FRAU.MACHT.RECHT. 100 Jahre Frauen in juristischen Berufen [1. ed.] 9783848774234, 9783748914266


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German Pages 295 [294] Year 2023

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Table of contents :
Cover
Einleitung: Fragestellungen, Ergebnisse und Perspektiven der Tagung
I. Ein historischer Rückblick
II. Juristinnen heute
III. Das Recht als politisches Herrschafts- und Steuerungselement im Geschlechterkontext
IV. Perspektiven
I. Frauen im Recht – ein historischer Rückblick
Der Heidelberger Juristinnenkreis. Selbstorganisation und Selbstbehauptung von Jurastudentinnen im Nationalsozialismus
A. Einführung: Trend und Trendumkehr
B. Jurastudium von Frauen im politischen Umbruch
I. Keine spezifischen Maßnahmen gegen Jurastudentinnen
II. Politisch und rassistisch motivierte Vertreibung
III. Anfeindungen und Verunsicherungen
C. Selbstorganisation und Selbstbehauptung der Heidelberger Jurastudentinnen
I. Einbindung der Studentinnen in die NS-Studierendenorganisation
II. Freiwillige Arbeitsgemeinschaft für Juristinnen
III. Aufgabenteilung der Geschlechter
D. Berufsperspektiven und Werdegänge
I. Ausschluss von den Rechtsberufen
II. Juristinnen für die „Volksgemeinschaft“
III. Werdegänge der Heidelberger Juristinnen
E. Kollektiv- und individualbiographische Kontextualisierung
I. Politische Einordnung
II. Attraktivität der „Volksgemeinschaft“
III. Gelungene und gescheiterte Entnazifizierung
F. Quellenlage und Ambiguität
Vom Runden Tisch zur Gemeinsamen Verfassungskommission? Beitrag ostdeutscher Frauen* zur „vereinigungsbedingten Erneuerung“ des Art. 3 Abs. 2 GG
A. Einführung
B. Gleichstellung in der DDR-Verfassungsdebatte
I. Der Verfassungsentwurf des Runden Tisches
II. Die Urheberinnenschaft der Frauen*
C. Gleichstellungsforderungen der Öffentlichkeit
I. Chance im Umbruch
II. Das Kuratorium für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder
III. Das Frankfurter Frauenmanifest
D. Gleichberechtigungsgebot in der bundesrepublikanischen Verfassungsgebung
I. Gleichstellung in der Gemeinsamen Verfassungskommission
II. Abschluss in Bundestag und Bundesrat
E. Resümee
Frau. Macht. Europarecht. Der Weg der „Mütter Europas“ von 1922 über 1952 bis 2022
A. Einleitung
B. Die europäische Integration: Keine Geschichte ohne Frauen
C. Auf den Spuren der „Mütter Europas“: Frauen, Europa und das Recht
I. Vordenkerinnen und Pionierinnen der europäischen Idee
II. „Mütter Europas“ als administrative, politische und rechtliche Gestalterinnen
1. Die Anfangsjahre: Gestalten aus dem Hintergrund
2. „Mütter Europas“ zwischen externer und interner Gestaltung
3. Der Weg der „Mütter Europas“ – Eine unvollendete Geschichte
D. Schlussbetrachtung
II. Frauen im Recht heute
Gleicher Abschluss – gleiche Chancen? Ungleichheiten von Männern und Frauen in juristischen Berufen aus der Perspektive von Hochschulabsolvent:innen
A. Einleitung
B. Ungleichheiten von Männern und Frauen im Beruf
C. Absolventinnen und Absolventen der Rechtswissenschaft in den DZHW-Absolventenstudien
D. Berufs- und Lebensziele von Absolventinnen und Absolventen der Rechtswissenschaft
E. Berufliche Ungleichheiten von Absolventinnen und Absolventen der Rechtswissenschaft
F. Elternschaft von Absolventinnen und Absolventen der Rechtswissenschaft
G. Forschungsperspektiven
Licht in die Blackbox bringen. Wie die mündliche Prüfung diskriminierungssensibel werden kann
A. Die Blackbox der mündlichen Prüfung: Was bisher geschah
I. Die Bedeutung der mündlichen Prüfung
II. Verfassungs- und prüfungsrechtliche Vorgaben für eine diskriminierungssensible mündliche Prüfung
III. Reality-Check: Wird in der mündlichen Prüfung diskriminiert?
IV. Die Untersuchung des Arbeitsstabs Ausbildung und Beruf
B. Drei Gedanken zur Forderung der Diskriminierungssensibilität
I. Das Phänomen des unconscious bias
II. Die Unterscheidung zwischen ungerechten und diskriminierenden Prüfungen
III. Sensibilität für sämtliche Dimensionen von Diskriminierung
C. Die sechs Forderungen zur diskriminierungssensiblen Ausgestaltung der mündlichen Prüfung
I. Prüfungskommissionen müssen geschlechtergerecht besetzt werden
II. Die Prüfungsämter müssen verpflichtende Schulungen und Fortbildungen für Prüfende anbieten
III. Das Vorgespräch muss abgeschafft werden
IV. Die Vornotenkenntnis muss abgeschafft werden
V. Es muss klare Maßstäbe für die Bewertung des Prüfungsgesprächs geben
VI. Ein Beschwerde- und Kontrollsystem muss implementiert werden
D. Ausblick
Justizneutralitätsgesetze als Exklusionsmechanismen
A. Einleitung
B. Justizneutralitätsgesetze
I. Überblick
II. Verbotene Tätigkeiten
III. Kollidierendes Verfassungsrecht
C. Einseitige Neutralität
I. Formalisierung der Justiz
II. Misstrauische Mehrheit?
III. Gleichheit als Verfassungsauftrag
D. Exklusionsmechanismus
Die Aufnahme geschlechtsspezifischer Gewalt und Belästigung in die Gefährdungsbeurteilung. Impulse des ILO-Übereinkommens Nr. 190 für einen ganzheitlichen Arbeitsschutz
A. Einleitung
B. Geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt
C. Das Arbeitsschutzgesetz
I. Schutzpflichten der Arbeitgebenden
II. Allgemeiner Rahmen, Konkretisierung und Durchsetzung
III. Die Integration psychischer Belastungen
D. Die Gefährdungsbeurteilung
I. Gesetzlicher Rahmen
II. Konkretisierende Verordnungen
III. Konkretisierende Leitlinien
IV. Licht am Ende des Tunnels?
E. Versäumnisse im Arbeitsschutz: selektive Gefährdungsbeurteilungen
F. Das ILO-Übereinkommen Nr. 190
I. Fokus Geschlechtergerechtigkeit
II. Fokus Arbeitsschutz
III. Impulse aus dem ILO-Übereinkommen Nr. 190 nutzen
III. Das Recht als politisches Herrschafts- und Steuerungselement im Geschlechterkontext
Der Vorwurf des Politischen. Vorverständnisse in der Rezeption feministischer Rechtswissenschaft
A. Vorverständnisse in der Rechtswissenschaft und der Vorwurf des Politischen
I. Dimensionen des Vorwurfs des Politischen
II. Unvermeidbarkeit individueller Perspektivität
III. Wahrnehmungen der Wirklichkeit
B. Nutzung des Vorwurfs des Politischen zur systematischen Diskursverengung
I. Neutralitätsprätention der herrschenden Lehre
II. Feministische Rechtswissenschaft unter Ideologieverdacht
C. Rückkehr zur Sache: Anforderungen an einen offenen Diskurs
I. Transparenz im Umgang mit Vorverständnissen als diskursfördernde Praxis
II. Kritische Forschung als Bestandteil der juristischen Ausbildung
III. Methodenpluralismus und Kontextualisierung der Rechtswissenschaft
Parität und demokratische Gleichheit. Eine intersektionale Analyse
A. Macht Frau Recht? – Die Forderung nach Parität
I. Formale und materiale Gleichheit
II. Das Rechtfertigungsmodell im Wahlprüfungsbeschluss
III. Argumente für Parität: Geschlechterdemokratie und materiale Wahlrechtsgleichheit
1. Bestehende Nachteile im Sinne des Art. 3 Abs. 2 GG: strukturelle Diskriminierung
a) Materiale Ungleichheit bei der Kandidat:innennominierung
b) Strukturelle Diskriminierung in den Parteien
2. Aufkündigung des Sexual Contract: Parität als Geschlechterdemokratie
3. Bilanz: Geschlechterdemokratie und Förderauftrag als „zwingende Gründe“
B. Macht Recht Frau? Konstruktionsleistung des Rechts
I. Berücksichtigung von Enby-Personen in Anschluss an „Dritte Option“
II. Intersektionalität: Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG als materialer Gleichheitssatz
III. Parität intersektional – ein Oxymoron?
C. Fazit: Für eine materiale intersektionale Gleichheitsdogmatik
Geschlechtergerechtigkeit in der Gesellschaft der Singularitäten
A. Einleitung
B. Der gesellschaftstheoretische Rahmen
I. Die Logik des Besonderen
II. Das kuratierte Selbst zwischen Persönlichkeitsentfaltung und Aufmerksamkeitsökonomie
C. Transformation von Geschlecht durch Singularisierungspraxis
I. Singularisierungsarbeit im Kollektiv: Aus „Frauen“ mach‘ „Diversity“
II. Singularisierungsarbeit am Individuum: Modulare Mütter
1. Geschlecht als Gegenstand spätmoderner Selbstkulturalisierung
2. Mutterschaft als modulares und kommerzielles Konzept
D. Ausblick
Geschlecht im Umweltrecht
A. Einleitung
B. Umweltrecht: Anthropozentrischer Umweltschutz und Technikbezug
I. Gegenstand und Schutzzweck des Umweltrechts, sowie Umweltbegriff
II. Grundprinzipien und Systematik
III. Zentrale Charakteristika von Umweltrecht
C. Die Suche nach dem Geschlecht: Neue Perspektiven auf Umweltrecht
I. Geschlecht als analytische Kategorie
II. Feministische Rechtswissenschaft
III. Ökofeminismus: Feministische Herausforderungen des Mensch-Natur-Verhältnisses
D. Umweltrecht aus feministischer Perspektive: Synthese
I. Dualismuskritik: Gesellschaft und Natur im Umweltrecht
II. Umweltrechtliches Rechtssubjekt jenseits von Androzentrismus und Anthropozentrismus?
III. Doppelte Kritik an Objektivität und Neutralität im Umweltrecht
IV. Arbeit, Reproduktion und Sorge im Umweltrecht
E. Fazit
„Feminismus ist Arbeit gegen die Schubladen“ Ein Gespräch über Differenz und Hierarchie, Perspektivenerweiterung und (Vor-)Bilder
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FRAU.MACHT.RECHT. 100 Jahre Frauen in juristischen Berufen [1. ed.]
 9783848774234, 9783748914266

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Schriften zur Gleichstellung herausgegeben von Prof. Dr. Dr. h.c. Susanne Baer Marion Eckertz-Höfer Prof. Dr. Jutta Limbach ✝ Prof. Dr. Heide Pfarr Prof. Dr. Ute Sacksofsky Band 31

Elisabeth Dux | Johanna Groß | Julia Kraft Rebecca Militz | Sina Ness (Hrsg.)

FRAU.MACHT.RECHT. 100 Jahre Frauen in juristischen Berufen Interdisziplinäre Tagung am 15. Juli 2022 in Heidelberg

Nomos

Die Tagung fand als Kooperationsveranstaltung der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg und der Heinrich Böll Stiftung Baden-Württemberg e.V. statt. Die Veranstaltung wurde gefördert durch ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■

den Fachschaftsrat Jura Heidelberg die Gesellschaft der Freunde der Universität Heidelberg e.V. die Kanzlei Allen & Overy die Kanzlei CMS Hasche Sigle den Doktorandenkonvent der Universität Heidelberg den Studierendenrat der Universität Heidelberg das Gleichstellungsbüro der Universität Heidelberg den Deutschen Akademikerinnenbund e.V.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-7423-4 (Print) ISBN 978-3-7489-1426-6 (ePDF)

Onlineversion Nomos eLibrary

1. Auflage 2023 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Vorwort der Herausgeberinnen

„Die Fähigkeit zum Richteramte kann auch von Frauen erworben wer­ den“: Mit diesen Worten erhielten Frauen am 11. Juli 1922 Zugang zu bei­ den Staatsexamina und damit zu den juristischen Berufen.1 Das 100. Jubi­ läum dieser Berufszulassung nahmen am 15. Juli 2022 rund 200 Wissen­ schaftler:innen, Praktiker:innen und Student:innen zum Anlass, um unter dem Titel Frau.Macht.Recht. an der Universität Heidelberg die Rolle von Frauen in juristischen Berufen zu analysieren und zu diskutieren. Der vor­ liegende Band dokumentiert die Ergebnisse dieses Tages. Frau.Macht.Recht. – und das nun seit etwas mehr als hundert Jahren. Am Anfang der Tagung stand unser Wunsch, der Bedeutung dieses Jubiläums nachzuspüren: Wie stellte sich der Weg zur Zulassung von Frauen zu den juristischen Berufen dar? Wie haben Juristinnen in den letzten hundert Jahren das Recht geprägt? Dabei wurde uns schnell klar, dass wir nicht bei einem historischen Rückblick stehen bleiben können und wollen. Nicht erst das Wiedererstarken antifeministischer Rhetorik während der Corona-Pandemie macht deutlich, wie fragil bereits erreichte tatsächliche Gleichberechtigung ist, wie relevant eine feministische Rechtswissenschaft weiterhin bleibt. Wir wollten das Jubiläum deshalb auch nutzen, um zu fragen: Wo stehen wir nun, einhundert Jahre später? Was kann und soll noch erreicht werden, was muss uns künftig beschäftigen? Den Balanceakt zwischen dem Gesetz von gestern und den Fra­ gen von heute versucht auch der Titel unserer Tagung zu meistern. Frau.Macht.Recht. – ein Titel, den man in seinem Fokus auf ein binäres Geschlechterverständnis – zu Recht? – als nicht mehr aktuell empfinden kann. Ein Titel, der versucht, Recht als zweischneidiges Instrument zu fassen: Als Mittel, mit dem Macht festgeschrieben und zementiert wurde und wird, aber auch als Mittel zur Gestaltung und Stimulierung von Fort­ schritten – als Forderung nach Recht im Sinne einer gerechteren gesell­ schaftlichen Ordnung.2

1 Durch das Gesetz über die Zulassung der Frauen zu den Ämtern und Berufen in der Rechtspflege (RGBl. 1922 I, S. 573). 2 Siehe zu beidem noch ausführlich die Einleitung: Fragestellungen, Ergebnisse und Perspektiven der Tagung, S. 13 ff.

5

Vorwort der Herausgeberinnen

Nicht nur Recht ist ein mächtiges Instrument. Auch der wissenschaftli­ che Diskurs ist es. Umso mehr haben wir uns über die vielen reflektierten, innovativen und kreativen Einsendungen gefreut, die uns in Reaktion auf unser Call for Papers erreicht haben. Dass sich knapp 60 Wissenschaft­ ler:innen aus unterschiedlichen Disziplinen mit der historischen, aktuellen und politischen Situation von Frauen im Recht auseinandergesetzt und dabei so viele verschiedene Facetten beleuchtet haben, zeigt uns – und hof­ fentlich auch der Rechtswissenschaft –, dass wir das diesjährige Jubiläum nicht nur als Anlass zum Feiern verstehen dürfen, sondern die Diskussion laut und miteinander weiterführen müssen. Dieser Tagungsband will dazu einen kleinen Beitrag leisten. Die Umsetzung unserer anfangs so kleinen Idee wäre nicht möglich gewesen ohne die Unterstützung Vieler. Dank gilt allen voran unseren Au­ tor:innen für ihre weiterführenden, spannenden Beiträge, die sie teilweise bereits auf der Tagung vorgestellt haben, teilweise in diesem Band zum ersten Mal einem breiten Publikum zugänglich machen. Durch ihr Enga­ gement, ihre Bereitschaft zur Diskussion und eine sorgfältige Vorbereitung konnte die Tagung zu dem werden, was sie versprach. Ermöglicht wurden Tagung und Tagungsband durch unsere Förderer, die uns großzügig finanziell unterstützt haben. Besonderer Dank geht dabei an unsere Kooperationspartnerin, die Heinrich Böll Stiftung BadenWürttemberg e.V., und ganz besonders an unsere dortige Ansprechpartne­ rin Annette Goerlich für ihre Begeisterung, tatkräftige Unterstützung und Mitarbeit. Gefördert wurden wir weiterhin von der Gesellschaft der Freun­ de der Universität Heidelberg e.V., dem Doktorandenkonvent und dem Studierendenrat der Universität Heidelberg, dem Fachschaftsrat Jura Hei­ delberg, dem Gleichstellungsbüro der Universität Heidelberg, dem Deut­ schen Akademikerinnenbund e.V. sowie durch die beiden Kanzleien Allen & Overy und CMS Hasche Sigle. Dem Nomos Verlag und Dr. Katharina König danken wir für die Unterstützung der Tagung und die Veröffentli­ chung dieses Bandes. Tatkräftig unterstützt wurden wir auch durch die Juristische Fakultät Heidelberg. Zu nennen sind hier die Mitarbeitenden der Universitäts- und Fakultätsverwaltung, ganz besonders Dr. Daniel Kai­ ser und Dr. Rainer Keil, die uns von der Idee bis zu ihrer Umsetzung mit Rat und Tat zur Seite standen. Dank gilt zudem den involvierten Institu­ ten und Lehrstühlen, die uns personell und materiell unterstützt haben. Elisabeth Fontius hat uns vor, während und nach der Tagung in großartiger und zuverlässiger Weise unter die Arme gegriffen. Besonders danken wir zudem unseren ehrenamtlichen Helfer:innen, die ohne jede Verpflichtung einen erheblichen Teil zum Gelingen der Tagung beigetragen haben.

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Vorwort der Herausgeberinnen

Ganz herzlich möchten wir uns zudem bei Frau Ministerin Theresia Bauer, bei Prof. Dr. Marc-Philippe Weller, Licence en Droit (Montpellier), Prorektor für Internationales der Universität Heidelberg sowie Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Kahl, M. A., Dekan der Juristischen Fakultät, für ihre eröffnenden Grußworte bedanken. Ihre „schützende Verfassungsrichterin­ nenhand“ hielt schließlich Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Susanne Baer, LL. M. (Michigan) als Schirmfrau der Veranstaltung über unsere Tagung. Ihre ausführlichen und teilweise sehr persönlichen Antworten während des ge­ meinsamen Podiumsgesprächs haben uns berührt, inspiriert und ermutigt. Dafür danken wir. Der Erfolg einer Tagung hängt nicht zuletzt von der Bereitschaft aller Teilnehmer:innen zur respektvollen und engagierten Diskussion ab. Dass dies auf der Frau.Macht.Recht.-Tagung gelungen ist, erfüllt uns als Organi­ satorinnen mit großem Stolz. Wir hoffen, dass aus der Energie der Tagung andere Projekte und Räume entstehen, in denen wir die Diskussion fort­ setzen können. Elisabeth Dux, Johanna Groß, Julia Kraft, Rebecca Militz und Sina Ness

7

Vorwort der Heinrich Böll Stiftung Baden-Württemberg

Dieser Anlass will gewürdigt und gefeiert werden: Vor einhundert Jah­ ren wurde Frauen in Deutschland der Zugang zu juristischen Berufen eröffnet! So haben wir uns freudig auf die Zusammenarbeit zur Tagung Frau.Macht.Recht. und zu dieser Publikation eingelassen. Wir, die Heinrich Böll Stiftung Baden-Württemberg e.V., die grüne politische Stiftung im Land, wollen gesellschaftliche Debatten voranbrin­ gen und Zivilgesellschaft stärken; wir motivieren und vermitteln Wissen, damit sich Bürger:innen konstruktiv in öffentliche Angelegenheiten ein­ mischen und für das Gemeinwohl wirken können. Frau.Macht.Recht. ist ein wegweisender Beitrag dazu. Angesichts des Jubiläums stellen sich die Fragen: Was hat sich in diesen einhundert Jahren verändert? Wie bewerten wir aus heutiger Sicht die Errungenschaften, und was sind die aktuellen Herausforderungen? Die Relevanz des Themas zeigen die überwältigende Resonanz auf den Call for Papers, die gut besuchte Tagung und ihre lebendigen Debatten. Eine dieser Debatten galt der anhaltenden Aktualität des Vorwurfs des Politi­ schen1 in der Wissenschaft. Damit sahen sich schon die Vorreiterinnen vor einhundert Jahren konfrontiert, und noch heute wird der Vorwurf von Parteilichkeit und Unwissenschaftlichkeit erhoben, wenn ideologische An­ nahmen, scheinbar unverrückbare Wahrheiten, gesellschaftliche Leitbilder und Dominanzverhältnisse hinterfragt werden – und das nicht nur in den Rechtswissenschaften. Von den Vorreiterinnen für Frauenrechte, die mit Klugheit, Beharrlich­ keit, Wissen und Humor Wege geebnet haben, können wir viel lernen. Das Podiumsgespräch mit der Richterin des Bundesverfassungsgerichts Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Susanne Baer, LL. M. (Michigan) verdeutlichte das in lebendiger Weise. Dieses Erbe ist ein Schatz und eine Ermutigung weiterzugehen, denn es bleibt noch viel zu tun!

1 Mit dem Vorwurf des Politischen in der Rechtswissenschaft setzt sich der Beitrag von Pola Marie Brünger in diesem Tagungsband auseinander; sie ist – das sei nur am Rande, aber mit etwas Stolz erwähnt – eine ehemalige Stipendiatin des Studienwerks der Heinrich-Böll-Stiftung.

9

Vorwort der Heinrich Böll Stiftung Baden-Württemberg

Die Tagung erfüllt mit Zuversicht angesichts einer neuen Generation von Frauen und auch Männern, die diese Aufgaben interdisziplinär ange­ hen. Für die einzigartige Zusammenarbeit mit dem Team der Initiatorinnen der Tagung bedanken wir uns ganz herzlich; namentlich bei Elisabeth Dux, Johanna Groß, Julia Kraft, Rebecca Militz und Sina Ness: es war ein Gewinn und eine Freude! Gratulieren möchten wir auch der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg zu dieser Tagung. Wir haben es als eine Ehre empfunden, einen unterstützenden Beitrag leisten zu dürfen. Bettina Backes, Vorstand der Heinrich Böll Stiftung Baden-Württemberg, Rechtsanwältin und stellvertretende Richterin des Verfassungsgerichtsho­ fes Baden-Württemberg Annette Goerlich, Bildungsreferentin und stellvertretende Geschäftsführe­ rin der Heinrich Böll Stiftung Baden-Württemberg

10

Inhalt

Einleitung: Fragestellungen, Ergebnisse und Perspektiven der Tagung

13

Elisabeth Dux, Johanna Groß, Julia Kraft, Rebecca Militz und Sina Ness I.

Frauen im Recht – ein historischer Rückblick

Der Heidelberger Juristinnenkreis. Selbstorganisation und Selbstbehauptung von Jurastudentinnen im Nationalsozialismus

27

Fabian Michl Vom Runden Tisch zur Gemeinsamen Verfassungskommission? Beitrag ostdeutscher Frauen* zur „vereinigungsbedingten Erneuerung“ des Art. 3 Abs. 2 GG

51

Johanna Mittrop Frau. Macht. Europarecht. Der Weg der „Mütter Europas“ von 1922 über 1952 bis 2022

73

Martin Schwamborn II. Frauen im Recht heute Gleicher Abschluss – gleiche Chancen? Ungleichheiten von Männern und Frauen in juristischen Berufen aus der Perspektive von Hochschulabsolvent:innen

93

Gesche Brandt Licht in die Blackbox bringen. Wie die mündliche Prüfung diskriminierungssensibel werden kann

115

Charlotte Heppner und Susanna Roßbach 11

Inhalt

Justizneutralitätsgesetze als Exklusionsmechanismen

135

Aqilah Sandhu Die Aufnahme geschlechtsspezifischer Gewalt und Belästigung in die Gefährdungsbeurteilung. Impulse des ILO-Übereinkommens Nr. 190 für einen ganzheitlichen Arbeitsschutz

161

Wiebke Blanquett III. Das Recht als politisches Herrschafts- und Steuerungselement im Geschlechterkontext Der Vorwurf des Politischen. Vorverständnisse in der Rezeption feministischer Rechtswissenschaft

183

Pola Marie Brünger Parität und demokratische Gleichheit. Eine intersektionale Analyse

201

Lea Rabe Geschlechtergerechtigkeit in der Gesellschaft der Singularitäten

221

Bettina Rentsch Geschlecht im Umweltrecht

239

Ida Westphal „Feminismus ist Arbeit gegen die Schubladen“ Ein Gespräch über Differenz und Hierarchie, Perspektivenerweiterung und (Vor-)Bilder Susanne Baer, Johanna Groß, Rebecca Militz und Sina Ness

12

267

Einleitung: Fragestellungen, Ergebnisse und Perspektiven der Tagung Elisabeth Dux, Johanna Groß, Julia Kraft, Rebecca Militz und Sina Ness*

„Mehr als alle anderen Professionen impliziert das juristische Studium den Zugang zu der Verfügbarkeit von Gewalt[,] zu der Durchsetzung des Rechts und setzt seinen eigenen Anspruch, über Menschen und Dinge zu verfügen, als Geltung immer wieder neu‘. Von diesem Machtgefüge waren Frauen unbedingt fernzuhalten.“1 Eindrücklich verdeutlicht dieses Zitat von Dr. Marion Röwekamp, welche Bedeutung der Zulassung von Frauen zu den juristischen Berufen nicht nur im Hinblick auf ihre Berufsfreiheit, sondern gerade auch als Bedin­ gung ihrer staatsbürgerlichen Gleichberechtigung insgesamt zukam. Mit dem Gesetz über die Zulassung von Frauen zu den Berufen der Rechtspfle­ ge vom 11. Juli 19222 erlangten Frauen Zutritt zu einer bestimmten Be­ rufsgruppe, vor allem aber auch – in Gestalt von Judikative, Verwaltung und Anwaltschaft – zu einem institutionalisierten „Feld gefügter Macht“3; und damit potenziell zur Möglichkeit einer rechtlichen Neuformulierung der Geschlechterverhältnisse. Diese von Röwekamp hervorgehobene machtund institutionstheoretische Dimension der Berufsgeschichte von Juristin­ nen vermag zu erklären, warum sich Frauen erst vier Jahre nach der Ein­

* Elisabeth Dux, Johanna Groß und Sina Ness sind Doktorandinnen und Akademische Mitarbeiterinnen an der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg. Julia Kraft ist Akademische Mitarbeiterin ebendort und Doktorandin an der Techni­ schen Universität Kaiserslautern. Rebecca Militz ist Rechtsreferendarin am Landge­ richt Heidelberg und wissenschaftliche Hilfskraft an der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg. 1 Röwekamp, Die ersten deutschen Juristinnen. Eine Geschichte ihrer Professionali­ sierung und Emanzipation, 2011, S. 13 mit Verweis auf Baer, Inklusion und Exklu­ sion. Perspektiven der Geschlechterforschung in der Rechtswissenschaft, in: Verein ProFri (Hrsg.), Recht Richtung Frauen. Beiträge zur feministischen Rechtswissen­ schaft, 2001, 58. 2 RGBl. 1922 I 573. 3 Baer, Inexcitable Speech. Zum Rechtsverständnis postmoderner feministischer Positionen am Beispiel Judith Butler, in: Hornscheidt/Jähnert/Schlichter (Hrsg.), Kritische Differenzen – geteilte Perspektiven, 1998, 229.

13

Einleitung: Fragestellungen, Ergebnisse und Perspektiven der Tagung

führung des Frauenwahlrechts und rund zwei Jahrzehnte nach der Zulas­ sung zu allen anderen Professionen den Weg in die Rechtsberufe erstreiten konnten.4 Wer in welchem Umfang Zugang zu den Berufen der Rechtsetzung, Rechtsprechung und der Rechtsgestaltung erhält, ist angesichts der beson­ deren gesellschaftlichen Bedeutung juristischer Diskurse auch heute noch von großer Bedeutung. Mit der Tagung Frau.Macht.Recht. haben wir uns das Ziel gesetzt, die damit angesprochene wechselseitige Verknüpfung von Recht, Macht und Gleichberechtigung vor dem Hintergrund des 100. Jubi­ läums der Zulassung von Frauen zu den juristischen Berufen zu beleuch­ ten. Aus den unterschiedlichen denkbaren Zugängen und Fragestellungen zu diesem Thema ergab sich die Gliederung der Tagung in mehrere Pa­ nels, die sich nun als entsprechende Kapitel im Tagungsband finden. Dabei ging es uns – erstens – darum, den Weg von Frauen in die juristischen Berufe nachzuzeichnen. Besonders in gesellschaftlichen Um­ bruchzeiten wurde die soziale und rechtliche Stellung von Frauen immer wieder neu verhandelt. Welche Rolle Juristinnen während der bedeutsa­ men historischen Wendepunkte im Deutschland der letzten hundert Jah­ re einnahmen, ist Gegenstand der Beiträge des ersten Themenkomplexes „Frauen im Recht – ein historischer Rückblick“. Daneben wollten wir – zweitens – den Blick auf heutige Ausbildungsund Berufsrealitäten von Juristinnen lenken. Unter dem Titel „Frauen im Recht heute“ thematisieren unsere Autorinnen gegenwärtige Heraus­ forderungen für Juristinnen. Sie diskutieren den Grad tatsächlich gelebter Gleichberechtigung, kritisieren bestehende Hürden und entwickeln Lö­ sungsansätze, um den verfassungsrechtlichen Anspruch auf Gleichberech­ tigung einzulösen. Drittens bot das Jubiläum Anlass zur Auseinandersetzung mit Dif­ ferenzkonstruktionen und systematischen Exklusionsmechanismen im Recht vor dem Hintergrund der Geschlechterdimension. Einen neuen Blick auf klassische wie aktuelle Diskussionen der feministischen Rechts­ wissenschaft, aber auch auf bisher wenig beachtete Fragestellungen sowie Herausforderungen, vor denen Forschende in diesem Bereich nach wie vor stehen, bieten die Beiträge des dritten Themenkomplexes „Recht als politi­ sches Herrschafts- und Steuerungsinstrument im Geschlechterkontext“. Dass die Beschäftigung mit einer feministischen Betrachtung des Rechts auch heute noch auf Skepsis und Widerwillen stoßen kann, weiß wohl

4 Röwekamp, Die ersten deutschen Juristinnen. Eine Geschichte ihrer Professionali­ sierung und Emanzipation, 2011, S. 12 f.

14

Einleitung: Fragestellungen, Ergebnisse und Perspektiven der Tagung

kaum eine Juristin so eindrucksvoll zu berichten wie Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Susanne Baer, LL. M. (Michigan), Richterin am Bundesverfassungs­ gericht und eine der einflussreichsten Wissenschaftlerinnen der rechtli­ chen Genderforschung im deutschsprachigen Raum. Das mit ihr während der Tagung geführte Gespräch über die Bedeutung von feministischer Rechtswissenschaft als „Arbeit gegen die Schubladen“ beschließt den vor­ liegenden Tagungsband. I. Ein historischer Rückblick Obwohl sich Frauen bereits im Jahr 1900 als Hörerinnen an den juristi­ schen Fakultäten des deutschen Reichs einschreiben konnten, studierten die ersten deutschen Studentinnen der Rechtswissenschaft zunächst ohne die Aussicht, den von ihnen erlernten Beruf auch ausüben zu können, denn die Zulassung zu den juristischen Staatsexamina und damit zu den Berufen der Rechtspflege blieb ihnen verwehrt.5 Erst die emanzipatori­ schen Fortschritte der Weimarer Republik und das beharrliche Engage­ ment verschiedener Frauenverbände ermöglichten, dass 1922 die ersten Rechtsreferendarinnen und kurz darauf die ersten voll ausgebildeten Juris­ tinnen ihren Dienst antraten.6 Damit war ein Meilenstein erreicht. Wäh­ rend sich in der Weimarer Republik zunächst mehr Frauen an den juristi­ schen Fakultäten einschrieben, ihre Staatsexamina ablegten und einen ju­ ristischen Beruf ergriffen – 1932 waren 6,2 % der Jurastudierenden weib­ lich –7, setzte die nationalsozialistische Machtergreifung der Ära der ersten Juristinnen jedoch ein vorläufiges Ende. Aufgrund der rassistischen Ideolo­ gie wurden insbesondere Juristinnen, die nach nationalsozialistischer Defi­ nition als jüdisch galten, aus ihren Berufen gedrängt.8 Aber auch Juristin­ 5 Vgl. hierzu ausführlich Röwekamp, Die ersten deutschen Juristinnen. Eine Ge­ schichte ihrer Professionalisierung und Emanzipation, 2011, S. 25 ff. 6 Siehe zu den Diskussionen im Vorfeld der Reformen und den Debatten im Gesetz­ gebungsprozess Hansen, Erna Scheffler (1893–1983). Erste Richterin am Bundes­ verfassungsgericht und Wegbereiterin einer geschlechtergerechten Gesellschaft, 2019, S. 28 ff. sowie DJB (Hrsg.), Juristinnen in Deutschland, 4. Aufl. 2003, 22 ff. Einen Überblick über die ersten Frauen in juristischen Berufen bieten die biogra­ phischen Darstellungen bei Röwekamp, Juristinnen. Lexikon zu Leben und Werk, 2005. 7 Röwekamp, Die ersten deutschen Juristinnen. Eine Geschichte ihrer Professionali­ sierung und Emanzipation, 2011, S. 105. 8 Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, RGBl. 1933 I 175; Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft, RGBl. 1933 I 188. Siehe hierzu auch

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Einleitung: Fragestellungen, Ergebnisse und Perspektiven der Tagung

nen, die nicht aus rassistischen oder politischen Gründen verfolgt wurden, mussten um ihre berufliche Zukunft bangen. Mit dem nationalsozialisti­ schen Rollenbild der Ehefrau und Mutter waren berufstätige Juristinnen – gar in staatstragender Funktion – nur schwer vereinbar. Der hierdurch ent­ stehenden Unsicherheit begegneten Juristinnen auf unterschiedliche Wei­ se. Einen bis dahin ungewöhnlichen Weg schlug der „Heidelberger Juris­ tinnenkreis“ ein, dem sich Juniorprof. Dr. Fabian Michl, LL. M. (Edin­ burgh) in seinem Beitrag widmet. Darin dokumentiert er die Versuche einer Gruppe von Heidelberger Jurastudentinnen, sich in den ersten Jah­ ren des „Dritten Reichs“ die eigene Berufs- und Lebensplanung durch Selbstorganisation und Anpassung zu bewahren. Nicht nur in der Darstel­ lung der Argumentationsstrategien dieser angehenden Juristinnen, die sich zum Teil innerhalb der nationalsozialistischen Ideologie bewegten, son­ dern auch in der Schilderung ihrer späteren Lebens- und Karrierewege zeichnet Michl dabei ein durchaus ambivalentes Bild angehender Juristin­ nen zwischen Täterinnen- und Opferrolle. Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden zur Zeit der deutschen Tei­ lung unterschiedliche Realitäten: Während in der Bundesrepublik nach­ drücklich die traditionelle Rolle der Frau und die Hausfrauenehe vertei­ digt wurden, propagierte die DDR-Führung das Recht auf Erwerbsarbeit für beide Geschlechter.9 Am Vorabend der deutschen Wiedervereinigung waren 90 % der Frauen in der DDR berufstätig;10 im Justizsystem gab es eine in der Welt einmalig hohe Frauenquote.11 In der BRD machten Frau­ en zu dieser Zeit dagegen nur rund 15 % der Anwält:innen, Richter:innen

Ladwig-Winters, Juristinnen 1933 bis 1949 – unter besonderer Berücksichtigung der Situation jüdischer Frauen, djbZ 3/2008, 120-124. 9 Wapler, Frauen in der Geschichte des Rechts, in: Foljanty/Lembke (Hrsg.), Femi­ nistische Rechtswissenschaft. Ein Studienbuch, 2. Aufl. 2012, 33 (48); Röwekamp, Quantität als Erfolgsgeschichte? Frauen in der Justiz der DDR, djbZ 1/2012, 13 (14, 17). 10 Grandke, Familienrecht, in: Heuer (Hrsg.), Die Rechtsordnung der DDR. An­ spruch und Wirklichkeit, 1995, 173 (202 f.). 11 DJB (Hrsg.), Juristinnen in Deutschland, 4. Aufl. 2003, 45. Die hohe Zahl an be­ rufstätigen Juristinnen wird mit Verweis auf die weiter bestehende Doppelbelas­ tung und geringere Aufstiegschancen allerdings nicht als reine Erfolgsgeschichte gesehen, vgl. Wapler, Frauen in der Geschichte des Rechts, in: Foljanty/Lembke (Hrsg.), Feministische Rechtswissenschaft. Ein Studienbuch, 2. Aufl. 2012, 33 (48); Röwekamp, Quantität als Erfolgsgeschichte? Frauen in der Justiz der DDR, djbZ 1/2012, 13 (13 f.); Shaw, Juristinnen in den neuen Bundesländern, Zeit­ schrift für Rechtssoziologie 15 (1994), 191 (196).

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Einleitung: Fragestellungen, Ergebnisse und Perspektiven der Tagung

und Staatsanwält:innen aus.12 Die ebenfalls durch einen Umbruch gekenn­ zeichnete Situation der Wiedervereinigung beleuchtet Johanna Mittrop, Maîtr. en droit (Paris II), LL. M. (KCL) in ihrer Untersuchung des „Bei­ trag[s] ostdeutscher Frauen* zur ‚vereinigungsbedingten Erneuerung‘ des Art. 3 Abs. 2 GG“. Dabei zeichnet sie nach, wie der ausdrückliche Gleich­ stellungsauftrag, der schon im Reform-Verfassungsentwurf der DDR er­ wähnt wurde, seinen Weg in das Grundgesetz fand. Die Entstehungsge­ schichte dieser Norm – so ihr Fazit – lasse sich nicht als lineares und eindi­ mensionales „Vom Gleichstellungsgebot des Runden Tisches zur Gemein­ samen Verfassungskommission“ erzählen, sondern war durch eine Viel­ zahl von Faktoren bedingt, unter denen insbesondere zivilgesellschaftliche Initiativen eine tragende Rolle spielten. Mit dem Einfluss von Frauen auf eine weitere grundlegende Entwick­ lung – die europäische Einigung – beschäftigt sich der abschließende Bei­ trag von Dr. Martin Schwamborn. Die „Mütter des Grundgesetzes“ sind heutzutage vielen Personen ein Begriff.13 Wer aber sind die Gründungs­ mütter Europas? Wie haben Frauen Europarecht „gemacht“ und wo steht Europa bei der Gleichberechtigung? In seinem Beitrag betrachtet Schwam­ born den Weg der „Mütter Europas“ von 1922 bis 2022 und beleuchtet dabei sowohl bewältigte als auch zu bewältigende europarechtliche He­ rausforderungen auf dem Weg zur Gleichberechtigung. II. Juristinnen heute Auch wenn heute jedenfalls in rechtlicher Hinsicht keine geschlechtsbe­ zogenen Zulassungsbeschränkungen mehr bestehen, hat die Frage nach dem Grad an tatsächlich gelebter Gleichstellung in den Studien- und Berufswegen von Jurist:innen nicht an Aktualität eingebüßt. Dr. Gesche Brandt untersucht in ihrem Beitrag, ob bzw. welche Ungleichheiten in beruflichen Karrieren von Männern und Frauen mit gleichem Bildungs­ abschluss im juristischen Bereich (fort-)bestehen. Die von ihr zu diesem Zweck ausgewerteten DZHW-Absolventendaten zeigen, dass auch in die­ ser Gruppe berufliche Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen be­ 12 Schultz, Wie männlich ist die Juristenschaft?, in: Battis/Schultz (Hrsg.), Frauen im Recht, 1990, 319 (322). 13 Siehe zum Begriff schon Verhandlungen des Deutschen Bundestages. Stenogra­ phische Berichte, Band 222, 1976, S. 204; aus der Literatur siehe zB Sitter, Die Rolle der vier Frauen im Parlamentarischen Rat. Die vergessenen Mütter des Grundgesetzes, 1995.

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stehen; ein Umstand, der nicht zuletzt mit der innerfamiliären Aufteilung von Sorgearbeit in Zusammenhang zu bringen sei. Weitere Einblicke in die damit verbundenen Fragen, Mechanismen und Lösungsansätze geben die Beitragsvorschläge, die uns – zu diesem Themenkomplex besonders zahlreich – erreicht haben. Mehrere Exposés befassten sich mit der Ausbildungssituation und den Studienbedingungen an juristischen Fakultäten. Kritisiert wurden unter anderem der Rückgriff auf sexistische Rollenbilder in juristischen Sachver­ halten, eine mangelnde Vereinbarkeit von Mutterschaft, Care-Arbeit und Studium, aber auch das fehlende Angebot kritischer Lehrinhalte im juristi­ schen Lehrplan. Hierbei wurde häufig auf eine viel beachtete empirische Untersuchung zur Benotung der Staatsexamen in Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 2017 Bezug genommen.14 Die Autoren der Studie fanden Hin­ weise auf eine jedenfalls unterbewusste Diskriminierung von Frauen und Menschen mit einer zugeschriebenen Migrationsgeschichte im Rahmen der mündlichen Staatsprüfung.15 Im Anschluss an diese Ergebnisse wid­ men sich Charlotte Heppner und Susanna Roßbach unter dem Titel „Licht in die Blackbox bringen“ der Frage, wie eine diskriminierungssensible mündliche Prüfung gestaltet werden kann. Sie stellen die vom Arbeitsstab Ausbildung und Beruf des Deutschen Juristinnenbundes im Jahr 2022 er­ arbeiteten Forderungen zur diskriminierungssensiblen Ausgestaltung der mündlichen Prüfung – unter Einbeziehung der im Rahmen von Vorträgen und Praxisgesprächen eingebrachten Kritikpunkte – vor. Wiederholt wurde in den eingereichten Exposés zudem auf die fehlen­ de Repräsentanz nicht nur von Frauen, sondern auch von Menschen mit zugeschriebener Migrationsgeschichte oder aus Nichtakademiker:in­ nen-Haushalten in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis hingewiesen.16 Mit einem Exklusionsmechanismus, der dazu ganz unmittelbar beiträgt, befasst sich Dr. Aqilah Sandhu in ihrem Beitrag zu den sog. Justizneutrali­ tätsgesetzen. Diese seit 2018 erlassenen Verbotsgesetze sollen das Vertrau­ en in die Justiz schützen, indem sie Amtsträgerinnen das Tragen religiös konnotierter Kleidung untersagen. Auch kopftuchtragende Rechtsreferen­

14 Glöckner/Towfigh/Traxler, Empirische Untersuchung zur Benotung in der staatli­ chen Pflichtfachprüfung und in der zweiten juristischen Staatsprüfung in Nord­ rhein-Westfalen von 2006-2016, 2017. 15 Siehe hierzu auch Wienfort, ,,Ergebnisunterschiede sind Ausdruck eines funda­ mentalen gesellschaftlichen Problems“ – Interview mit Prof. Dr. Emanuel Tow­ figh, djbZ 1/2020, 4-6. 16 Siehe dazu auch Grünberger/Mangold/Markard/Payandeh/Towfigh, Diversität in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, 2021.

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darinnen werden auf diese Weise von bestimmten Ausbildungstätigkeiten bei Gericht und Staatsanwaltschaft ausgeschlossen. In ihrer Untersuchung analysiert Sandhu die oft stark divergierenden Verständnisse des staatlichen Neutralitätsgebots und unterzieht die damit einhergehende fehlende Di­ versität insbesondere unter dem Gesichtspunkt Akzeptanz und Funktions­ fähigkeit der Justiz einer kritischen Analyse. Seinen Abschluss findet das Kapitel mit einem Beitrag von Wiebke Blan­ quett zu geschlechtsspezifischer Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz. Blanquett widmet sich der Frage, inwieweit die genannten geschlechtsba­ sierten Risiken im nationalen Arbeitsschutz – insbesondere im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung – Berücksichtigung finden. Sie arbeitet he­ raus, dass der breite arbeitsschutzrechtliche Rahmen bereits jetzt die Mög­ lichkeit böte, geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung zu berück­ sichtigen und entwickelt in Orientierung an dem ILO-Übereinkommen Nr. 190 über die Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeits­ welt Lösungsansätze für die Schließung weiterhin bestehender Lücken. III. Das Recht als politisches Herrschafts- und Steuerungselement im Geschlechterkontext Im dritten Teil der Tagung stand das Recht als politisches Herrschaftsund Steuerungsinstrument mit Blick auf grundlegende Strukturen des Rechts und ihre Verflechtungen mit der Kategorie „Geschlecht“ im Zen­ trum. Diese Themen beschäftigen traditionell die feministische Rechtswis­ senschaft, in Teilen auch andere rechtskritische Forschungsströmungen.17 Deren Verankerung in der deutschsprachigen Rechtswissenschaft ist dabei ein jüngeres Phänomen. Auch wenn sich mittlerweile eine durchaus leben­ dige Forschungslandschaft entwickelt hat,18 feministische Themen in der breiten Öffentlichkeit vermehrt und regelmäßig kontrovers diskutiert wer­ den, kommt entsprechenden Ansätzen nach wie vor eine gewisse Außen­ seiterposition zu. Die Herausforderung, sich immer wieder beweisen zu müssen, ist für die feministische Rechtswissenschaft – wie auch für Perso­ nen, die sich mit feministischer Rechtswissenschaft befassen – dabei nichts Neues: Der Vorwurf, in der feministischen Rechtswissenschaft werde ju­

17 Eine Einführung in die feministische Rechtswissenschaft bieten Foljanty/Lembke (Hrsg.), Feministische Rechtswissenschaft. Ein Studienbuch, 2. Aufl. 2012. 18 So die Einschätzung von Baer/Sacksofsky in ihrem Vorwort zu dies. (Hrsg.), Autonomie im Recht – Geschlechtertheoretisch vermessen, 2018, 5.

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ristisch-methodische Sorgfalt zugunsten politisch-aktivistischer Motive auf­ gegeben, ist ein – wenn auch ermüdender – Klassiker. Dieser „Vorwurf des Politischen“ begründe einen Makel, der die Legitimität der eigenen Position sofort in Frage zu stellen scheint und gleichzeitig dazu ermu­ tigt, eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den juristischen Argumenten schuldig zu bleiben, schreibt Pola Marie Brünger und untersucht diese dis­ kurshemmende Praxis in der Rechtswissenschaft in ihrem Beitrag genauer. Dabei plädiert sie für einen transparenten und konstruktiven Umgang mit politischen Vorverständnissen, statt das Bestehen von Wechselwirkungen kontrafaktisch zu negieren. Lag das Forschungsinteresse feministisch-rechtswissenschaftlicher Be­ trachtungen in der Vergangenheit vor allem bei der „Frauenfrage“, sind heute die Frage nach Macht und Herrschaft sowie intersektionale Ansät­ ze ins Zentrum gerückt. Beispielhaft steht hierfür der Beitrag von Lea Rabe, der einen Blick auf das aktuelle Thema der Paritätsgesetze wirft. Ausgehend von der Feststellung, dass sich entsprechende Regelungen oft ausschließlich entlang der Kategorie „Geschlecht“, entlang eines Denkens von Gruppen orientieren, beleuchtet der Text zwei Fragestellungen rund um das Thema Parität: Stellen Paritätsgesetze einen wirksamen Mechanis­ mus zur Teilhabe am demokratischen Prozess dar? Kann Parität auch ab­ seits von Kategorienbildung und mit einer intersektionalen Betrachtung funktionieren? Die letztere Frage wird insbesondere mit Blick auf EnbyPersonen untersucht. An diesen Fragenkreis knüpft auch Juniorprof. Dr. Bettina Rentsch, LL. M. (Michigan) in ihrem Beitrag zur Zukunft der Geschlechtergerech­ tigkeit in der spätmodernen Kapitalgesellschaft an. Auf Grundlage der Überlegungen von Andreas Reckwitz19 charakterisiert Rentsch die Gegen­ wartsgesellschaft als eine „Gesellschaft der Singularitäten“, in der Einzig­ artigkeit und das Besondere zählen – Eigenschaften, die durch den Ein­ zelnen mittels Singularisierungsarbeit erst geschaffen werden müssen. In diesem Prozess habe die Forderung nach „Diversity“, also nach einer Viel­ falt nicht nur der Geschlechter, sondern auch der ethnischen, nationalen und beruflichen Hintergründe, einen festen Platz. Inwieweit sich diese Entwicklung auch im Rahmen der kapitalgesellschaftlichen Frauenförder­ programme sowie der diese ablösende Diversity-Ansätze einerseits, und andererseits in Rechtsprechungslinien zur Leihmutterschaft zeigt, arbeitet Rentsch in einem zweiten Teil ihres Beitrags heraus.

19 Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, 2017.

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Da Geschlecht auch in solchen Rechtsbereichen eine Rolle spielt, in de­ nen es auf den ersten Blick unsichtbar erscheint, ist eine feministischrechtswissenschaftliche Analyse in allen Rechtskontexten für ein umfassen­ des Rechtsverständnis unerlässlich. Exemplarisch zeigt dies Ida Westphal in ihrem Beitrag in Bezug auf das Umweltrecht. Hierbei untersucht sie, wie das Umweltrecht als Rechtsgebiet, in dem Geschlechterfragen bislang zu­ meist unbeachtet blieben, geschlechtertheoretisch erschlossen werden kann. Unter Rückgriff auf einen interdisziplinären Ansatz, einen Über­ blick über die Grundzüge des Umweltrechts und der bestehenden feminis­ tischen Forschung versucht Westphal, Hierarchien und Machtpotentiale im Umweltrecht und deren Wirkweise über die zwischenmenschliche Ebene hinaus auszuloten. Dabei stellt sie Bezüge zum internationalen kritischen Umweltrecht her, wobei ihr das Immissionsschutzrecht als Referenzgebiet dient. Einen einordnenden und perspektivierenden Beitrag auf Gleichstel­ lungsfragen und feministische Rechtswissenschaft leisten schließlich die Einblicke und Betrachtungen von BVRin Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Susanne Baer, LL. M. (Michigan). In ihrem Gespräch mit Johanna Groß, Rebecca Militz und Sina Ness spricht Baer über didaktische Methoden in der juris­ tischen Ausbildung, grundlegende Fragen des Antidiskriminierungsrechts und die Notwendigkeit einer feministischen Betrachtung im Recht. Trotz einer von ihr beschriebenen zunehmenden Repression feministischen Denkens und Rückschritten im Kampf um die Gleichberechtigung schloss Baer die Tagung mit der Hoffnung, dass Frau.Macht.Recht. einen Teil zur Abschaffung ihres eigenen Themas beigetragen hat – und in 100 Jahren Tagungen über die Rolle von Frauen im Recht nicht mehr nötig seien. IV. Perspektiven Welche Erkenntnisse und Perspektiven ergeben sich nun aus den Betrach­ tungen der Beiträge? Zunächst: Die Untersuchung der Professionalisierungsgeschichte von Juristinnen bringt weiterhin neue Erkenntnisse. Auch bestehen in diesem Zusammenhang nach wie vor Forschungsdesiderate, deren Resultate auch für den Blick auf die heutige Situation fruchtbar gemacht werden könn­ ten. Mit der Rolle von Juristinnen in der Weimarer Republik und der DDR sei nur auf einen Teil der hier interessierenden Fragestellungen hin­ gewiesen. Sodann haben die Beiträge zu dieser Tagung gezeigt: Es gibt heute, 100 Jahre nach der Zulassung von Frauen zu den juristischen Berufen, noch 21

Einleitung: Fragestellungen, Ergebnisse und Perspektiven der Tagung

immer viel zu tun. Das betrifft nicht nur die signifikanten geschlechtsspe­ zifischen Unterschiede in den Karrierewegen von Juristinnen und Juristen, sondern zB auch arbeitsschutzrechtliche Schieflagen, an denen deutlich wird, dass der Blick des Gesetzgebers noch immer der männlichen, wei­ ßen (Maßstabs-)figur20 und deren Lebensrealitäten verhaftet ist. Auch die eingangs thematisierte macht- und institutionstheoretische Dimension der Berufsgeschichte ließ sich anhand verschiedener Beiträge nachvollziehen. Gleichzeitig führt sie vor Augen: Selbst dort, wo schon Fortschritte erzielt wurden, greifen diese nicht selten nur für einen begrenzten Teil eines in seinen Lebensrealitäten sehr heterogenen Kollektivs. Dieser Heterogenität auch in gesetzlichen Regelungen Rechnung zu tragen, begreifen wir als eine der größten Herausforderungen. Hieran anknüpfend soll an dieser Stelle Platz für eine – durchaus auch selbstkritische – Betrachtung des von uns gewählten Veranstaltungstitels sein. Zwangsläufig wirft der Begriff der „Frau“ die Frage auf, wer hiermit gemeint ist. Es drängt sich womöglich sogar die Sorge auf, dass dem Titel ein binäres, biologistisches Geschlechterverständnis zugrunde liegen könn­ te. Klarzustellen, dass wir den von uns gewählten Titel nicht in diesem Sinne verstanden wissen möchten und ein ebensolches Verständnis auch nicht zementieren wollen, ist uns jedoch ein großes Anliegen. Die Wahl des Titels ist vielmehr Resultat dreierlei Überlegungen und Abwägungen: So ist davon auszugehen, dass das im Jahr 1922 erlassene Gesetz ein binäres, biologistisch verstandenes Geschlechterkonzept zugrunde gelegt hat. Da gerade dieses Gesetz jedoch Ausgangspunkt unserer Tagung war, konnten eben jenes historische Verständnis sowie die dort verwendeten Begrifflichkeiten nicht ganz ausgeblendet werden. Ein weiterer Balanceakt ergab sich zudem zwischen unserem Anspruch, einerseits dem eigenen Verständnis eines intersektionalen, postkategorialen Feminismus gerecht zu werden, und andererseits das Thema für ein breites Publikum – auch an der Universität Heidelberg – zugänglich zu machen. Nicht zuletzt bestand auch der Wunsch, einen eingängigen, nicht allzu schwerfälligen Titel zu finden. Hätten diese Überlegungen keine Rolle gespielt, so hätte sich bereits im Titel deutlicher niederschlagen können, dass die Lage all

20 Regelmäßig ist der Blick wohl auch in Bezug auf sexuelle Orientierung, Ge­ schlechtsidentität und Religionszugehörigkeit verengt, indem die Lebensrealitä­ ten eines heterosexuellen, christlichen cis Mannes zugrunde gelegt werden.

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derjenigen juristisch tätigen Personen in den Blick genommen werden soll, die von patriarchaler Diskriminierung betroffen sind. Wir wünschen viel Freude bei der Lektüre des Tagungsbandes.

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I. Frauen im Recht – ein historischer Rückblick

Der Heidelberger Juristinnenkreis. Selbstorganisation und Selbstbehauptung von Jurastudentinnen im Nationalsozialismus Fabian Michl*

A. Einführung: Trend und Trendumkehr Im Sommer 1932 jährte sich die Zulassung der Frauen zu den Ämtern und Berufen der Rechtspflege zum zehnten Mal.1 Noch immer war die Zahl der Richterinnen, Rechtsanwältinnen und Beamtinnen im höheren Dienst gering. Auch an den Rechtsfakultäten bildeten Frauen eine kleine Minderheit. Der Anteil der Jurastudentinnen an der Gesamtzahl der Jura­ studierenden lag im Sommersemester 1932 deutschlandweit bei gut sechs Prozent.2 Das war aber immerhin ein historischer Höchststand und der Trend zeigte nach oben. Die ersten Frauen, die zu den Rechtsberufen zugelassen worden waren, demonstrierten, dass man als Juristin allen Wi­ derständen und Widrigkeiten zum Trotz erfolgreich sein konnte,3 und gaben so ein Beispiel für die nachfolgende Generation ab. Doch der Trend hielt nicht an, wie die Statistik der Heidelberger Juris­ tischen Fakultät zeigt.4 Im Sommersemester 1932 lag dort der Anteil der Studentinnen bei 8,6 Prozent, also deutlich über dem Durchschnitt. Ein Jahr später war er nur leicht zurückgegangen auf 7,4 Prozent. Nach dem Sommersemester 1933 fiel er hingegen deutlich ab, auf 3,6 Prozent im Wintersemester 1933/34. Ab dem Wintersemester 1936/37 lag er durchge­ hend unter zwei Prozent. Was diese Trendumkehr für die verbliebenen

* Dr. Fabian Michl, LL.M. (Edin.) ist Juniorprofessor an der Juristenfakultät der Uni­ versität Leipzig. Für die Unterstützung bei der Recherche dankt der Verf. Sabrina Zinke (Universitätsarchiv Heidelberg), Paul Hüther (Universität Heidelberg) und Gesa Plenter (Universität Münster). 1 Gesetz über die Zulassung der Frauen zu den Ämtern und Berufen der Rechtspfle­ ge v. 11.7.1922 (RGBl. I 573). 2 Titze, Das Hochschulstudium in Preußen und Deutschland 1820–1944, 1987, S. 111: 6,19 Prozent. 3 Zur Etablierung der Juristinnen am Ende der Weimarer Republik vgl. Röwekamp, Die ersten deutschen Juristinnen, 2011, S. 636. 4 Angaben nach den Vorlesungsverzeichnissen der Universität Heidelberg.

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Studentinnen bedeutete, macht ein Blick auf die absoluten Zahlen deut­ lich: Im Sommer 1932 studierten in Heidelberg 66 Frauen Rechtswissen­ schaft, ein Jahr später immerhin noch 43, im Winter 1933/34 hingegen nur noch 17 und im Winter 1936/37 lediglich drei. Zwischen den Sommerse­ mestern 1937 und 1939 war jeweils nur eine Studentin in Heidelberg für Jura eingeschrieben. Die Hauptursache für den drastischen Rückgang der Zahl der Jurastu­ dentinnen, der sich auch an den anderen deutschen Universitäten zeigte,5 war die nationalsozialistische Machtübernahme, die am 30.1.1933 mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler begann. Am Ende des Som­ mersemesters 1933 war absehbar, dass der Nationalsozialismus Deutsch­ land grundlegend verändern und nicht ohne Folgen für die beruflichen Perspektiven von Juristinnen bleiben würde. Doch was genau bedeutete die NS-Machtübernahme für Studium und Berufsperspektiven von Juristinnen? Weshalb ging die Zahl der Jurastu­ dentinnen im Sommer 1933 so drastisch zurück? Und wie reagierten die verbliebenen Studentinnen auf den politischen Umbruch? Das sind die Leitfragen dieses Beitrags. In seinem Mittelpunkt steht der Heidelberger Juristinnenkreis, eine bemerkenswerte Form der Selbstorganisation und Selbstbehauptung von angehenden Juristinnen im NS-Staat. Die Grundla­ ge des Beitrags bildet die biographische Forschung zum prominentesten Mitglied des Heidelberger Juristinnenkreises, der späteren Richterin des Bundesverfassungsgerichts Wiltraut Rupp-von Brünneck.6 Ergänzend wur­ den die Studierendenakten weiterer 33 Studentinnen ausgewertet, die zwi­ schen 1933 und 1936 in Heidelberg Jura studierten.7 Entnazifizierungsund Personalakten sowie Korrespondenzen komplettieren die Quellenba­ sis.

5 Titze, Das Hochschulstudium in Preußen und Deutschland 1820–1944, 1987, S. 111. 6 Michl, Wiltraut Rupp-von Brünneck (1912–1977), 2022, insbesondere S. 37 ff. Nicht berücksichtigt werden konnte bei der Biographie der Nachlass von Erdmute Falkenberg (MARCHIVUM, Zug. 44/2003), der für diesen Beitrag ausgewertet wurde. 7 Die Akten der Jurastudentinnen Eltrud Schreiber (WS 1933/34) und Annemari Berka (SS 1934) sind nicht überliefert.

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B. Jurastudium von Frauen im politischen Umbruch I. Keine spezifischen Maßnahmen gegen Jurastudentinnen Der nationalsozialistische Mutterkult, der für weite Teile der „bürgerli­ chen“ Rechten anschlussfähig war, konnte mit Richterinnen, Rechtsanwäl­ tinnen und Beamtinnen im höheren Verwaltungsdienst nichts anfangen. Mit der nationalsozialistischen Machtübernahme erhielten die Stimmen Auftrieb, die seit jeher gegen Frauen in den Rechtsberufen polemisiert hatten.8 Doch diesen Polemiken folgten in den ersten Monaten des NSRegimes keine gezielten staatlichen Maßnahmen gegen Juristinnen oder Jurastudentinnen. Es sollte bis 1935/36 dauern, ehe ihr Zugang zum Ar­ beitsmarkt beschränkt werden würde. II. Politisch und rassistisch motivierte Vertreibung In den ersten Monaten nach der Machtübernahme wurden zunächst nur die Frauen aus den Rechtsberufen und von den Rechtsfakultäten vertrie­ ben, die dem NS-Regime aus politischen oder rassistischen Motiven un­ erwünscht waren. Für die – geschlechtsunabhängige – Vertreibung von Oppositionellen und „Nichtariern“ aus dem Berufsleben schufen zwei Gesetze vom 7.4.1933 die Grundlage: das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums (BBG) und das Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft.9 Für Studentinnen, die nach diesen Vorschriften als „nicht arisch“10 galten, stand daher bereits vor Beginn des Sommersemes­ ters 1933 fest, dass sie keine Aussichten auf eine ausbildungsangemessene Beschäftigung in Justiz, Verwaltung oder Rechtsanwaltschaft hatten. Auch für Studentinnen, die den neuen Machthabern als „Kommunistinnen“ galten, hatten sich die Berufsperspektiven drastisch verschlechtert.

8 Standardreferenz: Dietrich, Der Beruf der Frau zur Rechtsprechung, DJZ 1933, Sp. 1255 f. 9 RGBl. 1933 I 175/188. 10 Nach der Ersten Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Wiederherstel­ lung des Berufsbeamtentums v. 11.4.1933 (RGBl. I 195) galt als „nicht arisch“, wer von „nicht arischen, insbesondere jüdischen Eltern oder Großeltern“ ab­ stammte. Es genügte, wenn ein Elternteil oder ein Großelternteil „nicht arisch“ war. Dies war insbesondere dann anzunehmen, wenn ein Elternteil oder ein Großelternteil der jüdischen Religion angehört hatte. Ob die Person selbst jüdi­ schen Glaubens war, war also unerheblich.

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Für den Ausschluss „kommunistischer“ oder „nicht arischer“ Studie­ render fehlten zunächst gesetzliche Grundlagen. Dennoch erwirkte der einflussreiche Heidelberger „Studentenführer“ Gustav Adolf Scheel11 im Juli 1933 den Ausschluss von 23 Studierenden, die bei den AStA-Wahlen die Vorschlagsliste der kommunistischen Hochschulgruppe unterstützt hatten. Unter den Ausgeschlossenen waren zwei Jurastudentinnen: Erdmu­ te Hackmann und Ilse Steuermann. Das Vorgehen gegen „nicht arische“ Studierende wurde ebenfalls maßgeblich von den NS-Studentenfunktionä­ ren vorangetrieben.12 Auf Scheels Drängen verfügte die badische Landesre­ gierung im April 1933 ein Immatrikulationsverbot für „Nichtarier“, das wenig später vom reichseinheitlichen Gesetz gegen die Überfüllung deut­ scher Schulen und Hochschulen überholt wurde.13 Das Gesetz beschränkte den Anteil der neuaufzunehmenden „nicht arischen“ Studierenden auf 1,5 Prozent. In Heidelberg wurden „Nichtarier“ daraufhin nur noch unter Vorbehalt immatrikuliert. Der Großteil der bereits eingeschriebenen, als „nicht arisch“ geltenden Jurastudierenden, darunter mindestens zwei Studentinnen,14 verließ die Universität nach dem Sommersemester 1933 „freiwillig“, um dem Antise­ mitismus und der Perspektivlosigkeit zu entgehen. Marianne Ahrends, die aufgrund der jüdischen Abstammung ihres Vaters, des Architekten Bruno Ahrends, als „Nichtarierin“ diskriminiert wurde, erinnerte sich später, dass 1934/35 fast alle ihrer „jüdischen oder nicht-arischen Kommilitonen“ die Universität bereits verlassen hatten.15 Nachdem ihr in Berlin die Zulassung zum Examen versagt worden war, gelang es ihr, noch 1935 in Heidelberg ihr Studium mit der Doktorprüfung abzuschließen.16 Danach flüchtete auch sie, wie viele vor ihr, ins Ausland. Die Vertreibung der jüdischen Studierenden hatte eine erhebliche Aus­ wirkung auf die Zahl der Jurastudentinnen an der Universität Heidelberg,

11 Zu Scheels dominanter Rolle vgl. Mußgnug, Die Universität Heidelberg zu Be­ ginn der nationalsozialistischen Herrschaft, in: Doerr (Hrsg.), Semper Apertus III, 1985, 464 (469, 472 ff., 484 ff.). 12 Vgl. Mußgnug, Die Universität Heidelberg zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft, in: Doerr (Hrsg.), Semper Apertus III, 1985, 464 (472 f.); Weckbecker, Die Judenverfolgung in Heidelberg 1933–1945, 1985, S. 172 ff. 13 Vom 25.3.1933 (RGBl. I 225). 14 Brigitte Levy und Käthe Strauss. Die als „Kommunistin“ ausgeschlossene Ilse Steuermann war ebenfalls jüdischen Glaubens. 15 Marianne Neuhaus-Ahrends an Gustav Radbruch, Okt. 1948, Universitätsbiblio­ thek Heidelberg, Heid. Hs. 3716 III F 873. 16 Dissertation: Geschichte der Interessengegensätze innerhalb der Aktiengesell­ schaft seit 1870, 1939 (Betreuer: Eugen Ulmer).

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die bei Studentinnen jüdischen Glaubens besonders beliebt war. Zwischen dem Sommersemester 1929 und dem Wintersemester 1932/33 betrug ihr Anteil an der Gesamtzahl der Jurastudentinnen 41,4 Prozent,17 während er deutschlandweit im selben Zeitraum bei 15,1 Prozent lag.18 Rechnet man die Studentinnen hinzu, die in der NS-Rassenideologie aufgrund ihrer Ab­ stammung als „jüdisch“ galten, dürften die (später so genannten) „Nichta­ rierinnen“ vor der NS-Machtübernahme die größte Gruppe unter den Hei­ delberger Jurastudentinnen gebildet haben. III. Anfeindungen und Verunsicherungen Der starke Rückgang der Zahl der Jurastudentinnen nach dem Sommerse­ mester 1933 kann nur teilweise mit den politisch und rassistisch motivier­ ten Vertreibungen erklärt werden. Im Übrigen sind die Ursachen nicht so offensichtlich. Denn Jurastudentinnen, die nicht als „Kommunistinnen“ oder „Nichtarierinnen“ galten, erlitten in den ersten Monaten nach der Machtübernahme keine staatlichen Benachteiligungen. Wohl aber waren sie zunehmenden Anfeindungen durch ihre Kommilitonen ausgesetzt, bei denen die frauenberufsfeindliche Grundhaltung des Nationalsozialismus auf fruchtbaren Boden fiel. Nationalsozialistische Heidelberger Studentin­ nen berichteten noch im Sommer 1935 über ihre „Unsicherheit“ aufgrund von „z. T. heftigen Angriffen, die im Sturm der ersten revolutionären Umwandlung von einigen Übereifrigen gegen [ihre] studentische Existenz gerichtet“ worden seien.19 Hinzu trat die wachsende Sorge um die berufli­ chen Perspektiven. Die Gerüchte über einen bevorstehenden Ausschluss der Frauen von Rechtsberufen hielten sich hartnäckig. So dürfte der dras­ tische Rückgang der Zahl der Jurastudentinnen nach dem Sommersemes­ ter 1933 vor allem damit zu erklären sein, dass viele von ihnen für sich kei­ ne berufliche Zukunft im NS-Staat sahen.20 Sie verließen die Universität

17 Eigene Auswertung der Heidelberger Matrikel; Protestantinnen: 43,3 Prozent; Katholikinnen: 8,9 Prozent; sonstige: 6,4 Prozent. 18 Röwekamp, Die ersten deutschen Juristinnen, 2011, S. 125, die sich um eine Er­ klärung der starken „Überrepräsentation“ jüdischer Jurastudentinnen bemüht (S. 128 ff.). 19 Fachschaftsarbeit der Studentinnen, Der Heidelberger Student, SS 1935, Nr. 2, 7. 20 Vgl. auch die Einschätzung Röwekamps, Die ersten deutschen Juristinnen, 2011, S. 724, nach der der Rückgang des Studentinnenanteils „wohl überwiegend auf die […] Gerüchte um die vollständige Schließung der juristischen Berufe zurück­ zuführen ist“.

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oder wechselten zu Studiengängen, in denen aufgrund der ideologischen Geschlechterstereotype die Vorbehalte gegen Frauen geringer waren, wie etwa den Gesundheits- und Sprachwissenschaften.21 C. Selbstorganisation und Selbstbehauptung der Heidelberger Jurastudentinnen I. Einbindung der Studentinnen in die NS-Studierendenorganisation Die Ursprünge des Heidelberger Juristinnenkreises reichen in die Zeit der Anfeindungen und Verunsicherungen zurück. Sie lassen sich an einer Jura­ studentin festmachen, die sich mit der Verdrängung der Juristinnen nicht abfinden wollte: Anna Kottenhoff. Als nach dem Sommersemester 1933 gut die Hälfte ihrer Kommilitoninnen die Fakultät verließ, beschloss sie, für die Belange der Jurastudentinnen einzutreten – und zwar nicht in Oppo­ sition zum NS-Regime, sondern innerhalb seiner Ideologie, der sie wohl schon zuvor nahegestanden hatte.22 Am 1.11.1933 trat Anna Kottenhoff dem NS-Studentenbund bei, arbeitete „sofort an führender Stelle mit und griff […] tatkräftig die oft noch verworrenen Studentinnenfragen an“.23 Ihr Engagement wurde begünstigt durch die verstärkte Einbindung der Studentinnen in die Heidelberger Studierendenorganisationen, die vom Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund (NSDStB) unter Gustav Adolf Scheel kontrolliert wurden. Was Scheel und seine „Kameraden“ dazu bewegte, sich um die Integra­ tion der Studentinnen zu bemühen, während an anderen Universitäten die frauenfeindlichen Aktionen anhielten, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Vielleicht war es die Überzeugung, dass der vielbeschworene Auf­ bau der „Volksgemeinschaft“ nur unter Einbeziehung beider Geschlechter gelingen konnte. Nicht ohne Bedeutung dürften außerdem persönliche Annäherungen zwischen den Geschlechtern gewesen sein: So heiratete Gustav Adolf Scheel 1935 seine Kommilitonin Elisabeth Lotze, eine Funk­ tionärin der Heidelberger Arbeitsgemeinschaft Nationalsozialistischer Stu­ dentinnen (ANSt). 21 Vgl. das Fachbereichsprofil der Studentinnen bei Titze, Das Hochschulstudium in Preußen und Deutschland 1820–1944, 1987, S. 137. 22 Kurzbiographie bei Röwekamp, Juristinnen, 2005, S. 364 f. Die dortige Datierung des Beitritts zum NSDStB „um 1930“ ist jedoch unplausibel, da Kottenhoff ihr Studium erst 1932 begann. Biographische Daten nach der Studierendenakte und dem Lebenslauf in Kottenhoff, Der Staat im Recht, 1939, S. 73. 23 6 Jahre in der Studentinnenarbeit, Die Bewegung 25/26/1942, 2.

