aufweise.103 Weiterhin vertritt Görler die Ansicht, daß die von Antiochos selbst als „akademisch-peripatetisch“ ausgegebene Naturauffassung faktisch mit der altstoischen Lehre übereinstimme. Zwar sei der Bericht Varros über die antiocheische Philosophie mit vielen platonischen Elementen und altakademischen Anspielungen versehen, aber diese seien nur „oberflächlich-demonstrativ aufgesetzt und als isolierte Farbtupfer mit der stoischen Physik ausnahmslos vereinbar“104. Auch das Referat Varros in den Academica Posteriora schreibt Antiochos eine Nähe zur stoischen Kosmologie zu:105 Gott in seiner absoluten Weisheit hat für die himmlischen und irdischen Dinge Vorsorge getroffen, auch für das, was sich auf den Bereich der Menschen erstreckt. Deshalb wird diese Vorsorge auch Notwendigkeit genannt, weil nichts anderes als der schicksalhafte und unveränderliche Fortgang der ewigen Ordnung geschehen kann.106 In diesen Zusammenhang mag auch die Bemerkung Ciceros in De natura deorum passen, daß Antiochos’ Vorstellung über die Götter grundsätzlich mit der der Stoiker übereinstimme.107 Weiterhin erwähnt Cicero _____________ 103 Vgl. Dillon (1977), 81–84. Vgl. Luck (1953), 46f.; Witt (1971), 70; Long (1974), 227. 104 Görler (1990), 127. Zur Auseinandersetzung mit Görler siehe Fladerer (1996), 40–43. 105 Vgl. Ac. I, 29: quam vim animum esse dicunt mundi eandemque esse mentem sapientiamque perfectam, quem deum appellant, omniumque rerum, quae sunt ei subiectae quasi prudentiam quandam procurantem caelestia maxime, deinde in terris ea, quae pertinent ad homines; quam interdum eandem necessitatem appellant, quia nihil aliter possit atque ab ea constitutum sit, interdum Äseriem causarumÔ quasi fatalem (Plasberg: interÄdumÔ * * quasi; Müller: constitutum sit, evenire, quasi fatalem) et immutabilem continuationem ordinis sempiterni, non numquam quidem eandem fortunam, quod efficiat multa improvisa ac necopinata nobis propter obscuritatem ignorationemque causarum. 106 Eine entsprechende Haltung kann Antiochos vor dem Hintergrund von De legibus (z. B. I, 22f. u. a.) zugesprochen werden, wenn man mit Dillon (1977), 80f. (vgl. Witt (1971), 29) die entsprechenden Passagen als zumindest „basically Antiochian“ betrachten kann. 107 Vgl. nat. I, 16 (siehe o. S. 50 Anm. 96). Vgl. Dillon (1977), 88f.; Görler (1994), 951. Die Bedeutung dieser Stelle ist allerdings unterschiedlich interpretiert worden, siehe hierzu Dillon (1977), 88f.; Görler (1994), 951; Fladerer (1996), 123; Leonhardt (1999), 65f. Anm. 219.
VI.6. Die Quellen
53
am Anfang von De divinatione, daß, abgesehen von Xenokrates und Epikur, alle Philosophen die Mantik anerkannt hätten, wenn auch auf unterschiedliche Weise.108 In den Academica Priora (Lucullus) ferner kritisiert Cicero in einem scharfen, gegen die antiocheische Philosophie gerichteten Ton den Glauben an die Mantik und das Fatum.109 All diese Hinweise deuten darauf hin, daß Antiochos vermutlich in Anlehnung an die Stoa von einer durch die göttliche Vorsehung eingerichteten Welt ausgeht und dabei die Mantik nicht ablehnt.110 Die Vorstellung aber eines durch die göttliche Vorsehung eingerichteten Weltgeschehens wird vom neuakademischen Standpunkt abgelehnt und die Möglichkeit der Mantik wird von Cicero eindeutig bestritten (siehe VI.6.e., VII.13.b.). Wie die Naturauffassung des Antiochos so scheint auch seine Erkenntnistheorie stoisch geprägt zu sein. Cicero verweist explizit darauf, daß Antiochos grundsätzlich nicht der platonischen Erkenntnistheorie auf dem Boden einer Zweiweltenlehre folge.111 Antiochos bezeichnet den _____________ 108 Vgl. div. I, 5 (FDS 462): Xenophanes unus, qui deos esse diceret, divinationem funditus sustulit; reliqui vero omnes, praeter Epicurum balbutientem de natura deorum, divinationem probaverunt, sed non uno modo. 109 Vgl. Ac. II, 126: nec enim divinationem, quam probatis, ullam esse arbitror, fatumque illud esse, quo omnia contineri dicitis, contemno; ne exaedificatum quidem hunc mundum divino consilio existimo. 110 Vgl. Dillon (1977), 89f. Witt (1971), 79 hält es nicht für ermittelbar, ob Antiochos eher, Poseidonios folgend, die Mantik akzeptierte, oder, Panaitios folgend, diese vielmehr kritisierte. Ob Antiochos im Zusammenhang mit der Mantik auch den Glauben an die Astrologie teilte, ist in keiner überlieferten Quelle bezeugt. Aufgrund seiner Herkunft aus dem Osten, überlegt Luck (1953), 19f., mag er eine gewisse Vorliebe für die dort verbreitete Astrologie empfunden haben. Auch mögen die stoischen Vorbilder ihn veranlaßt haben, diesen Glauben zumindest zu akzeptieren. Da Cicero aber kaum einen Seitenhieb (insbesondere in div. II, 87–99) auf einen blinden Glauben an die Astrologie ausgelassen hätte, so Luck weiter, sei es doch eher unwahrscheinlich, daß Antiochos einen solchen Glauben vertreten habe. Seine Ablehnung der Astrologie sei wahrscheinlich durch die Lehren des Panaitios motiviert. Strache (1923), 21f. nimmt an, daß Antiochos die kritische Haltung des Panaitios (siehe o. S. 25 Anm. 31) übernommen habe. Um diese Annahme zu stützen, möchte Strache gerade De fato zu Rate ziehen, „um ein genaueres Bild von der Anschauung des Antiochus vom Fatum zu gewinnen“, denn dort sei es Ciceros Ziel zu beweisen, daß die verschiedenen Lehren nur scheinbar auseinandergingen und eine Vermittlung zwischen Fatum und Zufall (ǞʡǡǑ), wie sie auch Panaitios angenommen habe, möglich sei. Strache geht bei seinen Überlegungen zum einen davon aus, daß De fato mit einer Versöhnung der Lehrmeinungen abschließt, was aber höchst unwahrscheinlich ist (siehe VII.19.), zum anderen unterstellt er Antiochos eine sehr starke Abhängigkeit von Panaitios. Dieser Annahme widersprechen bereits Pohlenz (1922) und Lueder (1940), 20f. Auf der Grundlage der für Antiochos anerkannten Quellen scheint sich letztlich eine größere Nähe zum orthodox-stoischen Gedankengut zu ergeben. 111 Vgl. Ac. II, 142f.: Plato autem omne iudicium veritatis veritatemque ipsam abductam ab opinionibus et a sensibus cogitationis ipsius et mentis esse voluit. num quid horum probat noster Antiochus? ille vero ne maiorum quidem suorum. Vgl. Pohlenz (1922), 183; Dillon (1977), 67–69, 104.
54
VI. Vorbemerkungen zu De fato
Verstand als einen Sinn112 und schließt sich der stoischen Lehre an, daß auf der Grundlage des ‚erfassenden Eindrucks‘ (ǠNjǗǞNjǝʇNj ǔNjǞNjǕǑǚǞǓǔɰ)113 eine sichere Erkenntnis möglich sei. Denn wenn man diese Lehre nicht anerkenne, so ist er überzeugt, müsse man zugestehen, daß gar nichts erkannt werden könne.114 Die für ein vollständiges ‚Erfassen‘ (comprehensio), d. h. für die sichere Erkenntnis, notwendige Zustimmung (ǝǟǍǔNjǞɏǒǏǝǓǜ, adsensio)115 sieht Antiochos ganz ‚bei uns‘ (ɫǠ’ ɲǖʏǗ, was Cicero mit in nostra potestate übersetzt116), in unserer Macht liegen.117 Antiochos scheint in seine Ethik, in die er ohnehin schon stoische Gedanken hatte einfließen lassen,118 ebenfalls eine stoisch geprägte Handlungstheorie aufgenommen zu haben.119 Vor diesem Hintergrund (und dem der kosmologischen Prämissen) muß angenommen werden, daß er, wie die Stoa auch, die menschliche Freiheit ebenfalls nur in einem schwachen Sinne versteht.120 Insofern kann eine solche Lehre, mit der lediglich eine schwache Freiheit konstituiert werden kann, kaum als philosophische Grundlage für De fato gedient haben, steht sie doch im Widerspruch zu der starken Freiheitskonzeption, die Cicero im ganzen Duktus seiner Abhandlung zu er_____________ 112 Vgl. Ac. II, 30 (LS 40N): mens enim ipsa, quae sensuum fons est atque etiam ipse sensus est, naturalem vim habet, quam intendit ad ea, quibus movetur. 113 Zur ǠNjǗǞNjǝʇNj ǔNjǞNjǕǑǚǞǓǔɰ siehe die Verweise auf S. 227 Anm. 448. 114 Vgl. Ac. II, 18 (teilw. LS 68U; FDS 352): ex quo efficitur nihil posse comprehendi […]; quam [i. e.: definitionem, quam Philo voluit evertere] nisi obtinemus, percipi nihil posse concedimus. Vgl. Couissin (1983), 54. Zur Erkenntnistheorie des Antiochos siehe Dillon (1977), 63–69; Tarrant (1985), 96–112; Barnes (1989), 83–85; Görler (1994), 952–955; Fladerer (1996), 55–100. 115 Vgl. Ac. II, 37 (SVF II, 115; LS 40O; FDS 363): nam cum vim, quae esset in sensibus, explicabamus, simul illud aperiebatur comprehendi multa et percipi sensibus, quod fieri sine adsensione non potest. 116 Vgl. Lueder (1940), 43 Anm. 21. 117 Daß Antiochos grundsätzlich die Annahme vertritt, daß etwas im Verfügungsbereich des menschlichen Willens liegt, geht aus Ciceros Darlegung hervor. In De finibus (V, 36) stellt er die Unterteilung der virtutes in zwei Arten dar: Zum einen gibt es virtutes, die ihrem Wesen nach eingeboren sind, so daß sie sich der willentlichen Verfügbarkeit entziehen (quae ingenerantur suapte natura appellanturque non voluntariae); zum anderen gibt es virtutes, die im Willen begründet liegen (quae in voluntate positae). Vgl. Lueder (1940), 43. Vgl. ferner Ac. II, 37 (SVF II, 115; LS 40O; FDS 363): quae [i. e. adsensio] est in nostra potestate sita. Schließlich findet sich in Lucullus’ Referat über die antiocheische Philosophie auch das bekannte ethische Argument (siehe VII.16.c.): Wo also bleibt die Tugend, wenn nichts in unserer Verfügungsgewalt liegt? (Ac. II, 39 (SVF II, 115; FDS 363): quod maximum est, ut sit aliquid in nostra potestate, in eo, qui rei nulli adsentietur, non erit. ubi igitur virtus, si nihil situm est in ipsis nobis?). 118 Zur Ethik des Antiochos siehe z. B. Luck (1953), 55–72; Long (1974), 224; Dillon (1977), 69–81; Barnes (1989), 86–89; Görler (1994), 955–965; Fladerer (1996), 137–188. Auch die peripatetische Ethik hatte Einfluß auf Antiochos, vgl. Luck (1953), 66; Douglas (1965), 145f.; (1968), 33; Barnes (1989), 87. 119 Vgl. Gilbert (1963), 22f.; Fladerer (1996), 94–100. 120 Vgl. Fladerer (1996), 96f., der resümiert, daß Antiochos nicht so sehr an einem „Nachweis der menschlichen Entscheidungsfreiheit“ gelegen sei, sondern vielmehr an einem Nachweis „der richtigen Reaktion auf Sinneseindrücke“. Vgl. Hamelin (1978), 4.
VI.6. Die Quellen
55
kennen gibt (§§ 9–11, 23–25, 31). Auch wenn die abschließende Kritik an der stoischen Position in der Lacuna C verloren gegangen zu sein scheint (siehe VII.19.), gibt Cicero bereits mit dem Kommentar delabitur in eas difficultates, ut necessitatem fati confirmet invitus (§ 39) zu erkennen, daß er die ganze Strategie der Stoiker für verfehlt hält. In der Philosophie galt das Hauptinteresse des Antiochos mehr der Ethik und der Erkenntnistheorie als der Logik.121 Er mag stolz auf die dialektischen Leistungen der skeptischen Akademie gewesen sein und sich auch ihrer Argumente bedient haben,122 dennoch scheint er nicht auf der Basis der (neu)akademischen Logik philosophiert zu haben. Cicero zählt ihn namentlich zusammen mit den Stoikern zu den ‚Dialektikern‘123 und berichtet ferner, daß sich Antiochos hinsichtlich der Logik weder seinen akademischen Vorgängern noch Aristoteles angeschlossen habe, sondern nur von Chrysipp ‚keinen fußbreit‘124 abgerückt sei.125 Wenn Ciceros Urteil den Tatsachen entspricht, dann muß angenommen werden, daß Antiochos mit der stoischen Logik auch den starken Wahrheitsbegriff übernommen hat. Daß Chrysipp jedenfalls auf der Basis des starken Wahrheitsbegriffs argumentiert, wird in De fato hinreichend deutlich. Es ist aber gerade dieser starke Wahrheitsbegriff, den Cicero mit unermüdlicher Vehemenz bekämpft und dem er den schwachen Wahrheitsbegriff entgegensetzt (siehe VII.7., VII.11.). Insbesondere dieser Umstand stellt ein starkes und bisher kaum beachtetes Argument gegen die Annahme dar, daß Antiochos als Quelle für De fato gedient haben könnte.126 _____________ 121 122 123 124
Vgl. Dillon (1977), 63, 69; Fladerer (1996), 137f. Vgl. Dillon (1977), 87, 103, mit dem Verweis auf Cicero, Ac. I, 5 und fin. V, 10. Vgl. Ac. II, 97 (SVF II, 219): dialectici […] id est Antiochus et Stoici. Vgl. Ac. II, 142f. (FDS 226): num quid horum probat noster Antiochus? ille vero ne maiorum quidem suorum. Ubi enim [et] Xenocraten sequitur, cuius libri sunt de ratione loquendi multi et multum probati, aut ipsum Aristotelem, quo profecto nihil est acutius, nihil politius; a Chrysippo pedem nusquam. Vgl. Schäublin (1995), 306 Anm. 471 und 472. 125 Dillon (1977), 103f. nimmt an, daß sich Antiochos für die „technical logic“ Chrysipp zugewandt habe, und urteilt „We may conclude, then, that Antiochus freely used the Chrysippan syllogistic to elucidate ‚Platonic‘ doctrine, and thus contributed the Stoic strand to the amalgam of Stoic and Aristotelian logic which we find prevalent in later Platonism“. Dillon betrachtet die Topica, die er auf Antiochos zurückgehen sieht, insgesamt als weiteres Indiz für die stoische Logik des Antiochos. Auch Witt (1971), 30, 66 hält die Darstellung in Top. 6–78 für antiocheisch, wobei aus Top. 54 (und aus fin. IV, 55, 68) Antiochos’ Präferenz für die stoischen Schlußverfahren deutlich werde. Barnes (1989), 82 mit Anm. 111, der gegen Dillon die Topica nicht als antiocheisch betrachtet, glaubt hingegen, daß Antiochos zwar die stoische, aber nicht die aristotelische Logik aufgenommen habe. Es ist allerdings für die hier angestellte Überlegung ohne Belang, ob Antiochos mehr der aristotelischen oder mehr der stoischen Logik folgte, da Aristoteles ebenso wie die Stoiker auf der Basis des starken Wahrheitsbegriffs gearbeitet haben (siehe hierzu Weidemann (2002), 223–328). 126 Siehe auch u. S. 68 Anm. 195.
56
VI. Vorbemerkungen zu De fato
Aufgrund der vorangegangenen Darlegungen ist es schließlich nachvollziehbar, wenn Cicero allgemein über Antiochos urteilt, daß er ein leibhaftiger Stoiker gewesen wäre, wenn er nur ein klein wenig in seiner Lehre geändert hätte.127 Es ist gewiß zu berücksichtigen, daß Cicero mit einer gewissen Ironie und um des philosophischen Disputes willen Antiochos in den Academici libri als Stoiker darstellt.128 Antiochos wurde jedenfalls als ein Academicus bezeichnet129 und wird sich trotz seines synkretistischen Philosophierens selbst auch als Akademiker gesehen haben, andernfalls hätte er die Akademie genausogut verlassen und der Stoa beitreten können.130 Aber selbst wenn Cicero bei seiner Darstellung im einzelnen polemisiert und übertrieben haben mag, so wird er die grundsätzliche Haltung des Antiochos durchaus getroffen haben, zumal eine entsprechende Beurteilung auch bei Sextus Empiricus überliefert ist, der Antiochos ebenfalls nachsagt, er habe die Stoa in die Akademie gebracht und philosophiere innerhalb dieser auf stoische Weise.131 Das „Albinos-Argument“ Auf ein weiteres mögliches Argument,132 das die Quellenfrage zugunsten des Antiochos entscheiden könnte, macht Strache aufmerksam, indem er auf eine Textstelle bei dem Mittelplatoniker Albinos (Didaskalikos XXVI) verweist. Dieser kämpfe „in ganz ähnlicher Weise wie Cicero“ in De fato gegen die „Ewigkeit der Ursachen“ an und verwende dabei dasselbe Beispiel von Laios und Oedipus, dessen sich Cicero bereits in § 33 bedient habe. Ferner ziehe Albinos „auch die Ansicht Diodor’s ǚǏǛʈ ǎǟǗNjǞʸǗ heran“, die er „für sich“ benutze, und schließlich nehme er „ebenfalls eine _____________ 127 Vgl. Ac. II, 132: qui [Antiochus] appellabatur Academicus; erat quidem, si perpauca mutavisset, germanissimus Stoicus. Vgl. auch Ac. II, 69: eadem dicit quae Stoici und II, 119 (SVF II, 92; FDS 382): quoniam Stoicus est. 128 Vgl. Ac. II, 137: sed ille noster est plane, ut supra dixi, Stoicus perpauca ÄAcademicaÔ balbutiens. 129 Vgl. Ac. II, 132. 130 Vgl. Tarrant (1985), 92: „Antiochus did not adhere to the Stoic system in such a way that he would abandon criticism of its details, nor would he have wished to join a school which was still officially opposed to Plato“. 131 Vgl. SE PH I, 235; Plutarch, Cic. IV.4. Weitere Verweise finden sich in Luck (1953), 85f. (fr. 52–fr. 58); Burkert (1965), 181 Anm. 19; Fladerer (1996), 40 Anm. 142. Vgl. Lueder (1940), 19f.; Paolillo (1957), 19; Witt (1971), 24f.; Gigon (1973), 235. 132 Es handelt sich um ein „mögliches Argument“, da Strache es „bei der sachlichen Übereinstimmung zwischen Panaetius und Antiochus“ für „außerordentlich schwer“ hält, in der Quellenfrage „eine sichere Entscheidung zu treffen“. Jedenfalls beweise die von ihm angeführte Albinos-Stelle, „daß Antiochus de fato in einer mit der ciceronianischen Darstellung stark übereinstimmenden Weise gehandelt hat“ (S. 22 Anm. 2).
VI.6. Die Quellen
57
vermittelnde Stellung ein“.133 Da Strache das fragliche Argument nicht explizit ausformuliert, bedarf es einer kurzen Erläuterung. Antiochos soll bei seinem Aufenthalt in Alexandria einen Schülerkreis hinterlassen haben, aus dem namentlich Eudoros und Areios Didymos hervorgegangen seien. Die Lehren des Antiochos aufgenommen und weitergetragen habe insbesondere Areios Didymos,134 von dem wiederum Albinos, der angenommene Autor des Didaskalikos, fast vollständig abhängen soll. So hat Strache offenbar folgenden Schluß vor Augen: Da im Didaskalikos und in De fato inhaltliche Übereinstimmungen zu finden sind und Albinos das gleiche Beispiel verwendet wie Cicero, kann aufgrund der angenommenen starken Abhängigkeit des Albinos von Areios Didymos und so von Antiochos vermutet werden,135 daß Cicero seinerseits auch auf Material des Antiochos zurückgegriffen habe. Dieses mögliche Argument basiert auf Prämissen seiner Zeit. Unter dem Namen Albinos 136 ist eine mit Prologos betitelte Schrift überliefert (ǩǕnjʇǗǙǟ ƻǛʗǕǙǍǙǜ), die eine Einleitung zu einem größeren Werk über die platonischen Lehren darstellt. Daneben ist unter dem Namen Alkinoos 137 die bereits erwähnte Schrift Didaskalikos erhalten geblieben (ǩǕǔǓǗʗǙǟ ƯǓǎNjǝǔNjǕǓǔʗǜ). Basierend auf den maßgeblichen Ausführungen Freudenthals, der darzulegen versuchte, daß der Name ǩǕǔʇǗǙǙǜ eine fehlerhafte Überlieferung des Namens ǩǕnjʏǗǙǜ darstelle,138 sind die beiden Philosophen allgemein miteinander identifiziert und so beide Werke unter dem Namen Albinos geführt worden. Auch wenn die These Freudenthals bereits zu ihrer Zeit nicht ohne Widerspruch blieb,139 stellte sie doch lange Zeit die vorherrschende Lehrmeinung dar. In der gegenwärtigen Forschung aber wird diese Auffassung allgemein abgelehnt140 und nur noch _____________ 133 134 135 136 137
138 139 140
Vgl. Strache (1921), 23 Anm. 2; Pini (1969), 487. Zur Identität des Areios Didymos siehe Göransson (1995), 203–218; Baltes (1996), 108f. Vgl. Strache (1921), 23 Anm. 2. Albinos wirkte etwa um 150 n. Chr. in Smyrna und war ein Schüler des bekannten Mittelplatonisten Gaius, dessen Vorlesungen er edierte. Vgl. Witt (1971), 106f.; Göransson (1995), 34–41; Baltes (1996), 92; Gombocz (1997), 77f.; Reis (1999), 18–26. Alkinoos ist historisch nicht weiter faßbar (zu seiner möglichen Identität siehe Witt (1971), 104–106; Whittaker (1990), IX–XII; Dillon (1993), xi–xiii; Göransson (1995), 132–136; Baltes (1996), 104). Gombocz (1997), 77 nimmt an, daß er ein bis zwei Generationen früher als Albinos gelebt habe. Göransson (1995), 133 vermutet seine Lebenszeit zwischen dem 1. Jh. n. Chr. und dem beginnenden Neuplatonismus. Baltes (1996), 111 ordnet den Didaskalikos geistesgeschichtlich in die Zeit des Gaios, Albinos und Tauros ein. Vgl. J. Freudenthal, Der Platoniker Albinos und der falsche Alkinoos. Hellenistische Studien III. Berlin 1879. Witt (1971), 106–111 schließt sich Freudenthal an. Vgl. Witt (1971), 108; Göransson (1995), 18 Anm. 2. Vgl. Whittaker (1990), VIIIf.; Dillon (1993), xi; Göransson (1995), 13–23, 129–132; Baltes (1996), 96; Gombocz (1997), 77–79; Reis (1999), 9f.
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VI. Vorbemerkungen zu De fato
von sehr wenigen vertreten,141 so daß der Didaskalikos wieder dem überlieferten Verfasser Alkinoos zugeschrieben wird.142 Schon dieser Umstand entzieht dem Argument Straches den Boden. Die „Einquellenhypothese“, daß der Didaskalikos maßgeblich von Areios Didymos abhänge,143 wurde ebenfalls lange Zeit vertreten, gilt aber nunmehr als unhaltbar144.145 Mit der Frage, ob Antiochos eine Schule in Alexandria gegründet hat, setzt sich Glucker umfassend auseinander. Aufgrund seiner Kenntnisse der östlichen Mentalität begleitete Antiochos im Dienste des Lucullus einen Feldzug in den Osten, dessen vordringliches Ziel es war, für Rom Verbündete im Kampf gegen Mithridates zu gewinnen. Ein Ort dieser Bemühungen war Alexandria. Glucker vermutet, daß zum einen der Aufenthalt sich dort nur über einen kurzen Zeitraum erstreckt habe und daß zum anderen Antiochos in dieser Zeit für Lucullus nicht abkömmlich gewesen sei. Daher hält Glucker es auch für sehr unwahrscheinlich, daß Antiochos überhaupt die Gelegenheit gehabt habe, sich einer ausgiebigen Lehrtätigkeit oder gar einer Schulgründung zu widmen. Weiterhin zeige die bei Cicero beschriebene Szenerie146 weniger eine öffentliche Lehrveranstaltung des Antiochos, als vielmehr einen internen Disput innerhalb eines Zirkels von Akademikern, früheren Gefolgsleuten aus Athen, die während der Bedrohung durch den Mithridatischen Krieg nach Alexandria geflohen seien. Letztlich gebe es keinen Hinweis dafür, daß Antiochos in Alexandria eine Schule gegründet und eigene Schüler hinterlassen habe.147 Die starke Abhängigkeit des Areios Didymos von Antiochos, die Strache in seiner Dissertation nachzuweisen versucht hat,148 ist bereits zu sei_____________ 141 Vgl. Göransson (1995), 19: „By now the Albiniani seem to be easily counted“. 142 Der Didaskalikos ist zuletzt von J. Whittaker (Enseignement des doctrines de Platon. Paris ²2002) mit Alcinoos als Autor veröffentlicht worden. 143 Nach Göransson (1995), 14 geht diese These maßgeblich auf H. Diels (Doxographi Graeci. Berlin 1879 u. ö., S. 76) zurück. Vgl. z. B. Witt (1971), 103, 144. 144 Vgl. Göransson (1995), 182–202; Baltes (1996), 108f. 145 Göransson (1995) kommt in seiner ausführlichen Untersuchung zu dem Ergebnis, daß der Didaskalikos eine ‚Kompilation aus vielen verschiedenen Quellen‘ (S. 25) darstelle (vgl. S. 105–136, insbesondere 129–132). Baltes (1996), 103f., 109f. widerspricht diesem Ergebnis entschieden. 146 Vgl. Ac. II, 11f. 147 Vgl. Glucker (1978), 90–97; Görler (1994), 943. Witt (1971), 25, 144 geht zwar unter Berufung auf F. Susemihl (Geschichte der griechischen Litteratur in der Alexandrinerzeit. Leipzig 1891– 1892, Nachdr. Hildesheim 1965. Bd. II, S. 295: „So kurz auch allem Anscheine nach die Wirksamkeit des Antiochos in Alexandreia war, so hatte er dennoch sich rasch dort […] Anhänger erworben und hinterliess daselbst eine blühende Schule“) von einer ‚Gruppe von Anhängern‘ aus, die Antiochos in Alexandria zurückgelassen habe, betont aber: „it is somewhat misleading to say that the author of the Didaskalikos is closely connected with the Alexandrian school of thought“. 148 Vgl. H. Strache, De Arii Didymi in morali philosophia auctoribus. Berlin 1909.
VI.6. Die Quellen
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ner Zeit kritisiert worden, da seine These auf unsicherem und zu großzügig interpretiertem Material beruhe.149 Schließlich sei noch der Blick auf den knappen Text des Didaskalikos XXVI gerichtet. An dieser Stelle setzt sich Alkinoos mit dem Fatalismus auseinander, indem er drei Argumente gegen die ǏʉǖNjǛǖɨǗǑ anführt: Alle Dinge befinden sich zwar innerhalb des Fatums (ɫǗ ǏʉǖNjǛǖɨǗʃ), aber nicht alle Dinge geschehen dem Fatum gemäß (ǔNjǒǏǓǖɏǛǒNjǓ, ǔNjǒ’ ǏʉǖNjǛǖɨǗǑǗ). Das Fatum wird als ein ‚hypothetisches Gesetz‘ interpretiert. Es zwingt eine Person nicht zu einer bestimmten Handlung, denn erst wenn die Person eine freie und von außen nicht beeinflußte Entscheidung getroffen hat, sind die weiteren Abläufe determiniert und geschehen mit Notwendigkeit.150 Das ethische Argument wird angeführt: Wenn alles durch das Fatum geschieht, ist der freie Wille und damit die Verantwortlichkeit aufgehoben, so daß Lob und Tadel nicht gerechtfertigt sind.151 Nach Dillon stellen die ersten beiden Argumente bloße Standardlehren des Mittelplatonismus in der Auseinandersetzung mit dem Fatalismus und der Willensfreiheit dar. Das dritte Argument sei seit Aristoteles bekannt und seitdem oft angeführt worden.152 Daher kommt Dillon zu dem Schluß, daß keine charakteristischen Elemente zu finden seien, aus denen eine Anlehnung an eine bestimmte Vorlage oder Lehre abgeleitet werden könne, so daß Albinos’ Darstellung nur „the bare bones of a theory which may probably be regarded as the basic Middle-Platonic one“153 aufweise.154 Das Beispiel von Laios und Oedipus, auf das Strache verweist, stammt aus einer Tragödie des Euripides (Phoenissae 19) und geht sehr wahrscheinlich auf Chrysipp selbst zurück; dies lassen auch Ciceros einleitende Worte haec ratio a Chrysippo reprehenditur bei der Behandlung der ignava ratio annehmen (§§ 28–30).155 Wie andere Beispiele wird auch dieses von allen _____________ 149 Vgl. Pohlenz (1911); Witt (1971), 95. 150 Das Fatum gibt bestimmte Wahlmöglichkeiten vor und bestimmt die Gesetzmäßigkeit der folgenden Abläufe, so daß nach der Wahl einer bestimmten Möglichkeit (m) die Konsequenz (k) mit Notwendigkeit folgt. Das Fatum determiniert somit nicht jede einzelne Entscheidung oder Handlung, sondern nur die Konsequenz in Verbindung mit einer bestimmten gewählten Möglichkeit, Entscheidung oder Handlung, also z. B. die Konditionalpaare (m1 o k1), (m2 o k2) oder (m3 o k3) usw. 151 Zum ethischen Argument siehe ausführlich VII.16.c. 152 Siehe u. S. 229 Anm. 460. 153 Dillon (1993), 160; vgl. (1977), 295. 154 Vgl. Dillon (1977), 294–298; (1993), 160–164. Zur Stelle siehe auch Witt (1971), 86f. 155 Vgl. Stegemann (1939), 182; Sharples (1978), 246; insbesondere Barnes (1985a); Whittaker (1990), 134 Anm. 421; Dillon (1993), 162.
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VI. Vorbemerkungen zu De fato
Schulen gleichermaßen benutzt worden sein und hatte zu Zeiten des Alkinoos bereits eine lange Tradition hinter sich. So findet es sich nicht nur bei Cicero, der es in unterschiedlicher Weise in § 30 und § 33 benutzt, sondern auch z. B. bei Alexander von Aphrodisias ( fat. XXXI) und bei Chalcidius (In Tim. 153).156 Letztlich muß festgestellt werden, daß das mögliche Argument Straches, das auf der angenommenen starken Abhängigkeit von Antiochos, Areios Didymos und Albinos basiert, auf zum Teil sehr zweifelhaften Prämissen beruht und in keiner Hinsicht eindeutige Rückschlüsse auf die Quelle ermöglicht. b. Poseidonios Meinecke sieht in Poseidonios eine mögliche Quelle für De fato. Die Beispiele für die Sympathie ließen im allgemeinen darauf schließen, vor allem aber die Darstellung des Fabius-Arguments in den Paragraphen 11–14.157 Da nach Meineckes Interpretation in diesen Paragraphen die Mantik akzeptiert wird, könne es sich nicht um eine akademische, sondern nur um eine stoische Quelle handeln.158 Aufgrund der Tatsache aber, daß Panaitios die Mantik abgelehnt habe, komme als stoische Vorlage nur Poseidonios in Frage, dem Cicero, so lautet Meineckes Fazit, abgesehen von den Paragraphen 27–28, 33–35, insgesamt als einziger Quelle folge.159 Der Annahme, Cicero akzeptiere die Mantik, widersprechen schon allein die Paragraphen § 32–33, in denen Cicero sich deutlich gegen die Existenz der Mantik ausspricht. Vor allem aber scheint Meinecke die Intention außer acht zu lassen, mit der Cicero das Fabius-Argument gegen Chrysipp vorbringt. Cicero will den Stoikern einen Widerspruch zwischen ihrem eigenen Möglichkeitsbegriff und der Akzeptanz des Fatums sowie der Mantik nachweisen (siehe VII.5.). Daher ist es einleuchtend, ja geradezu unerläßlich, daß Cicero sich in seiner Argumentation auf eine Voraussetzung wie die Akzeptanz der Mantik stützt, die ganz im stoischen Sinne ist, da andernfalls der angestrebte Argumentationsgang kaum stichhaltig wäre. Das Argument ist gegen die Stoiker gerichtet, so daß auch aus dieser Perspektive kaum eine stoische Quelle anzunehmen ist. Vielmehr läßt die _____________ 156 Vgl. Sharples (1978), 245–248; (1991), 180. 157 Szekeres (1991), 48 Anm. 11 vermutet, daß Cicero an der vorliegenden Stelle einer stoischen Quelle, vielleicht Poseidonios, folge. 158 Vgl. Meinecke (1887), 8: „Nunc autem si in libello de fato componendo Academico auctore nixus esset, divinationem prorsus improbare debuit. Itaque cum Stoici eam comprobarent, e Stoico fonte Cicero hauserit necesse est“. 159 Vgl. Meinecke (1887), 13f.
VI.6. Die Quellen
61
Subtilität des ganzen Argumentationsverlaufs in den Paragraphen 11–14 einen neuakademischen Hintergrund vermuten. c. Panaitios Als Quelle für De fato hält MacKendrick auch Panaitios für möglich, da Cicero dessen Schriften bereits für die Abfassung von De divinatione II zur Hand genommen habe. Auch die Anspielung auf Scipio (§ 13) und seine mehrfache namentliche Erwähnung (§§ 17, 18, 27) könnten weiterhin auf Panaitios deuten. Beide Männer seien eng befreundet gewesen.160 Zweifellos habe Cicero sich auch der skeptischen Kritik des Karneades bedient, um gegen die stoische Lehre zu argumentieren. „But, as usual, the essential treatment is Cicero’s own“, urteilt MacKendrick abschließend. Diese Tatsache sei durch die zahlreichen Beispiele aus dem römischen Umfeld offensichtlich.161 d. Chrysipp Barnes hält die bisherige Behandlung der Quellenfrage unter den Vorgaben der Quellenforschung für verfehlt (s. o.), so daß die Frage nach einer Quelle auf eine andere Weise angegangen werde müsse. Der Ausgangspunkt dazu bietet sich ihm in Ciceros Behandlung des Untätigkeitsarguments (ɒǛǍʘǜ ǕʗǍǙǜ) in den Paragraphen §§ 28–30, dessen Darstellung sich auch bei Origenes (185–254)162 findet. Auffällig sei, so Barnes, daß sich die beiden Darstellungen wie eine wörtliche Übersetzung zueinander verhielten. Da Barnes die Darstellung des Origenes vollständiger und geschlossener erscheint, nimmt er an, daß Origenes auf eine direkt überlieferte Textpassage aus Chrysipps Schrift ‚Über das Schicksal‘ (ƻǏǛʈ ǏʉǖNjǛǖɨǗǑǜ) zurückgreifen konnte. Weiterhin geht Barnes davon aus, daß Cicero durch seine frühen Studien in der Philosophie so umfassend versiert gewesen sei und durch die rhetorischen Übungen über ein so gutes Gedächtnis verfügt habe, daß er es gar nicht nötig gehabt habe, sich als einfallsloser Übersetzer zu betätigen, der nur von einer einzigen Quelle abschreibe; und es gebe keinen Grund, warum diese generellen Einsichten nicht auch auf De fato zutreffen _____________ 160 Vgl. Schmekel (1892), 440; Barth-Goedeckemeyer (1946), 128. Zu Ciceros zahlreichen Anspielungen auf Scipio siehe Werner (1950). 161 Vgl. MacKendrick (1989), 202. 162 Vgl. Origenes, Contra Celsum II, 20 (SVF II, 957; FDS 1005).
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VI. Vorbemerkungen zu De fato
sollten. Barnes resümiert, daß es sich bei De fato um Ciceros eigenes Werk handle, in dem er seine eigenen philosophischen Gedanken zum Ausdruck bringe. Nur bei der Darstellung des ɒǛǍʘǜ ǕʗǍǙǜ habe er ein Zitat eines großen Philosophen in Form einer wörtlichen Übersetzung einfließen lassen. Für diese Passage stelle Chrysipp tatsächlich „in the precise sense“163 eine Quelle dar.164 e. Karneades Mit Karneades (über Klitomachos, siehe V.4.) ist auch eine neuakademisch-skeptische Quelle als Vorlage für De fato angenommen worden.165 Allgemein läßt sich feststellen, daß Cicero zeit seines Lebens der akademischen Philosophie nahestand. Dieses Bekenntnis zur Akademie wird unterschiedlich interpretiert. Es wird die Meinung vertreten, daß Cicero seinen philosophischen Standpunkt im Laufe seiner Schaffenszeit zweimal geändert habe. Während er in seiner Jugend durch die Vorlesungen Philons von Larissa stark von der skeptischen Haltung beeindruckt gewesen sei, habe er sich in den großen Schriften der fünfziger Jahre (De oratore, De legibus, De re publica) doch der dogmatischen Ausrichtung der Akademie, insbesondere der synkretistischen Philosophie und den positiven Lehren _____________ 163 Barnes (1985a), 235. 164 Vgl. Barnes (1985a). 165 Thiaucourt (1885), 280 sieht in Klitomachos die Quelle, da Cicero dessen Schriften auch schon für De natura deorum und De divinatione herangezogen habe. Stüve (1895), 14f., 56 nimmt an, daß Cicero auf eine neuakademische Quelle zurückgegriffen habe, jedoch nicht auf eine zusammenhängende, da das, was er in den §§ 20–33 dargelegt habe, in der Vorlage des Klitomachos vor dem gestanden habe, was er in den §§ 1–20 geschrieben habe. Die §§ 20–33 seien nämlich gegen das erste, die §§ 1–20 gegen das zweite Buch aus Chrysipps Schrift ƻǏǛʈ ǏʉǖNjǛǖɨǗǑǜ gerichtet. Für die §§ 41–45 sei eher Antiochos als Quelle anzunehmen. Appuhn (1937), 256 sieht in den Büchern des Klitomachos die Hauptquelle für De fato, wobei die Möglickeit aber groß sei, daß Cicero sich bei einigen Kapiteln von Antiochos habe inspirieren lassen. Hamelin (1978), 2, 7 nimmt für das Hauptstück von De fato eine einzige Quelle aus der ‚Schule des Karneades‘ an, sieht dadurch Gerckes These (siehe o. S. 51 Anm. 99) aber nicht widerlegt. Die Art, in der Cicero über Epikurs clinamen spreche (§§ 46–48), erinnere an die Widerlegung in De finibus und De natura deorum, bei deren Abfassung er von Panaitios und Poseidonios inspiriert worden sei. Die Bücher der beiden habe Cicero aber nicht mehr vor Augen gehabt, so daß er aus seiner Erinnerung heraus habe schreiben müssen. Donini (1989), 142f. hält die angebliche Übereinstimmung der Lehrmeinungen nur für eine „provvisoria conciliazione“, die in der verlorengegangenen Kritik wieder aufgehoben worden sei. Da die Paragraphen 46–48 vom Standpunkt der Paragraphen 23–25 aus geschrieben seien, könne De fato insgesamt nur auf Karneades zurückgehen. Vgl. Schmekel (1892), 165–184; (1910), 2010; Wendland (1892), 37; RE (X,2) Karneades, 1972; Philippson (1934), 1038; (RE), 1162; Pohlenz (1940), 106; Weische (1961), 28; Eisenberger (1979), 170; Kristeller (1993), 89; Antonini (1994), 20; Rawson (1994), 245.
VI.6. Die Quellen
63
des Antiochos, zugeneigt.166 Dann aber, in seiner letzten Schaffensperiode Mitte der vierziger Jahre (Hortensius, Academici libri, De finibus, Tusculanae disputationes, De natura deorum, De divinatione, De fato), habe er sich wieder enger an die skeptische Richtung der Akademie angeschlossen.167 Gegen diese Annahme wird der Einwand erhoben, daß der vermutete Wechsel zwischen den Standpunkten „weit über den Befund in Ciceros Schriften“168 hinausgehe. Zwei Konstanten gebe es bei Cicero: „die skeptische Grundhaltung und die platonisch-antiocheischen ‚Dogmen‘“169. Zwischen diesen Konstanten sei nur eine „Akzentverschiebung“170, aber keine Änderung des Standpunktes spürbar; vielmehr sei der Unterschied zwischen Skepsis und Dogmatik bei Cicero nicht sehr ausgeprägt, so daß er in philosophischer Hinsicht „innerhalb einer sozusagen legitimen Bandbreite“171 bleibe.172 Zweifellos zeugen gerade Ciceros späte Schriften von einer stärkeren Affinität zur skeptischen Richtung der Akademie. In geradezu vorwurfsvollem Ton läßt er Varro in den Academica Posteriora sagen, daß er, Cicero, das ‚alte Haus‘ (die dogmatische Richtung) verlassen habe und sich nun mit dem ‚neuen‘ (der skeptischen Richtung) beschäftige.173 Im Vorwort zum zweiten Buch von De divinatione erklärt Cicero dann, daß die neuakademische Skepsis die beste Art des Philosophierens sei.174 Diesen grundsätzlichen Beobachtungen entsprechend lassen sich auch im Text von De fato Indizien dafür finden, daß Cicero auch diese Schrift aus einer neuakademisch-skeptischen Haltung heraus geschrieben hat. In § 1 spricht Cicero die Methodik seiner folgenden Untersuchung an. Ursprünglich habe er _____________ 166 Ein Grund dafür mag in Ciceros Hoffnung gelegen haben, nach seinem Exil wieder eine politische Rolle zu spielen, so Glucker (1988), 66 in Anlehnung an Schmidt (1978/79), 120. 167 Vgl. Schofield (1986), 47 Anm. 2; Glucker (1988), 53; (1992); Steinmetz (1989), der (1995), 221 aber betont: Ciceros philosophische Entwicklung „stellt sich nicht als ein Weg von Philon weg zu Antiochos und wieder zurück zu Philon mit zwei Konversionen dar, sondern als ein immer neues sich Festlegen in der Spannung zwischen zwei sich scheinbar ausschließenden Positionen“; Görler (1990), 124 Anm. 4. 168 Gawlick und Görler (1994), 1086. 169 Gawlick und Görler (1994), 1089. 170 Gawlick und Görler (1994), 1089. 171 Leonhardt (1999), 88. 172 Vgl. Gawlick und Görler (1994), 1084–1089; Görler (1995), insbesondere 85f., 110–113. Vgl. Weische (1961), 9f., der urteilt, daß sich Cicero sein ganzes schriftstellerisches Schaffen hindurch zur neuakademischen Skepsis bekannt habe, hinsichtlich der Politik und Ethik aber der Stoa nahestehe; vgl. auch Douglas (1968), 33 und Kumaniecki (1971), 368f. Long (1995), 39–43 nimmt eine vermittelnde Haltung zwischen den beiden Positionen ein. 173 Vgl. Ac. I, 13 (LS 68B): ‚Sed de te ipso quid est‘, inquit [Varro], ‚quod audio?‘ ‚quanam‘, inquam, ‚de re?‘ ‚relictam a te veterem illam‘, inquit, ‚tractari autem novam‘. 174 Vgl. div. II, 1: quod genus philosophandi minime adrogans maximeque et constans et elegans arbitraremur, quattuor Academicis libris ostendimus.
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VI. Vorbemerkungen zu De fato
geplant, De fato als eine für die neuakademische Skepsis charakteristische ‚Untersuchung beider Standpunkte‘ (in utramque partem disserere) anzulegen, damit der Leser besser dem folgen könne, was er für das ‚Wahrscheinlichste‘ (maxime probabile) halte. Bedingt durch die politischen Umstände der Abfassungszeit wählte er mit der ‚Untersuchung einer vorgelegten These‘ (§ 4: contra propositum disputare) eine andere, in der neuakademischen Skepsis ebenso gebräuchliche Methode (siehe VII.1.b.). Bereits in § 1 verwendet Cicero das Wort probabile 175, das in § 40 in einem ganz ähnlichen Zusammenhang wieder erscheint. Da Cicero an beiden Stellen probabile im Zusammenhang mit einem Akt der Beurteilung verwendet, kann dabei an eine Referenz an das neuakademische ǚǓǒNjǗʗǗ gedacht werden.176 Die neuakademische Skepsis lehnt ja gerade die Möglichkeit einer sicheren Erkenntnis ab und zieht sich auf das Wahrscheinliche zurück. Daß Cicero sich ‚dieser Art der Philosophie‘ (§ 3: hoc genere philosophiae) angeschlossen hat, betont er in der Einleitung von De fato. Als weiteres Indiz seiner neuakademisch-skeptischen Haltung kann die Tatsache gewertet werden, daß Cicero viermal Karneades namentlich erwähnt und – abgesehen von einem Beispielsatz (§ 19) – sich diesem in drei Fällen inhaltlich anschließt: § 23: acutius Carneades, qui docebat posse Epicureos suam causam sine hac commenticia declinatione defendere. § 31: Carneades genus hoc totum non probabat et nimis inconsiderate concludi hanc rationem putabat. § 32: itaque dicebat Carneades ne Apollinem quidem futura posse dicere nisi ea, quorum causas natura ita contineret, ut ea fieri necesse esset. Welche Vorsicht aber bei der Bewertung solcher Verweise für die Quellenfrage geboten ist, wird besonders mit Blick auf Ciceros letzte Schrift De officiis deutlich. Obwohl sich auch hier Verweise auf den neuakademischen Skeptizismus finden,177 hat sich Cicero nach eigenem Bekunden an den _____________ 175 Görler (1992), 162–169 sieht die Entscheidung Ciceros, das griechische ǚǓǒNjǗʗǗ mit probabilis zu übersetzen, auf einen „sprachlichen Zufall“ zurückgehen: Karneades zufolge kann das ǚǓǒNjǗʗǗ (bzw. die ǚǓǒNjǗNjʇ ǠNjǗǞNjǝʇNjǓ) gebilligt werden. Für diesen Prozeß hatte Cicero probare bzw. probatio als Übersetzung gewählt. Für die Übersetzung von ǚǓǒNjǗʗǗ konnte Cicero zwischen veri simile und probabile wählen. Letzteres leitet sich von probare ab und der Zufall wollte es, daß dieses Adjektiv auch noch die Bedeutung „wahrscheinlich“ angenommen hatte, so daß Cicero die eingängige Triade probare – probatio – probabilis bilden konnte. Siehe hierzu auch Glucker (1995). 176 Vgl. z. B. off. II, 7f.; III, 20; Ac. II, 8, 121, 134; Tusc. II, 5; IV, 7; fin. V, 76. 177 Vgl. off. II, 7f.; III, 20. Vgl. Weische (1961), 9f.; Glucker (1988), 61f., 68 („After all, in De officiis Cicero follows Panaetius himself, but this does not deter him from declaring his loyalty to the Skeptical Academy a few times in the course of that work“). Eine ähnliche Beobachtung ist schon in De finibus zu machen. Auch hier findet sich im fünften Buch ein Verweis auf den neuakademischen Skeptizismus (V, 76: quis enim potest ea, quae probabilia videantur ei, non probare?), obwohl es auf eine antiocheische Vorlage zurückgeht.
VI.6. Die Quellen
65
Büchern ƻǏǛʈ ǞǙʩ ǔNjǒɰǔǙǗǞǙǜ des Panaitios orientiert, so daß De officiis auf stoischem Gedankengut basiert.178 Es wäre daher voreilig, allein aufgrund derartiger Verweise darauf schließen zu wollen, daß De fato auf eine neuakademische bzw. karneadeische Quelle zurückzuführen sei. Vielmehr müssen die philosophischen Aspekte, die Cicero in seiner Schrift zu erkennen gibt, diese Verweise bestätigen. Dabei soll der Blick auf die Mantik, auf die Vorstellung vom Willen und auf die Logik gerichtet werden. Cicero lehnt sowohl die alles umfassende Sympathie (ǝǟǖǚɏǒǏǓNj ǞʸǗ ʛǕǣǗ) als auch die Möglichkeit der Mantik entschieden ab (§§ 5–11, 32– 33). Diese Ablehnung kann nicht auf stoisches Gedankengut zurückgehen,179 denn es ist ja gerade die Stoa, die nicht nur die Mantik akzeptiert, sondern aus deren Existenz auch auf die Existenz des Fatums schließt (vgl. VII.4.). Die Gültigkeit der Mantik resultiert aus der grundlegenden Prämisse der Stoiker, daß der Kosmos durch die göttliche Vorsehung als kausal geschlossene Einheit geschaffen und auf das beste eingerichtet wurde, so daß die Welt auch mit Gott identifiziert werden kann.180 Gerade aber dieser Annahme widerspricht Karneades entschieden, indem er die Meinung vertritt, daß die Welt kein Gott sei,181 d. h., er bestreitet die Vorstellung, daß der Kosmos von einer göttlichen, vernünftigen Vorsehung eingerichtet worden sei.182 Seiner Auffassung nach ist die Welt aus eigenen Kräften entstanden und wird auch durch ihre eigenen, natürlichen Kräfte zusammengehalten.183 Also ist nur eine Sympathie in naturwissenschaftlicher Hinsicht vertretbar (etwa die Korrespondenz von Mond und Gezeiten), aber nicht eine alles umfassende Sympathie (ǝǟǖǚɏǒǏǓNj ǞʸǗ ʛǕǣǗ) in dem Sinne, daß man z. B. vom Vogelflug auf den Ausgang einer zukünftigen Schlacht schließen könnte. Gerade mit Blick auf die Mantik, besonders in der astrologischen Manier der Chaldäer, berichtet Cicero, habe Karneades ausführlich und scharfsinnig gegen die Stoiker argumentiert.184 _____________ 178 Vgl. off. I, 6; II, 60; III, 7. 179 Eine Ausnahme scheint Panaitios darzustellen, da er als einziger Stoiker der Mantik zweifelnd oder sogar ablehnend gegenüberstand (siehe o. S. 25 Anm. 31). Schmekel (1892), 176, Philippson (1934), 1038, Amand (1973), 74 und Long (1982), 169 verweisen darauf, daß sich Cicero für De divinatione II, 85–99 bei Panaitios bedient habe. Auf diese Weise, vermutet Long, habe Cicero einen Stoiker gegen den anderen ausspielen können. Philippson nimmt an, daß sich Cicero die karneadeische Widerlegung für De fato habe aufheben wollen. Amand glaubt, daß Cicero die ‚wenig originellen Ausführungen des Antiochos von Askalon gegen den rein astrologischen Fatalismus‘ in De fato eingefügt habe. 180 Vgl. nat. I, 37 (SVF I, 530), 39 (SVF II, 1077; LS 54B): ipsum mundum deum dicit esse; II, 21: ex quo efficietur esse mundum deum; II, 47: deum esse mundum concluditur. 181 Vgl. nat. III, 23: non est igitur mundus deus. 182 Vgl. nat. III, 65–93; Ac. II, 120f. 183 Vgl. nat. III, 28: illa vero cohaeret et permanet naturae viribus, non deorum. 184 Vgl. div. I, 7. Siehe V.4.
66
VI. Vorbemerkungen zu De fato
Sollte doch eine „Vorhersage“ eintreffen, liege dies nicht in der alles umfassenden Sympathie, sondern einzig und allein in dem zufälligen Ablauf der Ereignisse begründet.185 Nur die Stoiker sind, wie Cicero selbst bemerkt (§ 33), aufgrund ihrer kosmologischen Prämissen auf die Akzeptanz der Mantik festgelegt. Die Neuakademiker hingegen können es sich erlauben, ebendiese zu negieren. Diese Tatsache stellt ein deutliches Indiz für eine neuakademische Vorlage dar. Cicero präsentiert in De fato die Vorstellung eines freien Willens (libera voluntas), der aufgrund seiner besonderen Wesensart unabhängig vom Zwang der Naturkausalität wirkt; denn nach seiner Auffassung entspringt eine willentliche Seelenbewegung (motus animi voluntarius) dem Willen selbst, ohne durch vorausgehende Ursachen bedingt zu sein (§§ 9–11, 23– 25).186 Die Vorstellung einer sich selbst bestimmenden Ursache ist aber kaum mit der stoischen Maxime, daß nichts ohne (vorausgehende) Ursache geschehen könne, vereinbar. Die Annahme einer sich selbst bestimmenden Ursache müßte die Einheit des Kosmos zerstören,187 wodurch die göttliche Vorsehung als unzureichend oder fehlerhaft erschiene. Hingegen findet sich eine Vorstellung von der sich selbst bewegenden Seele in der akademischen Schule bereits bei Platon. In den Nomoi (X, 893b–896d) werden zehn Arten der Bewegung aufgezählt, die verschiedene Eigenschaften besitzen. Die neunte Art der Bewegung ist dadurch gekennzeichnet, daß sie immer durch eine vorausgehende Bewegung verursacht wird und auch nur fähig ist, eine andere, folgende Bewegung zu verursachen. In dieser Art der Bewegung findet die Vorstellung von der Naturkausalität ihren Ausdruck: Ursache und Wirkung reihen sich stetig aneinander. Die zehnte Art der Bewegung zeichnet sich gegenüber der neunten Art dadurch aus, daß sie nicht darauf angewiesen ist, durch eine vorausgehende Bewegung verursacht zu werden, sondern die Fähigkeit besitzt, sich selbst zu bewegen, d. h. Ursache für ihre eigene Bewegung zu sein, wobei sie aber auch fähig ist, anderes zu bewegen. Diese besondere Fähigkeit (ǎʡǗNjǖǓǜ) der zehnten Bewegung spricht Platon der Seele zu (896a: ǞɱǗ ǎǟǗNjǖɨǗǑǗ NjʤǞɱǗ NjʣǞɱǗ ǔǓǗǏʏǗ ǔʇǗǑǝǓǗ).188 Aufgrund dieser besonderen Fähigkeit der Selbstbewegung (NjʤǞǙǔʇǗǑǞǙǗ; Ǟʘ NjʣǞʘ ǔǓǗǙʩǗ), so führt Platon im Zusammenhang mit dem Unsterblichkeitsbeweis der Seele aus, sei die Seele auch Quelle und Anfang aller Bewegung (ǚǑǍɱ ǔNjʈ ɒǛǡɱ ǔǓǗɰǝǏǣǜ) und als höchste Ursache somit der _____________ 185 Vgl. div. I, 23. 186 Vgl. Begley (1990), 122–124, 148f., 198; Szekeres (1995), 231f. 187 Vgl. AvA, fat. XX, 190.19–191.2; XXII, 192.8–25 (SVF II, 945; LS 55N); Plutarch, Stoic. repug. 23, 1045b–c (SVF II, 973). Siehe hierzu auch V.2., VII.5.e., VII.17.b. 188 Vgl. Timaios 34c–35a, 46d–e.
VI.6. Die Quellen
67
eigentliche Ursprung der Dinge.189 Damit nimmt sie eine vorrangige Position gegenüber den Abläufen in der physischen Welt ein, die dem Wirken der Naturkausalität (der Bewegung der neunten Art) unterliegen.190 Daß auch Cicero den Primat der Seele vor der Naturkausalität vertritt, ist in De fato durch die angeführten Beispiele von Stilpon und Sokrates offensichtlich, da Ciceros Meinung zufolge beide mit ihrem Willen ihre schlechten Naturanlagen bezwingen konnten (§ 10). Die Vorrangstellung der Seele, die aus ihrer besonderen Fähigkeit resultiert, sich selbst zu bewegen, läßt sich auch über De fato hinaus in anderen philosophischen Schriften Ciceros finden. Er betont nachdrücklich, daß sich die menschliche Seele durch die Fähigkeit zur Selbstbewegung auszeichne,191 und weil die Seele dies spüre, wisse sie auch, daß sie durch ihre eigene, nicht aber durch eine fremde, äußere Kraft bewegt werde.192 Vielleicht haben die Neuakademiker auf der Basis der altakademischen Seelenlehre sogar eine ganz eigene Willenstheorie entwickelt, als es in der hellenistischen Fatumsdiskussion die Freiheit des Menschen zu verteidigen galt.193 Der zentrale Gedanke ist, daß die Willensakte nicht durch _____________ 189 Vgl. Phaidros 245c–246a. Cicero hat diesen Beweis in seinem Somnium Scipionis (rep. VI, 27f.) und mit explizitem Rekurs auf den Phaidros in den Tusculanae Disputationes (I, 53f.) in die lateinische Sprache übertragen. Vgl. hierzu Bleich-Schade (1996), 31–33. 190 In Anlehnung an Rexine (1959), 26f. kann mit qualitativer Unterscheidung von einer ‚ersten Kausalität‘ (die zehnte Art/Selbstbewegung der Seele) und einer ‚zweiten Kausalität‘ (die neunte Art/Naturkausalität) gesprochen werden. 191 Vgl. Tusc. I, 66: nec vero deus ipse, qui intellegitur a nobis, alio modo intellegi potest nisi mens soluta quaedam et libera, segregata ab omni concretione mortali, omnia sentiens et movens ipsaque praedita motu sempiterno. hoc e genere atque eadem e natura est humana mens. 192 Vgl. Tusc. I, 53: sed si, qualis sit animus, ipse animus nesciet, dic, quaeso, ne esse quidem se sciet, ne moveri quidem se?; I, 55: sentit igitur animus se moveri; quod cum sentit, illud una sentit se vi sua, non aliena moveri, nec accidere posse, ut ipse umquam a se deseratur; rep. VI, 28: inanimum est enim omne, quod pulsu agitatur externo; quod autem est animal, id motu cietur interno et suo; nam haec est propria natura animi atque vis; nat. II, 32: audiamus enim Platonem quasi quendam deum philosophorum; cui duo placet esse motus, unum suum, alterum externum, esse autem divinius, quod ipsum ex se sua sponte moveatur quam, quod pulsu agitetur alieno. hunc autem motum in solis animis esse ponit, ab isque principium motus esse ductum putat; div. II, 139: animorum est ea vis eaque natura, ut vigeant vigilantes nullo adventicio pulsu, sed suo motu incredibili quadam celeritate (vgl. div. II, 128). Vgl. hierzu BleichSchade (1996), 24–29, 31–33. 193 Weische (1961), 47–50 (vgl. (1968), 855) spricht der Neuen Akademie eine Ausarbeitung zu, die über die mögliche Anlehnung an Platon hinaus „etwas fundamental Neues“ sei. „Das menschliche Subjekt […] stellt sich im Bereich seines Willens der Welt selbständig und selbstmächtig gegenüber. Im Bereich der ‚voluntates et adpetitiones‘ entwirft jetzt der Mensch selbst seine Existenz, er fühlt sich in seinem Handeln frei von naturhaftem Zwang“ (S. 49f.). Weische sieht hierin „die eigentliche Entdeckung des Willens für das abendländische Denken“ (S. 50). Begley (1990), 196–205 glaubt, daß Cicero zwar noch keine völlig neue und voll entwickelte Willenskonzeption vorweise, aber eindeutig voluntaristische Tendenzen zu erkennen gebe: „In any case, his use of voluntas in the philosophical and rhetorical works puts voluntas into the philosophical vocabulary as a term for the ab-
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VI. Vorbemerkungen zu De fato
vorausgehende Ursachen bedingt werden, sondern unabhängig von der Naturkausalität durch den Willen selbst bedingt sind. Auf dieser Basis kann eine starke Willensfreiheit begründet werden – eine Freiheit, welche die Stoiker vor dem Hintergrund ihrer kosmologischen Prämissen in dieser starken Form nicht vertreten können. Daher kann nicht stoisches, sondern nur akademisches Gedankengut der starken Willensauffassung Ciceros zugrunde liegen.194 Aus der Betrachtung der Logik ergibt sich ein weiteres, starkes und bisher fast unberücksichtigtes Argument für Karneades als Gewährsmann von De fato.195 Wie sich zeigen wird (siehe VII.7.d., VII.11.), versucht Cicero, gegen Chrysipp und Epikur einen schwachen Wahrheitsbegriff zu etablieren, um auf dessen Basis gegen den logischen Determinismus (siehe II.2.) zu argumentieren. Diese schwache Wahrheitskonzeption ist aller Wahrscheinlichkeit nach erst in der Neuen Akademie unter Karneades entwickelt worden.196 Chrysipp und Epikur stand dieser schwache Wahrheitsbegriff noch gar nicht zur Verfügung, so daß sie auf den starken Wahrheitsbegriff festgelegt waren. Da Cicero unermüdlich den schwachen gegen den starken Wahrheitsbegriff ausspielt, ist es nur plausibel anzunehmen, daß er sich einer neuakademisch-karneadeischen Quelle bedient hat, und keiner solchen, die von einem starken Wahrheitsbegriff ausgeht. Eine derartige Quelle wäre mit der von Cicero in De fato vertretenen Wahrheitsauffassung nicht vereinbar. _____________ stract notion of free and voluntary action“ (S. 205). O’Keefe (2005), 153–159 nimmt an, daß Karneades von Epikur beeinflußt worden sei und eine eigene libertarische Freiheitskonzeption entwickelt habe. Görler (1994), 888 dagegen hält die Ausarbeitung einer eigenen Willenstheorie seitens der Neuen Akademie für wenig wahrscheinlich, „denn an anderer Stelle verzichtet er [Karneades] fast demonstrativ auf jede Begründung oder Erklärung“. Görler bezieht sich damit auf das Argument in § 31, insbesondere auf die Prämisse ‚Es liegt aber etwas in unserer Verfügungsgewalt‘ (est autem aliquid in nostra potestate). An dieser Stelle wird die Richtigkeit der fraglichen Prämisse zwar nicht begründet, aber aus der Sicht der Neuakademiker ist eine Erklärung für est autem aliquid in nostra potestate bereits in § 25 mit dem Verweis darauf, daß ein Willensakt durch den Willen selbst verursacht wird, gegeben worden (eius rei enim causa ipsa natura est). So wird diese Prämisse – das läßt auch die Art erkennen, in der Cicero Karneades’ Kritik an Epikur referiert (§§ 23–25) – von den Akademikern „leicht“ (auf der Basis ihrer Seelenlehre), aber nicht „leichtfertig“ (als bloße Behauptung) akzeptiert. Siehe auch Sharples (1987a), 211f., 215; (1991), 10. 194 Gould (1983), 480f. merkt zu Recht an, daß die stoische Lehre in dieser Hinsicht diametral derjenigen der Akademiker gegenüberstehe. Siehe auch VII.17. 195 Nur White (1983), 56 Anm. 46 hat, soweit ersichtlich, explizit darauf hingewiesen, daß aufgrund des von Cicero vertretenen schwachen Wahrheitsbegriffs, auf dessen Grundlage er den logischen Determinismus bekämpft, De fato auf keine stoische, peripatetische oder epikureische Quelle zurückgeführt werden könne. 196 Vgl. Weidemann (1997), 440–444; (2000), 190; (2002), 259f. Weische (1961), 31f., 59 sieht die Spuren der neuakademischen Logik bis auf die frühen Peripatetiker zurückgehen. Karneades sei aber der erste gewesen, der dieses Logikverständnis gegen die Stoa benutzt habe.
VI.6. Die Quellen
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f. Lukrez (epikureische Schule) Szekeres untersucht die Frage, zu welcher philosophischen Schule die Vorstellung von der voluntas passen könnte, der Cicero in De fato folgende Eigenschaften zuspricht:197 voluntas hat keine Ursache, die zum Schicksal gehört (§ 9). voluntas kann von Charakterfehlern befreien (§ 11). voluntas ist eine willkürliche Bewegung der Seele (§§ 23, 48). Das lateinische voluntas könne die stoischen Begriffe njǙʡǕǑǝǓǜ198 oder ǝǟǍǔNjǞɏǒǏǝǓǜ199 wiedergeben, resümiert Szekeres, aber inhaltlich gebe es keine Übereinstimmung mit den Eigenschaften, die Cicero der voluntas in De fato zuschreibe.200 Die fraglichen Eigenschaften ließen sich vielmehr bei Lukrez finden (II, 251ff.), so daß Ciceros Vorstellung von der voluntas letztlich auf die epikureische Schule zurückgehe. Für die Quellenfrage bedeute dieses Ergebnis, so Szekeres abschließend, daß man mit Lukrez einen römischen Gewährsmann für De fato finden könne, so daß es überhaupt nicht nötig sei, als Vorlage für De fato eine griechische Quelle als Vermittlerin zu vermuten. Das Wort voluntas (im eigentlichen Sinne ‚Wohlwollen‘) wurde in der lateinischen Sprache bereits in verschiedenen Bedeutungen verwendet, bevor es Einzug in die philosophische Diskussion fand und in diesem Kontext eine wichtige Bedeutung annahm. Wenn ein lateinischer Autor die Freiwilligkeit des Handelns zum Ausdruck bringen wollte, bediente er sich primär der Wendungen sua sponte oder non invitus, aber auch die Verwendung von voluntarius, ex voluntate oder voluntate sua war möglich.201 Die _____________ 197 Vgl. Szekeres (1995). 198 Vgl. Cicero, Tusc. IV, 12 (SVF III, 438) verweist explizit auf diese Übersetzung: Stoici njǙʡǕǑǝǓǗ appellant, nos appellemus voluntatem. Vgl. Gilbert (1963), 21f., 25; Bourke (1964), 33f.; Voelke (1969), 2–4; Kahn (1988), 241; Begley (1990), 128f., 139–141; Irwin (1992), 456; Sorabji (2000), 329. 199 Vgl. Voelke (1969), 4–6; Dihle (1985), 73. Kahn (1988), 246 merkt an: „Chrysippus’s doctrine of assent will become the focal point of the concept of volition or ‚willing‘ that we find in Augustine, Aquinas, and Descartes. For sunkatathesis in Stoic theory of human action plays exactly the same role that consensus and ‚the command of the will‘ play for St. Thomas“. 200 Vgl. Gilbert (1963), 22, der resümiert, daß die ‚lateinische Tradition von voluntas‘ inhaltlich nicht auf das stoische Konzept der njǙʡǕǑǝǓǜ als ein ‚vernüftiges Verlangen‘ (vgl. Cicero, Tusc. IV, 12 (SVF III, 438): eius modi adpetitionem Stoici njǙʡǕǑǝǓǗ appellant, nos appellemus voluntatem […] quam sic definiunt: voluntas est, quae quid cum ratione desiderat.) zurückgeführt werden könne, insofern voluntas – wie es bei Lukrez offenkundig der Fall sei – als die Bezeichnung der ‚reinen Spontaneität des Handelns‘ verstanden werde. Kahn (1988), 249f. sieht in voluntas keine offensichtliche Parallele zu irgendeinem griechischen Wort. 201 Vgl. Gilbert (1963), 17f.; Kahn (1988), 241.
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VI. Vorbemerkungen zu De fato
voluntaristische Tendenz, die der Ausdruck voluntas im römischen Verständnis allgemein angenommen zu haben scheint, resultiert nach der Auffassung Dihles202 vor allem aus der besonderen Verwendung im Rechtswesen, in dem der Begriff eine wichtige Rolle spielte, indem er den Römern als „hermeneutisches Hilfsmittel“203 diente, um die Gesetze angemessen auslegen zu können (aequitas). Interpretiert wurde voluntas als „ein hermeneutischer Begriff ohne psychologisch-ethische Implikationen“204 und galt als „eine Bezeichnung des Wollens an sich, ohne Rücksicht auf sein Entstehen in irgendeinem Bezirk der Persönlichkeit“205. Bedingt durch den philosophischen Kontext wurde voluntas zur Bezeichnung einer besonderen Fähigkeit der Seele gebräuchlich und repräsentiert in diesem Kontext vor allem die ‚Freiheit des Willens‘.206 Dieser Bedeutung des Wortes voluntas werden sich sowohl Cicero als auch Lukrez insbesondere dann bewußt gewesen sein, wenn sie es im Kontext der Freiheitsdebatte verwendeten,207 denn beide scheinen von einer starken Vorstellung der menschlichen Freiheit auszugehen, indem sie dem Willen die besondere Fähigkeit zuschreiben, den Beginn einer neuen Kausalreihe zu initiieren. Daß die stoische Vorstellung der Freiheit zu schwach ist, darin sind sich Cicero und Epikur einig. Darüber hinaus wird eine Identifizierung der beiden Positionen aber problematisch.208 Cicero versteht den Willensakt als ein dem Willen selbst entspringendes Phänomen, das sich frei von der Naturkausalität entfalten kann. Epikur hingegen geht von der Feinstofflichkeit der Seele aus und fürchtet deshalb, daß die Willensakte durch die Naturkausalität determiniert werden, _____________ 202 203 204 205 206
Vgl. Dihle (1985), 149–163. Dihle (1985), 160. Dihle (1985), 162. Dihle (1985), 161. Vgl. Gilbert (1963), 18, der glaubt, daß durch diese Entwicklung eine Ähnlichkeit zur modernen Willenskonzeption entstanden sei. Auch Kahn (1988), 248 sieht in voluntas eine ‚offensichtliche Antizipation‘ zum modernen ‚freien Willen‘. 207 Vgl. Dihle (1985), 150; Sorabji (2000), 329, 333 (mit Verweis auf §§ 20, 23 in De fato). Cicero selbst verwendet voluntas in seinen Schriften nicht einheitlich und übersetzt verschiedene griechische Ausdrücke mit voluntas (siehe hierzu ausführlich Begley (1990), 126– 149). Dihle (1985), 150f. nennt einige Bedeutungsvarianten: voluntas gebe z. B. die aristotelische ǚǛǙNjʇǛǑǝǓǜ wieder (nat. II, 44), werde als Terminus der Literaturwissenschaft „im Sinn von ‚schriftstellerische Absicht, Stil‘ “ gebraucht (De orat. II, 92), könne ein „spontanes Begehren oder Verlangen“ ausdrücken (Tusc. V, 5) oder direkt für ʙǛǖɰ (Tusc. IV, 34, 82) stehen. Begley (1990) legt eine umfassende Untersuchung über Ciceros Verwendung von voluntas vor, zur Verwendung im philosophischen Kontext siehe insbesondere S. 112–151. 208 Lukrez unterscheidet in seiner Darstellung nicht deutlich zwischen mens (II, 260), voluntas (II, 261) und animus (IV, 886). Weiterhin spricht er das, was er ‚freien Geist‘ oder ‚freien Willen‘ nennt, nicht nur den Menschen, sondern auch den Tieren zu (II, 256: animantibus). Vgl. Gilbert (1963), 20; Huby (1969); Purinton (1999), 266.
VI.6. Die Quellen
71
wenn kein indeterministisches Element in Form der akausalen Bahnabweichung angenommen wird. Dieser Überlegung begegnet Cicero allerdings mit strikter Ablehnung (siehe VII.9., VII.10., VII.20.). Abgesehen von der philosophischen Differenz zu Epikur, ist es auch nicht sehr wahrscheinlich, daß sich Cicero bei seiner grundsätzlich großen und auch in De fato offensichtlichen Antipathie gegen die epikureische Philosophie bewußt an eine Willenskonzeption angeschlossen hätte, die über Lukrez zu Epikur führt. Cicero steht, wie deutlich wurde (siehe o. S. 66–68), hinsichtlich seiner Willenskonzeption in der Tradition der akademischen Seelenlehre. g. Mehrere Quellen Besonders im Hinblick auf Ciceros vermeintliche Versöhnung der Lehrmeinungen in den Paragraphen 39–45 ist auch über die Verwendung mehrerer Quellen in verschiedener Weise nachgedacht worden. Cicero könnte zuerst auf Karneades, dann auf Antiochos zurückgegriffen haben.209 Er müßte dann im Verlauf der Untersuchung in der Weise seine Meinung geändert haben, daß er zunächst bis § 38 einen neuakademisch-skeptischen Standpunkt vertritt und dann ab § 39 zu einem antiocheisch-dogmatischen Standpunkt wechselt. Abgesehen davon aber, daß ein derartiger Wechsel innerhalb einer Schrift schon ungewöhnlich genug wäre, muß eine solche „Zweiquellenhypothese“ auf der Annahme basieren, daß die ganze Auseinandersetzung nach § 45 mit der angeblich versöhnlichen Haltung Ciceros abgeschlossen ist; dies ist jedoch sehr unwahrscheinlich (siehe VII.19.). Cicero könnte eine Schrift vorgelegen haben, die zwar neuakademischen Ursprungs gewesen, aber von Antiochos in seinem synkretistischen Bestreben auf Verträglichkeit mit der stoischen Lehre hin bearbeitet worden ist.210 Nun hat der vorangegangene Versuch, einige philosophische Standpunkte des Antiochos zu rekonstruieren, gezeigt, daß diese Standpunkte nicht nur nicht mit denen übereinstimmen, die Cicero in De fato vertritt, sondern sogar von Cicero nachdrücklich bekämpft werden. Daher _____________ 209 Vgl. Stüve (1895), 14f., 51 („Mirifica igitur differentia intercedit inter § 36 et 41, quae significare videtur non ex eodem fonte Ciceronem hausisse“), 56; Cappelletti (1964), 14– 16; Donini (1975), 196 Anm. 1, der diese Annahme in (1989), 139 Anm. 47 wieder verwirft; Bieler (1980), 121; D. Frede (1982), 297 Anm. 36; Gawlick und Görler (1994), 1045 („Die Substanz der Argumente dürfte auf Karneades zurückgehen; […] Wenn am Schluss des Hauptteils der Versuch spürbar wird, zwischen den streitenden Parteien zu vermitteln (45), so erinnert das an Antiochos aus Askalon“); Magris (1994), 11; Bayer (2000), 97. 210 Vgl. Sharples (1981), 84f.; Talanga (1986), 139.
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VI. Vorbemerkungen zu De fato
ist kaum einsichtig zu machen, wie eine angenommene Quelle für De fato auf eine versöhnliche Bearbeitung des Antiochos zurückgehen könnte, wenn sich die von Cicero vertretenen Standpunkte gerade nicht als vereinbar mit den Standpunkten des Antiochos erweisen. Schließlich könnte Cicero verschiedenen dogmatischen oder neuakademischen Quellen gefolgt sein. So geht Moser davon aus, daß Cicero bei der Abfassung von De fato Schriften von Poseidonios, Chrysipp, Kleanthes, Diodor und Karneades „über diesen Gegenstand“ zur Hand gehabt habe.211 Lörcher nimmt zunächst eine, dann aber zwei verschiedene Quellen für De fato an, nämlich Antiochos und Chrysipp (abgesehen von Poseidonios für die Paragraphen 5–6). Cicero habe zuerst die Lehren des Antiochos übertragen und schließlich für die Paragraphen 39–45, wie bereits für 29–30, aus Chrysipps Schrift ƻǏǛʈ ǏʉǖNjǛǖɨǗǑǜ geschöpft. Einiges habe er auch „nach den Gesichtspunkten des Antiochus“ verarbeitet und einige Umstellungen vorgenommen.212 Greene vermutet, daß Cicero für die Darstellung der stoischen Argumente Poseidonios’ Schrift ƻǏǛʈ ǏʉǖNjǛǖɨǗǑǜ zur Hand genommen und für die akademische Kritik auf ein Buch des Antiochos, in dem die Lehre des Karneades dargestellt gewesen sei, zurückgegriffen habe.213 Philippson teilt die Annahme, daß Cicero sich gleichzeitig mehrerer Quellen bedient habe, nicht, sondern glaubt, daß dieser aufgrund der „Planmäßigkeit der Gedankenfolge“214 und der mangelnden Zeit in dem kurzen Entstehungszeitraum sicher nur eine Quelle benutzt habe.215 h. Ergebnis Die vorangegangene Untersuchung hat gezeigt, daß der aus De fato zu ermittelnde philosophische Befund nicht nur die Annahme einer dogmatischen, genauer, einer stoischen oder antiocheischen Quelle ausschließt, sondern darüber hinaus auch noch eine neuakademisch-skeptische Quelle annehmen läßt. Da Cicero sich namentlich auf Karneades beruft, der, _____________ 211 Vgl. Moser (1828b), 980. 212 Vgl. Lörcher (1913), 60–62 (siehe auch VI.7.), der damit seine in (1907) geäußerte Meinung partiell ändert. 213 Vgl. Greene (1963), 363. 214 Philippson (1934), 1038. 215 Vgl. Yon (1950), XLIV. Hamelin (1978), 7 verweist darauf, daß es Ciceros gängige Praxis gewesen sei, nur eine einzige Vorlage zu Rate zu ziehen. Sharples (1991), 21 Anm. 1 merkt an, daß es für Cicero einfacher und sinnvoller gewesen wäre, zwei getrennte Reden zu verfassen, wenn er tatsächlich zwei Quellen, eine karneadeische und eine antiocheische, zur Hand genommen hätte.
VI.6. Die Quellen
73
genauso wie Cicero in De fato, in Chrysipp seinen Hauptgegner in seinem leidenschaftlichen Kampf gegen den stoischen Fatalismus sah (siehe V.4.), wird in Karneades auch der Gewährsmann für De fato gesehen werden können.216 Nun bleibt die Frage, ob Cicero bei der Abfassung von De fato auf eine Quelle im engeren Sinne (Abschrift oder Paraphrase) oder im weiteren Sinne (Notizen oder Memoriertes) zurückgegriffen hat. Die extreme Haltung der Quellenforschung, hinter Ciceros philosophischen Schriften immer auch eine Quelle im engeren Sinne zu sehen, ist besonders durch eine eigene Äußerung Ciceros motiviert. In einem seiner Briefe an Atticus bemerkt er mit Blick auf sein schriftstellerisches Schaffen, daß er ‚Abschriften‘ (ɒǚʗǍǛNjǠNj) anfertige, die mit recht geringer Arbeit entstünden, und er selbst füge nur noch die Worte hinzu, die er im Überfluß besitze.217 In seinen philosophischen Schriften äußert er sich allerdings in ganz anderer Weise über seine Methode. In De finibus schreibt er, daß er nicht nur übersetze, sondern sich der Ansichten derer, die er als kompetente Vertreter ihrer Schulen schätze, annehmen wolle und dann sein eigenes Urteil und seine eigene Ordnung hinzufügen werde. Seine Werke seien mit stilistischem Glanz geschrieben, betont er, und nicht nur aus dem Griechischen übersetzt.218 In De officiis gibt Cicero das einzige Mal in seinen philosophischen Schriften mit den drei Büchern ƻǏǛʈ ǞǙʩ ǔNjǒɰǔǙǗǞǙǜ des Panaitios seine Vorlage eindeutig an. Er wolle aber den _____________ 216 Soweit die fragmentarische Überlieferung von De fato den Schluß zuläßt, wird Poseidonios nur als „Einschub“ im Zusammenhang mit der alles umfassenden Sympathie (ǝǟǖǚɏǒǏǓNj ǞʸǗ ʛǕǣǗ) besprochen, bevor Cicero wieder gegen seinen Hauptgegner Chrysipp argumentiert (§ 7: sed Posidonium, sicut aequum est, cum bona gratia dimittamus, ad Chrysippi laqueos revertamur). Schmekel (1892), 168 sieht darin einen Beleg, daß die Quelle Ciceros älter als Poseidonios sein müsse. Dabei wird man wohl weniger an Philon denken können, da er von 110/09 bis zu seinem Tode 86 die Akademie leitete und noch Zeitgenosse des Poseidonios war. Ferner mag die Tatsache, daß Panaitios mit seinen gemäßigten Lehren – zumindest im überlieferten Corpus – keine Erwähnung gefunden hat, vermuten lassen, daß Cicero auf Material zurückgriff, das auch vor Panaitios zu datieren ist. Dies ließe wieder auf Karneades schließen. 217 Vgl. Att. XII, 52.3(57.2): ɒǚʗǍǛNjǠNj sunt, minore labore fiunt; verba tantum adfero quibus abundo. Diese Aussage ist vielfach als ironische oder scherzhafte Bemerkung Ciceros interpretiert worden, die nicht allzu wörtlich zu nehmen sei, vgl. z. B. Plasberg (1926), 161; Paolillo (1957), 20; Burkert (1965), 177; Douglas (1965), 138; (1968), 29; Davies (1971), 106 Anm. 5; Schmid (1973), 43 Anm. 24, 60; Patzig (1979), 307; Barnes (1985a), 237 Anm. 6; Erler (1992), 321; Antonini (1994), 17f.; Gawlick und Görler (1994), 1026. Barnes merkt ferner an, daß die vorliegende Stelle in der Überlieferung verderbt und der Sinn nicht völlig klar sei. Außerdem sei der Brief von Mai 45, so daß die Äußerung nicht auf alle Schriften bezogen werden könne. Siehe auch die Bewertung in Reinhardt (1921), 422f. 218 Vgl. fin. I, 6: si nos non interpretum fungimur munere, sed tuemur ea, quae dicta sunt ab iis, quos probamus, eisque nostrum iudicium et nostrum scribendi ordinem adiungimus, quid habent, cur Graeca anteponant iis, quae et splendide dicta sint neque sint conversa de Graecis? Zur Stelle siehe auch Patzig (1979), 308f.
74
VI. Vorbemerkungen zu De fato
Stoikern nicht als Übersetzer folgen, sondern, wie gewöhnlich, auf der Basis seines eigenen Urteils und seiner eigenen Meinung soweit aus der Quelle schöpfen, wie es ihm richtig erscheine.219 Auch wenn er, so Cicero weiter, Panaitios in erheblichem Maße gefolgt sei, habe er das aber nicht als reiner Übersetzer getan,220 und überdies habe er auch einige Korrekturen vorgenommen.221 Immerhin, läßt er Atticus in einem Brief wissen, habe Panaitios drei Bücher geschrieben, er selbst habe diesen Stoff aber nur in zwei Büchern abgehandelt.222 Cicero fügte diesen zwei Büchern danach noch ein eigenes drittes Buch hinzu (vielleicht unter Benutzung einer anderen Vorlage). Diese Bemerkungen lassen erkennen, daß Cicero sich selbst nicht als reinen Kopisten und Übersetzer verstanden wissen wollte, der lediglich ‚Abschriften‘ (ɒǚʗǍǛNjǠNj) anfertigte. Vielmehr sah er sich als Verfasser eigener Werke, die er auf der Basis seines eigenen Urteils schrieb, sei es, indem er sich an eine Schrift, so sie seine Meinung widerspiegelte, anlehnte, sei es, indem er eine Schrift in seinem Sinne bearbeitete. Eine Übersetzertätigkeit im eigentlichen Sinne übte er aus, als er etwa Platons Timaios ins Lateinische übersetzte oder als er zu griechischen Fachausdrücken lateinische Entsprechungen schuf.223 Die Annahme einer reinen Abschrift oder Paraphrase ist auch aus grundsätzlichen Überlegungen nicht vonnöten. Aufgrund seiner umfangreichen Bibliothek standen Cicero ausreichende Materialien verschiedenster Art zur Verfügung, so daß er zweifellos auf das beste mit den verschiedenen Lehrmeinungen der einzelnen Philosophenschulen vertraut war.224 Bereits in seiner frühen Jugend kam er in Kontakt mit den Epikureern Phaidros225 und Zenon von Sidon226, mit den Stoikern Poseidonios227 und Diodotos, seinem „Hausphilosophen“228, mit Philon von Larissa _____________ 219 Vgl. off. I, 6: sequemur igitur hoc quidem tempore et hac in quaestione potissimum Stoicos, non ut interpretes, sed, ut solemus, e fontibus eorum iudicio arbitrioque nostro quantum quoque modo videbitur, hauriemus. 220 Vgl. off. II, 60: ut et hic ipse Panaetius, quem multum in his libris secutus sum non interpretatus. 221 Vgl. off. III, 7: Panaetius igitur, qui sine controversia de officiis accuratissime disputavit quemque nos correctione quadam adhibita potissimum secuti sumus. 222 Vgl. Att. XVI, 11.4: Ǟɐ ǚǏǛʈ ǞǙʩ ǔNjǒɰǔǙǗǞǙǜ, quatenus Panaetius, absolvi duobus. illius tres sunt; vgl. Gellius XIII, 28. Zur Schrift ƻǏǛʈ ǞǙʩ ǔNjǒɰǔǙǗǞǙǜ als Quelle siehe Dyck (1996), 17f. 223 Vgl. Gawlick und Görler (1994), 1028; Schmid (1973), 43–45. Literatur zur Übersetzungstätigkeit Ciceros findet sich ferner in Görler (1992), 160 Anm. 3 und in Powell (1995). 224 Vgl. Marwede (1984), 19; Barnes (1985a), 232; Steinmetz (1989), 5f. 225 Vgl. leg. I, 53; fin. I, 16; V, 3; fam. XIII, 1.2. 226 Vgl. fin. I, 16; Tusc. III, 38. 227 Vgl. Tusc. II, 61; nat. I, 6; Plutarch, Cic. IV.4. 228 Vgl. Brut. 309; Ac. II, 115; Tusc. V, 113; nat. I, 6; fam. XIII, 16.4. Vgl. Philippson (RE), 1162; Boyancé (1936), 307; Douglas (1965), 139.
VI.6. Die Quellen
75
als Vertreter der neuakademischen Skepsis229, mit dem Synkretismus des Antiochos als Vertreter der alten, dogmatischen Akademie230 und schließlich mit dem Peripatetiker Staseas aus Neapel231. Dieses erworbene Wissen konnte er auf seiner Bildungsreise nach Griechenland und Kleinasien (79– 77) noch weiter vertiefen. Darüber hinaus beschäftigte er sich zeit seines Lebens, insbesondere dann, wenn er Muße fand oder zu dieser genötigt wurde, mit Philosophie.232 Die Poseidonios-Darstellung kann aus chronologischen Gründen auf keine der oben genannten Vorlagen zurückgehen.233 Da Cicero noch selbst Poseidonios’ Vorlesungen besucht hat, kann diese Darstellung auch ohne Bedenken ihm selbst zugesprochen werden. Nicht nur in allgemein-philosophischer Hinsicht kann Cicero ein fundiertes philosophisches Wissen unterstellt werden, sondern auch im Hinblick auf die Themen ‚über das Schicksal‘ (de fato) und ‚über das Mögliche‘ (ǚǏǛʈ ǎǟǗNjǞʸǗ). Wie aus einem Brief an Varro234, in dem er in scherzhaftem Ton auf dieses Thema anspielt, zu entnehmen ist, hat sich Cicero bereits mit seinem Lehrer Diodotos angeregt ‚über das Mögliche‘ unterhalten. Da Diodotos aber im Jahre 59 verstarb,235 ist gewiß, daß sich Cicero schon 15 Jahre vor der Abfassung von De fato mit diesem Themenkomplex auseinandergesetzt hat.236 Offensichtlich gegen eine reine Abschrift sprechen weiterhin schon die zahlreichen römischen Beispiele und Anspielungen, die nur schwerlich bei einem griechischen Schriftsteller zu finden gewesen wären: § 1: ad mores, quod ɸǒǙǜ illi vocant; augentem linguam Latinam nominare moralem; ratioque enuntiationum, quae Graeci ɒǘǓʰǖNjǞNj vocant; totaque est ǕǙǍǓǔɰ, quam rationem disserendi voco; § 2: in Puteolano; Hirtiusque noster, consul designatus; post interitum Caesaris; § 3: Hirtius; § 4: Tusculanae disputationes; ut Romanum hominem; § 8: in porticu Pompeii; in campo (i. e. Mars_____________ 229 230 231 232
233 234
235 236
Vgl. Brut. 306; nat. I, 6; fam. XIII, 1.2; Plutarch, Cic. III.1. Vgl. nat. I, 6; Brut. 315; Ac. II, 113 (FDS 339); fin. V, 1, 8; Plutarch, Cic. IV.1. Vgl. fin. V, 8, 75; De orat. I, 104. Vgl. Ferguson (1962b), 101–103; Graff (1963), 46–54; Douglas (1965), 139; Sihler (1969), 5–30; Kumaniecki (1971), 367; Barwick (1973), 133; Gigon (1973), 229–231; Schmid (1973), 60; Ryan (1982), 100–106; Steinmetz (1995), 210f.; Fuhrmann (1997), 22–44, 50– 55; Görler (2004), 158 Anm. 1 mit Verweisen. Zu „Ciceros Hingabe an die Philosophie“ siehe Fuchs (1959). Castrillo Benito (1997), 35–37 führt zahlreiche Textstellen aus den philosophischen Werken an, in denen sich Cicero namentlich auf andere Philosophen bezieht. Vgl. Philippson (1934), 1038; Donini (1989), 132f. Anm. 27; Sharples (1991), 22. Vgl. fam. IX, 4(6) (SVF II, 284; FDS 990; M 133): ǚǏǛʈ ǎǟǗNjǞʸǗ me scito ǔNjǞɐ ƯǓʗǎǣǛǙǗ ǔǛʇǗǏǓǗ. quapropter si venturus es, scito necesse esse te venire; sin autem non es, ɒǎʡǗNjǞǙǗ est te venire. nunc vide, utra te ǔǛʇǝǓǜ magis delectet, Chrysippi an haec, quam noster Diodotus non concoquebat. sed de his etiam rebus, otiosi cum erimus, loquemur; hoc etiam ǔNjǞɐ ǁǛʡǝǓǚǚǙǗ ǎǟǗNjǞʘǗ est. Vgl. Att. II, 20.6. Vgl. Boyancé (1936), 307; Philippson (RE), 1162; Büchner (1964), 420; Pini (1969), 476f.; Marwede (1984), 19; Barnes (1985a), 237 Anm. 14; Griffin (1995), 340.
76
VI. Vorbemerkungen zu De fato
feld); tecum (i. e. Hirtius); Idibus potius quam Kalendis; § 11: percepta appello, quae dicuntur Graece ǒǏǙǛɰǖNjǞNj; §§ 12, 14: Fabius237; §§ 12, 14, 15: Canicula; §§ 13: Africanum; §§ 17, 18, 27: Scipio; § 27: Numantiam; § 28: veniet in senatum Cato; veniet in Tusculanum Hortensius; § 33: Marcellum eum, qui ter consul fuit; § 34: quod in campum descenderim; § 35: illud est Ennii. Die lateinischen Beispiele und die Hinweise auf die Übersetzung der griechischen Termini dürfen bei der Frage nach der Quelle sicher nicht überbewertet werden,238 selbstverständlich wären sie in eine Abschrift schnell eingefügt. Die Rahmenhandlung, die Wahl des literarischen Ortes und natürlich die Wahl des Gesprächspartners sind aber zweifellos ganz Cicero zuzuschreiben. Die Briefe an Atticus aus der Abfassungszeit von De fato zeugen davon, daß die historischen Begebenheiten direkt in die literarische Komposition eingeflossen sind (siehe VI.1, VI.2.). Wie üblich schreibt Cicero „als Römer und für Römer“, wodurch seine Werke „ihren eigentümlichen Charakter erhalten“.239 Ferner ist zu überlegen, ob gewisse in De fato festzustellende Auffälligkeiten tatsächlich in dieser Weise in einer potentiellen Vorlage gestanden haben können: Cicero stellt die diodoreische Lehrmeinung in eigenwilliger Weise dar. Er scheint sie indeterministischer zu interpretieren, als Diodor sie allem Anschein nach verstanden wissen wollte (siehe VII.7.e.). Cicero scheint die Intention der Sprachregelung Chrysipps in den Paragraphen 15–17 überhaupt nicht zu sehen (siehe VII.6.). Cicero stellt das Argument in § 31 in einer unnötig komplizierten Weise dar (siehe VII.13.a.). Cicero deutet mit dem Satz quorum isti neutrum volunt; quod fieri non potest in § 28 den Lösungsvorschlag der Epikureer an, das Bivalenzprinzip für zukunftsbezogene Aussagen einzuschränken. Die weitere Auseinandersetzung mit diesem Thema wird mit der recht unvermittelt einsetzenden Behandlung der ignava ratio unterbrochen und erst in § 37 wieder aufgenommen und abgeschlossen. Es ist zu vermuten, daß diese Eigentümlichkeiten auf Ciceros eigene Bearbeitung zurückgehen. _____________ 237 MacKendrik (1989), 353 Anm. 28 und Adamczyk (1961), 301 Anm. 230 sehen in „Fabius“ eine Anspielung auf Quintus Fabius Maximus Verrucosus Cunctator (280/275–204/203), einen berühmten römischen Staatsmann und Feldherrn. Cicero nimmt des öfteren auf ihn Bezug (sen. 10–13, 15, 39, 61; Brut. 57). Allerdings wird in „Fabius“ auch nur ein Beispielname gesehen, ohne Bezug auf eine historische Persönlichkeit. Siehe u. S. 119 Anm. 170. 238 MacKendrick (1989), 202 scheint gerade in diesen lateinischen Beispielen ein starkes Argument zu sehen (siehe VI.6.c.). 239 So formuliert Becker (1938), 59 sein Fazit. Vgl. Beard (1986), 38.
VI.7. Komposition
77
Wie Cicero De fato auch verfaßt haben mag, ob im Rückgriff auf (verschiedene) Originalwerke, wenn die bewegte Abfassungszeit ihm dazu überhaupt Möglichkeit und Muße geboten hat, ob unter Zuhilfenahme eines Kompendiums, das vielleicht Beispiele und Notizen zu den einzelnen Lehrmeinungen enthielt, oder ob in Erinnerung an frühere Studien gänzlich aus dem Gedächtnis heraus, wie er es etwa bei der Abfassung der Topica während der Überfahrt nach Griechenland getan hat,240 kann letztlich nicht mit Gewißheit ausgemacht werden. Als gewiß aber kann gelten, daß er De fato im neuakademischen Geist verfaßt hat und daß Karneades den philosophischen Gewährsmann für diese Abhandlung darstellt, auf den Cicero nicht im engeren, sondern im weiteren Sinne einer Quelle zurückgreift.
7. Komposition Eine nicht unerhebliche Schwierigkeit stellt die Frage nach der Komposition von De fato dar. Aufgrund des großen Textverlustes ist nicht ohne weiteres ersichtlich, in welcher Weise und unter welchen Gesichtspunkten Cicero seine Abhandlung strukturiert hat. Verschiedene Vorschläge werden zur Komposition und Gliederung gemacht. Schmekel erkennt folgende Einteilung: Von der Einleitung abgesehen, lasse sich das Werk in drei Teile gliedern, und zwar zunächst bis zum § 20 (Chrysipps Lehre über das Verhängnis und Bestreitung der Astrologie), dann in die Paragraphen 20–39 (Epikurs und Chrysipps Streit, ob jede Aussage wahr oder falsch sei), schließlich in die Paragraphen 39ff. (Widerspruch von Ethik und Fatum).241 Hamelin nimmt an, daß in De fato nur die beiden Teildisziplinen Logik und Ethik behandelt worden seien. Dies überrasche aber nicht, da Karneades recht wenig Interesse an der Physik gehabt habe. Vielleicht sei die Behandlung der Physik verlorengegangen, was aber unwahrscheinlich erscheine, weil die Ursachenverkettung und die Mantik so eng mit den logischen Fragen verbunden seien, daß eine eigenständige Behandlung der Physik nicht mehr vonnöten gewesen sei. Die gesamte Schrift zerfalle in zwei große Abschnitte: Nach der Einleitung (§§ 1–4) folge erst der moralphilosophische, dann der logische Teil. Mit § 39 beginne der zweite Abschnitt, in dem sich Cicero unter großer Schonung Chrysipps gegen das Fatum ausspreche.242 _____________ 240 Vgl. Cicero, Top. 5. 241 Vgl. Schmekel (1892), 165f., dem sich Schanz (1927), 517 anschließt. 242 Vgl. Hamelin (1978), 12f.
78
VI. Vorbemerkungen zu De fato
Yon ordnet die Paragraphen 5–11 (Behandlung der Sympathielehre im Zusammenhang mit der Mantik) der Ethik und die Paragraphen 11–38 (Behandlung des Satzes vom Widerspruch) der Logik zu. Als Konklusion folgt die Aussöhnung der entgegengesetzten Lehrmeinungen (§§ 39–45). Die Paragraphen 46–48 stellen die Peroratio dar.243 Lörcher sieht folgende Einteilung: Das Proömium umfasse die Paragraphen 1–4; der Hauptteil (§§ 5–39) sei in die Abschnitte §§ 5–11 (contagio naturae und Ethik), §§ 11–20, 20–38 (Logik) und §§ 39–45 (Antiochos’ Aussöhnung der Gegner) zu unterteilen. Ob die §§ 46–48 mit den §§ 39– 45 zu verbinden seien oder die Peroratio zu der ganzen Schrift darstellten, sei unklar.244 Ohnehin solle man lieber, so Lörcher, von der Komposition des Antiochos als von der Ciceros sprechen, wobei Cicero die Paragraphen 5–6 aus Poseidonios sowie einiges für die Paragraphen 11–12, 15–16 aus Panaitios (oder Klitomachos) genommen und schließlich die Paragraphen 1–4, 26–28, 34–36, 46–48 selbst hinzugefügt habe.245 Lörcher urteilt: „Selten hat C[icero] den Aufbau einer Abhandlung in ein solches Chaos verwandelt, wie hier diejenige des Antiochos über das Schicksal“246. Man finde in De fato nur „ein wirres Konglomerat von Sinn und Unsinn, zur Sache Gehörigem und Fremdartigem“247. Laut Lörchers Interpretation wies die ursprüngliche Quelle folgende Gestalt auf: Die Paragraphen 11ff. habe Cicero aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herausgerissen und als selbständigen zweiten Teil der Abhandlung dem mit § 20b beginnenden Abschnitt vorangestellt, von dem er im Original einen Unterabschnitt gebildet habe. Das Stück gehöre an die Stelle hinter § 25, wo es durch die sklavisch nachgebildeten Paragraphen 26–28a ersetzt worden sei. Als Cicero den Abschnitt ǚǏǛʈ ǎǟǗNjǞʸǗ herausgenommen und als selbständigen Teil vorangestellt habe, habe er mit den Paragraphen 11f. noch eine verbindende Einleitung hinzugefügt, die aber nur dazu geeignet sei, völlig zu verwirren. Dem griechischen Original hätten nur § 13f. und größtenteils die Paragraphen 17–20 angehört, die dort aber erst hinter dem § 20b, der eine Voraussetzung für jene darstelle, anzusetzen seien.248 _____________ 243 Vgl. Yon (1950), XXXIIIf, dem MacKendrick (1989), 352 Anm. 3 folgt. Philippson (1934), 1031f. und Sharples (1991), 20 üben an Yons Zuordnung Kritik. Amand (1973), 78 sieht ebenfalls in den Paragraphen 5–11 den ethischen und in den Paragraphen 11–38 den logischen Teil der Abhandlung. Valgiglio (1967/68), 326f. nimmt an, daß im ersten Teil von De fato (§§ 5–20) auch die ethischen und in zweiten Teil (§§ 20–38) die logischen Probleme behandelt worden seien. 244 Vgl. Lörcher (1907), insbesondere 345(9)f., 375(39)f. 245 Vgl. Lörcher (1907), 375(39). 246 Lörcher (1925), 102. 247 Lörcher (1913), 8. 248 Vgl. Lörcher (1907), 351(15)–359(23); (1913), 9–11, 55–57.
VI.7. Komposition
79
Philippson nimmt an, daß der Hauptteil der Schrift wie folgt zu gliedern sei: I. divinatio: a. ǝǟǖǚɏǒǏǓNj, b. Satz vom Widerspruch, c. ɒǛǍʘǜ ǕʗǍǙǜ; II. ǝǟǍǔNjǞɏǒǏǝǓǜ; III. Chrysipps Schwanken zwischen Freiheit und Notwendigkeit.249 Guillaumont sieht De fato in folgende Abschnitte unterteilt: §§ 1–4 (Einleitung); §§ 5–11 (Sympathie und Schicksal); §§ 11–20 (Chrysipp und Diodor); §§ 20–38 (Chrysipp, Diodor, Karneades: das Schicksal und der Satz vom Widerspruch); §§ 39–45 (Die Frage der Zustimmung); §§ 46–48 („conclusion(?)“).250 Der Umstand, daß sich die Fatumsdiskussion auf alle drei Teilgebiete der Philosophie gleichermaßen erstreckt,251 erleichtert nicht die Zuordnung der einzelnen Passagen zu jeweils einem der drei Teilgebiete.252 Aber auch wenn im Laufe der Abhandlung diese drei Teilgebiete immer wieder ineinandergreifen, lassen sich doch thematische Schwerpunkte erkennen, durch die der systematische Aufbau von De fato deutlich wird. Die Paragraphen 1–4 stellen das Proömium von De fato dar. Der Hauptteil der Schrift umfaßt die Paragraphen 5–45. Cicero hat seine Auseinandersetzung mit dem Fatalismus offensichtlich mit der Behandlung der Mantik, der Astrologie und der Sympathielehre begonnen. Da hinter dem resümierenden Satz quae tolluntur omnia, si vis et natura fati ex divinationis ratione firmabitur (§ 11) ein neues Thema beginnt, ist zu vermuten, daß hier das gesamte vorangegangene Thema und nicht nur ein Aspekt desselben abgeschlossen wird. Aufgrund der expliziten Nennung der divinatio scheint ebendiese der übergeordnete Aspekt des ganzen Abschnitts §§ 5–11 zu sein.253 Mit der Mantik, der Astrologie und der Sympathielehre spricht Cicero den physisch-kausalen Aspekt in der Fatumsdiskussion an. Das Thema ab § 11 ist nicht mehr die Astrologie oder die Mantik als solche. Cicero bedient sich in den Paragraphen 11–16 nur eines astrologischen Beispielsatzes, um Chrysipp einen Widerspruch zu seiner eigenen _____________ 249 250 251 252 253
Vgl. Philippson (RE), 1162; (1934), 1031f., dem Bayer (2000), 123 folgt. Vgl. Guillaumont (1994), 390f. Siehe u. S. 86. Vgl. Sharples (1991), 20 mit Verweis auf Eisenberger (1979), 158. Vgl. Yon (1950), XIX, XXXIII, XXXVII, 6 Anm. 2, der glaubt, daß die Paragraphen 5–11 das Ende der Diskussion über die ǝǟǖǚɏǒǏǓNj seien, die wiederum als das Ende einer übergeordneten Auseinandersetzung mit der Mantik anzusehen seien, in der Cicero habe darlegen wollen, daß die Existenz des Fatums nicht auf der Grundlage der Mantik bewiesen werden könne. Vgl. ferner Schmekel (1892), 165; Philippson (1934), 1031; Hunt (1954), 150; Schmidt (1967), 499; Marwede (1984), 6–8, 12–14; Bayer (2000), 123. Dagegen ist Eisenberger (1979), 163 Anm. 25 der Auffassung, daß die adfectio astrorum zwar angesprochen wurde, aber nicht im Zusammenhang mit der divinatio, sondern im Zusammenhang mit Chrysipps Theorie der contagio rerum. Weische (1961), 29 sieht den Abschnitt ab § 7 dem Thema „de ipsa contagione rerum“ untergeordnet.
80
VI. Vorbemerkungen zu De fato
Modaltheorie nachzuweisen, so daß die Paragraphen 11–16 dem Bereich der Logik zuzuordnen sind. Es werden danach die Unveränderlichkeit der Wahrheitswerte und die Wahrheitsbedingungen zukunftsbezogener Aussagen (§§ 17–20, vgl. §§ 26–28), darauf das Bivalenzprinzip, die (physische) Fatumskausalität und das Verhältnis zueinander (§§ 20–21) behandelt. Epikurs Bedenken gegen die Allgemeingültigkeit des Bivalenzprinzips (§ 21) nimmt Cicero zum Anlaß, gegen dessen Theorie der Bahnabweichung zu polemisieren (§§ 22–23). Vor dem Hintergrund der neuakademischen Ursachenunterscheidung (§§ 23–25) erläutert Cicero dann die Wahrheitsbedingungen für zukunftsbezogene Aussagen aus der neuakademischen Perspektive (§§ 26–28, vgl. §§ 17–20). Aufgrund des von Cicero vertretenen schwachen Wahrheitsbegiffs stellt die Allgemeingültigkeit des Bivalenzprinzips und damit auch das Untätigkeitsargument (ignava ratio) keine Bedrohung für die Freiheit dar (§§ 28–30). Nachdem Cicero gegen Chrysipps Versuch, sich dem Vorwurf der Untätigkeit zu entledigen, argumentiert hat (§§ 31–33), betont er wieder den wichtigen Unterschied zwischen der schwachen und der starken Wahrheitsauffassung, die sich darin unterscheiden, daß bei der letzteren die Wahrheit zukunftsbezogener Aussagen an das Vorliegen von Ursachen gebunden ist, bei der ersteren hingegen nicht (§ 32). Cicero definiert darauf den Begriff „Ursache“ und leitet dann wieder zur Logik über, indem er die Einschränkung des Bivalenzprinzips durch die Epikureer behandelt. Da nun das übergeordnete Thema der Paragraphen 11–38 die Behandlung des Bivalenzprinzips und die Frage nach der Wahrheitsbedingung für zukunftsbezogene Aussagen ist, kann dieser ganze Abschnitt thematisch dem Bereich der Logik zugeordnet werden. Daß Cicero auch in diesen Paragraphen immer wieder auf die Kausalität zu sprechen kommt, resultiert schlichtweg aus der Tatsache, daß der starke Wahrheitbegriff das Vorliegen entsprechender Ursachen für die Wahrheit zukunftsbezogener Aussagen verlangt. In den Paragraphen 39–45 steht die Ethik im Mittelpunkt, da sich Cicero dort mit der stoischen Handlungstheorie und in diesem Zusammenhang mit der Lehre von den Zustimmungen auseinandersetzt, auf deren Basis Chrysipp seinen Vermittlungsversuch zwischen Fatum und menschlicher Freiheit unternimmt. Danach schließt sich Ciceros mutmaßliche Kritik der stoischen Strategie an (siehe VII.19.). Da der in § 39 begonnene Gedankengang offenbar in § 44 wieder aufgenommen wird (siehe VII.18.c.), erscheint eine weitere Unterteilung des Abschnitts §§ 39–45 nicht sinnvoll. Mit den Paragraphen 46–48 folgt schließlich die Peroratio. Somit ergibt sich die folgende Gliederung.254 _____________ 254 Siehe auch die Gliederungen in Marwede (1984), 5–9; Sharples (1991), 16–20; Bayer (2000), 102–105.
VI.8. Gliederung
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8. Gliederung Lacuna A I. Proömium §§ 1–4 Einführung in die Abhandlung Lacuna B II. Physik: §§ 5–6 §§ 7–11
Mantik, Sympathie und Fatum Kritik an der Sympathielehre des Poseidonios Kritik an der Sympathielehre des Chrysipp
III. Logik:
Das Bivalenzprinzip und die Wahrheit zukunftsbezogener Aussagen Die Mantik: Chrysipps Widerspruch zur eigenen Modaltheorie Chrysipps Sprachregelung Wahrheit und Falschheit zukunftsbezogener Aussagen (I) Das Verhältnis von Bivalenzprinzip und Fatum Epikurs Theorie der Bahnabweichung Karneades’ Ursachenunterscheidung und seine Kritik an Epikur Wahrheit und Falschheit zukunftsbezogener Aussagen (II) Das Untätigkeitsargument (ignava ratio) Karneades’ Argumentation gegen das Fatum Die Definition des Begriffs „Ursache“ Die Einschränkung des Bivalenzprinzips durch die Epikureer
§§ 11–14 §§ 15–17 §§ 17–20 §§ 20–21 §§ 22–23 §§ 23–25 §§ 26–28 §§ 28–30 §§ 31–33 §§ 34–36 §§ 37–38 IV. Ethik: §§ 39–40 §§ 41–43 §§ 44–45
Chrysipps Lehre von den Zustimmungen Der stoische Fatalismus als Mittelweg Chrysipps Ursachenunterscheidung Die angebliche Übereinstimmung der Positionen
Lacuna C V. Peroratio §§ 46–48 Die abschließende Kritik an Epikur Lacuna D
VII. Kommentar zu De fato 1. Lacuna A – § 4: Das Proömium a. Lacuna A Das überlieferte Corpus von De fato beginnt mit einer Lücke, in welcher der Anfang der Schrift verlorengegangen ist. Philippson rekonstruiert den ersten Satz, der nur noch unvollständig überliefert ist, wie folgt: Der Bedeutungsbereich des Schicksals erstreckt sich auf alle Teile der Philosophie. Denn zu untersuchen, ob alles durch das Schicksal geschieht, ist die Aufgabe der Physiker. Sodann zweifelt man, ob unser Wille dann, wenn dies geglaubt wird, auch frei ist – eine Untersuchung, die eine ethische zu sein scheint, weil sie sich auf die Sitten bezieht …1
Ferrucci versucht, aus einigen von ihm in einem Bucheinband entdeckten Palimpsesten einen längeren Anfang zu gewinnen:2 Die Auseinandersetzung über das Schicksal: Daß das Schicksal der Wille Jupiters, des Besten und Größten, und das Wollen der unsterblichen Götter sei, ist die gemeinsame Überzeugung der Philosophen und des Volkes. Weil aber gemeinhin niemand für einen Philosophen gehalten oder als ein solcher bezeichnet wird, wenn er sich nicht eine kurze Zeit vom Volke abhebt, hielten es einige für richtig, die Notwendigkeit des Schicksals entweder mit dem Vorausgehen natürlicher Ur-
_____________ 1
2
Philippson (1934), 1032: „ÄFati vis ad omnes philosophiae partes valet. Nam num omnia fato fiant, physicorum est inquirere. Dubitatur deinde, num si id credatur, voluntas nostra sit libera, quae quaestio ɳǒǓǔɰ videtur esseÔ quia pertinet ad mores etc.“. In ähnlicher Weise ergänzt Gadamer (1989), 240: „[Das Schicksal ist seinem Wesen nach Gegenstand aller Teile der Philosophie. Denn zu untersuchen, ob alles schicksalhaft geschieht, ist Sache der Physiker. Dadurch entsteht aber das Problem, ob unser Wille frei sei – und das ist offenbar eine ethische Frage,] …“. Levée et al. (1818), 7, Le Clerc (1826), 397 Anm. 1 und Mangeart (1837), 448 Anm. 1 ergänzen die Wörter: De fato nunc (Levée et al.: nobis) scribendum est, quia … Ferrucci ließ seine Entdeckung im Jahre 1853 durch Celestino Cavedoni in der Zeitschrift Memorie di religione, di morale e di letteratura veröffentlichen (eine Übersetzung findet sich in „Literarische Notiz über neue Fragmente von Cicero’s Schrift de fato“, in: Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien 5 (1854), 81–83). Vgl. ferner Ferrucci (1854); (1855); (1867). Allen (1854), 15–19 kommentiert die von Ferrucci rekonstruierten Texte, deren Platz er selbst in der Lacuna B sieht.
VII.1. Lacuna A – § 4: Das Proömium
83
sachen in gewisser Weise zu bestimmen, oder nach vielfältiger Maßgabe des Wollens und Begehrens gleichsam als Blitz aus dem Himmel abzuleiten.3
Neben dieser Einleitung glaubt Ferrucci, noch weitere Textfragmente in diesen Palimpsesten gefunden zu haben, die sich nach seiner Interpretation an das Macrobius-Fragment (Fragment 5, siehe VI.5.) anschließen sollen. Die Authentizität dieser von Ferrucci rekonstruierten Texte ist allerdings mit überzeugenden systematischen und philologischen Gründen bestritten worden.4 Ferner ist die Authentizität auch aus inhaltlichen Gründen sehr zweifelhaft. Dem einleitenden Satz gemäß soll nach allgemeinem Verständnis das Fatum den Götterwillen repräsentieren. Es wäre daher zu erwarten gewesen, daß sich Cicero im Laufe der folgenden Untersuchung mit dieser Vorstellung auseinandersetzen würde. Eine solche Auseinandersetzung ist jedoch im überlieferten Corpus nicht erhalten, und es gibt auch keinen Hinweis darauf, daß der theologische bzw. teleologische Aspekt der Fatumsdiskussion – wie etwa die sinnvolle Einrichtung des Kosmos durch die göttliche Vorsehung oder die Identifikation des Fatums mit Zeus bzw. Jupiter – in De fato eine Rolle gespielt hätte. Cicero interpretiert und definiert das Fatum zweifellos als eine ewige Kausalverkettung (siehe III.), so daß hier eine Definition in diesem Sinne (s. u.) eher zu erwarten gewesen wäre. Babington lehnt ebenfalls die Rekonstruktion Ferruccis ab und schlägt dagegen, wenn auch mit Vorsicht, eine Rekonstruktion der Einleitung auf der Basis des Codex Cantabrigensis 5 vor. Die illuminierten Anfangsbuchstaben selbst und weitere, mit diesen verbundene Buchstaben seien ausgefal_____________ 3
4
5
Cavedoni (1853), 156; Ferrucci (1854), 67f.; (1867), 100: „De fato disputacio. Fatum esse nutum Iovis O. M. [Optimi Maximi] placitumque deorum immortalium, fides est philosophorum et vulgi communis. Sed quia philosophus nemo vel haberi, vel dici solet, nisi parumper a vulgo desciscat; iccirco visum est nonnullis, fati necessitatem aut antecessione causarum naturalium quodammodo circumscribere, aut ratione voluntatum atque appetitionum varia, quasi fulmen, e caelo deducere. Quia pertinet ad mores, quos ɸǒǙǜ illi vocant, nos eam partem philosophiae DE MORIBUS appellare solemus etc.“. Ferrucci ändert in (1867), 100 seine Lesart des ersten überlieferten Satzes in „Id quia pertinet ad mores, quod ɸǒǙǜ Graeci vocant nos eam partem philosophiae de moribus appellare solemus, etc.“. Vgl. Mayor (1854); Ritschl (1854); (1858), dem sich Klotz (1855), 223, Christ (1861), 567 und Schanz (1927), 517 anschließen. Weitere Kritik findet sich in „Literarische Notiz über neue Fragmente von Cicero’s Schrift de fato“, in: Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien 5 (1854), 83f., 423–425). Hertz (Archäologischer Anzeiger Jg. XI, Nr. 55 (1853), 359) urteilt über die Fragmente, daß sie „zwar nicht für ciceronisch gelten, und eben so wenig einer neueren Fälschung zugerechnet werden dürfen, aber auch als Beleg mittelalterlicher Arbeiten über Cicero ihr Interesse haben“. Schneidewin (1853) kritisiert zwar die philologische Vorgehensweise und die Interpolationen Ferruccis, zweifelt aber nicht an der Echtheit der Fragmente. Bei Klotz fehlen im Abdruck der von Ferrucci rekonstruierten Einleitung die Wörter naturalium quodammodo circumscribere. Handschrift c in Bayer (2000), 78.
84
VII. Kommentar zu De fato
len. Mit der folgenden typographischen Darstellung will Babington den Buchstabenverlust und die Rekonstruktion verdeutlichen:6 INCIPIT EJUSDEM LIBER DE FATO [uo]d a Graecis lo[gos] a nobis ratio logi[Q] [no]minatur; [ce v]ero, ratio disse[rend ]i. Quia vero [ pertin]et ad mores, [quod et]hos illi vocant, &c. Für eine Einleitung ist dieser Satz allein allerdings recht dürftig und setzt darüber hinaus auch thematisch zu unvermittelt ein, was Babington aber auch selbst anmerkt. Des weiteren ist es wenig wahrscheinlich, daß der Hinweis, daß logice (i. e. ǕǙǍǓǔɰ) mit ratio disserendi übersetzt wird, noch einmal wenige Zeilen später wiederholt wird. Schließlich ist auch anzunehmen, daß Cicero die Wörter logos, logice und ethos ebenso in griechischer Schrift wiedergegeben hätte, wie er es auch mit den anderen griechischen Wörtern in De fato getan hat. Man wird also davon ausgehen können, daß es sich bei den obigen Worten um eine später hinzugefügte Marginalbemerkung handelt.7 Allen nimmt am Anfang der Einleitung keinen Textverlust an.8 Mit dieser Annahme ergibt sich aber das Problem, daß dann das illi kein Bezugswort hätte. Daher interpretiert Allen die Einleitung wie folgt: Erklärt werden muß die Bedeutung von Aussagen, die die Griechen ‚axiŇmata‘ nennen, weil (nämlich daß diese erklärt werden) sich auf das Sittliche bezieht, welches sie als ‚ēthos‘ bezeichnen: (Wir nennen diesen Teil der Philosophie gewöhnlich ‚über die Moral‘; aber es schickt sich, unter Bereicherung der lateinischen Sprache diesen Teil als ‚moralischen‘ zu bezeichnen:) Wenn sie (die axiŇmata) etwas über Zukünftiges aussagen, … ergibt sich eine schwierige Untersuchung darüber, welche Bedeutung sie haben.9
_____________ 6 7 8
9
Vgl. Babington (1855), 97. Vgl. den textkritischen Apparat in Bayer (1980), 6; (2000), 81. Vgl. Davies (1730), 266: „Ab ineptiente Librario, non a Cicerone, profluxit additamentum“; Verburg (1724), 3259 Anm. 2; Rath (1807), 286; Moser (1828a), 560. Die Annahme, daß am Anfang von De fato kein Textverlust vorliege, scheint nach Gronovius (1692), 1279 Anm. 1 und Allen (1839), 141 auf Petrus Victorius (M. Tullii Ciceronis Opera. Venedig 1534–1537, 1540) zurückzugehen. Henry (1927), 33 Anm. 3 schließt sich der Annahme Allens an. Allen (1839), 141: „Explicanda vis est ratioque enuntiationum quae GRAECI ɒǘǓʰǖNjǞNj vocant, quia (sc. explicari eam) pertinet ad mores, quod ɸǒǙǜ ILLI vocant: (nos eam partem philosophiae de moribus appellare solemus; sed decet augentem Linguam Latinam nominare moralem:) quae (sc. ɒǘǓʰǖNjǞNj) de re futura quum aliquid dicunt, … quam vim habeant, obscura quaestio est“.
VII.1. Lacuna A – § 4: Das Proömium
85
Mit dieser Interpretation könne, so Allen, das vorausgehende Graeci als das Bezugswort für illi angesehen werden. Da durch diese Interpretation das explicanda an den Satzanfang rückt, ergibt das überlieferte enklitische -que bei explicanda, wie Allen selbst anmerkt, keinen Sinn. Unter Berufung darauf, daß es in einigen Handschriften nicht überliefert ist, hält er jedoch eine Athetese des -que für vertretbar. Die „Auflösung der Construction“10 damit zu rechtfertigen, daß dann das illi ein Bezugswort und so einen angemessenen Sinn bekomme, ist wenig überzeugend.11 Auch ist Cicero wohl kaum zu unterstellen, daß er die Bedeutung der ɒǘǓʰǖNjǞNj erklären möchte, weil diese zu erklären sich auf den moralischen Teil der Philosophie bezieht. Eine solche Erklärung bezieht sich zweifellos auf den logischen Teil, was Cicero auch in dem erhaltenen Teil der Einleitung (§ 1) deutlich zum Ausdruck bringt. Der Textverlust zu Beginn der Einleitung wird als gering eingeschätzt.12 Die im Archetypus Q vor De fato überlieferten Werke De natura deorum, De divinatione (zusammen 126 Folien) und Timaeus (65 Folien) sollen insgesamt 191 Folien umfassen. Um nun die Folien passend in Quaternionen aufzuteilen, fehlt noch ein Blatt, um 192 Folien und somit 24 Quaternionen (8 Folien = 1 Quaternio) zu erreichen. Auf diesem fehlenden Blatt wird nun das ebenfalls verlorene Ende der Timaios-Übersetzung und der Anfang von De fato vermutet.13 In dieser fehlenden Textpassage wird Cicero das Thema der Schrift formuliert haben,14 vielleicht führte er auch den Grund an, warum er dieses Thema gewählt hat.15 Dabei mag er auf seine Ankündigung von De fato in den vorangegangenen Schriften De natura deorum und De divinatione ver_____________ 10 11 12
13
14 15
Klotz (1841), 311. Vgl. Klotz (1841), 311. Die Größenberechnungen der einzelnen Lücken gehen auf Yon (1950), LVIIIf. zurück (auf die Druckfehler bei den Zahlenangaben auf S. LVIIIf. hat bereits Philippson (1934), 1032f. Anm. 2 aufmerksam gemacht), der sich auf die grundsätzlichen Berechnungen von Clark (1918), 324–363 stützt. Clark betont selbst, daß seine Kalkulationen auf gewissen Schätzungen beruhen (S. 339f.), so daß die Ergebnisse in Relation zu den aufgestellten Prämissen gesehen werden müssen. Siehe auch die folgende Anm. und u. S. 94 Anm. 63. Vgl. Leœniak (1960), 402; Bréhier (1962), 470; Pini (1969), 480f.; Janssen (1992), 26f.; Bayer (2000), 172f.; Pimentel Álvarez (2005), XLIf. Eisenberger (1979), 154 Anm. 2, dem sich Marwede (1984), 11, 30 Anm. 28 anschließt, und Sharples (1991), 17 sehen diese Berechnung kritisch, da sie in Ermangelung zuverlässiger Anhaltspunkte auf reinen Schätzungen basiere, so daß auch ein größerer Textverlust möglich sei. Pesce (1970), 28 Anm. 1, Antonini (1994), 38 Anm. 1, Magris (1994), 81 Anm. 1, Barabino (1995), 77 Anm. 1 und Bayer (2000), 106 nehmen einen Textverlust von nur wenigen Zeilen an. Gillingham (1950), 91 und Majorov (1985), 40f. rechnen mit einem Verlust von zwei Sätzen oder sogar nur mit einem Verlust des ersten Teiles des ersten überlieferten Satzes. Vgl. Escobar (1999), 289 Anm. 1. Vgl. Ruch (1958), 299.