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Die ANSt war die weibliche Unterorganisation des NSDStB. Schon im Sommersemester 1933 rief sie in Heidelberg die „Deutsche[n] Studen­ tinnen“ dazu auf, „auf den ihrer Eigenart entsprechenden Gebieten“ am „Wiederaufbau des Deutschen Reiches“ mitzuarbeiten, und warb dafür mit dem Slogan: „Die A.N.St. wahrt die Rechte der deutschen Studentin an den Hochschulen!“24 Anfangs war den Studentinnen jedoch keine Mit­ wirkungsmöglichkeit innerhalb der Studierendenschaft eingeräumt, dem gesetzlichen Vertretungsorgan aller Studierender „deutscher Abstammung und Muttersprache“.25 Die „Erneuerung“ der Universität im Geist des Nationalsozialismus war zunächst reine Männersache. Das änderte sich zu Beginn des Wintersemesters 1933/34, als innerhalb der Studierenden­ schaft ein Hauptamt für Studentinnen mit zehn Abteilungen („Ämtern“) eingerichtet wurde, die sich ausschließlich mit „Studentinnen-Fragen“ be­ fassten. Diese geschlechtsspezifische Erweiterung der Studierendenorgani­ sation wurde damit begründet, dass sich „[d]ie deutsche Studentin […] zum Teil noch nicht als nationalsozialistische Studentin bewährt“ habe und „dazu erzogen und herangebildet werden“ müsse.26 Die Heidelberger ANSt trieb die ideologiekonforme Integration der Studentinnen so rasch voran, dass der Geschlechtergegensatz schon bald einem durch die Imagination der „Volksgemeinschaft“ gestifteten Gemein­ schaftsgefühl gewichen zu sein scheint. Das belegt die ausführliche Be­ richterstattung der Heidelberger Studentenzeitung über den „Dienst der Studentinnen“27 ebenso wie ein bemerkenswerter Gastbeitrag des NS-Pub­ lizisten Johann van Leers, der sich entschieden gegen die Ausgrenzung der Studentinnen wandte: „Die Hochschule gehört nicht den Männern, sondern dem ganzen Volke. Zum Volk gehören die Frauen selbstverständ­ lich genau so wie die Männer.“28 Die Studentinnen nahmen den Ball auf und erklärten, „zur Mithilfe und zum vollen Einsatz“ beim Aufbau „des neuen Staates“ bereit zu sein: „Wir glauben auch nicht, daß dieser gemeinsamen Arbeit irgend etwas im Wege steht, da das einheitliche Ziel

24 Deutsche Studentinnen, Der Heidelberger Student, SS 1933, Nr. 2, 16. 25 Gesetz über die Bildung von Studentenschaften an den wissenschaftlichen Hoch­ schulen v. 22.4.1933 (RGBl. I 215). 26 Studentinnen-Fragen, Der Heidelberger Student, WS 1933/34, Nr. 2, 6. Im Einzel­ nen wurden folgende Ämter eingerichtet: Schulung, Arbeitsdienst, Sport, Frauen­ dienst, Gemeinschaftspflege, Grenz- und Auslandsfragen, Wirtschaftsfragen, Ver­ bände, Volkswohlfahrt. 27 Der Heidelberger Student, WS 1933/34, Nr. 7, 10. 28 v. Leers, Unsere Kameradinnen oder unsere ‚Gäste‘, Der Heidelberger Student, WS 1933/34, Nr. 7, 10.

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und die Idee der Volksgemeinschaft weder männerbündlerische noch frau­ enrechtlerische Einzelbestrebungen zulässt“.29 Im Wintersemester 1935/36 konstatierte Anna Kottenhoff: „Student und Studentin erfüllen heute ihre Aufgaben gemeinsam.“30 II. Freiwillige Arbeitsgemeinschaft für Juristinnen Auf Ebene der Fakultäten waren die streng ideologisch ausgerichteten studentischen Fachschaften um eine Überwindung des Geschlechtergegen­ satzes bemüht. So veranstaltete die juristische Fachschaft im Juni 1934 ein „Wochenend-Schulungslager“ im Odenwald, „in dem die Studenten unter sich mit Problemen gemeinsam ringen soll[t]en und gleichzeitig die Gelegenheit ha[tt]en, der umwohnenden Bevölkerung ihren Willen zur Volksgemeinschaft zu beweisen“.31 Neben 20 Studenten nahmen auch elf Studentinnen an dem Schulungslager teil. Das Wochenend-Schulungslager der juristischen Fachschaft war zu­ gleich eine Art Gründungstreffen des Heidelberger Juristinnenkreises, den Anna Kottenhoff aus den von ihr politisch „geschulten“ Kommilitoninnen formte. Zunächst scheint der Juristinnenkreis eine Gruppe unter dem Dach der ANSt gewesen zu sein, zu der aber auch Nicht-Mitglieder Zu­ tritt hatten. Kottenhoff wollte der Gruppe einen offiziellen Charakter im Rahmen der juristischen Fachschaft verschaffen, wie sie sich überhaupt für weibliche Arbeitsgemeinschaften innerhalb der Fachschaften einsetzte. Im Wintersemester 1934/35 hatten ihre Bemühungen Erfolg: In allen Fach­ schaften wurden Arbeitsgemeinschaften eingerichtet, „die solche Fragen zur Erörterung stellten, die uns speziell als Frauen interessieren“, wie es in der Studentenzeitung hieß: „die historischen, gegenwärtigen und zukünf­ tigen Aufgaben der Frau, ihr Wirken in und für Volk und Staat, ihre Beziehung zu Studium und Beruf.“32 Im Vorlesungsverzeichnis für das Wintersemester 1934/35 wurde inner­ halb der juristischen Fachschaft eine „Freiwillige Arbeitsgemeinschaft für Juristinnen“ angekündigt, „freiwillig“ deshalb, weil die Teilnahme an ihr nicht die Pflicht zur Fachschaftsarbeit erfüllte: Die Studentinnen mussten also zusätzlich an einer geschlechterübergreifenden Arbeitsgemeinschaft 29 Fachschaftsarbeit der Studentinnen, Der Heidelberger Student, SS 1935, Nr. 2, 7. 30 Kottenhoff, Fachschaftsarbeit, Der Heidelberger Student, WS 1935/36, Nr. 2, 6. 31 Wochenend-Schulungslager der juristischen Fachschaft Heidelberg, 16./17. Juni 1934, Der Heidelberger Student, SS 1934, Nr. 5, 3. 32 Fachschaftsarbeit der Studentinnen, Der Heidelberger Student, SS 1935, Nr. 2, 7.

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mitwirken.33 Da Anna Kottenhoff im Hauptamt für Studentinnen zur Refe­ rentin für die Fachschaftsarbeit aufgestiegen war, überließ sie die Leitung der weiblichen Arbeitsgemeinschaft einer bewährten „Kameradin“, die im Juli 1934 dem NSDStB beigetreten war: Wiltraut von Brünneck (* 1912). Neben Kottenhoff und Brünneck gehörten zum engeren Kreis der etwa zwölfköpfigen Gruppe Anneliese Cüny (* 1914), Marie Luise Hilger (* 1912), Annemarie Vocke (* 1912) sowie die Schwestern Helga Einsele (* 1910) und Erdmute Hackmann (* 1913).34 Auf dem Programm der Arbeitsgemeinschaft standen die „Stellung der Frau im National-Sozialismus“ sowie „Studium und Beruf“.35 Diese Themen boten reichlich Diskussionsstoff, denn im Sommer 1934 war eine neue Justizausbildungsordnung erlassen worden, die der Sorge der angehenden Juristinnen um ihre beruflichen Perspektiven neue Nahrung gab.36 Bei den Zulassungsvoraussetzungen zur ersten Staatsprüfung war nur noch vom „jungen deutschen Manne“ die Rede. Für Frauen gab es keine Bestimmung. Der vom Präsidenten des Reichsjustizprüfungsamts Otto Palandt herausgegebene Kommentar vermerkte dazu, dass die Ausbil­ dungsordnung davon ausgehe, dass es Sache des Mannes sei, das Recht zu wahren. Zwar könne Frauen die Zulassung zum Examen derzeit nicht verwehrt werden. Man müsse ihnen aber dringend davon abraten, sich dem Rechtsstudium zu widmen, denn sie könnten nicht damit rechnen, im Justizdienst beschäftigt zu werden. Auch die Tätigkeit als Rechtsanwäl­ tin biete Frauen erfahrungsgemäß keine Möglichkeit, sich den nötigen Lebensunterhalt zu verdienen.37 Als Annemarie Vocke sich im September

33 Zur Wahl standen: „Volkstum, Rasse, Recht“, „Nationalsozialistische Wirtschafts­ politik“, „Deutsche außenpolitische Rechtslage“, „Die Staatsauffassungen des Na­ tionalsozialismus, Faschismus, Liberalismus und Bolschewismus“, „Sozialismus im Recht (Arbeitsrecht, ständischer Aufbau, Umwandlung des Eigentumsbegriffs u. a.)“, „Deutsches Bauernrecht (Blut und Boden als Fundamente deutschen Rechtsdenkens)“ und „Nationalsozialistische Gesetzgebung, Rechtsfragen des Ta­ ges“; Vorlesungsverzeichnis WS 1934/35, S. 61. 34 Weitere Teilnehmerinnen waren Else Beaufort (* 1913), Johanna Seltsam (* 1914; später verh. Burkart), Maja Zaun (* 1912; später verw. Gentes, verh. Leferenz). Außerdem nahm die Germanistikstudentin Waltraut Falkenberg (später verh. Zilius), die spätere Schwägerin Erdmute Hackmanns (verh. Falkenberg), an den Treffen der Gruppe teil. Wahrscheinlich ist außerdem die Teilnahme von Marga­ rete Schmitz (* 1912). 35 Fachschaftsarbeit der Studentinnen, Der Heidelberger Student, SS 1935, Nr. 2, 7. 36 Justizausbildungsordnung v. 22.7.1934 (RGBl. I 727). 37 Palandt/Richter/Richter, 1934, JAO § 2 Anm. 3.

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1934 beim preußischen Justizministerium nach ihren Berufsaussichten er­ kundigte, erhielt sie zur Antwort eine Abschrift des Kommentartexts.38 III. Aufgabenteilung der Geschlechter Die Heidelberger Jurastudentinnen mussten sich von der unmissverständ­ lichen Positionierung der obersten Justizbehörden herausgefordert fühlen. Ihre Berufs- und Lebenspläne waren nunmehr ernstlich bedroht. Sie for­ mulierten daraufhin, wie Helga Einsele später berichtete, verschiedene Ein­ gaben an den Reichsjustizminister Franz Gürtner, seinen Staatssekretär Ro­ land Freisler und an die Reichsfrauenführerin Gertrud Scholtz-Klink.39 Die Funktionär:innen des Regimes dürften für eine Forderung nach Gleichbe­ rechtigung freilich kaum ein offenes Ohr gehabt haben. Die Heidelberger Juristinnen begründeten ihren Anspruch auf Teilhabe an Studium und Berufsleben daher anhand der nationalsozialistischen Ideologie, der eine Aufgabenteilung der Geschlechter zugrunde lag. Es galt, wie Anna Kotten­ hoff es formulierte, die „Sonderaufgaben der Frau“ zu identifizieren, die diese als Juristin in der Volksgemeinschaft übernehmen konnte.40 Die Heidelberger Juristinnen konnten sich dabei an den Thesen der Rechtsanwältin Ilse Eben-Servaes41 orientieren, die im November 1934 in der Frauenbeilage der Parteizeitung „Völkischer Beobachter“ einen Arti­ kel über „Die Aufgabe der Frau als Juristin“ publizierte.42 Darin grenzte sich die NS-Funktionärin zwar einerseits von der „völlig irregeleiteten Frauenbewegung“ und deren Forderung nach Gleichberechtigung ab, ver­ langte aber andererseits die Mitwirkung von Juristinnen in Rechts- und Lebensbereichen, die dem „inneren Wesen der Frau“ entsprächen, kon­ kret: in den NS-Frauenorganisationen, als Rechtsberaterin für Frauen, als Familienrichterin, in der Wohlfahrts-, Jugend- und Schulverwaltung, in der Berufsberatung, bei der Polizei und im Gefängniswesen. In all diesen Bereichen werde die Juristin ihre Aufgaben in Ergänzung zu den Aufgaben des Mannes „mit den ihr arteigenen Kräften zum Wohle der Volksgemein­ schaft erfüllen“. 38 Der preußische Justizminister an Annemarie Vocke, 22.9.1934, Landesarchiv NRW, 1064-V Nr. 1302. 39 Einsele, in: Fabricius-Brand/Berghahn/Sudhölter (Hrsg.), Juristinnen, 1982, 184. 40 Kottenhoff, Mann und Frau in geistiger Zusammenarbeit, Neue Deutsche Frau­ enzeitschrift 6/1937, 81. 41 Kurzbiographie: Röwekamp, Juristinnen, 2005, S. 362 f. 42 Völkischer Beobachter v. 8.11.1934, Frauenbeilage, 2.

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In späteren Veröffentlichungen vertraten auch Anna Kottenhoff und Wil­ traut von Brünneck die Aufgabenteilung im Recht, zogen den Aufgaben­ kreis der Frauen jedoch weit43 und zählten dazu insbesondere auch die Rechtswissenschaft.44 Die Beschränkung des Zugangs der Juristinnen zu bestimmten „weiblichen“ Rechtsbereichen musste ihnen immer noch bes­ ser erscheinen als der völlige Ausschluss. Die ideologische Aufgabentei­ lung, die auf der vermeintlichen „Eigenart“ der Geschlechter beruhte, hat­ te darüber hinaus den Reiz, bestimmte Bereiche den Männern ganz streitig zu machen, besonders „soziale“ Rechtsgebiete wie das Familien-, Jugendund Arbeitsrecht. D. Berufsperspektiven und Werdegänge I. Ausschluss von den Rechtsberufen Das berufspolitische Engagement des Heidelberger Juristinnenkreises konnte den weitgehenden Ausschluss der Frauen von den Rechtsberufen nicht verhindern. Zwar blieben die juristischen Fakultäten im NS-Staat für Studentinnen weiter geöffnet, doch in den Jahren 1935 und 1936 wur­ de ihr Zugang zu den klassischen juristischen Berufen aufgehoben:45 Im September 1935 verfügte der Reichsjustizminister, Frauen nicht mehr als Richterinnen oder Staatsanwältinnen anzustellen. Ab Sommer 1936 wur­ den auf Geheiß der NSDAP-Führung Juristinnen nicht mehr zur Rechtsan­ waltschaft zugelassen. Um Härten zu vermeiden, wurden Gerichtsassesso­ rinnen teils in der Verwaltung untergebracht, in der ihnen die Einstellung in den höheren Dienst aber regelmäßig verwehrt wurde. Adolf Hitler be­ kräftigte in seiner Rede „zur deutschen Frauenschaft“ auf dem Reichspar­ teitag im September 1936 seine ablehnende Haltung gegenüber Juristin­ nen.46 Durch die vorangegangenen Anordnungen der Jahre 1935/36 war

43 Explizit schon Kottenhoff, Fachschaftsarbeit, Der Heidelberger Student, WS 1935/36, Nr. 2, 6; weitere gleichsinnige Veröffentlichungen nachgewiesen bei Röwekamp, Juristinnen, 2005, S. 365. 44 v. Brünneck, Die Aufgaben der Frau im Recht, Frauen-Kultur 11/1937, 9 f.; dazu Michl, Wiltraut Rupp-von Brünneck (1912–1977), 2022, S. 59 ff. 45 Vgl. nur Deutscher Juristinnenbund (Hrsg.), Juristinnen in Deutschland, 2. Aufl. 1989, 17 ff. mit einem Abdruck der relevanten Dokumente auf S. 176 ff. 46 Auszug abgedruckt in: Deutscher Juristinnenbund (Hrsg.), Juristinnen in Deutschland, 2. Aufl. 1989, 176 f.

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das Gesetz über die Zulassung der Frauen zu den Ämtern und Berufen der Rechtspflege vom 11.7.1922 faktisch außer Kraft gesetzt worden. II. Juristinnen für die „Volksgemeinschaft“ Vom Ausschluss der nachrückenden Juristinnen von den Rechtsberufen wurde später auf deren völlige Perspektivlosigkeit im NS-Staat geschlossen. Die Geschichte der deutschen Juristinnen zwischen 1933 und 1945 wur­ de, zumal von den Zeitgenossinnen, als reine Diskriminierungsgeschichte erzählt. Erst Anfang des 21. Jahrhunderts geriet in den Blick, dass Juristin­ nen, die sich mit dem Regime und seiner Ideologie arrangierten, allen Diskriminierungen zum Trotz nicht völlig perspektivlos waren. Sie konn­ ten vielmehr in verschiedenen Rechtsbereichen tätig sein, „in denen sie systemkonform mitwirkten, Karriere machten und damit zur Etablierung und Aufrechterhaltung des Nationalsozialismus beitrugen“.47 Für nachrü­ ckende Juristinnen eröffneten sich Karrierechancen abseits der klassischen Rechtsberufe vor allem in den stetig wachsenden NS-Organisationen. Ne­ ben ihrem politischen Auftrag übernahmen diese Organisationen in zu­ nehmendem Maß staatliche Aufgaben und konnten dabei auf juristischen Sachverstand nicht verzichten. Der ideologischen Aufgabenteilung ent­ sprach es, dass in „weiblichen“ Organisationen und Unterorganisationen dieses Bedürfnis durch Frauen gedeckt werden sollte. So wurden in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre immer mehr Stellen in NS-Organisatio­ nen geschaffen, auf denen Juristinnen ausbildungsangemessen eingesetzt und besoldet wurden: in der Reichsfrauenführung, der NS-Frauenschaft, dem Bund Deutscher Mädel und dem Deutschen Frauenwerk ebenso wie in der NS-Volkswohlfahrt und den Organisationen des Bildungs-, Er­ ziehungs- und Arbeitswesens, insbesondere der Reichsstudentenführung, dem Reichsstudentenwerk, der Deutschen Arbeitsfront, die ein „Frauen­ amt“ unterhielt, und dem Reichsarbeitsdienst der weiblichen Jugend.48

47 Röwekamp, Diskriminierung oder Beteiligung?, djbZ 2008, 125 (127), die sich kritisch mit Walcoff, Von der Staatsbürgerin zur ‚Volksbürgerin‘, in: Steinbacher (Hrsg.), Volksgenossinnen, 2007, 48 (59 ff.) auseinandersetzt. Walcoff wies – so­ weit ersichtlich als erste – darauf hin, dass regimekonforme Juristinnen nicht völ­ lig perspektivlos waren. 48 Esch, Lage und Aussichten in den höheren Frauenberufen, Die Frau 38 (1940), 168 (172), die neben NS-Organisationen und Behörden auf die Wirtschaft als Ar­ beitsmarkt für Juristinnen verweist; ausführlich dazu Röwekamp, Die ersten deut­ schen Juristinnen, 2011, S. 746 ff.

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III. Werdegänge der Heidelberger Juristinnen Dass man die beruflichen Perspektiven von Juristinnen im NS-Staat dif­ ferenziert betrachten muss, zeigen exemplarisch die Werdegänge der Mit­ glieder des Heidelberger Juristinnenkreises. Anna Kottenhoff49 legte 1935 ihr Referendarexamen ab und ging dann nach Berlin, wo sie gemeinsam mit Wiltraut von Brünneck die politische Schulung von Jurastudentinnen in der ANSt fortsetzte. Der Heidelber­ ger „Studentenführer“ Gustav Adolf Scheel, der im November 1936 zum Reichsstudentenführer ernannt worden war, holte sie als Beauftragte für Wissenschaft und Facherziehung im Amt Studentinnen in seine Behör­ de. 1937 wurde Kottenhoff in Heidelberg mit der von Reinhard Höhn betreuten Arbeit „Der Staat im Recht“ promoviert. Im selben Jahr trat sie der NSDAP bei. 1939 stieg sie in der Reichsstudentenführung zur Reichs-ANSt-Referentin auf. 1941 machte sie Scheel, inzwischen Gauleiter von Salzburg, zur Leiterin der Gaufrauenschaft. Kottenhoffs steile politische Karriere endete nach der Eheschließung mit dem NS-Funktionär Günther Dammer im Jahr 1942. Das Ehepaar zog ins besetzte Litauen, wo Dammer für die Rekrutierung von Zwangsarbeitern zuständig war. Als die Front näher rückte, wurde er nach München versetzt, wo die Eheleute bei Kriegs­ ende unter falschem Namen („Schmidt“) untertauchten, angeblich um Dammer vor der Vollstreckung eines sowjetischen Todesurteils zu bewah­ ren. Annemarie Vocke50 bestand 1936 das Referendarexamen und wurde im Jahr darauf in Heidelberg mit der – ebenfalls von Höhn betreuten – Disser­ tation „Grundrechte und Nationalsozialismus“ promoviert. Wie Kottenhoff trat sie 1937 der NSDAP bei. Sie absolvierte den Vorbereitungsdienst und legte 1939 das Assessorexamen ab. 1940 nahm sie eine Stelle als Rechtssachbearbeiterin beim Reichsarbeitsdienst der weiblichen Jugend an. Nach kurzer Probezeit wurde sie zur Stabsführerin ernannt und zwei Jahre später zur Oberstabsführerin befördert, ein Amt, das nach Status und

49 Promotionsakte nicht überliefert; Namensänderung: Landesarchiv NRW, BK 1139/3; biographische Angaben: Dr. Anna Kottenhoff Gaufrauenschaftsleiterin, Die Bewegung 6/1941, 8; 6 Jahre in der Studentinnenarbeit, Die Bewegung 25/26/1942, 2. Kurzbiographien: Grüttner, Biographisches Lexikon zur national­ sozialistischen Wissenschaftspolitik, 2004, S. 97; Röwekamp, Juristinnen, 2005, S. 364 f.; Röwekamp, Die ersten deutschen Juristinnen, 2011, S. 751 f. 50 Promotion: Universitätsarchiv Heidelberg, H-II-852-41; Entnazifizierung: Landes­ archiv NRW, 1064-V Nr. 1302; Personalakte: Landesarchiv NRW, 0252 Nr. 898; Sahrhage, Bünder Köpfe, 2022.

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Besoldung dem einer Regierungsrätin entsprach. Nach ihrer Heirat mit dem Reichsbahnrat Herrmann Elsner im Jahr 1942 setzte sie ihre berufliche Tätigkeit zunächst fort, wurde aber ab dem Januar 1944 aus Gründen des Mutterschutzes beurlaubt. Wiltraut von Brünneck51 wechselte im Sommer 1935 nach Berlin, wo sie ein Jahr später das Referendarexamen mit Bestnote ablegte. 1936/37 betei­ ligte sie sich mit einer Gruppe Berliner Jurastudentinnen, darunter ihre Heidelberger Kommilitonin Erdmute Falkenberg, erfolgreich am Reichsbe­ rufswettkampf der Studenten (Wettkampfarbeit: „Die Industriearbeiterin im Recht“). 1937 begann sie den Vorbereitungsdienst. 1938 trat sie der NS-Frauenschaft bei, in der sie die Leitung einer Jugendgruppe übernahm. 1941 bestand sie das Assessorexamen – erneut als Jahrgangsbeste. Danach arbeitete sie bis 1943 als wissenschaftliche Assistentin am Berliner Institut für Arbeitsrecht von Wolfgang Siebert. 1943 wechselte sie an das Reichsjus­ tizministerium. Das Material für eine Doktorarbeit ging bei einem Luftan­ griff verloren. 1944 übernahm sie die Leitung des Grundbuchreferats und wurde zur Regierungsrätin ernannt. Kurz vor Kriegsende wurde sie an das Amtsgericht Sangerhausen versetzt. Anneliese Cüny52 bestand 1936 das Referendarexamen und war danach als Hilfsarbeiterin am Kieler Institut für Weltwirtschaft tätig, wo Siebert (der 1938 nach Berlin wechselte) ihre Dissertation über „De[n] Tarifvertrag in der faschistischen Arbeitsverfassung im Vergleich mit dem deutschen Tarifrecht“ betreute. 1936/37 forschte sie als Mussolini-Stipendiatin des DAAD in Rom und Perugia. 1938 trat sie der NS-Frauenschaft bei. Im selben Jahr wurde sie in Kiel promoviert. Danach verdiente sie ihren Lebensunterhalt mit Tätigkeiten im Reichsstudentenwerk und in der Reichsstudentenführung, für die sie u.a. „Ausleselager“ für Studentinnen organisierte. 1940 begann sie den Vorbereitungsdienst, ließ sich jedoch wiederholt für ihre Tätigkeit in der Reichsstudentenführung beurlauben. Das Kriegsgeschehen verhinderte den Abschluss des Referendariats. Marie Luise Hilger53 wechselte bereits im Sommer 1935 von Heidelberg nach Kiel, wo sie nach dem Referendarexamen (1937) als Hilfsarbeiterin am Institut für Weltwirtschaft arbeitete und ein Promotionsvorhaben bei Wolfgang Siebert aufnahm. 1937 trat sie der NSDAP bei. 1938 folgte sie ihrem Doktorvater nach Berlin und war bis 1941 am Institut für Arbeits­ recht tätig. 1939 wurde sie mit der Dissertation „Die Arbeitsbedingungen

51 Michl, Wiltraut Rupp-von Brünneck (1912–1977), 2022. 52 Personalakte: Hauptstaatsarchiv Stuttgart, EA 4/152. 53 Misselwitz, Marie Luise Hilger, 2016.

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im französischen Arbeitsrecht“ promoviert und begann im Anschluss den Vorbereitungsdienst, den sie 1942 mit dem Assessorexamen abschloss. Im selben Jahr starb ihr Verlobter an der Ostfront. Nach dem Assessorexamen leitete sie bis April 1945 die Vorstudienausbildung für Studentinnen im Reichsstudentenwerk. Helga Einsele54 bestand 1935 das Referendarexamen, wurde aber nicht zum Vorbereitungsdienst zugelassen, weil sie „als verheiratete Frau für ihn ungeeignet“ und aufgrund ihrer „politische[n] Einstellung“ als Referenda­ rin unerwünscht erschien.55 Zum Verhängnis war Einsele, die 1930 der SPD beigetreten war, der Studienausschluss ihrer Schwester Erdmute Hack­ mann als „Kommunistin“ im Jahr 1933 geworden. Der Studentenführer Scheel hatte damals auch die „marxistischen“ und „kommunistischen“ Be­ tätigungen Einseles erwähnt. Der Heidelberger Rektor Wilhelm Groh setzte darüber den Generalstaatsanwalt in Karlsruhe in Kenntnis und verhinderte so Einseles Übernahme in den Vorbereitungsdienst.56 1939 wurde Einsele in Heidelberg mit der von Herbert Engelhard betreuten Dissertation „Das Frauengericht in New York“ promoviert, musste ihren Lebensunterhalt aber als Sekretärin bei der Reichsanstalt für Fischerei in Österreich verdie­ nen, bei der ihr Ehemann als Biologe beschäftigt war. Einseles jüngere Schwester Erdmute Hackmann57 wurde im Wintersemes­ ter 1934/35 mit Zustimmung der Heidelberger Studentenführung wieder zum Studium zugelassen. Im Herbst 1935 ging sie nach Berlin, wo sie sich zunächst mit Anna Kottenhoff eine Wohnung teilte. 1936 legte sie das erste Examen ab und verdiente danach ihren Lebensunterhalt als Sekretä­ rin. 1939 wurde sie in Heidelberg mit der von Eduard Böttcher betreuten Dissertation über die „Mutterschaftsversicherung in Deutschland“ promo­ viert. Im selben Jahr heiratete sie den Agrarwissenschaftler Gust Falkenberg, mit dem sie zwei Kinder (1940/1942) hatte. 1940/41 arbeitete sie mehrere Monate als juristische Mitarbeiterin beim Jugendamt Nauen. Von 1942 bis 1943 war sie Assistentin an Wolfgang Sieberts Berliner Institut für Ju­ gendrecht. 1943 wurde ihr Ehemann bei Stalingrad als vermisst gemeldet. Im Herbst 1943 zog sie zu ihrer Schwester nach Österreich, wo sie als Sekretärin arbeitete, ehe sie im Herbst 1944 zu ihren Eltern in den Harz zog und das Kriegsende erwartete.

54 Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, 518/74292. 55 Oberlandesgerichtspräsident Karlsruhe an Helga Einsele, 14.10.1935, Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, 518/74292, Bl. 10. 56 StudA E. Hackmann, Universitätsarchiv Heidelberg. 57 Nachlass: MARCHIVUM, Zug. 44/2003.

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Erdmute Hackmanns umfangreiche Korrespondenz mit ihrer Schwester aus den Jahren 1934 bis 1945 dokumentiert, dass der Heidelberger Juristin­ nenkreis in Berlin weiter zusammenkam.58 Hackmanns Verhältnis zu den Mitgliedern verschlechterte sich aber zusehends, teils aus persönlichen, vor allem aber aus politischen Gründen. Als im Herbst 1938 die sog. Sudeten­ krise zu eskalieren drohte, schrieb Hackmann: „Wie eine Fremde sass ich unter den Juristinnen, merkwürdigerwei­ se Wiltraut am sympathischsten findend. Änne [Kottenhoff] brachte mich fast zur Weissglut, als sie zur Lage nichts weiter zu sagen wusste, als dass sie ein Mann sein möchte[,] um mit raus zu können. Das ist es, was einen so verbittert, dass so fantasielos und oberflächlich geredet wird. Man denkt doch immer, in diesem Kreis sollte man sich über das Zeitungsniveau erheben können.“ Im Sommer 1942, als ihre Kommilitoninnen bereits aussichtsreiche Anstel­ lungen gefunden hatte, wurde der Ton verbitterter: „Wann werde ich je so weit kommen[,] es den lieben Mädchen zu verzeihen, dass sie wo sitzen und wir nur arbeiten. […] Und wenn auch der ganze Heidelberger Kreis scheisse ist, wie Du Dich vulgärer Weise auszudrücken beliebst, ich würde so ein Wort ja nicht einmal in die Hand nehmen, so war der Winter 34/35 in der Steingasse 7[59] doch unsere beste Zeit miteinander. Und so ziehen wir uns unter Absingen frommer Choräle auf das rein Menschliche zurück. Was ist schon die Stellung, wenn nur der Charakter gut ist. Denn ich ziehe die Konsequenzen und begrabe den Heidelberger Kreis.“ Ganz begraben hat sie ihn nie. Zwar kam es mit Kottenhoff nach der Vermisstmeldung von Falkenbergs Ehemann zum endgültigen Zerwürfnis. Mit den anderen Mitgliedern des Juristinnenkreises hielt sie aber Kontakt, wobei die innere Zerrissenheit zwischen persönlicher Zuneigung und politischer Ablehnung in den Briefen immer wieder deutlich wird. Als Wiltraut von Brünneck im Juli 1943 ihre Stelle als Universitätsassistentin gegen eine Stelle als Referentin im Reichsjustizministerium eintauschte, schrieb Falkenberg: „Eben habe ich mit Wiltraut telefoniert. Sie ist also seit

58 Korrespondenzen, MARCHIVUM, Zug. 44/2003 Nr. 1–7, 14. 59 Offenbar der Treffpunkt des Kreises. Das Heidelberger Adressbuch der Jah­ re 1934/35 verzeichnet in dem Anwesen neben Mietern, die sich dem Kreis nicht zuordnen lassen, die „Gastwirtschaft zum Grünen Baum“.

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heute im Justizministerium und war recht erfüllt davon. Ob ich sie noch sehen werde in dieser Zeit? Ich weiss nicht, ob ich mag.“ E. Kollektiv- und individualbiographische Kontextualisierung I. Politische Einordnung Die Mitglieder gaben später die Parole aus, dass es sich beim Heidelber­ ger Juristinnenkreis um einen oppositionellen Zirkel gehandelt habe. So behauptete Wiltraut von Brünneck in Marie Luise Hilgers Spruchkammerver­ fahren, dass „die ursprüngliche Absicht, die Ziele der Arbeitsgemeinschaft in offener Opposition zu vertreten, mit dem zunehmenden Erstarken des nationalsozialistischen Systems undurchführbar“ geworden seien und da­ her „seitens maßgeblicher Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft versucht“ worden sei, „durch Eintritt in die nationalsozialistischen Frauenorganisa­ tionen und Gewinnung von Führerstellen eine Aufklärung und Werbung innerhalb dieser Organisationen zu übernehmen“.60 Ähnlich ließ sie sich in einer eidesstattlichen Erklärung für Annemarie Elsner ein: „Sie gehörte ebenso wie ich in Heidelberg und Berlin einer politisch, rassisch und konfessionell völlig neutralen Arbeitsgemeinschaft an, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die gegen die berufstätigen Frauen gerichteten Massnahmen des dritten Reiches zu bekämpfen und die Ideen der Frauenbewegung weiterzutragen.“61 Diese Äußerungen müssen im Kontext der Entnazifizierung gesehen wer­ den. Sie dienten der Entlastung der früheren Kommilitoninnen, die sich wegen ihrer NSDAP-Mitgliedschaften und der Tätigkeiten in Reichsstu­ dentenwerk bzw. Reichsarbeitsdienst verantworten mussten. Zugleich ent­ lasteten die Aussagen Wiltraut von Brünneck selbst, die die angeblich neu­ trale Arbeitsgemeinschaft geleitet hatte und aufgrund ihrer Mitgliedschaft in der NS-Frauenschaft ebenfalls mit einem Spruchkammerverfahren rech­ nen musste. Da die Gründung der Arbeitsgemeinschaft von Anna Kottenhoff angesto­ ßen wurde und erst nach der Öffnung der NS-Studierendenorganisationen

60 v. Brünneck, Bescheinigung v. 14.4.1947, Generallandesarchiv Karlsruhe, 465 q 20585, Bl. 41. 61 v. Brünneck, Eidesstattliche Erklärung v. 23.4.1947, Landesarchiv NRW 1064-V Nr. 1302.

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für Studentinnen erfolgte, ist ein anfänglicher Vorsatz zur „offene[n] Op­ position“ unplausibel. Zutreffend ist jedoch, dass der Arbeitsgemeinschaft „Studentinnen und Referendarinnen der verschiedensten politischen Rich­ tungen“ angehört hatten. Immerhin zählten mit Helga Einsele und Erdmute Hackmann ausgesprochene NS-Gegnerinnen zum engeren Zirkel. Einsele lieferte später selbst eine Erklärung dafür: Man habe von ihr als Sozialde­ mokratin einen „so raschen Gesinnungswandel“ nicht erwartet.62 Darüber hinaus schweißte die geteilte Sorge um die berufliche Zukunft die Heidel­ berger Jurastudentinnen zusammen. Aus dieser Sorge erwuchs „eine groß­ artige Solidarität“,63 die – jedenfalls vor dem Krieg – ideologische Gräben überbrückte. II. Attraktivität der „Volksgemeinschaft“ Inwieweit die Mitglieder des Heidelberger Juristinnenkreises, die – an­ ders als Helga Einsele und Erdmute Hackmann – den Nationalsozialismus nicht vollständig zurückwiesen, seine Ideologeme bejahten, bedarf der näheren individualbiographischen Untersuchung.64 Kollektivbiographisch lässt sich die Hinwendung von Studentinnen zum Nationalsozialismus vor allem mit der Attraktivität der Volksgemeinschaftsideologie erklären.65 Zwar war die Volksgemeinschaft auf die grundlegende Unterscheidung von „Volksgenossen“ und „Artfremden“ gegründet, also ohne Exklusion überhaupt nicht denkbar. Doch denen, die dazugehören sollten, versprach sie die Überwindung der sozialen Verwerfungen, die die moderne Indus­ triegesellschaft prägten und in der Endphase der Weimarer Republik deut­ lich zutage getreten waren. Besonders junge Frauen aus dem Bürgertum scheinen sich – vermutlich aufgrund einer durch Geschlechterstereotype geprägten Erziehung zum „Sozialen“ – für eine Lösung dieser Probleme verantwortlich gefühlt zu haben. Nach der NS-Machtübernahme projizier­ ten sie ihre sozialen Hoffnungen auf den Aufbau der „Volksgemeinschaft“, mit der sie als Konzept bereits aufgrund völkischer Vorprägungen vertraut waren.

62 Einsele, Mein Leben mit Frauen in Haft, 1994, S. 46. 63 Einsele, in: Fabricius-Brand/Berghahn/Sudhölter (Hrsg.), Juristinnen, 1982, 184. 64 Differenzierende Einordnungen der politischen Biographien Hilgers und v. Brün­ necks bei Misselwitz, Marie Luise Hilger, 2016 bzw. Michl, Wiltraut Rupp-von Brünneck (1912–1977), 2022. 65 Dazu ausführlich Manns, Frauen für den Nationalsozialismus, 1997, S. 289 ff.

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So versprach sich Wiltraut von Brünneck in einer Veröffentlichung aus dem Jahr 1937 vom Nationalsozialismus „die Lösung aller sozialen Fragen aus der Erkenntnis, daß das Volk den höchsten Wert darstellt und jedes Einzel- oder Gruppeninteresse zugunsten des Volksganzen zurücktreten muß“.66 Es ist kein Zufall, dass sie, wie ihre Kommilitoninnen Anneliese Cüny und Marie Luise Hilger, bei Wolfgang Siebert promovierte und arbei­ tete. Denn in dessen Forschungsschwerpunkten, zu denen neben dem Ar­ beitsrecht das Sozial- und das Jugendrecht zählten, wurde die soziale Frage praktisch. Noch 1972 betonte Wiltraut Rupp-von Brünneck den „soziale[n] und reformerische[n] Impuls des Heidelberger Juristinnenkreises“.67 Die Attraktivität der „sozialen Seite“ der Volksgemeinschaftsideologie wird durch weitere Aussagen der Heidelberger Juristinnen nach 1945 be­ stätigt. So erklärte Annemarie Elsner in ihrem Entnazifizierungsverfahren, dass ihr der Beitritt zur ANSt „dadurch erleichtert“ worden sei, dass sie in ihrem studentischen Idealismus an die Echtheit des sozialen Antlitzes des Parteiprogrammes geglaubt habe, weil sie schon damals der Überzeugung gewesen sei, dass Sozialismus und Gerechtigkeit eng zusammenhingen.68 Wiltraut von Brünneck attestierte ihrer Studienfreundin übereinstimmend, dass diese „zunächst aus ideellen Gründen in die NSDAP eingetreten“ sei und sich „namentlich von den auf sozialem Gebiet proklamierten Zielen angezogen“ gefühlt habe: „Wie es bei dieser idealistischen Einstel­ lung nicht anders zu erwarten war, brachte die politische Entwicklung des Nationalsozialismus für Frau Dr. Elsner so schwere Enttäuschungen, dass sich ihre Einstellung ganz änderte.“69 Erdmute Falkenberg erwähnt in ihrem allgemeiner gehaltenen Entlastungszeugnis „Studentinnen, die in der Synthese des nationalen Sozialismus eine neue tragende Idee zu sehen glaubten“, die aber dennoch „immer stärker bittere Kritik an der NS-Einstellung zu den Frauen“ geübt hätten.70 Der Topos der enttäusch­ ten sozialen Hoffnungen findet sich schließlich auch bei Marie Luise Hil­ ger. Zur Erklärung der NS-Belastung ihres akademischen Lehrers Siebert

66 v. Brünneck, Die Industriearbeiterin im deutschen Recht, Jugend und Recht 1937, 166 (167 f.). 67 Rede zum 60. Geburtstag am 7.8.1972, Nachlass W. Rupp-v. Brünneck (Privatbe­ sitz A. v. Brünneck). 68 Elsner, Erläuterungen zum Fragebogen, 29.5.1947, Landesarchiv NRW 1064-V Nr. 1302. 69 v. Brünneck, Eidesstattliche Erklärung v. 23.4.1947, Landesarchiv NRW 1064-V Nr. 1302. 70 Falkenberg, Eidesstattliche Erklärung v. 10.4.1947, Landesarchiv NRW 1064-V Nr. 1302.

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schrieb sie noch 1975: „Nur wer die soziale Not vor 1933 selbst erlebt hat, mag ermessen können, welche verzweifelten Hoffnungen damals an den Nationalsozialismus geknüpft waren.“71 Womöglich dachte sie dabei auch an ihre eigenen Hoffnungen. Von der „Volksgemeinschaft“ versprachen sich die Juristinnen nicht nur Antworten auf die soziale Frage, sondern auch auf die Geschlechterfra­ ge, konkret: die Frage nach ihrem Platz als Juristinnen im NS-Staat. Sie antworteten darauf nicht mit der Forderung nach Gleichberechtigung, sondern mit dem Modell der Aufgabenteilung zwischen Frauen und Männern. Man kann darin eine situativ bedingte Strategie der Selbstbe­ hauptung sehen. Zumindest bei manchen Heidelberger Juristinnen dürfte jedoch Überzeugung im Spiel gewesen sein. Denn von der „alten“ Frauen­ bewegung der Weimarer Zeit trennte sie nicht nur ein Generationenunter­ schied, sondern auch eine Differenz im Lebensstil und in den politischen Grundüberzeugungen: Liberalismus, Pazifismus und Internationalismus – die Grundlagen der Weimarer Frauenbewegung – waren den meisten Studentinnen fremd.72 Die Forderung nach Gleichberechtigung lehnten sie als Ausdruck eines fruchtlosen „Geschlechterkampfes“ ab. Sie wollten sich vielmehr in die Volksgemeinschaft gemäß ihrer „Eigenart“ als Frauen einfügen und sich darin eine „weibliche Sphäre“ schaffen.73 Dass diese Integration gelingen konnte, zeigte den Heidelberger Studentinnen ihre Einbindung in die NS-Studierendenorganisationen. Für die angehenden Juristinnen mag sich daraus der Ansporn ergeben haben, das, was sie im Mikrokosmos „Universität“ erreicht hatten, im Makrokosmos „Volksge­ meinschaft“ zu wiederholen. Der weitgehende Ausschluss der Frauen von den Rechtsberufen 1935/36 war ein Rückschlag auf diesem Weg, bedeutete aber nicht, dass sie ihr Vorhaben aufgegeben hätten. III. Gelungene und gescheiterte Entnazifizierung Der Zusammenbruch des NS-Staates im Frühjahr 1945 bildete eine Zäsur in den beruflichen und politischen Biographien der Heidelberger Juristin­ nen. Für die politisch unbelasteten Schwestern Helga Einsele († 2005) und Erdmute Falkenberg († 2000) eröffneten sich erstmals Karriereperspektiven:

71 Hilger, Zum Gedenken an Wolfgang Siebert, RdA 1975, 121. 72 Manns, Frauen für den Nationalsozialismus, 1997, S. 293 für nationalsozialisti­ sche Studentinnen insgesamt. 73 Manns, Frauen für den Nationalsozialismus, 1997, S. 294 f.

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Einsele übernahm 1947 die Leitung der Frauen-Justizvollzugsanstalt Frank­ furt a. M.-Preungesheim und machte sich in der Bundesrepublik als Refor­ merin des Strafvollzugs einen Namen. Falkenberg arbeitete ab 1945 an der Universität Heidelberg als Assistentin von Walter Jellinek und übernahm 1949 die Leitung des Mannheimer Jugendamtes. 1955 wurde sie zur Leite­ rin des Hessischen Landesjugendamtes in Wiesbaden berufen. Die Schwes­ tern waren stets überzeugte Demokratinnen gewesen. Ihre Heidelberger Kommilitoninnen mussten die Demokratie hingegen erst erlernen, fanden sich im politischen System der Bundesrepublik aber rasch zurecht. Annemarie Elsner († 1976) wurde 1945 von der britischen Besatzungs­ macht neun Monate lang interniert. Im Fragebogen für die Entnazifi­ zierung gab sie zwar ihre Mitgliedschaften und Ämter an, verschwieg jedoch ihre Dissertation bei Reinhard Höhn, deren ideologiekonformer Inhalt Zweifel an ihrer Selbstdarstellung als unpolitische und vom Regime diskriminierte Juristin hätte wecken können. Sie wurde als „nominelles Parteimitglied“ in die Kategorie „Entlastete“ eingestuft. 1948 wurde sie als Rechtsanwältin in ihrer Heimatstadt Bünde zugelassen und 1952 zur Notarin bestellt. Ab 1956 saß sie für die CDU im Bünder Stadtrat. Marie Luise Hilger († 1996) wurde ebenfalls nach Kriegsende interniert. 74 Von der Spruchkammer als Mitläuferin eingestuft, verdiente sie ab 1947 ihren Lebensunterhalt als Schriftleiterin der Zeitschrift „Betriebs-Berater“ in Heidelberg. 1952 erhielt sie einen Lehrauftrag für Arbeitsrecht an der dortigen Universität, an der sie ein Habilitationsvorhaben bei ihrem Doktorvater Wolfgang Siebert aufnahm. 1954 wurde sie zur Richterin am Bundesarbeitsgericht gewählt, aber – vermutlich mangels richterlicher Er­ fahrung – nicht ernannt.75 Von 1955 bis 1959 arbeitete sie als wissenschaft­ liche Assistentin bei Siebert und war Beisitzerin am Landesarbeitsgericht Mannheim. 1959 wurde sie in Heidelberg habilitiert, erneut zur Bundes­ arbeitsrichterin gewählt und diesmal auch ernannt. 1962 erhielt sie eine Honorarprofessur in Göttingen. Rufe nach Kiel und Freiburg lehnte sie ab. 1973 übernahm sie den Vorsitz des 5. Senats des Bundesarbeitsgerichts. Wiltraut von Brünneck († 1977) war zunächst Richterin in der Sowjeti­ schen Besatzungszone. Im Herbst 1946 wurde sie jedoch aufgrund ihrer Mitgliedschaft in der NS-Frauenschaft entlassen. Sie zog nach Wiesbaden, 74 Falkenberg schrieb am 13.11.1945, dass Hilger „auch in einem politischen Lager“ sitze; das sei der in Heidelberg wohnhaften Mutter aber unbekannt. Nach Borow­ sky, Die NS-Belastung des Bundesarbeitsgerichts – vorläufige Bilanz zur personel­ len Kontinuität, KJ 2022, 399 mit Fn. 2 war Hilger zuletzt vom 23.5.1946 bis 11.9.1946 im 3. Army Internment Camp 77 in Ludwigsburg interniert. 75 Misselwitz, Marie Luise Hilger, 2016, S. 452 ff.

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entging aufgrund unrichtiger Angaben im Fragebogen einem Spruchkam­ merverfahren und machte in der sozialdemokratisch geführten hessischen Ministerialverwaltung Karriere: zuerst im Justizministerium, ab 1953 als Abteilungsleiterin in der Staatskanzlei. 1948/49 wirkte sie als Assistentin ihres Ministers im Parlamentarischen Rat an der Formulierung des Gleich­ berechtigungsgebots mit. 1963 wurde sie zur Richterin des Bundesverfas­ sungsgerichts gewählt. Nach ihrer Wiederwahl 1971 wurde sie – vor allem aufgrund ihrer pointierten Sondervoten – als progressive und freiheitslie­ bende Richterin einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Anneliese Cüny († 1988) entging aufgrund einer Amnesie dem Spruch­ kammerverfahren. Sie holte das Referendariat nach und durchlief ab 1949 eine makellose Justizlaufbahn, die sie 1965 auf eine Planstelle am Oberlan­ desgericht Karlsruhe führte. Von ihrem Engagement im Juristinnenbund abgesehen trat sie politisch nicht in Erscheinung. Die Entnazifizierung der Heidelberger Kommilitoninnen wird man – jedenfalls in einem materiellen Sinne – als geglückt ansehen können. Sie übernahmen verantwortungsvolle Positionen im rechtlichen und ge­ sellschaftlichen Leben der Bundesrepublik, das sie auf den verschiedenen Ebenen mitgestalteten, ohne je einen Zweifel an ihrer freiheitlich-demo­ kratischen Gesinnung aufkommen zu lassen. Die Integration in die neue Ordnung wurde – neben individuellen Faktoren – auch dadurch begüns­ tigt, dass die „Volksgemeinschaft“ schon vor dem Zusammenbruch des NS-Staates ihre Attraktivität eingebüßt hatte. Als „Prinzip nationaler So­ lidarität und völkischer Zugehörigkeit“ war sie bereits gegen Ende des Krieges „weitgehend erodiert“.76 Spätestens 1945 dürften die Heidelber­ ger Juristinnen erkannt haben, dass das soziale Versprechen der „Volksge­ meinschaft“ nie mehr gewesen war als ein Mittel zur Stabilisierung der NS‑Herrschaft. Sie fühlten sich vom Regime getäuscht und hatten doch ihren Teil dazu beigetragen, es aufrechtzuerhalten. Sie waren keine „Täte­ rinnen“, aber mehr als nur Statistinnen.77 Gescheitert ist hingegen die Entnazifizierung Anna Kottenhoffs († 1969), die sich mit ihrem Ehemann in Büderich bei Düsseldorf niederließ. 1954 bewilligte die Bezirksregierung dem politisch schwer belasteten Ehepaar die Führung des Fantasienamens „Schmidtdammer“, unter dem sie in der Bundesrepublik unbehelligt weitermachen konnten, wo sie 1945 aufgehört hatten. Er machte Karriere in der Industrie. Sie holte den Vorbereitungs­

76 Herbert, Wer waren die Nationalsozialisten, 2021, S. 238. 77 Zur Diskussion über die Rollen von Frauen im NS-Staat vgl. Steinbacher, Einfüh­ rung, in: Steinbacher (Hrsg.), Volksgenossinnen, 2007, 9 (15 ff.).

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dienst nach, für den neben ihrer politischen Tätigkeit im NS-Staat keine Zeit geblieben war. 1958 wurde Anna Schmidtdammer als Rechtsanwältin in Düsseldorf zugelassen. In ihrem Privathaus empfing sie alte „Kamera­ den“, die aus ihrer fortdauernden nationalsozialistischen Gesinnung kei­ nen Hehl machten.78 F. Quellenlage und Ambiguität Der Heidelberger Juristinnenkreis ist ein Aspekt der Geschichte der deut­ schen Juristinnen zwischen 1933 und 1945, die bislang nur in Ansätzen erforscht ist.79 Die Werdegänge seiner Mitglieder zeigen, dass Juristinnen zwar aufgrund ihres Geschlechts benachteiligt wurden, es aber auch man­ chen gelang, unter den widrigen Bedingungen des NS-Staates ihre Karriere zu beginnen. Waren sie bereit, am Aufbau der „Volksgemeinschaft“ mitzu­ wirken, konnten sie sich durchaus Hoffnungen auf eine ausbildungsange­ messene Beschäftigung abseits der klassischen Rechtsberufe machen. Die Biographien dieser Juristinnen lassen sich gestützt auf archivalische Über­ lieferungen rekonstruieren, die eine mehr oder weniger akkurate Annähe­ rung an das historische Geschehen erlauben. Wo die Quellen schweigen, muss Raum für Zweifel bleiben, die auch dieser Beitrag nicht ausräumen kann: Wie überzeugt die eine oder andere Juristin von dem war, was sie zwischen 1933 und 1945 schrieb und tat, lässt sich nicht mit Gewissheit sa­ gen. Es sollte aber zumindest die Möglichkeit anerkannt werden, dass Geg­ nerinnen und Anhängerinnen des Nationalsozialismus zusammenwirkten, um die eigenen Berufsperspektiven in einem von Männern dominierten System zu erhalten, und sich dabei der Ideologeme bedienten, auf denen dieses System beruhte. Dass sie damit einen Beitrag zur Legitimierung und Stabilisierung des NS-Regimes leisteten, ist die Kehrseite ihrer selbst­ bewussten Mitwirkung am Aufbau der „Volksgemeinschaft“ und verlangt den Nachgeborenen ein hohes Maß an Ambiguitätstoleranz ab.

78 Gespräch mit dem Neffen Johannes Dammer am 11.3.2021. 79 Die ausführlichste und differenzierteste Darstellung liefert Röwekamp, Die ersten deutschen Juristinnen, 2011, S. 636 ff., die den Heidelberger Juristinnenkreis am Rande erwähnt (S. 727 f.).

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Der Heidelberger Juristinnenkreis im Wintersemester 1934/35 V. l. n. r.: Vorn: 1. Else Beaufort, 2. Wiltraut v. Brünneck, 3. Waltraud Falkenberg (stud. phil.), 4. unbek.; Mitte: 1. unbek., 2. Maja Gentes, 3. Anna Kottenhoff, 4. und 5. unbek., 6. Johanna Seltsam; hinten: 1. Helga Einsele, 2. Marie Luise Hilger. Nicht im Bild: Erdmute Hackmann (Fotografin), Anneliese Cüny und Annemarie Vocke. Quelle: MARCHIVUM, Zug. 44/2003 Nr. 133.

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Vom Runden Tisch zur Gemeinsamen Verfassungskommission? Beitrag ostdeutscher Frauen* zur „vereinigungsbedingten Erneuerung“ des Art. 3 Abs. 2 GG Johanna Mittrop*

A. Einführung Als die neuen Länder am 3.10.1990 der Bundesrepublik beitraten, lautete Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes: Männer und Frauen sind gleichberechtigt. In der heutigen Fassung liest man dort einen zweiten Satz, der den Staat ausdrücklich dazu bestimmt, die tatsächliche Durchsetzung der Gleichbe­ rechtigung von Frauen und Männern zu fördern und auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinzuwirken (Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG). Diesen zweiten Satz fügten Bundestag und Bundesrat erst 1994 auf Empfehlung der Ge­ meinsamen Verfassungskommission (GVK) dem Grundgesetz hinzu.1 Was anmutet wie eine unter vielen Verfassungsänderungen, fällt doch aus der Reihe. Die Ergänzung von Art. 3 Abs. 2 GG steht im Kontext der Vereini­ gung der beiden deutschen Staaten und der Mobilisierung einer aus Ostund Westdeutschland gespeisten öffentlichen Verfassungsdebatte, die sich auch die Stärkung des Gleichheitssatzes auf die Fahnen schrieb. Seit 1992 waren 64 Mitglieder aus Bundestag und Bundesrat in der GVK zusammengekommen, um die laut Art. 5 Einigungsvertrag „im Zusam­ menhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Ände­ rung und Ergänzung des Grundgesetzes“ zu bearbeiten – darunter auch die „Gleichstellung und Gleichberechtigung von Frauen und Männern“. Darüber, dass mit Art. 3 Abs. 2 S. 1 GG eine tatsächlich gleiche gesell­ schaftliche Stellung der Geschlechter bisher nicht erreicht und eine ergän­ zende Verfassungsregelung geboten sei, herrschte in der GVK weitgehend

* Johanna Mittrop, Maîtr. en droit (Paris II), LL.M. (KCL) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin an der Juristenfakultät der Universität Leipzig. 1 42. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 27.10.1994, BGBl. I 3146.

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Einigkeit.2 Über die konkrete Formulierung der Verfassungsänderung wurde jedoch entlang der Parteilinien ausdauernd gestritten.3 Auch die Öffentlichkeit war in die Debatte involviert: Wieder wurden „Wäschekörbe voller Eingaben“ an die Mitglieder der institutionellen Ver­ fassungsdebatte gesandt.4 Zivilgesellschaftliche Initiativen forderten mit ei­ genen Verfassungsentwürfen eine Ergänzung von Art. 3 GG.5 Mitten in der Debatte, zwölf Tage nachdem die GVK ihre Arbeit aufgenommen, aber noch nicht zu Art. 3 GG beraten hatte, äußerte sich schließlich auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Nachtarbeitsentscheidung zum Ge­ währleistungsumfang des Gleichheitsartikels: „Faktische Nachteile, die ty­ pischerweise Frauen treffen, dürfen wegen des Gleichberechtigungsgebots des Art. 3 Abs. 2 GG durch begünstigende Regelungen ausgeglichen wer­ den.“6 Rund 30 Jahre später, nunmehr mit einem historischen Blick, zeichnet dieser Beitrag die Entstehungsgeschichte des Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG über­ blicksartig nach. Während die ursprüngliche Aufnahme des Gleichberech­ tigungsgebots in das Grundgesetz einem bestimmten, von einer starken weiblichen Öffentlichkeit getragenen Kreis von Frauen* um Elisabeth Sel­ bert zugeschrieben wird,7 ist ein solcher Kreis bislang für die Verfassungs­ ergänzung von 1994 nicht benannt. Dieser Text soll die Überlieferungslü­ cke schließen: Wer waren die Frauen*, die das Gleichstellungsgebot im Grundgesetz erstritten?

2 Limbach/Eckertz-Höfer, Frauenrechte im Grundgesetz des geeinten Deutschland. Diskussion in der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bun­ desrat und der Bundesratskommission Verfassungsreform, 1993, S. 21 f. 3 → D. I. 4 Vgl. Mascher, Bundestag, Sten. Bericht, 209. Sitzung, 4.2.1994, 18121 ff., in: Deut­ scher Bundestag (Hrsg.), Materialien zur Verfassungsdiskussion und zur Grundge­ setzänderung in der Folge der deutschen Einheit III, 1996, 1135 ff.; Limbach/ Eckertz-Höfer, Frauenrechte im Grundgesetz des geeinten Deutschland. Diskussi­ on in der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat und der Bundesratskommission Verfassungsreform, 1993, S. 21. 5 → C. 6 BVerfG Urt. v. 28.1.1992 – 1 BvR 1025/84, Rn. 53 – Nachtarbeitsverbot. 7 v. Mangoldt/Klein/Starck/Baer/Markard, 7. Aufl. 2018, GG Art. 3 Rn. 339 mwN, zum wesentlichen, bisher wenig beachteten Beitrag Wiltraut Rupp-von Brünnecks Michl, Wiltraut Rupp-von Brünneck (1912-1977). Juristin, Spitzenbeamtin, Verfas­ sungsrichterin, 2022, S. 174 ff.

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Das Augenmerk soll besonders auf den Beitrag und die Teilhabe ost­ deutscher Frauen*8 an der „vereinigungsbedingten Erneuerung“9 des Gleichheitsartikels gelenkt werden. Sie brachten nicht nur systembedingt andere Gleichberechtigungserfahrungen mit.10 Einige von ihnen hatten vielmehr bereits vor der Vereinigung im Glauben an den Fortbestand einer reformierten DDR an einem Verfassungsentwurf mitgearbeitet. Sie hatten sich erfolgreich dafür eingesetzt, dass der im April 1990 vorgestellte Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches der DDR (VE-RT)11 den Staat zur Hinwirkung auf die tatsächliche Gleichstellung der Ge­ schlechter verpflichtet hätte. Wenngleich der VE-RT, von der Vereinigung überholt, nie rechtliche Geltung erlangte, ist er, wie dieser Text zeigt, ein zentrales Dokument der Genese von Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG. B. Gleichstellung in der DDR-Verfassungsdebatte I. Der Verfassungsentwurf des Runden Tisches Der VE-RT, der die DDR in einen demokratischen Rechtsstaat überführen sollte, wurde am 4.4.1990 von der AG „Neue Verfassung für die DDR“ des Zentralen Runden Tisches vorgelegt. Im Umbruch der Friedlichen Revolu­ tion kamen am Zentralen Runden Tisch Vertreter:innen der SED und der Blockparteien auf der einen Seite und der Bürger:innenbewegung auf der anderen Seite zusammen, um über die Zukunft der DDR zu verhandeln und das „politische Machtvakuum […] mit Demokratie“ zu füllen.12 Der

8 Verstanden als in der ehemaligen DDR geborene und/oder sozialisierte und dort grundsätzlich bis 1989/90 wohnhafte Frauen*. 9 Degener, Der Streit um Gleichheit und Differenz in der Bundesrepublik Deutsch­ land 1945, in: Gerhard (Hrsg.), Frauen in der Geschichte des Rechts, 1997, 871 (886). 10 Vgl. Berghahn, Frauen, Recht und langer Atem – Bilanz nach über 40 Jahren Gleichstellungsgebot in Deutschland, in: Helwig/Nickel (Hrsg.), Frauen in Deutschland. 1945-1992, 1993, 71 (85 ff.). Gleichheitssätze hatte es bereits in den DDR-Verfassungen von 1949 (Art. 7) und 1968 (Art. 20) gegeben. 11 Arbeitsgruppe „Neue Verfassung der DDR“ des Runden Tisches, Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik. Entwurf, 1990. 12 Ina Merkel (UFV), Zentraler Runder Tisch, 1. Sitzung, 7.12.1989, in: Thaysen (Hrsg.), Der Zentrale Runde Tisch der DDR. Wortprotokoll und Dokumente I, 2000, 34. Für eine Übersicht über die Themenbereiche, denen sich der Zentrale Runde Tisch widmete, Thaysen (Hrsg.), Der Zentrale Runde Tisch der DDR. Wortprotokoll und Dokumente I, 2000, XIII f.

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Entschluss, einen Entwurf für eine neue DDR-Verfassung zu erarbeiten, fiel gleich in der ersten Sitzung.13 Innerhalb weniger Wochen entstand unter Beteiligung von rund 30 Vertreter:innen aller am Zentralen Runden Tisch beteiligten Gruppen ein Verfassungstext. Die AG „Neue Verfassung“ hatte sich dazu in Untergrup­ pen aufgeteilt, eine Redaktionsgruppe gebildet und sich von Expert:innen, auch aus Westberlin und der Bundesrepublik, beraten lassen.14 Sie nah­ men sich das Grundgesetz, die DDR-Verfassung von 1968 (als Kontrastfo­ lie!) und in besonderem Maße auch Rechtstexte des Völkerrechts und der Europäischen Gemeinschaft zur Referenz.15 In Art. 3 normierte der VE-RT in gleichzeitiger Anlehnung an das und Abgrenzung vom Grundgesetz16 die Gleichberechtigung der Geschlechter und zudem ein Gleichstellungs­ gebot17: (1) Frauen und Männer sind gleichberechtigt. (2) Der Staat ist verpflichtet, auf die Gleichstellung der Frau in Beruf und öffentlichem Leben, in Bildung und Ausbildung, in der Familie sowie im Bereich der sozialen Sicherung hinzuwirken. Zusätzlich waren Differenzierungsverbote in Art. 1 Abs. 2 VE-RT, bewusst gleich nach der Würdegarantie platziert, und ein allgemeiner Gleichheits­

13 Gleichzeitig diskutierte der Zentrale Runde Tisch bereits die Frage nach der Legi­ timation seines eigenen Verfassungsentwurfes, Zentraler Runder Tisch, 1. Sit­ zung, 7.12.1989, in: Thaysen (Hrsg.), Der Zentrale Runde Tisch der DDR. Wort­ protokoll und Dokumente I, 2000, 48 ff. Die Mitglieder des Zentralen Runden Ti­ sches stellten klar, keine „parlamentarische oder Regierungsfunktion“ auszuüben und daher allein bis zum Zusammentritt einer demokratisch gewählten Volks­ kammer arbeiten zu wollen, vgl. Erklärung Runder Tisch: Zum Selbstverständnis des Runden Tisches, 1. Sitzung, 7.12.1989, in: Thaysen (Hrsg.), Der Zentrale Run­ de Tisch der DDR. Wortprotokoll und Dokumente I, 2000, 62. 14 Arbeitsgruppe „Neue Verfassung der DDR“ des Runden Tisches, Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik. Entwurf, 1990, S. 77 f. 15 Vgl. Gerhard Weigt (Demokratie Jetzt), Zentraler Runder Tisch, 16. Sitzung, 12.3.1990, in: Thaysen (Hrsg.), Der Zentrale Runde Tisch der DDR. Wortproto­ koll und Dokumente IV, 2000, 1098 f.: „Damit ist eine Hinwendung nach Europa verbunden und keine ausschließliche auf die Bundesrepublik Deutschland, die den Weg mit ihrem Grundgesetz eines Tages ebenfalls gehen muß.“ 16 Der VE-RT übernahm im Wortlaut Art. 3 Abs. 2 S. 1 GG, vertauschte aber die Rei­ henfolge der Gruppenbezeichnungen „Männer und Frauen“. Abs. 2 ging über die Gewährleistung des Art. 3 Abs. 2 GG aF hinaus. 17 Einen Überblick über weitere Bestimmungen des VE-RT mit Bezug zu Gleichheit und Gleichstellung der Geschlechter bietet Rudolph, Einflußpotentiale und Machtbarrieren. Frauenpolitik in der Verfassungsdiskussion, 1996, S. 68 ff.

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satz in Art. 2 VE-RT normiert. Tatjana Böhm, Mitglied der AG „Neue Ver­ fassung“, bescheinigte dem ausdrücklichen Gleichstellungsgebot in ihrer Kommentierung den Charakter „ein[es] klare[n] Handlungsauftrag[es] an den Gesetzgeber [...], der den Staat auffordert und verpflichtet, Maßnah­ men zur tatsächlichen Gleichstellung der Geschlechter zu ergreifen“.18 II. Die Urheberinnenschaft der Frauen* Es ist schwer möglich, die Urheberinnenschaft der finalen Formulierung des Art. 3 VE-RT einer oder mehreren konkreten Personen zuzuschreiben. Die Vermutung, dass die Formulierung des Gleichstellungsgebots beson­ ders auf Frauen* zurückzuführen ist, weil diese verstärkt in ihrem Interesse liegt, muss erst erhärtet werden.19 Die zugänglichen Archivalien und Pro­ tokolle verraten indes, dass die intellektuelle und rechtswissenschaftliche Untermauerung des Gleichstellungsgebotes des VE-RT maßgeblich von den Frauen* des Unabhängigen Frauenverbands (UFV) ausging: Der UFV hatte sich am 3.12.1989 kurz vor Zusammentritt des Runden Tisches mit dem Ziel gegründet, die Interessen und Perspektiven von Frauen* in der Umbruchszeit zu vertreten.20 Als Zusammenschluss mehre­ rer DDR-Frauen*bewegungen waren seine Mitglieder vor allem Frauen*. Ihre Mitarbeit am Zentralen Runden Tisch und dessen Arbeitsgruppen war zunächst nicht vorgesehen; die Frauen* erreichten sie in der zweiten Sitzung.21 An der AG „Neue Verfassung“ nahmen sodann zwei Mitglieder 18 Böhm, Der Verfassungsentwurf des Runden Tisches: Kurzkommentare von Auto­ ren und Beratern. Diskriminierungsverbot und Gleichstellungsgebot, in: Guggen­ berger/Stein (Hrsg.), Die Verfassungsdiskussion im Jahr der deutschen Einheit, 388 (393). 19 Auch eine Gruppe von Männern, die Initiativarbeitsgruppe der Akademie der Wissenschaften der DDR, hatte ein umfassendes Gleichstellungsgebot entworfen, vgl. Ballaschk/Emmerich/Fischer/Gängel/Köhn/Mecklenburg/Quilitzsch/Ritter, Vorschläge zu ausgewählten Verfassungsbestimmungen, 6.2.1990, S. 17, BArch, DA 3/39, fol. 29. 20 Vgl. Gründungsmanifest: Merkel, Ohne Frauen ist kein Staat zu machen, Do­ kument 1989, in: Schäfer/Klässner/Adler/Landero (Hrsg.), Frauenaufbruch `89. Was wir wollten – Was wir wurden, 2011, 38 (46). Mehr zum UFV bei HampeleUlrich, Der Unabhängige Frauenverband. Ein frauenpolitisches Experiment im deutschen Vereinigungsprozeß, 1996. 21 Zentraler Runder Tisch, 2. Sitzung, 18.12.1989, in: Thaysen (Hrsg.), Der Zentrale Runde Tisch der DDR. Wortprotokoll und Dokumente I, 2000, 93 ff.; vgl. auch Böhm, Wo stehen wir Frauen nach 40 Jahren getrennter Geschichte in Deutsch­ land West und Ost?, Feministische Studien 2/1992, 28 (32).

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des UFV teil: Tatjana Böhm, Soziologin und Ministerin ohne Geschäfts­ bereich der Modrow-Regierung, und Tatjana Forner, Philosophin und Chemikerin. Rosemarie Will, Professorin für Öffentliches Recht an der Humboldt-Universität, nahm als Verfassungsrechtsberaterin des UFV an der AG teil und war zudem die einzige Frau in der Redaktionsgruppe des Entwurfs.22 Am VE-RT arbeiteten insgesamt etwa zehn Frauen aus allen Gruppen des Zentralen Runden Tisches mit, ein knappes Fünftel der Beteiligten.23 Von ihnen hatten soweit ersichtlich nur zwei ein Rechtsstu­ dium in der DDR absolviert: Rosemarie Will und Tatjana Ansbach, die ab 1987 an der Humboldt-Universität Völkerrecht gelehrt hatte und wie Will die Verfassungs-AG als Expertin beriet.24 Am Zentralen Runden Tisch erreichte der UFV sowohl die Einrichtung der AG „Gleichstellung“, in der Christian Schenk25, später Mitglied des Bundestags (Bündnis 90/Die Grünen), für den UFV mitarbeitete,26 als auch die Erarbeitung einer Sozialcharta27. Die Sozialcharta sollte als Ver­ handlungsgrundlage für die Errichtung der Wirtschafts- und Währungs­ union die soziale Absicherung und Gleichstellung im Wirtschafts- und Erwerbsleben sicherstellen.28 Sie wurde maßgeblich vom UFV geprägt und ging über die sozialstaatlichen Gewährleistungen in der BRD hinaus. Laut Uwe Thaysen war es „[v]on der Sozialcharta inhaltlich nur ein kleiner Schritt zum Entwurf einer Verfassung für die DDR […]. Ging es den Pro­

22 Vgl. Mitgliederliste, BArch, DA 3/41, fol. 111 ff.; Will arbeitete in der Unterar­ beitsgruppe „Gesellschaftliche und politische Willensbildung“ mit, vgl. Rogner, Der Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches der DDR, 1993, S. 47 f. 23 Tatjana Böhm (UFV), Tatjana Forner (UFV), Elfgard Künstler (NDPD), Mareile Löber (Grüne Liga), Kerstin Spyrka (DBD), Gudrun Stecklina (Demokratie Jetzt), Christine Weiske (Grüne Partei), Vera Wollenberger (Grüne Partei), Rosemarie Will (Redaktionsgruppe, Expertin), Tatjana Ansbach (Expertin), vgl. Arbeitsgrup­ pe „Neue Verfassung der DDR“ des Runden Tisches, Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik. Entwurf, 1990, S. 77 f. 24 Sie promovierte und habilitierte in der DDR. Ihre wissenschaftliche Karriere musste sie in der BRD aufgeben, Kutscha, Nachruf auf Dr. Tatjana Ansbach, vorgänge 223 (3/2018), 155. 25 Vor Namensänderung Christina Schenk. 26 Eine Übersicht, wer für den UFV an den AGen des Runden Tisches teilnahm, bei Hampele-Ulrich, Der Unabhängige Frauenverband. Ein frauenpolitisches Experi­ ment im deutschen Vereinigungsprozeß, 1996, S. 302 f. 27 Antrag des UFV an den Runden Tisch, in: Thaysen (Hrsg.), Der Zentrale Runde Tisch der DDR. Wortprotokoll und Dokumente V, 2000, 300. 28 Vertiefend zum Einfluss des UFV auf die Sozialcharta Sänger, Begrenzte Teilhabe. Ostdeutsche Frauenbewegung und Zentraler Runder Tisch in der DDR, 2005, S. 291 ff.