86
VII. Kommentar zu De fato
wiesen haben.16 Er kann weiterhin an dieser Stelle den Fatumsbegriff definiert und eine Erläuterung seiner philosophischen Bedeutung gegeben haben,17 vielleicht in einfachen, einleitenden Worten,18 vielleicht schon exakter, wie z. B. die Definitionen in div. I, 125 (siehe III.) oder im Servius-Fragment (siehe VI.5.) formuliert sind,19 sicher aber im griechischstoischen Sinne20. Eisenberger nimmt aufgrund der Bemerkung ut in utramque partem perpetua explicaretur oratio, quo facilius id a quoque probaretur, quod cuique maxime probabile videretur (§ 1) an, daß Cicero auf „die Umstrittenheit der Existenz des definierten fatum bei den Griechen“ verwiesen habe. Als Grund dafür habe er vielleicht das Problem der Vereinbarkeit von Fatum und Freiheit genannt, wodurch auch seine eigene Untersuchung über das Fatum motiviert sei.21 In der hellenistischen Zeit wurde die Philosophie üblicherweise in die drei Teildisziplinen Physik, Ethik und Logik unterteilt.22 Die Ethik und die Logik werden von Cicero in dem erhaltenen Text der Einleitung erwähnt, die Physik wird in dem fehlenden Text angesprochen worden sein.23 Wahrscheinlich hat Cicero auch ausdrücklich darauf verwiesen,24 daß sich die Fatumsdiskussion auf alle drei Teilgebiete gleichermaßen bezieht.25 Sollte in der Einleitung schließlich noch eine gesonderte Widmung gestanden haben, dann kann diese wohl nur an Hirtius gerichtet gewesen sein. Eine andere Verfahrensweise ließe sich kaum mit Ciceros Absicht vereinbaren, Hirtius eine Ehrung in literarischer Form zuteil werden zu lassen (siehe VI.2.).26 _____________ 16
17 18 19 20 21 22 23 24 25 26
Aus diesen Ankündigungen ist deutlich zu erkennen, daß Cicero schon seit längerer Zeit eine Abhandlung ‚Über das Schicksal‘ plante und nicht – wie Bayer (2000), 111 vermutet – durch den „Eingriff des Schicksals in Cäsars Pläne“ motiviert wurde, eine solche zu verfassen. Vgl. Eisenberger (1979), 159, dem sich Sharples (1991), 18 Anm. 2 anschließt. Vgl. Ruch (1958), 299, 358; Eisenberger (1979), 155. Vgl. Sharples (1991), 161. Vgl. Philippson (1934), 1033; Eisenberger (1979), 155. Vgl. Eisenberger (1979), 155. Vgl. Eisenberger (1979), 156. Siehe hierzu DL VII, 39–41 (teilw. SVF II, 37, 38, 41, 43; LS 26B; FDS 1); SE AM VII, 16–23 (teilw. SVF II, 38, 44, teilw. LS 26D; FDS 20). Weitere Zeugnisse finden sich in SVF II, 35–44; LS 26A–D; FDS 14–26. Vgl. Bloos (1973), 17–23; Graeser (1975), 8–23. Vgl. Gillingham (1950), 212 Anm. 225; Eisenberger (1979), 158, der annimmt, daß Cicero „die Bestimmung des Wesens und der Arten der causa“ als die Aufgabe der Physik herausgestellt hat, da sie für die Fatumsdiskussion von großer Bedeutung sei; Bayer (2000), 107. Vgl. Ps.-Plutarch, fat. 3, 568f. Vgl. Philippson (1934), 1032; Bréhier (1962), 470, 1292; Marwede (1984), 10. Bayer (2000), 107 nimmt eine Widmung an, Gillingham (1950), 90 („Hirtius would have been addressed in the second person, were there a formal dedication; the Brutus and the De Divinatione are similar in this respect“), Büchner (1964), 414, Eisenberger (1979), 154 und Wassmann (1996), 218 nehmen dagegen keine Widmung an.
VII.1. Lacuna A – § 4: Das Proömium
87
b. § 1: Die Teilgebiete der Philosophie, das stoische ɒǘʇǣǖNj und die Methodik Zu Beginn des überlieferten Textes spricht Cicero von den drei Teildisziplinen der hellenistischen Philosophie die Ethik und die Logik an. Dabei ist sein Anliegen, dem römischen Leser die griechische Terminologie durch eine Übersetzung ins Lateinische verständlicher und zugänglicher zu machen. Das griechische Wort ɸǒǙǜ wird mit mores übersetzt, so daß die Teildisziplin der Ethik gewöhnlich mit de moribus (‚über die Sittlichkeit‘) umschrieben wird, aber vielleicht sei es angemessener, so Cicero, ‚Ethik‘ mit philosophia moralis zu umschreiben. Cicero hat nach seinem eigenen Bekunden mit dem Adjektiv moralis die lateinische Sprache um ein neues Wort bereichert.27 Für das griechische ǕǙǍǓǔɰ wählt er die lateinische Umschreibung ratio disserendi.28 Er betont, daß gerade die Logik ein zentrales Thema darstellen werde, wobei besonders die für die Fatumsdiskussion relevante Frage zu klären sei, welche Bedeutung zukunftsbezogenen Aussagen zukomme. Diese obscura quaestio 29 – die Frage, was zukünftig geschehen und nicht geschehen kann – wurde in der Antike unter dem Namen ‚über das Mögliche‘ (ǚǏǛʈ ǎǟǗNjǞʸǗ) geführt, was Cicero mit de eo, quod possit fieri aut non possit umschreibt. Mit enuntiatio übersetzt Cicero an der vorliegenden Stelle das griechische ɒǘʇǣǖNj. Ein ɒǘʇǣǖNj ist ein wichtiger Bestandteil innerhalb der stoischen Logik und zeichnet sich durch besondere Eigenschaften aus. Nach Diogenes Laërtios leitet sich das Wort von dem Verb ɒǘǓoʩǝǒNjǓ (‚etwas für richtig oder wahr befinden‘) ab.30 Eine einheitliche Übersetzung des griechischen Terminus hat sich nicht durchgesetzt,31 auch Cicero selbst übersetzt uneinheitlich. Er wählt erst einmal pronuntiatum, bis er eine bessere Übersetzung gefunden habe32 und bedient sich später der Peri_____________ 27 28 29
30 31 32
Forcellini III, 288 und TLL VIII, 1472.82–84 geben als erste Verwendung des Wortes moralis die vorliegende Textstelle an. Eine ähnliche Umschreibung liefert Cicero in fin. I, 22 (LS 19H): iam in altera philosophiae parte, quae est quaerendi ac disserendi, quae ǕǙǍǓǔɰ dicitur (vgl. IV, 8), in Top. 6 (LS 31F; FDS 75): ratio diligens disserendi und in Ac. I, 30: pars, quae erat in ratione et in disserendo. Vgl. Gellius VII, 2.15 (Fragment 1, siehe VI.5.), der in Anlehnung an Cicero sagt: quaestionem istam diceret obscurissimam esse et inplicatissimam. Vgl. Cicero, nat. I, 1: perdifficilis […] et perobscura quaestio est de natura deorum (siehe hierzu Gawlick (1956), 18–26). Ähnlich bemerkt Augustinus in der Einleitung von De beata vita (I, 1) im Hinblick auf das Verhältnis von Gott, Natur, Notwendigkeit und menschlichem Willen: res enim multum obscura est. Vgl. DL VII, 65 (SVF II, 193; FDS 874). Vgl. M. Frede (1974), 32 Anm. 1. Als Übertragungen finden sich (e)dictum, effatum, rogamentum, proloquium, profatum, enuntiatum, enuntiatio und enuntiativum. Vgl. Paolillo (1957), 24; M. Frede (1974), 32 Anm. 1; FDS 687; Johanson und Londey (1988), 327–332. Vgl. Tusc. I, 14.
88
VII. Kommentar zu De fato
phrase quod est quasi effatum 33. In De fato bietet er schließlich mit pronuntiatio (§ 26), enuntiatum (§§ 19, 28) und enuntiatio (explizit §§ 1, 20, ferner §§ 21, 27, 37, 38) drei verschiedene Übersetzungsvarianten an. Gellius lehnt sogar ausdrücklich eine Übersetzung ab, so daß zu vermuten ist, daß der Begriff ɒǘʇǣǖNj als Terminus technicus allgemein bekannt war.34 Ein ɒǘʇǣǖNj ist als Aussagesatz neben anderen Satzarten, wie z. B. Befehlen, Fragen oder Wünschen, unter die sogenannten „Lekta“ subsumiert und besitzt entweder den Wahrheitswert „wahr“ oder den Wahrheitswert „falsch“.35 Definiert ist es als ein ‚vollständiges Lekton, welches behauptet werden kann, soweit dies an ihm liegt‘36 (ǕǏǔǞʘǗ NjʤǞǙǞǏǕɩǜ ɒǚǙǠNjǗǞʘǗ ʛǝǙǗ ɫǠ’ ɪNjǟǞˆ).37 Ein Lekton (ǕǏǔǞʗǗ) ist unkörperlich gedacht (wie auch die Leere, die Zeit und der Ort)38 und stellt etwas ‚Sagbares‘ dar, das sich in Übereinstimmung mit einer rationalen Vorstellung (ǠNjǗǞNjǝʇNj ǕǙǍǓǔɰ) bildet.39 Durch das Adjektiv NjʤǞǙǞǏǕɨǜ wird ausgedrückt, daß das Ausgesagte keiner weiteren Ergänzung oder Erklärung mehr bedarf. Die Aussage ist vollständig und kann in der so formulierten Weise verstanden werden. Das Besondere an den stoischen ɒǘǓʰǖNjǞNj ist der Umstand, daß ihre Wahrheit (oder Falschheit) von den zu verschiedenen Zeiten gegebenen Umständen abhängt. So können ɒǘǓʰǖNjǞNj ihren Wahrheitswert ändern (die sogenannten ǖǏǞNjǚʇǚǞǙǗǞNj, siehe VII.7.a) oder auch ganz ‚vergehen‘ (ǠǒǏʇǛǏǝǒNjǓ, siehe VII.5.g.).40 Cicero geht nun auf die Methodik seiner Abhandlung ein. Ursprünglich hatte er ganz in der Manier der neuakademischen Skepsis geplant, De fato so anzulegen, wie er auch De natura deorum und De divinatione zuvor angelegt hatte, nämlich in der Form einer ‚Untersuchung beider Standpunkte‘ (in utramque partem disserere). Bei dieser Vorgehensweise wird sowohl die pro-Argumentation als auch die contra-Argumentation in Bezug auf eine Fragestellung solange herausgearbeitet und gegenübergestellt, bis sich ein (idealerweise vollkommenes) Gleichgewicht der Argumente _____________ 33 34 35 36 37 38 39 40
Vgl. Ac. II, 95 (SVF II, 196; FDS 82). Vgl. Gellius XVI, 8.5 (FDS 877). Vgl. SE AM VIII, 70–74 (SVF II, 187; teilw. LS 34B; FDS 876); DL VII, 66f. (FDS 874); Ps.-Plutarch, fat. 11, 574f (SVF II, 912, FDS 883). Übersetzung: Hülser, FDS, S. 1095, vgl. S. 1087, S. 1337. Vgl. SE PH II, 104 (LS 35C; FDS 1030); Gellius XVI, 8.4 (SVF II, 194; FDS 877); DL VII, 65 (SVF II, 193; LS 34A; FDS 874). Vgl. Hossenfelder (1967); Long (1971b), 82; M. Frede (1974), 33; Ebert (1991), 34. Vgl. SE AM VIII, 265 (FDS 959); X, 218 (SVF II, 331; LS 27D; FDS 720). Vgl. SE AM VIII, 70 (SVF II, 187; LS 33C; FDS 699, 876); DL VII, 63 (SVF II, 181; LS 33F; FDS 696). Vgl. Long (1971b); M. Frede (1974), 32–49; (1994); Bobzien (1986), 11–39; M. und W. Kneale (1986), 139–158; D. Frede (1990), 212–220; Schubert (1994), 15–148. Zeugnisse finden sich in SVF II, 193–206a und in LS 33A–P.
VII.1. Lacuna A – § 4: Das Proömium
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(ʊǝǙǝǒɨǗǏǓNj ǞʸǗ ǕʗǍǣǗ) eingestellt hat. Auf diese Weise, so Cicero, könne der Leser den Darlegungen besser folgen und sich schließlich für den Standpunkt entscheiden, den er für den ‚wahrscheinlichsten‘ (maxime probabile) halte.41 Doch durch einen Umstand sieht Cicero sich daran gehindert, die geplante Darstellungsweise zur Ausführung zu bringen. Der casus, wie Cicero sich ausdrückt, ist ein politischer.42 Caesars Tod änderte die politische Situation. Mit seinem Vorhaben, Hirtius, den ehemaligen Caesaranhänger und designierten Konsul des kommenden Jahres 43, für De fato als Gesprächspartner zu wählen (siehe VI.1., VI.2.) und ihn auf diesem Wege für die republikanischen Restaurationsbestrebungen zu gewinnen, kann Cicero endlich wieder politische Akzente setzen – was zu tun ihm unter der Diktatur Caesars nicht möglich und auch nicht sinnvoll erschien. Allerdings mag er es als problematisch erachtet haben, seinen ursprünglichen literarischen Plan mit Hirtius als Gesprächspartner zu realisieren, da dieser als „ganz unphilosophisch“43 galt. Auch wenn sich Hirtius rhetorisch und literarisch bemühte (siehe VI.2., VII.1.c.), so war er doch in erster Linie ein Mitglied des caesarianischen Militär- und Verwaltungsapparates, dem eine ausführliche Diskussion im Stil der geplanten Form des in utramque partem disserere über das Thema de fato zuzutrauen doch zu unglaubwürdig gewesen wäre.44 Eine elegante „Lösung“ bot sich daher in der Änderung _____________ 41 42
43
44
Vgl. Cicero, Ac. I, 43–46 (LS 68A); II, 7–9 (teilw. LS 68S); Tusc. I, 8. Siehe hierzu ausführlich Leonhardt (1999), 13–88 und Haltenhoff (2000), 223–229. Bayer (2000), 111 nimmt an, daß das Thema de fato durch den „Eingriff des Schicksals in Cäsars Pläne“ motiviert gewesen sei. Antonini (1994), 6, 40 Anm. 4 sieht nicht zu Unrecht in der Wortstellung fato casus ein Oxymoron, das nicht zufällig entstanden, sondern aus programmatischen Gründen von Cicero bewußt gewählt worden sei. Allerdings scheint Antonini den casus auf das Treffen mit Hirtius in Puteoli zu beziehen, was sie – gegen das Zeugnis der Atticus-Briefe (siehe VI.2., VI.3.) – in dieser Form als eine Fiktion ansieht. Adamczyk (1961), 298 sieht in casus quidam ebenfalls eine Referenz auf die häufigen Besuche des Hirtius auf dem Puteolanum. Marwede (1984), 82 hält den casus nur für den ‚dramaturgischen Grund‘, De fato nicht in zwei Büchern zu schreiben. Der casus habe sich vielleicht auf etwas bezogen, was in der folgenden Lacuna verlorengegangen sei. Strasburger (1990), 47 überlegt, ob Cicero eine genauere Erläuterung des casus quidam mit der Absicht weggelassen haben könnte, um auf diesem Wege „um Verständnis für die Einlassung des Caesarianers in den geweihten Kreis zu bitten“. Philippson (RE), 1162. Vgl. Yon (1950), VII; Paolillo (1957), 14; Ruch (1958), 299f.; Adamczyk (1961), 294 („As Hirtius was not a learned man, his choice for the dialogue was not a successful one. But Cicero is consistent enough not to allow him to be anything but a listener, while he himself carries the entire discourse“); Görenz (1830), 160; Hirzel (1963) I, 540 Anm. 3; Majorov (1985), 41; Kerschensteiner (1986), 573; Glei (1993), 322; Antonini (1994), 40 Anm. 7; Magris (1994), 6; Rawson (1994), 245; Pimentel Álvarez (2005), XXI. Vielleicht, glaubt Barabino (1995), XXXIIf., habe Hirtius in Ciceros Augen auch nicht genug Charisma besessen, um ihn an einer anspruchsvollen Diskussion über Fatum und Freiheit teilnehmen zu lassen.
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VII. Kommentar zu De fato
der geplanten Darstellung an.45 Die offizielle Erklärung für diese Änderung ist allerdings eine andere und wird in § 4 von Hirtius selbst gegeben: Da er bereits oft die rhetorischen Übungen Ciceros gehört habe und noch oft hören werde, wolle er ihm lieber bei einem längeren philosophischen Vortrag zuhören. „Daß Cicero sich von Hirtius selbst darum bitten läßt, wird man als höfliche Geste verstehen: Hirtius soll nicht kompromittiert werden“46. So wird Hirtius eine These aufstellen, damit Cicero sie dann in einem einzigen, zusammenhängenden Vortrag widerlegen kann. Diese ebenfalls akademische Methode des contra propositum disputare hat Cicero bereits in den Tusculanen angewandt (§ 4: hanc Academicorum contra propositum disputandi consuetudinem indicant te suscepisse Tusculanae disputationes).47 Eine derartige Modifikation der Darstellung mit Blick auf den Gesprächspartner ist nicht ungewöhnlich und entbehrt auch nicht der Paral_____________ 45
46 47
Adamczyk (1961), 304 merkt an, daß Cicero mit dieser Änderung auf eine literarische Form habe zurückgreifen können, mit deren Hilfe der philosophische Gehalt klarer dargestellt und so eine größere Leserschaft erreicht werden könne. Für Appuhn (1937), 256 resultiert die Tatsache, daß Cicero De fato doch nur in Form eines einzigen Buches konzipiert hat, daraus, daß er zum einen die Arbeit schnell habe beenden wollen und zum anderen nicht mehr gewillt gewesen sei, weiterhin über ein so schwieriges Thema zu philosophieren. Wenn Cicero seinen ursprünglichen Plan vor dem Hintergrund der bescheidenen philosophischen Kenntnisse des Hirtius dennoch durchgeführt hätte, glaubt Paolillo (1957), 14f., hätte er ihn nur der Lächerlichkeit preisgegeben. Das könne aber nicht der Hauptgrund für die Planänderung gewesen sein. Vielmehr seien die Umstände der Abfassungszeit entscheidend. Cicero sei sehr von den unruhigen politischen Verhältnissen eingenommen gewesen, so daß er keine Muße gefunden habe, das Thema de fato in der geplanten Weise aufzuarbeiten. Zudem habe er die Hoffnung gehegt, nach Caesars Tod wieder eine größere politische Rolle spielen zu können, so daß seine literarischen Bemühungen für ihn nur von sekundärer Bedeutung gewesen seien. Auf der anderen Seite habe er De fato nicht aufgeben wollen, weil er die Behandlung dieses wichtigen Themas angekündigt habe. Mit der letztlich von ihm gewählten Form habe er eine angemessene Lösung gefunden, das Thema gut und knapp in einem einzigen Buch darzustellen. In ähnlicher Weise glaubt Ruch (1958), 299f., daß zum einen die philosophische Unkenntnis des Hirtius, zum anderen der Zeitdruck während der Abfassungszeit Cicero zur Wahl der didaktischen und nicht der dialogischen Form bewogen habe. Eine andere Motivation für die Planänderung sieht Pini (1969), 480 in der Tatsache, daß Quintus Hirtius gehaßt habe. Da Cicero aber aus politischen Gründen Hirtius habe ehren wollen, habe er auf ein Buch verzichtet, in dem Quintus die stoische Lehre darstellt. Magris (1994), 9 geht davon aus, daß Cicero ursprünglich zwei Bücher geplant habe. Nun sei aber Hirtius, den er aus politischen Gründen als Gesprächpartner gewählt habe, ein Epikureer gewesen, so daß er nicht die stoische Lehre darstellen sollte. Deshalb habe Cicero De fato auf ein Buch gekürzt, in dem Hirtius sich darauf beschränken sollte, die zu widerlegende These vorzutragen. Antonini (1994), 6 und BleichSchade (1996), 120 nehmen an, daß Cicero mit seiner Wahl der literarischen Form die Darstellung der stoischen These von stoischer Seite aus habe verhindern wollen, um so eine stärkere Ablehnung des Fatumsbegriffs und eine größere Betonung der antifatalistischen Sache zu erreichen. Glei (1993), 322 Anm. 12. Vgl. Tusc. I, 7f.; II, 9; nat. I, 11.
VII.1. Lacuna A – § 4: Das Proömium
91
lele, denn Cicero hat immer darauf geachtet, daß die von ihm gewählten Gesprächspartner sowie die Form und der Inhalt seiner Schriften miteinander harmonieren.48 c. § 2: Der Gesprächsrahmen und der Gesprächspartner In § 2 präsentiert Cicero den Rahmen des Gesprächs. Hirtius besucht Cicero auf dessen Landsitz bei Puteoli (siehe VI.2., VI.3.). Mit den Worten nobis amicissimus und his studiis … deditus wird Hirtius als Gesprächspartner in die Untersuchung eingeführt. Wenn Cicero an dieser Stelle Hirtius als einen ‚sehr guten Freund‘ bezeichnet, dann drückt das mehr den Wunsch im Hinblick auf die republikanische Sache als die tatsächliche Situation ihres Verhältnisses zueinander aus.49 In seinen Briefen an Atticus zeigte sich Cicero dem ehemaligen Caesar-Günstling gegenüber eher reserviert, zumal er an Hirtius’ Loyalität ohnehin zweifelte. Daher war das Verhältnis zwischen den beiden Männern weitaus sachlicher, als der Superlativ amicissimus dies vermuten lassen könnte (siehe VI.2.). Auch die Äußerung his studiis … deditus wird sehr wohlwollend von Cicero gewählt worden sein. Wie ‚ergeben‘ Hirtius der Philosophie auch tatsächlich gewesen sein mag, muß in Ermangelung einschlägiger Zeugnisse dahingestellt bleiben. Immerhin ist bekannt, daß er schriftstellerisch tätig war. Abgesehen davon, daß er sich an einer Schmähschrift gegen Cato versuchte (siehe VI.2.), verfaßte er Buch VIII von Caesars De bello Gallico und konnte so die chronologische Lücke zwischen diesem und dem bellum civile schließen.50 Auch ist bezeugt, daß Hirtius ab 46 Rhetorikunter_____________ 48
49 50
Eine Parallele findet sich bei den Academici libri. Nach der Komposition des Hortensius, Catulus und Lucullus kamen Bedenken auf, daß Hortensius, Catulus und Lucullus als Gespächspartner nicht glaubwürdig genug seien, da sie bei weitem nicht so philosophisch versiert seien, wie sie in den Dialogen dargestellt würden (vgl. Att. XIII, 12(24).3, 13(25).1, 16(27).1, 19(29).3f.). Daher versah Cicero die Dialoge mit einem Zusatz, um explizit auf das philosophische Interesse der Hauptfiguren hinzuweisen, wodurch er die Glaubwürdigkeit seiner literarischen Komposition zu erhöhen hoffte. Doch die Änderungen waren nur von kurzer Dauer. Zwar blieb der Hortensius weitgehend in seiner ursprünglichen Gestalt, aber der Lucullus sowie der Catulus wurden von Cicero in die Academici libri umgeschrieben, wobei Varro der Gesprächspartner wurde. Vgl. Jones (1939), 324f.; Levine (1957), 147f.; Gelzer (1969), 297f.; Bringmann (1971), 111, Strasburger (1990), 42; Wassmann (1996), 237–239; Griffin (1997); Straume-Zimmermann (1997), 311–326. Vgl. Strasburger (1990), 47f., der mit Verweis auf die Briefe betont, daß das politische Einverständnis zwischen Cicero und Hirtius weitaus geringer gewesen sei als es erscheine. Sueton, Div. Jul. 56.1 nennt explizit Hirtius als Autor des achten Buches, verweist allerdings darauf, daß schon zu seiner Zeit die Verfasser des bellum Alexandrinum, des bellum Africanum und des bellum Hispaniense unbekannt gewesen seien (nam Alexandrini Africique et Hispaniensis
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VII. Kommentar zu De fato
richt bei Cicero nahm.51 Offensichtlich aber schien Cicero dessen tatsächliche Fähigkeiten auf philosophischem Gebiet nicht sehr hoch einzuschätzen; denn wenn er angenommen hätte, daß die Darstellung in der Form eines Dialoges, in dem er ihm, Hirtius, eine sichere Bewältigung des schwierigen in De fato zu behandelnden Stoffes hätte unterstellen müssen, glaubwürdig gewesen wäre, hätte er auch seine geplante Darstellung in der Form des in utramque partem disserere beibehalten können. Im Hinblick auf seine Absicht aber, Hirtius’ Gunst zu erlangen, findet Cicero für ihn in der Einleitung der Schrift selbstverständlich nur schmeichelnde Worte.52 d. §§ 3–4: Rhetorik und Philosophie Während des Aufenthalts auf dem Puteolanum führen Cicero und Hirtius Gespräche zur Situation des Staates. Cicero betont, daß ihnen dabei besonders die ‚Ruhe und Eintracht für die Bürger‘53 während der politischen Wirren nach dem Tode Caesars am Herzen liege. Mit diesem Hinweis empfiehlt Cicero sowohl Hirtius als auch sich selbst beim Leser als besorgte Politiker. An einem ruhigeren Tag dann, nachdem die Gespräche über die politische Situation beendet sind, fragt Hirtius, ob er etwas von Ciceros philosophischen Untersuchungen hören könne, die er den rhetorischen Übungen doch wohl nur vorgezogen habe, ohne diese, so hofft Hirtius, gänzlich aufgegeben zu haben. Cicero bestätigt diese Hoffnung, wobei er hinzufügt, daß die Philosophie nicht abträglich für die Rhetorik sei. Im Gegenteil, sie sei ihr sogar dienlich, denn gerade mit der neuakademischen Philosophie, der er sich angeschlossen habe, stehe der Redner in enger Verbindung: Auf der einen Seite könne er aus dieser Art der Philosophie die Scharfsinnigkeit entlehnen und auf der anderen Seite der Philosophie die Wortfülle und den Redeschmuck zurückgeben.54 Cicero läßt sich an dieser Stelle einen expliziten Verweis auf die Verbindung von Philosophie und Rhetorik nicht nehmen, die für den römi_____________
51 52 53 54
incertus auctor est: alii Oppium putant, alii Hirtium, qui etiam ‚Gallici belli‘ novissimum imperfectumque librum suppleverit). Zuweilen wird das bellum Alexandrinum auch Hirtius zugeschrieben (z. B. Seel (1935), 13–45, Marwede (1984), 84; Sharples (1991), 160; Escobar (1999), 291 Anm. 10), doch diese Urheberschaft wird in der neueren Forschung stark bezweifelt. Siehe hierzu Patzer (1993), insbesondere 122f. Siehe o. S. 39 Anm. 36. Vgl. Gillingham (1950), 213 Anm. 227 („Cicero doubtless exaggerates the philosophic pretensions of Hirtius“); Daly (1951), 114; Kerschensteiner (1986), 571, 574. Adamczyk (1961), 299 sieht in concordiam civium eine Anspielung auf die concordia ordinum oder concordia omnium bonorum, die Ciceros essentielle Forderung für den Idealstaat darstelle. Vgl. nat. II, 168; Orator 12f.; parad. 2; Brut. 120.
VII.1. Lacuna A – § 4: Das Proömium
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schen Leser nicht selbstverständlich war. Im Gegensatz zur Rhetorik genoß die Philosophie bei den eher praktisch orientierten Römern kein großes Ansehen, weil sie in ihr allgemein keinen Nutzen für das private, schon gar nicht für das politische Leben sahen.55 Daher galt die Philosophie, wenn man sich ihr schon hingeben wollte, als reine Beschäftigung für die Zeit der Muße, nachdem die Pflichten erledigt waren.56 Cicero selbst hatte von frühester Jugend an eine hohe Meinung von der (griechischen) Philosophie,57 und seit seinem Frühwerk De inventione hat er immer wieder auf die förderliche Wechselbeziehung von Weisheit bzw. Philosophie und Rhetorik verwiesen.58 Dieses Verhältnis hat er in De oratore ausführlich behandelt und entwirft auf dieser Basis das Idealbild eines ‚vollkommenen Redners‘ (orator perfectus), der nicht nur durch natürliche Anlagen und fleißiges Üben der Redetechnik die Rhetorik beherrscht, sondern auch umfassend philosophisch gebildet ist,59 so daß Rhetorik und Philosophie ineinandergreifen und zu einer umfassenden Bildungseinheit verschmelzen.60 Schließlich entspricht Cicero auf zuvorkommende Weise dem Wunsch des Hirtius, gegen eine von ihm aufgestellte These in einem zusammenhängenden Vortrag zu argumentieren.61 Die Paragraphen 3–4 bilden ein kurzes, zwangloses Gespräch, mit dem Cicero zu der philosophischen Auseinandersetzung überleitet.62 _____________ 55 56 57 58 59 60
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Vgl. z. B. Ac. II, 5–7; fin. I, 1–3; Tusc. II, 4; off. II, 2. Vgl. z. B. div. I, 11; off. II, 4; fin. I, 1. Vgl. Graff (1963), 46–54; Burkert (1965), insbesondere 177f., jeweils mit zahlreichen Stellenverweisen. Zu Ciceros öffentlicher Rechtfertigung seiner philosophischen Schriften siehe Graff (1963), 58–62. Vgl. z. B. inv. I, 1; Tusc. I, 7; II, 9; De orat. I, 20; II, 5; III, 55, 142; Orator 12–17; fin. V, 7. Der orator perfectus besitzt über die im eigentlichen Sinne philosophischen Kenntnisse hinaus z. B. auch noch historische und juristische Kenntnisse. Vgl. Gilson (1971); Barwick (1973); Schmid (1973), 48f. Vgl. Graff (1963), 69–76; Gilson (1971); Barwick (1973); Ryan (1982), 306–337; Steinmetz (1989), 6. Den grundsätzlichen Wert der Philosophie verteidigt Cicero in seiner als Protreptikos angelegten Schrift Hortensius, von dem aber nur noch einige Fragmente erhalten geblieben sind. Kerschensteiner (1986), 574 bemerkt: „Die kleine Auseinandersetzung um Rhetorik und Philosophie mag zugleich ein Versuch sein, den materiellen Dingen recht zugewandten Hirtius auch an bedeutsameren Gegenständen zu interessieren; in der Diskussion um das Thema des gewünschten Vortrags liegt eine kleine Zurechtweisung: ist es in diesen Schicksalstagen der res publica, wo es um pax und otium geht, wirklich angemessen, schulmäßige Deklamationen zu pflegen?“. Vgl. Becker (1938), 35, 54, der darauf hinweist, daß Cicero schon in De natura deorum (I, 15– 17) und De divinatione (I, 8–11) in ähnlicher Weise verfahren sei. Vgl. Escobar (1999), 291 Anm. 12.
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VII. Kommentar zu De fato
2. Lacuna B An dieser Stelle herrscht im überlieferten Corpus von De fato die größte Lücke, die besonders den Hauptteil der Abhandlung betrifft. Der Umfang des Textverlustes ist wie folgt berechnet worden: Die Gesamtgröße des Archetypus Q soll etwa 40 Quaternionen (zu je 8 Folien) betragen. Die im Archetypus Q vor De fato enthaltenen Werke erstrecken sich über 24 Quaternionen (siehe VII.1.a.). Die hinter De fato überlieferten Schriften werden auf den Umfang von 122 Folien berechnet, woraus sich umgerechnet 15 Quaternionen und 2 Folien ergeben. Um den nächsten, 16. Quaternio zu komplettieren und so den angenommenen Gesamtumfang von 40 Quaternionen zu erreichen, fehlen noch 6 Folien, die etwa 9 Seiten der Teubner-Edition von C. W. F. Müller entsprechen. Da in dieser Edition der überlieferte Teil von De fato einen Umfang von etwas weniger als 19 Seiten umfaßt, fehlt laut dieser Berechnung etwa ein Drittel des Originaltextes.63 Aufgrund des großen Textverlustes wird eine genaue Rekonstruktion der fehlenden Passage unsicher bleiben. Allerdings kann der mutmaßliche Inhalt aufgrund einiger Hinweise im überlieferten Text von De fato und durch weitere Überlegungen annäherungsweise erschlossen werden. Kiaulehn nimmt an, daß in dem verlorenen Text noch eine genauere Beschreibung der Szenerie stattgefunden habe.64 Kerschensteiner vermutet, daß Cicero mit einem Verweis auf die politischen Umstände zu dem Thema der folgenden Untersuchung übergeleitet habe.65 Sollte Cicero aber in der Weise verfahren sein, dürfte in einem derartigen Verweis kaum mehr als eine kurze, literarische Anspielung auf die aktuellen Zustände der Republik zu sehen sein. Daß die politischen Umstände, d. h. Caesars Tod und die darauf folgenden Unruhen, Cicero nicht zu der Wahl des Themas de fato motiviert haben, ist aus den früheren Ankündigungen der Schrift sowie aus der deutlichen Trennung des politischen vom philosophischen Aspekt in der einleitenden Unterhaltung mit Hirtius zu erkennen.66 In jedem Fall wird Hirtius alsbald eine wahrscheinlich knappe, aber pointierte _____________ 63
64 65 66
Gemäß Yons Berechnungen (siehe o. S. 85 Anm. 12). Vgl. Appuhn (1937), 578 Anm. 331; Valgiglio (1967/68), 326; MacKendrick (1989), 351f. Anm. 2; Schröder (1990), 137; Janssen (1992), 26f.; Antonini (1994), 44 Anm. 13; Magris (1994), 12, 81 Anm. 11; Barabino (1995), 79 Anm. 16; Escobar (1999), 293 Anm. 17; Bayer (2000), 112; Takahata (2004), 132; Pimentel Álvarez (2005), XLIf., LVII Anm. 19. Eisenberger (1979), 159 Anm. 15 sieht diese Berechnung kritisch. Philippson (1934), 1035 Anm. 4 geht von einem größeren Verlust aus, als Yon ihn berechnet hat. Hamelin (1978), 11 nimmt vor den grundsätzlichen Berechnungen Clarks den Verlust von mehr als der Hälfte des Textes an. Nava Contreras (1998), 265 geht davon aus, daß nur etwa die Hälfte des Werkes überliefert worden sei. Vgl. Kiaulehn (1914), 181. Vgl. Kerschensteiner (1986), 573. Vgl. Eisenberger (1979), 159; Sharples (1991), 18 Anm. 2. Siehe auch o. S. 86 Anm. 16.
VII.2. Lacuna B
95
These wie etwa omnia fato fiunt aufgestellt haben,67 die Cicero dann in seiner folgenden Abhandlung zu widerlegen beabsichtigt.68 Eine Definition des Fatums in philosophischer Hinsicht wäre durchaus in einer Schrift ‚Über das Schicksal‘ zu erwarten gewesen, aber eine solche ist nicht überliefert. Wenn Cicero nicht in der Lacuna A eine solche Definition vorgelegt hat, dann wird er es an dieser Stelle getan haben, nachdem die These formuliert worden war.69 In § 40 sagt Cicero, er wolle die Beschaffenheit der Zustimmungen (adsensiones) betrachten, die er am Anfang der Untersuchung behandelt habe (videamus in adsensionibus, quas prima oratione70 tractavi ). Dies bedeutet, _____________ 67
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Sharples (1991), 18 Anm. 2 wirft die Frage auf, ob Hirtius bei seiner eher bescheidenen philosophischen Bildung überhaupt eine komplexere These zuzutrauen gewesen wäre. Dieser Gedanke spräche auch eher gegen die Annahme von Eckermann (1828), 93, daß Hirtius nicht nur einen „Antrag, über die zwingende Gewalt des Schicksals zu reden“, gestellt, sondern auch noch Beispiele von verschiedenen Ereignissen oder Prophezeiungen angeführt habe, die „den Gang des Schicksals zu bestimmen schienen“. Es ist wahrscheinlicher, daß die recht speziellen Beispiele, auf die Cicero in den Paragraphen 5–6 Bezug nimmt, von ihm selbst in der Lücke angeführt worden sind. Vgl. Eckermann (1828), 93; Philippson (1934), 1033; (RE), 1162; Gillingham (1950), 90; Weische (1961), 28; Süss (1966), 338; Marwede (1984), 4, 11. Pesce (1970), 32 Anm. 21 glaubt, daß Cicero in Anlehnung an De finibus (II, 2: ubi enim is, qui audire vult, ita dixit: ‚voluptas mihi videtur esse summum bonum‘, perpetua oratione contra disputatur, ut facile intellegi possit eos, qui aliquid sibi videri dicant, non ipsos in ea sententia esse, sed audire velle contraria) die in De fato zu widerlegende These mit omnia mihi videntur fato fieri formulieren ließ. Vgl. Pimentel Álvarez (2005), LVII Anm. 19. Janssen (1992), 104 nimmt an, daß Cicero die aktuelle politische Situation aufgegriffen habe und Hirtius eine These etwa wie folgt habe aufstellen lassen: ‚Wenn es von Ewigkeit her wahr gewesen sein soll, daß unser Land jetzt durch Bürgerkrieg heimgesucht wird, hat es dann Sinn, als Konsul dagegen anzutreten?‘. Antonini (1994), 44 Anm. 13 vermutet, daß Cicero im Zusammenhang mit der These auch die stoischen Beweise für die Existenz des Fatums angeführt habe. Vgl. Antonini (1994), 44 Anm. 13; Gourinat (2005b), 254. Pimentel Álvarez (2005), LVII Anm. 19 nimmt an, daß Cicero mit der Definition des Fatums auch die stoischen Argumente für die Existenz des Fatums angeführt habe. Der Ausdruck prima oratione könnte zu der Annahme verleiten, daß De fato (wie De divinatione) ursprünglich aus zwei Büchern bestand (vgl. z. B. Kühner (1825), 59: „Libris de Natura Deorum et de Divinatione adjunxit duos de Fato libros“, der aber auf S. 208 sagt: „Quaestionem de Fato, quam Cicero singulari libello latinis litteris illustrare suscepit, sequitur, ut paucis exponamus“. Vgl. Moser (1828a), 559). Siehe hierzu Ernesti (1776), 717; Bremi (1795), 1–3, 70f.; Schütz (1816), 451; Moser (1828a), 559f.; Le Clerc (1826), 332f.; Bouillet (1831), 665, 677f., 718 Anm. 4; Mangeart (1837), 394f.; Allen (1839), 141f.; Nisard (1843), 258; Meinecke (1887), 4; Yon (1950), IXf. Hier ist prima oratione nicht im Sinne von in primo libro, sondern im Sinne von in initio libri zu verstehen. Vgl. Forcellini III, 862f.; OLD, 1457; vgl. Hunt (1954), 149; Paolillo (1957), 78; Leœniak (1960), 400f.; Cappelletti (1964), 108 Anm. 107; Schiavon und Peruzza (1969), 35 („all’ inizio della mia esposizione“); Talanga (1986), 131 Anm. 144; Sharples (1991), 18. Hamelin (1978), 11 und Barabino (1995), XXXII verweisen auf Macrobius, Sat. III, 16.3: haec sunt in dialogo de fato verba Ciceronis. Allerdings läßt der Singular in dialogo keinen eindeutigen Schluß zu (siehe aber Yon (1950), X Anm. 2). Philippson (1934), 1033; (1939), 348 bemerkt in Anlehnung an Yon (1950), X
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VII. Kommentar zu De fato
daß in der Lücke die Lehre von den Zustimmungen zumindest kurz dargestellt worden sein muß.71 Schröder hält es für möglich, daß Cicero bei dieser Darstellung auch einen Hinweis auf seine offensichtlich anachronistische Diktion gegeben hat, der er sich bei seinem kurzen doxographischen Überblick in den Paragraphen 39–40 bewußt bediene (siehe VII.16.a.).72 Wahrscheinlich habe Cicero, so Pimentel Álvarez, auch bereits auf die versöhnliche Haltung Chrysipps hingewiesen.73 In § 7 ist von Ciceros Absicht die Rede, auf die Sympathielehre Chrysipps zu antworten (ad Chrysippi laqueos revertamur. cui quidem primum de ipsa contagione rerum respondeamus, reliqua postea persequemur). Es ist daher anzunehmen, daß Cicero Chrysipps Beispiele für das Wirken der Sympathie referiert74 und auf ihre Verbindung mit der Lehre vom Fatum verwiesen hat. Der Plural laqueos und der Verweis reliqua postea persequemur läßt vermuten, daß in diesem Zusammenhang noch weitere Aspekte der stoischen Lehre dargestellt worden sind.75 In § 11 beendet Cicero den Abschnitt mit quae tolluntur omnia, si vis et natura fati ex divinationis ratione firmabitur. Da in dem erhaltenen Teil von der divinatio nicht explizit die Rede ist, läßt der Satz vermuten, daß zuvor in der Lücke die Mantik behandelt worden ist.76 Ein möglicher Rückbezug findet sich weiterhin in § 8, in dem Cicero betont, daß sich der Einfluß der Sterne zwar auf einige, aber bei weitem nicht auf alle Dinge erstreckt (astrorum adfectio valeat, si vis, ad quasdam res, ad _____________
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Anm. 1 („Il est arbitraire de donner ici a oratione le sens de libro, et on attendrait d’autre part priore et non prima. En réalité prima oratione ne peut signifier que ‚le début de mon exposé‘ “), daß es priore heißen müßte, wenn ein ‚erstes Buch‘ gemeint gewesen wäre. Vgl. Leœniak (1960), 400f. Andrieu (1954), 38 mit Anm. 2 versteht das ähnliche prima fabula bei Terenz (Adelph., Prologus 9) mit Verweis auf Yon als „au début de la représentation“. Castrillo Benito (1997), 71, 73 nimmt an, daß De fato als ein Buch mit zwei darlegenden Teilen konzipiert worden sei. Der Hinweis prima oratione beziehe sich auf den ersten Teil, der sich bis zu der Poseidonios-Darstellung (§ 5) erstrecke. Vgl. Rackham (1948), 190, 196; Majorov (1985), 43 Anm. 26. Ryan (1982), 156 urteilt: „The treatise is fragmentary, but internal evidence suggests that Cicero made two speeches (see 40–41), each in response to a determinist thesis put forward by Hirtius“. Bremi (1795), 71 schlägt eine Änderung des überlieferten Textes in quas prima oratione tractavit [sc. Chrysippus] vor: Als Cicero begonnen habe, die verschiedenen Meinungen darzustellen, habe er ein Buch erwähnt, in dem Chrysipp sich mit dem Fatum auseinandersetze, und dann darauf verwiesen, daß dieser im ersten Teil dieses Buches, das vielleicht in Form einer Rede verfaßt worden sei, die Zustimmungen behandelt habe. Vgl. Eisenberger (1979), 161f.; MacKendrick (1989), 352 Anm. 2; Schröder (1990), 137, 143f. Anm. 17; Sharples (1991), 18; Janssen (1992), 104; Antonini (1994), 44 Anm. 13; Pimentel Álvarez (2005), LVII Anm. 19. Vgl. Schröder (1990), 143f. Anm. 17. Vgl. Pimentel Álvarez (2005), LVII Anm. 19. Vgl. Lörcher (1913), 60; Marwede (1984), 12; Gourinat (2005a), 223; (2005b), 254. Vgl. Sharples (1991), 164; Janssen (1992), 104f. Vgl. Valgiglio (1967/68), 326; Eisenberger (1979), 163f.; Marwede (1984), 8, 12f.
VII.2. Lacuna B
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omnis certe non valebit). Die Erwähnung der astrorum adfectio geschieht unvermittelt und ohne Erklärung, so daß auch an dieser Stelle eine Wiederaufnahme eines bereits in der Lücke behandelten Punktes, nämlich der Astrologie, angenommen werden kann.77 Cicero spricht in § 5 einige Beispiele an, die Poseidonios allem Anschein nach als Beleg für die Sympathielehre (contagio naturae) angeführt hat. Die knappe Form, in der Cicero dies tut, läßt annehmen, daß er diese Beispiele in § 5 bereits als bekannt voraussetzt. Daher ist davon auszugehen, daß er sie in der Lücke ausführlich referiert und erläutert hat. Ohne eine solche Erläuterung wären die Beispiele in ihrer knappen Erwähnung dem Leser nicht leicht verständlich.78 Vielleicht hat Cicero im Zusammenhang mit diesen Beispielen auch darauf verwiesen, daß die Mantik mit der Existenz des Fatums, dessen Wirken sich in einem kausal geschlossenen Weltgeschehen manifestiert, begründet wird79 und daß die Stoiker deshalb die Annahme von akausalen Phänomenen ablehnen.80 Wahrscheinlich hat Cicero im Hinblick auf die Paragraphen 7–9 auch schon die These Chrysipps dargelegt, daß natürliche, vorausgehende Ursachen einen determinierenden Einfluß auf den Charakter des Menschen ausüben.81 Donini will nicht ausschließen, daß in diesem Zusammenhang auch die ‚alten Philosophen‘ (veteres) genannt worden seien, deren Meinungen Cicero in § 40 referiert.82 Aufgrund der Aussage nam aut nihil omnino est fortuitum, aut hoc ipsum potuit evenire fortuna, die Cicero in § 6 tätigt, vermutet Bayer, daß in der Lücke auch der Zufall behandelt worden sei, da der Satz sonst schlecht verständlich sei. Aus dieser Vermutung leitet er die weitere Vermutung ab, daß Cicero Poseidonios die Existenz des Zufalls in einigen Erscheinungen zugeben ließ.83 Ein Zugeständnis zufälliger (d. h. kontingenter) Ereignisse ist Poseidonios jedoch kaum zu unterstellen, da es mit den grundlegenden Prämissen der stoischen Kosmologie in Widerspruch geriete (siehe V.2.). Der berühmte Ringer Milon (§ 30), so Sedley, stamme aus der Stadt Kroton, die für ihr gesundes Klima sprichwörtlich gewesen sein soll. Daher sei es wahrscheinlich, daß diese Stadt im Zusammenhang mit Athen und Theben in der Lücke erwähnt worden sei.84 _____________ 77 78 79 80 81 82 83 84
Vgl. Sharples (1991), 162, 165; Ioppolo (2002), 229. Vgl. Jacobs (1840), 334 Anm. 11; Schmekel (1892), 165; Eisenberger (1979), 164f.; Theiler (1982) II, 313; EK II.1, 419f.; Sharples (1991), 18. Siehe hierzu u. S. 113f. Vgl. Sharples (1991), 18 mit Verweis auf Eisenberger (1979), 163; Gourinat (2005a), 223. Vgl. Sharples (1991), 164; Sedley (1993), 314. Vgl. Donini (1989), 133. Vgl. Bayer (2000), 115, dem Eisenberger (1979), 165 widerspricht. Vgl. Sedley (1993), 320 Anm. 25.
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VII. Kommentar zu De fato
Appuhn nimmt an, daß in der Lücke der ethische Teil verlorengegangen sei, dessen Ende mit den Paragraphen 5–11 vorliege.85 Amand, der ebenfalls in den Paragraphen 5–11 den Rest des ethischen Teiles sieht, hält es für wahrscheinlich, daß an dieser Stelle vor allem der kausale Determinismus durch moralische Argumente des Karneades widerlegt worden sei.86 Abgesehen davon aber, daß die Paragraphen 5–11 eher zur Physik als zur Ethik zu zählen sind, erscheint es unwahrscheinlich, daß Cicero die stoischen Argumente bereits in der Lücke widerlegt hat. Andernfalls hätte er sich wiederholen müssen, denn die Widerlegung der Sympathielehre erfolgt in den Paragraphen 5–11 und die des kausalen Determinismus durch die Ursachenunterscheidung in den Paragraphen 23–25. Die Ethik wird primär in den Paragraphen 39–45 behandelt. Marwede will nicht ausschließen, daß sich der von Cicero erwähnte casus, der ihn an der Umsetzung seiner geplanten Darstellungsweise von De fato gehindert habe, zumindest teilweise auf etwas beziehe, das in der Lücke verlorengegangen sei, z. B. auf einen Umstand, der Hirtius veranlaßt habe, Cicero um ein Gespräch speziell über das Schicksal zu bitten.87 Escobar vermutet, daß sich der casus quidam auf Caesars’ Tod beziehe und daß Cicero auf dieses Ereignis in der Lücke noch einmal eingegangen sei.88 Aufgrund dieser Rückverweise kann also angenommen werden, daß in der verlorenen Passage die Mantik, die Sympathielehre, die Astrologie und die Lehre von den Zustimmungen Erwähnung fanden. In welcher Form Cicero diese Punkte genau behandelt hat, ist auf der Grundlage des überlieferten Textes nicht eindeutig zu bestimmen. Das gilt insbesondere für die Mantik, die Sympathielehre und die Astrologie, denn all diese Aspekte der stoischen Philosophie leiten sich aus der Existenz des Fatums ab, werden aber auch wiederum zur Bestätigung des Fatums angeführt, so daß sich Mantik, Sympathielehre und Astrologie gegenseitig bedingen.89 Der resümierende Satz quae tolluntur omnia, si vis et natura fati ex divinationis ratione firmabitur (§ 11) scheint ein Indiz dafür zu sein, daß die Sympathielehre und die Astrologie unter dem übergeordneten Aspekt der Mantik (divinatio) behandelt wurden.90 Ciceros Darstellung in der Lacuna scheint thematisch nicht einheitlich gewesen zu sein. Mit der Behandlung der Sympathie (ǝǟǖǚɏǒǏǓNj) sowie _____________ 85 86 87 88 89 90
Vgl. Appuhn (1937), 578 Anm. 331. Bréhier (1962), 470 nimmt an, daß der ganze ethische Teil ausgefallen sei, da die Behandlung der Sympathie bereits zur Physik gehöre. Vgl. Amand (1973), 78–80. Vgl. Marwede (1984), 82. Vgl. Escobar (1999), 290 Anm. 6. Siehe hierzu o. S. 23f. und u. S. 113f. Siehe hierzu o. S. 79.
VII.2. Lacuna B
99
der Mantik (divinatio) bezieht er sich auf die Physik und mit der Lehre von den Zustimmungen (adsensiones) auf die Ethik. Für eine Erwähnung der Logik aber fehlt jeglicher Hinweis. Nun referiert Cicero in De fato explizit die Entgegnung der einzelnen Schulen auf den logischen Determinismus. Lediglich die Entgegnung der Stoa ist kaum dargestellt. Eine wichtige Rolle bei der Widerlegung des logischen Determinismus spielt für die Stoiker die Eigenschaft einer Aussage (ɒǘʇǣǖNj), ihren Wahrheitswert ändern oder sogar ganz ‚vergehen‘ zu können. Allein auf letzteres weist Cicero mit der sehr knappen (und vielleicht ohne vorherige Erläuterung schwer verständlichen) Bemerkung quamquam hoc Chrysippo non videtur valere in omnibus in § 14 hin. Das andere Argument der Stoiker, daß sich der Wahrheitswert einer Aussage ändern könne, findet gar keine Erwähnung. Daher erscheint Ciceros Stellungnahme in den Paragraphen 17–20 gegen ebendieses Argument recht unvermittelt. Wenn Cicero in De fato schon die Argumente der übrigen Schulen gegen den logischen Determinismus darstellt, warum sollte er es dann unterlassen haben, gerade die entsprechenden Argumente seiner Hauptgegner, der Stoiker, anzuführen? Eine erläuternde Darstellung wäre dem Leser zudem hilfreich gewesen. Da eine solche Darstellung an keiner anderen Stelle im überlieferten Text zu finden ist, kann angenommen werden, daß Cicero diese für die Stoa wichtigen Argumente zumindest kurz in der Lacuna dargestellt hat.91 Schließlich scheint mit der gebotenen Vorsicht angenommen werden zu können, daß Cicero zuerst eine deterministische These wie etwa omnia fato fiunt von Hirtius formulieren ließ und dann die Stoiker als Vertreter einer solchen Auffassung vorstellte. Danach präsentierte er dem Leser eine kurze Darstellung der stoischen Lehre vom Fatum.92 Vielleicht geschah diese Darstellung in der Reihenfolge, in der Cicero in dem erhaltenen Teil von De fato gegen die Stoiker argumentiert. Dementsprechend begann er mit der Widerlegung der Mantik, in deren Zusammenhang auch die Zurückweisung der Sympathielehre und der Astrologie stand. Der Anfang dieser Widerlegung ging allerdings in der vorliegenden Lacuna verloren, so daß nur ihr Ende mit dem Text ab § 5 erhalten geblieben ist. _____________ 91
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Eisenberger (1979), 162f. hält es für verfehlt, in der Lacuna B eine „Stellungnahme Chrysipps zum Problem des Möglichen“, zu seinem „certamen mit Diodoros Kronos“, zum Bivalenzprinzip und zum Untätigkeitsargument anzunehmen, da all diese Themen im erhaltenen Text nicht als bekannt vorausgesetzt würden und auch keine diesbezüglichen Rückverweise zu finden seien. Vgl. Schmekel (1892), 165; Sihler (1969), 404. Görenz (1830), 160 nimmt an, daß in der Lacuna eine ausführliche Darlegung der stoischen Lehre stattgefunden habe. Zum einen wiesen die „in der Widerlegung so kurz abgefertigten Belege“ darauf hin, zum anderen sei es auch Ciceros gängige Praxis, die zu widerlegende Meinung zuvor ausführlich „mit allen Beweisen und Belegen“ darzustellen.
100
VII. Kommentar zu De fato
3. §§ 5–6: Kritik an der Sympathielehre des Poseidonios Hier beginnt der Hauptteil von De fato. Der überlieferte Text setzt mit Ciceros Behandlung der Sympathielehre (ǝǟǖǚɏǒǏǓNj, contagio 93 naturae 94) des Poseidonios (siehe V.2.) ein. Philippson ergänzt den ersten durch die Lacuna nicht vollständig erhaltenen Satz dem Sinne nach mit „ÄIn his exemplis PosidoniiÔ quorum in aliis …“.95 In seinem philosophischen Denken schreibt Poseidonios der stoischen Sympathielehre eine besondere Bedeutung zu. Die Sympathie ist die im Kosmos wirkende Kraft, in der sich die göttliche Vorsehung und das Fatum offenbaren. Durch die Sympathie stehen sämtliche Teile des Kosmos in einer universalen Korrespondenz. Dieser Umstand stellt die Grundlage für die physikalische und vor allem für die wissenschaftliche Erklärung der gesamten Mantik dar.96 Auf der anderen Seite wird von den in der Welt zu beobachtenden Übereinstimmungen und Fernwirkungen97 auf die Existenz des Fatums geschlossen. Um diesen Rückschluß zu stützen, hat Poseidonios Beispiele angeführt, in denen er das Wirken von Sympathie und Fatum deutlich zu sehen glaubt.98 In der vorangehenden Lücke wird Cicero derartige Beispiele ausführlich referiert haben,99 die er nun wieder aufnimmt und sie auf ihren möglichen Zusammenhang mit dem Fatum untersucht. Für die Untersuchung unterteilt Cicero die Beispiele in zwei Gruppen (quorum in aliis … in aliis …). _____________ 93
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Luck (1978), dem Sedley (1993), 314 Anm. 6 folgt, vertritt die Auffassung, daß ǝǟǖǚɏǒǏǓNj nicht mit contagio zum Ausdruck gebracht werden könne. Er nimmt vielmehr an, daß das Wort contagio durch eine Buchstabenvertauschung („spoonerism“) aus dem Wort cognatio entstanden sei, das ursprünglich im Text gestanden habe. Zur Auseinandersetzung mit dieser Annahme siehe Marwede (1984), 97–99. Reinhardt (1926), 248f. Anm. 2 vermutet, daß Cicero an der vorliegenden Stelle ǝǟǖǚǕǙǔɰ mit contagio übersetz habe. Van den Bruwaene (1937), 200 Anm. 1 hält contagio und cognatio in ihrer Bedeutung für so ähnlich, daß beide grundsätzlich eine ǝǟǖǚɏǒǏǓNj zum Ausdruck brächten. Während contagio aber die „ǝǟǖǚɏǒǏǓNj matérielle“ wiedergebe, drücke cognatio die „ǝǟǖǚɏǒǏǓNj posidonienne“ aus. Cicero wechselt bei der lateinischen Wiedergabe von ǝǟǖǚɏǒǏǓNj zwischen verschiedenen Übersetzungen und Periphrasen (vgl. Barabino (1995), 80 Anm. 20): convenientia consensusque naturae; consensus naturae (nat. III, 28); aliqua in natura rerum contagio (div. II, 33 (SVF II, 1211); vgl. II, 92); coniunctio naturae et quasi concentus atque consensus (div. II, 34); convenientia et coniunctio naturae (div. II, 124); continuatio coniunctioque naturae (div. II, 142). In div. II, 143 wählt er mit sympathian die lateinische Transkription. Philippson (1934), 1034. Vgl. Steinmetz (1994), 688f. Vgl. Cicero, div. II, 34: distantium rerum cognatio naturalis. Vgl. Reinhardt (1921), 454f.; RE (XXII,1) Poseidonios, 792–805. Die Pronomen illo und illum in § 5 haben anaphorischen Charakter und lassen vermuten, daß der ‚Schiffbrüchige‘ zuvor schon genannt wurde. Vgl. Sharples (1991), 164. Reinhardt (1926), 240, Eisenberger (1979), 164 und Szekeres (1990), 57 Anm. 2 nehmen an, daß die Beispiele aus Poseidonios’ Schrift ƻǏǛʈ ǏʉǖNjǛǖɨǗǑǜ entnommen seien.
VII.3. §§ 5–6: Kritik an der Sympathielehre des Poseidonios
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In der ersten Gruppe führt er folgende Beispiele an: den Dichter Antipater100, der jedes Jahr genau an seinem Geburtstag Fieber bekam und der auch an einem seiner Geburtstage an Fieber starb,101 weiterhin die Geburt zur Wintersonnenwende,102 die Brüder, die zur gleichen Zeit erkrankten,103 und schließlich die Untersuchung von Urin und Fingernägeln bei der Diagnose einer Krankheit, was zur Zeit Ciceros eine gängige Methode war.104 In diesen Beispielen erkennt Cicero zwar die Sympathie als das Zusammenwirken der Naturkräfte an (naturae contagio valet, quam ego non tollo)105, nicht aber das Wirken des Fatums (vis est nulla fatalis).106 In der zweiten Gruppe nennt Cicero Beispiele, die vor allem eine Erfüllung von Orakelsprüchen darstellen:107 Einem unbekannten Seefahrer _____________ 100 Der Schriftsteller und Dichter Antipater von Sidon lebte im 2. Jh. v. Chr. Er ist insbesondere für seine Zusammenstellung der sieben Weltwunder in der Antike bekannt. 101 Vgl. Valerius Maximus 1, 8 ext. 16 (Th F385): et poeta Antipater Sidonius omnibus annis uno tantum modo die, quo genitus erat, febri implicabatur, cumque ad ultimam aetatem pervenisset, natali suo certo circuitu morbi consumptus est; Plinius, Nat. hist. VII, 172: Antipater Sidonius poeta omnibus annis uno die tantum natali corripiebatur febre et eo consumptus est satis longa senecta. 102 Der Tag der Wintersonnenwende (bruma/brumalis dies) muß in der Antike eine besondere Bedeutung gehabt haben, wie die zahlreichen Beispiele in Cicero, div. II, 33 (SVF II, 1211) zeigen: multa enim Stoici conligunt; nam et musculorum iecuscula bruma dicunt augeri, et puleium aridum florescere brumali ipso die, et inflatas rumpi vesiculas, et semina malorum, quae in iis mediis inclusa sint, in contrarias partis se vertere, iam nervos in fidibus aliis pulsis resonare alios, ostreisque et conchyliis omnibus continger, ut cum luna pariter crescant pariterque decrescant, arboresque ut hiemali tempore cum luna simul senescente, quia tum exsiccatae sint, tempestive caedi putentur. Vgl. Plinius, Nat. hist. II, 108. 103 Das Beispiel der Brüder oder Zwillinge hat Theiler (1982) II, 311f. zufolge in diesem Kontext eine lange Tradition. Es gehe auf den Arzt Hippokrates zurück, der aber nicht von Zwillingen, sondern nur von unterschiedlich alten Brüdern berichtet habe. Die „Zwillingshypothese“ stamme von Poseidonios, der dann für ihre gleichzeitige Erkrankung und Genesung „die medizinische und astrologische Auffassung zur Wahl stellte oder einander ergänzen ließ“. Über Cicero sei dieses Beispiel schließlich zu Augustinus (civ. V, 2 (EK F111; Th F384); Fragment 4, siehe VI.5.) gelangt, der es einseitig verwendet habe, um gegen den Astrologismus zu argumentieren. Aus medizinischer Sicht bestehe durch die gleiche Veranlagung und Lebensbedingung der Zwillinge eine sehr ähnliche Körperkonstitution, wodurch die gleichzeitige Erkrankung und Genesung zu erklären sei, ohne daß auf den Einfluß der Sterne zurückgriffen werden müßte. Vgl. Weische (1961), 28; Szekeres (1990), 60. 104 Turnebus (in Bayer (2000), 114) berichtet, daß die Mediziner aus gewissen Erscheinungen bevorstehende Krankheiten vorauszusehen versuchten. Cicero kennt diese Praxis, wie div. I, 13; II, 142, 145 zeigt. In Celsus, De med. II, 6 (De indiciis mortis) ist zu lesen, daß u. a. die Nägel der bleichen Finger oder der rote Urin als Anzeichen des nahenden Todes betrachtet worden seien. Vgl. Plinius, Nat. hist. XXVIII, 68–69. Janssen (1992), 113 verweist drauf, daß nach antiker Vorstellung das Wachsen der Fingernägel als eine ‚nach außen wachsende Manifestation der Lebenskraft‘ angesehen worden sei. 105 Vgl. div. II, 33 (SVF II, 1211): ut enim iam sit aliqua in natura contagio, quam esse concedo. 106 Vgl. nat. III, 28. 107 Antonini (1994), 45 Anm. 18 weist darauf hin, daß Chrysipp nach div. II, 115 (SVF II, 1214; FDS 80) eine ganze Sammlung von Orakelsprüchen zusammengestellt habe, von denen, wie Cicero betont, ein Teil falsch, ein Teil durch Zufall wahr sei.
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VII. Kommentar zu De fato
wurde, nachdem er einen Schiffbruch überlebt hatte, prophezeit, daß er im Wasser umkommen werde. Daraufhin soll er zwar die Seefahrerei aufgegeben haben, später aber in einem Bach ertrunken sein. Die Ironie dieses Beispiels liegt in dem Umstand begründet, daß der Seefahrer nicht im Meer, wie es eher zu erwarten gewesen wäre, sondern an Land in einem Bach ertrank. Ihn traf sein „Schicksal“ somit auf unerwartete Weise.108 Als Icadius, ein wilder Pirat,109 einmal in eine Höhle gelaufen sein soll, fand er dort durch einen herunterfallenden Felsbrocken, der ihm die Beine brach, den Tod. Das Ungewöhnliche an diesem Vorfall scheint zu sein, daß Icadius sein Leben, das durch Räuberei und Seefahrt gefährdet war, zu Lande durch einen Steinschlag verlor. Ein solcher Steinschlag in einer Höhle gehört nicht zum „Berufsrisiko“ eines Seeräubers.110 Eine andere Überlegung stellt Harrison an:111 Bei den Römern sei es als Strafe für schwere Verbrechen üblich gewesen, den Verurteilten zu kreuzigen und ihm dabei die Beine zu brechen (ǝǔǏǕǙǔǙǚʇNj, crurifragium). Diese Strafe sei auch zuweilen über verurteilte Seeräuber verhängt worden. Da sowohl Cicero selbst (vgl. Phil. XI, 14; XIII, 27) als auch die römischen Leser mit dieser Art der Hinrichtung vertraut gewesen seien, habe nicht die Notwenigkeit bestanden, die Prophezeiung für Icadius explizit zu erwähnen, damit die Ironie deutlich werde. Diese liege letztlich darin, daß Icadius nicht mit gebrochenen Beinen am Kreuz gestorben sei, sondern unerwartet in einer Höhle, verursacht durch einen herunterfallenden Felsbrocken. Zu Daphitas gibt es zwei verschiedene Erzählungen.112 Der ersten Variante (Strabo 14.1.39) zufolge war Daphitas ein Grammatiker, dem das Orakel riet, sich vor einer ‚Brust‘ (ǒʰǛNjǘ) zu hüten. Daraufhin soll er seine Brust mit einem Panzer geschützt haben. Als er aber den König mit Spottversen beleidigt hatte, ließ dieser ihn auf einem Berg namens ‚Thorax‘ (ƳʰǛNjǘ) kreuzigen. Der zweiten Variante zufolge soll ein Daphidas aus Telmessos (Hesychios von Milet, Suda) oder ein Sophist namens Daphnites (Valerius Maximus113) sein Umfeld immer wieder mit Spott _____________ 108 Vgl. Harrison (1983), 453. 109 Vielleicht stammte Icadius aus Kreta und lebte um 120. Vgl. F. Marx, C. Lucilii Carminum reliquiae. Leipzig 1904–1905. S. 408f., Nr. 1292; Reinhardt (1926), 240. 110 Vgl. Yon (1950), 31; Hamelin (1978), 20; Sharples (1991), 164; Magris (1994), 82 Anm. 21. 111 Vgl. Harrison (1983), 454. 112 Vgl. RE (IV,2) Daphitas; Fontenrose (1960); Braund (1982), 354f. 113 Vgl. Valerius Maximus 1, 8 ext. 8 (Th F385): non inuitus huic subnecto Daphnitem, ne quis ignoret quantum interfuerit cecinisse deorum laudes et numen obtrectasse. hic, cum eius studii esset, cuius professores sophistae vocantur, ineptae et mordacis opinationis, Apollinem Delphis inridendi causa consuluit an equum invenire posset, cum omnino nullum habuisset. cuius ex oraculo reddita vox est inventurum equum, sed ut eo proturbatus periret. inde cum iocabundus quasi delusa sacrarum sortium fide reverteretur, incidit in regem Attalum saepe numero a se contumeliosis dictis absentem lacessitum, eiusque iussu saxo, cui nomen erat Equi, praecipitatus ad deos usque cavillandos dementis animi iusta supplicia pependit.
VII.3. §§ 5–6: Kritik an der Sympathielehre des Poseidonios
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heimgesucht haben. Dabei machte er nicht einmal vor dem König (Attalos von Pergamon114) oder vor den Göttern halt. Einst reiste Daphitas dann nach Delphi und befragte die Pythia ganz in seiner Manier, ob er sein Pferd finden werde. Er bekam die Antwort, daß er ein Pferd finden werde, durch das er auch zu Tode kommen werde. Da Daphitas aber selbst gar kein Pferd besaß, verkündete er überall, daß er das Orakel überlistet habe. Als er schließlich in seine Heimat zurückgekehrt war, soll er auf Befehl des Königs von einem Felsen gestürzt worden sein. Entweder trug der Fels selbst oder der Ort, an dem der Felsen stand, den Namen ‚Pferd‘ (Equus), so daß Daphitas tatsächlich durch ein „Pferd“ zu Tode kam. Philipp II., König von Makedonien, wurde durch ein Orakel ermahnt, sich vor der Gewalt eines ‚vierspännigen Streitwagens‘ (ɓǛǖNj, quadriga) zu schützen. Valerius Maximus berichtet, daß Philipp nach dem Orakelspruch alle Streitwagen im Königreich habe auseinanderbauen lassen und ferner einen Ort namens „Quadriga“ gemieden habe.115 Laut Aelianus soll er nie wieder einen Streitwagen bestiegen haben.116 Über sein Ableben gibt es zwei Versionen. Entweder wurde er von Pausanias mit einem Schwert getötet, auf dessen Griff ein vierspänniger Streitwagen eingraviert war, oder er wurde an einem Ort in Böotien ermordet, der ‚vierspänniger Streitwagen‘ (ǮǛǖNj, Quadriga) genannt wurde.117 Aelianus berichtet, daß die erste Version die bekanntere gewesen sei. In all diesen Beispielen kann Cicero aber keinen Beleg für die Sympathie oder für das Fatum sehen, sondern einzig und allein das Ergebnis von natürlichen Ursachen oder Zufällen. Das „Zufällige“ ist auch hier nicht als ein ursachenloses Geschehen zu interpretieren. Daß etwa der Stein in der Höhle zu Boden fiel, hatte bestimmte Ursachen, auch daß Icadius gerade in diese Höhle ging und an dieser Stelle stand, hatte Ursachen.118 Es bestand aber kein kausaler Zusammenhang zwischen dem Betreten der Höhle und dem Fallen des Steines. Der Stein wäre in jedem Fall zu Boden gestürzt, und zwar unabhängig _____________ 114 Es ist nicht sicher, unter welchem König Daphitas starb. Attalos I., Attalos II. und Attalos III. sind erwogen worden. Siehe hierzu RE (IV,2) Daphitas, 2134; Fontenrose (1960), der für Attalos III. votiert; Braund (1982), 354–357. 115 Vgl. Valerius Maximus 1, 8 ext. 9 (Th F385): eodem oraculo Macedonum rex Philippus admonitus ut a quadrigae violentia salutem suam custodiret, toto regno disiungi currus iussit eumque locum, qui in Boeotia Quadriga vocatur, semper vitavit. nec tamen denuntiatum periculi genus effugit: nam Pausanias in capulo gladii, quo eum occidit, quadrigam habuit caelatam. 116 Vgl. Aelianus, Var. hist. III, 45. 117 Zu den Beispielen vgl. Turnebus (in Bayer (2000), 113–115); Reinhardt (1926), 240–244; Sharples (1991), 163f. 118 Wie Cicero noch an späterer Stelle (§§ 9–11, 19, 23–25, 31, 36f.) deutlich machen wird, liegen diese Ursachen gerade nicht im Sinne des Fatums in einem unabänderlichen Weltplan begründet.
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VII. Kommentar zu De fato
davon, ob Icadius die Höhle betreten hätte oder nicht. In diesem Sinne muß Cicero wohl verstanden werden; denn wenn man annähme, daß Icadius’ Betreten der Höhle in irgendeinem kausalen Zusammenhang – etwa durch Erschütterung oder Berührung – mit dem Fallen des Steines gestanden hätte, dann wäre dieses Beispiel nicht mehr in die zweite Gruppe einzuordnen, sondern in die erste, da es dann naturwissenschaftlich erklärt werden könnte. Da beide Ereignisabläufe also nicht direkt miteinander kausal verflochten sind, sondern sich nur „auf das Geratewohl“ kreuzen, stehen sie in diesem Sinne in einem zufälligen Verhältnis. Durch die Einteilung der von Poseidonios zur Rechtfertigung des Fatums angeführten Beispiele wird deutlich, wie Cicero versucht, den Begriff der „Sympathie“ positiv zu bestimmen. Sympathie kann als solche nur anerkannt werden, wenn die Ereignisse auf dem Boden der Naturwissenschaft kausal erklärt werden können (erste Gruppe). Besteht zwischen zwei Ereignissen aber keine direkte, naturwissenschaftlich erklärbare Verbindung, dann handelt es sich bei einem gemeinsamen Eintreten um reine Zufälle (zweite Gruppe). Somit versteht Cicero unter der Sympathie, unter der contagio naturae, die Gesamtheit der in der Natur wirkenden Ursachen oder, aus heutiger Perspektive gesprochen, das Feld der Naturwissenschaft. An anderer Stelle äußert er sich ganz ähnlich: Er billige die Vorstellung der Sympathie als Zusammenhang und Zusammenwirken der natürlichen Ursachen, durch die das Weltgeschehen zusammengehalten werde. Nicht aber wolle er billigen, daß ein solcher Zusammenhang der Dinge auf ein göttliches Walten zurückzuführen sei.119 Diese Haltung ermöglicht es den Neuakademikern, eine Sympathie zu akzeptieren, ohne gleichzeitig eine von Gott kausal durchstrukturierte und vernünftig eingerichtete Welt annehmen zu müssen.120 So wird Cicero eine symphatetische Beziehung zwischen dem Mond und den Gezeiten akzeptieren, aber gewiß nicht zwischen dem Vogelflug und dem Ausgang einer Schlacht. Nun kann er gegen Poseidonios’ Versuch, mit solchen Beispielen die Existenz des Fatums zu rechtfertigen, anführen, daß alles so eingetreten wäre, wie es schließlich eingetreten ist, auch wenn es kein Fatum gäbe. Jegliches Geschehen lasse sich auch ohne die Annahme eines Fatums durch das Zurückführen auf eine Ursache in naturwissenschaftlichem Sinne oder auf einen Zufall erklären. Diese Einsicht mache den Glauben an ein Fatum völlig überflüssig. _____________ 119 Vgl. nat. III, 28: itaque illa mihi placebat oratio de convenientia consensuque naturae, quam quasi cognatione continuatam conspirare dicebas; illud non probabam, quod negabas id accidere potuisse nisi ea uno divino spiritu contineretur. illa vero cohaeret et permanet naturae viribus non deorum, estque in ea iste quasi consensus, quam ǝǟǖǚɏǒǏǓNjǗ Graeci vocant. 120 Vgl. Weische (1961), 46 mit Verweis auf Ac. II, 121. Siehe hierzu auch VI.6.e.
VII.4. §§ 7–11: Kritik an der Sympathielehre Chrysipps
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4. §§ 7–11: Kritik an der Sympathielehre Chrysipps Die Auseinandersetzung mit Poseidonios ist abgeschlossen. Cicero will nun zu den ‚Fallstricken‘ Chrysipps zurückkehren (ad Chrysippi laqueos121 revertamur), wobei die folgenden Paragraphen in enger Verbindung mit den vorangehenden stehen. Thematisch behandelt Cicero weiterhin die Sympathielehre, nur jetzt bezogen auf Chrysipp. Dessen These, die in der Lücke dargestellt worden sein dürfte (siehe VII.2.), lautet, daß es eine Übereinstimmung zwischen der geographischen Lage sowie der klimatischen Beschaffenheit eines Ortes und der physischen sowie psychischen Konstitution der dort lebenden Menschen gebe. Cicero gesteht zu, daß es sowohl Orte mit einem gesundheitsförderlichen Klima gibt, wie z. B. die süditalienische Stadt Kroton, als auch Orte mit einem gesundheitsschädlichen Klima, wie z. B. die Insel Sardinien.122 Auch Charaktereigenschaften seien durchaus von geographischen oder klimatischen Bedingungen abhängig. So gelte die dünne Luft in Athen als Ursache für geistigen Scharfsinn, die stickige Luft in Theben dagegen als Ursache für geistige Schwerfälligkeit.123 Mit diesen Beispielen erkennt Cicero zwar die Wirkung der geographischen Lage auf die Charakterdisposition an, betont aber, daß sich diese Wirkung seiner Meinung nach nur auf physische und außerhalb des Willens liegende psychische Eigenschaften beziehe; denn das Klima, so Cicero, könne nicht verantwortlich dafür sein, welchen Philosophen man gerne höre,124 ob man lieber bei den Isthmischen125 oder bei den _____________ 121 Vgl. Tusc. V, 76: laqueis Stoicorum. Turnebus (in Bayer (2000), 117), Hamelin (1978), 22 und Castrillo Benito (1997), 149 Anm. 49 sehen in laquei die Entsprechung zu ǝǙǠʇǝǖNjǞNj. Schiavon und Peruzza (1969), 7 verweisen auf De orat. I, 43: disputationum suarum atque interrogationum laqueis. 122 Die Beispiele stammen von Turnebus (in Bayer (2000), 117). 123 Vgl. Horaz, Ep. II.1, 244: Boeotum in crasso iurares aere natum. Theiler (1982) II, 314 sieht in dem Theben-Beispiel eine „Nachbarschaftsverulkung“. Die Korrelation von Klima und Charakter hat Cicero bereits an anderer Stelle erwähnt: nat. II, 42: etenim licet videre acutiora ingenia et ad intellegendum aptiora eorum, qui terras incolant eas, in quibus aer sit purus ac tenuis quam illorum, qui utantur crasso caelo atque concreto; vgl. nat. II, 17; div. I, 79: et sunt partes agrorum aliae pestilentes, aliae salubres, aliae, quae acuta ingenia gignant, aliae, quae retusa: quae omnia fiunt et ex caeli varietate et ex disparili adspiratione terrarum. Weitere Verweise finden sich in Theiler (1982) II, 314; Sharples (1991), 164f.; Sedley (1993), 319 Anm. 20; Castrillo Benito (1997), 150 Anm. 54. 124 Mit ut aut Zenonem quis aut Arcesilam aut Theophrastum audiat werden drei bedeutende Vertreter der stoischen, der neuakademischen und der peripatetischen Schule genannt. Von den insgesamt vier hellenistischen Schulen fehlt also nur die epikureische Schule. Bei Ciceros genereller Antipathie gegen die Lehre Epikurs mag diese Auslassung ein bewußter Seitenhieb gewesen sein: Wen auch immer man höre, es sei nicht Epikur! 125 Die Isthmischen Spiele gehörten zu den vier Panhellenischen Spielen und wurden seit ca. 586/582 v. Chr. alle zwei Jahre auf dem Isthmus von Korinth zu Ehren des Poseidon mit sportlichen und musischen Wettbewerben veranstaltet.
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VII. Kommentar zu De fato
Nemeischen126 Spielen siegen wolle, ob man lieber in der Säulenhalle des Pompeius127 oder auf dem Marsfeld128 spazierengehe oder ob man dies lieber an den Iden tue als an den Kalenden.129 So schränkt Cicero die Wirkung der geographischen oder klimatischen Gegebenheiten deutlich ein, ebenso wie er in diesem Zusammenhang die Wirkung der Sternenkonstellation einschränkt. Sie wirke auf einige, aber bestimmt nicht auf alle Dinge (ad quasdam res, ad omnis certe non valebit). Mit Blick auf die vorangehenden Paragraphen wird deutlich, daß Cicero nur dann ein sympathetisches Wirken des Klimas, der geographischen Gegebenheit oder gar der Sternenkonstellation anerkennt, wenn dies auf naturwissenschaftlichem Boden zu erklären ist. Chrysipp sieht nun bei den Menschen offensichtlich große Unterschiede; denn die einen zögen lieber Süßes, die anderen Bitteres vor, die einen neigten eher zum Jähzorn, die anderen dagegen nicht. Es gebe so viele verschiedene Ausprägungen der einzelnen Menschen, so Chrysipp weiter, daß es doch nicht verwunderlich sei, wenn jede individuelle Ausprägung auch eigene Ursachen habe. An dieser Stelle ist es zwar nicht explizit ausgeführt (das mag in der vorangehenden Lücke geschehen sein, siehe VII.2.), aber der Kontext läßt annehmen, daß Cicero Chrysipp die Meinung unterstellt, daß alle Präferenzen, Charaktereigenschaften und sogar einzelne Willensentscheidungen durch natürliche, vorausgehende Ursachen ( propter causas naturalis et antecedentis) vollständig bedingt seien.130 So folgert Cicero: Wenn Chrysipp aber davon ausginge, daß der Mensch vollständig durch natürliche, vorausgehende Ursachen bestimmt sei, dann hätte dies eine umfassende Determinierung der Persönlichkeit zur Konsequenz und nichts läge in der Verfügungsgewalt des Menschen (nam nihil esset in nostra potestate, si ita se res haberet). Cicero gesteht zwar zu, daß der _____________ 126 Die Nemeischen Spiele gehörten zu den vier Panhellenischen Spielen und wurden seit ca. 573 v. Chr. wahrscheinlich alle zwei Jahre im Tal Nemea (südwestlich von Korinth) zu Ehren des Zeus mit athletischen Wettkämpfen und Wagenrennen veranstaltet. 127 Hinter dem theatrum Pompeii schloß sich eine Gartenanlage an, die eine Säulenhalle umgab (porticus Pompeii ). An der Seite gegenüber dem Theater lag eine große rechteckige Exedra mit einer Statue des Pompeius, an der Caesar ermordet wurde. 128 Der campus [Martius] lag ursprünglich außerhalb der Stadtmauer Roms und war ca. 2 km groß. Er umfaßte das ganze Gebiet zwischen dem Tiberbogen und den Hügeln Pincio, Quirinal, sowie Kapitol. Der campus [Martius] ist benannt nach dem Kriegsgott Mars und war der Exerzierplatz der römischen Soldaten. Hier fanden ferner Sportveranstaltungen und Volksversammlungen statt. Erst unter Augustus und seinen Nachfolgern entwickelte sich das Marsfeld zum „Freizeitzentrum“ Roms. 129 Adamczyk (1961), 301, Magris (1994), 83 Anm. 30 und Takahata (2004), 143 sehen in den Beispielen porticu Pompeii und Idibus eine Anspielung auf die kurz vorhergegangene Ermordung Caesars. Takahata nimmt ferner an, daß die Kalendae auf die Tage anspielen könnten, „als Caesar seinen Machtbereich immer mehr vergrößert hat, beispielsweise am 1. Januar 45, als der Julianische Kalender von Caesar eingeführt wurde“. 130 Vgl. Sedley (1993), 322; Bobzien (1998a), 296f.
VII.4. §§ 7–11: Kritik an der Sympathielehre Chrysipps
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Mensch im Hinblick auf seine physische oder psychische Disposition machtlos der Natur ausgeliefert ist, woraus für ihn aber nicht folgt, daß es sich bei den Willensakten ebenso verhält; denn, so behauptet er, es liege nicht in den ‚Hauptursachen‘ ( principalibus causis) begründet, welche Willensentscheidung man in einer konkreten Situation treffe. Der Ausdruck principalibus causis an dieser Stelle ist auffällig und bedarf einer genaueren Betrachtung. Wenn Cicero mit Blick auf Chrysipp die Meinung äußert, daß jeder Mensch zwar durch natürliche, vorausgehende Ursachen ( propter causas naturalis et antecedentis; antecedentibus causis) eine bestimmte, nicht beeinflußbare Charakterdisposition besitze, daraus aber dennoch nicht folge, daß auch die konkreten Willensentscheidungen durch Hauptursachen ( principales causae) bestimmt seien, dann scheint er Chrysipp gerade die Auffassung zuzusprechen, daß nicht nur der Charakter durch antecedentes causae, sondern auch die einzelnen Willensentscheidungen des Menschen durch principales causae bestimmt seien. Es ist ganz offensichtlich, daß unter den principales causae hier äußere, vorausgehende Ursachen verstanden werden müssen. Nun werden die principales causae im Zusammenhang mit Chrysipps Handlungstheorie und seiner Ursachenunterscheidung an späterer Stelle (§§ 41–43) wieder genannt. Der stoischen Handlungstheorie gemäß folgen Handlungen erst, nachdem eine Zustimmung zu (der Vorstellung) dieser Handlung gegeben worden ist (siehe VII.16.b.). Die Hauptursache für eine Zustimmung stellt der individuelle Charakter des Menschen als eine innere, nicht vorausgehende Ursache dar. Bei dem in den Paragraphen 41–43 beschriebenen Prozeß des Zustimmens stellen die an der vorliegenden Stelle genannten äußeren und vorausgehenden Ursachen aber gerade keine causae principales, sondern causae adiuvantes et proximae dar, die nur als Nebenursachen fungieren. Es scheint also, daß die Bezeichnung principalis causa in § 9 und in den Paragraphen 41–43 in entgegengesetztem Sinne angewandt wird.131 Dieser Umstand ist auf verschiedene Weise kommentiert worden. Lörcher hält den § 9 für eine „ganz törichte Antizipation“. Dieser Paragraph könne in der Vorlage Ciceros nicht vor der Ursachenunterscheidung gestanden haben.132 Marwede glaubt, daß die principalis causa in § 9 mit der principalis causa in den Paragraphen 41ff. nicht ‚äquivalent‘ sei. Dies werde dadurch deutlich, daß nach Ciceros Darstellung in den Paragraphen 41ff. die durch die prin_____________ 131 Dieser „Widerspruch“ fällt für viele Kommentatoren noch stärker aus, da sie annehmen, daß die causa perfecta et principalis mit dem Charakter zu identifizieren sei. Das hieße, daß laut Ciceros Darstellung die principales causae in § 9 die Entscheidungsfreiheit zunichte machen, während sie diese in den §§ 41–43 gerade zu garantieren scheinen. Siehe hierzu VII.17.a. 132 Vgl. Lörcher (1925), 102.
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VII. Kommentar zu De fato
cipales causae verursachten Handlungen in der Verfügungsgewalt des Menschen lägen, während nach Ciceros Darstellung in § 9 die durch die principales causae verursachten Handlungen gerade nicht in der Verfügungsgewalt des Menschen lägen.133 Sharples geht von einer Identität der principales causae in § 9 und in den Paragraphen 41–42 aus. Cicero (oder seine Quelle) mag hier selbst den von ihm zurückgewiesenen Standpunkt Chrysipps formuliert haben, wobei er sich der Sprache des Gegners bedient habe.134 Janssen hält die Überlegung, daß die unterschiedliche Verwendung des Ausdrucks principales causae dadurch erklärt werden könne, daß Cicero die Meinung Chrysipps bewußt oder unbewußt falsch dargestellt oder überhaupt nicht verstanden habe, für wenig überzeugend. Er ist vielmehr der Auffassung, daß Cicero die Haltung Chrysipps richtig darstellt. Dieser gebe an der vorliegenden Stelle seinen grundsätzlich deterministischen Standpunkt zu erkennen, von dem er aber zuweilen Abstand nehme, wie etwa ab dem § 41.135 Szekeres sieht die causae principales verantwortlich für das menschliche Handeln. Diese lägen aber als innere Ursache in der Natur des Menschen und seien dem Fatum nicht unterworfen. Daher sei es an der vorliegenden Stelle unsicher, ob die Bezeichnung principalis causa tatsächlich im stoischen Sinne Verwendung finde, da Cicero sie hier synonym für eine causa antecedens benutze. Die causae antecedentes seien aber eindeutig dem Schicksal zuzuordnen.136 Bayer glaubt nicht, daß die Lösungsstrategie der Stoiker in § 41 bereits in der Lacuna B dargestellt worden sei, so daß die „Vorwegnahme des Begriffs ‚causae principales‘“ nicht mit einem Rückgriff auf eine angenommene Erläuterung in der vorangehenden Lücke erklärt werden könne. Cicero müsse an dieser Stelle schlichtweg ein „Lapsus“ unterlaufen sein.137 Ioppolo hält es nicht für sinnvoll, die principalis causa an dieser Stelle zu erwähnen, wenn man nicht die Ursachenunterscheidung von § 41 vor Augen habe, der zufolge der Impuls und die Zustimmung die principales causae für das menschliche Handeln seien, das Klima aber nur eine causa adiuvans et proxima darstelle.138 Es ist festzustellen, daß Cicero in den Paragraphen 41 und 42 die Bezeichnung principalis causa ausschließlich im Zusammenhang mit der Ursa_____________ 133 134 135 136 137 138
Vgl. Marwede (1984), 112. Vgl. Sharples (1991), 166. Vgl. Janssen (1992), 123, 185. Vgl. Szekeres (1995), 231. Vgl. Bayer (2000), 120, 158. Vgl. Ioppolo (2002), 231.
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chenunterscheidung und dem Zylinder-Kreisel-Gleichnis verwendet. Dort ist causa principalis mit causa perfecta zu einem Ursachenpaar verbunden, das dem Ursachenpaar causa adiuvans et proxima gegenübergestellt wird. An einer Textstelle nennt er die causa principalis zwar allein, kontrastiert sie dort aber mit der causa proxima (§ 42: id visum proximam causam habeat, non principalem). An keiner Stelle aber steht die causa principalis (oder ein anderer der genannten vier Termini) absolut oder ohne Bezug auf eine der übrigen causae, wie es hier in § 9 der Fall ist.139 Weiterhin ist festzustellen, daß durch das tamen in dem Hauptsatz non sequitur tamen angezeigt wird, daß zwischen diesem und dem von ihm abhängigen Nebensatz ut enim et ingeniosi et tardi ita nascantur antecedentibus causis itemque valentes et inbecilli ein konzessives Verhältnis besteht.140 Der direkt vorangehende Satz is non videt, quae quamque rem res consequatur zeigt bereits an, daß eine bestimmte Folgerung nicht akzeptiert werden soll. Es soll zwar zugestanden werden, daß die Menschen durch die Wirkung der antecedentes causae eine bestimmte Charakterdisposition erhalten, es soll aber nicht zugestanden werden, daß durch diese natürlichen, vorausgehenden Ursachen auch die Willensakte des Menschen bestimmt werden. Auch aus dem Duktus der vorangegangenen Darlegung Ciceros erwartet man diese Aussage, da sie ja mit dem Satz non enim, si alii ad alia propensiores sunt propter causas naturalis et antecedentis, idcirco etiam nostrarum voluntatum atque adpetitionum sunt causae naturales et antecedentes bereits in ähnlicher Weise geäußert wurde. Dabei betont Cicero explizit, daß unser Wille und unser Streben keine natürlichen, vorausgehenden Ursachen besitzen. Daß Cicero genau diese Ansicht vertritt, wird auch der weitere Verlauf der Untersuchung (§§ 10, 23–25, 31) zeigen. Dort begründet Cicero seine Auffassung näher, indem er darlegt, daß der menschliche Wille Ursache seiner eigenen Akte ist, so daß er sich frei von den Zwängen der Naturkausalität entfalten kann. Daher folgt für ihn aus der durch natürliche, vorausgehende Ursachen bestimmten Charakterdisposition keine Determinierung des Willensaktes. In diesem Sinne erwartet man eigentlich eine Wiederaufnahme der antecedentes causae in dem von sequitur abhängigen Konsekutivsatz – man erwartet aber keine Erwähnung der, zumindest in der thematischen Einheit der Paragraphen 7–9, noch nicht genannten causae principales. _____________ 139 Weitere Vergleichsstellen sind bei Cicero nicht mehr überliefert. Cicero referiert in seinen Schriften Partitiones oratoriae 93f. (siehe u. S. 284 Anm. 615) und Topica 58f. (siehe u. S. 282 Anm. 609) ebenfalls eine Ursachenunterscheidung, verwendet dort aber nicht den Terminus principalis causa. Bobzien (1999a), 226 verweist auf Boethius, In Arist. De. interpr. III 9, 197.24–26: quod enim fato fit ex principalibus causis evenit, sed si ita est, hoc quod non fiat non potest permutari, wo principalis causa jedoch nicht im altstoischen Sinne gebraucht werde. 140 Nach Kühner-Stegmann II.2, § 188, S. 251 Anm. 3 ist der durch ut eingeleitete Konzessivsatz bei Cicero häufig anzutreffen.
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VII. Kommentar zu De fato
Da man davon ausgehen kann, daß die stoische Lehre von den Zustimmungen in der Lacuna B angesprochen wurde,141 wird man auch annehmen können, daß die stoische Ursachenunterscheidung zumindest kurz angesprochen wurde, da sie verbunden mit der Lehre von den Zustimmungen eine wichtige Rolle in der Strategie der Stoiker spielt, Freiheit und moralische Verantwortlichkeit zu begründen. Dabei ist es aber kaum wahrscheinlich, daß Cicero die Lehre von den Zustimmungen und die Ursachenunterscheidung bereits in der Lacuna B in vollem Umfang dargelegt und hierbei Chrysipps Strategie widerlegt hat, um dies dann ab § 39 noch einmal zu tun.142 Aber unabhängig davon, ob causa principalis in der Lacuna B tatsächlich als Terminus technicus eingeführt worden ist oder nicht, steht zumindest hier in De fato die causa principalis, wie die anderen causae auch, in Verbindung mit Ciceros Darstellung der stoischen Position. So wird man auch davon ausgehen können, daß mit derselben Bezeichnung an den beiden Stellen in § 9 und in den Paragraphen 41–42 auch dieselbe Ursache gemeint ist. Wenn Cicero unter dieser Voraussetzung nun die Bezeichnung causa principalis in § 9 ganz bewußt verwendet haben sollte, dann wird man ihm wohl ein nicht unerhebliches Maß an Polemik vorhalten müssen. Denn aus seiner Darstellung ab § 41 ergibt sich eindeutig, daß Chrysipp im Zusammenhang mit seiner Handlungstheorie die natürlichen, vorausgehenden Ursachen nur als causae adiuvantes et proximae, nicht aber als causae perfectae et principales bezeichnet. In dieser Unterscheidung liegt ja gerade die entscheidende Strategie Chrysipps begründet, der necessitas fati zu entkommen. Vielleicht hat Cicero den Ausdruck principalibus causis an dieser Stelle aber doch in einem ganz anderen, eigenen Sinne verwendet, ohne dabei exakt auf einen stoischen Terminus zu rekurrieren und ohne der in den Paragraphen 41–42 verwendeten Terminologie vorgreifen zu wollen.143 Aufgrund der Annahme eines kausal geschlossenen Kosmos muß Chrysipp allem Anschein nach davon ausgehen, daß der menschliche Charakter durch eine Vielzahl von Faktoren (geographische Lage, Klima, genetische Disposition, Erziehung, usw.) bestimmt wird, so daß diese Faktoren für die Ausprägung des individuellen Charakters auch die „Hauptursachen“ darstellen.144 In diesem Sinne mag Cicero hier die causae principales verstanden haben und wollte dann zum Ausdruck bringen, daß nicht diese Ursa_____________ 141 Vgl. § 40: videamus in adsensionibus, quas prima oratione tractavi. Siehe hierzu VII.2. 142 Vgl. Philippson (1934), 1033. 143 Vgl. Bobzien (1999a), 226. Sedley (1993), 322 Anm. 30 hält diese Überlegung eher für unplausibel, da causa principalis nicht zur ciceronischen Kausal-Terminologie gehöre und der Ausdruck auch explizit Chrysipp zugeordnet sei. 144 Vgl. Sedley (1993), 324f.; Bobzien (1998a), 294–297; (1999a), 226, 239; Jedan (2002), 60. Siehe hierzu auch Ioppolo (1994), 4515; (2002), 228–230.
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chen verantwortlich für die Entscheidungen eines Menschen sind, sondern – wie er mit den direkt folgenden Beispielen von Sokrates und Stilpon verdeutlichen wird – der frei agierende Wille, da sich dieser über die durch die vorausgehenden Ursachen maßgeblich bestimmte Charakterdisposition zu erheben vermag. Letztlich muß konstatiert werden, daß der Ausdruck principalibus causis an dieser Stelle unglücklich wirkt und sich ein antecedentibus causis (oder ein inhaltlich äquivalenter Ausdruck, wie etwa naturalibus causis in § 11) besser in den Kontext eingefügt hätte. Mit zwei Beispielen will Cicero nun seine These stützen, daß der Wille sich über die Charakterdispositionen erheben könne. Über Stilpon sagten seine Freunde, daß er eine Veranlagung zur Trunksucht und zum Frauenhelden gehabt habe. Allerdings, so wurde auch berichtet, habe er durch seine philosophischen Bemühungen diese lasterhaften Veranlagungen so unterdrücken können, daß sie nie an ihm gesehen worden seien.145 Zopyros, ein thrakischer Sklave, war ein bekannter Physiognom, der es sich zur Aufgabe machte, von körperlichen Erscheinungen der Menschen auf deren Charaktereigenschaften zu schließen. Dies soll er auch einmal bei Sokrates getan haben, was zu der Diagnose führte, daß dieser töricht, dumm und außerdem noch ‚frauentoll‘ (mulierosum) sei. Gerade die letzte Bemerkung soll Alkibiades146 zu schallendem Gelächter veranlaßt haben.147 Doch Sokrates selbst habe erklärt, daß er tatsächlich diese _____________ 145 Stilpon von Megara (380/370–330/290) gehörte zu der von Euklid gegründeten megarischen Schule und zählte vielleicht auch selbst noch zu dessen Schüler. Zu seiner Zeit war Stilpon ein bekannter Philosoph, der sich durch seine scharfsinnige Argumentationstechnik ein hohes Ansehen erworben hatte. Ein berühmter Schüler von ihm war der Stoiker Zenon von Kition. Stilpon findet eine knappe Erwähnung bei Diogenes Laërtios (DL II, 113– 120); siehe hierzu O. Apelt, RhMus 53 (1898), 621–625 und E. Zeller, AGPh 5 (1892), 551. Die Zeugnisse finden sich in Döring, Die Megariker, S. 42–61. Seneca, Ep. 9, 18f. erzählt die berühmte Anekdote, daß Stilpon nach der Eroberung seiner Heimatstadt, der seine Familie und sein Besitz zum Opfer fielen, von dem Makedonenkönig Demetrios gefragt worden sei, was er verloren habe. Stilpon antwortete, aus den brennenden Trümmern seines Hauses gehend: Nichts, alle seine Güter trage er bei sich (omnia bona mea mecum sunt), denn die Gerechtigkeit, die Tugend und die Klugheit (iustitia, virtus, prudentia) könne ihm keiner entwenden (vgl. DL II, 115). Diese Erzählung soll das sittliche Streben nach Genügsamkeit im Leben und Gelassenheit gegenüber Schicksalsschlägen zum Ausdruck bringen. 146 Alkibiades (ca. 450–404/403) war ein athenischer Staatsmann und Feldherr. Nach dem Tode des Vaters wuchs er im Hause seines Onkels und Vormunds Perikles auf. Er hielt sich zeitweise im Schülerkreis des Sokrates auf, doch entwickelte sich zu einem von der Sophistik geprägten Machtmenschen. 147 Auch Alkibiades pflegte im Sinne der zu Zeiten Platons nicht unüblichen griechischen Päderastie homoerotische Beziehungen, wie Cornelius Nepos (Alcibiades (VII) 2.2–3) berichtet: ‚In seiner Jugend wurde er der Sitte der Griechen gemäß von vielen geliebt, unter ihnen war auch Sokrates; […] nachdem er herangewachsen war, liebte er selbst nicht weniger viele Jungen‘ (ineunte adulescentia amatus est a multis more Graecorum, in eis Socrate; […] po-
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VII. Kommentar zu De fato
schlechten Charaktereigenschaften besessen, aber durch die Kraft der Vernunft überwunden habe.148 Diese Beispiele zeigen nach Ciceros Meinung deutlich, daß schlechte und lasterhafte Charaktereigenschaften zwar aufgrund natürlicher Ursachen entstehen, aber durch die Kraft der Selbstbeherrschung und durch die Kraft des eigenen Willens vollständig ‚gebändigt und zurückgehalten‘ (edomitam et conpressam) werden können.149 In den Paragraphen 7–9 argumentiert Cicero gegen den Sympathiegedanken Chrysipps, der Ciceros Interpretation zufolge dazu führt, daß der gesamte Mensch in seiner physischen und psychischen Ausprägung durch eine Vielzahl natürlicher, vorausgehender Ursachen determiniert ist. Eine solche Annahme aber, mahnt Cicero, bedeute die Aufhebung jeglicher Freiheit. Gegen die deterministische Haltung Chrysipps stellt Cicero seine eigene indeterministische Haltung, die er mit der Annahme eines starken und freien Willens rechtfertigt. Durch diesen starken Willen sei das Indi_____________ steaquam robustior est factus, non minus multos amavit). Das Lachen des Alkibiades kann nun zum einen so interpretiert werden, daß er das mulierosum für unangemessen oder vielmehr für eine falsche „Diagnose“ des Physiognoms hält, weil Sokrates eine homoerotische Zuneigung zu ihm hegte, oder zum anderen, daß Sokrates nie ein Zeichen der Lust zu erkennen gegeben habe. Vgl. Marwede (1984), 114f., der die erste Interpretation – wohl zu Recht – für die angemessenere hält. Allerdings ist auch die zweite Interpretation nicht ohne Grundlage, da unklar ist, inwieweit Sokrates sich seiner Bewunderung für den jungen Alkibiades hingegeben hat. Im Symposion heißt es in der Lobrede des Alkibiades (215a–222b), daß sich die Zuneigung des Sokrates nicht auf der körperlichen Ebene geäußert habe. Platon (219c–d; vgl. Nepos, Alcibiades (VII) 2.2) berichtet, daß Sokrates sich bei einem gemeinsamen Nachtlager gegenüber Alkibiades wie ein ‚Vater‘ oder ‚Bruder‘ verhalten habe. Das Liebesleben des Alkibiades wird ausführlich von Littman (1970) untersucht. 148 Von dieser Anekdote berichtet Cicero schon in Tusc. IV, 80 und später noch Alexander von Aphrodisias ( fat. VI, 171.11–16). Ihr Ursprung ist vielleicht der Dialog Zopyros, der von Sokrates’ Freund und Schüler Phaidon von Elis geschrieben wurde (vgl. DL II, 105), nach dem auch der platonische Dialog Phaidon benannt ist. Vgl. Pack (1937), 421 Anm. 16; Cappelletti (1964), 99 Anm. 43; Pini (1969), 549 Anm. 38; Nestle (1975), 490; Marwede (1984), 114f.; Sharples (1991), 166. Übrigens spielt der englische Autor Edward Forsett in seiner Komödie Pedantius (II, 2.796– 798) aus dem Jahre 1581 auf diese Anekdote an: „Sed tu, quæso, qui physiognomon es, de pullis his meis profer iudicium tuum, velut Zopyrus de Socrate, vt narrat Cicero meus“ (Pedantius. Hrsg.: G. C. Moore Smith. Louvain 1905). 149 Nach Bobzien (1998a), 298 deutet Cicero hier an, daß erst die eigene Natur geändert werden müsse, bevor anders gehandelt werden könne. Cicero sei aber nicht deutlich in diesem Punkt. Aufgrund der Formulierung edomitam et conpressam könne seine Meinung auch so verstanden werden, daß die Natur unverändert bleibe, diese aber dauerhaft so von der ratio im Zaume gehalten werde, daß kein Laster mehr hervorbrechen könne. Cicero gesteht die Bestimmung des Charakters durch natürliche, vorausgehende Ursachen explizit zu. Dagegen, betont er, sei der Mensch machtlos. Angesichts der von Cicero vertretenen Auffassung eines starken und freien Willens sowie der pleonastisch wirkenden und so betonten Formulierung edomitam et conpressam scheint die zweite Interpretation Bobziens die wahrscheinlichere zu sein.
VII.4. §§ 7–11: Kritik an der Sympathielehre Chrysipps
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viduum in der Lage, sich über die natürlichen Dispositionen des Charakters zu erheben (§§ 9–11).150 Allerdings ist es fraglich, ob der Wille in seinem Wirken tatsächlich so frei zu sehen ist, wie Cicero es hier postuliert (siehe VIII.). Es ist auch nicht auszuschließen, daß so etwas wie „Willensstärke“ oder „Disziplin“ durch Ursachen, wie z. B. durch genetische Disposition oder Erziehung, bedingt sind. Gesetzt den Fall, daß jemand mit der Veranlagung zu einer großen Willensstärke geboren wurde, muß er diese selbstverständlich immer noch richtig zu nutzen verstehen. Der extremen These Chrysipps von der universalen Determinierung des Individuums tritt Cicero mit der ebenso extremen These von einem starken und freien Willen entgegen. Daher kann man sich an dieser Stelle des Eindruckes nicht erwehren, daß Cicero den erst noch zu „beweisenden“ freien Willen als Argument gegen Chrysipps Position ins Feld führt und sich so einer Petitio principii schuldig macht. Doch im weiteren Verlauf der Untersuchung wird deutlich werden, daß Cicero von der Existenz eines derart starken und freien Willens überzeugt ist, weil er von der Annahme ausgeht, daß ein Willensakt unabhängig von der Naturkausalität nur dem Willen selbst entspringt, so daß es aus seiner Sicht für das freie Wirken des Willens keines weiteren Beweises mehr bedarf (§§ 23–25, 31). In den Paragraphen 5–11 ist Ciceros Anliegen, die stoische Sympathielehre zu widerlegen. Diese Widerlegung der Sympathie wird im Zusammenhang mit der Behandlung der Mantik gestanden haben (siehe VI.7.). Den Stoikern gilt die Sympathie als Argument für die Mantik und diese wiederum als Beleg für das Fatum. Andererseits stellt das Fatum als Manifestation der göttlichen Vorsehung und als Garant eines kausal geschlossenen Weltgeschehens überhaupt die Bedingung für die Sympathie und auch für die Mantik dar.151 Somit bedingen sich Fatum, Mantik und _____________ 150 Janssen (1992), 126 glaubt, daß kein fundamentaler Unterschied zwischen den Meinungen Ciceros und Chrysipps bestehe. Keiner der beiden lasse deutlich werden, welchen Platz der Wille in ihren Theorien einnehme. Chrysipp schweige dazu und Cicero führe nur zwei nichtssagende Beispiele an. Die Annahme von Ioppolo (2002), 231–233 (vgl. (1994), 4507f.), daß die Paragraphen 9–11 nicht die Meinung Ciceros, sondern die Chrysipps zum Ausdruck brächten, ist wenig überzeugend. 151 Diogenianos in Eusebius, Praep. evang. IV, 3.1 (SVF II, 939; LS 55P) betont, daß eine Prophezeiung nur dann wahr sein könne, wenn auch das Fatum existiere (siehe hierzu insbesondere Bobzien (1998a), 89f. und Gourinat (2005a), 227f.; (2005b), 260–262); vgl. AvA fat. XXXI, 201.32–202.2 (SVF II, 941); Chalcidius, In Tim. 161 (SVF II, 943). Die Stoiker leiten aus der Existenz Gottes auch die Mantik ab (z. B. div. II, 41 (SVF II, 1193; FDS 468): si di sunt, est divinatio; sunt autem di; est ergo divinatio; vgl. div. I, 82f. (SVF II, 1192; LS 42D; FDS 466); II, 21, 101f.; leg. II, 32 (SVF II, 1194; FDS 467); Ps.-Plutarch, fat. 11, 574e (SVF II, 912); SE AM IX, 132 (SVF II, 1018; FDS 465). Vgl. Pfeffer (1976), insbesondere 65– 73; EK II.1, 420f.; Szekeres (1991), 47f.; Pohlenz (1992) I, 106–108; Bobzien (1998a), 87– 96; Hankinson (1998), 259–261; Gourinat (2005a), insbesondere 222–230; (2005b), 260–
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VII. Kommentar zu De fato
Sympathie quasi gegenseitig. Daher ist es Ciceros Strategie, die stoische Sympathielehre zu widerlegen und sie vom Fatum abzukoppeln, um so einen Rückschluß auf die Mantik und auf das Fatum zu verhindern. Wie wichtig Cicero die Widerlegung der stoischen Position ist, gibt er dem Leser in einem emphatischen Schlußsatz zu verstehen: All dies wird aufgehoben, wenn die Kraft und das Wesen des Fatums durch das Argument der Mantik eine Bestätigung finden wird (quae tolluntur omnia, si vis et natura fati ex divinationis ratione firmabitur). Das quae omnia bezieht sich auf die im Text vorangehenden Wörter voluntate, studio, disciplina. Ohne Frage steht hinter diesen Ausdrücken ein grundsätzlicher Gedanke: Wenn willentliches Streben und Selbstbeherrschung durch die bewiesene Existenz des Fatums aufgehoben werden, dann werden auch alle ethischen und moralischen Überlegungen zunichte gemacht. Dadurch aber, daß Cicero die stoische Sympathielehre widerlegt, entzieht er den Stoikern die Möglichkeit, aus der Sympathie die Existenz des Fatums und somit auch die Gültigkeit der Mantik abzuleiten. Die Sympathie in Ciceros Verständnis beruht ausschließlich auf naturwissenschaftlichen Erklärungen und stellt aus seiner Sicht keine Gefahr für die Freiheit dar. In den Paragraphen 5–11 hat Cicero mit der Besprechung der Mantik, der Astrologie und der Sympathielehre den physisch-kausalen Aspekt in der Fatumsdiskussion behandelt. Dieser Punkt ist jetzt abgeschlossen und Cicero wendet sich dem anderen relevanten Gebiet zu, der Logik.
5. §§ 11–14: Die Mantik: Chrysipps Widerspruch zur eigenen Modaltheorie Cicero stellte bereits in De divinatione die Unwissenschaftlichkeit der Mantik heraus: Die Mantik ist deshalb keine Wissenschaft, weil kein eigenständiges Anwendungsgebiet für sie gefunden werden kann. Allerdings bedürfen die prophetischen Fähigkeiten auch keiner wissenschaftlichen Methode (sine ratione et scientia), sondern entwickeln sich im Zustand der Entrückung ( furens) und des Traumes (somnians).152 Hier in De fato verfolgt Cicero eine andere Intention. Er beginnt mit der Frage nach den (theoretischen) Grundsätzen (ǒǏǙǛɰǖNjǞNj, percepta153) der Mantik; denn wie jede _____________ 264. Eine Darstellung der Argumente für die Existenz der Götter findet sich z. B. in Dragona-Monachou (1976); Mansfeld (1999b), 457–462; Algra (2003), 159–165. 152 Vgl. div. I, 4; II, 9–12. 153 Nach Verburg (1724), 3268 Anm. 31, Bremi (1795), 27, Bouillet (1831), 694 Anm. 1 und Moser (1828a), 585 hat Petrus Victorius als erster das in den meisten Handschriften überlieferte praecepta in das angemessenere percepta abgeändert.
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ernstzunehmende Tätigkeit müsse auch die Wahrsagekunst auf solchen Grundsätzen basieren.154 Das Charakteristische an den (astrologischen) Weissagungssätzen ist der Umstand, daß das Antecedens eine vergangenheitsbezogene Aussage und das Consequens eine zukunftsbezogene Aussage darstellt. Cicero wählt einen beliebigen Beispielsatz, wie die Astrologen ihn gewöhnlich aufstellen: ‚Wenn einer beim Aufgang des Sirius geboren wurde, dann wird er nicht im Meer sterben‘ (si quis oriente Canicula natus est, is in mari non morietur). Für die Rekonstruktion des folgenden Arguments ist es wichtig zu klären, ob Cicero mit diesem Konditionalsatz eine materiale oder eine strikte Implikation zum Ausdruck bringen möchte. Eine materiale Implikation ist dann wahr, wenn das Antecedens und das verneinte Consequens nicht zusammen wahr sind ( p o q ~( p & ~q)). Eine strikte Implikation besagt, daß das Antecedens mit Notwendigkeit das Consequens impliziert, so daß diese Implikation dann wahr ist, wenn es unmöglich ist, daß das Antecedens und das verneinte Consequens zusammen wahr sind (N( p o q) N~( p & ~q) ~M( p & ~q)). a. Die Wahrheitsbedingungen für die Implikation In der Antike bestand kein Disput darüber, daß eine Implikation dann gültig ist, wenn aus dem Antecedens (ɲǍǙʡǖǏǗǙǗ) das Consequens (ǕʅǙǗ) folgt, sondern darüber, unter welcher Bedingung das Consequens folgt (Ǟʘ Ǟʅǜ ɒǔǙǕǙǟǒʇNjǜ ǔǛǓǞɰǛǓǙǗ), damit eine Implikation gültig ist (ʣǍǓɩǜ ǝǟǗǑǖǖɨǗǙǗ).155 Dieser Disput muß sehr berühmt gewesen und sehr ausgiebig geführt worden sein, denn Sextus Empiricus referiert die ironische Bemerkung des Dichters Kallimachos, daß schon die ‚Raben auf den Dächern krächzen‘, wann eine Implikation wahr sei.156 Allem Anschein nach wurden vornehmlich die Definitionen des Implikationsbegriffs von Diodor, dessen Schüler Philon und Chrysipp diskutiert.157 Sextus Empiricus berichtet von vier verschiedenen Definitionen, wobei die erste Definition die schwächste und die letzte die stärkste darstellt. Die erste wird namentlich Philon, die zweite Diodor zugeschrieben. Die dritte Definition spricht _____________ 154 Chrysipp definiert die Mantik als eine vim cognoscentem et videntem et explicantem signa, quae a dis hominibus portendantur (Cicero, div. II, 130 (SVF II, 1189; FDS 464)). Vgl. SE AM IX, 132 (SVF II, 1018; FDS 465). 155 Vgl. SE AM VIII, 112 (FDS 957). 156 Vgl. SE AM I, 309. 157 Vgl. SE PH II, 110–113 (LS 35B; FDS 958); SE AM VIII, 112–118 (FDS 957), 265 (FDS 959) und Cicero, Ac. II, 143 (FDS 226): quanta contentio est; aliter Diodoro, aliter Philoni, Chrysippo aliter placet. Vgl. M. Frede (1974), 81; Ebert (1991), 91–100.
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VII. Kommentar zu De fato
Sextus Empiricus den Philosophen zu, ‚die den Zusammenhang einführen‘ (Ǚʉ ǎɩ ǞɱǗ ǝǟǗɏǛǞǑǝǓǗ ǏʊǝɏǍǙǗǞǏǜ). Es wird allgemein angenommen, daß es sich gerade bei dieser dritten Definition um die stoische handelt, insbesondere um die Chrysipps.158 Die Vertreter der vierten Definition werden von Sextus Empiricus nicht explizit genannt.159 Philon vertritt die Meinung, daß eine Implikation dann wahr ist, wenn sie nicht mit Wahrem beginnt und mit Falschem endet. Damit setzt Philon nur ein rein wahrheitswertfunktionales Kriterium für die Wahrheit der Implikation voraus, was dem heutigen Gebrauch der materialen ImplikatiPhilon on entspricht.160 Für Philon gilt somit: p o q ~( p & ~q), was mit der Wahrheitswerttabelle verdeutlicht werden soll: p
q
poq
w w f f
w f w f
w f w w
Die materiale Implikation ist logisch die schwächste Form der Implikation. Das rein wahrheitswertfunktionale Kriterium hat den Nachteil, daß es zu zwei unliebsamen Paradoxien führt,161 die an der Wahrheitswerttabelle gut nachvollzogen werden können: Wenn das Antecedens p falsch ist, dann ist die ganze Implikation wahr, unabhängig von der Wahrheit oder _____________ 158 Vgl. Schmekel (1938), 524 Anm. 6, 528; Zeller (1963) III.1, 108f. Anm. 5; Verbeke (1978), 406, 416; Marwede (1984), 120; White (1985), 103; Talanga (1986), 95f.; Ebert (1991), 93; Sharples (1991), 167; Szekeres (1991), 49; Steinmetz (1994), 600; Gaskin (1995), 226f.; Vuillemin (1996), 107; Bobzien (1998a), 120; (1999c), 107; LaBarge (2002), 243. Siehe auch die kritischen Anmerkungen von Gould (1967), 154f.; (1970), 74f. Mates (1973) zeigt sich auf S. 48 Anm. 26 unentschlossen, spricht auf S. 49 aber von der „Chrysippean implication“. Das Fabius-Argument wird oft als das stärkste Indiz dafür angesehen, daß die dritte Definition auf Chrysipp zurückgeht. Vgl. Gould (1967), 158; (1970), 76; M. Frede (1974), 83; Mueller (1978), 19; Hülser zu FDS 960, S. 1226f.; M. und W. Kneale (1986), 129; Szekeres (1991), 49; Gaskin (1995), 225–227. Die von Gould (1967), 160f.; (1970), 81 und Egli (1967), 39f. vertretene Annahme, daß die Wahrheitsbedingungen Diodors und Chrysipps der Sache nach identisch seien, hat Ebert (1991), 92–99 überzeugend zurückgewiesen. 159 Diese Definition setzt für eine gültige Implikation einen sogenannten ‚Verweisungszusammenhang‘ (ɮǖǠNjǝǓǜ) voraus, so daß das Consequens potentiell im Antecedens vorhanden ist, wobei aber der Fall „wenn p, dann p“ ausgeschlossen ist. Über die Zuordnung dieser Definition herrscht Uneinigkeit, verschiedene Möglichkeiten werden in M. Frede (1974), 90–93 diskutiert. 160 Vgl. Gould (1967), 152; (1970), 73; Mates (1973), 44; Sedley (1977), 101; Sorabji (1980), 266; Burnyeat (1982b), 321; Vuillemin (1996), 107; Bobzien (1999b), 84; Inwood (2003), 231. 161 Vgl. Hurst (1935), 490.
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Falschheit des Consequens q, so daß ein falsches Antecedens jedes beliebige Consequens material impliziert (ex falso quodlibet: ~p o ( p o q)). Umgekehrt ergibt sich der Fall, daß dann, wenn das Consequens wahr ist, die ganze Implikation wahr ist, unabhängig von der Wahrheit oder Falschheit des Antecedens, so daß ein wahres Consequens von jedem beliebigen Antecedens material impliziert wird (verum ex quolibet: q o ( p o q)). Nach Diodor ist eine Implikation dann wahr, wenn es weder möglich war noch möglich ist, daß sie mit Wahrem beginnt und mit Falschem endet. Die Definition Diodors kann so interpretiert werden, daß eine Implikation in seinem Sinne dann wahr ist, wenn eine philonische ImplikatiDiodor on zu jedem Zeitpunkt t wahr ist, also ( p o q) Philon (t) ( p o q)/t.162 Damit ist das Kriterium Diodors stärker als dasjenige Philons, führt aber zu den gleichen, oben erwähnten Paradoxien. Chrysipp setzt allem Anschein nach über die philonische Definition hinaus noch einen inneren Zusammenhang, die sogenannte ǝǟǗɏǛǞǑǝǓǜ, zwischen dem Antecedens und dem Consequens voraus und nennt eine Implikation dann wahr, wenn das kontradiktorische Gegenteil des Consequens mit dem Antecedens unverträglich ist (ǖɏǡǏǝǒNjǓ, was Cicero in § 12 mit pugnare/repugnare wiedergibt).163 So kann die Wahrheitsbedingung Chrysipps folgendermaßen interpretiert werden: p Chrysipp o q ~M( p & ~q), was äquivalent mit N( p o q) ist. Chrysipp scheint eine Implikation also im Sinne einer strikten Implikation zu verstehen.164 Damit bringt er einen modallogischen Aspekt in seine Definition ein, die somit stärker als die beiden vorangegangenen ist. _____________ 162 Zu Diodors Implikationsbegriff siehe Mates (1949); (1973), 44–47. Vgl. Gould (1967), 153; (1970), 73; Gaskin (1995), 228–231; Bobzien (1999b), 85; Allen (2001), 152. 163 Vgl. DL VII, 73 (SVF II, 215; LS 35A; FDS 914); SE PH II, 111 (LS 35B; FDS 958). 164 Vgl. Mates (1973), 49; Sorabji (1980), 266f.; Burnyeat (1982a), 213; M. und W. Kneale (1986), 134 („necessary connection“); Gaskin (1995), 225–229, 304; Vuillemin (1996), 107. Long und Sedley (LS II, 210) sind skeptisch, da in diesem Fall die Paradoxien auftreten könnten, die nach SE PH II, 110–113 (LS 35B; FDS 958) zwar für Diodor, aber nicht für Chrysipp relevant seien. Der Konflikt sei besser „as primitive“ zu bezeichnen, so wie die späten Stoiker es mit der ‚Eliminationsmethode‘ (LS I, 210, 264f.; siehe auch VII.6.) zum Ausdruck gebracht hätten. Stopper (1983), 286 beschreibt diesen ‚einfachen Konflikt‘ wie folgt: Wenn ein Konflikt (C ) zwischen zwei Aussagen p und q bestehen soll, dann muß gelten, daß weder p unter der Bedingung von q noch q unter der Bedingung von p möglich ist, also: C ( p/q) l [»M( p/q) »M(q/p)]. Auch wenn die ǝǟǗɏǛǞǑǝǓǜ in diesem Sinne zu interpretieren sei, bemerkt Gaskin (1995), 227 Anm. 17 zutreffend, führe dies dennoch zu der Konsequenz, daß die stoische Implikation im Sinne von N( p o q) interpretiert werden müsse. Ein positives Ergebnis bei dem Eliminationstest verweist ja gerade auf eine notwendige Verbindung der Implikationsglieder, andernfalls fiele der Test negativ aus. Barnes (1985b), 464 Anm. 9 hält es für falsch, die chrysippeische Implikation als eine strikte Implikation zu verstehen.
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VII. Kommentar zu De fato
b. Die Rekonstruktion des Fabius-Arguments Wenn Chrysipp unter einer Implikation immer die logisch stärkere, also die strikte Implikation versteht, dann ist es plausibel anzunehmen, daß sich Cicero in dem folgenden „Fabius-Argument“, das ja gegen Chrysipp gerichtet sein soll, auch einer solchen strikten Implikation bedient.165 Denn nur dann, wenn Cicero davon ausgehen kann, daß die logischen Voraussetzungen des Fabius-Arguments von Chrysipp als wahr anerkannt werden, kann die ganze Beweisführung erfolgreich sein. Ferner fallen am Ende der Argumentationskette die Formulierungen ne fieri quidem potest, quod fieri non potest und id fieri non potest (§ 12) auf. Diese Modalausdrücke sind zuvor in den Prämissen nicht explizit von Cicero eingeführt worden, müssen aber auf irgendeinem Wege Eingang in die Argumentationskette gefunden haben, denn das Ergebnis der Argumentation ist offensichtlich eine Modalaussage. Daher ist anzunehmen, daß es sich bei Ciceros gesamter Argumentation um eine modallogische handelt, der von Anfang an die logisch stärkere, strikte Implikation zugrunde liegt. Die folgende Darstellung wird zeigen, daß nur mit dieser Annahme das gesamte Argument logisch korrekt rekonstruiert werden kann.166 1. Wenn jemand beim Aufgang des Sirius167 geboren wurde, dann wird er nicht im Meer sterben. (si quis oriente Canicula natus est, is in mari non morietur)
(x)N(Gx o ~Sx)
Cicero beginnt mit der Annahme eines beliebigen Beispielsatzes, wie ihn ein Astrologe aufzustellen pflegt.168 In grammatischer Hinsicht ist hierbei _____________ 165 M. Frede (1974), 83 und Hülser zu FDS 960, S. 1226f. urteilen, daß Cicero so gegen Chrysipp argumentiere, als verwende dieser die dritte der bei Sextus erwähnten Definitionen. Vgl. Hurst (1935), 491; Egli (1967), 39; M. und W. Kneale (1986), 129; Gaskin (1995), 227. 166 Es wird folgende Notation verwendet: G „… wurde unter dem Sirius geboren“; S „… wird im Meer sterben“; E „… lebt jetzt“; f „Fabius“. Für seine große Unterstützung bei der Rekonstruktion sei Prof. Dr. H. Weidemann gedankt. Da sich die vorliegende Arbeit beim Erscheinen von Fabian Kreters Buch „Kann Fabius bei einer Seeschlacht sterben? Die Geschichte der Logik des Kontingenzproblems von Aristoteles, De interpretatione 9 bis Cicero, De fato“ bereits in der Phase der Drucklegung befand, konnte die in diesem Buch vorgelegte Rekonstruktion des Fabius-Arguments (S. 132–149) leider nicht mehr berücksichtigt werden. Zu Kreters Buch vgl. die Rezension von Weidemann (2007). 167 Der Sirius (Canicula) – auch „Hundsstern“ genannt, weil er im Sternbild „Großer Hund“ liegt – ist der hellste Fixstern des Himmels. In der Antike erschien er Ende Juli (zu Ciceros Zeit etwa um den 29.; vgl. Sharples (1991), 166) und galt als Zeichen für die bevorstehenden hohen Sommertemperaturen. Der Sirius diente Cicero schon in nat. III, 26; div. I, 130; II, 93 als Beispiel. Vgl. ferner Plinius, Nat. hist. XVIII, 268, 272, 281, 288; XXVIII, 187. 168 Ioppolo (2002), 236, 242 nimmt an, daß es sich bei den astrologischen Erscheinungen (im Antecedens) um Zeichen, nicht aber um Ursachen der zukünftigen Ereignisse handle. Das
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auffällig, daß Cicero mit is im Consequens das Subjekt, nachdem es mit (ali )quis im Antecedens bereits genannt worden ist, noch einmal explizit nennt. Das ist im Lateinischen weder üblich noch erforderlich, aber Cicero hält sich mit dieser Formulierung genau an die für die stoische Logik charakteristische Ausdrucksweise. Dies gilt ebenfalls für die von Chrysipp geforderte Formulierung des obigen Beispielsatzes in der Form einer Negation der Konjunktion (§ 15: non et natus est quis oriente Canicula, et is in mari morietur). Auch in dieser Formulierung wird das indefinite Subjekt (ali )quis im ersten Konjunktionsglied mit dem is im zweiten Konjunktionsglied wieder aufgenommen.169 Daran, daß Cicero sich in seiner lateinischen Formulierung ganz exakt an die übliche Ausdrucksweise der Stoiker hält, ist sein Bemühen zu erkennen, das Argument sprachlich so darzustellen, wie es der stoischen Lehre entspricht. Im folgenden Satz werden die Pronomina (ali )quis und is jeweils durch einen konkreten Namen (Fabius) ersetzt. 2. Wenn Fabius170 beim Aufgang des Sirius geboren wurde, dann wird Fabius nicht im Meer sterben. (si Fabius oriente Canicula natus est, Fabius in mari non morietur)
N(Gf o ~Sf )
Cicero geht hier von einer allgemeinen Aussage zu einer speziellen über. Die Regel der „Allspezialisierung“ erlaubt ihm diesen Schritt: Was für alle beliebigen Personen x gilt, gilt auch für eine ganz bestimmte Person f (Fabius). Um zum nächsten Schritt zu kommen, macht Cicero weitere Zwischenschritte, die er nicht explizit ausformuliert: (2) N(Gf o ~Sf ) ist äquivalent mit (2a) N~(Gf & Sf ), und mit der Äquivalenz von N und ~M~ ergibt sich: _____________ von Cicero verwendete Beispiel stamme aus der archaischen Phase der Astrologie (vgl. Magris (1994), 85 Anm. 39), die noch mehr auf Beobachtungen als auf mathematischen Berechnungen der Himmelserscheinungen basiere. 169 Vgl. Bobzien (1998a), 157. 170 Im vorliegenden Kontext ist Fabius nur als ein beliebiger Beispielname zu verstehen, wie Pini (1969), 550 Anm. 44, Hamelin (1978), 25 („Fabius“ bei Cicero entspreche ƽǣǔǛɏǞǑǜ bei Aristoteles), Marwede (1984), 125, Majorov (1985), 364 Anm. 19, Sharples (1991), 167, Escobar (1999), 302 Anm. 52 und Takahata (2004), 141 urteilen. Janssen (1992), 129 merkt mit Verweis auf Pease (1963), 466 (Kommentar zu div. II, 71) an, daß „Fabius“ wie der Beispielname „John Doe“ im Englischen zu verstehen sei. Nach Turnebus (in Bayer (2000), 125) stellt „Fabius“ einen Beispielnamen für einen ‚freien Mann‘ (Cicero, div. II, 71; Top. 14) dar, „Manius“ hingegen werde als ein Beispielname für einen Sklaven verwendet (Cato, agr. cult. 141). In „Fabius“ wird auch eine Referenz auf den berühmten Staatsmann und Feldherrn Quintus Fabius Maximus gesehen. Siehe o. S. 76 Anm. 237.