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tagonisten einer neuen Verfassung doch wesentlich auch um die Garantie sozialer Rechte […].“29 Die AG „Gleichstellung“ nutzte der UFV, um grundlegende Stellung­ nahmen zu (verfassungsrechtlicher) Gleichberechtigung und Gleichstel­ lung einzubringen. Ein im Konsens mit anderen Gruppen erarbeitetes Informationspapier stellte die Benachteiligung von Frauen* in der DDR dar und forderte, die „Frage der Gleichstellung der Geschlechter und die Schaffung von Instrumentarien, die eine aktive Gleichstellungspolitik er­ möglichen, [...] sowohl in der Verfassung als auch in anderen Gesetzen [...] zu verankern.“30 Die AG übernahm die Forderungen in einem Positi­ onspapier, das der Prämisse folgte, „Gleichstellung bedeutet [...] nicht die formale Gleichheit, etwa reduziert auf Gleichberechtigung im juristischen Sinne, sondern vielmehr Chancengleichheit bezüglich selbstbestimmter, persönlicher Entwicklung und bezüglich der [Partizipations]möglichkei­ ten [...] in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens.“31 Ihre verfassungspolitischen Forderungen untermauerten die Frauen* des UFV mit verfassungsrechtlichen Begründungen: Am 6.2.1990 unter­ breitete der UFV gemeinsam mit dem Freien Deutschen Gewerkschafts­ bund (FDGB) der Verfassungs-AG „Grundsätzliche Überlegungen zur Gleichstellung der Geschlechter [...] in einer neuen Verfassung der Deut­ schen Demokratischen Republik.“32 In Anbetracht der fortdauernden fehlenden gesellschaftlichen Gleichstellung der Geschlechter müssten Dis­ kriminierungsverbote und insbesondere ein Gleichstellungsgebot in der Verfassung festgeschrieben werden. Die „reale Inanspruchnahme der Men­ schen- und Bürgerrechte“ setze voraus, „für bestimmte Bevölkerungsgrup­ pen auf Grund ihrer realen Lage besondere Regelungen in die neue Verfas­ sung aufzunehmen“. Die Frauen* des UFV erläuterten den Unterschied zwischen Diskriminierungsverboten und Gleichstellungsgeboten33 und be­

29 Thaysen, Der Runde Tisch oder Wo bleibt das Volk?, 1990, S. 143. 30 Information UFV zur Vorlage 15/2 betr. Die Geschlechterfrage und die Vorausset­ zungen zu ihrer Lösung in der DDR (Information 15/1), 5.3.1990, in: Thaysen (Hrsg.), Der Zentrale Runde Tisch der DDR. Wortprotokoll und Dokumente V, 2000, 510 ff. 31 AG Gleichstellung, Zu Grundzügen der Gleichstellung von Frau und Mann, in: Thaysen (Hrsg.), Der Zentrale Runde Tisch der DDR. Wortprotokoll und Dokumente V, 2000, 501. 32 UFV/FDGB, Grundsätzliche Überlegungen zur Gleichstellung der Geschlechter, zur Kinder-, Alten- und Behindertenproblematik in einer neuen Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, 6.2.1990, BArch, DA 3/37, fol. 14-17. 33 „Diskriminierungsverbote untersagen, daß Rechtsfolgen an bestimmte Merkmale geknüpft werden. […] Gleichstellungsvorschriften [gebieten], daß an bestimmte

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tonten die „freiheitssichernde Funktion“ beider Rechtsinstitute: „Einmal [durch Diskriminierungsverbote] wird die Freiheit, so zu existieren, wie man ist, gewährleistet[,] zum anderen werden durch die Vergrößerung der Wahlfreiheiten [durch ein Gleichstellungsgebot] die Möglichkeiten verbes­ sert, so zu existieren, wie man unabhängig von soziale[r] Benachteiligung existieren könnte.“ Zudem beriefen sich die Frauen* auf das Völkerrecht, konkret das UN-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskri­ minierung der Frau (CEDAW): „Laut Konven[t]ion sind Sondermaßnah­ men[,] die auf die de facto Gleichberechtigung hinzielen[,] bzw. Schwan­ geren[-] und Mutterschutz nicht als diskriminierend [im Sinne] der Kon­ vention zu betrachten.“ Einen konkreten Formulierungsvorschlag für Dis­ kriminierungsverbot und Gleichstellungsgebot in einer neuen DDR-Ver­ fassung unterbreiteten UFV und FDGB in dem Positionspapier allerdings nicht. Verfassungsrechtliche Expertise hielt folglich nicht nur über die (west­ deutschen) Expert:innen Einzug in die AG „Neue Verfassung“, sondern auch durch die beteiligten Gruppen selbst, im Bereich „Gleichberechti­ gung und Gleichstellung“ insbesondere durch die Frauen* des UFV. Die AG „Neue Verfassung“ wurde von der vorgezogenen Volkskammer­ wahl und schließlich auch dem Beitritt der neuen Länder zur Bundesrepu­ blik überholt.34 Der Verfassungsentwurf sollte dennoch Vorbild und Anre­ gung auch nach der Vereinigung sein: für zivilgesellschaftliche Initiativen sowie für die GVK.

Voraussetzungen (tatsächlicher Art) zum Zwecke der Kompensation faktischer Nachteile Rechtsfolgen geknüpft werden.“, UFV/FDGB, Grundsätzliche Überle­ gungen, S. 2, BArch, DA 3/37, fol. 15. 34 Der Entwurf sollte ursprünglich am 17.6.1990 zur Volksabstimmung gestellt wer­ den, vgl. Antrag AG „Neue Verfassung“, in: Thaysen (Hrsg.), Der Zentrale Runde Tisch der DDR. Wortprotokoll und Dokumente IV, 2000, 1097 f. Nachdem der Zentrale Runde Tisch sich bereits im Zuge der auf den 18.3.1990 vorgezogenen Volkskammerwahl aufgelöst hatte, stellte die Redaktionsgruppe den Verfassungs­ entwurf dennoch fertig, vgl. Rogner, Der Verfassungsentwurf des Zentralen Run­ den Tisches, 1993, S. 123 ff.

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C. Gleichstellungsforderungen der Öffentlichkeit I. Chance im Umbruch Forderungen nach einem verfassungsrechtlichen Gleichstellungsgebot, von dem auch positive Maßnahmen gedeckt wären, wurden in der Bun­ desrepublik bereits vor der Vereinigung erhoben. Sie zielten vornehmlich auf die Einführung von Beschäftigungsquoten im öffentlichen Dienst. Die Justiz leistete ihren Beitrag zur Debatte: Das OVG Münster erklärte – nach Erlass der Nachtarbeitsentscheidung des BVerfG – das Landesbeamtenge­ setz für verfassungswidrig, das erlaubte, Frauen bei gleicher Qualifikation bevorzugt zu befördern.35 Auch die Bundesregierung hatte sich auf die Sei­ te der Gegner:innen eines verfassungsrechtlichen Gleichstellungsgebotes gestellt und, mit Ausnahme der Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnar­ renberger (FDP) und der Frauen- und Jugendministerin Angela Merkel (CDU), „jeglichen Änderungsbedarf in Artikel 3 verneint“.36 In der größer angelegten „vereinigungsbedingten“ Überarbeitung des Grundgesetzes sahen die reformorientierten Frauen* ihre Chance.37 Die Forderung, Gleichstellung und Gleichberechtigung einen Platz in der institutionalisierten Verfassungsdebatte zu verschaffen, fand schriftliche Unterstützung von rund 100.000 Frauen*.38 Sie zeigte sich in „wäschekör­ beweise Eingaben, Mitteilungen, Hinweise[n], Ratschläge[n], Forderungen gegenüber der Gemeinsamen Verfassungskommission [...] von zigtausend Absenderinnen“, auf die der Vorsitzende Henning Voscherau (SPD) bei Eröffnung der öffentlichen Anhörung „Gleichstellung und Gleichberechti­ gung von Frauen und Männern“ hinwies.39 Sobald absehbar war, dass die DDR als Staat nicht fortbestehen und eine Vereinigung mit der Bundesrepublik angestrebt würde, bildeten sich 35 OVG Münster Beschl. v. 2.7.1992 – 6 B 712/92, Rn. 15; OVG Münster Beschl. v. 23.10.1990 – 12 B 2298/90, vgl. auch Hinweis auf uneinheitliche Fachgerichts­ rechtsprechung im Abschlussbericht der GVK, BT-Drs. 12/6000, 49. 36 Bannas, Frauen und Männer für Gleichberechtigung, FAZ, 17.3.1993. 37 Vgl. Gerhard, Westdeutsche Frauenbewegung: Zwischen Autonomie und dem Recht auf Gleichheit, Feministische Studien 2/1992, 35 (50). 38 Limbach/Eckertz-Höfer, Frauenrechte im Grundgesetz des geeinten Deutsch­ lands. Diskussion in der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat und der Bundesratskommission Verfassungsreform, 1993, S. 21. 39 Voscherau, Gemeinsame Verfassungskommission, 5. Öffentliche Anhörung. Gleichstellung und Gleichberechtigung von Frauen und Männern, 5.11.1992, 2, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Materialien zur Verfassungsdiskussion und zur Grundgesetzänderung in der Folge der deutschen Einheit II, 1996, 258.

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zivilgesellschaftliche Initiativen, die eine neue gesamtdeutsche Verfassung forderten. Sie traten entschieden für eine Vereinigung nach Art. 146 GG aF40 ein und unterbreiteten eigene Entwürfe für eine neue bundesdeutsche Verfassung. Manche Initiativen konzentrierten sich auf einzelne Abschnit­ te, Artikel oder Themen, etwa die Gleichberechtigung und -stellung der Geschlechter, andere bereiteten eine gesamte neue Verfassung vor. Exem­ plarisch sollen hier zwei der zahlreichen Initiativen41 besonders unter dem Gesichtspunkt der Beteiligung ostdeutscher Frauen* vorgestellt werden: Das Kuratorium für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder und das Frankfurter Frauenmanifest. II. Das Kuratorium für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder Am 16.6.1990, dem Vortag des sich jährenden Volksaufstandes von 1953 und einen Tag, bevor die Volksabstimmung über den Verfassungsentwurf des Runden Tisches in einer souveränen DDR hätte stattfinden sollen, gründete sich das Kuratorium für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder. Der Einigungsvertrag war noch nicht geschlossen, die Vereinigung beider deutschen Staaten schon absehbar. Das als erste ge­

40 Laut Art. 146 aF hätte das GG seine Gültigkeit verloren, sobald „von dem deut­ schen Volk in freier Entscheidung“ eine neue Verfassung beschlossen worden wä­ re. Auf diese Norm gestützt forderten einige, die Vereinigung solle durch Neu­ konstituierung des deutschen Staates, konkret durch Abstimmung aller deut­ schen Bürger:innen über eine neue Verfassung, herbeigeführt werden. Die Volks­ kammer der DDR stimmte am 23.8.1990 jedoch für einen Beitritt der späteren neuen Bundesländer zum Geltungsbereich des GG, vgl. Volkskammer der DDR, Sten. Bericht, 22.8.1990, Beschluß, S. 1382 ff. Art. 23 aF hatte vorgesehen, dass das GG in den „anderen Teilen Deutschlands [...] nach deren Beitritt in Kraft zu set­ zen“ sei. Auch die Verfassungsrechtslehre nahm an der Diskussion teil, vgl. Deutschlands aktuelle Verfassungslage. Sondertagung der Vereinigung der Deut­ schen Staatsrechtslehrer am 27.4.1990, VVdStRL 49. 41 Zum Überblick über die Initiativen, die Formulierungen zu Art. 3 Abs. 2 GG vor­ schlugen: Limbach/Eckertz-Höfer, Frauenrechte im Grundgesetz des geeinten Deutschland. Diskussion in der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bun­ destag und Bundesrat und der Bundesratskommission Verfassungsreform, 1993, S. 243 ff. Prägend war insbesondere auch das Forderungspapier „Frauen in bester Verfassung“ von Heide Hering, Susanne v. Paczenky und Renate Sadrozinski (Humanistischen Union), Hering, „Frauen in bester Verfassung“, Feministische Studien extra 1991, 97. Die meisten der von Frauen* geführten Initiativen kon­ zentrierten sich nicht allein auf Art. 3 GG, sondern nahmen insbesondere auch Art. 6 GG in den Blick.

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samtdeutsche Bürger:inneninitiative bezeichnete42 Kuratorium wählte für seinen Gründungsakt einen symbolträchtigen Ort: das Berliner Reichstags­ gebäude.43 Symbolträchtig war auch das Datum, an dem das Kuratorium seinen innerhalb von sechs Monaten ausgearbeiteten vollständigen Verfas­ sungsentwurf der Öffentlichkeit vorstellte: der 23.5.1991. Zu seinem „[w]ichtigste[n] Material“ erklärte das Kuratorium neben dem Grundgesetz den Verfassungsentwurf des Runden Tisches: „Als Ver­ mächtnis der demokratischen Revolution ist er der bisher weitreichendste und modernste Versuch, eine deutsche Verfassung zu konzipieren.“44 Mit dem VE-RT sollte der Entwurf des Kuratoriums gemeinsam haben, dass beiden im Zuge der Vereinigung nach Art. 23 GG aF eine praktische Um­ setzung versagt blieb45 und sie doch als zentrale Foren des öffentlichen Verfassungsdiskurses die institutionelle Verfassungsdebatte beeinflussten. Auch der Verfassungsentwurf des Kuratoriums verzichtete nicht auf ein Gleichstellungsgebot. Art. 3 Abs. 2 des Entwurfs lautete: Frauen und Männer sind gleichberechtigt. Der Staat ist verpflichtet, die gleichberechtigte Teilhabe der Geschlechter in allen gesellschaftli­ chen Bereichen herzustellen und zu sichern.

42 Banditt, Das „Kuratorium für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Län­ der“ in der Verfassungsdiskussion der Wiedervereinigung, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Deutschland Archiv 2014, 2015, 45 (50). 43 Kuratorium für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder, Vom Grundgesetz zur deutschen Verfassung. Denkschrift und Verfassungsentwurf, 1991, S. 7. 44 Kuratorium für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder, Vom Grundgesetz zur deutschen Verfassung. Denkschrift und Verfassungsentwurf, 1991, S. 21. 45 Anders als der VE-RT hatte der Entwurf des Kuratoriums jedoch auch nicht den Anspruch, geltendes Verfassungsrecht zu werden. Dem Kuratorium ging es viel­ mehr darum, eine Öffentlichkeit zu schaffen. Mit einer Vereinigung nach Art. 23 Abs. 1 GG wollte sich das Kuratorium nicht zufriedengeben und argumentierte, trotz Änderung des Art. 146 GG aF durch das Einigungsvertragsgesetz enthalte das provisorisch konzipierte Grundgesetz selbst „nach wie vor den Auftrag zur Verfassungsgebung“, Kuratorium für einen demokratisch verfaßten Bund deut­ scher Länder, Vom Grundgesetz zur deutschen Verfassung. Denkschrift und Ver­ fassungsentwurf, 1991, S. 8, 12.

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Ein zusätzlicher Abs. 4 stellte klar, dass Maßnahmen zur Förderung von Frauen zum Ausgleich bestehender Nachteile […] keine Bevorzugung wegen des Geschlechts seien.46 Unter den Mitgliedern des Kuratoriums waren zahlreiche bekannte Perso­ nen aus Wissenschaft, Politik und Kultur, darunter beispielhaft Christa Wolf und Jürgen Habermas, und auch einige Ost- und Westdeutsche, die am Verfassungsentwurf des Runden Tisches mitgearbeitet hatten.47 Frauen* aus Ostdeutschland waren hier u.a. in Person von Marianne Birthler, die später auch Mitglied der GVK sein würde, sowie Tatjana Böhm und Rose­ marie Will präsent. Die beiden letztgenannten bildeten gemeinsam mit Ute Gerhard und Birgit Laubach den weiblichen Part der paritätisch besetzten Redaktionsgruppe des Verfassungsentwurfes. Obwohl sich im Kuratorium ost- und westdeutsche Bürger:innen auf Augenhöhe begegnen und eine gemeinsame Verfassungsdiskussion führen konnten, wie in kaum einem anderen Gremium, trafen sich hier – verall­ gemeinernd gesprochen – „ostdeutsche Bürgerrechtlerinnen und Bürger­ rechtler und westdeutsche Verfassungsreformerinnen und Verfassungsre­ former“.48 Unter den Mitgliedern der achtköpfigen Redaktionsgruppe war Rosemarie Will die einzige ostdeutsche Juristin und Verfassungsexpertin. Aus Westdeutschland saßen ihr eine Soziologin mit erstem juristischem Staatsexamen (Ute Gerhard), eine Rechtsanwältin (Birgit Laubach), ein west­ deutscher Jurist und Politikwissenschaftler (Jürgen Seifert), zwei Professo­ ren des Öffentlichen Rechts (Ulrich K. Preuß und Hans-Peter Schneider) und ein Professor der Politikwissenschaft (Wolf-Dieter Narr) gegenüber. Durch Frauen* aus der (ehemaligen) DDR vermittelte juristische Expertise war in diesem, wie auch dem im nächsten Abschnitt vorgestellten Gremium der öffentlichen Verfassungsdebatte rar.

46 Kuratorium für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder, Vom Grundgesetz zur deutschen Verfassung. Denkschrift und Verfassungsentwurf, 1991, S. 70. 47 Zum Beispiel Tatjana Böhm, Rosemarie Will, Erich Fischer, Wolfgang Templin und Wolfgang Ullmann aus der ehemaligen DDR, Ulrich K. Preuß und Helmut Simon aus Westdeutschland, vgl. Liste Kuratoriumsmitglieder, Stand 3.7.1990, RHG/GZ-UFV 241, S. 88. 48 Banditt, Das „Kuratorium für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Län­ der“ in der Verfassungsdiskussion der Wiedervereinigung, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Deutschland Archiv 2014, 2015, 45 (50).

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III. Das Frankfurter Frauenmanifest Am 29.9.1990, vier Tage vor Vollzug der Vereinigung der beiden deut­ schen Staaten,49 veröffentlichte eine Gruppe von Frauen* um Ute Ger­ hard50 das Frankfurter Frauenmanifest an einem ebenfalls symbolträchti­ gen Ort: der Frankfurter Paulskirche. Den Forderungskatalog mit dem Titel „Frauen für eine neue Verfassung“ hatten „Frauen aus der autono­ men Bewegung, institutionalisierten Bereichen, Politik und Wissenschaft“, insbesondere Juristinnen, erarbeitet.51 Manche der beteiligten (westdeut­ schen) Frauen* sollten später in der GVK mitwirken: Heide Hering (als Sachverständige), Andrea Maihofer (als Sachverständige) und Jutta Limbach (als Vertreterin Berlins). Die Initiative forderte „eine neue Verfassung, die auch den Wertvorstel­ lungen und der Wirklichkeit von Frauen genügt“.52 In Anlehnung an das Grundgesetz unterbreitete sie konkrete Formulierungs- und Änderungs­ vorschläge für eine ganze Reihe von Artikeln, darunter Art. 3 Abs. 2 GG: Frauen und Männer sind gleichberechtigt. [Gleichberechtigung heißt auch Gleichheit und Anerkennung von Verschiedenheit.] Der Staat garantiert die gleichberechtigte Teilhabe der Geschlechter in allen ge­ sellschaftlichen Bereichen [insbesondere in Politik, Arbeitsleben und Familie]. Die gleichberechtigte Partizipation der Frau ist insbesondere durch Quotierung und andere geeignete Maßnahmen herzustellen. [Es ist Aufgabe des Staates, durch Schaffung geeigneter Rahmenbedingun­ gen auf tatsächliche Gleichstellung von Frauen in allen gesellschaftli­ chen Bereichen hinzuwirken.].53 Ihr Frauenmanifest stellten die Frankfurter Autor:innen in die Tradition der erfolgreichen Arbeit der ostdeutschen Frauen* am Runden Tisch: „Bei diesen Vorschlägen zu einer neuen Verfassung [...] haben wir uns auf den 49 Am 29.9.1990 trat auch die Verfassungsänderung durch das Einigungsvertragsge­ setz in Kraft: Art. 23 aF wurde abgeschafft, Art. 146 aF geändert, BGBl. 1990 II 885. 50 Professorin für Soziologie mit Schwerpunkt Frauen- und Geschlechterforschung an der Universität Frankfurt a.M., heute emeritiert. 51 Gerhard, Einleitung, Feministische Studien 1991 extra, 3 (4); Initiativgruppe Frankfurt, Frauen für eine neue Verfassung – Die Paulskirchenversammlung am 29.09.90, STREIT 4/1990, 155. 52 Entwurf eines Frankfurter Frauenmanifests: „Frauen für eine neue Verfassung“, Feministische Studien 1991 extra, 108. 53 Die eingeklammerten Satzbausteine wurden diskutiert, fanden allerdings keine Mehrheit.

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Verfassungsentwurf des Runden Tisches [...] gestützt.“54 Allerdings muss­ ten sie einräumen, dass ihr Entwurf weitgehend ohne persönliche Beteili­ gung ostdeutscher Frauen* zustande gekommen war. Unter denjenigen, die den Entwurf des Manifests vorbereitet, und denjenigen, die die Diskus­ sion in der Paulskirche als Referentinnen unterstützt hatten, findet sich keine Frau*, die bis zuletzt in der DDR gelebt hatte.55 Allerdings diskutier­ te Tatjana Böhm als Teilnehmerin des Forums mit und regte (ohne sich je­ doch durchzusetzen) in Anlehnung an den VE-RT an, die Nähe der Diskri­ minierungsverbote zur Würdegarantie durch eine Platzierung in Art. 1 GG hervorzuheben.56 Insgesamt kann das Frankfurter Frauenmanifest jedoch als eine „West-Veranstaltung“ bewertet werden. Ute Gerhard, Mitbegründe­ rin der Initiative, erklärte das weitgehende Fehlen ostdeutscher Mitstrei­ ter:innen mit „unsere[r] unterschiedlichen Vorgeschichte“.57 D. Gleichberechtigungsgebot in der bundesrepublikanischen Verfassungsgebung I. Gleichstellung in der Gemeinsamen Verfassungskommission Mit dem Rückenwind der (weiblichen) Öffentlichkeit konnten die re­ formwilligen Mitglieder der Gemeinsamen Verfassungskommission ihre Forderungen nach einem Gleichstellungsgebot in die institutionelle Ver­ fassungsdebatte einbringen und untermauern.58 Die schließlich im Ab­ 54 Entwurf eines Frankfurter Frauenmanifests: „Frauen für eine neue Verfassung“, Feministische Studien 1991 extra, 108; Gerhard, Maßstäbe einer Verfassung auch für Frauen – eine andere Freiheit, Gleichheit, Würde, Feministische Studien 1991 extra, 12 (13, 20). 55 Initiativgruppe Frankfurt, Frauen für eine neuen Verfassung – Die Paulskirchen­ versammlung am 29.09.90. STREIT 4/1990, 155. 56 Platt, Bemerkungen zur Diskussion, Feministische Studien 1991 extra, 46 (48). 57 Initiativgruppe Frankfurt, Frauen für eine neue Verfassung – Die Paulskirchen­ versammlung am 29.09.90, STREIT 4/1990, 155; Gerhard, Einleitung, Feministi­ sche Studien extra 1991, 3 (5 f.). Auch andere Versuche, das Engagement ost- und westdeutscher Frauen zu vereinen, scheiterten, zB der Ost-West-Frauenkongress, Helwerth, „Für uns steht jetzt alles auf dem Spiel“, taz, 30.4.1990. 58 Gemeinsame Verfassungskommission, Sten. Bericht, 10. Sitzung zu Art. 3, insb. „Gleichstellung und Gleichberechtigung, Minderheitenrechte“, 24.9.1992, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Materialien zur Verfassungsdiskussion und zur Grundgesetzänderung in der Folge der deutschen Einheit I, 1996, 501 ff. Die GVK diskutierte unter der Überschrift auch den Schutz nichtehelicher Lebensgemein­ schaften unter Art. 6 GG und die Einführung von Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG. Einige be­ zweifelten, dass das Thema von den in Art. 5 Einigungsvertrag aufgelisteten, aller­

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schlussbericht der GVK Bundestag und Bundesrat empfohlene Formulie­ rung des Gleichstellungsgebots geriet jedoch schwächer als von der mo­ bilisierten (weiblichen) Öffentlichkeit gefordert. Sie kam in mehreren, parallel zu den öffentlich tagenden Kommissionssitzungen stattfindenden sog. Berichterstatterrunden zustande.59 Die Auseinandersetzung unter den von den Parteien unter den Mitgliedern der GVK bestimmten Berichter­ statter:innen verlief entlang der Parteilinien: Die proporzbedingt quantita­ tiv stärkeren Vertreter:innen von CDU/CSU und FDP60 wollten die Her­ stellung tatsächlicher Gleichberechtigung als bloßes Staatsziel deklarieren und um jeden Preis verhindern, dass „starre Quoten“ verfassungsrechtlich zulässig seien.61 Sie bremsten die Entwürfe aus, die den Staat ausdrücklich zur Gleichstellung der Geschlechter verpflichteten.62 Die Befürworter:in­ nen eines Gleichstellungsgebots hatten ursprünglich auf einem begriffli­ chen Bekenntnis zur Gleichstellung der Geschlechter und einer Kompensa­ tionsklausel, die den Staat zum Ausgleich von Nachteilen verpflichtet, be­ harrt. Sie verzichteten schließlich jedoch auf die Begriffe „Gleichstellung“, „in allen gesellschaftlichen Bereichen“ und „gewährleisten“ und setzten

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dings lediglich als Empfehlung formulierten, Aufgabenbereichen umfasst sei (u.a. Föderalismusreform, Aufnahme von Staatszielen). Die GVK verwies auf Art. 31 Abs. 1 EV, der den gesamtdeutschen Gesetzgeber beauftragte, die Gesetzgebung zur Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen weiterzuentwickeln und ordnete ihren Vorschlag zu Art. 3 Abs. 2 GG dem Aufgabenbereich Staatsziele zu, behandelte Art. 3 GG allerdings im Abschlussbericht im Kapitel Grundrechte, vgl. BT-Drs. 12/6000, 49. Vgl. BT-Drs. 12/6000, 11; Giesen, Die Vorbereitung der Grundgesetzänderungen nach der deutschen Wiedervereinigung. Zur Rechtmäßigkeit von Organisation und Verfahren der Gemeinsamen Verfassungskommission, 1997, S. 292 ff. Die CDU/CSU dominierte die GVK. Zweitstärkste Kraft war die SPD, vgl. auch Giesen, Die Vorbereitung der Grundgesetzänderungen nach der deutschen Wie­ dervereinigung. Zur Rechtmäßigkeit von Organisation und Verfahren der Ge­ meinsamen Verfassungskommission, 1997, S. 241 ff.; Einsetzungsbeschluss, BTDrs. 12/6000, 119. Insbes. Susanne Rahardt-Vahldieck (CDU), Erika Steinbach-Hermann (CDU), Rupert Scholz (CDU), Friedrich-Adolf Jahn (CDU), Herbert Helmrich (Justizmi­ nister Mecklenburg-Vorpommern, CDU) und Hans-Joachim Otto (FDP). Besonders Jutta Limbach (Justizsenatorin Berlin, SPD), Heidrun Alm-Merk (Jus­ tizministerin Niedersachsen, SPD), Ursula Mascher (SPD), Gisela Böhrk (Frauen­ ministerin Schleswig-Holstein, SPD), Lore Maria Peschel-Gutzeit (Justizsenatorin Hamburg, SPD), Edith Niehuis (SPD), Marion Eckertz-Höfer (Frauenministeri­ um Schleswig-Holstein) und Christel Hanewinckel (SPD), unterstützt von Wolf­ gang Ullmann (Bündnis 90/Die Grünen).

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im Gegenzug durch, dass der Staat nicht nur zum „Ausgleich von Nachtei­ len“, sondern zu deren „Beseitigung“ verpflichtet werde.63 Dass sich die Befürworter:innen eines Gleichstellungsgebots auf die Nachtarbeitsentscheidung des BVerfG berufen konnten, stärkte ihre Argu­ mentation: Die Öffentlichkeit werde erkennen, dass es keinen signifikan­ ten Fortschritt bedeute, allein den vom Gericht bereits benannten Gewähr­ leistungsgehalt von Art. 3 Abs. 2 GG in der Verfassung zu verschriftli­ chen.64 Zudem beriefen sich einige Mitglieder der GVK auf die Verfas­ sungsforderungen der Öffentlichkeit, indem sie die Verfassungsentwürfe des Runden Tisches und der zivilgesellschaftlichen Initiativen aufgriffen: Marianne Birthler schlug vor, sich bei der Formulierung des Gleichstel­ lungsgebots an der neuen Brandenburger Verfassung zu orientieren. Sie zi­ tiere die Brandenburger Verfassung, „weil [diese] fast wörtlich den Vor­ schlag aus dem Verfassungsentwurf des Runden Tisches übernimmt, der ja bekanntermaßen von allen auch hier vertretenen Parteien gemeinsam und einstimmig beschlossen worden ist.“65 Ulrike Mascher berief sich auf die zahlreichen zivilgesellschaftlichen Initiativen wie das Frankfurter Frauen­ manifest und das Kuratorium, um die breite Unterstützung für eine Ergän­ zung des Art. 3 GG hervorzuheben. „Wenn wir erreichen wollen, daß Frauen ihr Vertrauen in unsere Verfassung, ihr Vertrauen darin, daß Politi­ ker und Politikerinnen ihre Interessen vertreten, nicht verlieren, dann müssen wir uns hier auf eine Ergänzung und Klarstellung des Gleichstel­

63 Vgl. Protokolle der Berichterstattergespräche, Gleichstellung und Gleichberechti­ gung, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Materialien zur Verfassungsdiskussion und zur Grundgesetzänderung in der Folge der deutschen Einheit II, 1996, 728-769. Überblick über die verschiedenen Positionen bei Sacksofsky, Das Grund­ recht auf Gleichberechtigung. Eine rechtsdogmatische Untersuchung zu Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes, 2. Aufl. 1996, S. 396 f. 64 BVerfG Urt. v. 28.1.1992 – 1 BvR 1025/84, Rn. 53 – Nachtarbeitsverbot; vgl. AlmMerk und Limbach in Berichterstattergespräch, 4.2.1993, in: Deutscher Bundes­ tag (Hrsg.), Materialien zur Verfassungsdiskussion und zur Grundgesetzänderung in der Folge der deutschen Einheit II, 1996, 749. Zur Entscheidung Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung. Eine rechtsdogmatische Untersuchung zu Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes, 2. Aufl. 1996, S. 387 ff. Auch der Ab­ schlussbericht der GVK verweist auf das Urteil, BT-Drs. 12/6000, 49. 65 Birthler, Gemeinsame Verfassungskommission, 10. Sitzung, 24.9.1992, 11 f., in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Materialien zur Verfassungsdiskussion und zur Grundgesetzänderung in der Folge der deutschen Einheit I, 1996, 513 f.; vgl. zur Rezeption des VE-RT in den Landesverfassungen Deter, Frauenrechte in den Ver­ fassungsentwürfen der neuen Länder, ZRP 1993, 22.

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lungsgebots verständigen.“66 Dass dem Verfassungsentwurf des Runden Ti­ sches auch nach der Vereinigung eine andauernde Bedeutung und eine ge­ wisse Aussagekraft über ostdeutsche Erwartungen an ein überarbeitetes Grundgesetz zugemessen wurde, zeigt auch der ursprüngliche, letztlich er­ folglose Antrag der SPD-Bundestagsfraktion auf Einsetzung eines Verfas­ sungsrates, in dem sie fordert, die „umfassendere[n] Entwürfe[…], wie zB der Entwurf des ‚Runden Tisches‘ in der ehemaligen DDR oder Entwürfe anderer gesellschaftlicher Gruppierungen“ zum Diskussionsgegenstand der Verfassungsgebung zu machen.67 Die spezifische Situation und Erfahrungen ostdeutscher Frauen*, ihre verfassungspolitischen Forderungen und Verdienste kamen in der GVK selten zur Sprache.68 Dabei war die vereinigungsbedingte Dimension von Gleichberechtigung und Gleichstellung offenkundig, sahen sich doch viele Frauen* aus der ehemaligen DDR beispielsweise mit dem Wegfall staatli­ cher Leistungen konfrontiert, die ihnen die Teilnahme am Berufsleben erleichtert hatten, und einem Arbeitslosigkeitsniveau unter Frauen* entge­ gen, das nun über demjenigen in Westdeutschland lag.69 Wie auch in der öffentlichen Verfassungsdebatte waren ostdeutsche Frauen* in der GVK kaum präsent. Mitglied der GVK konnte nur sein, wer Mitglied des Bundestages oder Vertreter:in des Bundesrates war, Posi­ tionen also, die zwar nach der Neuaufstellung bzw. Gründung neuer Par­

66 Mascher, Gemeinsame Verfassungskommission, 10. Sitzung, 24.9.1992, 7, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Materialien zur Verfassungsdiskussion und zur Grundgesetzänderung in der Folge der deutschen Einheit I, 1996, 509. 67 Antrag der Fraktion der SPD, Weiterentwicklung des Grundgesetzes zur Verfas­ sung für das geeinte Deutschland. Einsetzung eines Verfassungsrates, 24.4.1991, BT-Drs. 12/415, 3. 68 Ausnahmen: Birthler, Gemeinsame Verfassungskommission, Sten. Bericht, 10. Sitzung, 24.9.1992, 11, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Materialien zur Verfas­ sungsdiskussion und zur Grundgesetzänderung in der Folge der deutschen Ein­ heit I, 1996, 513; Hanewinckel, Gemeinsame Verfassungskommission, Sten. Be­ richt, 10. Sitzung, 24.9.1992, 28, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Materialien zur Verfassungsdiskussion und zur Grundgesetzänderung in der Folge der deutschen Einheit I, 1996, 530; Hanewinckel, Anhörung des Deutschen Frauenrates bei den Berichterstattern zu Art. 3 und 6 GG, 15.1.1993, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Materialien zur Verfassungsdiskussion und zur Grundgesetzänderung in der Fol­ ge der deutschen Einheit II, 1996, 732; Böhrk, Berichterstattergespräch, 4.2.1993, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Materialien zur Verfassungsdiskussion und zur Grundgesetzänderung in der Folge der deutschen Einheit II, 1996, 751. 69 Böhm, Wo stehen wir Frauen nach 40 Jahren getrennter Geschichte in Deutsch­ land West und Ost?, Feministische Studien 2/1992, 28 (32); Bundesagentur für Arbeit, Arbeitslose und Arbeitslosenquoten. Deutschland und West/Ost, 2022.

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teien in den neuen Ländern auch von ostdeutschen Personen bekleidet wurden, die aber überproportional von Westdeutschen besetzt waren, dar­ unter mehr Männer als Frauen*: Der Frauen*anteil unter den Mitgliedern der GVK lag unter 20 %.70 Die Zahl ostdeutscher Frauen* konnte unter diesen Bedingungen realistischerweise nur klein sein: eine einzige ostdeut­ sche Frau, Marianne Birthler (Bildungsministerin in Brandenburg, Bündnis 90/Die Grünen), nahm als ordentliches Mitglied teil; unter den stellvertre­ tenden Mitgliedern finden sich drei Frauen mit Ostbiographie.71 Am Ver­ fassungsentwurf des Runden Tisches war keine von ihnen beteiligt gewe­ sen. Gelegenheit, sich als Sachverständige:r in der Anhörung zu Art. 3 GG zu äußern, hatte keine Person aus der ehemaligen DDR.72 Frauen* waren unter den Sachverständigen zwar fast paritätisch und außerdem mit profi­ lierten Protagonist:innen der Gleichstellungsbewegung wie Ute Sacksofsky, Andrea Maihofer und auch Heide Hering vertreten; der Sachverstand einer Frau* aus der ehemaligen DDR – Rosemarie Will oder Tatjana Böhm zum Beispiel – wurde allerdings nicht gehört. II. Abschluss in Bundestag und Bundesrat Bundestag und Bundesrat übernahmen die von der GVK empfohlene Formulierung des Gleichstellungsgebots wortlautgleich, der Vermittlungs­ ausschuss beanstandete hieran anders als an anderen Vorschlägen nichts mehr.73 Die Debatte wurde in beiden Organen dennoch erneut leiden­ schaftlich geführt. Einige Kritiker:innen übten grundsätzliche Kritik an der Verfassungs­ reform, die weitgehend ohne Berücksichtigung spezifisch ostdeutscher Er­ fahrungen geblieben und damit ohne integrative Wirkung für die neuen 70 Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung. Eine rechtsdogmatische Un­ tersuchung zu Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes, 2. Aufl. 1996, S. 395. 71 Angelika Barbe (SPD), Christel Hanewinckel (SPD), Christine Bergmann (Bür­ germeisterin und Senatorin Berlin, SPD). Indes nahmen 20 ostdeutsche Männer an der GVK teil, vgl. Mitgliederliste, BT-Drs. 12/6000, 120 ff. 72 Gemeinsame Verfassungskommission, 5. Anhörung, 5.11.1992, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Materialien zur Verfassungsdiskussion und zur Grundgesetz­ änderung in der Folge der deutschen Einheit II, 1996, 251 ff., III, 1996, 497 ff. Stellungnahmen gaben ab: Ernst Benda, Heide Hering, Andrea Maihofer, Ute Sacksofsky, Edzard Schmidt-Jortzig, Walter Schmitt-Glaeser und Helmut Simon. 73 Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses vom 2.9.1994, BT-Drs. 12/8423.

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Bundesbürger:innen sei.74 Heidrun Alm-Merk warf der GVK, der sie selbst angehört hatte, im Bundesrat „Selbstgerechtigkeit“ vor: „Nach meinem Eindruck haben die Bedingungen, unter denen sich die deutsche Einheit vollzogen hat, den konservativen Teil der Parteienlandschaft in der Mei­ nung bestärkt, man könne und müsse so weitermachen wie bisher, da sich unser politisches System als überlegen erwiesen habe.“75 Aus Oppositionswarte erklärte Werner Schulz (Bündnis 90/DIE GRÜ­ NEN) die Ergänzung des Art. 3 Abs. 2 GG zum Verdienst der Frauen* und zeigte sich nur deshalb kompromissbereit: „Wenn wir trotz allem den Vor­ schlägen des Vermittlungsausschusses zustimmen, dann nur deshalb, weil es bei der Gleichstellung der Frauen [...] wenigstens kleine Fortschritte gibt. Unzählige Fraueninitiativen haben über Jahre gekämpft, um die for­ male Gleichberechtigung durch die tatsächliche Gleichstellung der Frauen in Staat und Gesellschaft zu ergänzen. Bei so viel Frauenpower wurde so­ gar der Unionsbeton brüchig.“76 Auch Angela Merkel, Bundesministerin für Frauen und Jugend (CDU), hob das Engagement der Frauen* hervor und betonte, dass es sich um eine vereinigungsbedingte Verfassungsänderung handele: „In der Tat hat uns die deutsche Einheit heute diese Diskussion über Ergänzungen und Neu­ formulierungen im Grundgesetz gebracht. [...] [I]ch kann sagen, daß gera­ de Frauen aus Ostdeutschland, aus der früheren DDR, und aus der alten Bundesrepublik sehr unterschiedliche Lebenserfahrungen in das wieder­ vereinte Deutschland gebracht haben. […] Auch diesmal waren es Frauen­ verbände, Frauenbewegungen, Fraueninitiativen und Kirchen über alle Parteigrenzen hinweg, […] die bewirkt haben, daß der Art. 3 ergänzt wird.“77 Die aus der SED hervorgegangene PDS unternahm gemeinsam mit Lin­ ker Liste, Uwe-Jens Heuer und Gregor Gysi einen weiteren Versuch, ein um­ fassenderes Gleichstellungsgebot durchzusetzen, indem sie einen eigenen 74 Vgl. Schulz, Bundestag, Sten. Bericht, 238. Sitzung, 30.6.1994, 21026 f., in: Deut­ scher Bundestag (Hrsg.), Materialien zur Verfassungsdiskussion und zur Grundge­ setzänderung in der Folge der deutschen Einheit III, 1996, 1344. 75 Alm-Merk, Bundesrat, Sten. Bericht, 664. Sitzung, 17.12.1993, 626 f., in: Deut­ scher Bundestag (Hrsg.), Materialien zur Verfassungsdiskussion und zur Grundge­ setzänderung in der Folge der deutschen Einheit III, 1996, 970 f. 76 Schulz, Bundestag, Sten. Bericht, 241. Sitzung, 6.9.1994, 21282, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Materialien zur Verfassungsdiskussion und zur Grundgesetz­ änderung in der Folge der deutschen Einheit III, 1996, 1410. 77 Merkel, Bundestag, Sten. Bericht, 238. Sitzung, 30.6.1994, 20993 f., in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Materialien zur Verfassungsdiskussion und zur Grundgesetz­ änderung in der Folge der deutschen Einheit III, 1996, 1311.

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Gesetzesentwurf in den Bundestag einbrachte.78 Er bezog sich inhaltlich u.a. auf die Verfassungsentwürfe des Runden Tisches und des Kuratoriums sowie auf das Frankfurter Frauenmanifest und wurde von Petra Bläss (PDS/ Linke Liste), Mitbegründerin des UVP, verteidigt.79 Das Stimmgewicht stand allerdings eindeutig gegen die Initiative. Ge­ gen nur drei Neinstimmen und vier Enthaltungen stimmten am 30.6.1994 622 Mitglieder des Bundestages für den Gesetzesentwurf von CDU/CSU, SPD und FDP, mit dem der Formulierungskompromiss der GVK in die Verfassung übernommen wurde.80 E. Resümee Die Entstehungsgeschichte von Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG ist eine Ost-West-Ge­ schichte, an der Protagonist:innen aus der ehemaligen DDR und alter BRD in unterschiedlicher Weise und Umfang Anteil haben. Als lineares und eindimensionales „Vom Gleichstellungsgebot des Runden Tisches zur Gemeinsamen Verfassungskommission“ lässt sie sich nicht erzählen. Viel­ mehr war die Einführung des Gleichstellungsgebots durch eine Vielzahl von Faktoren bedingt. In der Bundesrepublik wurde sie wesentlich durch das Bundesverfas­ sungsgericht mit seiner Nachtarbeitsentscheidung von 1992 begünstigt. Zivilgesellschaftliche Kräfte wie das Frankfurter Frauenmanifest und das Kuratorium für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder ver­ liehen der Forderung nach einer Verfassungsänderung Schlagkraft und wa­ ren wichtig für das agenda setting in und außerhalb der GVK. Dabei diente, wie diese Kurzstudie gezeigt hat, das Gleichstellungsgebot im Verfassungs­ entwurf des Runden Tisches den zivilgesellschaftlichen Initiativen und auch der GVK als Anknüpfungspunkt und Referenz für die verfassungspo­ litischen Forderungen der ehemaligen DDR-Bürger:innen und erlangte so über das Ende der DDR hinaus dauernde Bedeutung. Der Kompromiss über den Wortlaut des Gleichstellungsgebots wurde schließlich unter dem

78 BT-Drs. 12/6570. 79 Bläss, Bundestag, Sten. Bericht, 238. Sitzung, 30.6.1994, 21001, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Materialien zur Verfassungsdiskussion und zur Grundgesetz­ änderung in der Folge der deutschen Einheit III, 1996, 1319. 80 Bundestag, Sten. Bericht, 238. Sitzung, 30.6.1994, 21029, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Materialien zur Verfassungsdiskussion und zur Grundgesetzänderung in der Folge der deutschen Einheit III, 1996, 1347.

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Eindruck der Mehrheitsverhältnisse in Bundestag und Bundesrat geschlos­ sen. Augenfällig ist, dass ostdeutsche Frauen* in der Verfassungsdebatte der Bonner Republik kaum vorkamen und selten selbst sprachen, nicht zu­ letzt, obwohl sie zuvor erfolgreich die Verfassungsentwicklung zum The­ ma Gleichstellung und Gleichberechtigung in der DDR beeinflusst hatten. Sie hätten ihre Fachkunde, ihre Forderungen und ihre informierten und kritischen Erfahrungen zu verfassungsrechtlicher Gleichberechtigung und Gleichstellung in der DDR zur Diskussion beitragen können. Mögliche Ursachen für die Abwesenheit ostdeutscher Frauen* verdienen eine weite­ re Betrachtung: Wie hoch war der individuell empfundene Stellenwert einer Ergänzung des Art. 3 Abs. 2 GG im Vergleich zur Bewältigung prak­ tischer Lebensveränderungen durch Wirtschaftszusammenbruch und Mas­ senarbeitslosigkeit, Wegfall von Betreuungsangeboten für Kinder und nicht zuletzt dem Recht auf Schwangerschaftsabbruch? In welchem Maß verhinderten hergebrachte Unterschiede in Gesellschafts-, System- und Rechtsverständnis und Vorurteile, dass sich eine gesamtdeutsche Öffent­ lichkeit bildete? Mit welcher Überzeugung konnten und wollten sich Ju­ rist:innen der Arbeit am Grundgesetz widmen, die nach Plan der SED „die Juristischen Fakultäten [als] begeisterte und befähigte Kämpfer für die Sa­ che der Arbeiterklasse [...] und bereit [...], ihre Kräfte vorbehaltlos für die erste deutsche Arbeiter- und Bauernmacht einzusetzen“ verlassen sollten81?

81 Studienplan für das Fach Rechtswissenschaft des Staatssekretariats für Hochschul­ wesen der DDR von 1959, zitiert nach Schroeder, Die Übernahme der sowjeti­ schen Rechtsauffassung in ihrer Stalinistischen Ausprägung in der SBZ/DDR, in: Enquete-Kommission (Hrsg.), Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SEDDiktatur in Deutschland, Protokoll der 37. Sitzung, Bd. IV, 1995, 11 (18 f.).

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Frau. Macht. Europarecht. Der Weg der „Mütter Europas“ von 1922 über 1952 bis 2022 Martin Schwamborn*

A. Einleitung „Die Gründungsväter und -mütter Europas haben, aus den Trümmern und der Asche der Weltkriege, ein gewaltiges Werk errichtet.“1 Dieser Satz war Teil der Rede, die Ursula von der Leyen vor ihrer Wahl zur ersten EU-Kommissionspräsidentin hielt und in der sie eine paritätisch besetzte EU-Kommission ankündigte. Nachdem dieses Ziel mit nunmehr 13 Frau­ en und 14 Männern nahezu erfüllt ist, stellt sich die Frage, ob damit der vorläufige Schlusspunkt einer Geschichte erreicht ist, die 1922 begann. Das Jahr 2022 markiert nicht nur den 100. Jahrestag des Zugangs von Frauen zu den Ämtern und Berufen in der Rechtspflege, sondern auch den 100. Jahrestag der Gründung der Paneuropa-Union2 sowie den 70. Jahrestag der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS). Letztere legte als Vorläuferin der heutigen Europäischen Union (EU) den Grundstein für die Einigung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg.3 Das Zusammentreffen dieser Jubiläen bietet einen willkomme­ nen Anlass, die Rolle von Frauen für die Entwicklung des Europarechts4 genauer zu betrachten. * Dr. Martin Schwamborn ist Akademischer Rat a.Z. und Habilitand an der Rechts­ wissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln. 1 Von der Leyen, Rede zur Eröffnung der Plenartagung des Europäischen Parla­ ments, 16.7.2019, https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/SPEECH_ 19_4230 (letzter Abruf am: 6.12.2022). 2 Zur Paneuropa-Union und ihrem nicht unumstrittenen Gründer siehe Conze, Ri­ chard Coudenhove-Kalergi. Umstrittener Visionär Europas, 2004, S. 15 ff. u. pas­ sim. 3 Zur historischen Entwicklung siehe nur Hatje/von Förster, § 7 Historische Ent­ wicklung der Europäischen Union, in: Hatje/Müller-Graff (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht I, 2. Aufl. 2022, Rn. 1 ff., 23 ff. 4 Entsprechend des Bezugs auf die EGKS wird Europarecht hier in einem engeren Sinne verstanden. Zur Abgrenzung von Europarecht im engeren und im weiteren Sinne siehe Hobe, Stichwort „Europarecht“, in: Schöbener (Hrsg.), Lexikon Euro­ parecht, 2019, Rn. 753 ff.

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Während Robert Schuman, Jean Monnet oder Walter Hallstein untrennbar mit den Anfängen der europäischen Integration verbunden sind und regel­ mäßig, auch von der EU selbst,5 als „(Gründer-)Väter Europas“ gewürdigt werden,6 finden „Mütter Europas“ kaum Erwähnung.7 In Anlehnung an die vier „Mütter des Grundgesetzes“ sowie die Rede von Ursula von der Ley­ en stellt sich gleichwohl die Frage, wer die „Mütter Europas“ sind, die Ge­ schichte geschrieben und Europarecht „gemacht“ haben. Schließlich ergibt sich ein vollständiges Bild der europäischen Integration erst dann, wenn auch die Rolle von Frauen in den Blick genommen wird (B.). Im Folgen­ den werden daher exemplarisch die Geschichten einiger „Mütter Europas“ beleuchtet (C.), um die Spuren sichtbar zu machen, die sie auf ihrem Weg zu einem vereinten Europa hinterlassen haben (D.). B. Die europäische Integration: Keine Geschichte ohne Frauen „Eine Geschichte ohne die Hälfte der Menschheit ist weniger als die halbe Geschichte: Denn ohne Frauen würde diese Geschichte auch den Männern nicht gerecht und umgekehrt.“8 Mit diesen Worten verdeutlicht die Histo­ rikerin Gisela Bock schon zu Beginn ihrer vielbeachteten Studie zu Frauen in der europäischen Geschichte, dass auch und vor allem mit Blick auf den europäischen Kontinent „Geschichte ohne Frauen ganz unmöglich“ ist.9 Wie entscheidend schon ein geringer Frauenanteil für die Gestaltung eines (verfassungs‑)rechtlichen Rahmens sein kann, lässt sich anhand der Entstehung des deutschen Grundgesetzes darlegen. So hat Elisabeth Sel­ bert (1896-1986) als eine der vier „Mütter des Grundgesetzes“, ungeachtet

5 Europäische Kommission, Die Europäische Union erklärt. Die Gründerväter der EU, 2013; positiver aber Europäische Kommission, EU-Pionierinnen und -Pionie­ re, https://european-union.europa.eu/principles-countries-history/history-eu/eu-pio neers_de (letzter Abruf am: 6.12.2022). 6 Vgl. nur Bossuat, Les fondateuers de l’Europe uni, 2001, S. 5 ff., 115 ff. 7 Eine positive Ausnahme bildet der Beitrag von Nonno, The Founding Mothers of Europe. The Role of Simone Veil and Sofia Corradi in Defence of the European Values, in: Baigorri/Elvert (Hrsg.), Paz y valores europeos como posible modelo de integración y progreso en un mundo global, 2019, 239 (239 ff.). 8 Bock, Frauen in der europäischen Geschichte. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, 2000, S. 10. 9 Bock, Frauen in der europäischen Geschichte. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, 2000, S. 346.

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des deutlichen männlichen Übergewichts im Parlamentarischen Rat,10 nicht nur in Bezug auf die starke Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland, sondern auch und vor allem im Bereich der Gleichberechti­ gung im wahrsten Sinne des Wortes Maßstäbe gesetzt.11 Gänzlich anders stellte sich die Situation beim Beginn der Europäischen Einigung dar. So findet sich unter den Persönlichkeiten, die üblicherweise als „Väter Europas“ mit der Geburt der EGKS als Vorläuferin der heutigen EU in Verbindung gebracht werden, keine einzige Frau.12 In Anlehnung an die Worte von Gisela Bock ist das aber nur die halbe Wahrheit. Für ein voll­ ständiges Bild ist es unumgänglich, auch die andere Hälfte der Geschichte sichtbar zu machen und die „Mütter Europas“ verstärkt in den Blick zu nehmen. Eine derartige „frauenzentrierte Annäherung“13 setzt sich natur­ gemäß ebenfalls dem Vorwurf der fehlenden Vollständigkeit aus. Aller­ dings geht es an dieser Stelle gar nicht um eine umfassende Darstellung aller Pionier:innen Europas. Vielmehr ist es das Ziel, eine zusätzliche Per­ spektive auf die Anfänge der europäischen Integration einzunehmen und das Bewusstsein für den entscheidenden Einfluss von Frauen auch und vor allem in diesem Bereich zu stärken. Dabei wird nicht übersehen, dass eine Darstellung prägender Persönlichkeiten der EU nicht nur wegen der unklaren Kriterien für die Auswahl, sondern auch wegen der Gefahr einer Überhöhung des Einflusses einzelner Personen problematisch ist.14 Solan­ ge aber die „(Gründer-)Väter der EU“ weiterhin ein zentrales Narrativ für die EU-Geschichtspolitik und das gemeinsame europäische Bewusstsein bilden, ist es notwendig, dieses Narrativ durch eine Würdigung der „Müt­ ter Europas“ zu ergänzen bzw. zu vervollständigen. 10 Werden auch nicht stimmberechtigte Mitglieder sowie Nachrücker mitgezählt, gab es neben den vier Frauen insgesamt 73 Männer im Parlamentarischen Rat. Die Biografien aller 77 Personen sind abrufbar unter: https://www.bpb.de/themen /nachkriegszeit/grundgesetz-und-parlamentarischer-rat/39043/die-muetter-und-vae ter-des-grundgesetzes/ (letzter Abruf am: 6.12.2022). 11 Ausführlich Sitter, Die Rolle der vier Frauen im Parlamentarischen Rat. Die ver­ gessenen Mütter des Grundgesetzes, 1995, S. 54 ff., 60 ff. u. passim. 12 Siehe nur die Beiträge in den Sammelbänden Smets/Ryckewaert (Hrsg.), Les pères de l'Europe. Cinquante ans après, Perspectives sur l’engagement européen, 2001, passim sowie Schirmann, (Hrsg.), Robert Schuman et les Pères de l'Europe. Cultures politiques et années de formation, 2008, passim. 13 Dazu Pető, Images und Fantasien. Europas Töchter und „Damen“ in der Vergan­ genheit, in: Miethe/Roth (Hrsg.), Europas Töchter, Traditionen, Erwartungen und Strategien von Frauenbewegungen in Europa, 2003, 21 (22, 26 ff.). 14 Dazu und zum Folgenden Große Hüttmann, Prägende Persönlichkeiten in der Geschichte der EU-Integration, in: Becker/Lippert (Hrsg.), Handbuch Europäi­ sche Union, 2020, 43 (46 ff., 51 ff., 56 ff.).

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C. Auf den Spuren der „Mütter Europas“: Frauen, Europa und das Recht Der Begriff „europäische Integration“ steht für ein Phänomen, welches durch ein dynamisches Zusammenspiel von Politik, Wirtschaft und Recht geprägt wird.15 Diese unterschiedlichen Integrationsdimensionen und die damit verbundenen Besonderheiten führen dazu, dass Frauen in verschie­ denen Rollen und Positionen als „Mütter Europas“ wirken und Europa­ recht „machen“ konnten. Aus diesem Grund werden im Folgenden nicht nur einige wenige Visionärinnen bzw. herausgehobene Persönlichkeiten angesprochen (I.), sondern auch jene zahllosen Frauen, die, anfangs im Verborgenen und später in herausgehobenen Positionen, innerhalb und außerhalb der europäischen Institutionen die Integration und Gleichbe­ rechtigung durch Europarecht gestaltet haben (II.). I. Vordenkerinnen und Pionierinnen der europäischen Idee Auf den ersten Blick gestaltet sich die Suche nach „Müttern Europas“ als durchaus schwierig. So war der Frauenanteil in den entscheidenden Milieus der Europa-Bewegung der 1940er- und 1950er-Jahre mit schät­ zungsweise unter zehn oder sogar fünf Prozent äußerst gering.16 Zudem waren Frauen zur Zeit der EGKS-Gründung in der nationalen Politik kaum vertreten, weshalb der Schluss naheliegt, dass Europa zwar viele Gründungsväter, aber keine Gründungsmütter hat.17 Sofern nur solche Frauen als „(Gründungs-)Mütter“ zu bezeichnen wären, die auf höchster Ebene bei der Vertragsgestaltung und -unterzeichnung zur Gründung der EGKS mitgewirkt haben, mag dieser Befund sogar zutreffen. Allerdings wird auch die Bezeichnung „Gründerväter der EU“ in einem deutlich weiteren Sinne verstanden und umfasst auch große Vordenker der europä­ ischen Idee sowie jene Männer, die allgemein einen entscheidenden Bei­ trag zur Europäischen Integration geleistet haben.18 Nichts anderes kann

15 Zum Begriff und den Dimensionen Schwamborn, Maßstäbe der europäischen In­ tegration. Möglichkeiten und Grenzen eines maßstabsorientierten Kooperations­ verhältnisses zwischen BVerfG und EuGH, 2022, S. 10 ff. 16 Schmale, Geschichte und Zukunft der Europäischen Identität, 2008, S. 118. 17 Denéchère, Ces Françaises qui on fait l’Europe, 2007, S. 15; vgl. zum Fehlen von Gründungsmüttern auch Thiel, Europäische Integration wie bisher oder anders. Bahnt sich eine Kurswende an?, Andrassy-Abhandlungen Nr. 25 (2010), 1 (1). 18 Vgl. die Auflistung in Europäische Kommission, Die Europäische Union erklärt. Die Gründerväter der EU, 2013.

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für diejenigen Frauen gelten, die den Weg für die Europäische Einigung mitgedacht und mitgestaltet haben. Die so verstandenen „Mütter Europas“ sind nicht nur historische europäische Persönlichkeiten wie beispielsweise die Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner, sondern all jene Frauen, welche die europäische Integration unmittelbar durch Worte oder Taten entscheidend geprägt haben.19 Die Spuren des weiblichen Einflusses zeigen sich schon in sprachlicher Hinsicht. Bereits in den Anfangsjahren wurde der Zusammenschluss der europäischen Staaten mit dem Begriff „Integration“ umschrieben. Der Integrationsbegriff erwies sich aufgrund seiner Offenheit als besonders förderlich für die Einigung Europas, weshalb seine Verwendung auch von den Gründervätern entscheidend befördert wurde.20 Die Idee beim Europäischen Projekt das Wort „Vereinigung“ durch „Integration“ zu er­ setzen, geht hingegen maßgeblich, wenn nicht sogar ausschließlich, auf einen Vorschlag von Miriam Camps (1916-1994) zurück, die schon 1949 die Anschlussfähigkeit des Begriffs erkannte.21 Die Ökonomin aus dem US-Außenministerium war eine Spezialistin für die wirtschaftliche Koope­ ration und Integration Europas. Aufgrund ihres Engagements bei der Entwicklung und Etablierung sowohl des Marshall-Plans als auch der Or­ ganisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC, heu­ te: Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, OECD),22 ist Camps nicht nur die einzige „Mutter der OEEC“23, sondern auch eine „Mutter Europas“. Die wirtschaftliche und später auch politische Integration blieb aber nicht nur ein Wort, sondern wurde auch in die Tat umgesetzt. Entschei­

19 Dazu und zu weiteren Personen Briatte/Gubin/Thébaud, Introduction, in: Briat­ te/Gubin/Thébaud (Hrsg.), L’Europe, une chance pour les femmes?. Le genre de la construction européene, 2019, 23 (23 ff.). 20 Schumacher, Der Wortschatz der europäischen Integration, S. 38 ff., insbesondere S. 41 ff. 21 Stinsky, International Cooperation in Cold War Europe. The United Nations Eco­ nomic Commission for Europe. 1947-64, 2021, S. 192. 22 Siehe zu den Hintergründen Kindleberger, Marshall Plan Days, Nachdruck der 1. Aufl. 2010, passim; Camps, The Continuing Institutions. An Assessment, in: Hoffmann/Maier (Hrsg.), The Marshall Plan. A retrospective, 1984, 71 (71 ff.) so­ wie die weiteren Beiträge in dem Sammelband. Zum Einfluss von Camps s. auch Stinsky, International Cooperation in Cold War Europe. The United Nati­ ons Economic Commission for Europe. 1947-64, 2021, S. 130. 23 So die Selbstbezeichnung von Miriam Camps in Camps, The Continuing Institu­ tions. An Assessment, in: Hoffmann/Maier (Hrsg.), The Marshall Plan. A retros­ pective, 1984, 71 (71).

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dend für die Umsetzung war nicht zuletzt, dass die Idee einer friedenssi­ chernden Vereinigung der europäischen Staaten bereits zuvor mehr und mehr Anhänger:innen gewonnen hatte. Die zunehmende Popularität der europäischen Idee als Reaktion auf die Schrecken des Ersten sowie ins­ besondere des Zweiten Weltkriegs und die mit ihm verbundenen Ver­ brechen ist wiederum eine Folge des Wirkens engagierter europäischer Pionier:innen. Dass unter ihnen auch zahlreiche Frauen waren, lässt sich nicht nur anhand der 1922 ins Leben gerufenen Paneuropa-Bewegung belegen,24 sondern auch und vor allem an den Geschichten von Anna Siemsen, Ursula Hirschmann, Ada Rossi und Louise Weiss. Die Pädagogin und Pazifistin Anna Siemsen (1882-1951) setzte sich Zeit ihres Lebens nicht nur für die Entwicklung eines gemeinsamen europä­ ischen Bewusstseins durch Erziehung, Bildung und Aufklärung ein, son­ dern war auch eine, in der breiten Öffentlichkeit teilweise vergessene, ent­ scheidende Vordenkerin für die Gleichberechtigung der Frauen sowie der demokratischen Integration Europas.25 Für Siemsen waren Gleichberechti­ gung und europäische Integration untrennbar miteinander verbunden. In dem 1945 veröffentlichten Aufsatz „Die Frau im neuen Europa“ brachte Siemsen ihre Überzeugung besonders deutlich zum Ausdruck: „Kommt das geeinte und freie Europa, so kommt mit ihm – des bin ich sicher – auch das volle Bürgerrecht aller Europäerinnen.“26 Mag ihr Ziel einer voll­ ständigen Gleichberechtigung auf allen Ebenen auch noch nicht erreicht sein, zählt Anna Siemsen aufgrund ihres unermüdlichen Engagements für Europa und die Gleichberechtigung ohne Zweifel zu den großen Vorden­ kerinnen der europäischen Idee. Eine weitere oft vergessene „Mutter Europas“ ist Ursula Hirschmann (1913-1991), die nach ihrer Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland maßgeblichen Einfluss auf die Anfänge der Europäischen Föderalistischen Bewegung hatte. Hirschmann war mit dem italienischen 24 Dazu Shriver, Le genre de l’Union paneuropéenne entre les deux guerres, in: Bri­ atte/Gubin/Thébaud (Hrsg.), L’Europe, une chance pour les femmes?. Le genre de la construction européene, 2019, 39 (39 ff.). 25 Ausführlich von Bargen, Anna Siemsen (1882–1951) und die Zukunft Europas. Politische Konzepte zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik, 2017, passim; s. auch von Bargen, Europa nach dem Exil. Zu den Europavorstellungen der Sozialdemokratin Anna Siemsen. Beitrag zum Themenschwerpunkt „Europäische Geschichte – Geschlechtergeschichte“, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2009, https://www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1496 (letzter Abruf am: 6.12.2022) mwN. 26 Siemsen-Vollenweider, Die Frau im neuen Europa, in: Bauer/Ritzel (Hrsg.), Kampf um Europa. Von der Schweiz aus gesehen, 1945, 189 (206).

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Philosophen und Antifaschisten Eugenio Colorni verheiratet, dem sie nach seiner Verhaftung durch das faschistische Regime in Italien freiwillig in die Haft auf die Insel Ventotene folgte.27 Dort wirkte Hirschmann neben Colorni sowie den EU-Gründervätern Ernesto Rossi und Altiero Spinelli entscheidend an der Entstehung des berühmten „Manifests von Ventote­ ne“ mit.28 Einem Dokument, welches als Reaktion auf den Zweiten Welt­ krieg bereits 1941 ein freies, vereintes und demokratisches Europa unter dem Dach einer Europäischen Föderation forderte.29 Im Anschluss war es Hirschmann, die das auf Zigarettenpapier verfasste Manifest, eingenäht in die Aufschläge ihres Mantels, auf das Festland schmuggelte und die Verbreitung des Textes zusammen mit Ada Rossi, auf die noch zurück­ zukommen sein wird, und den Schwestern von Spinelli organisierte.30 Im Jahr 1943 war Hirschmann gemeinsam mit ihrem späteren Ehemann Spinelli31 an der Gründung der Europäischen Föderalistischen Bewegung in Mailand sowie 1945 an der Organisation des ersten „internationalen föderalistischen Kongresses“ in Paris beteiligt. Darüber hinaus setzte sich Hirschmann auch für die Rechte der europäischen Frauen ein, was durch ihre Gründung der Vereinigung „Femmes pour l‘europe“ im Jahre 1975 unterstrichen wird.32 Trotz dieses zweifelslos beeindruckenden Lebens­ werks wird der Beitrag von Hirschmann zur Einigung Europas bisher nicht immer hinreichend gewürdigt. So wird in der bereits angesproche­ nen Veröffentlichung der EU-Kommission über die Gründerväter der EU zwar Spinelli als Autor des Manifests von Ventotene gewürdigt, andere Autor:innen sowie insbesondere die zentrale Rolle von Hirschmann für den Europäischen Föderalismus werden hingegen nicht erwähnt.33 Gleiches

27 Boccanfuso, Ursula Hirschmann. Una donna per l’Europa, 2019, S. 91 ff. 28 Boccanfuso, Ursula Hirschmann. Una donna per l’Europa, 2019, S. 108 ff. 29 Spinelli/Rossi, Das Manifest von Ventotene, https://www.cvce.eu/content/publ ication/1997/10/13/316aa96c-e7ff-4b9e-b43a-958e96afbecc/publishable_de.pdf (letzter Abruf am: 6.12.2022), zur fehlenden Nennung von Ursula Hirschmann sogleich. 30 Dazu und zum Folgenden Boccanfuso, Ursula Hirschmann. Una donna per l’Eu­ ropa, 2019, S. 122 ff., 144 ff. 31 Nachdem Ursula Hirschmanns Ehemann Eugenio Colorni Mitte 1944 verstarb, heiratete sie Altiero Spinelli. 32 Boccanfuso, Ursula Hirschmann. Una donna per l’Europa, 2019, S. 164 ff. 33 Vgl. Europäische Kommission, Die Europäische Union erklärt. Die Gründerväter der EU, 2013, siehe dort die Liste der Gründerväter sowie den Abschnitt über Altiero Spinelli.

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gilt für Ada Rossi (1899-1993), die eben nicht nur „Frau von“34 Ernesto Rossi war, sondern die gemeinsam mit Hirschmann den Austausch zwischen den Europäischen Föderalist:innen organisierte. Da kaum zu bezweifeln ist, dass es die Föderalistische Bewegung ohne die beiden Frauen deutlich schwerer gehabt hätte,35 müssen sowohl Ursula Hirschmann als auch Ada Rossi in einem Atemzug mit den Gründervätern genannt werden. Die letzte, aber sicher nicht weniger wichtige, Pionierin, die an dieser Stelle Erwähnung finden soll, ist Louise Weiss (1893-1983). Die Journalis­ tin und „Großmutter Europas“36 setzte sich als Mitgründerin und spätere Chefredakteurin der Zeitschrift „L'Europe Nouvelle“ von 1918 bis 1934 für die internationale Verständigung, den Frieden sowie insbesondere die europäische Integration ein.37 Im Anschluss war sie, unter anderem über den von ihr gegründeten Verein „La femme nouvelle“, eine vehemente Kämpferin für die Gleichberechtigung und das Frauenwahlrecht, ehe sie sich im Kalten Krieg durch zahlreiche journalistische Beiträge und Doku­ mentarfilme wieder für eine starke Rolle des vereinten Europas und den Frieden in der Welt einsetzte.38 Gekrönt wurde ihr Einsatz für Europa durch die Wahl in das erste direkt gewählte Europäische Parlament im Jahr 1979, wo Weiss als Alterspräsidentin die Eröffnungsrede hielt.39 Louise Weiss war somit nicht nur Vordenkerin und „Mutter Europas“, sondern schlägt zugleich die Brücke zu jenen Frauen, welche die Europäische Ge­ meinschaft und spätere Union aktiv von innen und außen mitgestaltet haben.

34 Allgemein zu dieser nicht unproblematischen Einordnung und zu ihrer Bedeu­ tung in den Anfangsjahren der EGKS siehe Carbonell, Les femmes dans les pre­ mières années de la construction européenne. L’example de la Haute Autorité de la CECA. 1952-1976, in: Briatte/Gubin/Thébaud (Hrsg.), L’Europe, une chance pour les femmes?. Le genre de la construction européene, 2019, 81 (82, 89 ff.). 35 Senat der Italienischen Republik, Donne che hanno fatto l’Europa, 2017, S. 33 ff., https://www.senato.it/application/xmanager/projects/leg18/file/repository/relazio ni/libreria/novita/XVII/Volume_Donne_Europa_REV9_web.pdf (letzter Abruf am: 6.12.2022). 36 Denéchère, Ces Françaises qui on fait l’Europe, 2007, S. 15. 37 Berin, Louise Weiss, 1999, S. 81 ff., insbesondere S. 89 ff. 38 Ausführlich Berin, Louise Weiss, 1999, S. 215 ff., 231 ff., 380 ff. 39 Berin, Louise Weiss, 1999, S. 458 ff., insbesondere S. 474.

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II. „Mütter Europas“ als administrative, politische und rechtliche Gestalterinnen Für einen umfassenden Überblick müssen neben großen Vordenkerinnen und Pionierinnen auch jene Frauen in den Blick genommen werden, die innerhalb und außerhalb der europäischen Institutionen aktiv an der Integration mitgewirkt haben. Trotz des deutlichen männlichen Überge­ wichts lässt sich ihre Bedeutung schon in der Anfangszeit der EGKS erken­ nen (1.). Spätestens beim Kampf für die europäische bzw. europarechtliche Gleichberechtigung (2.) wurde dann deutlich, dass bis heute zahllose Frau­ en als „Mütter Europas“ die Integration entscheidend geprägt haben (3.). 1. Die Anfangsjahre: Gestalten aus dem Hintergrund In den Anfangsjahren der europäischen Integration waren die Führungs­ positionen in den zentralen EGKS-Organen, mit Ausnahme von Marga Klompé, der ersten und lange Zeit einzigen Frau in der Parlamentarischen Versammlung der EGKS, ausschließlich von Männern besetzt. Besonders deutlich wird diese ungleiche Verteilung bei der Hohen Behörde, die von 1952 bis 1967 die Vorläuferin der heutigen EU-Kommission war. Während Männer in der Zeit bis 1967 alle Kommissare und hohen Beamten stellten, blieben für Frauen nur formal und finanziell untergeordnete Positionen wie Schreiberin, Dolmetscherin, Sekretärin oder Telefonistin.40 Dass die Arbeit dieser, heute oft vergessenen, Frauen aber alles andere als unbedeu­ tend war, lässt sich exemplarisch anhand von zwei außergewöhnlichen (Lebens-)Geschichten verdeutlichen. Eine der angesprochenen Dolmetscherinnen aus der Anfangszeit war Ursula Wenmakers (1928-1963), die mit vollem Einsatz und – tragischerwei­ se im wahrsten Sinne des Wortes – bis zur Erschöpfung die Gespräche von Jean Monnet und dem Vizepräsidenten der Hohen Behörde Franz Etzel übersetzte. Mit dieser anspruchsvollen sowie für die Weiterentwick­ lung der Integration unerlässlichen Tätigkeit steht Wenmakers, ebenso wie Danica Seleskovitch oder die spätere Leiterin der Generaldirektion Dolmet­ schen Renée Van Hoof-Haferkamp, stellvertretend für die zahllosen Frauen,

40 Ausführlich Carbonell, Les femmes dans les premières années de la construction européenne. L’example de la Haute Autorité de la CECA. 1952-1976, in: Briatte/ Gubin/Thébaud (Hrsg.), L’Europe, une chance pour les femmes?. Le genre de la construction européene, 2019, 81 (83 ff.).

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die von Anfang an die Arbeit der europäischen Institutionen aus dem Hin­ tergrund nicht nur ermöglicht, sondern auch geprägt haben.41 Eine weitere dieser bemerkenswerten Frauen war Anne Weil (1903-1984), die ab 1955 als Beamtin für die Hohe Behörde und ab 1958 für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) tätig war. Anhand ihres umfassenden Briefwechsels mit Hannah Arendt wird deutlich, dass Weil nicht nur mit vollem Einsatz bei der (supranationalen) Sache war, sondern dass sie ihre Arbeit unmittelbar und teilweise wörtlich in offizielle Stellungnahmen der Hohen Behörde einfließen lassen konnte.42 Ebenso wie Ursula Wenmakers ist Anne Weil damit eine „Mutter Europas“ und gehört aufgrund ihres unermüdlichen und fachkundigen Einsatzes „zu den vielen in den Geschichtsbüchern namenlos Gebliebenen, die nach den nationalstaatlichen Erschütterungen des 20. Jahrhunderts die Fundamente für den Aufbau des Hauses Europa legten.“43 Selbstverständlich waren unter diesen Namenlosen auch zahlreiche „Vä­ ter Europas“, die allerdings wegen ihrer in der Regel prestigeträchtigeren Posten nicht so stark aus dem Verborgenen agierten. Demgegenüber muss­ ten die „Mütter Europas“ wegen ihrer vermeintlich weniger bedeutsamen Positionen aus der zweiten oder dritten Reihe agieren. Dies hat sie aber nicht daran gehindert, entscheidende Impulse für die europäische Integra­ tion zu setzen. Im späteren Verlauf der Geschichte wurde dieser Einfluss immer deutlicher, zumal die „Mütter Europas“ nicht nur innerhalb der europäischen Institutionen wirkten. Vielmehr ergab sich ein konstruktives Zusammenwirken mit jenen Frauen, die von außen für die europäische Idee und die Gleichberechtigung stritten. Auch der Einsatz dieser „Mütter Europas“ war und ist für das europäische Projekt prägend. 2. „Mütter Europas“ zwischen externer und interner Gestaltung Wie umfassend der Begriff der „Mütter Europas“ zu verstehen ist, lässt sich besonders gut am Kampf europäischer Frauen für die gleiche Bezahlung

41 Ausführlich Carbonell, Les femmes dans les premières années de la construction européenne. L’example de la Haute Autorité de la CECA. 1952-1976, in: Briatte/ Gubin/Thébaud (Hrsg.), L’Europe, une chance pour les femmes?. Le genre de la construction européene, 2019, 81 (86 ff.). 42 Nordmann/Ludz, Hannah Arendt. Wie ich einmal ohne dich leben soll, mag ich mir nicht vorstellen, 2017, S. 36 ff., 147 ff., insbesondere S. 150, 156, 160, 181. 43 Nordmann/Ludz, Hannah Arendt. Wie ich einmal ohne dich leben soll, mag ich mir nicht vorstellen, 2017, S. 37.

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von Männern und Frauen illustrieren. Bereits seit 1957 findet sich mit Art. 119 EWG-Vertrag (heute Art. 157 AEUV) eine Vorschrift im europä­ ischen Primärrecht, welche die Mitgliedstaaten auf den Grundsatz des glei­ chen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Ar­ beit verpflichtet. Die Norm diente nicht im eigentlichen Sinne der Gleich­ berechtigung, sondern wurde in den Vertrag aufgenommen, um Wettbe­ werbsverzerrungen zwischen den Mitgliedstaaten zu verhindern. Trotz der klaren normativen Vorgaben von Art. 119 EWG-Vertrag fristete die Norm jahrelang ein Schattendasein.44 Zu wesentlichen Fortschritten kam es erst, als mehrere „Mütter Europas“ die Initiative ergriffen. An erster Stelle ist hier Éliane Vogel-Polsky (1926-2015) zu nennen, deren Name wie kaum ein anderer mit der gerichtlichen Durchsetzung der Gleichberechtigung verbunden ist. Als im Jahr 1966 beim belgischen Rüs­ tungskonzern Herstal die Frauen unter Berufung auf Art. 119 EWG-Ver­ trag in den Streik traten, erkannte die belgische Rechtsanwältin VogelPolsky die Gunst der Stunde.45 Nachdem sie bereits zur unmittelbaren An­ wendbarkeit von Art. 119 EWG-Vertrag publiziert hatte, suchte VogelPolsky nunmehr einen Testfall, um ihre Rechtsansicht auch gerichtlich durchzusetzen. Fündig wurde sie schließlich bei Gabrielle Defrenne, die sich gegen die ungleiche Behandlung von Männern und Frauen durch ihren Arbeitgeber hinsichtlich des Ruhestands und der Bezahlung wandte. Über das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 177 EWG-Vertrag (heute Art. 267 AEUV) fand eine der von Vogel-Polsky initiierten Klagen schließ­ lich ihren Weg zum EuGH.46 In der Rechtssache Defrenne fällte der EuGH die bis heute maßgebliche Grundsatzentscheidung, dass Art. 119 EWGVertrag unmittelbare Geltung bzw. Wirkung zukomme, weshalb sich be­ troffene Arbeitnehmer:innen auch vor nationalen Gerichten direkt auf die­ se Vorschrift berufen können.47 Das Vorgehen von Éliane Vogel-Polsky ist damit das erste Beispiel für die – notfalls gerichtliche – Durchsetzung der Gleichberechtigung mit Hilfe des europäischen Rechts. Obwohl der

44 Ausführlich zur Entwicklung Hoskyns, Integrating Gender. Women, Law and Po­ litics in the European Union, 1996, S. 43 ff. Zur Entstehungsgeschichte und zum unionsrechtlichen Kontext s. auch Grabitz/Hilf/Nettesheim/Langenfeld/Lehner, 75. EL Januar 2022, AEUV Art. 157 Rn. 2 ff. 45 Hoskyns, Integrating Gender. Women, Law and Politics in the European Union, 1996, S. 60 ff., insbesondere S. 65 ff. 46 Hoskyns, Integrating Gender. Women, Law and Politics in the European Union, 1996, S. 68 ff. 47 EuGH Urt. v. 8.4.1976 – 43/75, ECLI:EU:C:1976:56, Rn. 4/6 ff. u. Ls. 1 – Defren­ ne.

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EuGH sicher kein „feministisches Gericht“ war,48 ergingen in der Folge zahlreiche weitere Entscheidungen, die nicht nur die Entgeltgleichheit be­ trafen, sondern die Gleichberechtigung auch in anderen Bereichen förder­ ten.49 Wie weit diese Rechtsprechung gehen kann, zeigt die Klage von Tan­ ja Kreil, die vor dem EuGH den uneingeschränkten Zugang von Frauen zum Dienst an der Waffe erkämpfte und damit sogar verfassungsrechtliche Hindernisse für die Gleichberechtigung überwinden konnte.50 Dieser Weg einer „Gleichberechtigung durch Recht“ hat sich damit als besonders wir­ kungsvolles Werkzeug der „Mütter Europas“ erwiesen. Die gerichtliche Durchsetzung im Einzelfall war und ist aber nicht die einzige Möglichkeit, die Gleichberechtigung zu fördern. So wurde das „ex­ terne“ Engagement von Éliane Vogel-Polsky flankiert vom unermüdlichen Einsatz von Évelyne Sullerot und Jacqueline Nonon, zwei der maßgeblichen Akteurinnen für die Förderung der Gleichberechtigung innerhalb der europäischen Institutionen mittels europäischer Richtlinien. Die französische Soziologin Évelyne Sullerot (1924-2017) hatte sich be­ reits durch zahlreiche Studien zur Situation von Frauen auf dem Arbeits­ markt einen Namen gemacht, als sie im Jahr 1968 von der Kommissi­ on beauftragt wurde, den ersten länderübergreifenden Bericht über die Beschäftigung von Frauen in den damals sechs Mitgliedstaaten zu erstel­ len.51 Der Sullerot-Report52 machte auf zahlreiche bestehende Probleme bzw. Ungleichheiten aufmerksam und hatte erheblichen Einfluss auf die Gestaltung der weiteren Politik der Kommission,53 namentlich vor allem auf die drei Richtlinien, welche den Kern der „ersten Generation“ des

48 Van der Vleuten, The Price of Gender Equality. Member States and Governance in the European Union, 2007, S. 186 ff. 49 Ausführlich Cichowski, The European Court and Civil Soceity, Litigation, Mobi­ lization and Governance, 2007, S. 73 ff. sowie Cichowski, Women’s Rights, the European Court, and Supranational Constitutionalism, Law & Society Review 38 (2004), 489 (489 ff.); s. auch Ebert, Wie Europa Zeus bändigte. Transnationalität im europäischen Gleichstellungsrecht, 2021, S. 95 ff., dort insbesondere die Ent­ scheidungsübersichten auf S. 105 f., 166 f., 179 ff., 224 ff., 264, 284. 50 EuGH, Urt. v. 11.1.2000 – C-285/98, ECLI:EU:C:2000:2, Rn. 5, 12, 15 ff. – Tanja Kreil. 51 Hoskyns, Integrating Gender. Women, Law and Politics in the European Union, 1996, S. 83 ff., 26 ff. mwN. 52 Sullerot, L’emploi des femmes et ses problèmes dans les états membres de la Communauté Européenne, CEC, 1970, Fassung von 1973 abrufbar unter: http://a ei.pitt.edu/38651/ (letzter Abruf am: 6.12.2022). 53 Hoskyns, Integrating Gender. Women, Law and Politics in the European Union, 1996, S. 84.

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EU-Geschlechtergleichstellungsrechts bildeten.54 An dieser Stelle soll es allerdings nicht darum gehen, die Entwicklung der EU-Gleichstellungspo­ litik nachzuzeichnen oder einer kritischen Bewertung zu unterziehen.55 Vielmehr liegt der Fokus auf den entscheidenden Akteur:innen bei der Umsetzung. Dies führt zwangsläufig zu Jacqueline Nonon (1927-2020), die von 1958 bis 1992 für die Kommission arbeitete und maßgeblich daran beteiligt war, dass die Vorschläge des Sullerot-Reports auch in die Tat bzw. in gel­ tendes Recht umgesetzt wurden.56 Nonon hat nicht nur dafür gesorgt, dass zahlreiche Frauen in der Arbeits- und Ad-hoc-Gruppe zur Frauenarbeit vertreten waren, sondern formulierte auch einen umfassenden Vorschlag für die Gleichbehandlungsrichtlinie. Allerdings fiel die Initiative Nonons im späteren Verlauf der bereits beschriebenen, ungleichen Verteilung der Positionen in den europäischen Institutionen zum Opfer. So waren die Be­ teiligten der späteren, entscheidenden Arbeitsgruppen allesamt männlich und Nonon wurde, ungeachtet ihrer Vorarbeit und ihres umfassenden Wis­ sens, in die Rolle einer Stichwortgeberin aus dem Hintergrund gedrängt.57 Gleichwohl besteht kein Zweifel daran, dass Éliane Vogel-Polsky, Évelyne Sullerot und Jacqueline Nonon sich durch ihre geschickte Zusammenarbeit große Verdienste bei der Vernetzung von Frauen in den europäischen In­ stitutionen sowie bei der Umsetzung der ersten Richtlinien für die Gleich­ berechtigung erworben haben.58 Gemeinsam mit dem Druck, der von Frauenbewegungen ausging59 sowie mit dem durch sie selbst aktivierten EuGH, waren die soeben genannten „Mütter Europas“ ein wesentlicher 54 Ausführlich zu den Richtlinien der ersten sowie auch der zweiten Generation siehe von der Groeben/Schwarze/Rust, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 157 AEUV Rn. 1 ff. 55 Dazu ausführlich Ebert, Wie Europa Zeus bändigte. Transnationalität im europä­ ischen Gleichstellungsrecht, 2021, S. 95 ff. u. passim; zuvor schon Klein, Ge­ schlechterverhältnisse, Geschlechterpolitik und Gleichstellungspolitik in der Europäischen Union, 2. Aufl. 2013, S. 69 ff. u. passim sowie van der Vleuten, The Price of Gender Equality. Member States and Governance in the European Uni­ on, 2007, S. 69 ff. u. passim. 56 Dazu und zum Folgenden Hoskyns, Integrating Gender. Women, Law and Poli­ tics in the European Union, 1996, S. 100 ff. 57 Hoskyns, Integrating Gender. Women, Law and Politics in the European Uni­ on, 1996, S. 104. 58 Mazur, Gender Bias and the State. Symbolic Reform at Work in Fifth Republic France, 1995, S. 43, 59, 85, 125; Ellina, Promoting Women’s Rights. The Politics of Gender in the European Union, 2003, S. 6 f., 32 ff. 59 Dazu auch Schmidt, Zum Wechselverhältnis zwischen europäischer Frauenpoli­ tik und europäischen Frauenorganisationen, in: Lenz/Mae/Klose (Hrsg.), Frauen­

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Faktor für die Entwicklung der Gleichberechtigung in Europa.60 Darüber hinaus belegen ihre Geschichten ebenso wie der Einsatz von Tanja Kreil, dass die Eigenschaft als „Mutter Europas“ nicht zwingend an einen be­ stimmten Beruf oder eine Position gebunden sein muss. Vielmehr gab und gibt es „Mütter Europas“ in verschiedenen Rollen, die auf ihre jeweilige Art und Weise Entscheidendes zum Gelingen des europäischen Projekts beigetragen haben. 3. Der Weg der „Mütter Europas“ – Eine unvollendete Geschichte Die bisherigen Ausführungen haben verdeutlicht, dass Frauen das euro­ päische Projekt von Anfang an entscheidend vorangetrieben haben. Die Aussage, dass es keine „Mütter Europas“ gegeben habe, ist also entschieden zurückzuweisen. Ganz im Gegenteil gab und gibt es derart viele „Mütter Europas“, dass ihre abschließende Aufzählung unmöglich ist. Auch die zu­ vor dargestellten „Mütter“ ragen zwar sicherlich aus der Masse heraus, bil­ den aber dennoch nur einen kleinen Teil einer großen Gruppe.61 Von den zahlreichen weiteren Frauen, die Europarecht „gemacht“ haben, sollen zum Abschluss noch jene betrachtet werden, die es in die „erste Reihe“ der europäischen Politik, Justiz oder Verwaltung geschafft haben. Schließlich ist der Frauenanteil in den europäischen Institutionen ein guter Indikator zur Beantwortung der Eingangsfrage, ob bzw. inwieweit der Weg der „Mütter Europas“ im Jahr 2022 als abgeschlossen bzw. als Erfolgsgeschich­ te zu bewerten ist. Auf höchster europäischer Ebene kamen Frauen vergleichsweise spät zu Amt und Würden. Neben Marga Klompé, der bereits erwähnten ersten Frau in der Parlamentarischen Versammlung der EGKS, ist hier zunächst bewegungen weltweit. Aufbrüche, Kontinuitäten, Veränderungen, 2000, 199 (210 ff. u. passim). 60 Hoskyns, Integrating Gender. Women, Law and Politics in the European Union, 1996, S. 83; ausführlich van der Vleuten, The Price of Gender Equality. Member States and Governance in the European Union, 2007, S. 105, 144 f., s. auch S. 69 ff., 107 ff. 61 Für weitere Personen siehe nur Nonno, The Founding Mothers of Europe. The Role of Simone Veil and Sofia Corradi in Defence of the European Values, in: Baigorri/Elvert (Hrsg.), Paz y valores europeos como posible modelo de integra­ ción y progreso en un mundo global, 2019, 239 (241 ff. u. passim); Senat der Ita­ lienischen Republik, Donne che hanno fatto l’Europa, 2017, S. 7 ff., https://www.s enato.it/application/xmanager/projects/leg18/file/repository/relazioni/libreria/nov ita/XVII/Volume_Donne_Europa_REV9_web.pdf (letzter Abruf am: 6.12.2022).

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Fabrizia Baduel Glorioso zu nennen, die mit ihrer Wahl zur Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA) im Jahr 1978 die erste Frau an der Spitze eines (Neben-)Organs der EG war.62 Nur ein Jahr später folgte mit Simone Veil die erste Präsidenten des Europäischen Parlaments.63 Weitere Pionierinnen sind Margaret Thatcher als erste Frau im Europäischen Rat (1980), Christiane Scrivener und Vasso Papandreou als erste EU-Kommissarinnen (1989), Margot Wallström als erste Vizepräsiden­ tin der EU-Kommission (2004), Fidelma O’Kelly Macken als erste Richterin am EuGH (1999) sowie Catherine Ashton als erste Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik (2009).64 Mit der Ernennung von Christi­ ne Lagarde zur EZB-Präsidentin sowie von Ursula von der Leyen zur ersten Präsidentin der EU-Kommission stehen seit 2019 zwei weitere Frauen an der Spitze von zentralen EU-Organen. Die zahlreichen Frauen in führenden Positionen der EU und auch die bereits erwähnte paritätische EU-Kommission sollten aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Frauenanteil in wesentlichen Teilen der EU-In­ stitutionen weiterhin gering ist.65 Bei der bereits angesprochenen EUKommission sind beispielsweise über 56 % der Beschäftigten Frauen, doch nimmt ihr Anteil in den oberen Einkommensstufen erheblich ab. Allein in den obersten drei Besoldungsgruppen AD14‑16 liegt der Frauenanteil bei nur 32 % (AD14), 39 % (AD15) und 22,8 % (AD16).66 Auch bei anderen EU-Organen ist noch deutlich „Luft nach oben“. So gib es am EuGH aktu­ ell sechs Richterinnen und drei Generalanwältinnen, was einem Frauenan­ teil von etwas über 22 % bzw. 27 % entspricht.67 Etwas optimistischer stimmt hingegen das Europäische Parlament, welches sich in der Vergan­ 62 EWSA, Bulletin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses Nr. 9-10 (September-Oktober 1978), 1, https://aei.pitt.edu/50332/1/B0169.pdf (letzter Abruf am: 6.12.2022). 63 Zu Simone Veil und der zweiten Präsidentin des Europäischen Parlaments Nicole Fontaine siehe Denéchère, Ces Françaises qui on fait l’Europe, 2007, S. 45 ff., 68 ff., 222 ff., 237 ff. 64 Hoecker, Frauen und das institutionelle Europa. Politische Partizipation und Re­ präsentation im Geschlechtervergleich, 2013, S. 145, 158 f., 164, 168. 65 Ausführlich zu Zahlen und Hintergründen für die Zeit bis 2013 siehe Hoecker, Frauen und das institutionelle Europa. Politische Partizipation und Repräsentati­ on im Geschlechtervergleich, 2013, S. 85 ff. 66 Vgl. EU-Kommission, Statistical Bulletin – HR – April 2022 vom 19.4.2022, https://ec.europa.eu/info/about-european-commission/organisational-structu re/commission-staff_de (letzter Abruf am: 6.12.2022). Die Werte werden nicht getrennt ausgewiesen, lassen sich den Statistiken aber entnehmen. 67 Vgl. EuGH, Vorstellung der Mitglieder, https://curia.europa.eu/jcms/jcms/Jo2_70 26/de/ (letzter Abruf am: 6.12.2022).

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genheit als zentraler Ort für Frauen erwiesen hat, um über eine stärkere Professionalisierung und Vernetzung entscheidenden Einfluss zu gewin­ nen.68 So ist dort der Frauenanteil seit 1979 kontinuierlich gestiegen, auch wenn mit aktuell etwa 40 % vollständige Parität noch nicht erreicht ist.69 Gleichwohl ist die Marke von 30 % als „kritisches Minimum“70 nunmehr überschritten. Weitere Bewegung könnte die aktuelle Wahlrechtsinitiative des Europäischen Parlaments bringen, wonach ein Teil der Sitze über uni­ onsweite Listen vergeben werden soll, bei deren Aufstellung die Gleich­ stellung der Geschlechter und die Rechte nicht-binärer Personen beachtet werden sollen.71 Positiv hervorzuheben ist auch die kürzlich beendete Konferenz zur Zukunft Europas. Nachdem sowohl der Grundrechtekon­ vent (1999-2000) mit knapp über 16 %72 als auch der Verfassungskonvent (2002-2003) mit etwas mehr als 17 %73 trotz ihrer weitreichenden Reform­ vorschläge nur einen geringen Frauenanteil aufwiesen, waren im Plenum der Konferenz zur Zukunft Europas 213 Frauen vertreten, was einem An­ teil von 47,8 % entspricht.74 Anders als noch beim Verfassungskonvent75

68 Beauvallet/Michon, Women in Europe. Recruitment, practices and social institu­ tionalisation of the European political field, in: Crum/Fossum (Hrsg.), Practices and interparliamentary coordination in international politics, the European Uni­ on and beyond, 2013, 175 (191 f. u. passim). 69 Vgl. Europäisches Parlament, Frauen im Europäischen Parlament (Infografik), https://www.europarl.europa.eu/news/de/headlines/society/20190226STO28804/fr auen-im-europaischen-parlament-infografik (letzter Abruf am: 6.12.2022). 70 Gerhard, Die EU als Rechtsgemeinschaft und politische Gelegenheitsstruktur. Feministische Anfragen und Visionen, in: Miethe/Roth (Hrsg.), Europas Töchter. Traditionen, Erwartungen und Strategien von Frauenbewegungen in Europa, 2003, 41 (52). 71 Europäisches Parlament, Neue Regeln für Europawahl – EU-weiter Wahlkreis ge­ fordert, Pressemitteilung vom 3.5.2022, https://www.europarl.europa.eu/news/de/ press-room/20220429IPR28242/parlament-neue-regeln-fur-europawahl-eu-weiterwahlkreis-gefordert; der Text der Entschließung des Parlaments ist abrufbar un­ ter: https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2022-0129_DE.html, siehe dort insbesondere Art. 10 (letzter Abruf von beiden Links am: 6.12.2022). 72 Zur Zusammensetzung des Grundrechtekonvents siehe die Veröffentlichung des Europäischen Parlaments unter https://www.europarl.europa.eu/charter/composit ion_en.htm (letzter Abruf am: 6.12.2022). 73 Zur Zusammensetzung des Verfassungskonvents siehe Europäischer Konvent, Entwurf Vertrag über eine Verfassung für Europa, ABl. C 169 vom 18.7.2003, CELEX:52003XX0718(01), S. 100 ff. 74 Die Zahlen beziehen sich auf die Liste zur Plenarsitzung vom 23.10.2021, https://f utureu.europa.eu/pages/plenary (letzter Abruf am: 6.12.2022). 75 Kritisch Hoecker, Frauen und das institutionelle Europa. Politische Partizipation und Repräsentation im Geschlechtervergleich, 2013, S. 176 unter Hinweis auf

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spiegelt sich der hohe Frauenanteil auch im endgültigen Bericht der Kon­ ferenz zur Zukunft Europas wider, der zahlreiche Vorschläge zur Gleich­ stellung enthält.76 Selbstverständlich bleibt abzuwarten, ob und inwieweit künftige Reformen der EU tatsächlich verstärkt eine geschlechtergerechte Repräsentation berücksichtigen. Ohne an dieser Stelle im Detail auf die Hintergründe für die weiterhin ungleiche Repräsentation einzugehen,77 wird bereits deutlich, dass der Weg und die Geschichte der „Mütter Europas“ noch nicht beendet ist. So ließe sich die Liste der „Mütter Europas“ beliebig fortsetzen, zumal stetig neue „Mütter Europas“ hinzukommen können, bzw. mit Blick auf den teil­ weise weiterhin geringen Frauenanteil in den EU-Institutionen auf der einen Seite und die als Unionsziel und Grundrecht primärrechtlich veran­ kerte Pflicht zur Förderung der Gleichstellung der Geschlechter aus den Art. 2 und 3 Abs. 3 EUV, Art. 8, 10, 19 und 157 AEUV sowie Art. 21 und 23 EU-GRCh auf der anderen Seite hinzukommen müssen. Auch wenn die Geschichte der „Mütter Europas“ einstweilen unvollendet bleibt, steht außer Zweifel, dass die heutige EU zu einem nicht unerheblichen Teil auch das Werk großer Frauen ist. D. Schlussbetrachtung Insgesamt kann festgehalten werden, dass Europa nicht nur Väter, son­ dern ebenso Mütter hat, die Geschichte geschrieben und Europarecht „gemacht“ haben. Obwohl ihr Weg sicher noch nicht zu Ende ist und wei­ terhin zahlreiche Herausforderungen für die Gleichberechtigung bewältigt werden müssen, haben die „Mütter Europas“ deutliche Spuren hinterlas­ sen. Die EU und der erreichte Stand der Gleichberechtigung würden ohne den Einsatz der „Mütter Europas“ heute anders aussehen. In Zukunft wird es darum gehen, die Rolle aller Pionier:innen der EU unabhängig von ihrem Geschlecht zu würdigen und ihrem Vorbild folgend weitere Schritte für die Gleichberechtigung in Europa und der Welt zu unternehmen. Die

Klein, Geschlechterverhältnisse, Geschlechterpolitik und Gleichstellungspolitik in der Europäischen Union, 2013, S. 105 ff. 76 Konferenz über die Zukunft Europas, Bericht über das Endergebnis der Konfe­ renz vom 9. Mai 2022, https://futureu.europa.eu/pages/reporting?locale=de (letzter Abruf am: 6.12.2022). 77 Dazu statt vieler Hoecker, Frauen und das institutionelle Europa. Politische Parti­ zipation und Repräsentation im Geschlechtervergleich, 2013, S. 118 ff., 177 ff. u. passim.

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Eltern Europas haben den Grundstein für ein vereintes, demokratisches und rechtsstaatliches Europa gelegt und das europäische Haus stetig aus­ gebaut. Ihr Vermächtnis ist Ansporn und Verpflichtung, den Weg zur Gleichberechtigung aller EU-Bürger:innen konsequent fortzusetzen.

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II. Frauen im Recht heute

Gleicher Abschluss – gleiche Chancen? Ungleichheiten von Männern und Frauen in juristischen Berufen aus der Perspektive von Hochschulabsolvent:innen Gesche Brandt*

A. Einleitung Vor dem Hintergrund, dass Frauen seit 100 Jahren zu den juristischen Staatsexamina und juristischen Berufen zugelassen sind, befasst sich dieser Beitrag mit der Frage, welche Ungleichheiten noch heute in den beruf­ lichen Karrieren von Hochschulabsolvent:innen im juristischen Bereich fortbestehen. Wer sich für ein rechtswissenschaftliches Studium entscheidet, zeichnet sich in der Regel durch hohe Karriereambitionen und eine hohe Berufsori­ entierung aus und die Karrierechancen nach dem erfolgreichen Studium sind gut. Fraglich ist dabei aber, ob sich die im Studium erworbenen Qualifikationen für Männer und Frauen in gleicher Weise auszahlen. Um einen empirischen Eindruck davon zu bekommen, wie ausgeprägt Geschlechterungleichheiten in juristischen Karrierewegen aus der Perspek­ tive von Hochschulabsolvent:innen sind, werden in diesem Beitrag beruf­ liche Erfolgsmerkmale, wie die beruflichen Positionen, das Einkommen, der Anteil von befristeten Beschäftigungen, Beschäftigungsadäquanz sowie berufliche Zufriedenheit, in den Blick genommen. Es wird auch betrach­ tet, wie hoch der Elternanteil unter den Absolvent:innen nach dem Studi­ um ist, und die jeweiligen Anteile von Männern und Frauen auf Teilzeit­ stellen sowie die Verteilung von Elternzeiten in den Blick genommen. Als Datengrundlage dienen drei Kohorten aus den Absolventenstudi­ en des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW). Diese umfassen jeweils Datensätze zu Hochschulabsolvent:in­ nen aus allen Fächern, so auch aus der Rechtswissenschaft. Um die Situa­ tion im Bereich der juristischen Berufe besser einordnen zu können, wer­

* Dr. phil. Gesche Brandt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Zen­ trum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung.

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den an verschiedenen Stellen Vergleiche mit der (fächerübergreifenden) Gesamtgruppe der Hochschulabsolvent:innen angestellt. B. Ungleichheiten von Männern und Frauen im Beruf Zu den wichtigsten gleichstellungspolitischen Handlungsfeldern im beruf­ lichen Bereich gehören die gleichberechtigte Entlohnung1 von Frauen und Männern sowie die gleichberechtigte Teilhabe an Führungspositionen2. Die Lohnlücke zwischen Männern und Frauen (Gender Pay Gap) beträgt aktuell in Deutschland 18 Prozent.3 Auch in juristischen Berufen besteht eine Einkommenslücke zwischen Männern und Frauen.4 Männer sind außerdem generell häufiger in Führungspositionen als Frauen und auch für juristische Berufe belegen Daten, dass Männer häufi­ ger in Führungspositionen und in hohe Ämter gelangen.5 Frauen, insbesondere Mütter, sind nicht nur seltener in hohen berufli­ chen Positionen als Männer, sondern auch häufiger in Beschäftigungen, die nicht ihrem formalen Qualifikationsniveau entsprechen. Außerdem arbeiten sie weitaus häufiger in Teilzeit als Männer. Zwar sind prekäre Beschäftigungen von Hochschulabsolvent:innen mehrere Jahre nach dem Abschluss des Studiums nicht weit verbreitet, aber zumindest Teilzeitbe­ schäftigung findet sich auch hier deutlich häufiger bei Frauen.6 Dies be­ trifft insbesondere Mütter, für die ein verringerter Arbeitsumfang oftmals Voraussetzung für Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist. Eine Erklärung für berufliche Nachteile von Müttern ist einerseits, dass ihnen aufgrund diskriminierender Strukturen lukrative Stellen verwehrt

1 Gesetz zur Förderung der Transparenz von Entgeltstrukturen v. 06.07.2017 (BGBl. I 2152). 2 Gesetz zur Ergänzung und Änderung der Regelungen für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffent­ lichen Dienst v. 07.08.2021 (BGBl. I 3311). 3 Siehe zur Lohngerechtigkeit BMFSFJ, abrufbar unter https://www.bmfsfj.de/bmfs fj/themen/gleichstellung/frauen-und-arbeitswelt/lohngerechtigkeit (letzter Abruf am: 13.09.2022). 4 Tutschka, Anwältinnenschaft: der „Gender Pay Gap“, djbZ 2018, 228-230. 5 Siehe zum Anteil von Frauen und Männern in Führungspositionen in der Justiz https://www.daten.bmfsfj.de/daten/daten/anteil-von-frauen-und-maennern-in-fuehr ungspositionen-in-der-justiz-134430 (letzter Abruf am: 13.09.2022). 6 Brandt, Erwerbsverläufe von Müttern und Vätern mit Hochschulabschluss im Wandel. Eine Untersuchung der Examenskohorten 1997, 2001 und 2005, SozW 2019, 332-371.

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werden. Andererseits wird der Unterschied auch damit begründet, dass Mütter bei der Rückkehr in den Arbeitsmarkt Stellen bevorzugen, die gute Möglichkeiten zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf bieten. Um Ungleichheiten von Männern und Frauen im Beruf und Karriere­ nachteile von Frauen zu erfassen, werden üblicherweise die oben genann­ ten objektiven Erfolgsmerkmale betrachtet. Daneben lässt sich aber auch der subjektive Erfolg untersuchen. Dieser lässt sich anhand der subjektiven Zufriedenheit mit den entsprechenden Merkmalen einschätzen. Die beruf­ liche Zufriedenheit und eigene Wahrnehmung als beruflich erfolgreiche Person hängt von den individuellen Zielen ab. Personen, die ein hohes Einkommen anstreben, wären demnach unzufrieden, wenn sie ein durch­ schnittliches Einkommen erhalten, wohingegen Personen, die kein hohes Einkommen anstreben (sondern beispielweise mehr Wert auf eine gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf legen) einen höheren Zufriedenheits­ wert aufweisen. Im Folgenden werden die zugrunde liegenden Daten beschrieben und dann zunächst untersucht, welche Berufs- und Lebensziele Absolvent:in­ nen der Rechtswissenschaft im Anschluss an das Studium verfolgen, ob sich Unterschiede zwischen Männern und Frauen ausmachen lassen und inwiefern sie sich vom Gesamtdurchschnitt der Hochschulabsolvent:innen unterscheiden. Anschließend werden objektive Berufserfolgsmerkmale ver­ gleichend zwischen Männern und Frauen in den Blick genommen und zu­ dem jeweils die Zufriedenheit mit dem jeweiligen Merkmal beschrieben. C. Absolventinnen und Absolventen der Rechtswissenschaft in den DZHWAbsolventenstudien Bei den DZHW-Absolventenstudien7 handelt es sich um eine großange­ legte Panelstudie, in der seit den 1980er Jahren im Abstand von vier Jahren jeweils eine bundesweit repräsentative Stichprobe von Hochschul­ absolvent:innen aus allen Studienfächern eines Examensjahrgangs befragt wird. Somit werden in jeder Erhebung auch Absolvent:innen der Rechts­ wissenschaft zu ihren Bildungs- und Karriereverläufen befragt, sodass die Daten zur Untersuchung dieser Gruppe sekundäranalytisch genutzt wer­ den können. Die Befragungen erfolgten zunächst postalisch und später online, und fanden ca. ein Jahr nach dem Abschluss des Studiums, fünf

7 Siehe DZHW-Absolventenpanel, abrufbar unter https://www.dzhw.eu/forschung/p rojekt?pr_id=467 (letzter Abruf am: 13.09.2022).

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Jahre nach dem Abschluss und zehn Jahre nach dem Abschluss statt. Um berufliche Ungleichheiten von Frauen und Männern8 zu untersuchen, eignet sich insbesondere der dritte Befragungszeitpunkt zehn Jahre nach dem Studienabschluss, da zu diesem Zeitpunkt in vielen Fällen die Famili­ engründung bereits umgesetzt wurde und sich dann die unterschiedlichen Auswirkungen auf die Erwerbsverläufe von Männern und Frauen eher zeigen. Neben dem vergleichsweise langen Beobachtungszeitraum bieten die Daten noch weitere Vorteile für die vorliegende Untersuchung. Indem Abschlusskohorten als Ausgangspunkt für die Beobachtung genommen werden, haben alle Personen ihr Studium zum gleichen Zeitpunkt abge­ schlossen, sodass sie bei vergleichbarer Arbeitsmarktlage in den Beruf ein­ steigen und zudem Alter und Berufserfahrung von Männern und Frauen in der Gruppe vergleichbar sind. Außerdem ist ein Vergleich mit anderen Fächern möglich, um die Ergebnisse besser einordnen zu können. Da es sich um eine Mehrthemenbefragung handelt, liegen vielfältige Informatio­ nen vor, zB zu Berufs- und Lebenszielen, verschiedenen Berufsmerkmalen, aber auch Informationen zur Familiengründung. Eine sekundäranalytische Nutzung – Sekundäranalyse bedeutet, dass die Daten nicht speziell zu diesem Zweck erhoben wurden – bringt aber auch Nachteile mit sich. So können etwa Fachspezifika nicht im Detail betrachtet werden, da die Fragebögen so gestaltet sind, dass die Fragen für Absolvent:innen aller Fächer passen. Nachteilig sind auch die teils recht kleinen Fallzahlen in einzelnen Fächern. Aussagen über die Gesamt­ gruppe der Absolvent:innen des jeweiligen Jahrgangs sind dennoch gut zu treffen, innerhalb eines einzelnen Faches wie der Rechtswissenschaft ist es jedoch schwierig, Subgruppen zu vergleichen (wie in diesem Fall Männer und Frauen). Um diese Subgruppenvergleiche zu ermöglichen, werden in diesem Beitrag drei Examensjahrgänge, 2001, 2005 und 2009 (Tabelle 1), zusammengefasst. Hinsichtlich der Repräsentativität der Da­ ten sei angemerkt, dass die Ergebnisse nur für die Gruppe der befragten Absolvent:innen stehen und nicht repräsentativ für die Grundgesamtheit der Rechtswissenschaftler:innen sind. Zugleich fügen sich die Ergebnisse aber auf plausible Weise in frühere Forschung in diesem Bereich ein und tragen damit aus der Perspektive von Hochschulabsolvent:innen zum em­

8 Das Geschlecht wurde jeweils in der ersten Befragung nach dem Studium in binä­ rer Form erhoben. Die Zuordnung zu einer Kategorie wurde von den Befragten selbst vorgenommen. Befragte, die sich keiner Kategorie zuordnen konnten oder wollten, mussten die Frage unbeantwortet lassen.

96

Gleicher Abschluss – gleiche Chancen?

pirischen Gesamtbild bei. Damit die Ergebnisse der Gesamtgruppe der Absolvent:innen mit den Ergebnissen aus früheren Berichten vergleichbar sind, werden nachfolgend die in den Daten zur Verfügung gestellten Ge­ wichtungsvariablen verwendet. Tab. 1 Fallzahlen der DZHW-Absolventenstudien in den Examensjahrgängen 2001, 2005 und 2009 Jahrgang

Gesamt

Rechtswissen.

Rechtsw. Männer

Rechtsw. Frauen

2001

4.734

172

78

94

2005

3.760

120

64

56

2009

2.274

97

40

57

10.768

389

182

207

Gesamt

Quelle: DZHW-Absolventenpanel, Examensjahrgänge 2001, 2005, 2009, 3. Befra­ gung, eigene Berechnungen.

D. Berufs- und Lebensziele von Absolventinnen und Absolventen der Rechtswissenschaft Die Lebensziele, die Absolvent:innen zum Zeitpunkt ihres Studienab­ schlusses mitbringen, haben Einfluss auf ihren weiteren beruflichen Wer­ degang. Je nachdem, ob die Ziele erreicht werden können, trägt dies zur beruflichen Zufriedenheit oder Unzufriedenheit bei. Grundlegende Orientierungen haben bereits Einfluss auf die Wahl des Studienfaches: Personen mit hohen Karriereambitionen wählen eher Fächer, die gute Kar­ riereaussichten und hohe Einkommen versprechen (wie zB Wirtschafts­ wissenschaften), wohingegen beispielweise Personen mit hoher Familien­ orientierung eher Fachrichtungen mit guten Vereinbarkeitsperspektiven wählen (wie zB Lehramt). Auch zwischen Männern und Frauen lassen sich Unterschiede ausmachen, da traditionelle Geschlechterrollenbilder immer noch Einfluss auf die Berufs- und Studienwahl haben.9 Für Männer haben berufliche Ziele, die das traditionelle Haupternährermodell ermöglichen, im Durchschnitt eine größere Bedeutung als für Frauen. Frauen hingegen antizipieren schon frühzeitig potentielle Schwierigkeiten der Vereinbar­ keit von Familie und Beruf und beziehen dieses Kriterium häufiger als 9 Ochsenfeld, Why Do Women's Fields of Study Pay Less? A Test of Devaluation, Human Capital, and Gender Role Theory. European Sociological Review 2014, 536-548.

97

Gesche Brandt

Männer in die Studien- und Berufswahl ein. Wie aber verhält es sich in der Rechtswissenschaft: Sind auch innerhalb des Faches Geschlechterun­ terschiede erkennbar? In der Absolventenbefragung des Jahrgangs 2009 wurde die Wichtigkeit von verschiedenen beruflichen und familialen Lebenszielen erfragt. Eine Auswahl davon ist in Abbildung 1 dargestellt ist. Verglichen werden je­ weils Männer und Frauen, die ein rechtswissenschaftliches Studium abge­ schlossen haben, mit dem Gesamtdurchschnitt der Absolventinnen und Absolventen. Ein sicherer Arbeitsplatz und Anerkennung im Beruf sind für die meisten der befragten Absolvent:innen im Anschluss an das Studium ein wichtiges Ziel – so auch für die Absolvent:innen der Rechtswissenschaft. Frauen geben häufiger als Männer an, dass ihnen ein sicherer Arbeitsplatz besonders wichtig ist (Wert 5). Männer weisen in der Befragtengruppe jedoch eine stärkere Karriereo­ rientierung auf: Sie messen dem Ziel, eine leitende Funktion einzuneh­ men, eine höhere Wichtigkeit bei als Frauen. Und auch das Ziel, gut zu verdienen, verfolgen generell mehr Männer als Frauen. Frauen aus der Rechtswissenschaft sehen diese Ziele im Vergleich zu Frauen der an­ deren Fächer jedoch häufiger als wichtig an. Rechtswissenschaftler:innen generell, aber auch Frauen dieses Fachs, weisen somit in diesen Punkten überdurchschnittlich hohe Ambitionen auf. Die Familienorientierung der Absolventinnen wurde über die Wichtig­ keit, sich der Familie zu widmen sowie Beruf und Familie miteinander vereinbaren zu können, erhoben. Beides wird von dem überwiegenden Anteil der Absolvent:innen im Panel als wichtig erachtet. Frauen aus der Rechtswissenschaft sagen besonders häufig, dass ihnen die Vereinbarkeit (sehr) wichtig ist. Differenziert man die zusammengefasste Wichtigkeit in „wichtig“ und „sehr wichtig“, so wurde letzteres von rund zwei Dritteln der Frauen und knapp der Hälfte der Männer unter den befragten Rechts­ wissenschaftler:innen gewählt. Neben Familie und Beruf gehört auch der Bereich Freizeit zur WorkLife-Balance. Genug Zeit für sich selbst und die eigenen Interessen zu ha­ ben, wird von den meisten Absolvent:innen als wichtiges Ziel angesehen. Männer der Rechtswissenschaft stimmen dem etwas seltener zu. Eine mög­ liche Erklärung dafür wäre, dass sie bereits antizipieren, dass ambitionierte Karriereziele sich nicht so leicht damit vereinbaren lassen. Das Leben zu genießen, wird von den meisten Absolvent:innen als wichtiges Lebensziel gesehen. Die Betrachtung der Bewertung von Lebenszielen nach dem Studium gibt also erste Hinweise darauf, welche Schwerpunkte die Absolvent:in­ 98

Gleicher Abschluss – gleiche Chancen?

nen in ihrem Karriereverlauf setzen wollen. Die Unterschiede zwischen Männern und Frauen, die ein rechtswissenschaftliches Studium absolviert haben, sind in der untersuchten Gruppe nicht sehr groß, weisen in der Tendenz aber geschlechtstypische Muster auf. Während Männer Aspekten des objektiven beruflichen Erfolgs im Vergleich eine höhere Wichtigkeit beimessen, ist dies bei Frauen bei den Aspekten Beschäftigungssicherheit und Vereinbarkeit der Fall. Unberücksichtigt bleibt dabei, ob Männer und Frauen unter „mich der Familie widmen“ oder „sehr gut verdienen“ das gleiche verstehen oder ob es hier zusätzlich geschlechterspezifische Interpretationen gibt. Abb. 1 Wichtigkeit von Lebenszielen

Anmerkung: Fünfstufige Skala von 5+4 sehr wichtig bis 1+2 unwichtig, Anteile in Prozent. Quelle: DZHW-Absolventenpanel, Examensjahrgang 2009, 1. Befragung, eigene Berechnungen.

99 https://doi.org/10.5771/9783748914266 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Gesche Brandt

E. Berufliche Ungleichheiten von Absolventinnen und Absolventen der Rechtswissenschaft Eine sichere Beschäftigung nach dem Studium ist für die meisten Absol­ vent:innen der Rechtswissenschaft wichtig, vor allem viele Frauen bewer­ ten diesen Aspekt sogar als sehr wichtig. Zehn Jahre nach dem Abschluss des Studiums sind mehr Frauen (80 %) als Männer (66 %, Abbildung 2) in einem unbefristeten Beschäftigungsverhältnis. Männer sind hingegen häu­ figer selbständig tätig (27 % vs. 16 %). Befristete Beschäftigungsverhältnisse sind zu diesem Zeitpunkt bei Rechtswissenschaftler:innen, die im Ver­ gleich zu Absolvent:innen anderer Fächer selten in der Wissenschaft ver­ bleiben, die Ausnahme. Der prozentuale Anteil ist zwar bei den männli­ chen Absolventen der Rechtswissenschaft in der Befragtengruppe leicht höher, aber hier handelt es sich nicht zwangsläufig um problematische Be­ schäftigungsverhältnisse, sondern zum Teil auch um Leitungspositionen. Abb. 2 Art der Beschäftigung (%)

Quelle: DZHW-Absolventenpanel, Rechtswissenschaftler:innen der Examensjahr­ gänge 2001, 2005, 2009, 3. Befragung, eigene Berechnungen.

Die Zufriedenheit mit der Beschäftigungssicherheit ist bei den befragten Frauen etwas höher (Abbildung 3). Etwas mehr als die Hälfte der befrag­ ten Rechtswissenschaftlerinnen ist zehn Jahre nach dem Abschluss des Studiums sehr zufrieden mit der Beschäftigungssicherheit, weitere 30 Pro­

100

Gleicher Abschluss – gleiche Chancen?

zent zufrieden. Bei den Männern sind es weniger als die Hälfte, die sich sehr zufrieden äußern und ein vergleichbarer Anteil von 31 Prozent, der zufrieden ist. Sieben Prozent der befragten Männer sind ausdrücklich un­ zufrieden mit ihrer Beschäftigungssicherheit. Abb. 3 Zufriedenheit mit der Beschäftigungssicherheit

Quelle: DZHW-Absolventenpanel, Rechtswissenschaftler:innen der Examensjahr­ gänge 2001, 2005, 2009, 3. Befragung, eigene Berechnungen.

Die Adäquanz einer Beschäftigung, also ob sie dem Studienabschluss ange­ messen ist, lässt sich auf verschiedene Arten bestimmen. Erstens kann es eine Passung mit Blick auf die berufliche Position geben. Dies ist nach de­ ren eigenen Einschätzung bei über 80 Prozent der befragten Rechtswissen­ schaftler:innen der Fall (Abbildung 4). Zweitens kann eine Beschäftigung mit Blick auf das Niveau der Arbeitsaufgaben adäquat sein. Auch das ist in über 80 Prozent der Fälle gegeben. Und schließlich gibt es die Adäquanz hinsichtlich der fachlichen Qualifikation. Hier ist in der Befragtengruppe der Anteil der Männer, die sagen, dass ihre Beschäftigung ihrer fachlichen Qualifikation entspricht, etwas höher als der Anteil bei den Frauen (86 % vs. 79 %). Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass die befragten Frauen etwas häufiger fachfremd oder in einem etwas anderen Fachbereich tätig sind. Doch insgesamt sind weder die befragten Frauen noch die befragten Männer in großem Ausmaß inadäquat beschäftigt und es gibt in dieser Hinsicht keine eindeutigen Geschlechterunterschiede. Dennoch sind die befragten Männer insgesamt etwas zufriedener mit der Qualifikationsange­ messenheit ihrer Beschäftigung als die befragten Frauen (Abbildung 5).

101

Gesche Brandt

Abb. 4 Adäquanz der Beschäftigung (%)

Quelle: DZHW-Absolventenpanel, Rechtswissenschaftler:innen der Examensjahr­ gänge 2001, 2005, 2009, 3. Befragung, eigene Berechnungen.

Abb. 5 Zufriedenheit mit der Qualifikationsangemessenheit

Quelle: DZHW-Absolventenpanel, Rechtswissenschaftler:innen der Examensjahr­ gänge 2001, 2005, 2009, 3. Befragung, eigene Berechnungen.

Der überwiegende Teil der Absolvent:innen der Rechtswissenschaft ist zwar auf einer adäquaten Position beschäftigt, zugleich ist aber bekannt, dass Männer häufiger als Frauen in hohen beruflichen Positionen zu fin­ den sind. In den Absolventenstudien wurde die berufliche Stellung über elf Kategorien erfasst. Im Folgenden werden die Kategorien „leitende An­ gestellte“ und „Angestellte mit mittlerer Leitungsfunktion“ als Führungs­ positionen bzw. Leitungspositionen definiert. Ebenso können Selbständi­ ge, die Angestellte beschäftigen, dieser Kategorie zugeordnet werden. In 102 https://doi.org/10.5771/9783748914266 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 24.02.2023, 01:26:26. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Gleicher Abschluss – gleiche Chancen?

Abbildung 6 sind die Anteile von Personen in Leistungsposition nach Geschlecht differenziert sowohl nur für Rechtswissenschaftler:innen als auch für die Gesamtgruppe der Hochschulabsolvent:innen ausgewiesen. Sowohl unter allen Hochschulabsolvent:innen als auch unter den Rechts­ wissenschaftler:innen sind Männer weitaus häufiger in Leitungspositionen als Frauen. Um den höheren Anteil an Selbständigen unter den Männern zu berücksichtigen, sind die Werte (in der rechten Abbildung) noch ein­ mal ohne Selbständige ausgewiesen. Doch auch wenn nur Angestellte in die Analysen einbezogen werden, sind die Geschlechterunterschiede in der Gesamtgruppe der Absolvent:innen ähnlich hoch wie zuvor. In der Gruppe der Rechtswissenschaftler:innen verringern sich die Differen­ zen zwischen den Geschlechtern jedoch deutlich. Generell sind Rechts­ wissenschaftler:innen nach dem Studium zu geringeren Anteilen in leiten­ den Positionen angestellt als Absolvent:innen aller Fächer insgesamt. Sie sind stattdessen häufig als Beamte im öffentlichen Dienst tätig. Rund 24 Prozent der Rechtwissenschaftlerinnen und 26 Prozent der Rechtswissen­ schaftler arbeiten als Beamte im höheren Dienst (ohne Abbildung). Abb. 6 Leitende Positionen (%)

Quelle: DZHW-Absolventenpanel, Examensjahrgänge 2001, 2005, 2009, 3. Befra­ gung, eigene Berechnungen.

Die Zufriedenheit mit der beruflichen Position ist sowohl bei den befrag­ ten Männern als auch bei den Frauen überwiegend gegeben (Abbildung 7). Eine geringere Zufriedenheit besteht hingegen bezüglich der Aufstiegs­ möglichkeiten (Abbildung 8), hier sind die Zustimmungswerte bei den 103

Gesche Brandt

befragten Frauen im Vergleich auch noch etwas geringer als bei den Män­ nern. Abb. 7 Zufriedenheit mit der beruflichen Position

Quelle: DZHW-Absolventenpanel, Rechtswissenschaftler:innen der Examensjahr­ gänge 2001, 2005, 2009, 3. Befragung, eigene Berechnungen.

Abb. 8 Zufriedenheit mit den Aufstiegsmöglichkeiten

Quelle: DZHW-Absolventenpanel, Rechtswissenschaftler:innen der Examensjahr­ gänge 2001, 2005, 2009, 3. Befragung, eigene Berechnungen.

Hohe berufliche Positionen gehen zumeist auch mit einem höheren Ein­ kommen einher, sodass der geringere Anteil von Frauen in Führungspo­ sitionen zur Einkommensungleichheit beiträgt. Allerding besteht auch auf Ebene der Führungspositionen eine nicht unerhebliche Lohnlücke zwischen Männern und Frauen.10 Der Gender Pay Gap ist in akademi­ schen Berufen sogar höher im Vergleich zu anderen Bildungsgruppen.11

10 Busch und Holst, Geschlechtsspezifische Verdienstunterschiede bei Führungskräf­ ten und sonstigen Angestellten in Deutschland: Welche Relevanz hat der Frauen­ anteil im Beruf? Zeitschrift für Soziologie 2013, 315-336. 11 OECD, Bildung auf einen Blick 2019: OECD-Indikatoren, abrufbar unter https:// doi.org/10.3278/6001821mw (letzter Abruf am: 13.09.2022).

104

Gleicher Abschluss – gleiche Chancen?

Die bereinigte Lohnlücke, in der verschiedene Beschäftigungsmerkmale (wie zB Voll- und Teilzeitbeschäftigungen oder unterschiedliche Berufe) berücksichtigt werden, ist zwar geringer, doch auch diese herausgerech­ neten Merkmale können zum Teil auf diskriminierende Mechanismen (zB geringere Entlohnung von Berufen mit hohem Frauenanteil) zurück­ geführt werden. Auch in dem vergleichsweise homogenen Berufsfeld der Rechtswissenschaft besteht ein Gender Pay Gap.12 In den Daten der DZHW-Absolventenstudien lassen sich ebenfalls Ein­ kommensdifferenzen zwischen Männern und Frauen finden. Eine exak­ te Berechnung der Einkommen von Rechtswissenschaftler:innen im Ge­ schlechtervergleich ist aufgrund der geringen Fallzahlen nicht möglich. Diese sind für die Einkommenswerte aufgrund fehlender Angaben von Befragten und dem Ausschluss von Teilzeitbeschäftigten (zur besseren Vergleichbarkeit, da die Angaben sich auf das Bruttomonatseinkommen beziehen) noch weiter verringert. An dieser Stelle sei daher nochmal betont, dass die fachspezifischen Daten keinesfalls repräsentativ für die Grundgesamtheit sind. Zumindest aber weisen die durchschnittlichen Ein­ kommen von Männern und Frauen (Tabelle 2) im Sample eine eindeutige Tendenz auf: Insgesamt sowie in allen einzelnen Examenskohorten sind die durchschnittlichen Bruttomonatseinkommen der Männer höher als die der Frauen. Die Lohnlücke liegt in den einzelnen Kohorten zwischen 12 und 22 Prozent. Auch wenn diese Werte wenig belastbar sind, so lassen sie doch vermuten, dass in dieser Gruppe eine nicht geringe Lohnlücke besteht. Obgleich die Frauen in der Rechtswissenschaft im zugrunde liegenden Sample geringere Einkommen aufweisen als die Männer, ist deren Zufrie­ denheit mit dem eigenen Einkommen jedoch nicht geringer. Dies ist weder unter Einbezug (Abbildung 9) noch unter Ausschluss (Abbildung 10) der Teilzeitbeschäftigten der Fall. Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass Personen ihr Einkommen in Relation zu ihnen ähnlichen Personen bewerten und Frauen sich somit eher mit anderen Frauen und Männer eher mit anderen Männern vergleichen.13

12 Tutschka, Anwältinnenschaft: der „Gender Pay Gap“, djbZ 2018, 228-330. 13 Liebig, Valet, Schupp, Wahrgenommene Einkommensgerechtigkeit konjunktur­ abhängig, DIW Wochenbericht 2010, 11-16, abrufbar unter https://www.diw.de/ de/diw_01.c.454700.de/publikationen/wochenberichte/2010_27_3/wahrgenom mene_einkommensgerechtigkeit_konjunkturabhaengig.html (letzter Abruf am: 13.09.2022).

105

Gesche Brandt

Tab. 2 Durchschnittliches Brutto-Monatseinkommen (Vollzeitbeschäftigte) im DZHW-Absolventenpanel Jahrgang

Frauen EUR

n

Männer EUR

n

Lohnlücke

Gesamt

4250

2756

5290

2981

20 %

Rechtswissen.

4530

106

5330

121

15 %

2001

3840

42

4500

52

15 %

2005

4720

29

5990

39

22 %

2009

5540

35

6270

30

12 %

DZHW-Absolventenpanel, Examensjahrgänge 2001, 2005, 2009, 3. Befragung, eige­ ne Berechnungen.

Abb. 9 Zufriedenheit mit dem Einkommen

Quelle: DZHW-Absolventenpanel, Rechtswissenschaftler:innen der Examensjahr­ gänge 2001, 2005, 2009, 3. Befragung, eigene Berechnungen.

Abb. 10 Zufriedenheit mit dem Einkommen, nur Vollzeitbeschäftigte

Quelle: DZHW-Absolventenpanel, Rechtswissenschaftler:innen der Examensjahr­ gänge 2001, 2005, 2009, 3. Befragung, eigene Berechnungen.

Aufgrund der starken Einschränkungen bei der Berechnung der Lohnlü­ cke lassen sich anhand der vorliegenden Daten keine Ursachen bestim­ men. Eine frühere Untersuchung hat gezeigt, dass bei Akademiker:innen 106 https://doi.org/10.5771/9783748914266 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 24.02.2023, 01:26:26.

Gleicher Abschluss – gleiche Chancen?

die Auswirkungen von Elternschaft auf die Erwerbsverläufe von Frauen so­ wie die unterschiedliche Studienfachwahl von Frauen und Männern zu Lohnunterschieden beitragen.14 Letzteres ist im Fall der Rechtswissen­ schaft nicht gegeben, möglich wäre aber, dass Männer und Frauen nach dem Studium unterschiedliche Berufe ergreifen. Tabelle 3 gibt einen Überblick der häufigsten Berufe der befragten Rechtswissenschaftler:innen. Mehr als ein Drittel der Befragten ist als An­ walt oder Anwältin tätig. Jede:r Zehnt:e arbeitet als Richter:in. Weitere häufige Berufsfelder sind Rechtsberatung und -sprechung mit oder ohne Spezialisierung sowie öffentliche Verwaltung und Personaldienstleistung. Deutliche Geschlechterdifferenzen bestehen in der Befragtengruppe nicht, möglicherwiese bestehen jedoch innerhalb dieser Kategorisierung feinere Differenzierungen, die mit dem unterschiedlichen Lohniveau zusammen­ hängen. Frauen sind beispielsweise nicht nur seltener selbständig als Män­ ner, sondern sie sind auch seltener in Großkanzleien tätig und seltener Partnerin in Sozietäten. Auch die fachliche Spezialisierung unterscheidet sich: Frauen sind häufiger in den Bereichen Familien-, Sozial- und Medi­ zinrecht tätig und zu geringeren Anteilen in Bereichen mit technischer und gewerblicher Ausrichtung.15 Tab. 3 Die fünf häufigsten Berufe von Männern und Frauen zehn Jahre nach dem Studium der Rechtswissenschaft Männer (n=176)

Frauen (n=196)

Rechtsanwalt

39,8 Rechtsanwältin

35,4

Richter

10,5 Richterin

11,6

Öffentliche Verwaltung (oS)

5,7 Rechtsberatung, -sprechung (oS)

8,3

Rechtsberatung, -sprechung (oS)

5,6 Rechtsberatung, -sprechung (ssT)

8,1

Personaldienstleistung

5,2 Öffentliche Verwaltung (oS)

3,6

Quelle: DZHW-Absolventenpanel, Rechtswissenschaftler:innen der Examensjahr­ gänge 2001, 2005, 2009, 3. Befragung, eigene Berechnungen.

Einfluss auf das niedrigere Lohnniveau von Frauen hat auch deren häu­ figere Teilzeitbeschäftigung. Dabei wird das Lohnniveau nicht nur auf­ grund des jeweils aktuellen geringeren Erwerbsumfangs beeinflusst, son­

14 Brandt, Einkommensunterschiede von Akademikerinnen und Akademikern im Erwerbsverlauf, in: Beiträge zur Hochschulforschung 38 (2016), 40-61. 15 Schultz, Haben Frauen in der Anwaltschaft schlechte Karten? Eine rechtssoziolo­ gische Betrachtung, BRAK-Mitteilungen 2018, 223-231.

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Gesche Brandt

dern ebenso durch vorangegangene Teilzeitphasen im Erwerbsverlauf.16 Auch in der Gruppe der befragten Rechtswissenschaftler:innen sind Frau­ en deutlich häufiger in Teilzeit beschäftigt als Männer (Abbildung 11). Rund ein Viertel der Frauen arbeitet in Teilzeit. Bei den Männern ist der Anteil dagegen extrem klein – im Vergleich zu anderen Studienfächern ist es sogar einer der geringsten Anteile. Im Gesamtdurchschnitt aller Absol­ vent:innen der drei Kohorten liegt der Anteil teilzeitbeschäftigter Männer bei fünf Prozent und der teilzeitbeschäftigter Frauen bei 38 Prozent. Somit arbeiten Rechtswissenschaftler:innen im Vergleich zu Absolvent:innen an­ derer Fächer auch generell seltener in Teilzeit. Die Zufriedenheit mit dem Umfang der Arbeitszeit (Abbildung 12) und dem Raum für Privatleben (Abbildung 13) ist bei Frauen insgesamt etwas höher. Auch wenn hier nicht zwischen Teilzeit, Vollzeit und Selb­ ständigkeit unterschieden wird, wären diese mögliche Erklärungen und ein Hinweis darauf, dass Männer, die fast immer in Vollzeit angestellt oder Selbständig sind, sich zum Teil ein geringeres Arbeitspensum wünschen würden. Abb. 11 Arbeitszeitumfang (%)

Quelle: DZHW-Absolventenpanel, Rechtswissenschaftler:innen der Examensjahr­ gänge 2001, 2005, 2009, 3. Befragung, eigene Berechnungen. 16 Brandt, Einkommensunterschiede von Akademikerinnen und Akademikern im Erwerbsverlauf, in: Beiträge zur Hochschulforschung 38 (2016), 40-61.

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Gleicher Abschluss – gleiche Chancen?

Teilzeitbeschäftigung zehn Jahre nach Abschluss des Studiums ist vor al­ lem durch Elternschaft bedingt und der höhere Anteil von Frauen deutet auf traditionelle Rollenverteilungen von Eltern hin. Der nachfolgende Abschnitt befasst sich daher näher mit dem Thema Elternschaft. Abb. 12 Zufriedenheit mit Umfang und Länge der Arbeitszeit

Quelle: DZHW-Absolventenpanel, Rechtswissenschaftler:innen der Examensjahr­ gänge 2001, 2005, 2009, 3. Befragung, eigene Berechnungen.

Abb. 13 Zufriedenheit mit dem Raum für Privatleben

Quelle: DZHW-Absolventenpanel, Rechtswissenschaftler:innen der Examensjahr­ gänge 2001, 2005, 2009, 3. Befragung, eigene Berechnungen.

F. Elternschaft von Absolventinnen und Absolventen der Rechtswissenschaft Zehn Jahre nach dem Abschluss des Studiums sind fast zwei Drittel aller Hochschulabsolvent:innen in den untersuchten Kohorten Eltern (Abbil­ dung 14). Frauen haben im Durchschnitt häufiger Kinder als Männer (63 % vs. 58 %). Dies wird sich vermutlich in den späteren Jahren noch ausgleichen, da männliche Hochschulabsolventen im Schnitt älter sind, wenn sie das erste Kind bekommen.

109

Gesche Brandt

Ähnlich ist das Verhältnis in der Rechtswissenschaft, auch hier haben Frauen zu höheren Anteilen bereits Kinder, auch wenn Elternschaft in dieser Fachgruppe sowohl bei den Männern als auch den Frauen etwas seltener ist. Von den kinderlosen Männern und Frauen aus der Rechtswis­ senschaft sagt jeweils ein Drittel, dass sie in der nächsten Zeit Kinder bekommen möchten (ohne Tabelle). Jeweils 14 Prozent sagen, dass sie keine Kinder möchten. Ebenso wie Frauen häufiger in Teilzeit beschäftigt sind, weisen sie län­ gere Elternzeitphasen als Männer auf. Dies ist auch bei den Absolvent:in­ nen der Rechtswissenschaft der Fall. Aufgrund der geringen Fallzahlen und dadurch, dass Elternzeiten nicht pro Kind, sondern als Verlaufsdaten in einem Kalendarium erhoben wurden, lässt sich die exakte Elternzeit pro Kind nicht eindeutig bestimmen. In der Tendenz sind jedoch auch hier die Werte recht klar: Die Gruppe der Mütter aus der Rechtswissenschaft im Sample weist einen Gesamtdurchschnitt von 16 Monaten Elternzeit für den Zeitraum seit Studienabschluss auf. Die Gruppe der Väter aus der Rechtswissenschaft kommt dagegen lediglich auf 2,5 Monate. Einige Väter haben gar keine Elternzeit genommen. Berechnet man die Anzahl der Monate in Elternzeit nur für Personen, die in der Befragung auch tatsächlich Elternzeit angegeben haben, so erhöht sich dieser Wert bei Vätern auf sechs Monate (bei Müttern auf 17 Monate). Wohlgemerkt steht dieser Wert für alle Kinder einer Person, d.h. bei mehreren Kindern wird die Dauer aufsummiert. Von den Müttern haben zwei Drittel (bislang) nur ein Kind, bei den Vätern haben die meisten bereits mindestens zwei Kinder (Tabelle 4). Die Kinderzahl bei den befragten Müttern aus der Rechtswissenschaft weicht im Vergleich zu Müttern aus anderen Fachbe­ reichen deutlich nach unten ab. Angesichts des Alters zum Befragungszeit­ punkt lässt sich jedoch nicht bestimmen, ob sie tatsächlich weniger Kinder bekommen, oder ob sie stattdessen später weitere Kinder bekommen.

110

Gleicher Abschluss – gleiche Chancen?

Abb. 14 Elternanteile zehn Jahre nach Abschluss des Studiums (%)

Quelle: DZHW-Absolventenpanel, Examensjahrgänge 2001, 2005, 2009, 3. Befra­ gung, eigene Berechnungen.

Tab. 4 Anzahl der Kinder von Müttern und Vätern zehn Jahre nach dem Studi­ um der Rechtswissenschaft (%) Ein Kind

Zwei Kinder

Drei oder mehr Kinder

n

Männer

33,3

56,8

9,9

87

Frauen

65,3

30,5

4,2

113

Quelle: DZHW-Absolventenpanel, Rechtswissenschaftler:innen der Examensjahr­ gänge 2001, 2005, 2009, 3. Befragung, eigene Berechnungen.

111

Gesche Brandt

Frauen aus der Rechtswissenschaft sind insgesamt etwas zufriedener mit der Familienfreundlichkeit ihrer Beschäftigung als Männer (Abbildung 15), obgleich die Unterschiede nicht sehr groß sind. Unklar ist, ob Frauen und Männer unter dem Begriffe Familienfreundlichkeit das Gleiche ver­ stehen oder dieser Begriff vor dem Hintergrund traditioneller Geschlech­ terrollen verstanden wird. Für Frauen hieße Familienfreundlichkeit dann u.a., dass (flexible) Teilzeitbeschäftigung und Elternzeiten möglich sind, wohingegen Familienfreundlichkeit für Männer, die nicht die Hauptsorge­ arbeit tragen, weniger voraussetzungsvoll wäre. Abb. 15 Zufriedenheit mit der Familienfreundlichkeit der Beschäftigung

Quelle: DZHW-Absolventenpanel, Rechtswissenschaftler:innen der Examensjahr­ gänge 2001, 2005, 2009, 3. Befragung, eigene Berechnungen.

G. Forschungsperspektiven Noch heute, 100 Jahre nach der Zulassung von Frauen zu den juristischen Staatsexamina und juristischen Berufen, bestehen Ungleichheiten in den beruflichen Karrieren von Hochschulabsolvent:innen im juristischen Be­ reich fort. Trotz überdurchschnittlich hoher Karriereambitionen und einer hohen Berufsorientierung von Absolvent:innen der Rechtswissenschaft zahlen sich die im Studium erworbenen Qualifikationen für Männer und Frau­ en nicht immer in gleicher Weise aus. Die in diesem Beitrag vorgenom­ men Analysen deuten darauf hin, dass auch in dieser Gruppe typische Geschlechterungleichheiten bestehen und traditionelle Geschlechterrollen im Zusammenhang mit der Familiengründung eine wesentliche Ursache für Geschlechterungleichheiten im Beruf sind. In der Untersuchungsgrup­ pe arbeiten Rechtwissenschaftlerinnen häufiger als Rechtswissenschaftler in Teilzeit, sind länger in Elternzeit und sie sind häufiger in angestellten

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Gleicher Abschluss – gleiche Chancen?

Positionen tätig. Zugleich weisen sie im Durchschnitt geringere Gehälter auf und sind seltener in Führungspositionen oder selbständig. Auch wenn die Ergebnisse in diesem Beitrag auf sehr kleinen Fallzahlen und einem selektiven Sample basieren, bekräftigen sie Erkenntnisse aus früheren Studien der Geschlechterungleichheitsforschung und ergänzen sie um die Perspektive der Hochschulabsolvent:innen. Die vorliegende Untersuchung bietet eine Reihe von Anknüpfungs­ punkten für künftige Studien, um sich genauer mit den Ursachen und Mechanismen von Geschlechterungleichheiten in juristischen Berufen aus­ einanderzusetzen. Warum machen sich Absolventinnen der Rechtswissen­ schaft nach dem Studium seltener selbständig als ihre männlichen Kom­ militonen und warum gelangen sie seltener in Führungspositionen? Wie hoch ist die tatsächliche Lohnlücke in den juristischen Berufen und was sind die Ursachen für die Lohnlücke? Neben Nachteilen von Frauen im beruflichen Bereich ist mit Blick auf Geschlechterungleichheiten ebenso wichtig zu untersuchen, welche Hürden für Männer in diesem traditionell noch sehr männlich geprägten Berufsfeld bestehen, wenn sie familiale Sorgearbeit leisten. Wünschen sich Männer mehr Zeit für die Familie und welchen Widerständen sind sie ausgesetzt, wenn sie Elternzeit nehmen möchten oder in Teilzeit arbeiten wollen? Offen bleibt, ob und welche diskriminierenden Strukturen speziell in juristischen Berufen vorherrschen und wie man diesen entgegenwirken kann. Die Ergebnisse bieten jedoch Anhaltspunkte dafür, dass allgemeine Reformen und Anreize, die die Gleichstellung von Frauen im Erwerbsle­ ben befördern, auch in juristischen Berufen erforderlich und zielführend sind. Darunter fallen beispielsweise Maßnahmen zur besseren Vereinbar­ keit von Familie und Beruf sowie generell eine stärkere Beteiligung von Vätern an familialer Sorgearbeit.

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Licht in die Blackbox bringen. Wie die mündliche Prüfung diskriminierungssensibel werden kann Charlotte Heppner und Susanna Roßbach*

Den mündlichen Prüfungen in den beiden Staatsprüfungen kommt in der juristischen Ausbildung durch ihren großen Einfluss auf die Gesamtnote ein hoher Stellenwert zu. Gleichzeitig sind Ablauf und Bewertung der mündli­ chen Prüfung erstaunlich unreguliert und häufig von Zufälligkeiten abhän­ gig. So entsteht ein enormes Potential für Diskriminierungen. In diesem Beitrag werfen wir einen Blick in die Blackbox der mündlichen Prüfung. A. Die Blackbox der mündlichen Prüfung: Was bisher geschah Die mündliche Prüfung ist für angehende Jurist:innen äußerst nervenauf­ reibend, da sie in tatsächlicher Hinsicht großen Einfluss auf den Abschluss der juristischen Ausbildung und die spätere Berufstätigkeit hat (I.). Verfas­ sungs- und prüfungsrechtliche Vorgaben gebieten eine diskriminierungs­ freie Ausgestaltung der mündlichen Prüfung (II.). In der Realität wird dieses Ideal allerdings nicht immer erreicht (III.). Der Arbeitsstab Ausbil­ dung und Beruf des Deutschen Juristinnenbundes hat daher untersucht, welche Diskriminierungspotentiale in der Ausgestaltung der mündlichen Prüfung liegen und wie diese minimiert werden können (IV.). I. Die Bedeutung der mündlichen Prüfung Alle Nachwuchsjurist:innen absolvieren im Laufe ihrer juristischen Ausbil­ dung zumindest eine mündliche Prüfung: Im ersten Staatsexamen bildet die mündliche Prüfung den Abschluss des Studiums, im zweiten Staatsexa­

* Charlotte Heppner ist Doktorandin an der Juristischen Fakultät der HumboldtUniversität zu Berlin, Susanna Roßbach ist Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Bucerius Law School in Hamburg.

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men nach dem Referendariat gar der gesamten juristischen Ausbildung. Es könnte sich daher um einen besonders feierlichen Tag handeln. Gleichzei­ tig sind aber die Erwartungen und der Druck, die mit der mündlichen Prüfung zusammenhängen, immens. Die Note der mündlichen Prüfungen hat wesentlichen Einfluss auf die Gesamtnote in den juristischen Staatsex­ amina. Im ersten Staatsexamen setzt sich die Gesamtnote zusammen aus dem sogenannten universitären Teil, der durch die Schwerpunktbereichs­ prüfung an der Universität bestimmt wird, und dem sogenannten Staats­ teil, der sich aus den Einzelnoten der Examensklausuren und der mündli­ chen Prüfung ergibt. Einzelheiten sind in den Ausbildungsgesetzen und -verordnungen der Länder geregelt.1 Die Note der mündlichen Prüfung macht danach im ersten Staatsexamen zwischen 25 und 40 % des staatli­ chen Teils aus.2 Für das zweite Staatsexamen ist der Anteil ähnlich hoch.3 Damit hat die Bewertung der Leistung am Tag der mündlichen Prüfung – etwa im Vergleich zur Bewertung einer Examensklausur – einen sehr ho­ hen Einfluss auf die Gesamtnote. Den Noten in den beiden Staatsexamina kommt nun – wer Jura studiert (hat), weiß dies sehr genau – noch immer eine sehr große Bedeutung auf dem Arbeitsmarkt zu. Insbesondere Groß­ kanzleien, aber auch Justiz und Verwaltung setzen bei ihren Einstellungen häufig die Überschreitung einer bestimmten Notenschwelle voraus.4 Auch nach den Promotionsordnungen vieler rechtswissenschaftlicher Fakultäten steht eine Promotion grundsätzlich nur Kandidat:innen mit Prädikatsex­ amen, also mit der Note „vollbefriedigend (9 Punkte)“ offen.5 Kurzfristiger gesehen hat die Note des ersten Staatsexamens auch Einfluss auf die Verga­ be von begehrten Referendariatsplätzen oder Praktika. Das Ergebnis der

1 Überblick etwa bei Unger, Möglichkeiten und Grenzen der Anfechtbarkeit juristi­ scher (Staats-)Prüfungen, 2016, S. 56 ff. 2 Ausführlich aufgeführt bei Heppner/Wienfort/Härtel, Die mündliche Prüfung in den juristischen Staatsexamina, ZDRW 2022, 23 (24). 3 Zur Gewichtung der Noten insgesamt Ausbildungsstatistik des Bundesamtes für Justiz, Stand: März 2022, abrufbar unter https://www.bundesjustizamt.de/SharedD ocs/Downloads/DE/Justizstatistik/Juristenausbildung_2019.pdf?__blob=publicatio nFile&v=3 (letzter Abruf am: 29.9.2022). 4 Es gibt zumindest in der Justiz erste Anhaltspunkte für die Auflösung dieser Pra­ xis: So wurde etwa in Hessen kürzlich die Einstellungsschwelle für Richter:innen und Staatsanwält:innen von insgesamt 16 auf 15 Punkte in beiden Staatsexamina herabgesetzt, Hessisches Ministerium der Justiz, Pressemitteilung vom 7.9.2022, abrufbar unter https://www.hessen.de/presse/land-passt-einstellungskriterien-fuer-ri chter-und-staatsanwaelte-an (letzter Abruf am: 29.9.2022). 5 Ausführlich Heppner/Wienfort/Härtel, Die mündliche Prüfung in den juristischen Staatsexamina, ZDRW 2022, 23 (24 f. Fn. 9).