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VII. Kommentar zu De fato
3. Es ist nicht möglich, daß Fabius beim Aufgang des Sirius geboren wurde und daß Fabius im Meer sterben wird. ~M(Gf & Sf ) ( pugnant igitur haec inter se: Fabium oriente Canicula natum esse et Fabium in mari moriturum) In diesem Schritt folgert Cicero, daß sich die beiden Aussagen ‚Fabius wurde beim Aufgang des Sirius geboren‘ und ‚Fabius wird im Meer sterben‘ gegenseitig ausschließen. Auf der Grundlage der Wahrheitsbedingung einer strikten Implikation ist dieser Schritt gerechtfertigt. Um zum nächsten Schritt zu gelangen, macht Cicero weitere nicht explizit ausformulierte Zwischenschritte: Er muß eine weitere Annahme machen, nämlich daß es als gewiß gilt, daß Fabius, wenn er jetzt lebt, unter dem Sirius geboren wurde: (3a) N(Ef o Gf ). Hinter diesem Schritt steht folgende Überlegung, bei der die zeitliche Perspektive eine entscheidende Rolle spielt. Wenn angenommen wird, daß Fabius jetzt, in diesem Moment lebt, dann muß er der Voraussetzung gemäß auch beim Aufgang des Sirius geboren sein (certum in Fabio ponitur natum esse eum Canicula oriente). Alle anderen Weltverläufe, in denen Fabius nicht unter dem Sirius geboren wurde, sind zu diesem Zeitpunkt nicht mehr möglich. Genau im gegenwärtigen Moment ist es also faktisch notwendig, daß Fabius, wenn er lebt, beim Aufgang des Sirius geboren wurde. Eine solche Aussage kann über Fabius eben nur nach seiner Geburt gemacht werden, denn vor seiner Geburt wäre noch ein anderer Weltverlauf möglich gewesen, in dem er nicht beim Aufgang des Sirius oder vielleicht überhaupt nicht geboren würde. Ciceros Annahme N(Ef o Gf ), die auf einer faktischen Notwendigkeit basiert, macht deutlich, daß er mit temporalisierten Modalbegriffen arbeitet.171 _____________ 171 Bobzien (1998a), 151 Anm. 21 schließt sich der Kritik von Long und Sedley (LS II, 235) an, daß Cicero mit dieser Annahme quasi ‚eine Art von Essentialismus‘ voraussetze, der weder den Stoikern noch den anderen hellenistischen Schulen ohne weiteres zugesprochen werden könne. Da es aber nach Fabius’ Geburt der Voraussetzung gemäß faktisch notwendig ist, daß er beim Aufgang des Sirius geboren wurde, stellt die Geburt beim Aufgang des Sirius ein Merkmal an Fabius’ Existenz dar, das, seit er existiert, nicht mehr von ihm zu trennen ist. Hunter (1994), 19f. hält Ciceros Argumentationsschritt für unklar („murky part“). Dieser werde aber verständlicher, wenn man den ‚besonderen Ausdruck‘ certum in Fabio ponitur („it is certainly part of Fabius“) angemessen berücksichtige: Cicero lasse sich an dieser Stelle auf ‚die Geisteshaltung des stoischen Fatalismus‘ ein, den er selbst kritisiere („Cicero must be assumed here to be entering into the spirit of the fatalistic Stoic theory which he is criticising“). Durch das Fatum werde die Geburt beim Aufgang des Sirius zu einem dauerhaften und unabänderlichen Bestandteil der Existenz des Fabius. Auf dieser Basis sei dann auch Ciceros Argumentationsschritt gerechtfertigt. Wie schon dargelegt, arbeitet Cicero mit einer faktischen und nicht mit einer „fatalistischen“ Notwendigkeit. Ferner soll das FabiusArgument ja zeigen, daß die Akzeptanz der mantischen Sätze zu deterministischen Konse-
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Wenn es (3a) N(Ef o Gf ) zufolge notwendig ist, daß Fabius, wenn er jetzt lebt, unter dem Sirius geboren wurde, und es nach (3) ~M(Gf & Sf ) nicht möglich ist, daß er unter dem Sirius geboren wurde und im Meer sterben wird, ergibt sich (3b), daß es notwendig ist, daß, wenn Fabius jetzt lebt, er nicht im Meer sterben wird. (3) ~M(Gf & Sf ) ist nämlich mit (2) N(Gf o ~Sf ) äquivalent, und aus (3a) N(Ef o Gf ) und (2) N(Gf o ~Sf ) ergibt sich mit der Transitivität der Implikation (3b) N(Ef o ~Sf ). Dies ist äquivalent mit (3c) N~(Ef & Sf ), so daß sich mit der Äquivalenz von N und ~M~ ergibt: 4. Es ist nicht möglich, daß Fabius lebt und im Meer sterben wird. (et quoniam certum in Fabio ponitur natum esse eum Canicula oriente, haec quoque pugnant: et esse Fabium et in mari esse moriturum; ergo haec quoque coniunctio est ex repugnantibus: et est Fabius et in mari Fabius morietur)172
~M(Ef & Sf )
Auch um zum letzten Schritt zu kommen, macht Cicero Zwischenschritte, die von ihm nicht explizit erwähnt werden. Damit Ciceros Argumentationsgang deutlicher wird, soll die mit (4) ~M(Ef & Sf ) äquivalente Implikation (3b) N(Ef o ~Sf ) betrachtet werden. Sie besagt, daß es notwendig ist, daß Fabius, wenn er lebt, nicht im Meer sterben wird. Nun ist Ciceros Argumentationsziel zu zeigen, daß Fabius auf keinen Fall im Meer sterben kann, also ~M(Sf ), was mit N(~Sf ) äquivalent ist. Um aber diese Konklusion aus N(Ef o ~Sf ) gewinnen zu können, reicht es nicht aus, nur anzunehmen, daß Fabius lebt, also Ef, denn aus N(Ef o ~Sf ) und Ef ergibt sich nur die Konklusion ~Sf, also daß Fabius nicht im Meer sterben wird. Vielmehr muß angenommen werden, daß es notwendig ist, daß Fabius lebt, also N(Ef ); denn nur aus N(Ef o ~Sf ) und N(Ef ) ergibt sich die angestrebte Konklusion N(~Sf ). Die benötigte Annahme von N(Ef ) ist nun dadurch gerechtfertigt, daß es von einem Zeitpunkt aus betrachtet, zu dem Fabius bereits lebt, nicht mehr zu ändern und in diesem Sinne notwendig ist, daß er zu diesem Zeitpunkt lebt (jeder andere Weltverlauf ist zu einem solchen Zeit_____________ quenzen führt. Wenn Cicero dieses Argumentationsziel dadurch hätte erreichen wollen, daß er die Gültigkeit einer Prämisse aus dem Wirken des Fatums abgeleitet hätte, müßte man ihm wohl eine Petitio principii vorhalten. 172 Marwede (1984), 126 merkt zu et esse Fabium an: „this et is inappropriate. The coordinating conjunction et, not the correlatives et ... et, is required to connect properly esse Fabium and in mari esse moriturum“. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Ein von Cicero weggelassenes et wäre unangemessen gewesen, da die stoische Grammatik sowohl das erste als auch das zweite vorangehende et für den Ausdruck der Konjunktion fordert. Siehe hierzu u. S. 153f.
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VII. Kommentar zu De fato
punkt ja nicht mehr möglich). Damit basiert die weitere Prämisse (4a) N(Ef ) wiederum auf einer faktischen Notwendigkeit, die dann besteht, wenn Fabius lebt. Nun gilt N(Ef o ~Sf ) o (N(Ef ) o N(~Sf )) und mit N(Ef ) ergibt sich über Modus ponens (4b) N(~Sf ), was äquivalent mit ~M(Sf ) ist. So ergibt sich nun aus (4) ~M(Ef & Sf ) und (4a) N(Ef ) die Konklusion: 5. Es ist nicht möglich, daß Fabius im Meer sterben wird. (ergo illud ‚morietur in mari Fabius‘ ex eo genere est, quod fieri non potest)
~M(Sf )
In dieser Weise kann das Fabius-Argument rekonstruiert werden, ohne daß weitere Annahmen für seine Korrektheit vonnöten wären.173 _____________ 173 Greene (1963), 348 Anm. 96 glaubt, daß Karneades in den Paragraphen 11–16, 20, wie so oft, auf aristotelische Argumente zurückgreife. Gould (1967), 158f. mit Anm. 33; (1970), 79 hält das Fabius-Argument nur für korrekt, wenn „Diodorus’ doctrine concerning false propositions about the future is presupposed“. Cicero habe das Argument am Ende entstellt, was er aufgrund seiner Vorlage oder aus polemischen Gründen getan habe. Talanga (1986), 97 sieht in diesem Abschnitt „eine gezielte Kontamination der diodoreischen und der chrysippeischen Lehre“. Long und Sedley (LS II, 235) nehmen an, daß die ganze Darstellung des Arguments durcheinandergeraten sei. Szekeres (1991), 49, 51 hält das Argument für inkorrekt, da Cicero in dem von ihm gewählten Beispiel die These Diodors als Prämisse verwende. Aus unerklärlichen Gründen, so glaubt Janssen (1992), 130, folge das Argument den ‚Regeln Diodors‘. Vuillemin (1996), 109 Anm. 9 betrachtet das Argument als ungültig, weil Cicero sich der Äquivalenz von ~M~ und N bediene, die Chrysipp gerade ablehne (siehe auch u. S. 140 Anm. 216 und S. 144 Anm. 225). Gaskin (1995), 309–318 betont, daß Cicero sein Argumentationsziel nur mit einem negativen Consequens erreichen könne. Wiese die Implikation ein positives Consequens (z. B. „… dann wird Fabius im Meer sterben“) auf, dann wäre dieses mit Fabius’ Tod nicht mehr wahr und die ganze Implikation aus Chrysipps und Diodors Sicht nicht mehr als notwendig zu bezeichnen. Cicero sei sich dieses Umstandes aber nicht bewußt gewesen. Bobzien (1998a), 151f. stellt die Gültigkeit des Arguments in Frage: „As it stands, it seems fallacious, containing some sort of scope fallacy. With one or two illogical or at best obscure moves the opponent of the Stoics thus had reached a conclusion parallel to that of the argument in Fat. 14“. Lörcher (1913), 10f. (vgl. (1907), 352(16)) urteilt: „Genau genommen steht auch hier je länger je mehr jener Streit zwischen Diodor und Chrysipp im Mittelpunkt: Vigila, Chrysippe, ne tuam causam, in qua tibi cum Diodoro, valente dialectico, magna luctatio est, deseras. Si enim est verum … folgt dasselbe Beispiel wie in § 14, und zwar zunächst unbestimmt (quis), dann mit Einsetzung des konkreten Namens des Fabius, was doch zur Sache gewiß nichts beiträgt (aber für die Psychologie des Denkens Ciceros charakteristisch ist). Und alles Folgende ist, soweit es über § 14 hinausgeht, nichts als spitzfindige Spielerei (vgl. übrigens Tusc. I 11–14!), hinter der ich einen vernünftigen Sinn nicht entdecken kann, vollends da das Folgern auf die Gegenwart (haec quoque pugnant, et e s s e F. et in mari esse moriturum) für die Zusammenfassung am Schluß des § 12 gar keinen Wert hat. Im übrigen verwischt hier Cicero das Wesentliche an dem Beispiel, das konditionale Verhältnis von Vorder- und Nachsatz. Und nun frage ich, welches Gewicht diesem Tatbestand gegenüber die dazu gar nicht passenden ersten Sätze über die divinatio und die astrologorum percepta haben können. (Auch in § 8 ist die astrorum affectio eine Zutat Ciceros)“.
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Ciceros Beweisführung ist sehr umständlich ausgearbeitet und erscheint nicht unkompliziert. Das Ergebnis (5) hätte er auch mit weniger Schritten erreichen können: Cicero hätte mit (3a) N(Ef o Gf ) und (2) N(Gf o ~Sf ) über die Transitivität der Implikation direkt auf (3b) N(Ef o ~Sf ) schließen können. Cicero hätte mit (3b) N(Ef o ~Sf ) und (4a) N(Ef ) direkt auf (4b) N(~Sf ) schließen können. Cicero hätte letztlich von (2) N(Gf o ~Sf ) mit Annahme von N(Gf ) über (4b) zu dem Ergebnis (5) ~M(Sf ) gelangen können. In der kürzeren Variante präsentiert er das Argument dann auch etwas später. Wahrscheinlich jedoch wählt Cicero ganz bewußt den auf den ersten Blick umständlicheren Weg, um zu dem von ihm gewünschten Ergebnis zu gelangen. Denn aus der vorgestellten „Gegenwärtigkeit“ des Fabius resultiert eine faktische Notwendigkeit, auf deren Grundlage er die weiteren Prämissen N(Ef o Sf ) und N(Ef ) etablieren kann, die er für seinen Argumentationsgang benötigt. Mit dieser Annahme sind die Zwischenschritte gut verständlich. Cicero resümiert das Ergebnis des Fabius-Arguments: omne ergo, quod falsum dicitur in futuro, id fieri non potest. Mit dieser Aussage will er keineswegs behaupten, daß die Prophezeiungen der Mantiker als solche falsch oder in falscher Weise formuliert seien. Vielmehr bezieht er das, was er mit dem Fabius-Argument hergeleitet hat, allgemein auf jede zukunftsbezogene Aussage, so daß der resümierende Satz wie folgt zu interpretieren ist: Alles, wovon es falsch ist zu sagen, daß es sein werde, kann nicht geschehen.174 Zur Verdeutlichung kann diese Aussage mit der Formel ~Fp o ~MFp zum Ausdruck gebracht werden, die besagt, daß es dann, wenn es nicht der Fall sein wird, daß p, nicht möglich ist, daß es der Fall sein wird, daß p. Dieses verallgemeinerte Ergebnis des Fabius-Arguments stellt den Ausgangspunkt für den eigentlichen Angriff auf Chrysipp dar: Auch wenn dieser glaubt, auf dem Boden seiner Modaltheorie kontrafaktische Möglichkeiten annehmen zu können, muß er doch mit der Anerkennung der Mantik und ihrer percepta zugestehen, daß sein eigener Möglichkeitsbegriff letztlich genauso deterministisch ist wie der seines Gegners Diodor, was Chrysipp ja gerade vermeiden will. Somit verfange sich Chrysipp, so Cice_____________ 174 Ciceros Formulierung ist zwar doppeldeutig, aber der Kontext macht deutlich, daß sie im oben dargelegten Sinne zu verstehen ist und daß Cicero ihre Doppeldeutigkeit bei seiner Argumentation nicht ausnutzt, wie Bobzien (1998a), 155 („to be predicted as false (true) in the future“ oder „a false (true) statement about the future being made“) und Ioppolo (2002), 238 annehmen.
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ros Vorwurf, in Widersprüche zu seiner eigenen Lehre, wenn er sowohl die Gültigkeit der Mantik als auch die von ihm vorgetragene Modaltheorie zu vertreten gedenke. Um dies zu verdeutlichen, stellt Cicero die verschiedenen Möglichkeitsauffassungen von Chrysipp und Diodor gegenüber. Über die verschiedenen Modaltheorien der einzelnen Schulen wurde in der Antike viel diskutiert, wobei aber die Untersuchung über das Mögliche (ǚǏǛʈ ǎǟǗNjǞʸǗ) im Vordergrund stand, da sie für die Fatumsdiskussion von entscheidender Bedeutung war. Denn nur dann, wenn die Zukunft in dem Sinne offen steht, daß es für die zukünftige Entwicklung der Welt verschiedene Möglichkeiten gibt, kann es aus Ciceros Sicht auch Freiheit geben. Wie bei den Definitionen des Implikationsbegriffs, wurden vornehmlich die Möglichkeitsdefinitionen von Philon, Diodor und Chrysipp diskutiert. c. Philons Möglichkeitsdefinition Philon definiert das Mögliche als das, was fähig ist, gemäß seiner ‚inneren Natur‘ wahr zu werden.175 Diese Definition ist so zu verstehen, daß etwas dann möglich ist, wenn der vom Subjekt des entsprechenden Aussagesatzes bezeichnete Gegenstand die grundsätzliche Fähigkeit hat, die im Prädikat beschriebene Handlung auszuführen oder die im Prädikat zugesprochene Eigenschaft anzunehmen. Für Philon stellt gewissermaßen die innere Konsistenz der Aussage das Kriterium für das Mögliche dar. Da es ihm aber nur auf die grundsätzliche Konsistenz ankommt, läßt er die vorherrschenden Umstände völlig unberücksichtigt. Seiner Auffassung zufolge ist es daher nicht nur für ein Stück Holz, das z. B. irgendwo im Wald liegt, möglich zu brennen, sondern auch für ein Stück Holz, das auf dem Meeresboden liegt und dort auch immer liegen bleibt – es ist eben deshalb möglich, weil Holz die grundsätzliche Fähigkeit zu brennen besitzt.176 Diese sehr weite Möglichkeitsvorstellung führt zu der unangenehmen Konsequenz, daß auch das als möglich bezeichnet wird, was offensichtlich nie eintreten wird. _____________ 175 Alexander von Aphrodisias (In Arist. Anal. pr. 184.6–184.10 (LS 38B; FDS 992)) spricht von der ‚Befähigung des Subjektes‘ (ɫǚǓǞǑǎǏǓʗǞǑǞNj ǞǙʩ ʣǚǙǔǏǓǖɨǗǙǟ); vgl. Boethius, In Arist. De. interpr. III 9, 234.10–12 (FDS 988): Philo enim dicit possibile esse quod, natura propria enuntiationis suscipiat veritatem; Simplikios, In Arist. Cat. 7, 195.33–196.2 („ɫǚǓǞǑǎǏǓʗǞǑǞǓ ǖʗǗʃ). Vgl. die Übersetzungen in Hülser, FDS 992, S. 1263 („was mit der bloßen Fähigkeit eines Dinges zu etwas übereinstimmt“) und in Weidemann (1997), 433 („die bloße Geeignetheit des zugrundeliegenden Gegenstandes“). Zu Philons Möglichkeitsbegriff siehe z. B. M. Frede (1974), 117; Bobzien (1986), 40–42; (1993), 67–69; (1998a), 108–112. 176 Vgl. AvA, In Arist. Anal. pr. 184.6–184.10 (LS 38B; FDS 992).
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d. Diodors Möglichkeitsdefinition Diodor hat seine Möglichkeitsauffassung auf der Grundlage des ǔǟǛǓǏʡǣǗ ǕʗǍǙǜ ausgearbeitet (siehe V.1.). Cicero stellt sie in zwei Sätzen dar: 1. Nur das ist möglich, was entweder in der Gegenwart wahr ist oder in der Zukunft wahr sein wird. (ille enim id solum fieri posse dicit, quod aut sit verum aut futurum sit verum) 2. Das, was in der Zukunft eintreten wird, ist notwendig, und das, was in der Zukunft nicht eintreten wird, kann nicht geschehen. (quicquid futurum sit, id dicit fieri necesse esse et, quicquid non sit futurum, id negat fieri posse) Satz 1 kann im Sinne Diodors mit ~Fp o ~Mp formalisiert werden, was sich genau mit der Darstellung bei Epiktet deckt (siehe V.1.). Satz 2 kann dann entsprechend mit Fp o Np bzw. mit der Negation von p mit F~p o N~p formalisiert werden. Nun fällt aber auf, daß sich weder der Satz 2 aus Satz 1 (und damit auch nicht aus der Darstellung bei Epiktet) noch umgekehrt Satz 1 aus Satz 2 ableiten läßt. Cicero schreibt Diodor in Satz 2 mit Fp o Np eine streng deterministische Lehre zu, während Epiktet dies mit ~Fp o ~Mp nicht tut. Daß ~Fp o ~Mp nicht so streng deterministisch ist, wird durch die äquivalente Formulierung Gp o Np177 deutlicher, die nur besagt, daß das, was jetzt ist und immer sein wird, notwendig ist.178 Diodors Bestreben war es allem Anschein nach, mit der aus dem ǔǟǛǓǏʡǣǗ ǕʗǍǙǜ gewonnenen Möglichkeitsauffassung zum Ausdruck zu bringen, daß nur das möglich ist, was auch tatsächlich eintreten wird, daß also das, was nie eintreten wird, unmöglich ist. Wenn es also für Dion möglich ist, nach Korinth zu kommen, dann muß er tatsächlich irgendwann einmal nach Korinth kommen. Dabei ist es unerheblich, zu welchem genauen Zeitpunkt und unter welchen Umständen dies geschieht, _____________ 177 Aus ~Fp o ~Mp ergibt sich mit p/~p: ~F~p o ~M~p. Dies ist (mit ~F~p Gp und ~M~p Np) äquivalent mit Gp o Np. 178 Die knappe Darstellung bei Boethius (In Arist. De. interpr. III 9, 234.22–24 (LS 38C; FDS 988; M 138): Diodorus possibile esse determinat, quod aut est aut erit), bei Plutarch (Stoic. repug. 46, 1055e (SVF II, 202; FDS 1008; M 134): ɶ ɫǝǞǓǗ ɒǕǑǒɩǜ ɷ ɮǝǞNjǓ) und bei Alexander von Aphrodisias (In Arist. Anal. pr. 183.34–184.6 (LS 38B; FDS 992; M 135): ʜ ɷ ɮǝǞǓǗ ɷ ɮǝǞNjǓ) scheint im Sinne Epiktets verstanden werden zu müssen. Ciceros Darstellung in seinem Brief an Varro ( fam. IX, 4(6) (SVF II, 284; FDS 990; M 133)) aus dem Jahre 46 entspricht seiner Darstellung hier in De fato: ǚǏǛʈ ǎǟǗNjǞʸǗ me scito ǔNjǞɐ ƯǓʗǎǣǛǙǗ ǔǛʇǗǏǓǗ. quapropter si venturus es, scito necesse esse te venire; sin autem non es, ɒǎʡǗNjǞǙǗ est te venire.
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entscheidend ist nur, daß tatsächlich irgendwann einmal der Fall eintritt, daß Dion nach Korinth kommt. Aus dieser Möglichkeitsauffassung ergeben sich zwar deterministische Konsequenzen, die aber offensichtlich nicht im Sinne eines harten Determinismus zu verstehen sind,179 d. h. in dem Sinne, daß es dann, wenn etwas zu einem bestimmten Zeitpunkt geschieht, bereits vor diesem Zeitpunkt schon immer notwendig war, daß es zu diesem Zeitpunkt geschehen würde. Diese streng deterministische Auffassung findet in der Formel p/t o Np/t ihren Ausdruck, die als eine Abkürzung für die Formel p/t o (t´) (t´< t o N/t´( p/t))180 zu verstehen ist. Sedleys Vermutung zufolge sollen nun die Schüler Diodors im Laufe der Zeit dessen Möglichkeitsauffassung in dieser streng deterministischen Weise interpretiert und dadurch eine „Verschärfung“ vorgenommen haben, indem sie von einem temporalisierten Möglichkeitsbegriff, der nur schwach deterministisch ist, gegen die ursprüngliche Absicht des Lehrers zu einem datierten Möglichkeitsbegriff, der streng deterministisch ist, übergegangen sind.181 Wenn man vor dem Hintergrund dieser Überlegung Ciceros Darstellung im Sinne des zu späterer Zeit verschärften, datierten Möglichkeitsbegriffs interpretiert, können die fraglichen Sätze in der folgenden Weise formalisiert werden: Satz 1 kann mit ~p/t o ~Mp/t und Satz 2 mit p/t o Np/t zum Ausdruck gebracht werden. Mit der Negation von p ergibt sich aus Satz 2 ~p/t o N~p/t und daraus (mit N~ ~M) ~p/t o ~Mp/t, was wiederum dem Satz 1 entspricht. Mit dieser Interpretation ergibt sich nun eine Äquivalenz zwischen den Sätzen 1 und 2, und man kann sehr gut die deterministischen Konsequenzen der hier angeführten, d. h. verschärften Möglichkeitsauffassung erkennen: Wenn nur das möglich ist, was ist oder sein wird, und das, was ist oder sein wird, notwendig ist, dann ergibt sich letztlich, daß alles, was möglich ist, auch notwendig ist, wodurch der Unterschied zwischen den einzelnen Modalitäten aufgehoben wird.182 Durch die Formalisierung ((Mp/t o p/t) & ( p/t o Np/t)) o (Mp/t o Np/t) ist dies gut zu erkennen. _____________ 179 Sedley (1977), 99 (vgl. (1983a), 44f. Anm. 60), Sharples (1982a), 28f. Anm. 27 und Bobzien (1993), 74f. glauben nicht, daß Diodor ein „hardline“-Determinist gewesen sei. Diodor selbst, so Gaskin (1995), 309, habe mit dem Meisterargument keine ‚deterministischen Konklusionen‘ liefern wollen, habe aber übersehen, daß es einen ‚globalen Determinismus‘ impliziere. 180 Die Formel besagt, daß es dann, wenn es zu einem beliebigen Zeitpunkt t der Fall ist, daß p, bereits zu jedem vorangegangenen Zeitpunkt t´ notwendig war, daß es zu t der Fall sein würde, daß p. 181 Vgl. Sedley (1977), 99; Weidemann (1987), 31f., insbesondere Anm. 38; Gaskin (1995), 309. 182 Vgl. Szekeres (1992), 46; Weidemann (1993), 328.
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So scheint Cicero die Lehre Diodors in diesem Sinne nicht „fehlerhaft“, sondern nur in einer späteren, von Diodors Schülern verschärften Form zu referieren. Diese Modifikation führte zu einem harten Determinismus, der in der Antike bereits Diodor selbst zugesprochen wurde. Diodors ursprüngliche Motivation ist wohl so zu verstehen, daß er mit seiner Möglichkeitsdefinition die unangenehmen Konsequenzen einer zu weiten Möglichkeitsauffassung, wie sie etwa bei Philon zu finden ist, vermeiden wollte. Dafür mußte Diodor aber eine Definition in Kauf nehmen, die der Möglichkeit zu wenig Platz läßt. Auch die strengere Möglichkeitsauffassung Diodors widerspricht unserer Intuition, nach der wir jemandem – so nicht jetzt bereits gute Gründe vorliegen, die das faktisch verhindern – die Möglichkeit zugestehen, nach Korinth zu kommen, auch wenn er letztlich niemals nach Korinth kommen wird. e. Chrysipps Möglichkeitsdefinition Chrysipp war sich der Konsequenzen des zu schwachen Möglichkeitsbegriffs Philons und des zu starken Möglichkeitsbegriffs Diodors offensichtlich bewußt, so daß er diese mit einer eigenen Definition des Möglichen zu vermeiden versuchte. Seine Möglichkeitsdefinition ist bei Boethius und Diogenes Laërtios überliefert: Möglich ist etwas, das wahr sein kann und das äußere Umstände nicht daran hindern, wahr zu sein.183 Chrysipps Möglichkeitsdefinition besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil entspricht der Definition Philons. Sie ist für Chrysipp eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung. Im zweiten Teil fordert Chrysipp die Abwesenheit einer externen Hinderung. Es werden also zum einen die innere Konsistenz der Aussage und zum anderen die in der Situation vorherrschenden äußeren Umstände berücksichtigt. Dieser Definition gemäß ist es für das Stück Holz, das auf dem Meeresboden liegt, nicht mehr möglich zu brennen; denn die Tatsache, daß sich das Stück Holz von jetzt an immer im Wasser befindet, stellt zweifellos einen Hinderungsgrund für das Stück Holz dar, jemals zu brennen. _____________ 183 Vgl. DL VII, 75 (SVF II, 201; LS 38D; FDS 914): ǎǟǗNjǞʘǗ ǖɩǗ Ǟʘ ɫǚǓǎǏǔǞǓǔʘǗ ǞǙʩ ɒǕǑǒɩǜ ǏʐǗNjǓ, ǞʸǗ ɫǔǞʘǜ ǖɱ ɫǗNjǗǞǓǙǟǖɨǗǣǗ Ǐʊǜ Ǟʘ ɒǕǑǒɩǜ ǏʐǗNjǓ ; Boethius, In Arist. De. interpr. III 9, 234.27–235.1 (SVF II, 201; FDS 988): Stoici vero possibile quidem posuerunt, quod susceptibile esset verae praedicationis nihil his prohibentibus, quae cum extra sint cum ipso tamen fieri contingunt. Vgl. Boethius, In Arist. De. interpr. III 9, 197.10–26 (FDS 985); V 12, 393.12–20 (SVF II, 201; FDS 982); Ps.-Plutarch, fat. 6, 571a–b (FDS 983); AvA, fat. X, 176.14–18 (SVF II, 959; LS 38H; FDS 1009); Quaest. I.4, 9.5–8 (FDS 1011), 11.4–6 (FDS 984). Siehe hierzu M. Frede (1974), 107–117; Bobzien (1986), 42–103; (1993), 76–80; (1998a), 112–122.
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VII. Kommentar zu De fato
Es fällt auf, daß Cicero die Möglichkeitsauffassung Chrysipps in anderer Weise darstellt (§ 13): 1. Das, was in Zukunft nicht eintreten wird, kann dennoch geschehen, wie etwa dieser Edelstein zerbrechen kann, wenngleich dies niemals geschehen wird. (tu et, quae non sint futura, posse fieri dicis, ut frangi hanc gemmam, etiamsi id numquam futurum sit) 2. Es war nicht notwendig, daß Kypselos184 in Korinth als König regierte, obwohl dies bereits vor tausend Jahren durch ein Orakel Apolls verkündet worden war. (neque necesse fuisse Cypselum regnare Corinthi, quamquam id millesimo ante anno Apollinis oraculo editum esset) Der Grund mag darin zu finden sein, daß Cicero mit seiner Darstellung weniger an einer exakten Wiedergabe der Definition, sondern vornehmlich an einer Kontrastierung der verschiedenen Möglichkeitsauffassungen gelegen war:185 Während Diodor sagt, daß das, was möglich ist, auch eintreten muß, sagt Chrysipp, daß auch das möglich ist, was nie eintreten wird, bzw. daß das nicht notwendig ist, was eintreten wird. Cicero möchte ja gerade den Nachweis erbringen, daß Chrysipp mit seiner angeblich schwächeren Modaltheorie letztlich in den gleichen Determinismus gerät, den er Diodor zuschreibt. Auch wenn Chrysipp die negativen Konsequenzen seiner Vorgänger auf den ersten Blick vermeiden kann, führt seine Möglichkeitsauffassung jedoch zu Problemen, deren man sich auch schon in der Antike bewußt war.186 Cicero scheint mit seinen Beispielen zum Ausdruck bringen zu wollen, daß die Stoiker die Existenz kontrafaktischer, d. h. unverwirklichter Möglichkeiten annehmen. Doch wenn die Stoiker eine solche Annahme machen, dann stellt sich die Frage, wie diese mit ihrer Fatumslehre vereinbar ist.187 Je nach Perspektive ergeben sich folgende Probleme: _____________ 184 Laut Herodot V, 92 beendete Kypselos um 657 v. Chr. in Korinth die Herrschaft der Bakchiaden und regierte von da an als König. Nach seinem Tod 627 übernahm sein Sohn die Macht. Unter ihnen erlebte die Stadt ihre Blütezeit. Zum historischen Hintergrund siehe G. Bockisch, „Kypselos und die Bakchiaden“, in: Klio 64 (1982), 51–66. Cicero erwähnt Kypselos bereits in rep. II, 34. Vgl. Sharples (1991), 167f. 185 Vgl. Bobzien (1986), 52. 186 Vgl. Plutarch, Stoic. repug. 46, 1055d–f (teilw. SVF II, 202; FDS 1008); AvA, fat. X, 176.14– 178.7 (teilw. SVF II, 959–961; teilw. LS 38H; FDS 1009, 1010); Quaest. I.4, 8.31–9.32 (FDS 1011). Zur Quaestio I.4 siehe insbesondere Sharples (1982a) und Weidemann (1997). 187 Rist (1969a), 122, 131, dem sich Hahmann (2005), 77 Anm. 167 anschließt, urteilt: „Fate for Chrysippus is what will be, not what must be“ (S. 131), so daß das Fatum mit der Formulierung „what will be will be“ (S. 122) umschrieben werden könne, andernfalls geschähe
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Aus der Annahme, daß eine zukunftsbezogene Aussage auf der Basis des starken Wahrheitsbegriffs wahr ist, folgt, daß bereits in der Gegenwart Ursachen vorliegen, die garantieren, daß das in der zukunftsbezogenen Aussage beschriebene Ereignis eintreten wird. Dies bedeutet aber, daß das, was als wahr vorausgesagt wird, notwendigerweise eintreten muß und daß somit das kontradiktorische Gegenteil dessen, was als wahr vorausgesagt wird, unmöglich eintreten kann. Daher kann nichts kontingent geschehen, wovon im starken Sinne wahrheitsgemäß ausgesagt wird, daß es geschehen oder daß es nicht geschehen werde. Die Existenz des Fatums bedeutet die uneingeschränkte Gültigkeit des Kausalitätsprinzips. Jeder Weltzustand ergibt sich notwendigerweise aus dem vorausgegangenen.188 Wenn zukünftige Ereignisse also durch eine sich mit Notwendigkeit vollziehende Kausalverkettung verursacht werden, dann machen dieselben Gründe, die ein Ereignis notwendig machen, das kontradiktorische Gegenteil dieses Ereignisses unmöglich. Somit reicht die Annahme einer lückenlosen Kausalverkettung bereits aus, um jede kontrafaktische Möglichkeit zu eliminieren, da einer lückenlosen Kausalverkettung gewissermaßen das „Hindernis“ für kontrafaktische Möglichkeiten immanent ist.189 Nach stoischer Vorstellung ist der Kosmos durch die göttliche Vorsehung sinnvoll und auf das beste eingerichtet. Diese teleologische Weltvorstellung umschreibt Cicero mit dem Bild eines aufgerollten Seiles:190 Jeder Weltzustand entfaltet sich sukzessive aus dem vorausgegangenen (was durch die uneingeschränkte Gültigkeit des Kausalitätsprinzips gewährleistet wird), so wie sich ein aufgewickeltes Seil stetig abrollt. Dies bedeutet nichts anderes, als daß alles, was geschieht, bereits angelegt war und unausweichlich geschehen muß, so daß keine kontrafaktischen Möglichkeiten im göttlichen Weltenplan vorkommen können.191 _____________
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tatsächlich alles mit Notwendigkeit. Mit dieser sehr indeterministischen Interpretation (sie wird von Sharples (1981), 82 zu Recht kritisiert), die mit der Formel N(Fp o Fp) wiedergegeben werden kann, dürfte der stoische Fatalismus wohl kaum adäquat zu beschreiben sein. Dies soll aus den Darlegungen in VII.5.e., VII.17. und VII.18.c. deutlich werden. Siehe hierzu auch II.1. Vgl. AvA, fat. X, 176.14–176.24 (SVF II, 959; LS 38H; FDS 1009). Vgl. div. I, 127 (SVF II, 944; LS 55O): non enim illa, quae futura sunt, subito exsistunt, sed est quasi rudentis explicatio sic traductio temporis nihil novi efficientis et primum quidque replicantis (siehe auch u. S. 133 Anm. 201); vgl. Seneca, nat. II, 35.2, der das Sich-Entfalten des Fatums mit einem herabströmenden Fluß vergleicht ( fata […] cursum irrevocabilem ingressa ex destinato fluunt. quemadmodum rapidorum aqua torrentium in se non recurrit, ne moratur quidem, quia priorem superveniens praecipitat, sic ordinem fati rerum aeterna series rotat, cuius haec prima lex est, stare decreto) und Gellius VII, 2.5 (SVF II, 1000; FDS 998): agmina fati et volumina. Zur bildhaften Darstellung des Fatums als Tau siehe Rolke (1975), 216–219. Zur stoischen ǚǛʗǗǙǓNj siehe die zahlreichen Fragmente in SVF II, 1106–1186.
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Vor dem Hintergrund dieser drei Aspekte, die sich gegenseitig bedingen und die stoische Kosmologie nur aus verschiedenen Perspektiven beschreiben, ist das Problem der Existenz kontingenter Ereignisse innerhalb der stoischen Fatumslehre deutlich erkennbar: Die Annahme eines kontingenten Ereignisses zieht die Annahme nach sich, daß ein und dasselbe Ereignis sowohl eintreten als auch nicht eintreten könnte (Mp/t & M~p/t). Aus stoischer Sicht käme ein solches Ereignis einem unverursachten Geschehen gleich,192 was aber nicht mit dem logischen, nicht mit dem kausalen und vor allem nicht mit dem theologischen bzw. teleologischen Aspekt der stoischen Lehre vereinbar wäre. Die Annahme eines ursachenlosen Ereignisses würde die Einheit und die Kontinuität des Weltverlaufes zerstören und damit die göttliche Einrichtung des Kosmos selbst in Frage stellen.193 Wenn Chrysipp also tatsächlich kontrafaktische Möglichkeiten in die stoische Fatumslehre integrieren wollte,194 dann zählt dieses Vorgehen entweder zu den repugnantiae oder paradoxa Stoicorum, wie die Gegner es den Stoikern vorwerfen, oder man muß – wenn man den Stoikern weder einen Widerspruch noch einen rein epistemischen Möglichkeitsbegriff195 _____________ 192 Vgl. AvA, fat. XV, 185.7–11; XXII, 192.21–25 (SVF II, 945; LS 55N). 193 Vgl. AvA, fat. XXII, 192.8–25 (SVF II, 945; LS 55N); Plutarch, Stoic. repug. 23, 1045b–c (SVF II, 973). 194 Offensichtlich hatte Chrysipp solches im Sinn, denn auch Plutarch, Stoic. repug. 46, 1055d–f (teilw. SVF II, 202; FDS 1008) und Alexander von Aphrodisias, fat. X, 176.14–178.7 (teilw. SVF II, 959–961; teilw. LS 38H; FDS 1009, 1010) sprechen ihm die Annahme kontrafaktischer Möglichkeiten zu. Siehe hierzu Marwede (1984), 133; Bobzien (1986), 56–60; (1993), 75; (1998a), 116–119; LS I, 393; Gaskin (1995), 222f. Anm. 9; D. Frede (2003), 181. 195 Alexander von Aphrodisias ( fat. X, 176.18–27 (SVF II, 959; teilw. LS 38H; FDS 1009)) schreibt den Stoikern als einziger (siehe hierzu Sharples (1987a), 205 mit Anm. 28) einen solchen Möglichkeitsbegriff zu. Zukünftige Ereignisse träten der stoischen Lehre gemäß notwendigerweise ein, aber der Mensch könne sie deshalb als möglich ansehen, weil ihm die Umstände ihrer Hinderung oder Nicht-Hinderung unbekannt seien. Aufgrund dieses Zeugnisses sprechen nicht wenige Interpreten den Stoikern einen epistemischen Möglichkeitsbegriff zu, vgl. z. B. Faust (1931), 218–220 („Herabsetzung des Möglichkeitsbegriffes zu einer abstrakten Reflexionsform des Subjektes“); Schmekel (1938), 277; Barth-Goedeckemeyer (1946), 86; Sambursky (1956), 40; (1959), 75; Long (1970), 256 mit Anm. 24; (1971), 189; (1974), 164; Donini (1973), 349f.; Inwood (1985), 110; Szekeres (1992), 50; Forschner (1995), 113 Anm. 92; Zierl (1995), 170. Reesor (1978), 194 glaubt, daß Alexander (SVF II, 959) seine stoische Quelle an dieser Stelle falsch interpretiere. Es werde nur gesagt, daß die Tatsache, daß die Hinderungsgründe unbekannt seien, „a demonstrative argument“ für die Hinderung des kontradiktorischen Gegenteiles eines Ereignisses sei, aber nicht, daß es deshalb nicht an seinem Eintreten gehindert werde, weil die Hinderung unbekannt sei. Sorabji (1980), 278 widerspricht der Annahme, daß die Stoiker nur einen epistemischen Möglichkeitsbegriff zugelassen hätten. Bobzien (1998a), 133–136 legt ausführlich dar, daß eine rein epistemische Interpretation des Möglichkeitsbegriffs nicht auf die orthodoxe Stoa bzw. auf Chrysipp zurückgehen könne. Alexanders De fato basiere zu großen Teilen auf einer Quelle aus dem zweiten nach-
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unterstellen möchte – davon ausgehen, daß sie die kontrafaktischen Möglichkeiten auf einer anderen Beschreibungsebene als der, die das Fatum zum Ausdruck bringt, begründet haben. Einer Antwort auf die entscheidende Frage, wie sich aus stoischer Sicht kontrafaktische Möglichkeiten mit der Lehre vom Fatum vereinbaren lassen, scheint man näher kommen zu können, wenn man den Blick auf eine terminologische Unterscheidung richtet, die bei Alexander von Aphrodisias überliefert ist. Seiner Auseinandersetzung mit der stoischen Modaltheorie ist zu entnehmen, daß die Stoiker grundsätzlich zwischen dem femininen Substantiv ‚Notwendigkeit‘ (ɒǗɏǍǔǑ) und dem Adverb ‚notwendigerweise‘ (ɒǗNjǍǔNjʇǣǜ) bzw. dem Adjektiv im Neutrum ‚notwendig‘ (ɒǗNjǍǔNjʏǙǗ) der Bedeutung nach unterscheiden wollen.196 Diese auf den ersten Blick ungewöhnliche und nicht unmittelbar einsichtige Unterscheidung wird von Alexander zwar nicht eingehender erläutert, aber dafür berichtet an anderer Stelle Sextus Empiricus ausführlicher, daß die Stoiker in ganz ähnlicher Weise zwischen dem femininen Substantiv ‚Wahrheit‘ (ɒǕɰǒǏǓNj) und dem Adjektiv im Neutrum ‚wahr‘ bzw. ‚das Wahre‘ (ɒǕǑǒɨǜ) unterscheiden. Differenziert werden die Begriffe197 hinsichtlich des Wesens (ǙʤǝʇNj): Die Wahrheit und das Wahre entsprechen ihrem Wesen nach dem Wesen dessen, dem sie zugeordnet oder mit dem sie verbunden sind. Die Wahrheit ist ein alles Wahre aussagendes Wissen, welches das Zentralorgan (ɲǍǏǖǙǗǓǔʗǗ) in einem bestimmten Zustand darstellt, wie auch die Hand in einem bestimm_____________ christlichen Jahrhundert. Vgl. ferner LS I, 235; Sharples (1983a), 134f.; Hankinson (1998), 254, 257; (1999b), 528; Jedan (2002), 47f., 55f.; Hahmann (2005), 73–75. Daß die Stoiker den „Zufall“ als Unkenntnis der tatsächlichen Ursachen verstehen wird in Boethius, In Arist. De interpr. III 9, 194.23–195.2 (FDS 1006) hervorgehoben. Vgl. z. B. von Arnim (1905), 11f.; Sambursky (1956), 40; Sharples (1983a), 132, 135; (1991), 15 Anm. 1 (mit weiteren Verweisen); D. Frede (1990), 208; Hossenfelder (1995), 86; Hankinson (1998), 260; White (2003), 139f.; Hahmann (2005), 52–57. Bobzien (1986), 135 Anm. 48 vermutet, daß Alexander den epistemischen Zufallsbegriff der Stoiker mit deren Möglichkeitsbegriff vermischt habe. 196 Soweit ersichtlich, ist AvA, Quaest. I.4, 10.8–15 (SVF II, 962; FDS 1012) das einzige direkte Zeugnis für die explizite terminologische Unterscheidung zwischen ɒǗNjǍǔNjʇǣǜ und ɫǘ ɒǗɏǍǔǑǜ. Die unterschiedliche Verwendung von ɒǗNjǍǔNjʏǙǗ und ɫǘ ɒǗɏǍǔǑǜ in AvA, fat. X, 177.7–178.7 (teilw. SVF II, 961; FDS 1010) scheint zumindest indirekt auf eine terminologische Unterscheidung der Stoiker zu deuten, wobei Alexander aber weder explizit auf eine solche verweist noch die Bedeutung der verschiedenen Ausdrücke deutlich voneinander abgrenzt. Zu den fraglichen Stellen siehe Sharples (1975), 256 mit Anm. 21; (1981), 89, 97 Anm. 61; (1982a), 32; (1983a), 138; (1992), 30 Anm. 63, 30f. Anm. 64; Hülser, zu FDS 1012, S. 1312f. Vgl. Bobzien (1998a), 136–143; Brennan (2001), 271–275. 197 Vgl. SE AM VII, 38–45 (teilw. SVF II, 132; FDS 324); PH II, 80–83 (LS 33P; FDS 322). Diese Differenzierung wird ausführlich in Long (1978) behandelt. Vgl. Christensen (1962), 59; Long (1971b), 98–104; M. und W. Kneale (1986), 149f.
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VII. Kommentar zu De fato
ten Zustand eine Faust ist. Da das Zentralorgan nach stoischer Vorstellung körperlich gedacht ist, ist auch die Wahrheit ihrem Wesen nach körperlich zu denken. Das Wahre dagegen ist eine Aussage (ɒǘʇǣǖNj) und somit ein Lekton (ǕǏǔǞʗǗ), das als unkörperlich verstanden wird. Daher ist auch das Wahre seinem Wesen nach unkörperlich. hinsichtlich der Zusammensetzung (ǝʡǝǞNjǝǓǜ): Das Wahre ist eine Aussage, die einfach und zeitbezogen ist, wie z. B. die gegenwartsbezogene Aussage ‚Es ist Tag‘. Die Wahrheit dagegen basiert auf einem Wissen (ɫǚǓǝǞɰǖǑ) und ist ihrer Natur nach zusammengesetzt. Während sich das Wahre nur auf einen einzelnen Satz bezieht, stellt die Wahrheit die Menge aller wahren Sätze insgesamt dar. Das Wahre verhält sich zur Wahrheit wie der Bürger zum Volk. hinsichtlich der Möglichkeit (ǎʡǗNjǖǓǜ198): Die Wahrheit ist immer mit Wissen (ɫǚǓǝǞɰǖǑ) verbunden, während das Wahre auch ohne Wissen, z. B. von Kleinkindern, ausgesagt werden kann. Daß die Stoiker ‚Notwendigkeit‘ (ɒǗɏǍǔǑ) und ‚Wahrheit‘ (ɒǕɰǒǏǓNj) neben ‚Schicksal‘ (ǏʉǖNjǛǖɨǗǑ), ‚Vernunft‘ (ǕʗǍǙǜ) und ‚Natur‘ (ǠʡǝǓǜ) als Bezeichnungen für das gleiche kosmologische Prinzip aus verschiedenen Perspektiven benutzt haben, ist bei Stobaeus überliefert.199 Besonders die Identifikation von ‚Fatum‘ (ǏʉǖNjǛǖɨǗǑ), und ‚Notwendigkeit‘ (ɒǗɏǍǔǑ) steht in völliger Übereinstimmung mit der (alt-)stoischen Kosmologie und wird nicht nur durch das Zeugnis des Stobaeus bestätigt.200 Ganz offensichtlich bezieht sich ‚Notwendigkeit‘ in diesem Zusammenhang auf die gleiche Beschreibungsebene, auf die sich auch ‚Fatum‘ bezieht. Wenn jemand die Perspektive des Fatums, d. h. eine „göttliche“ oder „kosmische“ Perspektive einnehmen könnte, also gewissermaßen besagtes aufgewickeltes Seil gänzlich abgerollt betrachten könnte, dann besäße er auf einen Blick Kenntnis aller in der Welt wirkenden Ursachen, und der Verlauf der Zukunft läge ihm zweifelsfrei vor Augen. Der Mensch kann _____________ 198 Hülser, FDS 324, S. 335f., übersetzt „Macht (Möglichkeit des Vorkommens)“. Flückiger (1998), 22 wählt „Vermögen“ als Übersetzung. 199 Vgl. Stobaeus, Ecl. I 5, 15, p. 79, 1–12 (SVF II, 913; LS 55M; FDS 327). Siehe auch V.2. 200 Z. B. bezeichnet Plutarch, Stoic. repug. 46, 1055e (FDS 1008) das Fatum als die ‚mächtigste Notwendigkeit‘ (ǔǟǛǓǣǞɏǞǑ ɒǗɏǍǔǑ); Diogenianos in Eusebius, Praep. evang. VI, 8.1 (SVF II, 925) berichtet, daß Chrysipp im ersten Buch seiner Abhandlung ƻǏǛʈ ǏʉǖNjǛǖɨǗǑǜ zeigen wolle, daß alle Dinge ‚durch die Notwendigkeit und das Schicksal‘ (ʣǚʘ Ǟʅǜ ɒǗɏǍǔǑǜ ǔNjʈ Ǟʅǜ ǏʉǖNjǛǖɨǗǑǜ) geschähen; vgl. AvA, fat. VII, 171.26–27: ɫǘ ɒǗɏǍǔǑǜ ǞǏ ǔNjʈ ǔNjǒ’ ǏʉǖNjǛǖɨǗǑǗ; XXI, 191.5–6, XXX, 200.14–15 (SVF II, 940): ǚɏǗǞNj ɫǘ ɒǗɏǍǔǑǜ ǞǏ ǍʇǗǏǝǒNjǓ ǔNjʈ ǔNjǒ’ ǏʉǖNjǛǖɨǗǑǗ; XXXIV, 206.4: ǔNjǞɐ ǠʡǝǓǗ Ǐʊǜ ǞɱǗ ǏʉǖNjǛǖɨǗǑǗ ǞǏ ǔNjʈ ǞɱǗ ɒǗɏǍǔǑǗ; XXXVI, 209.25: ǔNjǞ’ ɒǗɏǍǔǑǗ ǞǓǗɐ ǔNjʈ ǏʉǖNjǛǖɨǗǑǗ. Seneca definiert das fatum über die necessitas (nat. II, 36.1: quid enim intellegis fatum? existimo necessitatem rerum omnium actionumque, quam nulla vis rumpat). Vgl. Long (1970), 248f.; Sharples (1981), 87f.; Forschner (1995), 99; Bobzien (1998a), 136–139.
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aber eine solche Perspektive nicht einnehmen, er kann nur versuchen, anhand gewisser Zeichen auf Zukünftiges zu schließen.201 Das Fatum als kosmologisches Prinzip beschreibt die Welt in ihrer Vollständigkeit, und mit ebendieser Vollständigkeit beschreibt auch ‚Notwendigkeit‘ die Welt. ‚Notwendigkeit‘ stellt die universale Modalität des Kosmos dar. Auf der anderen Seite können Aussagen (ɒǘǓʰǖNjǞNj) in der stoischen Logik die beiden Wahrheitswerte „wahr“ und „falsch“ und die vier Modalitäten „möglich“, „unmöglich“, „notwendig“ und „nicht notwendig“ annehmen.202 Betrachtet man nun die Definition dieser Modalitäten, dann fällt auf, daß sie jeweils auf zwei Kriterien beschränkt sind, nämlich auf die innere Konsistenz der Aussage (das philonische Kriterium) und auf die Abwesenheit einer äußeren Hinderung. Ferner handelt es sich um temporalisierte Modalitäten, da eine bestimmte Zeit betrachtet wird, zu der die äußere Hinderung besteht oder nicht besteht. Die Definitionen dieser Modalitäten können wie folgt umschrieben werden:203 Etwas ist jetzt möglich, wenn es die innere Fähigkeit besitzt, wahr zu sein, und es von jetzt an einen Zeitpunkt gibt, zu dem es nicht durch äußere Umstände daran gehindert wird, wahr zu sein. Etwas ist jetzt unmöglich, wenn es nicht die innere Fähigkeit besitzt, wahr zu sein, oder die innere Fähigkeit hierzu besitzt, aber von jetzt an immer durch äußere Umstände daran gehindert wird, wahr zu sein. Etwas ist jetzt notwendig, wenn es nicht die innere Fähigkeit besitzt, falsch zu sein, oder die innere Fähigkeit hierzu besitzt, aber von jetzt an immer durch äußere Umstände daran gehindert wird, falsch zu sein. Etwas ist jetzt nicht notwendig, wenn es die innere Fähigkeit besitzt, falsch zu sein, und es von jetzt an einen Zeitpunkt gibt, zu dem es nicht durch äußere Umstände daran gehindert wird, falsch zu sein. Wenn Chrysipp nun von einem kontingenten Ereignis sprechen möchte, dann muß er zeigen, daß das Eintreten dieses Ereignisses sowohl möglich als auch nicht notwendig ist. Dabei reicht es aber nicht aus, daß die innere _____________ 201 Vgl. Cicero, div. I, 127 (SVF II, 944; LS 55O): si quis mortalis possit esse, qui conligationem causarum omnium perspiciat animo, nihil eum profecto fallat. qui enim teneat causas rerum futurarum, idem necesse est omnia teneat, quae futura sint. quod cum nemo facere nisi deus possit, relinquendum est homini, ut signis quibusdam consequentia declarantibus futura praesentiat. non enim illa, quae futura sunt, subito exsistunt, sed est quasi rudentis explicatio sic traductio temporis nihil novi efficientis et primum quidque replicantis. 202 Bobzien (1986), 50f. nennt sie „Axiomamodi“, die mit den realen Umständen, den „Sachmodi“, korrespondieren. 203 Vgl. M. Frede (1974), 107–117; Bobzien (1986), 42–103; (1993), 76–80; (1997), 75f.; (1998a), 112–122, die sich Fredes Rekonstruktion der stoischen Modaldefinitionen grundsätzlich anschließt. Algra (1995), 289 Anm. 75 kritisiert diese Rekonstruktion.
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VII. Kommentar zu De fato
Fähigkeit, wahr zu sein, und die Abwesenheit der äußeren Hinderung, wahr zu sein, zu einem Zeitpunkt und die innere Fähigkeit, falsch zu sein, und die Abwesenheit der äußeren Hinderung, falsch zu sein, zu einem anderen Zeitpunkt gegeben sind, denn sonst wäre ein Ereignis zwar zu einem Zeitpunkt möglich und zu einem anderen Zeitpunkt nicht notwendig, aber nicht zu ein und demselben Zeitpunkt beides zugleich und damit kontingent. Damit etwas kontingent ist, muß zu ein und demselben Zeitpunkt sowohl die innere Fähigkeit, wahr zu sein, und die Abwesenheit einer äußeren Hinderung, wahr zu sein, als auch die innere Fähigkeit, falsch zu sein, und die Abwesenheit einer äußeren Hinderung, falsch zu sein, gegeben sein. Dies bedeutet, daß, abgesehen von der inneren Fähigkeit, für die Annahme eines kontingenten Ereignisses nur die Abwesenheit einer – und das muß ausdrücklich betont werden – äußeren Hinderung (ǞʸǗ ɫǔǞʘǜ ǖɱ ɫǗNjǗǞǓǙǟǖɨǗǣǗ) gefordert wird, während von allen anderen Umständen aber, die auf der Basis einer vollständigen Beschreibung des Weltverlaufes natürlich auch Bestandteile des universalen Kausalgefüges darstellen, aufgrund dessen alle Ereignisse mit Notwendigkeit eintreten oder ausbleiben, bei der modalen Beurteilung abgesehen wird, ebenso wie von dem theologischen bzw. teleologischen Aspekt der stoischen Kosmologie. Aus diesem Grund können die so konstituierten Modalitäten als „abstraktive Modalitäten“ bezeichnet werden.204 Diese Möglichkeitsauffassung kann an folgendem Beispiel veranschaulicht werden: Es sei angenommen, daß Dion zum gegenwärtigen Zeitpunkt körperlich gesund ist und keinen äußeren Zwängen unterliegt. Dion besitzt dann jetzt qua Mensch sowohl die Fähigkeit zu gehen als auch die Fähigkeit, nicht zu gehen, und er wird jetzt weder durch äußere Umstände daran gehindert zu gehen, noch durch äußere Umstände daran gehindert, nicht zu gehen. Somit ist es vom stoischen Standpunkt aus jetzt möglich und nicht notwendig, also kontingent, daß Dion z. B. nach Korinth geht. Dies bedeutet: Es ist jetzt möglich, daß Dion nach Korinth geht, auch wenn angenommen wird, daß er niemals nach Korinth kommen wird (entspricht Ciceros Edelstein-Beispiel); und ebenso ist es jetzt nicht notwendig, daß Dion nach Korinth geht, auch wenn angenommen wird, daß er in der Zukunft nach Korinth kommen wird (entspricht Ciceros Kypselos-Beispiel). Auf der Basis dieser abstraktiven Modaldefinitionen ergibt sich für die Stoiker dann tatsächlich kein Widerspruch zwischen der Annahme kontrafaktischer Möglichkeiten und der Akzeptanz des aus den kosmologischen Prämissen resultierenden Fatalismus. _____________ 204 Vgl. Jedan (2002), 48–56.
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Die Stoiker scheinen also mit zwei verschiedenen modalen Konzeptionen zu arbeiten:205 Neben der universalen Modalität, die auf einer vollständigen und zeitlosen Beschreibung der Welt basiert, gibt es abstraktive Modalitäten, die auf einer unvollständigen und zeitrelativen Beschreibung der Welt basieren, indem zu einem bestimmten Zeitpunkt nur die beiden Aspekte der inneren Konsistenz und der Abwesenheit einer äußeren Hinderung für die Zuweisung einer bestimmen Modalität berücksichtigt werden, während von allen anderen Umständen abgesehen wird. Allem Anschein nach waren die Stoiker bemüht, zwischen den beiden modalen Konzeptionen auch sprachlich zu unterscheiden. Bei ihrem Bestreben, eine logisch durchsichtige Idealsprache zu entwickeln (siehe u. S. 153f.), ist eine derart genaue Unterscheidung keinesfalls überraschend.206 Vor diesem Hintergrund scheint auch der Nutzen der von Alexander erwähnten terminologischen Unterscheidung für die Stoiker deutlich zu werden. Sie können daran festhalten, daß die Dinge mit ‚Notwendigkeit‘ (im Sinne der universalen Modalität, d. h. dem Fatum gemäß) geschehen (das Fatum als Manifestation des Kausalitätsprinzips wollen die Stoiker ja keinesfalls preisgeben), ohne aber zugestehen zu müssen, daß es _____________ 205 Long (1971a), 176 formuliert: „The world is one and many; it is God and his parts. There is an eternal perspective and a human viewpoint. At one moment it is necessary to view the totality and interconnexion of all events; at another time attention must be given to a particular fragment of this totality. Then it may be proper to use terms like ‚possible‘ and ‚non-necessary‘, to assign priority to the one causal explanation over another, to make use of distinctions which are irrelevant when we try to see things outside the time-scale, from God’s viewpoint“. Eine denkbare Interpretation des stoischen Möglichkeitsbegriffs beschreibt Sharples (1981), 82 als „an objective contrast between the causal nexus considered as a whole sub specie aeternitatis and some more limited aspect of it“. M. und W. Kneale (1986), 124 unterscheiden zwischen einem absoluten und einem relativen Gebrauch der stoischen Modaloperatoren. Algra (1995), 291–298 geht davon aus, daß die Stoiker durch die Koexistenz zweier modaler Perspektiven zwischen einer deterministischen ‚physischen Möglichkeit‘ und einer in ihrem Sinne nicht deterministischen ‚logischen Möglichkeit‘ unterschieden hätten. Bobzien (1998a), 136–139 und Hahmann (2005), 76f. unterscheiden zwischen einem kosmologischen und einem logischen Konzept der Notwendigkeit. Allerdings scheint eine solche Unterscheidung gerade vor dem Hintergrund der von den Stoikern vertretenen starken Wahrheitsauffassung nicht unproblematisch zu sein, der zufolge die Wahrheit einer Aussage eine physisch-kausale Notwendigkeit impliziert (siehe II.2.). Siehe hierzu auch die Kritik in Jedan (2002), 48–50. 206 Es ist daher auch nicht unplausibel, mit Bobzien (1998a), 52f.; (1999a), 199–202 anzunehmen, daß die Stoiker ebenfalls genau zwischen dem femininen Substantiv NjʊǞʇNj und dem substantivierten Adjektiv im Neutrum NjʍǞǓǙǗ differenziert haben. Das Substantiv NjʊǞʇNj bringe wie ‚Schicksal‘ und den anderen bei Stobaeus genannten Begriffen das aktive Prinzip im Kosmos zum Ausdruck. Das Adjektiv NjʍǞǓǙǗ dagegen beziehe sich auf die verschiedenen Ursachen, die in jedem individuellen Akt einer Verursachung wirken. Vor diesem Hintergrund wird Senecas Aussage verständlich, wenn er vom Fatum als der causa causarum spricht (nat. II, 45.2). Zur Verwendung von NjʊǞʇNj und NjʍǞǓǙǗ siehe aber auch M. Frede (1980), 222f.; Barnes (1983), 187 Anm. 2; Forschner (1995), 87; Hankinson (1999a), 480.
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VII. Kommentar zu De fato
(im Sinne der abstraktiven Modalität) notwendig ist, daß die Dinge geschehen.207 Da die Stoiker ihrer Kosmologie die oben dargestellten Prämissen zugrunde legen, bleibt ihnen nolens volens nur übrig, auf der Basis abstraktiver Modalitäten einen schwachen Möglichkeitsbegriff zu konstituieren. Diese von den Stoikern vertretene Möglichkeitsauffassung widerspricht auf den ersten Blick nicht einmal der Alltagsintuition. Sicher würde man Dion die (kontrafaktische) Möglichkeit zugestehen, in der Zukunft einmal nach Korinth zu gehen oder auch nicht zu gehen, insofern jetzt keine offensichtlichen Hinderungsgründe dafür vorliegen.208 Aber das Problem der stoischen Modaltheorie ergibt sich aus der Tatsache, daß hier nicht auf der Basis einer indeterministischen, sondern auf der Basis einer deterministischen Weltauffassung von (kontrafaktischer) Möglichkeit gesprochen wird. Genau an diesem Punkt setzt die Kritik der Libertarier ein. Sie halten den Stoikern zu Recht entgegen, welchen Wert denn eine derartige Möglichkeitsauffassung habe, wenn doch aufgrund der kosmologischen Prämissen angenommen werden müsse, daß letztlich alles, was geschieht, in deterministischer Weise geschehe. Für die Libertarier ist entscheidend, daß kontrafaktische Möglichkeiten nicht ausschließlich auf einer abstraktiven Modalität, sondern auf der universalen Modalität basieren. Sie verlangen eine Modaltheorie, die auch vor dem Hintergrund einer vollständigen Beschreibung der Welt kontrafaktische Möglichkeiten mit einschließt. Eine solche Modaltheorie kann aber eben nur innerhalb einer indeterministisch gedachten Welt begründet werden. Daher halten die Libertarier eine Modallehre, die auf einer deterministischen Weltsicht basiert und ein reales Anderssein der Dinge ausschließt, für völlig unzureichend, für widersprüchlich und für geradezu absurd. Aus ihrer Perspektive ist selbstverständlich das, was mit Notwendigkeit und Unausweichlichkeit geschieht, auch notwendig. Insofern ist es nicht verwunderlich, daß die Libertarier den Stoikern „Etikettenschwindel“ vorwerfen, da ihr Möglichkeitsbegriff mehr verspreche, als er letztlich halte.209 Aus genau dieser libertarischen Perspektive hält Cicero als Ergebnis des Fabius-Arguments abschließend Chrysipp entgegen, daß dieser trotz _____________ 207 Die mangelnde Einheitlichkeit unter den überlieferten Zeugnissen, die sich auf die stoische Modaltheorie oder auf die Beschreibung des Fatums beziehen, ist sicher auch damit zu erklären, daß die zumeist stoafeindlichen Autoren den intendierten Unterschied zwischen den beiden modalen Konzeptionen nicht angemessen berücksichtigt haben. Mit Sharples (1975), 255 Anm. 18; (1981), 86, 91 ist anzunehmen, daß die Gegner durch die Mißachtung der unterschiedlichen Modalkonzeptionen Begriffe teilweise dort benutzt haben, wo Chrysipp sie vermutlich nicht verwendet hätte. Vgl. Algra (1995), 297; Bobzien (1998a), 136. 208 Vgl. D. Frede (1982), 287. 209 Vgl. AvA, fat. XIII, 181.7–14.
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aller Bemühungen bei Anerkennung der Mantik und ihrer Prophezeiungen die deterministischen Konsequenzen zugestehen müsse, daß das, was hinsichtlich der Zukunft auszusagen falsch ist, nicht geschehen könne (quae falsa in futuris dicentur, in iis habebis, ut ea fieri non possint) und daß das, was hinsichtlich der Zukunft auszusagen wahr ist und sich so ereignen wird, notwendigerweise geschehen müsse (et, si vere dicatur de futuro idque ita futurum sit, dicas esse necessarium). Somit hat Cicero seiner Absicht gemäß gezeigt, daß sich Chrysipp mit seinen Lehrmeinungen in einem Widerspruch verfängt: Wenn er an der Gültigkeit der Mantik und ihrer Sätze festhält, dann ist er auf denselben Determinismus festgelegt, den er Diodor zuschreibt, obwohl er genau diesen durch seine eigene, angeblich schwächere Möglichkeitsdefinition vermeiden will. f. Die zweite Darstellung des Fabius-Arguments Cicero hatte in der ersten Darstellung des Fabius-Arguments einen langen, nicht unkomplizierten Weg gewählt, bis er zu der Konklusion ~M(Sf ) gelangt war. Nun greift er dieses Argument noch einmal auf, führt den Leser aber in einer stark verkürzten Form direkt zu dem Ergebnis.210 Die vorliegende Argumentation Ciceros beruht auf der Annahme, daß der Beispielsatz der Astrologen si oriente Canicula natus es, in mari non moriere eine wahre Aussage darstellt. Aus dieser Annahme ergibt sich die erste Prämisse: N(Gf o ~Sf ).211 _____________ 210 Bei der vorliegenden Argumentation handelt es sich, wie aus den jeweiligen Rekonstruktionen hervorgeht, gewissermaßen um eine Zusammenfassung der ersten Darstellung des Fabius-Arguments. Es werden also zwei verschiedene Darstellungen desselben Arguments gegeben (vgl. Hunter (1994), 21 Anm. 6) und nicht, wie z. B. Bobzien (1998a), 145, 150– 153, 171 annimmt, zwei verschiedene Argumente vorgelegt. Siehe hierzu auch die folgende Anmerkung. 211 Die Verben der ersten und der zweite Prämisse stehen an dieser Stelle in der zweiten Person. Um seinem Anliegen mehr Nachdruck zu verleihen, mag Cicero hier Chrysipp gewissermaßen direkt ansprechen. Daß damit aber kein neuer Aspekt in die Diskussion eingebracht wird, ist zum einen daran zu erkennen, daß Cicero mit dem einleitenden Satz von § 14 (etenim si illud vere conectitur) offensichtlich das Ergebnis der vorhergehenden Argumentation zu bekräftigen beabsichtigt, und zum anderen daran, daß Cicero in dem resümierenden Satz sed tamen, si naturalis est causa, cur in mari Fabius non moriatur, in mari Fabius mori non potest am Ende von § 14 wieder den Beispielnamen „Fabius“ verwendet, den er bereits in der ersten Darstellung gewählt hat. Deshalb soll um der Übersichtlichkeit willen bei der folgenden Darstellung der Argumentation auch „Fabius“ als Subjekt gewählt werden. Für die logische Rekonstruktion ist dies nicht entscheidend.
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VII. Kommentar zu De fato
Da die Geburt des Fabius unter dem Aufgang des Sirius unabänderlich geschehen ist, stellt sie jetzt ein notwendiges Ereignis dar, denn jeder Weltverlauf, in dem Fabius nicht unter dem Aufgang des Sirius oder überhaupt nicht geboren wurde, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mehr zugänglich, also unmöglich. Diese Annahme korrespondiert mit dem ersten Satz des Meisterarguments (ǔǟǛǓǏʡǣǗ ǕʗǍǙǜ), den Chrysipp bejaht – im Gegensatz zu seinem Lehrer Kleanthes (ut Chrysippo placet dissentienti a magistro Cleanthe): Alles Wahre in der Vergangenheit ist notwendig (siehe V.1.). Auch an der vorliegenden Stelle wird wieder deutlich, wie sehr Cicero darauf achtet, nur auf Prämissen zurückzugreifen, von denen er annehmen kann, daß auch Chrysipp sie als gültig anerkennt. Es ergibt sich die zweite Prämisse: N(Gf ). Der kurze Argumentationsgang basiert nun auf dem folgenden modallogischen Gesetz: Wenn eine Aussage p eine Aussage q strikt impliziert, dann impliziert die Notwendigkeit von p auch die Notwendigkeit von q, also N( p o q) o (Np o Nq). Daraus ergibt sich für das verkürzte Fabius-Argument (mit p/Gf und q/~Sf ) folgende logische Struktur: Mit dem modallogischen Gesetz
N(Gf o ~Sf ) o (N(Gf ) o N(~Sf ))
und der ersten Prämisse
N(Gf o ~Sf )
ergibt sich mit Modus ponens
N(Gf ) o N(~Sf )
Daraus und aus der zweiten Prämisse
N(Gf )
folgt mit Modus ponens
N(~Sf )
N(~Sf ) ist mit ~M(Sf ) äquivalent. Somit ergibt sich die Konklusion, daß es nicht möglich ist, daß Fabius im Meer sterben wird. g. Chrysipps Ablehnung der zweiten Prämisse des Meisterarguments Das modallogische Gesetz N( p o q) o (Np o Nq) ist äquivalent (mit Kontraposition) mit N( p o q) o (N~q o N~p) und schließlich (mit N~p ~Mp) mit N( p o q) o (~Mq o ~Mp). Diese Formulierung entspricht genau der des zweiten Satzes des Meisterarguments (siehe V.1.), der besagt, daß etwas Unmögliches nicht aus etwas Möglichem folgt. Somit besteht eine Äquivalenz zwischen dem modallogischen Gesetz N( p o q) o (Np o Nq) und dem zweiten Satz des Meisterarguments. Cicero rekurriert also im Fabius-Argument sowohl auf die erste als auch
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auf die zweite Prämisse des Meisterarguments, und somit haben das Fabius-Argument und das Meisterargument die gleiche logische Struktur.212 Nun soll Chrysipp aber, bemerkt Cicero, die erste Prämisse des verkürzten Fabius-Arguments nicht in allen Fällen als gültig erachtet haben (si igitur, quod primum in conexo est, necessarium est, fit etiam, quod consequitur, necessarium. quamquam hoc Chrysippo non videtur valere in omnibus). Diese Auskunft deckt sich mit der Mitteilung Epiktets, daß Chrysipp den ersten und den dritten Satz des Meisterarguments anerkannt, den zweiten Satz aber abgelehnt habe.213 Wenn Chrysipp den zweiten Satz des Meisterarguments ablehnt,214 dann vertritt er die Auffassung, daß ‚nichts dem im Wege steht, daß auch aus etwas Möglichem etwas Unmögliches folgt‘ (ǖǑǎɩǗ ǔǣǕʡǏǓǗ ǔNjʈ ǎǟǗNjǞˆ ɒǎʡǗNjǞǙǗ ɬǚǏǝǒNjǓ). Für einen solchen Fall führt er das Beispiel ‚Wenn Dion gestorben ist, dann ist dieser gestorben‘ (Ǐʊ ǞɨǒǗǑǔǏ ƯʇǣǗ, ǞɨǒǗǑǔǏǗ ǙʫǞǙǜ) an.215 Hinter diesem Beispiel steht folgende Überlegung: Ein Demonstrativpronomen kann sich der stoischen Logik gemäß nur auf etwas Existierendes beziehen. Vor der Geburt Dions kann die Aussage ‚Dieser ist gestorben‘ nicht gemacht werden, da das Demonstrativpronomen ‚dieser‘ (noch) gar keinen Bezug hat. Wenn Dion lebt, anwesend ist und auf ihn gezeigt wird, dann hat ‚dieser‘ einen Bezug. Die Implikation ist gültig, denn gemäß der Wahrheitsbedingung für die Implikation ist das Antecedens ‚Dion ist gestorben‘ mit der Negation des Consequens ‚Nicht: Dieser ist gestorben‘ unverträglich. Wenn Dion lebt, aber nicht anwesend ist, kann besagte Aussage nicht gemacht werden, da das Demonstrativpronomen ‚dieser‘ (in diesem Moment) keinen Bezug hat. Wenn Dion aber gestorben ist, hat das Demonstrativpronomen nicht nur in diesem Moment keinen Bezug mehr, sondern kann auch niemals mehr einen Bezug haben, da Dion nicht mehr existiert. Wenn also die Aussage des Antecedens ‚Dion ist gestorben‘ wahr wird, wird die Aussage des Consequens ‚Dieser ist gestorben‘ unmöglich, da diese Aussage ohne Bezug auf etwas (jemals wieder) Existierendes ‚vergangen‘ ist. Da also nach der Auffassung der Stoiker eine Aussage ‚vergehen‘ (ǠǒǏʇǛǏǝǒNjǓ) kann, kann nach ihrer Auffassung auch aus etwas Möglichem etwas Unmögliches folgen.216 _____________ 212 Vgl. White (1985), 86; Sharples (1991), 168; Gaskin (1995), 223. 213 Vgl. Epiktet, Dissert. II, 19, 1–5 (teilw. SVF I, 489; II, 283; LS 38A; FDS 993; M 131). 214 Bobzien (1986), 105 verweist darauf, daß die zweite Prämisse des Meisterarguments seit Aristoteles (Anal. pr. I, 15a5–12) als logisches Theorem anerkannt gewesen sei. Vgl. Gaskin (1995), 301. 215 Vgl. AvA, In Arist. Anal. pr. 177.25–178.8 (SVF II, 202a; teilw. LS 38F; FDS 994); vgl. FDS 995, 996 (SVF II, 202a), 997 (SVF II, 202b). 216 Vgl. M. Frede (1974), 48f., 56, 87f.; Sorabji (1980), 263f.; White (1985), 110; Bobzien (1986), 18–21, 105–113; (1999c), 116f.; M. und W. Kneale (1986), 126f., 154f.; Sharples
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VII. Kommentar zu De fato
h. Ciceros Einwand: die naturalis causa Chrysipp versucht die Notwendigkeit von der Ebene der Logik aus zu bekämpfen, indem er die zweite Prämisse des Meisterarguments ablehnt. Doch für Cicero sind Chrysipps Bemühungen, auf diesem Wege dem Möglichen Geltung zu verschaffen, völlig unplausibel. Denn wenn Chrysipp an der Mantik festhält und so auch annimmt, daß die Sätze der Mantiker Gültigkeit besitzen, dann muß er auf der Basis des von ihm vertretenen starken Wahrheitsbegriffs davon ausgehen, daß Ursachen vorliegen, die das Eintreten des im Consequens prophezeiten Ereignisses notwendig machen. Vor diesem Hintergrund hält Cicero Chrysipp abschließend folgenden Einwand entgegen: Wenn es also aufgrund der (starken) Wahrheit von Aussagen eine ‚natürliche Ursache‘ (naturalis causa) dafür gibt, daß Fabius nicht im Meer sterben wird, dann kann Fabius auch nicht im Meer sterben. Mit dem Satz si naturalis est causa, cur in mari Fabius non moriatur, in mari Fabius mori non potest scheint Cicero etwas unvermittelt217 die physisch_____________ (1991), 169; Gaskin (1995), 301–305; Papazian (2001). Mignucci (1978), 318–325 (vgl. Vuillemin (1996), 110–115) vertritt die Auffassung, daß Chrysipp nicht gegen die Formulierung N( p o q) o (Mp o Mq), sondern gegen die Formulierung ~M~( p o q) o (Mp o Mq) argumentiert und die Äquivalenz von N und ~M~ nicht akzeptiert habe. Diese Annahme ist nicht unproblematisch. Wenn Chrysipp unter einer Implikation nur die strikte Implikation versteht und ihre Wahrheitsbedingung mit der Unvereinbarkeit von Antecedens und Negation des Consequens beschreibt, so daß N( p o q) ~M( p & ~q) gilt, dann scheint er doch die Äquivalenz von N und ~M~ akzeptiert zu haben. Gegen Mignuccis Interpretation siehe Marwede (1984), 140; White (1985), 109–112; Bobzien (1986), 113–118; (1998a), 120 Anm. 54, der Salles (2005), 83 Anm. 48 folgt; Gaskin (1995), 303f. 217 Dieser Umstand führte zu der Annahme, daß die Abfolge der Paragraphen 12–16 nicht korrekt sei. Sorabji (1980), 266 vermutet: „Chrysipp may first have sought to divest statements about astrological evidence of any necessitarian implications by offering the argument which Cicero postpones until next – the argument that such statements are only material implications. Someone may then have reminded him of his view that, where there is an astrological sign, there will also be a cause, and complained that the corresponding causal statements could not be treated as mere material implications“. Bobzien (1998a), 171 mit Anm. 72 nimmt an, daß besagter Satz später von Cicero in § 14 eingefügt worden sei, um die Argumentation gegen die Stoa zu stärken. Der Satz aber passe nicht richtig in den Kontext, da er eine Antwort auf das erste Argument in § 12, nicht auf das zweite in § 14 sei. Die naturalis causa bezeichne das Fatum der Stoiker, aber weder von Ursachen noch vom Fatum sei hier die Rede, auch in Chrysipps Antwort nicht. Der Gegner der Stoa in den Paragraphen 12–14 sei gut vertraut mit der stoischen und diodoreischen Logik, dagegen begegne der Gegner in den Paragraphen 15–16 Chrysipps Antwort nur mit Verachtung. Er mißinterpretiere dessen Umformulierungsvorschlag aus Unwissenheit der logischen Bedeutung oder übergehe diese mit Absicht. Daher sei es unwahrscheinlich, daß es sich um dieselben Gegner handle. Eine mögliche Erklärung sei folgende: Eine der Schriften Chrysipps habe ein antistoisches Argument, das auf der Akzeptanz der mantischen Theoreme (Teil von § 14) basiert habe, und Chrysipps Antwort darauf (Teil von § 15) enthalten. Ein späterer Kritiker (Karneades?) habe dieses von Chrysipp übernommen und vielleicht in den § 12
VII.6. §§ 15–17: Chrysipps Sprachregelung
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kausale Notwendigkeit anzusprechen, die aber von einer im Sinne des starken Wahrheitsbegriffs wahren (zukunftsbezogenen) Aussage impliziert wird (siehe II.2.). Aus Ciceros libertarischer Perspektive ist der Einwand gegen Chrysipp durchaus berechtigt. Cicero läßt Chrysipp diesen Einwand aber nicht weiter kommentieren; stattdessen läßt er ihn eine Entgegnung auf logischer Ebene vorbringen, wie die folgenden Paragraphen 15–17 zeigen werden.
6. §§ 15–17: Chrysipps Sprachregelung Aufgrund der Argumentation, die Cicero in den Paragraphen 11–14 gegen die Stoiker vorgebracht hat, sieht sich Chrysipp nun dem Vorwurf ausgesetzt, daß er sich in Widersprüche zu seiner eigenen Modallehre verfange, wenn er der Mantik und ihren percepta so, wie sie im Fabius-Argument dargestellt sind, Gültigkeit zuspricht. Um sich des Fabius-Arguments zu erwehren, geht Chrysipp aber nicht weiter auf das naturalis causaArgument, das Cicero am Ende des § 14 mit dem Hinweis auf die physisch-kausale Notwendigkeit gegen ihn vorbringt, ein; vielmehr wendet er sich dem Fabius-Argument wieder auf der logischen Ebene zu. Anders als durch Ciceros Bemerkung hoc Chrysippo non videtur valere in omnibus in § 14 vielleicht zu erwarten gewesen wäre, macht Chrysipp im folgenden keinen Gebrauch von seiner Auffassung, daß er den zweiten Satz des Meisterarguments als ungültig betrachtet. Dies mag indirekt darauf schließen lassen, daß er die Richtigkeit des Fabius-Arguments in der von Cicero vorgetragenen Weise doch anerkennt.218 Aber Chrysipp führt einen anderen, prinzipiellen Einwand gegen die von Cicero vorgelegte Argumentation an: Um die Weissagungssätze in angemessener Form auszudrücken, sollten die Chaldäer219 anstelle eines Konditionalsatzes220 lieber die Negation einer _____________ eingefügt. Cicero habe aus dieser Quelle geschöpft und den Verweis in § 14 auf die naturalis causa später hinzugefügt. Schließlich habe er Chrysipps Antwort ab § 15 referiert. 218 Vgl. Gaskin (1995), 226. 219 Die Chaldäer waren ein aramäischer Volksstamm, der nach Mesopotamien eindrang und die Herrschaft über Babylonien erlangte. Sie beschäftigten sich sehr umfassend mit Astronomie und Astrologie, so daß ihr Eigenname als Synonym für „Sternendeuter“ oder „Wahrsager“ allgemein Verwendung fand. 220 Das überlieferte coniunctionibus am Anfang von § 15 führt zu folgendem Problem: Cicero will ganz offensichtlich darlegen, daß Chrysipp für die Formulierung der Weissagungssätze die Verwendung der Konjunktion und nicht die der Implikation fordert. Mit dem überlieferten coniunctionibus („Konjunktion“) wird aber genau das Gegenteil zum Ausdruck gebracht. Die Annahme, Cicero könnte an dieser Stelle coniunctio im Sinne von „Implikation“ verwendet haben (vgl. Turnebus, in Bayer (2000), 129), widerspricht der Tatsache, daß er schon in dem folgenden Satz si Chaldaei ita loquantur, ut negationes infinitarum coniunctionum po-
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VII. Kommentar zu De fato
Konjunktion221 verwenden, bei der das erste Konjunktionsglied das ursprüngliche erste Implikationsglied (Antecedens) und das zweite Konjunktionsglied die Negation des ursprünglichen zweiten Implikationsgliedes _____________ tius quam infinita conexa ponant der Bezeichnung nach korrekt zwischen der Konjunktion und der Implikation unterscheidet, so wie er auch an anderer Stelle coniunctio für die Konjunktion (Ac. II, 91; fat. 12, 15, 16; Top. 57 (FDS 1138)) und conexum für die Implikation (Ac. II, 96 (SVF II, 282; FDS 1212), 98 (FDS 1212); fat. 12 (conectitur), 14, 15, 16) verwendet; siehe auch u. S. 144 Anm. 227 und S. 145 Anm. 228). Ferner ist es auch unwahrscheinlich, daß er in einem so kurzen Abstand coniunctio in zwei unterschiedlichen Bedeutungen verwendet hat. Daher ist entweder mit Philippson (1939), 347 anzunehmen, daß Cicero an dieser Stelle ein Lapsus unterlaufen sei, oder es ist davon auszugehen, daß das Wort coniunctionibus aus einer fehlerhaften Textüberlieferung resultiert. Mit der Annahme, daß ein Abschreiber aufgrund des gleichen Präfixes con- der beiden Wörter conexis und coniunctionibus vom ersten con- direkt zu -iunctionibus gesprungen ist und so das verderbte coniunctionibus herbeigeführt hat, schlägt Plasberg (in Ax (1938), 136b) die Konjektur conÄexis potius quam conÔiunctionibus vor. Marwede (1984), 150 weist coniunctionibus zwar ebenfalls zurück, schließt sich aber den Bedenken von Philippson (1939), 347 an, daß Plasbergs Konjektur nicht zu dem Folgenden passe: „In what follows in Fat. 15 and 16 Chrysippus is criticized for wanting the astrologers to use negations of indefinite conjunctions (i.e., negated indefinite conjunctions), not indefinite conjunctions to express their principles“. In Anlehnung an Plasberg glaubt Szymaľski (1985), 384, dem sich Sharples (1991), 66, 170f., Magris (1994), 40, 87 Anm. 49, Pimentel Álvarez (2005), 9, Gourinat (2005b), 265 Anm. 76 und Kreter (2006), 158f. Anm. 285 anschließen, daß ursprünglich neque eos usuros esse conÄexis sed conÔiunctionibus, ut ÄnonÔ ita sua percepta pronuntient im Text zu lesen gewesen sei. Das non sei später getilgt worden, um den Text zu emendieren. In dieser Weise, so Szymaľski, werde nicht nur der angemessene Sinn wiederhergestellt, sondern auch das im überlieferten Satz bestehende Anakoluth – Szymaľski hat offensichtlich die Verbindung des AcI mit dem folgenden sed potius ita dicant vor Augen – aufgelöst. Madvigs Konjektur, conexionibus statt coniunctionibus zu lesen, schließen sich Müller (1864), 626, Paolillo (1957), 48 („forse meglio“), Pesce (1970), 54 Anm. 51, Talanga (1986), 101 Anm. 62 und Bobzien (1998a), 156 Anm. 31 an. Allerdings ist die Verwendung von conexio für Cicero nicht direkt bezeugt. Nur Servius, Aen. III, 376 (Fragment 2; siehe VI.5.) schreibt ihm indirekt die Verwendung dieses Wortes zu, das dort aber, wie Skassis (1915), 18 und Marwede (1984), 150f. zu Recht anmerken, in einem ganz anderen Sinne verwendet wird als in § 15. Im allgemeinen scheint conexio auch erst im späteren Latein Verwendung gefunden zu haben (vgl. TLL IV, 168.58–73). Gercke (1885), 727, dem Giomini (1975), 156 und Mignucci (1978), 346 Anm. 63 folgen, kommentiert gegen Madvig: „sed conexum species esse videtur, coniunctio genus“. Damit scheint Gercke anzunehmen, daß die Konjunktion (coniunctio) eine übergeordnete Klasse von Aussagen darstellt, der die Implikation (conexum) als besondere Aussageform untergeordnet ist. Soweit ersichtlich, verwendet Cicero das Wort coniunctio aber weder hier in De fato noch an anderer Stelle in diesem Sinne (s. o.). Castiglioni liest conexis für coniunctionibus und Hottinger emendiert nos falli sperat Chald. cet. div. usuros esse (bei z. B. Giomini). Zur Textkritik siehe insbesondere Marwede (1984), 150f.; Szymaľski (1985); Sharples (1991), 170. 221 Ciceros Formulierung negationes … coniunctionum entspricht genau der stoischen Forderung, den Operator mit der größten Reichweite an erster Stelle zu nennen, so daß schon an dem ersten Wort auf die logische Struktur des ganzen Satzes geschlossen werden kann (siehe hierzu u. S. 153f.). Daher spricht Cicero im Sinne der stoischen Logik zu Recht von der „Negation der Konjunktion“ und nicht von der „negierten Konjunktion“ (vgl. Bobzien (1998a), 157 Anm. 33). In den folgenden Ausführungen soll mit dieser exakten Formulierung der stoischen Ausdrucksweise Rechnung getragen werden.
VII.6. §§ 15–17: Chrysipps Sprachregelung
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(Consequens) darstellt. Es soll also nicht mehr gesagt werden ‚Wenn jemand beim Aufgang des Sirius geboren wurde, dann wird er nicht im Meer sterben‘ (si quis natus est oriente Canicula, is in mari non morietur), sondern ‚Es ist nicht der Fall, daß jemand sowohl beim Aufgang des Sirius geboren wurde als auch im Meer sterben wird‘ (non et natus est quis oriente Canicula et is in mari morietur). Chrysipp setzt einen inneren Zusammenhang (ǝǟǗɏǛǞǑǝǓǜ) zwischen den beiden Implikationsgliedern voraus und bezeichnet eine Implikation dann als wahr, wenn das kontradiktorische Gegenteil des Consequens mit dem Antecedens unverträglich ist, so daß er unter einer Implikation offenbar eine strikte Implikation (N( p o q)) versteht (siehe VII.5.a.). Wenn er seine vorgeschlagene Umformulierung in der Form von ~M( p & ~q) hätte verstanden wissen wollen, dann hätte er wahrlich nichts gewonnen. Denn aufgrund der Äquivalenz von N( p o q) und ~M( p & ~q) hätte er lediglich eine Änderung hinsichtlich der Formulierung vorgenommen, aber nicht hinsichtlich der logischen Bedeutung. Diese Vorgehensweise wäre kaum mehr als ein plumper sprachlicher Trick, und dementsprechend geriete Chrysipp auch in die gleichen Probleme, die Cicero ihm in den Paragraphen 11–14 unterstellt. In genau dieser Weise scheint Cicero aber Chrysipp zu verstehen und hätte mit seinem Spott gegen ihn, wenn sein Vorschlag so zu interpretieren wäre, auch Recht.222 Es ist allerdings schwer zu glauben, daß Chrysipp als versierter Philosoph, der gerade die Logik innerhalb der stoischen Lehre maßgeblich und nachhaltig ausgearbeitet hat, sich zu einem solch plumpen Trick hätte verleiten lassen. Da aber die Verwendung der Negation der Konjunktion auch noch an anderen Stellen überliefert ist,223 liegt vielmehr die Vermutung nahe, daß nicht polemische, sondern inhaltliche Gründe Chrysipp zu dieser Umformulierung motiviert haben. Ein dienlicher Hinweis ist bei Galen überliefert, der berichtet, daß die Stoiker bei der Negation der Konjunktion nicht die gleiche Wahrheitsbedingung wie bei der Implikation zugrunde gelegt hät_____________ 222 Vgl. Heine (1859), 51; Mattioli (1939/40), 197; Barth-Goedeckemeyer (1946), 89; Platz (1973), 30; implizit Bayer (2000), 128. Valgiglio (1967/68), 327f., 330 Anm. 40 hält die Umformulierung für so lächerlich und absurd, daß sich der Verdacht ergebe, daß sie um des Spottes willen von den Gegnern erfunden worden sei. Becker (1957), 47 vertritt in Anlehnung an Mates (1973), 55, die Meinung, daß für Chrysipp die Implikation gleichbedeutend mit der von ihm vorgeschlagenen Negation der Konjunktion sei („P imp Q non (P et nonQ)“). Dieser Annahme ist bereits von Egli (1967), 40f. widersprochen worden. 223 Vgl. z. B. Cicero, div. I, 83 (SVF II, 1192; LS 42D; FDS 466); II, 102; Top. 53 (FDS 1138); AvA, fat. XXXV, 207.5–21 (SVF II, 1003; LS 62J), XXXVII, 210.15–28 (SVF II, 1005); DL VII, 82 (SVF II, 274; LS 37D; FDS 1207). Vgl. M. Frede (1974), 86f. Bei Alexander von Aphrodisias ist an den genannten Stellen die Motivation für den Wechsel zwischen der Implikation und der Negation der Konjunktion allerdings nicht deutlich; vgl. hierzu Sorabji (1980), 270; Sedley (1982), 253f. Anm. 37.
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VII. Kommentar zu De fato
ten. Dies bedeutet, daß die Stoiker für die Wahrheit der Negation der Konjunktion auf eine Unverträglichkeit der Konjunktionsglieder verzichteten, während sie für die Wahrheit der Implikation einen inneren Zusammenhang (ǝǟǗɏǛǞǑǝǓǜ) zwischen den Implikationsgliedern und somit eine Unverträglichkeit zwischen dem kontradiktorischen Gegenteil des Consequens und dem Antecedens zugrunde legten (siehe VII.5.a.).224 Wenn man davon ausgehen kann, daß Chrysipps Implikation im Sinne von N( p o q) zu verstehen ist, wobei der für die Implikation geforderte innere Zusammenhang durch den Notwendigkeitsoperator N zum Ausdruck gebracht wird, dann wird die geforderte Umformulierung in die Negation der Konjunktion im Sinne von ~( p & ~q)225 zu verstehen sein, da bei ihr ein solcher Zusammenhang offenbar nicht besteht. Vor diesem Hintergrund ergibt sich dann aber keine Äquivalenz zwischen der von Chrysipp verwendeten Implikation N( p o q) und der von ihm verwendeten Negation der Konjunktion ~( p & ~q). Eine Konjunktion in der Form ~( p & ~q) ist mit der materialen Implikation ( p o q) äquivalent, aber nicht mit der strikten Implikation N( p o q). Als Wahrheitsbedingung für die Negation der Konjunktion scheint Chrysipp somit das gleiche wahrheitswertfunktionale Kriterium zugrunde zu legen, das einer materialen Implikation zugrunde liegt.226 Chrysipp standen offensichtlich nicht die sprachlichen Ausdrücke „materiale Implikation“ und „strikte Implikation“ zur Verfügung, mit denen in der heutigen Logik zwischen den beiden Implikationen unterschieden werden kann. Daher hat Chrysipp allem Anschein nach folgende Ausdrucksweise gefunden, um diesen logischen Unterschied auch verbal ausdrücken zu können: Wenn er eine strikte Implikation zum Ausdruck bringen wollte, bediente er sich eines Konditionalsatzes (ǝǟǗǑǖǖɨǗǙǗ, conexum)227, also eines Satzes der Form „Wenn p, dann q“. Wenn er hinge_____________ 224 Vgl. Galen, Inst. log. IV, 1–6, p. 9.17–11.14 (teilw. SVF II, 208; FDS 951); XIV, 4–11, p. 32.24–35.4 (FDS 1136). Vgl. Mates (1973), 120f.; M. Frede (1974), 96f.; Talanga (1986), 101; Magris (1994), 87 Anm. 51. 225 Mignucci (1978), 333–335 nimmt an, daß die Umformulierung des Satzes ‚Es ist nicht wahr, daß es irgend jemanden gibt, der beim Aufgang des Sirius geboren wurde und der im Meer sterben wird‘ („il n’est pas vrai qu’il y a quelqu’un qui soit né au lever de la Canicule et qui mourra dans la mer“) im Sinne von ~M( p & q) zu verstehen sei, was sich in die äquivalente Implikation ~M~( p o ~q) umformulieren lasse. Nun folge aus ~M~( p o ~q) und aus der Annahme, daß p notwendig ist, für Chrysipp (im Gegensatz zu Cicero) nicht die Notwendigkeit von ~q, weil er ja gerade die Gültigkeit der Implikation (~M~( p o ~q) & Np) o N~q bestreite (vgl. S. 321). Siehe auch o. S. 140 Anm. 216. 226 Siehe hierzu die Wahrheitswerttabelle auf S. 116. 227 Vgl. Gellius XVI, 8.9: sed quod Graeci ǝǟǗǑǖǖɨǗǙǗ ɒǘʇǣǖNj dicunt, id alii nostrorum ‚adiunctum‘, alii ‚conexum‘ dixerunt. Vgl. Varro, ling. Lat. (Frag.) XXIII, 28a.9. Cicero verwendet conexum (Ac. II, 96 (SVF II, 282; FDS 1212), 98 (FDS 1212); fat. 14, 15, 16).
VII.6. §§ 15–17: Chrysipps Sprachregelung
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gen eine materiale Implikation zum Ausdruck bringen wollte, bediente er sich der Negation einer Konjunktion (ǝǟǖǚǏǚǕǏǍǖɨǗǙǗ, coniunctio)228, deren zweites Glied negiert ist, also eines Satzes der Form „Nicht: Sowohl p als auch nicht q“.229 Nun scheint aber dem Referat Ciceros, daß Chrysipp die Aussagen der Mantiker nicht in einer implikativen Form dargestellt wissen will, der Bericht bei Sextus Empiricus zu widersprechen, dem zufolge die Stoiker ein Zeichen als das wahre Antecedens in einer gültigen Implikation, welches das Consequens offenbart, definieren.230 Dieser Definition gemäß scheinen die Aussagen der Mantiker doch in Form einer Implikation und nicht in Form einer Negation der Konjunktion dargestellt werden zu müssen. Hieraus könnte der Vorwurf an Chrysipp abgeleitet werden, daß seine Forderung nach der Umformulierung ein Ad-hoc-Argument darstelle, mit dessen Hilfe er sich nur durch eine Sprachregelung der gegen ihn angeführten Argumentation zu erwehren versucht, ungeachtet der üblichen Definition des Zeichenbegriffs, von der Sextus Empiricus berichtet.231 Bei Sextus Empiricus wird die Theorie der Zeichen auf der Grundlage der philonischen, also der materialen Implikation dargestellt. Chrysipp aber lehnt Philons Wahrheitskriterium für die Implikation ab, denn er hat ja gegen die diskutierten Kriterien sein eigenes Kriterium entwickelt (siehe VII.5.a.). Daher ist es höchst unwahrscheinlich, daß Chrysipp eine Definition des Zeichenbegriffs akzeptiert hätte, die auf einem Wahrheitskriterium für Implikationen basiert, das er selbst als zu schwach ablehnt. Theodor Ebert hat in seiner Untersuchung „Dialektiker und frühe Stoiker bei Sextus Empiricus“ überzeugend dargelegt, daß das von Sextus Empiricus verwendete Material, aus dem er für seine Darstellungen in Adversus mathematicos und Pyrrhoniae institutiones schöpft, auf die frühen (d. h. vorchrysippeischen) Stoiker zurückgeht, die durch die Lehren von Philon und Diodor beeinflußt232 gewesen sind.233 Aufgrund dieses Ergebnisses kann das bei Sextus Empiricus überlieferte Material nicht, zumindest nicht ohne _____________ 228 Vgl. Gellius XVI, 8.10 (SVF II, 213; LS 35D; FDS 967): item quod illi ǝǟǖǚǏǚǕǏǍǖɨǗǙǗ, nos vel ‚coniunctum‘ vel ‚copulatum‘ dicimus. Vgl. Varro, ling. Lat. (Frag.) XXIII, 29. Cicero verwendet coniunctio (Ac. II, 91; fat. 12, 15, 16; Top. 57 (FDS 1138)). 229 Vgl. Egli (1967), 41; Mueller (1978), 20; Burnyeat (1982b), 321; White (1985), 105; Hülser zu FDS 473, S. 512–515; Gaskin (1995), 225f.; Allen (2001), 153; Brennan (2005), 250. 230 Vgl. SE PH II, 104 (LS 35C; FDS 1030); SE AM VIII, 245 (SVF II, 221; FDS 1029), 256 (SVF II, 221; FDS 1029). 231 Vgl. M. Frede (1974), 86. 232 Nach DL VII, 16, 25 soll Zenon bei Philon und Diodor Logik studiert haben. 233 Vgl. hierzu auch Ebert (1987). Sedley (1982), 241, 255 bezweifelt, daß in SE AM VIII, 141–298 und PH II, 97–133 die stoische Lehre dargestellt werde. Vgl. LS I, 265f. M. Frede (1974), 88f. vermutet dagegen, daß Sextus Empiricus auf Material aus der nach-hellenistischen Zeit zurückgegriffen habe.
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weiteres, auch als Zeugnis für Chrysipps Meinung angesehen werden; denn es war ja gerade Chrysipp, der die stoische Lehre, insbesondere im Bereich der Logik, maßgeblich modifizierte. Daher muß auch kein Widerspruch zu dem Referat Ciceros angenommen werden.234 Für Implikationen, die Chrysipp als gültig anerkannt haben soll, sind explizit nur die Beispiele ‚Wenn es Tag ist, dann ist es Tag‘ (Ǐʊ ɲǖɨǛNj ɫǝǞʇǗ, ɲǖɨǛNj ɫǝǞʇǗ)235 und ‚Wenn es Tag ist, dann ist es hell‘ (Ǐʊ ɲǖɨǛNj ɫǝǞʇ, Ǡʸǜ ɫǝǞǓ)236 überliefert,237 wobei aber weder überliefert ist, wie genau Chrysipp die geforderte ǝǟǗɏǛǞǑǝǓǜ definierte238, noch für welche Fälle er die Verwendung der Implikation und für welche Fälle er die Verwendung der Negation der Konjunktion vorsah. Daher unterliegen diese Fragen einer ausgiebigen Diskussion.239 Aufgrund dieser überlieferten Beispielsätze liegt die Vermutung nahe, daß der von Chrysipp für eine wahre Implikation geforderte Konflikt zwischen dem Antecedens und der Negation des Consequens ein logischer sein muß, so daß eine Implikation nur auf logische, die Negation der Konjunktion hingegen auf empirische Zusammenhänge, wie etwa die Aussagen der Mantiker, Anwendung findet.240 _____________ 234 Bobzien (1998a), 162 nimmt an, daß Chrysipp zumindest an der Charakterisierung des Zeichens als das, was etwas bisher Verborgenes aufdeckt, festgehalten habe. 235 SE PH II, 111 (LS 35B; FDS 958). 236 DL VII, 71 (SVF II, 207; LS 35A; FDS 914). 237 Ähnliche Beispielsätze, allerdings ohne Bezug auf Chrysipp, sind des öfteren überliefert, z. B. finden sich die lateinischen Varianten si dies est, lucet in Cicero, Ac. II, 143 (FDS 226) und si dies est, sol super terras est in Gellius XVI, 8.9 (SVF II, 213). Dort auch si Plato ambulat, Plato movetur (vgl.: Varro, ling. Lat. (Frag.) XXIII, 28a.9), was mit SE AM VIII, 305 (FDS 1066): Ǐʊ ǚǏǛǓǚNjǞǏʏ ƯʇǣǗ, ǔǓǗǏʏǞNjǓ ƯʇǣǗ (‚Wenn Dion spazierengeht, bewegt sich Dion‘) korrespondiert. In DL VII, 77 (LS 36A; FDS 1036) ist Ǐʊ ǐʆ ƻǕɏǞǣǗ, ɒǗNjǚǗǏʏ ƻǕɏǞǣǗ (‚Wenn Platon lebt, atmet Platon‘) überliefert. In Ac. II, 96 (SVF II, 282; FDS 1212) sagt Cicero, daß Chrysipp den Schluß si lucet, ÄlucetÔ; lucet autem: lucet igitur akzeptiert hätte. 238 Abgesehen von PH II, 111 (LS 35B; FDS 958), nimmt Sextus Empiricus noch einmal in PH II, 188–192 (FDS 961) Bezug auf die ǝǟǗɏǛǞǑǝǓǜ. Seine Erklärung geht aber nicht über die an der ersten Stelle hinaus. Er führt den Beispielsatz ‚Wenn es einen Beweis gibt, dann gibt es einen Beweis‘ an und bemerkt nur, daß der Vordersatz mit der Negation des Nachsatzes unverträglich sein müsse. 239 Vgl. Brochard (1892), 458–460; (1966), 230f.; Hurst (1935); Bréhier (1955), 101f.; Preti (1956); Sambursky (1956), 42f.; (1959), 78f.; (1965), 277f.; Gould (1967); (1970), 72–82; Mates (1973), 48f.; Donini (1973), 343–347; M. Frede (1974), 82–88; Mignucci (1978), 330–335; Mueller (1978), 19f.; Verbeke (1978); Sorabji (1980), 266–270; Burnyeat (1982a); (1982b), 321–323; Sedley (1982), 253–257; (1984); Sharples (1983a), 170; (1991), 169f.; (1996), 53; Marwede (1984), 119–124; Barnes (1985b); White (1985), 103f.; Talanga (1986), 100–102; LS I, 211, 236, 263–266; Ebert (1987), 89f. Anm. 11; (1991), 37 Anm. 9; Hülser, zu FDS 473, S. 512–515; Antonini (1994), 58 Anm. 49; Steinmetz (1994), 599f.; Vuillemin (1996), 106–110; Bobzien (1998a), 156–179; LaBarge (2002); Brennan (2005), 249f. 240 Vgl. Bréhier (1955), 101f.; Sambursky (1959), 78f.; (1965), 277f.; Christensen (1962), 53 („Chrysippus recommended reserving the conditional form for logical implication, to avoid
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_____________ confusing Fate and Necessity“); Mates (1973), 49 („logically true, that is, true of all possible worlds“); M. Frede (1974), 82–88; Marwede (1984), 121f.; Antonini (1994), 58 Anm. 49; Allen (2001), 152f. Gegen diese Interpretation argumentiert insbesondere Sorabji (1980), 266–270, der es für unwahrscheinlich hält, daß Chrysipp konsequent zwischen rein logischen und empirischen Verbindungen zwischen den Implikationsgliedern zu unterscheiden beabsichtigte, so daß er auch in einigen Fällen eine empirische Unverträglichkeit zwischen dem kontradiktorischen Gegenteil des Consequens und dem Antecedens als Wahrheitskriterium für die Implikation zugelassen habe. Chrysipp habe letztlich nicht klar herausgearbeitet, wann etwas als strikte und wann etwas als materiale Implikation zu bezeichnen sei, so daß Cicero mit seiner Kritik an Chrysipps Vorgehen eher Recht zu haben scheine. Vgl. Gould (1967); (1970), 72–82 und Long (1974), 143f., der aber zu bedenken gibt, daß Chrysipp jede kausale Verbindung auch als logische Verbindung hätte verstehen können, da der gesamte Kosmos durch einen einzigen logos regiert werde. Siehe auch die Entgegnungen von M. Frede (1974), 85f. und Marwede (1984), 122–124. Sedley (1982), 255 (vgl. (1984)) schlägt vor, Fredes Interpretation so zu modifizieren, daß nicht zwischen logischer und empirischer Verbindung, sondern zwischen logisch notwendiger Verbindung zum einen und überzeugender, aber fehlbarer Verbindung zum anderen unterschieden werden soll, wobei zu der letzteren auch die empirische Verbindung zu zählen sei. Sedleys systematische Zuordnung der Negation der Konjunktion zu den ‚überzeugenden Implikationen‘ (ǚǓǒNjǗɐ ǝǟǗǑǖǖɨǗNj), die aber auch falsch sein können, ist in zweifacher Hinsicht nicht unproblematisch. Wenn eine astrologische Aussage in dem Sinne falsch sein sollte, daß ein Zeichen unter einer korrekten Interpretation auf ein falsches Ereignis verwiese, dann hieße dies, daß entweder Gott, sich irrend, ein falsches Zeichen geschickt hätte, oder daß ein Fehler in der Weltordnung vorläge, was wiederum auf die göttliche Vorsehung zurückfiele. Ein solcher Gedanke ist den Stoikern nicht zu unterstellen. Ein Zeichen ist faktisch immer richtig und ein Irrtum kann nur seitens der Menschen entstehen, wenn es falsch interpretiert wird (vgl. Cicero, div. I, 118 (SVF II, 1209, 1210)). Barnes (1985b), dem sich Bobzien (1998a), 160 Anm. 38 anschließt, formuliert einen weiteren, systematischen Einwand: Wenn die ‚überzeugenden Implikationen‘ (ǚǓǒNjǗɐ ǝǟǗǑǖǖɨǗNj) in Form einer Negation der Konjunktion ausgedrückt werden sollten, dann seien diese aber keine Implikationen (ǝǟǗǑǖǖɨǗNj) mehr, sondern Konjunktionen (ǝǟǖǚǏǚǕǏǍǖɨǗNj); wenn die ‚überzeugenden Implikationen‘ (ǚǓǒNjǗɐ ǝǟǗǑǖǖɨǗNj) dagegen Implikationen sein sollten, seien sie nicht mehr ǚǓǒNjǗɏ, denn ‚überzeugend, aber fehlbar‘ seien ja gerade nur die Negationen der Konjunktionen, nicht aber die Implikationen. Ferner bestehe bei Sedleys Interpretation das Problem, daß nicht alle Aussagen der Form „It is not the case both that P and that not-Q“ (S. 456) überzeugend seien. Viele dieser Aussagen seien bei weitem nicht überzeugend, und einige dieser Aussagen seien vielmehr gewiß als nur überzeugend. Burnyeat (1982a), 236 mit Anm. 99 nimmt gegen Sedley an, daß der modale Unterschied zwischen der materialen (philonischen) und der strikten Implikation nicht automatisch einen Unterschied in epistemischer Hinsicht nach sich ziehe. Eine materiale (philonische) Implikation mag, so Burnyeat, eine nicht weniger sichere Generalisation zum Ausdruck bringen als eine strikte Implikation. Der modale Unterschied offenbare sich nicht in der Sicherheit als solcher, sondern in der Grundlage für diese. In einem Fall basiere die Sicherheit auf der Befragung unserer „preconceptions“ (ǚǛʗǕǑǢǓǜ), in einem anderen Fall auf Beobachtung und Erinnerung. Der Mensch sei auf die zweite Verfahrensweise angewiesen, da nur Gott das ganze Gefüge der Ereignisse erkennen könne. Erst wenn letztere Verfahrensweise auch versage, müsse der Mensch sich auf eine dritte Art der Generalisation zurückziehen, die „for the most part“ (verisimile, Cicero, div. I, 126) wahr sei. Burnyeat schlägt vor, die beiden von Sedley angeführten Kategorien mit den drei genannten epistemologischen Kategorien zu ersetzen und das Material, das Sedley für die Verwendung der philonischen Implikation zusammengestellt hat, ebendieser dritten Kategorie zuzuordnen.
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VII. Kommentar zu De fato
Wenn Chrysipp eine derartige Unterscheidung vor Augen hätte, zöge dies die negative Konsequenz nach sich, daß der Gebrauch einer Implikation nur auf ganz bestimmte und wenige Fälle eingeschränkt wäre, bei denen aufgrund einer (im engeren Sinne) logischen Unverträglichkeit (Nicht: Es ist Tag und nicht: Es ist Tag) oder einer semantischen bzw. analytischen Unverträglichkeit (Nicht: Es ist Tag und nicht: Es ist hell) zwischen dem Antecedens und der Negation des Consequens die Wahrheitsbedingung für die Implikation erfüllt ist. Damit verlöre die Implikation quasi ihre „Alltagstauglichkeit“ und alle Aussagen der empirischen Wissenschaften müßten dann mit Hilfe der Negation einer Konjunktion formuliert werden, so daß bei diesen Sätzen von keiner notwendigen Verbindung zwischen den Teilsätzen gesprochen werden könnte.241 Zu den empirischen Wissenschaften sind in der Antike vor allem die Mantik und die Medizin zu zählen. Beide Wissenschaften hielten sich zugute, durch langjährige Erfahrung und sorgfältiges Forschen allgemeingültige Sätze aufstellen zu können. Die Sätze der Mantik will Chrysipp umformuliert wissen, aber es ist doch sehr fraglich, ob er dies auch tatsächlich für alle Sätze der Medizin fordern wollte. Die Notwendigkeit der Aussage „Wenn man eine Wunde am Herzen hat, dann stirbt man“ ist unmittelbar einleuchtend, und diese Notwendigkeit scheint in der Antike auch so empfunden worden zu sein,242 ebenso wie bei der Aussage „Wenn man eine Narbe hat, dann hatte man eine Wunde“243. Es ist kaum vorstellbar, daß Chrysipp solchen und ähnlichen Sätzen die Richtigkeit und die Notwendigkeit abgesprochen haben sollte. Diesen Gedanken scheint auch Cicero im Sinn zu haben, wenn er Chrysipp in § 16 vorhält,244 daß er _____________ 241 M. Frede (1974), 85; (1980), 246 weist selbst auf eine weitere Schwierigkeit hin, die eine Differenzierung zwischen einer logischen und einer empirischen Verbindung nach sich zieht. Chrysipp müßte eine Unterscheidung zugesprochen werden, die in der Antike nicht in dieser Weise vorgenommen wurde, so daß die heutigen Begriffe „logisch“ und „empirisch“ nicht ohne weiteres übertragen werden können. Vgl. Gould (1967), 161; (1970), 81; Sorabji (1980), 267; Marwede (1984), 122; Sharples (1991), 170; Bobzien (1999c), 107. Siehe dagegen Sedley (1982), 248. 242 Vgl. SE AM VIII, 254f. (SVF II, 221; LS 51H; FDS 1029); AvA, In Arist. Anal. pr. 404.23– 24 (FDS 921); Quintilian, inst. orat. V, 9.5: eum mori, cuius cor est vulneratum […] necesse est. Vgl. Burnyeat (1982a), 234 mit Anm. 95; Bobzien (1998a), 118, 162f. Vgl. Ciceros Beispiel für eine Ursache: causa autem ea est, quae id efficit, cuius est causa, ut vulnus mortis (§ 34). 243 Vgl. Cicero, inv. I, 47: haec tum vera sunt, hoc pacto: ‚quoniam cicatrix est, fuit vulnus‘; Quintilian, inst. orat. V, 9.5: nec fieri potest ut […] sit ferro vulneratus, qui sine cicatrice est; SE AM VIII, 254f. (SVF II, 221; LS 51H; FDS 1029). Vgl. Bobzien (1998a), 162f. 244 Man wird mit Sedley (1982), 253 Anm. 37 zugestehen müssen, daß Ciceros Darstellung keine eindeutige Interpretation zuläßt. Weder sagt er, daß Chrysipp bei den Beispielsätzen die Implikation beibehalten, noch, daß er sie tatsächlich in eine Konjunktion umformuliert habe. So ist diese Stelle auch als Beleg für beide Interpretationen angeführt worden. Vgl. Bobzien (1998a), 161.
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dann auch die implikativ formulierten Sätze ‚Wenn bei jemandem der Puls in der Weise schlägt, dann hat er Fieber‘ (si cui venae sic moventur, is habet febrim) und ‚Wenn auf einer Kugel Großkreise vorhanden sind, dann durchschneiden sie sich einander in der Mitte‘ (si in sphaera maximi orbes sunt, ii medii inter se dividuntur 245) hätte umformulieren müssen, was, so erweckt Ciceros Darstellung den Eindruck, von Chrysipp nicht hätte gewollt werden dürfen und wahrscheinlich von ihm auch nicht gewollt wurde.246 Daher scheint es das Plausibelste zu sein, in der ǝǟǗɏǛǞǑǝǓǜ – wie auch immer sie genau zu definieren und die unterschiedliche Verwendung der Implikation und der Negation der Konjunktion systematisch in die stoische Philosophie einzuordnen sein mag – eine konzeptionelle Verbindung zwischen den Implikationsgliedern zu sehen, und zwar derart, daß nicht zwischen einer sogenannten „logischen“ und einer sogenannten „empirischen“ Verbindung, sondern – dem entscheidenden Unterschied zwischen einer strikten und einer materialen Implikation entsprechend – zwischen einer notwendigen und einer nicht notwendigen Verbindung der beiden Implikationsglieder differenziert wird, wobei die notwendige Verbindung sowohl durch logische als auch durch physisch-kausale Gesetzmäßigkeiten begründet sein kann.247 Die logische Notwendigkeit läßt sich _____________ 245 Cicero hat diese Implikation nicht explizit ausformuliert, doch sie ergibt sich dem Sinne nach aus der Formulierung non et sunt in sphaera maximi orbes et ii non medii inter se dividuntur. Mit maximi orbes sind die sogenannten „Großkreise“ gemeint. Es handelt sich dabei um Kreise, deren jeweilige Mittelpunkte mit dem Kugelmittelpunkt übereinstimmen. Zwei verschiedene Großkreise schneiden sich immer an zwei Punkten. Veranschaulichen läßt sich das anhand der Meridiane um die Erde. Alle Längengrade sind Großkreise und schneiden sich in Nord- und Südpol. Bei den Breitengraden ist nur der Äquator ein Großkreis. Mit Hilfe der Großkreise führte der griechische Gelehrte Eratosthenes aus Kyrene (276– 202/194) eine Vermessung der Erde durch. 246 Sambursky (1956), 42f.; (1959), 79; (1965), 278 hält die Darstellung des medizinischen Satzes in Form einer Negation der Konjunktion für angemessener, für das geometrische Beispiel aber habe Chrysipp vielleicht auch die implikative Form gewählt. Sorabji (1980), 267 sieht in Ciceros Darstellung einen deutlichen Hinweis darauf, daß Chrysipp eine Umformulierung für die empirischen Beispiele nicht grundsätzlich verlangt habe. Cicero impliziere mit seiner Darlegung, daß Chrysipp die medizinischen Sätze nicht auch habe umformulieren wollen, so daß von ihm kein allgemeines Prinzip formuliert worden sei, was denn als eine „echte“ Implikation gelte. Für Ebert (1987), 89f. Anm. 11; (1991), 37 Anm. 9 ergibt sich aus Ciceros Darstellung die Annahme, daß Chrysipp die Umformulierung nicht auf die medizinischen und geometrischen Fälle ausdehnen wollte. 247 Brochard (1892), 460; (1966), 230f. glaubt, daß Chrysipp die ǝǟǗɏǛǞǑǝǓǜ im weiteren Sinne verstanden habe. Eine Implikation sei dann gültig, wenn das Consequens implizit im Antecedens enthalten sei. Daß es implizit in ihm enthalten sei, ergebe sich entweder aus der Identität von Antecedens und Consequens oder aus der Erfahrung, insbesondere dann, wenn wiederholte Erfahrung gegeben sei. Bobzien (1998a), 156–179 nimmt an, daß die Sätze der Mantiker den Anforderungen einer Implikation deshalb nicht genügen, weil keine kausale oder konzeptionelle Verbindung zwischen Zeichen und Vorausgesagtem bestehe. LaBarge (2002) sieht die Gültigkeit einer stoischen Implikation dann gegeben, wenn zwi-
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an dem überlieferten Beispiel ‚Wenn es Tag ist, dann ist es Tag‘ leicht erkennen. Die Implikation kann mit N( p o p) formalisiert werden, und nach Chrysipp ist sie dann wahr, wenn das Antecedens mit der Negation des Consequens unvereinbar ist, also ~M( p & ~p). Diese Formulierung entspricht dem Satz vom Nichtwiderspruch, daß dieselbe Aussage zur selben Zeit nicht sowohl wahr als auch falsch sein kann.248 Eine physisch-kausale Notwendigkeit besteht dann, wenn zwischen den Sachverhalten, die in den beiden Implikationsgliedern ausgedrückt sind, eine so starke naturgesetzmäßige Verbindung besteht, daß dadurch gewährleistet ist, daß der Sachverhalt, auf den sich das eine Implikationsglied bezieht, den Sachverhalt, auf den sich das andere Implikationsglied bezieht, mit Notwendigkeit verursacht.249 Nur auf dieser Basis ist sichergestellt, daß eine Implikation auch den Test mit der Eliminationsmethode besteht, der zufolge eine Implikation dann gültig ist, wenn mit der hypothetischen Eliminierung des Consequens auch notwendigerweise das Antecedens eliminiert wird.250 Auf dieser Basis scheint sich auch eine Antwort auf die Frage finden zu lassen, warum Chrysipp die Aussagen der Mantiker umformuliert wissen wollte. Für die Stoiker ist das Fatum Ausdruck des in der Welt ewig und uneingeschränkt wirkenden Kausalgesetzes und nicht der Ausdruck eines (astrologischen) Aberglaubens, dem zufolge die Sterne im Sinne _____________ schen Antecedens und Consequens eine notwendige konzeptionelle Verbindung der Art besteht, daß das Consequens durch das Antecedens vermöge einer prolêpsis (die Fähigkeit, unmittelbar aus der Wahrnehmung Begriffe zu bilden) erklärt werden könne. Die Tatsache, daß keine derartige Verbindung bei den mantischen Sätzen vorliege, stelle den Grund dar, warum Chrysipp die Aussagen der Mantiker nicht in Form einer Implikation zum Ausdruck gebracht wissen wollte. 248 Der Satz ‚Wenn es Tag ist, dann gibt es Licht‘, den Chrysipp in dieser implikativen Form ebenfalls als gültig anerkennt, muß exakt mit N( p o q) symbolisiert werden. Die geforderte Unverträglichkeit ~M( p & ~q) ist hier als eine semantische bzw. analytische zu bezeichnen. Wenn man davon ausgeht, daß „Tag“ so bestimmt ist, daß das Merkmal „Licht“ immanent ist (allgemein also, wenn p über q definiert werden kann), dann können diese Implikationen, die aufgrund semantischer bzw. analytischer Unverträglichkeit gültig sind, auch als Implikationen der Form „N( p o p)“ interpretiert werden. 249 Daß eine gültige Implikation auch mit der Vorstellung einer kausalen Gesetzmäßigkeit zwischen den Sachverhalten, die in den beiden Implikationsgliedern ausgedrückt sind, verbunden ist, wird durch die verschiedenen Formulierungen in § 16 deutlich: possum dicere: si in sphaera maximi orbes erunt, possum dicere: quia in sphaera maximi orbes erunt. In der subkonditionalen bzw. subimplikativen Aussage findet die kausale Gesetzmäßigkeit explizit ihren Ausdruck. Vgl. DL VII, 71 (LS 35A; FDS 914): ɫǚǏʈ ɲǖɨǛNj ɫǝǞʇ, Ǡʸǜ ɫǝǞǓǗ (‚Weil es Tag ist, gibt es Licht‘). 250 Sedley (1982), 244f. nimmt an, daß diese Methode, von der Philodemos (epikureischer Philosoph, ca. 110–40/35), in De signis berichtet (ausführlich dazu Sedley (1982), insbesondere 242–256), die notwendige Verbindung zwischen Antecedens und Consequens und so die ǝǟǗɏǛǞǑǝǓǜ als die Wahrheitsbedingung für die gültige Implikation testen soll.
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einer primären Ursächlichkeit auf das Leben oder auf den Lauf der Dinge wirken.251 Die Sternenkonstellationen sind mehr als Zeichen zu verstehen und stellen als solche eine ‚Gabe der Götter‘ dar, wodurch die Menschen auf Zukünftiges schließen können.252 Wie jedes Ereignis ist auch ein wie auch immer geartetes Zeichen ein Teil im kosmischen Kausalnexus, so daß sein Erscheinen und seine Richtigkeit in der sympathetischen Einrichtung des Kosmos (ǝǟǖǚɏǒǏǓNj ǞʸǗ ʛǕǣǗ) begründet liegt. Der entscheidende Punkt dabei ist die Tatsache, daß ein Zeichen zwar auf ein Ereignis verweist, mit diesem aber nicht in einer direkten kausalen Verbindung steht. Dies bedeutet, daß das divinatorische Zeichen eine „Begleiterscheinung“ darstellt und selbst nicht das in der Prophezeiung angekündigte Ereignis notwendigerweise verursacht.253 Daher kann im Sinne Chrysipps auch nicht von einer notwendigen Verbindung zwischen divinatorischem Zeichen und prophezeitem Ereignis gesprochen werden. _____________ 251 Vgl. Cicero, div. I, 126: ex quo intellegitur, ut fatum sit – non id quod superstitiose, sed id quod physice dicitur – causa aeterna rerum, cur et ea, quae praeterierunt, facta sint et, quae instant, fiant et, quae sequuntur, futura sint; nat. III, 92 (SVF II, 1107); Augustinus, civ. V, 1: quod si dicuntur stellae significare potius ista quam facere, ut quasi locutio quaedam sit illa positio praedicens futura, non agens. Vgl. D. Frede (1990), 206f., 226f.; Bobzien (1998a), 166f. Long (1982), 167–172, 191 sieht keinen Anhaltspunkt dafür, der frühen Stoa einen Astrologismus zuzuschreiben (vgl. Büchner (1964), 416). Der einzige Hinweis sei bestenfalls das Fabius-Argument (§ 12) hier in De fato, das von Cicero aber nur als ein beliebiges Beispiel in seiner Auseinandersetzung mit den verschiedenen Modaltheorien benutzt werde. Erst seit Panaitios, vielleicht motiviert durch die Kritik des Karneades, sei der Astrologismus intensiver behandelt worden. Allem Anschein nach habe aber nicht einmal Poseidonios eine ‚harte Astrologie‘ vertreten, der zufolge die Himmelskörper als Zeichen und Ursachen für das Geschick der Menschen betrachtet würden. In der ‚weichen Astrologie‘ hingegen würden die Himmelskörper als bloße Zeichen, nicht aber als Ursachen betrachtet. Hülser, FDS, S. 498 geht davon aus, daß die Mantik nicht Ursachen, sondern Symptome ausgewertet habe. Sedley (1993), 321 Anm. 29 glaubt, daß für die Stoiker die stellare Konjunktion im Moment der Geburt nicht ein bloßes Zeichen, sondern eine Ursache für das nachfolgende Leben darstelle. 252 Vgl. Cicero, div. I, 82f. (SVF II, 1192; LS 42D; FDS 466); II, 101f. 253 Donini (1973), 343–347 vertritt die Hypothese, daß ein Zeichen (wie etwa die Zeit der Geburt) von Gott gegeben sei und daß es, wenn es richtig interpretiert werde, das Zukünftige (wie etwa die Todesumstände) aufdecke. Weder decke aber das Zeichen die Ursache für das zukünftige Ereignis auf, noch sei es selbst mit der Ursache für das zukünftige Ereignis zu identifizieren. Daher sei die Darstellung der divinatorischen Sätze in Form einer Negation der Konjunktion sinnvoller, da dann schon in der grammatischen Form der Sätze offensichtlich werde, daß zwischen den beiden Ereignissen (Zeichen – zukünftiges Ereignis) keine kausale Beziehung bestehe (zur Auseinandersetzung mit Donini siehe Sorabji (1980), 269f.). Siehe hierzu insbesondere die anschauliche Darstellung in Bobzien (1998a), 166–170. Bobzien betont, daß ein divinatorisches Zeichen nur eine Begleiterscheinung eines vorausgesagten Ereignisses sei und kein Teil der „causal history“ darstelle, das zu diesem Ereignis führe. Somit sei ein Zeichen nur „causally coincidental“ mit dem vorausgesagten Ereignis verbunden. Seine Richtigkeit leite sich aus der Erfahrung in der Mantik ab. Vgl. M. Frede (1980), 247f.; Hankinson (1998), 260f.; (1999b), 536f.; Ioppolo (2002), 236; Brennan (2005), 245.
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Chrysipp spricht den Aussagen der Mantiker also nicht etwa generell ihre Gültigkeit ab, sondern hält sie nur in Form der Implikation für inadäquat dargestellt. Sie sind faktisch richtig, aber in Chrysipps Verständnis nicht notwendigerweise richtig, weil kein durch logische oder physische Gesetze begründeter Zusammenhang (ǝǟǗɏǛǞǑǝǓǜ) zwischen dem Antecedens und dem Consequens der Implikation vorliegt. Ein derartiger Zusammenhang wurde beim Fabius-Argument weder thematisiert noch explizit gefordert. Die Aussagen der Mantiker genügen somit der Wahrheitsbedingung für die Verwendung einer Implikation nicht, ebensowenig wie die bei Diogenes Laërtios ausdrücklich als Beispiel für eine nicht gültige Implikation überlieferte Aussage ‚Wenn es Tag ist, dann geht Dion spazieren‘ (Ǐʊ ɲǖɨǛNj ɫǝǞʇ, ƯʇǣǗ ǚǏǛǓǚNjǞǏʏ)254. Auch an diesem Beispiel ist die fehlende ǝǟǗɏǛǞǑǝǓǜ zwischen dem Antecedens und dem Consequens deutlich zu erkennen. Für Dion mag der Tag zwar ein Grund für einen Spaziergang sein, aber die Tatsache, daß es Tag ist, bewirkt nicht mit Notwendigkeit, daß Dion spazierengeht. Um also der fehlenden notwendigen Verbindung zwischen den Gliedern auch sprachlich Rechnung zu tragen, fordert Chrysipp die Darstellung solcher Sätze in einer logisch anderen Formulierung, nämlich in Form einer Negation der Konjunktion. Damit ist Chrysipps Ausdrucksweise kein schlechter Trick, wie ihm Cicero unterstellt, sondern stellt den Versuch dar, modallogische Unterschiede zwischen den Aussageformen aufzuzeigen und ihnen sprachlich Rechnung zu tragen. Cicero scheint Chrysipps Anliegen aber überhaupt nicht zu sehen.255 Ob Cicero hier aufgrund tatsächlicher Unkenntnis, was in Anbetracht seiner guten Kenntnis der stoischen Logik fast unwahrscheinlich erscheinen mag, oder wider besseres Wissen um der Polemik willen spricht, sei dahingestellt. Die von ihm angeführten medizinischen und geometrischen Beispielsätze, mit denen er Chrysipps Forderung absurd erscheinen lassen möchte, sind gegen diesen nicht wirklich stichhaltig. Zum einen weisen sie alle keine zukunftsbezogenen Aussagen im Consequens auf256 und zum anderen – dies ist der entscheidende Grund – _____________ 254 DL VII, 73 (SVF II, 215; LS 35A; FDS 914). 255 Vgl. Faust (1931), 277; White (1985), 103; LaBarge (2002), 244; Brennan (2005), 250; Hankinson (1999b), 536f. 256 Vgl. Talanga (1986), 102, der die astrologischen Aussagen als „aposteriorische Grundsätze“ beurteilt, „deren Gültigkeit sich nur auf die Erfahrung stützt. Diesen Grundsätzen muß sehr wahrscheinlich dieser logische Status zukommen, weil das eine Glied in der Zukunftsform erscheint, also keine modale Homogenität zwischen den beiden Gliedern besteht. Auf diese Weise umgeht Chrysippos die Schwierigkeit der Mantik, die mit einer unbegründeten Implikationslehre ihre Fatumsthese zu stützen versucht“. Es ist aber fraglich, ob die Verbindung eines präteritalen Antecedens mit einem futurischen Consequens Chrysipps Umformulierung motiviert hat. Wie Bobzien (1998a), 163 zu Recht anmerkt, ist es unwahrscheinlich, daß Chrysipp die Gültigkeit z. B. des implikativ formulierten Satzes ‚Wenn je-
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besteht zwischen ihren Implikationsgliedern eine ganz andere Verbindung als zwischen den Implikationsgliedern der astrologischen Aussagesätze. Cicero aber spottet, daß von den vielen Ausdrucksmöglichkeiten keine so weit vom normalen Sprachgebrauch entfernt und so verschroben (distortius) sei wie die von Chrysipp vorgeschlagene Formulierung. Die Umformulierung selbst, wie gesagt, resultiert aus dem Bestreben, modallogische Unterschiede sprachlich deutlich zu machen. Die Art der Formulierung (non et p et non q), die dem ersten Eindruck nach tatsächlich etwas ungewöhnlich erscheint, ist mit dem Bestreben der Stoiker zu erklären, bereits mit dem ersten Wort einer zusammengesetzten Aussage deutlich zu machen, welche logische Struktur dieser Aussage zugrunde liegt. Im Hinblick darauf strukturierten die Stoiker ihre Ausdrucksweise in der Art, daß sie nur einen normalsprachlichen Ausdruck für einen logischen Operator zuließen. Damit versuchten sie, sich der Vielfalt und Doppeldeutigkeit der Umgangssprache zu entledigen, um so eine formal korrekte und auf den ersten Blick logisch durchsichtige Idealsprache zu entwickeln. Die logische Struktur eines Satzes soll sich eindeutig in der grammatischen Struktur des Satzes widerspiegeln.257 Dies bedeutet, daß an dem einleitenden Wort Ǐʊ oder ǏʍǚǏǛ (si), und nur an diesem, immer erkannt werden kann, daß der folgende zusammengesetzte Aussagesatz im Sinne einer strikten Implikation zu verstehen ist.258 Für den Ausdruck der materialen Implikation mußte, da das Ǐʊ bereits belegt war, ein anderer normalsprachlicher Ausdruck gefunden werden, und zwar in Form der Negation eines Konjunktionalsatzes, dessen zweites Konjunktionsglied negiert ist. Die von Cicero so verspottete Ausdrucksweise ergibt sich wie folgt: Soll das kontradiktorische Gegenteil einer Aussage zum Ausdruck gebracht werden, muß die Negation non vor dieser Aussage stehen. Soll das kontradiktorische Gegenteil einer zusammengesetzten Aussage (z. B. einer Konjunktion) ausgedrückt werden, muß die Negation non unmittelbar vor dieser zusammengesetzten Aussage stehen.259 Im vorliegenden Fall bezieht sich die Negation auf die gesamte Konjunktion und stellt damit die logische Operation mit der größten Reichweite dar. Daher muß non zuerst genannt werden. Nun folgt die _____________ mand geboren wurde, dann wird er auch sterben‘ ernsthaft bestreiten wollte – es ist deshalb unwahrscheinlich, weil diese Aussage auf einem Naturgesetz basiert. 257 Vgl. M. Frede (1974), 198–201; Ebert (1991), 114–116, 309; (1993), insbesondere 121–127. 258 Vgl. SE AM VIII, 109 (SVF II, 216; FDS 952); DL VII, 71 (SVF II, 207; LS 35A; FDS 914). Vgl. Ebert (1993), 126. 259 Vgl. SE AM VIII, 88–90 (SVF II, 214; LS 34G; FDS 887, 925); AvA, In Arist. Anal. pr. 402.1–405.16 (FDS 921); DL VII, 69f. (SVF II, 204; LS 34K; FDS 914); Ps.-Apuleius, De Interpr. 177.11–31 (SVF II, 204a; FDS 920). Vgl. M. Frede (1974), 71, 198f.; M. und W. Kneale (1986), 147; Ebert (1993), 122–125; Bobzien (1999c), 101f.
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VII. Kommentar zu De fato
eigentliche Konjunktion, bei der beide Konjunktionsglieder jeweils durch ein voranstehendes et eingeleitet werden.260 Schließlich muß hinter dem zweiten et noch ein non folgen, weil das zweite Konjunktionsglied negiert werden soll. So ergibt sich für die Bezeichnung einer materialen Implikation der idealsprachliche Ausdruck: Nicht (sowohl p als auch (nicht q)).261 Chrysipps Absicht, modallogisch exakt zwischen einer materialen und einer strikten Implikation zu unterscheiden, ist sicherlich damit zu erklären, daß er bei bestimmten Schlüssen vermeiden wollte, daß die Notwendigkeit vom Antecedens auf das Consequens übergeht.262 Wenn er die Sätze der Mantiker nur in Form der materialen Implikation adäquat ausgedrückt sieht, dann ergibt sich für das vorgetragene Fabius-Argument, wenn die erste Prämisse nur noch als materiale Implikation zu verstehen ist, eine entscheidende Änderung: Aus Gf o ~Sf und N(Gf ) ergibt sich als Konklusion nur ~Sf (Fabius wird faktisch nicht im Meer sterben) und nicht mehr N(~Sf ) (Fabius wird notwendigerweise nicht im Meer sterben). Damit verliert das Fabius-Argument sein Gewicht und Chrysipp kann sich so des Vorwurfes erwehren, daß er mit der Akzeptanz der Mantik und ihrer percepta auch die Notwendigkeit der prophezeiten Ereignisse zugestehen müsse, wodurch er sich in Widersprüche zu seiner eigenen Modaltheorie verfange. Zweifellos ist Chrysipps exakte Unterscheidung der logischen Aussageformen zu begrüßen, aber aus der Sicht der Libertarier stellt sich sofort die nicht unberechtigte Frage, was Chrysipp durch diese Unterscheidung und der daraus resultierenden Ausdrucksweise hinsichtlich der Fatumsdiskussion gewonnen hat. Aufgrund der aus seiner Perspektive begründeten Umformulierung mag er zwar behaupten, daß das Consequens faktisch, aber nicht notwendigerweise aus dem Antecedens folge, auch mag die Aussage ‚Fabius wird nicht im Meer sterben‘ unter der Bedingung, daß sie grundsätzlich falsch sein kann – es liegt ja nicht in der Natur der Dinge, daß der Mensch Fabius an einem bestimmten Ort sterben muß, so daß er grundsätzlich auch im Meer sterben kann – und es von jetzt an einen _____________ 260 Die Konjunktion wird durch ǔNjʇ ... ǔNjʇ (et ... et) und die Disjunktion durch ɶǞǙǓ ... ɶ (aut ... aut) ausgedrückt. Vgl. DL VII, 72 (SVF II, 207; LS 35A; FDS 914). Vgl. M. und W. Kneale (1986), 147f.; Ebert (1991), 114f.; (1993), 126f. 261 Der Vorteil der idealsprachlichen Ausdrucksweise läßt sich gerade darin sehen, daß die logische Struktur eines Satzes exakt wiedergegeben werden kann, ohne daß dabei eine Klammersetzung benötigt würde. Die hier hinzugefügten Klammern sind der stoischen Idealsprachlichkeit gewissermaßen immanent und wurden nur um der Veranschaulichung willen gesetzt. 262 In diesem Zusammenhang ist nicht nur an die Sätze der Mantiker, sondern auch an den berüchtigten „Sorites“ (ʙ ǝǣǛʇǞǑǜ [ ǕʗǍǙǜ], sorites), den ‚Haufenschluß‘, und an ähnliche Schlüsse zu denken. Siehe hierzu Burnyeat (1982b); Sedley (1984).
VII.7. §§ 17–20: Wahrheit und Falschheit zukunftsbezogener Aussagen (I)
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Zeitpunkt gibt, zu dem keine äußere Hinderung besteht, daß sie falsch ist – Fabius’ Lebenssituation kann sich ja in der Weise gestalten, daß er auch aufgrund der äußeren Umstände im Meer sterben kann –, als „nicht notwendig“ bezeichnet werden;263 aber „nicht notwendig“ ist sie dann eben nur vor dem Hintergrund der stoischen Modaldefinitionen, also nur auf der Basis abstraktiver Modalitäten. Auf der Basis der vollständigen Beschreibung des Weltgeschehens müssen, bedingt durch die Allgemeingültigkeit des Kausalitätsprinzips und bedingt durch den starken Wahrheitsbegriff, bereits in der Gegenwart entweder Ursachen dafür vorliegen, daß Fabius im Meer sterben wird, oder Ursachen dafür, daß er nicht im Meer sterben wird. Wenn letzteres der Fall ist, dann wird Fabius auch mit Notwendigkeit nicht im Meer sterben, und zwar völlig unabhängig davon, ob der Satz in Form einer Implikation oder in Form einer Negation der Konjunktion ausgedrückt wird.
7. §§ 17–20: Wahrheit und Falschheit zukunftsbezogener Aussagen (I) Nachdem Cicero den Formulierungsvorschlag Chrysipps abgelehnt hat, kehrt er wieder zu der Untersuchung ‚über das Mögliche‘ (ǚǏǛʈ ǎǟǗNjǞʸǗ) zurück. In diesem Zusammenhang geht er der Frage nach, ob sich der Wahrheitswert ein und derselben Aussage ändern kann, sowie der Frage, welche Bedingung für die Wahrheit einer zukunftsbezogenen Aussage erfüllt sein muß. Cicero beginnt damit, noch einmal auf die Lehre Diodors einzugehen. In § 13 ist deutlich geworden, daß Diodor nach Ciceros Darstellung eine starke Modaltheorie vertritt, der zufolge alles, was möglich ist, auch notwendig ist (siehe VII.5.d.). Die bereits in § 13 dargelegte Auffassung Diodors wird in § 17 noch einmal genannt: Es kann nur das geschehen, was entweder wahr ist oder wahr sein wird ( placet igitur Diodoro id solum fieri posse, quod aut verum sit aut verum futurum sit). In diesem Zusammenhang stehen die folgenden drei Thesen: _____________ 263 Vgl. Sharples (1996), 53, der Chrysipps Umformulierung in Zusammenhang mit der stoischen Möglichkeitsdefinition bringt. Die Geburt des Fabius unter dem Sirius verhindere nicht sein Sterben im Meer. Es sei einfach so, daß die Beobachtungen gezeigt hätten, daß beide Ereignisse nicht zusammen einträfen. Dafür müsse es einen Grund geben, aber zum einen sei uns dieser nicht bekannt und zum anderen könne man nicht sagen, daß Fabius gehindert werde, im Meer zu sterben, außer wenn er z. B. gerade an Land gestorben wäre oder auf seinem Totenbett weit entfernt vom Meer läge.
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VII. Kommentar zu De fato
1. Nichts geschieht, von dem nicht notwendig war, daß es geschehen wird (nihil fieri, quod non necesse fuerit). 2. Was geschehen kann, das ist entweder bereits eingetreten oder wird noch eintreten (quicquid fieri possit, id aut esse iam aut futurum esse). Werden diese beiden Thesen so formalisiert, wie Cicero sie in § 13 zu verstehen scheint, dann wird ihre Äquivalenz deutlich. Die erste These kann mit ~Np/t o ~p/t und die zweite mit Mp/t o p/t zum Ausdruck gebracht werden. Setzt man nun für p in eine der beiden Formeln ~p ein, dann ergibt sich jeweils die andere Formel. Die dritte These, die Cicero nachfolgend behandeln wird, wurde noch nicht genannt. 3. Ebensowenig kann sich das Zukünftige vom Wahren ins Falsche ändern wie das bereits Geschehene (nec magis commutari ex veris in falsa posse ea, quae futura, quam ea, quae facta sunt). a. Die ‚umkippenden Aussagen‘ (ǖǏǞNjǚʇǚǞǙǗǞNj) Nicht ohne Grund wirft Cicero die Frage auf, ob sich der Wahrheitswert ein und derselben Aussage ändern kann, denn nur die Akzeptanz des Bivalenzprinzips impliziert noch nicht die Unveränderlichkeit eines Wahrheitswertes. Diodor hat offensichtlich die Gültigkeit des Bivalenzprinzips anerkannt, was aufgrund der ersten Zusatzprämisse des ǔǟǛǓǏʡǣǗ ǕʗǍǙǜ anzunehmen ist,264 und Cicero spricht ihm an der vorliegenden Stelle ausdrücklich die Auffassung zu, daß der Wahrheitswert einer Aussage unveränderlich ist. Epikur wird in dieser Frage den gleichen Standpunkt wie Diodor eingenommen haben, da er sonst das Bivalenzprinzip hinsichtlich zukunftsbezogener Aussagen nicht hätte einschränken müssen, um den logischen Determinismus zu vermeiden. Die Stoiker halten zwar am Bivalenzprinzip fest, nehmen aber an, daß sich der Wahrheitswert ein und derselben Aussage ändern kann. Eine solche Änderung kann bei denjenigen Aussagen (ɒǘǓʰǖNjǞNj) eintreten, deren Wahrheit oder Falschheit von sich ändernden Umständen, wie z. B. Ort oder Zeit, abhängig ist. Wenn sich diese Umstände ändern, dann kann sich auch der Wahrheitswert einer Aussage ändern. Ein Beispiel für diese ‚umkippenden Aussagen‘ (ǖǏǞNjǚʇǚǞǙǗǞNj), wie die Stoiker sie nennen, führt Alexander von Aphrodi_____________ 264 Vgl. Sorabji (1980), 278; Sedley (1977), 98, Englert (1987), 130; Ebert (1991), 201; Weidemann (1999a), 202.
VII.7. §§ 17–20: Wahrheit und Falschheit zukunftsbezogener Aussagen (I)
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sias mit der Aussage ‚Morgen wird eine Seeschlacht stattfinden‘ (ɮǝǞNjǓ NjʧǛǓǙǗ ǗNjǟǖNjǡʇNj) an.265 Für die Stoiker sei nur das notwendig, was immer
wahr sei. Wenn aber die Seeschlacht stattfinde, dann sei die fragliche Aussage nicht mehr wahr, d. h., wenn die Aussage ‚Morgen wird eine Seeschlacht stattfinden‘ an dem Tag der Seeschlacht geäußert wird, dann behauptet man ja, daß die Seeschlacht am folgenden Tag stattfinden wird. Dies ist aber falsch. So ist die Aussage ‚Morgen wird eine Seeschlacht stattfinden‘ nicht immer wahr und somit auch nicht notwendig.266 Es sind also wieder die Stoiker, gegen die Cicero hier die These verteidigt, daß sich der Wahrheitswert ein und derselben Aussage nicht ändern kann. b. Die Unveränderlichkeit des Wahrheitswertes Die Unveränderlichkeit des Wahrheitswertes, sagt Cicero, sei bei einer vergangenheitsbezogenen Aussage offenkundig. Bei einer zukunftsbezogenen Aussage sei die Unveränderlichkeit des Wahrheitswertes allerdings ebenso gegeben, wenn auch nicht immer in einer offenkundigen Weise. Dies versucht er mit Beispielen zu verdeutlichen. Wenn man das Urteil ‚Dieser Mensch wird an dieser Krankheit sterben‘ (hic morietur hoc morbo) über einen Menschen fällt, der bereits von einer todbringenden Krankheit gezeichnet ist, dann ist diese Aussage offensichtlich wahr. Sie wäre aber auch dann genauso wahr, wenn sie einen Menschen beträfe, bei dem die _____________ 265 Vgl. AvA, fat. X, 177.7–178.7 (teilw. SVF II, 961; FDS 1010). Simplikios (In Arist. Physic. 1299.36–1300.10 (SVF II, 206; LS 37K; FDS 1025)) führt das Beispiel ‚Wenn Dion lebt, dann wird Dion leben‘ (Ǐʊ ǐʆ ƯʇǣǗ, ǐɰǝǏǞNjǓ ƯʇǣǗ) an. Die ganze Implikation sei zum gegenwärtigen Zeitpunkt wahr, weil sie mit einem wahren Antecedes beginne und mit einem wahren Consequens ende. Da Dion aber nicht unsterblich sei, werde es einmal einen Zeitpunkt geben, zu dem die Aussage „Dion lebt“ wahr, die Aussage „Dion wird leben“ jedoch falsch sei, so daß die zuvor wahre Implikation in eine falsche ‚umkippen‘ werde. Sextus Empiricus (PH II, 231, 234 (FDS 1200)) überliefert in seiner Auseinandersetzung mit Trugschlüssen folgendes Beispiel für ein ‚umkippendes Argument‘: ‚Es ist nicht sowohl der Fall, daß ich bereits einen ersten Satz von dir erfragt habe, als auch der Fall, daß die Anzahl der Sterne nicht gerade ist. Nun habe ich aber bereits einen ersten Satz von dir erfragt. Also ist die Anzahl der Sterne gerade‘ (Weidemann (2001b), 369). Bevor die erste Frage gestellt worden sei, referiert Sextus, sei das erste Konjunktionsglied falsch. Daher sei die ganze Konjunktion falsch und somit die Negation der Konjunktion wahr. Nachdem aber die Negation der Konjunktion angefragt worden sei, werde das erste Konjunktionsglied (‚Ich habe bereits einen ersten Satz von dir erfragt‘) und somit die ganze Konjunktion wahr, wobei die Negation der Konjunktion falsch werde. Also könne der Schlußsatz niemals gefolgert werden, weil die Negation der Konjunktion nie mit dem als zweite Prämisse fungierenden ersten Konjunktionsglied zusammen wahr sein könne. Ausführlich zu diesem Trugschluß und zu der von Sextus falsch dargestellten Auflösung siehe Weidemann (2001b). 266 Siehe hierzu z. B. M. Frede (1974), 44–48; Sorabji (1980), 277f.; Bobzien (1986), 21–23, 91–98; M. und W. Kneale (1986), 153f.
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VII. Kommentar zu De fato
todbringende Krankheit noch keine sichtbare Auswirkung zeigt. Cicero macht deutlich, daß das Vorhandensein gewisser Zeichen, die auf einen möglichen Wahrheitswert schließen lassen, oder das Erkennen vorhandener Zeichen kein Kriterium für die Wahrheit (oder Falschheit) einer Aussage darstellt. Durch ein weiteres Beispiel will Cicero seine Gedanken verdeutlichen. Die zukunftsbezogene Aussage ‚Scipio wird sterben‘ (morietur Scipio) ist unbestreitbar wahr und notwendig. Die zukunftsbezogene Aussage ‚Scipio wird nachts in seinem Schlafzimmer eines gewaltsamen Todes sterben‘ (morietur noctu in cubiculo suo vi oppressus Scipio)267 stellt eine Aussage dar, die einen speziellen Sachverhalt ausdrückt. Wenn beide Sätze wahrheitsgemäß ausgesprochen würden, betont Cicero, könne sich der Wahrheitswert beider Sätze nicht von „wahr“ in „falsch“ ändern. Cicero will mit seinen Beispielen nichts anderes zum Ausdruck bringen, als daß jeder Satz, unabhängig von seinem Inhalt, entweder schon immer wahr oder schon immer falsch gewesen ist. Auf den ersten Blick könnte Ciceros Äußerung als der Ausdruck einer deterministischen Haltung aufgefaßt werden, da man vermuten könnte, daß das, was schon immer wahr gewesen ist, auch schon immer notwendig gewesen ist. Wichtig für das Verständnis von Ciceros Aussage ist seine folgende Erklärung: ‚Es würde nämlich ausgesagt, daß das sein wird, was sein wird; und daß es [in der Vergangenheit bereits] der Fall gewesen ist, daß es sein wird, muß aufgrund dessen erkannt werden, daß es eingetreten ist‘ (id enim fore diceretur, quod esset futurum; futurum autem fuisse ex eo, quia factum est, intellegi debet). Offensichtlich ist für Cicero eine zukunftsbezogene Aussage dann wahr, wenn das Ereignis, von dem ausgesagt wird, daß es eintreten werde, auch tatsächlich eintreten wird (siehe VII.7.d.,VII.11.). Daraus aber, daß ein Ereignis tatsächlich eintreten wird, folgt nicht, daß es notwendigerweise eintreten muß, also in dem deterministischen Sinne von Fp o NFp. Ciceros Aussage id enim fore diceretur, quod esset futurum scheint vielmehr darauf schließen zu lassen, daß er keine deterministische, sondern eine logische Notwendigkeit vor Augen hat: Es gilt notwendigerweise, daß etwas, wenn es sein wird, auch sein wird, also in dem indeterministischen und trivialen Sinne von N(Fp o Fp). Vor diesem Hintergrund kann der Sinn des Satzes futurum autem fuisse ex eo, quia factum est, intellegi debet mit N( p o HFp) zum Ausdruck gebracht werden: Es ist notwendig, daß es dann, wenn es der Fall ist, daß p, schon immer der Fall gewesen ist, daß es _____________ 267 Die genauen Todesumstände von Scipio dem Jüngeren (184/5–129) sind nicht näher bekannt. Siehe hierzu Worthington (1989). Cicero selbst scheint anzunehmen, daß Scipio einem Mordanschlag zum Opfer fiel (vgl. Mil. 16; De orat. II, 170; fam. IX, 21(24).3). Vgl. Werner (1950), 138; Escobar (1999), 308 Anm. 75.
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der Fall sein wird, daß p. Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, daß die Formel N(p o HFp) nur auf der Basis des schwachen Wahrheitsbegriffs gültig ist (siehe V.1.). In welchem indeterministischen Sinne Cicero nun von der Unveränderlichkeit eines Wahrheitswertes sprechen kann, läßt sich sehr anschaulich verdeutlichen, indem die Formel N( p o HFp) in die mit ihr äquivalente Formel ~M( p & ~HFp) umgeformt wird: Es ist nicht möglich, daß es der Fall ist, daß p, und daß es nicht schon immer der Fall gewesen ist, daß es der Fall sein wird, daß p. Dies bedeutet, daß es aufgrund dessen, daß es tatsächlich der Fall ist, daß p, relativ zum tatsächlichen Weltverlauf schon immer der Fall gewesen ist, daß es der Fall sein wird, daß p, so daß es vor dem Eintreten des p wahr machenden Ereignisses unmöglich sowohl einen Zeitraum geben kann, in dem Fp wahr ist, als auch einen Zeitraum, in dem Fp falsch ist. Wenn sich nämlich der Wahrheitswert einer Aussage ändern könnte, dann hätte dies zur Konsequenz, daß ein und dasselbe Ereignis relativ zu ein und demselben Weltverlauf eintreten und nicht eintreten würde, was aber unmöglich ist. Vor diesem Hintergrund ist auch ersichtlich, warum auf der Grundlage des schwachen Wahrheitsbegriffs das Bivalenzprinzip uneingeschränkte Gültigkeit besitzt. Sollte es tatsächlich eine Aussage geben, die im schwachen Sinne weder wahr noch falsch ist, dann ergäbe sich nämlich die unmögliche Konsequenz, daß ein und dasselbe Ereignis relativ zu ein und demselben Weltverlauf weder eintreten noch nicht eintreten würde. Da p nun für einen beliebigen Satz steht, ist es auch völlig unerheblich, ob es sich um einen Satz handelt, der einen allgemeinen Sachverhalt zum Ausdruck bringt (morietur Scipio), oder um einen Satz, der einen speziellen Sachverhalt ausdrückt (morietur illo modo), ob es sich um einen Satz handelt, der sich auf Vergangenes bezieht (necatus est Scipio), oder um einen Satz, der auf Zukünftiges verweist (necabitur Scipio). In dem oben beschriebenen indeterministischen Sinne kann Cicero nun davon sprechen, daß sich aus seiner Darlegung ergibt, daß sich nicht einmal bei zukunftsbezogenen Aussagen eine Änderung des Wahrheitswertes von „wahr“ in „falsch“ vollziehen kann (ita fit, ut commutatio ex vero in falsum ne in futuro quidem ulla fieri possit), oder, wie er später sagen wird, daß der Wahrheitswert jeder Aussage ‚von Ewigkeit her‘ (§§ 33, 37, 38: ex aeternitate) besteht. Da Cicero auf der Basis des schwachen Wahrheitsbegriffs die Wahrheit einer Aussage nur an das faktische Eintreten des entsprechenden Ereignisses bindet, kann er diese Meinung vertreten, ohne dabei eine deterministische Notwendigkeit in Kauf nehmen zu müssen – im Gegensatz zu denjenigen, die auf der Basis eines starken Wahrheitsbegriffs argumentieren und somit die Wahrheit von Aussagen an das Vorliegen von Ursachen knüpfen.
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VII. Kommentar zu De fato
c. Die causae fortuito antegressae Daß Cicero an der vorliegenden Stelle auf der Basis des schwachen Wahrheitsbegriffs argumentiert und somit die Unveränderlichkeit eines Wahrheitswertes in einem indeterministischen Sinne versteht, hat er zwar mehr implizit als explizit zum Ausdruck gebracht, aber es muß hier zweifellos angenommen werden, da sonst die überleitende Aussage nec, cum haec ita sint, est causa, cur Epicurus fatum extimescat keinen rechten Sinn ergäbe. Wörtlich übersetzt lautet sie: ‚Da dies so ist, gibt es keinen Grund, warum Epikur das Schicksal fürchten sollte‘. Inhaltlich kann cum haec ita sint nur folgendes bedeuten: Weil aus der ewigen Wahrheit einer Aussage keine im Sinne des Fatums relevante Notwendigkeit, d. h. keine ewige Ursachenverkettung (causarum series sempiterna), folgt, muß auch keine Bedrohung der Freiheit befürchtet werden. Epikur aber fürchtet gerade deterministische Konsequenzen und somit eine Bedrohung der Freiheit, wenn er das Bivalenzprinzip anerkennt, da die Wahrheit zukunftsbezogener Aussagen auf der Basis der von ihm vertretenen starken Wahrheitsauffassung die Notwendigkeit dessen, wovon ausgesagt wird, daß es geschehen werde, impliziert (siehe II.2.). Auch wenn Cicero diese starke Wahrheitsauffassung ablehnt, der zufolge die Wahrheit zukunftsbezogener Aussagen an das Vorliegen einer lückenlosen Ursachenverkettung, die das Eintreten dessen garantiert, wovon ausgesagt wird, daß es eintreten werde, gebunden ist, bedeutet dies für ihn keineswegs, daß etwas ohne Ursache geschehen müßte. Nicht ewige, der Naturnotwendigkeit entspringende Ursachen (aeternae causae naturae necessitate manantes; vgl. causae cohibentes in se efficientiam naturalem) seien für die Wahrheit der Aussage ‚Karneades wird zur Akademie hinabgehen‘ (descendet 268 in Academiam Carneades) verantwortlich, betont Cicero, sondern vielmehr zufällig vorausgehende Ursachen (causae fortuito antegressae). In ganz ähnlicher Weise äußert er sich in § 28: Es seien zufällige Ursachen, die bewirken, daß etwa die Aussage ‚Cato wird in den Senat kommen‘ wahrheitsgemäß ausgesprochen werde ( fortuitae sunt causae, quae efficiant, ut vere dicantur, quae ita dicentur: veniet in senatum Cato). Sicher soll in diesen Beispielen das zufällige Moment nicht so verstanden werden, daß es „unerwartet“ oder „ungewöhnlich“ wäre, daß Karneades in die Akademie _____________ 268 Da an der vorliegenden Stelle die Wahrheit zukunftsbezogener Aussagen untersucht wird, scheint die Konjektur des Futurs descendet sinnvoller in den Kontext zu passen als das überlieferte Präsens descendit (vgl. z. B. Müller (1864), 626; Lörcher (1907), 357(21) Anm. 2; (1913), 56 Anm. 1; Pohlenz (1910a), 329; Marwede (1984), 52, 165). Für diese Konjektur spricht auch der unmittelbar folgende Beispielsatz morietur Epicurus, cum duo et septuaginta annos vixerit, archonte Pytharato, der ebenfalls im Futur steht, genau wie der Beispielsatz veniet in senatum Cato in § 28.
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geht; denn seitdem er Leiter der Akademie geworden ist, liegt sein Erscheinen in der Akademie gewissermaßen in der Natur seiner Funktion als Schuloberhaupt.269 Entsprechendes gilt für den Senator Cato und sein Erscheinen im Senat. Der Beispielsatz ‚Epikur wird, nachdem er 72 Jahre gelebt hat, unter dem Archontat des Pytharatos sterben‘ (morietur Epicurus, cum duo et septuaginta annos vixerit, archonte Pytharato)270 scheint dagegen in anderer Weise zu verstehen zu sein.271 Die Tatsache, daß Epikur sterblich ist, liegt in der Natur der Dinge, so daß Epikur auch mit Notwendigkeit sterben wird. Daß er aber gerade unter dem Archontat des Pytharatos stirbt, ist eher als zufällig zu bezeichnen.272 Gewiß sind die causae fortuito antegressae weder in dem Sinne als zufällige Ursachen zu verstehen, daß sie „unvermittelt“, d. h. akausal, in Erscheinung treten, denn dies widerspräche dem von Cicero aufrechterhaltenen Kausalitätsprinzip,273 noch in dem Sinne, daß sie ein „beliebiges“ Ereignis bewirken, denn ein von seiner Ursache bewirktes Ereignis geschieht mit Notwendigkeit, so daß seine Ursache nicht auch irgendein anderes Ereignis hätte bewirken können (siehe §§ 34–36).274 Cicero scheint bei den von ihm angeführten Beispielen insbesondere die willentliche Entscheidung von Karneades und Cato ins Auge zu fassen. Seiner Auffassung zufolge, so wird er in den Paragraphen 23–25 darlegen, wird ein Willensakt nicht durch eine äußere, vorausgehende Ursache bedingt. Vielmehr liegt die Ursache für einen Willensakt in der selbstverursachenden Natur des Willens, so daß es sich bei einem Willensakt auch nicht um ein ursachenloses Geschehen handelt (§ 25: motus enim voluntarius eam naturam in se ipse continet, ut sit in nostra potestate nobisque pareat, nec id sine causa: eius rei enim causa ipsa natura est). Da also eine willentliche Entscheidung nur der inneren Spontaneität des Individuums entspringt, ist sie kein Glied einer ewigen, sich mit Notwendigkeit vollziehenden Ursachenverkettung. In diesem Sinne stellt eine willentliche Entscheidung eine causa fortuito antegressa und keine causa fatalis dar, die aus einer ewigen Aneinanderreihung von Ursachen (causarum series sempiterna) hervorgeht. Es ist zu überlegen, ob Cicero nur Willensakte allein als causae fortuito antegressae bezeichnet wissen wollte.275 Aus seiner indeterministischen Per_____________ 269 270 271 272 273
Vgl. Sharples (1991), 173, 179, der sich Donini (1989), 135 anschließt. Vgl. DL X, 15. Zu den Beispielen siehe Donini (1989), 134f.; Sharples (1991), 173, 179. Vgl. Talanga (1986), 127. Daß Cicero die Annahme eines akausalen Ereignisses für völlig inakzeptabel hält, ergibt sich deutlich aus seiner Polemik gegen Epikurs Vorgehen, das Kausalitätsprinzip einzuschränken (§§ 18, 22–23, 46–48). 274 Vgl. Platz (1973), 50. 275 Vgl. Platz (1973), 49f.
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VII. Kommentar zu De fato
spektive scheinen auch andere Ursachen als ‚zufällig vorausgehend‘ angesehen werden zu können. Wenn Karneades sich entscheidet, in die Akademie zu gehen, resultiert die Ursache für diesen Entschluß aus der selbstverursachenden Natur des Willens. Mit diesem Willensakt, so ist offenbar Ciceros Vorstellung, hat Karneades ein Ereignis bewirkt, das nicht das Glied einer ewigen sich mit Notwendigkeit vollziehenden Ursachenverkettung darstellt. Wenn nun Karneades in die Akademie geht und sein Erscheinen dort die Ursache für irgendein anderes Ereignis ist und dieses Ereignis vielleicht selbst wieder Ursache für ein folgendes Ereignis wird usw., dann verursacht das vorangehende Ereignis das folgende, so es dessen Ursache ist, zwar notwendigerweise, aber es ist nicht von Ewigkeit her notwendig gewesen, daß diese Ereignisse genau so eintreten würden, wie sie eingetreten sind, da diese Ereignisse nur Glieder einer neu begonnenen und nicht Glieder einer von Ewigkeit her bestehenden Ursachenverkettung darstellen. In den Paragraphen 36–37 definiert Cicero den Begriff „Ursache“ und stellt heraus, daß als die eigentliche Ursache für ein Geschehen nur das bezeichnet werden kann, was eine hinreichende Bedingung für dieses Geschehen ist. Für Cicero stellen die (weit) vor einem bestimmten Geschehen liegenden Ereignisse nur notwendige Bedingungen dar, da keines dieser (weit) vorausgehenden Ereignisse das betreffende Geschehen hinreichend bewirkt. Erst im nachhinein kann sich dann ein Ereignis, das dem betreffenden Geschehen zeitlich näher und enger mit ihm verbunden ist, durch die Art und Weise, in der dieses Geschehen eingetreten ist, als dessen eigentliche Ursache herausstellen (§ 36f.: post autem causa fuit propior et cum exitu iunctior. ratio igitur eventus aperit causam)276. Somit war diese Ursache nicht aufgrund einer in der Natur verankerten Notwendigkeit eine Ursache, sondern sie erwies sich nur relativ zu den Umständen als Ursache für ein folgendes Geschehen, so daß sie in diesem Sinne auch als eine „zufällige“ Ursache bezeichnet werden kann. Allem Anschein nach sind Ciceros Auffassung zufolge die causae fortuito antegressae in dem Sinne als ‚zufällig vorausgehend‘ zu verstehen, daß sie eben nicht Glieder einer ewigen Ursachenverkettung (causarum series sempiterna) darstellen und daher nicht schon immer in der Natur der Dinge und in der Weltordnung eingeschlossen waren (§ 28: non inclusae in rerum natura atque mundo), so daß der Weltverlauf auch ein völlig anderer hätte sein können.277 _____________ 276 Vgl. Top. 67 (siehe u. S. 216 Anm. 413). 277 Vgl. Platz (1973), 50.
VII.7. §§ 17–20: Wahrheit und Falschheit zukunftsbezogener Aussagen (I)
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d. Die Wahrheitsbedingung für zukunftsbezogene Aussagen Wie nun die Beispielsätze auch genau zu bewerten sein mögen, die aus Ciceros Sicht zentrale Aussage ist die, daß ein Ereignis weder ohne Ursache noch aufgrund einer ewigen, in der Natur verankerten Kausalverkettung zustande kommt. So sei, betont Cicero, die Aussage ‚Epikur wird, nachdem er 72 Jahre gelebt hat, unter dem Archontat des Pytharatos sterben‘ immer wahr gewesen, ohne daß das Ereignis, auf das sie sich bezieht, durch causae fatales verursacht worden wäre, sondern, fügt er wörtlich hinzu, „quod ita cecidit, certe casurum, sicut cecidit, fuit“278. Der Kausalsatz mit der Formulierung certe casurum, sicut cecidit, fuit ist nicht leicht zu verstehen und bedarf der genauen Betrachtung. Cicero will offensichtlich folgenden Gedanken zum Ausdruck bringen: Auch wenn die Aussage ‚Epikur wird, nachdem er 72 Jahre gelebt hat, unter dem Archontat des Pytharatos sterben‘ immer wahr gewesen ist, lagen keine im Wirken des Fatums begründeten Ursachen dafür vor, daß Epikur in dem besagten Jahr sterben würde, sondern weil sich dieses Ereignis so ereignet hat, war es gewiß schon immer ein Ereignis, das sich so, wie es sich tatsächlich ereignet hat, ereignen würde. Damit nicht der Eindruck entsteht, daß Ciceros Begründung auf eine im deterministischen Sinne schon immer bestehende Notwendigkeit hinausläuft, gegen die er ja selbst argumentiert, müssen die verschiedenen Wahrheitsbedingungen für zukunftsbezogene Aussagen sehr genau unterschieden werden. Chrysipp und Epikur gehen von einer starken Wahrheitsauffassung aus, der zufolge die Wahrheit zukunftsbezogener Aussagen an das Vorliegen von Ursachen gebunden ist, die das Eintreten dessen, wovon ausgesagt wird, daß es eintreten werde, bereits in der Gegenwart garantieren. Cicero aber macht die Wahrheit einer zukunftsbezogenen Aussage nicht von dieser starken Bedingung abhängig, sondern lediglich davon, daß das, wovon ausgesagt wird, daß es eintreten werde, in dem sich tatsächlich realisierenden Weltverlauf auch eintreten wird (siehe II.2.). Eine auf einen bestimmten Zeitpunkt bezogene wahre Aussage ist nach Cicero also deshalb bereits vor diesem Zeitpunkt wahr gewesen, weil – das kausale quod _____________ 278 Die Überlieferung des Satzes ist uneinheitlich. Nach Skassis (1915), 22–24 (vgl. Giomini (1975), 159) überliefern die Handschriften (siehe VI.4.) A: quod ita cecidisset certe casurum (ex causarum) sicut cecidit fuit ( fuerit). B: wie A, aber ohne die Korrekturen. V: quod ita cecidisset certe (a serie) causarum sicut cecidit, fuit. Müller (1864), 616; (1898), XXIII, 259 liest quod ita cecidit, serie certa causarum casurum, sicut cecidit, fuit. Gerade aber in diesem Sinne, nämlich daß das fragliche Ereignis durch eine sichere (= notwendige) Verkettung von Ursachen (serie certa causarum) geschehen soll, will Cicero den Satz nicht verstanden wissen.
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VII. Kommentar zu De fato
muß hier betont werden – das in ihr beschriebene Ereignis zu diesem Zeitpunkt tatsächlich eingetreten ist (quod ita cecidit, vgl. § 18: quia factum est; in den Paragraphen 26–28 wird Cicero diesen Gedanken noch anschaulicher erläutern). Cicero spricht sich somit deutlich gegen die von Epikur und Chrysipp vertretene starke Wahrheitsauffassung aus und stellt dieser die von ihm selbst vertretene schwache Wahrheitsauffassung entgegen. Ciceros schwache Wahrheitsauffassung und der Unterschied zur starken Wahrheitsauffassung soll an dem folgenden Schaubild unter Zuhilfenahme der logischen Notation verdeutlicht werden, wobei certe mit „N“ wiedergegeben werden soll: 2. Fp t Gegenwart
1. p 3. HFp 4. NHFp t´ Zukunft
Das Schaubild soll den sich tatsächlich realisierenden Weltverlauf zum Ausdruck bringen. Damit eine zukunftsbezogene Aussage Fp auf der Basis des von Cicero vertretenen schwachen Wahrheitsbegriffs wahr ist, muß es in dem sich tatsächlich realisierenden Weltverlauf irgendwann einmal der Fall sein, daß p. So sei angenommen, daß es zu dem zukünftigen Zeitpunkt t´ der Fall sein wird, daß p (1. p). Dies bedeutet dann, daß zum gegenwärtigen Zeitpunkt t gilt, daß es irgendwann einmal der Fall sein wird, daß p (2. Fp). Da es zu t´ tatsächlich der Fall ist, daß p, gilt auch für alle Zeitpunkte vor t´, daß es zu ihnen der Fall gewesen ist, daß es relativ zu dem sich tatsächlich realisierenden Weltverlauf der Fall sein wird, daß p (3. HFp). Da es auf jedem Weg, der über den zum Zeitpunkt t´ tatsächlich bestehenden Weltzustand führt, immer schon der Fall gewesen ist, daß p zu t´ (jeder dieser Wege hatte ja bis t´ denselben Verlauf wie der tatsächliche Weg), ist es zum Zeitpunkt t´ auch notwendig, daß es schon immer der Fall gewesen ist, daß es relativ zu dem sich tatsächlich realisierenden Weltverlauf der Fall sein wird, daß p (4. NHFp). Somit kann die Formulierung quod ita cecidit, certe casurum sicut cecidit fuit, mit der Cicero die Wahrheitsbedingung für zukunftsbezogene Aussagen im schwachen Sinne zum Ausdruck bringen möchte, in der folgenden Weise dargestellt werden: p o NHFp 279. Diese Formel besagt, daß es _____________ 279 Es ist wichtig, die genaue Reihenfolge der logischen Operatoren zu beachten. Die Formel pȺNHFp ist nicht mit der Formel pȺHNFp zu verwechseln, in der die streng deterministische Weltsicht zum Ausdruck kommt, daß etwas dann, wenn es geschieht, mit einer von jeher bestehenden Notwendigkeit geschieht.
VII.7. §§ 17–20: Wahrheit und Falschheit zukunftsbezogener Aussagen (I)
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dann, wenn es tatsächlich der Fall ist, daß p, notwendig ist, daß es schon immer der Fall gewesen ist, daß es irgendwann einmal der Fall sein würde, daß p. Cicero kann also bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt t die Wahrheit zukunftsbezogener Aussagen annehmen, ohne deterministische Konsequenzen in Kauf nehmen zu müssen. Gerade aber diese deterministischen Konsequenzen ergeben sich, wenn man die Wahrheit zukunftsbezogener Aussagen auf der Basis des starken Wahrheitsbegriffs annimmt. Es muß dann nicht nur in dem sich tatsächlich realisierenden Weltverlauf, sondern auch in allen zum gegenwärtigen Zeitpunkt t noch möglichen Weltverläufen irgendwann einmal der Fall sein, daß p (siehe II.2.). Für die Vertreter des starken Wahrheitsbegriffs reicht es daher nicht aus, für die Wahrheit von Fp zu t nur die Wahrheit von p zu t´ in dem sich tatsächlich realisierenden Weltverlauf anzunehmen, sondern sie müssen für die Wahrheit von Fp zu t annehmen, daß p in allen noch möglichen Weltverläufen zu irgendeinem Zeitpunkt wahr sein wird, d. h., sie müssen zu t bereits NFp annehmen. Damit aber diese Bedingung erfüllt sein kann, müssen bereits in der Gegenwart Ursachen vorliegen, die das Eintreten des in p beschriebenen Ereignisses garantieren, also notwendig machen. Dies hat zur Konsequenz, daß das Eintreten des noch zukünftigen Ereignisses bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt t in einem deterministischen Sinne notwendig sein muß, während es für Cicero auf der Basis des schwachen Wahrheitsbegriffs erst zu t´ in einem indeterministischen Sinne lediglich faktisch notwendig zu sein braucht. e. Ciceros indeterministische Interpretation des Diodor Cicero hat in den Paragraphen 17–20 deutlich die Unveränderlichkeit eines Wahrheitswertes und die uneingeschränkte Gültigkeit des Bivalenzprinzips anerkannt, so daß er den Thesen Diodors, die er einleitend in § 17 referiert hatte, implizit zugestimmt hat. Diese implizite Zustimmung als Ergebnis seiner Untersuchung muß an dieser Stelle überraschen,280 denn Diodor vertritt eine prinzipiell deterministische Modaltheorie, wenn auch vermutlich eine nicht so streng deterministische, wie sie ihm zu späterer Zeit zugeschrieben wurde (siehe VII.5.d.). Es ist aber deutlich ge_____________ 280 Dieser Umstand hat bisher wenig Beachtung gefunden. Stüve (1895), 27 bemerkt, daß hier nicht Diodors Meinung, sondern eine durch Karneades bearbeitete Meinung dargestellt werde („Vides verbis ‚qui – attingit hanc quaestionem‘ a Diodoro progredi scriptorem ad novam doctrinam similem, sed non eandem. Quare ea, quae sequuntur, Carneadis sunt, non Diodori. […] Itaque Ciceroniana disputatione non ipsum Diodorum tenemus, sed Diodorum a Carneade correctum“). Vgl. Marwede (1984), 157 mit Verweis auf Stüve.
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VII. Kommentar zu De fato
worden, daß Cicero die diodoreischen Thesen in seinem Sinne schwach und indeterministisch interpretiert, weil für ihn auf der Basis eines schwachen Wahrheitsbegriffs aus der unveränderlichen Wahrheit oder Falschheit zukunftsbezogener Aussagen keine deterministischen Konsequenzen resultieren. Cicero versteht die am Anfang von § 17 referierte These Diodors ‚Nichts geschieht, von dem nicht notwendig gewesen ist, daß es geschehen wird‘ (nihil fieri, quod non necesse fuerit) offensichtlich nicht in dem deterministischen Sinne, daß etwas dann, wenn es geschehen wird, notwendigerweise geschehen wird (Fp o NFp), sondern in dem indeterministischen und trivialen Sinne, daß es notwendig ist, daß etwas dann, wenn es geschehen wird, geschehen wird (N(Fp o Fp)). Vor diesem Hintergrund ist dann auch die dritte These ‚Ebensowenig kann sich das Zukünftige vom Wahren ins Falsche ändern, wie das bereits Geschehene‘ (nec magis commutari ex veris in falsa posse ea, quae futura, quam ea, quae facta sunt) in dem indeterministischen Sinne von ~M(Fp & ~Fp) ( N(Fp o Fp)) und ~M(Pp & ~Pp) ( N(Pp o Pp)) zu verstehen. Daß Cicero die diodoreische Lehrmeinung in dieser Weise interpretiert, muß geradezu seltsam anmuten, denn zumindest in den Paragraphen 11–14 scheint er sich der deterministischen Haltung Diodors bewußt gewesen zu sein. Mit dem Fabius-Argument hatte er ja zeigen wollen, daß Chrysipp mit seiner Modaltheorie in den gleichen Determinismus gerate wie Diodor und sich damit in Widersprüche verfange. Wenn Cicero an jener Stelle Diodor indeterministisch interpretiert hätte, dann wäre der ganze Duktus seiner Argumentation gegen Chrysipp völlig unplausibel. Wenn er aber andererseits Diodor in den Paragraphen 17–19 ebenso deterministisch interpretiert hätte wie in den Paragraphen 11–14, dann hätte er wohl kaum auf der Basis der diodoreischen Thesen für einen schwachen Wahrheitsbegriff argumentieren können. Gerade aber die Herausarbeitung und Etablierung dieser schwachen Wahrheitsauffassung ist ein zentrales Anliegen Ciceros in seiner Auseinandersetzung mit dem Determinismus; denn erst auf der Basis des schwachen Wahrheitsbegriffs kann er den logischen Determinismus angemessen bekämpfen (§§ 17–20, 26– 28, 32–33). Kaum überzeugend wäre schließlich auch die Annahme, Cicero könnte einen Interpretationswechsel vorgenommen und innerhalb weniger Paragraphen derselben Schrift Diodor erst deterministisch, dann aber indeterministisch interpretiert haben. Viel wahrscheinlicher ist es daher anzunehmen, daß Cicero die diodoreische Modaltheorie grundsätzlich indeterministisch interpretiert hat. Diese Annahme scheint durch die bereits erwähnte Stelle in dem Brief an Varro281 bestärkt zu werden. Zweifellos handelt es sich hier im ganzen um _____________ 281 Vgl. fam. IX, 4(6) (SVF II, 284; FDS 990; M 133), siehe o. S. 75 Anm. 234.
VII.7. §§ 17–20: Wahrheit und Falschheit zukunftsbezogener Aussagen (I)
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eine humorvolle Äußerung Ciceros, aber die kurze Anspielung auf die Modaltheorie Diodors entspricht seiner Darstellung hier in De fato, so daß anzunehmen ist, daß sein expliziter Anschluß an Diodors Lehre wohl kaum im deterministischen, sondern nur im indeterministischen Sinne verstanden werden kann. Die deterministische Darstellung Diodors in den Paragraphen 11–14 mag daher gar kein Referat aus Ciceros Sicht sein, sondern vielmehr ein Referat der Meinung Chrysipps über Diodor. Offenkundig lehnt Chrysipp ja die Modaltheorie Diodors gerade deshalb ab, weil er sie für zu deterministisch hält. Indem Cicero also Diodor als Deterministen darstellt, wird er gewissermaßen Chrysipps Zustimmung erhalten. Nun ist der Boden bereitet, um Chrysipp einen Widerspruch in der Weise vorzuhalten, daß er mit der Akzeptanz der Mantik und ihrer percepta in den gleichen Determinismus gerate wie Diodor, was er aber gerade vermeiden will. Man könnte also sagen, daß Cicero mit dem Ausruf vigila Chrysippe (§ 12) diesen nicht vor einem Gegner warnen will, den er, Cicero, für einen Deterministen hält, sondern vor einem Gegner, von dem Chrysipp seinerseits glaubt, er sei ein Determinist.282 Es scheint aber so, daß Chrysipp mit seiner Einschätzung Diodor näher ist als Cicero mit der seinigen. Mit der schwachen und indeterministischen Interpretation jedenfalls macht Cicero an dieser Stelle Diodor geradezu zu einem Verbündeten im Kampf gegen den stoischen Fatalismus. Ob sich Diodor tatsächlich so verstanden wissen wollte, ist jedoch sehr fraglich.283 f. Ciceros Resümee In den Paragraphen 17–20 ist Ciceros Anliegen, gegen die starke Wahrheitsauffassung der Stoiker und Epikureer eine schwache Wahrheitsauffassung zu etablieren, der zufolge eine wahre zukunftsbezogene Aussage nicht deshalb wahr ist, weil bereits in der Gegenwart Ursachen vorliegen, die das zukünftige Eintreten des in der Aussage beschriebenen Ereignisses notwendig machen, sondern weil das in der Aussage beschriebene Ereignis in dem sich tatsächlich realisierenden Weltverlauf eintreten wird. _____________ 282 Für diesen Gedanken sei Prof. Dr. H. Weidemann gedankt. 283 Leibniz äußerte bereits die Vermutung, daß sich Cicero der Konsequenzen aus der Lehre Diodors nicht ausreichend bewußt gewesen sei, als er dessen Meinung bevorzugt habe (Theodizee, § 170: „Il paraît assez que Cicéron écrivant à Varron ce qu’on vient de copier (lib. 9, ep. 4, ad familiar.) ne comprenait pas assez la conséquence de l’opinion de Diodore, puisqu’ il la trouvait préférable“ (Gottfried Wilhelm Leibniz. Philosophische Schriften II.1., S. 502. Herausgegeben und übersetzt von H. Herring. Darmstadt 1985)). Vgl. Platz (1973), 35; Weidemann (1993), 328f.
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VII. Kommentar zu De fato
Dieser schwache Wahrheitsbegriff bietet Cicero die Möglichkeit, das Bivalenzprinzip und die Unveränderlichkeit eines Wahrheitswertes zu akzeptieren, ohne zugleich den Determinismus in Kauf nehmen zu müssen. Daher betont er in seinem Resümee nachdrücklich: Die Logik als solche kann der Freiheit nicht gefährlich werden, denn diejenigen, die eine (im schwachen Sinne) ewige und unveränderliche Wahrheit oder Falschheit zukunftsbezogener Aussagen annehmen, bestärken nicht die Fatumsnotwendigkeit, sondern erklären nur die Bedeutung von Wörtern (nec ii, qui dicunt inmutabilia esse, quae futura sint, nec posse verum futurum convertere in falsum, fati necessitatem confirmant, sed verborum vim interpretantur). Nur diejenigen, die die Wahrheit zukunftsbezogener Aussagen an eine ewige Ursachenverkettung binden (diejenigen also, die eine starke Wahrheitsauffassung vertreten), berauben die Menschen durch die Fatumsnotwendigkeit ihrer Freiheit (at qui introducunt causarum seriem sempiternam, ii mentem hominis voluntate libera spoliatam necessitate fati devinciunt). Dieser Vorwurf ist selbstverständlich gegen die Stoiker gerichtet. Auf welche Weise sie aus logischen Überlegungen eine Bestätigung des Fatums ableiten wollen, wird Cicero ausführlich in den Paragraphen 20–21 darstellen.
8. §§ 20–21: Das Verhältnis von Bivalenzprinzip und Fatum Cicero bleibt beim Thema der Logik. In den vorangehenden Paragraphen 17–20 ist Ciceros Anliegen herauszuarbeiten, daß auf der Basis der von ihm vertretenen schwachen Wahrheitsauffassung kein Determinismus resultiert, wenn das Bivalenzprinzip uneingeschränkt anerkannt wird. Im Gegensatz zu Cicero vertreten Chrysipp und Epikur aber eine starke Wahrheitsauffassung, auf deren Basis die Wahrheit von Aussagen an das Vorliegen von Ursachen geknüpft ist (siehe II.2.). Cicero legt in dem vorliegenden Abschnitt dar, welche (deterministischen) Konsequenzen sich für Chrysipp und Epikur aus dem starken Wahrheitsbegriff und der gleichzeitigen Akzeptanz des Bivalenzprinzips ergeben. Chrysipp leitet aus der uneingeschränkten Gültigkeit des Bivalenzprinzips die Existenz des Fatums ab. Seine Argumentation läßt sich wie folgt rekonstruieren:284 _____________ 284 Es wird folgende Notation verwendet: u Alles, was geschieht, hat eine Ursache; b jede Aussage ist wahr oder falsch (Bivalenzprinzip); v Alles geschieht durch vorausgehende Ursachen; f Alles geschieht durch das Fatum. In Anlehnung an Duhot (1989), 196f. sieht Sharples (1991), 174 in diesem Argument weniger ein wörtliches Referat des chrysippeischen Standpunktes als vielmehr eine neuakademische Darstellung, die um der Kritik willen gegen die Stoiker vorgebracht worden sei. Zur Rekonstruktion siehe auch Janssen (1992), 147 und Bobzien (1998a), 61, die das Argument wie folgt darstellt:
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VII.8. §§ 20–21: Das Verhältnis von Bivalenzprinzip und Fatum
Argument I 1. Prämisse: Wenn es eine Bewegung ohne Ursache gibt (= wenn nicht alles, was geschieht, eine Ursache hat), dann wird nicht jede Aussage entweder wahr oder falsch sein (si est motus sine causa, non omnis enuntiatio … aut vera aut falsa erit), was nämlich keine bewirkende Ursache hat, wird weder wahr noch falsch sein (causas enim efficientis quod non habebit, id nec verum nec falsum erit).
~u o ~b
2. Prämisse: Jede Aussage ist aber wahr oder falsch. (omnis autem enuntiatio aut vera aut falsa est) Konklusion mit Modus tollens: Es gibt also keine Bewegung ohne Ursache (d. h., alles, was geschieht, hat eine Ursache). (motus ergo sine causa nullus est) Wenn das stimmt (u), geschieht alles durch vorausgehende Ursachen. (quod si ita est, omnia, quae fiunt, causis fiunt antegressis) Wenn dies so ist (v), geschieht alles durch das Fatum. (id si ita est, fato omnia fiunt)
b
u
uov vof
Daraus ergibt sich über die Transitivität der Implikation: Wenn das stimmt (u), geschieht alles durch das Fatum.
uof
Mit der vorangegangenen Konklusion u (Alles, was geschieht, hat eine Ursache)
u
ergibt sich die Konklusion mit Modus ponens: Alles geschieht durch das Fatum.
f
_____________ (P1) If P, not Q (P2) Q --------------------------(C1/P3) not P (P4) If not P, R (P5) If R, S --------------------------(C2) S
P: There is a motion without a cause. Q: Every proposition is either true or false. R: Everything that happens, happens by way of (preceeding) causes. S: Everything (that happens) happens by fate.
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VII. Kommentar zu De fato
Wenn die Implikation ~u o ~b (I.1.) kontraponiert wird, erhält man b o u. Mit der Implikation u o f ergibt sich über die Transitivität der Implikation sehr anschaulich die für die Stoa zentrale Aussage b o f: Wenn das Bivalenzprinzip gilt, dann geschieht alles durch das Fatum. Es sei noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die Gültigkeit der Prämisse ~u o ~b nur auf der Grundlage des starken Wahrheitsbegriffs gegeben ist (siehe II.2.), ebenso wie die Gültigkeit der ersten Prämisse b o f, von der Epikur in seiner Argumentation ausgeht (s. u.). Der zweite Teilsatz ‚was nämlich keine bewirkende Ursache hat, wird weder wahr noch falsch sein‘ in der Prämisse I.1. stellt lediglich eine Erklärung zu dem Konditionalsatz dar und liefert für die logische Rekonstruktion des Arguments nichts Neues. Für Epikur resultiert ebenfalls aus der Gültigkeit des Bivalenzprinzips die Konsequenz, daß alles durch das Fatum geschieht (enim Epicurus veretur, ne, si hoc [i. e. omne ɒǘʇǣǖNj aut verum esse aut falsum] concesserit, concedendum sit fato fieri, quaecumque fiant): Wenn jede Aussage ( p) oder ihr kontradiktorisches Gegenteil (~p) von Ewigkeit her wahr ist, dann ist es auf der Basis des starken Wahrheitsbegriffs sicher und somit auch notwendig, daß p oder daß ~p der Fall sein wird, so daß die Notwendigkeit und die Existenz des Fatums bestätigt werden (si enim alterum utrum ex aeternitate verum sit, esse id etiam certum et, si certum, etiam necessarium; ita et necessitatem et fatum confirmari putat). Gerade diese Konsequenz aber fürchtet Epikur und stellt daher die Gültigkeit des Bivalenzprinzips in Frage. Cicero hat Epikurs Argument nicht explizit referiert, aber es läßt sich aus dem Kontext erschließen: 1. Prämisse: Wenn jede Aussage wahr oder falsch ist, dann geschieht alles durch das Fatum.
bof
2. Prämisse: Es geschieht aber nicht alles durch das Fatum (denn das fürchtet Epikur ja gerade). Konklusion mit Modus tollens: Nicht jede Aussage ist wahr oder falsch.
~f ~b
Inwiefern die Epikureer glauben, daß nicht jede Aussage wahr oder falsch ist, wird Cicero in den Paragraphen 37–38 behandeln (siehe VII.15.). Betrachtet man den nun folgenden Satz Chrysippus metuit, ne, si non obtinuerit omne, quod enuntietur, aut verum esse aut falsum, non teneat omnia fato fieri et ex causis aeternis rerum futurarum, mit dem Cicero ein zweites Mal die Argumentation Chrysipps referiert, genauer, dann gelangt man zu der
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VII.8. §§ 20–21: Das Verhältnis von Bivalenzprinzip und Fatum
Feststellung, daß diese Argumentation mit der ersten nicht identisch ist. Der zweite Argumentationsgang kann wie folgt dargestellt werden: Argument II 1. Prämisse: Wenn das Bivalenzprinzip nicht allgemeingültig ist, dann hat das Fatum keinen Bestand. (si non obtinuerit omne, quod enuntietur, aut verum esse aut falsum, non teneat omnia fato fieri et ex causis aeternis rerum futurarum)
~b o ~f
2. Prämisse: Das Fatum existiert aber. (Konklusion aus Argument I) Konklusion mit Modus tollens: Das Bivalenzprinzip ist gültig.
f
b
Das Verhältnis der beiden Darstellungen zueinander läßt sich gut erkennen, wenn die Prämisse I.1. ~u o ~b und die Implikation u o f in Argument I zusammengefaßt werden: Aus u o f, kontraponiert ~f o ~u, und ~u o ~b ergibt sich über die Transitivität der Implikation die zusammengefaßte Prämisse ~f o ~b: Wenn das Fatum nicht existiert, dann ist das Bivalenzprinzip auch nicht allgemeingültig. Mit dieser zusammengefaßten Prämisse kann die Argumentation I in verkürzter Weise dargestellt werden: 1. Prämisse: Wenn das Fatum keinen Bestand hat, dann ist das Bivalenzprinzip nicht allgemeingültig.
~f o ~b
2. Prämisse: Jede Aussage ist aber wahr oder falsch (d. h., das Bivalenzprinzip ist gültig). Konklusion mit Modus tollens: Alles geschieht durch das Fatum.
b f
Der Unterschied zwischen den beiden Darstellungen Ciceros ist nun deutlich zu erkennen: Chrysipp schließt in der Argumentation I durch b auf f und in der Argumentation II umgekehrt durch f auf b. Durch diese beiden
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VII. Kommentar zu De fato
Beweisrichtungen wird die Äquivalenz zwischen Fatum und Bivalenzprinzip deutlich: ((~b o ~f ) & (~f o ~b)) (~f l ~b) ( f l b). Die beiden Argumente Chrysipps, die Cicero hier darstellt, verhalten sich also wie die zwei Seiten einer Medaille: Fatum und Bivalenzprinzip bedingen sich gegenseitig. Es wird deutlich, daß Chrysipp nicht nur nolens volens das Fatum in Kauf nimmt, um das Bivalenzprinzip aufrechtzuerhalten, sondern er verteidigt mit dem Bivalenzprinzip gerade das Fatum – ebenso wie er mit dem Fatum das Bivalenzprinzip verteidigt. Cicero stellt anschaulich gegenüber, wie für Chrysipp und Epikur aus der von beiden gleichermaßen vertretenen Auffassung, daß dann, wenn jede Aussage wahr oder falsch ist, alles durch das Fatum geschieht (b o f ), völlig verschiedene Konsequenzen resultieren. Weil Epikur das Fatum nicht akzeptieren will, verwirft er die Gültigkeit des Bivalenzprinzips, während Chrysipp fürchtet, daß er mit der Preisgabe des Bivalenzprinzips auch das Fatum, an dem er unter allen Umständen festhalten will, preisgeben muß. Von diesen beiden Lehrmeinungen, betont Cicero, sei die Epikurs immer noch annehmbarer als die Chrysipps – über das Bivalenzprinzip könne man wenigstens noch diskutieren, aber die Existenz des Fatums anzunehmen sei schlichtweg nicht zu ertragen.285 Zweifellos darf in diesem Satz keine ernsthafte Sympathiebekundung für Epikur gesehen werden. An der vorliegenden Stelle wählt Cicero getreu dem Motto ex malis eligere minima 286 von zwei Übeln lediglich das aus seiner Sicht kleinere.
9. §§ 22–23: Epikurs Theorie der Bahnabweichung Bereits an früherer Stelle (§ 18) hat Cicero Epikurs Theorie der Bahnabweichung angesprochen und die aus seiner Sicht haltlosen Konsequenzen dieser Theorie angeführt. In den Paragraphen 22–23 geht er nun näher auf die Bahnabweichungen ein, die Epikur (siehe V.3.) aus Furcht vor der necessitas fati eingeführt haben soll. Die Atomisten vertreten eine prinzipiell materialistische Weltauffassung. Für sie stellen die Atome als die kleinsten unteilbaren Teilchen die _____________ 285 Sharples (1991), 174 weist darauf hin, daß sich Epikur gegen die Akzeptanz des Fatums in ähnlicher Weise geäußert habe. Es sei besser, dem Götterglauben zu folgen, als durch das Fatum der Naturphilosophen versklavt zu sein. Im ersten Fall bestehe immerhin noch Hoffnung für die Menschen, im zweiten Fall überhaupt keine mehr (DL X, 134 (LS 20A)). Augustinus seinerseits hielt es für besser, das stoische Fatum in Kauf zu nehmen, als Gottes praescientia in Frage zu stellen (civ. V, 9: multo sunt autem tolerabiliores, qui vel siderea fata constituunt, quam iste, qui tollit praescientiam futurorum). Vgl. Henry (1927), 40. 286 Cicero, off. III, 3.
VII.9. §§ 22–23: Epikurs Theorie der Bahnabweichung
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ontologische Grundlage des Kosmos dar. Atome sind unsichtbar und haben außer Größe, Gestalt und Schwere keine weiteren Eigenschaften.287 In ihrer Bewegung sind sie ganz den mechanischen Gesetzen der Naturkausalität unterworfen. Durch den Zusammenschluß der Atome entstehen alle Körper auf der makroskopischen Ebene. Da der Atomismus keine immaterielle Existenz kennt, wird auch die Seele feinstofflich verstanden. Sie besteht aus den ‚glattesten und rundesten‘ Atomen. Die Seele selbst ist kein abgesonderter Teil des Körpers, sondern verteilt sich über den ganzen Körper, d. h., daß die Seelenatome den übrigen Körperatomen beigemischt sind. Der im eigentlichen Sinne rationale Seelenteil sitzt unter der Brust.288 Nach atomistischer Vorstellung stellt ein Willensakt eine Bewegung der Seele (motus animi) dar, genauer gesagt eine Bewegung der Atome, aus denen die Seele besteht. Da nun auch die Seelenatome wie die übrigen Atome der Naturkausalität unterliegen, besteht in der deterministischen Welterklärung des Atomismus kein Platz für einen von der Naturkausalität unabhängigen und freien Willensakt. Auf der Basis dieser atomistischen Lehre soll Demokrit einen strengen Determinismus vertreten haben.289 Er kannte als einzige Ursache für die Bewegung der Atome nur den Stoß (ǚǕǑǍɰ, plaga), der entsteht, wenn die Atome aufeinanderprallen. Epikur, der den stoischen Fatalismus entschie_____________ 287 Vgl. DL X, 44, 54. 288 Vgl. Lukrez III, 94–287 (teilw. LS 14B, D); DL X, 63, 66. Weitere Zeugnisse finden sich in LS 14A–H. Vgl. Long (1974), 51f.; LS I, 70f.; Sedley (1988), 318, 325f.; Annas (1991), 91– 95; (1992a), 137–151; Müller (1991), 33–42; Sharples (1996), 59–64; Everson (1999), 543– 546. Einen Überblick über die „materialist theory of the psyche“ gibt Furley (1989), 152– 158. Zur Funktion der Seele und zu dem interpretatorischen Problem, ob sie aus Teilen besteht oder eine Mischung aus verschiedenen Konstituenten darstellt, siehe Kerferd (1971) und Annas (1992a), 144–147. 289 Vgl. § 39. Inwieweit Demokrit (470/460–380/370; zur Vita siehe ausführlich Jürß (1988), 20–49) sich des Problems der menschlichen Freiheit bewußt war und wie sich der von ihm vertretene Atomismus überhaupt mit moralischer Verantwortlichkeit vereinbaren läßt, wird kontrovers beurteilt. Huby (1967), 361 hält Demokrit für einen „thorough-going determinist“, worüber er aber, anders als Epikur, nicht beunruhigt gewesen sei und worüber er nicht nachgedacht habe. Dagegen glauben Gilbert (1911), 476 und Greene (1936), 127, daß Demokrit dem Menschen volle Willensfreiheit zugesprochen habe. Furley (1967), 175 zweifelt, ob Demokrit wirklich ein „‚fatalist‘ in any recognizable sense“ gewesen sei, da seine ethische Lehre unvereinbar mit einem Fatalismus erscheine. Edmunds (1972), 357 betrachtet die Freiheit bei Demokrit als ein subjektives Phänomen, das aus der Unkenntnis der mit Notwendigkeit wirkenden Naturgesetze resultiere. Nach Voros (1974), 219 hat Demokrit dem Menschen die Fähigkeit zugesprochen, „innerhalb der Grenzen der Naturnotwendigkeit eine teilweise Freiheit zu erlangen“. Diese Haltung könne aus heutiger Sicht als „gemäßigter Determinismus“ beschrieben werden. Demokrit sei, so Müller (1991), 36f., 98f. davon ausgegangen, daß der Mensch durch (Selbst-)Erziehung seine Seelenstuktur umformen und seine Persönlichkeit prägen könne, so daß er für sein Handeln verantwortlich sei. Demokrit habe aber nicht gezeigt, wie dies geschehen könne. Russell (2000), 232 Anm. 12 bezweifelt, daß Demokrit sich selbst als einen ‚psychological determinist‘ betrachtet hat.
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VII. Kommentar zu De fato
den ablehnte, modifizierte später die Lehre Demokrits,290 indem er – wahrscheinlich bedingt durch die Kritik des Aristoteles291 – noch zwei weitere Bewegungsprinzipien hinzufügte, nämlich die ‚Schwere‘ ( pondus, gravitas), im Sinne der Schwerkraft, und die Bahnabweichung (ǚNjǛɨǍǔǕǓǝǓǜ, declinatio, clinamen).292 Die Atome bewegen sich ewig und unaufhörlich im leeren Raum. Durch ihre Schwere fallen sie in senkrechten Bahnen gleich schnell nach unten, ohne daß sie sich dabei berühren könnten.293 Nun nimmt Epikur an, daß sich die Flugbahn der Atome um die kleinst mögliche Einheit einer Strecke (ɫǕɏǡǓǝǞǙǗ, minumum)294 verschieben kann, so daß einige Atome ihre ursprünglich vorgesehene Bahn verlassen und mit anderen Atomen kollidieren können. Für die Existenz der Bahnabweichung werden zwei verschiedene Argumente angeführt.295 I. Das Argument der Kosmogonie296 1. Prämisse: Wenn die Atome nicht abweichen, dann gibt es keine kosmogonische Kollision der Atome und so auch keine zusammengesetzten Körper.
~a o ~k
2. Prämisse: Nun gibt es aber offensichtlich zusammengesetzte Körper. Konklusion mit Modus tollens: Also weichen die Atome ab.297 _____________
k a
290 Siehe hierzu Cicero, fin. I, 17–21. 291 Vgl. Fowler (1983), 345; Asmis (1984), 278; (1990), 277; Englert (1987), 20f., 41; Annas (1992a), 123f. Anm. 1; Hossenfelder (1995), 141; (2006), 134; O’Keefe (1996), 306, 313– 315; (2005), 118–120. Furley (1967) sieht zwischen der Lehre Aristoteles’ und der Lehre Epikurs ‚auffallende Ähnlichkeiten‘, (S. 166). Allgemein zur Kritik des Aristoteles am Materialismus bzw. Atomismus siehe Furley (1989), 177–200 und O’Keefe (2005), 116–118. 292 Vgl. § 48; Lukrez II, 284–293 (LS 20F). 293 Vgl. § 22 (siehe u. S. 187 Anm. 346); Cicero, fin. I, 18f.; Lukrez II, 216–250 (LS 11H); DL X, 43 (LS 11A), 61f. (LS 11E). Weitere Zeugnisse in LS 11A–H. Siehe auch Konstan (1971). 294 Siehe S. u. 175 mit Anm. 299. 295 Es wird folgende Notation verwendet: a „Atome weichen ab“; k „Es gibt zusammengesetzte Körper“; w „Es gibt Willensfreiheit“. Hossenfelder (1995), 141 (vgl. (2006), 132) nimmt an, daß beide Argumente kaum der Anstoß „zu einem so entscheidenden Eingriff“ gewesen sein könnten, „der zu einem offenen Widerspruch führt, und zwar in den Grundfesten des Systems, so daß der ganze Bau gefährdet ist“. Bicknell (1990) glaubt, daß diese Argumente erst später Epikur zugesprochen worden seien (siehe u. S. 183 Anm. 328). 296 Vgl. Lukrez II, 216–250 (LS 11H). 297 Vgl. O’Keefe (1996), 307f. mit Anm. 8; (2005), 110–122; Purinton (1999), 259–264.
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VII.9. §§ 22–23: Epikurs Theorie der Bahnabweichung
II. Das Argument der Willensfreiheit298 1. Prämisse: Wenn die Atome nicht abweichen, dann gibt es keine Willensfreiheit.
~a o ~w
2. Prämisse: Nun gibt es aber offensichtlich Willensfreiheit. Konklusion mit Modus tollens: Also weichen die Atome ab.
w a
Die Bahnabweichung besitzt die folgenden Eigenschaften: Ein Atom weicht nur um ein Minimum von seiner Bahn ab,299 so daß Bahnabweichungen weder wahrgenommen werden können noch den geordneten Weltlauf stören300. Daher steht die Annahme einer Bahnabweichung auch nicht im Widerspruch zu der in der Welt zu beobachtenden Harmonie. Ein Atom wechselt vermutlich nicht in einer (b) (a) schiefen Bewegung (a), sondern in einer rechtwinkligen Bewegung (b) seine Flugbahn.301 Die Bahnabweichungen treten zu unbestimmter Zeit an einem unbestimmten Ort auf302 und sind als akausale Phänomene zu verstehen.303 _____________ 298 Vgl. Lukrez II, 251–293 (LS 20F). Vgl. Purinton (1999), 265–275; O’Keefe (2005), 26–37. Beide Argumente sind ausführlich kommentiert in Fowler (2002), 309–366. 299 Vgl. Cicero, nat. I, 69: declinare paululum; fat. 22: minimo (id appellat ɫǕɏǡǓǝǞǙǗ), 46: minimo declinent intervallo; Lukrez I, 615 (LS 9C): nisi erit minimum; II, 219 (LS 11H): depellere paulum; II, 244 (LS 11H): nec plus quam minimum; II, 292 (LS 20F): id facit exiguum clinamen; Philodemos, De signis XXXVI.12–13 (LS 18G): Ǟɐǜ ɫǚ’ ɫǕɏǡǓǝǞǙǗ ǚNjǛǏǍǔǕʇǝǏǓǜ ǞʸǗ ɒǞʗǖǣǗ. Vgl. Sedley (1983a), 41; (1999), 374–379; Englert (1987), 16f.; Jürß (1988), 73f.; Erler (1994), 141f.; Hossenfelder (1995), 137; (2006), 133. Zum minimum aus mathematischer Sicht siehe insbesondere Vlastos (1965). 300 Vgl. Lukrez II, 246–250 (LS 11H). 301 Nach Lukrez II, 244–245 (LS 11H): ne fingere motus obliquos videamur. Diese Interpretation geht auf E. Asmis, The Epicurean theory of free will and its origins in Aristotle. New Haven 1970. S. 4–22 (nach Asmis (1990), 279 mit Anm. 13) zurück und wird seitdem allgemein vertreten. Vgl. z. B. Asmis (1984), 280; (1990), 278f.; Pope (1986), 84–87 („switch of track and not a change of direction“ (S. 87)); Englert (1987), 17–26; Fowler (2002), 304f.; weitere Verweise finden sich in Purinton (1999), 260 Anm. 11. Siehe auch die ausführliche Auseinandersetzung in Bicknell (1990), 252–263. Purinton (1999), 260 spricht sich allerdings gegen die „side-step“-Annahme aus. Zum einen sei die entsprechende Stelle bei Lukrez (II, 244–245) falsch interpretiert worden, zum anderen spreche Cicero in fin. I, 20 (quae recte, quae oblique ferantur) auch von einer schiefen Bewegung.
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VII. Kommentar zu De fato
In diesen beiden Argumenten finden zwei zentrale Aspekte der Lehre Epikurs ihren Ausdruck. Durch das Argument der Kosmogonie wird der atomistische Aspekt und durch das Argument der Willensfreiheit der libertarische Aspekt repräsentiert.304 Daraus ergibt sich nun die Frage, wie eine Kompatibilität zwischen diesen beiden Aspekten konsistent begründet werden kann. Denn vom atomistischen Standpunkt aus wird jedes Phänomen von der atomaren Ebene aus, also „bottom-up“, verursacht, so daß auch die feinstoffliche Seele mit ihren Bewegungen dem atomaren Wirken unterliegt und die Handlungen letztlich durch die Naturkausalität determiniert sind. Vom libertarischen Standpunkt aus hingegen dürfen die Willensakte gerade nicht vollständig durch das mechanische Wirken der Atome bedingt sein; vielmehr müßte man, damit innerhalb des Atomismus überhaupt von einem motus animi voluntarius oder von einer libera voluntas gesprochen werden kann, annehmen, daß die Willensakte in irgendeiner Weise auf die atomare Struktur oder auf die Atombewegungen entscheidend einwirken können. Das heißt, man müßte eine umgekehrte Verursachungsrichtung, also eine Art „top-down“-Verursachung annehmen, die aber mit einer atomistischen Welterklärung grundsätzlich nicht vereinbar ist.305 _____________ 302 Vgl. Lukrez II, 218–219 (LS 11H): incerto tempore ferme incertisque locis, 259–260 (LS 20F): nec tempore certo nec regione loci certa, 293 (LS 20F): nec regione loci certa nec tempore certo. Siehe hierzu Bobzien (2000), 309f. 303 Cicero weist in De fato mehrfach auf diesen Umstand hin (§ 18: ut sine causa fiat aliquid; § 22: quam declinationem sine causa fieri si minus verbis, re cogitur confiteri; ex quo efficitur, etiamsi sit atomus eaque declinet, declinare sine causa; § 47: ita cum attulisset nullam causam, quae istam declinationem efficeret; vgl. fin. I, 19: ait enim declinare atomum sine causa). Vgl. Plutarch, Stoic. repug. 23, 1045b–c (SVF II, 973); Plotin, Enn. III, 1.1 (3.3). Sedley (1983a), 42f. zufolge (vgl. LS I, 111) kann jedes Atom zu jedem Zeitpunkt auf mehreren möglichen Bahnen seinen Weg fortsetzen. Welche dieser möglichen Bahnen das Atom letztlich nehme, sei im Normalfall rein vom Zufall abhängig. Auf die Seelenatome allerdings könne ein Willensakt als eine nichtphysische Ursache wirken und so eine Bahnabweichung hervorrufen. Der Willensakt, der eine Bahnabweichung verursache, hebe aber nicht die physikalischen Gesetze auf, sondern lenke das betreffende Atom nur auf die Bahnen, die durch die physikalischen Gesetze ermöglicht würden. Durch mehrmalige Bahnabweichungen könne sich ein Atom letztlich sehr weit von seiner ursprünglichen Bahn entfernt bewegen. 304 Daher bezeichnet Purinton (1999), 253f. diese Position als ‚libertarischen Atomismus‘. Bobzien (2000), insbesondere 289–293 sieht bei Epikur zwar eine indeterministische, aber keine libertarische Haltung vorherrschen. O’Keefe (2005), insbesondere 21–25, 34f., 46f. argumentiert gegen eine libertarische Interpretation der epikureischen Lehre. Epikur habe vielmehr die Rationalität verteidigen wollen, damit der Mensch seinen Charakter ausbilden und seine Handlungen kontrollieren könne. Mit seiner Lehre habe Epikur nachfolgende Philosophen beeinflußt und zu einer späteren Ausarbeitung der libertarischen Freiheitskonzeption durch Karneades beigetragen (S. 153–159). 305 Eine übersichtliche Darstellung des Problems gibt Purinton (1999), 253f., der sich hinsichtlich einer Kompatibilität skeptisch zeigt. Weitere, teilweise differierende Darstellungen fin-
VII.9. §§ 22–23: Epikurs Theorie der Bahnabweichung
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Nun findet sich in den erhaltenen Schriften Epikurs keine Erwähnung der Bahnabweichung. Die einzigen hellenistischen Zeugnisse stellen gerade Lukrez, Cicero und Philodemos mit ihren eher knappen Bemerkungen dar.306 Dort aber, wo die Bahnabweichung erwähnt wird, fehlt die Erklärung, welcher Zusammenhang tatsächlich zwischen ihr und der libera voluntas bestehen soll. Daher sind viele Interpretationsversuche über das Verhältnis von declinatio und libera voluntas unternommen worden307 – und jeder dieser Interpretationsversuche hat seine Kritiker gefunden. Die hauptsächlich auf Giussani und Bailey zurückgehende „orthodoxe“ oder „traditionelle“ Interpretation geht davon aus, daß jeder Willensbildung eine Bahnabweichung vorausgeht und sie (bottom-up) verursacht.308 Durch die akausale Bahnabweichung wird die kausale Verbindung zwischen dem rein mechanischen Wirken der Atome und der Willensbildung unterbrochen, so daß die aus der Willensbildung folgende Handlung nicht direkt auf die Naturkausalität zurückgeführt werden kann. Diese reduktionistische Interpretation hat zwar den Vorteil, daß sie im Einklang mit den atomistischen Prämissen Epikurs und mit der Darstellung bei Lukrez steht,309 bringt aber einen erheblichen Nachteil mit sich: Wenn in einem akausalen Phänomen eine hinreichende Bedingung für eine Willensbildung gesehen wird, dann führt dies zu der Konsequenz, daß die Willensbildung und somit das menschliche Handeln ebenso zufällig ist wie das Phänomen, das sie verursacht hat. Die Intentionalität des Handelns, der motus animi voluntarius, wäre auf dieser Basis aufgehoben, so daß bezweifelt werden muß, daß der Mensch durch eine so verursachte „willentliche Entscheidung“ für seine Taten noch zur Verantwortung gezogen werden könnte.310 _____________ 306
307 308
309 310
den sich z. B. in Mitsis (1988), 129–166; Sharples (1991/93); Bobzien (2000); Fowler (2002), 428–443; O’Keefe (2005), 10–25. Vgl. Lukrez II, 216–293 (LS 11H, 20F); Cicero fin. I, 19f., 28; nat. I, 69, 73; fat. 18, 22f., 46– 48; Philodemos, De signis XXXVI.11–17 (LS 18G); vgl. ferner Plutarch, Stoic. repug. 23, 1045b–c (SVF II, 973); soll. anim. 7, 964c; Diogenes von Oinoanda 32, 1.14–3.14 (LS 20G); Plotin, Enn. III, 1.1 (3.3). Einen Überblick über frühere Auseinandersetzungen gibt Pope (1986), 77–84. Vgl. Giussani (1896) I, 125–169; II, 193f.; Bailey (1928), 432–437; (1950) II, 838–842; III, 1287. Bailey (1928), 320 identifiziert die Bahnabweichung auch mit dem Willensakt (vgl. O’Keefe (2005), 42f.). Long (1974), 59–61 sieht in der Bahnabweichung zwar keine hinreichende Bedingung für einen Willensakt, „but what seems clear is its [the swerve’s] rôle as an initiator of new actions“ (S. 59). Der „traditionellen“ Interpretation haben sich grundsätzlich Asmis (1990) und Purinton (1999) (s. u.) angeschlossen. Vgl. Lukrez II, 251–293 (LS 20F). Vgl. Purinton (1999), 257, 274. Dieser Einwand ist schon früh gegen Epikur erhoben und immer wieder angeführt worden, vgl. z. B. Trendelenburg (1855), 161; Brieger (1884), 9; Duprat (1910), 506; Furley (1967), 163f.; Kleve (1980), 29; Sedley (1983a), 12; Englert (1987), 3; Mitsis (1988), 154f.; Gulley (1990), 47; Annas (1992b), 184f.; Janssen (1992), 143f.; Sharples (1996), 65f.; Russell
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VII. Kommentar zu De fato
Purinton schließt sich der traditionellen Interpretation an, indem er die These vertritt, daß Willensakte bottom-up von Atomen verursacht würden, wobei mindestens eine Bahnabweichung involviert sei. Für die Atombewegung gebe es neben den beiden Ursachen Stoß und Schwere noch eine dritte Ursache, für die Lukrez (II, 285) keinen eigenen Namen angebe. Purinton bezeichnet diese Ursache als ‚Abweichlichkeit‘ (S. 271: „swerviness“). Diese ‚seltsame Ursache‘ sei selbst nicht verursacht, verursache aber eine Bahnabweichung an einem unbestimmten Ort zu unbestimmter Zeit. Die konkrete Bahnabweichung und die konkrete Willensäußerung seien individuelle Verwirklichungen grundsätzlicher Fähigkeiten. Da Epikur zufolge nichts ohne Grund geschehe, müsse alles, was auf der makroskopischen Ebene existiere, von der atomaren Ebene aus verursacht werden (bottom-up-Verursachung). Daher verursache die permanente Fähigkeit der Atome, überhaupt abzuweichen, die permanente Fähigkeit des Menschen, überhaupt eigene Willenakte zu erzeugen. So könne mit der ‚Abweichlichkeit‘ als dritter Ursache die voluntas als eine ‚angeborene Fähigkeit‘ (innata potestas) erklärt werden. In diesem Sinne beabsichtige Epikur, den Atomismus mit seiner libertarischen Haltung zu verbinden.311 Furley, der Epikur sehr stark von Aristoteles beeinflußt sieht, ist der Auffassung, daß Bahnabweichungen nur selten und nicht in direktem Zusammenhang mit den Willensakten aufträten. Sie hätten ausschließlich die Funktion, die Menschen vor der völligen Determinierung durch die angeborenen Dispositionen zu bewahren, um so die Möglichkeit zu gewährleisten, einen individuellen Charakter auszubilden. Entscheidend sei, daß die Möglichkeit einer Diskontinuität in der Ursachenverkettung gegeben sei, so daß die Quelle der (freien) Handlung nicht auf etwas außerhalb des Menschen Liegendes zurückgeführt werden könne, wie z. B. auf einen äußeren Reiz. Um dies zu gewährleisten, seien nur wenige, aber mindestens eine Bahnabweichung notwendig.312 Furleys Interpretation zufolge treten die Bahnabweichungen nicht bei den „normalen“ Willensakten und Handlungsabläufen auf, so daß sie sich ohne indeterministisches Element vollziehen und somit als determiniert _____________ (2000), 236; Weidemann (2003a), 112. Hankinson (1998), 226 (vgl. (1999b), 522f.) sieht in der Akausalität einen noch größeren Feind für die Freiheit als den Determinismus, den Epikur bekämpfen wollte. Purinton (1999), 275f. mit Anm. 32 glaubt, daß ein derartiger Einwand gegen Epikur nicht gültig sei. Zur kritischen Auseinandersetzug mit der orthodoxen Interpretation siehe ferner O’Keefe (2005), 42–46. 311 Vgl. Purinton (1999), 259, 271–275. 312 Vgl. Furley (1967), 227–237, dem sich Rist (1972), 94 und Müller (1991), 107–109 anschließen. Stokes (1969), 287 erscheint Furleys Argumentation plausibel, übt aber an Details Kritik. Mansfeld (1969), 103 sieht die Interpretation Baileys und Giussanis überzeugend widerlegt, beurteilt aber Furleys Annahme kritisch, daß Bahnabweichungen nicht für einzelne Handlungen, sondern mehr für die Charakterbildung von Relevanz seien.
VII.9. §§ 22–23: Epikurs Theorie der Bahnabweichung
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zu betrachten sind. Gerade diese Determinierung aber wollte Epikur mit der Einführung der Bahnabweichung allem Anschein nach vermeiden. Furleys Interpretation scheint daher der indeterministischen Position Epikurs nicht in genügendem Maße Rechnung zu tragen.313 Fowler erklärt die Bedeutung einer Bahnabweichung wie folgt: Die simulacra (‚Bilder‘) strömten zwar die ganze Zeit auf den menschlichen Geist ein, aber sie würden erst ‚gesehen‘, wenn der Mensch sich bewußt auf sie konzentriere (ɫǚǓnjǙǕɱ Ǟʅǜ ǎǓNjǗǙʇNjǜ). Worauf man sich konzentriere, hänge von der voluntas ab, die von einer vorausgehenden Bahnabweichung verursacht werde. Wenn dann eine Vorstellung (ǠNjǗǞNjǝʇNj) erzeugt worden sei, folge die Handlung automatisch.314 Es ist jedoch fraglich, ob die Überlegung, daß die akausale Bahnabweichung vor der voluntas stattfindet, eine Handlung aber unmittelbar aus einer Vorstellung folgt, den libertarischen Gedanken Epikurs ausreichend berücksichtigt. Es wird auch die Ansicht vertreten, daß die voluntas nicht von Bahnabweichungen erzeugt werde, sondern daß die auftretenden Bahnbweichungen von der voluntas ausgenutzt („exploitation theory“) oder verursacht („causation theory“) würden. So glaubt Kleve, daß die Wirkung der Bahnabweichung für die unstete und undisziplinierte Seele verheerend sei. Für die gefestigte Seele aber stelle die Bahnabweichung eine Kraft dar, die ausgenutzt werden könne, wobei der Wille es verstehe, genau die richtigen Bahnabweichungen für sich zu verwenden.315 Saunders zufolge sichern die Bahnabweichungen in bestimmten Fällen die Freiheit der menschlichen voluntas, indem sie es ermöglichen, eine neue Kraft ‚aus dem Hut zu ziehen‘, um den Willen nachdrücklich zu unterstützen, wenn in einer bestimmten Situation eine besondere Anstrengung vonnöten sei. Die sich vollziehende Bahnabweichung sei das Gegenstück zur und die essentielle Ergänzung der voluntas, die ein ‚emergentes Vermögen‘ in der Phase der Entscheidung sei.316 Die voluntas trete erst in Erscheinung, nimmt Englert an, nachdem sich der Geist auf ein simulacrum konzentriert habe. Sei der Vorgang des Wollens, d. h. die Fokussierung auf ein Ziel beendet, müsse eine Bahnabweichung abgewartet werden, mit deren Hilfe die gewünschte körperliche Bewegung initiiert werde. Man müsse aber nicht lange warten, da es zahl_____________ 313 Zur Kritik an Furley siehe z. B. Long (1974), 59–61; Mitsis (1988), 158f.; Asmis (1990), 283; Purinton (1999), 275–281; Russell (2000), 238. Kleve (1980), 28 geht aufgrund der Äußerung etiam atque etiam (II, 243) von Lukrez davon aus, daß die Bahnabweichungen sehr häufig aufträten und sieht daher Furleys Annahme, daß sie nur sehr selten vorkämen, im Widerspruch zu Lukrez’ Darstellung. 314 Vgl. Fowler (1983), 341, 351; (2002), 329f. Zur Kritik siehe z. B. Purinton (1999), 283f. 315 Vgl. Kleve (1980), 29. 316 Vgl. Saunders (1984), 44, 53.
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VII. Kommentar zu De fato
reiche Bahnabweichungen gebe. In dieser Weise sei eine Bahnabweichung als principium motus zu verstehen.317 Bei diesen Interpretationen folgen die Bahnabweichungen der Willensbildung und werden so von der voluntas ausgenutzt („exploitation theory“). Dieser Verlauf widerspricht allem Anschein nach der Darstellung bei Lukrez. Wenn die Bahnabweichungen erst nach der Willensbildung auftreten, muß ferner angenommen werden, daß sie von der atomaren Ebene aus (bottom-up) verursacht werden und dadurch determiniert sind. Genau diese Konsequenz wollte Epikur offenbar vermeiden. Da die Bahnabweichung als das indeterministische Moment erst nach der Willensbildung, aber vor der Ausführung der eigentlichen Handlung stattfindet, stellt sich die Frage, wie das gewollte Ziel in die entsprechende zielgerichtete Handlung umgesetzt werden kann, wenn zwar nicht die Willensbildung, aber doch die folgenden Handlungen durch eine zufällige Bahnabweichung initiiert werden. Entweder ist die Handlung selbst auch zufällig, dann ist sie zwar indeterminiert, aber nicht dem Wollen gemäß zielgerichtet, oder aber die Handlung entspricht dem Gewollten, dann ist die Handlung zwar indeterminiert und zielgerichtet, aber es bleibt unklar, wie eine zielgerichtete Handlung aus einer zufälligen Bahnabweichung hervorgehen kann. Schließlich ist es auch problematisch zu erklären, wie eine Willensäußerung zu einer Handlung führen kann, wenn gerade im entscheidenden Moment keine benötigte Bahnabweichung auftritt. Sedley spricht sich nachdrücklich gegen die Annahme aus, Epikur vertrete einen atomistischen Reduktionismus, und betont mit seiner Interpretation stark den libertarischen Gedanken Epikurs. Sedley interpretiert Willensakte als mentale Ereignisse, die in einer entsprechenden emergenten Fähigkeit der feinstofflichen Seele begründet liegen. Diese mentalen Ereignisse sind von den zugrunde liegenden atomaren Zuständen zu unterscheiden und werden nicht durch die Gesetze der Physik bestimmt. Es besteht ein „interaktionistische[r] Dualismus des Geistigen und des Physischen“318, so daß die Willensäußerungen als quasi nichtphysische Ursachen in der Lage sind, eine Wirkung auf die Atome auszuüben und diese zur Bahnabweichung zu bringen (top-down-Verursachung). Die Bahnabweichungen werden somit von der voluntas selbst verursacht („causation theory“).319 Die Annahme einer solchen top-down-Verursachung leitet _____________ 317 Vgl. Englert (1987), 65f., 69, 120–129. Zur Kritik siehe z. B. Purinton (1999), 281–283. 318 Hülser (2000), 129. 319 Vgl. Sedley (1983a), 38–49; (1988), 316–324; LS I, 107–112, dem sich Weidemann (2003a), 111–115 anschließt. DeWitt (1964), 169f. vertritt die Auffassung, daß eine Bahnabweichung in den meisten Fällen eine aktive Ursache darstelle. Dies verhalte sich bei den Willensakten jedoch auf andere Weise. Willensakte würden die Bahnabweichungen selbst verursachen, wodurch der freie Wille ermöglicht werde. Strozier (1985), 124 resümiert:
VII.9. §§ 22–23: Epikurs Theorie der Bahnabweichung
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Sedley besonders aus seiner Rekonstruktion und Interpretation der Fragmente von Epikurs Schrift ‚Über die Natur‘ (ƻǏǛʈ ǠʡǝǏǣǜ)320 ab.321 Diese Interpretation wird zwar der libertarischen Vorstellung Epikurs, daß die voluntas den Beginn einer neuen Kausalreihe initiieren kann,322 völlig gerecht, führt aber auch zu Problemen. Im Atomismus liegt der Primat grundsätzlich bei den Atomen. Von der atomaren Ebene aus findet eine bottom-up-Verursachung zur makroskopischen Ebene hin statt, so daß eine top-down-Verursachung grundsätzlich den Prämissen des Atomismus widerspricht. Sedley hält es allerdings für falsch, Epikur den strengen Atomismus seines Lehrers Demokrit zuzuschreiben. Diese falsche Assimilation der demokritischen und epikureischen Metaphysik habe dazu geführt, daß auch in Epikurs Lehre den Atomen der ontologische und der aitiologische Primat zugesprochen wurden.323 Auch bei Sedleys Interpretation liegt die Bahnabweichung hinter der voluntas und nicht – wie Lukrez darstellt – vor dieser. Wenn nun genau die Handlung ausgeführt wird, die auch gewollt wurde, dann muß die voluntas die Bahnabweichungen entsprechend (top-down) verursachen. Allerdings ist ja gerade die Forderung des Gegenteils für Epikur entscheidend, nämlich daß die Bahnabweichungen als unverursachte Phänomene gedacht sein sollen. Sedley entgegnet dieser Überlegung mit der Annahme, daß Epikur mit der geforderten Akausalität nur ein Zurückführen der Willensakte auf physische, nicht aber auch auf psychische Ursachen vermeiden wollte.324 Dieser Gedanke erinnert an den Vorschlag, den Karneades den Epikureern unterbreitet (§§ 23–25): Sie sollten doch die libera voluntas einfach dadurch begründen, daß sie ‚ohne Ursache‘ nur als ‚ohne äußere und vorausgehende Ursache‘, aber nicht als ‚ohne Ursache überhaupt‘ verstehen. Allerdings wirft Ciceros Darstellung die Frage auf, ob Epikur die Annahme einer inneren, nicht vorausgehenden Ursache in der von Karneades verstandenen Weise wirklich selbst vertreten hat, wenn sein philo_____________
320 321
322 323 324
„The burden in the whole of this unnumbered book of the On Nature is: ultimately, a nonmaterial principle of causation exists. Epikur, De natura XXV, 34.21–22 (LS 20B), 26–30 (LS 20C). Sedleys Rekonstruktion und Interpretation dieser Fragmente ist nicht unumstritten. Siehe hierzu Englert (1987), 4, 67f., 143f.; Mitsis (1988), 156f. Anm. 68, 160 Anm. 73; Sharples (1991/93), insbesondere 183–188; (1996), 65f.; Annas (1992a), 125–134; (1993); Hankinson (1998), 227–232; Purinton (1999), 285–294; Fowler (2002), 434; O’Keefe (2002), insbesondere 183; (2005), 101, 105–107. Everson (2003), 218 Anm. 8 sieht keinen Anhaltspunkt für Sedleys Interpretation. Wenn diese aber doch Epikurs Meinung richtig wiedergäbe, dann machten sich die Gegner einer „ignoratio elenchi“ schuldig. Vgl. Lukrez II, 261–262, 270–271 (LS 20F); vgl. II, 281–282 (LS 20F). Vgl. Sedley (1983a), 34f.; (1988), 303f. Mitsis (1988), 162 Anm. 79 hält Sedleys Argumentation, welche die antireduktionistische Haltung Epikurs deutlich mache, für überzeugend. Vgl. Sedley (1983a), 42f. Siehe auch o. S. 176 Anm. 303.
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VII. Kommentar zu De fato
sophischer Gegner ihm den Ratschlag gibt, er solle sich doch ebendiese Annahme zu eigen machen.325 Mitsis sieht die Aufgabe der Bahnabweichungen darin, einen strikten Determinismus auf der mikroskopischen Ebene zu vermeiden, wobei aber Rationalität und Intentionalität auf der makroskopischen Ebene gewährleistet sein müssen. Daher könnten Bahnabweichungen bei der Charakterbildung oder bei den Willensakten keine direkte Rolle spielen, da sich durch akausale Vorgänge weder Intentionalität noch Verantwortlichkeit begründen lasse. Die libera voluntas sei zwar als emergente Fähigkeit der Seelenatome zu verstehen, woraus aber nicht die Möglichkeit einer topdown-Verursachung im Sinne Sedleys abzuleiten sei. Zudem könne die Annahme, daß die Bahnabweichungen in irgendeiner Weise verursacht seien, kein Argument gegen die Deterministen darstellen, die eine solche Vorstellung leicht in ihre eigene Theorie einbinden könnten. Das Problem der Bahnabweichungen bestehe letztlich darin, daß sie nicht zu erklären vermögen, wie intentionales Handeln von der atomaren Ebene aus entstehen könne. Dieser Umstand resultiere aber nicht aus den Bahnabweichungen als solche, sondern aus Epikurs grundsätzlichem Problem, ‚Leben aus der Materie hervorzuzaubern‘.326 Sharples spricht sich sowohl gegen die ‚Ausnutzungstheorie‘ als auch gegen die ‚Verursachungstheorie‘ aus, nimmt aber eine Korrelation zwischen Bahnabweichungen auf der atomaren Ebene und Willensakten auf der psychischen Ebene an. Bahnabweichungen seien nicht für den Vollzug des Willens, sondern für dessen Formierung entscheidend und könnten mehr oder weniger eng mit dem korrelieren, was auf der psychischen Ebene als freie Willensäußerung erscheine – aber eine Willensäußerung verursache keine Bahnabweichung. Genau dann, wenn eine Willensäußerung frei vollzogen werde, ergebe sich auf beiden Ebenen gleichzeitig ein Bruch im normalen, determinierten Ablauf, wobei aber der Bruch in den psychischen Abläufen nur deshalb möglich sei, weil die Abläufe auf der atomaren Ebene nicht völlig determiniert seien. Sharples bekennt selbst, daß man mit dieser Beschreibung einer Antwort auf die Frage, wie die Zufälligkeit auf der einen Ebene die Grundlage für die freie Willensäußerung auf der anderen Ebene sein könne, nicht wesentlich näher gekommen sei; allerdings versuche er auch gar nicht zu behaupten, daß Bahnabweichungen die Willensäußerungen erklären. Bahnabweichungen geschähen akausal, aber Entscheidungen würden von Menschen getroffen. Dieser entscheidende Unterschied sei der Ausdruck eines antireduktionistischen Standpunktes. Die Bahnabweichung sei eine notwendige Bedin_____________ 325 Zu der Frage, ob Epikur überhaupt den Ratschlag hätte annehmen können, siehe VII.10. 326 Vgl. Mitsis (1988), 153–166.
VII.9. §§ 22–23: Epikurs Theorie der Bahnabweichung
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gung für freie Willensakte, aber weder verursache eine Bahnabweichung einen Willensakt, noch könne man mit ihrer Hilfe einen Willensakt vollständig erklären. Vielleicht, so Sharples abschließend, müsse man einfach eine Korrelation zwischen den beiden Phänomenen akzeptieren, ohne daß Epikur selbst eine Erklärung hätte abgeben können.327 Schließlich wird auch die Auffassung vertreten, daß Bahnabweichungen lediglich eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die freie Willensbildung darstellen, so daß sie nicht direkt mit dem Wirken der libera voluntas in Verbindung zu bringen seien. Die Aufgabe der Bahnabweichung liege hauptsächlich darin, den kausalen Determinismus zu durchbrechen und so ein indeterministisches Moment zu gewährleisten.328 In Ermangelung ausreichender Quellen scheint es aus unserer heutigen Sicht schwierig zu sein, die Verbindung zwischen declinatio und libera voluntas oder die Kompatibilität zwischen dem atomistischen und dem _____________ 327 Vgl. Sharples (1991/93), 187f. 328 Vgl. Farrington (1967), 113; Conway (1981), 87; Gulley (1990), 50f. („this places its role in the formation, not in the execution, of the will“); Bobzien (2000), insbesondere 330–337; Russell (2000) („its role is dialectical and purely negative“ (S. 227)); Everson (2003), 205f. Pope (1986) urteilt: „Swerves are the pluralist counterpart to Aristotle’s unmoved mover, a cosmological principle and not the cause of particular happenings“ (S. 77), „In short, the Epicurean swerve is a kind of identical twin to the Aristotelian prime mover“ (S. 89). Die Quellenlage, so Annas (1991), 96f.; (1992b), 186f., dränge zu der Annahme, daß die Bahnabweichungen mit der Formierung, nicht mit der Ausführung des Willens verbunden seien. Nicht jeder freien Handlung gehe aber eine passende Bahnabweichung voraus, zumal vereinzelte zufällige Bahnabweichungen keine verläßlichen freien Handlungen hervorbringen könnten. Dies sei nur möglich, wenn Bahnabweichungen sehr häufig vorkämen und einen beständigen physikalischen Zustand schafften. Weil sie ihre Wirkung nur in der feinstofflichen (rationalen) Seele hervorbrächten, sei es dem Menschen möglich, frei zu handeln. Der Mechanismus dieses Vorganges bleibe aber unklar. Strozier (1985), 124 geht davon aus, daß Epikur angesichts seiner Argumentation in De natura nicht auf die Forderung nach einer Bahnabweichung angewiesen sei. Die Bahnabweichung, urteilt O’Keefe (2002), 184 Anm. 67; (2005), 123, 149–153, spiele keine besondere Rolle bei der Entstehung der libera voluntas. Epikur habe sich durch falsche, wenn auch durch nachvollziehbare, philosophische Überlegungen veranlaßt gesehen (vgl. S. 144–149), sie einzuführen, um der Notwendigkeit, wie sie z. B. aus dem Meisterargument oder aus dem Untätigkeitsargument abgeleitet werde, zu entkommen. Hankinson (1998), 231 vertritt die Auffassung, daß die Bahnabweichung nur dazu diene, dem logischen Determinismus zu entgehen. Zwar besteht auf der Basis des von Epikur vertretenen starken Wahrheitsbegriffs eine Korrelation zwischen logischem und kausalem Determinismus, aber um explizit dem logischen Determinismus zu entkommen, schränkt Epikur das Bivalenzprinzip ein (§§ 37–38). Die Aufgabe der declinatio atomorum liegt darin, dem kausalen Determinismus zu begegnen. Bicknell (1990), 265f., 271, 275 geht davon aus, daß eine Verbindung zwischen Bahnabweichung und Willen nicht von Epikur selbst, sondern erst von späteren Epikureern hergestellt worden sei. Lukrez und Cicero hätten dann später eine solche Verbindung auch Epikur selbst zugesprochen. Ebenso bezweifeln Brieger (1884), 8 und Duhot (1989), 197f., daß die Theorie der Bahnabweichung auf Epikur selbst zurückgehe. Duhot hält daher Ciceros Darstellung für ‚anachronistisch‘, was aus dem Rückgriff auf Karneades resultiere.
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libertarischen Aspekt innerhalb der Lehre Epikurs ohne Probleme zu erklären. Allem Anschein nach aber ist sich Epikur sehr wohl der Unzulänglichkeit einer Handlungstheorie bewußt gewesen, in der die declinatio atomorum eine hinreichende Bedingung für die libera voluntas darstellen würde. In systematischer Hinsicht unterscheidet er in seinem Brief an Menoikeus deutlich zwischen drei verschiedenen Prinzipien, auf die ein Ereignis zurückgeführt werden kann: Neben der Notwendigkeit (ǔNjǞ’ ɒǗɏǍǔǑǗ) und dem Zufall (ɒǚʘ ǞʡǡǑǜ) gibt es noch ein ‚von uns Abhängiges‘ (ǚNjǛ’ ɲǖɦǜ).329 Diese drei Prinzipien können in der Darstellung des Lukrez wiedergefunden werden. Die gewöhnliche Bewegung der Atome geschieht mit Notwendigkeit, die Bahnabweichungen vollziehen sich durch Zufall und die libera voluntas findet in dem ‚von uns Abhängigen‘ ihren Ausdruck. Moralische Verantwortlichkeit, so macht Epikur weiterhin deutlich, kann nur bei Handlungen bestehen, die aus ebendiesem ‚von uns Abhängigen‘ entspringen, nicht aber aus der Notwendigkeit oder der Zufälligkeit resultieren. Ferner ist den nicht leicht verständlichen Fragmenten von ƻǏǛʈ ǠʡǝǏǣǜ,330 in denen Epikur sich eingehend mit der psychologischen Entwicklung und der moralischen Verantwortlichkeit des Menschen auseinandergesetzt zu haben scheint, zu entnehmen, daß das menschliche Verhalten nicht vollständig von dem atomaren Anfangszustand (ɲ ɫǘ ɒǛǡʅǜ ǠʡǝǓǜ; ɲ ɫǘ ɒǛǡʅǜ ǝʡǝǞNjǝǓǜ) abhängig ist. Für manche Verhaltensweisen sei nicht die ‚Natur der Atome‘ (ɲ ǞʸǗ ɒǞʗǖǣǗ ǠʡǝǓǜ) verantwortlich, sondern eine ‚Entwicklung‘ oder ein ‚Erzeugnis‘ (ɒǚǙǍǏǍǏǗǗǑǖɨǗǙǗ), d. h. eine individuelle seelische Disposition, die eine gewisse Differenz zu den zugrunde liegenden Atomen aufweise. Aufgrund dessen könne dem Menschen auch die moralische Verantwortung für seine Handlungen zugeschrieben werden.331 Die Darstellung bei Lukrez schreibt Epikur allem Anschein nach eine libertarische Haltung zu. Die freie Willensbildung ist eine angeborene Fähigkeit,332 aufgrund deren die Menschen sich dorthin bewegen können, wohin sie wollen.333 So ermög_____________ 329 Vgl. DL X, 133f. (LS 20A). 330 Epikur, De natura XXV, 34.21–22 (LS 20B), 26–30 (LS 20C). 331 Zu den verschiedenen Interpretationen von ƻǏǛʈ ǠʡǝǏǣǜ XXV siehe Englert (1987), 136– 146; Sedley (1983a), insbesondere 36–40; (1988), 318–324; Strozier (1985), 120–124; Annas (1991), 86–91; (1992a), 125–134; (1993); Müller (1991), 98–109; Everson (1999), 553–557; (2003), 204–206; Purinton (1999), 290–294; Bobzien (2000), 298–306, 317f., 323–327; Russell (2000), 233f.; O’Keefe (2002); (2005), 65–109, der urteilt, daß Epikurs Äußerungen sowohl mit einem Reduktionismus als auch mit einem (kausalen) Determinismus kompatibel seien (insbesondere (2002), 183f.; (2005), 89–93, 106, 109). Siehe auch o. S. 181 Anm. 321. 332 Vgl. Lukrez II, 286 (LS 20F): haec est nobis innata potestas. 333 Vgl. Lukrez II, 257–260 (LS 20F): unde est haec, inquam, fatis avolsa voluntas,/per quam progredimur, quo ducit quemque voluptas,/declinamus item motus nec tempore certo/nec regione loci certa, sed ubi ipsa tulit mens.
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licht es die libera voluntas dem Menschen, den Anfang eines neuen Handlungsablaufes, d. h. einer neuen Kausalreihe, zu initiieren.334 All diese Aussagen lassen annehmen, daß Epikur eine starke Vorstellung von der Freiheit hat und die libera voluntas als eine Art von psychischer Autonomie versteht, die er weder auf akausale Atombewegungen noch auf die ursprüngliche atomare Disposition des Menschen reduziert wissen will. Selbst dann aber, wenn die Tätigkeit der libera voluntas nicht unmittelbar auf das Wirken der Atome zurückzuführen ist, kann sie doch nicht völlig von den atomaren Bewegungen losgelöst werden, denn eine als rein immaterielle Entität verstandene libera voluntas ist mit dem materialistischen Aspekt eines Atomismus nicht vereinbar. Die libera voluntas hat ihren Ursprung in der Seele, und da die Seele feinstofflich verstanden wird, muß Epikur die Möglichkeit eines indeterministischen Moments in Form einer Bahnabweichung einräumen, um überhaupt die Grundlage dafür zu schaffen, daß die willentlichen Seelenbewegungen ihre Wirkung entfalten können und nicht durch die Naturkausalität determiniert werden. Auf diese Weise erfüllen die Bahnabweichungen für die Entfaltung der libera voluntas die Funktion einer notwendigen, aber nicht hinreichenden Bedingung. Wenn die Bahnabweichung aber nur die Möglichkeit eines indeterministischen Moments einräumt, bleibt das Problem bestehen zu erklären, wie die als ein psychisches Phänomen verstandene libera voluntas kausal auf die atomaren Abläufe einzuwirken vermag.335 Wenn man Epikur eine Erklärung zuschreiben möchte, dann scheint man ihm aus der heutigen Perspektive unterstellen zu müssen, daß er entweder eine wie auch immer geartete Korrelation zwischen psychischen und physischen Akten vor Augen hatte oder daß er sich sogar veranlaßt sah, eine Art der top-down-Verursachung einzuräumen336. Dabei läßt der erste Erklärungsversuch jedoch die entscheidende Frage nach dem Verursachungsverhältnis letztlich unbeantwortet; der zweite Erklärungsversuch hingegen könnte zwar genau diese Frage beantworten, rekurriert dabei aber auf die Annahme einer top-down-Verursachung, die Epikur zuzuschreiben doch recht problematisch zu sein scheint. Es drängt sich daher die Frage auf, ob sich Epikur des Problems so, wie es aus der heutigen Perspektive betrachtet wird, überhaupt bewußt war. Offensichtlich hielt Epikur die Existenz der libera voluntas, ebenso wie _____________ 334 Vgl. Lukrez II, 261–262 (LS 20F): nam dubio procul his rebus sua cuique voluntas/principium dat; II, 269–271 (LS 20F): ut videas initum motus a corde creari/ex animique voluntate id procedere primum/inde dari porro per totum corpus et artus; vgl. II, 277–283 (LS 20F). 335 Zu diesem grundsätzlichen Problem siehe Kim (1993). 336 Purinton (1999), 288 spricht sich dezidiert gegen eine solche Folgerung aus. Kim (1993), 203–206 dagegen stellt heraus, daß der „non-reductive physicalism“ auf die Annahme einer top-down-Verursachung festgelegt sei.
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die Existenz der empirischen Körper, für evident,337 so daß er eine Beschneidung der Willensfreiheit durch das mechanische Wirken auf der atomaren Ebene für ausgeschlossen gehalten haben mag.338 Daher war ihm primär daran gelegen aufzuzeigen, daß das Wirken der libera voluntas möglich sein muß, weil ein atomarer Determinismus, wie er seinem Lehrer Demokrit zugeschrieben wird, durch die declinatio atomorum vermieden wird.339 Dies ist genau der Punkt, der in der oben dargestellten Argumentation bei Lukrez zum Ausdruck kommt: Die declinatio wird nicht eingeführt, um die libera voluntas zu rechtfertigen, sondern umgekehrt läßt die Existenz der libera voluntas auf die declinatio schließen. So mag Epikur gar keine Notwendigkeit gesehen haben, eine Erklärung dafür zu liefern, wie das Wirken der libera voluntas faktisch möglich ist; es reichte ihm zu zeigen, daß es möglich ist. Eine solche Möglichkeit mag er einfach aus der Tatsache abgeleitet haben, daß der Mensch Rationalität besitzt, wodurch er als ein intentional handelndes Wesen auch die Verantwortung für sein Handeln trägt.340 Vielleicht, so die Überlegung einiger Interpreten, verzichtete er auch ganz bewußt auf eine Erklärung oder sah sich schlichtweg außerstande, eine angemessene Erklärung zu liefern.341 Es ist eine Tatsache, daß keines der spärlichen Zeugnisse von einer Erklärung berichtet. Wenn es aber eine solche gegeben hat, dann scheint man sie für nicht sehr kritikwürdig oder für nicht sehr anstößig erachtet zu haben. Denn an den Stellen, an denen die Bahnabweichung erwähnt wird, wird sie entweder direkt als ein akausales Phänomen kritisiert oder als ein Phänomen, das nicht das, was Epikur ihm zuschreiben möchte, zu leisten vermag.342 Zweifellos wurde die Theorie der akausalen Bahnabweichung _____________ 337 Vgl. DL X, 39. Vgl. Hossenfelder (2006), 132. 338 Die rhetorischen Fragen und direkten Anreden in Lukrez II, 257 (LS 20F): unde est haec, inquam; II, 263 (LS 20F): nonne vides; II, 269 (LS 20F): ut videas; II, 277 (LS 20F): iamne vides igitur können als deutliches Indiz für diese Gewißheit gewertet werden. 339 Vgl. Russell (2000), 240–242 mit Bezug auf Annas (1992b), 186f. Diogenes von Oinoanda 32, 1.14–3.14 (LS 20G) betont, daß es keinen Grund für den atomaren Determinismus geben könne, da Epikur ja die Bahnabweichung entdeckt habe. Vgl. Conway (1981), 87. 340 Vgl. Annas (1993), 70f., der O’Keefe (2002), 183; (2005), 124 folgt. 341 Vgl. Huby (1967), 362 („How exactly he did this remains a mystery“) und Asmis (1990), 291 („How the swerving motion is transformed into will is a puzzle that Epicurus did not claim to be able to answer“). Annas (1992b), 188 hält es für möglich, daß Epikur selbst keine ausgearbeitete Theorie entwickelt hat, auf welche Weise die Bahnabweichungen freies Handeln unterstützen. Erst spätere Epikureer könnten versucht haben, diese Verbindung – vielleicht auch auf verschiedene Weise – zu erklären. Siehe auch Mitsis (1988), 165f.; Gulley (1990), 51; Englert (1987), 57; Sharples (1991/93), 188; (1996), 66; Hankinson (1999b), 524; Bobzien (2000), 336. 342 Siehe hierzu Ciceros Kritik in nat. I, 69 und in fin. I, 19f.: Bahnabweichungen sind willkürlich; mit ihnen wird der kosmogonische Effekt nicht erreicht; aus der Akausalität kann keine geordnete Welt entstehen. Vgl. Plotin, Enn. III, 1.1 (3.3).