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mündlichen Prüfung hat also große Bedeutung für den weiteren Verlauf der Ausbildung und das gesamte sich anschließende Arbeitsleben bis hin zur Altersvorsorge. II. Verfassungs- und prüfungsrechtliche Vorgaben für eine diskriminierungssensible mündliche Prüfung Schon diese tatsächliche Bedeutung der mündlichen Prüfung auf individu­ eller Ebene legt also nahe, dass die Prüfungssituation möglichst gerecht und insbesondere frei von Diskriminierungen ausgestaltet werden muss. Verfassungsrechtlich ist darüber hinaus hervorzuheben, dass sich Kandi­ dat:innen in Staatsprüfungen in einer besonders grundrechtssensiblen Si­ tuation befinden. Im Hinblick auf Prüfungen gebietet der Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG die Chancengleichheit aller Kandidat:innen. Dies be­ deutet insbesondere, dass eine besonders weitgehende (formelle) Gleichbe­ handlung der Kandidat:innen anzustreben ist.6 Die Prüfenden unterliegen zudem den Grundpflichten der Fairness und Sachlichkeit bei der Durch­ führung der Prüfung und Bewertung der Prüfungsleistung.7 Neben Art. 3 Abs. 1 GG leiten sich diese Gebote – bei berufsbezogenen Prüfungen wie den juristischen Staatsexamina – auch aus dem Schutz der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) und dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) ab.8 Diskriminierende mündliche Prüfungen widersprechen sowohl dem Grundsatz der Chancengleichheit als auch den Geboten der Fairness und Sachlichkeit. Zudem konterkarieren Diskriminierungen in Prüfungen von vornhe­ rein den Prüfungszweck. Denn Ziel von – insbesondere staatlichen – Prüfungen ist es, die Leistungen der Kandidat:innen standardisiert abzu­ fragen und mit der Note als „staatliches Gütesiegel“9 zu bewerten.10 An­ 6 Handbuch Hochschulrecht/Schnellenbach, 3. Aufl. 2017, Kap. 12 Rn. 37; ausführ­ lich dazu auch Unger, Möglichkeiten und Grenzen der Anfechtbarkeit juristi­ scher (Staats-)Prüfungen, 2016, S. 31 ff. 7 Fischer/Jeremias/Dieterich, Prüfungsrecht, 8. Aufl. 2022, Rn. 328. 8 Fischer/Jeremias/Dieterich, Prüfungsrecht, 8. Aufl. 2022, Rn. 328. 9 Bei Morgenroth, Hochschulstudienrecht und Hochschulprüfungsrecht, 1. Aufl. 2017, Rn. 45 heißt es – etwas zurückhaltender –, dass gesetzliche Regelungen zur Prüfung jedenfalls gewährleisten sollen, dass jemand, der mit einer bestimmten Tätigkeit auf die Allgemeinheit einwirken will, diese Tätigkeit gut genug be­ herrscht, um die Allgemeinheit nicht zu gefährden. 10 Zu den Gütekriterien einer Prüfung und ihrer Umsetzung in der juristischen Ausbildung ausführlich Reis, Prüfen aus Sicht der Hochschuldidaktik: Ein Blick

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dere Personen, etwa potentielle Arbeitgeber:innen, müssen sich auf die Aussagekraft der Note verlassen können. Dies setzt zwingend voraus, dass die Kandidat:innen tatsächlich nur aufgrund ihrer Leistungen bewertet wurden, die Note also ein Beleg ihrer im Moment der Prüfung erbrachten Leistung ist.11 Wenn sich Prüfende nun von anderen Faktoren, insbeson­ dere – unbewussten, aber tief verwurzelten – Stereotypisierungen,12 beein­ flussen lassen, ist dies nicht der Fall. Die so gewonnenen Noten haben we­ nig Aussagekraft. Hinzu kommt, dass Noten vor allem im Vergleich zuein­ ander verstanden werden. Die fehlende Aussagekraft einzelner Bewertun­ gen wirkt sich daher negativ auf die Aussagekraft aller Noten aus.13 Es muss also im Interesse aller – und nicht etwa „nur“ der potenziell von Dis­ kriminierungen Betroffenen – sein, mündliche Prüfungen möglichst dis­ kriminierungsfrei auszugestalten. III. Reality-Check: Wird in der mündlichen Prüfung diskriminiert? Tatsächlich ist dies jedoch nicht immer der Fall. Neben individuellen Schilderungen14 stützt sich diese Behauptung insbesondere auf eine viel beachtete empirische Untersuchung zur Benotung der Staatsprüfungen in Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 2017.15 Die Autoren der Studie stellten fest, dass sowohl Frauen als auch Menschen mit einem zugeschriebenen

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auf das rechtswissenschaftliche Studium, in: Brockmann/Pilniok (Hrsg.), Prüfen in der Rechtswissenschaft, 2013, 29 (32 ff.); so auch Heppner/Wienfort/Härtel, Die mündliche Prüfung in den juristischen Staatsexamina, ZDRW 2022, 23 (24). Die Sinnhaftigkeit von Staatsexamensnoten, die lediglich ausschnitthaft bestimm­ te Fähigkeiten der Kandidat:innen an bestimmten Tagen abbilden, kann freilich auch insgesamt angezweifelt werden. Lembke/Valentiner, Diskriminierung und Antidiskriminierung in der juristischen Ausbildung, in: Bretthauer/Henrich/Völz­ mann/Wolckenhaar/Zimmermann (Hrsg.), Wandlungen im Öffentlichen Recht, 2020, 279 (283) sprechen von „inszenierte[n] Mutproben und Initiationsriten, die über Monate angeeignetes Wissen nur absolut punktuell abprüfen“. Zum Phänomen des unconscious bias → B.I. Bereits Heppner/Wienfort/Härtel, Die mündliche Prüfung in den juristischen Staatsexamina, ZDRW 2022, 23 (24). Dem Arbeitsstab wurden während der Diskussion in den Monaten nach Veröf­ fentlichung der Forderungen erneut etliche Vorfälle geschildert, die Diskriminie­ rungen im Zusammenhang mit der mündlichen Prüfung nahelegen. Glöckner/Towfigh/Traxler, Empirische Untersuchung zur Benotung in der staatli­ chen Pflichtfachprüfung und in der zweiten juristischen Staatsprüfung in Nord­ rhein-Westfalen von 2006-2016, 2017.

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Migrationshintergrund16 in beiden juristischen Staatsprüfungen schlechte­ re Noten erzielten als Männer ohne zugeschriebenen Migrationshinter­ grund.17 Besonders ausgeprägt waren diese Effekte bei den mündlichen Noten, und zwar auch dann, wenn die Vergleichsgruppen zuvor eine iden­ tische schriftliche Note erreicht hatten.18 Für Frauen konnte zudem eine signifikant geringere Wahrscheinlichkeit festgestellt werden, die nächste Notenstufe – insbesondere bei Überschreitung der 9,0- oder 11,5-PunkteSchwelle – zu erreichen.19 Die Ursachen für dieses Auseinanderfallen konnten durch die empirische Studie nicht ermittelt werden und sind noch nicht umfassend aufgeklärt.20 Da ein wesentlicher Unterschied zwi­ schen den beiden Teilen der Staatsprüfung allerdings darin besteht, dass die Prüfenden im mündlichen Teil unmittelbar mit den Kandidat:innen interagieren, während der schriftliche Teil vollständig anonymisiert ist, liegt es nahe, dass bei der schlechteren Bewertung von Frauen und Men­ schen mit zugeschriebener Migrationsgeschichte auch – überwiegend un­ bewusste21 – Diskriminierungen eine Rolle spielen.22

16 Zur Analyse der Effekte eines zugeschriebenen Migrationshintergrundes wurden im Rahmen der empirischen Untersuchung die Indikatoren Geburtsort, Staatsan­ gehörigkeit und Namensherkunft verwendet, Glöckner/Towfigh/Traxler, Empiri­ sche Untersuchung zur Benotung in der staatlichen Pflichtfachprüfung und in der zweiten juristischen Staatsprüfung in Nordrhein-Westfalen von 2006-2016, 2017, S. 22. 17 Glöckner/Towfigh/Traxler, Empirische Untersuchung zur Benotung in der staatli­ chen Pflichtfachprüfung und in der zweiten juristischen Staatsprüfung in Nord­ rhein-Westfalen von 2006-2016, 2017, S. 10 f. (Ergebnis F1 [Geschlecht]), S. 23 f. (Ergebnis F1 [Migration]), zusammenfassend S. 1. 18 Glöckner/Towfigh/Traxler, Empirische Untersuchung zur Benotung in der staatli­ chen Pflichtfachprüfung und in der zweiten juristischen Staatsprüfung in Nord­ rhein-Westfalen von 2006-2016, 2017, S. 16 (Ergebnis F2b [Geschlecht]), S. 26 f. (Ergebnis F2b [Migration]), zusammenfassend S. 1. 19 Glöckner/Towfigh/Traxler, Empirische Untersuchung zur Benotung in der staatli­ chen Pflichtfachprüfung und in der zweiten juristischen Staatsprüfung in Nord­ rhein-Westfalen von 2006-2016, 2017, S. 18 ff. (Ergebnis F3 [Geschlecht]). 20 Dazu Wienfort, ,,Ergebnisunterschiede sind Ausdruck eines fundamentalen ge­ sellschaftlichen Problems“ – Interview mit Prof. Dr. Emanuel Towfigh, djbZ 2020, 4. 21 Zum Phänomen des unconscious bias insbesondere auch → B.I. 22 Bereits Heppner/Wienfort/Härtel, Die mündliche Prüfung in den juristischen Staatsexamina, ZDRW 2022, 23 (24).

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IV. Die Untersuchung des Arbeitsstabs Ausbildung und Beruf Vor dem Hintergrund dieses Befunds hat der Arbeitsstab Ausbildung und Beruf des Deutschen Juristinnenbundes im Jahr 2020 begonnen, zu untersuchen, worin Diskriminierungspotentiale der mündlichen Prü­ fung liegen und wie diese verringert werden können. Dazu wurden zum einen die Ausbildungsgesetze und -verordnungen der Länder analysiert, zum anderen die Prüfungsämter zur Prävention von und zum Schutz vor Diskriminierungen in den mündlichen Prüfungen befragt.23 Die Un­ tersuchung hatte zum Ziel, herauszuarbeiten, inwiefern die derzeitige Ausgestaltung der mündlichen Prüfung Diskriminierungen vorbeugen oder im Gegenteil sogar verstärken kann. Dabei wurden insbesondere für den Diskriminierungsschutz besonders relevante Themenschwerpunk­ te in den Blick genommen: die Besetzung der Prüfungskommissionen, die Vornotenkenntnis, das Vorgespräch, die Bewertung, die Art und Weise der Prüfungsdokumentation, das Vorhandensein von Mediations- und Be­ schwerdemöglichkeiten sowie von Fortbildungen für Prüfende. Zentrales Ergebnis der Untersuchung war: Obwohl den Verantwortlichen in den Prüfungsämtern das Problem durchaus bewusst ist, mangelt es in allen als diskriminierungsanfällig identifizierten Bereichen an verbindlichen Vorga­ ben zur Sicherstellung diskriminierungssensibler mündlicher Prüfungen.24 Der Arbeitsstab hat daher sechs konkrete Forderungen entwickelt, die auf die Verbesserung der Diskriminierungssensibilität in mündlichen Prüfun­ gen abzielen.25 Die Ergebnisse der Untersuchung sowie die sechs Forde­ rungen des Arbeitsstabs wurden erstmals im Mai 2022 veröffentlicht.26 Seit Veröffentlichung der Untersuchung hat sich der Arbeitsstab in wei­ teren Formaten, etwa bei Vorträgen, Workshops und Diskussionsveranstal­ tungen, mit der Frage der Diskriminierungssensibilität in den mündlichen Prüfungen auseinandergesetzt und versucht, sowohl mit Kandidat:innen als auch mit Prüfenden und Verantwortlichen in Politik und Verwaltung 23 Die Umfrage bezog sich auf den Zeitraum Januar bis Juli 2020. Antworten gingen aus allen Prüfungsbezirken außer Hamburg ein. Zum Vorgehen ausführlich Heppner/Wienfort/Härtel, Die mündliche Prüfung in den juristischen Staatsex­ amina, ZDRW 2022, 23 (25 f.). 24 Heppner/Wienfort/Härtel, Die mündliche Prüfung in den juristischen Staatsex­ amina, ZDRW 2022, 23. 25 Zu den sechs Forderungen ausführlich → C. 26 Heppner/Wienfort/Härtel, Die mündliche Prüfung in den juristischen Staatsex­ amina, ZDRW 2022, 23; auch Roßbach, Eine Utopie zum Greifen nah?, RuP 2022, 89; Meinhof/Zarifi, Diskriminierungsfalle mündliche Staatsprüfung, djbZ 2022, 145.

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ins Gespräch zu kommen.27 Neben Zustimmung und wichtigen Anregun­ gen wurde in Diskussionsrunden hinsichtlich einzelner Forderungen auch Skepsis geäußert. Dies wollen wir im Folgenden aufgreifen und reflektie­ ren. B. Drei Gedanken zur Forderung der Diskriminierungssensibilität Zunächst sollen drei Themenkomplexe betrachtet werden, die in der bis­ herigen Darstellung mitunter zu kurz kamen oder im Einzelfall missver­ standen wurden: das Phänomen des unconscious bias (I.), die Unterschei­ dung zwischen „lediglich“ ungerechten und diskriminierenden Prüfungen (II.) und die Bedeutung der Diskriminierungssensibilität abseits von ge­ schlechtsspezifischen Diskriminierungen (III). I. Das Phänomen des unconscious bias Wird von Diskriminierungen in der mündlichen Prüfung gesprochen, ist damit selten eine offen ausgesprochene Benachteiligung, etwa eine se­ xistisch oder rassistisch konnotierte Bloßstellung, gemeint. Obwohl auch diese Fälle existieren, wird es sich sehr viel häufiger um das Phänomen des sogenannten unconscious bias28 handeln. Damit gemeint sind unbewusste, aber tief verwurzelte kognitive Verzerrungen, etwa Vorurteile oder Stereo­ type, die Menschen allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimm­

27 Etwa virtuelle Podiumsdiskussion des djb am 5.5.2022, dazu Veranstaltungsbe­ richt Wittmann, djbZ 2022, 89; Virtuelle Podiumsdiskussion der Bürgerschafts­ fraktion der Hamburger GRÜNEN am 12.5.2022; Podcast Die Justizreporter*in­ nen vom 27.5.2022, abrufbar unter https://www.swr.de/justizreporterinnen/ justizreporterinnen-podcast-100.html (letzter Abruf am: 29.9.2022); Podcast Justitias Töchter vom 19.8.2022, abrufbar unter https://www.djb.de/veroeffent lichungen/podcast-justitias-toechter/detail/folge-27-august-2022-diskriminier ung-in-den-staatspruefungen (letzter Abruf am: 29.9.2022); Podiumsdiskussion des djb Landesverbands Hamburg am 20.9.2022; Vortrag an der Justizakademie NRW, Dokumentations- und Forschungsstelle Justiz und Nationalsozialismus am 7.10.2022. 28 Der aus der Sozialpsychologie stammende Begriff kann als „unbewusste Vorein­ genommenheit“ übersetzt werden. Da sich eine deutsche Übersetzung noch nicht im wissenschaftlichen Diskurs etabliert hat, wird hier der englische Begriff ge­ nutzt.

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ten Gruppe zugeschrieben werden.29 Bezeichnend für den unconscious bias ist, dass der handelnden Person ihre Voreingenommenheit gegenüber einer bestimmten Gruppe nicht bewusst ist. Sie empfindet ihr eigenes Verhalten oder die eigene Wahrnehmung also nicht als sexistisch oder ras­ sistisch. Nimmt eine Person etwa an, (alle) Frauen seien multitaskingfähig, (alle) Männer gut in logischem Denken, ist ihr die sexistische Dimension dieser Annahmen nicht unbedingt bewusst. In einer Gesellschaft, in der sexistische oder rassistische Tropen allgegenwärtig sind, ist es vielmehr die Regel, dass ein Großteil der Bevölkerung diese verinnerlicht hat. Es han­ delt sich also nicht unbedingt (nur) um persönliche Unaufgeklärtheit der handelnden Person, sondern um sexistische oder rassistische Gesellschafts­ strukturen, die reproduziert werden. Problematisch am unconscious bias ist vor allem, dass die betroffene Person nicht mehr als Individuum wahr­ genommen wird: Die verinnerlichten Stereotype überlagern die Individua­ lität des Gegenübers. Der unconscious bias hat also (negativen) Einfluss auf das Verhalten gegenüber Menschen, die als „anders“ wahrgenommen werden, und sie betreffende Entscheidungen.30 In Prüfungssituationen ist dies besonders fatal, da so die Bewertung der individuellen Leistung der Kandidat:innen erschwert oder sogar verhindert wird. Es ist anzunehmen, dass die allermeisten Prüfenden nicht bewusst dis­ kriminieren. Dass sie dem Phänomen des unconscious bias unterliegen, ist aber sehr wahrscheinlich. Gegen den unconscious bias muss daher jede:r Einzelne aktiv – etwa durch Reflexion eigener Wahrnehmungen – arbei­ ten.31 Dies kann jedoch nicht allein dem individuellen Engagement der Prüfenden überlassen werden. Vielmehr müssen die verantwortlichen Stel­ len in den Prüfungsämtern Strukturen schaffen, die dem Phänomen des unconscious bias entgegenwirken. Hier setzen die Forderungen II. und V. an.

29 Dazu Grünberger/Mangold/Markard/Payandeh/Towfigh, Diversität in Rechtswis­ senschaft und Rechtspraxis, 2021, S. 43. 30 Grünberger/Mangold/Markard/Payandeh/Towfigh, Diversität in Rechtswissen­ schaft und Rechtspraxis, 2021, S. 43. 31 Eine erste Möglichkeit dazu bietet der „Implicit Association Test“ der Harvard Universität, abrufbar unter https://implicit.harvard.edu/implicit/takeatest.html (letzter Abruf am: 29.9.2022).

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II. Die Unterscheidung zwischen ungerechten und diskriminierenden Prüfungen Die Bewertung in der mündlichen Prüfung kann – auch abseits von Diskriminierungen – ungerecht sein: Die Notenvergabe wird häufig als intransparent oder sogar willkürlich wahrgenommen und weicht zwischen verschiedenen Prüfungskommissionen mitunter deutlich voneinander ab: Während etwa einige Prüfer:innen die Notenskala bis zur Bestnote ausrei­ zen, vergeben andere nie mehr als 10 Punkte. Einige Prüfer:innen fragen immer denselben Stoff ab, sind also „protokollfest“, während andere sich für jede Prüfung neue Sachverhalte ausdenken. Dies empfinden viele Kan­ didat:innen – zurecht – als ungerecht. Der Fokus der Forderungen des Arbeitsstabs liegt aber dennoch nicht auf diesen „bloßen“ Ungerechtigkei­ ten, sondern auf Ungleichbehandlungen, die antidiskriminierungsrecht­ lich verboten sind. Das sind benachteiligende Differenzierungen, die an die tatsächliche oder vermeintliche Zugehörigkeit einer Person zu einer Gruppe anknüpfen – also zB rassistische oder sexistische Benachteiligun­ gen. Unter Diskriminierungen leiden also Personen, die marginalisierten Gruppen vermeintlich oder tatsächlich angehören, während von allgemei­ nen Ungerechtigkeiten auch Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft betrof­ fen sein können. Um Diskriminierungen in der Gesellschaft – egal, ob in juristischen Prüfungen oder an anderer Stelle – abzubauen, bedarf es struk­ tureller Veränderungen. Darauf zielen die Forderungen des Arbeitsstabs ab. In der Praxis führen diskriminierungsärmere Prüfungen aber auch zu einem höheren Maß an Gerechtigkeit für alle. So tragen insbesondere klare Maßstäbe für die Bewertung des Prüfungsgesprächs (Forderung V.), zu einer größeren Vergleichbarkeit der mündlichen Prüfungen und damit zu einer insgesamt gerechteren Prüfungspraxis bei, von der im Ergebnis alle Kandidat:innen profitieren. III. Sensibilität für sämtliche Dimensionen von Diskriminierung Die oben zitierte empirische Untersuchung zur Benotung in den juris­ tischen Staatsexamina in Nordrhein-Westfalen konnte negative Effekte in der Bewertung sowohl bei Frauen als auch bei Kandidat:innen mit zugeschriebener Migrationsgeschichte feststellen – und das, obwohl im Rahmen einer lediglich mit einem Datensatz arbeitenden, empirischen Untersuchung nicht einmal alle Fälle von rassistischer Diskriminierung

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sichtbar gemacht werden können.32 Schon dieser Befund zeigt, dass die Frage der Diskriminierungssensibilität in der mündlichen Prüfung sich nicht ausschließlich am Merkmal „Geschlecht“ ausrichten kann. Zwar setzt die Untersuchung des Arbeitsstabs als Teil eines Verbands, der sich für feministische Rechtspolitik engagiert, bei der geschlechtsspezifischen Diskriminierung an. So zielt Forderung I. etwa darauf ab, mehr Frauen als Prüfende für die mündliche Prüfung zu gewinnen. Hier bleibt die For­ derung nach einer diskriminierungsärmeren Prüfungspraxis jedoch nicht stehen. Aus Sicht des Arbeitsstabs müssen auch andere Diskriminierungs­ formen in der mündlichen Prüfung in den Blick genommen und abgebaut werden. Neben Diskriminierungen aufgrund rassistischer Zuschreibungen ist etwa auch an klassistische oder ableistische Diskriminierungen und ihre jeweiligen Verschränkungen zu denken. Dabei ist zu beachten, dass eine Person nicht nur aufgrund eines Merkmals, sondern auch aufgrund des Zusammenspiels mehrerer Merkmale spezifisch diskriminiert werden kann, etwa als Schwarze Frau (sogenannte intersektionale Diskriminie­ rung).33 Die Forderungen des Arbeitsstabs zielen daher nicht nur auf den Abbau geschlechtsspezifischer Diskriminierungen, sondern darauf, die mündliche Prüfung für alle diskriminierungssensibel zu gestalten. C. Die sechs Forderungen zur diskriminierungssensiblen Ausgestaltung der mündlichen Prüfung Die sechs aus der Untersuchung des Arbeitsstabs hergeleiteten Forderun­ gen beschäftigen sich mit wichtigen Stellschrauben für die Diskriminie­ rungssensibilität der mündlichen Prüfung: (I.) der Besetzung der Prü­ fungskommissionen, (II.) Schulungs- und Fortbildungsangeboten für Prü­ fende, (III.) dem Vorgespräch, (IV.) der Vornotenkenntnis, (V.) Maßstäben für die Bewertung des Prüfungsgesprächs und (VI.) Beschwerde- und Kon­ trollmöglichkeiten. Im Folgenden stellen wir die Forderungen nicht nur erneut vor. Wir setzen uns vielmehr auch mit Anmerkungen, Skepsis oder Kritik bezüglich einiger Forderungen auseinander.

32 Zusammenfassend Glöckner/Towfigh/Traxler, Empirische Untersuchung zur Be­ notung in der staatlichen Pflichtfachprüfung und in der zweiten juristischen Staatsprüfung in Nordrhein-Westfalen von 2006-2016, 2017, S. 1. 33 Den Begriff prägend Crenshaw, Demarginalizing the Intersection of Race and Sex, University of Chicago Legal Forum 1989, 139; dazu auch Markard, Die andere Frage stellen, KJ 2009, 353.

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I. Prüfungskommissionen müssen geschlechtergerecht besetzt werden Die erste Forderung zielt darauf ab, die Prüfungskommissionen in der mündlichen Prüfung geschlechtergerecht, also mit mindestens einer weib­ lichen Prüferin, zu besetzen. Hintergrund dieser Forderung ist, dass in der bereits angesprochenen empirischen Studie aus dem Jahr 2017 festgestellt werden konnte, dass bestimmte negative Effekte für Kandidatinnen bei einer geschlechtergerechteren Besetzung der Prüfungskommission nicht mehr auftraten: War mindestens eine Frau Mitglied der Kommission, bestand für weibliche Kandidatinnen keine geringere Wahrscheinlichkeit mehr, die nächste Notenschwelle zu überschreiten.34 Die Untersuchung des Arbeitsstabs ergab nun, dass dies in den Prüfungsämtern bereits be­ kannt ist und Bemühungen unternommen werden, die Kommissionen entsprechend zusammenzustellen.35 Die Forderung, mehr Frauen als Prü­ ferinnen für die mündliche Prüfung zu gewinnen, unterstützen die Ver­ antwortlichen in den Prüfungsämtern ganz überwiegend. Auch in den auf die Veröffentlichung des Arbeitsstabs folgenden Diskussionen wurde sie positiv aufgenommen. Nicht unumstritten ist allerdings, wie das Ziel einer geschlechtergerechten Besetzung der Kommissionen erreicht werden kann. Bisher versuchen die Prüfungsämter vor allem durch eine gezielte (persönliche) Ansprache, mehr Frauen als Prüferinnen zu gewinnen.36 Diese Bemühungen sind allerdings nicht ausreichend: In allen Bundeslän­ dern besteht sowohl im „Pool“ der Prüfenden als auch bei der tatsächli­ chen Besetzung der einzelnen Kommissionen noch immer ein deutlicher Überschuss an männlichen Prüfenden.37 Eine verbindliche Quotierung nach Geschlecht existiert in den Prü­ fungsordnungen – im Vergleich zu einer Quotierung nach Berufsgruppen, die in fast allen Verordnungen vorgesehen ist – bisher nicht.38 Allein die Ausbildungsordnung des Landes Schleswig-Holstein sieht vor, dass bei 34 Glöckner/Towfigh/Traxler, Empirische Untersuchung zur Benotung in der staatli­ chen Pflichtfachprüfung und in der zweiten juristischen Staatsprüfung in Nord­ rhein-Westfalen von 2006-2016, 2017, S. 18 ff. (Ergebnis F6 [Geschlecht]). 35 Heppner/Wienfort/Härtel, Die mündliche Prüfung in den juristischen Staatsex­ amina, ZDRW 2022, 23 (28). 36 Heppner/Wienfort/Härtel, Die mündliche Prüfung in den juristischen Staatsex­ amina, ZDRW 2022, 23 (28); jüngst bestätigt von Ulrike Geese für das GPA Hamburg bei einer Veranstaltung am 20.9.2022. 37 Ausführlich Heppner/Wienfort/Härtel, Die mündliche Prüfung in den juristi­ schen Staatsexamina, ZDRW 2022, 23 (27 ff.). 38 Heppner/Wienfort/Härtel, Die mündliche Prüfung in den juristischen Staatsex­ amina, ZDRW 2022, 23 (28).

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der Berufung von Prüfenden anzustreben ist, dass Frauen und Männer zu gleichen Anteilen vertreten sind.39 Da die bisherigen Bemühungen der Prüfungsämter (noch) nicht ausreichend zu sein scheinen, ist eine verbind­ liche Regelung angezeigt, die der Verwaltung die geschlechtergerechte Be­ setzung der Prüfungskommissionen vorschreibt. Dazu hat der Arbeitsstab folgende Formulierung vorgeschlagen: „Bei der Besetzung der Prüfungskommissionen ist ein ausgewogenes Ge­ schlechterverhältnis sicherzustellen.”40 Die Einführung einer „Frauenquote für die Prüfungskommission“ birgt aber wie jede Quotierung auch Risiken: Zum einen darf die Einführung einer verbindlichen Quote nicht dazu führen, dass der aktuell kleinen Gruppe von Prüferinnen die Last der Quotenerfüllung aufgebürdet wird. Um die Anzahl der Prüferinnen zu erhöhen, müssen daher auch die Rah­ menbedingungen der Prüfungstätigkeit verbessert werden, etwa im Hin­ blick auf Vergütung und Freistellung.41 Um die Prüfungstätigkeit vor al­ lem für Anwältinnen attraktiver zu gestalten, wäre es auch denkbar, sie als Fortbildungsstunden im Sinne von § 15 FAO anzuerkennen, die alle Fach­ anwält:innen jährlich absolvieren müssen. Von dieser Aufwertung der ver­ antwortungsvollen Prüfungstätigkeit könnte außerdem die Gesamtgruppe der Prüfenden profitieren.42 Zum anderen darf die paritätische Besetzung der Prüfungskommissionen auch nicht als Allheilmittel zur Verbesserung der Diskriminierungssensibilität angesehen werden. Denn auch Frauen sind selbstverständlich vom Phänomen des unconscious bias betroffen, etwa im Hinblick auf rassistische oder klassistische Zuschreibungen, aber auch durch verinnerlichte Misogynie. Die Forderungen nach mehr Frauen in den Prüfungskommissionen muss daher unbedingt durch weitere Maß­ nahmen flankiert werden.

39 § 7 Abs. 3 S. 4 JAVO Schleswig-Holstein. Die Vorschrift gilt jedoch nur für das erste Staatsexamen, bezieht sich nicht auf die Besetzung der konkreten Kommissi­ on und ist als Soll-Vorschrift ausgestaltet. Ihre Wirkung ist daher beschränkt. 40 Heppner/Wienfort/Härtel, Die mündliche Prüfung in den juristischen Staatsex­ amina, ZDRW 2022, 23 (28 f.). 41 Bereits Heppner/Wienfort/Härtel, Die mündliche Prüfung in den juristischen Staatsexamina, ZDRW 2022, 23 (29); so auch Lembke/Valentiner, Diskrimi­ nierung und Antidiskriminierung in der juristischen Ausbildung, in: Bretthau­ er/Henrich/Völzmann/Wolckenhaar/Zimmermann (Hrsg.), Wandlungen im Öf­ fentlichen Recht, 2020, 279 (305). 42 Dazu bereits ausführlich Heppner/Wienfort/Härtel, Die mündliche Prüfung in den juristischen Staatsexamina, ZDRW 2022, 23 (29 f.).

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II. Die Prüfungsämter müssen verpflichtende Schulungen und Fortbildungen für Prüfende anbieten Zu nennen ist dabei zunächst die Forderung nach verpflichtenden Schu­ lungen und Fortbildungen für Prüfende. Die Untersuchung des Arbeits­ stabs hat gezeigt, dass zwar verschiedene Schulungs- und Fortbildungsan­ gebote für Prüfende existieren, diese aber nahezu nie verpflichtend43 und nicht spezifisch auf Diskriminierungssensibilität ausgerichtet sind.44 Vor dem Hintergrund des zuvor geschilderten Phänomens des unconscious bias ist es essentiell, dass Prüfende mindestens vor der erstmaligen Aufnahme der Prüfungstätigkeit eine verpflichtende Fortbildung absolvieren, in der sie auch zu diskriminierenden Strukturen geschult und für unbewusste, verinnerlichte Stereotypisierungen sensibilisiert werden. Hierzu wären et­ wa Anti-Bias-Trainings oder Workshops für Prüfende wünschenswert, in denen Methoden vermittelt werden, um Diskriminierungen und unbe­ wussten Vorurteilen in Prüfungen entgegenzuwirken.45 Im Hinblick auf die Bedürfnisse von Personen mit Sorgeverpflichtungen, in erster Linie Frauen, sollten die Schulungsangebote entweder wohnortnah oder digi­ tal zur Verfügung gestellt werden. Darüber hinaus müssen Prüfende für den Zeitaufwand der Schulungen von ihren übrigen Aufgaben freigestellt oder angemessen finanziell entschädigt werden.46 So kann der Sorge, dass sich noch weniger Frauen für eine Tätigkeit als Prüferin entscheiden würden, wenn sie zusätzlich eine verpflichtende Schulung absolvieren müssten, also noch mehr Zeitaufwand hätten, entgegengewirkt werden. Eine verpflichtende Schulung vor Aufnahme der Prüfungstätigkeit kann im Gegenteil sogar Anreizwirkung haben: Die Schulung kann helfen, die Tätigkeit zu professionalisieren und möglicherweise bestehende Unsicher­ heiten abzubauen. Im Übrigen wird die Forderung, ein verpflichtendes und diskriminierungsspezifisches Schulungs- und Fortbildungsangebot be­

43 Allein in Hessen mussten nach Angabe des dortigen Justizprüfungsamtes die Prü­ fenden vor der Abnahme einer Staatsprüfung einmalig eine spezielle Schulung absolvieren. 44 Heppner/Wienfort/Härtel, Die mündliche Prüfung in den juristischen Staatsex­ amina, ZDRW 2022, 23 (30 f.). 45 Heppner/Wienfort/Härtel, Die mündliche Prüfung in den juristischen Staatsex­ amina, ZDRW 2022, 23 (31 f.); zur Diversitätssensibilität in der juristischen Aus­ bildung auch Grünberger/Mangold/Markard/Payandeh/Towfigh, Diversität in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, 2021, S. 76 f. 46 Heppner/Wienfort/Härtel, Die mündliche Prüfung in den juristischen Staatsex­ amina, ZDRW 2022, 23 (32).

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reitzustellen, in den vom Arbeitsstab geführten Diskussionen überwiegend positiv aufgenommen. III. Das Vorgespräch muss abgeschafft werden Kontrovers diskutiert wird dagegen die Forderung, das Vorgespräch abzu­ schaffen. Die Untersuchung des Arbeitsstabs ergab, dass Vorgespräche zwi­ schen den Vorsitzenden der Prüfungskommission und den Kandidat:in­ nen zwar in nahezu allen Bundesländern47 durchgeführt werden, aller­ dings kaum verbindliche Vorgaben für den Ablauf und den Inhalt des Vorgesprächs existieren.48 Das Vorgespräch wird häufig dazu genutzt, sich einen Eindruck von der Persönlichkeit der Kandidat:innen, ihren Erwar­ tungen an den Ausgang der Prüfung und ihren beruflichen Vorstellungen zu verschaffen. In einigen Ausbildungsordnungen ist dies ausdrücklich so vorgesehen.49 Diese in der Person der Kandidat:innen liegenden Kriterien dürfen nach dem Grundsatz der Sachlichkeit bei der Bewertung der juristi­ schen Fähigkeiten der Kandidat:innen aber gerade keine Rolle spielen.50 Für die Bewertung der Prüfungsleistung dürfen zudem nur Äußerungen der Kandidat:innen zugrunde gelegt werden, die innerhalb der Prüfung er­ folgen und für die Kandidat:innen erkennbar prüfungsrelevant sind.51 Die im Vorgespräch erlangten Informationen gehören dazu also von vornhe­ rein nicht. Das Kennenlernen im Rahmen des Vorgesprächs kann zudem zu einer Verstärkung des unconscious bias der Prüfenden führen. Der Ar­ beitsstab hat daher vorgeschlagen, das Vorgespräch gänzlich abzuschaffen. An den Arbeitsstab wurde häufig das Gegenargument herangetragen, dass das Vorgespräch auch beruhigende Wirkung auf die Kandidat:innen habe und daher beibehalten werden sollte. Dies mag in vielen Fällen zutreffen. Die Befürchtung liegt jedoch nahe, dass das insbesondere für Kandidat:innen gilt, die ohnehin nicht von Diskriminierungen betroffen sind. Für Kandidat:innen, die befürchten müssen, aufgrund bestimmter Merkmale ungleich behandelt zu werden, können etwa bestimmte Aussa­

47 Eine Ausnahme bildet Baden-Württemberg, wo kein Vorgespräch durchgeführt wird. 48 Heppner/Wienfort/Härtel, Die mündliche Prüfung in den juristischen Staatsex­ amina, ZDRW 2022, 23 (32). 49 Heppner/Wienfort/Härtel, Die mündliche Prüfung in den juristischen Staatsex­ amina, ZDRW 2022, 23 (32). 50 Handbuch Hochschulrecht/Schnellenbach, 3. Aufl. 2017, Kap. 12 Rn. 38. 51 Fischer/Jeremias/Dieterich, Prüfungsrecht, 8. Aufl. 2022, Rn. 624.

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gen von Prüfungsvorsitzenden im Vorgespräch die Nervosität noch stei­ gern. Empirische Forschung, die eine allgemeine positive Wirkung eines Vorgesprächs belegen könnte, existiert jedenfalls nicht. Tatsächlichen Nutzen kann ein Vorgespräch aber im Hinblick auf or­ ganisatorische Fragen haben. In diesem Rahmen könnten Vorsitzende bei­ spielsweise die Reihenfolge der Prüfungsfächer und die Pausenzeiten mit den Kandidat:innen absprechen. Dies ist bereits jetzt üblich. Mit einem Fragenkatalog oder Ablaufplan, den das Prüfungsamt den Vorsitzenden dafür an die Hand gibt, könnte darauf hingewirkt werden, dass sich die Vorsitzenden tatsächlich kein persönliches Wissen über die Kandidat:in­ nen verschaffen. Gleichzeitig bliebe ein etwaiger beruhigender Effekt er­ halten, der dadurch entsteht, dass die Kandidat:innen wissen, was auf sie zukommt und mit wem sie es zu tun haben. Um die Wirkung dieser „Verschlankung“ des Vorgesprächs nicht zunichte zu machen, dürften die Prüfungsämter dann aber nicht mehr wie bisher die Personalakten der Kandidat:innen an die Vorsitzenden weitergeben. Insbesondere der handschriftliche Lebenslauf, den viele Prüfungsämter als Schriftprobe an­ fordern, ist für die Bewertung der mündlichen Prüfung ohne jede Bedeu­ tung und sollte daher der Prüfungskommission nicht bekannt sein. IV. Die Vornotenkenntnis muss abgeschafft werden Ebenfalls kritisch diskutiert wird die Forderung, die Vornotenkenntnis ab­ zuschaffen. Die Untersuchung des Arbeitsstabs ergab, dass allen Prüfenden die schriftlichen Noten der Kandidat:innen vor der mündlichen Prüfung bekannt sind.52 Regelmäßig hat dies zur Folge, dass nicht die mündliche Leistung als solche, sondern im Hinblick auf die Gesamtnote, also etwa für das Überschreiten einer gewissen Punkteschwelle, bewertet wird. Wovon viele Kandidat:innen zweifelsohne profitieren, führt aber gleichzeitig auch dazu, dass der ohnehin schon große Einfluss der mündlichen Prüfung auf die Gesamtnote noch weiter verstärkt wird. Diskriminierende Effek­ te wirken sich damit ebenfalls noch stärker auf die Gesamtnote aus.53 Hinter der Forderung, die Vornotenkenntnis abzuschaffen, steht im Kern also der Umstand, dass nicht alle Kandidat:innen im gleichen Maße von

52 Heppner/Wienfort/Härtel, Die mündliche Prüfung in den juristischen Staatsex­ amina, ZDRW 2022, 23 (33). 53 So bereits Heppner/Wienfort/Härtel, Die mündliche Prüfung in den juristischen Staatsexamina, ZDRW 2022, 23 (34).

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der Vornotenkenntnis profitieren. Dass die Noten ohne Vornotenkenntnis möglicherweise insgesamt schlechter ausfallen würden, erscheint ange­ sichts der höheren relativen Vergleichbarkeit hinnehmbar.54 Ein weiteres Argument, das in diesem Zusammenhang oft angeführt wird, ist, dass Prü­ fende besonders darauf achten würden, Kandidat:innen nicht durch die mündliche Prüfung in der Gesamtnote unter die Bestehensgrenze von 4 Punkten fallen zu lassen. Dies betrifft insbesondere Kandidat:innen, die zwar zur mündlichen Prüfung geladen werden, im schriftlichen Teil aber noch nicht bestanden haben.55 Es wäre denkbar, für diese Fälle ein „Sicher­ heitsnetz“ einzubauen, etwa indem betroffenen Kandidat:innen freigestellt wird, ob sie ihre Punktzahl gegenüber den Prüfenden offenlegen wollen. V. Es muss klare Maßstäbe für die Bewertung des Prüfungsgesprächs geben Ein weiteres Ergebnis der Untersuchung des Arbeitsstabs war, dass kla­ re Vorgaben für die Bewertung des Prüfungsgesprächs bisher nicht exis­ tieren.56 Zwar unterliegt die Bewertung in einer mündlichen Prüfung notwendigerweise immer der subjektiven Einschätzung der prüfenden Person. Das Fehlen von Bewertungsmaßstäben fördert aber dennoch die Diskriminierungsanfälligkeit der mündlichen Prüfung, insbesondere vor dem Hintergrund des Phänomens des unconscious bias, und darüber hi­ naus infolge der fehlenden Vergleichbarkeit auch Ungerechtigkeiten für alle Kandidat:innen.57 Um der Bewertung der mündlichen Prüfung mehr Struktur zu verleihen, könnten die Prüfungsämter etwa (un)zulässige Kri­ terien definieren oder Leitfäden oder vorgedruckte Bewertungsbögen zur Verfügung stellen.58 Dass der Bewertung jeweils gleiche Kriterien und Maßstäbe zugrunde gelegt werden, schränkt – anders als teilweise an den Arbeitsstab herangetragen wird – den prüferlichen Beurteilungsspielraum 54 So bereits Heppner/Wienfort/Härtel, Die mündliche Prüfung in den juristischen Staatsexamina, ZDRW 2022, 23 (34). 55 Die Voraussetzungen für die Ladung zur mündlichen Prüfung sind in den Aus­ bildungsordnungen unterschiedlich geregelt. Zumeist sehen die Ausbildungsord­ nungen vor, dass eine Mindestdurchschnittspunktzahl oder eine Mindestgesamt­ punktzahl erreicht werden und eine bestimmte Anzahl von Klausuren bestanden sein muss. 56 Heppner/Wienfort/Härtel, Die mündliche Prüfung in den juristischen Staatsex­ amina, ZDRW 2022, 23 (35). 57 Dazu bereits → B.II. 58 Ausführlich bereits Heppner/Wienfort/Härtel, Die mündliche Prüfung in den juristischen Staatsexamina, ZDRW 2022, 23 (36).

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nicht ein, sondern ist nach dem Grundsatz der Chancengleichheit viel­ mehr geboten.59 Die größte Herausforderung liegt dabei darin, zu definieren, welche Kriterien als (noch) zulässig und welche als unzulässig erachtet werden sollen. Die Beurteilung der Prüfungsleistungen ist inhaltlich an allgemein anerkannte Bewertungsregeln und das Verbot sachfremder Erwägungen gebunden.60 Zulässig sind danach jedenfalls rein fachliche Kriterien wie die sachliche Richtigkeit der Antworten oder die juristische Argumenta­ tionsfähigkeit. Jedenfalls unzulässig sind dagegen klar sachfremde oder willkürliche Kriterien.61 Dazu zählen insbesondere irrationale Erwägun­ gen oder bloße Intuitionen.62 Quelle sachfremder Erwägungen kann auch die – bewusste oder unbewusste – Voreingenommenheit von Prüfenden sein.63 Unzulässig ist es daher auch, den im Vorgespräch gewonnenen Eindruck über die Persönlichkeit der zu Prüfenden in die Benotung ein­ fließen zu lassen. Zwischen den klar zulässigen und klar unzulässigen Kriterien gibt es eine Reihe an Grenzfällen, beispielsweise Soft Skills wie die Präsentation eines Arguments. Dabei handelt es sich einerseits um eine Fähigkeit, die in juristischen Berufen gefragt ist, andererseits kann die Wahrnehmung der Qualität der Präsentation auch stark durch verinnerlichte Stereotypi­ sierungen beeinflusst werden. Frauen wird aus diesem Grund etwa in Management-Kursen und Business-Ratgebern seit Jahren nahegelegt, sie sollten trainieren, in tiefer Stimmlage zu sprechen, um kompetenter (mit anderen Worten: männlicher) zu wirken.64 Ziel jeder Bewertungshilfe muss es daher auch sein, Prüfende dazu zu animieren, ihre Beurteilung der Kandidat:innen vor dem Hintergrund eines möglichen unconscious bias zu reflektieren.65 Einmal mehr zeigt sich auch hier die Bedeutung von Fortbildungen, in denen besonders geschultes Personal den Prüfenden Werkzeug an die Hand gibt, die eigenen Vorurteile zu hinterfragen und mit diesem Wissen möglichst diskriminierungsfrei zu bewerten.

59 60 61 62 63 64

Handbuch Hochschulrecht/Schnellenbach, 3. Aufl. 2017, Kap. 12 Rn. 38. Fischer/Jeremias/Dieterich, Prüfungsrecht, 8. Aufl. 2022, Rn. 331. Fischer/Jeremias/Dieterich, Prüfungsrecht, 8. Aufl. 2022, Rn. 639. Fischer/Jeremias/Dieterich, Prüfungsrecht, 8. Aufl. 2022, Rn. 640. Fischer/Jeremias/Dieterich, Prüfungsrecht, 8. Aufl. 2022, Rn. 644. Beispielhaft etwa Rassek, Piepsstimme: Hohe Frequenz als Karrierekiller?, abruf­ bar unter www.karrierebibel.de/piepsstimme (letzter Abruf am: 29.9.2022). 65 So bereits Heppner/Wienfort/Härtel, Die mündliche Prüfung in den juristischen Staatsexamina, ZDRW 2022, 23 (36).

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VI. Ein Beschwerde- und Kontrollsystem muss implementiert werden Die letzte Forderung des Arbeitsstabs beinhaltet die Einführung eines Be­ schwerde- oder Kontrollsystems für Diskriminierungen in der mündlichen Prüfung. Bisher können sich die Kandidat:innen zwar im Widerspruchsund Klageverfahren gegen die Bewertung in der mündlichen Prüfung wehren. Dies ist aber regelmäßig mit hohen Hürden, etwa kurzen Fris­ ten, und einem finanziellen Risiko verbunden.66 Hinzu kommt, dass nur in einzelnen Ausbildungsordnungen überhaupt eine kurze mündliche Begründung vorgesehen ist.67 Ohne eine Begründung der Bewertungsent­ scheidung kann ihr im Widerspruchs- oder Klageverfahren aber nicht ent­ gegengetreten werden. Diskriminierungsfälle zielen darüber hinaus nicht immer (nur) auf Notenverbesserung ab, sondern sind häufig komplexer. Eine Beschwerdemöglichkeit bei einer unabhängigen Stelle könnte diese Fälle auffangen und angemessen behandeln.68 D. Ausblick Die Blackbox der mündlichen Prüfung ist seit Veröffentlichung der ers­ ten empirischen Studie im Jahr 2017 etwas heller geworden. Die breite Aufmerksamkeit, die der Studie zuteilwurde, sowie anschließende Diskus­ sionen haben dazu geführt, dass in der Öffentlichkeit, aber auch bei Poli­ tiker:innen und den Verantwortlichen in den Prüfungsämtern durchaus ein Bewusstsein für das Problem der Diskriminierungssensibilität besteht. Es können auch bereits erste konkrete Bestrebungen auf politischer Ebene beobachtet werden, das Problem anzugehen: So wurde etwa in den aktu­ ellen nordrhein-westfälischen Koalitionsvertrag die Forderung aufgenom­ men, Prüfungskommissionen mit mindestens einer weiblichen Prüferin

66 Heppner/Wienfort/Härtel, Die mündliche Prüfung in den juristischen Staatsex­ amina, ZDRW 2022, 23 (36 f.). 67 Andere Ausbildungsordnungen sehen vor, dass eine Begründung nur zu geben ist, wenn die geprüfte Person danach fragt. Im Einzelnen Heppner/Wienfort/Här­ tel, Die mündliche Prüfung in den juristischen Staatsexamina, ZDRW 2022, 23 (37). 68 Weitere Beispiele Heppner/Wienfort/Härtel, Die mündliche Prüfung in den juris­ tischen Staatsexamina, ZDRW 2022, 23 (37 f.); Grünberger/Mangold/Markard/ Payandeh/Towfigh, Diversität in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, 2021, S. 77 schlagen Dialog-Formate vor, in denen über Diskriminierungserfahrungen und beobachtete Exklusionseffekte gesprochen werden kann.

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zu besetzen.69 Auch die Hamburger Bürgerschaft hat sich der Frage der Er­ höhung des Anteils von Prüferinnen angenommen und als ersten Schritt bereits eine Kinderbetreuungspauschale für Prüfende eingeführt.70 Es bleibt zu hoffen, dass der Wille zur Veränderung in weitere konkrete Maßnahmen – wie sie in den Forderungen des Arbeitsstabs formuliert wer­ den – umgesetzt werden kann. Die Diskussion um die diskriminierungs­ sensible Ausgestaltung der mündlichen Prüfung hält jedenfalls an.

69 Zukunftsvertrag für Nordrhein-Westfalen, Koalitionsvereinbarung von CDU und Grünen 2022-2027, 2022, Rn. 4220 ff. 70 Dazu Antrag vom 27.4.2022, Drs. 22/8134.

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Justizneutralitätsgesetze als Exklusionsmechanismen Aqilah Sandhu*

A. Einleitung Das 100-jährige Jubiläum des Gesetzes „über die Zulassung der Frauen zu den Ämtern und Berufen der Rechtspflege“1 ist Anlass für eine Rückschau, aber auch eine Bestandsaufnahme. Frauen sind in Führungspositionen in der Justiz noch immer unterrepräsentiert,2 ihr Anteil in der Richter- und Staatsanwaltschaft ist immerhin weitgehend paritätisch.3 Doch nicht die Existenz aller Frauen ist heute eine Selbstverständlichkeit in der Justiz, die sich durch hohe soziale Homogenität und ein ausgeprägtes Diversitätsdefi­ zit auszeichnet.4 Für muslimische Juristinnen mit Kopftuch hat das Jubilä­ um einen sehr faden Beigeschmack, da sie von der Wahrnehmung hoheit­ licher Tätigkeiten in der Justiz kraft Gesetzes ausgeschlossen sind. Die bis vor Kurzem noch rein exekutive Exklusionspraxis manifestiert sich seit we­ nigen Jahren in sogenannten Justizneutralitätsgesetzen – die gesetzgeberi­ sche Reaktion auf die Klagen kopftuchtragender Referendarinnen gegen ihren Ausschluss von bestimmten Ausbildungstätigkeiten bei Gericht und

* Dr. Aqilah Sandhu ist Akademische Rätin a.Z. an der Universität Augsburg. 1 Gesetz über die Zulassung der Frauen zu den Ämtern und Berufen der Rechtspfle­ ge vom 11.7.1922 (RGBl. I 573). 2 BMFSJ, 4. Atlas zur Gleichstellung von Frauen und Männern in Deutschland, 2020, S. 18 f., abrufbar unter https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/4atlas-zur-gleichstellung-von-frauen-und-maennern-in-deutschland-160358 (letzter Abruf am: 25.10.2022). 3 Insgesamt 47,49 % Richterinnen und 50,5 % Staatsanwältinnen im Bund und in den Ländern, Bundesamt für Justiz, Richterstatistik 2020, abrufbar unter https://w ww.bundesjustizamt.de/SharedDocs/Downloads/DE/Justizstatistik/Richterstatistik _2020.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (letzter Abruf am: 25.10.2022). 4 Grünberger/Mangold/Markard/Payandeh/Towfigh, Diversität in Rechtswissen­ schaft und Rechtspraxis, 2021, S. 31 f. Zu den Auswirkungen auf den Rechtsfin­ dungsprozess aus verhaltensökonomischer Sicht Vasel, The Most Dangerous Branch?, in: Mülder/Drechsler/Helmrich/Streule/Weinsteiner (Hrsg.), Richterliche Abhängigkeit – Rechtsfindung im Öffentlichen Recht, 2018, 121 (134) mwN.

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Staatsanwaltschaft.5 Diese Verbotsgesetze stützen sich maßgeblich auf die typisierende Annahme, religiös konnotierte Kleidung sei objektiv geeignet, das Vertrauen der Bevölkerung und Rechtssuchender in die neutrale Amts­ führung zu beeinträchtigen. Kopftuchverbote firmieren als Gesetze zur Re­ gelung des Erscheinungsbildes oder der Amtstracht und erfassen formal sämtliche religiösen Merkmale, also auch die Kippa oder das Kreuz. Fak­ tisch handelt es sich aber um „Anti-Kopftuch-Gesetze“6, die nur dem An­ schein nach neutral sind. Das Verbot des Kopftuchs in der Justiz berührt zentral die verfassungsrechtlichen Gleichheitspostulate in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG und Art. 33 Abs. 3 GG, wonach die Zulassung zu öffentlichen Ämtern ausdrücklich „unabhängig von dem religiösen Bekenntnis“ ist. Zu Recht wurde die Gleichberechtigung der Frau in der frühen Bonner Republik nicht den gesellschaftlichen Anschauungen oder dem Gutdünken des par­ lamentarischen Gesetzgebers überlassen, sondern durch bindendes Verfas­ sungsrecht vorangetrieben.7 Als das Bundesverfassungsgericht 1953 in einer wegweisenden Entscheidung für die feministische Bewegung Art. 3 Abs. 2 GG für unmittelbar anwendbar erklärte, betonte es die notwendige Verankerung der besonderen Diskriminierungsverbote wegen des Ge­ schlechts, der Religion oder der Herkunft in Art. 3 Abs. 2 und 3 GG in einem besonderen Verfassungszusatz.8 Dieses Verfassungszusatzes bedurfte es gerade deshalb, weil „die allgemeine Überzeugung von der Unzulässig­ keit solcher Differenzierungen […] noch nicht so gefestigt“ war, dass der

5 Hierzu Hecker, Die Kopftuchdebatte, 2022; Wiese, Ausdruck von Illiberalität: Kopftuchverbote in Deutschland, NLMR 2021, 5; Muckel, Kopftuchverbot bei Ge­ richt, NWVBl. 2020, 224; Brosius-Gersdorf/Gersdorf, Kopftuchverbot für Rechts­ referendarin, NVwZ 2020, 428; Payandeh, Das Kopftuch der Richterin aus verfas­ sungsrechtlicher Perspektive, DÖV 2018, 482; Sinder, Das Kopftuchverbot für Richterinnen, Der Staat 57 (2018) 459; Berghahn, Staatliche Neutralität zwischen religiösem Pluralismus und wohlfeilem Populismus: Ist ein Kopftuchverbot für Richterinnen und Rechtsreferendarinnen verfassungskonform?, KJ 2018, 167; Wiß­ mann, Justitia mit Kopftuch?, DRiZ 2016, 224. 6 Muckel, Religionspolitik im Namen der Neutralität?, DÖV 2021, 557 (559). Deut­ lich auch in der öffentlichen Debatte zu den Verboten. 7 Für das Gleichstellungsgebot in Art. 3 Abs. 2 GG bestimmte Art. 117 Abs. 1 GG eine Übergangsfrist, so dass dieses erst ab 1953 und nicht schon mit Inkrafttreten des Grundgesetzes 1949 wirken konnte. Der demokratische Gesetzgeber unter Adenauer hätte Art. 3 Abs. 2 GG bei entsprechender parlamentarischer Mehrheit um weitere Jahre außer Kraft gesetzt, vgl. Rust, Die Rechtsprechung des Bundes­ verfassungsgerichts zur garantierten Gleichberechtigung, APuZ B 37-38 (2001), 26 (31). 8 BVerfG Urt. v. 18.12.1953 – 1 BvL 106/53, BVerfGE 3, 225 – Gleichberechtigung.

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allgemeine Gleichheitssatz genügt hätte.9 Grundrechtliche Freiheit und Gleichheit von Angehörigen gesellschaftlicher Minderheiten sowie Gleich­ stellungsrechte sind nicht allein eine Frage parlamentarischer Mehrheits­ entscheide, sondern rechtsstaatlichen Ausgleichs. Gleichheitsrecht ist, wie es die Bundesverfassungsrichterin Susanne Baer formuliert, „Arbeit gegen Schubladen“10. Doch bei der Frage der Zulässigkeit kopftuchtragender Musliminnen im Staatsdienst wird nicht gegen, sondern für die Schublade argumentiert. Negative Vorannahmen, Stereotypen oder gar gesellschaftli­ che Ablehnung sind das zentrale Argument für den Ausschluss dieser Frau­ en von hoheitlichen Tätigkeiten in der Justiz. Würde die Gleichstellung trotz des klaren Verfassungsauftrags zur Gleichberechtigung in den Parla­ menten neu gestellt, so das Bundesverfassungsgericht 1953 weitsichtig, spielte man in einem Circulus vitiosus eine grundgesetzlich getroffene poli­ tische Entscheidung „in die Hände des einfachen Gesetzgebers zurück“.11 So geschieht es im Fall der den Landesgesetzgebern überantworteten Kopf­ tuchverbote in Schule und Justiz, was zu potenziell 16 verschiedenen Ver­ sionen von Neutralität und individueller Religionsausübung führte. Dieser Beitrag stellt die Justizneutralitätsgesetze zunächst dar (B.), bevor er an­ schließend kritisch den Standpunkt des objektiven Betrachters dekonstru­ iert, dessen Vertrauen für die Rechtfertigung der Verbote maßgeblich ist.12 Dabei wird deutlich, dass der Neutralitätsbegriff mit jeweils vorherrschen­ den religiös-kulturellen Anschauungen aufgeladen ist (C.). Dies führt zu der Schlussfolgerung, dass es sich bei den Justizneutralitätsgesetzen um Ex­ klusionsmechanismen zum Schutz der Mehrheitsidentität handelt und sie ihrerseits gegen das verfassungsrechtliche Gebot der weltanschaulich-reli­ giösen Neutralität verstoßen (D.).

9 BVerfG Urt. v. 18.12.1953 – 1 BvL 106/53, BVerfGE 3, 225 (240) – Gleichberechti­ gung; vgl. nur Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, 2. Aufl. 2015, S. 101 ff., zur Polemik in der rechtswissenschaftlichen Literatur der fünfziger und sechziger Jahre. 10 In diesem Band, Susanne Baer im Gespräch mit Johanna Groß, Rebecca Militz und Sina Ness, S. 274. 11 BVerfG Urt. v. 18.12.1953 – 1 BvL 106/53, BVerfGE 3, 225 (240) – Gleichberechti­ gung. 12 Im Ansatz schon Sandhu, Der Anschein der Neutralität als schützenswertes Ver­ fassungsgut? in: VerfBlog, 9.1.2017, DOI: 10.17176/20170109-165103.

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B. Justizneutralitätsgesetze I. Überblick Kopftuchverbote in der Justiz traten nicht erstmals 201613 auf, sondern sind so alt, wie es Juristinnen mit Kopftuch in der Justiz gibt. Schon 1998 – und damit noch vor der Klage der Lehrerin in Baden-Württemberg, mit der der Kopftuchstreit seinen Ausgangspunkt nahm14 – hatte eine Referen­ darin in Nordrhein-Westfalen erfolglos gegen das kraft Erlasses des Innen­ ministeriums verordnete Verbot geklagt, während ihrer Tätigkeit als Sit­ zungsvertreterin der Staatsanwaltschaft ein Kopftuch zu tragen.15 Wurden im Schul- und Kindertagesstättenbereich die Verbote ab 2015 wieder abge­ schafft,16 musste sich der Gesetzesvorbehalt in der Justiz erst noch Geltung verschaffen. Referendarinnen mit Kopftuch wurde kraft exekutiver Wei­ sung die Wahrnehmung hoheitlicher Tätigkeiten mit Außenwirkung, also insbesondere der staatsanwaltschaftliche Sitzungsdienst, die Vernehmung von Zeugen oder auch nur die passive Präsenz am Richtertisch in der Zi­ vil- und Strafstation untersagt. Als erstes Gericht entschied das Verwal­ tungsgericht Augsburg17 unter Anwendung der bundesverfassungsgericht­ lichen Grundsätze zum Schulrecht, dass ein Kopftuchverbot auch im juris­

13 VG Augsburg Urt. v. 30.6.2016 – Au 2 K 15.457, juris; aus Sicht der Klägerin Sandhu, Porträt, djbZ 2021, 55; früher schon zur Problematik am Rande Wiese, Lehrerinnen mit Kopftuch, 2008, S. 300 ff. 14 VG Stuttgart Urt. v. 24.3.2000 – 15 K 532/99, NVwZ 2000, 959; autobiografisch hierzu Ludin, Enthüllungen, 2015, S. 212 ff. 15 VG Köln Beschl. v. 25.6.1998 – 19 L 1992/98, BeckRS 1998, 153089. Ähnliche exekutive Verbote galten auch in anderen Ländern. In Baden-Württemberg muss­ ten kopftuchtragende Referendarinnen in einem informellen Schreiben entweder den Verzicht auf das Tragen eines Kopftuchs bei hoheitlichen Tätigkeiten mit Au­ ßenwirkung oder ihr Einverständnis erklären, dass ihnen keine entsprechenden Tätigkeiten übertragen werden. Ein entsprechendes Schreiben des LG Heidelberg aus dem Jahr 2015 liegt der Verfasserin vor. In Bayern existierte die ministerielle Weisung über das Verbot des Kopftuchs bei hoheitlichen Tätigkeiten mit Außen­ wirkung im Referendariat seit 2007. 16 Anlässlich BVerfG Beschl. v. 27.1.2015 – 1 BvR 471, 1181/10, BVerfGE 138, 296 – Kopftuch II hob das beklagte Land Nordrhein-Westfalen nach knapp einem Jahr­ zehnt das Kopftuchverbot mit Gesetz v. 25.6.2015 wieder auf, GV NRW 2015 Nr. 28, 495. 17 VG Augsburg Urt. v. 30.06.2016 – Au 2 K 15.457, juris Rn. 46 m. zust. Anm. Mu­ ckel, JA 2017, 78. Das BVerwG gab der Klage im November 2020 letztinstanzlich statt, BVerwG Urt. v. 12.11.2020 – 2 C 5/19, NVwZ 2021, 411 (413) m. Anm. Friedrich, NVwZ 2021, 413.

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tischen Vorbereitungsdienst einer hinreichend bestimmten parlamentari­ schen Grundlage bedarf.18 Bestätigt wurde dies kurz darauf in einer einst­ weiligen Anordnung des Bundesverfassungsgerichts im Fall einer hessi­ schen Rechtsreferendarin.19 Sofort reagiert hatte daraufhin Baden-Würt­ temberg, wo die Koalition von CDU und Grünen im Mai 2017 mit den Stimmen der AfD ein Verbot verabschiedete.20 In Hessen und Berlin gal­ ten schon seit 2004 bzw. 2005 Verbote religiös konnotierter Kleidung und Symbole für die Landesbeamtenschaft. Die bayerische Staatsregierung in­ itiierte 2017 die Novelle des Bayerischen Richter- und Staatsanwaltsgeset­ zes (BayRiStAG).21 Der im März 2018 in Kraft getretene Art. 11 BayRiS­ tAG statuiert für Richter:innen, Staatsanwält:innen und Landesanwält:in­ nen, dass in Verhandlungen und bei Amtshandlungen mit Außenkontakt keine sichtbaren religiös geprägten Symbole oder Kleidungsstücke getra­ gen werden dürfen, die Zweifel an der Unabhängigkeit, Neutralität oder ausschließlichen Bindung an Recht und Gesetz hervorrufen können.22 An­ dere Länder warteten das Hauptsacheverfahren zum hessischen Kopftuch­ verbot ab und sahen sich erst nach der Senatsentscheidung vom Januar 202023 bestärkt. Der zweite Senat hatte das hessische Verbot gebilligt und auf den demokratischen Gesetzgeber verwiesen, der durch die parlamenta­ rische Debatte das normative Spannungsverhältnis zwischen den konfligie­ renden Verfassungsgütern unter Berücksichtigung des Toleranzgebots auf­ zulösen und im öffentlichen Willensbildungsprozess „einen für allen zu­ mutbaren Kompromiss“ zu finden habe.24 Einzig die „Vertretbarkeit der

18 Das Verbot erging in Gestalt einer Auflage, die mit dem Einstellungsbescheid ver­ bunden worden war. Die Einstellungsbehörde hatte sich wahlweise auf die Justiz­ ausbildungs- und Prüfungsordnung für Juristen (§ 46 JAPO i.V.m. Art. 36 Abs. 2 Nr. 4 BayVwVfG) und später im Verfahren auf Art. 97 GG i.V.m. §§ 25, 39 DRiG berufen, s. den Vortrag in der Berufungsinstanz, VGH München Urt. v. 7.3.2018 – 3 BV 16.2040, juris Rn. 1. Die Verfasserin klagte in diesem Verfahren als damals betroffene Rechtsreferendarin. 19 BVerfG Beschl. v. 27.6.2017 – 2 BvR 1333/17, NJW 2017, 2333 (2336). 20 „Gesetz zur Neutralität bei Gerichten und Staatsanwaltschaften des Landes“ v. 23.5.2017 (BW GBl. Nr. 11, 265). 21 Bay. LT-Drs. 17/18836 v. 7.11.2017, 37. 22 Für Rechtsreferendar:innen und Rechtspfleger:innen ergibt sich dies i.V.m. dem neu gefassten Art. 57 AGGVG (GVBl. 118, 122, 143). 23 BVerfG, Beschl. v. 14.1.2020 – 2 BvR 1333/17, BVerfGE 153, 1 – Kopftuch III. 24 BVerfG, Beschl. v. 14.1.2020 – 2 BvR 1333/17, BVerfGE 153, 1 (46) – Kopftuch III; s. schon BVerfG Beschl. v. 27.1.2015 – 1 BvR 471, 1181/10, BVerfGE 138, 296 (333) – Kopftuch II; BVerfG, Urt. v. 24.9.2003 – 2 BvR 1436/02, BVerfGE 108, 282 (302 f.) – Kopftuch.

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gesetzgeberischen Entscheidung“25 könne das Bundesverfassungsgericht kontrollieren. Ob Werte von Verfassungsrang eine Regelung über ein weit­ gehend vorbeugendes Verbot von religiös konnotierter Kleidung in der Justiz rechtfertigen oder nicht, bestimme sich nach den „tatsächlichen Ge­ gebenheiten und Entwicklungen“ in den Ländern.26 Niedersachsen erließ daraufhin im Mai 2020 das „Gesetz zur Stärkung der Neutralität der Jus­ tiz“27, in Nordrhein-Westfalen folgte das Verbot im März 2021.28 Erstmals ist im Jahr 2021 auch der Bund als Verbotsgesetzgeber in Erscheinung ge­ treten,29 als er eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts30 zum Verbot von Tätowierungen von Polizeivollzugsbeamt:innen zum Anlass nahm, en passant auch ein Kopftuchverbot in das Beamtenrecht aufzuneh­ men. Mit dem „Gesetz zur Regelung des Erscheinungsbilds von Beamtin­ nen und Beamten“31 wurden § 61 Abs. 2 BBG und § 34 Abs. 2 BeamtStG relativ unbemerkt von der (Fach-)Öffentlichkeit32 dahingehend ergänzt, dass das Tragen von bestimmten Kleidungsstücken und Symbolen, die in einem Atemzug mit Tätowierungen genannt werden, verboten werden kann, „soweit die Funktionsfähigkeit der Verwaltung oder die Pflicht zum achtungs- und vertrauenswürdigen Verhalten dies erfordert“ (S. 2). Für weltanschaulich oder religiös konnotierte Merkmale gilt dies nur, „wenn sie objektiv geeignet sind, das Vertrauen in die neutrale Amtsführung der Beamtin oder des Beamten zu beeinträchtigen“ (§ 34 Abs. 2 S. 4

25 BVerfG, Beschl. v. 14.1.2020 – 2 BvR 1333/17, BVerfGE 153, 1 (46) – Kopftuch III. 26 BVerfG, Beschl. v. 14.1.2020 – 2 BvR 1333/17, BVerfGE 153, 1 (46) – Kopftuch III. 27 „Gesetz zur Anpassung des Rechts der richterlichen Mitbestimmung und zur Stärkung der Neutralität in der Justiz“ v. 12.5.2020 (GVBl. Nr. 15, 116); hierzu VG Oldenburg Beschl. v. 17.3.2022 – 6 B 715/22. 28 „Gesetz zur Stärkung religiöser, weltanschaulicher und politischer Neutralität der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen“ (JNeutG NRW) v. 9.3.2021, GV. NRW Nr. 22, 271. Hierzu VG Arnsberg Beschl. v. 9.5.2022 – 2 L 102/22. 29 Bereits 2017 erließ der Bundesgesetzgeber Gesichtsverhüllungsverbote (BGBl. I 1570). 30 BVerwG Urt. v. 17.11.2017 – 2 C 25/17, BVerwGE 160, 370. 31 Gesetz v. 28.6.2021 (BGBl. I 2250). 32 Eine Ausnahme sind Gärditz/Kamil Abdulsalam, Allgemeines „Kopftuchverbot“ durch die Hintertür? Zum Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Regelung des Erscheinungsbilds von Beamtinnen und Beamten („lex Tattoo“), in: VerfBlog, 2.4.2021, DOI: 10.17176/20210402-194914-0; Gärditz/Kamil Abdulsalam, Verfas­ sungsfragen des Gesetzes zur Regelung des Erscheinungsbilds von Beamtinnen und Beamten, ZBR 2021, 289 (291).

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BeamtStG).33 Die Länder können die Einzelheiten bestimmen (§ 34 Abs. 2 S. 5 BeamtStG). Dies führte dazu, dass Schleswig-Holstein34 und Hessen35 in ihren Landesgesetzen Verweise auf das BeamtStG aufnahmen und das Verbot dadurch nicht nur auf die Justiz, sondern grundsätzlich die gesam­ te Landesbeamtenschaft ausdehnten. Schon in formeller Hinsicht er­ scheint die Bundesregelung wegen Verstoßes gegen Art. 70 Abs. 1, Art. 74 Abs. 1 Nr. 27 GG verfassungswidrig.36 Sie überlässt den Ländern nicht mehr die grundsätzliche Frage des „Ob“, sondern nur noch des „Wie“.37 Im Widerspruch zum grundlegen Erfordernis eines hinreichend bestimm­ ten Parlamentsgesetzes enthält das schleswig-holsteinische Beamtenrecht überdies nun eine Verordnungsermächtigung zur exekutiven Konkretisie­ rung des zulässigen Erscheinungsbildes von Beamt:innen, deren Inhalt durch § 56 Abs. 4 LBG SH näher umgrenzt wird. II. Verbotene Tätigkeiten Die Reichweite der Verbotsgesetzgebung weicht von Land zu Land ab. Die Verbote setzen alle voraus, dass religiös konnotierte Erscheinungsmerkma­ le „objektiv geeignet“ sein müssen, das Vertrauen in die neutrale Amtsfüh­ rung der Beamtin zu beeinträchtigen. Betroffen sind deshalb nach sämtli­ chen Gesetzen jedenfalls Tätigkeiten mit Außenwirkung. Im Übrigen aber sind die Anwendungsbereiche höchst unbestimmt. So gilt in SchleswigHolstein das Verbot auch für Amtshandlungen, „bei denen es in besonde­ rem Maße“ auf die weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates an­ kommt. Jedenfalls soll dies nach dem Willen des Gesetzgebers nicht für Lehrkräfte gelten, für Polizeivollzugsbeamt:innen und für „Verfahrens­ handlungen vor Gericht“ sowie „die Wahrnehmung justizähnlicher Funk­

33 Zur steten Ausweitung des Parlamentsvorbehalts im Anwendungsbereich von Art. 33 Abs. 3 GG Gärditz/Kamil Abdulsalam, Verfassungsfragen des Gesetzes zur Regelung des Erscheinungsbilds von Beamtinnen und Beamten, ZBR 2021, 289. 34 § 56 LBG SH, eingefügt mit Gesetz v. 3.5.2022 (GVBl. Nr. 7, 551). 35 § 45 HessBG ist nun nicht mehr mit „Neutralitätspflicht“, sondern mit „Erschei­ nungsbild der Beamtinnen und Beamten“ betitelt, Drittes Gesetz zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften (3. DRÄndG) v. 15.11.2021 (GVBl. Nr. 46, 718). 36 Hierzu eingehend Gärditz/Kamil Abdulsalam, Verfassungsfragen des Gesetzes zur Regelung des Erscheinungsbilds von Beamtinnen und Beamten, ZBR 2021, 289 (293). 37 Krit. Gärditz/Kamil Abdulsalam, Stellungnahme v. 1.3.2022, SH LT Umdruck 19/7275, 2.