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von den Zeitgenossen als „Skandalon“343 empfunden, stand sie doch nicht nur im Widerspruch zu den allgemeinen Kenntnissen der Mathematik und Physik in der hellenistischen Zeit, sondern offenbar auch im Widerspruch zu Epikurs eigenem Grundsatz, daß nichts ohne Grund geschieht.344 Nicht minder eindringlich polemisiert Cicero in De fato gegen die Lehre Epikurs.345 Wie sollte, fragt Cicero, eine Richtungsänderung durch einen Stoß zustande kommen, wenn die Atome geradlinig mit gleicher Geschwindigkeit nach unten fallen und sich so nicht einmal berühren könnten?346 Ein Stoß scheide also als Ursache aus, und da sich auch keine andere Ursache für eine Bahnabweichung entdecken lasse, folgert Cicero, könne eine solche nur ein akausales Phänomen darstellen. Dies habe Epikur zwar nicht explizit ausgeführt, aber der Sache nach müsse er es zugestehen.347 Außerdem sei unklar, warum gerade das eine Atom von seiner Bahn abweiche, während das andere seine geradlinige Bahn beibehalte (vgl. §§ 18, 46–48). Für Cicero, der das Kausalitätsprinzip uneingeschränkt verteidigt, ist die Akzeptanz eines akausalen Phänomens indiskutabel. Daher lehnt er auch Epikurs Versuch ab, auf der Basis der declinatio atomorum das Freiheitsproblem zu lösen. Cicero selbst schließt sich der Strategie des Karneades an, wie er in den Paragraphen 23–25 darlegen wird. _____________ 343 Hossenfelder (1995), 140; (2006), 131. 344 Vgl. Lukrez II, 287 (LS 20F); I, 159–173 (LS 4B), 265–266; DL X, 38 (LS 4A). Vgl. Jürß (1988), 78; Hossenfelder (1995), 140f.; (2006), 131; Hankinson (1999a), 502. 345 Vgl. §§ 46–48; fin. I, 19; nat. I, 70 (FDS 927). Sharples (1991), 194 betont, daß Cicero mit seiner Polemik geradezu ein ‚Advokat‘ gegen die Akausalität sei. Cicero sehe dabei aber nicht, daß Epikur dann, wenn er einen Grund für die Bahnabweichungen angäbe, das von ihm benötigte indeterministische Element nicht mehr zur Verfügung hätte. 346 Vgl. fin. I, 18f. Der Satz sequitur enim ut, si alia ab alia numquam depellatur, ne contingat quidem alia aliam (§ 22) bedeutet in seiner überlieferten Form: ‚Es folgt aber, daß ein Atom, wenn es von einem anderen niemals abgestoßen wird, ein anderes Atom nicht einmal berühren kann‘. In dieser Weise ergibt der Satz aber kaum einen Sinn, denn es ist offensichtlich, daß Bedingung und Konsequenz – quasi im Sinne eines „Hysteron Proteron“ – vertauscht sind. Erst muß die Berührung der Atome erfolgen, bevor sie sich abstoßen können. Der richtige Ablauf dieses Vorganges müßte also mit ‚wenn sie sich nicht einmal berühren, dann stoßen sich die Atome auch nicht ab‘ beschrieben werden. Aufgrund dieser Überlegung vermutet Madvig (vgl. LS II, 109) in seinem Kommentar zu fin. I, 19 (S. 43) zu Recht, daß das si bei der Abschrift an die falsche Stelle geraten sei und ursprünglich vor ne contingat quidem gestanden habe. Siehe hierzu auch Christ (1861), 574 und Yon (1950), 36–38. 347 Sedley (1983a), 42 mit Anm. 55, Englert (1986), 57 und Purinton (1999), 271 weisen darauf hin, daß den überlieferten Zeugnissen zufolge Epikur selbst nie von der declinatio als einem akausalen Phänomen gesprochen habe. Nur Cicero spreche Epikur explizit eine solche Aussage zu ( fin. I, 19: ait [Epicurus] enim declinare atomum sine causa). Sedley (1983a), 42 vermutet, daß die Bahnabweichung von den Gegnern akausal interpretiert worden sei, während Epikur selbst zwar keine physische, aber doch eine psychische Verursachung angenommen habe. Masson (1883), 128 hält Cicero vor, daß er die Lehre Epikurs „in a singularly careless and inexact way“ darstelle und ebenso spricht Brieger (1884), 9 Cicero jede „Autorität“ für die Darstellung der atomistischen Lehre ab.
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VII. Kommentar zu De fato
10. §§ 23–25: Karneades’ Ursachenunterscheidung und seine Kritik an Epikur Scharfsinniger als Epikur, fährt Cicero in seiner Untersuchung fort, habe Karneades das Freiheitsproblem behandelt, indem er lehre, daß die Epikureer ihr Anliegen auch ohne diese erdachte Bahnabweichung hätten verteidigen können, da sie ja ohnehin die Lehre von einer willentlichen Seelenbewegung (motus animi voluntarius) verträten – nur müsse diese Lehre auch richtig begründet werden. Die Epikureer könnten ruhig sagen, daß etwas ‚ohne Ursache‘ (sine causa) geschehe, denn das sei eine rein umgangssprachliche Formulierung. So wie man etwa sage, daß ein Gefäß leer sei, und damit im Grunde nur zum Ausdruck bringen wolle, daß es keinen Inhalt wie Wein oder Wasser habe, also ‚leer‘ (inane) nicht im physikalischen Sinne als Vakuum verstanden wissen möchte, so bedeute ‚ohne Ursache‘ nicht ‚ohne jegliche Ursache‘ (non sine aliqua causa), sondern nur ‚ohne äußere und vorausgehende Ursache‘ (sine antecedente et externa causa). So dürfe daraus, daß ein Willensakt keine äußere und vorausgehende Ursache habe, nicht geschlossen werden, daß ein Willensakt ‚ohne Ursache überhaupt‘ (omnino sine causa) entstehe. Vielmehr verhalte es sich so, daß die Ursache eines Willensaktes in dem eigentümlichen Wesen des Willens selbst begründet liege (eius rei enim causa ipsa natura est). Vor dem Hintergrund dieser Ursachenunterscheidung erteilt Karneades den Epikureern gewissermaßen den „Ratschlag“, daß sie lieber die allgemein als unsinnig empfundene akausale Bahnabweichung aufgeben und das Wirken der libera voluntas mit dem Verweis auf ihre besondere Natur begründen sollten. Die Aufnahme einer solchen Begründung in ihre Philosophie dürfe ihnen nicht schwerfallen, denn in vergleichbarer Weise gäben sie ja für die Fallbewegung der Atome den Grund an, daß diese durch ihr eigentümliches Gewicht von Natur aus nach unten fielen. Der Vergleich der Willensakte (d. h. der willentlichen Seelenbewegungen) mit den Atombewegungen ist von Cicero sehr geschickt gewählt, da er sich unmittelbar auf die epikureische Kosmologie bezieht. Cicero will offensichtlich folgendes zum Ausdruck bringen: Wie man bei der Fallbewegung des Atoms nicht von einem unverursachten Geschehen spricht, weil die eigentümliche Schwere des Atoms selbst die Ursache für das Fallen ist, so wird man auch bei den willentlichen Seelenbewegungen nicht von einem unverursachten Ereignis sprechen, weil die Ursache für diese Bewegung in der Natur des Willens selbst liegt. Der Umstand, daß Karneades den Epikureern einen Verbesserungsvorschlag unterbreitet, mag auf den ersten Blick verwundern und darf gewiß nicht so interpretiert werden, daß er die epikureische Position ernsthaft verteidigen will, vielmehr kritisiert er sowohl diese als auch die
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stoische Position.348 Aber trotz der allgemeinen Geringschätzung, die Cicero der epikureischen Philosophie entgegenbringt, steht er mit Karneades in der Frage der menschlichen Freiheit auf derselben Seite wie die Epikureer. Beide Parteien sind Indeterministen und verteidigen die Willensfreiheit (im libertarischen Sinne) gegen den stoischen Fatalismus. Vor diesem Hintergrund muß auch der von Karneades vorgetragene Verbesserungsvorschlag beurteilt werden. Da für Karneades – hierin stimmt er wiederum den Stoikern zu – ein echtes akausales Geschehen prinzipiell inakzeptabel ist, möchte er dieses akausale Element in der epikureischen Philosophie eliminiert wissen, da es doch einen zu leichten Angriffspunkt bietet, an dem die Stoiker die Strategie Epikurs angreifen und ihre eigene Position wiederum stärken könnten. Karneades ist für die Stoiker insofern ein wesentlich unangenehmerer Gegner als Epikur, als er, ebenso wie sie selbst, die uneingeschränkte Gültigkeit des Kausalitätsprinzips anerkennt. Aus dieser uneingeschränkten Gültigkeit leiten die Stoiker die Existenz des Fatums ab, das sich als ewige Ursachenverkettung manifestiert. Dadurch aber, daß Karneades die Auffassung vertritt, daß es neben den äußeren, vorausgehenden Ursachen mit dem Willensakt auch eine innere Ursache gibt, die nur dem Willen selbst entspringt und somit eine Kausalreihe neu beginnen kann, entzieht er den Stoikern gewissermaßen den Boden, um von der uneingeschränkten Gültigkeit des Kausalitätsprinzips auf eine ewige Ursachenverkettung und somit auf das Fatum zu schließen. Selbstverständlich können die Stoiker aus ihrer Perspektive nicht anerkennen, daß mit der Einführung einer inneren, nicht vorausgehenden Ursache, die aus sich selbst heraus, also gänzlich ohne äußere, vorausgehende Ursachen, einen Ereignisablauf neu bewirken kann, das Kausalitätsprinzip aufrechterhalten wird. Aus ihrer Sicht würde die Existenz einer derart beschaffenen Ursache nichts anderes als eine unverursachte Bewegung (ɒǗNjʇǞǓǙǜ ǔʇǗǑǝǓǜ) darstellen.349 Ein solches Geschehen wäre auf dem Boden der stoischen Philosophie seinem Wesen nach letztlich ein genauso akausales Phänomen wie die epikureische Bahnabweichung.350 _____________ 348 Vgl. Sharples (1991), 176; (1991/93), 180. 349 Vgl. AvA, fat. XX, 190.19–191.2; XXII, 192.8–25 (SVF II, 945; LS 55N). 350 Vgl. Meyer (1998), 239f.: „But surely, the Stoics can respond, Alexander and Carneades have not succeeded in defining a position that avoids both the determinism of the Stoic view and the uncaused motion of the Epicurean view. Their view, once it is made more precise, collapses into one or the other of these two positions. Both the Stoics and the Epicureans will want to ask Carneades (or Alexander) whether, given the mind’s own nature (or its two-sided capacity for deciding) together with the external circumstances in which it produces the voluntary action, it is determined that the mind will produce this voluntary action rather than another. If he answers yes, then the Epicureans will complain
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VII. Kommentar zu De fato
Nun stellt sich allerdings die Frage, in welchem Sinne die mit dem Verbesserungsvorschlag des Karneades verbundene Kritik an der epikureischen Strategie genau zu verstehen ist. Sie kann in einem schwächeren Sinne in der Weise verstanden werden, daß Karneades nur die Bahnabweichung als akausales Phänomen ablehnt, nicht aber die Forderung nach einer zumindest partiell indeterministischen Physik, oder in einem stärkeren Sinne in der Weise, daß Karneades sowohl die Bahnabweichung als ein akausales Phänomen als auch die Notwendigkeit einer zumindest partiell indeterministischen Physik ablehnt. Karneades geht offenbar davon aus, daß in der physisch-empirischen Welt die Naturkausalität uneingeschränkt wirkt,351 so daß auch die Charakterdisposition des Menschen durch eine Vielzahl von vorausgehenden Ursachen bestimmt ist. Dies hat er in den Paragraphen 7–9 explizit zugestanden. Daraus ergibt sich für ihn aber nicht die Konsequenz, daß auch die Willensakte in entscheidender Weise durch die äußeren, vorausgehenden Ursachen bedingt sind. Vielmehr betont Cicero nachdrücklich, daß sich der Wille über die Disposition des Charakters und so über die Naturkausalität hinwegsetzen kann (§§ 9–11), so daß er unabhängig von der physischen Notwendigkeit frei aus sich selbst heraus zu agieren vermag. Daher erweist sich in den Augen Karneades’ (und Ciceros) die Forderung nach einer zumindest partiell indeterministischen Physik als unnötig. Auch wenn es aus Ciceros Ausführungen nicht eindeutig hervorgeht, läßt doch die Art seiner Darstellung und der gesamte Duktus der karneadeischen Argumentation annehmen, daß die von Karneades vorgebrachte Kritik im starken Sinne zu verstehen ist.352 Es bleibt schließlich die Frage, ob Epikur den Vorschlag des Karneades in dieser Form überhaupt hätte annehmen können. Sedley geht davon aus, daß Karneades nur authentische Prämissen verwendet habe, damit Epikur seine Zustimmung ohne Bedenken hätte geben können. Nur auf diese Weise habe Karneades seiner Kritik auch entsprechendes Gewicht verleihen können. Daher werde aus seinem Vorschlag deutlich, daß Epikur auch ohne Bahnabweichung ausgekommen wäre und daß diese keine integrale Rolle für die Willensakte gespielt habe.353 Aufgrund dieser Annahme kommt Sedley auch zu dem Urteil, daß Epikur gut beraten gewe_____________ that he has reintroduced precisely the deterministic thesis whose avoidance motivates the introduction of the swerve. But if he answers no, then the Stoics and the other critics of the Epicureans will be able to complain that he has reintroduced motion without a cause, for he denies that the circumstances antecedent to the agent’s action are sufficient to determine the agent to perform this action rather than another“. 351 Vgl. Henry (1927), 34, 39; Weische (1968), 855; Dillon (1977), 88. 352 Vgl. Weidemann (2003a), 116. 353 Vgl. Siehe hierzu auch Bobzien (2000), 322.
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sen wäre, den neuakademischen Verbesserungsvorschlag anzunehmen und gänzlich auf die unbequeme Bahnabweichung zu verzichten.354 Selbst wenn Karneades und Epikur gleichermaßen die Willensfreiheit des Menschen gegen den stoischen Fatalismus verteidigen wollen, gibt es einen Unterschied zwischen beiden Positionen. Während Karneades den Willensakt als ein dem Willen selbst entspringendes Phänomen versteht, das nicht auf materielle Prozesse zurückgeführt werden kann (und auch nicht soll), betrachtet Epikur den Willensakt als eine Bewegung der feinstofflich gedachten Seele. Karneades hat bei seinem Verbesserungsvorschlag zwar insofern Recht, als Epikur grundsätzlich auch eine willentliche Seelenbewegung (motus animi voluntarius) annimmt; aber für diese willentliche Seelenbewegung benötigt Epikur auch ein indeterministisches Atomverhalten, damit der motus animi voluntarius auf atomarer Ebene überhaupt seine Wirkung entfalten kann. In dieser Überlegung ist offenbar die Motivation Epikurs zu finden, die von den anderen Schulen so verspottete, aber auf der Basis seiner philosophischen Prämissen unerläßliche Bahnabweichung einzuführen, um auf diese Weise eine indeterministische Physik gewährleisten zu können. Der Ratschlag des Karneades scheint also so verstanden werden zu müssen, daß Epikur die Willensakte nicht mit der physischen Naturkausalität in Verbindung bringen und sich besser auf die „echte“ libertarische Haltung festlegen solle, den Willen als eine besondere Form der Kausalität zu begreifen, der seine Akte selbst verursacht. Dieser Ratschlag aber ist aufgrund der völlig anderen kosmologischen Prämissen für jeden „anständigen Epikureer“ nur schwerlich annehmbar – andernfalls verließe er den Boden der epikureischen Philosophie.355 Die Paragraphen 23–25 stellen die entscheidende Strategie der Neuakademiker im Kampf gegen den Determinismus dar, der aus der uneingeschränkten Gültigkeit des Kausalitätsprinzips resultieren kann: Wenn alles eine vorausgehende Ursache hätte, dann müßten auch die Willensak_____________ 354 Vgl. Sedley (1983a), 50f. („Carneades’ advice is very much to the point“); LS II, 110. Sharples (1991/93), 179–181, 187 (siehe auch (1991), 176) glaubt, daß Sedley Ciceros Darstellung in dieser Hinsicht überinterpretiere. Karneades kritisiere Epikur vielmehr dafür, daß er einen freien Willen aufrechterhalten wolle, der inkompatibel mit dem kausalen Determinismus sei. Russell (2000), 234 Anm. 17 schließt sich Sharples’ Interpretation an. Everson (2003), 206 hält die Einführung der Bahnabweichung generell für wenig gelungen und urteilt daher: „It is hard here not to support Carneades’ judgement“. 355 Für Hamelin (1978), 30 hat sich Epikur an diesem Punkt philosophischer gezeigt als Karneades. Die Epikureer, so Sharples (1991/93), 179–181 (siehe auch (1991), 176, 194; (1996), 80), seien auf die Bahnabweichungen als indeterministisches Element in ihrer Theorie angewiesen und sollten sie dem Rat des Karneades Folge leisten, verlöre sich der Unterschied zu der neuakademischen Lehre. Vgl. ferner Mitsis (1988), 164–166; Purinton (1999), 298f.; Russell (2000), 234.
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te vorausgehende Ursachen haben, so daß die Gefahr bestünde, daß jeder Willensakt nichts weiter als ein Glied in einer sich mit Notwendigkeit vollziehenden, ewigen Ursachenverkettung wäre. Damit lägen die Willensakte aber nicht mehr in unserer Verfügungsgewalt. Auf der anderen Seite will Karneades aber auf keinen Fall das Kausalitätsprinzip preisgeben und dezidiert an dem Grundsatz festhalten, daß alles, was geschieht, eine Ursache hat. Karneades versucht nun, diesem Dilemma mit folgender Lösung zu entgehen: Zum einen gibt es äußere, vorausgehende Ursachen (antecedentes et externae causae), die in der physisch-empirischen Welt wirken. In dieser Sphäre besitzt die Naturkausalität uneingeschränkte Gültigkeit und jedes Geschehen hat eine vorausgehende Ursache. Zum anderen gibt es innere, nicht vorausgehende Ursachen. Eine solche Ursache ist seinem Wesen nach ein Willensakt. Unter Berufung auf die besondere Beschaffenheit des Willens vertreten die Neuakademiker die Auffassung, daß ein Willensakt nicht den vorausgehenden Ursachen der Naturkausalität unterworfen ist. Dieser Umstand bedeutet jedoch nicht, daß ein Willensakt unverursacht wäre, denn – und dies ist die entscheidende Aussage – die Ursache für einen Willensakt liegt in der Natur des Willens selbst begründet (motus enim voluntarius eam naturam in se ipse continet, ut sit in nostra potestate nobisque pareat, nec id sine causa; eius rei enim causa ipsa natura est). Mit dieser Ursachenunterscheidung kann Karneades nun aus seiner Sicht eine Kompatibilität zwischen Kausalitätsprinzip und Willensfreiheit begründen: Auch wenn nicht alles durch vorausgehende Ursachen bewirkt wird, so ist doch nichts unverursacht, und dadurch, daß Willensakte dem Willen selbst entspringen, stellen sie keine Glieder in einer sich mit Notwendigkeit vollziehenden Ursachenverkettung dar und können sich unabhängig von der Naturkausalität entfalten. Daher gehen die Handlungen des Menschen auf das Wirken der libera voluntas selbst zurück und liegen somit in seiner Verfügungsgewalt.
11. §§ 26–28: Wahrheit und Falschheit zukunftsbezogener Aussagen (II) Cicero wendet sich wieder dem Gebiet der Logik zu. Nachdem er den schwachen Wahrheitsbegriff (§§ 18–19), dem zufolge die Wahrheit zukunftsbezogener Aussagen nicht an das Vorliegen einer lückenlosen Ursachenverkettung gebunden ist, in die Diskussion eingebracht hat, fragt er, welchen Grund es noch dafür gebe, daß jede Aussage nur dann wahr oder falsch sei, wenn man zugestehe, daß sich jegliches Geschehen aufgrund des Fatums vollziehe (quod cum ita sit, quid est, cur non omnis pronuntiatio aut vera aut falsa sit, nisi concesserimus fato fieri, quaecumque fiant). Die Existenz des
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Fatums anzunehmen, läßt Cicero Chrysipp antworten,356 sei deshalb vonnöten, weil zukunftsbezogene Aussagen ohne bereits vorliegende Ursachen, die ihre Wahrheit garantieren, nicht wahr sein könnten (quia futura vera, inquit, non possunt esse ea, quae causas, cur futura sint, non habent; habeant igitur causas necesse est ea, quae vera sunt; ita, cum evenerint, fato evenerint). Cicero macht auch an dieser Stelle die Konsequenzen der starken Wahrheitsauffassung, die Chrysipp und Epikur vertreten, einmal mehr deutlich: Für die Wahrheit oder Falschheit zukunftsbezogener Aussagen müssen bereits in der Gegenwart Ursachen vorliegen, die das Eintreten oder das Ausbleiben des in der Aussage beschriebenen Ereignisses in der Zukunft notwendig machen (siehe II.2.). Auf der Basis dieser starken Wahrheitsauffassung, so legt Cicero in den Paragraphen 20–21 dar, leitet Chrysipp aus der uneingeschränkten Gültigkeit des Bivalenzprinzips die Existenz des Fatums ab; ebenso schließt er umgekehrt von der Existenz des Fatums auf die uneingeschränkte Gültigkeit des Bivalenzprinzips. Epikur dagegen beschneidet die Allgemeingültigkeit des Bivalenzprinzips und führt mit der Bahnabweichung ein akausales Geschehen ein, um die Existenz des Fatums nicht anerkennen zu müssen. Wenn es aber nur die Alternative gäbe, zwischen der Lehre Chrysipps oder der Lehre Epikurs zu wählen, betont Cicero scheinbar resignierend, wäre die ganze Untersuchung über das Fatum bereits an ihr Ende gelangt, denn aus seiner Sicht stellen die Anerkennung des Fatums als auch die Anerkennung eines akausalen Geschehens gleichermaßen unhaltbare Annahmen dar. Aber, fragt Cicero, kann denn etwa die Aussage ‚Scipio wird Numantia erobern‘ (capiet Numantiam Scipio) nur dann wahr sein, wenn von Ewigkeit her eine Ursache mit der anderen verknüpft ist, um dieses Ereignis zu bewirken? Cicero (bzw. Karneades) sieht noch eine andere Möglichkeit, die Bedingungen, unter denen eine zukunftsbezogene Aussage wahr ist, festzulegen. Wenn die Aussage ‚Scipio wird Numantia erobern‘ (capiet Numantiam Scipio), vor Hunderten von Jahren ausgesprochen, nicht wahr war, dann ist auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Aussage ‚Scipio hat Numantia erobert‘ (cepit Numantiam Scipio) nicht wahr. Andernfalls hätte sich der Wahrheitswert des Satzes ändern müssen, was aber nach Cicero nicht möglich ist, wie er in den Paragraphen 17–20 dargelegt hat (siehe VII.7.b.). Daher kann etwas nicht geschehen sein, wovon es nicht wahr gewesen ist [zu sagen], daß es geschehen wird ( potest igitur quicquam factum _____________ 356 Sedley (2005), 245f. glaubt, daß das inquit (§ 26) nicht auf Chrysipp, sondern auf Epikur bezogen werden müsse. Die Paragraphen 26–28 folgten direkt einer Kritik an den Epikureern und das Ende von § 28 stelle wiederum eine Kritik an den Epikureern dar (si hoc enuntiatum ‚veniet in Tusculanum Hortensius‘ vera non est, sequitur, ut falsa sit. quorum isti neutrum volunt; quod fieri non potest), so daß es keinen Hinweis dafür gebe, daß Cicero zwischen der Kritik an den Epikureern noch einmal auf die Stoiker eingegangen sei.
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esse, quod non verum fuerit futurum esse?). Die von Cicero in Form einer rhetorischen Frage formulierte Schlußfolgerung kann mit der Formel ~M( p & ~HFp) zum Ausdruck gebracht werden. Ihre Richtigkeit läßt sich gut erkennen, wenn man sich wieder vor Augen hält, daß Cicero eine schwache Wahrheitsauffassung vertritt (siehe V.1., VII.7.b., VII.7.d.). Cicero bringt die von ihm vertretene Wahrheitsauffassung auf den entscheidenden Punkt: ‚Denn wie wir vergangene Ereignisse als wahr bezeichnen, deren Gegenwärtigkeit in der vergangenen Zeit wahr gewesen ist, so werden wir auch zukünftige Ereignisse als wahr bezeichnen, deren Gegenwärtigkeit in der zukünftigen Zeit wahr sein wird‘ (nam ut praeterita ea vera dicimus, quorum superiore tempore vera fuerit instantia, sic futura, quorum consequenti tempore vera erit instantia, ea vera dicemus).357 Dementsprechend ist die Aussage ‚Scipio hat Numantia erobert‘ also wahr, wenn die Aussage ‚Scipio erobert Numantia‘ einmal wahr gewesen ist, d. h., wenn das entsprechende Ereignis tatsächlich eingetreten ist. Da es 133 v. Chr. wahr gewesen ist zu sagen ‚Scipio erobert Numantia‘, ist die Aussage ‚Scipio hat Numantia erobert‘ in der Gegenwart wahr. Wie in der Gegenwart über die Vergangenheit geurteilt werden kann, so kann auch in der Gegenwart über die Zukunft geurteilt werden. Vor einem beliebigen Zeitpunkt vor 133 v. Chr. war die Aussage ‚Scipio wird Numantia erobern‘ dann wahr, wenn die Aussage ‚Scipio erobert Numantia‘ wahr wird, d. h., wenn das entsprechende Ereignis tatsächlich eintreten wird. Da es 133 v. Chr. wahr gewesen ist zu sagen ‚Scipio erobert Numantia‘, ist die Aussage ‚Scipio wird Numantia erobern‘ bereits zu jedem Zeitpunkt vor 133 v. Chr. wahr gewesen. Wenn Cicero sagt, daß eine zukunftsbezogene Aussage unter der Bedingung wahr sei, daß die entsprechende gegenwartsbezogene Aussage wahr sein werde, dann besteht diese Bedingung in nichts anderem als darin, daß das Ereignis, von dem gesagt wird, daß es eintreten werde, in dem sich tatsächlich realisierenden Weltverlauf eintreten wird. Cicero beschreibt hier also nur mit etwas anderen Worten als in § 19 (siehe VII.7.d.), daß er die Wahrheit zukunftsbezogener Aussagen lediglich an eine schwache Bedingung knüpft. Aus der Wahrheit einer zukunftsbezogenen Aussage folgt somit eine faktische, aber keine deterministische _____________ 357 Unter instantia ist hier das ‚Gegenwärtige‘ im Sinne des tatsächlichen Eintretens des Ereignisses zu verstehen. Die Adjektive superius (‚früher‘, d. h. ‚in der vergangenen Zeit‘) und consequens (‚folgend‘, d. h. ‚in der zukünftigen Zeit‘) sind rein temporal zu fassen. Vgl. LS I, 464 und die Übersetzung in Weidemann (1997), 442: „Denn wie wir hinsichtlich der Vergangenheit das als wahr bezeichnen, wovon in der vorausgegangenen Zeit einmal wahr gewesen ist (zu sagen), es sei gegenwärtig, so werden wir hinsichtlich der Zukunft das als wahr bezeichnen müssen, wovon in der folgenden Zeit einmal wahr sein wird (zu sagen), es sei gegenwärtig“.
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Notwendigkeit. Auf der Basis dieser Wahrheitsauffassung ergibt sich daher aus der Gültigkeit des Bivalenzprinzips nicht gleichzeitig auch die Annahme ewiger und unveränderlicher Ursachen, die verhindern, daß etwas anders eintritt, als es eintreten wird (nec, si omne enuntiatum aut verum aut falsum est, sequitur ilico esse causas inmutabilis easque aeternas, quae prohibeant quicquam secus cadere atque casurum sit). Selbst wenn aber die Existenz solcher Ursachen, die in einer ewigen und unabänderlichen Ursachenverkettung eingebunden sind, keine Wahrheitsbedingung für zukunftsbezogene Aussagen darstellt, bedeutet dies Cicero zufolge nicht, daß es beispielsweise für die Wahrheit der zukunftsbezogenen Aussage ‚Cato wird in den Senat kommen‘ (veniet in senatum Cato) überhaupt keine Ursache gibt. Natürlich gibt es auch für die Wahrheit dieser Aussage Ursachen, aber ihre Wahrheit wird nur durch ‚zufällige Ursachen‘ ( fortuitae sunt causae) bewirkt. Die fortuitae causae entsprechen den causae fortuito antegressae in § 19 und sind ebensowenig mit einer akausalen Vorstellung in Verbindung zu bringen wie diese. Die fortuitae causae sind nach Ciceros Vorstellung insofern „zufällige“ Ursachen, als sie eben nicht in der Natur der Dinge und in der Weltordnung eingeschlossen sind (non inclusae in rerum natura atque mundo), also keine Glieder einer ewigen und unabänderlichen Ursachenverkettung darstellen. Daher ist für Catos Erscheinen im Senat keine weit in die Vergangenheit oder gar bis vor seine Geburt reichende Ursachenverkettung verantwortlich, so daß auch keine von jeher bestehende Notwendigkeit bewirkt, daß Cato an besagtem Tage in den Senat kommt.358 Auch wenn die Ursachen, die ein Ereignis bewirken, zufällige und keine ewig aneinandergereihten Ursachen darstellen, so ändert das nichts an der Tatsache, daß es genauso unabänderlich ist, daß ein Ereignis, dessen Eintreten wahrheitsgemäß vorhergesagt wird, eintreten wird, wie es jetzt unabänderlich ist, daß ein Ereignis in der Vergangenheit eingetreten ist (et tamen tam est inmutabile venturum, cum est verum, quam venisse). Das inmutabile venturum an dieser Stelle ist in dem gleichen Sinne indeterministisch zu verstehen wie das certe casurum in § 19 (siehe VII.7.d.), so daß es vor dem Hintergrund des schwachen Wahrheitsbegriffs auch keinen Grund gibt, weshalb wegen der Wahrheit oder Falschheit zukunftsbezogener Aussagen eine Fatumsnotwendigkeit befürchtet werden müßte (nec ob eam causam fatum aut necessitas extimescenda est). Die Paragraphen 23–28 stellen gewissermaßen den Kern in der Auseinandersetzung Ciceros mit dem Fatalismus dar. In Anlehnung an Karneades trägt er hier die entscheidenden Argumente vor. In den Paragraphen 23–25 verteidigt er die Willensfreiheit gegen den kausalen Determinismus, indem er darlegt, daß Willensakte ohne vorausgehende Ursachen _____________ 358 Zu den causae fortuitae siehe ausführlicher VII.7.c.
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dem Willen selbst entspringen, so daß es Ursachen gibt, die nicht Glieder einer ewigen, sich mit Notwendigkeit vollziehenden Ursachenverkettung sind. In den Paragraphen 26–28, die auf das engste mit den Paragraphen 17–20 korrespondieren, wird der logische Determinismus mit der für Cicero so wichtigen Etablierung des schwachen Wahrheitsbegriffs bekämpft. Die Vorteile dieses schwachen Wahrheitsbegriffs sind von Cicero klar herausgestellt worden: Das Bivalenzprinzip kann uneingeschränkt akzeptiert werden, ohne daß deshalb deterministische Konsequenzen befürchtet werden müßten. Da nun das Bivalenzprinzip gültig ist, besitzen alle Aussagen, also auch die zukunftsbezogenen Aussagen, immer einen Wahrheitswert. Wenn eine Aussage nicht wahr ist, dann ist sie falsch, und wenn sie nicht falsch ist, dann ist sie eben wahr. Es ist also nicht möglich anzunehmen, daß eine (zukunftsbezogene) Aussage überhaupt keinen Wahrheitswert besitzt, wie die Epikureer es behaupten (quorum isti neutrum volunt; quod fieri non potest). Doch die Fortführung dieses Themas wird unterbrochen und erst in den Paragraphen 37–38 zum Abschluß gebracht.
12. §§ 28–30: Das Untätigkeitsargument Cicero behandelt nun den Fatalismus im engeren Sinne (siehe IV.), indem er sich mit dem sogenannten ‚Untätigkeitsargument‘ (ɒǛǍʘǜ ǕʗǍǙǜ, ignava ratio)359 auseinandersetzt. Dieses Argument ist gegen die Stoiker gerichtet _____________ 359 Es finden sich zahlreiche weitere Übersetzungen: „Grundsatz der Untätigkeit“ (Werdermann (1793), 60), „fauler Beweis“ (Grimal (1988), 481; Kaiser (1989), 265; Bayer (2000), 45, 147), „fauler Schluß“ (von Meyer (1807), 239, 240 Anm. o (dort auch „Faulschluß“ oder „Faulheitsschluß“); Moser (1828b), 982, 1002; Seibt (1834), 264; Jacobs (1840), 344; Süss (1966), 340; Platz (1973), 57), „faule Rede“ (Hahmann (2005),78), „Faulheitsregel“ (Eckermann (1828), 110), „faule Ausrede“ (Barth-Goedeckemeyer (1946), 85), „träge machender Schluß“ (RAC (Bd. 7) Fatum, 541), „Argument für Nichtstun“, „Argument der Passivität“ (HistWb (Bd. 8) Schicksal, 1276) und „faule Vernunft“ (Platz (1973), 57). So schreibt Leibniz im Vorwort zur Theodizee: „Die Menschen sind beinahe zu allen Zeiten durch einen Trugschluß verwirrt worden, den die Alten die faule Vernunft nannten, weil er dazu führte, nichts zu tun oder wenigstens für nichts Sorge zu tragen und sich nur dem unmittelbaren Vergnügen hinzugeben. Denn, so sagte man, wenn das Zukünftige notwendig ist, so wird das, was geschehen muß, geschehen, was immer ich auch tun mag“ (Gottfried Wilhelm Leibniz. Philosophische Schriften II.1., S. 15. Herausgegeben und übersetzt von H. Herring. Darmstadt 1985). Kant beschreibt die „faule Vernunft“ wie folgt (KrV, A 689f./B 717f.): „Man kann jeden Grundsatz so nennen, welcher macht, daß man seine Naturuntersuchung, wo es auch sei, für schlechthin vollendet ansieht, und die Vernunft sich also zur Ruhe begibt, als ob sie ihr Geschäft völlig ausgerichtet habe“ (Immanuel Kant, Die drei Kritiken. Bd. 1: Kritik der reinen Vernunft. Hrsg.: R. Schmidt. Mit einer Bibliographie von H. Klemme. Hamburg 1993 (Philosophische Bibliothek 37a)). Es ist wichtig, bei den verschiedenen Übersetzungen „faul“ nicht in der Art zu verstehen, daß das Argument in irgendeiner Weise logisch fehlerhaft vorgetragen sein könnte.
VII.12. §§ 28–30: Das Untätigkeitsargument
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und soll zeigen, daß der von ihnen vertretene Fatalismus zu der absurden Konsequenz führt, daß jegliches Überlegen, Planen und Handeln, unnütz sei, so daß der Mensch zur Untätigkeit verdammt werde. Ein Vorläufer dieser Argumentation ist bereits bei Platon (Menon, 81d–e) zu finden.360 Das Argument ist vielleicht von den Logikern aus der megarischen Schule im Zusammenhang mit dem sogenannten ‚Argument des Erntenden‘ (ǒǏǛʇǐǣǗ ǕʗǍǙǜ)361 entwickelt worden, wobei der Name sogar auf die Stoiker selbst zurückgehen mag.362 Ciceros Referat hier in De fato scheint die früheste Erwähnung des Untätigkeitsarguments in dieser Form zu sein. Es ist in der Antike immer wieder in verschiedenen Variationen aufgenommen worden,363 wobei sich die ausführlichste Darstellung bei dem frühchristlichen Philosophen und Theologen Origenes (185–254) findet.364 Dieses fatalistische Argument ist bis in die Gegenwart hinein Gegenstand der philosophischen Auseinandersetzung geblieben.365 Zuweilen ist die Behandlung des Untätigkeitsarguments an dieser Stelle als ein Einschub von Cicero selbst empfunden worden,366 wobei nicht unmittelbar einsichtig ist, welche Bedeutung dem einleitenden impediet genau zukommt. Auch wenn Ciceros Aussage quorum isti neutrum volunt; quod fieri non potest in § 28 erwarten lassen mag, daß er sich weiter mit der Einschränkung des Bivalenzprinzips durch die Epikureer auseinandersetzt, so wird doch mit der Behandlung der ignava ratio das Feld der Logik nicht verlassen, denn die Konklusion des Arguments basiert auf der Annahme, daß das Bivalenzprinzip uneingeschränkt Gültigkeit besitzt: Wenn _____________ 360 Aristoteles nimmt dieses Argument in De int. 9, 18b31–33 nur scheinbar vorweg. Siehe hierzu Weidemann (2002), 272–275. 361 Der ǒǏǛʇǐǣǗ ǕʗǍǙǜ ist von Ammonios (In Arist. De Interpr. 131.20–132.7 (LS 38I; FDS 1252; vgl. FDS 1253)) überliefert worden. Zu diesem Argument siehe Seel (1993). 362 Vgl. Yon (1950), XXV Anm. 1, Hamelin (1978), 55f. und Magris (1994), 89 Anm. 66, die Gercke (1885), 735 folgen: „ɒǛǍʘǜ ǕʗǍǙǜ inventus a Megaricis, appellatus esse a Stoicis videtur“. Zur Auseinandersetzung mit der ignava ratio siehe z. B. Bobzien (1998a), 180–233; Meyer (1999), 253–257; Salles (2004); (2005), 9–18; Brennan (2005), 270–285; O’Keefe (2005), 153–158. 363 Vgl. z. B. Seneca, nat. II, 38.1–3; AvA, fat. XVI, 186.20–187.8; XXI, 191.17–23 (siehe hierzu Weidemann (1999b), 308–312); Diogenianos in Eusebius, Praep. evang. VI, 8.25–29 (SVF II, 998; LS 62F). Bobzien (1998a), 214–217 vergleicht Diogenianos’ und Ciceros Darstellung. Weitere Verweise finden sich in Barnes (1985a), 237f. Anm. 15 und 16. 364 Vgl. Origenes, Contra Celsum II, 20 (SVF II, 957; FDS 1005); siehe hierzu Barnes (1985a). Barnes vergleicht die beiden Darstellungen und kommt zu dem Ergebnis, daß sie unabhängig voneinander von einer direkt auf Chrysipp zurückgehenden Quelle abgeschrieben worden seien (vgl. VI.6.d.). Dieser Annahme widerspricht Bobzien (1998a), 207f. 365 Vgl. z. B. Ryle (1970); Dummett (1964); Buller (1995); Berÿiý (2002). 366 Stüve (1895), 7–12 empfindet die Auseinandersetzung mit dem Untätigkeitsargument an dieser Stelle wie ein ‚fremdes Glied‘, das Cicero selbst eingefügt habe. Vgl. Lörcher (1913), 59 Anm. 1.
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auch jede zukunftsbezogene Aussage entweder wahr oder falsch ist, dann bedeutet dies auf der Basis des starken Wahrheitsbegriffs, daß ein Ereignis, von dem wahrheitsgemäß ausgesagt wird, daß es eintreten oder daß es nicht eintreten werde, auch notwendigerweise eintreten oder nicht eintreten wird (siehe II.2.). Wenn aber alle Ereignisse bereits in der Gegenwart auf ihr Eintreten oder Nicht-Eintreten festgelegt sind, dann scheint jegliches Handeln schlichtweg sinnlos zu sein. Wenn der einleitende Satz ‚uns hindert auch nicht das Untätigkeitsargument‘ (nec nos impediet illa ignava ratio) in der Weise interpretiert wird, daß zum Ausdruck gebracht werden soll, daß das Untätigkeitsargument nur für die Protagonisten des Fatums von Relevanz ist, aber nicht für diejenigen, die das Fatum ablehnen,367 dann ist diese Interpretation zweifellos zutreffend, aber damit ist noch nicht ausreichend geklärt, warum das Untätigkeitsargument woran nicht hindert. Unter der Voraussetzung, daß die Behandlung des Untätigkeitsarguments dort steht, wo sie stehen sollte, wird man annehmen können, daß sich das „woran“ inhaltlich auf das unmittelbar vorausgegangene Ergebnis bezieht, nämlich darauf, daß das Bivalenzprinzip uneingeschränkt akzeptiert werden kann. Die Begründung dafür, warum „wir“, also Cicero und die Neuakademiker, nicht daran gehindert werden, das Bivalenzprinzip uneingeschränkt zu akzeptieren, ergibt sich aus dem Umstand, daß Cicero und die Neuakademiker eine schwache Wahrheitsauffassung vertreten, wodurch die Wahrheit oder Falschheit einer zukunftsbezogenen Aussage keine physisch-kausale Notwendigkeit und somit auch keine deterministischen Konsequenzen impliziert.368 Das Untätigkeitsargument kann sehr wohl dann eine Hinderung darstellen, das Bivalenzprinzip uneingeschränkt zu akzeptieren, wenn man dieses Prinzip auf der Basis eines starken Wahrheitsbegriffs akzeptiert; denn in diesem Fall zieht die Wahrheit oder Falschheit zukunftsbezogener Aussagen auch deterministische Konsequenzen nach sich (siehe II.2.). Aus ebendiesem Grund sehen sich die Epikureer tatsächlich daran gehindert, das Bivalenzprinzip uneingeschränkt anzuerkennen, so daß sie es für zu_____________ 367 Vgl. Turnebus (in Bayer (2000), 148); Bayer (2000), 147; Sharples (1991), 179. 368 Da Karneades ebenso die Meinung vertrete, daß jede Aussage wahr oder falsch sei, glaubt Stüve (1895), 9, könne das Untätigkeitsargument auch in der Weise formuliert werden, daß es ebenfalls gegen Karneades gültig sei. Deshalb wolle Karneades auch nicht, daß das Untätigkeitsargument gegen die Stoiker angeführt werde, da es sonst auch gegen ihn selbst vorgebracht werden könne („Neque mirari debemus hac quidem in re Carneadem adversariis succurrere; ipse enim non minus quam illi probat praeceptum ‚omne axioma aut verum esse aut falsum‘, quod, si recte ignava ratio Stoicis obicitur, haud scio an non teneri possit“). Stüve verkennt bei dieser Einschätzung offensichtlich den Unterschied, den es ausmacht, ob das Bivalenzprinzip auf der Basis des starken oder auf der Basis des schwachen Wahrheitsbegriffs akzeptiert wird.
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kunftsbezogene Aussagen einschränken (§§ 37–38, siehe VII.15.), um den deterministischen Konsequenzen zu entkommen. Chrysipps Strategie, sich den Vorwürfen des Untätigkeitsarguments zu widersetzen, ist eine andere. Doch bevor Cicero diese Strategie darstellt, illustriert er das Untätigkeitsargument mit folgendem Beispiel: ‚Wenn es Dir vom Schicksal bestimmt ist, daß Du von dieser Krankheit genesen wirst, dann wirst Du auch genesen – ob Du einen Arzt hinzugezogen hast oder nicht‘ (si fatum tibi est ex hoc morbo convalescere, sive tu medicum adhibueris sive non adhibueris, convalesces). Ebenso kann für das Gegenteil formuliert werden: ‚Wenn es Dir vom Schicksal bestimmt ist, daß Du von dieser Krankheit nicht genesen wirst, dann wirst Du auch nicht genesen – ob Du einen Arzt hinzugezogen hast oder nicht‘ (si fatum tibi est ex hoc morbo non convalescere, sive tu medicum adhibueris sive non adhibueris, non convalesces). Da aber nun der eine oder der andere Fall vom Fatum bestimmt ist, ist es ohne Belang, ob ein Arzt hinzugezogen wird oder nicht. Die allgemeine Aussage und die grundsätzliche logische Struktur des Untätigkeitsarguments kann wie folgt dargestellt werden:369 1. Prämisse: Wenn es vom Fatum bestimmt ist, daß A der Fall sein wird ( p), dann wird A der Fall sein, ganz gleich, ob x ausgeführt wird oder nicht (q).
poq
2. Prämisse: Wenn es vom Fatum bestimmt ist, daß nicht-A der Fall sein wird (r), dann wird nicht-A der Fall sein, ganz gleich, ob x ausgeführt wird oder nicht (s).
ros
3. Prämisse: Nun ist es entweder vom Fatum bestimmt, daß A der Fall sein wird ( p), oder vom Fatum bestimmt, daß nicht-A der Fall sein wird (r).
pp rr
Konklusion: Daher wird entweder A der Fall sein, ganz gleich, ob x ausgeführt wird oder nicht (q), oder nicht-A der Fall sein, ganz gleich, ob x ausgeführt wird oder nicht (s). Wenn dies so ist, dann ist es im Hinblick auf A ganz gleich, ob x ausgeführt wird oder nicht. _____________ 369 Vgl. Bobzien (1998a), 184–186.
qs
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VII. Kommentar zu De fato
Auch dann, wenn man das Wort „Fatum“ vermeiden und das Untätigkeitsargument in der Weise umformulieren wollte, daß man statt ‚es ist vom Schicksal bestimmt‘ eher ‚es ist von Ewigkeit her wahr‘ sagt, betont Cicero, ergäben sich dieselben fatalistischen Konsequenzen. Wenn also der Satz ‚Du wirst von dieser Krankheit genesen‘ von Ewigkeit her wahr ist, dann wird auch die Genesung eintreten, und zwar unabhängig davon, ob ein Arzt hinzugezogen worden ist oder nicht (si ex aeternitate verum hoc fuit ‚ex isto morbo convalesces‘, sive adhibueris medicum sive non adhibueris, convalesces). Entsprechendes gilt auch für das Gegenteil: Wenn der Satz ‚Du wirst von dieser Krankheit genesen‘ von Ewigkeit her falsch ist, dann wird auch keine Genesung eintreten, und zwar unabhängig davon, ob ein Arzt hinzugezogen worden ist oder nicht (si ex aeternitate falsum hoc fuit ‚ex isto morbo convalesces‘, sive adhibueris medicum sive non adhibueris, non convalesces). Die Konklusion aus dieser umformulierten Variante ist mit deinde cetera nur angedeutet und ergibt sich dem Sinne nach parallel zum Vorangegangenen: Da aber nun der eine oder der andere Satz von Ewigkeit her wahr ist, ist es ohne Belang, ob ein Arzt hinzugezogen wird oder nicht.370 Cicero kann zu Recht behaupten, daß die Aussage ‚es ist vom Schicksal bestimmt‘ unter Beibehaltung des gleichen Sinnes (eandem sententiam) durch die Aussage ‚es ist von Ewigkeit her wahr‘ ersetzt werden kann, sofern ein starker Wahrheitsbegriff zugrunde gelegt wird; denn nur vor diesem Hintergrund impliziert die Wahrheit zukunftsbezogener Aussagen auch eine physisch-kausale Notwendigkeit (W/tg( p/tz) o N/tg( p/tz))371. Cicero weist vielleicht explizit auf diese Umformulierungsmöglichkeit hin, um deutlich zu machen, daß auch diejenigen, die etwa das Wort „Fatum“ vermeiden und vielmehr „wahr“ sagen wollen, um sich so womöglich der fatalistischen Konsequenzen zu entziehen, auf der Basis eines starken Wahrheitsbegriffs in die gleichen Schwierigkeiten geraten. Für Cicero und die Neuakademiker ist eine solche Umformulierung unter Beibehaltung des gleichen Sinnes dagegen nicht möglich, denn sie vertreten ja eine schwache Wahrheitsauffassung, der zufolge die Wahrheit zukunftsbezogener Aussagen keine physisch-kausale Notwendigkeit impliziert, so daß auch nicht W/tg( p/tz) o N/tg( p/tz) gilt (siehe VII.7.d., VII.11.). Wenn das, was durch das Fatum bestimmt ist, bzw. das, was von Ewigkeit her (im starken Sinne) wahr ist, geschehen wird, unabhängig davon, ob und wie gehandelt wird, dann ergibt sich die Konsequenz, daß _____________ 370 Vgl. Bayer (2000), 147, der entsprechend weiter formuliert: „et alterum utrum ex aeternitate verum est: medicum ergo adhibere nihil attinet“. Allerdings hat Bayer mit seiner Übersetzung (S. 47) den Sinn des vorangehenden Satzes verfehlt. 371 tg soll den gegenwärtigen Zeitpunkt, tz einen zukünftigen Zeitpunkt zum Ausdruck bringen. Siehe hierzu auch II.2.
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jegliches Handeln sinnlos ist und die Menschen letztlich untätig der Dinge harren müssen (omnis e vita tolletur actio), da ohnehin alles so eintreten wird, wie es vorherbestimmt ist. Daher, so Cicero, sei der Name des Arguments mit ignava ratio (ignavus – ‚träge‘, ‚untätig‘) zutreffend gewählt.372 Auch wenn Chrysipp an der Existenz des Fatums festhalten möchte, will er sich natürlich nicht dem Vorwurf aussetzen, daß seine Philosophie zur Untätigkeit führe – eine solche Konsequenz wäre ja auch überhaupt nicht im Sinne der stoischen Ethik. Vielmehr versucht er, sich dem Vorwurf der Untätigkeit zu entziehen, indem er argumentiert, daß es Vorkommnisse gebe, die einfach (simplicia) seien, und solche, die verbunden oder verknüpft (copulata) seien. Für ein ‚einfaches Vorkommnis‘ (res simplex) führt Cicero das Beispiel ‚Sokrates wird an jenem Tag sterben‘ (morietur illo die Socrates) an. Auf den ersten Blick wird man das Beispiel so verstehen, daß Sokrates geduldig in seiner Zelle ausharrt und auf seine Hinrichtung wartet, ohne daß er auf irgendeine Art von seiner Seite aus handeln müßte. Bei genauerer Betrachtung aber ist es nicht unproblematisch zu erkennen, was dieses Beispiel tatsächlich zu einer res simplex macht. Wenn die Betonung auf ‚sterben‘ liegt, dann ist recht einsichtig, daß Sokrates nichts zu tun braucht, damit sich sein Sterben ereignen wird. Sokrates ist ein Mensch, und damit liegt seine Sterblichkeit in der Natur der Dinge. Wie auch immer er handeln mag, er wird sein Sterben nicht abwenden können. Sollte simplex also nur Vorkommnisse beschreiben, die das Kriterium ‚ob einer etwas tut oder nicht‘ erfüllen, dann wäre die Gruppe der res simplices sehr klein und spezifisch, da sie letztlich nur auf Naturgesetzlichkeiten beschränkt wäre. Auch wenn die Betonung auf ‚an jenem Tag‘ gelegt wird, ergibt sich keine leichtere Interpretation. Es kann nicht einfach gesagt werden, Sokrates wäre an jenem Tage unter jenen Umständen gestorben, ganz gleich, ob er in irgendeiner Weise gehandelt hätte oder nicht (sive quid fecerit sive non fecerit). Er hätte Kritons Angebot annehmen und mit ihm fliehen können; vielleicht hätte es auch noch andere Möglichkeiten gegeben, den Tag der Hinrichtung zu verschieben oder der Hinrichtung gänzlich zu entkommen. In gewisser Hinsicht stellt das Verhalten des Sokrates, nämlich im Kerker _____________ 372 Kant merkt mit Bezug auf Cicero zu der Namensgebung an (KrV, A 689/B 717 Anm.*): „So nannten die alten Dialektiker einen Trugschluß, der so lautete: Wenn es dein Schicksal mit sich bringt, du sollst von dieser Krankheit genesen, so wird es geschehen, du magst einen Arzt brauchen, oder nicht. Cicero sagt, daß diese Art zu schließen ihren Namen daher habe, daß, wenn man ihr folgt, gar kein Gebrauch der Vernunft im Leben übrig bleibe. Dieses ist die Ursache, warum ich das sophistische Argument der reinen Vernunft mit demselben Namen belege“ (Immanuel Kant, Die drei Kritiken. Bd. 1: Kritik der reinen Vernunft. Hrsg.: R. Schmidt. Mit einer Bibliographie von H. Klemme. Hamburg 1993 (Philosophische Bibliothek 37a).
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VII. Kommentar zu De fato
auszuharren und schließlich auch den Schierlingsbecher zu trinken, doch eine notwendige Bedingung für seine Hinrichtung dar. Sedley schlägt eine interessante Interpretation dieses Beispielsatzes auf der psychologischen Ebene vor:373 Die Verständnisschwierigkeiten des Satzes ergäben sich daraus, daß „Sokrates“ immer nur als Beispielname verstanden worden sei, so wie „Dion“ etwa einen häufig verwendeten Beispielnamen bei den Stoikern darstelle. Dieser Name aber sei nicht ohne Grund gewählt worden. Der Schlüssel zum Verständnis liege im prophetischen Traum über das ankommende Schiff, dessen Eintreffen in Athen die baldige Vollstreckung des Urteils bedeute (Kriton 44a). Aus stoischer Perspektive sei Sokrates’ Entscheidung zu bleiben maßgeblich durch die Enthüllung dieses Traumes geleitet gewesen. Dieser Traum habe ihn seine Bestimmung wissen lassen, an jenem Tage zu sterben. Das sei für ihn ein göttlicher Hinweis gewesen, das für ihn Bestimmte auch tatsächlich zu wollen, genauso wie der Hund gerne und willentlich dem Wagen folge, der ihn ziehe374. Sokrates’ Wunsch, den Schierlingsbecher zu trinken, falle mit seiner Einsicht in das Fatum zusammen. Daher habe er es auch abgelehnt, aus dem Kerker zu fliehen. Dieser ganze Vorgang zeuge nicht von einem rein mechanistischen Determinismus, dem zufolge eine ununterbrochene Ursachenverkettung von der Geburt des Sokrates unabänderlich direkt bis zu seinem Tode führe. Von den vielen hypothetischen Möglichkeiten repräsentiere vielmehr nur eine einzige die willentliche Akzeptanz dessen, was das Fatum letztlich als Ergebnis verfügt habe. In dieser willentlichen Akzeptanz manifestiere sich die moralische Leistung des Sokrates.375 Für ein ‚verbundenes Vorkommnis‘ res copulata gibt Cicero zwei Beispiele an. Das erste Beispiel ist ‚Oedipus wird dem Laios geboren werdenȧ (nascetur Oedipus Laio). In diesem Fall, so Cicero, könne schwerlich behauptet werden ‚Oedipus wird dem Laios geboren werden – ob er seiner Ehefrau beiwohnt oder nicht‘. Analog dazu verhält sich das zweite Beispiel ‚Milon wird bei den Olympischen Spielen ringen‘ (luctabitur Olympiis Milo). Auch hier könne man nicht sagen ‚Milon wird bei den Olympischen Spielen ringen – ob er nun einen Gegner hat oder nichtȧ. Offensichtlich kann _____________ 373 Vgl. Sedley (1993), 316f. Bobzien (1998a), 201 Anm. 54 hält diese Interpretation für ungenügend, da sie nicht erklären könne, welchen Sinn Chrysipps Unterscheidung bei der Widerlegung der ignava ratio habe. 374 Vgl. Hippolyt, haer. I, 21 (SVF II, 975; LS 62A). Siehe auch u. S. 259 Anm. 540. 375 Sedley (1993), 320 sieht in der Person des Sokrates auch eine Anspielung auf die in den Paragraphen 7–9 geäußerte These, daß die in Athen geborenen Menschen scharfsinniger seien. Daher habe es Sokrates, ebendort geboren, in richtiger Weise verstanden, auf die Zeichen des Schicksals zu reagieren. Oedipus dagegen sei in Theben geboren und gelte daher nicht als scharfsinnig. Eine Bestätigung dafür finde man auch darin, daß er seinen Orakelspruch als Zeichen des Schicksals nicht habe akzeptieren, sondern bekämpfen wollen.
VII.12. §§ 28–30: Das Untätigkeitsargument
203
das Kriterium dafür, daß zwei Vorkommnisse376 miteinander verbunden sind, in der Weise beschrieben werden, daß ein Vorkommnis eine notwendige Bedingung für ein anderes darstellt.377 Ein Vorkommnis, das mit einem anderen verbunden ist, so Cicero, sei eine res confatalis (copulata enim res est et confatalis).378 Mit Blick auf das einleitende Beispiel sei es somit auch falsch zu sagen, daß es irrelevant sei, ob man einen Arzt konsultiere oder nicht, auch wenn es vom Fatum bestimmt sei, daß man gesunden werde. Tatsächlich habe das Fatum beide Vorkommnisse bestimmt, sowohl, daß man gesunde, als auch, daß man einen Arzt rufe. Dies werde von Chrysipp als ‚vom Schicksal mitbestimmtȧ (confatalia 379) bezeichnet. Chrysipps Argumentation gegen die ignava ratio basiert also auf einer Unterscheidung zwischen einfachen und verbundenen Vorkommnissen und kann wie folgt beschrieben werden: Wenn ein Vorkommnis A (z. B. ‚Oedipus wird geborenȧ) mit einem Vorkommnis B (z. B. ‚Laios zeugtȧ) verbunden ist, und A sich durch das Fatum bestimmt ereignet, dann muß sich auch B zusammen mit A ereignen, da sein Eintreten vom Fatum mitbestimmt ist. In solchen Fällen kann man daher von der Tatsache, daß _____________ 376 Das Laios-Beispiel bezieht sich auf eine Handlung („Kinder zeugen“), während im MilonBeispiel eher ein Umstand („Gegner haben“) beschrieben wird. Aus diesem Grund herrscht Meinungsverschiedenheit darüber, ob res mit ‚Handlung‘, ‚Ereignis‘ oder ‚Umstand‘ angemessener wiederzugeben sei. Eine Diskussion mit Verweisen findet sich in Bobzien (1998a), 201f. mit Anm. 58. Die hier gewählte Übersetzung „Vorkommnis“ soll bewußt neutral verstanden werden. 377 Vgl. Sharples (1991), 180f.; Bobzien (1998a), 202. 378 Bobzien (1998a), 202f. beschreibt das Verhältnis folgendermaßen: Wenn ein durch das Fatum bestimmtes Vorkommnis eine res copulata sei, dann sei es auch eine res confatalis, und wenn es eine res confatalis sei, dann auch eine res copulata. So basierten beide Relationen (copulata und confatalis) auf dem gleichen Kriterium der notwendigen Bedingung, doch beide seien nicht symmetrisch, denn wenn p eine res copulata und confatalis in Relation zu q sei, dann folge nicht, daß auch q eine res copulata oder confatalis sei. Nur in Ausnahmen sei dies der Fall. 379 Der TLL IV, 170.56–58 gibt an, daß Cicero mit confatalia das griechische ǝǟǗǏǓǖNjǛǖɨǗNj übersetzt habe. Es ist in Ps.-Plutarch, fat. 4, 569f belegt und Valgiglio (1993), 138 Anm. 87 hält diese Bezeichnung für original stoisch. Turnebus (in Bayer (2000), 149), Bouillet (1831), 710 Anm. 6; Jacobs (1840), 345 Anm. 25, Gercke (1885), 698, 735, Faust (1931), 290, Liûcu (1937), 90, Rackham (1948), 226, Paolillo (1957), 67, Cappelletti (1964), 105 Anm. 87, Schiavon und Peruzza (1969), 28, Hamelin (1978), 32, 57, Marwede (1984), 196, Long und Sedley (LS II, 341), Magris (1994), 89 Anm. 67, Hossenfelder (1995), 89, Zierl (1995), 14, Nava Contreras (1998), 276, Escobar (1999), 317 Anm. 115 und Bayer (2000), 149 nennen ebenfalls ǝǟǗǏǓǖNjǛǖɨǗNj. Das bei Diogenianos in Eusebius, Praep. evang. VI, 8.26 (SVF II, 998; LS 62F) überlieferte ǝǟǍǔNjǒǏǓǖɏǛǒNjǓ (ǝǟǍǔNjǒǏǓǖNjǛǖɨǗNj) wird von Heine (1856), 41, Meinecke (1887), 11, Stüve (1895), 10; Zeller (1963) III.1, 171 Anm. 1, Long (1971a), 196 Anm. 33, Eisenberger (1979), 161 und Gourinat (2005a), 217; (2005b), 249 als griechische Vorlage für confatalia angesehen. Trendelenburg (1855), 174f. nennt beide Wörter als Vorlage. Seneca, nat. II, 38.2 umschreibt das vom Fatum Mitbestimmte mit adfatum. Schiavon und Peruzza (1969), 28 verweisen noch auf Servius, Aen. IV, 696 (SVF II, 958): sunt fata, quae dicuntur denuntiativa, sunt alia fata, quae condicionalia vocantur.
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VII. Kommentar zu De fato
A vom Fatum bestimmt ist, nicht darauf schließen, daß sich A ereignen wird, völlig unabhängig davon, ob sich auch B ereignet oder nicht.380 Chrysipp trifft mit seiner Argumentation einen wichtigen Punkt, den diejenigen, die das Untätigkeitsargument gegen die Stoiker anführen, offensichtlich außer acht lassen, nämlich den kausalen Zusammenhang zwischen zwei Vorkommnissen. Am deutlichsten wird dieser kausale Zusammenhang durch das Laios-Beispiel veranschaulicht. Es ist tatsächlich unsinnig zu behaupten, daß Oedipus geboren wird, unabhängig davon, ob nun Laios einen Sohn zeugt oder nicht.381 Weil Laios’ Handeln in einem kausalen Zusammenhang mit der Geburt des Oedipus’ steht, ist es auch nicht unnütz. Da ein derartiger kausaler Zusammenhang das entscheidende Kriterium für Chrysipp darstellt, kann er mit der Einführung der confatalia-Lehre aus seiner Sicht erfolgreich darlegen, daß die stoische Fatumslehre menschliches Handeln nicht unnütz werden läßt. Jedoch ist auch deutlich geworden, daß mit der confatalia-Lehre nur das aktive Handeln gegen das bewußte, passive Ausharren verteidigt wird, nicht aber das aktive Handeln als ein freies Handeln (im libertarischen Sinne). Wie die relationale Bezeichnung confatalis bereits deutlich macht, ist auch das aktive Handeln dem Fatum unterworfen, so daß es genauso determiniert ist wie jegliches Geschehen überhaupt. Genau aus diesem Grund halten die Libertarier auch die confatalia-Lehre als Antwort auf das Untätigkeitsargument für völlig verfehlt. Für sie wird aktives Handeln nicht bereits dadurch zu einem sinnvollen Handeln, daß es als ein kausales Bindeglied zwischen zwei Vorkommnissen in einem ohnehin determinierten Weltgeschehen fungiert; vielmehr betrachten die Libertarier das aktive Handeln erst dann als sinnvoll, wenn der Handelnde auch die Möglichkeit besitzt, durch seine eigenen Überlegungen und durch die daraus resultierenden Handlungen den Verlauf der zukünftigen Ereignisse in einem indeterministischen Sinne zu beinflussen. Genau dies aber vermag Chrysipp nicht zu zeigen. Allerdings ist mit der confatalia-Lehre auch gar nicht intendiert zu zeigen, daß das aktive Handeln auch ein freies Handeln ist, weil die Vorstellung eines freien Handelns im libertarischen Sinne für die Stoiker ein unverursachtes Geschehen darstellt und somit im Widerspruch zur stoischen Kosmologie steht (siehe VII.5.e., VII.17.b.). Vielmehr soll gezeigt werden, _____________ 380 Vgl. Barnes (1985a), 234. 381 Ein ähnlich anschauliches Beispiel überliefert Diogenianos in Eusebius, Praep. evang. VI, 8.28 (SVF II, 998; LS 62F): Selbst wenn es bestimmt ist, daß der Boxer Hegesarchos aus dem Kampf hervorgeht, ohne einen Schlag erlitten zu haben, ist es dennoch unsinnig zu sagen, daß er deshalb mit herabgelassenen Armen kämpfen könne. Wenn er keinen Treffer bekommen soll, dann ist auch sein entsprechendes Kämpfen eine notwendige Bedingung dafür, daß er keinen Treffer bekommen wird, und ebenfalls vom Fatum mitbestimmt.
VII.13. §§ 31–33: Karneades’ Argumentation gegen das Fatum
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daß das menschliche Handeln, auch wenn es dem Fatum unterliegt, als ein kausales Bindeglied zwischen gewissen Vorkommnissen grundsätzlich sinnvoll und unerläßlich ist. Die confatalia-Lehre zeigt, daß die stoische Fatumstheorie zwar deterministisch ist, aber mitnichten zum Fatalismus im engeren Sinne (siehe III.) führt.
13. §§ 31–33: Karneades’ Argumentation gegen das Fatum Karneades billigt die ganze Argumentation Chrysipps nicht. Auch wenn die ignava ratio aus einer gewissen Perspektive kein stichhaltiges Argument gegen Chrysipp darstellt, so vermag er mit der confatalia-Lehre bestenfalls den erhobenen Vorwurf der Untätigkeit abzuwehren, nicht aber das sinnvolle Überlegen und Planen und damit auch nicht die menschliche Freiheit (im libertarischen Sinne) zu retten. Aus der Sicht der Libertarier bestätigt daher die confatalia-Lehre mehr die Herrschaft des Fatums, als sie diese zu brechen und die menschliche Freiheit zu konstituieren vermag. a. Das Argument des Karneades Karneades argumentiert auf eine ganz andere Weise ( premebat alio modo), um die Existenz des Fatums zu widerlegen und die menschliche Freiheit zu wahren. Seine Argumentation läuft über zwei Schritte.382 Wenn alles durch vorausgehende Ursachen geschieht, dann geschieht alles durch eine Ursachenverkettung. (si omnia antecedentibus causis fiunt, omnia naturali conligatione conserte contexteque fiunt)
uov
Wenn dies so ist (d. h., wenn alles durch eine Ursachenverkettung geschieht), dann bewirkt die Notwendigkeit alles. (quod si ita est, omnia necessitas efficit)
von
Wenn das wahr ist (d. h., wenn die Notwendigkeit alles bewirkt), dann liegt nichts in unserer Verfügungsgewalt. (id si verum est, nihil est in nostra potestate)
n o ~g
_____________ 382 Es wird folgende Notation verwendet: u „Alles geschieht durch vorausgehende Ursachen“; v „Alles geschieht durch eine Ursachenverkettung“; n „Die Notwendigkeit bewirkt alles“; g „Etwas liegt in unserer Verfügungsgewalt“; f „Alles geschieht durch das Fatum“.
206
VII. Kommentar zu De fato
Mit der Transitivität der Implikation können die drei Implikationen u o v, v o n und n o ~g zusammengefaßt werden, so daß sich für das Argument als erste Prämisse u o ~g (si omnia antecedentibus causis fiunt … nihil est in nostra potestate) ergibt. Cicero formuliert sie nicht explizit, hat sie aber offensichtlich vor Augen. Schritt 1: 1. Prämisse: Wenn alles durch vorausgehende Ursachen geschieht, dann liegt nichts in unserer Verfügungsgewalt.
u o ~g
2. Prämisse: Es liegt aber etwas in unserer Verfügungsgewalt. (est autem aliquid in nostra potestate). Konklusion mit Modus tollens: Nicht alles geschieht durch vorausgehende Ursachen.
g ~u
Schritt 2: 1. Prämisse: Wenn alles durch das Fatum geschieht, dann geschieht alles durch vorausgehende Ursachen. (si omnia fato fiunt, omnia causis antecedentibus fiunt)
fou
2. Prämisse: Nicht alles geschieht durch vorausgehende Ursachen. (Konklusion aus Schritt 1)
~u
Konklusion mit Modus tollens: Also geschieht nicht alles, was geschieht, durch das Fatum. (non igitur fato fiunt quaecumque fiunt)
~f
Cicero hätte dieses Argument auch in übersichtlicherer Reihenfolge anordnen können. Wenn er die nachgezogene Prämisse f o u dem ersten Schritt vorangestellt hätte, also ( f o u) & (u o v) & (v o n) & (n o ~g), wäre er mit 1. f o ~g und 2. g durch Modus tollens elegant auf die gewünschte Konklusion ~f gekommen. Die Annahme einer bewußten Wahl der vorliegenden Darstellung bedürfte einer plausiblen Erklärung. Viel-
VII.13. §§ 31–33: Karneades’ Argumentation gegen das Fatum
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leicht haben die Umstände während der Abfassungszeit an dieser Stelle ihren Tribut gefordert. Die „andere Argumentation“ des Karneades, von der er glaubt, daß sie einen möglichen Fatalismus besser widerlege als die Argumentation Chrysipps, basiert auf der Prämisse g, die besagt, daß etwas in unserer Verfügungsgewalt liegt (est autem aliquid in nostra potestate). Für diese starke und objektiv nicht beweisbare Annahme scheint Karneades in der individuellen Erfahrung der Freiheit eine unumstößliche Bestätigung zu finden. Die Auffassung, daß es in unserer Verfügungsgewalt liegende Dinge gibt, vertreten die Stoiker ebenso (§§ 39–45). Bei seiner Argumentation bedient sich Karneades insofern keines unlauteren Schrittes (nec ullam adhibebat calumniam), als sie auf einem Schlußverfahren basiert, das Chrysipp akzeptiert383 und mit der Annahme von g eine Prämisse enthält, der die Stoiker – wenn auch in ihrem Sinne (siehe VII.17.b.) – ebenso zustimmen. Der Prämisse f o ~g allerdings widersprächen die Stoiker entschieden, denn ~g als Konsequenz aus dem von ihnen vertretenen Fatalismus wollen sie ja gerade vermeiden – aber diese Konsequenz ergibt sich aus libertarischer Perspektive gerade dann, wenn man die deterministische These vertritt, daß alles durch das Fatum geschieht. Cicero jedenfalls ist im Anschluß an Karneades’ Argumentation von der Evidenz der Prämisse g (est autem aliquid in nostra potestate) zutiefst überzeugt, so daß er geradezu lakonisch urteilt, daß die Existenz des Fatums mit dem von Karneades angeführten Beweis nicht bündiger hätte widerlegt werden können. Im Hinblick darauf, daß Karneades von der uneingeschränkten Gültigkeit des Bivalenzprinzips ausgeht, könnte man, so formuliert Cicero einen möglichen Einwand gegen die neuakademische Argumentation, sagen: ‚Wenn alles Zukünftige von Ewigkeit her wahr ist, so daß es mit Sicherheit so eintritt, wie es in Zukunft eintreten wird, dann ist es notwendig, daß alles verknüpft und verflochten durch eine Naturverkettung geschieht‘ (si omne futurum ex aeternitate verum est, ut ita certe eveniat, quemadmodum sit futurum, omnia necesse est conligatione naturali conserte contexteque fieri). Dieser Einwand macht geltend, daß auch Karneades die fatalistischen Konsequenzen des Untätigkeitsarguments fürchten müßte; aber, so weist Cicero ihn zurück, mit einer solchen Aussage treffe man nicht den Punkt (nihil dicat), denn es bestehe ein gravierender Unterschied, ob man die Wahrheit zukunftsbezogener Aussagen auf eine ewige Ursachenkette zurückführe, oder ob man auch ohne diese Bedingung zukünftige Aussagen _____________ 383 Der Modus tollens stellt den zweiten der insgesamt fünf ‚unbeweisbaren Schlüsse‘ (ɒǗNjǚʗǎǏǓǔǞǙǓ ǕʗǍǙǓ) in der stoischen Logik dar. Die Gültigkeit dieser Schlüsse bedarf keines eigenen Beweises, und auf ihrer Grundlage kann die Gültigkeit komplexerer Schlüsse bewiesen werden. Vgl. M. Frede (1974), 131.
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VII. Kommentar zu De fato
als wahr bezeichnen könne (multum enim differt, utrum causa naturalis ex aeternitate futura vera efficiat an etiam sine aeternitate naturali, futura quae sint, ea vera esse possint intellegi ). Cicero betont an dieser Stelle noch einmal den Unterschied zwischen der starken Wahrheitsauffassung, die Chrysipp und Epikur vertreten, und der schwachen Wahrheitsauffassung, die er in Anlehnung an Karneades in den Paragraphen 17–20, 26–28 herausgearbeitet hat. Vor diesem Hintergrund muß Cicero auch keine fatalistischen Konsequenzen aus dem Untätigkeitsargument fürchten, wenn er das Bivalenzprinzip als uneingeschränkt gültig betrachtet. b. Die Ablehnung der Mantik Die Mantik beruht auf der Annahme einer ewigen Ursachenverkettung, die von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft reicht. Wer in der Lage wäre, alle wirkenden Ursachen bereits in der Gegenwart zu kennen, könnte das Eintreten oder Ausbleiben eines zukünftigen Ereignisses sicher voraussagen. Ein solches Wissen ist aber den Göttern vorbehalten, während den Menschen nur die Möglichkeit gegeben ist, anhand bestimmter Zeichen auf die Zukunft zu schließen.384 Daher urteilt Cicero in Anlehnung an Karneades: Wenn es aber keine ewige, in der Natur verankerte Ursachenverkettung gibt, die das, was wahrheitsgemäß prophezeit wurde, mit Notwendigkeit bewirkt, dann kann nicht einmal der Gott Apoll zukünftige Ereignisse voraussagen (itaque dicebat Carneades ne Apollinem quidem futura posse dicere nisi ea, quorum causas natura ita contineret, ut ea fieri necesse esset).385 Selbst wenn die zukunftsbezogene Aussage ‚Der dreimalige Konsul Marcellus386 wird im Meer sterben‘ schon von Ewigkeit her wahr gewesen ist, wird dadurch auf der Basis des von Cicero vertretenen schwachen Wahrheitsbegriffs keine ewige, in der Natur verankerte Ursachenverket_____________ 384 Vgl. Cicero, div. I, 127 (SVF II, 944; LS 55O); siehe o. S. 133 Anm. 201. 385 Vgl. Cicero, div. II, 15–18; AvA, fat. XXX, 200.12–201.30. Siehe hierzu Sharples (1978), 260–262; (1983a), 164–168; (1991), 25f. Gegen Cicero hat sich Augustinus, civ. V, 9–11 entschieden dafür ausgesprochen, Gottes praescientia futurorum nicht einzuschränken. 386 Marcus Claudius Marcellus (ca. 208–148) war ein bedeutender Feldherr und Staatsmann aus dem plebejischen Zweig der gens Claudia (Cicero, De orat. I, 176). Im Jahre 171 wurde er zum Volkstribun und 169 zum Prätor gewählt. Schließlich bekleidete er in den Jahren 166, 155 und 152 das Konsulat. Marcellus ertrank bei einem Schiffsunglück, als er sich in Afrika auf einer Gesandtschaftsreise befand. In De divinatione (II, 14) wird der Tod des Marcellus bereits als Beispiel herangezogen. Die Charaktereigenschaften dieses Mannes lobt Cicero in seiner Rede In Pisonem (19).
VII.13. §§ 31–33: Karneades’ Argumentation gegen das Fatum
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tung impliziert. Cicero betont, daß ohne eine solche Ursachenverkettung selbst Apoll ein Ereignis in der Vergangenheit, von dem in der Gegenwart kein Anzeichen vorhanden sei, unbekannt bleiben müsse. Wenn man über solche Ereignisse schon nichts aussagen könne, wie sollte dann, gibt Cicero zu bedenken, erst eine Aussage über Zukünftiges möglich sein.387 Wie hätte also Apoll ohne die Existenz einer ewigen Ursachenverkettung überhaupt die Todesumstände des Marcellus oder die Taten des Oedipus prophezeien können? Weil aber genau eine solche Ursachenverkettung, die sich mit Notwendigkeit von der Vergangenheit bis in die Zukunft erstreckt, als Grundlage für die Mantik nicht existiert, vertreten die Neuakademiker die Auffassung, daß eine echte Prophezeiung nicht möglich ist, so daß weder die Menschen noch die Götter die Zukunft voraussagen können.388 Einmal mehr betont Cicero nachdrücklich, daß sich für die Stoiker und für die Neuakademiker aus der Wahrheit zukunftsbezogener Aussagen nicht dieselben Konsequenzen ergeben. Weil die Stoiker das Vorhandensein einer ewigen Ursachenverkettung als starke Wahrheitsbedingung für zukunftsbezogene Aussagen fordern, kommen sie auch nicht umhin, das Fatum und die Mantik anzuerkennen. Die Neuakademiker dagegen können auf der Basis des schwachen Wahrheitsbegriffs zwar die Auffassung vertreten, daß eine zukunftsbezogene Aussage von Ewigkeit her wahr ist, aber diese indeterministische Wahrheit reicht für die Rechtfertigung von Prophezeiungen nicht aus, so daß sie auch nicht gezwungen sind, das Fatum und die Mantik anzuerkennen. In dieser Hinsicht, betont Cicero, seien die Neuakademiker, anders als die Stoiker (siehe V.2., VI.6.e., VII.4.), unabhängig und frei (illorum 389 ratio soluta ac libera est). _____________ 387 Cicero scheint hier ein Argument a fortiori im Sinn zu haben: ne praeterita quidem ea … quanto minus futura. 388 Vgl. div. II, 18. Vgl. Weische (1961), 33. Siehe zu Ciceros Ablehnung der Mantik und des stoischen Sympathiegedankens (ǝǟǖǚɏǒǏǓNj ǞʸǗ ʛǕǣǗ) auch VI.6.e., VII.3., VII.4. 389 Bayer (2000), 53 bezieht illorum auf die Megariker (vgl. Turnebus (in Bayer (2000), 153)). Dieser Bezug mag dadurch motiviert sein, daß Cicero in den Paragraphen 17–20 anscheinend der diodoreischen/megarischen Lehre zustimmt, so daß man annehmen könnte, daß er diese Lehre auch durchgängig in De fato vertrete. Inhaltlich scheint der Bezug auf die Megariker aber nicht glücklich zu sein. Nach Aristoteles, Met. Ƴ 3, 1046b29–32 sollen die Megariker die Auffassung vertreten haben, daß etwas nur während der Dauer seiner Verwirklichung möglich sei. Aristoteles verdeutlicht dies mit dem Beispiel, daß es nur dann möglich ist, ein Haus zu bauen, wenn und solange ein Haus gebaut wird. Damit ist die Differenz zwischen Möglichkeit und Verwirklichung faktisch aufgehoben (siehe hierzu Weidemann (1997), 432). Aufgrund dessen kann der Standpunkt der Megariker nicht als soluta ac libera bezeichnet werden. Da an der vorliegenden Stelle nun ausdrücklich die Meinung der Neuen Akademie behandelt wird und die Ablehnung der Mantik auch inhaltlich zu dieser Schule paßt, ist es sinnvoller, illorum als Bezug auf die Neuakademiker zu verstehen, deren Lehre sich Cicero in De fato ohnehin zu eigen macht.
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VII. Kommentar zu De fato
14. §§ 34–36: Die Definition des Begriffs „Ursache“ Cicero wendet sich nun einer wichtigen Frage zu. Er will klären, was im eigentlichen Sinne als die Ursache eines Ereignisses bezeichnet werden dürfe. Als Ursache für etwas soll nur das gelten, was dasjenige bewirkt, dessen Ursache es ist (§ 34: causa autem ea est, quae id efficit, cuius est causa). So ist z. B. eine entsprechende Verwundung die Ursache für den Tod oder das Feuer die Ursache für die Hitze. Nur die Tatsache aber, daß ein Ereignis einem anderen zeitlich vorausgeht, bedeutet nicht schon, daß es auch dessen eigentliche Ursache ist. Nur das, was einem Ereignis bewirkend vorausgeht, ist dessen eigentliche Ursache. Diese Differenzierung wird an mehreren Beispielen gezeigt,390 wobei die Ennius-Stelle391 am anschaulichsten ist: Wenn der Wald auf dem Berg Pelion nicht abgeholzt worden wäre, dann hätte es kein Baumaterial für die Argo gegeben, dann hätte Jason nicht nach Kolchis segeln können, wo er dann auch nicht Medea hätte treffen können usw., und dann wäre es schließlich auch nicht zu der Tragödie um Medea gekommen. Eine solche Ereigniskette könnte letztlich beliebig weit in die Vergangenheit zurückgeführt werden. Es ist einleuchtend, daß nicht ernsthaft behauptet werden kann, daß das Wachsen der Bäume auf dem Pelion der Grund für Medeas Tragödie ist, oder gar, daß der Grund für die Tragödie in den Bäumen selbst gelegen hätte.392 Aber es ist auch einleuchtend, daß die Ereignisse wie das Wachsen der Bäume, das Bauen des Schiffes, das Zusammentreffen mit Jason usw. nicht nur auf zeitlich vorausgehende Ereignisse zu reduzieren sind, die in überhaupt keiner Verbindung mit dem Ergebnis, der Tragödie um Medea, stünden. Ohne den Bau der Argo z. B. wäre es vermutlich nicht zu dem Ereignisablauf gekommen, der in einer solchen Tragödie endete, aber der Bau der Argo bewirkte nicht aus sich selbst heraus, daß sich die Tragödie abspielte. Cicero erklärt, daß es einen Unterschied mache, ob eine Bedingung vorliege, ohne die etwas nicht bewirkt werden _____________ 390 Eine ausführliche Besprechung der Beispiele findet sich in Sharples (1995), 263f. 391 Der vielseitige Schriftsteller Quintus Ennius (239–169) gilt als der erste bedeutende Dichter der römischen Literatur. Er schrieb als erster in Hexametern, die zum Standardversmaß der lateinischen Dichtung werden sollten. Seine Annales, in denen die römische Geschichte erzählt wird, avancierten zum Nationalepos der Römer. Die hier von Cicero zitierten Verse stammen aus der Eröffnung der Medea, gesprochen von der klagenden Amme. Diese Passage wurde sowohl in der griechischen als auch in der lateinischen Literatur oft als ein Beispiel für einen regressus ad infinitum angeführt. Auch Cicero hat dieses Beispiel oftmals zur Illustration verwendet, wörtlich in nat. III, 75; inv. I, 91; Top. 61, als Anspielung in Cael. 18; fin. I, 5; Tusc. I, 45. Vgl. Marwede (1984), 207; Sharples (1991), 184; Bayer (2000), 154. Verweise über Cicero hinaus finden sich in Giomini (1975), 167 und in Sharples (1991), 184. 392 Vgl. Sharples (1995), 250.
VII.14. §§ 34–36: Die Definition des Begriffs „Ursache“
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könne, oder eine Bedingung, durch die etwas notwendigerweise bewirkt werde. Nur im letztgenannten Fall könne etwas als eine Ursache im eigentlichen Sinne bezeichnet werden, da es mit seinem Hinzutreten dann notwendigerweise das bewirke, als dessen Ursache es gelte (§ 36: interesse autem aiunt, utrum eius modi quid sit, sine quo effici aliquid non possit, an eius modi, cum quo effici aliquid necesse sit. nulla igitur earum est causa, quoniam nulla eam rem sua vi efficit, cuius causa dicitur; nec id, sine quo quippiam non fit, causa est, sed id, quod, cum accessit, id, cuius est causa, efficit necessario). Cicero unterscheidet hier ganz offenbar zwischen notwendigen und hinreichenden Bedingungen.393 Vor diesem Hintergrund muß das Medea-Beispiel allem Anschein nach so verstanden werden, daß alle zeitlich vorausgehenden Ereignisse nur notwendige Bedingungen für die Tragödie darstellen, da keines dieser Ereignisse im Sinne der obigen Ursachendefinition eine hinreichende Bedingung für die Tragödie darstellt. Selbst wenn sich dies so verhält, hätte die Tragödie ohne diese Ereignisse nicht eintreten können. Die eigentliche Ursache für die Tragödie scheint letztlich Medeas Entscheidung zu sein, sich an Jason zu rächen, indem sie ihre Kinder tötet.394 Das Subjekt zu interesse autem aiunt ist nicht explizit angeführt. Bayer, der in den früheren Auflagen seiner Edition das Subjekt mit „der Fachmann“ benannt hat, nimmt in der letzten Auflage nunmehr „die Akademiker“ als Subjekt an, wobei er anmerkt, daß die Unterscheidung zwischen einer notwendigen und einer hinreichenden Bedingung ebenso von den Stoikern akzeptiert worden sei.395 Sicher ist es inhaltlich korrekt, daß die Akademiker diese Unterscheidung machen, aber sie ist bereits zuvor aus neuakademischer Sicht dargestellt worden (§ 34). Daher bestünde für Cicero nicht die Notwendigkeit, noch einmal explizit darauf zu verweisen, daß sie von den Neuakademikern gemacht wird. Aus diesem Grund und aufgrund der Tatsache, daß Cicero an der vorliegenden Stelle gegen die Stoiker argumentiert, scheinen die Academici als Subjekt für interesse autem aiunt weniger geeignet zu sein. Entweder bezieht sich Cicero – was sehr plausibel erscheint – mit aiunt direkt auf die Stoici,396 oder er wollte einfach eine allgemeine Aussage treffen,397 die mit aiunt durchaus zum Ausdruck gebracht werden kann398. _____________ 393 Die Unterscheidung zwischen einer Ursache und einer notwendigen Bedingung geht auf Platon, Phaidon 99b zurück. Vgl. M. Frede (1980), 227; Sharples (1995), 249 Anm. 13. 394 Vgl. Michel (1960), 641; Long (1971a), 185, 197 Anm. 43; Stough (1978), 219 („The end result of this chain, namely the slaughter of the children, can be said to have occurred because of all these events, but only Medea is aitia“); Duhot (1989), 217; Magris (1994), 90 Anm. 71; Sharples (1995), 251. 395 Vgl. Bayer (2000), 55, 154f. 396 Vgl. Turnebus (in Bayer (2000), 155); Stüve (1895), 44; Marwede (1984), 211–213 unter Berufung auf Top. 58f.; Janssen (1992), 176; Hankinson (1996), 197. Für Schröder (1990),
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VII. Kommentar zu De fato
Es ist nun zu fragen, welche Absicht Cicero mit seinen Ausführungen an der vorliegenden Stelle verfolgt. Schmekel glaubt, daß gezeigt werden solle, „worauf der Fehler in der stoischen Lehre beruht: Ursache ist nicht das, was überhaupt etwas anderem voraufgeht, sondern das, was so voraufgeht, dass die Wirkung zugleich damit eingeschlossen ist“399. In ähnlicher Weise nimmt Talanga an, daß Cicero den Stoikern vorwerfe, daß ihr Begriff der Ursache zu unpräzise sei, da kein „Unterschied zwischen condicio sine qua non und causa sufficiens“ gemacht werde.400 Es ist unwahrscheinlich, daß Cicero diese Intention verfolgt, denn die oben dargestellte Unterscheidung zwischen notwendigen und hinreichenden Bedingungen scheint grundsätzlich auch den Stoikern zugesprochen werden zu können. Sowohl für Zenon als auch für Chrysipp ist das Zeugnis überliefert, daß als Ursache das bezeichnet werden müsse, wodurch etwas geschehe.401 Nach der Auffassung der Stoiker resultiert die Verursachung aus der bewirkenden Natur der Ursache, wie etwa die Seele die Ursache für das Leben ist;402 daher ist es auch unmöglich, daß dann, wenn die Ursache (das ǎǓ’ ʛ) anwesend ist, der Effekt nicht eintritt. _____________
397 398 399 400 401
402
138f. bleibt das Subjekt unklar. Die Unterscheidung werde von Cicero gemacht, die Stoiker könnten sich ihr aber, jedenfalls in der vorgetragenen Weise, nicht anschließen. Nach Schwenke (1889), 450, 551 und Mollweide (1913), 318 sind im Exzerpt 182 des Hadoardus die Wörter Stoici aiunt zu lesen, so daß von ihm die Stoiker als Subjekt angenommen worden zu sein scheinen. Mollweide merkt an, daß Stoici vielleicht beizubehalten sei, da zwei Paragraphen zwischen der letzten Erwähnung der Stoiker lägen. Für die Textkritik besitzen diese Exzerpte allerdings nur bedingte Autorität (siehe VI.4.). Brieger (1873), 22f., der das Subjekt mit „Sie (die Logiker?)“ benennt, nimmt in Anlehnung an Christ (1861), 578 an, daß der Satz interesse autem – necesse sit hinter dem im überlieferten Text folgenden Satz nulla igitur – causa dicitur stehen müsse. Da sich dieser Satz aber „weder an das Vorhergehende noch an das Folgende geschickt“ anschließe, erscheine er als entbehrlich. Man müsse deshalb mit der Möglichkeit rechnen, daß der Satz einen Einschub einer „fremden Hand“ darstelle. Vgl. Stüve (1895), 44. Hamelin (1978), 48 lehnt die Konjektur ab. Sharples (1991), 184; (1995), 268 hält einen Bezug auf die Stoici für möglich, überlegt aber, ob vielleicht nur die „people in general“ oder die „experts on these matters“ gemeint seien. Vgl. TLL I, 1459.3–50. Vgl. Schmekel (1892), 171. Vgl. Talanga (1986), 119f. Vgl. Stobaeus, Ecl. I 13, 1c, p. 138.14 (Zenon, SVF I, 89) und Ecl. I 13, 1c, p. 138.23 (Chrysipp, SVF II, 336): NjʍǞǓǙǗ ǏʐǗNjǓ ǕɨǍǏǓ ǎǓ’ ʛ. Beide Fragmente sind unter LS 55A und FDS 762 zusammengefaßt. Vgl. Seneca, Ep. 65, 4 (SVF II, 346a): Stoicis placet unam causam esse, id quod facit. SE PH III, 14 (FDS 767) berichtet von der Einigkeit aller Dogmatiker, daß die Ursache das sei, aufgrund dessen Aktivität der Effekt zustande komme. Vgl. Göring (1874), 42; Rieth (1933), 137f.; M. Frede (1980), 245f.; Barnes (1983), 170f., 197 Anm. 74 mit Verweis auf Ps.-Galen, Def. med. XIX, 392; Marwede (1984), 212; Duhot (1989), 143– 146; Pohlenz (1992) I, 105; Forschner (1995), 85f.; Hossenfelder (1995), 86; Bobzien (1998a), 18–21; (1999a), 202f.; Mansfeld (2001). Vgl. die ähnlichen Beispiele, die Ciceros in § 34 anführt: causa autem ea est, quae id efficit, cuius est causa, ut vulnus mortis, cruditas morbi, ignis ardoris.
VII.14. §§ 34–36: Die Definition des Begriffs „Ursache“
213
Bayer nimmt an, daß Cicero hier beabsichtige, „die ‚Ursache‘ aus ihrer Verflechtung in einen durch alle Ewigkeit reichenden und wirkenden Kausalnexus“ zu lösen.403 Allerdings hat Cicero zuvor schon dargelegt, daß es Ursachen gibt, die nicht in einer ewigen Ursachenverkettung eingeschlossen sind (§§ 19, 23–25, 28). Gegen Bayer führt Marwede ferner an, daß an keiner Stelle explizit auf dieses Ziel hingewiesen oder im folgenden sein Erreichen erklärt werde. Wenn dies zu zeigen Ciceros Ziel gewesen wäre, urteilt Marwede, hätte er ‚völlig versagt‘.404 Marwede, der sich die Frage stellt, ob Cicero den fraglichen Satz auf das Fatum oder auf die Mantik beziehen wolle, kommt daher zu dem Ergebnis, daß Cicero die Mantik angreife. Er beschäftige sich an dieser Stelle mit der Ursache kontingenter Ereignisse und wolle zeigen, daß es auch dann unmöglich sei, kontingente Ereignisse vorauszusagen, wenn nichts ohne vorausgehende Ursache geschehen könne, vorausgesetzt, daß diese vorausgehenden Ursachen nicht aus einer ewigen Ursachenverkettung hervorgingen.405 Es besteht jedoch kein direkter Bezug zur Mantik, und die Unmöglichkeit, kontingente Ereignisse in der Zukunft vorauszusagen, ist aus Ciceros Sicht bereits dadurch deutlich geworden, daß seiner Auffassung zufolge die Wahrheit zukunftsbezogener Aussagen nur an eine schwache Bedingung geknüpft ist (§§ 18–19, 26–28), so daß sich die Mantiker auf keine ewige, in der Natur verankerte Ursachenverkettung stützen könnten, um zukünftige Ereignisse vorauszusagen (§§ 32–33). Den kausalen Determinismus zu bekämpfen, ist zweifelsohne ein zentrales Anliegen Ciceros in De fato. Allerdings ist in dieser Hinsicht mit der Ursachendefinition und dem Hinweis darauf, daß die (weit) vor einem bestimmten Geschehen liegenden Ereignisse nur notwendige Bedingungen für ebendieses darstellen, allein nichts gewonnen, wenn man nicht auch die Existenz von Ursachen voraussetzt, die nicht in einer ewigen Ursachenverkettung eingeschlossen sind (§§ 19, 23–25, 28). Es besteht ja durchaus die Möglichkeit, daß ein späteres Geschehen durch die Verbindung (weit) vorausgehender Ereignisse determiniert wird, auch wenn keines von diesen für sich allein der Definition gemäß im eigentlichen Sinne die Ursache für ebendieses Geschehen darstellt.406 Ciceros Ausführungen sind in diesem Punkt ungenau und es ist zu überlegen, ob er mit der Ursachendefinition primär darauf abzielt, den kausalen Determinismus als solchen zu bekämpfen. Die von ihm eingangs gestellte Frage (§ 34) scheint implizit an die Stoiker gerichtet zu sein und Anlaß zu der Vermu_____________ 403 404 405 406
Bayer (2000), 153. Vgl. Marwede (1984), 204. Vgl. Marwede (1984), 201–206. Vgl. Sharples (1991), 183; (1995), 262, 265.
214
VII. Kommentar zu De fato
tung zu geben, daß Cicero die stoische Lehre von einer ganz anderen Seite aus angreift. Er bedient sich der Ursachendefinition, um deutlich zu machen, daß nur eine hinreichende Bedingung als „Ursache“ bezeichnet werden darf, jedoch nicht eine notwendige Bedingung. Diese Ansicht vertreten aber auch die Stoiker (§ 36: interesse autem aiunt …). Nun scheint Cicero anzunehmen, daß das Fatum der stoischen Auffassung zufolge aus den vorausgehenden causae adiuvantes et proximae (§§ 41–43), also aus nur notwendigen Bedingungen, besteht (siehe VII.18.c.). In einer „Verkettung“ von notwendigen Bedingungen kann aber das vorangehende Glied das nächste Glied nicht aus eigener Kraft verursachen, da es als notwendige Bedingung keine mit Notwendigkeit wirkende Ursache darstellt. Damit ergibt sich als Antwort auf die (natürlich rhetorische) Eingangsfrage ‚Wenn man aber einräumen sollte, daß sich nichts ohne vorausgehende Ursache ereignen könne, was wird man wohl gewinnen, wenn man nicht die Meinung vertritt, daß diese Ursache aus ewigen Ursachen entsprungen sei?‘: Nichts! Wenn man zwar annimmt, daß alles durch eine vorausgehende Ursache geschieht, nicht aber annimmt, daß es sich bei diesen Ursachen um hinreichende Bedingungen handelt, so daß in der ewigen Ursachenverknüpfung ein Glied das folgende hinreichend bewirkt, dann ist auf einer derart schwachen Grundlage für die Konstituierung des Fatums nichts gewonnen. Um die Existenz des Fatums glaubhaft begründen zu können, müßte man schon eine Verknüpfung von „echten“ Ursachen annehmen, also von Ursachen, die mit Notwendigkeit wirken.407 Cicero scheint mit diesem Gedanken die Fatumstheorie der Stoiker in Frage zu stellen, indem er aus seiner Sicht ihre eigene Ursachendefinition und ihre eigene Ursachenunterscheidung gegen sie selbst verwendet, und zwar in einer von ihnen nicht intendierten Weise.408 Hofften sie doch, aufgrund ihrer Unterscheidung zwischen mit Notwendigkeit wirkenden und nicht mit Notwendigkeit wirkenden Ursachen dem Vorwurf ihrer Gegner zu entgehen, daß die Existenz des Fatums die Verantwortlichkeit des Menschen ausschließe (VII.17.). Cicero scheint letztlich darauf abzuzielen, den Stoikern implizit eine zu schwache Fatumstheorie vorzuwerfen und ihnen nach seiner Auffassung einen Widerspruch in ihrer Lehre vor Augen zu halten: Ihr Fatum vermag nicht das zu leisten, was es angesichts ihrer eigenen philosophischen Prämissen leisten müßte. Für diesen zweifellos um der Polemik willen konstruierten Selbstwiderspruch der Stoiker bedient sich Cicero zum einen der Annahme, daß _____________ 407 Vgl. Hamelin (1978), 47f.; Botros (1985), 276 („Consistency with determinism, therefore, requires that causes be both necessary and sufficient, in the cicumstances, for their effects“); Duhot (1989), 200, 209; Meyer (1999), 261. 408 Vgl. Sharples (1991), 184; (1995), 265f.
VII.14. §§ 34–36: Die Definition des Begriffs „Ursache“
215
sich das stoische Fatum nur aus notwendigen Bedingungen zusammensetzt, und zum anderen der Annahme, daß die Stoiker eine Ursache ebenso strikt definieren, wie er es hier in den Paragraphen 34–36 darstellt. Die Richtigkeit der ersten Annahme ist allerdings sehr zweifelhaft (siehe VII.18.c.). Die zweite Annahme ist für die Stoiker insofern akzeptabel, als sie zweifellos zwischen hinreichenden und notwendigen Bedingungen unterscheiden. Allerdings ist es fraglich, ob Cicero diese Unterscheidung im Sinne der Stoiker an der vorliegenden Stelle richtig anwendet,409 denn diese haben sie in der Weise in ihre Kausallehre eingearbeitet, daß neben hinreichenden Bedingungen auch notwendige Bedingungen als Ursachen akzeptiert werden (siehe VII.17.a.). Um weiterhin seine Vorstellung von einer Ursache im eigentlichen Sinne zu verdeutlichen, führt Cicero nun das Beispiel von Philoktetes410 an. Vor dem Hintergrund der von ihm angeführten Definition stellen die Ereignisse (weit) vor der Aussetzung des Philoktetes nur notwendige, aber keine hinreichende Bedingungen dar. Daher kann es nach Ciceros Auffassung auch keine in der Naturordnung verankerte Ursachenverkettung geben, die dafür verantwortlich ist, daß Philoktetes mit einer von jeher bestehenden Notwendigkeit auf der Insel Lemnos zurückgelassen wurde. Bei dem Philoktetes-Beispiel erweckt Cicero nun den Eindruck, daß seiner Meinung nach erst mit dem Schlangenbiß die Aussetzung des Philoktetes notwendig wurde,411 so daß sie bis zu diesem Zeitpunkt auch nicht unabwendbar war. Ob Cicero den Schlangenbiß nun für die Ursache der Aussetzung hält oder nicht, sagt er nicht explizit. Angesichts der vorangegangenen Ursachendefinition kann er wohl schwerlich behaupten, daß ein Schlangenbiß die hinreichende Bedingung für die Aussetzung des Philok_____________ 409 Yon (1950), XXVII Anm. 1 glaubt, daß die Akademiker die stoische Unterscheidung an dieser Stelle in einem nicht-chrysippeischen Sinne verwendet hätten („Les Académiciens […] forçant la distinction stoïcienne dans un sens qui n’est pas celui de Chrysippe“). Sharples (1987a), 207 Anm. 35 betont: „it is questionable how much is Stoic doctrine being turned by Carneades against the Stoics themselves, and how much is Carneades’ own contribution“. Schröder (1990), 139 Anm. 8 stellt heraus, daß die Stoiker zwar „zwischen NjʍǞǓNj und ʺǗ Ǚʤǔ ɕǗǏǟ unterschieden, aber das war ganz anders gemeint als hier in De fato“. 410 Philoktetes, archaischer Held und berühmter Bogenschütze, wurde auf der Insel Lemnos von einer Schlange gebissen, als er sich mit den anderen Griechen auf dem Weg in den Krieg gegen Troja befand. Wegen des Gestankes der Wunde oder wegen seiner Schmerzensschreie ließen ihn die anderen Griechen auf der Insel zurück. Nach 10 Jahren wurde er von dem Heros Machaon geheilt und gelangte doch noch nach Troja, wo er schließlich Paris erschoß. Die Erzählung um Philoktetes ist künstlerisch oft ausgestaltet worden, wie z. B. in der Tragödie Philoktetes von Sophokles. Vgl. RE (XIX,2) Philoktetes; Cappelletti (1964), 107 Anm. 101. Philoktetes wird von Cicero auch in fin. II, 94; Tusc. II, 55; fam. VII, 33.1; Quint. II, 9.4 erwähnt. 411 Vgl. Sharples (1991), 185. Schröder (1990), 140 vertritt die Meinung, daß ein Gegner des Determinismus nur in dem Schlangenbiß die Ursache für die Aussetzung sehen könne.
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VII. Kommentar zu De fato
tetes gewesen sei, denn in der Weise, in der z. B. das Feuer notwendigerweise die Hitze bedingt, bedingt ein Schlangenbiß nicht notwendigerweise eine Aussetzung auf einer Insel. Die anderen Griechen hätten ihn ebensogut wieder mitnehmen können. Auch wenn die Umstände für eine Aussetzung gesprochen haben mögen, so war es doch letztlich ihre Entscheidung, dies zu tun.412 Auf der anderen Seite erkennt Cicero den Grundsatz an, daß nichts ohne Ursache geschieht, so daß es auch für die Aussetzung des Philoktetes letztlich eine Ursache (d. h. eine hinreichende Bedingung) geben mußte. Mit Blick auf die Äußerung ‚Später aber erwies sich die [eigentliche] Ursache als näher und mit dem Ausgang verbundener. Die Beschaffenheit des Ergebnisses offenbart die Ursache‘ (§ 36f.: post autem causa fuit propior et cum exitu iunctior. ratio igitur eventus aperit causam)413 scheint Cicero in der Weise zu verstehen zu sein, daß die konkrete Situation und die begleitenden Umstände für eine Beurteilung des kausalen Zusammenhangs und der kausalen Verantwortlichkeit mitberücksichtigt werden müssen. Im vorliegenden Fall bedeutet dies, daß erst nach der Aussetzung durch die Betrachtung der besonderen Umstände, die zu dieser Aussetzung geführt haben, erkannt werden kann, was für diese Aussetzung die eigentliche Ursache war. Die Griechen befanden sich in der besonderen Situation, daß sie auf dem Weg in den Krieg gegen Troja waren. Der Gestank der Wunde oder die Schmerzensschreie des Philoktetes hätten das Leben der Gefährten und die ganze Mission gefährden können. So mag dieser Umstand für die anderen Griechen so stark ins Gewicht gefallen sein, daß sie sich außerstande sahen, Philoktetes doch noch mitzunehmen, auch wenn sie es „gewollt“ hätten. So erweist sich in diesem Fall, also in Relation zu den vorherrschenden Umständen, der „zufällige“414 Schlangenbiß im nachhinein als die hinreichende Bedingung für die Aussetzung, so daß nach dem Schlangenbiß die Aussetzung des Philoktetes auch unvermeidlich war.415 Ciceros entscheidender Gedanke scheint hier jedenfalls der folgende zu sein: Wenn ein Ereignisablauf, der zu einem bestimmten Geschehen geführt hat, zurückverfolgt wird, kann man in den Ereignissen weit vor diesem Geschehen nur notwendige Bedingungen finden. Erst ein Ereig_____________ 412 Vgl. Sharples (1991), 185; (1995), 268. 413 Siehe auch Ciceros Erläuterung in Top. 67: ‚Wie nämlich eine Ursache anzeigt, was bewirkt worden ist, so legt das, was verursacht wurde, dar, was seine Ursache gewesen ist‘ (ut enim causa quid sit effectum indicat, sic quod effectum est, quae fuerit causa, demonstrat). 414 Auch an der vorliegenden Stelle ist „zufällig“ wieder in dem Sinne zu verstehen, daß der Schlangenbiß nicht unabänderlich in einer sich mit Notwendigkeit vollziehenden Ursachenverkettung verankert war. Siehe hierzu VII.7.c., VII.11. 415 Vgl. Henry (1927), 38; Hunt (1954), 154; Sharples (1991), 185; (1995), 268; Escobar (1999), 323 Anm. 134.
VII.15. §§ 37–38: Die Einschränkung des Bivalenzprinzips durch die Epikureer
217
nis, das dem fraglichen Geschehen zeitlich näher und enger mit ihm verbunden ist, kann sich im nachhinein durch die Art und Weise, in der dieses Geschehen eingetreten ist, als dessen eigentliche Ursache herausstellen,416 so daß die Frage nach dieser eigentlichen Ursache nur relativ zu dem Kontext, in dem sie gestellt wird, beantwortet werden kann.417 Damit könnten sich dann Ereignisse aus bestimmten Perspektiven und im Umfeld ihrer Umstände zuweilen als hinreichende, zuweilen als notwendige Bedingungen erweisen. Diese relative Betrachtung des kausalen Zusammenhanges und der kausalen Verantwortlichkeit steht zweifellos im Einklang mit der skeptischen Haltung der Neuakademiker,418 die aufgrund ihrer indeterministischen Weltsicht nicht von einer in der Natur der Dinge verankerten Ursachenverkettung ausgehen, die mit einer von jeher bestehenden Notwendigkeit zum Eintreten aller Ereignisse führt.
15. §§ 37–38: Die Einschränkung des Bivalenzprinzips durch die Epikureer Auch wenn sich die eigentliche Ursache für ein Geschehen erst in der Retrospektive erkennen läßt, so war doch die Aussage ‚Philoktetes wird auf der Insel zurückgelassen werden‘ von Ewigkeit her wahr, und der Wahrheitswert dieser Aussage konnte sich nicht verändern (sed ex aeternitate vera fuit haec enuntiatio ‚relinquetur in insula Philoctetes‘, nec hoc ex vero in falsum poterat convertere). Mit diesem Satz wechselt Cicero wieder zum Bereich der Logik: In den Paragraphen 37–38 wird die Einschränkung des Bivalenzprinzips durch die Epikureer behandelt. Diese Behandlung knüpft thematisch dort an, wo sie in § 28 mit quorum isti neutrum volunt; quod fieri non potest zwar angesprochen, aber durch den Exkurs über die ratio ignava unversehens unterbrochen wurde. Im Mittelpunkt der Fatumsdiskussion stehen nicht Disjunktionen im allgemeinen ( p q), sondern die Disjunktionen, die aus einer Aussage und ihrem kontradiktorischen Gegenteil gebildet sind ( p ~p), also Disjunk_____________ 416 Sextus Empiricus (PH III, 20f.) legt dar, daß eine Ursache nicht vor dem Effekt, aber auch umgekehrt, ein Effekt nicht vor der Ursache erkannt werden könne. Siehe hierzu insbesondere Barnes (1983), 175–178. 417 Vgl. Sharples (1991), 185; (1995), 260f. 418 Magris (1995), 91 betont, daß nach Karneades jedes Geschehen eine entsprechende Ursache habe, die jedoch nur aus der Erfahrung erkannt werden könne und nicht a priori aus vorausgegangenen Ursachen deduziert werden dürfe. Göring (1874), 43–47 verweist darauf, daß die skeptische Akademie eine Ursache nur relativ verstanden habe, wobei es aber nicht darum gehe, „in dogmatischer Weise die Existenz der Ursachen zu leugnen“ (S. 47). Zu „Ancient Skepticism and Causation“ siehe Barnes (1983).
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VII. Kommentar zu De fato
tionen, bei denen das eine Glied die Negation des anderen darstellt (in rebus contrariis duabus – contraria autem hoc loco ea dico, quorum alterum ait quid, alterum negat). Von den beiden Aussagen p und ~p ist nach Ciceros Überzeugung notwendigerweise die eine wahr und die andere falsch. Epikur aber akzeptiert dies nicht in allen Fällen, da er aus Furcht vor deterministischen Konsequenzen bestreitet, daß auch jede zukunftsbezogene Aussage entweder wahr oder falsch ist. Er schränkt also die Gültigkeit des Bivalenzprinzips für zukunftsbezogene Aussagen ein (vgl. §§ 19, 21).419 Doch aus Scham vor solch einer Einschränkung – so Cicero – hätten die Epikureer zwar versucht, ihre These abzumildern, aber dadurch nur noch etwas viel Beschämenderes behauptet: Die aus einer Aussage und ihrem kontradiktorischen Gegenteil gebildete Disjunktion sei als ganze wahr, wobei aber keinem der in ihr enthaltenen Glieder ein Wahrheitswert zugewiesen werden müsse.420 Was ist aus Ciceros Sicht so sehr ‚beschämend‘ an dieser Behauptung? In der klassischen Logik gilt, daß eine Disjunktion genau dann wahr ist, wenn mindestens eines ihrer Glieder wahr ist (W( p q) Wp Wq). In dem hier diskutierten Spezialfall stellt das eine Disjunktionsglied (~p) gerade das kontradiktorische Gegenteil, also die Negation, des anderen ( p) dar. So kann mit q/~p formuliert werden: W( p ~p) Wp W~p. Nun besagt W~p (es ist wahr, daß nicht p) nichts anderes, als daß p falsch ist, und kann somit durch Fp (es ist falsch, daß p) ersetzt werden. Mit dieser Ersetzung ergibt sich: W( p ~p) _____________ 419 Vgl. Ac. II, 97 (teilw. SVF II, 219; teilw. LS 20I; teilw. FDS 880): etenim cum ab Epicuro, qui totam dialecticam et contemnit et irridet, non impetrent, ut verum esse concedat, quod ita effabimur, ‚aut vivet cras Hermarchus aut non vivet ‘, cum dialectici sic statuant omne, quod ita disiunctum sit, quasi ‚aut etiam aut non‘, ÄnonÔ modo verum esse sed etiam necessarium, vide, quam sit cautus is, quem isti tardum putant; ‚si enim‘, inquit, ‚alterutrum concessero necessarium esse, necesse erit cras Hermarchum aut vivere aut non vivere‘; nulla autem est in natura rerum talis necessitas. cum hoc igitur dialectici pugnent, id est Antiochus et Stoici; totam enim evertit dialecticam; nam si e contrariis disiunctio – contraria autem ea dico, cum alterum aiat, alterum neget – si talis disiunctio falsa potest esse, nulla vera est; nat. I, 70 (FDS 927): idem facit contra dialecticos; a quibus cum traditum sit in omnibus diiunctionibus, in quibus ‚aut etiam aut non‘ poneretur, alterum utrum esse verum, pertimuit, ne, si concessum esset huius modi aliquid ‚aut vivet cras aut non vivet Epicurus‘, alterutrum fieret necessarium: totum hoc ‚aut etiam aut non‘ negavit esse necessarium; quo quid dici potuit obtusius? Ciceros Referat in den Academica priora und in De natura deorum gibt Anlaß zu der Vermutung, daß Epikur nicht nur die Allgemeingültigkeit des Bivalenzprinzips, sondern auch die Allgemeingültigkeit des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten (siehe o. S. 7 Anm. 6) aus Furcht vor deterministischen Konsequenzen preisgab. Sollte dies Epikurs Vorgehen gewesen sein, müßte die Lehrmeinung, mit der Cicero sich in den Paragraphen 37–38 auseinandersetzt, nicht Epikur selbst, sondern seinen Schülern zugeschrieben werden, die im Gegensatz zu ihrem Lehrer am Satz vom ausgeschlossenen Dritten festhielten. Siehe hierzu Bobzien (1998a), 76–86, O’Keefe (2005), 126 und ausführlich Kreter (2006), 88–103. 420 Diese Meinung scheint auch Aristoteles in dem vieldiskutierten Kapitel 9 von De interpretatione zu vertreten, in dem er sich mit dem logischen Determinismus auseinandersetzt. Siehe hierzu den ausführlichen Kommentar in Weidemann (2002), 223–328.
VII.15. §§ 37–38: Die Einschränkung des Bivalenzprinzips durch die Epikureer
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Wp Fp. In dieser Darstellung ist nun gut zu erkennen, daß auf der linken Seite der Satz vom ausgeschlossenen Dritten (Tertium non datur) und auf der rechten Seite das Bivalenzprinzip formuliert ist. So wird der empörte Ausruf Ciceros ‚Welch seltsame Willkür und beklagenswerte Unkenntnis der Logik!‘ (O admirabilem licentiam et miserabilem inscientiam disserendi)421 verständlich. Die Epikureer wollen auf der einen Seite den Satz vom ausgeschlossenen Dritten anerkennen, auf der anderen Seite aber das Bivalenzprinzip einschränken. Das ist aber nicht möglich, da sich der Satz vom ausgeschlossenen Dritten und das Bivalenzprinzip gegenseitig bedingen. Leugnet man also das eine Prinzip, muß man zwangsläufig auch das andere ablehnen. Somit ist Ciceros Kritik auf dem Boden der klassischen Logik durchaus berechtigt.422 Nun hat in der modernen Logik Bas C. van Fraassen die Methode der ‚Superbewertungen‘ („supervaluations“) entwickelt, die Richmond Thomason in seinem Aufsatz „Indeterminist time and truth value gaps“ auf kontingente Zukunftsaussagen anwendet. Diese Methode läßt eine andere Beurteilung der epikureischen Vorgehensweise zu und kann wie folgt beschrieben werden:423 Wenn diejenigen Teilaussagen einer komplexen Aussage, die keinen Wahrheitswert haben, mit allen hypothetisch möglichen Wahrheitswerten belegt werden und sich bei dieser Belegung nach den Regeln der klassischen Logik für die komplexe Aussage immer ein und derselbe Wahrheitswert ergibt, dann wird der komplexen Aussage ebendieser Wahrheitswert (als „übergeordneter“ Wahrheitswert) zugewiesen, und die Teilaussagen verbleiben ohne einen Wahrheitswert. In dem Falle aber, in dem sich bei der Belegung der Teilaussagen mit allen hypothetisch möglichen Wahrheitswerten für die komplexe Aussage nicht immer ein und derselbe Wahrheitswert ergibt, kann der komplexen Aussage kein übergeordneter Wahrheitswert zugewiesen werden.424 _____________ 421 Cicero hätte niemals in solch einer Weise gespottet, glaubt Sedley (2005), 243f., wenn er gewußt hätte, daß die Epikureer dieselbe Ansicht vertreten wie Aristoteles (siehe die vorhergehende Anmerkung), dem er auf keinen Fall ‚logische Ignoranz‘ zu unterstellen gewagt hätte. 422 Epikurs Vorgehensweise hat auch in der Gegenwart ihre Kritiker gefunden. Siehe hierzu Weidemann (2002), 318–321. 423 Vgl. van Fraassen (1966); (1969); Thomason (1994). Eine Übersicht über die „3-valued logic“ und „truth-value-gap-theory“ findet sich in Haack (1993), 204–220; (1996), 47–90, zur Supervaluation insbesondere (1993), 216; (1996), 58–60. 424 Vgl. Weidemann (2002), 320: „Nach dieser Methode ist nämlich einer zusammengesetzten Aussage, für die gilt, daß eine oder mehrere der in ihr enthaltenen Teilaussagen weder wahr noch falsch sind, in dem Falle, in dem sie bei jeder möglichen Belegung der betreffenden Teilaussage(n) mit einem Wahrheitswert ihrerseits ein und denselben Wahrheitswert erhalten würde, ebendieser Wahrheitswert und andernfalls überhaupt kein Wahrheitswert zuzuordnen“.
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VII. Kommentar zu De fato
Wendet man das Verfahren der Superbewertung nun auf die Disjunktion p ~p an, so erhält man folgende Wahrheitswerttabelle: p ~p p ~p klassische Bewertung w f w f w w Superbewertung – – w Nach der klassischen Bewertung ergibt sich bei jeder möglichen Belegung der einzelnen Teilaussagen mit einem Wahrheitswert für die ganze Disjunktion p ~p immer der Wahrheitswert „wahr“. So kann jetzt die Disjunktion p ~p nach der Superbewertung als „wahr“ bewertet werden, ohne daß den Teilaussagen p und ~p einzeln ein Wahrheitswert zugeordnet werden müßte. Im Unterschied dazu ergibt sich für eine allgemeine Disjunktion folgende Wahrheitswerttabelle: p q pq klassische Bewertung w w w w f w f w w f f f Superbewertung – – – In diesem Fall ergibt sich nach der klassischen Bewertung bei jeder möglichen Belegung der einzelnen Teilaussagen mit einem Wahrheitswert für die ganze Disjunktion p q nicht immer ein und derselbe Wahrheitswert. Daher kann ihr, wenn ihre Teilaussagen keinen Wahrheitswert haben, nach der Superbewertung ebensowenig ein Wahrheitswert zugeordnet werden wie nach der klassischen Bewertung. Mit der Methode der Superbewertungen kann also die Vorgehensweise der Epikureer gerechtfertigt werden. Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten kann aufrechterhalten werden, ohne daß das Bivalenzprinzip gleichermaßen uneingeschränkt akzeptiert werden müßte. Für Cicero ist aber ein solches Vorgehen völlig inakzeptabel. Denn wenn eine Aussage weder wahr noch falsch sein sollte, dann ist sie sicher nicht wahr, und wie sollte dann diese Aussage, fragt Cicero, nicht falsch
VII.16. §§ 39–40: Der stoische Fatalismus als Mittelweg
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sein, oder umgekehrt, wie sollte eine Aussage, die nicht falsch ist, nicht wahr sein? (si enim aliquid in eloquendo nec verum nec falsum est, certe id verum non est; quod autem verum non est, qui potest non falsum esse? aut, quod falsum non est, qui potest non verum esse?). Es besteht daher für Cicero nicht der geringste Zweifel daran, daß das Bivalenzprinzip uneingeschränkt aufrechterhalten werden muß (tenebitur igitur id, quod a Chrysippo defenditur, omnem enuntiationem aut veram aut falsam esse).425 Diese Meinung vertritt auch Chrysipp, nur mit dem entscheidenden Unterschied, daß er das Bivalenzprinzip mit der Fatumskausalität verbindet (§§ 20–21, siehe VII.8.). Einmal mehr widerspricht Cicero dieser Ansicht: Die Vernunft wird zu der Erkenntnis zwingen, daß die Wahrheit zukunftsbezogener Aussagen (auf der Basis des schwachen Wahrheitsbegriffs) nicht an eine ewige Ursachenverknüpfung gebunden und so auch frei von einer Fatumsnotwendigkeit ist (ratio ipsa coget 426 et ex aeternitate quaedam esse vera et ea non esse nexa causis aeternis et a fati necessitate esse libera).
16. §§ 39–40: Der stoische Fatalismus als Mittelweg a. Die entgegengesetzten Meinungen und Chrysipps Mittelweg Mit den Paragraphen 39–45 beginnt der letzte große Abschnitt von De fato. Nachdem im Laufe der vorangegangenen Untersuchung die Logik, die Kausalität und ihr Verhältnis zueinander behandelt worden ist, tritt nun der ethische Aspekt der Fatumsdiskussion in den Vordergrund. Cicero setzt sich mit dem Versuch der Stoiker auseinander, mit Hilfe einer auf die Lehre von den Zustimmungen (adsensiones) angewandten Ursachenunterscheidung der menschlichen Freiheit und der moralischen Verantwortlichkeit innerhalb der stoischen Philosophie Geltung zu verschaffen. Aus Ciceros Perspektive lassen sich die an der Fatumsdiskussion beteiligten Philosophen in zwei Gruppen einteilen. Die erste Gruppe vertritt die deterministische Lehrmeinung, daß alles in der Weise durch das Fatum geschieht, daß es die Gewalt der Notwendigkeit mit sich bringt (qui censerent omnia ita fato fieri, ut id fatum vim necessitatis adferret). Zu dieser Gruppe werden namentlich die Philosophen Demokrit427, Heraklit428, Empedokles429 und Aristoteles430 gezählt. _____________ 425 Zur Rechtfertigung des Bivalenzprinzips siehe auch VII.7.b. 426 Von Meyer (1807), 247 Anm. y glaubt, daß hinter coget einige Worte ausgefallen seien. 427 Demokrit (470/460–380/370) soll davon ausgegangen sein, daß alles mit strenger Notwendigkeit geschieht (DL IX, 45: ǚɏǗǞNj ǞǏ ǔNjǞ’ ɒǗɏǍǔǑǗ ǍʇǍǗǏǝǒNjǓ). Für ihn offenbart sich die ɒǗɏǍǔǑ in der „Naturkraft, die mit zwingender Notwendigkeit die Atome in wir-
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VII. Kommentar zu De fato
_____________ belnde Bewegung bringt und so die Ursache alles Werdens wird“ (Gundel (1914), 14f.). Siehe hierzu Gundel (1914), 14–16; Schreckenberg (1964), 114–122. Siehe auch o. S. 173 Anm. 289. 428 Heraklit (ca. 550–480) soll die ǏʉǖNjǛǖɨǗǑ als ein göttliches Gesetz verstanden und mit dem alles durchdringenden ǕʗǍǙǜ gleichgesetzt haben. Auch soll er die Begriffe ɒǗɏǍǔǑ und ǏʉǖNjǛǖɨǗǑǗ so stark miteinander identifiziert haben, daß er sie zu dem Begriff der ǏʉǖNjǛǖɨǗǑ (Adj.) ɒǗɏǍǔǑ zusammengefügt habe. Diese Schicksalsmacht stellt die alles bestimmende Kraft im Kosmos dar, die Heraklit in doppelter Hinsicht interpretiert: Auf der einen Seite ist sie das aktive Naturgesetz und stellt das Walten Gottes dar, das sich für den Betrachter in der Welt als ein ständiger und harmonischer Kreislauf des Werdens und Vergehens offenbart. Auf der anderen Seite empfindet der Betrachter das Walten der Schicksalsmacht im passivischen Sinne als den unbeugsamen Naturzwang. Siehe hierzu Gundel (1914), 9–11; Greene (1936), 98–103; RAC (Bd. 7) Fatum, 531. 429 Empedokles (494/484–434/424) nimmt ein hinter allen Erscheinungen liegendes Naturgesetz an, das mit strenger Notwendigkeit in der Welt regiert. Diesem Naturgesetz unterliegen die vier Elemente (Feuer, Wasser, Luft und Erde) und die beiden Kräfte ‚Liebe und Haß‘ (ǠǓǕʇNj ǔNjʈ ǗǏʏǔǙǜ), welche die Mischung und Entmischung der Elemente und so das Entstehen und Vergehen in der Welt bewirken. Auch deutet Empedokles die ɒǗɏǍǔǑ mythisch, indem er sie zur Göttin ǩǗɏǍǔǑ erhebt, die den ewigen Beschluß der Götter personifiziert. Sie ist die harte Richterin über die individuelle Seele, die sittliches Vergehen mit Verdammnis ahndet, ein makelloses Leben aber mit Erlösung belohnt. Siehe hierzu Gilbert (1911), 198–225, insbesondere 203–207; Gundel (1914), 22–25; Greene (1936), 110–117; Schreckenberg (1964), 110–113. 430 Aristoteles (384–322) setzt sich mit dem Problem des kausalen Determinismus in Met. ư 3 auseinander. Dort will er die Existenz akzidenteller Ursachen plausibel machen, d. h. die Existenz von Ursachen, die nicht in einer ewigen Kausalverkettung miteinander verbunden sind, so daß auch nicht alles mit einer von jeher bestehenden Notwendigkeit geschieht (siehe hierzu insbesondere den Aufsatz von Weidemann (2003b), der eine überarbeitete Version von Weidemann (1987) darstellt). Mit dem logischen Determinismus setzt sich Aristoteles in dem berühmten und vieldiskutierten Kapitel 9 von De interpretatione auseinander. Um den logischen Determinismus zu vermeiden, schränkt er das Bivalenzprinzip für kontingente zukunftsbezogene Aussagen ein, wobei der Satz vom ausgeschlossenen Dritten (Tertium non datur) aufrechterhalten wird (siehe hierzu den ausführlichen Kommentar in Weidemann (2002), 223–328). In der Nikomachischen Ethik (III, 7) spricht Aristoteles dem Menschen freies Handeln und volle Verantwortung zu: Handlungen können nur auf Prinzipien zurückgeführt werden, die im Menschen selbst liegen, aber nicht auf außerhalb des Menschen liegende Ursachen, so daß sich der Mensch zu seinen Handlungen wie der Vater zu seinen Kindern verhält, d. h., er ist selbst der Anfang und der Schöpfer seiner Handlungen. Ferner findet sich bei Aristoteles an dieser Stelle auch der grundsätzliche Gedanke des ethischen Arguments, das in seiner Nachfolge ein zentraler Einwand gegen den Determinismus wird (siehe hierzu VII.16.c.): Wenn dem Menschen kein freiwilliges Handeln zugesprochen werden kann, dann wird die Gesetzgebung wertlos, da niemand weder für seine guten Taten gelobt noch für seine schlechten Taten getadelt und zur Verantwortung gezogen werden kann. Aristoteles vertritt nach den uns überlieferten Texten eine antideterministische Position. Daher ist es überraschend, daß Cicero ihn hier zu den Fatalisten zählt (Karsten konjiziert für „Aristoteles“ den Namen „Anaxagoras“ (DK II, S. 100 (68 A66); vgl. Hamelin (1978), 36 Anm. 6; Sharples (1991), 84; Bayer (2000), 158)). Der Grund mag darin liegen, daß Cicero nur die exoterischen Schriften des Aristoteles kannte, deren Inhalt jedoch nicht mehr bekannt ist, da sie verlorengingen. Hingegen scheint ihm das uns überlieferte Corpus Aristotelicum, das aus den esoterischen Lehrschriften besteht, nicht bekannt gewesen zu sein (vgl.