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tionen“ jedoch schon.38 Das Verbot in Nordrhein-Westfalen gilt für alle Beschäftigten mit Außenkontakt in der Landesjustiz, also auch Protokoll­ kräfte oder Wachtmeister:innen.39 Demgegenüber nimmt Baden-Württem­ berg Justizpersonen ohne richterliche oder staatsanwaltschaftliche Ent­ scheidungskompetenzen explizit von der Verbotsregelung aus.40 Die Belie­ bigkeit zeigt sich besonders eindrücklich am unterschiedlichen Umgang mit Schöff:innen. Diese üben „das Richteramt in vollem Umfang und mit gleichem Stimmrecht wie die Richter beim Amtsgericht aus“ (§ 30 S. 1 GVG). Doch während eine ehrenamtliche Richterin in Bayern wegen „gröblicher Verletzung ihrer Amtspflichten“ (§ 24 Abs. 1 Nr. 2 VwGO) von ihrem Amt entbunden wird, wenn sie das Kopftuch trägt,41 sind im be­ nachbarten Baden-Württemberg ehrenamtliche Richter:innen ausdrück­ lich vom Verbot ausgenommen. Dabei sahen schon vor Jahren einzelne Fachgerichte im Kopftuch der Schöffin keinen Ablehnungsgrund.42 Die er­ gänzende Verbotsregelung der Länder ist überdies formell verfassungswid­ rig, da sie von der insofern abschließenden bundesgesetzlichen Regelung im GVG abweicht (Art. 72 Abs. 1 GG). Auch soweit die Verbotsgesetzge­ bung pauschal Rechtsreferendarinnen erfasst, lässt sie sich mit § 10 S. 1, § 142 Abs. 3 GVG nicht vereinbaren, wonach die Entscheidung über die Übertragung praktischer Tätigkeiten im Ermessen der jeweiligen Ausbil­ der:in steht. Die Wahrnehmung dieser Tätigkeiten ist entscheidend für die Erreichung des Ausbildungsziels im Referendariat, sie werden aber rheto­ risch marginalisiert, um die Eingriffsintensität zu bagatellisieren.43 Für die Berufsrichterin oder Staatsanwältin bedeuten die Verbote in der Praxis, dass sie zwar im Dienstzimmer und auf dem Gerichtsgang ihr Kopftuch tragen kann, es bei Betreten des Gerichtssaals und in der Verhandlung aber abnehmen muss. Bei anschließender Beratung im Nebenzimmer (im Fall eines Kollegialgerichts), kann sie es wieder aufsetzen, um es zur Urteilsver­

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SH LT-Drs. 19/3541, 63 f. So ausdrücklich NRW LT-Drs. 17/3774, 11. BW LT-Drs. 6/1954, 16. VGH München Beschl. v. 10.12.2020 – 5 S 20.2456, BayVBl 2021, 202; ähnl. in NRW, LT-Drs. 17/3774, 10; ähnl. in NRW SG Düsseldorf Beschl. v. 28.11.2022 - S 38 SF 200/22 ERI (nnv). 42 KG Berlin Urt. v. 9.10.2012 – (3) 121 Ss 166/12 (120/12), NStZ-RR 2013, 156; aA LG Dortmund Beschl. v 7.11.2006 – 14 (VIII) Gen. Str. K., NJW 2007, 3013; krit. Bader, Die Kopftuch tragende Schöffin, NJW 2007, 2964. 43 In Bayern wurde nach der Augsburger Klage u.a. die selbstständige Zeugenver­ nehmung in der Zivilrechtsstation aus dem Kanon der Mindestausbildungsleis­ tungen gestrichen, Änderung der Referendarsausbildungsbekanntmachung v. 11.8.2017, G1 - 2220 - IX - 5057/2016 (JMBl. 196).

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kündung wieder abzunehmen. Womöglich mag sie ein Versäumnisurteil mit Kopftuch verkünden dürfen, wenn überhaupt kein Beteiligter er­ scheint. Besteht das Kollegialgericht zudem aus Laienrichter:innen, gilt das Verbot je nach Land für einen Teil der Richterbank schon, für den ande­ ren nicht. Es bedarf keiner weiteren Ausführung, dass ein solcher Berufs­ alltag alles andere als ein zumutbarer Kompromiss ist. Letztlich regeln die Verbotsgesetze: Wo will der Staat muslimische Frauen sichtbar werden las­ sen und wo nicht? Sie haben überdies eine fatale Signalwirkung. Eine Aus­ dehnung auf Zwangsverwalterinnen, Insolvenzverwalterinnen oder Nota­ rinnen, die hoheitliche Befugnisse und teilweise unmittelbaren Zwang ausüben, scheint der logische nächste Schritt. Nicht umsonst sehen die Gerichte in den Verbotsgesetzen einen schwer­ wiegenden Grundrechtseingriff.44 Betroffene werden auf Grund des Ge­ schlechts, der Herkunft und der Religion in mehrfacher Hinsicht benach­ teiligt (Art. 3 Abs. 1, und 3, Art. 33 Abs. 3 GG).45 Diese gleichheitsrechtli­ che Dimension gerät in der gerichtlichen Auseinandersetzung jedoch re­ gelmäßig aus dem Blick. Die Prüfung beschränkt sich auf die Beeinträchti­ gung der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG), der persönlichen Identität (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) und der Religionsausübungsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG).46 Dabei macht erst die gleichheitsrechtliche Betrach­ tung die besondere Exklusionswirkung sichtbar. III. Kollidierendes Verfassungsrecht Die Gründe für die Verbotsgesetzgebung sind vielseitig. Das Bundesverfas­ sungsgericht benennt als kollidierende Werte von Verfassungsrang, die eine Verbotsregelung rechtfertigen würden, das Gebot der weltanschau­ lich-religiösen Neutralität, den Grundsatz der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege und die negative Religionsfreiheit Dritter.47 Anders als noch 44 BVerfG, Beschl. v. 14.1.2020 – 2 BvR 1333/17, BVerfGE 153, 1 (46) und die abweichende Meinung des Richters Maidowski (54); BVerwG Urt. v. 12.11.2020 – 2 C 5/19, NVwZ 2021, 411 (412); der VGH München ging von einem geringen Eingriffsgewicht aus, da das Verbot nur zeitlich und örtlich beschränkt gelte, Urt. v. 7.3.2018 – 3 BV 16.2040, NJOZ 2019, 749 (751); krit. hierzu Friedrich, NVwZ 2021, 413 (414). 45 Letzteres explizit offenlassend BVerfG Beschl. v. 14.1.2020 – 2 BvR 1333/17, BVerfGE 153, 1 (51) – Kopftuch III; BVerfG Beschl. v. 27.6.2017 – 2 BvR 1333/17, NJW 2017, 2333 (2335). 46 BVerfG Beschl. v. 27.6.2017 – 2 BvR 1333/17, NJW 2017, 2333 (2335). 47 BVerfG Beschl. v. 14.1.2020 – 2 BvR 1333/17, BVerfGE 153, 1 (36) – Kopftuch III.

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von manchen Landesgesetzgebern angenommen, lässt sich ein Kopftuch­ verbot in der Justiz nicht durch das Gebot richterlicher Unparteilichkeit und Objektivität aus Art. 92, Art. 97 und Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG, Art. 20 Abs. 2 S. 2 und Art. 20 Abs. 3 GG rechtfertigen. Das Bundesverfassungs­ gericht stellte klar, dass allein das Tragen religiös konnotierter Kleidung im richterlichen Dienst für sich genommen nicht geeignet sei, Zweifel an der Objektivität der betreffenden Richterin zu begründen.48 Auch vermö­ ge die sichtbare Zugehörigkeit einer Richterin zu einer bestimmten Religi­ on für sich genommen nicht die Besorgnis der Befangenheit zu begrün­ den: „Von im Auswahlverfahren für das Richteramt erfolgreichen Juristen kann unabhängig von ihrer weltanschaulichen, religiösen oder politischen Einstellung Rechtstreue erwartet werden. Es besteht kein Grund, diese Fä­ higkeit denjenigen Personen abzusprechen, die ihre religiöse Einstellung durch die Verwendung von Symbolen offen für Dritte erkennbar werden lassen. Sollten Einzelne diese unverzichtbare Grundvoraussetzung im Amt nicht erfüllen, bietet das Richterdienstrecht eine Handhabe zur Beendi­ gung des Richterverhältnisses, insbesondere in der Probezeit.“49 Im Ergebnis ist ein Verbot aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts nicht zwingend. Keines der widerstreitenden verfassungsrechtlichen Güter überwiege grundsätzlich.50 Es unterliege der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, unter Beurteilung „der tatsächlichen Gegebenheiten und Entwicklungen“, Justizangehörigen „äußerste Zurückhaltung“ in Fragen des religiösen Erscheinungsbildes aufzuerlegen – sich also für ein strik­ tes Neutralitätsverständnis zu entscheiden.51 Zugleich betont das Gericht das Erfordernis, dass sich das Verbot religiöser Bekundungen durch Amts­ träger „gleichheitsgerecht auf alle Äußerungen und Zeichen im Gerichts­ saal“52 erstrecken müsse. Selbst diese sehr großzügigen Vorgaben werden in der Realität verfehlt.

48 BVerfG Beschl. v. 14.1.2020 – 2 BvR 1333/17, BVerfGE 153, 1 (44) – Kopftuch III. Zu erinnern ist daran, dass der Fall eine Referendarin betraf. 49 BVerfG Beschl. v. 14.1.2020 – 2 BvR 1333/17, BVerfGE 153, 1 (44) – Kopftuch III. 50 BVerfG Beschl. v. 14.1.2020 – 2 BvR 1333/17, BVerfGE 153, 1 (47) – Kopftuch III; krit. Classen, JZ 2020, 417. 51 BVerfG Beschl. v. 14.1.2020 – 2 BvR 1333/17, BVerfGE 153, 1 (46) – Kopftuch III, krit. Gärditz/Kamil Abdulsalam, ZBB 2023, im Erscheinen; zum Schulbereich BVerfG Urt. v. 24.9.2003 – 2 BvR 1436/02, BVerfGE 108, 282 (299) – Kopftuch; Sacksofsky, Die Kopftuch-Entscheidung – von der religiösen zur föderalen Viel­ falt, NJW 2003, 3297. 52 BVerfG Beschl. v. 14.1.2020 – 2 BvR 1333/17, BVerfGE 153, 1 (41) – Kopftuch III; vgl. für den Schulbereich schon BVerfG Urt. v. 24.9.2003 – 2 BvR 1436/02, BVerfGE 108, 282 (313) – Kopftuch.

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C. Einseitige Neutralität I. Formalisierung der Justiz Das Bundesverfassungsgericht billigt die Annahme der Länder, dass für den Justizbereich (im Unterschied zur staatlichen Gemeinschaftsschule) ein strikter Neutralitätsbegriff gelten könne. So findet die abweichende Meinung der Richter:innen Schluckebier und Hermanns von 2015 zum Beschluss des ersten Senats zum Kopftuch in der Schule Eingang in das Mehrheitsvotum des zweiten Senats: „Die Verpflichtung des Staates auf Neutralität kann keine andere sein als die Verpflichtung seiner Amtsträger auf Neutralität“53. Die Person des Amtswalters werde umso mehr zum personifizierten Staat, je stärker der Staat eine Amtshandlung formalisiere, so dass „abweichende Verhaltensweisen einzelner Amtsträger“ in der Justiz nicht mehr als individuelle Grundrechtsausübung, sondern als dem Staat zurechenbare Verhaltensweisen wahrgenommen würden.54 Doch dieser Schluss ist nicht zwingend: Genauso gut könnte im Gegenteil der hohe Formalisierungsgrad und die Tatsache, dass eben nicht jede Frau in der Justiz ein Kopftuch trägt, deutlich erkennbar werden lassen, dass das Kopftuch der Richterin der in einem säkularen Staat höchst individuellen persönlichen Grundrechtsausübung zuzuordnen ist.55 Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts drücke sich zudem das „Selbstbildnis des Staates“ insbesondere durch die Amtstracht aus.56 Das Kopftuch konterka­ riere die neutralisierende und formalisierte Atmosphäre im Gerichtssaal, in der sich der Staat durch die „überkommenen Traditionen“, „wie das besondere Eintreten des Spruchkörpers in den Sitzungssaal, das Erheben bei wichtigen Prozesssituationen oder die Gestaltung des Gerichtssaals“ so­

53 BVerfG Beschl. v. 14.1.2020 – 2 BvR 1333/17, BVerfGE 153, 1 (37) – Kopftuch III; abweichende Meinung der Richter Hermanns und Schluckebier zu BVerfG Beschl. v. 27.1.2015 – 1 BvR 471, 1181/10, BVerfGE 138, 296 (359, 367) – Kopftuch II; wegbereitend insofern Eckertz-Höfer, Kein Kopftuch auf der Rich­ terbank?, DVBl. 2018, 539 (544). 54 Anders für den Schulbereich BVerfG Urt. v. 24.9.2003 – 2 BvR 1436/02, BVerfGE 108, 282 (305 f.) – Kopftuch. 55 Krit. auch Wiese, Ausdruck von Illiberalität: Kopftuchverbote in Deutschland, NLMR 2021, 5 (11). 56 Zu diesem BVerfG Beschl. v. 14.1.2020 – 2 BvR 1333/17, BVerfGE 153, 1 (38 f.) – Kopftuch III. Krit. mit Blick auf die Pauschalität der Argumentation Maidowksi, Abweichende Meinung, Beschl. v. 14.1.2020 – 2 BvR 1333/17, BVerfGE 153, 1 (54) – Kopftuch III.

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wie durch „Distanz und Gleichmaß“ selbst darstelle.57 Doch das Kopftuch muss nicht zwingend als „abweichend“, sondern kann – bei entsprechen­ den staatlichen Vorgaben zur Farbe oder zum Stoff – mit gutem Willen auch als „ergänzend“ zur Robe wahrgenommen werden.58 Angesichts der Schwere des Eingriffs irritiert es, dass als entscheidendes Argument gegen das Kopftuch die Gerichtsikonographie bemüht wird.59 Zutreffend merken Gärditz und Kamil Abdulsalam an, dass die Rechtspre­ chung „den Richtern“ (Art. 92 GG), also Menschen und keiner „entperso­ nalisierten Rechtsprechungs-Infrastruktur“ anvertraut werde: „Die Gesich­ ter der Justiz als Staatsikonografie sind und bleiben menschlich.“60 Das Bundesverfassungsgericht zeichnet ein steril-nüchternes Bild der Justiz, das sich von der gesellschaftlichen Realität abhebt. Während sich an der be­ kenntnisoffenen Gemeinschaftsschule die „religiös-pluralistische Gesell­ schaft widerspiegeln“61 solle, gelte dies in der Justiz angesichts der Unaus­ weichlichkeit der Situation für Verfahrensbeteiligte nicht. Nur dort, wo der Staat die Funktionsbedingungen gestaltet und auf das äußere Auftre­ ten seiner Repräsentanten Einfluss nimmt, kann nach dieser Rechtspre­ chung das Tragen sichtbarer religiöser Merkmale pauschal verboten wer­ den. Doch für die Landesgesetzgeber spielte diese Dramaturgie eher eine untergeordnete Rolle. Sie stellen nicht auf den Formalisierungsgrad, son­ dern maßgeblich auf die Anwesenheit von Beteiligten oder der Öffentlich­ keit ab. Zwar stärke die Regelung die „neutralisierende Amtstracht“,

57 BVerfG Beschl. v. 14.1.2020 – 2 BvR 1333/17, BVerfGE 153, 1 (39) – Kopftuch III; zur Selbstdarstellung schon Depenheuer, Das öffentliche Amt, in: Isensee/Kirch­ hof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 36 Rn. 54; Häber­ le, Vor einer „Kopftuch III“-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, DVBl. 2018, 1263 (1266). 58 S. schon Berghahn, Staatliche Neutralität zwischen religiösem Pluralismus und wohlfeilem Populismus: Ist ein Kopftuchverbot für Richterinnen und Rechtsrefe­ rendarinnen verfassungskonform?, KJ 2018, 167 (173); Gärditz, in: Herdegen/ Masing/Poscher/Gärditz (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2021, § 13 Rn. 63; Beispiele bei Tomerius, Polizeibeamtinnen mit Kopftuch, Polizeibeamte mit Kippa und Dastar, NVwZ 2022, 212; zur fehlenden Deckungsgleichheit von Neutralität und der durch die Amtstracht verfolgten Sachlichkeit Sinder, Das Kopftuchverbot für Richterinnen, Der Staat 57 (2018) 459 (474). 59 Krit. Muckel, Religionspolitik im Namen der Neutralität?, DÖV 2021, 557 (564); Gärditz/Kamil Abdulsalam, Verfassungsfragen des Gesetzes zur Regelung des Er­ scheinungsbilds von Beamtinnen und Beamten, ZBR 2021, 289 (294) die Neutra­ lität werde „ikonographisch überhöht“. 60 Gärditz/Kamil Abdulsalam, Verfassungsfragen des Gesetzes zur Regelung des Er­ scheinungsbilds von Beamtinnen und Beamten, ZBR 2021, 289 (294). 61 BVerfG Beschl. v. 14.1.2020 – 2 BvR 1333/17, BVerfGE 153, 1 (42) – Kopftuch III.

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gleichwohl greife das Verbot explizit unabhängig von der Amtstracht und vom „formalen äußeren Rahmen einer Sitzung“ für jegliches „nach außen“ wirkende Auftreten – maßgeblich sei nur, ob „unmittelbarer Kontakt“62 mit Zeugen, Sachverständigen oder Verfahrensbeteiligten bestehe, ob mit­ hin eine Amtshandlung Außenkontakt mit „dem Volk“ habe. Auf die neu­ tralisierende Gerichtsatmosphäre stellen die Länder nicht entscheidend ab. So erkennt der Bayerische Verfassungsgerichtshof in dem Anbringen von Kreuzen in Gerichtssälen und dem gleichzeitigen Verbot des Kopftuchs für Justizpersonen keinen Widerspruch, indem er gerade nicht auf das räumliche Setting, sondern die entscheidende Person abstellt. Entschei­ dend sei, dass die Anbringung des Kreuzes an der Wand durch die Ge­ richtsverwaltung und nicht durch die Richterperson erfolge – und die Wand keine Entscheidung treffe.63 II. Misstrauische Mehrheit? Das Bundesverfassungsgericht verweist darauf, dass die Institution der Jus­ tiz zuweilen „auf Widerstand in Teilen der Gesellschaft stoße“ und ergänzt dies um den Zusatz: „Dieser ist auszuhalten.“64 Ein „absolutes Vertrauen“ in der gesamten Bevölkerung sei zwar nicht zu erreichen. Durch Formali­ sierungsbestimmungen könne dieses aber immerhin optimiert werden. Der Gesetzgeber könne das Ziel verfolgen, „die Akzeptanz der Justiz in der Bevölkerung zu stärken“, habe aber darauf zu achten, dass die von ihm ausgemachten Akzeptanzdefizite auf objektiv nachvollziehbaren Umstän­ den beruhen. In dieser Formulierung scheint das Sondervotum zur ersten Kopftuchentscheidung auf. Die abweichenden Richter hatten der Senats­ mehrheit damals vorgeworfen, sich nicht damit auseinandergesetzt zu ha­ ben „ob und mit welchen abwehrenden Reaktionen unter der Mehrheit der andersgläubigen Bürger zu rechnen ist.“65 Auf diese geht die Senats­ 62 63 64 65

Vgl. nur Bay. LT-Drs. 16/1954, 17. BayVerfGH Entsch. v. 14.3.2019 – Vf. 3-VII-18, NVwZ 2019, 721 (724). BVerfG Beschl. v. 14.1.2020 – 2 BvR 1333/17, BVerfGE 153, 1 (40) – Kopftuch III. Jentsch, Di Fabio und Mellinghoff, Abweichende Meinung zu BVerfG Urt. v. 24.9.2003 – 2 BvR 1436/02, BVerfGE 108, 282 (333) – Kopftuch. 1973, im Fall des jüdischen Rechtsanwalts, der sich gegen ein Standkruzifix von 75 cm Höhe und 40 cm Spannweite auf dem Richtertisch wehrte, befand das BVerfG, es könne davon ausgegangen werden, „daß weite Kreise der Bevölkerung gegen die Anbringung von Kreuzen in Gerichtssälen nichts einzuwenden haben“. Ein Widerspruch zur religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates lag angesichts dessen nicht auf der Hand, nur ein Verstoß gegen die negative Glaubensfreiheit

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mehrheit diesmal implizit ein. Das zentrale Funktions- und Vertrauensar­ gument speist sich gerade aus der Annahme, das Kopftuch könne beim ob­ jektiven Dritten – der personifizierten Mehrheitsgesellschaft – negative, von Vorurteilen geprägte Assoziationsketten hervorrufen, für die die Amts­ trägerin gar keinen Anlass geben muss. Hierfür genügen geläufige Stereo­ type der vermeintlich fremdgesteuerten, den Staat unterwandernden Mus­ limin, die durch einschlägiges mediales Framing jahrelang genährt66 und auch im rechtswissenschaftlichen Diskurs unermüdlich bemüht wurden.67 So wurde schon im Vorfeld immer wieder darauf hingewiesen, mit dem Kopftuch im Gerichtssaal werde „im heutigen gesellschaftlichen Kontext die Akzeptanzschwelle überschritten“68. Im Kopftuch III-Beschluss führt die Senatsmehrheit aus, der Staat dürfe „Maßnahmen ergreifen, die die Neutralität der Justiz aus der Sichtweise eines objektiven Dritten unter­ streichen sollen“69. Doch wer ist dieser „objektive Dritte“, dessen Vertrau­ en in die neutrale Amtsführung der jeweiligen Beamtin durch ihr Erschei­ nungsbild beeinträchtigt wird? Und wer ist überhaupt neutral in der Fra­ ge?70 Jedenfalls traut dieser „imaginierte Prozessbeteiligte“ der kopftuchtra­ genden Referendarin oder Richterin auf Grund negativer Zuschreibungen traditionell nicht über den Weg und hält sie für fremdbestimmt.71 Der nie­ dersächsische Gesetzgeber hat einen eindeutigen kulturell-homogenen

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des konkreten Anwalts im Einzelfall, BVerfG Beschl. v. 17.7.1973 – 1 BvR 308/69, BVerfGE 35, 366 (375). Dies eingestehend Eckertz-Höfer, Kein Kopftuch auf der Richterbank?, DVBl. 2018, 539 (543). Insofern besteht eine Parallele zur Diskussion um die Zulassung der Frauen zum Richteramt im 20. Jahrhundert, Sinder, Das Kopftuchverbot für Richterinnen, Der Staat 57 (2018), 459 (475). Eckertz-Höfer, Kein Kopftuch auf der Richterbank?, DVBl. 2018, 537 (543); auch Häberle, Vor einer „Kopftuch III“-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, DVBl. 2018, 1263 (1266); dagegen krit. Berghahn, Staatliche Neutralität zwischen religiösem Pluralismus und wohlfeilem Populismus, KJ 2018, 167 (174). BVerfG Beschl. v. 14.1.2020 – 2 BvR 1333/17, BVerfGE 153, 1 (40) – Kopftuch III. S. die zutreffende Feststellung bei Möllers, Religiöse Freiheit als Gefahr?, VVDStRL 68 (2009), 47 (49): „Staatstheorie schlägt hier nicht selten in Weltan­ schauung um, wissenschaftliche Erkenntnis in ein Bekenntnis“. Krit. schon Samour, Die erkennbare Muslimin als Richterin, djbZ 2018, 12 (13); Sandhu, Gleichmacherei statt Gleichheit, in: VerfBlog, 28.2.2020, DOI: 10.17176/20200228-214725-0; Mangold, Justitias Dresscode, zweiter Akt: Minderheiten im demokratischen Staat, in: VerfBlog, 27.2.2020, DOI: 10.17176/20200228-000653-0 weist zurecht darauf hin, dass eine solche – empi­ risch nicht belegte, sondern lediglich unterstellte – Haltung der Bevölkerung tat­ sächlich ein zu behebendes strukturelles Problem wäre. Zur Argumentationsfigur kritisch Hauck, Weiße Deutungshoheit statt Objektivität: Der „objektive Dritte“

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Empfängerhorizont vor Augen: Maßgeblich sei die Sicht einer „fiktiven dritten Person aus dem Kulturkreis der Bundesrepublik Deutschland“72. Mit der objektiven Perspektive einher geht die Neutralisierung der Sicht eines bürgerlichen Mitglieds der Mehrheitsgesellschaft, wobei wahlweise die christliche oder areligiös-humanistisch geprägte Mehrheitsidentität eine neutrale Einkleidung erfährt.73 Zum Ausdruck kommt darin die un­ geschriebene, die Mehrheitsperspektive widerspiegelnde Prämisse: „Als neutral gilt das Unauffällige.“74 Der baden-württembergische Gesetzgeber will dem gesellschaftlichen Misstrauen vorbeugen und stellt die Befürch­ tung auf, ein Betrachter könne eine kopftuchtragende Juristin als Person wahrnehmen, die „sich wesentlich von vorgefassten Meinungen leiten lässt“75. Belege für diese Annahme böten schließlich „die öffentliche Dis­ kussion im Zusammenhang mit religiös konnotierten Kleidungsstücken auch in der Justiz“76. Schon 2003 führte die vom Bundesverfassungsgericht betonte Einschätzungsprärogative im Schulkontext dazu, dass für das je­ weilige Neutralitätsverständnis die vorherrschende Kultur bzw. Religion eines Landes als maßgeblich definiert wurde.77 Während der Berliner Ge­

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und die systematische Abwertung rassismuserfahrener Perspektiven, Zeitschrift für Rechtssoziologie 42 (2022), 1 (5). Nds. LT-Drs. 18/4394, 27. Dies weckt Erinnerungen an die längst aufgegebene Kulturadäquanz-Formel des BVerfG zur Bestimmung des Schutzbereichs des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG. Danach unterfiel eine Glaubensüberzeugung nur dann dem Grundrechtsschutz, wenn sie „sich bei den heutigen Kulturvölkern auf dem Boden gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen im Lauf der geschichtlichen Entwicklung herausgebildet hat“, BVerfG Beschl. v. 8.11.1960 – 1 BvR 59/56, BVerfGE 12, 1 (4) – Glaubensabwerbung. Krit. zu einem „agnostizistisch verstandenen ‚Neutralismus‘“ im Rang einer „Staatsideologie bzw. negativen Staatskonfession“ Heckel, Das Kreuz im öffentli­ chen Raum — Zum „Kruzifix-Beschluss“ des Bundesverfassungsgerichts, DVBl. 1996, 453 (473); vgl. in diesem Kontext auch Ladeur/Augsberg, Der Mythos vom neutralen Staat, JZ 2007, 12. Berghahn, Staatliche Neutralität zwischen religiösem Pluralismus und wohlfei­ lem Populismus: Ist ein Kopftuchverbot für Richterinnen und Rechtsreferen­ darinnen verfassungskonform?, KJ 2018, 167 (173); vgl auch Mangold, Justiti­ as Dresscode: Wie das BVerfG Neutralität mit „Normalität“ verwechselt, in: VerfBlog, 6.7.2017, DOI: 10.17176/20170706-155732. BW LT-Drs. 16/1954, 10. Paradoxerweise legitimiert der Gesetzgeber dadurch das Misstrauen. BW LT-Drs. 16/1954, 11. Entsprechend waren die Plenardebatten zum Kopftuch in der Schule von antimuslimischen Vorurteilen geprägt, aufschlussreich insofern die politikwissen­ schaftliche Analyse von Henkes/Kneip, Von offener Neutralität zu (unintendier­ tem) Laizismus: Das Kopftuch zwischen demokratischen Mehrheitswillen und

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setzgeber unter Verweis auf die pluralistische Vielfalt der großstädtischen Bevölkerung die staatliche Neutralität im Sinne einer distanzierenden Lai­ zität78 forcierte, um das Zusammenleben unterschiedlichster Konfessionen zu ermöglichen,79 rechtfertigten stärker römisch-katholisch geprägte Län­ der das Verbot mit der kulturprägenden Kraft der Mehrheitsreligion und postulierten ein einseitig privilegierendes Neutralitätsverständnis. Für den hessischen Gesetzgeber, dessen Verbotsregelung dem Bundesverfassungs­ gericht im Fall der Rechtsreferendarin vorlag, beruht der gesellschaftliche Zusammenhalt maßgeblich auf den „historisch verwurzelten Wertüber­ zeugungen […], die vor allem durch das Christentum als prägenden Bil­ dungs- und Kulturfaktor in Hessen bestehen“80. So stellt der bayerische Ge­ setzgeber im Bereich der Justiz bewusst nicht auf die weltanschaulich-reli­ giöse Neutralität aus Art. 4 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3 Satz 1, Art. 33 Abs. 3 GG, Art. 136 Abs. 1 und 4 und Art. 137 Abs. 1 WRV iVm Art. 140 GG, sondern auf das „Neutralitätsgebot als Grundpfeiler des Rechtsstaatsgebots“ aus Art. 20 Abs. 3 GG ab.81 Er geht davon aus, dass für die Entscheidung Pro oder Contra Kopftuchverbot „die konfessionelle Zusammensetzung der Bevölkerung und ihre religiöse Verwurzelung“82 maßgeblich seien. Auch bei der Schulgesetzgebung ging es Bayern nicht um die weltanschaulichreligiöse Neutralität des Staates, sondern in erster Linie um die Verteidi­ gung der „christlich-abendländischen Bildungs- und Kulturwerte“83 der Verfassung. Die so verstandenen – vorgeblich säkularisierten – Grundwer­ te der Verfassung könne eine kopftuchtragende Lehrkraft nicht glaubhaft vermitteln, denn ihre Religion widerspreche augenscheinlich der der Ver­

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rechtsstaatlichen Schranken, Leviathan – Berliner Zeitschrift für Sozialwissen­ schaft 38 (2010), 589 (598 ff.). Eine „identitäre Kulturalisierung von Neutralität“ in abstrakten Anscheinsvermutungen erkennend Gärditz, in: Herdegen/Masing/ Poscher/Gärditz (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2021, § 13 Rn. 63. Insb. Berlin, vgl. Abgeordnetenhaus Drs. 17/3774, 9. Die Missachtung des BVerfG-Judikats als „säkularen Fundamentalismus“ bezeichnend und krit. zum Rechtsungehorsam der Berliner Bildungsverwaltung Hecker, Die Kopftuchdebat­ te, 2022, S. 14, 133 und S. 174 f. Abgeordnetenhaus Bln Drs. 15/3249, 16; ähnl. NRW LT-Drs. 17/3774, 9. Hess. LT-Drs. 16/1897, 4, wonach bei der Beurteilung der objektiven Wirkung „auch die historisch verwurzelten Wertüberzeugungen Beachtung finden, die vor allem durch das Christentum als prägenden Bildungs- und Kulturfaktor in Hessen bestehen, auf denen der gesellschaftliche Zusammenhalt beruht und die für die Erfüllung der Aufgaben des Staates maßgebend sind.“ Bay. LT-Drs. 17/18836, 37 erwähnt auch die negative Religionsfreiheit nicht. Bay. LT-Drs. 15/368, 1. Bay. LT-Drs. 15/368, 1; VerfGH Bayern Entsch. v. 1.8.1997 – Vf. 6-VII/96 VerfGHE 50, 156 (167).

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fassung zugrunde liegenden Staats- und Gesellschaftsordnung, die auf die „mehr als tausendjährige Geschichte Bayerns, die geprägt ist durch die Ver­ wurzelung des Landes in der christlich-abendländischen Tradition“84 ver­ weise. Der vor dieser Folie imaginierte „objektive“ oder „verständige Be­ trachter, der seinerseits auf dem Boden der bayerischen Verfassung und des Grundgesetzes steht“85, könne der kopftuchtragenden Beamtin nur ab­ lehnend gegenüberstehen. Wenn nun das Bundesverfassungsgericht darauf verweist, dass es bei der Aufgabe Recht zu sprechen auch darum gehe, „die Werte, die das Grundgesetz der Justiz zuschreibt, zu verkörpern“, dann fragt sich ganz grundlegend, welchen Inhalt vor dem Hintergrund der divergierenden Selbstverständnisse der Länder diese Werte haben und ob diese prinzipi­ ell nur durch die Mehrheit glaubhaft verkörpert werden können.86 Musli­ me bilden bereits aus soziologischer Betrachtung keine homogene Subkul­ tur87, die sich in Ablehnung und Abgrenzung zur Hauptkultur definiert. Die überwältigende Mehrheit identifiziert sich mit der deutschen Staatsund Gesellschaftsordnung, lebt rechtstreu und teilt den Wertekanon des Grundgesetzes und die grundlegenden Verfassungswerte.88 Verbotsgesetze stellen dies aber grundlegend in Frage. Zu Recht weist Barskanmaz inso­ fern darauf hin, dass durch den „objektiven Empfängerhorizont“ bestehen­ de „Hierarchien zwischen gesellschaftlichen Gruppen ausgeblendet und so ein vorgeblich herrschaftsfreier Raum kreiert [werde], in dem allen Deutungen des Kopftuchs gleichwertige Gewichtung zukomme.“89 Die kopftuchtragende Muslimin werde dabei „zur ewig integrationsbedürfti­ gen Personen stilisiert.“90 84 85 86 87

VerfGH Bayern Entsch. v. 15.1.2007 – Vf. 11-VII-05, NVwZ 2008, 420 (422). VerfGH Bayern Entsch. v. 15.1.2007 – Vf. 11-VII-05, NVwZ 2008, 420 (421). BVerfG Beschl. v. 14.1.2020 – 2 BvR 1333/17, BVerfGE 153, 1 (48) – Kopftuch III. S. aber die Ausführungen des ehemaligen RiBVerfG Di Fabio, wonach „Subkultu­ ren“, die „unter der hellen Oberfläche universeller Menschenrechte und aufge­ klärter Toleranz“ wüchsen und „mit der vorherrschenden Auffassung von Ver­ nunft nicht recht vereinbar“, auf ihren Platz zu verweisen seien, Begegnung mit dem Absoluten, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 22.12.2016, Nr. 299, 6. 88 Vgl. auch Bertelsmann-Stiftung, Religionsmonitor 2017, https://www.bertelsman n-stiftung.de/de/unsere-projekte/religionsmonitor/projektthemen/religionsmonit or-2017-muslime-in-europa/ (letzter Abruf am: 25.10.2022). 89 Barskanmaz, Das Kopftuch als das Andere. Eine notwendige postkoloniale Kritik des deutschen Rechtsdiskurses, in: Berghahn/Rostock (Hrsg.), Der Stoff aus dem Konflikte sind, 2009, 361 (379). 90 Barskanmaz, Das Kopftuch als das Andere. Eine notwendige postkoloniale Kritik des deutschen Rechtsdiskurses, in: Berghahn/Rostock (Hrsg.), Der Stoff aus dem Konflikte sind, 2009, 361 (380).

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Deutlichster Ausdruck dafür, dass Neutralität einseitig aus der Mehr­ heitsperspektive definiert wird, sind die sogenannten „Abendlandklau­ seln“. So war gemäß § 45 S. 3 HessBG, der Rechtsgrundlage für das Kopf­ tuchverbot im Rechtsreferendariat, bei der Entscheidung über das Verbot religiöser Kleidung oder Symbole gleichzeitig der „christlich und humanis­ tisch geprägten abendländischen Tradition des Landes Hessen angemessen Rechnung zu tragen“91. Ob ein neutrales Verhalten im Sinne der Neutrali­ tätsgesetze vorliegt, ist danach im Lichte der christlich und humanistisch geprägten abendländischen Tradition eines Landes zu bestimmen. In der Gesetzesbegründung heißt es dabei gleichheitswidrig: „All jene Erken­ nungsmerkmale, die der christlich und humanistisch geprägten abendlän­ dischen Tradition Hessens entsprechen, bleiben zulässig“92. Während der erste Senat eine vergleichbare Regelung in § 57 Abs. 4 S. 3 SchulG NRW wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 3 S. 1 und Art. 33 Abs. 3 GG für nichtig erklärt hatte,93 erachtet der zweite Senat diese Privilegierung in der Ent­ scheidung zum juristischen Vorbereitungsdienst für verfassungskonform auslegbar. Er stellt sich auf den Standpunkt der formalen Gleichheit: So­ lange nur alle Äußerungen formal vom Verbot erfasst würden, sei dies legi­ timer Ausdruck einer wie auch immer gearteten Neutralitätskonzeption. Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 und 3 S. 1 GG, Art. 4 Abs. 1, 2 GG liege nicht vor. Der Gesetzgeber möge „eine Privilegierung christlicher Bekun­ dungen für möglich gehalten haben“, habe aber dadurch, dass er die Be­ stimmung der konkret zulässigen Symbole der behördlichen Einzelfallent­ scheidung überantwortete zu erkennen gegeben, dass auch christliche Ver­ bote grundsätzlich dem Wortlaut unterfallen würden.94 Eine einseitige Privilegierung findet sich auch im bayerischen Recht. So erfasst das Verbot in BayRiStAG nach dem Willen des Gesetzgebers nur Kopftuch, Kippa und ein „auffällig getragenes Kreuz“.95 Doch die Diffe­ renzierung zwischen gewichtigen und weniger gewichtigen Zeichen ist selbst nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs eine grund­

91 § 45 HessBG lautet nun „Erscheinungsbild der Beamtinnen und Beamten“ und verweist auf § 34 BeamtStG, G. v. 15.11.2021 (GVBl. Nr. 46, 718). Eine ähnliche Regelung findet sich aber noch in Art. 59 Abs. 2 S. 4 BayEUG. 92 Hess. LT-Drs. 16/1897 neu, 4. 93 BVerfG Beschl. v. 27.1.2015 – 1 BvR 471, 1181/10, BVerfGE 138, 296 (346 ff.) – Kopftuch II. 94 BVerfG Beschl. v. 14.1.2020 – 2 BvR 1333/17, BVerfGE 153, 1 (52 f.) – Kopftuch III. 95 Bay. LT-Drs. 17/18836, 38.

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sätzlich unzulässige unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion.96 Flankiert (bzw. konterkariert) wird das Neutralitätsgebot durch § 28 der Allgemeinen Geschäftsordnung (AGO) für die Behörden des Freistaats, der „als Ausdruck der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns“ die Pflicht zur Anbringung von Kreuzen im Eingangsbereich aller Dienstge­ bäude statuiert.97 Nach Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs München verletzt dies zwar immerhin die objektiv-rechtliche Pflicht des Staates zur weltanschaulich-religiösen Neutralität, allerdings begründe diese für die klagende Weltanschauungsgemeinschaft keine subjektiven Rechte.98 In der richterlichen Würdigung wird die Deutung religiöser Symbole und Kleidungsstücke aus der Mehrheitsperspektive deutlich: So seien die nega­ tive Glaubensfreiheit oder das Gleichheitsrecht religiöser Minderheiten nicht betroffen, da das Kreuz als „passives Symbol ohne missionierende oder indoktrinierende Wirkung“ keine beeinträchtigende Wirkung habe,99 während das Kopftuch pauschal als konfliktträchtiger Stoff100 wahrgenom­ men wird. Die Münchner Richter:innen begnügen sich mit Privatempirie und rekurrieren auf die „allgemeine Lebenserfahrung“, wonach ein Kreuz

96 Vgl. zu einer entsprechenden betrieblichen Neutralitätsregel EuGH, Urt. v. 15.7.2021 – C-804/18, C-341/19, ECLI:EU:C:2021:594, Rn. 72 f. – Müller; anders aber BayVerfGH Entsch. v. 14.3.2019 – Vf. 3-VII-18, NVwZ 2019, 721 Rn. 41 ff.; krit. hierzu Sandhu, Erwiderung auf Heinig – Vier Gegenthesen, BDVR-Rund­ schreiben – Zeitschrift für die Verwaltungsgerichtsbarkeit, 2/2019, 19. 97 Allgemeine Geschäftsordnung für die Behörden des Freistaats Bayern (AGO), Änderung v. 1.6.2018 (GVBl. 281). Nach § 36 AGO wird dies auch Gemeinden, Landkreisen, Bezirken und sonstigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts empfohlen, also auch Universitäten. 98 VGH München Urt. v. 1.6.2022 – 5 B 22.674, S. 13. Krit. Tischbirek, Wo ein Klä­ ger, da kein Richter?, Zu den „Kreuzerlass“-Urteilen des Bayerischen Verwal­ tungsgerichtshofes, in: VerfBlog, 7.9.2022, DOI: 10.17176/20220907-230641-0. 99 VGH München Urt. v. 1.6.2022 – 5 B 22.674, S. 14; EGMR Urt. v. 18.3.2011, 30814/06, NVwZ 2011, 737 – Lautsi. 100 Zum Einfluss kolonialistisch geprägter Bilder auf die deutsche Rechtsprechung zum Kopftuch aus diskursanalytischer Perspektive Barskanmaz, Das Kopftuch als das Andere. Eine notwendige postkoloniale Kritik des deutschen Rechtsdis­ kurses, in: Berghahn/Rostock (Hrsg.), Der Stoff aus dem Konflikte sind, 2009, 361 (372 ff.); zur „biased interpretation“ des EGMR Romero, The European Court of Human Rights and Religion: Between Christian Neutrality and the Fe­ ar of Islam, NZJPIL 11 (2013), 75 (83, 95), die zu dem Schluss kommt: „With its simplistic and reductive reading of Islamic rules and traditions, the Court might end up contributing to the negative stereotyping pf public manifestations of the Islamic faith” (101); zur unterschiedlichen Wahrnehmung religiöser Praktiken auch Bade, Die Identität der Mehrheit und die Grenzen ihres Schutzes, AöR 142 (2017), 566 (592 f.).

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im Eingangsbereich eines Dienstgebäudes nur „flüchtig“ wahrgenommen werde, im öffentlichen Raum „an zahlreichen Stellen“ das Straßenbild prä­ ge und der Einzelne dem Glaubenssymbol ausweichen könne.101 Unab­ hängig von der dabei nicht gewürdigten Tatsache, dass nach § 28 AGO ex­ plizit das Kreuz „gut sichtbar“ angebracht werden muss, sticht die recht einseitige und homogene Lebenserfahrung des Senats bei der Beurteilung religiöser Symboliken in Dienstgebäuden ins Auge. Diese Abwehrreflexe beruhen auf der vermeintlichen Dichotomie zwi­ schen der individuellen Religionsausübung einer Minderheit und der kol­ lektiven kulturellen Identität. Das individuelle Tragen des Kopftuchs im Staatsdienst relativiert nicht den christlich geprägten Kulturbegriff des freiheitlich säkularen Staates.102 Dieser kann „in neutraler Offenheit re­ spektiert“103 sowie als historisch-kulturell bedeutsame Tatsache vermittelt werden, ohne gleichzeitig die Entfaltungsfreiheit anderer Religionen in paritätischer Gleichheit in Frage zu stellen. Mit der Verbotsgesetzgebung wird unter dem Deckmantel der Neutralität104 eine Mehrheitsidentität pauschal präventiv verteidigt, die aber durch ein individuell getragenes Kopftuch gar nicht bedroht ist. Verfehlt ist schon die ungeschrieben zugrunde gelegte Prämisse, das Kopftuch sei per se als Ausdruck einer ablehnenden Haltung gegenüber der Werteordnung des Grundgesetzes zu deuten. Justizneutralitätsgesetze ordnen das Prinzip materialer Gleichheit und individueller Freiheitsausübung einer historisch-gewachsenen, aller­ dings erst in Abgrenzung zum „Fremden“ definierten105 Mehrheitsidenti­ tät unter.106 Die staatliche Neutralität verlangt gerade keine Indifferenz 101 VGH München Urt. v. 1.6.2022 – 5 B 22.674, S. 14. 102 In diese Richtung aber Nettesheim, Liberaler Verfassungsstaat und gutes Leben, 2017, S. 84 f., materiale Gleichheit sei eine Form „‘liberaler‘ Kolonialisierung des öffentlichen Raums“. 103 Heckel, Das Kreuz im öffentlichen Raum – Zum „Kruzifix-Beschluss“ des Bun­ desverfassungsgerichts, DVBl. 1996, 453 (482); vgl. die scharfe Analyse von Mah­ mood, Religious Difference in a Secular Age: A Minority Report, 2016, S. 87: “on the one hand, the modern state enshrines majoritarian values in the social and legal norms of the nation; on the other, it holds out the promise that sates can be a neutral arbiter of religious differences”. 104 Zu Neutralitätsanforderungen als „Instrument […] kollektiver Kulturpflege“ Gärditz/Kamil Abdulsalam, Verfassungsfragen des Gesetzes zur Regelung des Erscheinungsbilds von Beamtinnen und Beamten, ZBR 2021, 289 (295). 105 Auf diesen Reflex weist Orgard hin: “Muslim migrants have pushed Europeans to reaffirm, even if symbolically, their Christian heritage”, The Cultural Defense of Nations, 2015, S. 77. 106 Explizit fordert Orgad, The Cultural Defense of Nations, 2015, S. 112 im Migra­ tionskontext einen “civic” bzw. “cultural nationalism”. Zu entsprechenden For­

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oder gar die prinzipielle Ausgrenzung des Religiösen aus dem staatlichen Wirkungsbereich, sie ermöglicht vielmehr die Bewahrung des historischkulturellen und religiösen Erbes unter gleichzeitiger Gewährleistung, dass der Staat „Heimstatt aller Staatsbürger“107 ist.108 In einer von religiöser Vielfalt geprägten Gesellschaft109 ist das offene Neutralitätsverständnis die Voraussetzung dafür, dass die positive Religionsfreiheit der verschiedenen Bekenntnisse gleichberechtigt zum Ausdruck kommen kann und zugleich die prägende Mehrheitsidentität nicht negiert werden muss.110 Eine Gren­ ze ist jedoch dann erreicht, wenn der von der Mehrheit abweichenden Glaubensausübung eingeschränkter Raum zur Entfaltung geboten wird, wenn sie durch staatliche Abwehrreflexe aus dem öffentlichen Raum aktiv verbannt wird. Je stärker der Staat ein entsprechendes Selbstbild prägt, das von der Mehrheitsreligion und -kultur getragen wird, desto eher gebie­ tet die weltanschaulich-religiöse Neutralität die Einbettung abweichender religiöser Praktiken.111 In den Worten Horst Dreiers: Der säkulare Staat „bildet kein Gegenwicht zum Glauben, sondern bietet diesem eine Platt­

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derungen in Deutschland, die „Stützung einer bestimmten Identitätskonzepti­ on“ als genuinen Verfassungswert anzuerkennen, der dem Gesetzgeber ermögli­ chen soll, traditionell verankerten oder „von einer überaus großen Mehrheit ge­ pflegt[en]“ Lebensweisen eine besondere Wertschätzung entgegenzubringen, Nettesheim, Liberaler Verfassungsstaat und gutes Leben, 2017, S. 72. BVerfG Urt. v. 14.12.1965 – 1 BvR 413, 416/60, BVerfGE 19, 206 (216) – Kir­ chenbausteuer; BVerfG Beschl. v. 14.1.2020 – 2 BvR 1333/17, BVerfGE 153, 1 (36) – Kopftuch III. Bade, Die Identität der Mehrheit und die Grenzen ihres Schutzes, AöR 142 (2017), 566 (581); Kästner, in: Bonner Kommentar GG, Stand 2010, Art. 140 GG Rn. 122. Die Gesellschaft ist nicht areligiöser, sondern nur religiös pluraler geworden, vgl. Dreier, Säkularisierung und Sakralität, in: Gröscher/Jestaedt/Schneider (Hrsg.), Fundamenta Juris Publici, 2013, 1 (5), wonach Entkirchlichung nicht mit Religionsschwund gleichzusetzen ist; Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität: Erfordern weltanschauliche und religiöse Entwick­ lungen Antworten des Staates?, in: Verhandlungen des 68. DJT, 2010, I, D 1 (16 ff.). Bade, Die Identität der Mehrheit und die Grenzen ihres Schutzes, AöR 142 (2017), 566 (580); Heckel, Das Kreuz im öffentlichen Raum – Zum „Kruzifix-Be­ schluss“ des Bundesverfassungsgerichts, DVBl. 1996, 453 (473) zum Zusammen­ spiel „der Neutralität staatlicher Distanzierung und Respektierung“ (Hervorhe­ bung im Original). Insofern eine Übertragung der “reasonable accomodation” aus dem anglo-ameri­ kanischen Rechtskreis postulierend Bade, Die Identität der Mehrheit und die Grenzen ihres Schutzes, AöR 142 (2017), 566 (589 f.).

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form.“112 Will der Staat verhindern, dass aus der in einer homogenen Ge­ sellschaft einheitsverbürgenden Kraft von Religion in einer pluralistischen Gesellschaft eine dissoziative wird, muss er allen Religionen innerhalb des Rahmens der freiheitlich verfassten Grundordnung gleichermaßen Entfal­ tungsfreiheit im öffentlichen Raum gewähren. III. Gleichheit als Verfassungsauftrag Inwiefern der Individualität im öffentlichen Dienst Ausdruck verliehen werden darf, ohne dass das Vertrauen der Bevölkerung in die Funktionsfä­ higkeit und Neutralität der Amtspersonen beeinträchtigt wird, bestimmt sich im Dienstrecht traditionell nach den allgemeinen gesellschaftlichen Anschauungen und ändert sich entsprechend der sich wandelnden Bevöl­ kerung.113 Je höher die Akzeptanz von Ohrschmuck, Tattoos oder männli­ chen Langhaarfrisuren in der Gesellschaft, so die dienstrechtliche Judika­ tur, desto weniger ist die Repräsentations- und Vertrauensfunktion unifor­ mierter Beamten gefährdet.114 Zur Ermittlung des Grads der Ablehnung bemühen die Gerichte – anders als bei der Frage der Akzeptanz des Kopf­ tuchs115 – demoskopische Umfragen und empirische Erhebungen. Doch während Piercings, Tattoos oder sonstige Modeerscheinungen von Beam­ tinnen und Beamten Ausdruck der freien Persönlichkeitsentfaltung sind, ist der Verweis auf die gesellschaftliche Akzeptanz als Gradmesser für die Beurteilung der Vertrauenswürdigkeit bei religiösen Minderheiten ver­ fehlt. Das Maß der Sichtbarkeit unterschiedlicher religiöser Zugehörigkeit von Beamt:innen kann gerade nicht durch die vorherrschenden gesell­ schaftlichen Anschauungen bestimmt werden. Dies stellte das Forum exter­ num der individuellen Religionsausübungsfreiheit einer Minderheit stets zur Disposition der Mehrheit und liefe dem Paritätsversprechen des welt­ anschaulich-religiös neutralen Staates zuwider, das maßgeblich in Art. 4 112 Dreier, Säkularisierung und Sakralität, in: Gröscher/Jestaedt/Schneider (Hrsg.), Fundamenta Juris Publici, 2013, 1 (38). 113 Zum Tattoo von Polizeivollzugsbeamten BVerwG Urt. v. 17.11.2017 – 2 C 25/17, BVerwGE 160, 370 (382 f.). 114 BVerwG Urt. v. 17.11.2017 – 2 C 25/17, BVerwGE 160, 370 (383). 115 Hatte das Bundesverfassungsgericht im ersten Kopftuchfall noch die Empirie bemüht, um die Wirkung des Kopftuchs der Lehrerin auf Schulkinder und Eltern sachverständig aufklären zu lassen, wurde der Boden empirischer Sozi­ alforschung im Justizdiskurs zu Gunsten des objektiven Empfängerhorizonts gar nicht erst betreten. Die Kopftuch III-Entscheidung erging ohne mündliche Verhandlung und Sachverständigenanhörung.

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Justizneutralitätsgesetze als Exklusionsmechanismen

Abs. 1, 2, Art. 3 Abs. 3, Art. 33 Abs. 3 GG wurzelt. Es spielt für die Reich­ weite der individuellen Glaubensfreiheit prinzipiell keine Rolle, ob die Person einer der beiden großen Kirchen angehört oder einer eher rand­ ständigen Minderheit. Keine Beamtin muss grundsätzlich ihr individuelles Bekenntnis am Behördeneingang abgeben.116 Gleichstellungsrechte sind keine Frage gesellschaftlicher Anschauungen, sie sollen im Gegenteil be­ nachteiligende Vorverurteilungen abbauen. D. Exklusionsmechanismus In einem Essay, der die aktuellen Studien- und Datenlage zusammenträgt, wird für die Justiz ein Diversitätsdefizit konstatiert.117 Menschen mit Mi­ grationsgeschichte sind in fast allen Bereichen der Rechtswissenschaft und Rechtspraxis unterrepräsentiert. Als Gründe werden Exklusionsmechanis­ men benannt, wie etwa die Benachteiligung im Bildungswesen, Diskrimi­ nierungserfahrungen mit der Staatsgewalt oder das Fehlen von Vorbildern. Doch es existieren handfeste Exklusionsmechanismen wie die im letzten Jahrzehnt um sich greifenden Justizneutralitätsgesetze in Bund und Län­ dern.118 Weder Bildungsferne noch Sprachschwächen sind Grund für ihre Ablehnung, sondern die sichtbare Religionszugehörigkeit. Schon 2003 wies das Bundesverfassungsgericht darauf hin, dass Kopftuchverbote eine „besondere Ausschlusswirkung für bestimmte Gruppen“119 zeitigen. Die Diskriminierungswirkung betrifft fast ausschließlich Frauen, oftmals zu­

116 Vgl. schon Böckenförde, „Kopftuchstreit“ auf dem richtigen Weg?, NJW 2001, 723 (725); Sinder, Das Kopftuchverbot für Richterinnen, Der Staat 57 (2018), 459 (472), im Kontrast zu GA Kokott, Schlussanträge v. 31.5.2016 – C-157/15, ECLI:EU:C:2016:382, Rn. 116, religiöse Merkmale könnten „an der Garderobe abgegeben“ werden. 117 Grünberger/Mangold/Markard/Payandeh/Towfigh, Diversität in Rechtswissen­ schaft und Rechtspraxis, 2021, S. 36 ff. 118 Eine Übersicht über die deutsche Verbotsgesetzgebung findet sich im Länderre­ port der Open Society Initiative, Restrictions on Muslim Women’s Dress in the 27 EU Member States and the United Kingdom. Current Law, Recent Legal De­ velopments and the State of Play, March 2022, S. 93 ff., abrufbar unter www.justi ceinitative.org (letzter Abruf am: 25.10.2022). 119 BVerfG, Urt. v. 24.9.2003 – 2 BvR 1436/02, BVerfGE 108, 282 (312 f.) – Kopf­ tuch.

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dem nicht-deutscher Herkunft.120 Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch spricht von „Diskriminierung im Namen der Neutralität“121, eine Studie der Open Society Initiative sieht in der Neutralitätsgesetzge­ bung eine „zeitgenössische Form des Rassismus“122, in jedem Fall aber sind die Verbotsgesetze „Ausdruck von Illiberalität“123. Nicht die Sichtbar­ keit von Religiosität im Staatsdienst, sondern vielmehr das Fehlen von Di­ versität124 und wiederkehrende Skandale125 sowie strukturelle Diskriminie­ rung gefährden das Vertrauen in die Justiz und ihre Funktionsfähigkeit.126 Zumindest vor der Kopftuchdebatte in der Justiz galten insbesondere ein 120 Berghahn, Deutschlands konfrontativer Umgang mit dem Kopftuch der Lehre­ rin, in: Berghahn/Rostock (Hrsg.), Der Stoff aus dem Konflikte sind, 33 (67): „Musterbeispiel für intersektionelle Diskriminierung“. 121 HRW, Diskriminierung im Namen der Neutralität. Kopftuchverbote für Lehr­ kräfte und Beamte in Deutschland, Februar 2009, abrufbar unter https://www.hr w.org/de/report/2009/02/26/diskriminierung-im-namen-der-neutralitat/kopftuch verbote-fur-lehrkrafte-und (letzter Abruf am: 25.10.2022). 122 Hutten/Mustafa, Contesting Neutrality Dress Codes in Europe, 2022, S. 4: “The claim of ‚neutrality‘ disguises a contemporary form of racism, whereby certain religious minorities are racialized and excluded in the name of a principle that may once have been adopted for their protection.” („Hinter dem Neutralitätsbe­ griff verbirgt sich eine zeitgenössische Form des Rassismus, bei der religiöse Minderheiten rassifiziert und im Namen eines Prinzips ausgeschlossen werden, dass einst zu ihrem Schutz geschaffen worden ist.“). 123 Wiese, Ausdruck von Illiberalität: Kopftuchverbote in Deutschland, NLMR 2021, 5. 124 Aus demokratietheoretischer Sicht Mangold, Repräsentation von Frauen und Minderheiten als Problem der Demokratietheorie, in: Eckertz-Höfer/SchulerHarms (Hrsg.), Gleichberechtigung und Demokratie – Gleichberechtigung in der Demokratie: (Rechts-) Wissenschaftliche Annäherungen, 2019, 109; vgl. auch Limbach, Die Akzeptanz verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, in: So­ ziologie des Rechts, FS Erhard Blankenburg, 1998, 207 (219) zum höheren „Erfahrungsaufgebot“ einer divers zusammengesetzten Richterbank. 125 Einen „rechten Marsch durch die Institutionen“ dokumentieren die Berichte von Gürgen (Der Neukölln-Komplex und die Berliner Justiz, 39 ff.), Gelhaar (Im Namen der Neutralitätspflicht, 77 ff.) und Fahrner (Rechte Richter*innen und verbale Ausfälle, 145 ff.), in: Austermann/Fischer-Lescano/Kaleck/Kleffner/Lang/ Pchl/Steinke/Vetter, (Hrsg.), Recht gegen rechts Report 2022. 126 Vgl. nur Jäger, Unbewusste Vorurteile im Gerichtssaal, in: Deutsches Institut für Menschenrechte (Hrsg.), Rassistische Straftaten erkennen und verhandeln, 2018, 48 ff., zu entsprechender Forschung aus den Vereinigten Staaten, wonach (unbe­ wusste) rassistische Zuschreibungen von Richterpersonen der Mehrheitsgesell­ schaft sich in der Verurteilungswahrscheinlichkeit und im Strafmaß schwarzer Angeklagter niederschlagen; zur Notwendigkeit interkultureller Kompetenz in der Justiz bspw. bei der Glaubhaftigkeitsbeurteilung Samadzade, Interkulturelle Kompetenz. Voraussetzung für ein faires Verfahren und Zukunftsaufgabe der

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als gerecht empfundenes Rechtssystem, transparente Entscheidungsfin­ dung und die hohe Qualität von Gerichtsentscheidungen als entscheiden­ de Voraussetzung für das Vertrauen in die Justiz.127 Entsprechend tief sank das Vertrauen im Sommer 2022 nach zwei Jahren pandemischem Ausnah­ mezustands128: Erstmals gaben 30 % der Befragten an, der Justiz eher nicht zu vertrauen.129 Eine gleichheitsorientierte Betrachtung macht deutlich, dass wenn grundlegende Pfeiler der geltenden grundgesetzlichen Ordnung über das Verhältnis Staat und Religion, religionspolitische Leitbilder oder das Bürgerschaftsmodell für alle130 neu verhandelt werden sollen, dies einer allgemeinen Debatte über das Grundgesetz, womöglich sogar in einem Verfassungskonvent bedarf. Jedenfalls ist es verfehlt, dies unter In­ fragestellung der gleichen Würde und individuellen Grundrechte auf dem Rücken einer Minderheit auszuhandeln. Seit Jahrzehnten steht das Kopf­ tuch im Staatsdienst stellvertretend für die Gretchenfrage131 der deutschen Innenpolitik ob der Islam zu Deutschland gehöre. Die gelebte Realität fä­

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Justiz, in: Deutsches Institut für Menschenrechte (Hrsg.), Rassistische Straftaten erkennen und verhandeln, 2018, 55. Frank, Vertrauen in die Justiz: Voraussetzungen – Gefährdungen, in: Ass­ mann/Baasner/Wertheimer (Hrsg.), Vertrauen, 2014, 43. Zu diesem Barczak, Der nervöse Staat. Ausnahmezustand und Resilienz des Rechts in der Sicherheitsgesellschaft, 2. Aufl. 2021, S. 685 ff.; zur mageren Bilanz des gerichtlichen Rechtsschutzes und dem dadurch bedingten Vertrauensverlust Blankenagel, Did Constitution Matter?, JZ 2021, 702 (708 f.). Standard-Eurobarometer 97, Die öffentliche Meinung in der Europäischen Uni­ on, S. T28, abrufbar unter https://europa.eu/eurobarometer/api/deliverable/dow nload/file?deliverableId=83436 (letzter Abruf am: 25.10.2022). Im Ausgangsfall des Streits um das Kopftuch der Lehrerin befand das Verwal­ tungsgericht Stuttgart, dass die christliche Wertentscheidung der Landesverfas­ sung dahingehend verstanden werden könne, „dass für Lehrer, die nichtchristli­ chen Religionen anhängen, ihre Religionsausübung im Dienst wohl nur unter engeren Voraussetzungen möglich ist als dies bei Lehrern der Fall ist, die christ­ lichen Religionen anhängen.“, Urt. v. 24.3.2000 – 15 K 532/99, NVwZ 2000, 959 (961). Aufgrund der „unseligen Verschmelzung von Migrations- und Islamfragen“ wird die Religionsfreiheit der Muslime primär migrationspolitisch diskutiert, wobei Migration ihrerseits „vor allem als Bedrohung der Nationalgesellschaft […] und der kulturellen Identität“ betrachtet wird, Behr, Islam und Intersektio­ nalität, in: Kulaçatan/Behr (Hrsg.), Migration, Religion, Gender und Bildung, 2020, 17 (27 f.); vgl. auch Henkes/Kneip, Von offener Neutralität zu (uninten­ diertem) Laizismus: Das Kopftuch zwischen demokratischen Mehrheitswillen und rechtsstaatlichen Schranken, Leviathan – Berliner Zeitschrift für Sozialwis­ senschaft 38 (2010), 589 (611).

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higer Amtsträgerinnen mit Kopftuch hätte diese Diskussion längst obsolet werden lassen können.

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Die Aufnahme geschlechtsspezifischer Gewalt und Belästigung in die Gefährdungsbeurteilung. Impulse des ILO-Übereinkommens Nr. 190 für einen ganzheitlichen Arbeitsschutz Wiebke Blanquett*

A. Einleitung Während der Schutz vor Gesundheitseinschränkungen, die im Umgang mit Maschinen und naturwissenschaftlich-technischen Einflüssen und Ar­ beitszeitentgrenzungen entstehen, seit langem den Arbeitsschutz prägt1, ist die Auseinandersetzung mit sozialen Beziehungen, die eine Gefährdung für die psychische Gesundheit und Sicherheit von Arbeitnehmenden dar­ stellen, ein eher neues Phänomen. Insbesondere die Diskussion in den sozialen Medien um das Hashtag #metoo und die damit beschriebenen hochgradig belastenden Beziehungen am Arbeitsplatz haben den Blick auf die Realität geschärft: Gewalt, Belästigung und sexuelle Übergriffe finden täglich in der Arbeitswelt statt. Diese Übergriffe treffen Frauen und Menschen, die geschlechterstereotypen Erwartungen nicht entsprechen, unverhältnismäßig stark und sind somit auch ein geschlechtsspezifisches Problem.2 Die Auswirkungen können insbesondere psychische Beeinträch­ tigungen und Krankheiten sein.3

* Wiebke Blanquett M.A., LL.M. ist Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeite­ rin am Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Bremen. 1 Das Arbeitsschutzrecht hat sich seit der Industrialisierung ab 1800 entwickelt, um deren gesundheitliche Folgen abzumildern. Hierzu gehörte u.a. die Einrichtung von Schutzstandards im Umgang mit Maschinen und Arbeitszeitbegrenzungen. Siehe für die langjährige Geschichte des Arbeitsschutzes: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Wlotzke, 2. Aufl. 2000, § 206 Rn. 57 ff. 2 Erste Studie in Deutschland zu sexueller Belästigung am Arbeitsplatz, die eine erhöhte Gewaltbetroffenheit von Frauen am Arbeitsplatz feststellte: Holzbe­ cher/Braszeit/Müller/Plogstedt, Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz. Schriftenrei­ he des Bundesministeriums für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, Band 260, 1991. Aktuelle Studien stellen eine hohe Betroffenheit von Frauen und trans* Personen fest: Franzen/Sauer, Benachteiligung von Trans* Personen, insbe­ sondere im Arbeitsleben, Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Hrsg.), 2010;

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Die International Labour Organization (ILO) hat die Problematik von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt erkannt und 2019 das Überein­ kommen Nr. 1904 verabschiedet, welches die Besonderheiten geschlechts­ spezifischer Gewalt und Belästigung berücksichtigt. Das Übereinkommen legt den Fokus auf Prävention und Geschlechtergerechtigkeit am Arbeits­ platz und verweist unter anderem auf die Potentiale des Arbeitsschutzes zur Verhinderung von Gewalt und Belästigung. Dies führt dazu, genauer hinzuschauen, wie geschlechtsspezifischer Ge­ walt und Belästigung im nationalen Arbeitsschutz aktuell begegnet wird. Der Arbeitsschutz ist durch einen allgemeinen Rahmen und ein vielschich­ tiges konkretisierendes Regelungswerk gekennzeichnet. Herzstück zur Erfassung von Gefährdungen und den daraus abzuleitenden Gegenmaß­ nahmen ist die Gefährdungsbeurteilung. Werden geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung in die Vorgaben zur Gefährdungsbeurteilung in­ tegriert? Wird das Regelungswerk des Arbeitsschutzes den erheblichen Ge­ fährdungen durch geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung für die psychische Gesundheit gerecht und besteht bereits eine Sensibilisierung für dieses Thema, das über traditionelle Gefährdungen des Arbeitsschutzes hinausgeht? Zur Beantwortung dieser Fragen bietet dieser Aufsatz einen Überblick über das nationale Arbeitsschutzsystem und untersucht, inwiefern der Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt und Belästigung bei der Arbeit in die Konkretisierungen des nationalen Arbeitsschutzrahmens bereits er­ folgt ist. Zum Schluss wird das ILO-Übereinkommen Nr. 190 in den Blick genommen und es wird überprüft, welche Impulse es für die Schließung der gefundenen Lücke im Umgang mit geschlechtsspezifischer Gewalt und Belästigung enthält und wie diese fruchtbar gemacht werden könnten.

Schröttle/Meshkova/Lehmann, Umgang mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz – Lösungsstrategien und Maßnahmen zur Intervention, Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Hrsg.), 2019. 3 Hoel/Vartia, Bullying and sexual harassment at the workplace, in public spaces, and in political life in the EU, European Parliament (Hrsg.), 2018, 87 ff.; Milczarek, Workplace Violence and Harassment: a European Picture, European Agency for Safety and Health at Work (Hrsg.), 2009, 76 f. 4 ILO-Übereinkommen Nr. 190 über die Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt. Abrufbar unter https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/---ed_n orm/---relconf/documents/meetingdocument/wcms_729964.pdf (letzter Abruf am: 29.06.2022).

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Die Aufnahme geschlechtsspezifischer Gewalt in die Gefährdungsbeurteilung

B. Geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt Geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung bezeichnen Handlungen, die eine Gruppe eines biologischen oder sozialen Geschlechts besonders treffen oder die in Zusammenhang mit der Geschlechtlichkeit oder se­ xuellen Identität der Betroffenen stehen.5 Geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung umfassen daher Handlungen gegen Frauen und Homose­ xuelle, nicht-binäre und trans* Personen sowie gegen Männer, die von einem tradierten Männerbild abweichen.6 Die Kategorie Geschlecht steht in Überschneidung mit weiteren Kategorien wie Alter, Behinderung, se­ xueller Identität oder rassistischen Zuschreibungen, an denen sich Herr­ schaftsverhältnisse abbilden, und kann die Betroffenheit von Personen, die mehrere dieser Kategorien in sich vereinen, verändern.7 Auch sexuelle Belästigung, Handlungen mit sexuellem Bezug, sind geschlechtsspezifische Gewalt.8 Es kommen insbesondere verbale, non-verbale oder körperliche sowie digitale Gewalt und Belästigung zwischen Personen vor.9 Diese fin­ den in allen sozialen Beziehungen am Arbeitsplatz statt und können von Arbeitgebenden, Vorgesetzten und Kolleg:innen aber auch von Kund:in­ nen, Lieferant:innen oder Patient:innen ausgehen.10

5 Schröttle, Gewalt: Zentrale Studien und Befunde der geschlechterkritischen Ge­ waltforschung, in: Kortendiek/Riegraf/Sabisch (Hrsg.), Handbuch Interdisziplinä­ re Geschlechterforschung, Geschlecht und Gesellschaft, 2019, 833 (834). 6 Schröttle, Gewalt: Zentrale Studien und Befunde der geschlechterkritischen Ge­ waltforschung, in: Kortendiek/Riegraf/Sabisch (Hrsg.), Handbuch Interdisziplinä­ re Geschlechterforschung, Geschlecht und Gesellschaft, 2019, 833 (834). 7 Siehe zur aktuellen Diskussion zu Intersektionalität Degele, Intersektionalität: Perspektiven der Geschlechterforschung, in: Kortendiek/Riegraf/Sabisch (Hrsg.), Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung, Geschlecht und Gesellschaft, 2019, 341. 8 Etwa Hoel/Vartia, Bullying and sexual harassment at the workplace, in public spaces, and in political life in the EU, European Parliament (Hrsg.), 2018, 13. 9 Das Gewalt- und Belästigungsverständnis unterscheidet sich je nach Studie. Für sexuelle Belästigung die Differenzierung vornehmend Hoel/Vartia, Bullying and sexual harassment at the workplace, in public spaces, and in political life in the EU, European Parliament (Hrsg.), 2018, 13 ff.; Schröttle/Meshkova/Lehmann, Umgang mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz – Lösungsstrategien und Maß­ nahmen zur Intervention, Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Hrsg.), 2019, 194. 10 Milczarek, Workplace Violence and Harassment: a European Picture, European Agency for Safety and Health at Work (Hrsg.), 2009, 25.

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Geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung gehen mit der Abwer­ tung des Gegenübers und einer Machtausübung der Täter:innen einher.11 Sie attackieren ein wesentliches Merkmal der betroffenen Person: das so­ ziale und/oder biologische Geschlecht. Als sexuelle Belästigung greifen sie in die Intimsphäre der Betroffenen ein und machen sie somit besonders verletzlich.12 Die Folgen von geschlechtsspezifischer Gewalt und Belästigung sind oft verheerend. Die Individuen leiden unter körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen. Häufig treten Depressionen und psychosomatische Beschwerden auf.13 Insbesondere eine offene und transparente Unterneh­ menskultur, sensibilisierte Führungskräfte und auf die Ursachen fokussier­ te Präventionsmechanismen können geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung verhindern.14 Im deutschen Arbeitsrecht sind die sexuelle Belästigung und die Belästi­ gung aufgrund des Geschlechts über §§ 7 Abs. 1, 3 Abs. 3 und 4, 1 AGG

11 Hoel/Vartia, Bullying and sexual harassment at the workplace, in public spaces, and in political life in the EU, European Parliament (Hrsg.), 2018, 25 ff.; Schrött­ le, Gewalt: Zentrale Studien und Befunde der geschlechterkritischen Gewaltfor­ schung, in: Kortendiek/Riegraf/Sabisch (Hrsg.), Handbuch Interdisziplinäre Ge­ schlechterforschung, Geschlecht und Gesellschaft, 2019, 833 (836 ff.). 12 Hoel/Vartia, Bullying and sexual harassment at the workplace, in public spaces, and in political life in the EU, European Parliament (Hrsg.), 2018, 13. 13 Für Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz im Allgemeinen Milczarek, Work­ place Violence and Harassment: a European Picture, European Agency for Safety and Health at Work (Hrsg.), 2009, 76 f. Für sexuelle Belästigung und Mobbing Adler/Vincent-Höper/Vaupel/Gregersen/ Schablon/Niehaus, Sexual Harassment by Patients, Clients, and Residents: Investi­ gating Its Prevelance, Frequency and Associations with Impaired Well-Being among Social and Healthcare Workers in Germany, International Journal of En­ vironmental Research and Public Health 2021, 5198 (5216); Hoel/Vartia, Bullying and sexual harassment at the workplace, in public spaces, and in political life in the EU, European Parliament (Hrsg.), 2018, 87 ff; Schröttle/Meshkova/Lehmann, Umgang mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz – Lösungsstrategien und Maß­ nahmen zur Intervention, Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Hrsg.), 2019, 31. 14 Hoel/Vartia, Bullying and sexual harassment at the workplace, in public spaces, and in political life in the EU, European Parliament (Hrsg.), 2018, 28 ff.; Milcza­ rek, Workplace Violence and Harassment: a European Picture, European Agency for Safety and Health at Work (Hrsg.), 2009, 43 ff; Pikó/Uhl, Compliance in Zei­ ten von #MeToo, Betriebsberater 2020, 1204 (1209) mwN; Schröttle/Meshkova/ Lehmann, Umgang mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz – Lösungsstrategi­ en und Maßnahmen zur Intervention, Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Hrsg.), 2019, 196 f.