VII.16. §§ 39–40: Der stoische Fatalismus als Mittelweg
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Mit der Nennung dieser Namen liegt genaugenommen eine anachronistische Darstellung vor.431 Die Auseinandersetzung mit dem Fatum ist im eigentlichen Sinne erst mit dem Beginn der hellenistischen Epoche auf den philosophischen Plan getreten (siehe V.). Die Schaffenszeit jeder der von Cicero genannten Philosophen liegt aber vor der hellenistischen Epoche. Demokrit, Heraklit sowie Empedokles wirkten in der vorsokratischen Zeit, und mit Aristoteles, dem jüngsten unter ihnen, endet die klassische Zeit. Er starb etwa eine Generation vor der Gründung der Stoa. Auch wenn den genannten Philosophen die Begriffe ǏʉǖNjǛǖɨǗǑ oder ɒǗɏǍǔǑ geläufig waren, so verwendeten sie diese Begriffe doch nicht im Zusammenhang einer Fatumsdiskussion, wie sie in der hellenistischen Zeit geführt wurde. Die Erwähnung dieser Philosophen im vorliegenden Zusammenhang mag also überraschen, vielleicht ebenso wie der Umstand, daß keiner der megarischen Philosophen genannt wird432. Ciceros Anliegen scheint aber gar nicht zu sein, einen exakten Überblick in historischer oder doxographischer Hinsicht zu geben,433 vielmehr scheint er mit Blick auf die folgende Auseinandersetzung aus der eigenen literarischen Perspektive zu sprechen (§ 39: ac mihi quidem videtur). Cicero stellt Chrysipp so dar, als wolle dieser mit seiner Lehre einen Platz zwischen den Vertretern der Fatumsnotwendigkeit und den Libertariern einnehmen. So mag Cicero aus Gründen der übersichtlicheren Systematisierung die ‚alten Philosophen‘ (veteres), die nach seiner Meinung eine deterministische Philosophie vertraten, pauschal den „Fatalisten“ zugeordnet haben. In ähnlicher Weise läßt sich der Umstand erklären, daß Cicero im folgenden die Meinung der Libertarier mit dem Rekurs auf die Termini ‚Zustimmung‘ (adsensio) und ‚Vorstellung‘ (visum) darstellt (§§ 40, 44). Die Lehre von den Zustimmungen stellt zwar eine genuine Ausarbeitung der Stoiker dar, aber die stoische Terminologie war den anderen Schulen bekannt und wurde von diesen in der Auseinandersetzung mit dem Fatum natürlich auch verwendet. Daß Cicero sich gerade an die stoische Terminologie eng anschließt, erklärt sich aus dem Umstand, daß er eben gegen die Stoiker argumentiert, was in der Sprache des Gegners mit einer größeren Effizienz geschehen kann. Wenn Cicero sich also bei der Darstellung der zu erörternden Positionen stets des gleichen Vokabulars _____________ Huby (1967), 357; Donini (1989), 127; Sedley (2005), 243f.; Kreter (2006), 189f. Anm. 356). Pesce (1970), 91 Anm. 116 vermutet, daß Cicero nur den ‚jungen Aristoteles‘ gekannt habe. 431 Vgl. Huby (1970), 83f.; Schröder (1990), 143f. Anm. 17; Sharples (1991), 188; Bobzien (1998a), 315f., 318. Marwede (1984), 218 nimmt an, daß Cicero diese Namen wörtlich aus einer Quelle abgeschrieben habe. Donini (1989), 126, 144f. will nicht ausschließen, daß Cicero den Namen „Aristoteles“ selbst hinzugefügt hat. 432 Vgl. Duhot (1989), 204. 433 Vgl. Sharples (1991), 188. Siehe auch o. Anm. 431 und die folgende Anmerkung.
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VII. Kommentar zu De fato
bedient, kann er die philosophischen Differenzen der einzelnen Schulen pointierter und in systematisch übersichtlicherer Weise darstellen, was dem Verständnis der Fatumsdiskussion dienlich ist.434 Dafür muß er allerdings philosophisch-historische Ungenauigkeiten in Kauf nehmen, die aber für die grundsätzliche Auseinandersetzung nicht von Belang sind.435 Die zweite Gruppe vertritt eine libertarische Lehrmeinung, da sie davon ausgeht, daß es willentliche Bewegungen der Seele gibt, die keiner Fatumsnotwendigkeit unterworfen sind (§ 39: quibus viderentur sine ullo fato esse animorum motus voluntarii ). Im Unterschied zur ersten Gruppe werden die Vertreter der zweiten Lehrmeinung namentlich nicht genannt.436 Zu dieser Gruppe können Ciceros Darstellung in De fato zufolge die Neuakademiker437 und auch die Epikureer438 gezählt werden. Die Ausgangsthese, die beide Gruppen gleichermaßen zugrunde legen, ist die Annahme, daß die Existenz des Fatums die Notwendigkeit jeglichen Geschehens impliziere ( f o n). Die daraus folgende Argumentation der jeweiligen Gruppen ist zwar nicht explizit ausgeführt, kann aber wie folgt dargestellt werden.439 Die erste Gruppe vertritt eine deterministische Position und argumentiert daher: 1. Prämisse: Wenn alles durch das Fatum geschieht, geschieht alles mit Notwendigkeit.
fon
2. Prämisse: Nun geschieht aber alles durch das Fatum.
f
Konklusion mit Modus ponens: Also geschieht auch alles mit Notwendigkeit.
n
_____________ 434 Vgl. Schröder (1990), 143f. Anm. 17. Duhot (1989), 193, 205f., 209 hält die ganze Passage für sehr ‚artifiziell‘. Die ganze Diskussion sei inszeniert und habe in dieser Weise nie stattgefunden. 435 Daher muß man nicht mit Duhot (1989), 205f. zu dem Urteil gelangen, daß Cicero hier ein Unverständnis der historischen Gegebenheiten offenbare. 436 Janssen (1992), 179 glaubt, daß Cicero bewußt keinen Namen angebe, weil die gemeinsame Nennung von Karneades und Epikur zum einen für Karneades beleidigend gewesen wäre, zum anderen die Versöhnung zwischen Karneades und Chrysipp erschwere, die Cicero vor Augen habe. 437 Von diesen ist wohl am ehesten an Arkesilaos zu denken, während Karneades aus chronologischen Gründen ausscheidet. Vgl. Sharples (1991), 186f. mit Verweis auf SVF II, 974, S. 282, Ioppolo (1988), 420–424 und Donini (1989), 140. 438 Vgl. Englert (1987), 134 mit Blick auf § 23; Stevens (2000), 144. 439 Es wird folgende Notation verwendet: f „Alles geschieht durch das Fatum“; n „Alles geschieht mit Notwendigkeit“.
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VII.16. §§ 39–40: Der stoische Fatalismus als Mittelweg
Die zweite Gruppe vertritt die Auffassung, daß der Wille nicht der Notwendigkeit unterliege. Ihre zweite Prämisse lautet daher ‚Nicht alles geschieht mit Notwendigkeit‘, so daß sie wie folgt argumentiert: 1. Prämisse: Wenn alles durch das Fatum geschieht, geschieht alles mit Notwendigkeit.
fon
2. Prämisse: Nun geschieht aber nicht alles mit Notwendigkeit. Konklusion mit Modus tollens: Also geschieht auch nicht alles durch das Fatum.
~n ~f
Nun möchte Chrysipp quasi als ‚Schiedsrichter‘, berichtet Cicero weiter, einen versöhnlichen Mittelweg zwischen der deterministischen und der libertarischen Position finden, wobei er aber mehr zu der zweiten Gruppe tendiere, welche die willentlichen Bewegungen des Geistes vom Wirken des Fatums befreit wissen wollen (§ 39: Chrysippus tamquam arbiter honorarius440 medium ferire voluisse, sed applicat se ad eos potius, qui necessitate motus animos liberatos volunt).441 Aber bereits im voraus macht Cicero deutlich, daß er Chrysipps Bemühungen, auf diese Weise die Freiheit des Menschen zu verteidigen, für gescheitert hält. Im Gegenteil, er gerate bei seiner Darlegung in solche Schwierigkeiten, daß er unfreiwillig die Fatumsnotwendigkeit sogar noch bestätige (§ 39: dum autem verbis utitur suis442, delabitur in eas difficultates, ut necessitatem fati confirmet invitus). _____________ 440 Der juristische Terminus arbiter honorarius bezeichnet denjenigen, der von den streitenden Parteien gewählt oder vom Prätor bestimmt wird, um einen Privatstreit zu entscheiden (vgl. Jacobs (1840), 348 Anm. 30; Antonini (1994), 81 Anm. 70). Auch Karneades wurde von Cicero schon als ein solcher bezeichnet (Tusc. V, 120: quorum controversiam solebat tamquam honorarius arbiter iudicare Carneades). 441 Mit Bobzien (1998a), 315 darf angenommen werden, daß Chrysipp nicht beabsichtigte, bewußt einen Mittelweg auszuarbeiten, sondern daß seine Lehrmeinung als ein Mittelweg interpretiert wurde. Vgl. Jedan (2002), 58. 442 Marwede (1984), 218f. gibt gegen Yon (1950), XXVII Anm. 1, Hamelin (1978), 36 und Bayer (2000), 158 (vgl. Rolke (1975), 376) mit Recht zu bedenken, daß ein allzu wörtliches Verständnis von verbis suis in dem Sinne, daß Chrysipp durch seine selbst gewählten Worte in Schwierigkeiten gerate, zu der Interpretation verleiten könnte, daß Chrysipp dann, wenn er seine Wortwahl ändern würde, auch den Schwierigkeiten entkommen könnte. Vgl. Straaten (1977), 509, der suis verbis im Sinne von „wenn er aus seinem eigenen philosophischen System heraus redete“ interpretiert. Platz (1973), 67f. betrachtet den Umstand, daß Chrysipp auch die Nebenursachen im Fatum unterbringe, als Grund für den unfreiwilligen Widerspruch, genauso wie Plutarch, Stoic. repug. 47, 1056b–d (teilw. SVF II, 997; teilw. LS 55R) ihn später formuliert habe (siehe u. S. 283 Anm. 610).
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VII. Kommentar zu De fato
b. Die stoische Erkenntnis- und Handlungstheorie In der Strategie der Stoiker, trotz der Akzeptanz des Fatums der menschlichen Freiheit und der moralischen Verantwortlichkeit Geltung zu verschaffen, spielt die Lehre von den Zustimmungen eine wichtige Rolle. Um das Verständnis der Argumentation Chrysipps zu erleichtern, soll die Funktion der Zustimmungen in der stoischen Erkenntnis- und Handlungstheorie kurz dargestellt werden. Der Vorgang der Erkenntnisgewinnung nimmt seinen Ausgangspunkt bei einer ‚Vorstellung‘, einer ǠNjǗǞNjǝʇNj, für die Cicero das lateinische Wort visum wählt.443 Eine Vorstellung ist ein materiell gedachter Affekt (ǚɏǒǙǜ) in der Seele,444 genauer im ‚herrschenden Teil‘ der Seele (ɲǍǏǖǙǗǓǔʗǗ)445 und läßt dort ein Abbild dessen entstehen, wovon sie ausgegangen oder wodurch sie erzeugt worden ist. Cicero beschreibt die Vorstellung im Sinne Zenons als etwas, das von Existierendem, so wie es ist, ‚eingeprägt, eingezeichnet und abgebildet‘ worden ist (vgl. § 43).446 Da in einer Vor_____________ 443 Vgl. Ac. I, 40 (SVF I, 55; FDS 256): ille ǠNjǗǞNjǝʇNjǗ, nos visum appellemus licet; Ac. II, 18 (SVF I, 59; FDS 352). Zur Übersetzung siehe Hartung (1970), 31–34. 444 An dieser Auffassung übt Arkesilaos Kritik (SE AM VII, 151–157 (LS 41C)): Eine Zustimmung könne nur zu einer Proposition, also zu etwas Immateriellem, gegeben werden. Die Vorstellung sei aber materiell gedacht. Vgl. z. B. Sandbach (1971), 12f.; Kerferd (1978); Inwood (1985), 56–59; M. Frede (1986), 103f.; Ioppolo (1990), 438; Long (1991), 119; Hahmann (2005), 139–147. 445 Schon in der Antike gab es keine einheitliche Definition. Zenon und Kleanthes beschreiben nach DL VII, 45 (SVF II, 53; FDS 33), 50 (SVF II, 55; LS 39A; FDS 255) und SE AM VII, 228–231 (SVF I, 484; II, 56; FDS 259), 236 (SVF I, 58; FDS 259), 372 (SVF I, 484; II, 56; FDS 260) die ǠNjǗǞNjǝʇNj als einen ‚Eindruck in der Seele‘ (ǞʡǚǣǝǓǜ ɫǗ Ǣǟǡʆ), ähnlich einem Abdruck, den ein Siegelring im Wachs hinterläßt. Chrysipp modifizierte die Definition und bezeichnete die ǠNjǗǞNjǝʇNj als eine ‚Veränderung der Seele‘ (ǠNjǗǞNjǝʇNj ɫǝǞʈǗ ɪǞǏǛǙʇǣǝǓǜ Ǣǟǡʅǜ). Zu den verschiedenen Definitionen siehe SE AM VII, 227–241 (FDS 259). Vgl. z. B. Stein (1888), 110f. Anm. 223, 123 Anm. 241, 127, 154–186; Pohlenz (1938), 175–187; Graeser (1975), 30–39; Straaten (1977), 513; Arthur (1983), 70–73; Reesor (1989), 49–58; Ioppolo (1990), 433f.; Long (1991), 108f.; Schubert (1993). Zum „Wachssiegelvergleich“ siehe Stroux (1965), 51–71. 446 Vgl. Ac. II, 18 (SVF I, 59; FDS 352): visum igitur inpressum effictumque ex eo, unde esset, quale esse non posset ex eo, unde non esset, 77 (SVF I, 59; LS 40D; FDS 337): quale igitur visum? tum illum ita definisse: ex eo, quod esset, sicut esset, impressum et signatum et effictum. Nach DL VII, 49 (SVF II, 52; LS 39A; FDS 255) gibt die ǠNjǗǞNjǝʇNj die ‚Wahrheit der Dinge‘ (ɒǕɰǒǏǓNj ǞʸǗ ǚǛNjǍǖɏǞǣǗ) wieder. Ioppolo (1990), 437 erklärt ein visum folgendermaßen: „A presentation is not an interpretation of reality, but rather a faithful translation of it“. Zeugnisse finden sich in SVF I, 55–59, 484; II, 52–70; LS 39A–G; FDS 259–275. Sharples (1991), 190 weist mit Görler (1987), 264 Anm. 24 darauf hin, daß ǠNjǗǞNjǝʇNj bzw. visum dem Worte nach zwar mit dem Verb „sehen“ verbunden sei, jedoch könne eine Vorstellung auch von anderen Sinneseindrücken oder sogar von inneren Anschauungen entspringen. Eine Vorstellung aus der NjʍǝǒǑǝǓǜ entspringe der Wirklichkeit, so Stein (1888), 156, wohingegen eine Vorstellung aus der ǎǓɏǗǙǓNj „als pures Gedankengebilde keine Realität besitzt“. Vgl. Sharples (1981), 95 Anm. 40; Long (1991), 108; Cooper (2003), 16; Hahmann (2005), 139.
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stellung dieser Art eine „nicht weiter begründbare Evidenz“447 liegt, stellt sie eine ‚erfassende Vorstellung‘ (ǠNjǗǞNjǝʇNj ǔNjǞNjǕǑǚǞǓǔɰ) dar.448 Nachdem eine derartige Vorstellung im ‚herrschenden Teil‘ der Seele entstanden ist, wird zu ihr die ‚Zustimmung‘ – die ǝǟǍǔNjǞɏǒǏǝǓǜ, die Cicero mit adsensio wiedergibt449 – erteilt. Erst durch den Vorgang der Zustimmung wird etwas rational erfaßt und kann so zur Erkenntnis (ǔNjǞɏǕǑǢǓǜ) werden.450 Zenon hat diesen ganzen Vorgang mit folgendem Bild beschrieben: Die Vorstellung ist wie eine offene Hand mit ausgestreckten Fingern. Werden die Finger etwas zusammengezogen, entspricht das einer Zustimmung. Wird die Hand zu einer Faust, dann stellt dies die Erkenntnis dar. Umfaßt nun die andere Hand die Faust, ist damit das wahre Wissen beschrieben, das aber nur der Weise allein zu erreichen in der Lage ist.451 Auch die Ausführung einer Handlung beginnt mit einer Vorstellung. Diese Vorstellung wird mit der Vernunft daraufhin geprüft, ob die vorgestellte Handlung gut und erstrebenswert ist. Erst wenn diese Prüfung positiv verlaufen ist, kommt es zu einer Zustimmung, die ihrerseits einen Handlungsimpuls, die ʙǛǖɰ, auslöst, für die Cicero in De fato die Übersetzung adpetitus 452 verwendet. Der Handlungsimpuls ist als eine ‚Bewegung der Seele auf etwas hin oder von etwas weg‘ definiert.453 Chrysipp sieht in _____________ 447 Gigon (1944), 50. Vgl. Pohlenz (1938), 178. 448 Die erfassenden Vorstellungen sind von Vorstellungen zu unterscheiden, die „nicht überzeugend“ oder „nicht die Wahrheit verbürgend“ sind und so zu einem falschen Urteil führen können. Vgl. DL VII, 46 (SVF II, 53; LS 40C; FDS 33). Vgl. z. B. Stein (1888), 172f.; Schmekel (1892), 342f.; Gigon (1944), 50; Weische (1961), 51; Sandbach (1971), 19; Kerferd (1978), 254–258; Annas (1990), 187; Long (1974), 126f.; (1991), 109. Zur ǠNjǗǞNjǝʇNj ǔNjǞNjǕǑǚǞǓǔɰ siehe z. B. Pohlenz (1938), 174–187; Sandbach (1971); Graeser (1975), 39– 68; Striker (1990); (1996); Steinmetz (1994), 530–532; Fladerer (1996), 81–86. 449 In Ac. II, 37 (SVF II, 115; FDS 363) verwendet Cicero noch den Doppelausdruck nunc de adsensione atque adprobatione, quam Graeci ǝǟǍǔNjǞɏǒǏǝǓǗ vocant, pauca dicemus. Der TLL II, 851.19–20 weist für Cicero den frühesten Gebrauch des Wortes in diesem Sinne aus. Zur Übersetzung siehe Hartung (1970), 72–78. 450 Zur stoischen Erkenntnistheorie siehe z. B. Hirzel (1964) II, 182–198; Sandbach (1971); Long (1974), 123–131; (1999); Annas (1990); Ioppolo (1990); Steinmetz (1994), 528–533, 593–595; M. Frede (1999); Hankinson (2003). 451 Vgl. Cicero, Ac. II, 145 (SVF I, 66; LS 41A; FDS 369): nam cum extensis digitis adversam manum ostenderat, ‚visum‘, inquiebat, ‚huius modi est‘; dein cum paulum digitos contraxerat, ‚adsensus huius modi‘; tum cum plane conpresserat pugnumque fecerat, conprehensionem illam esse dicebat, qua ex similitudine etiam nomen ei rei, quod ante non fuerat, ǔNjǞɏǕǑǢǓǗ imposuit; cum autem laevam manum admoverat et illum pugnum arte vehementerque conpresserat, scientiam talem esse dicebat, cuius compotem nisi sapientem esse neminem. Zu diesem Vergleich siehe z. B. Stroux (1965), 72–85; Görler (1977); Steinmetz (1994), 529f. 452 Vgl. fin. V, 17 (LS 64G); off. I, 101. In Ac. II, 24 (SVF II, 116; FDS 353), fin. III, 23, nat. II, 58 (SVF I, 172; LS 53Y) und off. II, 18 wählt Cicero appetitio. Siehe auch Liûcu (1930), 84f. 453 Vgl. Stobaeus, Ecl. II 7, 9, p. 86.17–87.6 (SVF III, 169; LS 53Q); Clemens, Stromat. II, Cap. XIII, § 59.6 (SVF III, 377).
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VII. Kommentar zu De fato
ihm ‚den (vernünftigen) Grund eines Menschen, der ihm befiehlt zu handeln‘.454 Allem Anschein nach gab es keine völlig einheitliche Interpretation der ʙǛǖɰ, denn es wird auch von einem irrationalen Handlungsimpuls berichtet, der vor der Zustimmung liegt.455 Von Chrysipp, wie von der orthodoxen Stoa allgemein, wird der Handlungsimpuls, der zu einer Handlung führt, jedoch rational verstanden, da er der Zustimmung folgt und somit durch eine rationale Prüfung legitimiert ist. Ist erst einmal ein Handlungsimpuls zustande gekommen, so führt dieser unmittelbar zur Ausführung der vorgestellten Handlung.456 Das Grundschema für das Zustandekommen einer Handlung stellt sich nach stoisch-orthodoxer Lehre also wie folgt dar: Vorstellung – Zustimmung – Handlungsimpuls – Handlung (visum – adsensio – adpetitus – actio).457 Der beschriebene Ablauf, der zu einer Handlung führt, ist allem Anschein nach nicht in der Weise zu verstehen, daß er aus distinkten, punktuellen Vorgängen besteht, die jeweils einander ablösen, sondern in der Weise, daß sich der gesamte Ablauf in einem einzigen einheitlichen Prozeß zugleich vollzieht. Die Aufgliederung in einzelne Schritte dient der analytischen Betrachtung und der Erklärung des komplexen Gesamtablaufes.458 Vorstellung, Zustimmung und Handlungsimpuls stellen verschiedene Fähigkeiten des ‚herrschenden Teiles‘ der Seele (ɲǍǏǖǙǗǓǔʗǗ) dar, und in der Einheit dieser Fähigkeiten manifestiert sich die Rationalität des Menschen. Die Vorstellung unterliegt mit der Zustimmung einer rationalen Prüfung, bevor eine Handlung ausgeführt wird. Genau dies ist der entscheidende Unterschied zum Tier. Dieses besitzt zwar auch einen Handlungsimpuls (ʙǛǖɰ), aber einen, der nicht rational bedingt ist. Ein Tier reagiert unmittelbar auf die Vorstellung, je nachdem, ob es diese instinktiv für erstrebenswert oder nicht für erstre_____________ 454 Vgl. Plutarch, Stoic. repug. 11, 1037f (SVF III, 175; LS 53R). Vgl. Marwede (1984), 221; Inwood (1985), 42–66, 224–242. 455 Vgl. Seneca, Ep. 113, 18 (SVF III, 169; FDS 364): omne rationale animal nihil agit nisi primum specie alicuius rei inritatum est, deinde impetum cepit, deinde adsensio confirmavit hunc impetum. Siehe hierzu insbesondere Ioppolo (1988) und Stevens (2000). Stobaeus, Ecl. II 7, 9b, p. 88, 1–6 (SVF III, 171; LS 33I) berichtet ferner, daß ʙǛǖɰ und ǝǟǍǔNjǞɏǒǏǝǓǜ auch identifiziert worden seien (vgl. Sorabji (1980), 273 mit Anm. 62; Inwood (1985), 46, 270 Anm. 31; LS II, 200; Joyce (1995), 319–322; Stevens (2000), insbesondere 142–144). 456 Vgl. Cicero, Ac. II, 108 (SVF II, 73; FDS 292): dicunt enim Stoici sensus ipsos adsensus esse, quos quoniam adpetitio consequatur, actionem sequi. Vgl. Inwood (1985), 52f. 457 Das Verhältnis von Zustimmung und Handlungsimpuls unterliegt zum Teil der Diskussion. Vgl. Eisenberger (1979), 161f. Anm. 21; LS II, 316; Inwood (1985), 42–66, 176, 179, 282 Anm. 193; Sharples (1991), 188f.; (1996), 73f.; Bobzien (1998a), 239–242, 246f.; Long (1999), 579; Salles (2005), 34–39. Ioppolo (1988), 406–414 nimmt an, daß Zenon und Kleanthes die Zustimmung dem Handlungsimpuls folgen ließen. Stevens (2000) kommt in seiner umfassenden Untersuchung zu dem Ergebnis, daß sämtliche Stoiker von Zenon bis Epiktet auch einen der Zustimmung vorausgehenden Handlungsimpuls kannten. 458 Vgl. Lloyd (1978), 237; Inwood (1985), 274 Anm. 69; Long (1999), 573–575.
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benswert hält. Dies bedeutet, daß zwischen Vorstellung und Handlung die Zustimmung als rationale Prüfung fehlt.459 c. Die Rekonstruktion des ethischen Arguments Die stoische Handlungstheorie bietet nun den Boden für das ethische Argument, das Cicero in § 40 referiert, bevor er die Position Chrysipps darstellt. Es kann deshalb als „ethisch“ charakterisiert werden, weil es sich auf die Prämisse stützt, daß unter der Herrschaft des Fatums die Menschen für ihre Handlungen nicht verantwortlich gemacht werden könnten und daher Lob und Strafe sinnlos würden.460 Die Darstellung dieses Arguments bedarf einer genauen Betrachtung.461 Im Kern basiert die ganze Argumentation auf dem Schlußverfah_____________ 459 Vgl. AvA, fat. XIV, 183.21–184.20 (teilw. SVF II, 981); Origenes, De principiis III, 1.2–3 (SVF II, 988; LS 53A); Stobaeus, Ecl. II 7, 9, p. 86.17–87.6 (SVF III, 169; LS 53Q). Vgl. Pohlenz (1992) I, 105; Gould (1983), 483; Inwood (1985), 24f., 42, 66–91; Gosling (1987), 180–183; Kahn (1988), 247; Long (1991), 105; Hahm (1992), 42f.; (1994), 205–208; Schubert (1993), 283–285; Bobzien (1997), 76; (1998a), 288; Long (1999), 564f., 578f.; Cooper (2003), 7–12, 18f. 460 Huby (1970), 84f., der sich Gulley (1990), 49, 52 Anm. 15 und Salles (2005), 39, 43 anschließen, glaubt, daß dieses Argument auf Epikur zurückgehe. Talanga (1986), 132 sieht diese Zuweisung skeptisch, räumt aber ein, daß es allgemein aus der epikureischen Schule stammen könne. Stevens (2000), 144 glaubt, daß dieses Argument von einem Epikureer, der sich der stoischen Prämissen bedient habe, in der Auseinandersetzung mit den Stoikern vorgetragen worden sei. Von Arnim, zu SVF II, 974, S. 282, Ioppolo (1988), 420–424 und Donini (1989), 140 betrachten Arkesilaos als Urheber des Arguments. Marwede (1984), 221 überlegt, ob das Argument vielleicht von Chrysipp selbst stamme, damit er zeigen könne, daß es gegen seine Lehre von den Zustimmungen nicht wirksam sei. Inwood (1985), 307 Anm. 228 betrachtet das Argument als unstoisch. Amand (1973), 79f. sieht in Karneades den möglichen Urheber dieser Argumentation. Allerdings ist diese Annahme, darauf weist Sharples (1991), 187 zu Recht hin, aus chronologischen Gründen eher als unwahrscheinlich anzusehen, da Chrysipp auf diejenigen, die das Argument vorgetragen haben, offensichtlich eine Antwort gegeben habe. Bobzien (1998a), 249 Anm. 33 nimmt an, daß das Argument zwar über Chrysipp zu Cicero gelangt sei, es aber keinen Hinweis gebe, daß es dem Ursprung nach einem besonderen Philosophen zugeschrieben werden könne. Der grundsätzliche Gedanke des ethischen Arguments ist schon bei Aristoteles (EN III, 7) zu finden (siehe o. S. 222 Anm. 430) und ist in der Folge oft aufgegriffen worden, z. B. von Epikur (DL X, 133f. (LS 20A)), Cicero ( fat. 40), Gellius (VII, 2.5 (SVF II, 1000; FDS 998)), Diogenes von Oinoanda (32, 1.14–3.14 (LS 20G)), Alexander von Aphrodisias ( fat. XX, 190.26–191.2; XXXIV, 205.22–206.30 (teilw. SVF II, 1002; teilw. LS 62I); XXXVI, 209.18–210.14 (teilw. SVF II, 1004)), Diogenianos (in Eusebius, Praep. evang. VI, 8.25 (SVF II, 998; LS 62F)) und Chalcidius (In Tim. 160f. (SVF II, 943)). Siehe hierzu auch Amand (1973), 573–578, der zahlreiche Belege, hauptsächlich aus späterer Zeit, zusammengestellt hat, und Sharples (1978), 248f. 461 Die folgenden Rekonstruktionen des Arguments basieren auf einer Ausarbeitung von Prof. Dr. H. Weidemann. Vgl. Weidemann (2001a).
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VII. Kommentar zu De fato
ren des Modus tollens: Wenn alles durch das Fatum geschieht, dann sind weder Lob noch Strafe gerechtfertigt. Letzteres wird aber bestritten, denn wenn Lob und Strafe nicht gerechtfertigt wären, verlören die Gesetze ihren Sinn. So kann dann geschlossen werden, daß nicht alles durch das Fatum geschieht. Das Antecedens der Implikation, die als erste Prämisse fungiert, ist mit ‚Wenn alles durch das Fatum geschieht‘ (si omnia fato fiunt) gegeben. Es gilt nun zu untersuchen, wie Cicero das Consequens dieser Implikation gewinnt. Die logische Notation soll zur Übersichtlichkeit der Argumentationsstruktur beitragen.462 1. Wenn alles durch das Fatum geschieht, dann geschieht alles durch eine vorausgehende Ursache. (si omnia fato fiunt, omnia fiunt causa antecedente) 2. Wenn alles durch eine vorausgehende Ursache geschieht, dann geschieht auch der Handlungsimpuls durch eine vorausgehende Ursache.463 3. Wenn der Handlungsimpuls durch eine vorausgehende Ursache geschieht, dann geschieht auch das ihm Folgende (d. h. das von ihm Bewirkte) durch eine vorausgehende Ursache, also auch die Zustimmung. (si adpetitus, illa etiam, quae adpetitum sequuntur, ergo etiam adsensiones) 4. Wenn die Ursache für den Handlungsimpuls nicht in unserer Macht liegt, dann liegt auch der Handlungsimpuls selbst nicht in unserer Macht. (si causa adpetitus non est sita in nobis, ne ipse quidem adpetitus est in nostra potestate)
(x)Fx o (x)Ux
(x)Ux o Ui
Ui o Uw(i)
~Mu(i) o ~Mi
_____________ 462 Es wird folgende Notation verwendet: Fx x geschieht durch das Fatum; Ux x wird durch eine vorausgehende Ursache bewirkt; Mx x steht in unserer Macht; Ga Lob und Tadel sowie Auszeichnung und Strafe sind gerecht; h eine beliebige Handlung; i der Impuls zu einer Handlung; z die Zustimmung zu einer Vorstellung; u(x) die Ursache von x; w(x) die Wirkung(en) von x. 463 Dieser Zwischenschritt ist bei Cicero nicht explizit aufgeführt, ergibt sich aber zwanglos aus der „Allspezialisierung“ (siehe VII.5.b.).
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VII.16. §§ 39–40: Der stoische Fatalismus als Mittelweg
5. Wenn dies so ist, d. h., wenn der Handlungsimpuls nicht in unserer Macht liegt, dann liegt auch das, was durch ihn bewirkt wird, nicht in unserer Macht. (quod si ita est, ne illa quidem, quae adpetitu efficiuntur, sunt sita in nobis)
~Mi o ~Mw(i)
6. Wenn das, was durch den Handlungsimpuls bewirkt wird, nicht in unserer Macht liegt, dann liegen weder die Zustimmungen noch die Handlungen in unserer Macht. ~Mw(i) o (~Mz & ~Mh) (non sunt igitur neque adsensiones neque actiones in nostra potestate) 7. Wenn weder die Zustimmungen noch die Handlungen in unserer Macht liegen, dann sind weder Lob und Tadel noch Auszeichnung und Strafe gerechtfertigt. (ex quo efficitur, ut nec laudationes iustae sint nec vituperationes nec honores nec supplicia)
(~Mz & ~Mh) o ~Ga
Offensichtlich basiert die Etablierung der als erste Prämisse fungierenden Implikation (x)Fx o ~Ga auf einem durch die Transitivität der Implikation gerechtfertigten Kettenschluß, der mit (x)Fx o (x)Ux beginnt und mit (~Mz & ~Mh) o ~Ga endet. Cicero wechselt nun in seiner Darstellung von der wörtlichen in die indirekte Rede, und aus dem folgenden Satz wird mit quod cum vitiosum sit die zweite Prämisse Ga gewonnen, so daß sich dann folgender Schluß ergibt: 1. Prämisse: Wenn alles durch das Fatum geschieht, dann sind weder Lob und Tadel noch Auszeichnung und Strafe gerechtfertigt.
(x)Fx o ~Ga
2. Prämisse: Das ist aber fehlerhaft (quod cum vitiosum sit), d. h., Lob und Tadel sowie Auszeichnung und Strafe sind gerechtfertigt.
Ga
Konklusion mit Modus tollens: Also geschieht nicht alles durch das Fatum. (non omnia fato fieri, quaecumque fiant)
~(x)Fx
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VII. Kommentar zu De fato
Bei genauerer Betrachtung der obigen Schlußkette müssen aber drei Probleme konstatiert werden: 1. Das logische Problem: Die Schlußkette ist zwischen dem Consequens Uw(i) in Schritt 3 und dem Antecedens ~Mu(i) in Schritt 4 unterbrochen. Unter Berücksichtigung des überlieferten Textes besteht keine Möglichkeit, diese Lücke mit logischen Mitteln zu schließen. In der vorliegenden Form wird das Consequens der als erste Prämisse fungierenden Implikation (~Ga) fehlerhaft hergeleitet, so daß der ganze Schluß ungültig wird. Mit dem Blick auf Schritt 4 könnte man erwarten, daß gezeigt werden soll, daß auch die Ursache des Handlungsimpulses wiederum eine ihr vorausgehende Ursache hat und auch diese Ursache wiederum eine Ursache, die ihr vorausgeht, usw., so daß deutlich wird, daß die Ursache des Handlungsimpulses nur ein Glied innerhalb einer sich mit Notwendigkeit vollziehenden und weit in die Vergangenheit zurückreichenden Ursachenverkettung darstellt und daher letztlich nicht in unserer Macht liegt. 2. Das inhaltliche Problem: In der Darstellung des Arguments folgt die adsensio dem adpetitus. In der orthodoxen stoischen Lehre ist die Abfolge aber genau umgekehrt: Der adpetitus folgt der adsensio (siehe VII.16.b.). Da Chrysipp zweifellos zur orthodoxen Stoa zu zählen ist, wäre auch hier die orthodoxe Handlungstheorie zu erwarten.464 3. Das grammatische Problem: In dem ersten Satz des Arguments si omnia fato fiunt, omnia fiunt causa antecedente, et, si adpetitus, illa etiam, quae adpetitum sequuntur, ergo etiam adsensiones ist der Numerus bestimmter Wörter auffällig. Während adpetitus und adpetitum im Singular stehen, sind omnia, illa, quae und adsensiones Pluralformen. Aus Parallelitätsgründen schiene ein einheitlicher Numerus in ein und demselben Satz harmonischer. Allerdings sollte dieser Numeruswechsel in der Beurteilung nicht zu schwer wiegen, denn zum einen liegt damit kein grammatischer Verstoß vor und zum anderen ist in Schritt 5 mit illa quidem, quae adpetitu efficiuntur ebenfalls ein nicht einheitlicher Numerus innerhalb eines Satzes festzustellen. Ohne explizit auf die logische Inkonsistenz zu verweisen, äußert Appuhn einen anderen Gedanken, um das Argument verständlicher zu machen. In dem Satz si adpetitus, illa etiam, quae adpetitum sequuntur, ergo etiam adsensiones _____________ 464 Vgl. Sharples (1991), 188f.
VII.16. §§ 39–40: Der stoische Fatalismus als Mittelweg
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zu Beginn des Arguments sei adpetitus im Sinne von „tendence“ (ʙǛǖɰ), im weiteren Verlauf des Arguments hingegen im Sinne von „désir“ (ʝǛǏǘǓǜ) zu verstehen, so daß nunmehr das im letzteren Sinne gebräuchliche adpetitio statt adpetitus zu erwarten gewesen wäre. Der Umstand, daß ein und dasselbe Wort innerhalb einer Passage in zwei verschiedenen Bedeutungen verwendet werde, habe ‚etwas Schockierendes‘ an sich und sei auf einen Irrtum Ciceros oder auf ein Versehen des Kopisten zurückzuführen.465 Ob tatsächlich ein relevanter Bedeutungsunterschied zwischen adpetitus und adpetitio besteht, ist sehr fraglich.466 Davon abgesehen, brächte die Annahme, daß für adpetitus ein adpetitio zu lesen sei, für die logische Rekonstruktion keine Vorteile, sondern nur noch größere Nachteile mit sich. Bobzien erwägt zwei Möglichkeiten, die logische Korrektheit des Arguments wiederherzustellen.467 Eine Möglichkeit könne sein, daß Cicero das Argument auf der Basis einer nicht stoisch-orthodoxen Abfolge von adpetitus und adsensio referiere, so daß in seiner Darstellung die adsensio dem adpetitus folge.468 Ab § 41 erwähnt Cicero die Abfolge von adpetitus und adsensio nicht mehr. Er untersucht das Verhältnis von visum und adsensio, da für Chrysipp die rationale Bestätigung der Vorstellung durch die in der menschlichen Verfügungsgewalt liegende adsensio das entscheidende Kriterium darstellt, dem Menschen moralische Verantwortlichkeit zuzuschreiben. Die Annahme, der adpetitus liege vor der adsensio, bedeutet, daß es sich um einen irrationalen adpetitus handeln muß, da er durch die in unserer Macht liegende adsensio noch nicht rational bestätigt ist. Allerdings macht Cicero in § 41 deutlich, daß er den adpetitus nicht als irrational, sondern als in unserer Macht liegend betrachtet (non sequitur, ut ne adpetitus quidem sit in nostra potestate), d. h., Cicero muß davon ausgehen, daß der adpetitus durch die vorausgehende und in unserer Macht liegendene adsensio eine rationale Bestätigung erfahren hat. Man kann also annehmen, daß Cicero ab § 41 die stoisch-orthodoxe Reihenfolge vor Augen hat, wie er es auch an anderer Stelle zu erkennen gibt.469 Es ist sehr unwahrscheinlich, daß Cicero in so kurzem Abstand jeweils eine andere Reihenfolge von adpetitus und adsensio seiner Darstellung zugrunde gelegt hätte. _____________ 465 Vgl. Appuhn (1937), 293, 587 Anm. 378. 466 Yon (1950), XXVIIIf. Anm. 3, 40f. argumentiert für, Philippson (1934), 1035 Anm. 3, Marwede (1984), 221f. und Eisenberger (1979), 161 Anm. 21 argumentieren gegen eine Differenzierung dieser beiden Begriffe. 467 Vgl. Bobzien (1998a), 245–250. 468 Seneca, Ep. 113, 18 (SVF III, 169; FDS 364) berichtet von einer solchen Reihenfolge, die nach der Auffassung von Ioppolo (1988), 406–414 Zenon und Kleanthes zuzuschreiben ist. Siehe o. S. 228 Anm. 455 und 457. 469 Vgl. Ac. II, 108 (SVF II, 73; FDS 292): dicunt enim Stoici sensus ipsos adsensus esse, quos quoniam adpetitio consequatur, actionem sequi; vgl. Ac. II, 24 (SVF II, 116; FDS 353), 39.
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VII. Kommentar zu De fato
Eine andere Möglichkeit ist nach Bobzien die, daß auf die Unterscheidung zwischen einem irrationalen und einem rationalen Handlungsimpuls verzichtet werde. Der Umstand, daß in Ciceros Darstellung der adpetitus nicht der adsensio folge, sei dadurch zu erklären, daß die adsensio im Kontext dieses Arguments eine Zustimmung zu einer „impulshaften Vorstellung“ darstelle, die zumindest von einigen Stoikern mit dem rationalen adpetitus identifiziert worden sei. Da in der ganzen Argumentation die Vorstellungen (visa) keine Erwähnung fänden, könne Cicero vielleicht adpetitus im Sinne einer „impulshaften Vorstellung“ verwendet haben. Das ganze Argument gestalte sich dann in folgender Weise:470 P1. Wenn alles durch das Fatum geschieht, dann geschieht alles durch eine vorausgehende Ursache (P o Q). P2. [Wenn alles durch eine vorausgehende Ursache geschieht, dann geschieht auch die impulshafte Vorstellung durch eine vorausgehende Ursache] (Q o R). P3. Wenn die impulshafte Vorstellung durch eine vorausgehende Ursache geschieht, dann geschieht auch das, was ihr folgt, d. h. die Zustimmung (und die Handlung, weil sie durch die Zustimmung bewirkt wird), durch eine vorausgehende Ursache (R o S). P4. [Die vorausgehende Ursache für die impulshafte Vorstellung (d. h. das externe Objekt) liegt nicht in unserer Macht] (~T ). P5. Wenn die (vorausgehende) Ursache der impulshaften Vorstellung nicht in unserer Macht liegt, dann liegt auch die impulshafte Vorstellung selbst nicht in unserer Macht (~T o ~U ). P6. Wenn aber die impulshafte Vorstellung nicht in unserer Macht liegt und die impulshafte Vorstellung die vorausgehende Ursache für die Zustimmung (und auch für die Handlung) ist, dann liegt weder die Zustimmung noch die Handlung in unserer Macht ((~U & S 471) o ~V ). _____________ 470 causa adpetitus: externe Objekte; adpetitus: entspricht der impulshaften Vorstellung („impulsive impression“, ʙǛǖNjǞǓǔɱ ǠNjǗǞNjǝʇNj); adsensio: Zustimmung zur impulshaften Vorstellung (= adpetitus); actio: Handlung; (P2) und (P4) stellen Zusatzprämissen dar. 471 Genaugenommen steht „S“ in P3 und in P6 jeweils für eine andere Aussage, nämlich in P3 für die Aussage „Das, was der impulshaften Vorstellung folgt, d. h. die Zustimmung (und die Handlung), geschieht durch eine vorausgehende Ursache“ und in P6 für die Aussage „Die impulshafte Vorstellung ist die vorausgehende Ursache für die Zustimmung (und
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VII.16. §§ 39–40: Der stoische Fatalismus als Mittelweg
P7. Wenn die Zustimmung und die Handlung nicht in unserer Macht liegen, dann sind weder Lob und Tadel noch Auszeichnung und Strafe gerechtfertigt (~V o ~W ). P8. Es ist aber nicht der Fall, daß weder Lob und Tadel noch Auszeichnung und Strafe gerechtfertigt sind (~ ~W ). Konklusion: Also geschieht nicht alles durch das Fatum (~P). Daß das in dieser Weise rekonstruierte Argument logisch korrekt ist, zeigt die folgende Ableitung:472 {1} {2} {3} {4} {5} {6} {7} {8} {1, 2, 3} {4, 5} {6} {4, 5, 6} {4, 5, 6, 7} {4, 5, 6, 7, 8} {1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8}
(1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9) (10) (11) (12) (13) (14) (15)
PoQ QoR RoS ~T ~T o ~U (~U & S ) o ~V ~V o ~W ~~W PoS ~U ~U o (S o ~V ) S o ~V S o ~W ~S ~P
P1 P2 P3 P4 P5 P6 P7 P8 1, 2, 3: KR 4, 5: MPP 6: ER 10, 11: MPP 7, 12: KR 8, 13: MTT 9, 14: MTT
Die Korrektheit des in dieser Weise rekonstruierten Arguments wird jedoch durch die Identifizierung von Begriffen gewonnen, deren Identität – soweit ersichtlich – bei Cicero nicht überliefert ist.473 Auch in De fato selbst _____________ auch für die Handlung)“. Diese beiden Aussagen sind aber inhaltlich als äquivalent zu betrachten. 472 „ER“ bedeutet „Exportationsregel“ ((( p & q) o r) o ( p o (q o r)) ); „KR“ bedeutet „Kettenschlußregel“; „MPP“ bedeutet „Modus ponendo ponens“; „MTT“ bedeutet „Modus tollendo tollens“. Die Ableitung basiert auf einer Ausarbeitung von Prof. Dr. H. Weidemann. 473 Bobzien (1998a), 247 Anm. 27 verweist in Anlehnung an Ioppolo (1988), 406–408 zu Recht darauf, daß die ǠNjǗǞNjǝʇNj bei den frühen Stoikern unterschiedlich interpretiert worden sei. Aufgrund dessen sei auch ‚das Wesen des Handlungsimpulses‘ uneinheitlich dargestellt worden. Siehe hierzu auch VII.16.b.
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VII. Kommentar zu De fato
gibt es keinen Anhaltspunkt für eine solche Identifikation, zumal es auch sehr unwahrscheinlich ist, daß Cicero an der vorliegenden Stelle mit einer Identität von Begriffen arbeiten sollte, die er dann ab dem nächsten Paragraphen bereits wieder aufgibt. Denn ab § 41 werden visum und adpetitus genau unterschieden, und diese genaue Unterscheidung ist auch essentiell für Chrysipps ganze Argumentation und letztlich für die Zuschreibung moralischer Verantwortung aus stoischer Perspektive: Während das visum nicht in unserer Macht liegt, liegt der adpetitus durch die rationale Prüfung sehr wohl in unserer Macht. Sollte Cicero tatsächlich adpetitus nur an dieser Stelle mit der „impulshaften Vorstellung“ identifiziert haben, so hätte man zumindest einen Hinweis darauf erwarten können; denn ohne einen solchen dürfte dem Leser die ganze Argumentation, die in der von Bobzien rekonstruierten Weise nicht unkompliziert erscheint, nur schwer verständlich werden. Der Duktus des Arguments deutet vielmehr darauf hin, daß Cicero eine wesentlich „einfachere“ Schlußkette über die Transitivität der Implikationen im Sinn gehabt hat, die mit (x) Fx beginnt und mit ~Ga endet, um die erste Prämisse des ganzen Schlusses zu gewinnen. Eine in dieser Weise logisch korrekte Schlußkette läßt sich recht einfach erreichen, indem nur ein einziger Buchstabe im überlieferten Text geändert wird. Hamelin, motiviert durch die nichtorthodoxe Reihenfolge von adpetitus und adsensio, schlägt als Konjektur die Änderung von quae adpetitum sequuntur in quae adpetitus sequuntur vor.474 Damit wird adpetitus (Nominativ Plural) zum Subjekt und quae (Akkusativ Plural) das Objekt zu sequuntur. Es ergibt sich dann folgende Übersetzung: ‚… auch jenes, dem die Handlungsimpulse folgen …‘; und das, was den Handlungsimpulsen vorausgeht, sind ja gerade die Zustimmungen. Mit Hamelins Konjektur läßt sich nun das ganze Argument wie folgt rekonstruieren: 1. Wenn alles durch das Fatum geschieht, dann geschieht alles durch eine vorausgehende Ursache.
(x)Fx o (x)Ux
2. Wenn alles durch eine vorausgehende Ursache geschieht, dann geschieht auch der Handlungsimpuls durch eine vorausgehende Ursache.
(x)Ux o Ui
_____________ 474 Vgl. Hamelin (1978), 37. Sharples (1991), 189 erkennt zwar an, daß diese Konjektur adsensio und adpetitus in die richtige Reihenfolge bringe, urteilt aber – zu Unrecht, wie sich in der folgenden Darlegung zeigen wird –, daß sie das Argument undurchsichtiger mache.
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3. Wenn der Handlungsimpuls durch eine vorausgehende Ursache geschieht, dann geschieht auch die Ursache des Handlungsimpulses wiederum durch eine vorausgehende Ursache, also auch die Zustimmung.
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Ui o Uu(i)
Der Schritt 3 trägt der Konjektur Hamelins Rechnung. Nun besteht zwischen Schritt 3 (Ui o Uu(i)) und Schritt 4 (~Mu(i) o ~Mi)) zwar immer noch eine Lücke, aber mit folgender Überlegung läßt sie sich recht leicht schließen: Wenn gemäß Schritt 3 die Ursache des Handlungsimpulses wiederum durch eine vorangehende Ursache geschieht (Uu(i)) und gemäß Schritt 1 diese wiederum durch eine vorangehende Ursache geschieht usw., dann kann geschlossen werden, daß die Ursache des Handlungsimpulses (da sie nur ein Glied innerhalb einer sich mit Notwendigkeit vollziehenden Ursachenverkettung ist) nicht in unserer Macht liegt (~Mu(i)); und wenn die Ursache des Handlungsimpulses nicht in unserer Macht liegt, dann liegt auch der Handlungsimpuls selbst nicht in unserer Macht (Schritt 4). So ergibt sich aus dem Duktus der Argumentation zwanglos der in Gedanken vollzogene Schritt 3a, der die Lücke in der Implikationskette schließt und zu Schritt 4 überleitet, nämlich Uu(i) o ~Mu(i): 3a. Wenn die Ursache des Handlungsimpulses wiederum durch eine vorangehende Ursache geschieht, dann liegt die Ursache für den Handlungsimpuls nicht in unserer Macht.
Uu(i) o ~Mu(i)
4. Wenn die Ursache für den Handlungsimpuls nicht in unserer Macht liegt, dann liegt auch der Handlungsimpuls selbst nicht in unserer Macht.
~Mu(i) o ~Mi
5. Wenn dies so ist, d. h., wenn der Handlungsimpuls nicht in unserer Macht liegt, dann liegt auch das, was durch ihn bewirkt wird, nicht in unserer Macht.
~Mi o ~Mw(i)
6. Wenn das, was durch den Handlungsimpuls bewirkt wird, nicht in unserer Macht liegt, dann liegen die Handlungen nicht in unserer Macht.
~Mw(i) o ~Mh
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VII. Kommentar zu De fato
Der Satz non sunt igitur neque adsensiones neque actiones in nostra potestate darf nun nicht mehr so verstanden werden wie in der ersten Rekonstruktion (Schritt 6), sondern muß jetzt so verstanden werden, daß er an Schritt 3a anknüpft. Mit Schritt 6a werden die Zustimmungen (adsensiones), mit Schritt 6b die Handlungen (actiones) wieder aufgenommen: 6a. Wenn die Ursache für den 6b. Mit der Transitivität der Implikation ergibt sich aus Schritt 4 Handlungsimpuls nicht in unsebis 6: Wenn die Ursache für den rer Macht liegt, dann liegen die Handlungsimpuls nicht in unseZustimmungen (die ja die Ursarer Macht liegt, dann liegen chen der Handlungsimpulse sind) nicht in unserer Macht: auch die Handlungen nicht in ~Mu(i) o ~Mz. unserer Macht: ~Mu(i ) o ~Mh. Aus (~Mu(i) o ~Mz) und (~Mu(i) o ~Mh) folgt somit: 7. Wenn die Ursache für den Handlungsimpuls nicht in unserer Macht liegt, dann liegen weder die Zustimmungen (als die Ursachen der Handlungsimpulse) noch die Handlungen (als die Wirkungen der Hand~Mu(i) o (~Mz & ~Mh) lungsimpulse) in unserer Macht. 8. Wenn weder die Zustimmungen noch die Handlungen in unserer Macht liegen, dann sind weder Lob und Tadel noch Auszeichnung und Strafe gerechtfertigt.
(~Mz & ~Mh) o ~Ga
Nun kann der Schluß wie oben gezogen werden: Mit 1. (x)Fx o ~Ga und 2. Ga ergibt sich mit Modus tollens die Konklusion ~(x)Fx. Auch wenn Hamelin mit seiner Konjektur nur beabsichtigte, das richtige Folgeverhältnis von adsensiones und adpetitus herzustellen, bietet diese doch für alle oben genannten Probleme einen guten Ausweg: 1. Vorrangig ergibt sich ein logisch korrektes Argument. 2. Das Folgeverhältnis von Zustimmung und Handlungsimpuls entspricht nunmehr der orthodoxen stoischen Lehre und steht im Einklang mit Ciceros Ausführungen in den Paragraphen 41–44.475 3. Der unschöne Numeruswechsel im ersten Satz wird vermieden. _____________ 475 Vgl. Ac. II, 108 (SVF II, 73; FDS 292), siehe o. S. 233 Anm. 469.
VII.17. §§ 41–43: Chrysipps Ursachenunterscheidung
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17. §§ 41–43: Chrysipps Ursachenunterscheidung Nachdem das ethische Argument vorgetragen worden ist, sieht sich Chrysipp dem Vorwurf ausgesetzt, daß der stoische Fatalismus ethische Überlegungen und menschliche Verantwortlichkeit zunichte mache. Diese Schlußfolgerung aber widerspäche entschieden dem starken ethischen Aspekt der stoischen Lehre, so daß Chrysipp die Argumentation der Libertarier auf keinen Fall zu akzeptieren gedenkt. Cicero referiert nun gewissermaßen die Antwort Chrysipps auf das ethische Argument und zeigt dabei auf, wie dieser sich der gegen ihn erhobenen Vorwürfe zu erwehren und – wie Cicero es darstellt – einen versöhnlichen Mittelweg zwischen den in § 39 dargelegten Positionen zu finden versucht. Auf der einen Seite möchte Chrysipp nicht den Grundsatz aufgeben, daß kein Ereignis ohne vorausgehende Ursachen geschieht, was bedeutet, daß er am Kausalitätsprinzip und damit am Fatum festhalten will; auf der anderen Seite möchte er aber eine umfassende Notwendigkeit jeglichen Geschehens vermeiden, wie sie für die Libertarier aus der Existenz des Fatums folgt. Der angestrebte Mittelweg läßt sich somit in der Weise verdeutlichen, daß Chrysipp quasi beiden der in § 39 dargestellten Gruppen ein Zugeständnis macht, indem er, wie die erste Gruppe (die Deterministen), am Fatum festhält und, wie die zweite Gruppe (die Libertarier), die Nichtnotwendigkeit gewisser Ereignisse annimmt. Chrysipp gesteht den beiden Gruppen also das zu, was jeweils mit den zweiten Prämissen f und ~n in den beiden oben dargestellten Schlußfolgerungen (siehe VII.16.a.) zum Ausdruck gebracht wird. Die Gültigkeit der von beiden Gruppen akzeptierten ersten Prämisse „Wenn alles durch das Fatum geschieht, geschieht alles mit Notwendigkeit“ ( f o n), deren Negation ja mit der Konjunktion der beiden genannten zweiten Prämissen logisch äquivalent ist (~( f o n) f & ~n), bestreitet er allerdings entschieden. Chrysipp behauptet vielmehr, daß das Fatum beibehalten werden könne, ohne daß daraus die Notwendigkeit jeglichen Geschehens resultiere. Er will somit die Notwendigkeit vom Fatum abkoppeln (§ 41: Chrysippus autem, cum et necessitatem inprobaret et nihil vellet sine praepositis causis evenire, causarum genera distinguit, ut et necessitatem effugiat et retineat fatum). Dieses Ziel soll nun mit einer Ursachenunterscheidung in der Weise erreicht werden, daß zwischen den ‚vollkommenen und hauptverantwortlichen Ursachen‘ (causae perfectae et principales) sowie den ‚mithelfenden und der Wirkung am nächsten liegenden Ursachen‘ (causae adiuvantes et proximae) unterschieden wird (§ 41: ‚Causarum enim‘, inquit, ‚aliae sunt perfectae et principales, aliae adiuvantes et proximae. Quam ob rem, cum dicimus omnia fato fieri causis antecedentibus, non hoc intellegi volumus: causis perfectis et principalibus, sed causis adiuvantibus et proximis‘).
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VII. Kommentar zu De fato
a. Die stoische Ursachenunterscheidung und ihre Anwendung Die antiken Zeugnisse, die sich auf die stoische Kausaltheorie beziehen, sind keineswegs einheitlich. Dies ist zum einen dadurch bedingt, daß die ohnehin spärlichen Quellen oft auf Referate der philosophischen Gegner zurückzuführen sind, zum anderen dadurch, daß die Quellen einen mitunter großen zeitlichen Abstand aufweisen, in dem die stoische Lehre den Modifikationen und Interpretationen der jeweiligen Zeit unterworfen war.476 Daher stellt sowohl die Kausaltheorie der Stoiker im allgemeinen als auch ihre Ursachenunterscheidung im besonderen die Interpreten immer wieder vor Probleme.477 Eine wichtige Quelle zur Kausaltheorie der Stoiker stellt gerade Ciceros Referat über die Ursachenunterscheidung an der vorliegenden Stelle in De fato dar, wobei es aber nicht augenscheinlich ist, in welchem Verhältnis die von Cicero verwendeten lateinischen Ursachenbezeichnungen zu den griechischen Originalbezeichnungen stehen. Verschiedene Möglichkeiten werden erwogen:478 Chrysipp selbst kennt nur zwei Ursachen, die aber eine doppelte Bedeutung hatten, so daß Cicero sie mit einer doppelten lateinischen Übersetzung zum Ausdruck brachte. Cicero übersetzt ein griechisches Wort mit zwei synonymen lateinischen Wörtern.479 _____________ 476 So wird z. B. bei Plutarch (Stoic. repug. 47, 1056b–c (SVF II, 997; LS 55R)), Sextus Empiricus (PH III, 15 (FDS 767)), Ps.-Galen (Hist. philos. 19, 611.7–15 (FDS 767A)), Clemens (Stromat. VIII, Cap. IX, § 25.1–4 (SVF II, 346; FDS 768), § 32.7–33.9 (SVF II, 351; LS 55I; FDS 770)) und Cicero ( fat. 41) von zwei bis vier verschiedenen Ursachenarten berichtet. Alexander von Aphrodisias ( fat. XXII, 192.17–19 (SVF II, 945; LS 55N; FDS 771)) verweist auf einen ganzen ‚Schwarm von Ursachen‘ (ǝǖʅǗǙǜ NjʊǞʇǣǗ). Bobzien (1999a), 197 nimmt an, daß Chrysipp keine endgültige Taxonomie der Ursachen vorgenommen, sondern diese nur in konzeptioneller Hinsicht unterschieden habe. Zeugnisse zur stoischen Kausaltheorie finden sich in SVF II, 336–356 und in FDS 762–771. 477 Zu einer generellen Auseinandersetzung mit der stoischen Kausaltheorie hinsichtlich der verschiedenen Namen, Übersetzungen, Anzahl und Bedeutungen der einzelnen Ursachen siehe z. B. Rieth (1933), 134–155; Pohlenz (1940), 104–112; M. Frede (1980); LS I, 333– 343; Schröder (1989); (1990); Sharples (1991), 198–201; Ioppolo (1994); Forschner (1995), 90–97; Hankinson (1998), 238–267, insbesondere 244–249; Bobzien (1999a); D. Frede (2003), 186–192. 478 Vgl. Schröder (1989), 215; Hankinson (1998), 246; Bobzien (1999a), 225. 479 Cicero habe oft, so Schröder (1989), 215, einen griechischen Terminus mit zwei lateinischen Termini wiedergegeben (z. B.: Ac. I, 45; Ac. II, 37; off. III, 81; fin. III, 16). So sehen z. B. Rieth (1933), 142, Kilb (1939), 50 und Castrillo Benito (1997), 161 Anm. 139 und 140 in der causa perfecta et principalis eine Entsprechung zum NjʍǞǓǙǗ ǝǟǗǏǔǞǓǔʗǗ, während Büchner (1964), 417 und Rolke (1975), 376 Anm. 150 eine Entsprechung zum NjʍǞǓǙǗ NjʤǞǙǞǏǕɨǜ sehen. Greene (1963), 349 hält die causa perfecta et principalis für eine Übertragung des ǚǛǙǑǍǙʡǖǏǗǙǗ NjʍǞǓǙǗ. In der causa adiuvans et proxima ist eine Entsprechung zum NjʍǞǓǙǗ
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Das eine lateinische Wort stellt die wörtliche Übersetzung eines griechischen Ausdrucks dar, während das andere von Cicero als Erklärung beigefügt wurde.480 Mit jedem lateinischen Wort übersetzt Cicero genau einen griechischen Ausdruck.481 Jede lateinische Übersetzung eines griechischen Ausdrucks bezeichnet einen besonderen Aspekt einer bestimmten Klasse.482 Cicero hat keine wörtliche Übersetzung angestrebt, sondern eine verständlichere Periphrase unter Beibehaltung des ursprünglichen Sinnes gebildet.483 Die beiden Namen eines jeden Ursachenpaares haben den gleichen Bezug, aber sie unterscheiden sich in der Bedeutung. Ein Name bezeichnet den zeitlichen, der andere Name den wesenhaften Aspekt der Ursache.484 Die von Cicero gewählten Übersetzungen weisen (abgesehen vielleicht von der causa perfecta als Übersetzung für das NjʍǞǓǙǗ NjʤǞǙǞǏǕɨǜ) „keine ausgeprägte Ähnlichkeit mit ihren Vorbildern“485 auf.486 Sehr verbreitet ist die Annahme, daß die von Cicero angeführte Unterscheidung als eine Unterteilung in zwei verschiedene Ursachenarten zu verstehen sei, wobei die causae perfectae et principales als die „Hauptursachen“ und die causae adiuvantes et proximae als die „Nebenursachen“ zu betrachten seien.487 Diese Interpretation ist keineswegs evident und daher auch zu Recht hinterfragt worden. Insbesondere Görler versucht, die Unhaltbarkeit dieser Interpretation darzulegen. Die falsche Deutung der Ursachen gehe auf das falsche Verständnis des Adjektivs principalis zurück, das ge_____________ ǚǛǙǔNjǞNjǛǔǞǓǔʗǗ (Kilb (1939), 50; Büchner (1964), 417; Rolke (1975), 376 Anm. 150; Straaten (1977), 510; Moreschini (1979), 168) oder auch zum NjʍǞǓǙǗ ǝǟǗǏǛǍʗǗ (Kilb (1939), 50; Paolillo (1957), 81) bzw. zum NjʍǞǓǙǗ ǝǟǗNjʇǞǓǙǗ (Paolillo (1957), 81) gesehen worden.
480 Vgl. Bobzien (1999a), 225. Duhot (1989), 170–172 sieht in perfecta eine Entsprechung zum NjʍǞǓǙǗ NjʤǞǙǞǏǕɨǜ („absolue“) und in principalis eine Entsprechung zum NjʍǞǓǙǗ ǝǟǗǏǔǞǓǔʗǗ („synectique“). Allerdings seien diese beiden Bezeichnungen nicht parallel zu setzen, denn das NjʍǞǓǙǗ NjʤǞǙǞǏǕɨǜ sei durch seine ‚kausale Wirksamkeit‘ („efficacité causale“), das NjʍǞǓǙǗ ǝǟǗǏǔǞǓǔʗǗ durch sein ‚pneumatisches Wesen‘ („nature pneumatique“) bestimmt. Daher sei diese Zusammenstellung ein ‚Mißgriff‘ („maladresse“). Nur das kausale Kriterium sei an dieser Stelle entscheidend. Die doppelte Bezeichnung der „causes efficaces et secondaires“ gehe auf Ciceros Übersetzung zurück. 481 Vgl. Görler (1987); Sedley (1993), 321–325. 482 Vgl. Schröder (1989), 215; (1990), 154. 483 Vgl. Bobzien (1999a), 225. 484 Vgl. Hankinson (1998), 246 Anm. 20; (1999a), 489 Anm. 29. 485 Schröder (1990), 153. 486 Vgl. Schröder (1990), 153f.; Bobzien (1999a), 225. 487 Zahlreiche Belege führt Görler (1987), 254 Anm. 1 an. Siehe auch u. S. 249 Anm. 519.
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VII. Kommentar zu De fato
wöhnlich im Sinne von ‚hauptsächlich‘ verstanden werde. Es müsse aber, so Görler, seiner ursprünglichen Bedeutung gemäß im Sinne von ‚anfänglich‘ oder ‚beginnend‘ aufgefaßt werden. Dementsprechend liege keine einfache Zweiteilung der Ursachen vor, in der perfecta synonym mit principalis und adiuvans synonym mit proxima gebraucht werde. Es handle sich vielmehr um vier eigenständige Ursachen, die in einer „doppelten Dichotomie“ zu unterscheiden seien, wobei sich die causa perfecta mit der causa adiuvans und die causa principalis mit der causa proxima als Gegensatzpaare gegenüberstünden.488 Görlers Argumentation und seine Ausdeutung der einzelnen causae ist allerdings nicht ohne Widerspruch geblieben.489 Soweit ersichtlich ist, kann als einziger expliziter Beleg für die Annahme, daß Cicero selbst nicht zwei, sondern vier Ursachenarten vor Augen hatte, letztlich nur seine Formulierung qui autem causas antecedentis non dicent perfectas neque principales (§ 42) hier in De fato angeführt werden.490 Die Verbindung von perfectae und principales mit neque legt tatsächlich den Schluß nahe, daß Cicero mit der fraglichen Formulierung zwischen den causae perfectae und den causae principales zu unterscheiden beabsichtigte,491 da er andernfalls auch an der vorliegenden Stelle von den causae perfectae et principales hätte sprechen, also ein et zur Verbindung von perfectae und principales hätte verwenden können, wie er es an den übrigen Stellen tat.492 Allerdings sollte nicht außer acht gelassen werden, daß zum einen die Übersetzung eines griechischen Ausdrucks mit zwei lateinischen Wörtern bei Cicero nicht selten zu finden ist493 und daß zum anderen der lateinische Sprachgebrauch nicht zu dem obengenannten Schluß nötigt494. Auch wenn die Formulierung Ciceros letztlich keine eindeutige Entscheidung zulassen mag, erscheint es – wie aus dem Folgenden deutlich wird – in systematischer Hinsicht durchaus sinnvoll, weder perfecta und principalis noch adiuvans und proxima als synonym zu betrachten.495 _____________ 488 Vgl. Görler (1987), 255f., dem sich Steinmetz (1994), 611 und Takahata (2004), 138f. Anm. 385 anschließen. 489 Vgl. Donini (1989), 124 Anm. 2; Schröder (1989); (1990); Sedley (1993), 323 Anm. 32. 490 Im gleichen Paragraphen stellt Cicero noch die allein verwendeten Bezeichnungen proxima und principalis gegenüber: id visum proximam causam habeat, non principalem. 491 Görler (1987), 256 vermutet, daß Cicero die beiden „bedrohlichen“ und die beiden „harmlosen“ Ursachen „sprachlich alles andere als geschickt“ zusammengefaßt habe. 492 Vgl. Görler (1987), 256f., dem sich Sedley (1993), 323 Anm. 32 in dieser Hinsicht anschließt. 493 Siehe hierzu die grundsätzliche Untersuchung in Widmann (1968), 177–184. Vgl. Schröder (1989), 215. Siehe auch o. S. 240f. Anm. 479. 494 Für diesen Hinweis sei Prof. Dr. A. Weische gedankt. Vgl. Schröder (1989), 214 Anm. 13. 495 Vgl. Görler (1987); Sedley (1993), 321–325; Ioppolo (1994), 4522, die in den vier Ursachenbezeichnungen verschiedene Kausalverhältnisse zum Ausdruck gebracht sieht; Hankinson (1998), 246–249; (1999a), 489–494; D. Frede (2003), 190.
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Causa perfecta:496 Sie muß nach der Definition in den Paragraphen 34– 36 (siehe VII.14.) als eine Ursache im eigentlichen Sinne verstanden werden. Ihr Wirken ist in der Weise hinreichend, daß bei ihrer Anwesenheit der Effekt mit Notwendigkeit bewirkt wird und, solange sie vorherrscht, auch bestehen bleibt, ohne daß noch eine weitere Bedingung vonnöten wäre.497 Nur die causa perfecta wirkt als hinreichende Bedingung in vollkommener Weise ganz aus sich heraus, während die anderen Ursachen immer untereinander kooperieren.498 Causa principalis:499 Sie ist im Unterschied zur causa perfecta keine hinreichende Bedingung, sondern eine Bedingung, die immer mit anderen kausalen Faktoren kooperiert. In einem Verursachungsprozeß, an dem sie mit anderen kausalen Faktoren beteiligt ist, stellt sie den stärksten der kausalen Faktoren dar. Somit trägt die causa principalis als „Hauptursache“ auch die „Hauptverantwortung“ für den Effekt.500 _____________ 496 Es wird allgemein angenommen, daß Cicero hier das NjʍǞǓǙǗ NjʤǞǙǞǏǕɨǜ übersetzt. Vgl. z. B. Turnebus (in Bayer (2000), 164); M. Frede (1980), 237; Schröder (1990), 153; Sharples (1991), 200; Sedley (1993), 323; Hankinson (1999a), 488 Anm. 25; Bayer (2000), 163, 174; Pimentel Álvarez (2005), LXXIII Anm. 108. Liûcu (1937), 88 nennt das NjʍǞǓǙǗ ǝǟǗǏǔǞǓǔʗǗ. 497 Vgl. Ps.-Galen, Hist. philos. 19, 611.7–15 (FDS 767A). 498 Vgl. M. Frede (1980), 238f.; Sedley (1993), 323f.; Bobzien (1999a), 224. 499 Hier herrscht die größte Unsicherheit in der Übersetzung, so daß diverse griechische Termini als Vorlage vermutet werden: NjʍǞǓǙǗ ǚǛǙǔNjǞNjǛǔǞǓǔʗǗ (Liûcu (1937), 88, 97; Görler (1987), 259–265; Magris (1994), 84 Anm. 33, 91 Anm. 78; Escobar (1999), 327 Anm. 146); das nicht belegte NjʍǞǓǙǗ ǔʡǛǓǙǗ bzw. ǔǟǛǓʰǞNjǞǙǗ (Turnebus (in Bayer (2000), 164); Pohlenz (1940), 106; Schiavon und Peruzza (1969), 37; Pesce (1970), 89, 103; Hamelin (1978), 23; M. Frede (1980), 239; Marwede (1984), 229; Talanga (1986), 132; Bobzien (1999a), 227, 241; Bayer (2000), 163, 174; Pimentel Álvarez (2005), LXXIII Anm. 108); NjʍǞǓǙǗ ǚǛǙǑǍǙʡǖǏǗǙǗ (Yon (1950), XXIX Anm. 1; Appuhn (1937), 587 Anm. 379); NjʍǞǓǙǗ ǝǟǗǏǔǞǓǔʗǗ (Stüve (1895), 52; Talanga (1986), 132; Duhot (1989), 170f.; Forschner (1995), 90; Hahmann (2005), 96; Pimentel Álvarez (2005), LXXIII Anm. 108); NjʍǞǓǙǗ ǔʡǛǓǙǗ ǔNjʈ ǝǟǗǏǔǞǓǔʗǗ (Turnebus (in Bayer (2000), 121); Paolillo (1957), 38, 81; Bayer (2000), 120). Pini (1969), 555f. Anm. 96 hält eine Entsprechung mit dem ǚǛǙǑǍǙʡǖǏǗǙǗ, ǔʡǛǓǙǗ oder ǝǟǗǏǔǞǓǔʘǗ NjʍǞǓǙǗ für möglich. Schröder (1990), 153 nimmt keine Ähnlichkeit zu irgendeinem griechischen Ausdruck an. Hankinson (1998), 246 überlegt, ob principalis lediglich ein Epitheton bei perfecta sei, was in der allgemeinen Bedeutung von ǔǟǛǓʰǞNjǞǙǗ als „most important“ zu verstehen sei. Dann werde aber der Unterschied zwischen perfecta und principalis nicht deutlich. Majorov (1985), 47 Anm. 29 nimmt an, daß Cicero principalis hier im Sinne von ‚ursprünglich‘ verwende, so wie die Scholastiker später „a priori“ verwendet hätten. Bobzien (1999a), 227 vermutet, daß causa principalis kein stoischer Terminus technicus sei, sondern nur die allgemeine Vorstellung zum Ausdruck bringe, daß bei einer Verursachung einem Faktor die Hauptverantwortung zugesprochen werden könne. 500 Vgl. Sedley (1993), 323f.; Ioppolo (1994), 4515, 4522; Bobzien (1999a), 227; D. Frede (2003), 190. Görler lehnt die Interpretation der causa principalis als „Hauptursache“ ab und sieht in ihr eine Entsprechung zu dem ǚǛǙǔNjǞNjǛǔǞǓǔʘǗ NjʍǞǓǙǗ. Sie sei eine vorbereitende und anfängliche Bedingung, die nicht punktuell wirkend zu verstehen sei, sondern grundlegende, andauernde Voraussetzungen und Dispositionen (z. B. eine Charaktereigenschaft) schaffe, ohne aber zwangsläufig einen Effekt zu bewirken. Die Kritik von Donini (1989),
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VII. Kommentar zu De fato
Causa adiuvans: Mit ihr kann sowohl das NjʍǞǓǙǗ ǝǟǗǏǛǍʗǗ als auch das NjʍǞǓǙǗ ǝǟǗNjʇǞǓǙǗ gemeint sein.501 In „causa adiuvans“ die Übersetzung für NjʍǞǓǙǗ ǝǟǗǏǛǍʗǗ zu sehen, bietet sich zwar an,502 wirft aber inhaltliche Probleme auf. Nach den antiken Quellen ist das NjʍǞǓǙǗ ǝǟǗǏǛǍʗǗ ein kau-
saler Faktor, der zu dem Verursachungsprozeß ‚unterstützend‘ hinzutritt, wie etwa ein zweiter Mann, der beim Tragen einer Last hilft.503 Ohne diesen unterstützenden Faktor träte der Effekt ebenso ein, aber mit diesem unterstützenden Faktor tritt er schneller oder leichter ein. In De fato allerdings stellt die causa adiuvans (die Vorstellung) zweifellos eine notwendige Bedingung dar, ohne die der Effekt (die Zustimmung) nicht eintreten kann (§ 42: adsensio non possit fieri nisi commota viso; necesse est enim adsensionem viso commoveri). Somit kann die causa adiuvans an der vorliegenden Stelle bei Cicero nur die Bedeutung eines NjʍǞǓǙǗ ǝǟǗNjʇǞǓǙǗ haben.504 Causa proxima:505 Sie ist eine notwendige Bedingung, die dem Effekt räumlich und zeitlich am nächsten steht. Da sie somit das letzte Glied in der Kausalkette darstellt, bezeichnet sie vornehmlich ein Ereignis, das für den Effekt eine anstoßende Bedeutung hat. Die causae adiuvantes und die causae proximae sind gleichermaßen als punktuell wirkend zu verstehen. Sie unterscheiden sich darin, daß bei der _____________
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124 Anm. 2, Schröder (1989), 211–214, Sharples (1991), 201 und Sedley (1993), 323 Anm. 32 an dieser Interpretation scheint gerechtfertigt. Sedley selbst sieht in einer causa principalis die „salient cause“ in einem Verursachungsprozeß (S. 324). Vgl. Heine (1859), 41; M. Frede (1980), 240; Marwede (1984), 229. Vgl. Rieth (1933), 153f. (mit Verweis auf Seneca, Ep. 87, 14); Liûcu (1937), 88, 97; Theiler (1946), 62 Anm. 2; Schiavon und Peruzza (1969), 37; Hamelin (1978), 23; Frede (1980), 240; Sorabji (1980), 275 Anm. 65; Görler (1987), 267; LS II, 384; Duhot (1989), 170; Sharples (1991), 200; Sedley (1993), 323; Magris (1994), 91 Anm. 78; Escobar (1999), 327 Anm. 146; Hankinson (1999a), 492f. Vgl. SE PH III, 15 (FDS 767); Ps.-Galen, Hist. philos. 19, 611.7–15 (FDS 767A); Clemens, Stromat. VIII, Cap. IX, § 33.3–33.9 (SVF II, 351; LS 55I; FDS 770). Vgl. Sambursky (1959), 60; Schröder (1989), 219f.; M. Frede (1980), 240f.; Hankinson (1998), 243; (1999a), 485f.; Hahmann (2005), 95. Vgl. Turnebus (in Bayer (2000), 164); Pesce (1970), 103; Talanga (1986), 132; Schröder (1989), 219f.; Bayer (2000), 163, 174. Straaten (1977), 511 lehnt ǝǟǗǏǛǍʗǗ als Vorbild für adiuvans ab und erklärt Ciceros Übersetzung folgendermaßen: „Die von uns aus Klemens angeführte und von ihm zweifellos älteren Quellen entnommene Definition der NjʊǞʇNj ǚǛǙǔNjǞNjǛǔǞǓǔɰ als eine NjʊǞʇNj ǚǛʰǞǣǜ ɒǠǙǛǖɱǗ ǚNjǛǏǡǙǖɨǗǑ, d. h. als eine den ersten Anstoß gebende Ursache, macht es darum sehr wahrscheinlich, daß Cicero ɒǠǙǛǖɱǗ ǚNjǛǏǡǙǖɨǗǑ (nicht sehr genau) mit adiuvans übersetzt hat, wobei dann proxima als eine Übersetzung des ǚǛʰǞǣǜ interpretiert werden könnte“. Sie ist identifiziert worden mit: ǚǛǙǝǏǡɩǜ NjʍǞǓǙǗ (Turnebus (in Bayer (2000), 165); Pohlenz (1940), 109; Schiavon und Peruzza (1969), 37; Pesce (1970), 103; Marwede (1984), 229; Bayer (2000), 163, 174); ǚǛǙǔNjǞNjǛǔǞǓǔʘǗ NjʍǞǓǙǗ (Stüve (1895), 52; Rieth (1933), 154; Greene (1963), 349; M. Frede (1980), 241; LS II, 384; Duhot (1989), 172; Sedley (1993), 323); ǝǟǗǏǔǞǓǔʘǗ NjʍǞǓǙǗ (Görler (1987), 273; Escobar (1999), 327 Anm. 146); NjʍǞǓǙǗ ǝǟǗǏǛǍʗǗ (Talanga (1986), 132); NjʍǞǓǙǗ ǝǟǗNjʇǞǓǙǗ (Magris (1994), 91 Anm. 78).
VII.17. §§ 41–43: Chrysipps Ursachenunterscheidung
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causa adiuvans der Akzent auf ihrer (unterstützenden bzw. mitverursachenden) Wirksamkeit liegt, während bei der causa proxima ihr (letzter) Platz in der Kausalkette, die zu einem Effekt führt, betont wird.506 Es ist auch möglich, daß ein und dasselbe Ereignis sowohl im Sinne einer causa adiuvans als auch im Sinne einer causa proxima wirkt: Der erste Stoß (als causa proxima) versetzt einen Körper in Bewegung, der zweite Stoß (als causa adiuvans) läßt den Körper schneller rollen.507 Für Chrysipps Strategie, in der stoischen Philosophie Fatum und moralische Verantwortlichkeit zu vereinbaren, ist aber letztlich nicht die genaue Anzahl der Ursachen, sondern vielmehr die Tatsache entscheidend, daß es einerseits Ursachen gibt, deren Wirken einen Effekt mit Notwendigkeit hervorbringt, und andererseits Ursachen, deren Wirken einen Effekt nicht mit Notwendigkeit hervorbringt, daß es, anders gesprochen, determinierende und nicht determinierende Ursachen gibt.508 Daß genau dieser Unterschied von maßgeblicher Relevanz ist, läßt Cicero deutlich an dem gesamten Duktus seiner folgenden Auseinandersetzung mit Chrysipp erkennen. Cicero zufolge will Chrysipp nun das gegen ihn gerichtete ethische Argument entkräften, indem er die Ursachenunterscheidung wie folgt zur Anwendung bringt: Wenn es heißt, daß alles durch das Fatum geschieht, dann ist damit zwar gemeint, daß jedes Ereignis eine vorausgehende Ursache hat, aber gemeint ist dies nicht in dem Sinne, daß jedes Ereignis eine causa perfecta et principalis als vorausgehende Ursache hat, sondern lediglich in dem Sinne, daß jedes Ereignis eine causa adiuvans et proxima als vorausgehende Ursache hat. So folgt daraus, daß alles durch das Fatum geschieht, zwar, daß alles durch vorausgehende Ursachen geschieht, aber nicht in dem Sinne, daß alles durch (vorausgehende) causae perfectae et principales geschieht, sondern lediglich in dem Sinne, daß alles durch (vorausgehende) causae adiuvantes et proximae geschieht. Nur wenn man also annähme, daß alles ausschließlich durch (vorausgehende) causae perfectae et principales geschähe, zöge dies die Konsequenz nach sich, daß alles mit Notwendigkeit geschähe und somit nichts in unserer Macht läge.509 _____________ 506 507 508 509
Vgl. Görler (1987), 268. Vgl. LS I, 342; Sedley (1993), 323. Vgl. Duhot (1989), 172, 175; Sharples (1995), 254. Ciceros Formulierungen in § 41 (quam ob rem cum dicimus omnia fato fieri causis antecedentibus, non hoc intellegi volumus: causis perfectis et principalibus, sed: causis adiuvantibus et proximis … si omnia fato fiant, sequi illud quidem, ut omnia causis fiant antepositis, verum non principalibus causis et perfectis, sed adiuvantibus et proximis … at hoc sequeretur, si omnia perfectis et principalibus causis fieri diceremus, ut, cum eae causae non essent in nostra potestate, ne ille quidem esset in nostra potestate) sind knapp, aber aus dem Kontext (insbesondere aus der Formulierung qui autem causas antecedentis non dicent perfectas neque principalis, in eos nihil valebit in § 42) ist offensichtlich, daß jeweils ein ante-
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VII. Kommentar zu De fato
Auf der Basis dieser Ursachenunterscheidung muß die stoische Handlungstheorie wie folgt verstanden werden: Nur wenn die vorausgehende Vorstellung eine causa perfecta et principalis wäre, träte die Zustimmung auch mit Notwendigkeit ein. Verhielte es sich so, dann wären die Zustimmungen und damit auch die aus den Zustimmungen resultierenden Handlungen tatsächlich nur Glieder in einer sich mit Notwendigkeit vollziehenden Ursachenverknüpfung und lägen somit nicht in unserer Macht. Genau dies ist ja der Vorwurf, den das ethische Argument gegen die Stoiker erhebt. Chrysipp dagegen sieht in der Vorstellung zwar eine vorausgehende Ursache, aber gerade keine causa perfecta et principalis, sondern lediglich eine causa adiuvans et proxima, so daß sie für die Zustimmung zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung darstellt. Daraus folgt dann nicht, daß die Zustimmung nicht in unserer Macht liegt, da sie durch die Vorstellung nicht mit Notwendigkeit bewirkt wird. Vor diesem Hintergrund glaubt Chrysipp, daß das ethische Argument nicht gegen ihn, sondern nur gegen diejenigen wirksam sei, die das Fatum auch mit der Notwendigkeit verknüpfen, weil sie in jeder vorausgehenden Ursache eine hinreichende Bedingung für das Verursachte sehen. Um zu verdeutlichen, welche Bedeutung die Ursachenunterscheidung für das Zustandekommen einer menschlichen Handlung hat, führt Chrysipp das Beispiel von der Bewegung eines Zylinders und eines Kreisels an:510 Der Zylinder und der Kreisel bewegen sich nicht aus eigenem Antrieb heraus, sondern beide müssen erst einen äußeren Anstoß erfahren, bevor sie beginnen können, sich zu bewegen. Ist dieser Anstoß erfolgt, vollzieht sich ihre weitere Bewegung aus eigener Kraft gemäß ihrer individuellen Natur (§ 42: suapte natura; § 43: suapte vi et natura), d. h. gemäß ihrer individuellen Form. Auf den menschlichen Handlungsablauf übertragen, bedeutet dies, daß die Vorstellung dem äußeren Anstoß entspricht. Sie wirkt punktuell von außen und initiiert den inneren Vorgang der Zustimmung. Die Zustimmung erfolgt dann der individuellen Natur gemäß, d. h. _____________ cedentes vor den causae perfectae et principales und den causae adiuvantes et proximae mitzudenken ist, damit der intendierte Sinn deutlich wird. Vgl. Rieth (1933), 153; Pack (1937), 432; Donini (1975), 188; Stough (1978), 215–218; Bobzien (1998a), 256, 258; (1999a), 206, 209f. 510 In Gellius VII, 2.11 (SVF II, 1000; LS 62D; FDS 998) ist dieses Gleichnis ebenfalls überliefert (in AvA, fat. XI, 179.16–17; XV, 185.17–18 wird es nur kurz erwähnt). Mit diesem oft wiederholten Gleichnis, so Straaten (1977), 514, habe Chrysipp seine Lehre „fast bis zur Langeweile verdeutlicht“. Schröder (1990), 149 sieht in dem Reflexivpronomen bei ad turbinem suum keinen Verweis darauf, daß das Gleichnis schon zuvor in einer Lücke von De fato erwähnt wurde, sondern ist der Meinung, es müsse so verstanden werden, daß „Chrysipp dieses Beispiel ad nauseam“ wiederholt habe. Sharples (1991), 190 widerspricht Schröder und nimmt eine vorangegangene Erwähnung des Beispiels an. Allgemein zu diesem Gleichnis siehe Rolke (1975), 92, 375–380, der glaubt, daß es direkt auf Chrysipp zurückgehe und am Anfang seines zweiten Buches ƻǏǛʈ ǏʉǖNjǛǖɨǗǑǜ gestanden habe.
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dem Charakter des Menschen gemäß, aus dessen eigener Kraft.511 So stellt die Vorstellung als vorausgehende Ursache nur eine notwendige Bedingung für die Zustimmung dar, die Hauptverantwortung aber für die Zustimmung liegt nicht in einer äußeren, vorausgehenden Ursache, sondern im Charakter als einer inneren, nicht vorausgehenden Ursache begründet. Aufgrund dieses Umstandes sieht Chrysipp die Zustimmungen und somit die Handlungen ganz in unserer Macht (ɫǠ’ ɲǖʏǗ, in nostra potestate) liegen. Wenn man also die von ihm vorgenommene Ursachenunterscheidung berücksichtige, so richtet sich Chrysipp abschließend an seine Gegner, könne man nichts gegen die Lehre ‚Alles geschieht durch das Fatum‘ einwenden. Durch die Einführung von Ursachen (causae), die zwar vorausgehend (antecedentes), nicht aber mit Notwendigkeit wirkend (necessariae) sind, sondern nur notwendige Bedingungen darstellen, kann in Chrysipps Augen der Grundsatz ‚Nichts geschieht ohne vorausgehende Ursachen‘ akzeptiert und so das Fatum beibehalten werden, ohne daß gleichzeitig zugestanden werden müßte, daß dann alles mit Notwendigkeit geschieht. Daß der äußere Anstoß bzw. die Vorstellung zu den causae adiuvantes et proximae zu zählen ist, ergibt sich zwanglos aus Ciceros Darstellung. Bei weitem weniger eindeutig ist die Frage zu beantworten, welche Ursache die Natur des Objektes bzw. der Charakter des Menschen in diesem Verursachungsprozeß darstellen soll. Um der Antwort auf diese Frage näher zu kommen, muß zunächst ein allgemeiner Blick auf die stoische Kausaltheorie geworfen werden. _____________ 511 Bobzien (1998a), 264 macht auf ein Verständnisproblem in dem Satz ‚ut igitur‘, inquit, ‚qui protrusit cylindrum, dedit ei principium motionis, volubilitatem autem non dedit, sic visum obiectum inprimet illud quidem et quasi signabit in animo suam speciem, sed adsensio nostra erit in potestate, eaque, quemadmodum in cylindro dictum est, extrinsecus pulsa, quod reliquum est, suapte vi et natura movebitur‘ (§ 43) aufmerksam, das sich durch das Demonstrativpronomen ea(que) ergibt. Aufgrund der femininen Form lasse sich ea nur auf adsensio beziehen. Dies bedeute inhaltlich, daß sich die Zustimmung aus eigener Kraft und der eigenen Natur gemäß weiterbewegen werde. Diese Aussage ergebe jedoch keinen Sinn, da die adsensio im ersten Teil des Satzes einen immateriellen Effekt analog zum Rollen des Zylinders darstelle. Das passende Analogon zum Zylinder (cylindrus) könne aber nur ein materieller Körper sein, wie aus dem Vergleich im letzten Teil des Satzes (quemadmodum in cylindro) deutlich werde. Wie schon der erste Teil des Satzes vermuten lasse (ut … qui protrusit cylindrum, dedit ei principium motionis, … sic visum obiectum inprimet illud quidem et quasi signabit in animo suam speciem) müsse auch im zweiten Teil die Analogie von cylindrus und aminus angenommen werden. Die falsche Form des Demonstrativpronomens könne sich vielleicht mit folgender Überlegung erklären lassen: Cicero habe aus der griechischen Vorlage ǎǓɏǗǙǓNj mit animus sowie ǝǟǍǔNjǞɏǒǏǝǓǜ mit adsensio übersetzt und dann schlichtweg mit ea einen falschen Bezug hergestellt, der daraus resultiere, daß die griechischen Wörter ǎǓɏǗǙǓNj und ǝǟǍǔNjǞɏǒǏǝǓǜ beide feminin seien, während im Lateinischen adsensio zwar auch feminin, animus hingegen maskulin sei. Damit im lateinischen Text der richtige Bezug auf animus hergestellt werde, müsse anstelle des femininen ea(que) das maskuline is(que) gelesen werden.
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VII. Kommentar zu De fato
Für die Stoa gibt es nichts im Kosmos, was nicht verursacht wäre, und dies gilt nicht nur für ein Geschehen (eine Bewegung, eine Veränderung) allgemein, sondern auch für einen Zustand.512 Für einen Zustand (ɬǘǓǜ), d. h. für die gesamte Beschaffenheit eines Objektes, ist das alles durchdringende Pneuma (ǚǗǏʩǖNj) mit seiner pneumatischen Fähigkeit (ǎʡǗNjǖǓǜ ǚǗǏǟǖNjǞǓǔɰ) in Form der ‚zusammenhaltenden Spannung‘ (ǞʗǗǙǜ ǝǟǗǏǔǞǓǔʗǜ) verantwortlich. Das Pneuma fungiert damit als ein NjʍǞǓǙǗ ǝǟǗǏǔǞǓǔʗǗ, d. h. als eine ‚zusammenhaltende Ursache‘. Es wirkt innerlich, in nicht vorausgehender Weise ganz aus sich heraus (NjʤǞǙǞǏǕʸǜ) und stellt in diesem Sinne eine causa perfecta für den Zustand eines Objektes dar.513 Die Verursachung eines Geschehens aber vollzieht sich allem Anschein nach auf eine andere Weise. Es ist zum einen eine äußere, vorausgehende Ursache vonnöten, wie etwa der Blitz, der ein Schiff in Brand setzt.514 Damit das Schiff aber überhaupt brennen kann, muß es zum anderen auch seiner Natur nach brennbar sein.515 Nach dem Einschlag des Blitzes ist die vorausgehende Ursache zwar verschwunden, aber das Brennen des Schiffes dauert noch an, wofür nach stoischer Vorstellung nicht mehr die nun verschwundene, vorausgegangene Ursache verantwortlich sein kann, sondern das NjʍǞǓǙǗ ǝǟǗǏǔǞǓǔʗǗ, das den Zustand des Objektes aufrechterhält.516 Es ist daher nicht unplausibel anzunehmen, daß die Stoiker für die Verursachung eines Geschehens eine Kooperation von mindestens zwei kausalen Faktoren verlangen, wobei einer von diesen eine äußere, vorausgehende Ursache und ein anderer eine innere, nicht vorausgehende Ursache darstellen muß.517 Wenn jede äußere, vorausgehende Ursache grund_____________ 512 Vgl. AvA, fat. XXII, 192.8–9 (SVF II, 945; LS 55N): ǖǑǎɩǗ ǍɐǛ ɒǗNjǓǞʇǣǜ ǖɰǞǏ ǏʐǗNjǓ ǖɰǞǏ ǍʇǗǏǝǒNjǓ. Vgl. Bobzien (1998a), 18–27; (1999a), 202–204, 228, 241; Hankinson (1998), 240. 513 Vgl. M. Frede (1980), 242–248; Bobzien (1998a), 20, 303; (1999a), 203f., 228–230. Zur Funktion des Pneumas siehe z. B. Gould (1970), 99–102; Bloos (1973), 52–73; Lapidge (1978), 168–176; Hahm (1994); Forschner (1995), 92f.; Long (1996), 230–234; Furley (1999), 440f., 446f.; Hahmann (2005), 135–139. 514 Das Beispiel stammt von Cicero, Top. 61 (siehe u. S. 251 Anm. 523). 515 Ein ähnliches Beispiel findet sich in SE AM IX, 237–251: Wenn das Feuer eine eigenständige Ursache wäre, müßte es immer in allen Fällen wirken; aber nicht alles brennt, was dem Feuer ausgesetzt wird. Wenn das Feuer aber für das Brennen der Brennfähigkeit des Objektes bedarf, kann das Feuer nicht als alleinige Ursache für das Brennen bezeichnet werden. Beide Faktoren sind für das Brennen verantwortlich. Vgl. Schröder (1990), 11. 516 SE PH III, 15 (FDS 767), Clemens, Stromat. VIII, Cap. IX, § 33.1 (SVF II, 351; LS 55I; FDS 770) und Ps.-Galen, Hist. philos. 19, 611.7–15 (FDS 767A) berichten, daß auch dann, wenn die vorausgehende Ursache (NjʍǞǓǙǗ ǚǛǙǔNjǞNjǛǔǞǓǔʗǗ) verschwunden sei, der Effekt bleibe. Wenn aber das ǝǟǗǏǔǞǓǔʘǗ NjʍǞǓǙǗ verschwunden sei, dann sei auch gleichzeitig der Effekt aufgehoben. Vgl. LS I, 341. 517 Vgl. Reesor (1965), 288; Stough (1978), 205; Marwede (1984), 227f.; Schröder (1990), 10f.; insbesondere Bobzien (1998a), 303; (1999a), 204, 239, 241. M. Frede (1980), 236f. rela-
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sätzlich mit einer inneren, nicht vorausgehenden Ursache, kooperieren muß, stellt sich die Frage, ob äußere, vorausgehende Ursachen, die auch noch hinreichend wären, überhaupt einen Platz in der stoischen Kausaltheorie haben.518 Blickt man nun auf das Zustandekommen einer Zustimmung, so ist durch Ciceros Darstellung deutlich geworden, daß auch diese einer Kooperation zweier Kausalfaktoren bedarf. Die Vorstellung fungiert als äußere, vorausgehende Ursache, der Charakter als innere, nicht vorausgehende Ursache. Für die Stoiker ist es nun von entscheidender Bedeutung, daß die Hauptverantwortung für die Zustimmung nicht in der vorausgehenden Ursache, der Vorstellung, begründet liegt, sondern im individuellen Charakter (siehe VII.17.b.). Vielleicht ist aus diesem Gedanken heraus bei der Mehrheit der Kommentatoren die Annahme entstanden, daß die causa adiuvans et proxima mit der Vorstellung und die causa perfecta et principalis (als NjʤǞǙǞǏǕʸǜ wirkend, d. h. als hinreichende Bedingung verstanden) mit dem Charakter des Menschen identifiziert werden müsse und daß beide Ursachen beim Zustandekommen einer Zustimmung kooperierten.519 Abgesehen davon, daß Cicero eine solche Zuordnung nicht explizit erwähnt, wirft diese Interpretation auch inhaltliche Probleme auf.520 _____________ tiviert: „This is not to say that whenever something happens to something, say A, there will be two causes involved, one antecedent and one internal to A. A mere passive affection of A does not require the activity of an internal cause“. 518 Vgl. Bobzien (1999a), 236–241. Görler (1987), 258 Anm. 9 vermutet, daß „die Stoiker e i n e ‚aus sich selbst heraus vollkommene‘ Ursache nicht gelten ließen, da sie alles Geschehen durch das Zusammenwirken von verschiedenen Ursachenarten erklärten“. Schröder (1990), 8–11, 20–23 nimmt ebenfalls an, daß die Stoiker nicht an die Existenz eines NjʤǞǙǞǏǕɩǜ NjʍǞǓǙǗ geglaubt hätten. Sedley (1993), 324 Anm. 38 hält in Anlehnung an Anna Maria Ioppolo die Annahme für plausibel, daß in einer adsensio eine causa perfecta gesehen werden könne, denn wenn eine adsensio gegeben sei, dann folge die Handlung notwendigerweise, ohne daß noch ein weiterer Faktor vonnöten wäre (siehe auch u. S. 251 Anm. 525). Wenn die adsensio in diesem Sinne als causa perfecta verstanden wird, dann stellt sie zwar eine innere, aber keine vorausgehende hinreichende Ursache dar. 519 Zahlreiche Verweise für diese Interpretation finden sich in Schröder (1990), 9f. Anm. 14 und in Bobzien (1999a), 205f. Anm. 23. Siehe auch z. B. Liûcu (1937), 79; Mattioli (1939/ 40), 191; Hunt (1954), 155f. (bezogen auf den Zylinder); Bréhier (1951), 192; (1962), 472; Marwede (1984), 226f.; Szekeres (1995), 234; Meyer (1998), 231f.; Wicke-Reuter (2000), 46. 520 Vgl. Görler (1987), 264–267; Schröder (1990), 9f.; Sedley (1993), 323; Ioppolo (1994), 4512–4514; Bobzien (1998a), 261, 264–268; (1999a), insbesondere 204–218, 228–233. Sharples (1995), 254 Anm. 37 hält es für unklar, auf welche Weise die innere Natur eine hinreichende Bedingung sein könnte. Theiler (1946), 62 Anm. 2 erkennt zwar die Schwierigkeiten, hält aber an der Identifikation fest: NjʤǞǙǞǏǕɨǜ bedeute eigentlich „allein entscheidend“, werde bei Cicero aber zu „aus sich entscheidend“. Belaval (1976), 337 betont, daß die Form des Objektes nicht für dessen Bewegung als solche, sondern nur für die Art der Bewegung die „cause efficiente“ sein könne. Sorabji (1980), 260 Anm. 30 verweist darauf, daß Cicero die fragliche Identifizierung nicht explizit benenne. Siehe auch die Verweise in Sharples (1991), 200; (1995), 254 Anm. 37 und in Bobzien (1999a), 224 Anm. 61.
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VII. Kommentar zu De fato
Wenn angenommen werden muß, daß nach stoischer Vorstellung immer mindestens zwei kausale Faktoren an der Verursachung eines Geschehens beteiligt sind, dann kann keiner dieser Kausalfaktoren eine hinreichende Bedingung darstellen, denn eine solche Bedingung brächte den Effekt schon aus eigener Kraft hervor, ohne daß noch eine weitere Bedingung vonnöten wäre. Wenn also der Charakter eine hinreichende Bedingung für das Zustandekommen einer Zustimmung darstellen sollte, dann brächte er die Zustimmung auch hervor, ohne daß eine Vorstellung als notwendige Bedingung erforderlich wäre. Diese Annahme steht aber in einem offensichtlichen Widerspruch zu Ciceros Darstellung der stoischen Handlungstheorie, die explizit eine Vorstellung als notwendige Bedingung für das Zustandekommen einer Zustimmung voraussetzt. Weiterhin ist bei dem Zylinder-Kreisel-Gleichnis deutlich geworden, daß nach dem äußeren Anstoß die Natur des entsprechenden Objektes für die Art der Bewegung verantwortlich ist. Sollte nun in dieser Natur eine hinreichende Bedingung gesehen werden, dann müßte etwa der Zylinder immer rollen; denn die Natur des Zylinders ist ja immer anwesend, und solange eine hinreichende Ursache anwesend ist, ist auch ihr Effekt anwesend. Der Zylinder aber rollt nicht in der ganzen Zeit, in der er die spezifische Form eines Zylinders besitzt. Ein Zylinder verliert auf der anderen Seite auch nicht seine individuelle Form und seine ‚Rollbarkeit‘ (volubilitas), wenn er gerade nicht rollt. Analog dazu verhält es sich beim Menschen, wenn angenommen wird, daß der individuelle Charakter eine hinreichende Bedingung für eine Zustimmung darstellt. Auch der Mensch ist nicht immer ein „zustimmender Mensch“, solange sein Charakter anwesend ist; ebensowenig verliert er diesen, wenn er gerade keine Zustimmung gibt.521 Nun stellt sich generell dann, wenn mehrere kausale Faktoren an einem Verursachungsprozeß beteiligt sind, die Frage, welcher dieser Faktoren die Hauptverantwortung für das Ergebnis trägt. Je nach konkreter Situation wird man der äußeren, vorausgehenden Ursache oder der inneren, nicht vorausgehenden Ursache die Hauptverantwortung bei der Kooperation mehrerer kausaler Faktoren zuschreiben können.522 Im Falle des _____________ 521 Vgl. Sedley (1993), 323; Bobzien (1999a), 231f. Gegen die Annahme, daß der zweite kausale Faktor mit dem ǝǟǗǏǔǞǓǔʘǗ NjʍǞǓǙǗ zu identifizieren sei, wendet sich Schröder (1990), 15 Anm. 32; Bobzien (1998a), 267f.; (1999a), 228–233. 522 Vgl. M. Frede (1980), 237f.; Sharples (1991), 191; Ioppolo (1994), 4522; Forschner (1995), 97 („Das Maß des Beitrages bzw. das Verhältnis der zusammenspielenden Kräfte zueinander dürfte wohl darüber entscheiden, welcher Gegenstand jeweils als Haupt-, Mit- oder Nebenursache der ins Auge gefaßten Bewegung anzusprechen ist“); Bobzien (1999a), 227, 239, 242; D. Frede (2003), 198. In § 9 von De fato werden auch vorausgehende Ursachen als causae principales bezeichnet. Vgl. Sedley (1993), 324; Bobzien (1999a), 239; D. Frede (2003), 188.
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Blitzeinschlages z. B. kann man annehmen, daß die Hauptverantwortung bei dem Blitz, also bei der äußeren, vorausgehenden Ursache liegt, da mit seinem Einschlag das Feuer mit Notwendigkeit hervorgebracht wird.523 Die innere Befähigung des Objektes in Form der „Brennbarkeit“ muß aus stoischer Perspektive dann als eine notwendige, aber nicht entscheidende Bedingung für den Brand verstanden werden. Die Frage nach der entscheidenden Ursache ist natürlich insbesondere dort von Interesse, wo nach moralischer Verantwortung für menschliches Handeln gefragt wird.524 Bei dem Verursachungsprozeß, der zu einer Zustimmung und damit zu einer Handlung führt, leitet die äußere, vorausgehende Vorstellung diesen Prozeß nur ein, die Hauptverantwortung aber für das Geben oder Verwehren einer Zustimmung liegt im Charakter als einer inneren, nicht vorausgehenden Ursache begründet. Gerade weil der individuelle Charakter einer Person die Hauptverantwortung bei der Ausführung einer Handlung trägt und damit auch die Hauptursache darstellt, sieht Chrysipp ja die Möglichkeit gegeben, dem Menschen moralische Verantwortlichkeit zuzusprechen (siehe VII.17.b.). Aufgrund der vorangegangenen Überlegungen ist es offensichtlich, daß die individuelle Natur bzw. der individuelle Charakter keine Ursache sein kann, die als eine causa perfecta fungiert, d. h. als eine für sich allein hinreichende Bedingung, sondern nur eine Ursache, welche die Funktion einer causa principalis erfüllt, d. h. die Funktion einer Bedingung, die in Kooperation mit mehreren kausalen Faktoren den entscheidenden kausalen Faktor für das Bewirkte darstellt.525 _____________ 523 Vgl. das Beispiel in Top. 61: at cum in Aiacis navim crispisulcans igneum fulmen iniectum est, inflammatur navis necessario. Vgl. Marwede (1984), 240f.; Bobzien (1999a), 216 Anm. 46. 524 Vgl. M. Frede (1980), 225, 237f. Stough (1978), 219f. betont (mit Blick auf SVF II, 347), daß viele Faktoren in der Verbindung miteinander den Effekt hervorbringen könnten, aber nicht alle von ihnen seien auch für den Effekt verantwortlich. Außerdem könne man bei einem Ereignis danach fragen, warum es geschah oder wessen Handlung es war. 525 Vgl. Sharples (1991), 200; (1995), 254; Sedley (1993), 323–325; Ioppolo (1994), 4512–4515, 4522; Bobzien (1999a), 227, 241; D. Frede (2003), 190, 197. Hankinson (1998), 248 nimmt an, daß die innere Disposition (als ein NjʍǞǓǙǗ ǚǛǙǑǍǙʡǖǏǗǙǗ) nach dem Eintreffen der adsensio die causa perfecta (NjʍǞǓǙǗ NjʤǞǙǞǏǕɨǜ) für die folgende Handlung darstelle. Long und Sedley (LS I, 341) betonen, daß die zylindrische Form keine hinreichende („sufficient“) Ursache für das Rollen darstelle, aber sehr wohl für das Rollen, nachdem der Anstoß erfolgt sei. Stough (1978), 216, 229 Anm. 26 schließt sich Long (1971a), 196 Anm. 32 in der Hinsicht an, daß die adsensio eine notwendige und hinreichende Bedingung für eine Handlung sei und in diesem Fall die causa perfecta et principalis mit der inneren Ursache zusammenfalle. Dies könne allerdings nicht verallgemeinert werden, da bei den unbelebten Objekten wie dem Zylinder die innere Natur nicht hinreichend für die Bewegung sei. Vielleicht spiegelt Ciceros Unterteilung der causae efficientes in den Topica 59 (sunt enim aliae causae, quae plane efficiant nulla re adiuvante, aliae, quae adiuvari velint) den Unterschied zwischen einer causa perfecta und einer causa principalis wider. Vgl. Bobzien (1999a), 227.
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VII. Kommentar zu De fato
b. Das Zylinder-Kreisel-Gleichnis als Ausdruck des stoischen Kompatibilismus In dem Zylinder-Kreisel-Gleichnis findet der stoische Kompatibilismus seinen Ausdruck, da es verdeutlichen soll auf welche Weise das Fatum mit der menschlichen Freiheit und Verantwortlichkeit vereinbar ist. Der Bewegungsablauf eines angestoßenen Objektes, so ist das Gleichnis zu verstehen, entspricht dem Akt der Zustimmung bei einem Menschen. Wie ein Körper durch einen externen Stoß in Bewegung versetzt wird, so wird der Akt der Zustimmung durch eine Vorstellung initiiert. Auf welche Weise der Körper sich dann weiterbewegt, hängt von seiner spezifischen Form ab, ebenso wie es vom individuellen Charakter eines Menschen abhängt, ob er eine Zustimmung erteilt oder nicht. Wenn ein Zylinder und ein Kreisel sich bewegen, dann bewegt sich der Kreisel immer wie ein Kreisel und der Zylinder immer wie ein Zylinder. Dabei steht es dem Zylinder nicht frei, sich wie ein Kreisel zu drehen, ebensowenig kann sich der Kreisel „entscheiden“, wie ein Zylinder zu rollen. Entsprechend verhält es sich beim Menschen. Gibt dieser eine Zustimmung zu einer Vorstellung, dann ist das Geben der Zustimmung durch den individuellen Charakter bestimmt. Auch dem Menschen steht es nicht frei, eine Zustimmung nicht zu geben, wenn das Geben der Zustimmung durch den Charakter bestimmt ist. Hat ein Mensch einmal in einer bestimmten Situation seine Zustimmung zu einer Vorstellung erteilt, dann wird man annehmen müssen, daß er unter den gleichen Bedingungen wieder seine Zustimmung gibt – so wie der Zylinder immer in der gleichen Weise rollt, wenn er unter den gleichen Bedingungen angestoßen wird.526 Diese Überlegung deckt sich mit der den Stoikern zugesprochene Annahme, daß unter den gleichen Umständen und kausalen Bedingungen auch immer der gleiche Effekt eintreten wird.527 Es ist offensichtlich, daß sowohl das Rollen des Zylinders als auch die Zustimmung des Menschen durch ein Zusammenspiel verschiedener kausaler Faktoren bestimmt ist. In diesem kausalen Netzwerk offenbart sich das Wirken des Fatums. Auch wenn die menschlichen Handlungen in dieser Weise festgelegt sind, folgt daraus für die Stoiker nicht, daß die menschliche Freiheit und die moralische Verantwortlichkeit aufgehoben _____________ 526 Vgl. Long (1971), 188; Sandbach (1975), 102; Straaten (1977), 516f.; D. Frede (1982), 288f.; (1990), 207f., 226; (2003), 193, 201, 204; Bobzien (1997), 87f. 527 Vgl. AvA, fat. X, 176.21–22 (SVF II, 959; LS 38H; FDS 1009); XXII, 192.21–25 (SVF II, 945; LS 55N); Nemesios 35, 105.18–21 (SVF II, 991). Vgl. z. B. Sambursky (1959), 54; Christensen (1962), 53; Long (1971), 188f.; Sorabji (1980), 253f.; Botros (1985), 276; White (1985), 105f.; D. Frede (1990), 207f., 226; Sharples (1995), 256. Siehe hierzu auch Bobzien (1998a), 38–44, 372–375; (1998b), 137f. und Salles (2005), 19–29.
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werden – genau dies werfen ihnen aber die Libertarier vor. Um sich nun dieser Kritik zu erwehren, muß Chrysipp zeigen, daß zum einen eine Handlung auf die handelnde Person selbst, nicht aber auf außerhalb ihrer liegende Ursachen zurückgeht, und zum anderen, daß die handelnde Person die Möglichkeit besitzt, so oder anders zu handeln. Genauer gesagt muß es für eine Person (unter den gleichen Bedingungen) möglich sein, einer Vorstellung zuzustimmen oder nicht zuzustimmen. In diesem Zusammenhang spielt die Ursachenunterscheidung eine zentrale Rolle. Die von außen kommende Vorstellung stellt zwar eine vorausgehende Ursache dar, initiiert aber lediglich den Prozeß der Zustimmung und bewirkt somit die Zustimmung nicht mit Notwendigkeit. Die Hauptverantwortung für eine Zustimmung kommt dem individuellen Charakter des Menschen zu. Der äußere Reiz führt also nicht direkt zur Ausführung einer Handlung. Vielmehr liegt zwischen Reiz und Handlung eine innere rationale Instanz, so daß kein einfaches Reiz-Reaktions-Schema vorliegt. Das Fatum wirkt durch die Vorstellung nicht direkt auf eine Handlung, sondern nur indirekt über den Charakter, der sich in ganz individueller Weise durch eine Vielzahl von kausalen Faktoren, wie etwa durch die genetische Disposition, die individuelle Sozialisation, diverse Umwelteinflüsse, persönliche Erfahrungen usw. herausgebildet hat.528 Aufgrund dieses individuellen Charakters mag auf ein und dieselbe Vorstellung der eine zustimmend und der andere ablehnend reagieren. Dadurch, daß der individuelle Charakter einer Person die Hauptursache für die Zustimmung darstellt, vollzieht sich die Zustimmung auch in ganz individueller Weise. In diesem Sinne geschieht sie durch uns (ǎǓ’ ɲǖʸǗ), und durch die kausale Beteiligung des individuellen Charakters an ihrer Entstehung liegt die Zustimmung auch bei uns (ɫǠ’ ɲǖʏǗ, in nostra potestate), so daß Chrysipp die Hauptverantwortung für eine aus der Zustimmung folgende Handlung nicht auf eine außerhalb der handelnden Person liegende Ursache, sondern auf die handelnde Person selbst zurückführen kann.529 Aus diesem Grund ist und bleibt der Mensch Urheber seiner Taten und das Fatum kann somit auch nicht unmittelbar verantwortlich für das menschliche Handeln gemacht werden.530 _____________ 528 Vgl. von Arnim (1905), 15; Long (1971a), 187; (1974), 168; Bloos (1973), 134; Gould (1983), 491f.; Inwood (1985), 67f.; Pohlenz (1992) I, 106; Sedley (1993), 324f.; Sharples (1996), 75; Bobzien (1998a), 290–301; Jedan (2002), 60. 529 Vgl. AvA, fat. XIII, 181.13–182.20 (SVF II, 979; LS 62G); Nemesios, nat. hom. 35, 105.6– 106.11 (teilw. SVF II, 991; teilw. LS 53O). Vgl. Long (1968), 339f.; (1970), 261–263; (1971a), 180f.; (1974), 167f.; Sandbach (1975), 102; Sharples (1978), 253–258; Stough (1978), 214–219; Hossenfelder (1995), 90; Bobzien (1997), 77f.; (1998a), 250–301; (1998b), 133–143; Hankinson (1999a), 496; Brennan (2005), 254–261; Salles (2000), (2005), 42–68. 530 Vgl. Gellius VII, 2.13 (SVF II, 1000; LS 62D; FDS 998): propterea negat [sc. Chrysippus] oportere ferri audirique homines aut nequam aut ignavos et nocentes et audaces, qui, cum in culpa et in ma-
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VII. Kommentar zu De fato
Nun ist die Frage, inwieweit es nach Auffassung der Stoiker für eine Person sowohl möglich ist, einer Vorstellung zuzustimmen, als auch möglich, ihr nicht zuzustimmen. Den stoischen Modaldefinitionen gemäß besteht diese Möglichkeit darin, daß ein Mensch die grundsätzliche Fähigkeit, zuzustimmen oder nicht zuzustimmen, haben muß, und daß er durch externe Umstände nicht daran gehindert werden darf, zuzustimmen oder nicht zuzustimmen. Der Mensch qua animal rationale besitzt die grundsätzliche Fähigkeit, eine durch rationale Prüfung entstandene Zustimmung zu einer Vorstellung zu geben oder nicht zu geben. Es ist allerdings wichtig zu betonen, daß dieser erste Teil der Möglichkeitsdefinition nur dann erfüllt ist, wenn die grundsätzliche Fähigkeit, eine Zustimmung zu geben, betrachtet wird (vgl. die philonische Möglichkeitsdefinition, siehe VII.5.c.). Denn eine bestimmte Person wird auf der Basis ihres individuellen Charakters, der durch eine Vielzahl kausaler Faktoren bestimmt ist, einer Vorstellung zustimmen oder nicht zustimmen, ohne daß es faktisch die Alternative gäbe, das Gegenteil zu tun.531 So gesehen, könnte nicht mehr gesagt werden, daß der Mensch die Fähigkeit besitzt, einer Vorstellung zuzustimmen oder nicht zuzustimmen, und so wäre dann auch der erste Teil der Möglichkeitsdefinition nicht erfüllt.532 Allerdings würde man dieses Urteil aus der Perspektive einer vollständigen Weltbeschreibung fällen und diese Perspektive führt in der stoischen Philosophie zu der universalen Modalität ‚Notwendigkeit‘. Indessen basieren die stoischen Modaldefinitionen nur auf abstraktiven Modalitäten, bei denen die vollständige Beschreibung der Welt nicht berücksichtigt wird (siehe VII.5.e.). Nur vor diesem Hintergrund hat der Mensch grundsätzlich die Fähigkeit, eine Zustimmung zu geben oder nicht zu geben, so daß auch tatsächlich der erste Teil der Möglichkeitsdefinition erfüllt ist. Für den zweiten Teil dieser Definition ist einmal mehr die Ursachenunterscheidung von Bedeutung. _____________ leficio revicti sunt, perfugiunt ad fati necessitatem tamquam in aliquod fani asylum et, quae pessime fecerunt, ea non suae temeritati, sed fato esse attribuenda dicunt. Bobzien (1998a), 255 bringt diesen Gedanken folgendermaßen zum Ausdruck: Man könne zwar sagen ‚Es war vom Fatum bestimmt, daß ich diese Handlung ausführe‘, aber man könne nicht behaupten ‚Das Fatum hat mich gezwungen, diese Handlung auszuführen‘. Vgl. Barth-Goedeckemeyer (1946), 89; LS I, 393. 531 Dieser Umstand ist von den Gegnern mit verschiedenen Vergleichen illustriert und kritisiert worden. So schreibt Cicero: ‚Wie es nämlich notwendig ist, daß die Schale bei einer Waage durch die aufgelegten Gewichte nach unten gedrückt wird, so ist es auch notwendig, daß der Geist dem Augenscheinlichen nachgibt‘ (Ac. II, 38 (LS 40O): ut enim necesse est lancem in libra ponderibus impositis deprimi, sic animum perspicuis cedere). Alexander von Aphrodisias betont, daß eine Zustimmung mit der gleichen Notwendigkeit erfolge, wie z. B. ein Stein zu Boden falle ( fat. XIII, 181.13–182.20 (SVF II, 979; LS 62G); XXXVI, 208.3–209.2). 532 Siehe hierzu die Diskussion in Brennan (2001), 268–271; (2005), 261–266.
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Da die von außen einwirkende Vorstellung nur als initiierende, aber nicht als eine die Zustimmung mit Notwendigkeit hervorbringende Ursache beim Zustandekommen einer Zustimmung beteiligt ist, stellt sie weder eine Hinderung für die Zustimmung dar noch übt sie einen Zwang auf die Zustimmung aus. Die Hauptverantwortung für das Zustandekommen der Zustimmung liegt vielmehr beim Charakter als einer inneren, nicht vorausgehenden Ursache. Aus stoischer Sicht stellt aber auch der Charakter des Menschen, wie die spezifische Natur eines Objektes überhaupt, als innere Ursache weder eine Hinderung noch einen Zwang dar. Dieser Gedanke wird am Beispiel des Zylinders sehr anschaulich verdeutlicht: Der Zylinder kann nur wie ein Zylinder rollen. An welcher anderen Bewegungsart sollte seine spezifische Form den Zylinder hindern, oder zu welcher anderen Bewegungsart sollte seine spezifische Form den Zylinder zwingen? Der Zylinder wird nicht gezwungen, wie ein Zylinder zu rollen, sondern er rollt so, wie er rollt, weil es eben in seiner Natur als Zylinder liegt, wie ein Zylinder zu rollen. Das, was gemäß der individuellen Natur (ǔNjǞɐ ǞɱǗ ǙʊǔǏʇNjǗ ǠʡǝǓǗ) geschieht, geschieht zwar notwendigerweise (ǔNjǞǑǗNjǍǔNjǝǖɨǗǣǜ), aber nicht aus irgendeinem Zwang heraus (ɫǔ njʇNjǜ).533 Dies gilt auch für das Zustandekommen einer Zustimmung. Das Geben oder Verweigern einer Zustimmung hängt maßgeblich vom Charakter als der individuellen Natur des Menschen ab. So stellt der Charakter die Grundlage dar, auf der jeder Mensch individuell handelt, indem er individuell auf jede Vorstellung reagiert. Auch wenn die Reaktion auf eine Vorstellung nicht anders ausfallen kann, als sie faktisch ausfällt, wird der Mensch aus stoischer Sicht dennoch nicht durch seinen Charakter zu einer bestimmten Reaktion gezwungen, da jede Reaktion sich gemäß der Natur des Individuums vollzieht. Den stoischen Modaldefinitionen zufolge ist es somit möglich und nicht notwendig, also kontingent, daß der Mensch eine Zustimmung gibt oder nicht gibt, auch wenn das Fatum uneingeschränkte Gültigkeit besitzt. Die Freiheit aber, die sich in dieser Kontingenz zeigt, ist ebenso wie das, was die Stoiker unter Möglichkeit verstehen, nur sehr schwach. Für die Konstituierung der Freiheit wird nur die Abwesenheit von Zwang bzw. Hinderung gefordert, während von allen anderen kausalen Zusammenhängen aber, die in ihrer Gesamtheit zu einer Determinierung der Handlung führen, ebenso wie von dem theologischen bzw. teleologischen Aspekt der stoischen Kosmologie abgesehen wird. In systematischer Hinsicht ist der Freiheitsbegriff der Stoiker dort einzuordnen, wo auch der _____________ 533 Vgl. AvA, fat. XIII, 181.13–182.20 (SVF II, 979; LS 62G); siehe auch u. S. 257 Anm. 535. Vgl. Hahm (1994), 192–194; Forschner (1995), 109f. Siehe auch den Kommentar zur Stelle in Sharples (1983a), 142f. und in Zierl (1995), 183–185.
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VII. Kommentar zu De fato
Möglichkeitsbegriff innerhalb der stoischen Philosophie ihren Platz findet. In Analogie zum abstraktiven Möglichkeitsbegriff (siehe VII.5.e.) kann somit auch von einem abstraktiven Freiheitsbegriff gesprochen werden. Vor diesem Hintergrund muß die nicht sofort nachvollziehbare Aussage Ciceros verstanden werden, daß Chrysipp der necessitas fati zu entkommen beabsichtige, indem er auf der Basis der Ursachenunterscheidung zwar am fatum festhalten, aber die necessitas vermeiden wolle. Diese Aussage und die dabei von Cicero verwendeten Begriffe müssen sehr genau betrachtet werden, damit der Anschein einer Inkonsistenz vermieden wird. Es ist an früherer Stelle bereits darauf hingewiesen worden, daß ‚Notwendigkeit‘ (ɒǗɏǍǔǑ) und ‚Schicksal‘ (ǏʉǖNjǛǖɨǗǑ) Ausdrücke sind, mit denen die Stoiker dasselbe kosmologische Prinzip aus unterschiedlichen Perspektiven beschreiben (siehe V.2., VII.5.e.). Insofern wäre es aus stoischer Sicht kaum sinnvoll, von einer Trennung von ‚Notwendigkeit‘ und ‚Schicksal‘ zu sprechen oder die beiden Wörter zu einer ‚Notwendigkeit des Schicksals‘ (necessitas fati) zu verbinden. Daher ist es auch wenig verwunderlich, daß das griechische Äquivalent ɒǗɏǍǔǑ ǏʉǖNjǛǖɨǗǑǜ weder bei den Stoikern noch überhaupt in den Zeugnissen aus der hellenistischen Zeit überliefert ist.534 Dieser scheinbare Widerspruch läßt sich aber recht einsichtig auflösen, wenn man auf das Referat des Alexander von Aphrodisias blickt, der die Vorgehensweise, die Cicero den Stoikern zuschreibt, inhaltlich bestätigt. Allerdings differiert Alexanders Darstellung in der Wortwahl, denn er berichtet, daß die Stoiker nicht zwischen fatum und necessitas, sondern zwischen ɒǗɏǍǔǑ (bzw. ǏʉǖNjǛǖɨǗǑ) und njʇNj einen wichtigen Unterschied sehen. Zwar geschehe alles mit Notwendigkeit (ǔNjǞ’ ɒǗɏǍǔǑǗ, ɫǘ _____________ 534 Bei Marc Aurel (121–180) ist der griechische Ausdruck ɒǗɏǍǔǑ ǏʉǖNjǛǖɨǗǑǜ (Med. XII, 14.1) zu finden. Da einige Handschriften statt ǏʉǖNjǛǖɨǗǑǜ aber auch ǏʉǖNjǛǖɨǗǑ überliefern, ist die Authentizität nicht gesichert: Farquharson liest ǏʉǖNjǛǖɨǗǑǜ (I, S. 240) und kommentiert „the unusual expression seems designed to balance (ǠǟǛǖʘǜ) ǏʊǔNjǓʗǞǑǞǙǜ“ (II, S. 890). Haines liest ɒǗɏǍǔǑ ǏʉǖNjǛǖɨǗǑ (S. 328) und Dalfen tilgt ǏʉǖNjǛǖɨǗǑ als Glosse (S. 109). Nach Cicero findet sich der Ausdruck necessitas fati noch bei Seneca (Ep. 101, 7), der an anderer Stelle auch das fatum über die necessitas definiert (nat. II, 36.1: quid enim intellegis fatum? existimo necessitatem rerum omnium actionumque, quam nulla vis rumpat), bei Gellius (VII, 2, 2.11, 2.13 (SVF II, 1000; LS 62D; FDS 998); XIII, 1.2), der wohl in einer gewissen Abhängigkeit von Cicero zu sehen sein dürfte (vgl. Sorabji (1980), 272f.), ferner bei Servius in seinem Kommentar zu Aeneis VIII, 133 und schließlich bei Boethius (Cons. IV, pr. 6.16; In Arist. De. interpr. III 9, 217.21 (FDS 1007)). Der Ursprung des lateinischen bzw. spätgriechischen Ausdrucks bleibe unklar, resümiert Rist (1969a), 125f., vielleicht sei er im Umfeld der karneadeischen Kritik entstanden. Spätere Generationen hätten diesen Ausdruck dann übernommen, ohne daß der ursprüngliche Sinn der Differenzierung noch klar gewesen wäre. Zum Ausdruck necessitas fati vgl. Theiler (1946), 65 Anm. 1; Rist (1969a), 123–126; Sharples (1981), 84–87; Bobzien (1998a), 142f., die den Ausdruck ebenfalls für „presumably post-Chrysippean“ hält.
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ɒǗɏǍǔǑǜ), aber nicht unter Zwang (ɫǔ njʇNjǜ, njʇɤ), sondern vielmehr durch den Zusammenhang der Ursachen (ǔNjǞɐ ǞɱǗ ǞʸǗ NjʊǞʇǣǗ ɒǔǙǕǙǟǒʇNjǗ).535
Auch in De fato sind diese unterschiedlichen Begriffe zu finden. So spricht Cicero vom ‚schicksalhaften Zwang‘ (§ 5: vis fatalis) und von der ‚Notwendigkeit des Schicksals‘ (§§ 20, 22, 38, 39: necessitas fati), ferner davon, daß Notwendigkeit und Schicksal bestätigt würden (§ 21: ita et necessitatem et fatum confirmari putat), daß weder Schicksal noch Notwendigkeit zu fürchten seien (§ 28: nec ob eam causam fatum aut necessitas extimescenda est), daß das Schicksal den Zwang der Notwendigkeit mit sich bringe (§ 39: fatum vim necessitatis adferret), daß unter dem Wirken des Schicksals die Zustimmungen durch Zwang und Notwendigkeit bewirkt würden (§ 40: illi, quibus omnia fato fieri videbantur, vi effici et necessitate dicebant) und daß nicht nur das Schicksal, sondern auch die Notwendigkeit und die Nötigung aller Dinge bestätigt würden (§ 48: nec vero quisquam magis confirmare mihi videtur non modo fatum, verum etiam necessitatem et vim omnium rerum). Cicero unterscheidet offensichtlich nicht zwischen den Ausdrücken fatum, necessitas und vis. Dies ergibt sich aus der Tatsache, daß er das Fatum als eine Verkettung von Ursachen im eigentlichen Sinne, also von hinreichenden Bedingungen, interpretiert, so daß er es in einem starken Sinne versteht. Daher resultiert für Cicero aus der Existenz des Fatums auch die Konsequenz, daß alles mit Notwendigkeit und ebenso auch mit Zwang geschieht.536 Somit macht es für ihn auch keinen Unterschied, ob man von einer necessitas fati oder von einer vis fati spricht.537 Für Chrysipp allerdings ist die Unterscheidung von fatum und vis von großer Bedeutung. Wie bereits gezeigt wurde, wollen die Stoiker mit ihrer Ursachenunterscheidung nicht das Fatum als Ausdruck eines geschlossenen Kausalsystems preisgeben, sondern lediglich vermeiden, daß alles, was geschieht, durch vorausgehende Ursachen in dem Sinne mit Notwendigkeit geschieht, daß es auch erzwungen ist. Um den Stoikern gerecht zu werden, muß man sich also vor Augen halten, daß Ciceros necessitas hier nicht die wörtliche Übersetzung _____________ 535 Vgl. AvA, fat. XIII, 181.23 (SVF II, 979; LS 62G): ǔNjǞ’ ɒǗɏǍǔǑǗ Ǚʤ ǞɱǗ ɫǔ njʇNjǜ; Quaest. I.4, 10.10 (SVF II, 962; FDS 1012): ǞǙʩ ɫǘ ɒǗɏǍǔǑǜ ǖɱ ǞǙʩ ʲǜ njǓNjʇǙǟ. Vgl. Stough (1978), 215; Sharples (1981), 89; Schröder (1990), 145f. Anm. 18; Forschner (1995), 109f.; Bobzien (1998a), 142f. 536 Vgl. Gellius VII, 2.7 (SVF II, 1000; LS 62D; FDS 998), der in seiner Darstellung davon spricht, daß ‚alles vom Schicksal durch eine notwendige und grundlegende Gesetzmäßigkeit erzwungen und miteinander verknüpft ist‘ (ut ratione quadam necessaria et principali coacta atque conexa sint fato omnia). 537 Dies wird auch durch Ciceros Verwendung der entsprechenden Adjektive deutlich. So spricht er vom ‚schicksalhaften Zwang‘ (§ 5: vis fatalis), bezeichnet an anderer Stelle das Fatum (ǏʉǖNjǛǖɨǗǑ) als ‚schicksalhafte Notwendigkeit‘ (nat I, 55 (LS 13H): illa fatalis necessitas, quam ǏʉǖNjǛǖɨǗǑǗ dicitis; vgl. I, 39 (SVF II, 1077; LS 54B), 40 (SVF II, 1077; LS 54B)) und übersetzt ǏʉǖNjǛǖɨǗǙǜ (Platon, Tim. 41e) mit fatalis ac necessarius (Tim. XII, 43).
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VII. Kommentar zu De fato
von ɒǗɏǍǔǑ darstellt, sondern vielmehr njʇNj (vis) wiedergibt.538 Vor diesem Hintergrund ist auch Ciceros Aussage, daß Chrysipp das fatum beibehalten und der necessitas (im Sinne des Zwangs) entkommen wolle,539 konsistent mit der stoischen Lehre. Chrysipp glaubt, diese Trennung von fatum und necessitas bzw. vis mit Hilfe seiner Ursachenunterscheidung rechtfertigen zu können. Das stoische Fatum manifestiert sich in einem kausal geschlossenen Weltgeschehen, d. h. in einer ewigen Ursachenverknüpfung. Als „Ursachen“ werden von den Stoikern nun aber nicht nur Kausalfaktoren, die mit Notwendigkeit wirken, sondern auch solche, die nicht mit Notwendigkeit wirken, anerkannt. Daher kann Chrysipp argumentieren, daß innerhalb eines so verstandenen Fatums nicht jede Ursache mit Notwendigkeit wirkt und daß folglich auch nicht alles erzwungen ist, selbst wenn das Fatum ein geschlossenes, determiniertes Kausalsystem darstellt. So spricht Chrysipp – im Gegensatz zu den Libertariern – auch dann schon vom Wirken des Fatums, wenn nur solche Ursachen vorliegen, die nicht mit Notwendigkeit wirken. Damit gibt er einen nur schwachen Fatumsbegriff zu erkennen. Nur auf der Basis dieses schwachen Fatumsbegriffs kann Chrysipp von einer – wenn auch schwachen – menschlichen Freiheit sprechen. Für die Libertarier ist das Zylinder-Kreisel-Gleichnis und mit diesem Chrysipps Strategie, Fatum und Freiheit gleichermaßen aufrechtzuerhalten, völlig verfehlt. Jegliche Bemühungen, auf der Basis einer deterministischen Weltsicht moralische Verantwortlichkeit zu begründen, sind aus ihrer Sicht zum Scheitern verurteilt, denn von ihrer Warte aus läßt sich dem Menschen nur auf der Basis eines starken, nicht aber auf der eines schwachen Freiheitsbegriffs moralische Verantwortlichkeit zusprechen. Die Kritik der Libertarier, daß Chrysipp kein echtes freiheitliches Moment in seiner Handlungstheorie zu gewährleisten vermag, ist verständlich, denn für sie erschöpft sich Freiheit nicht nur in einer Handlungsfreiheit, d. h. nicht darin, daß jemand das ungehindert tun kann, was er tun möchte. Diese Vorstellung der Freiheit als ungehindertes oder unerzwungenes Handeln ist kompatibel mit der Vorstellung eines determinierten Weltgeschehens: Wenn Dion etwa nach Korinth gehen möchte und weder daran gehindert noch dazu gezwungen wird, nach Korinth zu _____________ 538 Vgl. Bobzien (1998a), 143; Wicke-Reuter (2000), 45 Anm. 163, die Ciceros Ausdrucksweise für „irreführend, wenn nicht unsachgemäß“ hält und daher Alexanders Terminologie (AvA, fat. XIII) den Vorzug geben möchte. 539 Vgl. Gellius VII, 2.11 (SVF II, 1000; LS 62D; FDS 998); AvA, fat. X, 177.2–5 (SVF II, 960; FDS 1009); X, 177.7–178.7 (teilw. SVF II, 961; FDS 1010); XIII, 181.21–25 (SVF II, 979; LS 62G); Augustinus, civ. V, 9, 10 (SVF II, 995; FDS 1002). Es ist mit Sorabji (1980), 272f., Sharples (1981), 85 und Marwede (1984), 229 davon auszugehen, daß Gellius und Augustinus bei ihrer Wortwahl in Abhängigkeit von Cicero zu sehen sind.
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gehen, dann besitzt er nach stoischer Auffassung in diesem Moment auch die Freiheit, nach Korinth zu gehen, wobei Dion aber vor dem Hintergrund einer deterministischen Weltsicht faktisch nicht die Alternative hatte, auch nicht nach Korinth zu gehen.540 Über die Abwesenheit von Hinderung oder Zwang hinaus ist es gerade diese Alternativität, an der die Libertarier ihre Freiheitsvorstellung festmachen. Für sie existiert nur dann „echte“ Freiheit, wenn diese auch in Form der Willensfreiheit gegeben ist, d. h., wenn jemand in ein und derselben Situation und unter denselben Bedingungen die Alternative hat, sich so oder auch anders zu entscheiden und dementsprechend so oder auch anders zu handeln.541 Diese auf der Willensfreiheit und der alternativen Wahl basierende Freiheitsvorstellung ist nicht mit einer deterministischen, sondern nur mit einer indeterministischen Weltsicht kompatibel. Eine derart starke Freiheitsvorstellung ist für Chrysipp aber völlig unannehmbar und von ihm auch gar nicht intendiert,542 da sie mit den _____________ 540 In der Auseinandersetzung mit den Stoikern um Freiheit und Determinismus werden oft die Aphorismen Senecas ‚Das Schicksal führt den Willigen, den Unwilligen zieht es‘ (Ep. 107, 11 (SVF I, 527): ducunt volentem fata, nolentem trahunt (vgl. Augustinus, civ. V, 8); vgl. Epiktet, Ench. 53 (SVF I, 527; LS 62B)) und ‚Nicht gehorche ich dem Gott, sondern ich stimme ihm zu‘ (Ep. 96, 2: non pareo deo, sed adsentior) sowie das Gleichnis von dem Hund, der an einen fahrenden Wagen gebunden ist und diesem, ob er will oder nicht, in letzter Konsequenz doch folgen muß (Hippolyt, haer. I, 21 (SVF II, 975; LS 62A)), angeführt. Allerdings scheinen diese Zeugnisse weniger Auskunft über die Art des stoischen Fatalismus zu geben, als vielmehr darüber, auf welche Weise sich der Mensch in einem determinierten Kosmos verhalten soll. Siehe hierzu Long (1971a), 192f.; Bobzien (1998a), 345– 357; Meyer (1999), insbesondere 256f., 271f.; Hankinson (1999b), 540f.; Sharples (2005). 541 Vgl. AvA, fat. XI, 178.8–180.2; XII, 180.3–181.7; XV, 185.31–186.2; XVIII, 188.17–189.8; XIX, 189.9–190.19; XX, 190.19–191.2; XXXIII, 205.13–22. 542 Rieth (1933), 156 resümiert: „Die Stoa will also, indem sie das ɫǠ’ ɲǖʏǗ verteidigt, nicht die Freiheit des njǙǟǕǏʡǏǝǒNjǓ retten“. Christensen (1962), 54 beschreibt die stoische Freiheitsvorstellung wie folgt: „Freedom is self-determination, not spontaneity“. Long (1974), 167f. verweist darauf, daß die Stoiker nicht das „to act otherwise now“ anstrebten, sondern ein „acting deliberately“. Sandbach (1975), 104 urteilt: „Chrysippus was concerned to support not free will but moral responsibility. In a sense man’s actions are in his power, since he can do them, but it is not in his power not to do them“ (vgl. S. 102). Inwood (1985), 67 beschreibt die stoische Haltung wie folgt: „our behaviour is in our power without being cut loose from the causal nexus of fate. We are ‚free‘, at least in the sense that we are responsible for our actions. […] It is clear that on the Stoic model of action man is not an ultimate and autonomous self-mover“ und betont (2003), 239, daß die Stoiker bestrebt seien, neu einsetzende Ereignisse zu vermeiden. Sharples (1986), 278f. stellt heraus, daß es der Stoa weniger auf die Freiheit ankomme als auf die Begründung der Verantwortlichkeit, die auch in ihrem kompatibilistischen System dem Menschen zugesprochen werden könne, außer bei physisch erzwungenen Handlungen; vgl. Sharples (1983a), 143; (1987a), 203f. Dadurch, daß die Entscheidungen des Menschen notwendigerweise „co-fated“ seien, urteilt Dillon (1992), 778 (vgl. (1977), 84), könne der ‚freie Wille‘ in der stoischen Philosophie bestenfalls als ein ‚subjektives Phänomen‘ bezeichnet werden. Bobzien (1997), 77f.; (1998a), 235, 250– 290; (1998b), 133–143, 172 legt ausführlich dar, daß Chrysipp die moralische Verantwort-
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VII. Kommentar zu De fato
Grundfesten der stoischen Philosophie in Widerspruch geriete. Willensfreiheit im Sinne der Libertarier würde für die Stoiker bedeuten, daß sich etwas ‚bald so, bald anders‘ (ʙǞɩ ǖɩǗ ǙʥǞǣǜ, ʙǞɩ ǎǏ ɕǕǕǣǜ)543 ereignen könnte. Dies käme einer unverursachten Bewegung (ɒǗNjʇǞǓǙǜ ǔʇǗǑǝǓǜ) gleich, wodurch aber die Natur verletzt würde. Die Einheit des Kosmos wäre zerrissen und letztlich die göttliche Vorsehung in Frage gestellt.544 Daß die Stoiker daher dem Menschen die Fähigkeit absprechen, in ein und derselben Situation und unter denselben Bedingungen zwischen Gegensätzlichem zu wählen, wird bei Alexander von Aphrodisias explizit hervorgehoben.545 Chrysipp dafür zu kritisieren, daß er die Willensfreiheit nicht etablieren könne, würde bedeuten, ihn dafür zu kritisieren, daß er eine Position, nämlich die libertarische, nicht einnimmt, die er gar nicht einzunehmen gedachte.546 Daher sollte es auch vermieden werden, von einer libertarischen Warte aus die Philosophie der Stoiker in der Weise „wohlwollend“ zu interpretieren,547 daß man ihrer Handlungstheorie libertarische oder dualistische Tendenzen unterstellt.548 Interpretationen dieser _____________
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lichkeit des Menschen nicht an die Fähigkeit des „to do otherwise“ bindet, sondern an die Autonomie der handelnden Person. Vgl. von Arnim (1905), 13; Duprat (1910), 500; Bismarck (1921), XI, 61f.; Barth-Goedeckemeyer (1946), 86f.; Long (1970), 262; (1971a), 182– 185, 189; (1974), 167f.; (1976), 85; Stough (1978), 222; Reesor (1978), 191; LS I, 393; Duhot (1989), 262f.; Hossenfelder (1995), 88–91; Brennan (2005), 288–302; Hahmann (2005), 71, 123, 156, 190; Salles (2005), xx–xxii, 51, 61–68, 76f., 84–89. Greene (1963), 346 Anm. 87 merkt mit Blick auf Rieth (1933), 133, 156 zwar zu Recht an, daß es bei der Frage nach dem ɫǠ’ ɲǖʏǗ um die Frage nach Verantwortlichkeit, nicht um die nach „freedom of will“ gehe, urteil aber, dies führe zu demselben Ergebnis. Es ist jedoch deutlich geworden, daß es in den verschiedenen Schulen wichtige Unterschiede in der Begründung moralischer Verantwortlichkeit gibt. Eine pauschale Gleichsetzung des ɫǠ’ ɲǖʏǗ mit „Willensfreiheit“ führt zu Mißverständnissen und interpretatorischen Problemen. AvA, fat. XV, 185.8; vgl. XXII, 192.23–24 (SVF II, 945; LS 55N). Vgl. AvA, fat. XV, 185.7–11; XXII, 192.8–25 (SVF II, 945; LS 55N); Plutarch, Stoic. repug. 23, 1045b–c (SVF II, 973). Vgl. Barth-Goedeckemeyer (1946), 86f.; Gould (1970), 143; Long (1971a), 175, 182, 188; Schröder (1990), 13f.; Forschner (1995), 99; Hahmann (2005), 88f., 123. Bloos (1973), 137 formuliert den entscheidenden Punkt wie folgt: „Wenn also auch nur ein einziger Mensch in einer einzigen Situation frei entscheiden kann, ist das ganze System des Determinismus aufgehoben“. Vgl. AvA, fat. XIII, 181.13–14 (SVF II, 979; LS 62G); XV, 185.7–11; XVI, 186.27–28; XX, 190.19–191.2; XXII, 192.21–24 (SVF II, 945; LS 55N). Vgl. Sharples (1981), 83; (1991), 187f. Gilbert (1963), 25 sieht in der stoischen njǙʡǕǑǝǓǜ „an activity of reason, not a distinct part of the soul“. Long (1976), 91f. betont zu Recht, daß ein ‚Wille‘ im ‚kantianischen oder existentialistischen Sinne‘ kein Bestandteil der stoischen Philosophie sei. Sedley (1993), 327 urteilt: „Thus in Stoic psychology we should not be looking for any kind of dualism between material and intentionalist description“. Vgl. z. B. das Resümee von Straaten (1977), 518, der die Stoiker „in der Gesellschaft von (unter anderen) KANT“ sieht und Platz (1973), die urteilt: „Chrysipp faßt den Willen als ein Paradoxon: Er ist bedingt (bedarf des Anstoßes) und ist zugleich frei (steuert den Be-
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Art verlassen den Boden der stoischen Philosophie und führen zwangsläufig zu dem Urteil, daß die vermeintliche Willensfreiheit der Stoiker inkonsistent mit ihrer sonstigen Lehre sei.549 Aufgrund der kosmologischen Prämissen seiner Schule war Chrysipp nicht daran gelegen, eine Willensfreiheit im libertarischen Sinne in der stoischen Philosophie zu etablieren, und eben wegen dieser kosmologischen Prämissen konnte und wollte er den stoischen Determinismus als solchen auch nicht in Frage stellen. Vielmehr gingen seine Bemühungen dahin, den Fatalismus im engeren Sinne und den harten Determinismus abzuwehren (§§ 28–30),550 um auf der Basis der Handlungsfreiheit die moralische Verantwortlichkeit des Menschen innerhalb der stoischen Philosophie rechtfertigen zu können. Chrysipp ist und bleibt ein Determinist, wenn auch ein weicher.551 _____________ wegungsablauf)“ (S. 66). Es existiere eine „Doppelstruktur des Willens“ (S. 66) und zu konstatieren sei „fraglos eine Ambiguität in der stoischen Lehre“ (S. 79). Allerdings gibt Platz auch zu bedenken, daß es offenbleibe, ob nicht auch die freie adsensio letztlich doch bedingt sei, nämlich durch die „jeweilige Disponiertheit des Individuums“ (S. 66); denn nach „stoischer Lehre ist das Fatum allumfassend. Auch das, was der einzelne frei entscheidet, ist letztlich bestimmt durch das Ganze“ (S. 68). Botros (1985), insbesondere 296– 304 spricht den Stoikern eine gewisse Form des „agent-causalism“ zu. Vgl. Kilb (1939), 50; Barth-Goedeckemeyer (1946), 88. 549 Z. B. kommt Gould (1970), 148–152; (1983), 493 zu folgendem Ergebnis: „The Stoic conception of fate is one with which the notion of human responsibility is incompatible“. Bloos (1973), 131–140 hält Determinismus und Ethik innerhalb der stoischen Philosophie für unvereinbar und resümiert: „Dann muß man aber auch von einem in der Philosophiegeschichte tradierten Dogma Abstand nehmen, nämlich von dem, daß das philosophische System der Stoa geschlossen und einheitlich sei. Vielmehr zerfällt dieses System bei näherem Hinsehen in eine Anzahl von einzelnen Lehren, deren Unverbundenheit oder gar Unvereinbarkeit die Stoiker, besonders Chrysipp, mit viel Scharfsinn zu verdecken und zu überbrücken suchten“ (S. 138f.). Forschner (1995), 113 zieht folgendes Resümee: „Daß der Mensch nicht nur Herr seines Denkens und Begehrens ist, sondern zumeist auch anders handeln kann als er tatsächlich handelt, ist eine Prämisse, die hinter allen ethischen und pädagogischen Aussagen der Stoa steht. Diese ethische Perspektive konfligiert mit der stoischen Prinzipienlehre und der auf ihr basierenden pantheistischen Kosmologie“. Vgl. Stein (1888), 189; Gilbert (1911), 536f.; Stegemann (1939), 170; Platz (1973), 79; Kaiser (1989), 265; Janssen (1992), 192f. 550 Zum Fatalismus im engeren Sinne siehe IV., VII.12. Zur Differenzierung zwischen einem harten und einem weichen Determinismus siehe u. S. 300–302. 551 Explizit als ‚weicher Determinismus‘ wird die stoische Position bezeichnet von z. B.: Gould (1970), 149 Anm. 1, 152 Anm. 3; Sharples (1978), 244 Anm. 18; (1981), 81, 83; (1983a), 166; (1986); (1987a), 203f., 213; (1991), 187; Schröder (1990), 150; Janssen (1992), 182; Algra (1995), 293f. Anm. 84, 297; Bobzien (1993), 75; Hankinson (1998), 261f.; (1999b), 529, 537f.; White (2003), 138, 144; Weidemann (2003a), 124. Botros (1985), 281, 301 teilt diese Beurteilung der stoischen Position nicht. Die von Cicero referierte Ursachenunterscheidung und das Zylinder-Kreisel-Gleichnis seien zu Unrecht als Argument herangezogen worden, um den Stoikern einen „soft-determinism“ zuzuschreiben. Die frühen Stoiker seien Deterministen gewesen, die gewissermaßen als die ‚Erben der griechi-
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VII. Kommentar zu De fato
18. §§ 44–45: Die angebliche Übereinstimmung der Positionen a. Die textkritischen Probleme Die ersten beiden Sätze des § 44 stellen eine „notorious crux“552 dar, weil der überlieferte Text drei Probleme aufwirft, die sehr kontrovers diskutiert werden:553 die inhaltliche Bedeutung des ersten Satzes die Bedeutung von continens die Interpretation von neque ... neque Die inhaltliche Bedeutung des ersten Satzes Im ersten Satz von § 44 soll innerhalb der Libertarier offenbar zwischen zwei Lehrmeinungen unterschieden werden. Dem überlieferten Text zufolge sprechen die Vertreter der ersten Lehrmeinung (die Libertarier I) dem Fatum die Gewalt über die Zustimmungen ab, gestehen aber zu, daß die Zustimmungen nicht ohne vorausgehende Vorstellung geschehen können (si illi, qui negant adsensiones fato fieri, fateantur tamen eas non sine viso antecedente fieri ). Auch die Vertreter der zweiten Lehrmeinung (die Libertarier II) gestehen zu, daß Vorstellungen bei der Entstehung der Zustimmungen vorausgehen, aber nicht, daß die Zustimmungen durch das Fatum bewirkt werden (si concedunt anteire visa, nec tamen fato fieri adsensiones). Die Vertreter beider Lehrmeinungen gehören offensichtlich zu der Gruppe der bereits in § 39 erwähnten Libertarier, da sie übereinstimmend annehmen, daß die Zustimmungen nicht dem Fatum unterliegen – allerdings stimmen sie auch darin überein, daß die Zustimmungen sich nicht ohne vorausgehende Vorstellungen vollziehen. Es hat also den Anschein, als ob sie letztlich dasselbe sagen und sich nur in der Ausdrucksweise unterscheiden. Ciceros Worten zufolge wird aber die erste Lehrmeinung so beschrieben, daß sie im Gegensatz zur zweiten eine alia ratio im Verhältnis zu Chrysipps Lehrmeinung darstellen soll. Daraus ergibt sich das Problem, _____________ schen Tragödie‘ anzusehen seien, da sie zwar eine strikte Determinierung durch die Existenz des Fatums akzeptiert, dem Menschen aber dennoch moralische Verantwortung zugesprochen hätten. Siehe hierzu die direkte Antwort von Sharples (1986). 552 Sharples (1991), 191. 553 Eine Auseinandersetzung mit diesen Problemen findet sich in Gercke (1885), 703f.; Stüve (1895), 53–55; Skassis (1915), 36–39; Yon (1950), XXX–XXXII; Appuhn (1937), 588f. Anm. 383, 589 Anm. 384; Kleywegt (1973); Hamelin (1978), 49–54; Marwede (1984), 235– 238; Sharples (1991), 191–193, 200f.; Bayer (2000), 166–170.
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worin eigentlich der Unterschied zwischen den beiden libertarischen Lehrmeinungen zu sehen ist, wenn sie doch inhaltlich dasselbe besagen.554 Will man am überlieferten Text festhalten, muß alia ratio so interpretiert werden, daß zwischen der ersten und der zweiten Lehrmeinung kein inhaltlicher, sondern ein rein sprachlicher Unterschied in der Weise besteht, daß in der ersten Formulierung eine Vorstellung explizit als condicio sine qua non angesprochen wird (non sine viso antecedente), während das bei der zweiten Formulierung nur implizit der Fall ist (anteire visa).555 Folglich müßte das alia ratio in einem sehr schwachen Sinne, nämlich im Sinne von ‚andere Ausdrucksweise‘, verstanden werden.556 Vor diesem Hintergrund plädiert Kleywegt im Anschluß an Bayer für die Interpretation „they speak otherwise“; allerdings hält er „to speak otherwise“ als Übersetzung von ratio für unangemessen. Daher schlägt Kleywegt eine Änderung von ratio in oratio vor, wobei er aber zugesteht, keine überzeugenden Parallelstellen für die von ihm angenommene Verwendung des Wortes oratio gefunden zu haben.557 Der Sinn des Satzes müsse dann wie folgt verstanden werden: ‚Wenn diejenigen, die bestreiten, daß die Zustimmungen durch das Fatum verursacht sind, dennoch zugeben, daß sie nicht ohne eine vorausgehende Vorstellung bewirkt werden können, dann reden sie auf eine andere Weise (als Chrysipp), aber insofern sie zugeben, daß die Vorstellungen vorausgehen, und darauf bestehen, daß die Zustimmungen nicht durch das Fatum bewirkt werden, weil die proxima illa et continens causa (d. h. das visum) nicht notwendigerweise die Zustimmungen hervorbringt, kann es gut sein, daß sie dasselbe sagen (d. h. meinen) wie Chrysipp (oder: daß der Inhalt ihrer Worte im wesentlichen derselbe ist wie bei Chrysipp)‘. Diese Interpretation sieht Kleywegt auch durch die Annahme gestützt, daß Chrysipp tatsächlich mehr zu den Libertariern neige und nur durch seine eigene Wortwahl in Schwierigkeiten gerate (§ 39).558 Sharples gibt nicht zu Unrecht zu bedenken, daß die Aussage „this is an other way of speaking“ _____________ 554 Christ (1861), 580, Baiter-Kayser (1864), 231 und Müller (1898), 268 halten den Satz in seiner Überlieferung für verderbt. Davies (1730), 299 Anm. 3 merkt zu der fraglichen Stelle an: „adeoque deliravit Tullius, & ratiocinandi fuit imperitus: quod de viro omnium seculorum maximo nefas est vel suspicari“. 555 Vgl. Sharples (1991), 192; Bayer (2000), 167f. 556 Vgl. Yon (1950), XXXf. Anm. 2 („ils raisonnent autrement“); Schröder (1990), 141–143 schließt sich in leicht modifizierter Weise Bayer (2000), 65, 166–168 an, der einen rein terminologischen Unterschied sieht und „so ist das eine andere Art der Argumentation“ übersetzt. Ferner halten noch Gercke (1885), 703, Stüve (1895), 53–55 und Paolillo (1957), 85 explizit an dem überlieferten Text fest. 557 Vgl. Kleywegt (1973), 345f. Vergleichbar sei vielleicht fin. V, 80; Ac. II, 44; Tusc. IV, 43; Planc. 14. Schröder (1990), 141f. Anm. 15 hält das überlieferte alia ratio est, das im Sinne von „… ist das eine andere Wendung des Gedankens“ zu verstehen sei, für passender. 558 Vgl. Kleywegt (1973), 346, dem sich Janssen (1992), 93 anschließt.
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VII. Kommentar zu De fato
eher dort Anwendung finde, wo sich ein scheinbarer Konflikt zwischen verschiedenen Meinungen letztlich als ein rein terminologisches Problem herausstelle. Ein derartiger Konflikt sei im Text aber nicht ersichtlich.559 Auf der Basis eines rein terminologisch gedachten Unterschiedes bleibt es aber bei jeder Interpretation letztlich unklar, warum die erste Lehrmeinung nicht, die zweite aber sehr wohl mit der Meinung Chrysipps übereinstimmen soll, obwohl beide inhaltlich dasselbe besagen und in der Formulierung nicht so weit auseinanderliegen, daß daraus ein nachzuvollziehender Unterschied erkennbar wäre. Daher scheint es schwer möglich zu sein, im überlieferten Text einen überzeugenden Sinn zu finden. Statt terminologischer Differenzen wird vielmehr ein inhaltlicher Unterschied erwartet, wie es auch das adversative sed, das die Darstellung der beiden Lehrmeinungen verbindet, vermuten läßt. Ein solcher inhaltlicher Unterschied ergäbe sich dann, wenn die Aussage der ersten Lehrmeinung genau in ihr Gegenteil verkehrt werden würde. Das kann dadurch erreicht werden, daß entweder das non hinter eas athetiert (si illi, qui negant adsensiones fato fieri, fateantur tamen eas sine viso antecedente fieri )560 oder ein non vor fateantur konjiziert wird (si illi, qui negant adsensiones fato fieri, non fateantur tamen eas non sine viso antecedente fieri )561. Beide Varianten kommen inhaltlich zu dem gleichen Ergebnis: Die adsensiones sind frei von der Herrschaft des Fatums und benötigen darüber hinaus auch kein visum als notwendige Bedingung. Wenn man sich vor Augen hält, daß das non in den Handschriften üblicherweise mit n abgekürzt wurde, mag es wahrscheinlicher sein, daß dieser einzelne Buchstabe zwischen fato fieri und fateantur bei der Abschrift übergangen wurde und so das ursprüngliche non vor fateantur ausgefallen ist, als daß ein non versehentlich vor sine „hineingerutscht“ ist. Gegen die Vorgehensweise, die erste Lehrmeinung in ihr Gegenteil zu verkehren, ist der Einwand erhoben worden, daß dann das tamen seinen Sinn verliere.562 Mit der Annahme eines rein terminologischen Unter_____________ 559 Vgl. Sharples (1991), 192. 560 Das non wird bereits von Valla (1485) athetiert, dem Lambinus (1565) folgt (Kleywegt (1973), 344). Vgl. Ramus (1554), 27; Verburg (1724), 3286 Anm. 78; Davies (1730), 298f.; Olivet (1748), 225; Lallemand (1768), 534; Rath (1807), 320; Moser (1828a), 643; Orelli (1828), 234; Nobbe (1849), 299; Klotz (1855), 238; Rackham (1948), 240; Bobzien (1998a), 319. 561 Vgl. Baiter-Kayser (1864), XX: non fateantur [tamen] eas non sine viso; Schmekel (1892), 177 Anm. 1; Hamelin (1978), 53; Marwede (1984), 64, 236. Bremi (1795), 75 liest mit eingefügtem nisi: non fateantur eas nonnisi viso antecedente fieri. Vgl. Le Clerc (1826), 390 Anm. 1; Bouillet (1831), 721 Anm. 5. Heine (1859), 2 Anm. 1 konjiziert für fateantur ein infitiantur. In der Handschrift Guelferbytanus (15. Jh.) ist ein nulla vor alia ratio est zu lesen (Kleywegt (1973), 344). 562 Vgl. Stüve (1895), 53; Yon (1950), XXXf. Anm. 2. Bremi (1795), 75, Baiter-Kayser (1864), XX und Schmekel (1892), 177 Anm. 1 athetieren daher das tamen. Hamelin (1978), 53 dagegen betont, daß das tamen seinen Sinn nicht verliere.
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schiedes zwischen den Sätzen ist dieser Einwand durchaus gerechtfertigt, aber nicht mit der Annahme, daß der Sinn des ersten Satzes in sein Gegenteil verkehrt werden muß. In diesem Fall ergibt sich nämlich folgende Interpretation, bei der deutlich wird, daß das tamen sinnvoll ist:563 Die zweite Gruppe der Libertarier nimmt die Zustimmungen aus dem Einflußbereich des Fatums heraus, gesteht für ihr Zustandekommen aber eine vorausgehende Vorstellung als notwendige Bedingung zu. Diese Meinung soll der Sache nach mit der stoischen Meinung übereinstimmen. Die erste Gruppe der Libertarier spricht die Zustimmungen ebenfalls von der Wirkung des Fatums frei. Damit unterliegen die Zustimmungen schon nicht mehr der Gewalt des Fatums, so daß sie eigentlich keiner weiteren „Befreiungsversuche“ mehr bedürften. Nun will die erste Gruppe aber dennoch keine vorausgehende Vorstellung für das Zustandekommen einer Zustimmung zulassen – offensichtlich deshalb, weil diese Libertarier eine starke Auffassung vom Fatum haben und (im Gegensatz zu den Libertariern II) annehmen, daß jede vorausgehende Ursache auch eine mit Notwendigkeit wirkende Ursache ist.564 Dies ist aber eine Auffassung, die überhaupt nicht mit der Chrysipps vergleichbar ist. Wenn man also annimmt, daß die Aussage des ersten Satzes in ihr Gegenteil verkehrt werden muß, dann ist alia ratio im Sinne von ‚eine ganz andere Argumentation‘ oder ‚ein völlig anderer Standpunkt‘ zu verstehen, so daß der erste Satz wie folgt zu interpretieren ist: ‚… wenn diejenigen, die bestreiten, daß die Zustimmungen durch das Schicksal geschehen, dennoch nicht zugestehen sollten, daß eine Zustimmung nicht ohne vorausgehende Vorstellung geschieht, dann ist das eine völlig andere Argumentation, aber wenn sie zugestehen, daß eine Vorstellung vorausgeht, und dennoch nicht zugestehen, daß die Zustimmungen durch das Schicksal geschehen, …, dann schau, ob sie nicht dasselbe sagen‘. Die Bedeutung von continens Das zweite Problem dieses Paragraphen ergibt sich aus dem Wort continens, das zusammen mit proxima eine bestimmte Ursachenart beschreibt. Es ist schon allein verwunderlich, daß Cicero hier mit continens eine Ursachenbeschreibung verwendet, die sich von derjenigen in den vorangehenden _____________ 563 Wird das tamen beibehalten, dann kann es sich entweder auf das fateantur oder auf das fieri in dem von fateantur abhängigen a. c. i. beziehen. Marwede (1984), 236 spricht sich – wohl zu Recht – für den Bezug auf fateantur aus, während Hamelin (1978), 53 den Bezug auf fieri annimmt. 564 Siehe hierzu auch VII.17.b., VII.18.b.
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VII. Kommentar zu De fato
Paragraphen 41–43 unterscheidet. Nicht minder verwunderlich ist der Ausdruck continens selbst. Allem Anschein nach rekurriert Cicero mit der Bezeichnung continens, zumindest dem Namen nach, auf das griechische NjʍǞǓǙǗ ǝǟǗǏǔǞǓǔʗǗ.565 Diese Ursache erfüllt die Aufgabe, den Zustand oder die Qualität eines Objektes aufrechtzuhalten und ist als eine innere, nicht vorausgehende Ursache zu betrachten (siehe VII.17.a.). Da antike Quellen auf die synonyme Verwendung von NjʍǞǓǙǗ ǝǟǗǏǔǞǓǔʗǗ und NjʍǞǓǙǗ NjʤǞǙǞǏǕɨǜ verweisen,566 ist angenommen worden, daß die causa continens im Sinne der in den vorangehenden Paragraphen 41–43 erwähnten causa perfecta, die allem Anschein nach dem NjʍǞǓǙǗ NjʤǞǙǞǏǕɨǜ entspricht (siehe VII.17.a.), als eine hinreichende Bedingung zu interpretieren sei. Versteht man causa continens aber in dieser Weise, dann ist es fraglich, wie diese Interpretation in Einklang mit der Bedeutung der causa proxima zu bringen ist, die ja im Kontext der Paragraphen 41–43 zum einen als eine äußere, vorausgehende Ursache eingeführt wird und zum anderen eine nur notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für das Zustandekommen der Zustimmung darstellt. Die gleichzeitige Bezeichnung ein und derselben Ursache als proxima und continens ist also unerwartet und bereitet Verständnisschwierigkeiten.567 Yon bringt die causa continens in Verbindung mit der in § 19 erwähnten causa in se efficientiam naturalem cohibens.568 Diese Identifikation ist wenig überzeugend.569 Die causa continens kann im Zusammenhang mit der Darstellung der stoischen Lehre als Terminus technicus angesehen werden. Einen solchen kann causa in se efficientiam naturalem cohibens kaum darstellen. Die Umschreibung causa in se efficientiam naturalem cohibens steht zwar auch in Verbindung mit einer Ursachenunterscheidung, aber nicht mit einer stoischen, sondern mit einer neuakademischen. Außerdem findet cohibens _____________ 565 Vgl. z. B. M. Frede (1980), 245; D. Frede (1982), 292; Sharples (1991), 200f.; Hankinson (1998), 246; (1999a), 488; Pimentel Álvarez (2005), LXXIV Anm. 111. 566 Vgl. Clemens, Stromat. VIII, Cap. IX, § 25.3 (SVF II, 346; FDS 768), § 33.2 (SVF II, 351; LS 55I; FDS 770). Die Identität des NjʍǞǓǙǗ ǝǟǗǏǔǞǓǔʗǗ und des NjʍǞǓǙǗ NjʤǞǙǞǏǕɨǜ ist allerdings nicht unumstritten, siehe hierzu die Auseinandersetzung in Görler (1987), 268–273; Schröder (1990), 8–11, 20–23; Bobzien (1999a), 227–233. 567 Wenn man annehme, urteilt Hankinson (1998), 246 (vgl. (1999a), 488f.), daß die causa continens das griechische NjʍǞǓǙǗ ǝǟǗǏǔǞǓǔʗǗ und die causa proxima möglicherweise das griechische NjʍǞǓǙǗ ǚǛǙǝǏǡɨǜ wiedergebe, so werde, wenn man die bei Galen betonte Identität von ǚǛǙǝǏǡɨǜ und ǝǟǗǏǔǞǓǔʗǗ zugrunde lege, Ciceros Darstellung in § 41 unsinnig, da dort die causa proxima als eine vorausgehende Ursache verstanden werde. Schröder (1990), 24– 26 argumentiert gegen die unterstellte Identität von ǚǛǙǝǏǡɨǜ und ǝǟǗǏǔǞǓǔʗǗ. 568 Vgl. Paolillo (1957), 54; Schiavon und Peruzza (1969), 39; Pini (1969), 556 Anm. 103; Hamelin (1978), 43f. 569 Vgl. Kleywegt (1973), 343; Marwede (1984), 237; Schröder (1989), 229 Anm. 56; (1990), 26 Anm. 57; Sharples (1991), 200; Bayer (2000), 167.
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dort nicht als besonderer Terminus technicus Verwendung, sondern spezifiziert als Partizip lediglich causa. Auch wenn continens im stoischen Sinne als (ǝǟǗ)ǏǔǞǓǔʗǜ zu verstehen ist, so sieht Yon daraus kein Problem resultieren, denn ihm zufolge könnten die causae proximae je nach Kontext als principales oder auch als adiuvantes verstanden werden. Chrysipp wolle in bezug auf die visa sagen, daß sie zwar „prochaines“ (die ‚nächsten‘, als helfende Ursachen), aber nicht zur gleichen Zeit auch „suffisantes“ (hinreichend) seien.570 Allerdings ist auch diese Interpretation wenig überzeugend. Abgesehen davon, daß sich Cicero schon sehr unglücklich ausgedrückt haben müßte, wenn er mit proxima illa et continens causa eine causa als proxima, nicht aber als continens hätte bezeichnen wollen (ein nec oder neque als Verbindung von proxima und continens wäre zu erwarten gewesen, aber kein et), scheint auch die Annahme unmöglich zu sein, daß beim Vorliegen eines hinreichenden NjʍǞǓǙǗ ǝǟǗǏǔǞǓǔʗǗ die Zustimmung zu einer Vorstellung auch nicht hätte gegeben werden können.571 Um die Frage zu beantworten, in welchem Sinne Cicero continens und proxima nebeneinander stellt, geht Görler von der bei Galen überlieferten Synonymie von ǝǟǗɨǡǙǗ, ǝǟǗǏǔǞǓǔʗǗ sowie ǚǛǙǝǏǡɨǜ aus und verweist auf die Ursachenbezeichnung NjʊǞǓʇNjǓ ǝǟǗǏǔǞǓǔNjʈ ɷ ǚǛǙǝǏǡǏʏǜ. Zwischen dieser Bezeichnung, so Görler, und Ciceros causa proxima et continens bestehe unzweifelhaft ein Zusammenhang: Zum einen stehe ǝǟǗǏǔǞǓǔʗǜ mit ǝǟǗɨǡǏǓǗ in Verbindung und bezeichne eine Ursache, welche die Wirkung herbeiführe und somit die Wirkungskraft ‚enthalte‘. Da ein NjʍǞǓǙǗ ǝǟǗǏǔǞǓǔʗǗ der Wirkung unmittelbar vorausgehe, sei es auch immer ‚nahe‘ an der Wirkung bzw. der Wirkung auf das engste ‚verbunden‘. Daher scheine ǝǟǗǏǔǞǓǔʗǜ zum anderen auch mit ǝǟǗǏǡɰǜ in Verbindung zu stehen. Dies habe dazu geführt, daß Galen ǝǟǗǏǡɰǜ durch das synonyme ǚǛǙǝǏǡɰǜ ersetzt habe. Cicero sei es nun gelungen, die Doppeldeutigkeit des Begriffs ǝǟǗǏǔǞǓǔʗǜ ohne jegliche Einbuße ins Lateinische zu übertragen. Somit könne continens einerseits im Sinne von ‚zusammenhängend‘ oder ‚nahe‘ verstanden werden, wodurch Galens ǚǛǙǝǏǡɰǜ entsprochen werde; andererseits könne continens in Anlehnung an den rhetorischen Terminus continens die Bedeutung im Sinne von ‚das Entscheidende‘ haben, womit die ältere Bedeutung von ǝǟǗǏǔǞǓǔʗǜ wiedergegeben werde. Im Kontext des § 44 sei continens jedoch im Sinne von „benachbart“ zu verstehen und daher als „exegetisches Synonym“ zu proxima aufzufassen. Die causa continens stelle somit eine causa (adiuvans et) proxima dar.572 _____________ 570 Vgl. Yon (1950), XXXIf. Anm. 1. 571 Vgl. Kleywegt (1973), 343f.; M. Frede (1980), 245; Duhot (1989), 208; Sharples (1991), 192. 572 Vgl. Görler (1987), 259 Anm. 13, 268–273 mit Verweis auf Galen, caus. sympt. VII, 109.7ff.; Synops. puls. IX, 484.12. Zur Kritik an Görler siehe Schröder (1990), 24–26.
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VII. Kommentar zu De fato
Duhot sieht in der Zusammenstellung von proxima und continens eine ‚Absurdität‘. Mit der Annahme, daß Cicero mit seiner Formulierung zum Ausdruck bringen wollte, daß die causa proxima nicht auch gleichzeitig continens (ǝǟǗǏǔǞǓǔʗǗ) sein könne, schwinde zwar die Absurdität, aber die Interpretation von proxima illa et continens causa werde dadurch sehr gekünstelt, da man eher die Formulierung proxima illa nec continens causa erwartet hätte. Vielleicht sei Cicero auch ein Lapsus unterlaufen, weil er in Gedanken bereits im nächsten Satz gewesen sei, der auch das Wort proxima enthalte. Die causa continens scheine an der vorliegenden Stelle als notwendige, nicht aber als hinreichende Bedingung verstanden werden zu müssen. Diese Interpretation werde aber durch die Ungenauigkeit und den artifiziellen Charakter des Textes sehr willkürlich.573 Auch wenn die Bezeichnung continens, so Bobzien, das griechische ǝǟǗǏǔǞǓǔʗǗ in der Bedeutung ‚zusammenhaltend‘ („cohesive“) wiedergebe, resultiere daraus keine Inkonsistenz. Hilfreich für das Verständnis sei zu berücksichtigen, daß der Ausdruck ǝǟǗǏǔǞǓǔʗǗ ursprünglich die Funktion einer Ursache beschrieben habe. Die an einer individuellen Bewegung beteiligte causa antecedens könne aus zwei Perspektiven betrachtet werden: Als causa adiuvans et proxima leiste sie einen Beitrag zur Bewegung eines bestimmten Objektes, aber aus der übergeordneten Perspektive trage sie auch dazu bei, den Kosmos in seiner Einheit zusammenzuhalten. Vor diesem Hintergrund könne auch eine causa antecedens sinnvoll als ‚zusammenhaltend‘ bezeichnet werden. An anderer Stelle führt Bobzien eine philologische Erklärung dafür an, warum in § 44 continens und nicht wie zuvor in den Paragraphen 41–42 adiuvans zu lesen ist. Sie geht von der Annahme aus, daß im griechischen Original das doppeldeutige Wort ǝǟǗǏǛǍʗǗ zu lesen gewesen sei, was zum einen als Adjektiv von dem Verb ǝǟǗǏǛǍǏʏǗ (‚helfen‘), zum anderen als das Partizip Präsens Aktiv von dem Verb ǝǟǗɨǛǍǏǓǗ (‚zusammenhalten‘) abgeleitet werden könne. Mit dieser Überlegung sei es möglich, das gleichzeitige Vorkommen von adiuvans und continens zu erklären.574 Angesichts der vorangegangenen Ausführungen Ciceros kann der kausale quod-Satz (quod proxima illa et continens causa non moveat adsensionem) nur so verstanden werden, daß die Begründung dafür geliefert wird, warum die Zustimmungen nach Meinung der Libertarier II nicht durch das Fatum geschehen (nec tamen fato fieri adsensiones): Die Vorstellung stellt nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für das Zustandekommen einer Zustimmung dar. Diese Begründung deckt sich inhalt_____________ 573 Vgl. Duhot (1989), 208. 574 Vgl. Bobzien (1998a), 319 Anm. 163; (1999a), 234f.
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lich mit der Darstellung in den vorangehenden Paragraphen 41–43, in denen Cicero die Vorstellungen den causae adiuvantes et proximae zuordnet. Zudem macht er mit dem anaphorischen illa hinter proxima deutlich, daß er sich auf ebendiese zuvor genannten causae adiuvantes et proximae bezieht.575 Der Ausdruck causa proxima illa et continens kann an der vorliegenden Stelle nur im Sinne derselben notwendigen Bedingung verstanden werden, die Cicero zuvor als causa adiuvans et proxima bezeichnet hat. Insofern kann causa continens nicht als ein Bezug auf ein NjʍǞǓǙǗ ǝǟǗǏǔǞǓǔʗǗ verstanden werden, das dem Bericht des Clemens zufolge auch ein NjʍǞǓǙǗ NjʤǞǙǞǏǕɨǜ darstellt. Die Bezeichnung continens muß daher im Sinne von ‚unmittelbar angrenzend‘ verstanden werden.576 Eine weitere Bestätigung für diese Annahme findet sich in der Interpretation des folgenden Satzes, dessen Sinn ebenfalls umstritten ist. Die Interpretation von neque ... neque Das dritte Problem stellt die doppelte Verneinung neque … neque in dem zweiten Satz des § 44 (neque enim Chrysippus concedens adsensionis proximam et continentem causam esse in viso positam neque eam causam esse ad adsentiendum necessariam concedet, ut, si omnia fato fiant, omnia causis fiant antecedentibus et necessariis) dar. Einigkeit scheint darüber zu herrschen, daß die Adjektive necessariam und necessariis beide eine Ursache beschreiben, die einen Effekt mit Notwendigkeit hervorbringt.577 Aber die Bezüge der beiden Negationen und damit der Sinn des ganzen Satzes sind in unterschiedlicher Weise interpretiert worden. Vielfach ist neque ... neque als korrespondierende Konjunktion verstanden worden, die dann, wie es auf den ersten Blick auch der Fall zu sein scheint, sowohl concedens als auch concedet negiert. Der „Schulgrammatik“ zufolge bedeutet concedere mit folgendem a. c. i. ‚zugestehen‘, während _____________ 575 Vgl. Görler (1987), 270f.; Bobzien (1999b), 215; Bayer (2000), 167f. Anm. 2. 576 Vgl. Kleywegt (1973), 343f., der darauf verweist, daß die Bedeutung von continens weit davon entfernt sei, auf „containing, comprising“ beschränkt zu sein; es werde auch sehr oft im Sinne von „adjoining, lying near“ synonym zu proxima gebraucht. Schröder (1990), 24– 26, dem sich Sharples (1991), 200 anschließt, glaubt nicht, daß continens die Bedeutung von ǝǟǗǏǔǞǓǔʗǗ haben könne, weder in seiner ursprünglichen stoischen noch in seiner späteren, medizinischen verblaßten Bedeutung. An der vorliegenden Stelle sei continens (mit Verweis auf TLL IV, 710.30–61) als ein Synonym für proxima zu verstehen. In Anlehnung an Pohlenz (1940), 106f. versteht Sharples (1991), 192, 200; (1995), 268 Anm. 88 die causa continens als eine ‚angrenzende, anstoßende Ursache‘ („contiguous cause“) im Sinne einer causa proxima. Vgl. ferner Antonini (1994), 87 Anm. 75; Escobar (1999), 329 Anm. 153; Pimentel Álvarez (2005), LXXIV Anm. 111. 577 Vgl. die entsprechende Bedeutung in Top. 59, 61.
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VII. Kommentar zu De fato
concedere mit folgendem ut-Satz den Sinn von ‚erlauben‘ hat. Da aus dem Vorangegangenen deutlich ist, daß concedere hier in der Bedeutung von ‚zugestehen‘ verstanden werden muß, ist der Satz so interpretiert worden, daß von neque concedens der a. c. i. adsensionis proximam et continentem causam esse in viso positam und von neque concedet der vorangehende a. c. i. eam causam esse ad adsentiendum necessariam abhängig ist. Der folgende ut-Satz wird dann als Konsekutivsatz verstanden,578 der von eam causam esse … necessariam abhängt und die Konsequenz formulieren soll, die sich ohne Chrysipps Zugeständnis, daß die Vorstellung eine Zustimmung nicht mit Notwendigkeit bewirkt, ergäbe. Demnach ist die Aussage des ganzen Satzes wie folgt zu verstehen: ‚Chrysipp, der [nicht] zugesteht, daß die causa proxima et continens einer Zustimmung in der Vorstellung liegt, will nicht zugestehen, daß diese Ursache eine Zustimmung mit Notwendigkeit bewirkt, so daß, wenn alles durch das Schicksal geschieht, auch alles durch vorausgehende und mit Notwendigkeit wirkende Ursachen geschähe‘. Es ist aber offensichtlich, daß durch das negierte concedens der Sinn des Satzes völlig entstellt wird; denn wie aus der vorangegangenen Darstellung Ciceros zweifelsfrei ersichtlich ist, beruht die Argumentation Chrysipps ja gerade entscheidend darauf, daß die Vorstellung eine nicht mit Notwendigkeit wirkende causa proxima et continens (bzw. eine causa adiuvans et proxima) für die Zustimmung darstellt. Um einen angemessenen Sinn des Satzes zu erhalten, ist das zweite neque daher von den Vertretern der dargelegten Interpretation athetiert worden. Dies bedeutet, daß concedens und concedet doch nicht beide negiert werden, wie es auf den ersten Blick erschien: Das erste neque wird nunmehr als die Negation von concedet verstanden, während concedens aufgrund des athetierten neque ohne Negation verbleibt.579 Yon spricht sich für die Beibehaltung beider neque aus. Ausgehend von seinem Verständnis, daß die causae proximae je nach Kontext principales oder adiuvantes sein können und daß Cicero zum Ausdruck bringen möchte, daß die visa zwar „prochaines“ (die ‚nächsten‘, als helfende Ursachen), aber nicht zur gleichen Zeit auch „suffisantes“ (hinreichend, continentes) sein sollen, kann er das erste neque auf concedens beziehen. Der Partizipialsatz _____________ 578 Vgl. Skassis (1915), 37f., der glaubt, daß sich das ut nicht viel von einem itaque (ʴǝǞǏ) unterscheide. 579 Das zweite neque ist in der Veneta prior (1471) noch zu lesen, soll aber nach Kleywegt (1973), 347 in der Veneta altera (1496) bereits athetiert worden sein; diese Lesart habe dann Lambinus (1565) übernommen (vgl. z. B. Rath, Schütz). Vgl. Manutius (1555), 149; Turnebus (1600), 100; Davies (1730), 298f.; Olivet (1748), 225; Lallemand (1768), 534; Rath (1807), 321; Schütz (1816), 481; Moser (1828a), 643; Orelli (1828), 234; Seibt (1834), 275; Nobbe (1849), 300; Klotz (1855), 238; Stüve (1895), 53–55; von Arnim, SVF II, 974; Bartoli (1931), 336; Appuhn (1937), 296, 589 Anm. 384; Ax (1938), 150b; Rackham (1948), 240; Paolillo (1957), 86; Donini (1975), 195 Anm. 2; Görler (1987), 270 Anm. 34.
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habe dann die Aufgabe, eine Erklärung für den durch das zweite neque verneinten Hauptsatz (concedet) zu geben, so daß dem Sinne nach gesagt werden soll: ‚Weil Chrysipp nicht zugestehen will, daß eine Vorstellung (gleichzeitig) eine causa proxima und eine causa continens ist, will er auch nicht zugestehen, daß die Vorstellung als Ursache die Zustimmung mit Notwendigkeit bewirkt, so daß …‘.580 In ähnlicher Weise interpretiert Frede den Satz. Auch er glaubt, daß causa continens dem Namen nach das NjʍǞǓǙǗ ǝǟǗǏǔǞǓǔʗǗ repräsentiere, wobei Cicero es aber nicht im stoischen Sinne verwende. Denn zum einen sei eine causa continens keine vorausgehende Ursache und zum anderen könne es nicht sein, daß dann, wenn die Vorstellung eine causa continens darstelle, eine Zustimmung nicht hinreichend verursacht werde. Daher sei es nicht überraschend, wenn Cicero sage: „Chrysippus will not admit that the proximate and containing cause of the assent lies in the impression and hence he will also not admit that this cause, i.e. the impression, necessitates the assent“.581 Allerdings wäre das, was Cicero nach Fredes Interpretation zum Ausdruck bringen möchte, nur dann „nicht überraschend“, wenn er die causa continens als ein NjʍǞǓǙǗ ǝǟǗǏǔǞǓǔʗǗ im stoischen Sinne (d. h. als eine ihren Effekt mit Notwendigkeit hervorbringende Ursache) auffassen würde, was er nach Fredes Meinung aber gerade nicht tut.582 Gercke lehnt die Tilgung des zweiten neque (Turnebus, Lambinus, Madvig583) ab. Dies führe zu der Aussage, daß Chrysipp nicht zugestehe, daß die Vorstellung eine causa adiuvans sei, und bestreite, daß diese Ursache auch mit Notwendigkeit wirke. Ersteres habe Chrysipp aber zugestanden und letzteres habe er mitnichten bestritten.584 Die Interpretation in Orelli/Baiter (siehe Christ (1861), der das zweite neque beibehält) führe hingegen zu der Aussage, daß Chrysipp in der Vorstellung eine gewisse, aber keine mit Notwendigkeit wirkende Ursache für eine Zustimmung sehe und nicht zugestehe, daß alles durch vorausgehende und auch mit Notwendigkeit wirkende Ursachen geschehe. Diese Aussage vertrage sich aber mit Chrysipps Lehre ‚wie das Feuer mit dem Wasser‘.585 Um eine richtige _____________ 580 Vgl. Yon (1950), XXXII Anm. 1; Pini (1969), 556f. Anm. 104; Hamelin (1978), 54. 581 Vgl. M. Frede (1980), 245. Fredes Interpretation wird von Görler (1987), 270 Anm. 34, Sharples (1991), 201 und Janssen (1992), 93 explizit abgelehnt. 582 Für diesen Hinweis sei Prof. Dr. H. Weidemann gedankt. 583 Vgl. Madvig in seinem Kommentar zu fin. IV, 77 (S. 597). 584 Gercke (1885), 704: „Chrysippus qui non concedit in viso esse adiuvantem causam (id quod concesisse eum constat!), etiam necessariam esse negat (quod nullo modo negavit!): atque tamen omnia dixit necessariis fieri causis“. 585 Gercke (1885), 704: „Chr. concedit in viso esse aliquam causam non vero esse necessariam ad adsentiendum: non concedit omnia causis fieri antecedentibus et necessariis. haec doctrina cum Chrysippo convenit ut cum aqua ignis“.
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VII. Kommentar zu De fato
Interpretation des überlieferten Textes zu erreichen, bringt Gercke das neque ... neque mit Chrysipps Vorgehen in Verbindung, in bestimmten Situationen anstelle einer Implikation („si hoc non fit, ne illud quidem“) die Negation einer Konjunktion („non et hoc fit neque illud“) zu verwenden.586 Vor diesem Hintergrund sei der fragliche Satz im Kern so zu verstehen, daß dann, wenn in der Vorstellung eine Ursache liege, diese auch mit Notwendigkeit wirke.587 Tatsächlich scheint es aber diese Interpretation zu sein, die sich mit Chrysipps Lehre ‚wie das Feuer mit dem Wasser‘ verträgt.588 Gercke verdreht mit seiner Interpretation den Sinn der Aussage völlig. Es ist ja gerade Chrysipps Anliegen, mit der Ursachenunterscheidung zu erreichen, daß nicht alle vorausgehenden Ursachen mit Notwendigkeit wirken. Skassis geht ebenfalls davon aus, daß Chrysipp in der causa proxima eine mit Notwendigkeit wirkende Ursache gesehen habe.589 Er glaubt daher, daß bei der Überlieferung ‚ein Unkundiger einiges in das Gegenteil verkehrt hat‘, so daß er den Vorschlag macht, neque ... neque durch et ... et zu ersetzen, was den ‚unverständlichen Satz einleuchtend‘ mache: ‚Chrysipp gesteht nämlich zu, daß in der Vorstellung die causa proxima et continens für die Zustimmung liegt, und will auch zugestehen, daß diese Ursache eine Zustimmung mit Notwendigkeit bewirkt, so daß, wenn alles durch das Schicksal geschieht, auch alles durch vorausgehende und mit Notwendigkeit wirkende Ursachen geschieht‘590. Klotz nimmt zwar an, daß Skassis den Sinn der Aussage richtig erkannt habe, hält es aber für unwahrscheinlich, daß ursprünglich et ... et im Text gestanden haben soll. Der gleiche Sinn werde auch dadurch erreicht, daß jeweils ein non vor necessariam und concedet eingefügt werde. Es sei wahrscheinlicher, daß ein Schreiber die beiden non weggelassen habe, als daß er et ... et in neque ... neque verwandelt habe.591 Sowohl Skassis als auch Klotz interpretieren damit den Satz in ähnlich verdrehter Weise wie Gercke. Bayer betrachtet das zweite neque ... neque nicht als korrespondierende Konjunktion. Vielmehr versteht er das zweite neque als eine Anaphora, die _____________ 586 Siehe hierzu VII.6. und die Stellenverweise auf S. 143 Anm. 223. 587 Gercke (1885), 704: „Chr. contendit, si posita sit in viso causa, eam necessariam esse“. 588 Gerckes Interpretation ist bereits von Stüve (1895), 54f., Yon (1950), XXXII Anm. 1, Ax (1938), 150b, Pini (1969), 556 Anm. 104, Giomini (1975), 172, Hamelin (1978), 51 und Sharples (1991), 193 zu Recht kritisiert worden. 589 Vgl. Skassis (1915), 37: „Deinde ubi concesserit Chrysippus visum adsensionis proximam, non necessariam esse causam, non video“. 590 Vgl. Skassis (1915), 38: „Etenim Chrysippus concedens adsensionis proximam et continentem causam esse in viso positam et eam causam esse ad adsentiendum necessariam concedet; ut, si omnia fato fiant, omnia causis fiant antecedentibus et necessariis“. 591 Vgl. Klotz (1916), 1143.
VII.18. §§ 44–45: Die angebliche Übereinstimmung der Positionen
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das erste neque wieder aufnimmt. Es stelle daher keine „duplex negatio“ dar, so daß es unübersetzt bleiben solle. Eine solche Konstruktion könne in der gesprochenen Rede vorkommen (als Referenz führt Bayer die Wiederholung ut … tamen ut in § 17 an).592 Aber schwerlich sind sowohl De fato als auch die anderen philosophischen Werke Ciceros auf der Ebene des „conversational talk“ einzuordnen, so daß eine „hereingerutschte“ doppelte Negation nicht ohne weiteres anzunehmen ist.593 Erst die grammatische Zuordnung von neque ... neque, die Kleywegt vorschlägt, ermöglicht es, den überlieferten Text zu wahren und dabei eine inhaltlich angemessene Interpretation zu erreichen.594 Kleywegt sieht in den beiden neque ... neque keine Konjunktionen mehr, die miteinander korrespondieren. Vielmehr nimmt er folgende Zuordnung an: Das erste neque negiert den Hauptsatz (concedet) und korrespondiert mit dem enklitischen -que des folgenden itemque illi, während das zweite neque die beiden a. c. i. (adsensionis proximam et continentem causam esse in viso positam neque eam causam esse ad adsentiendum necessariam) verbindet, die von dem Partizip concedens abhängen.595 Der ut-Satz stellt dann den Objektsatz zu concedet dar, der angibt, was Chrysipp gerade nicht zugestehen will. Der „Schulgrammatik“ gemäß hat concedere mit folgendem ut-Satz zwar die Bedeutung von ‚erlauben‘, aber es ist offensichtlich, daß im vorliegenden Kontext die Bedeutung von ‚zugestehen‘ verlangt ist. Die Lehrbuchregel, so Kleywegt, habe nicht immer eine dermaßen strikte Anwendung erfahren.596 Offenbar verwendet Cicero an der vorliegenden Stelle zweimal concedere im gleichen Sinne, aber mit unterschiedlicher Folgekonstruktion. Damit ergibt sich für den fraglichen Satz folgende Interpretation: ‚Chrysipp, der zugesteht, daß die causa proxima et continens einer Zustimmung in der Vorstellung liegt, aber nicht [zugesteht], daß diese Ursache eine Zustimmung mit Notwendigkeit bewirkt, will nicht zugestehen, daß dann, wenn alles durch das Schicksal geschieht, auch alles durch vorausgehende und mit Notwendigkeit wirkende Ursachen geschieht‘.597 _____________ 592 593 594 595 596
Vgl. Bayer (2000), 65, 169. Vgl. Kleywegt (1973), 347. Vgl. Kleywegt (1973), 347–349. Als Parallelstellen führt Kleywegt Lael. 104 und fin. I, 48 an. Ein deutlicher Beleg sei in Lael. 18 und bescheidener in off. I, 129 zu finden. Skassis (1915), 37 führt noch die Stellen fin. V, 78 und De orat. I, 248 an. Kühner-Stegmann II.2, § 184, S. 224h bestätigt, daß Cicero nicht selten auch dort das ut verwendet, wo concedere ‚einräumen‘ bedeutet. Vgl. Eisenberger (1979), 166 Anm. 37. 597 Kleywegt schließen sich Eisenberger (1979), 166 Anm. 37, Sharples (1991), 192f. und Janssen (1992), 93 an. Siehe auch Christ (1861), 580, dem sich Marwede (1984), 237f. anschließt, und Giomini (1975), 172.
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VII. Kommentar zu De fato
b. Die Gegenüberstellung der verschiedenen Lehrmeinungen Im ersten Satz von § 44 unterscheidet Cicero zwischen zwei verschiedenen Lehrmeinungen der Libertarier, wobei die zweite, wie er in einem überraschend versöhnlichen Ton sagt, mit der Chrysipps in der Sache übereinstimmen soll. Die folgende Übersicht soll die verschiedenen Positionen verdeutlichen: Libertarier I598 Nicht alles geschieht durch das 1 Fatum (z. B. die Zustimmungen nicht). Nicht alles geschieht durch vorausgehende 2 Ursachen (z. B. die Zustimmungen nicht). Wenn alles durch vorausgehende Ursachen ge3 schieht, geschieht alles durch das Fatum.
Libertarier II
~f
Nicht alles geschieht durch das Fatum (z. B. die Zustimmungen nicht).
~a
Alles geschieht durch vorausgehende Ursachen (auch die Zustimmungen).
aof
Wenn alles durch vorausgehende Ursachen geaon 4 schieht, geschieht alles mit Notwendigkeit.
~f
Alles geschieht durch das Fatum (auch die Zustimmungen).
f
a
Alles geschieht durch vorausgehende Ursachen (auch die Zustimmungen).
a
Auch wenn alles durch vorausgehende Ursachen ~(aof ) geschieht, geschieht nicht alles durch das Fatum. Auch wenn alles durch vorausgehende Ursachen ~(aon) geschieht, geschieht nicht alles mit Notwendigkeit.
Wenn alles durch das Fatum geschieht, geschieht foa alles durch vorausgehende Ursachen. Auch wenn alles durch vorausgehende Ursachen geschieht, ge- ~(aon) schieht nicht alles mit Notwendigkeit.
fon
Auch wenn alles durch das Fatum geschieht, ge~( fon) schieht nicht alles mit Notwendigkeit.
~n
Wenn alles durch das Fatum ge5 schieht, geschieht alles mit Notwendigkeit.
fon
Wenn alles durch das Fatum geschieht, geschieht alles mit Notwendigkeit.
Nicht alles, was geschieht, geschieht mit Notwendigkeit.
~n
Nicht alles, was geschieht, geschieht mit Notwendigkeit.
6
Chrysipp
Nicht alles, was geschieht, geschieht mit Notwendigkeit.
~n
_____________ 598 Unter der Voraussetzung, daß die Aussage des ersten Teil des Satzes si illi, qui negant adsensiones fato fieri, fateantur tamen eas non sine viso antecedente fieri (§ 44) durch das hinter eas athetierte non oder durch ein vor fateantur konjiziertes non in ihrem Sinn umgekehrt werden muß (siehe VII.18.a.).
VII.18. §§ 44–45: Die angebliche Übereinstimmung der Positionen
275
Alle drei Gruppen wollen also die These vertreten, daß nicht alles, was geschieht, mit Notwendigkeit geschieht (6): Die Libertarier I nehmen die Zustimmungen aus der Gewalt des Fatums heraus (1), denn sie nehmen mit dem Fatum auch die Implikation der Notwendigkeit an (5). Darin zeigt sich die Vorstellung eines starken Fatums. Darüber hinaus wollen sie aber auch nicht, daß alles eine vorausgehende Ursache hat, weil sie offensichtlich annehmen, daß dann, wenn alles durch vorausgehende Ursachen geschähe, auch alles durch das Fatum (3) und folglich mit Notwendigkeit geschähe (4, 5). Daher vertreten sie die Auffassung, daß es zumindest ein Geschehen (nämlich die Zustimmung) gibt, das keine vorausgehenden Ursachen hat (2). Dies ist aber eine Annahme, die für Chrysipp völlig inakzeptabel ist, denn ein solches Geschehen käme aus seiner Sicht einem akausalen Ereignis gleich. Deshalb hält er entschieden daran fest, daß jedes Geschehen eine vorausgehende Ursache hat (2). Durch diese Differenz kann es zwischen Chrysipp und den Libertariern I keine weitere Verständigung mehr geben, so daß sie mit den Worten alia ratio est quasi aus der Diskussion entlassen werden. Die Libertarier II599 bestreiten wie die Libertarier I, daß die Zustimmungen dem Fatum unterliegen (1), denn sie nehmen ebenfalls ein starkes Fatum und mit diesem auch die Implikation der Notwendigkeit an (5). Allerdings machen sie das Zugeständnis, daß alles durch vorausgehende Ursachen geschieht (2). Aus diesem Zugeständnis resultiert für sie aber nicht, daß dann auch alles mit Notwendigkeit geschieht (4), denn die Vorstellung, die sie als vorausgehende Ursache für das Zustandekommen einer Zustimmung akzeptieren, stellt nur eine nicht mit Notwendigkeit wirkende Ursache für das Zustandekommen einer Zustimmung dar. Somit können sie ohne Bedenken die Meinung vertreten, daß zwar alles durch vorausgehende Ursachen geschieht (2), daß dies aber nicht impliziert, daß auch alles durch das Fatum geschieht (3). Chrysipp will nun im Gegensatz zu den Libertariern unbedingt an der uneingeschränkten Existenz des Fatums festhalten (1). Für ihn folgt aus der Existenz des Fatums zwar, daß alles durch vorausgehende Ursachen geschieht (3), hieraus aber nicht, daß alles mit Notwendigkeit geschieht (4). Denn aufgrund der Ursachenunterscheidung gibt es auch Ursachen, welche die Effekte, an deren Verursachung sie beteiligt sind, nicht mit _____________ 599 Zu Recht ist die Frage nach der Identität dieser Libertarier II gestellt worden, da sie nicht explizit einer Schule zugeordnet werden. Bayer (2000), 170 nimmt die Akademiker (also Cicero selbst) an, da alle anderen Schulen nicht in Frage kämen. Bobzien (1998a), 321 glaubt, daß eine explizite Zuordnung deshalb nicht stattgefunden habe, weil der Autor von § 44 dies vielleicht nicht gekonnt habe oder nicht an diesem Detail interessiert gewesen sei. Möglicherweise seien auch ganz allgemein Philosophen gemeint, die eine libertarische Haltung zu erkennen gäben.
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VII. Kommentar zu De fato
Notwendigkeit bewirken, wie z. B. eine Vorstellung die Zustimmung zu ihr nicht mit Notwendigkeit bewirkt. Daher glaubt Chrysipp, sowohl an der Existenz des Fatums (1) als auch an dem Grundsatz, daß nichts ohne vorausgehende Ursache geschieht (2), festhalten zu können, ohne dabei die Implikation der Notwendigkeit in Kauf nehmen zu müssen (4, 5). Die Libertarier II und Chrysipp kommen also beide hinsichtlich der Zustimmungen zu demselben Ergebnis: Eine Vorstellung ist lediglich eine notwendige Bedingung für das Zustandekommen einer Zustimmung und nicht etwas, wodurch eine Zustimmung mit Notwendigkeit bewirkt würde. Aus der Sicht der Libertarier II unterliegen die Zustimmungen nicht der Notwendigkeit, weil sie nicht dem Wirken des starken Fatums unterworfen sind. Für Chrysipp unterliegen die Zustimmungen nicht der Notwendigkeit, weil die Vorstellungen in dem von ihm vertretenen schwachen Fatum nur Ursachen darstellen, die zwar vorausgehen, aber nicht mit Notwendigkeit die Zustimmungen bewirken. Diese sind maßgeblich vom Charakter als innerer und nicht vorausgehender Ursache abhängig. So können beide Parteien aus ihrer Perspektive behaupten, daß die Zustimmungen in unserer Verfügungsgewalt (in nostra potestate) liegen. Der Unterschied zwischen Chrysipp und den Libertariern II besteht also lediglich darin, daß Chrysipp am Fatum (im schwachen Sinne, d. h. ohne Implikation der Notwendigkeit, (5) ~( f o n)) festhält, während die Libertarier II das Fatum (im starken Sinne, d. h. mit Implikation der Notwendigkeit, (5) f o n) ablehnen – einig dagegen sind sich beide Parteien, daß alles durch vorausgehende Ursachen geschieht, ohne daß deshalb auch alles mit Notwendigkeit geschähe, (4) ~(a o n). Wenn man sich aber nun in der Weise einigen könnte, daß die Libertarier II im Fatum einfach den Ausdruck des von ihnen ohnehin vertretenen Grundsatzes (2) ‚Alles geschieht durch vorausgehende Ursachen‘ sähen, so daß sie gewissermaßen ‚Fatum‘ ( fatum) mit ‚vorausgehende Ursachen‘ (antecedentes causae) identifizieren würden, so würde aus der strittigen Implikation (5) f o n mit f a quasi die Implikation a o n werden. Diese Implikation lehnen die Libertarier II aber ebenso wie Chrysipp ab, was aus (4) ~(a o n) deutlich wird. Auf dieser Basis könnten sie dann auch sagen ‚Alles geschieht durch das Fatum‘, ohne daß sie der Sache nach ihre Lehre modifizieren müßten. Vor diesem Hintergrund wäre der Unterschied zwischen den beiden Parteien dann tatsächlich kein sachlicher, sondern ein rein verbaler (ex quo facile intellectu est … verbis eos, non re dissidere), der aus dem unterschiedlichen Verständnis des Wortes „Fatum“ resultieren würde.600 Cicero faßt die Meinung der beiden Parteien zusammen, und zwar unter dem in dieser Untersuchung entscheidenden Gesichtspunkt, ob _____________ 600 Vgl. Sharples (1991), 193; Bobzien (1998a), 319–324.
VII.18. §§ 44–45: Die angebliche Übereinstimmung der Positionen
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vorausgehende Ursachen ihren Effekt mit Notwendigkeit hervorbringen oder nicht. Es gibt vorausgehende Ursachen, bei deren Vorliegen es nicht in unserer Macht liegt, die Folgen zu verhindern. Zu diesen Ursachen sind die causae perfectae et principales zu zählen; denn wenn sie wirken, tritt ihr Effekt, wie Ciceros Darstellung annehmen läßt, mit Notwendigkeit ein, so daß der folgende Ablauf nicht mehr beeinflußt werden kann. Andererseits gibt es aber auch vorausgehende Ursachen, bei deren Vorliegen es dennoch in unserer Macht steht, den folgenden Ablauf der Dinge zu beeinflussen. Zu diesen Ursachen sind die causae adiuvantes et proximae zu zählen, da sie einen Effekt nicht mit Notwendigkeit hervorbringen, so daß es sehr wohl noch in unserer Macht liegt, die folgenden Ereignisse zu beeinflussen. Diese Auffassung vertreten die Libertarier ebenso wie Chrysipp. Allerdings haben die Libertarier und Chrysipp eine unterschiedliche Vorstellung vom Fatum: Die Libertarier glauben, daß die Dinge, bei denen es aufgrund vorausgehender (mit Notwendigkeit wirkender) Ursachen nicht in unserer Macht liegt, ihren Ablauf zu ändern, durch das Fatum geschehen. Die Dinge aber, die in unserer Macht liegen, wollen sie frei von der Herrschaft des Fatums verstanden wissen. An dieser Stelle bricht die Überlieferung ab, und es folgt eine Lücke. Es ist zu erwarten, daß in dieser Lücke Chrysipps Meinung referiert wurde, der zufolge es trotz der allumfassenden Herrschaft des Fatums in unserer Macht liegende Dinge gibt (siehe VII.19.). Auch wenn Ciceros weitere Darstellung nicht mehr erhalten ist, so ist im Vorangegangenen deutlich geworden, daß die Libertarier und Chrysipp die Bedeutung des Fatums in ganz unterschiedlicher Weise interpretieren. Während die Libertarier nur dann vom Fatum sprechen wollen, wenn Ursachen vorliegen, die ihren Effekt mit Notwendigkeit hervorbringen, spricht Chrysipp auch dann schon vom Wirken des Fatums, wenn kausale Faktoren im Spiel sind, die notwendige Bedingungen darstellen und nicht mit Notwendigkeit wirken. c. Ciceros Darstellung der Lehre Chrysipps Der § 44 bringt den Gedankengang zum Abschluß, der in § 39 begonnen wurde. Dort wurde angekündigt, daß sich Chrysipp einem ‚Schiedsrichter‘ (arbiter honorarius) gleich zwischen den Libertariern und den Deterministen bewege. Dies wird mit der Darstellung der Ursachenunterscheidung in den Paragraphen 41–43 erläutert. Inwieweit Chrysipp auf seinem Mittelweg doch mehr zu den Libertariern als zu den Deterministen neigt, wird durch die angebliche Übereinstimmung der beiden Lehrmeinungen in § 44 verdeutlicht. Der versöhnliche Ton, in dem dies geschieht, überrascht;
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VII. Kommentar zu De fato
denn in der ganzen vorangegangenen Untersuchung sind die Stoiker, personifiziert durch Chrysipp, zweifelsohne die Hauptgegner Ciceros. Es wäre daher eher zu erwarten, daß Cicero sich bemüht, die Stoiker zu widerlegen, indem er ihnen wie in den Paragraphen 11–14 und 34–36 Widersprüche in der eigenen Lehre nachzuweisen versucht, als daß er nach einer Aussöhnung mit ihnen strebt. Die Vorgehensweise, Selbstwidersprüche nachzuweisen, stellt durchaus die gängige Strategie in der Auseinandersetzung mit den Stoikern dar, nicht aber das Bemühen um eine Aussöhnung.601 Dies allein ist bereits ungewöhnlich. Die angebliche Übereinstimmung der Lehren basiert auf der Annahme, daß ‚Fatum‘ ( fatum) nichts anderes bedeute als ‚vorausgehende Ursachen‘ (antecedentes causae). So heißt es: ‚Wenn alles durch das Schicksal geschieht, dann geschieht alles durch vorausgehende Ursachen‘ (§ 40: si omnia fato fiunt, omnia fiunt causa antecedente; § 31: si omnia fato fiunt, omnia causis antecedentibus fiunt), ‚Alles geschieht aufgrund vorausgehender Ursachen durch das Schicksal‘ (§ 41: dicimus omnia fato fieri causis antecedentibus), ‚Wenn aber irgend etwas ohne vorausgehende Ursache bewirkt werden würde, dann wäre es falsch [zu sagen], daß alles durch das Schicksal geschieht‘ (§ 43: quod si aliqua res efficeretur sine causa antecedente, falsum esset omnia fato fieri) und ‚Wenn alles durch das Schicksal in der Weise geschähe, daß alles nur durch das Vorausgehen einer Ursache geschähe, dann sei zuzugestehen, daß alles durch das Schicksal geschehe‘ (§ 44: si omnia fato fierent eius modi, ut nihil fieret nisi praegressione causae, confitendum esse fato fieri omnia). Es findet sich auch die umgekehrte Formulierung: ‚Alles, was geschieht, geschieht durch vorausgehende Ursachen; wenn sich dies so verhält, dann geschieht alles durch das Schicksal‘ (§ 21: quod si ita est, omnia, quae fiunt, causis fiunt antegressis; id si ita est, fato omnia fiunt). Tatsächlich legen diese Formulierungen den Schluß nahe, daß Chrysipp das Fatum ( fatum) mit den vorausgehende Ursachen (antecedentes causae) identifiziert hat; und darüber hinaus scheint Cicero mit den Aussagen ‚Daher wollen wir, wenn wir sagen, daß alles aufgrund vorausgehender Ursachen durch das Schicksal geschieht, das nicht so verstanden wissen: durch vollkommene und hauptverantwortliche Ursachen, sondern so: durch mithelfende und der Wirkung am nächsten liegende Ursachen‘ (§ 41: quam ob rem, cum dicimus omnia fato fieri causis antecedentibus, non hoc intellegi volumus: causis perfectis et principalibus, sed: causis adiuvantibus et proximis) sowie ‚Wenn alles durch das Fatum geschieht, folgt gewiß, daß alles durch vorausgehende Ursachen geschieht, aber nicht durch vollkommene und hauptverantwortliche Ursa_____________ 601 Vgl. Bobzien (1998a), 316. Besagte Vorgehensweise findet sich in der Schrift Paradoxa Stoicorum von Cicero sowie in den Schriften De Stoicorum repugnantiis und De communibus notitiis adversus Stoicos von Plutarch.
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chen, sondern durch mithelfende und der Wirkung am nächsten liegende [Ursachen]‘ (§ 41: si omnia fato fiant, sequi illud quidem, ut omnia causis fiant antepositis, verum non principalibus causis et perfectis, sed adiuvantibus et proximis) auch zum Ausdruck bringen zu wollen, daß es sich bei den vorausgehenden Ursachen gerade um die nicht mit Notwendigkeit wirkenden, notwendigen Bedingungen handle.602 Chrysipps Strategie wäre es dann, den Namen „Fatum“ beizubehalten, allerdings unter Änderung seines Geltungsbereiches, so daß das Fatum nur noch die vorausgehenden Ursachen umfassen soll. Diese Strategie kann zum einen in dem deterministischen Sinne interpretiert werden, daß die vorausgehenden Ursachen den Charakter des Menschen vollständig determinieren, so daß das Fatum dann nur indirekt über den Charakter als innere, nicht vorausgehende Ursache bei dem Akt der Zustimmung wirkt. Zum anderen kann sie in dem libertarischen Sinne interpretiert werden, daß der Charakter als innere, nicht vorausgehende Ursache nicht determiniert und gewissermaßen frei ist, weil er nicht Glied einer Verkettung vorausgehender Ursachen ist.603 Beide Überlegungen führen zu ernsthaften Problemen. In der deterministischen Interpretation wäre das Kausalitätsprinzip zwar gerettet, aber es gäbe mit dem Charakter eine Ursache, die _____________ 602 Daß Ciceros Darstellung in dieser Weise zu verstehen ist und damit die Haltung Chrysipps richtig wiedergibt, wird vielfach angenommen. So urteilt Straaten (1977): „es läßt sich schwer leugnen, daß Chrysipp, als er das Fatum als eine Kette von nur den ersten Anstoß gebenden Ursachen interpretierte, die stoische ưʉǖNjǛǖɨǗǑ tatsächlich entkräftet hat, offenbar, um die menschliche Freiheit zu retten“ (S. 516), gibt aber zu Bedenken, daß „die hier von Chrysipp formulierte These wesentliche Folgen und fast unüberwindliche Schwierigkeiten mit sich bringen mußte bezüglich der stoischen Kosmologie“ (S. 512). Vgl. z. B. Stüve (1895), 51, 55; Barth-Goedeckemeyer (1946), 88; Zeller (1963) III.1, 169 Anm. 2; Valgiglio (1967/68), 330, 58; Amand (1973), 10f.; M. Frede (1980), 225, 239f.; Talanga (1986), 133f.; Duhot (1989), 172 („succession d’événements extérieurs“); Janssen (1992), 191f.; Antonini (1994), 88 Anm. 77; Zierl (1995), 13f.; Hankinson (1996), 198f.; (1998), 256; (1999b), 530f.; White (2003), 138; Pimentel Álvarez (2005), LXX Anm. 90. Long (1970), 249, 261 und Szekeres (1991), 51; (1992), 49; (1995), 234 bringen das Fatum mit den externen vorausgehenden Ursachen in Verbindung, die internen Ursachen mit der Notwendigkeit. Gould (1983), 490 glaubt nicht, daß die Stoiker alle vorausgehenden Ursachen ausschließlich als notwendige Bedingungen betrachtet hätten. Dies sei im Falle der menschlichen Handlungstheorie so; dort aber, wo das menschliche Handeln nicht berührt werde, seien die vorausgehenden Ursachen auch ‚notwendige und hinreichende Bedingungen‘. D. Frede (2003), 198 erklärt Ciceros Formulierungen wie folgt: „There may, then, not have been a clear diochotomy: in some cases the antecedent cause worked as the principal cause, in others it functioned as the initiating factor. In addition, the role of the antecedent cause may differ depending on the level of discussion: at the cosmic level, the antecedent cause stands for fate’s overall order, whereas at the level of individual processes, its scope is determined by the special circumstances. The hypothesis that the power of the antecedent cause is not uniform in the Stoic system would explain, then, why Cicero in the main part of the text identifies the ‚antecedent cause‘ with the power of fate tout court“. 603 Zum Folgenden vgl. Bobzien (1998a), 301–310.
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VII. Kommentar zu De fato
gewissermaßen außerhalb des nur die vorausgehenden Ursachen umfassenden Fatums und damit auch außerhalb der göttlichen Vorsehung läge. Eine solche Annahme ließe sich mit der grundlegenden kosmologischen Prämisse der Stoiker, daß alles Geschehen im gesamten Kosmos durch die göttliche Vorsehung sinnvoll eingerichtet ist, nicht vereinbaren. Es ist kaum vorstellbar, daß Chrysipp die stoische Philosophie so verändert haben sollte, daß die ursprünglichen stoischen Prämissen keine Gültigkeit mehr hätten. Auch die Annahme,604 daß alle Ursachen, sowohl die inneren als auch die äußeren, als vorausgehende Ursachen (antecendentes causae) anzusehen seien, führt zu Problemen. Die innere Ursache resultiert aus dem qualitativen Zustand des Objektes (z. B. aus dem Charakter des Menschen) und ist offensichtlich gerade nicht als vorausgehende Ursache zu verstehen.605 Die libertarische Interpretation ist für die Stoiker nicht akzeptabel. Die Annahme, daß es einen Raum gänzlich frei vom Wirken des Fatums und von jeglicher Vorsehung gebe, widerspricht entschieden den stoischen Prinzipien. Sollte der Mensch eine Freiheit besitzen, die ihm gestattet, zur selben Zeit und unter denselben Bedingungen eine Zustimmung zu geben oder auch nicht zu geben, müßte aus stoischer Sicht die Möglichkeit eines akausalen Geschehens eingeräumt werden. Das würde aber nichts anderes als eine Verletzung des uneingeschränkt gültigen Kausalitätsprinzips und damit letztlich eine Verletzung der göttlichen Ordnung bedeuten (siehe VII.5.e., VII.17.b.). Daher stellt der Charakter für die Stoiker keinen isolierten Kausalfaktor, sondern einen Teil des gesamten kausalen Netzwerkes dar, durch das auch die Ausprägung des Charakters bedingt ist.606 Diese interpretatorischen Probleme werden aber durch die Annahme vermieden, daß die Stoiker alle Ursachen, die äußeren, vorausgehenden und die inneren, nicht vorausgehenden Ursachen unter der Bezeichnung „Fatum“ subsumiert wissen wollten. Dies steht im Einklang mit den zentralen Prämissen der stoischen Philosophie: Der gesamte Kosmos ist durch die göttliche Vorsehung sinnvoll eingerichtet und stellt ein geschlossenes Kausalsystem dar, worin das Wesen und Wirken des Fatums seinen Ausdruck findet. So müssen auch alle Arten von Ursachen einen _____________ 604 Vgl. Görler (1987), 258f. Anm. 13, 268 Anm. 30; Sharples (1991), 177; Ioppolo (1994), 4527–4529. Reesor (1978), 189 urteilt: „If the fixed disposition (diathesis) is the antecedent cause of the impulse (hormē) functioning as reasonable desire (boulēsis), it is also the antecedent cause of the impulse as assent (synkatathesis)“. 605 Hankinson (1996), 199; (1998), 245; (1999a), 488 verweist darauf, daß nach antiker Beschreibung die ‚vorausgehenden Ursachen‘ übereinstimmend als extern zu den verursachten Dingen angesehen würden. 606 Vgl. Sedley (1993), 324f.
VII.18. §§ 44–45: Die angebliche Übereinstimmung der Positionen
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integralen Bestandteil des kausalen Netzwerks (d. h. des Fatums) darstellen, das so gesehen als die ‚Ursache aller Ursachen‘ bezeichnet werden kann.607 Damit liegt keine Ursache und kein Geschehen außerhalb des Fatums und auch keine menschliche Handlung.608 Auch wenn Ciceros Darstellung den Anschein erweckt, daß Chrysipp die Bedeutung des Fatums modifiziert habe, so heißt dies doch nicht zwangsläufig, daß Chrysipp auch tatsächlich so verfahren ist. Die vorangegangenen Überlegungen lassen eine solche Verfahrensweise schon als sehr unwahrscheinlich erscheinen. Außerdem ist mit der Besprechung des Zylinder-Kreisel-Gleichnisses, das zweifellos auf die orthodoxe Stoa zurückgeht, deutlich geworden, daß Chrysipp sein Ziel, die menschliche Freiheit und Verantwortlichkeit innerhalb der stoischen Prämissen zu begründen, auch unter der umfassenden Geltung des Fatums erreicht, so daß eine „unstoische“ Modifikation der Fatumstheorie keinen philosophischen Gewinn brächte. Schließlich müßte Chrysipp sich mit Blick auf die Paragraphen 34–36 auch tatsächlich fragen lassen, wie sich die Theorie eines Fatums, das nur aus vorausgehenden notwendigen Bedingungen bestehen sollte, überhaupt sinnvoll begründen ließe. Die kosmologischen Prämissen der Stoiker, ihre Fatumstheorie und ihre starke Wahrheitsauffassung verlangen zweifelsohne ein Fatum, das auch Ursachen umfaßt, die Ereignisse mit Notwendigkeit eintreten lassen. Nun sagt Cicero in De fato aber nicht explizit, daß Chrysipp den Geltungsbereich des Fatums tatsächlich in der Weise modifiziert habe, daß das Fatum mit den vorausgehenden Ursachen identisch sei oder daß die inneren, nicht vorausgehenden Ursachen nicht im Fatum enthalten seien. Dieser Schluß muß sich auch nicht zwangsläufig aus den Formulierungen Ciceros ergeben. Während der Zustand eines Objektes durch eine innere, nicht vorausgehende Ursache aufrechterhalten wird, scheinen Ereignisse der stoischen Kausaltheorie gemäß durch die Kooperation von mindestens zwei kausalen Faktoren verursacht zu werden, wobei zumindest einer dieser kausalen Faktoren eine äußere, vorausgehende Ursache darstellt (siehe VII.17.a.). So kann nun mit der Betonung des Geschehens gesagt werden, daß dann, wenn alles durch das Fatum geschieht, auch alles durch vorausgehende Ursachen geschieht, weil jedes Geschehen mindestens eine vorausgehende Ursache hat. Aus dieser Aussage ergibt sich aber nicht _____________ 607 Vgl. Seneca, nat. II, 45.2: vis illum fatum vocare, non errabis; hic est, ex quo suspensa sunt omnia, causa causarum (siehe auch o. S. 135 Anm. 206). Vgl. Bréhier (1955), 100f. 608 Vgl. Bobzien (1998a), 253–255, 301–310. Siehe auch die Auseinandersetzungen in Sorabji (1980), 272–276; Inwood (1985), 66–70; Forschner (1995), 109; Sharples (1995), 255–257; Meyer (1999), insbesondere 257–261, 273; Brennan (2005), 254–261, 315–320. Nemesios, nat. hom. 35, 105.7–10 (SVF II, 991; LS 53O) betont explizit, daß auch die Zustimmung und der Handlungsimpuls vom Fatum gegeben seien.
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VII. Kommentar zu De fato
zwangläufig der Schluß, daß das Fatum identisch mit den vorausgehenden Ursachen ist oder daß die inneren Ursachen aus dem Wirken des Fatums herausgenommen werden müssen. Somit ließe sich aus Ciceros Ausführungen auch kein zwingender Grund ableiten, warum eine innere Ursache nicht Teil des kausalen Netzwerkes sein sollte, in dem sich das Fatum manifestiert. Cicero müßte demzufolge mit der Formulierung ‚Wenn alles durch das Schicksal geschieht, dann geschieht alles durch vorausgehende Ursachen‘ so verstanden werden, daß er sein Augenmerk auf die Verursachung eines Geschehens legt. Dies ist insofern verständlich, als in den Pararaphen 39–45 das Zustandekommen einer Zustimmung als das entscheidende Problem bei der Frage nach Freiheit und moralischer Verantwortlichkeit diskutiert wird. Vor diesem Hintergrund muß dann auch nicht angenommen werden, daß Cicero mit seiner Darstellung beabsichtigte, den Stoikern eine Identifikation von ‚Fatum‘ ( fatum) und ‚vorausgehenden Ursachen‘ (antecedentes causae) zu unterstellen. Diese Überlegung ist durchaus nachvollziehbar und der Sache nach auch richtig, doch wird die obige Interpretation der Darstellung Ciceros durch die Ursachenunterscheidung in den Topica in Frage gestellt.609 An_____________ 609 Vgl. Top. 58f.: causarum genera duo sunt (1); unum, quod vi sua id, quod sub eam vim subiectum est, certe efficit (2), ut ignis accendit; alterum, quod naturam efficiendi non habet, sed sine quo effici non possit (3), ut si quis aes statuae causam velit dicere, quod sine eo non possit effici. [59] huius generis causarum, sine quo non efficitur, alia sunt quieta, nihil agentia, stolida quodam modo (4), ut locus, tempus, materia, ferramenta, et cetera generis eiusdem; alia autem praecursionem quandam adhibent ad efficiendum et quaedam adferunt per se adiuvantia, etsi non necessaria (5), ut amori congressio causam attulerat, amor flagitio. ex hoc genere causarum ex aeternitate pendentium fatum a Stoicis nectitur (6). Das folgende Schaubild soll die Ursachenunterscheidung verdeutlichen (weitere Schaubilder finden sich in Stump (1988), 237 Anm. 64 und in Bayer (1993), 153): (1) Zwei Ursachenarten
(2) Ursachen, die den Effekt aus sich selbst heraus bewirken (hinreichende Bedingungen).
(3) Ursachen, die den Effekt nicht aus sich selbst heraus bewirken, ohne die aber auch der Effekt nicht bewirkt werden kann (notwendige Bedingungen).
(4) Von diesen Ursachen sind einige träge und passiv.
(5) Von diesen Ursachen sind einige vorausgehende Ursachen, die unterstützend wirken.
(6) Aus diesen Ursachen besteht das stoische Fatum.
VII.18. §§ 44–45: Die angebliche Übereinstimmung der Positionen
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ders als in De fato sagt Cicero dort völlig unmißverständlich, daß die (vorausgehenden) notwendigen Bedingungen (sine quo non efficitur) diejenigen Ursachen seien, aus denen das stoische Fatum zusammengesetzt sei.610 Diese Aussage ist nicht zu ignorieren, insbesondere dann nicht, wenn man davon ausgeht, daß die Ursachenunterscheidung in den Topica die Terminologie in den Paragraphen 41–44 und die Differenzierung in den Paragraphen 34–36 widerspiegelt, so daß Cicero auf entsprechendes Material für beide Stellen zurückgegriffen haben könnte.611 Allerdings gibt es auch deutliche Unterschiede in den jeweiligen Darstellungen. In den Paragraphen 34–36 betont Cicero ausdrücklich, daß die notwendigen Bedingungen nicht als Ursachen anzuerkennen seien, während sie in den Topica explizit als „Ursachen“ bezeichnet werden. Dort wird die Kooperation zweier Ursachen nicht erwähnt, was in den Paragraphen 41–44 einen zentralen Punkt darstellt. Die Topica sind ausführlicher, indem Beispiele zu den einzelnen Ursachenarten geliefert werden, was in De fato unterlassen wird.612 _____________ 610 In ganz ähnlicher Weise unterstellt Plutarch, Stoic. repug. 47, 1056b–d (teilw. SVF II, 997; teilw. LS 55R) Chrysipp die Meinung, daß das Fatum nicht aus hinreichenden, sondern aus vorausgehenden Ursachen zusammengesetzt sei (ʙ ǎɩ ǕɨǍǣǗ ʛǞǓ ǁǛʡǝǓǚǚǙǜ Ǚʤǔ NjʤǞǙǞǏǕʅ ǞǙʡǞǣǗ NjʊǞʇNjǗ ɒǕǕɏ ǚǛǙǔNjǞNjǛǔǞǓǔɱǗ ǖʗǗǙǗ ɫǚǙǓǏʏǞǙ ǞɱǗ ǏʉǖNjǛǖɨǗǑǗ ). Daraus konstruiert Plutarch, ähnlich wie Cicero in den Paragraphen 34–36, einen Selbstwiderspruch der Stoiker: Entweder vertritt Chrysipp die Meinung, daß das Fatum eine hinreichende und unbeugsame Ursache darstellt, so daß alles – auch das Handeln des Menschen – unabwendbar determiniert ist; oder er versteht das Fatum im Sinne einer nicht hinreichenden Ursache, so daß zwar nicht alles determiniert ist, aber das Fatum seine umfassende Kausalität und damit auch seine Unabwendbarkeit verliert. Allerdings ist die Authentizität dieses Referates als orthodox-stoisches Zeugnis bestritten worden. Zu Plutarchs Argumentation siehe ausführlich Bobzien (1998a), 324–329. Sie vertritt die Meinung, daß Plutarch ein Kategorienfehler unterlaufen sei. Er unterscheide nicht angemessen zwischen der übergeordneten NjʊǞʇNj, die ein Synonym für ǏʉǖNjǛǖɨǗǑ darstelle, und einem individuellen NjʍǞǓǙǗ. Das Fatum bestehe nicht aus irgendeiner der verschiedenen Ursachenarten, sondern sei die übergeordnete Ursache (NjʊǞʇNj), die alle individuellen Ursachen umfasse. Die Interpretation Plutarchs gehe nicht auf Chrysipp selbst, sondern auf einen späteren Stoiker zurück. Vgl. Donini (1975), 212; (1989), 143f. Siehe hierzu auch Platz (1973), 64 Anm. 1, 67f. und Schröder (1990), 18–20, der Plutarchs Zeugnis „schon von innen heraus als höchst verdächtig“ erachtet. Görler (1987), 261 Anm. 18 hält es für wahrscheinlich, daß Plutarch die Lehre Chrysipps „in polemischer Absicht simplifiziert“ habe, „um ihn mit seinen eigenen Waffen schlagen zu können“. 611 Daß der Ausdruck praecursionem quandam in Top. 59 mit der causa proxima in De fato korrespondiert, wird allgemein angenommen, vgl. z. B. Theiler (1946), 62 Anm. 2; Schiavon und Peruzza (1969), 39; Schröder (1990), 154; Sedley (1993), 323 Anm. 32; Bobzien (1999a), 233 Anm. 84. Schmekel (1938), 273 sieht zwischen De fato und den Topica eine gegenseitige Ergänzung. Pohlenz (1940), 107 glaubt, daß Cicero das in De fato verwendete Material frei umgestaltet habe. Vgl. Michel (1960), 229 Anm. 307, 345 Anm. 228; Hamelin (1978), 41, 43; Moreschini (1979), 168; Marwede (1984), 239–241; Duhot (1989), 202; Sharples (1995), 247; Bobzien (1998a), 323, 329. 612 Eine ausführliche Behandlung der beiden Textstellen findet sich in Sharples (1995).
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VII. Kommentar zu De fato
Die Aussage in den Topica ist vielleicht nicht allzu wörtlich zu nehmen, sondern lediglich in dem Sinne zu verstehen, daß die Stoiker nicht nur bei mit Notwendigkeit wirkenden Ursachen vom Fatum sprechen, sondern auch dann schon, wenn lediglich notwendige Bedingungen vorliegen. Cicero hätte demzufolge nicht zum Ausdruck bringen wollen, daß die Stoiker das Fatum ausschließlich aus nicht mit Notwendigkeit wirkenden, notwendigen Bedingungen zusammengesetzt verstanden wissen wollten. Es ist allerdings sehr fraglich, ob sich diese Interpretation aus einer doch so deutlichen Formulierung gewinnen läßt. Cicero müßte sich dann ohne ersichtlichen Grund sehr unglücklich ausgedrückt haben. Eine andere Überlegung mag sich aus dem Umstand ergeben, daß die Topica etwa zwei Monate nach De fato verfaßt worden sind, und zwar, wie Cicero selbst berichtet, auf der Überfahrt nach Griechenland und völlig aus dem Gedächtnis heraus.613 Aufgrund dieser ungewöhnlichen Umstände der Abfassung könnte sich eine Ungenauigkeit oder eine Unachtsamkeit in Ciceros Darstellung eingeschlichen haben. Allerdings ist es zum einen kaum wahrscheinlich, daß Cicero in einem so wichtigen Punkt unachtsam war, und zum anderen wirkt das ganze Referat über die Ursachenunterscheidung so strukturiert, daß es keinen Anhaltspunkt für einen Lapsus bietet. Schließlich ist auch angezweifelt worden, ob die Darstellung in den Topica überhaupt als (orthodox) stoisches Zeugnis gelten könne.614 Eine weitere Ursachenunterscheidung findet sich in der rhetorischen Schrift Partitiones oratoriae.615 Cicero orientiert sich dort zwar an der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen hinreichenden und notwendigen Bedingungen, sagt aber, daß es auch helfende Kausalfaktoren gebe, die wegen ihrer Stärke bereits als ‚Ursachen‘ bezeichnet würden. Im übrigen unterscheidet sich auch die von ihm benutzte Terminologie ein wenig von der in den anderen Darstellungen. Vielleicht können diese unterschiedlichen Darstellungen mit der Annahme erklärt werden, daß Cicero seine Ausführungen und Formulierungen mit Blick auf den jeweiligen Kontext der Schrift und mit Rücksicht auf seine eigene literarische Intention gewählt hat, die in der philosophi_____________ 613 Vgl. Top. 5. Vgl. Sharples (1995), 247; Bobzien (1998a), 323 Anm. 173. 614 Vgl. Michel (1960), 583; Duhot (1989), 202; Schröder (1990), 14 Anm. 31; Sharples (1991), 196; (1995), 248f. Anm. 10; Ioppolo (1994), 4529–4533; Bobzien (1998a), 323 Anm. 173. 615 Vgl. part. 93f.: causarum autem genera sunt plura; nam sunt aliae, quae ipsae conficiunt, aliae quae vim aliquam ad conficiendum afferunt. itaque illae superiores conficientes vocentur, hae reliquae ponantur in eo genere, ut sine his confici non possit. conficiens autem causa alia est absoluta et perfecta per se, alia aliquid adiuvans et efficiendi socia quaedam; cuius generis vis varia est, et saepe aut maior aut minor[, ut etiam ea, quae maximam vim habet sola saepe causa dicatur]. sunt autem aliae causae, quae aut propter principium aut propter exitum conficientes vocantur. cum autem quaeritur, quid sit optimum factu, aut utilitas aut spes efficiendi ad assentiendum impellit animos.
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schen Schrift De fato eine andere ist als in den rhetorischen Schriften Topica und Partitiones oratoriae. Aus diesem Grund mag er mit seinen unterschiedlichen Darstellungen gar kein „objektives“ Referat beabsichtigt haben.616 Da Cicero in den Paragraphen 39–45 die stoische Lehre so darstellt, als ob Chrysipp das Fatum als eine Verknüpfung von nicht mit Notwendigkeit wirkenden, vorausgehenden Ursachen verstanden habe, ist es nachvollziehbar, daß Donini zu dem Urteil gelangt, daß diese Darstellung mit der stoischen (orthodoxen) Theorie nicht vereinbar sei und Cicero seinem eigentlichen Gegner Chrysipp eine zu indeterministische Haltung unterstelle.617 Marwede spricht sich gegen die von Donini geäußerte Annahme aus, denn the trust of what Chrysippus says is that antecedent causes are helping and proximate causes, and not perfect and principal causes. Chrysippus neither says nor implies in this sentence that perfect and principal causes (i.e., internal causes) are outside of the domain of fate.618
Cicero habe allerdings Chrysipps Vorstellung von den antecedentes causae falsch verstanden. In Topica 59 ordne Cicero die externen Ursachen der zweiten Kategorie der causae (d. h. den notwendigen Bedingungen) zu, aber diese Zuordnung sei falsch, weil auch externe Ursachen einen Effekt mit Notwendigkeit bewirken könnten. Das gehe aus dem Beispiel in Topica 61 hervor, mit dem Cicero deutlich mache, daß Ajax’ Schiff von einem Blitzschlag, der zweifellos eine äußere, vorausgehende Ursache sei, mit Notwendigkeit in Brand gesetzt worden sei.619 Schröder sieht die Konsistenz der stoischen Lehre in der Darstellung Ciceros620 gewahrt. Er glaubt, daß die Stoiker die Ursachenbezeichnung NjʍǞǓǙǗ NjʤǞǙǞǏǕɨǜ nur ex negativo verwendet hätten. Es lasse sich ferner auch keine bekannte Ursachenbezeichnung finden, die auf den individuellen Charakter anwendbar sei; zudem werde der individuelle Charakter auch nicht explizit als Ursache für die ǝǟǍǔNjǞɏǒǏǝǓǜ herausgestellt. Es sei daher „schwierig, irgendeine glatt aufgehende Formulierung zu finden, die Chrysipps Kausalmodell wiedergibt und gleichzeitig die Natur eines Indi_____________ 616 Vgl. Michel (1960), 582f.; Görler (1987), 263f.; Sharples (1995), 247, 271; Schröder (1990), 14 Anm. 31. 617 Vgl. Donini (1975), 194–196. Sedley (1993), 322 Anm. 31 stimmt Donini zwar in der Hinsicht zu, daß Ciceros Darstellung die Lehre Chrysipps ‚ernsthaft verdreht‘, will aber nicht dem Vorwurf zustimmen, daß Chrysipp indeterministische Tendenzen in unstoischer Weise unterstellt würden. 618 Marwede (1984), 230. 619 Vgl. Marwede (1984), 240f. Siehe auch o. S. 251 Anm. 523. 620 Schröder (1990), 14 vertritt die Auffassung, daß die Darstellung Plutarchs (siehe o. S. 283 Anm. 610) nicht auf Chrysipp zurückgehen könne und strikt von der Ciceros zu unterscheiden sei.
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VII. Kommentar zu De fato
viduums als Ursache der ǝǟǍǔNjǞɏǒǏǝǓǜ einschließt“621. Daher schlägt er folgende Interpretation vor: Die Natur eines Individuums sei durch Veranlagung und Erziehung entstanden (nach Gellius VII, 2). Bei diesen Faktoren handle „es sich um eine ungeheure, jedenfalls beliebig große Zahl von ǚǛǙǔNjǞNjǛǔǞǓǔɐ NjʍǞǓNj“622. Die Reaktion auf ein visum werde durch die Beschaffenheit des Menschen bestimmt, wobei sich diese Reaktion auf der Reaktion auf vorangegangene visa aufbaue. Hinter jeder erfolgten oder nicht erfolgten ǝǟǍǔNjǞɏǒǏǝǓǜ liege ein akut wirkendes NjʍǞǓǙǗ ǚǛǙǔNjǞNjǛǔǞǓǔʗǗ, hinter dem wiederum eine langwirkende Ursachenkette liege, wodurch der Mensch im Laufe der Zeit geprägt werde. Auf der einen Seite sei der Mensch durch seinen individuellen Charakter verantwortlich für seine Entscheidungen, auf der anderen Seite aber hätte die Zustimmung in diesem Moment nur so und nicht anders ausfallen können. So bleibe der stoische Determinismus vollständig bewahrt und Cicero behalte mit seiner Behauptung Recht, daß das stoische Fatum nur aus ǚǛǙǔNjǞNjǛǔǞǓǔɐ NjʍǞǓNj bestehe.623 Für Meyer stellen die causae perfectae et principales die internen Ursachen und die causae adiuvantes et proximae die externen, anstoßenden Ursachen dar. Nur wenn das Fatum diese beiden Ursachenarten umfasse, könne es den von den Stoikern intendierten Determinismus garantieren. Daher sei es verwunderlich, wenn Chrysipp tatsächlich das Fatum auf das Wirken der causae adiuvantes et proximae reduzieren wollte. Das Fatum stelle nach stoischer Auffassung ein aus verschiedenen Ursachenarten bestehendes Kausalgeflecht dar. Die Behauptung, daß alles durch vorausgehende, externe und anstoßende Ursachen geschehe, sei nun so zu verstehen, daß keine Ursache unabhängig vom übrigen Kausalgeflecht wirken könne und daß es für jede causa perfecta et principalis auch eine solche vorausgehende, anstoßende Ursache gebe, die auf jene wirke. Der Grund dafür, daß Chrysipp die causae perfectae et principales bei der Erklärung seiner Fatumstheorie nicht erwähne, liege letztlich darin, daß diese Theorie eine Theorie der Verbindung von causae perfectae et principales darstelle, die füreinander causae adiuvantes et proximae seien.624 Ungeachtet der von den erwähnten Autoren vorgeschlagenen Deutungen, wie Ciceros Darstellung zu verstehen ist und wie sie sich mit der stoisch-orthodoxen Lehre vereinbaren läßt, bleibt doch zu fragen, wie Cicero selbst das stoische Fatum interpretiert. Es ist anzunehmen, daß die Ursachenunterscheidung, die Cicero in den Paragraphen 41–43 darstellt, _____________ 621 622 623 624
Schröder (1990), 15. Schröder (1990), 17. Vgl. Schröder (1990), 14–18. Vgl. Meyer (1999), 257–268.
VII.18. §§ 44–45: Die angebliche Übereinstimmung der Positionen
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auf die orthodoxe Stoa zurückgeht. Zuvor ist deutlich geworden, daß aus den Formulierungen, die Cicero bei seiner Darstellung verwendet, nicht der Schluß gezogen werden muß, daß die Stoiker lediglich die vorausgehenden, nicht aber auch die inneren, nicht vorausgehenden Ursachen dem Geltungsbereich des Fatums subsumiert wissen wollten. Eine solche Annahme widerspräche zudem ihren grundlegenden kosmologischen Prämissen.625 Ob Cicero die stoische Fatumstheorie ebenfalls in der Weise versteht, daß das Fatum beide Ursachenarten umfaßt, ist jedoch fraglich. Sein Versuch, die sachliche Übereinstimmung zwischen Chrysipp und dessen Gegnern aufzuzeigen (§ 44), basiert zweifellos auf der Annahme, daß die Stoiker das Fatum ausschließlich mit den vorausgehenden Ursachen identifizierten. In den Paragraphen 34–36 hält Cicero den Stoikern vor, daß ihre Fatumstheorie viel zu schwach sei, um einen „echten“ Fatalismus zu begründen, und versucht, ihnen einen Widerspruch zu ihrer eigenen Lehre nachzuweisen. Dieser Versuch basiert auf der Annahme, daß die Stoiker im Fatum lediglich eine Verknüpfung vorausgehender, nicht mit Notwendigkeit wirkender Ursachen sehen.626 Auch wenn Cicero in De fato nicht explizit sagt, daß er das stoische Fatum quasi als die Gesamtheit der causae antecedentes et non necessariae betrachtet, so muß doch gerade mit Blick auf seine Äußerung in den Topica 59 angenommen werden, daß er (bzw. seine Quelle) das Fatum in einem derart eingeschränkten Sinne interpretiert.627 _____________ 625 Siehe o. S. 278–282. 626 Aus der Sicht der Libertarier muß für die Begründung eines „echten“ Fatalismus angenommen werden, daß sich das Fatum in einer stetigen Verknüpfung von mit Notwendigkeit wirkenden Ursachen manifestiert. Vor diesem Hintergrund könnte Ciceros Kritik an besagter Stelle vielleicht auch in einem schwächeren Sinne verstanden werden, nämlich in der Weise, daß er die Stoiker lediglich dafür kritisiert, daß sie im Fatum eine Verknüpfung von hinreichenden und notwendigen Bedingungen sehen, und nicht dafür, daß sie im Fatum eine Verknüpfung von ausschließlich notwendigen Bedingungen sehen. D. h., er erhebt gegen die Stoiker lediglich den Vorwurf, daß ihr Fatum nicht vollständig aus mit Notwendigkeit wirkenden Ursachen besteht. Allerdings stellt sich dann die Frage, ob ein so verstandener Vorwurf nicht an Kraft verliert, wenn nicht gar ins Leere läuft. Chrysipp könnte quasi als Antwort auf diesen Vorwurf entgegnet haben, daß der kausale Determinismus durch die Aufnahme der notwendigen Bedingungen in den Geltungsbereich des Fatums in keiner Weise unterminiert werde. Wie Cicero versucht auch Plutarch einen ähnlichen Selbstwiderspruch zu konstruieren, der nach seiner Auffassung aus der eigenen Fatumskonzeption der Stoiker resultiert (siehe o. S. 283 Anm. 610). Die ausführlichere Darstellung dieses Versuches läßt ebenfalls annehmen, daß der gegen die Stoiker erhobene Vorwurf nicht in dem beschriebenen schwachen Sinne zu verstehen ist. 627 Platz (1973), 64 Anm. 1 und Botros (1985), 287 Anm. 30 bezweifeln, daß Ciceros Verständnis vom stoischen Fatum der Lehre Chrysipps entspreche. Für Appuhn (1937), 588 Anm. 382 bleibt es unklar, ob Cicero die Stoiker richtig verstanden habe, und wenn ja, ob er ihre Meinung in angemessener Weise referiert habe. Schmekel (1938), 269f. glaubt, daß die von Cicero dargestellte Fatumstheorie nicht auf Chrysipp selbst zurückgeführt werden könne. Vielmehr gehe sie auf Antipater zurück, der auf diese Weise Chrysipps Lehre gegen
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VII. Kommentar zu De fato
Nun könnte Cicero in diesem Punkt vielleicht eine – sei es aus Fahrlässigkeit unbewußt oder um der Polemik willen bewußt – verzerrte Darstellung der stoischen Lehre unterstellt werden; beides erscheint jedoch recht unplausibel. Zum einen hatte Cicero gute philosophische Kenntnisse und wird sich auch bei der Abfassung von De fato auf die ihm zur Verfügung stehenden Quellen gestützt haben; zum anderen hätte eine bewußt verzerrte Darstellung Cicero in seinem Kampf gegen die Stoiker keinen philosophischen Vorteil gebracht – im Gegenteil: Die Stoiker vor dem Hintergrund eines alle Ursachen und jegliches Geschehen umfassenden Fatums zu bekämpfen, wäre viel einfacher gewesen, als sie vor dem Hintergrund eines vermeintlich schwächeren Fatums zu bekämpfen, das viel weniger eine philosophische Angriffsfläche bietet. Ferner müßte dann auch angenommen werden, daß Cicero in den Topica ebenfalls mit derselben Fahrlässigkeit oder mit derselben Polemik geschrieben hätte. Da die Interpretation des Fatums als Verknüpfung vorausgehender, notwendiger Bedingungen nur schwerlich die orthodox-stoische Lehre widerspiegelt, ist zu vermuten, daß sich eine solche Interpretation erst in der späthellenistischen Zeit herausgebildet hat. Es ist daher anzunehmen, daß Cicero für seine Darstellung in De fato und in den Topica auf eine Quelle dieser Zeit zurückgegriffen hat. Wer der Autor sein könnte, der keine Bedenken hat, die stoische Theorie so zu modifizieren, ‚daß die fundamentalsten (meta)physischen Prämissen Chrysipps umgestoßen werden‘628, ist schwierig auszumachen. Karneades, Antiochos oder Poseidonios sind vermutet worden.629 Ferner ist Varro in Betracht gezogen worden630 und auch Antipater von Tarsos631. Auch an Panaitios mag ge_____________ Karneades verteidigen wolle. Donini (1975), 194–196; (1989), 143f. und Forschner (1995), 109 sehen in Ciceros Darstellung einen Widerspruch zu den übrigen antiken Zeugnissen; ähnlich Sorabji (1980), 275f. In den Kapiteln XVIII und XIX, so White (1985), 121, 136 Anm. 52, stelle Cicero die stoische Lehre „in a rather confused fashion“ dar und in Kap. XIX gebe er die Position Chrysipps höchst ungenau wieder; zudem scheine der Text verderbt zu sein. Long und Sedley (LS I, 343) geben zwar zu bedenken, daß die Auffassung, das Fatum sei ein aus den causae adiuvantes et proximae bestehender Kausalnexus, „prima facie“ mit anderen antiken Zeugnissen konfligiere, die das Fatum als eine Verbindung aller Ursachen beschreiben, glauben aber, daß der Unterschied mehr in der Akzentuierung als im Inhaltlichen liege. Duhot (1989), 193, 205f., 209 betrachtet die ganze Passage als gekünstelt und wenig authentisch. Sedley (1993), 322f. Anm. 31 urteilt über Ciceros Darstellung: „its principal novelty, compared with other Stoic accounts, seems to me to lie in its restriction of the name ‚fate‘ to one part of the (fully deterministic) causal nexus“. 628 Vgl. Bobzien (1998a), 321. Vgl. Long (1971a), 179: „the nature of Stoicism is grossly mistaken by late sources which isolate the individual’s logos from the determining process in the universe“. 629 Vgl. die Diskussion in Bobzien (1998a), 322–324, die sich für Poseidonios entscheidet. 630 Mit Blick auf Ciceros Brief ( fam. IX, 4(6) (SVF II, 284; FDS 990; M 133), siehe o. S. 75 Anm. 234), in dem er Varro ein Gespräch ǚǏǛʈ ǎǟǗNjǞʸǗ avisiert, äußert Griffin (1995), 341
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dacht werden, der mit seinen gemäßigten Lehren Cicero ebenfalls als Quelle für seine philosophischen Schriften diente.632 Vielleicht läßt sich eine Erklärung dafür, wie sich eine solche Interpretation herausbilden konnte, in der besonderen Bedeutung der Fatumsdiskussion finden, die sie in der hellenistischen Philosophie hatte. Da die Stoiker aufgrund ihrer kosmologischen Prämissen nachdrücklich die Existenz des Fatums vertraten, sahen sie sich vor die entscheidende Frage gestellt, wie Freiheit und Verantwortlichkeit unter der Herrschaft des Fatums aufrechtzuerhalten sind. Diese Frage versuchten sie auf der Basis ihrer Handlungstheorie und ihrer Ursachenunterscheidung zu lösen. Darüber, daß die äußere, vorausgehende Vorstellung dem Fatum unterliegt und nicht in unserer Macht liegt, bestand allgemeine Einigkeit,633 und dieser Umstand schien auch nicht weiter als bedrohlich empfunden worden zu sein. Da die Vorstellung aus stoischer Sicht als eine äußere, vorausgehende Ursache nur eine notwendige Bedingung für die Zustimmung darstellt, wird durch das Wirken des Fatums die Freiheit nicht unmittelbar bedroht. Das Fatum wirkt auf die Zustimmungen nur indirekt über den Charakter, der eine innere, nicht vorausgehende Ursache darstellt, so daß die menschliche Freiheit und Verantwortlichkeit aus stoischer Sicht nicht aufgehoben wird; denn gerade die Begründung von Freiheit und Verantwortlichkeit ist für die gesamte Philosophie der Stoa von zentraler Bedeutung. Vor diesem Hintergrund kann es nun sein, daß in späthellenistischer Zeit das besondere Kausalverhältnis beim Zustandekommen einer Zustimmung verallgemeinert und das Fatum dann so interpretiert wurde, daß es generell nur aus vorausgehenden, notwendigen Bedingungen besteht, während die innere, nicht vorausgehende Ursache gewissermaßen aus dem Geltungsbereich des Fatums herausgefallen ist. In einer solchen Interpretation mag man eine probate Möglichkeit gesehen haben, die deterministische Lehre besser gegen die libertarische Kritik zu verteidigen. Auch wenn Cicero das stoische Fatum als eine Verknüpfung vorausgehender, notwendiger Bedingungen interpretiert haben mag, wird er Chrysipp doch nicht für einen wirklichen Indeterministen gehalten haben, der nur aufgrund seiner Ausdrucksweise als Determinist erscheint. Daß _____________ einen interessanten Gedanken: „Is it not possible that Cicero eventually had his talk with Varro who produced the analysis in 39–45, which Cicero made use of only to reject it as his own final answer?“. 631 Vgl. Schmekel (1938), 270; RAC (Bd. 7) Fatum, 558. Gegen diese Annahme sprechen sich Theiler (1946), 64 Anm. 1 und Weische (1961), 29 Anm. 2 aus. 632 Steinmetz (1994), 648 verweist darauf, daß sich Cicero für die Abfassung seiner naturphilosophischen Schriften gerade um eine Ausgabe der Schrift ƻǏǛʈ ǚǛǙǗǙʇNjǜ des Panaitios bemüht habe (vgl. Att. XIII, 8). Siehe o. S. 65 Anm. 179, aber auch S. 73 Anm. 216. 633 Vgl. Gilbert (1963), 21.