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Die Aufnahme geschlechtsspezifischer Gewalt in die Gefährdungsbeurteilung

verboten und werden als Diskriminierung eingestuft.15 Darüber hinaus sind Belästigungen und weitere Gewalthandlungen aufgrund ihrer negati­ ven gesundheitlichen Folgen auch eine Frage des Gesundheitsschutzes bei der Arbeit und somit eine des Arbeitsschutzes.16 C. Das Arbeitsschutzgesetz I. Schutzpflichten der Arbeitgebenden Der Arbeitsschutz ist eine wichtige Nebenpflicht der Arbeitgebenden.17 Arbeitnehmende stehen in einem persönlichen Abhängigkeitsverhältnis zu den Arbeitgebenden, sind in eine fremde Organisation eingegliedert und bringen dabei ihre Rechtsgüter, insbesondere auch ihre Gesundheit, mit ein.18 Aus §§ 611a, 242, 241 Abs. 2 BGB ergibt sich die Pflicht für Arbeitge­ bende diese Rechtsgüter zu schützen, soweit es die Belange des Betriebs und die Interessen Dritter zulassen.19 § 618 BGB als spezielleres unabding­ bares Gesetz gibt vor, dass Arbeitgebende Arbeitnehmende bei der Aus­ übung ihrer Tätigkeiten gegen die Gefahr für Leben und Gesundheit zu schützen und somit einen Arbeitsschutz vorzunehmen haben.20 Neben diesem individuellen Arbeitsschutz prägen das Arbeitsschutz­ konzept insbesondere die öffentlich-rechtlichen Vorschriften wie das Ar­ beitsschutzgesetz, das Arbeitszeitgesetz, das Mutterschutzgesetz oder auch das Jugendarbeitsschutzgesetz sowie die dazugehörigen konkretisierenden Verordnungen. Weite Teile der öffentlich-rechtlichen Vorschriften werden über § 618 BGB in das privatrechtliche Arbeitsverhältnis transformiert und

15 Grundlegend Baer, Würde oder Gleichheit? Zur angemessenen grundrechtlichen Konzeption von Recht gegen Diskriminierung am Beispiel sexueller Belästigung am Arbeitsplatz in der Bundesrepublik Deutschland und den USA, 1995. 16 Von Wulfen, ILO-Übereinkommen Nr. 190 und Arbeitsschutz, Ein neuer Rah­ men für den Kampf gegen sexuelle Belästigung in der Arbeitswelt, in: Abramow­ ski/Lange/Meyerhuber/Rust (Hrsg.), Gewaltfreie Arbeit – Arbeit der Zukunft, Loccumer Protokolle, Band 72, 2022, 233; Weg, Gesundheit am Arbeitsplatz als „Frauenfrage“?!, STREIT 2013, 147. 17 Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht/Preis, 22. Aufl. 2022, BGB § 611a Rn. 611. 18 Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht/Reichold, 5. Aufl. 2021, § 91 Rn. 8. 19 Münchener Kommentar zum BGB/Spinner, 8. Aufl. Band 5 2020, BGB § 611a Rn. 898 ff. 20 Dies gilt auch, wenn die Gefahr von Dritten ausgeht, BAG Urt. v. 17.2.1998 – 9 AZR 84/97, NZA 1998, 1231 (1232); BAG Urt. v. 19.5.2009 – 9 AZR 241/08, NZA 2009, 775 (776).

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konkretisieren so die Nebenpflichten für die Arbeitgebenden.21 Arbeitge­ bende sind sodann doppelt gebunden, ordnungsrechtlich und gegenüber ihren Arbeitnehmenden.22 Im Fokus steht folgend das Arbeitsschutzgesetz, das einen Rahmen für den Gesundheitsschutz im Betrieb bildet. II. Allgemeiner Rahmen, Konkretisierung und Durchsetzung Das Arbeitsschutzgesetz23 entstand 1996 nach einer grundlegenden Über­ arbeitung des nationalen Arbeitsschutzes, die auf Basis des unionsrechtli­ chen Einflusses24 erfolgte. Anstelle eines rein ordnungsrechtlichen Fokus auf die Vermeidung von technisch-naturwissenschaftlichen Unfällen, zer­ splittert in mehrere Vorgaben, wurde ein einheitliches Rahmengesetz für einen präventionsorientierten betrieblichen Arbeitsschutz für alle Tätig­ keitsbereiche verabschiedet.25 Mit der Neuerung einher ging die Konzen­ trierung auf die menschengerechte Gestaltung der Arbeit, wobei der Be­ griff menschengerecht weit verstanden wird: Er umfasst alle Faktoren der Arbeitsumwelt, inklusive technischer, hygienischer, ergonomischer, huma­ nitärer und sozialer Aspekte.26 Verfolgt wird damit ein breiter Arbeits­ schutzansatz, der über die reine Vermeidung von Unfällen bei der Arbeit und von technisch bedingten Gesundheitsgefahren hinausgeht und der in­ sofern dynamisch ist, als er auf seine Wirksamkeit zu überprüfen und gege­

21 BAG Urt. v. 10.3.1976 – 5 AZR 34/75, AP BGB § 618 Nr. 17; BAG Urt. v. 12.8.2008 – 9 AZR 1117/06, NZA 2009, 102 (104). 22 Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht/Roloff, 22. Aufl. 2022, BGB § 618 Rn. 4 f. 23 Arbeitsschutzgesetz vom 7.8.1996 (BGBl. I 1246), das zuletzt durch Artikel 6 des Gesetzes vom 18. März 2022 (BGBl. I 473) geändert worden ist. 24 Rahmenrichtlinie Arbeitsschutz – Richtlinie des Rates v. 12.6.1989 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Ge­ sundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit 89/391/EWG; Richtlinie des Rates vom 25.6.1991 zur Ergänzung der Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von Arbeitnehmern mit befristetem Ar­ beitsverhältnis oder Leiharbeitsverhältnis, 91/383/EWG; Wlotzke, Das neue Ar­ beitsschutzgesetz – zeitgemäßes Grundlagengesetz für den betrieblichen Arbeits­ schutz, NZA 1996, 1017 (1018). 25 Wlotzke, Das neue Arbeitsschutzgesetz – zeitgemäßes Grundlagengesetz für den betrieblichen Arbeitsschutz, NZA 1996, 1017 (1018). Der Rahmen gilt im Betrieb und steht neben den Spezialvorschriften des ArbZG oder MuSchG. 26 Kollmer, Arbeitsschutzrecht – eine notwendige Standortbestimmung, ARP 2020, 242 (243).

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Die Aufnahme geschlechtsspezifischer Gewalt in die Gefährdungsbeurteilung

benenfalls anzupassen ist.27 Ziel dieses dynamischen Ansatzes ist die Siche­ rung und Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmenden bei der Arbeit, §§ 1 Abs. 1 S. 1, 3 Abs. 1 S. 3 ArbSchG. Die Arbeitgebenden sind für die Durchführung des Arbeitsschutzes ver­ antwortlich.28 Dabei können sie betriebliche Akteure zur Durchsetzung ihrer Aufgaben einsetzen.29 Das Arbeitsschutzgesetz bietet unter Berück­ sichtigung der Verhältnismäßigkeit einen breiten Spielraum zur Ausgestal­ tung des Arbeitsschutzes.30 § 3 Abs. 1 S. 1 ArbSchG enthält die grundsätzli­ che Pflicht, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um Arbeitnehmen­ de vor sämtlichen Gefährdungen bei der Arbeit zu schützen.31 Eine erste Konkretisierung bieten die allgemeinen Grundsätze aus § 4 ArbSchG32, wie etwa, dass Gefährdungen für die psychische und physische Gesundheit möglichst vermieden werden sollen (Nr. 1) und dass bei den durchgeführ­ ten Maßnahmen arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse und der aktuelle Stand von Technik und Arbeitsmedizin zu berücksichtigen sind (Nr. 3). Ferner enthalten Arbeitsschutzverordnungen Vorgaben zu den erforder­ lichen Maßnahmen. Zur weiteren Konkretisierung werden technische Re­ geln erlassen, die Vorgaben zur Gefährdungsverringerung unter Berück­ sichtigung der aktuellen arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse enthal­ ten.33 Leitlinien der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA)34, einer Bundesbehörde, die das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) zum Arbeitsschutz berät und Forschung betreibt, konkretisieren die rechtlichen Vorgaben für die betriebliche Praxis. Nach §§ 20a, 20b ArbSchG wurde zudem die Gemeinsame Deutsche Arbeits­ schutzstrategie (GDA) eingeführt, in der Bund, Länder und Unfallversiche­ 27 Wlotzke, Das neue Arbeitsschutzgesetz – zeitgemäßes Grundlagengesetz für den betrieblichen Arbeitsschutz, NZA 1996, 1017 (1019). 28 Landmann/Rohmer/Wiebauer, Gewerbeordnung, 86. EL 2021, ArbSchG § 3 Rn. 2. 29 Landmann/Rohmer/Wiebauer, Gewerbeordnung, 86. EL 2021, ArbSchG § 3 Rn. 2. 30 Landmann/Rohmer/Wiebauer, Gewerbeordnung, 86. EL 2021, ArbSchG § 3 Rn. 13, 15. 31 Landmann/Rohmer/Wiebauer, Gewerbeordnung, 86. EL 2021, ArbSchG § 3 Rn. 8. 32 Landmann/Rohmer/Wiebauer, Gewerbeordnung, 86. EL 2021, ArbSchG § 3 Rn. 12. 33 Landmann/Rohmer/Wiebauer, Gewerbeordnung, 86. EL 2021, ArbSchG § 3 Rn. 12. Technische Regeln werden vom Ausschuss für Arbeitsstätten ermittelt und vom BMAS bekannt gegeben. 34 Erlass des BMAS vom 29.6.2020, Erlass über die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (Neufassung), 1.

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rungsträger gemeinsame Ziele, vorrangige Handlungsfelder, Evaluationen und abgestimmte Leitlinien erarbeiten.35 Dem weiten Spielraum der Ar­ beitgebenden steht somit ein Mindestschutzstandard, festgehalten in einem breiten Regelungswerk, entgegen.36 Die Kontrolle des Arbeitsschutzes obliegt den staatlichen Behörden, der Arbeitsschutzaufsicht. Sie beschränkt sich entsprechend dem Mindest­ schutz auf die Überprüfung, ob die Instrumente des Arbeitsschutzes wie die Gefährdungsbeurteilung ordnungsgemäß durchgeführt werden und sich an den konkretisierenden Vorgaben orientiert wird.37 III. Die Integration psychischer Belastungen Mit der Neuausrichtung des Arbeitsschutzes wurde der Gesundheitsbegriff auf die psychische Belastungen erweitert.38 Zuvor hatte sich der Gesund­ heitsbegriff im Arbeitsschutzrecht lange auf die physische Gesundheit be­ schränkt.39 Bereits 1997 bestätigte das Bundesverwaltungsgericht das neue Gesundheitsverständnis des Arbeitsschutzgesetzes.40 Nichtsdestotrotz wur­ de noch bis 2013 darüber diskutiert, inwieweit, ob und ggf. welche Maß­ nahmen gegen psychische Belastungen zu treffen sind.41 2013 erfolgte eine Klarstellung im Gesetzestext, indem die psychische Belastung in die allge­

35 Siehe zur Geschichte und Aufgabe der GDA: Handkommentar ArbSchR/Faber, 2. Aufl. 2018, vor ArbSchG §§ 20a, 20b Rn. 1 ff. 36 Landmann/Rohmer/Wiebauer, Gewerbeordnung, 86. EL 2021, ArbSchG § 3 Rn. 13; Orientieren sich Arbeitgebende an den GDA-Leitlinien können sie ihre Arbeitsschutzaufgaben von staatlicher Seite als erfüllt ansehen, Handkommentar ArbSchR/Faber, 2. Aufl. 2018, vor ArbSchG §§ 20a, 20b Rn. 11. Die GDA-Leitlini­ en sind keine Verwaltungsvorschriften, gleichwohl steuern sie den Verwaltungs­ vollzug, Handkommentar ArbSchR/Faber, 2. Aufl. 2018, vor ArbSchG §§ 20a, 20b Rn. 10 f.; Handkommentar ArbSchR/Faber, 2. Aufl. 2018, ArbSchG § 22 Rn. 53. 37 Handkommentar ArbSchR/Faber, 2. Aufl. 2018, § 3 Rn. 5; Faber, Die arbeits­ schutzrechtlichen Grundpflichten des § 3 ArbSchG, 2004, 376 ff. 38 Handkommentar ArbSchR/Kohte/Maul-Sartori, 2. Aufl. 2018, ArbSchG § 1 Rn. 8 mwN. 39 Weg spricht hier auch von einem „männertypischen“ Gesundheitsbegriff, Weg, Gesundheit am Arbeitsplatz als „Frauenfrage“?!, STREIT 2013, 147 (150). 40 BVerwG Urt. v. 31.1.1997 – 1 C 20/95, NZA 1997, 482 (483); Kommentar zum Arbeitsschutzgesetz/Kollmer/Klindt/Schlucht/Balikcioglu, 4. Aufl. 2021, Systema­ tische Darstellungen, Psychische Belastungen am Arbeitsplatz, Rn. 40. 41 Etwa Kohte, Gutachten Psychische Belastungen und arbeitsbedingter Stress – mögliche rechtliche und sonstige Regulierungen, in: Kamp/Pickshaus (Hrsg.), Re­ gelungslücke psychische Belastung schließen, 2011, 11 ff.

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Die Aufnahme geschlechtsspezifischer Gewalt in die Gefährdungsbeurteilung

meinen Grundsätze nach § 4 Nr. 1 ArbSchG und die Gefährdungsbeurtei­ lung § 5 Abs. 3 Nr. 6 ArbSchG mit aufgenommen wurde. Begründet wurde die Aufnahme damit, dass es eine Lücke in der betrieblichen Praxis gege­ ben habe.42 D. Die Gefährdungsbeurteilung Es besteht also eine Verpflichtung für die Arbeitgebenden, unter dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und unter Maßgabe der genannten konkretisierenden Vorschriften, sämtlichen Gefährdungen für die Gesund­ heit der Arbeitnehmenden zu begegnen. Geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung als Gefährdung insbesondere der psychischen Gesundheit sind somit grundsätzlich in den Arbeitsschutz mit aufzunehmen. Das zen­ trale Instrument, dieser Verpflichtung nachzugehen, ist die Gefährdungs­ beurteilung. Die Vorgaben zur Ermittlung der Gefährdungen sind – dem Gedanken des Arbeitsschutzgesetzes folgend – offengehalten. Dies bietet Arbeitge­ benden die Möglichkeit, auf Gefährdungen im Betrieb flexibel zu reagie­ ren und betriebliche Besonderheiten zu berücksichtigen.43 Es entlastet die Arbeitgebenden jedoch nicht von der Pflicht, sämtliche Gefährdungen zu erfassen. Vor dem Hintergrund der oben dargestellten Problematik geschlechts­ spezifischer Übergriffe am Arbeitsplatz und den daraus resultierenden Fol­ gen stellt sich die Frage, ob die gesetzlichen Vorgaben zur Gefährdungsbe­ urteilung sowie die sie konkretisierenden Regeln entsprechend ausgestaltet sind, Gefährdungen, die durch geschlechtsspezifische Gewalt und Belästi­ gung bei der Arbeit für die psychische Gesundheit bestehen, auch zu erfassen. I. Gesetzlicher Rahmen Mit der Gefährdungsbeurteilung, geregelt in § 5 ArbSchG, werden die not­ wendigen Maßnahmen ermittelt, um die Vorgaben des Arbeitsschutzes im Betrieb umzusetzen, Arbeitsbedingungen konkret zu gestalten und Gefähr­

42 BT-Drs. 17/12297, 40. 43 BAG Urt. v. 12.8.2008 – 9 AZR 1117/06, NZA 2009, 102 (104); Handkommentar ArbSchR/Blume/Faber, 2. Aufl. 2018, § 5 ArbSchG Rn. 2.

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dungen zu vermeiden.44 Arbeitgebende müssen sie „eigenverantwortlich und initiativ“45 und „ganzheitlich“46 durchführen. Drei Punkte sind hier­ bei entscheidend: die Ermittlung möglichst aller gefährdender Faktoren, deren Beurteilung und die daraus ableitbaren Maßnahmen zur Beseitigung der Gefährdungen.47 Die in § 5 Abs. 3 ArbSchG exemplarisch aufgeführten Gefährdungen zur Berücksichtigung bei der Gefährdungsbeurteilung sind die Gestaltung und Einrichtung des Arbeitsplatzes (Nr. 1), klassische Gefahren wie physi­ kalische, chemische und biologische Einwirkungen (Nr. 2), der Einsatz von Arbeitsmitteln wie Maschinen und Geräten (Nr. 3), aber auch die Ge­ staltung von Arbeitsverfahren und -abläufen sowie Arbeitszeit (Nr. 4), un­ zureichende Qualifikationen und Unterweisungen der Beschäftigten (Nr. 5) und seit 2013 explizit auch psychische Belastungen bei der Arbeit (Nr. 6). Bereits aus den Nummern 1, 3, 4 und 5 können sich psychische Be­ lastungen entwickeln, dennoch hielt es die Legislative für nötig, mit Nr. 6 noch einmal explizit auf Gefährdungen durch psychische Belastung hinzu­ weisen. So besteht seit 2013 zwar der Verweis auf psychische Belastung als Gefährdung, eine Benennung geschlechtsspezifischer Gefährdungen im Allgemeinen oder die Gefährdung durch geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung im Besonderen existiert im Gesetzestext nicht. II. Konkretisierende Verordnungen Ein Blick in die das Arbeitsschutzgesetz konkretisierenden Verordnungen zeigt, dass sozial bedingte Gefährdungen und psychische Belastungen im Arbeitsschutz in diesen eine untergeordnete Rolle spielen und geschlechts­ spezifische Gefährdungen keine Berücksichtigung finden. Es gibt eine Vielzahl an Arbeitsschutzverordnungen, die die Maßnah­ men des Arbeitsschutzes und die Gefährdungsbeurteilung konkretisieren.

44 BAG Beschl. v. 28.3.2017 –1 ABR 25/15, NZA 2017, 1132 (1135); Handkommen­ tar ArbSchR/Blume/Faber, 2. Aufl. 2018, § 5 ArbSchG Rn. 3. § 5 ArbSchG steht in enger Verbindung zu § 3 ArbSchG, der die Grundpflichten der Arbeitgebenden normiert, Handkommentar ArbSchR/Blume/Faber, 2. Aufl. 2018, § 5 ArbSchG Rn. 7. 45 Handkommentar ArbSchR/Blume/Faber, 2. Aufl. 2018, § 5 ArbSchG Rn. 23. 46 Handkommentar ArbSchR/Blume/Faber, 2. Aufl. 2018, § 5 ArbSchG Rn. 18. 47 BAG Urt. v. 12.8.2008 – 9 AZR 1117/06, NZA 2009, 102 (103 f.); Handkommen­ tar ArbSchR/Blume/Faber, 2. Aufl. 2018, § 5 ArbSchG Rn. 35.

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Die Aufnahme geschlechtsspezifischer Gewalt in die Gefährdungsbeurteilung

Die Verordnungen beziehen sich überwiegend auf Gefährdungen durch technische Einflüsse, Maschinen oder Chemikalien.48 Drei Verordnungen verlangen explizit die Berücksichtigung psychischer Belastungen, § 3 ArbStättV, § 3 BetrSichV, § 4 BioStoffV. Diese werden in technischen Regeln konkretisiert.49 In diesen werden die unzureichenden Qualifikatio­ nen der Arbeitnehmenden und Zeitdruck50, Angst und Ermüdung beim

48 Etwa Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge vom 18.12.2008 (BGBl. I 2768), die zuletzt durch Artikel 1 der Verordnung vom 12.7.2019 (BGBl. I 1082) geändert worden ist (ArbMedVV); Arbeitsstättenverordnung vom 12.8.2004 (BGBl. I 2179), die zuletzt durch Artikel 4 des Gesetzes vom 22.12.2020 (BGBl. I 3334) geändert worden ist (ArbStättV); Baustellenverordnung vom 10.6.1998 (BGBl. I 1283), die zuletzt durch Artikel 27 des Gesetzes vom 27.6.2017 (BGBl. I 1966) geändert worden ist (BaustellV); Betriebssicherheitsverordnung vom 3.2.2015 (BGBl. I 49), die zuletzt durch Artikel 7 des Gesetzes vom 27.7.2021 (BGBl. I 3146) geändert worden ist (BetrSichV); Biostoffverordnung vom 15.7.2013 (BGBl. I 2514), die zuletzt durch Artikel 1 der Verordnung vom 21.7.2021 (BGBl. I 3115) geändert worden ist (BioStoffV); Lärm- und VibrationsArbeitsschutzverordnung vom 6.3.2007 (BGBl. I 261), die zuletzt durch Artikel 3 der Verordnung vom 21.7.2021 (BGBl. I 3115) geändert worden ist (LärmVibrati­ onsArbSchV); Lastenhandhabungsverordnung vom 4.12.1996 (BGBl. I 1841), die zuletzt durch Artikel 294 der Verordnung vom 19.6.2020 (BGBl. I 1328) geändert worden ist (LasthandhabV); Arbeitsschutzverordnung zu künstlicher optischer Strahlung vom 19.7.2010 (BGBl. I 960), die zuletzt durch Artikel 5 Absatz 6 der Verordnung vom 18.10.2017 (BGBl. I 3584) geändert worden ist (OStrV); PSA-Be­ nutzungsverordnung vom 4.12.1996 (BGBl. I 1841) (PSA-BV). Siehe auch Nebe/Weg, Schützt das Arbeitsschutzrecht Frauen und Männer glei­ chermaßen?, in: Weg/Stolz-Willig (Hrsg.), Agenda Gute Arbeit: geschlechterge­ recht!, 2014, 210 (223); Weg, Gesundheit am Arbeitsplatz als „Frauenfrage“?!, STREIT 2013, 147 (150). 49 Technische Regeln für Arbeitsstätten, Gefährdungsbeurteilung, ASR V3 (GMBl. Juli 2017, 390); Technische Regeln für Betriebssicherheit, Gefährdungsbeurtei­ lung, TRBS 1111 (GMBl. März 2018, 401, Änderungen und Ergänzungen: GMBl Mai 2019, 292); Technische Regeln für Biologische Arbeitsstoffe, Handlungsanlei­ tung zur Gefährdungsbeurteilung und für die Unterrichtung der Beschäftigten bei Tätigkeiten mit biologischen Arbeitsstoffen, TRBA 400 (GMBl. März 2017, 158, 1. Änderung: GMBl. Juli 2018, 589); Technische Regeln für Biologische Arbeitsstoffe, Biologische Arbeitsstoffe im Gesundheitswesen und in der Wohl­ fahrtspflege, TRBA 250 (GMBl. März 2014, 206, 1. Änderung: GMBl. Mai 2014, 535, 2. Änderung: GMBl. Mai 2015, 577, 3. Änderung: GMBl. Oktober 2016, 838, 4. Änderung: GMBl. Mai 2018, 259). 50 Technische Regeln für Biologische Arbeitsstoffe, Biologische Arbeitsstoffe im Gesundheitswesen und in der Wohlfahrtspflege, TRBA 250 (GMBl. März 2014, 206, 1. Änderung: GMBl. Mai 2014, 535, 2. Änderung: GMBl. Mai 2015, 577, 3. Änderung: GMBl. Oktober 2016, 838, 4. Änderung: GMBl. Mai 2018, 259).

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Umgang mit gefährlichen Stoffen51, Umgang mit Arbeitsmitteln inklusive der sozialen Beziehungen52 sowie das Einrichten und Betreiben von Ar­ beitsstätten inklusive der räumlichen Gestaltung und Gewalt durch Drit­ te53 als Gefährdungen für die Psyche von Arbeitnehmenden benannt. Eine geplante Verordnung zum Schutz vor Gefährdungen durch psy­ chische Belastungen, angestoßen durch mehrere SPD-regierte Länder im Bundesrat, scheiterte 2013.54 Dieser Vorschlag legte zwar keinen Fokus auf geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung, die geschlechtergerechte Arbeitsgestaltung als Gestaltungsgrundsatz für sichere Arbeitsbedingungen wurde jedoch in den Entwurf mit aufgenommen.55 Eine Neuauflage ist seitdem nicht ernsthaft anvisiert worden.56 Verordnungen, die Gefährdun­ gen durch soziale Beziehungen fokussieren, gibt es nicht. III. Konkretisierende Leitlinien Die das Arbeitsschutzgesetz konkretisierenden Leitlinien zeigen auf, dass psychische Belastung als Gefährdung zwar berücksichtigt wird, allerdings wird weder konkret auf geschlechtsspezifische Gefährdungen im Allgemei­ nen noch auf Gefährdungen durch geschlechtsspezifische Gewalt und Be­ lästigung im Besonderen eingegangen. Nach BAuA und GDA gibt es mehrere Merkmalsbereiche, die eine Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen abdecken sollte. Dies sind Arbeitsinhalte und Arbeitsaufgaben, Arbeitsorganisation, soziale Be­ ziehungen, Arbeitsumgebung und neue Arbeitsformen.57

51 Technische Regeln für Biologische Arbeitsstoffe, Handlungsanleitung zur Gefähr­ dungsbeurteilung und für die Unterrichtung der Beschäftigten bei Tätigkeiten mit biologischen Arbeitsstoffen, TRBA 400 (GMBl. März 2017, 158, 1. Änderung: GMBl. Juli 2018, 589). 52 Technische Regeln für Betriebssicherheit, Gefährdungsbeurteilung, TRBS 1111 (GMBl. März 2018, 401, Änderungen und Ergänzungen: GMBl Mai 2019, 292). 53 Technische Regeln für Arbeitsstätten, Gefährdungsbeurteilung, ASR V3 (GMBl. Juli 2017, 390). 54 BR-Drs. 315/13. 55 BR-Drs. 315/13, 9, 18. 56 Kommentar zum Arbeitsschutzgesetz/Kollmer/Klindt/Schucht/Kreizberg, 4. Aufl. 2021, ArbSchG § 5 Rn. 75. 57 Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung, Erfahrungen und Empfehlungen, BAuA (Hrsg.), 2021, 532; GDA-Leitlinie Beratung und Überwachung bei psychi­ scher Belastung am Arbeitsplatz, Stand 2018, 23. Ähnlich auch die Vorgaben aus der DIN EN ISO 10075 Teil 1.

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Die Aufnahme geschlechtsspezifischer Gewalt in die Gefährdungsbeurteilung

Die für die betriebliche Praxis wichtigen Leitlinien der GDA benennen als Gefährdungsfaktoren für die psychische Gesundheit für den Merkmals­ bereich Arbeitsbedingungen die Bedrohung durch Gewalt durch Dritte wie Patient:innen und Kund:innen58 und für den Merkmalsbereich soziale Beziehungen die allgemeinen Platzhalter Konflikte und Führungsschwä­ che59. Als sonstige Gefährdung werden Überfälle genannt.60 Der aktuelle Stressreport der BAuA, der die psychischen Anforderungen, die Ressour­ cen und das Befinden der Beschäftigten in Deutschland untersucht, be­ nennt die Arbeitsintensität und Arbeitszeit als „Schlüsselfaktoren […], die bei der Arbeitsgestaltung primär berücksichtig werden sollten.“61 Im Stressreport werden weder Gewalt noch Belästigung als Gefährdungen be­ nannt, noch wird ein Fokus auf geschlechtsspezifische Gefährdungen ge­ legt. IV. Licht am Ende des Tunnels? Es gibt jedoch einige Ausnahmen, die auf eine langsame Sensibilisierung für das Thema geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung hindeuten, auch wenn sich diese nicht in verbindlichen Verordnungen oder Leitlinien finden lassen: Die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohl­ fahrtspflege (BGW) hat geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung durch Patient:innen als Gefahr für in der Pflege Beschäftigte erkannt.62 Die BAuA hat 2016 in einem Bericht die Ergebnisse einer Vielzahl von Studien zu sozialen Beziehungen am Arbeitsplatz zusammengetragen und festgehalten, dass Mobbing und sexuelle Belästigung als Gefährdung für die Gesundheit der Beschäftigten zu verstehen sind, deren Verhindern

58 GDA-Leitlinie Beratung und Überwachung bei psychischer Belastung am Arbeits­ platz, Stand 2018, 18. 59 GDA-Leitlinie Gefährdungsbeurteilung und Dokumentation, Stand 2017, 13; GDA-Leitlinie Beratung und Überwachung bei psychischer Belastung am Arbeits­ platz, Stand 2018, 19. 60 GDA-Leitlinie Gefährdungsbeurteilung und Dokumentation, Stand 2017, 13. 61 Stressreport Deutschland 2019 – Psychische Anforderungen, Ressourcen, Befin­ den, BAuA (Hrsg.) 2020, 9. 62 Adler/Vincent-Höper/Vaupel/Gregersen/Schablon/Niehaus, Sexual Harassment by Patients, Clients, and Residents: Investigating Its Prevelance, Frequency and Associations with Impaired Well-Being among Social and Healthcare Workers in Germany, International Journal of Environmental Research and Public Health 2021, 5198.

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in der Gestaltung der Arbeitsbedingungen zu finden ist.63 Im aktuellen Handbuch der BAuA zur Gefährdungsbeurteilung werden Diskriminie­ rung und sexuelle Belästigung bereits als Gefährdung innerhalb der sozia­ len Beziehungen am Arbeitsplatz für die psychische Belastung benannt.64 Eine arbeitsmedizinische Untersuchung hat erforscht, wie sexuelle Belästi­ gung in der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen integriert werden könnte.65 E. Versäumnisse im Arbeitsschutz: selektive Gefährdungsbeurteilungen Für Arbeitgebende besteht bereits eine vertragliche und ordnungsrechtli­ che Verpflichtung, unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit die Gesundheit der Arbeitnehmenden zu schützen. Das Arbeitsschutzgesetz bildet hierfür einen breiten Rahmen. Es beinhaltet die Möglichkeit eines ganzheitlichen und dynamischen Zugriffs, der sich an neue Erkenntnis­ se anpassen kann und sich vom früheren Arbeitsschutzverständnis, das sich auf Unfälle und technische Gefahren konzentrierte, ablöst. Mit einer offenen Formulierung, dem Verweis auf menschengerechte Arbeitsbedin­ gungen und der Klarstellung, dass die psychische Gesundheit ebenso wie die physische zu schützen ist, enthält das Arbeitsschutzgesetz breite Möglichkeiten, geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung in den Ar­ beitsschutz zu integrieren. Anknüpfungspunkt wäre die Gefährdungsbeur­ teilung psychischer Belastungen, aus deren Ergebnis Arbeitsbedingungen zum Wohle der Arbeitnehmenden verändert werden könnten. Psychische Belastung als Gefährdung für Arbeitnehmende wird in dem konkretisierenden Regelungswerk des Arbeitsschutzes benannt und als Problem verhandelt. Als Gefährdungsfaktoren psychischer Belastung wer­ den jedoch überwiegend die Verdichtung von Arbeit, unzureichende Qua­ lifikationen oder die Entgrenzung der Arbeit durch die Digitalisierung

63 Drössler/Steputat/Schubert/Euler/Seidler, Psychische Gesundheit in der Arbeits­ welt, Soziale Beziehungen, BAuA (Hrsg.), 2016, 24 ff., 96. 64 Verwiesen wird insbesondere auf Erkenntnisse der Schröttle Studie von 2019, die sexuelle Belästigung als Gefährdung für die psychische Gesundheit benennt, Wendsche/Thomson/Beck, Soziale Beziehungen, in: Handbuch Gefährdungsbe­ urteilung, Grundlagen und Gefährdungsfaktoren, BAuA (Hrsg.), 2021, 551 (553 ff.). 65 Lincke/Häberle/Lindner/Nübling, Analyse sexueller Belästigung am Arbeitsplatz in der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen, Zbl Arbeitsmed 2021, 167.

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Die Aufnahme geschlechtsspezifischer Gewalt in die Gefährdungsbeurteilung

benannt.66 Im Gegensatz dazu werden geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung in den einschlägigen Regelungswerken als Gesundheitsgefahr nicht intensiv bearbeitet. Die dargestellten Ausnahmen bieten noch keine Hoffnung darauf, dass die Integration geschlechtsspezifischer Gewalt und Belästigung als gleich­ berechtigte Gefährdung neben der Vielzahl anderer Gefährdungen zeitnah erfolgt. Verordnungen und Leitlinien für die Integration geschlechtsspezi­ fischer Gewalt und Belästigung in die Gefährdungsbeurteilung bestehen nicht. Problematisch ist das, da Arbeitgebende davon ausgehen dürfen, dass ihre ordnungsrechtliche Pflicht erfüllt ist, sofern sie die Mindestvorga­ ben in den GDA-Leitlinien und Verordnungen erfüllt haben.67 Zwar be­ steht auch eine vertragliche Pflicht, aber die Durchsetzung individueller Ansprüche im Bereich Arbeitsschutz ist marginal. Zudem geht das Bundes­ arbeitsgericht davon aus, dass Arbeitnehmende zwar einen privatrechtli­ chen Anspruch auf die Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung über § 618 BGB haben, jedoch können sie die Kriterien und Beurteilungsmetho­ den selbst nicht beeinflussen.68 Von daher sind die Aufsichtsbehörden als Durchsetzungsakteur zu adressieren, die ebenso wie die Arbeitgebenden und die betrieblichen Akteure über Verordnungen und Leitlinien für die­ ses Thema sensibilisiert werden müssten. Die offene Formulierung der Gefährdungsbeurteilung für die Integra­ tion einer Vielzahl an Gefährdungen läuft ins Leere, sofern geschlechts­ spezifische Gefährdungen aus dem Blick geraten.69 Nicht erwähnte Ge­

66 So etwa auch Literatur und politische Akteure: Kommentar zum Arbeitsschutzge­ setz/Kollmer/Klindt/Schlucht/Balikcioglu, 4. Aufl. 2021, Systematische Darstel­ lungen, Psychische Belastungen am Arbeitsplatz, Rn. 43; Handkommentar Arb­ SchR/Blume/Faber, 2. Aufl. 2018, § 5 ArbSchG Rn. 32; Handkommentar Arb­ SchR/Faber/Feldhoff, 2. Aufl. 2018, ArbStättV Rn. 158; Jacobs, Schutz vor psychi­ schen Belastungen durch die Individualisierung des Arbeitszeitrechts, 2019, S. 88 ff. Siehe auch die Argumentation in dem vom Bundesrat eingebrachten Vor­ schlag für eine konkretisierende Verordnung zu psychischer Belastung BR-Drs. 315/13, 1 f. Seit der Corona-Pandemie scheint der Fokus auf Arbeitsverdichtung und Zeitge­ staltung zuzunehmen: Etwa Kollmer, Arbeitsschutzrecht – eine notwendige Standortbestimmung, ARP 2020, 242 (246); Kommentar zum Arbeitsschutzge­ setz/Kollmer/Klindt/Schlucht/Balikcioglu, 4. Aufl. 2021, Systematische Darstel­ lungen, Psychische Belastungen am Arbeitsplatz, Rn. 45 ff. 67 Handkommentar ArbSchR/Faber, 2. Aufl. 2018, vor ArbSchG §§ 20a, 20b Rn. 11. 68 BAG Urt. v. 12.8.2008 – 9 AZR 1117/06, NZA 2009, 102 (103). 69 So auch Nebe/Weg, Schützt das Arbeitsschutzrecht Frauen und Männer gleicher­ maßen?, in: Weg/Stolz-Willig (Hrsg.), Agenda Gute Arbeit: geschlechtergerecht!, 2014, 210 (215).

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fährdungen in den konkretisierenden Regeln und Leitlinien werden eher selten von den zuständigen Akteuren aufgrund der ohnehin bereits hohen Arbeitsbelastung in die Präventionsarbeit mit aufgenommen.70 Dies hat die Nicht-Berücksichtigung psychischer Belastung nach Einführung des neues Gesundheitsverständnisses 1996 gezeigt.71 Wenn Gefährdungen, die Personen aufgrund ihres Geschlechts treffen, nicht in die Prävention am Arbeitsplatz mit aufgenommen werden, existiert eine nicht zu rechtferti­ gende Lücke. F. Das ILO-Übereinkommen Nr. 190 Im Folgenden werden die neuen Regelungen aus dem Internationalen Recht, das ILO-Übereinkommen Nr. 190, daraufhin untersucht, ob sich Impulse finden, den Arbeitsschutz ganzheitlich durchzuführen und ge­ schlechtsspezifische Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz in die Ge­ fährdungsbeurteilung und das sie konkretisierende Regelungswerk präven­ tiv und proaktiv mit aufzunehmen. Die ILO ist eine seit 1918 bestehende Sonderorganisation der Vereinten Nationen, in der Regierungen sowie Vertretungen von Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden aus 187 Ländern zusammenkommen und interna­ tionalrechtliche Übereinkommen über sichere und menschengerechte Ar­ beitsbedingungen abschließen.72 Das ILO-Übereinkommen Nr. 190 über die Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt wurde 2019 zusammen mit der dazugehörigen ILO-Empfehlung betreffend die Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt Nr. 206 verab­ schiedet.73

70 Nebe/Weg, Schützt das Arbeitsschutzrecht Frauen und Männer gleichermaßen?, in: Weg/Stolz-Willig (Hrsg.), Agenda Gute Arbeit: geschlechtergerecht!, 2014, 210 (215). 71 BT-Drs. 17/12297, 40; Nebe/Weg, Schützt das Arbeitsschutzrecht Frauen und Männer gleichermaßen?, in: Weg/Stolz-Willig (Hrsg.), Agenda Gute Arbeit: ge­ schlechtergerecht!, 2014, 210 (219). 72 Zur Geschichte der ILO Servais/Goethem, International Labour Organization, 2. Aufl. 2016, 13 ff. 73 Siehe zum Inhalt des ILO-Übereinkommens Nr. 190 auch Mangold, Völkerrecht­ liche Impulse gegen Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt, Recht und Poli­ tik 2020, 200; Niederfranke/Löbel, Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt – ILO-Übereinkommen 190, AuR 2021, 392; Zimmer, ILO-Über­ einkommen Nr. 190 über die Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Ar­ beitswelt, STREIT 2021, 3.

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Die Aufnahme geschlechtsspezifischer Gewalt in die Gefährdungsbeurteilung

ILO-Übereinkommen bedürfen der Ratifikation durch den jeweiligen Mitgliedstaat, um rechtlich Wirkung zu entfalten.74 Empfehlungen bieten Ansätze zur Umsetzung, sind jedoch nicht rechtlich verbindlich.75 Deutschland hat das Übereinkommen Nr. 190 noch nicht ratifiziert, aller­ dings hat die Bundesregierung bereits eine entsprechende Absicht er­ klärt.76 Eine rechtliche Verbindlichkeit besteht insoweit noch nicht, den­ noch wird das Übereinkommen aufgrund seiner internationalrechtlichen Bedeutung sowie der Absichtserklärung der Bundesregierung in den Blick genommen. I. Fokus Geschlechtergerechtigkeit Seit 2009 beschäftigt sich die ILO intensiv mit der Bekämpfung ge­ schlechtsspezifischer Gewalt als Gesundheits- und Sicherheitsproblem in der Arbeitswelt. Anlass dafür war die 2009 von der Internationalen Ar­ beitskonferenz77 verabschiedete Entschließung über die Gleichstellung der Geschlechter als Kernstück menschenwürdiger Arbeit.78 Im Laufe der Dis­ kussion wurde ein Übereinkommen verhandelt, dass Gewalt und Belästi­ gung im Allgemeinen als Gesundheits- und Sicherheitsgefahr in der Ar­ beitswelt anerkennt. Die geschlechtsspezifische Dimension sollte aber einen gesonderten Stellenwert behalten, sodass die überproportionale Be­ troffenheit von Frauen und Mädchen bereits in die Präambel des ILOÜbereinkommens Nr. 190 mit aufgenommen wurde. In dem Übereinkom­

74 Schlachter, 100 Jahre ILO und die Suche nach sozialer Gerechtigkeit, EuZA 2020, 143 (147). In Deutschland erfolgt die Übernahme in das nationale Rechtssystem über ein Zustimmungsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG; internationalrechtliche Abkommen erhalten so den Rang eines Bundesgesetzes, BVerfG Urt. v. 30.6.2009 – 2 BvE 2/08, NJW 2009, 2267 (2273). 75 Zimmer, Internationale Arbeitsorganisation (ILO), in: Schlachter/Heuschmid/ Ulber (Hrsg.), Arbeitsvölkerrecht, 2019, 117 (128 f.) mwN. 76 Bundesregierung, Mehr Fortschritt wagen, Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP, 115. 77 Die Internationale Arbeitskonferenz ist das höchste Gremium der ILO. Es ist tripartistisch mit Vertreter:innen der Mitgliedstaaten und den nationalen Arbeit­ nehmenden- und Arbeitgebendenvertretungen besetzt. Sie kommt einmal jähr­ lich zusammen, um über neue Entwicklungen und Übereinkommen zu verhan­ deln. 78 Bericht V (1), Beendigung von Gewalt und Belästigung gegenüber Frauen und Männern in der Arbeitswelt, Internationale Arbeitskonferenz, 107. Tagung, Inter­ nationales Arbeitsamt (Hrsg.), 2018, Rn. 5.

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men wird ein breiter Gewalt- und Belästigungsbegriff definiert, der eine Vielzahl an einmaligen oder sich wiederholenden Handlungen oder An­ drohungen umfasst, die einen physischen, psychischen, sexuellen oder wirtschaftlichen Schaden zur Folge haben, Art. 1 Abs. 1 lit. a ILO-Überein­ kommen Nr. 190. Als spezifisches Problem benannt wird geschlechtsspezi­ fische Gewalt und Belästigung, Art. 1 Abs. 1 lit. a und b ILO-Übereinkom­ men Nr. 190. II. Fokus Arbeitsschutz Neben antidiskriminierungsrechtlichen und strafrechtlichen Anknüp­ fungspunkten werden insbesondere arbeitsschutzrechtliche Maßnahmen benannt, um Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt zu begegnen, Art. 4 Abs. 2 lit. h, Art. 9 lit. b und c, Art. 10 lit. h, Art. 11 lit. a, Art. 12 ILOÜbereinkommen Nr. 190. In Art. 9 ILO-Übereinkommen Nr. 190 finden sich Hinweise darauf, wie arbeitsschutzrechtliche Vorschriften ausgestaltet sein müssen, um Gewalt und Belästigung einschließlich geschlechtsspezifischer Gewalt und Belästi­ gung zu verhindern. Gemäß Art. 9 lit. b ILO-Übereinkommen Nr. 190 sind Gewalt und Belästigung und damit verbundene psychosoziale Risiken beim Arbeitsschutzmanagement zu berücksichtigen. In Art. 9 lit. c ILOÜbereinkommen Nr. 190 wird explizit auf die Risikobewertung verwiesen. Unter Beteiligung der Arbeitnehmenden und ihrer Vertretungen sollen Gefahren ermittelt sowie die Risiken von Gewalt und Belästigung bewertet und Maßnahmen zu ihrer Verhinderung ergriffen werden. Die ILO-Empfehlung Nr. 206 bietet Ansätze zur Umsetzung: In Nr. 8 ILO-Empfehlung Nr. 206 wird ausgeführt, dass bei der arbeitsplatzbezoge­ nen Risikobewertung solche Gefahren und Risiken für Gewalt und Belästi­ gung berücksichtigt werden sollten, die sich erstens aus den Arbeitsbedin­ gungen, der Organisation und dem Personalmanagement ergeben, zwei­ tens bei denen Dritte involviert sind und drittens, die von Diskriminie­ rung, ungleichen Machtverhältnissen und geschlechtsspezifischen kultu­ rellen und sozialen Normen, die Gewalt und Belästigung begünstigen, aus­ gehen. Art. 10 ILO-Übereinkommen Nr. 190 und Nr. 21 und 22 der ILO-Emp­ fehlung Nr. 206 konkretisieren die Durchsetzung und Abhilfemaßnahmen für eine gewalt- und belästigungsfreie Arbeitswelt dahingehend, dass die Arbeitsschutzaufsicht für Gewalt und Belästigung sowie geschlechtersensi­ ble Spezifika geschult werden und sie diese Aspekte in ihre Kontrollmaß­ nahmen mit einbeziehen muss. Art. 11 lit. b. ILO-Übereinkommen Nr. 190 178

Die Aufnahme geschlechtsspezifischer Gewalt in die Gefährdungsbeurteilung

verweist explizit auf Leitlinien der maßgeblichen Stellen des Arbeitsschut­ zes. Auch die Rolle der Aufsichtsbehörden und die Ausstattung dieser mit Sanktions- und Kontrollbefugnissen wird als wichtig erachtet, Art. 4 lit. h, Art. 10 lit. h ILO-Übereinkommen Nr. 190. III. Impulse aus dem ILO-Übereinkommen Nr. 190 nutzen Für die Schließung der benannten Lücke setzt das ILO-Übereinkommen Nr. 190 Impulse, das Arbeitsschutzrecht so auszugestalten, dass es inner­ halb der Prävention geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung proak­ tiv mit aufnimmt. Hierzu gehört der Fokus auf geschlechtersensible Ansät­ ze und die Berücksichtigung der spezifischen Bedingungen beim Entste­ hen von geschlechtsspezifischer Gewalt und Belästigung. Das ILO-Über­ einkommen Nr. 190 birgt zwar keine neuen rechtlichen Verpflichtungen, da das nationale Arbeitsschutzrecht die Berücksichtigung psychosozialer Risiken an mehreren Stellen und insbesondere auch der Risikoanalyse (Ge­ fährdungsbeurteilung) integriert hat. Jedoch können die Verweise des Übereinkommens auf die Besonderheiten geschlechtsspezifischer Gewalt und Belästigung sowie die Wichtigkeit sensibilisierter Arbeitsschutzakteu­ re und konkretisierender Leitlinien aufgenommen werden, um ge­ schlechtsspezifische Gewalt und Belästigung präventiv in die Gefährdungs­ beurteilung mit aufzunehmen. Hierfür böte sich vor dem Ergebnis der unzureichenden Thematisie­ rung geschlechtsspezifischer Gewalt und Belästigung in den aktuellen Verordnungen und Leitlinien des Arbeitsschutzes insbesondere die Über­ arbeitung dieser an: Für die vielversprechende Integration geschlechtsspe­ zifischer Gewalt und Belästigung als reguläre Gefährdung, die in der Realität in einer Vielzahl von Arbeitszusammenhängen stattfindet und keine Ausnahme darstellt, könnte entweder eine Neuauflage einer Verord­ nung zu psychischen Belastungen, in der Gewalt und Belästigung und die Besonderheiten geschlechtsspezifischer Gewalt und Belästigung enthalten sind, oder aber eine eigenständige Verordnung zu Gewalt und Bestätigung erlassen werden. Eine Verordnung sollte in jedem Fall wichtige Aspekte im Umgang mit Gewalthandlungen beinhalten. Hierzu gehört das Vor­ kommen unterschiedlicher Gewaltformen sowie die Spezifika geschlechts­ spezifischer Gewalt wie Machtmissbrauch sowie geschlechtsspezifischen einschränkenden und gewaltbegünstigenden gesellschaftlichen Normen. Entsprechendes sollte in den Leitlinien der GDA und BAuA für die Umset­ zung des Arbeitsschutzes in den Betrieben mit aufgenommen bzw. vertieft und mit konkreten Handlungsschritten versehen werden. 179

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Die Ratifikation des ILO-Übereinkommens Nr. 190 ist nicht notwendig, um die Impulse in die Verordnungen und Leitlinien zu integrieren. Sehr wohl könnte sie dazu beizutragen, das Thema geschlechtsspezifische Ge­ walt und Belästigung auf die politische Agenda zu setzen und eine zügige Überarbeitung des konkretisierenden Regelungswerks des Arbeitsschutzes und somit einen ganzheitlichen Arbeitsschutz voranzutreiben.

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III. Das Recht als politisches Herrschafts- und Steuerungselement im Geschlechterkontext

Der Vorwurf des Politischen. Vorverständnisse in der Rezeption feministischer Rechtswissenschaft Pola Marie Brünger*

Mit dem „Gesetz über die Zulassung der Frauen zu den Ämtern und Beru­ fen in der Rechtspflege“1 wurden am 11.7.1922 die formalen Hindernisse beseitigt, die Frauen bis dahin von juristischen Berufen ausgeschlossen hatten. Allerdings wurde noch im gleichen Jahr bei der Vertreterversamm­ lung des Deutschen Anwaltvereins überwiegend die Meinung vertreten, Frauen hätten schon aufgrund ihrer physischen und psychischen Verfas­ sung in der Rechtspflege nichts zu suchen, vielmehr wäre das „rein Mütter­ liche […] das Charakteristische der Frau“2. Nun, 100 Jahre später, nimmt dieser Beitrag eine Diskurspraxis in den Blick, die – so lautet die These – in besonderem Maße dazu genutzt wird, um die feministische Rechtswissenschaft3 aus dem juristischen Diskurs

* Pola Marie Brünger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wil­ helms-Universität Bonn. Für wertvolle Anregungen, Diskussionen und Unterstüt­ zung in verschiedenen Phasen der Entstehung des Beitrages dankt die Verfasserin Helena Alcantara, BVRin Prof. Dr. Susanne Baer, LL.M. (Michigan), Claudio Bartmann, Michael Buttler, Valentina Chiofalo, Luc von Danwitz, LL.M. (Michi­ gan), Dr. Rainer Keil, Milena Kupka, Prof. Dr. Anna Katharina Mangold, LL.M. (Cambridge), Prof. Dr. Heiko Sauer, Carolin Schlößer, LL.M. (IHEID, Genf) und Helena Weise. 1 RGBl. 1922 I 573. 2 Verhandlungen der 14. Vertreterversammlung des Deutschen Anwaltvereins, Ste­ nographischer Bericht, JW 1922, 1241 (1250, 1255). Ausführlicher zur Zulassung von Frauen zu den Berufen der Rechtspflege s. Kohleiss, Frauen in und vor der Jus­ tiz: Der lange Weg zu den Berufen der Rechtspflege, KritV 1988, 115 (118 ff.). 3 Mangold, Kanon und Antikanon, 31.3.2017, unveröffentlichtes Vortragsmanu­ skript (liegt Verf. vor), S. 1 ordnet die feministische Rechtswissenschaft gemeinsam mit den Critical Legal Studies und der Critical Race Theory dem „Antikanon einer kritischen Rechtswissenschaft“ zu; zwar handele es sich jeweils um „höchst hetero­ gene ‚Ansätze‘“, es verbinde sie jedoch, „dass sie sich kritisch mit überkommenen oder herrschenden, hegemonialen Zugängen oder Grundannahmen der Rechtswis­ senschaft auseinandersetzen“ (HiO).

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auszugrenzen.4 Es geht um den Vorwurf des Politischen, mit dem regelmä­ ßig der Verdacht artikuliert wird, juristisch-methodische Sorgfalt werde zugunsten politisch-aktivistischer Motive aufgegeben.5 Der Untersuchung liegt eine Unterscheidung zwischen dem wissen­ schaftstheoretischen Kernanliegen und der diskursiven Nutzung des Vor­ wurfs zugrunde. Der erste Teil widmet sich der Suche nach dem materiel­ len Gehalt des Vorwurfs und legt hierbei ein besonderes Augenmerk auf den Umgang mit Vorverständnissen. Gegenstand des zweiten Teils ist die Frage, wie der Vorwurf in der rechtswissenschaftlichen Debatte verwendet wird, wobei exemplarisch die Rezeption feministischer Rechtswissenschaft betrachtet wird. A. Vorverständnisse in der Rechtswissenschaft und der Vorwurf des Politischen Der Vorwurf des Politischen stellt den rechtswissenschaftlichen Gehalt einer Aussage unter Verweis auf ihre vermeintliche politische Prägung infrage. Wie schwerwiegend dieser Vorhalt ist, hängt nicht zuletzt damit zusammen, was man unter Recht und Politik jeweils versteht und wie das Verhältnis von Recht und Politik interpretiert wird.

4 Zur „Abwertung von kritischen Perspektiven wie Legal Gender Studies als unwis­ senschaftlich, subjektiv und ‚ideologisch‘“ s. Chebout/Gather/Valentiner, Und täg­ lich grüßt das Murmeltier. Sexismuskritik und Abwehrreaktionen im juristischen Kontext, RuP 2018, 79 (80). Zur diskursiven und materiellen Ausgrenzung von „innovativen Ansätzen“ in der deutschen Antidiskriminierungsrechtsdogmatik s. Lembke, Die Gleichheit der Ungleichen, in: Kersten/Rixen/Vogel (Hrsg.), Ambiva­ lenzen der Gleichheit, 2021, 115 (130 f.); zur „diskriminierenden Fachkultur“ in der Rechtswissenschaft s. Lembke/Valentiner, Diskriminierung und Antidiskrimi­ nierung in der juristischen Ausbildung, in: Bretthauer/Henrich/Völzmann/ Wolckenhaar/Zimmermann (Hrsg.), Wandlungen im öffentlichen Recht, 2020, 279 (308 f.). 5 S. hierzu Valentiner, Geschlecht und Recht, JuS 2022, 1094 (1094 f.). Für eine ver­ tiefte Auseinandersetzung mit dem Aktivismusvorwurf gegenüber Wissenschaft­ ler:innen s. Dobusch, Objektivität in Anführungszeichen, APuZ 72 (2022), 35, der diesen untersucht und zu dem Werturteilsstreit als historischem Vorläufer in Be­ zug setzt.

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Der Vorwurf des Politischen

I. Dimensionen des Vorwurfs des Politischen Geht man von der trennscharfen Abgrenzbarkeit von Recht und Politik aus, steht nicht weniger als der Vorwurf der mangelnden Rechtswissen­ schaftlichkeit im Raum. Erkennt man demgegenüber jedoch eine enge Verbindung an, wiegt der Vorwurf weniger schwer. Den folgenden Über­ legungen liegt die These zugrunde, dass Recht und Politik zwar grundsätz­ lich zu unterscheiden sind, aber dennoch in einem wechselvollen Verhält­ nis stehen: In der Verfassung findet die Kopplung beider Systeme besonde­ ren Ausdruck, schließlich organisiert die Verfassung politische Herrschaft und verteilt politische Gestaltungsmacht.6 Folglich ist „die Wissenschaft vom Öffentlichen Recht […] mit der Technik politischer Herrschaft direk­ ter verbunden als andere Wissenschaften“7. Versteht man das Verfassungs­ recht in diesem Sinne als „Recht der Politik“, bedeutet das noch nicht, dass die Rechtswissenschaft deshalb zur „politischen Wissenschaft“ wird.8 Dieser rechtstheoretische Grundkonflikt über das Verhältnis von Recht und Politik übersetzt sich regelmäßig auch in unterschiedliche metho­ dische Ansätze.9 Wenn beispielsweise Originalisten und Kontextualisten über die Auslegung der US-amerikanischen Verfassung streiten, dann streiten sie auch darüber, wie lebendig die Verfassung auf veränderte gesellschaftliche Realitäten reagieren soll.10 Versteht man die Verfassung

6 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1998, S. 782; Bornemann, Politisie­ rung des Rechts und Verrechtlichung der Politik durch das Bundesverfassungs­ gericht?, ZfRSoz 28 (2007), 75 (81 ff.). 7 Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre als Mikrokosmos, 2. Aufl. 2022, S. 21; zum „sehr engen Politikbezug der Disziplin“ s. auch Möllers, Vorüberlegungen zu einer Wissenschaftstheorie des Öffentlichen Rechts, in: Jestaedt/Lepsius (Hrsg.), Rechts­ wissenschaftstheorie, 2008, 151 (169). Damit sei nicht gesagt, dass die Rechtsge­ biete des Zivil- und Strafrechts nicht auch „Produkte politischer und sozialer Zu­ sammenhänge“ wären (Möllers, Struktur und Gegenstand des Curriculums im Verfassungsrecht – jenseits von Staatsbürgerkunde und Vergrundrechtlichung, in: Krüper [Hrsg.], Rechtswissenschaft lehren, 2022, § 17 Rn. 18). Deutliche Kritik an dem apolitischen Selbstverständnis der Privatrechtswissenschaft bei Krüper, Kate­ goriale Unterscheidung von Öffentlichem Recht und Privatrecht, VVDStRL 79 (2020), 43 (76 ff.). 8 Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre als Mikrokosmos, 2. Aufl. 2022, S. 21. 9 Schmitt Glaeser, Vorverständnis als Methode, 2004, S. 32 ff. Zur Bedeutung einer Verfassungstheorie für den Inhalt der Verfassung s. Volkmann, Rechts-Produktion oder: Wie die Theorie der Verfassung ihren Inhalt bestimmt, STAAT 54 (2015), 35 (37 ff.). 10 Zur größeren „sozialwissenschaftliche[n] und interdisziplinäre[n] Öffnung“ der Rechtswissenschaften in den USA s. Wrase, Zwischen Norm und sozialer Wirk­

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primär als historischen Text, der geltungszeitlich zu interpretieren ist, liegt eine enge Arbeit am Wortlaut der Verfassungsurkunde jedenfalls näher, als wenn man das Prozesshafte, Lebendige der Verfassung betont und damit notwendigerweise das Augenmerk auf das wechselvolle Verhältnis zwi­ schen Verfassung und Verfassungswirklichkeit legt.11 Letzteres verlangt schon methodisch die Verarbeitung von Erkenntnissen aus Nachbarwis­ senschaften. Der Vorwurf des Politischen kann hier also letztlich auch als Methodenkritik verstanden werden. Der genaue Aussagegehalt des Vorwurfs des Politischen ist damit im­ mer auch abhängig von ihm zugrundeliegenden Rechts- und Methoden­ verständnissen. Nicht selten fußt er jedoch auf dem Missverständnis, dass eine von jeglicher Subjektivität befreite Rechtserkenntnis möglich ist. II. Unvermeidbarkeit individueller Perspektivität Der Versuch, das Recht und die Methodik gegen „ethisch-politische Vorverständnisse“ zu immunisieren, ist aussichtslos.12 Es kann also nur darum gehen, einen konstruktiven Umgang mit den hieraus resultieren­ den Herausforderungen zu finden.13 Die Grundlage für einen solchen konstruktiven Diskurs über Vorverständnisse im Recht bildet damit das Eingeständnis, dass sich in der Rechtsarbeit eigene „Vorstellungen vom Recht, die (durch Sozialisation oder Ausbildung) erlernt wurden“14, nie­ derschlagen.15 Intersubjektiv verbindliche Interpretationen des Rechts

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lichkeit, 2013, S. 474 ff.; in Bezug auf die wissenschaftliche Diskussion von affir­ mative action ebenso Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, 2. Aufl. 1996, S. 264; in Bezug auf die Auseinandersetzung mit der „sozialen Wirklich­ keit“ bei der Interpretation von Gleichheitsrechten Baer, Würde oder Gleichheit?, 1995, S. 221 f. Dass beide Deutungen nicht in einem Alternativitätsverhältnis stehen, macht Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1999, § 1 Rn. 36 ff. plastisch, wenn er die Verfassung zwischen der Polari­ tät von „Starrheit“ und „Beweglichkeit“ verortet. So auch Stolleis, Staatsrechtslehre und Politik, 1996, S. 4; Schmitt Glaeser, Vor­ verständnis als Methode, 2004, S. 13; Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre als Mikro­ kosmos, 2. Aufl. 2022, S. 22. Möllers, Editorial: Lehren aus der autoritären Wende, STAAT 58 (2019), 503 (504) regt zu einer Diskussion über die „verbreitete These einer unpolitischen ‚Eigenlogik‘ des Rechts“ an. Schmitt Glaeser, Vorverständnis als Methode, 2004, S. 292. Eingehend dazu Baer, Rechtssoziologie, 5. Aufl. 2023, § 8 Rn. 31 ff.

Der Vorwurf des Politischen

müssen insofern das rechtsstaatliche Verlangen nach Rationalität und Vor­ hersehbarkeit des Rechts mit dem Faktum subjektiv determinierter Rechts­ anwendung in Einklang bringen. Daher ist eine akademische Auseinander­ setzung mit dem „politische[n] Gehalt rechtswissenschaftlicher Aussa­ gen“16 aus wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse deutlich erstrebenswer­ ter als ein kontrafaktisches Negieren von bestehenden Wechselwirkun­ gen.17 III. Wahrnehmungen der Wirklichkeit Nicht jeder politische Gehalt einer rechtswissenschaftlichen Aussage kor­ rumpiert also automatisch ihre Wissenschaftlichkeit.18 Das entschärft den Vorwurf des Politischen, verdeutlicht aber gleichzeitig das Erfordernis einer stärkeren Reflexion über Vorverständnisse und Methodenwahl.19 Die Notwendigkeit eines reflektierten und transparenten Umgangs mit Vorver­ ständnissen wird noch klarer, wenn man sich vergegenwärtigt, dass subjek­ tive Wertungen nicht nur die Subsumtion unter Rechtsnormen prägen, sondern bereits die vorausgehende Tatsachenfeststellung, oder richtiger: Tatsachenbeurteilung. Dadurch nehmen juristische Untersuchungen be­ reits unterschiedliche Ausgangspunkte. Ute Sacksofsky hat hierzu herausge­ arbeitet, dass sich „immer wieder [zeige], daß die Überzeugungskraft der Argumente – jedenfalls der starken – abhängt von der Einschätzung der aktuellen gesellschaftlichen Wirklichkeit.“20 Ein Dissens bei der Bestim­ 16 Möllers, Vorüberlegungen zu einer Wissenschaftstheorie des Öffentlichen Rechts, in: Jestaedt/Lepsius (Hrsg.), Rechtswissenschaftstheorie, 2008, 151 (172). 17 Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre als Mikrokosmos, 2. Aufl. 2022, S. 22 bescheinigt der Staatsrechtslehre ein diesbezügliches Reflexionsdefizit. 18 So auch Möllers, Vorüberlegungen zu einer Wissenschaftstheorie des Öffentli­ chen Rechts, in: Jestaedt/Lepsius (Hrsg.), Rechtswissenschaftstheorie, 2008, 151 (172). 19 Auch die Methodenwahl präjudiziert Interpretationsergebnisse (Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre als Mikrokosmos, 2. Aufl. 2022, S. 22 mwN); weitreichender Es­ ser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1970, S. 7: „Die Praxis […] geht nicht von doktrinären ‚Methoden‘ der Rechtsfindung aus, son­ dern benutzt sie nur, um die nach ihrem Rechts- und Sachverständnis angemesse­ ne Entscheidung lege artis zu begründen.“ Instruktiv hierzu auch Grimm, Metho­ de als Machtfaktor, in: Horn (Hrsg.), Festschrift für Helmut Coing zum 70. Ge­ burtstag, I, 1982, 469 ff. 20 Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, 2. Aufl. 1996, S. 272. In der konkret von ihr betrachteten wissenschaftlichen Debatte über affirmative action in den USA komme es also entscheidend darauf an, ob man von der Existenz tief­

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mung der gesellschaftlichen Wirklichkeit zeigt sich etwa, wenn Uwe Ki­ schel den Mangel an Rechtsprechung und Literatur zu Diskriminierungen aufgrund der „Rasse“ als Indiz dafür wertet, dass Rassismus im Rechtsall­ tag kein relevantes Problem sei21 und Doris Liebscher diese Einschätzung unter Rückgriff auf die Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes zurück­ weist22. Die Auswirkungen unterschiedlicher Wirklichkeitswahrnehmun­ gen werden besonders in gleichheitsrechtlichen Fragestellungen deutlich. Hier prädeterminiert die Vergleichsgruppenbildung häufig schon das juris­ tische Ergebnis,23 wie etwa bei der verfassungsrechtlichen Debatte über die Einführung von wahlrechtlichen Paritätsregelungen erkennbar wird: Je nachdem, ob die Gesamtbevölkerung oder die Mitgliederschaft der betref­ fenden Partei als Anknüpfungspunkt gewählt wird, divergieren dort be­ reits die Einschätzungen darüber, ob es in tatsächlicher Hinsicht bestehen­ de Nachteile im Sinne des Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG gibt, die es auszugleichen gilt.24 B. Nutzung des Vorwurfs des Politischen zur systematischen Diskursverengung Ist nun also dargelegt worden, dass es aus wissenschaftlichem Erkenntnis­ interesse unbedingt angezeigt ist, sich mit den unvermeidbaren Vorver­

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greifender rassistischer Strukturen ausgeht, die (unbewusst) diskriminierungsfrei­ es Handeln hindern, denn nur dann gelange man zu der Einschätzung, dass reak­ tiver Diskriminierungsschutz nicht genüge und proaktives Gleichstellungsrecht erforderlich sei. Kischel, Rasse, Rassismus und Grundgesetz, AöR 145 (2020), 227 (228 f.), der den­ jenigen, die diese Einschätzung nicht teilen, zugleich vorwirft Rassismus zu einem „konturlosen politischen Kampfbegriff“ zu machen, „um so für eigene Zwecke von der emotionalen Besetzung zu profitieren“. Liebscher, Rassialisierte Differenz im antirassistischen Rechtsstaat, AöR 146 (2021), 87 (88 f.). So ziehen Kempny/Reimer, Die Gleichheitssätze, 2012, S. 44 aus der Beobach­ tung, dass bereits die Bestimmung der „Vergleichbarkeit“ bzw. „wesentliche[n] Gleichheit“ Teil eines wertenden Elements des Tatbestands sei dann auch die Konsequenz, dass diese Fragen geschlossen auf der „Prüfungsstufe der Rechtferti­ gung“ zu thematisieren sind. Volk, Paritätisches Wahlrecht, 2022, S. 191 ff. verneint dies mit dem Verweis auf die „Überrepräsentanz“ von Frauen in den Parlamenten im Vergleich zur Zahl weiblicher Mitglieder in den Parteien. So schon Morlok/Hobusch, Ade parité? – Zur Verfassungswidrigkeit verpflichtender Quotenregelungen bei Landeslisten, DÖV 2019, 14 (18 f.); Morlok/Hobusch, Sinnvoll heißt nicht verfassungsgemäß – zu Meyers Kritik an der Paritätskritik, NVwZ 2019, 1734 (1734 f.).

Der Vorwurf des Politischen

ständnissen der Verfassungsinterpret:innen kritisch auseinanderzusetzen,25 soll im Folgenden der Blick darauf gerichtet werden, wie der Vorwurf des Politischen im rechtswissenschaftlichen Diskurs verwendet wird. Anlass ist ein jedenfalls subjektiv empfundener Missstand in der Debattenkultur: So scheint es, als würde der Vorwurf des Politischen oftmals wirkmäch­ tig denjenigen entgegengebracht, die etwas Neues fordern – oder zumin­ dest etwas Neues für verfassungsrechtlich zulässig halten. Solche „neuen“ wissenschaftlichen Ansätze, die über eine Perpetuierung des Status quo hinausweisen, finden sich unter anderem in der feministischen Rechtswis­ senschaft, deren Rezeption im Folgenden betrachtet wird. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser These bereitet methodische Schwierigkeiten: So basiert die Untersuchung einerseits auf subjektiv empfundenen Missständen als Gegenstand geteilter Erfahrung,26 andererseits werden diese durch empirische Befunde jedenfalls plausibili­ siert27 und wurden beispielsweise in Bezug auf die Paritätsdebatte bereits diskursanalytisch aufbereitet28. Dies offenlegend wird im Folgenden die These zur Diskussion gestellt, dass die feministische Rechtswissenschaft mithilfe des Vorwurfs des Politischen aus dem rechtswissenschaftlichen Diskurs ausgegrenzt werden soll,29 während zugleich (politische) Vorver­ ständnisse der herrschenden Lehre invisibilisiert werden. 25 Zur Notwendigkeit reflexiver Praxis im Rahmen von Verfassungsvergleichung s. Baer, Verfassungsvergleichung und reflexive Methode: Interkulturelle und inter­ subjektive Kompetenz, ZaöRV 2004, 735 ff. 26 Zum Beispiel beobachtet auch Mangold, Kanon und Antikanon, 31.3.2017, un­ veröffentlichtes Vortragsmanuskript (liegt Verf. vor), S. 9, dass sich der „Main­ stream“ im rechtswissenschaftlichen Diskurs als unpolitisch markiert und sich da­ mit in einen nicht nur „graduellen, sondern strukturellen Gegensatz zu ‚rechtspo­ litischen‘ Äußerungen“ der „gegenhegemonialen“ Rechtswissenschaft setzt. 27 S. hierzu Sacksofsky/Stix, Was lange währt und immer noch nicht gut ist. Zur Re­ präsentanz von Frauen in der Wissenschaft vom Recht, KJ 51 (2018), 464 ff., de­ ren empirische Untersuchung eine eklatante Unterrepräsentanz von Frauen in der Rechtswissenschaft nachweist; sowie Lembke/Valentiner, Diskriminierung und Antidiskriminierung in der juristischen Ausbildung, in: Bretthauer/Henrich/ Völzmann/Wolckenhaar/Zimmermann (Hrsg.), Wandlungen im öffentlichen Recht, 2020, 279 ff. 28 Rabe, Teilhabegerechtigkeit in der Rechtsetzung – Hegemoniale Positioniertheit im juristischen Paritätsdiskurs, in: Huggins/Herrlein/Werpers et al. (Hrsg.), Zu­ gang zu Recht, 2021, 111 ff. 29 S. hierzu beispielhaft Kowalski, Geschlechtergerechte Sprache im Spannungsfeld mit rechtswissenschaftlicher Methodik, NJW 2020, 2229 ff., der geschlechterge­ rechte Sprache in der Rechtswissenschaft als „identitätspolitische Anliegen der Genderlinguistik“ (S. 2229) versteht und zum Ergebnis gelangt, dass die „gender­ linguistische Methodik hinter der Ablehnung des generischen Maskulinums und

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I. Neutralitätsprätention der herrschenden Lehre Die Grenzen des Formates machen es notwendig, den juristischen Diskurs zum Zwecke dieser Untersuchung auf ein Gegenüber von herrschender Lehre und kritischen Gegenentwürfen zuzuspitzen – obwohl diese not­ wendige Komplexitätsreduktion der tatsächlichen Pluralität der Debatte nicht gerecht wird. Die herrschende Lehre, die hier als Gegenspieler der feministischen Rechtswissenschaft verstanden wird, wählt – so die These – selbst ein konservatives Grundverständnis als Ausgangspunkt der eigenen Argumentation. Im Konservativismus ist das Bewahren oberste politische Maxime;30 es geht darum, den Status quo zu sichern und zu stabilisie­ ren. Eine misstrauische Grundhaltung gegenüber Neuerungen entspricht damit der konservativen Logik31 und gerät damit selbst in Verdacht „poli­ tisch“ zu sein. Wie im ersten Teil der Untersuchung dargelegt, ist dies für sich genom­ men noch nicht problematisch, solange ein transparenter Umgang mit diesen politischen Vorverständnissen gewählt wird. Problematisch wird es dort, wo auf der einen Seite kritische Verfassungsrechtswissenschaft unter politischen Generalverdacht gestellt wird und auf der anderen Seite verkannt wird, dass herkömmliche Positionen oftmals ihrer eigenen politi­ schen Logik folgen. So beteuern in den USA „konservative und restaurativ­ orientierte Bewegungen […] gemeinhin, es gelte die ‚echte‘, unter dem Staub einer ‚aktivistischen‘ und expansiven Rechtsprechung verschüttete Verfassung, wie sie von den Gründervätern ursprünglich geschaffen und

der Forderung nach so genannter geschlechtergerechter Sprache […] im Wider­ spruch zu den gefestigten Eckpfeilern der hermeneutischen Wertungsjurispru­ denz und des freiheitlich-demokratischen Menschenbildes [steht]“ (S. 2234). 30 Schumann, ‚Konservativismus‘ als analytischer Strukturbegriff, in: Schumann (Hrsg.), Konservativismus, 2. Aufl. 1984, 370 (381) definiert Konservativismus als „politisches Handeln zwecks Sicherung von Herrschaftsstrukturen des sozialen Status quo, dem bestehende Normen und Institutionen – notfalls durch Anpas­ sung an soziale Wandlungen – dienstbar gemacht werden“. 31 S. hierzu Kulick/Vasel, Das konservative Gericht, 2021, die in der Spruchpraxis des BVerfG „dogmatischen Konservatismus“ (S. 24 und passim) identifizieren und Meinel, Das Bundesverfassungsgericht in der Ära der Großen Koalition, STAAT 60 (2021), 43 (98), der dem Zweiten Senat das Ziel bescheinigt, „die ge­ genwärtigen Institutionen des parlamentarischen Regierungssystems zu verän­ dern, um sie gegen neue Formen des Politischen abzudichten“.