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VII. Kommentar zu De fato
Cicero die stoische Argumentation für gescheitert hält, hat er ja bereits zu Beginn der Untersuchung zu verstehen gegeben (§ 39: delabitur in eas difficultates, ut necessitatem fati confirmet invitus). Es ist anzunehmen, daß er in einer abschließenden Kritik aufgezeigt hat, in welcher Weise Chrysipps Argumentation scheitert und zu einer ungewollten Bestätigung der Fatumsnotwendigkeit führt. Ausgerechnet diese wichtige Kritik ist aber allem Anschein nach in der folgenden Lacuna verlorengegangen.
19. Lacuna C In § 45 stellt Cicero die Auffassung beider Parteien mit Blick auf den Geltungsbereich des Fatums gegenüber. Während mit sed alteri censent die Libertarier, die das, was in unserer Macht liegt, frei vom Einfluß des Fatums sehen wollen, angesprochen werden, ist das korrespondierende zweite alteri in der Lücke verlorengegangen.634 Es ist anzunehmen, daß der Meinung der Libertarier direkt die der Stoiker gegenübergestellt wird, etwa in dem Sinne, daß Chrysipp im Gegensatz zu den Libertariern die Auffassung vertritt, daß sich der Geltungsbereich des (im stoischen Sinne schwachen) Fatums auch auf die Dinge erstreckt, die in unserer Macht liegen.635 Der versöhnliche Ton vor der Lücke darf nicht täuschen und zu der Vermutung Anlaß geben, daß die gesamte Untersuchung an dieser Stelle bereits ihr Ende erreicht und die Auseinandersetzung mit Chrysipp zu dem Ergebnis geführt habe, daß der stoische Standpunkt mit dem der Gegner zwar nicht im Wortlaut, aber doch in der Sache übereinstimme.636 Es gibt gute Gründe anzunehmen, daß Cicero die Lehre der Stoiker einer abschließenden Kritik unterzogen hat, um aus seiner Sicht zu zeigen, wie die kompatibilistische Strategie Chrysipps schließlich doch fehlschlägt.637 _____________ 634 Vgl. Schmekel (1892), 179 Anm. 1 (vgl. (1938), 269): „alteri vero has quoque res fato fieri“; Bobzien (1998), 321 Anm. 166: „the others (or ‚Chrysippus‘) on the other hand, claim(s) that both happen through fate“; Bayer (2000), 171: „alteri, quibus in rebus, cum proximae et adiuvantes causae antecesserint, sit in nostra potestate, ut aliter eveniant, eas fato fieri”. Lambinus (in Bayer (2000), 94) dagegen führt den Satz mit „alteri, sive hae sive illae causae antecesserint, a rebus fatum abesse“ weiter. 635 Vgl. Schmekel (1892), 179f.; (1938), 269; Yon (1950), XXXII; Platz (1973), 70; Eisenberger (1979), 166; Schröder (1990), 151; Sharples (1991), 193; Bayer (2000), 171. 636 Vgl. Lörcher (1907), 367(31)–369(33), dem Yon (1950), XXXIIf. Anm. 3 folgt; Donini (1975), 195f.; Platz (1973), 71; Talanga (1986), 138f.; Janssen (1992), 192. Valgiglio (1967/68), 327 sieht in den Paragraphen 39–45 einen Versuch der Aussöhnung. 637 Vgl. Schmekel (1892), 179; (1938), 270f.; Pohlenz (1910a), 328f.; Philippson (1934), 1035– 1037; Hunt (1954), 157; Eisenberger (1979), 165–169; Marwede (1984), 14–18, 242; Donini (1989), 141–143; Schröder (1990), 146–151; Sharples (1991), 19, 21f., 187, 190, 193f.; (1995), 256; Weidemann (2003a), 121f.
VII.19. Lacuna C
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Zum einen zeigen sich Indizien in dem erhaltenen Text. Mit Ciceros Aussage ‚Chrysipp gerät mit seiner Darlegung in solche Schwierigkeiten, daß er unfreiwillig die Fatumsnotwendigkeit bestätigt‘ (§ 39: dum autem verbis utitur suis, delabitur in eas difficultates, ut necessitatem fati confirmet invitus) wird offensichtlich, daß er den stoischen Vermittlungsversuch für völlig gescheitert hält. In welcher Weise Chrysipp gegen seinen Willen die necessitas fati doch noch bestätigt, ist im überlieferten Text nicht mehr zu lesen, so daß Cicero dem Leser gewissermaßen noch eine Erklärung für dieses Urteil schuldig bleibt. Ferner gibt das Fragment des Gellius, das aller Wahrscheinlichkeit nach in die Lacuna C einzuordnen ist (siehe VI.5.), Anlaß zu der Vermutung, daß Cicero weiterhin gegen die stoische Lehre argumentiert hat, da er Gellius zufolge betont habe, daß Chrysipp mit seinem Vermittlungsversuch in Bedrängnis gerate.638 Schließlich sieht Schröder in der vorherrschenden Diktion des überlieferten Textes die ablehnende Haltung Ciceros zum Ausdruck gebracht:639 Die Verwendung von velle in Chrysippus … voluisse (§ 39) und ut Chrysippus vult (§ 42) deute auf eine Distanzierung Ciceros hin. Der Ausdruck verbis utitur suis zeige nicht gerade Hochachtung vor Chrysipp und könne spöttisch verstanden werden. Das Possessivpronomen suum in ad cylindrum et ad turbinem suum (§ 42) lasse einen Unwillen erkennen, wenn nicht unbedingt gegenüber Chrysipp direkt, so doch zumindest gegen diese Art der Argumentation. In den Formulierungen facile a se explicari putat (§ 42) und et cylindrum volvi et versari turbinem putat (§ 42) verwende Cicero putare in der Weise, daß eine Distanz zu Chrysipps Meinung sichtbar werde. Man komme nicht umhin, „diesen Zusätzen zu entnehmen, daß die Vernichtung der chrysippischen Position noch in derselben Schrift bevorsteht“640. Zum anderen gibt es neben diesen Indizien auch noch ein sehr gewichtiges Argument, das aus der Komposition bzw. aus dem Duktus der gesamten Auseinandersetzung resultiert: Cicero argumentiert bis § 39 vehement gegen den stoischen Fatalismus und läßt nicht ein Quentchen des Entgegenkommens erkennen. Insofern wäre die vermeintlich versöhnliche Haltung gegenüber den Stoikern schon verwunderlich genug. Inhaltlich wäre die angenommene Aussöhnung nicht minder bedenklich. In seiner Argumentation gegen das Fatum setzt sich Cicero wiederholt und entschieden für den schwachen Wahrheitsbegriff ein und grenzt diesen deutlich gegen den von Chrysipp und Epikur vertretenen starken _____________ 638 Vgl. Philippson (1934), 1036; Schmekel (1938), 271; Marwede (1984), 15f.; Eisenberger (1979), 167; Schröder (1990), 147. 639 Vgl. Schröder (1990), 147–149. 640 Schröder (1990), 149.
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VII. Kommentar zu De fato
Wahrheitsbegriff ab. Sollte Cicero nun doch im stoischen Kompatibilismus eine Lösung für die Fatumsproblematik finden wollen, dann wäre die Einführung des schwachen Wahrheitsbegriffs völlig überflüssig; denn der stoische Kompatibilismus ist ja gerade vor dem Hintergrund des starken Wahrheitsbegriffs herausgearbeitet worden und bedarf so keines schwachen Wahrheitsbegriffs. Mit anderen Worten: Cicero hätte bis § 39 den schwachen Wahrheitsbegriff propagiert, der jedoch nach § 39 für die Lösung des Determinismusproblems keinerlei Anwendung fände. Man müßte dann geradezu annehmen, daß er von einem libertarischen zu einem stoisch-kompatibilistischen Standpunkt gewechselt wäre, indem er sich zweier verschiedener Quellen – einer anti-stoischen bis § 39 und einer pro-stoischen ab § 39 – bedient und diese dann ohne Berücksichtigung der offensichtlichen Widersprüchlichkeiten völlig kritiklos aneinandergefügt hätte. Auch unter Berücksichtigung der turbulenten Abfassungszeit von De fato entbehrt ein solches Vorgehen jeglicher Wahrscheinlichkeit.641 Alle vorangegangenen Überlegungen lassen vielmehr die Annahme plausibel erscheinen, daß die ausstehende Kritik an der stoischen Lehre in der Lacuna C verlorengegangen ist. Marwede nimmt an, daß Cicero in seiner Kritik etwa wie folgt gegen Chrysipp argumentiert habe:642 (1) Prämisse 1: Chrysipp sagt, es liege in der Macht des Menschen, den Ablauf bestimmter Dinge zu verändern. (2) Prämisse 2: Chrysipp sagt, alles geschehe durch das Fatum. (3) Prämisse 3: Nichts, was durch das Fatum geschieht, kann in seinem Ablauf verändert werden. (4) Wenn alles durch das Fatum geschieht, kann nichts in seinem Ablauf verändert werden. (5) Deshalb kann Chrysipp nicht gleichermaßen behaupten, daß alles durch das Fatum geschehe und daß es in der Macht des Menschen liege, den Ablauf bestimmter Dinge zu verändern. Marwedes Rekonstruktion ist allem Anschein nach durch die letzten Ausführungen vor der Lacuna motiviert und schließt sich so inhaltlich an diese an. Es scheint aber dennoch unwahrscheinlich, daß Cicero in dieser _____________ 641 Vgl. Schröder (1990), 147–149; Sharples (1995), 255 mit Anm. 38. 642 Vgl. Marwede (1984), 16f. Zur Herleitung: Aus (3) folgt (4); aus (4) und dem, was Chrysipp (2) zufolge sagt, folgt mit Modus ponens „Nichts kann in seinem Ablauf verändert werden“, was im Widerspruch zu dem steht, was Chrysipp (1) zufolge sagt. Daher kann Chrysipp, wenn er (3) annimmt, nicht zugleich das sagen, was er (1) zufolge sagt, und das, was er (2) zufolge sagt (5).
VII.19. Lacuna C
293
Weise gegen die Stoiker argumentieren wollte, denn er weist in § 39 ausdrücklich darauf hin, daß Chrysipp in ungewollte Schwierigkeiten durch seinen Versöhnungsversuch gerät, der ja gerade auf der Anwendung der Ursachenunterscheidung auf die stoische Handlungstheorie basiert. Daher ist es auch wahrscheinlicher, daß Cicero die stoische Position explizit im Zusammenhang mit den Zustimmungen und der Ursachenunterscheidung kritisiert, um zu zeigen, daß der am Zylinder-Kreisel-Gleichnis illustrierte „Mittelweg“ zu keiner Vermeidung, sondern vielmehr zu einer Bestätigung der necessitas fati führe. Auch wenn sich zwischen einer libertarischen Meinung, wie sie z. B. von den Libertariern II vertreten wird, und der von Cicero dargestellten Meinung Chrysipps eine gewisse Übereinstimmung der Art findet, daß beide Parteien in einer inneren, nicht vorausgehenden Ursache die Hauptverantwortung für einen Willensakt sehen, wird Cicero doch betont haben, daß der Sache nach ein entscheidender Unterschied zwischen der stoisch-kompatibilistischen und einer „echten“ libertarischen Position besteht. Dies kann er aus zwei Perspektiven getan haben: Wie ein äußerer Anstoß benötigt wird, um ein Objekt in Bewegung zu versetzen, so wird auch eine Vorstellung benötigt, um den Akt der Zustimmung in Gang zu setzen. Auch wenn die Vorstellung als nur notwendige Bedingung die Zustimmung nicht mit Notwendigkeit bewirkt, so stellt sie doch eine der Zustimmung vorausgehende Ursache dar, die dem Fatum unterworfen ist. Dies bedeutet, daß das Fatum an jeder Zustimmung und so auch an jeder Handlung, obschon nicht hauptverantwortlich, so doch grundsätzlich beteiligt ist. Wie die Art der Bewegung von der individuellen Form des Objektes abhängig ist, so hängen die Zustimmungen vom individuellen Charakter des Menschen ab. Zwar glaubt Chrysipp, mit dem Charakter als innerer, nicht vorausgehender Hauptursache den Zustimmungen eine gewisse Freiheit zu verschaffen, aber dadurch, daß der Charakter durch eine Vielzahl vorausgehender Kausalfaktoren vollständig determiniert ist, kommt das Fatum gewissermaßen durch die „Hintertür“ wieder herein, so daß die Zustimmungen und die daraus resultierenden Handlungen nicht wirklich frei vom Einfluß des Fatums sind.643 Der entscheidende Einwand gegen die Stoiker ist also der, daß sie den Charakter als hauptverantwortliche Ursache viel zu stark an vorausgehende Ursachen binden, so daß das Handeln des Menschen nicht frei, son_____________ 643 Vgl. Philippson (1934), 1036f., der auf die Kritik des Alexander von Aphrodisias (SVF II, 979ff.) und des Nemesios (SVF II, 991) verweist; Eisenberger (1979), 168f.; Donini (1989), 141–144; Schröder (1990), 150; Sharples (1991), 21f., 193f.; (1995), 256; Weidemann (2003a), 121f. Zu Ciceros möglicher Kritik siehe auch Schmekel (1892), 181.
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VII. Kommentar zu De fato
dern letztlich immer noch vom Fatum bestimmt ist. Aus der libertarischen Perspektive Ciceros bedeutet dies nichts anderes, als daß Chrysipp es nicht nur nicht vermochte, wirkliche innere Freiheit zu gewährleisten, sondern vielmehr die necessitas fati gegen seinen eigenen Willen bestätigt hat. Inwieweit Cicero in der Lücke noch einmal auf Epikur eingegangen ist, bleibt unsicher, da die abschließende Polemik gegen ihn erst mit § 46 zu beginnen scheint. Der Umstand, daß das inquit in § 46 kein ausgewiesenes Subjekt besitzt, mag ein Indiz dafür darstellen, daß Epikur kurz zuvor namentlich erwähnt wurde,644 auch wenn Ciceros Aussage declinat atomus so eindeutig auf Epikur zu beziehen ist, daß eine vorangegangene Namensnennung für das Verständnis nicht notwendig ist. Vielleicht hat Cicero, nach der mutmaßlichen Kritik an der stoischen Strategie, in Anlehnung an die Paragraphen 23–25 auch noch einmal Kritik an der epikureischen Strategie geübt, ohne sich aber die explizite Polemik gegen die aus seiner Sicht so inakzeptable Bahnabweichung als Abschluß nehmen zu lassen. Cicero wird es aber nicht nur bei einer Kritik belassen haben. Die Worte hoc modo hanc causam disceptari oportet, mit denen der § 46 eingeleitet wird, lassen annehmen, daß er in der Lücke noch einen eigenen Lösungsvorschlag gegen die übrigen Strategien angeführt hat. Cicero wird sich grundsätzlich gegen eine kompatibilistische Position, so wie sie in dem weichen Determinismus der Stoiker zum Ausdruck kommt, ausgesprochen haben. Selbst wenn man (mit Chrysipp) zugestehen muß, daß Charaktereigenschaften durch eine Vielzahl von vorausgehenden Faktoren bestimmt sind, so ist damit nicht auch jeder Willensakt gleichermaßen bestimmt. Cicero wird in Anlehnung an Karneades nochmals betont haben, daß der Wille die Disposition des Charakters überwinden kann (§§ 9– 11), weil eine willentliche Seelenbewegung (motus animi voluntarius) dem Willen selbst entspringt, ohne durch eine vorausgehende Ursache bedingt zu sein (§§ 23–25). Daher sind Willensakte nicht determiniert, so daß nicht alles dem Fatum unterworfen ist (§§ 31, 44).645 Nur auf dieser Basis sieht Cicero die Möglichkeit gegeben, die Willensfreiheit auch tatsächlich zu gewährleisten. Die Darstellung seiner eigenen Position wird Cicero dann mit dem Hinweis beendet haben, daß auf diese Weise das Freiheitsproblem behandelt werden müsse. Es ist angenommen worden, daß nur wenige Zeilen in der Lacuna C verlorengegangen sind.646 Allerdings muß aufgrund der vorangegangenen _____________ 644 Vgl. Eisenberger (1979), 169. 645 Vgl. Eisenberger (1979), 168f.; Donini (1989), 142f.; Sharples (1991), 193f.; Weidemann (2003a), 121f. 646 Vgl. z. B. Lörcher (1907), 368(32), dem sich Yon (1950), XXXII Anm. 3 anschließt, Leœniak (1960), 402; Magris (1994), 92 Anm. 84.
VII.20. §§ 46–48: Die abschließende Kritik an Epikur
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Überlegungen, die dafür sprechen, daß Cicero die stoische Lehre noch einer abschließenden Kritik unterzogen hat, davon ausgegangen werden, daß deutlich mehr Text als nur wenige Zeilen in der vorliegenden Lücke ausgefallen ist.647
20. §§ 46–48: Die abschließende Kritik an Epikur Cicero wendet sich nochmals Epikur zu, ohne aber inhaltlich Neues vorzutragen.648 Wie in den Paragraphen 22–23 greift er in bekannt spöttischem Ton Epikurs Theorie der Bahnabweichung als akausales Geschehen scharf an. Was soll das für eine neuartige Ursache sein, polemisiert Cicero, welche die Atome abweichen läßt – oder losen die Atome etwa untereinander aus,649 welche von ihnen abweichen sollen und welche nicht? Außerdem, warum weichen die Atome nur um ein Minimum ab und nicht um eine größere Distanz, oder warum ausgerechnet um ein Minimum und nicht um zwei oder drei? Sharples merkt zu Recht an, daß Cicero in diesem Punkt weniger als Philosoph, denn mehr als Advokat gegen die Akausalität spreche. Er sehe nicht, daß Epikur an der Bahnabweichung festhalten müsse, da andernfalls das indeterministische Element in seiner Lehre aufgehoben wäre.650 Aber mit der akausalen Bahnabweichung habe Epikur nicht nur etwas eingeführt, polemisiert Cicero weiter, was der Verstand verachte und zurückweise, sondern auch etwas, was die Existenz und die Notwendigkeit des Fatums nur noch bestätige. Die Begründung für diesen Vorwurf ist größtenteils in der folgenden Lücke verlorengegangen.
_____________ 647 Vgl. Marwede (1984), 18; Sharples (1991), 19. 648 Lörcher (1907), 370(34) nimmt an, daß Cicero in dieser Weise verfahren sei, weil er sich als Redner einen wortreichen Abschluß seiner Untersuchung gewünscht habe („orator perorationem desideravit verbosam“). 649 In ganz ähnlicher Weise formuliert Cicero seine Kritik in fin. I, 20: sive aliae declinabunt, aliae suo nutu recte ferentur, primum erit hoc quasi provincias atomis dare, quae recte, quae oblique ferantur. Für Riemann (1889), 86 Anm. 2 erklären sich die beiden Stellen gegenseitig. Boutroux (1889), 87f. sieht zwischen den beiden Darstellungen eine ‚interessante Nuance‘: Im Gegensatz zu De finibus betrachte Cicero in De fato die Einführung der Bahnabweichung vom Standpunkt Epikurs aus. Die Provinzen, die von den Konsuln und Praetoren nach Ablauf ihres Amtsjahres verwaltet werden sollten, wurden durch das Los bestimmt. Auf diese Auslosung spielt Cicero mit der Formulierung provincias atomis dare an, um das zufällige Moment bei der Bahnabweichung metaphorisch zu umschreiben. Vgl. Sharples (1991), 194. 650 Vgl. Sharples (1991), 194.
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VII. Kommentar zu De fato
21. Lacuna D Auf der Basis des noch überlieferten Textes ist anzunehmen, daß Cicero seinen Vorwurf an Epikur, daß er mit der Einführung der akausalen Bahnabweichung den kausalen Determinismus vielmehr bekräftige, etwa wie folgt begründet hat: Es sei unsinnig anzunehmen, daß die Bahnabweichung ein akausales Phänomen darstelle, denn ursachenlose Ereignisse könne es grundsätzlich nicht geben. Daher müsse auch jede Art der Atombewegung, nicht nur der geradlinige Fall, sondern auch die Bahnabweichung der Atome, auf Ursachen zurückzuführen sein und somit auch den Gesetzen der Naturkausalität unterliegen. Folglich könne die Lehre der akausalen Bahnabweichung weder die Herrschaft des Fatums brechen noch die innere Freiheit des Menschen etablieren, sondern führe im Gegenteil zu einer Bestätigung des kausalen Determinismus.651 Bereits in seinen früheren philosophischen Schriften erwähnt Cicero die Bahnabweichung und läßt dabei keine Gelegenheit aus, Epikurs Vorgehen mit despektierlichen Äußerungen zu kommentieren. In De finibus bezeichnet er die Theorie der Bahnabweichung als eine ‚kindliche‘ Erfindung, die nicht einmal das zu leisten vermag, was sie leisten soll.652 Zudem gebe es für einen ‚Naturphilosophen‘ nichts Schmählicheres als zu behaupten, daß irgendetwas ohne Ursache geschehen könne.653 In ähnlicher Weise äußert sich Cicero in De natura deorum. Die Bahnabweichung zu behaupten, sei schlimmer als das nicht verteidigen zu können, was er, Epikur, zu verteidigen beabsichtige.654 In einem ebenso spöttischen Ton mag Cicero zum Abschluß seiner Auseinandersetzung Epikur vorgehalten haben, daß jemand, der mit einer derart lächerlichen Argumentation wie der akausalen Bahnabweichung gegen die Naturnotwendigkeit vorgehen wolle, den Eindruck erwecken könnte, daß es keine besseren Argumente gegen den Determinismus gebe. Dieser werde durch eine so schlechte Argumentation mehr gestützt als widerlegt.655 Eisenberger vermutet, daß Cicero am Ende der Untersuchung von De fato – „ähnlich wie er es in De div. 2, 148 mit Bezug auf den Glauben an die Mantik als superstitio tat“ – darauf verwiesen habe, daß mit der Wider_____________ 651 652 653 654
Vgl. Eisenberger (1979), 169f.; Marwede (1984), 243; Bayer (2000), 172. Vgl. fin. I, 19: quae cum tota res ficta ÄestÔ pueriliter, tum ne efficit ÄquidemÔ, quod vult. Vgl. fin. I, 19: quo nihil turpius physico, quam fieri quicquam sine causa dicere. Vgl. nat. I, 69f. (teilw. FDS 927): ait [Epicurus] atomum, cum pondere et gravitate directo deorsus feratur, declinare paululum. hoc dicere turpius est quam illud, quod vult non posse defendere. 655 Vgl. Trendelenburg (1855), 161, der urteilt, daß Epikur mit der Einführung des grundlosen Zufalls die „scharfe Erkenntnis“, mit der er das Fatum bestreite, „selbst stumpf“ mache; Weische (1961), 34 mit Anm. 5; Sharples (1991), 195. Bayer (2000), 172 glaubt dagegen nicht, daß Cicero in dieser Weise argumentiert habe.
VII.21. Lacuna D
297
legung des stoischen Fatums nicht auch „die Götter und die religio“ aufgehoben würden.656 Vielleicht beendete Cicero seine Abhandlung mit einem kurzen Abschiedsgespräch, in dem sich Hirtius bei ihm für seine Ausführungen anerkennend bedankte.657 Wie der Anfang, so ist auch das Ende von De fato nicht überliefert. In den Handschriften wird De fato von den Topica gefolgt. Von diesen fehlt der Anfang, der aber in der Handschrift B auf einem Extrablatt erhalten ist. So wird nun vermutet, daß im Archetypus auf einem Blatt das Ende von De fato und auf der Rückseite dieses Blattes der Anfang der Topica gestanden habe. Die korrigierende Hand von B habe dann zwar den Anfang der Topica auf ein Extrablatt übertragen, aber nicht mehr das Ende von De fato. Vor dem Hintergrund dieser Überlegung wird ein Textverlust an der vorliegenden Stelle im Umfang von etwa einer Seite des Archetypus angenommen.658
_____________ 656 Vgl. Eisenberger (1979), 170. 657 Vgl. Eisenberger (1979), 170. 658 Vgl. Lörcher (1907), 370(34); Clark (1918), 336; Yon (1950), LIX; Marwede (1984), 244; Sharples (1991), 19; Bayer (2000), 172; Pimentel Álvarez (2005), XLIf. Leœniak (1960), 402 vermutet einen Verlust von mehreren Sätzen. Magris (1994), 92 Anm. 85 nimmt einen Verlust von ca. zwei Seiten an. In älteren Ausgaben findet sich zuweilen der Vermerk „Multa desunt“ (z. B. in Ramus (1554), 28; Manutius (1555), 149; Gothofredus (1588), 422; Gronovius (1692), 1284; Verburg (1724), 3288; Ernesti (1776), 736; Societas Literata (1787), 423; Schütz (1816), 483; Levée et al. (1818), 58; Le Clerc (1826), 394; Bouillet (1831), 724; Seibt (1834), 278; Mangeart (1837), 446; Nisard (1843), 274) und „Multa desiderantur“ (in Olivet (1748), 227; Lallemand (1768), 536). Siehe auch o. S. 85 Anm. 12.
VIII. Zusammenfassung In De fato stellt Cicero nicht nur die Lehrmeinungen der hellenistischen Schulen in der Diskussion um Fatum und Freiheit dar, sondern auch die Argumente, mit denen die einzelnen Philosophen ihre Meinungen begründet haben. Dabei wird in philosophisch-systematischer Hinsicht deutlich, wie sich die Fatumsdiskussion gleichermaßen auf alle drei Teildisziplinen bezieht, in welche die Philosophie in der hellenistischen Zeit eingeteilt wurde, d. h. auf die Physik, auf die Ethik und auf die Logik. Da die in dieser Diskussion vorgebrachten Argumente teilweise nur von Cicero überliefert sind, stellt De fato eine wertvolle Quelle für die Philosophie in der hellenistischen Epoche dar. Cicero begnügt sich aber nicht damit, die Argumente der Stoiker und der Epikureer darzustellen und zu widerlegen, sondern er stellt diesen Philosophen in Anlehnung an die Neue Akademie auch konstruktiv seine eigene Meinung entgegen. Gerade auf dem Gebiet der Logik kommt ihm das große Verdienst zu, den zu seiner Zeit noch unüblichen schwachen Wahrheitsbegriff ausführlich dargelegt und dem starken Wahrheitsbegriff gegenüberstellt zu haben. Die von Cicero dargestellten Lehrmeinungen der einzelnen Schulen lassen sich aus der heutigen Perspektive wie folgt zusammenfassen, systematisch einordnen und evaluieren. Chrysipp versucht, der Fatumsnotwendigkeit (necessitas fati) zu entkommen, indem er eine Ursachenunterscheidung einführt, die auch notwendige Bedingungen als Ursachen in die stoische Kausaltheorie integriert. Somit existieren Ursachen (causae), die zwar vorausgehend (antecedentes), nicht aber mit Notwendigkeit wirkend (necessariae) sind. Chrysipp gibt damit eine nur schwache Vorstellung vom Fatum zu erkennen, kann aber weiterhin an diesem und somit am Kausalitätsprinzip festhalten, ohne aus seiner Sicht gleichzeitig zugestehen zu müssen, daß sich jegliches Geschehen mit Notwendigkeit vollzieht (§§ 39, 41–43). Mit der Akzeptanz des sich im Fatum manifestierenden Kausalitätsprinzips sind die Stoiker auch auf die Akzeptanz des Bivalenzprinzips festgelegt, da sich aus ihrer Perspektive beide Prinzipien gegenseitig bedingen (§§ 20–21). Dem logischen Determinismus, der sich vor dem Hintergrund der starken Wahrheitsauffassung aus der uneingeschränkten Akzeptanz des Bivalenzprinzips ergibt, versuchen die Stoiker dadurch zu entkommen, daß ihre
VIII. Zusammenfassung
299
temporalisierte Modallogik Aussagen (ɒǘǓʰǖNjǞNj) kennt, die ihren Wahrheitswert wechseln (ǖǏǞNjǚʇǚǞǙǗǞNj) oder sogar vollständig ‚vergehen‘ (ǠǒǏʇǛǏǝǒNjǓ) können (siehe VII.7.a., VII.5.g.). Ferner haben sie auf der Basis abstraktiver Modalitäten eine Modaltheorie entwickelt, die auch kontrafaktische Möglichkeiten umfaßt (§ 13, siehe VII.5.e.). Auf der Grundlage dieser Strategien sieht Chrysipp eine Vereinbarkeit von Schicksal und Freiheit gegeben. Da aber der stoischen Freiheit der Gedanke des ungehinderten bzw. des unerzwungenen Handelns (d. h. der Gedanke der Handlungsfreiheit), nicht aber der Gedanke der Wahl zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten (d. h. der Gedanke der Willensfreiheit) zugrunde liegt, ist diese Freiheitsvorstellung für Cicero viel zu schwach. Epikur versucht, den deterministischen Konsequenzen des Atomismus zu entkommen, indem er eine Bahnabweichung der Atome als akausales Phänomen einführt, wodurch er die Allgemeingültigkeit des Kausalitätsprinzips beschneidet (§§ 18, 22–23, 46–48). Da Epikur das Kausalitätsprinzip nicht als uneingeschränkt gültig betrachtet, ist er, anders als die Stoiker, auch nicht darauf festgelegt, das Bivalenzprinzip uneingeschränkt zu akzeptieren. Vielmehr spricht er diesem ganz bewußt die Gültigkeit für kontingente zukunftsbezogene Aussagen ab, um den logischen Determinismus abzuwenden (§§ 21, 28, 37–38), dem er sich ohne Beschneidung des Bivalenzprinzips auf der Basis der von ihm vertretenen starken Wahrheitsauffassung ausgesetzt sieht.1 Nur mit der Einschränkung sowohl des Kausalitätsprinzips als auch des Bivalenzprinzips hält es Epikur also für möglich, eine starke innere Freiheit gegen das von ihm als stark verstandene Fatum zu verteidigen. Für Cicero indes stellt die Beschneidung dieser beiden Prinzipien ein gänzlich inakzeptables Vorgehen dar. Karneades, dessen Meinung Cicero sich zu eigen macht, hat ebenfalls eine starke Auffassung von Fatum und Freiheit. Dem kausalen Determinismus begegnet Karneades mit einer Unterscheidung zwischen äußeren, vorausgehenden und inneren, nicht vorausgehenden Ursachen. Zu letzteren Ursachen zählt der Wille, dessen Akte nicht durch vorausgehende Ursachen, sondern durch ihn selbst verursacht werden (§§ 23–25). Daher gibt es Ursachen, die einem bewirkten Ereignis nur „zufällig“ vorausgehen. Sie sind in dem Sinne als „zufällig“ zu verstehen, daß sie keine Glieder einer ewigen, sich mit strenger Notwendigkeit vollziehenden Ursachenverkettung sind (§§ 19, 28). Was letztlich die eigentliche Ursache für ein Ereignis darstellt, kann erst aus der Retrospektive erkannt werden, nachdem das Ereignis eingetreten ist (§§ 34–37). Den logischen Determi_____________ 1
Vermutlich hat Epikur nicht nur die Allgemeingültigkeit des Bivalenzprinzips, sondern auch die Allgemeingültigkeit des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten in Frage gestellt. Siehe hierzu o. S. 218 Anm. 419.
300
VIII. Zusammenfassung
nismus kann Karneades umgehen, indem er eine schwache Wahrheitsauffassung vertritt, der zufolge die Wahrheit zukunftsbezogener Aussagen nur daran gebunden ist, daß das, wovon ausgesagt wird, daß es eintreten werde, in dem sich tatsächlich realisierenden Weltverlauf auch eintreten wird (§§ 17–20, 26–28), und nicht daran, daß bereits in der Gegenwart Ursachen vorliegen, die sein Eintreten garantieren. Die verschiedenen Standpunkte können somit wie folgt zusammengefaßt werden: Karneades/ Cicero Kausalitätsprinzip uneingeschränkt eingeschränkt uneingeschränkt Wahrheitsbegriff stark stark schwach Bivalenzprinzip uneingeschränkt eingeschränkt uneingeschränkt Fatumsbegriff schwach stark stark Freiheitsbegriff schwach stark stark Chrysipp
Epikur
Die Stoiker kennen wie die Neuakademiker äußere, vorausgehende und innere, nicht vorausgehende Ursachen. Aufgrund ihrer monistischmaterialistischen Weltsicht ist für die Stoiker aber jede Ursache eine materielle Ursache, so daß sie nur eine Art der Kausalität kennen, die als Natur- oder Ereigniskausalität beschrieben werden kann. Nun scheinen die Stoiker angenommen zu haben, daß jedes Geschehen durch die Kooperation einer inneren mit mindestens einer äußeren, vorausgehenden Ursache bedingt wird. Allerdings verhält es sich nicht so, daß jede vorausgehende Ursache immer auch eine mit Notwendigkeit wirkende Ursache ist. Dieser Umstand ist bei der Verursachung einer Zustimmung von entscheidender Bedeutung: Der Akt der Zustimmung wird zwar durch eine Vorstellung als eine äußere, vorausgehende Ursache angeregt, aber die Hauptverantwortung für die Zustimmung liegt im individuellen Charakter als einer inneren, nicht vorausgehenden Ursache begründet. Die Verantwortung für die aus der Zustimmung resultierende Handlung läßt sich somit auf ein innerhalb der Person liegendes Prinzip und nicht auf eine äußere, sich ewig mit Notwendigkeit vollziehende Ursachenverkettung zurückführen, wie es ein harter Determinist annehmen müßte. Diese innere, nicht vorausgehende Ursache, die der individuelle Charakter darstellt, kann aber der stoischen Lehre gemäß kein außerhalb des allumfassenden Kausalgefüges und damit außerhalb des Fatums liegendes Prinzip darstellen. Wie alles andere ist auch der Charakter des Menschen in das allumfassende und die Welt ordnende Ursachengeflecht eingebunden. Für Chrysipp hat die uneingeschränkte Akzeptanz des Kausalitätsprinzips somit eine deterministische Konsequenz. Da er aber auf der Basis seiner Ursachenunterschei-
VIII. Zusammenfassung
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dung die Hauptverantwortung für das Handeln auf ein im Menschen liegendes Prinzip zurückführt und die menschliche Freiheit als ungehindertes Handeln versteht, ist seine Position nur als weicher Determinismus zu bezeichnen. Karneades und Cicero wollen wie die Stoiker an der uneingeschränkten Gültigkeit des Kausalitätsprinzips festhalten. Wenn sie vor diesem Hintergrund ebenfalls nur eine einzige Art der Kausalität, nämlich die Natur- oder Ereigniskausalität, vor Augen hätten, müßten sie auch eine Determinierung des Weltgeschehens durch eine lückenlose Kausalverknüpfung annehmen, so daß sie zugestehen müßten, daß das Kausalitätsprinzip mit einer starken Freiheitsvorstellung inkompatibel ist. Nun nehmen die Neuakademiker aber unter Berufung auf die besondere Beschaffenheit des Willens an, daß ein Willensakt unbeeinflußt von der Naturkausalität nur dem Willen selbst entspringt. Somit kennen die Neuakademiker neben der Natur- oder Ereigniskausalität auch noch eine weitere Art der Kausalität, die als Agenskausalität bezeichnet werden kann.2 Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Schulen liegt also in ihrer Auffassung davon, wie die für eine Handlung maßgebliche innere Ursache wirkt. Für die Stoiker ist der Charakter als innere Ursache in das kausale Netzwerk eingebunden, indem er seinerseits durch vorausgehende Ursachen bestimmt ist – hier setzt vermutlich die Kritik Ciceros an – und in Kooperation mit einer vorausgehenden Ursache (der Vorstellung) verantwortlich für das Geben oder Verwehren einer Zustimmung ist. Die Stoiker verstehen das Wirken der inneren Ursache also ereigniskausal. Für die Neuakademiker hingegen ist die innere Ursache der Wille, dessen Akte ihm selbst entspringen. Der Wille ist somit nicht in ein kausales Netzwerk eingebunden und läßt sich auch nicht weiter auf vorausgehende Ursachen zurückführen. Mit einem Willensakt ist der Handelnde vielmehr in der Lage, eine neue Kausalreihe zu beginnen. Daher verstehen die Neuakademiker das Wirken der inneren Ursache nicht ereigniskausal, sondern agenskausal. Für die Stoiker ist die Annahme einer Agenskausalität vor dem Hintergrund ihrer philosophischen Maximen nicht möglich. Während aus ihrer Sicht ein agenskausales Wirken ein akausales Phänomen darstellen würde, sehen die Neuakademiker mit der Annahme eines agenskausalen Wirkens sehr wohl das Kausalitätsprinzip gewahrt. Im Gegensatz zu Chrysipp resultiert daher für die Neuakademiker aus der uneingeschränkten Akzeptanz des Kausalitätsprinzips keine deterministische Position. Da sie aber die Naturkausalität uneingeschränkt anerkennen und nicht, wie Epilur, eine indeterministische Physik fordern, ist der von ihnen _____________ 2
Zu dieser modernen Unterscheidung siehe Meixner (1999). Für den Vorschlag, sie hier heranzuziehen, sei Prof. Dr. H. Weidemann gedankt.
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VIII. Zusammenfassung
vertretene Indeterminismus nur als schwach zu bezeichnen. Durch das von ihnen in der beschriebenen Weise verstandene Kausalitätsprinzip können die Neuakademiker sowohl die Forderung nach einer starken Willensfreiheit im libertarischen Sinne als auch die Forderung nach einem uneingeschränkt gültigen Kausalitätsprinzip aufrechterhalten. Somit vertreten sie einen libertarischen Kompatibilismus, der als weicher Indeterminismus bezeichnet werden kann.3 Epikur scheint neben der Naturkausalität noch eine gewisse Art der psychischen Autonomie bzw. Kausalität anzunehmen, wobei unklar bleibt, wie genau er diese Annahme in seine atomistische Lehre eingearbeitet hat. Allerdings wird er dieses psychische Phänomen nicht in der Weise interpretiert haben, daß es völlig unabhängig von der physisch-empirischen Welt bzw. vom Wirken der Naturkausalität anzusehen ist, wie die Neuakademiker annehmen. Epikur schränkt ja gerade das Kausalitätsprinzip mit der Einführung einer akausalen Bahnabweichung ein, weil er die uneingeschränkte Gültigkeit des Kausalitätsprinzips für inkompatibel mit seiner offensichtlich libertarischen Position hält. Dadurch, daß er auch einen Indeterminismus in der physisch-empirischen Welt voraussetzt, vertritt Epikur einen starken Indeterminismus. Er vertritt, mit anderen Worten, einen libertarischen Inkompatibilismus, der als harter Indeterminismus bezeichnet werden kann.4 Zusammengefaßt ergibt sich folgende systematische Einteilung der einzelnen Lehrmeinungen:5 weiche Position Kompatibilismus
harte Position Inkompatibilismus
libertarische Position
Karneades / Cicero (weicher Indeterminismus)
Epikur (harter Indeterminismus)
nichtlibertarische Position
Chrysipp (weicher Determinismus)
Demokrit (?)6 (harter Determinismus)
_____________ 3 4 5 6
Diese Position hat eine nicht unerhebliche Ähnlichkeit mit der Auffassung Kants, wie er sie in der „Auflösung der Dritten Antinomie“ (KrV, A542/B570–A558/B586) darlegt. Vgl. Henry (1927), 35; Greene (1963), 365; Weidemann (2003a), 122 Anm. 39. Vgl. Meyer (1998), 223. Vgl. Weidemann (2003a), 124; siehe auch Sharples (1987a), 212–215. Demokrit wird von Cicero eine solche Haltung zugeschrieben (§ 39). Ferner scheint der Umstand, daß Epikur sich veranlaßt sah, Demokrits Lehre zu modifizieren, darauf schließen zu lassen, daß er die Position seines Lehrers als zu deterministisch erachtete. Siehe auch o. S. 173 Anm. 289 und S. 221f. Anm. 427.
VIII. Zusammenfassung
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Cicero hat dargelegt, wie die verschiedenen Schulen jeweils ihre eigenen Strategien entwickelt haben, um Freiheit und moralische Verantwortlichkeit des Menschen gegen das Fatum zu verteidigen. Jede dieser Strategien weist gewisse Vorteile, aber auch gewisse Nachteile auf. Den Stoikern ist zugute zu halten, daß sie sich als bekennende Fatalisten des Problems der menschlichen Freiheit und Verantwortlichkeit bewußt sind und sich der Herausforderung stellen, dieses Problem innerhalb ihrer kosmologischen Prämissen zu lösen. Dabei führen sie vor dem Hintergrund ihrer monistischen und kausal-deterministischen Weltsicht weder dualistische noch auf Akausalität rekurrierende Erklärungsmodelle an. Doch der Vorteil, eine Kompatibilität des Kausalitätsprinzips, das sich im Wirken des Fatums manifestiert, mit der menschlichen Freiheit zu gewährleisten, ohne dabei auf derartige Erklärungsmodelle zu rekurrieren, wird mit dem Preis einer schwachen menschlichen Freiheit bezahlt. In der Lehre der Stoiker ist kein Platz für eine innere Freiheit, die einem Menschen die Möglichkeit gäbe, in ein und derselben Situation eine alternative Entscheidung zu treffen. Für die Stoiker erschöpft sich Freiheit in Handlungsfreiheit. Von ihrem Standpunkt aus handelt eine Person dann frei, wenn keiner der Abläufe, die bei der Ausführung einer Handlung beteiligt sind, erzwungen ist – gleichwohl sind alle Abläufe determiniert. In ihren Augen vollzieht sich freies menschliches Handeln so, wie z. B. ein Zylinder die Schräge herunterrollt. Doch wenn menschliche Freiheit nicht mehr darstellt als das Phänomen, das in dem Vergleich mit einem ungehindert rollenden Zylinder zum Ausdruck kommt, dann ist der Name „Freiheit“ wohl kaum gerechtfertigt. In der neuakademischen Strategie findet sich der anerkennenswerte Gedanke, daß die Ursache für einen Willensakt in der selbstverursachenden Natur des Willens liegt. Damit stellen Karneades und Cicero heraus, daß das Wirken des Willens als eine besondere Form der Kausalität, nämlich als eine Agenskausalität verstanden werden muß, die weder auf das Wirken physischer Prozesse zurückgeführt werden kann noch soll. Diese Willensvorstellung bietet den Vorteil, daß eine „echte“ Willensfreiheit begründet werden kann, da der Wille durch seine besondere Wesensart von der Naturkausalität in der physisch-empirischen Welt unbeeinflußt ist. Allerdings ist es nicht unproblematisch, den Willen in dieser Weise autonom zu setzen und von der physisch-empirischen Welt abzutrennen. Der Wille soll zwar keine Beeinflussung durch die in der physisch-empirischen Welt wirkende Naturkausalität erfahren, auf der anderen Seite hingegen kausal auf ebendiese physisch-empirische Welt einwirken können.7 Wenn _____________ 7
Die Annahme, daß der Wille diese Eigenschaften aufweist, scheint sich für die Akademiker unmittelbar aus der besonderen Fähigkeit der Seele anzuleiten. Siehe hierzu o. S. 66–68.
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VIII. Zusammenfassung
der Wille nun aber in der physisch-empirischen Welt seine Wirkung entfalten soll, dann setzt das voraus, daß die Ereignisse in der physischempirischen Welt nicht völlig durch die Naturkausalität determiniert sein dürfen, da andernfalls eine Einflußnahme des Willens überhaupt nicht möglich wäre. Mit anderen Worten: Mit der Annahme eines freien Willens muß eine zumindest partiell indeterministische Physik vorausgesetzt werden, die es den Willensakten überhaut erst ermöglicht, auch in der physisch-empirischen Welt wirksam zu werden. Daß Karneades und Cicero diese physische Voraussetzung für einen freien Willensakt nicht ausreichend genug berücksichtigt haben, erweist sich als Nachteil ihrer Strategie. Eine zumindest partiell indeterministische Physik stellt eine notwendige Bedingung für die innere Freiheit dar. Epikur bietet in seiner Strategie den Vorteil, daß er gerade diese physische Voraussetzung für einen freien Willensakt berücksichtigt, indem er mit der Einführung der akausalen Bahnabweichung eine indeterministische Physik zu gewährleisten versucht. Ginge Epikur nun davon aus, daß eine Bahnabweichung nichts anderes als die Möglichkeit zum Ausdruck bringen soll, daß ein Willensakt auf das atomare Geschehen einwirkt, so könnte er gewissermaßen am Kausalitätsprinzip uneingeschränkt festhalten, indem er darauf verwiese, daß diese besondere Bahnabweichung nicht durch eine physische, aber sehr wohl durch eine psychische Ursache bedingt und so, ähnlich wie bei Karneades und Cicero, nicht akausal zu verstehen ist. Diese Möglichkeit ist ihm aber offensichtlich nicht ausreichend genug, denn er fordert sich ständig vollziehende Bahnabweichungen, auch ohne vorausgegangenen Willensakt, so daß die Bahnabweichungen dann als echte akausale Phänomene zu verstehen sind. Aus physikalischer Sicht ist die Annahme solcher Phänomene kaum haltbar, und aus philosophischer Sicht ist auch zu fragen, was eigentlich mit der Forderung nach permanenten akausalen Bahnabweichungen gewonnen wird, wenn doch die Forderung ausreichen würde, daß die Atome durch einen Willensakt beeinflußt werden können. Den Nachteil an Epikurs Strategie stellt also nicht die Tatsache dar, daß er die Bahnabweichungen überhaupt eingeführt hat, sondern der Umstand, daß er sie als permanente akausale Phänomene eingeführt hat. Keine der an der hellenistischen Fatumsdebatte beteiligten Schulen vermochte somit das Problem der menschlichen Freiheit völlig überzeugend zu lösen. Dabei muß jedoch zugestanden werden, daß ein „unanfechtbarer Beweis“ weder für die deterministische noch für die libertarische Position geführt werden kann. Nicht einmal die subjektive Introspektion vermag dem Einzelnen letztlich darüber Auskunft zu geben, ob sein Wille nun tatsächlich frei ist oder nicht. Das, was die verschiedenen Schulen erreichen konnten, ist, eine philosophische Grundlage dafür
VIII. Zusammenfassung
305
zu schaffen, daß die Freiheit des Menschen, sei es in einer starken, sei es in einer schwachen Form, innerhalb ihrer philosophischen Systeme überhaupt einen Platz finden konnte. Aber auch ohne einen unanfechtbaren Beweis ist für Cicero die Willensfreiheit völlig evident. Daß er sich ihrer gewiß ist, ist durch zwei Aspekte motiviert:8 Der Mensch erfährt sich selbst als ein freies Individuum, das mit seinen Entscheidungen und seinem Handeln seine eigenen Geschicke sowie zukünftige Ereignisse beeinflussen kann. Diese Selbsterfahrung erscheint Cicero zu stark, als daß ein möglicher Determinismus angenommen werden könnte (§§ 9–11, 31). Willensfreiheit muß als Bedingung für die moralische Verantwortlichkeit des Individuums angenommen werden, denn nur auf dieser Grundlage sind ethische Überlegungen möglich sowie Lob und Strafe gerechtfertigt. Andernfalls verlören die Gesetze als Fundament des menschlichen Zusammenlebens ihren Sinn. Mit diesem Gedanken steht Cicero ganz in der antideterministischen Tradition des ethischen Arguments (§ 40). Nachdem die Willensfreiheit als Prämisse gesetzt ist, kann aus Ciceros Sicht mit einem einfachen Schluß die Allmacht des Fatums endgültig widerlegt werden (§ 31): Wenn alles durch das Fatum geschieht, dann liegt der Wille nicht in unserer Macht. Nun liegt der Wille aber in unserer Macht. Also geschieht nicht alles durch das Fatum. An der logischen Korrektheit dieses Schlusses besteht kein Zweifel. Inwieweit er auch als stichhaltig betrachtet wird, d. h., inwieweit der letztlich nicht zu beweisenden zweiten Prämisse Gültigkeit zugesprochen wird, hängt von der Überzeugung und dem Vertrauen des Urteilenden ab. Cicero jedenfalls – dies hat er in seiner Auseinandersetzung mit dem Fatum deutlich gemacht – vertraut unerschütterlich auf die Existenz der Willensfreiheit. _____________ 8
Vgl. Henry (1925), 68–71, 73; (1927), insbesondere 32f., 35, 40–42.
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X. Indizes 1. Abkürzungen AvA CAG CSEL DK DL E EK FDS Forcellini HistWb K LS M OLD RAC RE Roscher SE AM SE PH SSR SVF Th TLL
: Alexander von Aphrodisias Commentaria in Aristotelem Graeca Corpus scriptorum ecclesiasticorum Latinorum : Die Fragmente der Vorsokratiker. Hrsg.: H. Diels, W. Kranz : Diogenes Laërtios, Leben und Meinungen berühmter Philosophen : Epicurea. Hrsg.: H. Usener : Posidonius. The Fragments. Hrsg.: L. Edelstein, I. G. Kidd : Die Fragmente zur Dialektik der Stoiker. Hrsg.: K. Hülser : Lexicon totius Latinitatis. Hrsg.: E. Forcellini, J. Furlanetto, F. Corrandi, J. Perin. : Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg.: J. Ritter : Karneades. Fragmente. Hrsg.: B. Wiœniewski : The Hellenistic Philosophers. Hrsg.: Anthony A. Long, David N. Sedley : Die Megariker. Kommentierte Sammlung der Testimonien. Hrsg.: K. Döring : Oxford Latin Dictionary. Hrsg.: A. Souter, J. M. Wyllie, P. G. W. Glare u. a. : Reallexikon für Antike und Christentum. Hrsg.: Th. Klauser, E. Dassmann (Begr.: Franz Joseph Dölger) : Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Hrsg.: A. Pauly, G. Wissowa : Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie Hrsg.: W. H. Roscher : Sextus Empiricus, Adversus mathematicos/Gegen die Wissenschaftler . : Sextus Empiricus, ƻǟǛǛʰǗǏǓǙǓ ȰǚǙǞǟǚʰǝǏǓǜ (Pyrrhoniae institutiones)/Grundriß der pyrrhonischen Skepsis : Socratis et Socraticorum reliquiae. Hrsg.: G. Giannantoni : Stoicorum veterum fragmenta. Hrsg.: H. von Arnim : Poseidonios. Die Fragmente. Hrsg.: W. Theiler : Thesaurus linguae Latinae
346
X. Indizes
2. Index Locorum Die Verweise werden in der Form „Seite.Anmerkung“ angegeben. Verweise im Fettdruck geben Stellen an, an denen ein Zitat von mindestens drei Wörtern vorliegt.
AELIANUS Varia historia III, 45
103.116
AËTIOS Placita I, 27.5 I, 28.4 II, 3.1.
23.23 12.14 27.44
ALCINOOS (Albinos) Didaskalikos XXVI 56, 59 ALEXANDER VON APHRODISIAS De fato VI, 171.11–16 112.148 VII, 171.26–27 132.200 127.183 X, 176.14–18 X, 176.14–24 129.189 X, 176.14–178.7 128.186, 130.194 X, 176.18–27 130.195 X, 176.21–22 252.527 X, 177.2–5 258.539 X, 177.7–178.7 131.196, 157.265, 258.539 XI, 178.8–180.2 259.541 XI, 179.16–17 246.510 XII, 180.3–181.7 259.541 XIII 258.538 XIII, 181.7–14 136.209 XIII, 181.13–14 260.545 XIII, 181.13–182.20 253.529, 254.531, 255.533 XIII, 181.21–25 258.539 XIII, 181.23 257.535 XIV, 183.21–184.20 229.459 XV, 185.7–11 130.192, 260.544, 260.545 XV, 185.8 260.543 XV, 185.17–18 246.510 XV, 185.31–186.2 259.541 XVI, 186.20–187.8 197.363
XVI, 186.27–28 XVIII, 188.17–189.8 XIX, 189.9–190.19 XX, 190.19–191.2
260.545 259.541 259.541 66.187, 189.349, 259.541, 260.545 XX, 190.26–191.2 229.460 XXI, 191.5–6 132.200 XXI, 191.17–23 197.363 XXII, 191.30–192.1 24.24 XXII, 191.30–192.28 23.23 XXII, 192.8–9 4.1, 248.512 XXII, 192.8–25 24.25, 66.187, 130.193, 189.349, 260.544 XXII, 192.17–19 240.476 XXII, 192.21–24 260.545 XXII, 192.21–25 130.192, 252.527 XXII, 192.23–24 260.543 XXX, 200.12–201.30 208.385 132.200 XXX, 200.14–15 XXXI 60 XXXI, 201.32–202.2 113.151 30.58 XXXI, 202.4–8 XXXIII, 205.13–22 259.541 XXXIV, 205.22–206.30 229.460 XXXIV, 206.4 132.200 XXXV, 207.5–21 143.223 XXXVI, 208.3–209.2 254.531 XXXVI, 209.18–210.14 229.460 XXXVI, 209.25 132.200 XXXVII, 210.15–28 143.223 In Arist. Anal. pr. 177.25–178.8 139.215 18.10, 125.178 183.34–184.6 184.6–184.10 124.175, 124.176 404.23–24 148.242 153.259 402.1–405.16 Quaestiones I.4, 8.31–9.32 128.186 I.4, 9.5–8 127.183 I.4, 10.8–15 131.196 I.4, 10.10 257.535 127.183 I.4, 11.4–6
347
X.2. Index Locorum AMMONIOS In Aristotelis De interpretatione commentarius 131.20–132.7 197.361
CATO De agri cultura 141
119.170
PS.-APULEIUS De Interpretatione 177.11–31
CELSUS De Medicina II, 6
101.104
CHALCIDIUS In Timaeus 144 153 160f. 161
23.23 60 229.460 113.151
153.259
ARISTOTELES Analytica Priora I, 15a5–12 De Interpretatione 9, 18b31–33 Ethica Nicomachea III, 7 Metaphysica Ɔ3 Ɖ 3, 1046b29–32 AUGUSTINUS De civitate dei V, 1 V, 2 V, 5 V, 8 V, 9 V, 9–11 V, 10 De vita beata I, 1 AUGUSTUS Res Gestae 1.4
139.214 197.360 222.430, 229.460 222.430 209.389
151.251 26.38, 45, 101.103 26.38 11.12, 45, 46.76, 259.540 172.285, 258.539 208.385 258.539 87.29
35.6
MARC AUREL Meditationes (ad se ipsum) XII, 14.1 256.534 BOETHIUS In librum Aristotelis De interpretatione III 9, 194.23–195.2 131.195 III 9, 197.10–26 127.183 109.139 III 9, 197.24–26 III 9, 217.21 256.534 III 9, 234.10–12 124.175 III 9, 234.22–24 125.178 III 9, 234.22–26 18.10 III 9, 234.27–235.1 127.183 V 12, 393.12–20 127.183 Philosophiae consolatio IV, pr. 6.16 256.534
CICERO Academica Posteriora (Ac. I) 5 55.122 13 50.92, 63.173 49.87 15–42 17 50.97 18 50.97 29 52.105 30 87.28 40 226.443 43 50.95, 51.100 89.41 43–46 45 240.479 46 28.50, 36.9 Academica Priora (Ac. II) 5–7 93.55 7–9 89.41 8 64.176 11f. 58.146 11–60 49.87 12 49.86 15 50.91, 50.97 18 54.114, 226.443, 226.446 24 227.452, 233.469 30 54.112 37 54.115, 54.117, 227.449, 240.479 38 254.531 39 54.117, 233.469 44 263.557 69 56.127 69f. 50.91 70 50.92 77 226.446 91 142.220, 145.228 95 88.33 96 142.220, 144.227, 146.237
348
X. Indizes
97 98 107 108 113 115 119 120f. 121 126 132 134 137 142f. 143 145 Brutus 57 120 306 309 315 Cato maior de senectute 10–13 15 39 61 De divinatione I, 4 I, 5 I, 6 I, 7 I, 8–11 I, 11 I, 12 I, 13 I, 23 I, 79 I, 82f. I, 83 I, 87 I, 100 I, 118 I, 125 I, 126 I, 127 I, 130 II, 1 II, 3 II, 9f.
55.123, 218.419 142.220, 144.227, 25.31 228.456, 233.469, 238.475 75.230 74.228 56.127 65.182 64.176, 104.120 53.109 56.127, 56.129 64.176 56.128 53.111, 55.124 115.157, 146.237 227.451 76.237 92.54 75.229 74.228 49.85, 75.230 76.237 76.237 76.237 76.237 114.152 53.108 23.22, 25.30, 25.31 65.184 93.62 93.56 25.31 101.104 66.185 105.123 113.151, 151.252 143.223 36.9 10.3 147.240 11.11, 25.33, 44, 86 147.240, 151.251 2.10, 2.11, 5.2, 5.4, 35.8, 41.50, 129.190, 133.201, 208.384 118.167 63.174 2.9, 2.12, 38.28, 41.50 29.56
II, 9–12 II, 14 II, 15–18 II, 18 II, 19 II, 20–22 II, 21 II, 23 II, 33 II, 34 II, 40 II, 41 II, 60f. II, 71 II, 85–99 II, 87–98 II, 87–99 II, 88 II, 92 II, 93 II, 101f. II, 102 II, 115 II, 124 II, 128 II, 130 II, 139 II, 142 II, 143 II, 145 II, 148 De fato 12 13 14 15 16 17 18 22 22f. 40 41 46 46–48 De finibus I, 1 I, 1–3 I, 5 I, 6 I, 16 I, 17–21
114.152 208.386 208.385 209.388 2.11 30.57 2.10, 113.151 38.29 100.94, 101.102, 101.105 100.94, 100.97 27.45 113.151 4.1 119.170 65.179 29.56 53.110 25.31 100.94 118.167 113.151, 151.252 143.223 101.107 100.94 67.192 115.154 67.192 100.94, 101.104 100.94 101.104 296 142.220, 145.228 18.10 122.173, 142.220, 144.227 142.220, 144.227, 145.228 142.220, 144.227, 145.228 18.10 177.306 175.299 177.306 229.460 240.476 175.299 177.306 93.56 93.55 210.391 73.218 74.225, 74.226 174.290
349
X.2. Index Locorum I, 18f. I, 19 I, 19f. I, 20 I, 22 I, 28 I, 48 II, 2 II, 94 III, 16 III, 23 III, 41 IV, 8 IV, 37 IV, 55 IV, 68 IV, 77 V, 1 V, 3 V, 7 V, 8 V, 10 V, 17 V, 36 V, 75 V, 76 V, 78 V, 80 De inventione I, 1 I, 47 I, 91 De legibus I, 22f. I, 53 I, 55 II, 32 De natura deorum I, 1 I, 6 I, 11 I, 15–17 I, 16 I, 18 I, 37 I, 39 I, 40 I, 55 I, 69 I, 69f.
174.293, 187.346 176.303, 187.345, 187.346, 187.347, 296.652, 296.653 177.306, 186.342 175.301, 295.649 87.28 177.306 273.595 95.68 215.410 240.479 227.452 51.102 87.28 46 55.125 55.125 271.583 75.230 74.225 50.97, 93.58 75.230, 75.231 55.122 227.452 54.117 75.231 64.176, 64.177 273.596 263.557
I, 70 I, 73 II, 17 II, 21 II, 22 II, 32 II, 42 II, 44 II, 47 II, 57f. II, 58 II, 75 II, 168 III, 14 III, 19 III, 23 III, 26 III, 28
III, 29–34 III, 38f. III, 65–93 III, 75 III, 92 De officiis I, 6 I, 101 I, 129 II, 2 II, 4 II, 7f. 93.58 II, 18 148.243 II, 60 210.391 III, 3 III, 7 52.106 III, 20 74.225 III, 81 51.100 De oratore 113.151 I, 20 I, 43 87.29 I, 104 25.29, 74.227, 74.228, I, 176 75.229, 75.230 I, 248 90.47 II, 5 93.62 II, 92 49.86, 50.96, 51.101, 52.107 II, 170 27.43, 27.45 65.180 III, 55 65.180, 257.537 III, 142 257.537 De re publica 11.11, 257.537 II, 34 175.299, 177.306, 186.342 VI, 27f. 296.654 VI, 28
187.345, 218.419 177.306 105.123 65.180 24.24 67.192 105.123 70.207 65.180 23.23 227.452 23.23 92.54 11.11, 30.57 2.9, 41.50 65.181 118.167 65.183, 100.94, 101.106, 104.119 29.55 29.55 29.55, 65.182 210.391 151.251 65.178, 74.219 227.452 273.596 93.55 93.56 64.176, 64.177 227.452 65.178, 74.220 172.286 65.178, 74.221 64.176, 64.177 240.479 93.58 105.121 75.231 208.386 273.596 93.58 70.207 158.267 93.58 93.58 128.184 67.189 67.192
350
X. Indizes
Epistulae ad Atticum II, 20.6 VII, 4.2 XII, 40(44).1 XII, 41(46).4 XII, 44(48).1 XII, 52.3(57.2) XIII, 8 XIII, 12(24).3 XIII, 13(25).1 XIII, 16(27).1 XIII, 19(29).3f. XIV, 8.1 XIV, 9.2 XIV, 10.3 XIV, 11.2 XIV, 12.2 XIV, 15.3 XIV, 17.1 XIV, 18(19).4 XIV, 20.1 XIV, 20.4 XIV, 21.4(3) XIV, 22.1 XV, 1a(2).1 XV, 1.2 XV, 3(5).1 XV, 4(6).2 XV, 5(9).1 XV, 6(8).1 XV, 6(8) XV, 11(14) XV, 12(15) XV, 14(26).4 XV, 19(20) XV, 25(27) XV, 26(28).3 XV, 27(29).2 XVI, 2(4).6 XVI, 3(5).1 XVI, 11.4 Epistulae ad familiares VII, 33.1 IX, 4(6)
75.235 37.19 36.17, 38.26 36.17 36.17 73.217 289.632 91.48 91.48 91.48 91.48 36.12 36.13, 39.30 39.30, 39.31 37.21, 39.30, 39.31, 39.32 36.15, 39.36 39.34 39.34 39.35 39.35 37.20 37.20, 37.22 37.19, 39.36, 39.37, 40.38 40.38 37.23 40.39 40.39 37.20 37.20 37.24 40.40 40.40 40.45 40.41 40.41 40.44 40.45 40.46 40.47 40.43, 74.222
215.410 18.10, 75.234, 125.178, 166.281, 288.630 IX, 16.7 39.36 IX, 21(24).3 158.267 XII, 22(20).2 35.5 XIII, 1.2 74.225, 75.229 XIII, 16.4 74.228 XVI, 27(25).1 37.18
Epistulae ad Quintum II, 9.4 In Pisonem 19 Laelius de amicitia 18 104 Orationes Philippicae VII, 12 XI, 14 X, 16 XIII, 27 Orator 12f. 12–17 Paradoxa Stoicorum 2 Partitiones oratoriae 93f. Pro Caelio 18 Pro Milone 16 Pro Plancio 14 Timaeus XII, 43 Topica 5 6 6–78 14 53 54 57 58f. 59 61
215.410 208.386 273.596 273.595 35.5, 38.25 102 35.5 102 92.54 93.58 92.54 109.139, 284.615 210.391 158.267 263.557 257.537 40.42, 77.240, 284.613 87.28 55.125 119.170 143.223 55.125 142.220, 145.228 109.139, 211.396, 282.609, 287 251.525, 269.577, 283.611, 285, 287 210.391, 248.514, 251.523, 269.577, 285 162.276, 216.413
67 Tusculanae disputationes I, 7 93.58 I, 7f. 90.47 I, 8 89.41 I, 11–14 122.173 I, 14 87.32 I, 45 210.391 I, 53 67.192 I, 53f. 67.189 I, 55 67.192
351
X.2. Index Locorum I, 66 II, 4 II, 5 II, 9 II, 55 II, 61 III, 38 III, 59 IV, 7 IV, 12 IV, 34 IV, 43 IV, 80 IV, 82 V, 5 V, 22 V, 76 V, 113 V, 120
67.191 93.55 64.176 90.47, 93.58 215.410 25.29, 74.227 74.226 49.86 64.176 69.198, 69.200 70.207 263.557 112.148 70.207 70.207 49.86 105.121 74.228 225.440
CLEMENS ALEXANDRINUS Stromata II, Cap. XIII, § 59.6 VIII, Cap. IX, § 25.1–4 VIII, Cap. IX, § 25.3 VIII, Cap. IX, § 32.7–33.9 VIII, Cap. IX, § 33.3–33.9 VIII, Cap. IX, § 33.1 VIII, Cap. IX, § 33.2
227.453 240.476 266.566 240.476 244.503 248.516 266.566
DIOGENES LAËRTIOS De vitis clarorum philosophorum II, 105 112.148 II, 113–120 111.145 II, 115 111.145 IV, 28 28.47 IV, 62 29.52, 29.54 VII, 16 145.232 VII, 25 145.232 86.22 VII, 39–41 VII, 45 226.445 VII, 46 227.448 VII, 49 226.446 VII, 50 226.445 VII, 63 88.39 VII, 65 87.30, 88.37 VII, 66f. 88.35 VII, 69f. 153.259 VII, 71 146. 236, 150.249, 153.258 VII, 72 154.260 VII, 73 117.163, 152.254
VII, 75 VII, 77 VII, 82 VII, 135f. VII, 139 VII, 142f. VII, 149 VII, 156 VII, 180 VII, 183 IX, 45 X, 15 X, 28 X, 38 X, 39 X, 43 X, 44 X, 54 X, 61f. X, 63 X, 66 X, 89 X, 133f. X, 134
127.183 146.237 143.223 23.23 24.24 24.24 12.14, 23.22, 24.27, 25.30, 25.31, 25.34 23.23 23.21 29.53 221.427 161.270 27.41 4.1, 187.344 186.337 174.293 173.287 173.287 174.293 173.288 173.288 27.45 184.329, 229.460 27.42, 172.285
DIOGENES VON OINOANDA Fragmenta 32, 1.14–3.14 177.306, 186.339, 229.460 EMPEDOKLES DK I, B12 EPIKTET Dissertationes II, 19, 1–5 Encheiridion 53 EPIKUR De natura XXV, 34.21–22 XXV, 34.26–30 EURIPIDES Phoenissae 19
4.1
18.10, 139.213 259.540
181.320, 184.330 27.42, 181.320, 184.330 59
EUSEBIUS Praeparatio Evangelica IV, 3.1 113.151 IV, 3.1–13 30.58 VI, 8.1 132.200
352
X. Indizes VI, 8.25 VI, 8.25–29 VI, 8.26 VI, 8.28 XV, 15.6
229.460 197.363 203.379 204.381 23.23
GALEN De symptomatum causis I VII, 109.7ff 267.572 Institutio logica IV, 1–6, p. 9.17–11.14 XIV, 4–11, p. 32.24–35.4 Synopsis librorum de pulsibus IX, 484.12 267.572 Ps.-GALEN Definitiones medicae XIX, 392 Historia philosopha 19, 611.7–15 GELLIUS Noctes Atticae VII, 2 VII, 2.1 VII, 2.3 VII, 2.5 VII, 2.7 VII, 2.9 VII, 2.11 VII, 2.13 VII, 2.15 XIII, 20.3 XIII, 28 XIV, 1.1–36 XVI, 8.4 XVI, 8.5 XVI, 8.9 XVI, 8.10 HERODOT Historiae V, 92
144.224 144.224
212.401 240.476, 243.497, 244.503, 248.516 256.534, 286 11.13 11.13, 23.22, 44.66 129.190, 229.460 257.536 11.13 246.510, 256.534, 258.539 253.530f., 256.534 2.9, 44, 87.29 36.17 74.222 29.56 88.37 88.34 144.227, 146.237 145.228
128.184
HIPPOLYT Refutatio omnium haeresium I, 21 202.374, 259.540 HOMER Odyssee XVIII, 136–137
45
HORAZ Epistulae II.1, 244
105.123
LACTANZ De vera sapientia 9
23.23
LIVIUS Ab urbe condita X, 8.2
10.3
LUKREZ De rerum natura I, 159–160 I, 159–173 I, 265–266 I, 615 II, 216–250 II, 216–293 II, 218–219 II, 219 II, 243 II, 244 II, 244–245 II, 246–250 II, 251ff. II, 251–293 II, 256 II, 257 II, 257–260 II, 259–260 II, 260 II, 261 II, 261–262 II, 263 II, 269 II, 269–271 II, 270–271 II, 277 II, 277–283 II, 281–282 II, 284–293 II, 285 II, 286 II, 287 II, 292 II, 293 III, 94–287 IV, 886
4.1 187.344 4.1, 187.344 175.299 174.293, 174.296 177.306 176.302 175.299 179.313 175.299 175.301 175.300 69 175.298, 177.309 70.208 186.338 184.333 176.302 70.208 70.208 181.322, 185.334 186.338 186.338 185.334 181.322 186.338 185.334 181.322 174.292 178 184.332 4.1, 187.344 175.299 176.302 173.288 70.208
353
X.2. Index Locorum MACROBIUS Saturnalia I, 24.4 III, 16.3 III, 16.3–4
2.9 95.70 45
NEMESIOS
De natura hominis 35, 105.6–106.11 Morani (290.13–293.16 Mattaei) 35, 105.7–10 Morani (291.1–6 Mattaei) 35, 105.18–21 Morani (292.6–10 Mattaei) 35, (SVF II, 991) NEPOS Vitae/De viris illustribus Alcibiades (VII) 2.2 Alcibiades (VII) 2.2–3 ORIGENES Contra Celsum II, 20 De principiis III, 1.2–3
229.459
OVID Tristia IV, 10.6
35.6
PARMENIDES DK I, B8.7–9
4.1
PHILODEMOS De signis XXXVI.11–17 XXXVI.12–13 PLATON Kriton 44a Menon 81d–e Nomoi X, 893b–896d X, 896a Phaidon 99b Phaidros 245c–246a
253.529 281.608 252.527 293.643
112.147 111f.147
61.162, 197.364
177.306 175.299
202 197 66 66 211.393 67.189
Politeia X, 613e–621b Symposion 215a–222b 219c–d Timaios 34c–35a 41e 46d–e
16.4 112.147 112.147 66.188 257.537 66.188
PLINIUS Naturalis historia II, 108 VII, 172 XVIII, 268, 272, 281, 288 XXVIII, 68–69 XXVIII, 187 PLOTIN Enneades III, 1.1 (3.3)
101.102 101.101 118.167 101.104 118.167
176.303, 177.306, 186.342
PLUTARCH De communibus notitiis 41, 1081c–1082a 5.4 De sollertia animalium 7, 964c 177.306 De Stoicorum repugnantiis 11, 1037f 228.454 23, 1045b–c 24.25, 66.187, 130.193, 176.303, 177.306, 260.544 46, 1055d–f 128.186, 130.194 47, 1056b–c 23.23, 240.476 47, 1056b–d 225.442, 283.610 46, 1055e 18.10, 125.178, 132.200 Vitae Cicero III.1 75.229 IV.1 49.85, 75.230 IV.4 56.131, 74.227 Lucullus XXVIII.7 49.86 Ps.-PLUTARCH De fato 3, 568f 4, 569f 6, 571a–b 11, 574e 11, 574f
86.24 203.379 127.183 4.1, 113.151 88.35
PROPERZ Elegiae IV, 7.51
10.5
354
X. Indizes
QUINTILIAN De institutione oratoria V, 9.5 148.242, 148.243 Ps.-SALLUST Epistulae ad Caesarem senem I, 1.2 IX.3 SENECA De beneficiis IV, 7.2 11.12 De providentia V, 7 11.12 Epistulae morales ad Lucilium 9, 18f. 111.145 65, 2 23.23 65, 4 212.401 87, 14 244.502 96, 2 259.540 101, 7 256.534 107, 10f. 46.76 107, 11 46, 259.540 113, 18 228.455, 233.468 Naturales quaestiones II, 35.2 129.190 II, 36.1 132.200, 256.534 II, 37 30.57 II, 38.1–3 197.363 II, 38.2 203.379 II, 45.2 23.23, 135.206, 281.607 SERVIUS In Vergilii carmina commentarii, ad Aen. III, 376 11.11, 44, 142.220 IV, 614 10.4 IV, 696 203.379 VIII, 133 256.534 X, 628 10.4 XII, 808 10.4 SEXTUS EMPIRICUS Adversus mathematicos (AM) I, 309 115.156 V 29.56 VII, 16–23 86.22 131.197 VII, 38–45 VII, 89–260 49.88 VII, 151–157 226.444 VII, 162 49.88 VII, 201f. 49.88 VII, 202 49.86 VII, 227–241 226.445
VII, 228–231 226.445 VII, 236 226.445 VII, 372 226.445 VIII, 70 88.39 VIII, 70–74 88.35 VIII, 88–90 153.259 VIII, 109 153.258 VIII, 112 115.155 VIII, 112–118 115.157 VIII, 141–298 145.233 VIII, 245 145.230 VIII, 254f. 148.242, 148.243 VIII, 256 145.230 VIII, 265 88.38, 115.157 VIII, 305 146.237 IX, 132 113.151, 115.154 IX, 137–190 29.55 IX, 211 12.15 IX, 237–251 248.515 X, 218 88.38 Pyrrhoniae institutiones (PH) I, 220 28.47, 28.49 I, 235 50.94, 56.131 II, 80–83 131.197 II, 97–133 145.233 II, 104 88.37, 145.230 II, 110–113 115.157, 117.164 II, 111 117.163, 146.235 II, 188–192 146.238 II, 231 157.265 II, 234 157.265 III, 14 212.401 III, 15 240.476, 244.503, 248.516 III, 20f. 217.416 III, 67f. 4.1 SIMPLIKIOS In Aristotelis Categorias commentarium 7, 195.33–196.2 124.175 5.4 9, 350.14–16 9, 351.19–28 5.4 In Aristotelis Physicorum libros quattuor posteriores commentaria 1299.36–1300.10 157.265 STOBAEUS Eclogae I 5, 15, p. 78.15–17 I 5, 15, p. 79, 1–12 I 8, 40e, p. 104.7–11 I 8, 42, p. 105.8–106.23 I 13, 1c, p. 138.14
25.33 23.23, 132.199 5.4 5.4 212.401
355
X.3. Index Fragmentorum I 13, 1c, p. 138.23 II 7, 9, p. 86.17–87.6 II 7, 9b, p. 88, 1–6 STRABO Geographica 14.1.39
212.401 227.453, 229.459 228.455
102
SUETON De grammaticis et rethoribus clarissimis 25.6 36.14, 39.36 Divus Julius 56.1 91.50 56.5 36.17 TIBULL Carmina III, 5.18
35.6
VALERIUS MAXIMUS Facta et dicta memorabilia 1, 8 ext. 8 102.113 1, 8 ext. 9 103.115 1, 8 ext. 16 101.101 VARRO De lingua Latina VI, 7.52 XXIII, 28a.9 (Frag.) XXIII, 29 (Frag.) VERGIL Aeneis IV, 614 VII, 50 VII, 239
10.3, 10.7 144.227, 146.237 145.228
10.4 10.4 10.4
3. Index Fragmentorum Stoicorum Veterum Fragmenta, von Arnim SVF I, 55 226.443 I, 55–59 226.446 I, 58 226.445 I, 59 226.443, 226.446 I, 66 227.451 I, 89 212.401 I, 102 23.23 I, 112–114 24.24 I, 160 23.23 I, 171 23.23 I, 172 23.23, 227.452 I, 175 25.34 I, 176 23.23 I, 484 226.445, 226.446 I, 489 18.10, 139.213 I, 527 46.76, 259.540 I, 530 65.180 I, 551 23.23 II, 1 23.21 II, 6 29.53 II, 35–44 86.22 II, 37 86.22 II, 38 86.22 II, 41 86.22 II, 43 86.22
II, 44 II, 52 II, 52–70 II, 53 II, 55 II, 56 II, 63 II, 73 II, 92 II, 115 II, 116 II, 132 II, 181 II, 187 II, 193 II, 193–206a II, 194 II, 196 II, 201 II, 202 II, 202a II, 202b II, 204 II, 204a II, 206
86.22 226.446 226.446 226.445, 227.448 226.445 226.445 49.88 228.456, 233.469, 238.475 56.127 54.115, 54.117, 227.449 227.452, 233.469 131.197 88.39 88.35, 88.39 87.30, 88.37 88.40 88.37 88.33 127.183 18.10, 125.178, 128.186, 130.194 139.215 139.215 153.259 153.259 157.265
356
X. Indizes II, 207 II, 208 II, 213 II, 214 II, 215 II, 216 II, 219 II, 221 II, 274 II, 282 II, 283 II, 284 II, 303 II, 331 II, 336 II, 336–356 II, 341 II, 346 II, 346a II, 347 II, 351 II, 509 II, 510 II, 517 II, 518 II, 519 II, 528 II, 633 II, 633–645 II, 634 II, 912 II, 912–927 II, 913 II, 915 II, 917 II, 919 II, 921 II, 922 II, 925 II, 932 II, 933 II, 939 II, 940 II, 941 II, 943 II, 944
146.236, 153.258, 154.260 144.224 145.228, 146.237 153.259 117.163, 152.254 153.258 55.123, 218.419 145.230, 148.242, 148.243 143.223 142.220, 144.227, 146.237 18.10, 139.213 18.10, 75.234, 125.178, 166.281, 288.630 23.23 88.38 212.401 240.476 12.15 240.476, 266.566 212.401 251.524 240.476, 244.503, 248.516, 266.566 5.4 5.4 5.4 5.4 5.4 23.23 24.24 24.24 24.24 4.1, 88.35, 113.151 11.13 23.23, 132.199 12.14, 24.27, 25.30 12.14 11.11 11.11, 25.33 11.11 132.200 11.12 23.23 30.58, 113.151 132.200 30.58, 113.151 113.151, 229.460 2.10, 5.2, 5.4, 129.190, 133.201, 208.384
II, 945
4.1, 23.23, 24.24, 24.25, 66.187, 130.192, 130.193, 189.349, 240.476, 248.512, 252.527, 260.543, 260.544, 260.545 II, 957 61.162, 197.364 II, 958 203.379 II, 959 127.183, 129.189, 130.195; 252.527 II, 959–961 128.186, 130.194 II, 960 258.539 II, 961 131.196, 157.265, 258.539 II, 962 131.196, 257.535 II, 973 24.25, 66.187, 130.193, 176.303, 177.306, 260.544 II, 974 224.437, 229.460, 270.579 II, 975 202.374, 259.540 II, 979 253.529, 254.531, 255.533, 257.535, 258.539, 260.545 II, 979ff. 293.643 II, 981 229.459 II, 988 229.459 II, 991 252.527, 253. 529, 281.608, 293.643 II, 995 258.539 II, 997 23.23, 225.442, 240.476, 283.610 II, 998 197.363, 203.379, 204.381, 229.460 II, 1000 11.13, 23.22, 129.190, 229.460, 246.510, 253.530, 256.534, 257.536, 258.539 II, 1002 229.460 II, 1003 143.223 II, 1004 229.460 II, 1005 143.223 II, 1018 113.151, 115.154 II, 1024 11.12 II, 1077 65.180, 257.537 II, 1106–1186 129.191 II, 1107 151.251 II, 1188 25.31 II, 1189 115.154 II, 1191 23.22, 25.30 II, 1192 113.151, 143.223, 151.252 II, 1193 113.151
X.3. Index Fragmentorum II, 1194 II, 1209 II, 1210 II, 1211 II, 1214 III, 169 III, 171 III, 175 III, 377 III, 438
113.151 147.240 147.240 100.94, 101.102, 101.105 101.107 227.453, 228.455, 229.459, 233.468 228.455 228.454 227.453 69.198, 69.200
The Hellenistic Philosophers, Long/Sedley LS 4A 4.1, 187.344 4B 4.1, 187.344 9C 175.299 11A 174.293 11A–H 174.293 11E 174.293 11H 174.293, 174.296, 175.299, 175.300, 175.301, 176.302, 177.306 13A–J 27.44 13H 257.537 14A–H 173.288 14B 173.288 14D 173.288 18G 175.299, 177.306 19H 87.28 20A 27.42, 172.285, 184.329, 229.460 20B 181.320, 184.330 20C 27.42, 181.320, 184.330 20F 4.1, 174.292, 175.298, 175.299, 176.302, 177.306, 177.309, 181.322, 184.332, 184.333, 185.334, 186.338, 187.344 20G 177.306, 186.339, 229.460 20I 218.419 26A–D 86.22 26B 86.22 26D 86.22 27D 88.38 31F 87.28 31Q 23.21 33A–P 88.40 33C 88.39 33F 88.39 33I 228.455 33P 131.197 34A 88.37
34B 34G 34K 35A
357
88.35 153.259 153.259 117.163, 146.236, 150.249, 152.254, 153.258, 154.260 35B 115.157, 117.163, 117.164, 146.235, 146.238 35C 88.37, 145.230 35D 145.228 36A 146.237 37D 143.223 37K 157.265 38A 18.10, 139.213 38B 18.10, 124.175, 124.176, 125.178 38C 18.10, 125.178 38D 127.183 38F 139.215 38H 127.183, 128.186, 129.189, 130.194, 130.195; 252.527 38I 197.361 39A 226.445, 226.446 39A–G 226.446 40C 227.448 40D 226.446 40N 54.112 40O 54.115, 54.117, 254.531 41A 227.451 41C 226.444 42D 113.151, 143.223, 151.252 46A–P 23.23 46B 23.23 47O 24.24 51A 5.4 51B 5.4 51C 5.4 51H 148.242, 148.243 53A 229.459 53O 253.529, 281.608 53Q 227.453, 229.459 53R 228.454 53X 24.24 53Y 23.23, 227.452 54B 65.180, 257.537 54G 24.24 54J 23.23 54U 23.23 55A 212.401 55B 12.15 55E 23.23 55I 240.476, 244.503, 248.516, 266.566 55J 12.14
358
X. Indizes 55J–M 55L 55M 55N
55O 55P 55R 62A 62B 62D 62F 62G 62I 62J 64G 68A 68B 68S 68U 70A
11.13 11.11, 25.33 23.23, 132.199 4.1, 23.23, 24.24, 24.25, 66.187, 130.192, 130.193, 189.349, 240.476, 248.512, 252.527, 260.543, 260.544, 260.545 2.10, 2.11, 5.2, 5.4, 35.8, 129.190, 133.201, 208.384 30.58, 113.151 23.23, 225.442, 240.476, 283.610 202.374, 259.540 259.540 11.13, 246.510, 253.530, 256.534, 257.536, 258.539 197.363, 203.379, 204.381, 229.460 253.529, 254.531, 255.533, 257.535, 258.539, 260.545 229.460 143.223 227.452 28.50, 89.41 50.92, 63.173 89.41 54.114 49.88
Fragmente zur Dialektik der Stoiker, Hülser FDS 1 86.22 14–26 86.22 20 86.22 33 226.445, 227.448 75 87.28 80 101.107 82 88.33 154 23.21, 29.53 156 29.54 196 23.22 226 55.124, 115.157, 146.237 250 51.102 253 50.95 255 226.445, 226.446 256 226.443 259 226.445 259–275 226.446 260 226.445 292 228.456, 233.469, 238.475 322 131.197 324 131.197, 132.198
327 330 337 339 352 353 363 364 369 382 421 462 463 464 465 466 467 468 473 687 696 699 720 762 762–771 765 767 767A 768 770 771 807 808 809 874 876 877 880 883 887 914 920 921 925 927 951 952 957
23.23, 132.199 49.88 226.446 75.230 54.114, 226.443, 226.446 227.452, 233.469 54.115, 54.117, 227.449 228.455, 233.468 227.451 56.127 23.23 23.22, 25.30, 25.31, 53.108 23.22, 25.30, 25.31, 115.154 113.151, 115.154 113.151, 143.223, 151.252 113.151 113.151 145.229, 146.239 87.31 88.39 88.39 88.38 212.401 240.476 12.15 212.401, 240.476, 244.503, 248.516 240.476, 243.497, 244.503, 248.516 240.476, 266.566 240.476, 244.503, 248.516, 266.566 240.476 5.4 5.4 5.4 87.30, 88.35, 88.37 88.35, 88.39 88.34, 88.37 218.419 88.35 153.259 117.163, 127.183, 146.236, 150.249, 152.254, 153.258, 153.259, 154.260 153.259 148.242, 153.259 153.259 187.345, 218.419, 296.654 144.224 153.258 115.155, 115.157
359
X.4. Index Nominum 958 959 960 961 967 982 983 984 985 988 990 992 993 994 995 996 997 998 998A 999 1001 1002 1005 1006 1007 1008 1009 1010 1011 1012
115.157, 117.163, 117.164, 146.235, 146.238 88.38, 115.157 116.158, 118.165 146.238 145.228 127.183 127.183 127.183 127.183 18.10, 124.175, 125.178, 127.183 18.10, 75.234, 125.178, 166.281, 288.630, 18.10, 124.175, 124.176, 125.178 18.10, 139.213 139.215 139.215 139.215 139.215 11.13, 23.22, 129.190, 229.460, 246.510, 253.530, 256.534, 257.536, 258.539 12.14, 24.27, 25.30, 25.34 12.14 23.23, 25.33 258.539 61.162, 197.364 131.195 256.534 18.10, 125.178, 128.186, 130.194, 132.200 127.183, 128.186, 129.189, 130.194, 130.195, 252.527, 258.539 128.186, 130.194, 131.196, 157.265, 258.539 127.183, 128.186 131.196, 257.535
1025 1029 1030 1036 1066 1136 1138 1200 1207 1212 1252 1253
157.265 145.230, 148.242, 148.243 88.37, 145.230 146.237 146.237 144.224 142.220, 143.223, 145.228 157.265 143.223 142.220, 144.227, 146.237 197.361 197.361
Posidonius, Edelstein/Kidd EK F103 25.33 F111 26.38, 101.103 T69 26.38 T74 26.38 Poseidonios, Theiler Th F382a 25.33 F385 101.101, 102.113, 103.115 F384 26.38, 101.103 Die Megariker, Döring M 131 18.10, 139.213 133 18.10, 75.234, 125.178, 166.281, 288.630 134 18.10, 125.178 135 18.10, 125.178 138 18.10, 125.178 Fragmente der Vorsokratiker, Diels/Kranz DK Anaxagoras, 68 A66 222.430 Empedokles, B12 4.1 Parmenides, B8.7–9 4.1
4. Index Nominum Adamczyk 34, 36, 38, 40, 42, 76, 89, 90, 92, 106 Adkins 13 Albinos 56, 57, 59, 60 Alexander, A. 1 Algra 24, 114, 133, 135, 136, 261 Alkibiades 111, 112 Alkinoos 57–60 Allen, H. 82, 84, 85, 95
Allen, J. 28, 117, 145, 147 Amand 29, 51, 65, 78, 98, 229, 279 Anaximenes 16 Andrieu 96 Annas 173, 174, 177, 181, 183, 184, 186, 227 Antiochos v. Ascalon 28, 41, 49–58, 60, 62, 63, 71, 72, 75, 78, 218, 288 Antipater v. Sidon 101
360
X. Indizes
Antipater v. Tarsos 288 Antonini 42–44, 46–48, 62, 73, 85, 89, 90, 94–96, 101, 146, 147, 225, 269, 279 Antonius 32, 34, 35, 37, 38, 40 Appuhn 34, 36, 38–41, 62, 90, 94, 98, 232, 233, 243, 262, 270, 287 Areios Didymos 23, 57, 58, 60 Aristoteles VIII, 16, 17, 55, 59, 118, 119, 139, 174, 178, 183, 197, 209, 218, 219, 221– 223, 229 Arkesilaos 28, 224, 226, 229 Arnim, v. 23, 131, 229, 253, 260, 270 Arrian 18 Arthur 226 Asmis 174, 175, 177,179, 186 Attalos 103 Atticus 33, 36, 38, 40, 42, 73, 74, 76, 89, 91 Augustinus 11, 26, 45, 46, 87, 101, 151, 172, 208, 258, 259 Ax 2, 42, 142, 270, 272 Babington 83, 84 Bailey 177, 179 Baiter 263, 264, 271 Baldassari 51 Baltes 57, 58 Barabino 36, 38, 42, 85, 89, 94, 95, 100 Barnes 12, 47–50, 54, 55, 59, 61, 62, 73–75, 117, 135, 146, 147, 197, 204, 212, 217 Barth-Goedeckemeyer 23–25, 61, 130, 143, 196, 254, 260, 261, 279 Bartoli 270 Barwick 75, 93 Bayer VII, VIII, X, 2, 3, 38, 41–43, 71, 79, 80, 83–86, 89, 94, 97, (101), (103), (105), 108, (119), (141), 143, 196, 198, 200, 203, 209– 211, 213, 222, 225, 243, 244, 262, 263, 266, 269, 272, 273, 275, 282, 290, 296, 297 Beard 76 Becker, E. 76, 93 Becker, O. 143 Begley 66, 67, 69, 70 Belaval 249 Berÿiý 197 Berry 10, 12, 17 Bicknell 174, 175, 183 Bieler 71 Bismarck 260 Blänsdorf 29 Bleich-Schade 2, 48, 67, 90 Bloos 12, 26, 86, 248, 253, 260, 261 Bobzien 7, 12, 17, 18, 24, 34, 46, 88, 106, 109, 110, 112, 113, 116, 117, 119, 120, 122,
123, 124, 126–128, 130–133, 135–137, 139, 140, 142, 146–149, 151–153, 157, 168, 176, 183, 184, 186, 190, 197, 199, 202, 203, 212, 218, 223, 225, 228, 229, 233–236, 240, 241, 243, 246–254, 256– 259, 261, 264, 266, 268, 269, 275, 276, 278, 279, 281, 283, 284, 288, 290 Bockisch 128 Bonhöffer 51 Botros 214, 252, 261, 287 Bouillet 95, 114, 203, 264, 297 Bourke 69 Boutroux 295 Boyancé 41, 47, 48, 74, 75 Braund 102, 103 Bréhier 41, 85, 86, 98, 146, 249, 281 Bremi 95, 96, 114, 264 Brennan 24, 131, 145, 146, 151, 152, 197, 253, 254, 260, 281 Brieger 177, 183, 187, 212 Bringmann 2, 38, 41, 91 Broadie 14 Brochard 146, 149 Brutus, D. 35 Brutus, M. 37, 38 Bruwaene, v. d. 34, 41, 51, 100 Büchner 41, 75, 86, 151, 240, 241 Buller 197 Burkert 56, 73, 93 Burnyeat 28, 116, 117, 145–148, 154 Caesar 32–34, 36–39, 41, 75, 86, 89–92, 94, 98, 106 Cahn 14 Cappelletti 34, 38, 40, 41, 71, 95, 112, 203, 215 Cassius 37, 38 Castiglioni 142 Castrillo Benito 75, 96, 105, 240 Cato 36, 38, 76, 91, 119, 160, 161, 195 Catulus 91 Cavedoni 82, 83 Christ 83, 187, 212, 263, 271, 273 Christensen 24, 47, 131, 146f., 252, 259 Chrysipp 3, 11, 18, 23, 24, 26, 29, 44, 51, 55, 59–62, 68, 69, 72, 73, 75–77, 79–81, 96, 97, 99, 101, 105–108, 110, 112–119, 122–124, 127, 128, 130, 132, 133, 136– 155, 163, 164, 166–168, 170–172, 193, 197, 199, 201–205, 207, 208, 212, 215, 221, 223–229, 232, 233, 236, 239, 240, 245–247, 251, 253, 256–265, 267, 269– 281, 283, 285–294, 298–302 Cicero, Quintus Tullius 35–37, 90
X.4. Index Nominum Cioffari 12, 17 Clark 42, 85, 94, 297 Claudius Caecus, Appius IX Colish 24 Conway 183, 186 Cooper 226, 229 Couissin 28, 54 Dalfen 257 Daly 35, 36, 92 Daphitas 102, 103 Davies, J. 84, 263, 264, 270, Davies, J. C. 73 Deiter 42 Demokrit 27, 173, 174, 181, 186, 221, 223, 302 DeWitt 180 Diels 58 Dietrich 13 Dihle 69, 70 Dillon 25, 26, 51–55, 57, 59, 190, 259 Diodor 3, 17–22, 56, 72, 76, 79, 115–117, 122–128, 137, 145, 155, 156, 165–167 Diodotos 74, 75 Dion 125, 126, 134, 136, 139, 146, 152, 157, 202, 258, 259 Donini 47, 62, 71, 75, 97, 130, 146, 151, 161, 224, 229, 242, 243, 246, 270, 283, 285, 288, 290, 293, 294 Döring 17, 111 Dörrie 24 Douglas 47, 48, 54, 63, 73–75 Dragona-Monachou 24, 25, 114 Drozdek 5 Duhot 34, 168, 183, 211, 212, 214, 223, 224, 241, 243–245, 260, 267, 268, 279, 283, 284, 288 Dummett 197 Durand (1903) Duprat 23, 177, 260 Dyck 48, 74 Ebert 88, 115, 116, 145, 146, 149, 153, 154, 156 Eckermann VIII, 95, 196 Edelstein 12 Edelstein/Kidd (EK) 26, 97, 113 Edmunds 173 Egli 116, 118, 143, 145 Eisenberger 38, 44–46, 62, 79, 85, 86, 94, 96, 97, 99, 100, 203, 228, 233, 273, 290, 291, 293, 294, 296, 297 Eitrem 10, 11 Empedokles 4, 221–223 Engel 1, 10
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Englert 156, 174, 175, 177, 179–181, 184, 186, 187, 224 Ennius 76, 210 Epikur 3, 17, 27, 53, 62, 68, 70, 71, 77, 80, 81, 105, 156, 160, 161, 163, 164, 168, 170, 172–174, 176–191, 193, 208, 218, 219, 224, 229, 291, 294–296, 299–302, 304 Eratosthenes 149 Erler 27, 73, 175 Ernesti 95, 297 Escobar 42, 45, 85, 92–94, 98, 119, 158, 203, 216, 243, 244, 269 Eudoros 57 Euklid v. Megara 111 Euripides 59 Everitt 33 Everson 173, 181, 183, 184, 191 Fabius Maximus, Quintus 76, 119 Falconer 38, 39 Farquharson 257 Farrington 27, 183 Faust 12, 130, 152, 203 Ferguson 75 Ferrucci 2, 82, 83 Fladerer 50, 52, 54–56, 227 Fontenrose 102, 103 Forschner 12, 130, 132, 135, 212, 240, 243, 248, 250, 255, 257, 260, 261, 281, 288 Forsett 112 Fowler 4, 174, 175, 177, 179, 181 Fraassen 7, 219 Frede, D. 1, 12, 14, 71, 88, 130, 131, 136, 151, 240, 242, 243, 250–252, 266, 279 Frede, M. 12, 18, 23, 28, 87, 88, 115, 116, 118, 124, 127, 133, 135, 139, 143–148, 151, 153, 157, 207, 211, 212, 226, 227, 240, 243, 244, 248, 250, 251, 266, 267, 271, 279 Freudenthal 57 Frisk 12 Früchtel 17 Fuchs 75 Fuhrmann 33, 75 Furley 12, 24, 173, 174, 177–179, 248 Gadamer VIII, 82 Gaios 57 Gaskin 17, 18, 116–118 122, 126, 130, 139– 141, 145 Gawlick 42, 48, 63, 71, 73, 74, 87 Gelzer 33, 36, 41, 91 Gercke 51, 142, 197, 203, 262, 263, 271, 272 Gigon 28, 50, 56, 75, 227 Gilbert, N. W. 54, 69, 70, 260, 289
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X. Indizes
Gilbert, O. 24, 173, 222, 261, Gillingham 36, 38, 41, 85, 86, 92, 95 Gilson 93 Giomini 2, 41–43, 142, 163, 210, 272, 273 Giussani 177, 179 Glei 18, 38, 89, 90 Glucker 28, 49, 50, 58, 63, 64 Gombocz 57 Göransson 57, 58 Görenz 89, 99 Göring 1, 212, 217 Görler 28, 42, 49, 50, 52, 54, 58, 63, 64, 68, 71, 73–75, 226, 227, 241, 242–245, 249, 266, 267, 269–271, 280, 283, 285 Gosling 229 Gothofredus 297 Gould 1, 11, 17, 24, 68, 116, 117, 122, 146– 148, 229, 248, 253, 260, 261, 279 Gourinat 11, 13, 30, 95–97, 113, 142, 203 Graeser 5, 12, 86, 226, 227 Graff 75, 93 Greene 16, 17, 25, 36, 72, 122, 173, 222, 240, 244, 260, 302 Griffin 75, 91, 288f. Grimal 33, 36, 196 Gronovius 84, 297 Guillaumont 41, 79 Gulley 177, 183, 186, 229 Gundel 16, 17, 24–26, 222 Haack 219 Häfner 34, 40 Hahm 24, 229, 248, 255 Hahmann 12, 14, 128, 131, 135, 196, 226, 243, 244, 248, 260 Haines 257 Haltenhoff 47, 89 Hamelin VIII, 42, 54, 62, 72, 77, 94, 95, 102, 105, 119, 191, 197, 203, 212, 214, 222, 225, 236–238, 243, 244, 262, 264–266, 271, 272, 283 Hankinson 12, 24, 113, 131, 135, 151, 152, 178, 181, 183, 186, 187, 211, 227, 240– 244, 248, 251, 253, 259, 261, 266, 279, 280 Harder 47, 48 Harrison 102 Hartung 226, 227 Heine 143, 203, 244, 264 Henry 84, 172, 190, 216, 302, 305 Heraklit 221–223 Hertz 83 Hippokrates 45, 101 Hirtius 33–42, 75, 76, 86, 89–96, 98, 99, 296
Hirzel 28, 35, 36, 89, 227 Horst, v. d. 10 Hortensius 91 Hossenfelder 27, 88, 131, 174, 175, 186, 187, 203, 212, 253, 260 Hoyer 42, 51 Huby 17, 34, 70, 173, 186, 223, 229 Hülser 88, 116, 118, 124, 131, 132, 145, 146, 151, 180 Hunt 2, 35, 51, 79, 95, 216, 249, 290 Hunter 120, 137 Hurst 116, 118, 146 Hesychios 102 Icadius 102–104 Inwood 24, 116, 130, 226, 228, 229, 253, 259, 281 Ioppolo VIII, 97, 108, 110, 113, 118, 123, 151, 224, 226–229, 233, 235, 240, 242, 243, 249–251, 280, 284 Irwin 69 Jacobs VIII, 1, 97, 196, 203, 225 Janssen 34, 42, 51, 85, 94–96, 101, 108, 113, 119, 122, 168, 177, 211, 224, 261, 263, 271, 273, 279, 290 Jason 210, 211 Jedan 110, 131, 134, 135, 225, 253 Johanson 87 Jones 91 Joyce 228 Jürß 27, 173, 175, 187 Kahn 69, 70, 229 Kaiser 24, 196, 261 Kant 196, 201, 260, 302 Kapitan 14 Karneades 3, 28, 29, 31, 51, 61, 62, 64, 65, 68, 71–73, 77, 79, 81, 122, 140, 151, 160– 162, 165, 176, 181, 183, 187–193, 195, 198, 205, 207, 208, 215, 217, 224, 225, 229, 288, 294, 299–304 Kayser 263, 264 Kerferd 173, 226, 227 Kerschensteiner 36, 38, 41, 42, 89, 92, 93, 94 Kiaulehn 94 Kidd siehe Edelstein/Kidd Kilb 240, 241, 261 Kim 185 Klausen 10 Kleanthes 18, 23, 72, 138, 226, 228, 233 Kleitomachos 28 Klemme 196, 201
X.4. Index Nominum Kleve 177, 179 Kleywegt 262–264, 266, 267, 269, 270, 273 Klotz, A. 272 Klotz, R. 83, 85, 264, 270 Kneale 23, 88, 116–118, 131, 135, 139, 154, 157 Konstan 174 Kreter 118, 142, 218, 223 Kristeller 28, 49, 62 Kriton 201 Kroll 34, 51 Kühner 95 Kühner-Stegmann 109, 273 Kumaniecki 63, 75 Kypselos 128, 134 LaBarge 116, 146, 149, 152 Laios 56, 59, 202–204 Lallemand 264, 270, 297 Lambinus 264, 270, 271, 290 Lapidge 24, 248 Laplace 4 Leach 1, 17 Le Clerc 82, 95, 264, 297 Leibniz VIII, 167, 196 Leitzke 10–12 Leonhardt 52, 63, 89 Leœniak 13, 34, 36, 41, 85, 95, 96, 294, 297 Levée et al. 82, 297 Levine 91 Lindsay 46 Liûcu 203, 227, 243, 244, 249 Littman 112 Lloyd 228 Londey 87 Long 24–26, 28, 51, 52, 54, 63, 65, 88, 130– 132, 135, 147, 151, 173, 177, 179, 203, 211, 226–229, 248, 251–253, 259, 260, 279, 288 Long und Sedley (LS) 5, 12, 117, 120, 122, 130, 131, 145, 146, 173, 176, 180, 187, 191, 194, 203, 228, 240, 244, 245, 248, 251, 254, 260, 288 Lörcher VIII, 36, 41, 43, 44, 47, 48, 51, 72, 78, 96, 107, 122, 160, 197, 290, 294, 295, 297 Luck 49, 52–54, 56, 100 Lucullus 54, 58, 91 Lueder 49, 50, 51, 53, 54, 56 MacKendrick 41, 61, 76, 78, 94, 96 Madvig 142, 187, 271 Magris 16, 17, 36, 38, 42, 43, 51, 71, 85, 89, 90, 94, 102, 106, 119, 142, 144, 197, 203, 211, 217, 243, 244, 294, 297 Majorov 85, 89, 96, 119, 243
363
MancƷl 47 Mangeart 82, 95, 297 Mansfeld 23, 27, 29, 47, 48, 114, 178, 212 Manutius 270, 297 Marcellus, Marcus Claudius 76, 208, 209 Marwede VIII, 38, 41–46, 74, 75, 79, 80, 85, 86, 89, 92, 95, 96, 98, 100, 107, 108, 112, 116, 119, 121, 130, 140, 142, 146–148, 160, 165, 203, 210–213, 223, 225, 228, 229, 233, 243, 244, 248, 249, 251, 258, 262, 264–266, 273, 283, 285, 290–292, 295–297 Marx 102 Maso VIII Masson 187 Mates 23, 116, 117, 143, 144, 146, 147 Mattioli 51, 143, 249 Mayor 83 Medea 210, 211 Meinecke VIII, 44, 45, 60, 95, 203 Meixner 17, 301 Mette 49, 50 Meyer, J. F. v. VIII, 196, 221 Meyer, S. 12, 14, 189, 197, 214, 249, 259, 281, 286, 302 Michel 211, 283–285 Mignucci 140, 142, 144, 146 Milon 97, 202, 203 Mitchell 33 Mithridates 58 Mitsis 177, 179, 181, 182, 186, 191 Mnesarchos 49 Mollweide 43, 212 Montanari Caldini 42 Moore Smith 112 Moreschini 241, 283 Moser VIII, 72, 84, 95, 114, 196, 264, 270 Mueller 116, 145, 146 Müller, C. F. W. 52, 94, 142, 160, 163, 263 Müller, R. 1, 173, 178, 184 Natali VIII Nava Contreras 13, 34, 42, 94, 203 Nestle 112 Nickel 42 Nisard 95, 297 Nobbe 264, 270 Oedipus 56, 59, 202–204, 209 O’Keefe 7, 68, 174–178, 181, 183, 184, 186, 197, 218 Oktavian 32 Olivet 264, 270, 297 Orelli 264, 270, 271
364
X. Indizes
Pack 112, 246 Panaitios 25, 49, 53, 56, 60–62, 64, 65, 73, 74, 78, 151, 288, 289 Pansa 34–37, 39, 40 Paolillo 36, 41, 51, 56, 73, 87, 89, 90, 95, 142, 203, 241, 243, 263, 266, 270 Papazian 140 Patzer 36, 92 Patzig 73 Pausanias 103 Pease 35, 36, 119 Peruzza 95, 105, 203, 243, 244, 266, 283 Pesce 38, 41, 85, 95, 142, 223, 243, 244 Pfeffer 24, 113 Phaidon v. Elis 112 Phaidros (Epikureer) 74 Philipp II. 103 Philippson 40–44, 45, 46, 62, 65, 72, 74, 75, 78, 79, 82, 85, 86, 89, 94, 95, 100, 110, 142, 233, 290, 291, 293 Philoktetes 215–217 Philon v. Larissa 28, 49, 50, 62, 63, 73, 74 Philon v. Megara 17, 115–117, 124, 127, 145 Pimentel Álvarez 36, 38, 42, 43, 85, 89, 94– 96, 142, 243, 266, 269, 279, 297 Pini 35, 36, 38, 41, 46, 57, 75, 85, 90, 112, 119, 243, 266, 271, 272 Plasberg 43, 52, 73, 142 Platon 16, 28, 50, 52, 53, 56, 58, 66, 67, 74, 111, 112, 146, 197, 211, 257 Platz VIII, 143, 161, 162, 167, 196, 225, 260, 261, 283, 287, 290 Pohlenz 1, 12, 25, 26, 34, 51, 53, 59, 62, 113, 160, 212, 226, 227, 229, 240, 243, 244, 253, 269, 283, 290 Pompeius 75, 106 Pope 175, 177, 183 Poseidonios 3, 23, 25, 26, 53, 60, 62, 72–75, 78, 81, 96, 97, 100, 101, 104, 105, 151, 288 Pötscher 10 Powell 74 Prellwitz 12 Preti 146 Purinton 70, 174–181, 184, 185, 187, 191 Pytharatos 160, 161, 163 Pythia 103 Rackham 96, 203, 264, 270 Ramus 264, 297 Rath 84, 264, 270 Rawson 62, 89 Reesor 12, 130, 226, 248, 260, 280 Reinhardt 25, 26, 48, 73, 100, 102, 103
Reis 57 Rexine 67 Ricken 28 Riemann 295 Rieth 212, 240, 244, 246, 259, 260 Rist 5, 18, 128, 178, 256 Ritschl 83 Rolke 11, 129, 225, 240, 241, 246 Ruch 38, 40, 41, 85, 86, 89, 90 Russell 173, 178, 179, 183, 184, 186, 191 Ryan 28, 51, 75, 93, 96 Ryle 197 Salles 14, 140, 197, 228, 229, 252, 253, 260 Sambursky 4, 11, 12, 130, 131, 146, 149, 244, 252 Sandbach 226, 227, 252, 253, 259 Saunders 179 Schanz 36, 77, 83 Schäublin 55 Schiavon 95, 105, 203, 243, 244, 266, 283 Schmekel 25, 29, 45, 51, 61, 62, 65, 73, 77, 79, 97, 99, 116, 130, 212, 227, 264, 283, 287, 289, 290, 291, 293 Schmid 47, 73–75, 93 Schmidt, P. L. 38, 42, 47, 51, 63, 79 Schmidt, R. 196, 201 Schneidewin 2, 42, 83 Schofield 28, 63 Schreckenberg 16, 17, 222 Schröder, S. 44, 94, 96, 211, 215, 223, 224, 240–244, 246, 248–250, 257, 260, 261, 263, 266, 267, 269, 283, 284, 285f., 286, 290, 291–293 Schubert 5, 12, 88, 226, 229 Schütz 95, 270, 297 Schwenke 42, 43, 212 Scipio 45, 61, 67, 76, 158, 159, 193, 194 Sedley 17, 24, 28, 41, 97, 100, 105, 106, 110, 116, 126, 143, 145–148, 150, 151, 154, 156, 173, 175–177, 180–182, 184, 187, 190, 191, 193, 202, 219, 223, 241–245, 249–251, 253, 260, 280, 283, 285, 288 Seel, G. 197 Seel, O. 33, 36, 92 Seibt 196, 270, 297 Shackleton Bailey 33 Sharples VII, X, 24, 27, 40–46, 59, 60, 68, 71, 72, 75, 78–80, 85, 86, 92, 94–97, 100, 102, 103, 105, 108, 112, 116, 118, 119, 126, 128–132, 135, 136, 139, 142, 146, 148, 155, 161, 168, 172, 173, 177, 181–183, 186, 187, 189, 191, 198, 203, 208, 210–
X.4. Index Nominum 212, 213, 214, 215–217, 222–224, 226, 228, 229, 232, 236, 240, 243–246, 249– 253, 255–264, 266, 267, 269, 271–273, 276, 280, 281, 283–285, 290, 292–297, 302 Sihler 33, 75, 99 Simon 23 Skassis VIII, 42–44, 45, 46, 142, 163, 262, 270, 272, 273 Skutsch 35 Societas Literata 297 Sokrates 16, 28, 67, 111, 112, 119, 201, 202 Sorabji 69, 70, 116, 117, 130, 139, 140, 143, 146–149, 151, 156, 157, 228, 244, 249, 252, 256, 258, 281, 287 Stahl 23 Staseas 75 Stegemann 12, 17, 24–26, 59, 261 Stein 11, 226, 227, 261 Steinmetz 23, 25, 26, 42, 48, 63, 74, 75, 93, 100, 116, 146, 227, 242, 289 Stevens 224, 228, 229 Stilpon 67, 111 Stockton 33 Stokes 178 Stopper 117 Stough 211, 246, 248, 251, 253, 257, 260 Straaten 1, 17, 225, 226, 241, 244, 246, 252, 260, 279 Strache 25, 53, 56–59 Strasburger 38, 42, 89, 91 Straume-Zimmermann 91 Striker 28, 227 Stroux 226, 227 Strozier 180f., 183, 184 Stump 282 Stüve VIII, 62, 71, 165, 197, 198, 203, 211, 212, 243, 244, 262–264, 270, 272, 279 Sullivan 40, 42 Susemihl 58 Süss 35, 36, 41, 95, 196 Szekeres 11, 12, 48, 60, 66, 69, 100, 101, 108, 113, 116, 122, 126, 130, 249, 279 Szymaľski 142 Takahata 33, 38, 41, 94, 106, 119, 242 Talanga VIII, 18, 71, 95, 116, 122, 142, 144, 146, 152, 161, 212, 229, 243, 244, 279, 290 Tarrant 49, 54, 56 Tauros 57 Taylor 14 Thales v. Milet 16 Theiler 1, 2, 11, 12, 25, 26, 44, 45, 97, 101, 105, 244, 249, 256, 283, 289
365
Theunissen 11 Thiaucourt 62 Thomason 219 Tiro 37 Tolkiehn 45, 46 Tränkle 35 Trendelenburg 17, 177, 203, 296 Tschiedel 36 Turnebus 101, 103, 105, 119, 141, 198, 203, 209, 211, 243, 244, 270, 271 Uri 47 Valgiglio 78, 94, 96, 143, 203, 279, 290 Varro 10, 52, 63, 75, 91, 125, 144–146, 166, 167, 288, 289 Veneta prior 270 Verbeke 116, 146 Verburg 84, 114, 264, 297 Vick 28 Vlastos 175 Voelke 69 Voros 173 Vretska 42 Vuillemin 18, 116, 117, 122, 140, 146 Walde 12 Walter 14 Wassmann 86, 91 Weidemann VIII, X, 5, 14, 17–22, 55, 68, 118, 124, 126, 128, 156, 157, 167, 178, 180, 190, 194, 197, 209, 218, 219, 222, 229, 235, 261, 271, 290, 293, 294, 301, 302 Weische X, 62–64, 67, 68, 79, 95, 101, 104, 190, 209, 242, 289, 296 Wendland 62 Werdermann VII, VIII, 196 Werner 61, 158 White 5, 6, 17, 18, 24, 68, 116, 131, 139, 140, 145, 146, 152, 252, 261, 279, 288 Whittaker 57–59 Wicke-Reuter 24, 249, 258 Widmann 13, 242 Wiœniewski 29 Witt 49, 51–53, 55–58, 59 Worthington 158 Wüst 1 Yon VII, 36, 41–43, 48, 51, 72, 78, 79, 85, 89, 94, 95f., 96, 102, 187, 197, 215, 225, 233, 243, 262, 263, 264, 266, 267, 270–272, 290, 294, 297
366
X. Indizes
Zeller 111, 116, 203, 279 Zelzer 42, 43 Zenon v. Kition 17, 23, 26, 105, 111, 145, 212, 226–228, 233
Zenon v. Sidon 74 Zierl 130, 203, 255, 279 Zopyros 111, 112
5. Index Rerum adsensio siehe Zustimmung Akademie Einteilung der Phasen 28, 49 ɒǗɏǍǔǑ 1.1, 16, 17.7, 23, 131, 131.196, 132, 132.200, 184, 221.427, 222, 223, 256–258 ɒǛǍʘǜ ǕʗǍǙǜ, siehe Untätigkeitsargument ‚Argument des Erntenden‘ (ǒǏǛʇǐǣǗ ǕʗǍǙǜ) 197 Argument, ethisches 54.117, 59, 222.430, 229–239, 245f., 305 Astrologie 11, 26, 26.38, 53.110, 65, 77, 79, 97–99, 101.103, 114, 115, 118, 118f.168, 140.217, 141.219, 150f. 151.251 harte/weiche Astrologie 151.251 Atomismus 27, 172f. ɒǘʇǣǖNj 75, 84.9, 85, 87f., 99, 132, 133, 144.227, 156, 170, 299 Definition und Bedeutung 87f. ‚umkippende Aussagen‘ (ǖǏǞNjǚʇǚǞǙǗǞNj) 88, 99, 156f., 299 Vergänglichkeit 88, 99, 139, 299 Bivalenzprinzip 7f., 22, 76, 80, 81, 156, 159, 160, 165, 168–172, 183.328, 193, 195–198, 207, 208, 217–221, 222.430, 298f. eingeschränkt 183.328, 217–221, 222.430, 299 Verhältnis zum Fatum 168–172, 193 Verhältnis zum Satz vom ausgeschlossenen Dritten 7.6, 217–221 njǙʡǕǑǝǓǜ 69, 260.547 conexum 142.220, 144 confatalia 203–205 coniunctio 121, 141f.220, 145 Determinismus kausaler 4f., 9, 14, 17.7, 24, 27, 98, 112f., 129, 165, 173, 183, 186, 191f., 195f., 213, 222.430, 298–300
logischer 7–9, 14.2, 18–22, 68, 99, 125f., 156f., 165, 168, 183.328, 196, 198f., 218, 222.430, 298–300 harter 126, 127, 173, 261, 300, 302 weicher 261, 294, 300f., 302 divinatio siehe Mantik ǏʉǖNjǛǖɨǗǑ 1, 11–13, 16, 17.7, 23–25, 31, 58, 59,
132, 222.428, 223, 256f., 279.602, 283.610 Etymologie 11f.
Fatalismus im engeren Sinne 14f., 196–201 stoischer 14.2, 23f., 129.187, 134, 204f., 207, 225, 239, 253, 256–259, 261, 287.626, 298f. Unterschied zum Determinismus 14f., 204f. Fatum Definition, Etymologie 10–13 Einschränkung des Fatums 213–215, 277–290 ‚Fatumsnotwendigkeit‘ (necessitas fati ) 256–258 starker/schwacher Fatumsbegriff 213f. 239, 247, 257f., 265, 274–277, 298– 300 als Ursachenverkettung 12.15 Verhältnis zum Bivalenzprinzip 168–172 Verhältnis zur Mantik 24, 30, 79.255, 113f., 208f. Freiheit abstraktive 255f. starke/schwache 54, 68, 70, 185, 255, 258–261, 299f. Handlungsfreiheit 255, 258–261, 299, 303 Willensfreiheit 15, 67f., 70f., 175f., 185f., 189, 191, 258–261, 280, 294, 299f. Idealsprachlichkeit 135, 153f. ignava ratio siehe Untätigkeitsargument
X.5. Index Rerum Implikation materiale/strikte 115–118, 144f. Wahrheitsbedingungen 115–117 innerer Zusammenhang (ǝǟǗɏǛǞǑǝǓǜ) 117, 143f., 146–150 ǔǟǛǓǏʡǣǗ ǕʗǍǙǜ
siehe Meisterargument Laplacescher Dämon 4f. Mantik 24–26, 53, 60, 65f., 79, 96–100, 113f., 123f., 137, 140f. 144f., 148–152, 154, 208f., 213 Ablehnung 208f. Einwände 29–31 Definition 115.154 Verhältnis zum Fatum 30, 79.253, 113f., 208f. Meisterargument 17–22, 125f., 138f., 156, 183.328 logische Struktur 17–22 Verhältnis zum Fabius-Argument 137–139 Chrysipps Ablehnung des zweiten Satzes 18, 138f. Modalitäten, abstraktive 131–137, 155, 254, 256, 299 Möglichkeiten, kontrafaktische 8, 15, 123, 128f., 130f., 134, 136, 299 Möglichkeitsdefinition Chrysipps 127f., 133 Diodors 18, 125–127 Philons 124 ƷǙʏǛNjǓ, ǖǙʏǛNj 1, 10, 12 Pneuma (ǚǗǏʩǖNj) 23, 248 ǚǛʗǗǙǓNj
siehe Vorsehung Quellenforschung 47f., 61, 73 res copulata 202–204 res simplex 201f. Satz vom ausgeschlossenen Dritten (Tertium non datur) 7.6, 218–220, 222.430, 299.1 Skeptiker, Skeptizismus 28 Superbewertung (supervaluation) 219f. ǝǟǗɏǛǞǑǝǓǜ
siehe Implikation
ǝǟǗǏǓǖNjǛǖɨǗNj 203.379
367
ǝǟǍǔNjǒǏǓǖNjǛǖɨǗNj 203.379 ǝǟǍǔNjǞɏǒǏǝǓǜ
siehe Zustimmung ǝǟǖǚɏǒǏǓNj
siehe Sympathielehre
ǝǟǖǚǏǚǕǏǍǖɨǗǙǗ 145, 147.240 ǝǟǗǑǖǖɨǗǙǗ 115, 144, 147.240
Sympathielehre 24–26, 29, 45, 65f., 100, 104, 105f. Tertium non datur siehe Satz vom ausgeschlossenen Dritten Untätigkeitsargument 14, 61, 80, 183.328, 196–205, 207f. logische Struktur 199 Chrysipps Entgegnung 201–205 Karneades’ Entgegnung 205–208 Ursache Definition 210f. der Wille als Ursache seiner Akte 66–68, 70, 109, 113, 160–162, 188–192, 294, 301 zufällige Ursachen 160–162, 195, 299 Ursachenunterscheidung der Stoiker 240–251, 300f. der Neuakademiker 188–192, 301 Ereigniskausalität/Agenskausalität 300f. voluntas 66f., 69f., 176–186, 188, 192 Vorsehung (ǚǛʗǗǙǓNj) 23f., 26, 27, 31, 53, 65, 66, 83, 100, 113, 129, 147.240, 260, 280 Wahrheitsauffassung siehe Wahrheitsbegriff Wahrheitsbegriff schwacher 7, 21f., 55, 68, 80, 158f., 160, 163–168, 192–196, 198, 200, 207– 209, 221, 291f., 298–300 starker 5–8, 21f., 55, 68, 80, 129, 135.205, 140f., 155, 159, 160, 163–165, 168– 172, 183.328, 193, 197–200, 207– 209, 221, 281, 291f., 298– 300 und Bivalenzprinzip 7f., 22, 168–172, 193, 197–200, 298–300 Zeitauffassung dynamische 5f. statische 5, 7 Zustimmung (ǝǟǍǔNjǞɏǒǏǝǓǜ, adsensio) 69, 226–229, 246f., 249–255
368
X. Indizes
6. De fato in den Fragmentsammlungen § 1
SVF
LS
FDS 85*
DK
M
5 6 7
II, 950*
55Q*
8 9
II, 951* II, 951
55Q
10
158*
11
II, 954*
12
II, 954*
38E*
13
II, 954*
38E
14
I, 489* II, 954*
38E
15 16 17 18 20 21
II, 954 II, 954*
38E*
38G*
884*
II, 952*
38G* 20E*
884
20E
23
20E
24 25 26 27
20E 20E 70G 70G 70G* 55S* 55S* 55S 70G 70G 70G*
29 30 31 32 33 36 37 38 39
Th
F104 T30* F104 F104* T30*
F386 T12* F386 F386 T12* F386 F386
SSR
E
K
105 II O19* I C49* II F25*
132A*
II F25
132A
II F25*
132A*
II F25* 281*
II, 954* II, 952*
22
28
473* 473 960 989* 473 989 473 826* 989 473 473 473*
EK
II, 953* II, 956 II, 955* II, 987* II, 952* II, 974*
20H* 34C* 62C
376* 281 379* 281* 104* 379*
885* 885* 885 825 885*
470* 949* 886 886 367*
103 103 103*
68(55) A66*
369
X.6. De fato in den Fragmentsammlungen
§ 40 41 42 43 44 45 46 47
DK E EK FDS K LS M SSR SVF Th
SVF II, 974* II, 974 II, 974 II, 974 II, 974*
LS 62C 62C 62C 62C
FDS 367* 367 367 367 367
DK
68(55) A47*
: : : : : : : : : :
M
EK
Th
SSR
E
281 281
Die Fragmente der Vorsokratiker. Hrsg.: H. Diels, W. Kranz Epicurea. Hrsg.: H. Usener Posidonius. The Fragments. Hrsg.: L. Edelstein, I. G. Kidd Die Fragmente zur Dialektik der Stoiker. Hrsg.: K. Hülser Karneades. Fragmente. Hrsg.: B. Wiœniewski The Hellenistic Philosophers. Hrsg.: Anthony A. Long, David N. Sedley Die Megariker. Kommentierte Sammlung der Testimonien. Hrsg.: K. Döring Socratis et Socraticorum reliquiae. Hrsg.: G. Giannantoni Stoicorum Veterum Fragmenta. Hrsg.: H. von Arnim Poseidonios. Die Fragmente. Hrsg.: W. Theiler
Der Asteriskus (*) verweist auf eine Textauslassung in dem markierten Fragment.
K