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Der Vorwurf des Politischen

verstanden worden sei, zu bergen.“32 Es wird also ein exklusiver Wissen­ schaftlichkeitsanspruch reklamiert.33 Hierbei wird außer Acht gelassen, dass es das Privileg der Mehrheit ist, die Neutralität ihrer Aussagen reklamieren zu können.34 Schwächen

32 Reich, „Originalismus“ als methodologischer Scheinriese und verfassungspoliti­ sche Konterrevolution, JöR 65 (2017), 713 (718 f. mwN) (HiO); s. außerdem S. 738 f. zum verfassungspolitischen Erfolg des Originalismus als restaurative Kraft und „verfassungspolitischer Gigant“. 33 Zur vermeintlichen „Neutralität“ konservativer Zugriffe s. Breyer, Active Liberty, 2005, S. 70 ff.: „[S]ubjectivity is a two-edged criticism, which the literalist himself cannot escape. The literalist’s tools – language and structure, history, and tradition – often fail to provide objective guidance in those truly difficult cases […]“. Dies führt er im Folgenden (S. 127) näher aus: „[…] those difficulties mean that the ‘textualist,’ ‘traditionalist,’ and ‘originalist’ approaches themselves possess in­ herently subjective elements. Which linguistic characteristics are determinative? Which canons shall we choose? Which historical account shall we use? Which tra­ dition shall we apply? And how does that history, or that tradition, apply now? Significantly, an effort to answer these questions can produce a decision that is not only subjective but that is also unclear, i.e., one that lacks transparency about the factors that the judge considers truly significant. A decision that directly ad­ dresses consequences, purposes, and values is no more subjective and has the ad­ ded value of exposing underlying judicial motivations, specifying the points of doubt for all to read. This is particularly important because transparency of ratio­ nale permits informed public criticism of opinions; and that criticism, in a demo­ cracy, plays an important role in checking abuse of judicial power“ (HiO). 34 Instruktiv hierzu Young, Inclusion and democracy, 2000, S. 108, auf die auch Ra­ be, Teilhabegerechtigkeit in der Rechtsetzung – Hegemoniale Positioniertheit im juristischen Paritätsdiskurs, in: Huggins/Herrlein/Werpers et al. (Hrsg.), Zugang zu Recht, 2021, 111 (127) in ihrem diskursanalytischen Fazit zur Paritätsdebatte verweist und hierzu formuliert: „Die herrschende Meinung legt ihre Perspektivi­ tät nicht offen und dominiert den Diskurs. Sie blendet dabei Ungleichheit aus. Bleiben wir bei Young: Die dominante Position geriert sich auch beim Thema Pa­ rität als neutral und bestimmt die Diskursregeln […]“ (HiO). Hier zeigt sich eine Parallele zu dem Diskurs zur „Identitätspolitik“, die auch erst dann zur Identitäts­ politik wird, sobald nicht mehr die Interessen der Mehrheitsgesellschaft ins Zen­ trum gestellt werden, denn wer „den spezifischen Erwartungen entspricht, wird nicht aktiv kategorisiert“ (Markard, Zwangsehen und Scheinehen: Intersektionali­ tät als Analyseinstrument im Recht, in: Bereswill/Degenring/Stange [Hrsg.], Inter­ sektionalität und Forschungspraxis – wechselseitige Herausforderungen, 2015, 20 [22 f.]). S. hierzu auch Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht, 2021, S. 319 f.; Möllers, Freiheitsgrade, 2. Aufl. 2020, S. 96 ff. Demgegenüber geht Schor­ kopf, Staat und Diversität, 2017, S. 17, davon aus, dass Diversitätskonzepte – in­ dem sie „die Vorstellung einer gesellschaftlichen Normalität [bestreiten]“ – das Mehrheitsprinzip infrage stellen, sodass am Ende das Politische der parlamentari­ schen Demokratie dem Schutz identitärer Gruppen geopfert werde (S. 39 f. und

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der Erkenntnisgewinnung im Recht können durch einen weitreichenden Konsens in der herrschenden Lehre verdeckt werden.35 Das bedeutet, dass die Abhängigkeit der Interpretation von Vorverständnissen nicht wahrge­ nommen wird, solange alle maßgeblichen Interpret:innen im Kern diesel­ ben Vorverständnisse teilen.36 Diese Einigkeit wird aufgebrochen, wenn in einen pluralisierten Kreis der Interpret:innen andere Vorverständnisse eingebracht werden oder durch weniger starre Hierarchien auch andere Interpretationen Gehör finden.37 Diese Pluralisierung der Interpretationen löst Reaktanz aus;38 Teile von Wissenschaft und Gesellschaft treten an, um ihre Diskurshoheit zu verteidigen. Jedoch geben sie sich hierbei nicht als Interessensvertreter:innen zu erkennen, sondern gerieren sich als Verfech­ ter:innen „neutraler“ Wissenschaftlichkeit und der liberalen Demokratie.39

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passim); kritisch hierzu Lembke, Die Gleichheit der Ungleichen, in: Kersten/ Rixen/Vogel (Hrsg.), Ambivalenzen der Gleichheit, 2021, 115 (121). MacKinnon, Toward a Feminist Theory of the State, 1989, S. 237 formuliert es so: “In male supremacist societies, the male standpoint dominates civil society in the form of the objective standard – that standpoint which, because it dominates the world, does not appear to function as a standpoint at all”. Schmitt Glaeser, Vorverständnis als Methode, 2004, S. 20. In diesem Sinne plädiert Ernst-Wolfgang Böckenförde dafür, den akademischen Diskurs – über Hierarchien hinweg – als Auseinandersetzung in der Sache zu füh­ ren: „In der Wissenschaft zählt nur das Argument, nicht der Status“ (Böckenförde/Gosewinkel, Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht, 2011, S. 343). Zur Notwendigkeit personeller Mitwirkung aller gesellschaftlicher Grup­ pen im Rechtssystem s. Grünberger/Mangold/Markard/Payandeh/Towfigh, Diver­ sität in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, 2021, S. 86 f. Baer, Recht als Praxis. Herausforderungen der Rechtsforschung heute, ZfRSoz 2016, 213 (228 ff.) bezeichnet dieses Phänomen als „kognitive Renitenz“; die wis­ senschaftliche Qualität kritischer Rechtsforschung allein sichere noch nicht ihre Rezeption. Ein anschauliches Beispiel für diese Neutralitätsprätention bietet Brett Kavanaughs concurring vote zu U.S. Supreme Court, Urteil v. 24.6.2022, Dobbs v. Jack­ son Women’s Health Organization, 597 U.S. (2022), Kavanaugh, J., concurring, slip op., S. 2 f.: “On the question of abortion, the Constitution is therefore neither pro-life nor pro-choice. The Constitution is neutral and leaves the issue for the people and their elected representatives to resolve through the democratic process […]. Because the Constitution is neutral on the issue of abortion, this Court also must be scrupulously neutral”.

Der Vorwurf des Politischen

Statt sich konstruktiv an der Debatte zu beteiligen,40 werden alarmistische Warnungen vor „Sprech-Verboten“ ausgesprochen.41 II. Feministische Rechtswissenschaft unter Ideologieverdacht Durch die wachsende Zahl feministischer Rechtswissenschaftler:innen kommt es zu einer solchen Pluralisierung der Interpretationen. Da ihre Positionen in der Debatte bis dato weniger wirkmächtig vertreten wurden, kommt ihnen das eben beschriebene Privileg der Mehrheit – die Neutrali­ tät der eigenen Aussagen reklamieren zu können – nicht zu. Damit ist die feministische Rechtswissenschaft schon aufgrund ihrer Außenseiterpo­ sition im Diskurs42 dem Vorwurf des Politischen mit höherer Wahrschein­ lichkeit ausgesetzt. Inwieweit der Vorwurf zutrifft, lässt sich nur im Einzelfall beurtei­ len. Feministische Rechtswissenschaft lässt sich ebenso wenig wie ande­

40 Konstruktive Kritik etwa bei Rixen, Geschlechtertheorie als Problem der Verfas­ sungsauslegung, JZ 2018, 317 ff. Gegenstand kontrovers geführter Debatten in­ nerhalb der feministischen Rechtswissenschaft ist bspw. das Dilemma der Un­ gleichheitskritik zwischen Benennung und Essentialisierung (s. hierzu Maihofer, Geschlecht als Existenzweise, 1995, S. 156 ff.), s. systematisierend zur „antiessen­ tialistischen Kritik“ Elsuni, Feministische Rechtstheorie, in: Buckel/Christensen/ Fischer-Lescano (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts, 3. Aufl. 2020, 225 (232 ff.). Zur grundlegenden Differenzierung zwischen „selbstidentifizierte[r], gewollter[r] Vergesellschaftung in kollektive Identitäten und der nicht-intentionalen, erzwun­ genen Konstruktion von kollektiver Identität“ s. zusammenfassend Emcke, Kol­ lektive Identitäten, 2. Aufl. 2010, S. 207 ff. 41 Bender, Die Schutzverantwortung des Staates für eine freie Lehre, WissR 52 (2019), 27 (27) spricht in diesem Kontext von „Sprachspielchen der ‚political correctness‘“ und noch darüber hinausgehenden „,I feel offended‘-Regungen“ bei denen es „jedenfalls in der exzessiven Spielart – um eine vorauseilende Gehorsamspflicht gegenüber emotionalen ‚Schneeflöckchen‘“ gehe; s. hierzu au­ ßerdem Hillgruber, Wo bleibt die Freiheit der anderen?, FAZ v. 24.2.2014, der in der überproportionalen Diskursmacht der „Lobby der Homosexuellen“ eine potentielle Bedrohung der Meinungsfreiheit sieht; für Kritik an dem hierin zum Ausdruck kommenden Freiheitsverständnis s. Mangold, Die verfolgte Unschuld vom Lande oder: Warum es keines „Grundrechts auf Diskriminierung“ bedarf, in: Verfassungsblog, 22.2.2014, https://verfassungsblog.de/verfolgte-unschuld-vom-la nde-oder-warum-es-keines-grundrechts-auf-diskriminierung-bedarf/ (letzter Abruf am: 21.10.2022). 42 S. hierzu Cancik, Die verspätete Zunft? Frauen in der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer, in: Cancik/Kley/Schulze-Fielitz/Waldhoff/Wiederin (Hrsg.), Streitsache Staat, 2022, 795 (825 f.).

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re rechtskritische Perspektiven auf konsensual getragene Forderungen re­ duzieren.43 Stand in der Vergangenheit die „Frauenfrage“ im Zentrum der Betrachtung,44 prägen heute intersektionale Ansätze die Forschung.45 Jedenfalls aber ist feministische Rechtswissenschaft nicht pauschal mit einer „politischen Frauenrechtsbewegung“ gleichzusetzen.46 Diese Zu­ schreibung würde den Forschungsansatz verkennen, der von der Ausein­ andersetzung mit Differenzkonstruktionen und sozialer Ungleichheit ge­ prägt ist.47 Ausgehend vom demokratischen Ideal der „Begegnung der 43 Zur Heterogenität rechtskritischer Perspektiven s. Reinhardt/Schmalz, Ressour­ cen der Rechtskritik, KJ 54 (2021), 131 (136 f.); auch die Critical Legal Studies „präsentieren sich weder als einheitliche Theorie noch als ein geschlossenes Kri­ tikprojekt“ (Frankenberg, Partisanen der Rechtskritik: Critical Legal Studies etc., in: Buckel/Christensen/Fischer-Lescano [Hrsg.], Neue Theorien des Rechts, 3. Aufl. 2020, 171 [175]). 44 Zu der Entwicklung von der „Frauenfrage“ zur „Frage nach Macht und Herr­ schaft“ s. Foljanty/Lembke (Hrsg.), Feministische Rechtswissenschaft. Ein Studi­ enbuch, 2. Aufl. 2012, S. 22 f. 45 Das Konzept der „Intersektionalität“ erfasst das Zusammenwirken mehrerer Dis­ kriminierungsdimensionen unter der Prämisse, „dass Kategorien, die soziale Un­ gleichheit, gesellschaftliche Positionierungen und Gruppenzugehörigkeit erfas­ sen, nicht als separat und hermetisch, sondern als miteinander verbunden und sich gegenseitig beeinflussend zu denken sind“ (Bereswill/Degenring/Stange, In­ tersektionalität als Forschungspraxis, in: Bereswill/Degenring/Stange [Hrsg.], In­ tersektionalität und Forschungspraxis, 2015, 8 [8]); s. hierzu Combahee River Collective, A Black Feminist Statement, in: Hull/Bell Scott/Smith (Hrsg.), But So­ me of Us Are Brave. Black Women’s Studies, 1982, S. 13 ff.; Crenshaw, Demargi­ nalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscri­ mination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics, in: University of Chi­ cago Legal Forum, 1989, S. 139 ff.; Liebscher, Rasse im Recht – Recht gegen Ras­ sismus, 2021, S. 45 ff. Zur rechtswissenschaftlichen Operationalisierung des Kon­ zepts der Intersektionalität s. Markard, Die andere Frage stellen: Intersektionalität als Analysekategorie im Recht, KJ 41 (2009), 553 ff. Zum „Critical Race Femi­ nism“ s. auch Elsuni, Feministische Rechtstheorie, in: Buckel/Christensen/ Fischer-Lescano (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts, 3. Aufl. 2020, 225 (237 ff.). 46 Zur Frage, ob feministische Rechtswissenschaft (nur) Rechtspolitik ist s. Sacksofsky, Was ist feministische Rechtswissenschaft?, ZRP 2001, 412 (413 f.). Exem­ plarisch zur (Selbst-)Reflexion feministischer Wissenschaftspraxis s. Fox Keller, Feminismus und Wissenschaft, in: Hark (Hrsg.), Dis/Kontinuitäten: Feministi­ sche Theorie, 2001, 236 ff.; Haraway, Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive, in: Hark (Hrsg.), Dis/ Kontinuitäten: Feministische Theorie, 2001, 281 ff.; Hark, Dissidente Partizipation, 2005, S. 240 ff. 47 Zur machttheoretischen Analyse von Gleichheit als Charakteristikum feministi­ scher Rechtstheorie s. Elsuni, Feministische Rechtstheorie, in: Buckel/Christen­ sen/Fischer-Lescano (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts, 3. Aufl. 2020, 225 (230 ff.)

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Freien und Gleichen“48 gilt es, systematische Exklusionsmechanismen im Recht sichtbar zu machen: Es müssen die faktischen Auswirkungen ver­ meintlich neutraler Normen in den Blick genommen werden.49 Hierfür bedarf es einer rechtswissenschaftlichen Methode, die diese faktischen Aus­ wirkungen des Rechts erfassen und verarbeiten kann: „Damit zeichnen sich feministische Rechtstheorien […] durch eine bestimmte Wahrneh­ mung des Verhältnisses zwischen Recht und Wirklichkeit aus.“50 Der Ansatz verlangt die „kritische Dekonstruktion von impliziten An­ nahmen“51 und legt nahe, dass eine „Konzeption von Recht, seinen Insti­ tutionen und Erkenntnisprozessen als politisch neutral, erkenntnistheore­ tisch objektiv und formal-prozedural determiniert“ ein „Mythos“ ist.52 In der Ablehnung feministischer Rechtswissenschaft treffen daher nicht sel­ ten inhaltliche Distanzierung von den als politisch identifizierten Inhalten und Skepsis hinsichtlich des methodischen Zugriffs zusammen. Hierbei wird verkannt, dass sich die Disziplin einer Aufgabe stellt, die das Recht an sie heranträgt:53 Schon der Gleichheitssatz verlangt eine „präzise Wahr­

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mit Verweis auf MacKinnon, Toward a Feminist Theory of the State, 1989, S. 215 ff. Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht, 2021, S. 42, 397 ff., 427 f., die das Antidiskriminierungsrecht als Ermöglichungsbedingung deliberativer Demo­ kratie begreift und dafür an das Demokratiemodell von Jürgen Habermas (grund­ legend Habermas, Faktizität und Geltung, 4. Aufl. 1994, S. 151 ff., 349 ff.) an­ knüpft; zum Verständnis paritätischer Wahlregelungen als „demokratisches Anti­ diskriminierungsrecht“ s. Röhner, Von Repräsentation zu demokratischer Gleich­ heit, STAAT 59 (2020), 421 (447); zum Antidiskriminierungsrecht als „Funktions­ voraussetzung von Demokratie“ s. Lembke, Die Gleichheit der Ungleichen, in: Kersten/Rixen/Vogel (Hrsg.), Ambivalenzen der Gleichheit, 2021, 115 (130 ff.). Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht, 2021, S. 192. Unter Bezugnahme auf MacKinnon, Toward a Feminist Theory of the State, 1989, S. 237: Baer/Elsuni, Feministische Rechtstheorien, in: Hilgendorf/Joergen (Hrsg.), Handbuch Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 2021, 296 (296). Zu daraus entste­ henden „auf rassialisierte Differenz übertragbare[n] Einsichten in das Verhältnis von Recht und Gleichheit“ s. Liebscher, Rasse im Recht – Recht gegen Rassismus, 2021, S. 30. Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht, 2021, S. 266, die diese Forde­ rung stets mit der Aussage verknüpft, dass auf jede Dekonstruktion eine Rekon­ struktion folgen muss (S. 306). Liebscher, Rasse im Recht – Recht gegen Rassismus, 2021, S. 30 f. Die mangelnde Auseinandersetzung der Staatsrechtslehre mit Gleichheitsfragen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts führt Sacksofsky, Gleichheitsdiskussionen der Staatsrechtslehrervereinigung, in: Cancik/Kley/Schulze-Fielitz/Waldhoff/Wie­ derin (Hrsg.), Streitsache Staat, 2022, 479 (494) auch auf die „fehlend[e] Wahr­

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nehmung und gerecht differenzierende Würdigung der Wirklichkeit“54. Dem Recht liegen immer wieder stereotype Vorstellungen zugrunde, die zunächst sichtbar gemacht werden müssen.55 Hierbei kommt sozialwissen­ schaftlichen Erkenntnissen notwendigerweise eine besondere Relevanz zu. Dieser interdisziplinäre Ansatz bedeutet dabei jedoch nicht die Preisgabe der Rechtswissenschaftlichkeit, es geht vielmehr darum, wissenschaftliche Erkenntnisse anderer Disziplinen „gewinnbringend um[zu]setzen“, ohne sich dabei „den auftretenden Übersetzungsproblemen der interdisziplinä­ ren Verständigung [zu] verschließen“56. C. Rückkehr zur Sache: Anforderungen an einen offenen Diskurs Der Wissenschaftsanspruch verlangt, die kritische (Selbst-)Reflexion zum Bestandteil der eigenen rechtswissenschaftlichen Praxis zu machen und einen transparenten Umgang mit Vorverständnissen zu pflegen. Gleichzei­ tig ist zu beobachten, dass der Vorwurf des Politischen zweckentfremdet zur systematischen Diskursverengung genutzt werden kann, indem er sug­ geriert, dass die Position der kritisierenden Person im Gegensatz dazu „politisch neutral“ sei. Helmut Schulze-Fielitz hat in Bezug auf die Politiknähe der Staatsrechts­ lehre als Strukturproblem resümiert, dass sich diesbezügliche „Wahrneh­ mungsdifferenzen […] nur im argumentativen Diskurs in der Sache, nicht durch ausgrenzend-stigmatisierende Nichtbeachtung oder pauschale Ideo­ logiekritik klären [lassen]“57. Zum Abschluss sollen drei Vorschläge unter­ breitet werden, wie zum Gelingen dieses Diskurses beigetragen werden kann: Erstens sollte Transparenz im Umgang mit Vorverständnissen als

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nehmung und mangelnd[e] Wertschätzung von Emanzipationsbewegungen“ zu­ rück. Sachs/Nußberger, 9. Aufl. 2021, GG, Art. 3 Rn. 103. Beispielsweise legt Dagmar Schiek überzeugend dar, dass vielen arbeitsrechtli­ chen Regelungen die Vorstellung einer stereotypen dreiphasigen Erwerbsbiogra­ phie zugrunde liegt, die implizit an dem Normalmodell des „male bread winner“ ausgerichtet sind (Schiek, Age discrimination before the ECJ – conceptual and theoretical issues, CMLRev 48 [2011], 777 [782]). So Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht, 2021, S. 318 in Bezug auf den rechtswissenschaftlichen Umgang mit sozialwissenschaftlichen Erkenntnis­ sen. Zu Chancen und Grenzen „geschlechtertheoretischer Argumentation für die Verfassungsauslegung“ s. auch Rixen, Geschlechtertheorie als Problem der Verfas­ sungsauslegung, JZ 2018, 317 ff. Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre als Mikrokosmos, 2. Aufl. 2022, S. 23.

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diskursfördernde Praxis anerkannt werden, zweitens gilt es die Förderung kritischer Forschung bereits zu einem Bestandteil der juristischen Ausbil­ dung zu machen und drittens sind Methodenpluralismus und Kontextuali­ sierung als selbstverständliche Bestandteile rechtswissenschaftlicher Arbeit zu etablieren. I. Transparenz im Umgang mit Vorverständnissen als diskursfördernde Praxis Wissenschaftliches Arbeiten verlangt einen transparenten Umgang mit den eigenen Vorverständnissen. In den Worten Max Webers gilt es, „in jedem Augenblick den Lesern und sich selbst scharf zum Bewußtsein zu bringen, welches die Maßstäbe sind, an denen die Wirklichkeit gemessen […] wird“58; daran anschließend formuliert er das fundamentale wissen­ schaftliche Gebot, „jederzeit deutlich zu machen, daß und wo der denken­ de Forscher aufhört und der wollende Mensch anfängt zu sprechen“59. Gleichzeitig wirkt diese Offenheit diskursfördernd:60 Schließlich kann man sich nicht länger der Sachdiskussion entziehen, indem man einseitig den Vorwurf des Politischen erhebt. Anna Katharina Mangold spricht in diesem Zusammenhang von der erkenntnisfördernden Notwendigkeit, die eigene Perspektivität ernst zu nehmen und offen zu legen. Andernfalls mache man die eigene Perspektive implizit zum Normalmaßstab und er­ schwere damit die offene Kritik an ebendieser Perspektivität.61

58 Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkennt­ nis, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 1904, 22 (32). 59 Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkennt­ nis, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 1904, 22 (33): Dies möchte er lediglich als Plädoyer gegen die „Vermischung, nicht etwa gegen das Eintreten für die eigenen Ideale“ verstanden wissen. 60 In Bezug auf die Frage nach einem adäquaten Umgang mit dem Aktivismusvor­ wurf in der Wissenschaft gelangt Dobusch, Objektivität in Anführungszeichen, APuZ 72 (2022), 35 (40 f.) ebenfalls zu dem Ergebnis, dass es mehr Offenheit be­ darf und begreift diese als „Werkzeug in kollektiven Erkenntnisprozessen“. Erst Transparenz lasse Einschätzungen zur Einhaltung wissenschaftlicher Qualitäts­ standards zu und ermögliche dadurch die notwendige Auseinandersetzung in der Sache. 61 Mangold, Kanon und Antikanon, 31.3.2017, unveröffentlichtes Vortragsmanu­ skript (liegt Verf. vor), S. 15.

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II. Kritische Forschung als Bestandteil der juristischen Ausbildung Das Bewusstsein, dass der eigene Blick auf das Recht von Subjektivität geprägt ist, klingt einerseits banal – steht auf der anderen Seite jedoch in deutlichem Widerspruch zu den Lehrinhalten der juristischen Ausbildung. So werden in der juristischen Ausbildung eher technische Fähigkeiten geschult als das kritische Denken gelehrt.62 Die für das wissenschaftliche Studium essentielle Anleitung zur Reflexion kommt in der juristischen Ausbildung dabei zu kurz.63 Christoph Möllers konstatiert in diesem Zu­ sammenhang, dass es dem deutschen Verfassungsrecht bereits an einer geeigneten Sprache fehle, um den Zusammenhang von Verfassungsrecht und Grundlagenfragen zum Ausdruck zu bringen und in der Lehre wei­ terzugeben.64 Dieser Mangel an reflexiver Praxis in der Lehre und der stattdessen oftmals stark kasuistisch-darstellerische Zugriff erschweren die Bewusstseinsbildung für das Recht als Produkt seiner Zeit. III. Methodenpluralismus und Kontextualisierung der Rechtswissenschaft Letztlich gilt es, ein Nebeneinander unterschiedlicher Methoden inner­ halb der Rechtswissenschaft zu akzeptieren und diesen Pluralismus als Wert zu begreifen.65 Der häufig stärkere Wirklichkeitsbezug und die Mul­

62 Instruktiv hierzu Heymann/Luft/Reith, Wer denken will, fliegt raus, KJ 54 (2021), 423 ff.; Möllers, Editorial: Lehren aus der autoritären Wende, STAAT 58 (2019), 503 (504) bescheinigt der deutschen Juristenausbildung „eine deutliche Tendenz […], Bürokraten zu produzieren“. Zur aktuellen Reformdiskussion s. nur Krüper, Notorisch reformunwillig, in: Verfassungsblog, 12.7.2022, https://verfassungsblog .de/notorisch-reformunwillig/ (letzter Abruf am: 21.10.2022), der auf die fehlende Auseinandersetzung mit den Qualifikationszielen des Studiums hinweist. 63 Möllers, Struktur und Gegenstand des Curriculums im Verfassungsrecht – jen­ seits von Staatsbürgerkunde und Vergrundrechtlichung, in: Krüper (Hrsg.), Rechtswissenschaft lehren, 2022, § 17 Rn. 22. Zur grundsätzlichen Kritik an der juristischen Ausbildung und der Vernachlässigung des Humboldtschen Bildungs­ ideals s. auch Gierharke, Zur bröckelnden Einheit von Forschung und Lehre, BRJ 2019, 8 ff. Zum Schattendasein der juristischen Methodenlehre als Lehrgegen­ stand s. Krüper, Zum Projekt einer rechtswissenschaftlichen Fachdidaktik, in: Krüper (Hrsg.), Rechtswissenschaft lehren, 2022, § 1 Rn. 61. 64 Möllers, Struktur und Gegenstand des Curriculums im Verfassungsrecht – jen­ seits von Staatsbürgerkunde und Vergrundrechtlichung, in: Krüper (Hrsg.), Rechtswissenschaft lehren, 2022, § 17 Rn. 19. 65 So auch Mangold, Kanon und Antikanon, 31.3.2017, unveröffentlichtes Vortrags­ manuskript (liegt Verf. vor), S. 15 f. Grundlegend hierzu Häberle, Die offene Ge­

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tiperspektivität kritischer Zugriffe auf das (Verfassungs-)Recht sind wert­ volle Ressourcen des Erkenntnisgewinns.66 Kontextualisierung und Verfas­ sungsdogmatik stehen dabei in keinem Exklusivitätsverhältnis: „Nicht in der Tatsache der Verbindung von Recht und Politik liegt das Problem der Verfassung – diese Verbindung ist schließlich das, was das Konzept der Verfassung konstituiert –, sondern in der Schwierigkeit einen Verfas­ sungsbegriff zu entwickeln, in dem die schöpferische Kraft der Politik sich entfalten kann.“67 Es geht also nicht zuletzt darum, „politischen Rechtspre­ chungsfolgen mehr intertemporale Elastizität zu geben“68. Perspektivwech­ sel69 ermöglichen hierbei einen wissenschaftlich produktiven „Pluralismus der Rechtdeutungen“70 und sind notwendige Bedingung selbstreflexiver Praxis.

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sellschaft der Verfassungsinterpreten: Ein Beitrag zur pluralistischen und „prozes­ sualen“ Verfassungsinterpretation, JZ 1975, 297. So schärft bspw. die Auseinandersetzung mit der Narrativität des Rechts („Law as Narrative“) und die Sensibilisierung für Entstehung und Wirkungsweise sog. „stock stories“ das Bewusstsein für die Multiperspektivität des Rechts, s. Blufarb, Geschichten im Recht, 2017, S. 540 ff. Preuß, Der Begriff der Verfassung, in: Preuß (Hrsg.), Zum Begriff der Verfassung, 1994, 7 (9). Gärditz, Verfassungsentwicklung und -rechtswissenschaft, in: Herdegen/Masing/ Poscher/Gärditz (Hrsg.), HVerfR, 2021, § 4 Rn. 64. Zum Gewinn (politischer) Entscheidungsspielräume als Konsequenz einer stärker kontextualisierenden Auf­ arbeitung der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung s. Lepsius, Die maßstab­ setzende Gewalt, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger (Hrsg.), Das entgrenz­ te Gericht, 2011, 159 (259 ff.). Zur Notwendigkeit der reflexiven Auseinander­ setzung mit der Zeitkontingenz des Rechts s. auch Lepsius, Themen einer Rechts­ wissenschaftstheorie, in: Jestaedt/Lepsius (Hrsg.), Rechtswissenschaftstheorie, 2008, 1 (41 ff.). Zur Multiperspektivität durch Diversität s. Grünberger/Mangold/Markard/Payan­ deh/Towfigh, Diversität in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, 2021, S. 59 und passim. Lepsius, Rechtswissenschaft in der Demokratie, STAAT 52 (2013), 157 (186).

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Parität und demokratische Gleichheit. Eine intersektionale Analyse Lea Rabe*

Die faktische Gleichberechtigung von Frauen im politischen Bereich be­ wegt die Rechtswissenschaft und -praxis seit 2019 verstärkt. In der Debatte um Paritätsgesetze geht es um die Macht von Frauen, Recht zu machen: als Abgeordnete im Parlament und als Mitglieder in den Parteien. Die vor­ nehmste Funktion des Parlaments im Verfassungsstaat ist es, die Demokra­ tie zu realisieren.1 Dem Bundestag obliegt die Repräsentation der Staats­ bürger:innen; er ist als Kulminationspunkt der staatlichen Willensbildung demokratisches Zentralorgan.2 Die feministische Rechtswissenschaft und Critical Race Theory3 begreifen daher Ausschlüsse von der politischen Wil­ lensbildung als Hemmnis für die gleiche Freiheit staatsbürgerlicher Sub­ jekte, mithin als demokratisches Defizit. Paritätsgesetze sollen die Teilhabe von Frauen verbessern. Der vorliegende Beitrag nimmt die Tagung „Frau. Macht. Recht.“ zum Anlass, zwei Fragen an das Projekt Parité zu richten. Die erste dieser Fragen lautet: Macht Frau Recht? Der Frauenanteil im Bundestag liegt aktuell bei gerundeten 34,8 %.4 Frau macht also weniger Recht als Mann – ließe sich schlussfolgern. Ein Paritätsgesetz begreifen vie­ le als einen demokratischen Teilhabemechanismus: Die Anhebung des Frauenanteils durch die Beseitigung von Partizipationshürden erzeuge fai­ re Bedingungen für die demokratischen Aushandlungsprozesse im Parla­ ment. Andere meinen, Demokratie setze gerade eine formale Gleichheit der Staatsbürger:innen voraus. Wie ist also die – im Vergleich zur Bevölke­

* Lea Rabe promoviert an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster im Ver­ fassungsrecht zum Thema Parität und ist wissenschaftliche:r Mitarbeiter:in an der Universität Bremen. 1 Parlamentsrecht Handbuch/Schliesky, 2015, § 5 Rn. 7. 2 Dreier Grundgesetz-Kommentar/Morlok, 3. Aufl. 2015, GG Art. 38 Rn. 35. 3 Barskanmaz, Critical Race Theory in Deutschland, in: Verfassungsblog 24.7.2020, https://verfassungsblog.de/critical-race-theory-in-deutschland/ (letzter Abruf am: 16.10.2022). 4 Eigene Berechnung nach Bundeswahlleiter, Wahl zum 20. Deutschen Bundestag am 26. September 2021, Heft 3, Endgültige Ergebnisse nach Wahlkreisen, 2021, S. 401.

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rungsstruktur – geringe Anzahl weiblicher Abgeordneter verfassungsrecht­ lich zu bewerten? Die zweite Frage lautet: Macht Recht Frau? Dem Recht kommt im Rechtsstaat erhebliche Steuerungswirkung zu.5 Damit gehen Konstrukti­ onsleistungen einher, denn um Lebenssachverhalte nach dem Prinzip „Tatbestand – Rechtsfolge“ einzufangen, sind Definitionen und Kategori­ sierungen notwendig. Postkategorial gedacht ist die Gruppe der – durch ein Paritätsgesetz zu fördernden – „Frauen“ nicht präexistent, sondern entsteht erst durch das Recht. Diese Kategorisierung ist rechtfertigungsbe­ dürftig. Funktioniert Parität auch postkategorial und intersektional? Hinter der vordergründigen Diskussion um die Wahlvorschlagsquo­ te(n) zeichnen sich Grundmotive des Verfassungsrechts ab: Fragen nach demokratischer Gleichheit und Freiheit, Teilhabe, Repräsentation und letztlich nach der Ordnungsfunktion des Rechts überhaupt – und deren Rechtfertigung. Der vorliegende Beitrag widmet sich diesen anhand des aktuellen Fallbeispiels geschlechterparitätischer Wahlgesetzgebung. A. Macht Frau Recht? – Die Forderung nach Parität Das geschlechterparitätische „Standard“-Modell ist eine gesetzliche Vorga­ be für die Parteien, die diese verpflichtet, ihre Wahllisten abwechselnd – also nach dem sogenannten Reißverschlussprinzip – mit Männern und Frauen zu besetzen.6 Enby-Personen, das heißt Personen, die sich nicht dem weiblichen und männlichen Geschlecht zugehörig fühlen, können auf allen Plätzen kandidieren.7 Eine solche Quote beeinträchtigt die Gleichheit und Freiheit der Wahl aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG sowie die Freiheit der Parteien als Programmund Wahlvorschlagsfreiheit und ihr Recht auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 GG.8 Auch Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG ist berührt.9 Das gilt jeden­

5 Dreier Grundgesetz-Kommentar/Schulze-Fielitz, 3. Aufl. 2015, GG Art. 20 Rn. 52. 6 So die Paritätsgesetze in Brandenburg BbgGVBl. 2019 I 1 und Thüringen ThürGVBl. 2019 6/9, 322. 7 Eine fehlende Kandidaturmöglichkeit kollidiert mit der Allgemeinheit der Wahl; es ist zudem eine Lösung zu finden, die das allgemeine Persönlichkeitsrecht wahrt, LT Bbg-Drs. 6/9699, 8; Wapler, Die Crux mit der Quote, KAS Analysen und Doku­ mente, 2019, S. 12. 8 Die Unmittelbarkeit der Wahl ist nicht betroffen, siehe Volk, Paritätisches Wahl­ recht, 2022, S. 294, 301, 314, 331. 9 Fontana, Parität als verfassungsrechtlicher Diskurs, DVBl 2019, 1153 (1155).

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falls bei Zugrundelegung eines abstrakt-symmetrischen Rechtsverständnis­ ses. Rechte lassen sich abstrakt-symmetrisch und konkret-asymmetrisch be­ trachten. I. Formale und materiale Gleichheit Vor allem in der Diskussion der verfassungsrechtlichen Gleichheitssätze hat die Unterscheidung abstrakt-symmetrischer – also formaler – und kon­ kret-asymmetrischer – also materialer – Gleichheit Tradition.10 Abstraktsymmetrische Gleichheit blendet tatsächliche soziale Bedingungen aus (symmetrisches Gesellschaftsbild) und differenziert zwischen den durch Zuordnung zu einem Oberbegriff (Staatsbürger:in, Deutsche:r, Mensch) Berechtigten nicht weiter.11 Konkret-asymmetrische Gleichheit hingegen reflektiert die sozialen Bedingungen, in denen Individuen ihre Rechte verwirklichen können. Die Paritätsdiskussion fördert diese verfassungsdog­ matischen Grundausrichtungen zutage. Quoten für die Parlamente sind eine Entscheidung für materiale Gleich­ heit im Wahlrecht. Die staatsbürgerliche Gleichheit, die die Wahlrechts­ grundsätze für diesen Bereich konkretisieren, ist aber herkömmlich eine formalisierte Gleichheit.12 Daran hält das Bundesverfassungsgericht auch in Hinblick auf Paritätsgesetze fest. Im Beschluss zu einer Wahlprüfungs­ beschwerde, die wegen unparitätischer Ausgestaltung der Wahl zum 19. Deutschen Bundestags erhoben wurde, wiederholte der Zweite Senat: Wahlrechtsgleichheit sei „im Sinne einer strengen und formalen Gleich­ heit zu verstehen“13. Formale Gleichheitssätze sind abstrakt-symmetrisch.14

10 Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, 2. Aufl. 1996, S. 23 ff., 101 ff. 11 Röhner, Ungleichheit und Verfassung. Vorschlag für eine relationale Rechtsana­ lyse, 2019, S. 169 f. 12 BVerfG Beschl. v. 15.12.2020 – 2 BvC 46/19, NVwZ 2021, 469 (472) (stRspr); Volk, Paritätisches Wahlrecht, 2022, S. 116 f. mwN. 13 BVerfG Beschl. v. 15.12.2020 – 2 BvC 46/19, NVwZ 2021, 469 (472). In der Sache ging es um Bewertung der nicht-paritätischen Ausgestaltung des Wahlsystems als mandatsrelevantem Wahlfehler: ein Wahlfehler durch Unterlassen, der besonde­ ren Begründungsanforderungen unterliegt. Die Ausgestaltung des Wahlrechts für die Bundestagswahl obliegt nämlich gemäß Art. 38 Abs. 3 GG der Rechtsetzung. Der Zweite Senat prüfte (und verneinte) daher nur die Zulässigkeit der Beschwer­ de, ein dezidiertes obiter dictum lässt gleichwohl einige sachliche Rückschlüsse auf Paritätsgesetzgebung zu. 14 Röhner, Ungleichheit und Verfassung. Vorschlag für eine relationale Rechtsana­ lyse, 2019, S. 169 f.

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Das heißt, sie abstrahieren von einer konkreten Wirklichkeit und ordnen Rechtssubjekte gleich an Rechten und Pflichten. Die hier relevante ab­ strakte Kategorie lautet „Staatsbürger:in“. Das heißt: Alle Staatsbürger:innen sollen das aktive und passive Wahl­ recht in möglichst formal gleicher Weise ausüben können.15 Werden grundsätzlich 50 % der Kandidaturen an Frauen und Männer vergeben, er­ gibt sich der Konflikt mit der Wahlgleichheit in der Phase der Nominie­ rung, denn Frauen sind in allen Parteien in der Unterzahl.16 Eine Frau hät­ te demnach derzeit also eine relativ höhere Chance, nominiert zu werden, als ein Mann. Denn sie muss sich auf den Plätzen „weiblich/divers“ gegen weniger Konkurrenz durchsetzen.17 Das heißt, dass die Chance, nominiert zu werden, für Wahlbewerberinnen höher ist als für Wahlbewerber. Die Kandidaturmöglichkeit von Enby-Personen auf allen Plätzen stellt eine weitere (formale) Differenzierung dar, denn diesen stehen, anders als Frau­ en und Männern, alle Plätze zur Verfügung.18 In Anschluss an Cara Röhner kann die formalisierte Wahlrechtsgleich­ heit aber punktuell weiterentwickelt werden19: zu einer konkret-asymme­ trischen, materialen Gleichheit. Rechtliche Kategorisierungen – etwa als Staatsbürger:in – sind folglich mit der konkreten Wirklichkeit abzuglei­ chen. Hinter der abstrakten Kategorie der Staatsbürger:in stecken dann zum Beispiel Männer, Frauen, Enby-Personen, Menschen mit Migrations­ geschichte und ohne eine solche, mit und ohne Behinderung oder akade­ mischen Bildungshintergrund. Es ließen sich weitere Kategorisierungen benennen. Ein hier vorläufiger Fokus auf die Geschlechterdimension führt zur Feststellung: Jedenfalls Frauen haben strukturell geringere Mandats­ chancen als Männer. Materiale Gleichheit wirkt auf einen solchen konkre­ ten Sachverhalt asymmetrisch und gleicht die faktischen Nachteile aus. Paritätsgesetze sollen geschlechtsspezifische Benachteiligungen im politi­ schen Bereich abbauen. Frauen werden in den Nominierungsverfahren benachteiligt, Vorurteile und Vereinbarkeitsfragen erschweren ihnen die 15 BVerfG Beschl. v. 15.12.2020 – 2 BvC 46/19, NVwZ 2021, 469 (472). 16 Niedermayer, Parteimitglieder in Deutschland, Arbeitshefte aus dem Otto-Stam­ mer-Zentrum Nr. 31, 2020, S. 23. 17 VerfGBbg Urt. v. 23.10.2020 – VerfGH 55/19, juris Rn. 158; Ebsen, Quotierung politischer Entscheidungsgremien durch Gesetz?, JZ 1989, 553 (555); PerniceWarnke, Parlamente als Spiegel der Bevölkerung?, DVBl 2020, 81 (84). 18 Morlok/Hobusch, Stellungnahme zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD, die LINKE und Bündnis 90/DIE GRÜNEN (LT-Drs. 6/6964), Thüringer LT, Zu­ schrift 6/3040 (2019), S. 12 f. 19 Röhner, Von Repräsentation zu demokratischer Gleichheit. Politische Teilhabe und gesellschaftliche Ungleichheit, STAAT 59 (2020), 421 (448).

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Partizipation an der Parteiarbeit und eine androzentrische Parteikultur mitsamt misogynen Praktiken entfaltet persistente Abschreckungseffekte. Dieses konkret-asymmetrische Verständnis kann in der verfassungs­ rechtlichen Prüfung auf zwei Ebenen Eingang finden: im Rahmen der Konkretisierung des Schutzbereiches oder bei der Prüfung der Rechtferti­ gung von Eingriffen in ein zunächst streng formal ausgelegtes Recht. Eine passive materiale Wahlrechtsgleichheit auf Schutzbereichsebene etwa wür­ de faktische Chancengleichheit für alle Staatsbürger:innen auf ein Mandat gewährleisten. Diese Betrachtungsweise reicht auch über die Gleichheits­ sätze hinaus. Beispielsweise wird zur Begründung von Paritätsgesetzen auch eine materiale Wahlfreiheit ins Feld geführt: Ein Paritätsgesetz weite die Wahlfreiheit aus; durch ein solches könnten die Wähler:innen Frauen überhaupt erst wählen. Es werde also tatsächliche Wählbarkeit erst herge­ stellt, die vorher aus strukturellen Gründen nicht gegeben war, und damit die Auswahlfreiheit verbreitert.20 Das ist eine konkrete Wirklichkeitsbe­ trachtung, die Asymmetrien auszugleichen sucht. II. Das Rechtfertigungsmodell im Wahlprüfungsbeschluss In Richtung des Rechtfertigungsmodells hingegen weist der eben schon er­ wähnte Wahlprüfungsbeschluss des Zweiten Senats. Die durch eine forma­ lisierte Wahlgleichheit grundsätzlich untersagten Differenzierungen kön­ nen demnach durch kollidierende materiale Gleichheitssätze gerechtfertigt werden. Der Zweite Senat meinte zum Verhältnis des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG zu Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG, es spreche „vieles dafür, dass sich diese Verfassungsgüter gleichrangig gegenüberstehen und es Sache des Gesetzge­ bers ist, zwischen ihnen einen angemessenen Ausgleich herbeizuführen“21. Eine Pflicht zur Einführung eines Paritätsgesetzes dürfte nach dieser Fest­ stellung nur noch schwer vertretbar sein. Allerdings – und das ist der Schlüssel für eine kontextualisierte staatsbürgerliche Gleichheit – bezeich­ nete der Zweite Senat Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG als abwägungsfähig mit Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG.22 Es handelt sich um ein Rechtfertigungsmodell: Die 20 Laskowski, Pro Parité. Ein verfassungskonformes Wahlrechtsmodell, in: EckertzHöfer/Schuler-Harms (Hrsg.), Gleichberechtigung und Demokratie – Gleichbe­ rechtigung in der Demokratie: (Rechts-) Wissenschaftliche Annäherungen, 2019, 125 (142). 21 BVerfG Beschl. v. 15.12.2020 – 2 BvC 46/19, NVwZ 2021, 469 (472). 22 So schon Meyer, Verbietet das Grundgesetz eine paritätische Frauenquote bei Listenwahlen zu Parlamenten?, NVwZ 2019, 1245 (1249).

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Rechtsetzung kann sich also für eine punktuelle Abweichung von der strengen und formalisierten Wahlgleichheit auf den Förderauftrag – einen konkret-asymmetrischen Gleichheitssatz – berufen, wenn sie positive Maß­ nahmen in der Geschlechterdimension erlassen will. Für das Rechtferti­ gungsmodell spricht, dass es eine präzisere Gewichtung und Abwägung der betroffenen Rechte ermöglicht. III. Argumente für Parität: Geschlechterdemokratie und materiale Wahlrechtsgleichheit Neben Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG kommen als zweites Argument für Parität als materiale Wahlrechtsgleichheit das Demokratieprinzip beziehungsweise die Volkssouveränität in Betracht. Beide werden nun untersucht. Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG verlangt tatbestandlich das Vorliegen einer Diskriminie­ rungslage. Unterschieden werden können intendierte und nicht-intendier­ te, strukturelle Diskriminierung.23 Mit der „Nachtarbeitsentscheidung“ be­ stätigte das Bundesverfassungsgericht das zuvor schon in der Lehre disku­ tierte Recht von Frauen auch gegen faktische Benachteiligung aus Art. 3 Abs. 2 GG aF, das die Gemeinsame Verfassungskommission im Jahr 1994 durch die Ergänzung des zweiten Satzes konsolidierte.24 Die Rechtsetzung darf grundsätzlich entsprechende positive Maßnahmen erlassen, die fakti­ sche Benachteiligung ausgleichen. Frauen sind seit Jahren im Bundestag im Vergleich zu ihrem Bevölke­ rungsanteil zahlenmäßig unterrepräsentiert.25 Der Zweite Senat deutete im Wahlprüfungsbeschluss allerdings an, dass die reinen Zahlenwerte nicht ausreichen, um eine tatbestandliche strukturelle Benachteiligung von Frauen bei den Nominierungsverfahren zu substantiieren.26 Politikund sozialwissenschaftliche Forschung hat sich mit einer solchen gleich­ wohl eingehend auseinandergesetzt und kann zur Subsumtion einer tatbe­ standlichen Diskriminierungslage herangezogen werden.

23 Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht, 2019, S. 209 ff. 24 BVerfG Urt. v. 28.1.1992 – 1 BvR 1025/82, 1 BvL 16/83, 1 BvL 10/91, NJW 1992, 964 (965), vorbereitet durch BVerfG Beschl. v. 28.1.1987 – 1 BvR 455/82, NJW 1987, 1541 (1542 f.). 25 Abels/Ahrens/Blome, 100 Jahre Frauenwahlrecht – und wo bleibt die Gleichheit?, Femina Politica 2/2018, 9 (15). 26 AA Sondervotum II zu ThürVerfGH Urt. v. 15.7.2020 – VerfGH 2/20, NVwZ 2020, 1266 (1275).

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1. Bestehende Nachteile im Sinne des Art. 3 Abs. 2 GG: strukturelle Diskriminierung Strukturelle Diskriminierung bei der Teilhabe an der politischen Willens­ bildung erleben Frauen sowohl auf ihrem Weg in und durch die Parteien als auch in den Nominierungsverfahren. a) Materiale Ungleichheit bei der Kandidat:innennominierung Solche zeigte sich beispielsweise bei den Nominierungen für die Bundes­ tagswahl 2021. Mit dieser stieg der Frauenanteil um etwa 4 % leicht an. Ein zunächst positiver Trend, wenn man so will; fast alle Parteien (bis auf die AfD) nominierten auch verglichen mit dem Anteil weiblicher Parteimit­ glieder überproportional viele Frauen. Der Frauenanteil unter den Ge­ wählten ist allerdings nicht nur von der absoluten Zahl der Nominierun­ gen abhängig, sondern auch von deren „Qualität“. Vereinfacht lässt sich sa­ gen: Frauen werden in der Regel weniger aussichtsreich, das heißt auf schlechteren Listenplätzen und in hoffnungsloseren Wahlkreisen nomi­ niert. SPD (25 %) und CDU (21,1 %) nominierten Frauen für die Wahl 2021 deutlich seltener und erkennbar häufiger in aussichtsloseren Wahl­ kreisen – dabei sind die Wahlkreisnominierungen der beiden „erststim­ menstarken“ Parteien besonders wichtig.27 Die SPD konnte das allerdings durch ihre Listenquote ausgleichen: Der Frauenanteil in der Bundestags­ fraktion liegt bei 41,8 %, in der CDU bei nur 23,7 %.28 Also gibt es struktu­ relle Diskriminierung von Kandidatinnen bei der Nominierung. b) Strukturelle Diskriminierung in den Parteien Zusätzlich findet intendierte und nicht-intendierte Diskriminierung in den Parteien statt. Die Benachteiligung entsteht durch sozio-ökonomische,

27 John/Bergen, Chancen auf eine bessere Repräsentation von Frauen im Bundestag nach der Wahl 2021?, Heinrich Böll Stiftung, https://www.boell.de/de/2021/09/21 /chancen-auf-eine-bessere-repraesentation-von-frauen-im-bundestag-nach-der-wah l-2021?fbclid=IwAR17ShlDyQCCN75Z-Pm0fklYs8ZrYEWrJvq2by0WHBAjPF4Z UuN8hJ-IqGk (letzter Abruf am: 16.10.2022). 28 Eigene Berechnung nach Bundeswahlleiter, Wahl zum 20. Deutschen Bundestag am 26. September 2021, Heft 3, Endgültige Ergebnisse nach Wahlkreisen, 2021, S. 401.

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institutionelle und politisch-kulturelle Faktoren.29 Frauen sind „demokra­ tisch verspätet“30. Das Frauenwahlrecht existiert erst seit gut 100 Jahren und eine breitenwirksame Beteiligung der Frauen in den Parteien fand vor den achtziger Jahren nicht statt. Dies geht Hand in Hand mit der verge­ schlechtlichten Verteilung von Sorge- und Haushaltsarbeit, von der Frauen nach wie vor den Hauptanteil stemmen.31 Der prototypische „Politiker“ ist männlich und von unbezahlter Arbeit unbelastet. Politikerinnen hinge­ gen berichten von „großer Überbelastung […] und in Einzelfällen sogar […] körperlichen Beschwerden und Krankheiten“32 sowie einem starken Leidensdruck aufgrund der kumulativen Verpflichtungen. Erschwerend kommt hinzu, dass in den Nominierungsverfahren unterbrechungsfreie – also männlichen Biografien entsprechende – Parteikarrieren bevorzugt werden.33 Männer werden daher aussichtsreicher nominiert. Die öffentliche Sphäre, also auch die institutionalisierte Politik, ist ein herkömmlich männlicher Raum.34 Die Defeminisierung des „Öffent­ lichen“ wurde noch weit bis ins 20. Jahrhundert unter anderem durch das Recht fortgetragen: Lange blieben den Frauen das Wahlrecht, das Recht auf Bildung, die Versammlungs- und Vereinsfreiheit und ein gleich­ berechtigter Zugang zur Erwerbsarbeit verwehrt. Heute durchziehen Oldboys-Netzwerke die politischen Strukturen.35 Diese kooptieren den Nach­ wuchs homosozial – vulgo: nach dem Ähnlichkeitsprinzip – und schreiben die „Spielregeln“ der Parteipolitik. Sie terminieren Veranstaltungen und

29 Sondervotum II zu ThürVerfGH Urt. v. 15.7.2020 – VerfGH 2/20, NVwZ 2020, 1266 (1275). 30 So die Kurzformel Laskowskis für den jahrzehntelangen Ausschluss von Frauen aus der Politik: Diese erhielten Zugang zu Parteien erst im Jahr 1908, das passive und aktive Wahlrecht in Deutschland erst im Jahr 1918, mit Aussetzung von 1933 bis 1945, siehe Laskowski, Pro Parité! Ohne gleichberechtigte Parlamente keine gleichberechtigten Gesetze und keine gleichberechtigte Gesellschaft! Eine juristische Streitschrift für ein modernes Wahlrecht, djbZ 2014, 93 (100). 31 European Institute for Gender Equality (EIGE), Gender Equality Index. Time in Germany for the 2021 edition, https://eige.europa.eu/gender-equality-index/2021/ domain/time/DE (letzter Abruf am: 16.10.2022). 32 Kürschner, Den Männern überlassen wir’s nicht! Erfolgreiche Frauen in der CSU, 2009, S. 223 f. 33 Kürschner, Den Männern überlassen wir’s nicht! Erfolgreiche Frauen in der CSU, 2009, S. 43. 34 Schmidt, Grundannahmen des Rechts in der feministischen Kritik, in: Foljanty/ Lembke (Hrsg.), Feministische Rechtswissenschaft. Ein Studienbuch, 2. Aufl. 2012, 74 (80). 35 ThürVerfGH Urt. v. 15.7.2020 – VerfGH 2/20, NVwZ 2020, 1267 (1275 f., Sonder­ votum II).

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Sitzungen in den Abendstunden und am Wochenende und damit zu klas­ sischen Familienzeiten, in denen Sorgearbeit Leistende besonders gefragt sind. Zudem ist der politische Raum nicht frei von Sexismus.36 Besonders eindrücklich zeigt das etwa folgender Erfahrungsbericht: „Das Thema sexuelle Belästigung spielt für mich eine große Rolle: Es kommt viel zu häufig vor, dass ich, als 19-Jährige [sic] (aber auch schon mit 17 Jahren) von älteren Männern auf parteiinternen Veran­ staltungen unangemessen ‚angemacht‘ wurde. Man fühlt sich angewi­ dert und vermeidet den Umgang mit männlichen Parteimitgliedern; man wird daran gehemmt, sich sachlich zu partizipieren. Dies passier­ te mir auf jeder Ebene: Ortsverband, im Bezirk, Landesebene, Bundes­ ebene.“37 Anekdotisch für mangelnde Vereinbarkeit ist auch ein Vorfall aus Thü­ ringen, der im August 2018 als sog. Babygate für Furore sorgte. Damals wurde die Abgeordnete Madeleine Henfling des Plenarsaals im Thüringer Landtags verwiesen, weil sie ihr schlafendes Baby mitbrachte, für das sie keine Betreuung hatte finden können.38 Diese Schlaglichter – Abkömmlichkeit, Abschreckung, Diskriminierung – beleuchten ein hintergründiges Geflecht sozialer Ungleichheit. Sie sollen zur Subsumtion unter Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG hier genügen. Der Tatbestand ist erfüllt: Frauen erleben strukturelle intendierte und nicht-intendierte Diskriminierung, mithin faktische Benachteiligung, im parteipolitischen Bereich. 2. Aufkündigung des Sexual Contract: Parität als Geschlechterdemokratie Carole Pateman hat die Geschlechterdimension dieser Ungleichheitsmatrix als Sexual Contract beschrieben.39 Das leitet zum Demokratieprinzip über.

36 Ricci/Hüchtker, Sexismus und Männerdominanz. Was Frauen in der Kommunal­ politik erleben, https://correctiv.org/aktuelles/2020/08/21/sexismus-und-maen nerdominanz-was-frauen-in-der-kommunalpolitik-erleben/ (letzter Abruf am: 16.10.2022). 37 Bieber, Frauen in der FDP – Mehr Chancen durch Vielfalt, 2018, S. 38. 38 Anzlinger, Abgeordnete mit Baby im Thüringer Landtag. „Ich will einfach meine Arbeit machen“, https://www.sueddeutsche.de/politik/abgeordnete-mit-baby-im -thueringer-landtag-ich-will-einfach-meine-arbeit-machen-1.4110799 -8 (letzter Abruf am: 16.10.2022). 39 Pateman, The Sexual Contract, 1988.

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Pateman ist der Auffassung, dass dem Gesellschaftsvertrag, auf dem liberale Demokratien basieren, ein ungeschriebener Sexual Contract inhärent ist. Im vorliegenden Zusammenhang ist die daraus resultierende Trennung öffentlicher und privater Sphäre eingedenk ihrer Vergeschlechtlichung re­ levant. Die Dichotomie Öffentlich/Privat, die mit „männlich“ und „weib­ lich“ übersetzt wird, setzt „Staatsbürgerlichkeit“ de facto mit Männlichkeit und Unabhängigkeit gleich. Frauen hingegen wurden rechtlich und fak­ tisch in Abhängigkeiten von Männern gedrängt; mithin als Staatsbürge­ rinnen „disqualifiziert“.40 Paritätswahlsysteme sollen Staatsbürgerlichkeit re-definieren und das „Öffentliche“ neutralisieren.41 Parität kann als Geschlechterdemokratie begriffen und eingriffsrechtfer­ tigend dann auch Art. 20 Abs. 1 und 2 GG herangezogen werden.42 Nach Horst Dreier ist Demokratie „eine auf kollektive Selbstbestimmung einer Gesellschaft Freier und Gleicher zielende Herrschaftsform, die ein Organi­ sationsproblem zu bewältigen hat“43. Die kollektive Selbstbestimmung weist aber Partizipationsdefizite (jedenfalls) für Frauen auf, die eine streng formale Wahlgleichheit nicht beheben kann – oder soll. Denn als abstraktsymmetrisches Recht kennt sie gerade keine Kompensationsrechte. Doch: Die formale Wahlrechtsgleichheit ist historisch ererbt und muss vor die­ sem Erbe reflektiert werden. Sie hat eine historisch spezifische Funktion erfüllt: Ihre Ordnungsfunktion sicherte die Souveränität des Individuums im Staat gegenüber monarchischen oder ständischen Prinzipien. Und sie knüpfte an das vermeintlich neutrale, tatsächlich aber androzentrische, staatsbürgerliche Subjekt an.44 Sie basiert also auf der Fiktion der „Männ­ lichkeit“ der Aktivbürger:innen und ist blind für die konkreten Auswir­ kungen der damit einhergehenden patriarchalen Zuschreibungen. Das

40 Rodríguez-Ruiz/Rubio-Marín, Constitutional Justification of Parity Democracy, Alabama Law Review 60 (2009), 1171 (1181). 41 Im Anschluss an Rodríguez-Ruiz/Rubio-Marín: Röhner, Ungleichheit und Verfas­ sung, 2019, S. 289. 42 v. Achenbach, Zurückweisungsantrag in dem Organstreitverfahren des Landes Brandenburg mit dem Az. VfgBbg 9/19, S. 56 f., https://www.uni-giessen.de/fbz/fb 01/professuren-forschung/professuren/wb_achenbach/mediathek/dateien/schriftsa tz-des-landtags-erwiderung-verfahren-npd.pdf (letzter Abruf am: 16.10.2022); Röhner, Von Repräsentation zu demokratischer Gleichheit, Politische Teilhabe und gesellschaftliche Ungleichheit, STAAT 59 (2020), 421 (445). 43 Dreier, Das Problem der Volkssouveränität, in: Stekeler-Weithofer/Zabel (Hrsg.), Philosophie der Republik, 2018, 37 (41). 44 Schmidt, Grundannahmen des Rechts in der feministischen Kritik, in: Foljanty/ Lembke (Hrsg.), Feministische Rechtswissenschaft. Ein Studienbuch, 2. Aufl. 2012, 74 (75 f.).

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konkret-asymmetrische Prinzip hingegen verteilt Freiheit faktisch gleich. Versteht man das Parlament als zentralen Ort der Umwandlung des Wil­ lens des Souveräns in Gesetzesform, diese Gesetze wiederum als Pakte des Zusammenlebens in der Organisationseinheit Staat45, und begreift Souve­ ränität als aller Staatlichkeit vorgeschaltet, sind strukturelle, faktische Zu­ gangsbeschränkungen ein demokratisches Problem. Materiale Gleichheit zielt auf die größtmögliche Freiheit aller Herrschaftsunterworfenen ab, un­ abhängig von deren Geschlecht. Anknüpfend an die allgemeine Men­ schengleichheit fordert sie gleiche Zugänge zur Herrschaft ein, und somit auch effektive Mitwirkung im politischen Bereich.46 3. Bilanz: Geschlechterdemokratie und Förderauftrag als „zwingende Gründe“ Ob Gleichberechtigungsgebot und Demokratieprinzip auch ein Paritätsge­ setz rechtfertigen, hängt mitunter von der konkreten Ausgestaltung ab. Eine abschließende Bewertung soll hier nicht erfolgen, die Prüfung wird nur konturiert. Die Rechtsetzung gestaltet das Wahlrecht gemäß Art. 38 Abs. 3 GG aus. Abweichungen von den Wahlrechtsgrundsätzen bedürfen „zwingender Gründe“47. Sinn und Zweck eines Paritätsgesetzes ist es, Machtstrukturen in den Parteien aufzubrechen und den Zugang zum par­ lamentarischen Prozess auszuweiten48: möglicherweise durch Gleichstel­ lungsgebot und Demokratieprinzip verfassungsrechtlich legitimiert, und damit „zwingende“ Gründe. Die Parteien sind aufgrund ihrer demokratie­ funktionalen Stellung die richtigen Regelungsadressatinnen.49 Ein Paritäts­

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Handbuch des Parlamentsrechts/Morlok, 2015, § 3 Rn. 1, 91. Habermas, Faktizität und Geltung, 7. Aufl. 2019, S. 209. BVerfG Beschl. v. 15.12.2020 – 2 BvC 46/19, NVwZ 2021, 469 (473; stRspr). Eulers, Frauen im Wahlrecht: Möglichkeiten zur Verbesserung der Partizipation von Frauen im Bundestag, 1991, S. 140; Fisahn/Maruschke, Gutachten zur Verfas­ sungskonformität einer Geschlechterquotierung bei der Aufstellung von Wahllis­ ten, 2018, S. 23; v. Achenbach, Zurückweisungsantrag in dem Organstreitverfah­ ren des Landes Brandenburg mit dem Az. VfgBbg 9/19, https://www.uni-giessen.d e/fbz/fb01/professuren-forschung/professuren/wb_achenbach/mediathek/dateien/s chriftsatz-des-landtags-erwiderung-verfahren-npd.pdf, S. 54 f. (letzter Abruf am: 16.10.2022). 49 Völzmann, Paritätsregelungen im Wahlrecht zwischen Parteienfreiheit, Gleich­ stellungsgebot und Demokratieprinzip, DVBl 2021, 496 (499); als Konsequenz des Gebots innerparteilicher Demokratie bei v. Achenbach, Zurückweisungsan­ trag in dem Organstreitverfahren des Landes Brandenburg mit dem Az. VfgBbg 9/19, https://www.uni-giessen.de/fbz/fb01/professuren-forschung/professuren/wb_

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gesetz verpflichtet sie, ausreichend Frauen zu nominieren, also auch zu re­ krutieren, und konterkariert so die vergeschlechtlichen Bewertungspara­ meter bei der Kandidierendenauswahl. So begriffen verfängt auch der Ein­ wand50 nicht, Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG erlaube nur Maßnahmen zur Herstel­ lung von Chancen-, nicht aber Ergebnisgleichheit. Denn tatsächliche Chancengleichheit bedarf der Einebnung der benannten Ungleichheits­ strukturen. Das Anliegen, Teilhabedefizite abzubauen, kann mit den be­ troffenen Rechten abgewogen werden. Dabei ist zu erinnern, dass auch an­ dere Wahlrechtsmodifikationen, wie die 5 %-Sperrklausel (§ 6 Abs. 3 S. 1 1. Var. BWahlG) und die Wahlrechtsausschlüsse aufgrund des Mindestal­ ters oder Richterspruchs (§§ 12 Abs. 1, 13, 15 BWahlG), massive Abwei­ chungen von Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG darstellen und dennoch als zulässig er­ achtet werden. Die Rechtsetzung trifft bei der Gestaltung des Wahlrechts nämlich „vielfältige Entscheidungen von großer Tragweite“51. Gute Argu­ mente sprechen dafür, die Entscheidung für oder gegen ein Paritätsgesetz dem demokratischen Prozess, der in der Kompetenz des Parlaments kulmi­ niert, zu überlassen.52 Diese Worte sollen zur Einordnung des mittlerweile schon „klassi­ schen“ Meinungsbildes genügen. Denn eingangs wurde noch eine weitere Frage aufgeworfen, die anregt, die vorgetragenen Argumente konsequent zu Ende und Parität damit weiterzudenken. B. Macht Recht Frau? Konstruktionsleistung des Rechts Diese zweite Frage lautete: Macht Recht Frau? Paritätsgesetze werden als Fördermaßnahmen für Frauen diskutiert. Dabei ist erst einmal zu begrün­ den, warum „Frauen“ hervorgehoben sind. Der Verfassungstext macht die­ se Begründung – im ersten Zugriff – einfach. Aus dem Grundgesetz, näm­ lich Art. 3 Abs. 2 und 3 GG, erfahren wir, dass „Frauen“ eine förderungs­ würdige Kollektivität sind, die auch nicht diskriminiert werden darf. Die Verfassung kategorisiert durch die Setzung eines Tatbestandes die gesell­ schaftliche Wirklichkeit. Sie trifft Anordnungen für die Ungleichheitsach­ se „Geschlecht“. Recht ist ein Ordnungsinstrument und damit Verteilungs­ achenbach/mediathek/dateien/schriftsatz-des-landtags-erwiderung-verfahren-npd .pdf, S. 48 ff. (letzter Abruf am: 16.10.2022). 50 BayVerfGH Entschd. v. 26.3.2018 – Vf. 15-VII-16, NVwZ-RR, 457 (468). 51 BVerfG Urt. v. 10.4.1997 – 2 BvF 1/95, NJW 1997, 1553 (1553; stRspr). 52 Will, Parität in Brandenburg, vorgänge 58 (2019), 183 (185); Klafki, Parität – Der deutsche Diskurs im globalen Kontext, DÖV 2020, 856 (866).

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schlüssel für Macht – also macht Recht auch Macht. Ein postkategorialer Ansatz reflektiert das und fragt nach der Rechtfertigung für Kategorisie­ rungen und Zuweisungen.53 Das Begründungsbedürfnis für die Hervorhe­ bung von Frauen ist also bei einer transdisziplinären Betrachtung durch den Verfassungstext allein noch nicht befriedigt. Einige heben nun hervor, Frauen seien „die Hälfte der Bevölkerung“54. So beruht etwa das französische Paritätsgesetz auf einen Universalismus revisé, der entsprechend der re-Definition von Staatsbürgerlichkeit (s.o.) nun wirklich „alle“ berücksichtigen soll: gemeint mit „allen“ sind Frauen und Männer.55 Doch die Geschlechterdimension ist nur ein Strang des Ge­ flechts der Ungleichheiten und wird zudem durch ein binäres Verständnis von Geschlecht nur lückenhaft abgebildet. I. Berücksichtigung von Enby-Personen in Anschluss an „Dritte Option“ Dass ein Paritätsgesetz Enby-Personen berücksichtigen muss, steht seit dem Beschluss zur „Dritten Option“ außer Frage. Der Erste Senat stellte die Nichtbinarität der rechtlichen Kategorie „Geschlecht“ klar und folger­ te, dass die Rechtsetzung, wenn sie Geschlechter rechtlich unterscheidet, auch Enby-Personen mitdenken muss, um deren allgemeines Persönlich­ keitsrecht als Recht auf geschlechtliche Identität (Art. 2 Abs. 1 GG iVm Art. 1 Abs. 1 GG) zu wahren und dem Diskriminierungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG zu entsprechen.56 Dass der Schutz in Anschluss an die Rechtsprechung zum Transsexuellengesetz an das subjektive Geschlechts­ empfinden anknüpft57, hat mittlerweile auch die Regierung erkannt und

53 Baer, Der problematische Hang zum Kollektiv und ein Versuch, postkategorial zu denken, in: Jähnert/Aleksander/Kriszio (Hrsg.), Kollektivität nach der Subjektkri­ tik, 2013, S. 47 (62 f.). 54 Laskowski, Pro Parité. Ein verfassungskonformes Wahlrechtsmodell, in: EckertzHöfer/Schuler-Harms (Hrsg.), Gleichberechtigung und Demokratie – Gleichbe­ rechtigung in der Demokratie. (Rechts-) Wissenschaftliche Annäherungen, 2019, 125 (126 f.). 55 Lépinard, The French Parity Reform, in: Lépinard/Rubio-Marín (Hrsg.), Transfor­ ming Gender Citizenship, 2018, 62 (69). 56 BVerfG Beschl. v. 10.10.2017 – 1 BvR 2019/16, NJW 3643 (3644 f.). 57 BVerfG Beschl. v. 10.10.2017 – 1 BvR 2019/16, NJW 3643 (3644) in Anschluss an die Rechtsprechung zum TSG; BVerfG Beschl. v. 18.7.2006 – 1 BvL 1/04 u.a., NJW 2007, 900 (902) und BVerfG Beschl. v. 11.1.2011 – 1 BvR 3295/07, NJW 2011, 909 (910); hierzu Mangold/Markwald/Röhner, Vom pathologisierenden zum selbstbestimmten Geschlechtsmodell. Eine Grundrechtskonforme Ausle­

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ein Selbstbestimmungsgesetz, das eine Änderung des Geschlechtseintrag im Personenstand per Selbstauskunft ermöglicht, auf den Weg gebracht.58 Selbstverortungen sind grundsätzlich zu begrüßen: Jede (rechtliche) Kate­ gorisierung von Menschen ist ein hierarchisierender Akt, Fremddefinitio­ nen sind Momente der Machtausübung.59 II. Intersektionalität: Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG als materialer Gleichheitssatz Zudem sind Kategorisierungen immer vereinfachend und, so der Finger­ zeig intersektionaler Kritik, oft unscharf. Intersektionalität meint mit Kim­ berlé Crenshaw die Verschränkung mehrerer, Ungleichheit produzierender Strukturkategorien.60 In Bezug auf Parität heißt das konkret, dass weiße61, kinderlose Akademikerinnen noch einen relativ privilegierten Zugang zum Parlament besitzen. Relativ privilegiert meint, dass andere Personen, die als „Frauen“ kollektiviert sind, aufgrund der Überschneidungen mit anderen Ungleichheitsachsen noch einmal anders und spezifisch von Dis­ kriminierung betroffen sein können.62 Ein weiteres Beispiel: Aqilah Sand­ hu setzt sich im vorliegenden Tagungsband mit der intersektionalen Di­ mension der Grundrechtseingriffe durch Justizneutralitätsgesetze ausein­ ander. Diese bewirken eine mehrfache und spezifische Benachteiligung kopftuchtragender Frauen aufgrund des Geschlechts, der Herkunft und der Religion. Soziale Ungleichheit lässt sich als ein Netzwerk, ein Geflecht, visualisie­ ren: eine Ungleichheitsstruktur. Menschen sind innerhalb dieses Netzwer­

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gung von „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ im deutschen Personenstands­ recht, zfmr 1/2020, 24 (33 ff.). Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Eckpunktepapier des BMFSFJ und des BMJ zum Selbstbestimmungsgesetz, Juni 2022, https://www. bmfsfj.de/bmfsfj/aktuelles/alle-meldungen/eckpunkte-fuer-das-selbstbestimmungs gesetz-vorgestellt-199378 (letzter Abruf am: 17.10.2022). Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht, 2019, S. 313 ff. Crenshaw, Demarginalizing the Intersection of Race and Sex, University of Chica­ go Legal Forum 1/1989, 139 (140). Zur rassismussensiblen Sprache: Eggers/Kilomba/Piesche/Arndt, Mythen, Masken und Subjekte, 3. Aufl. 2017, S. 13. Rixen, Demokratieprinzip und Gleichberechtigungsgebot: Verfassungsrechtliche Relationen, in: Eckertz-Höfer/Schuler-Harms (Hrsg.), Gleichberechtigung und Demokratie – Gleichberechtigung in der Demokratie. (Rechts-) Wissenschaftliche Annäherungen, 2019, 59 (79).

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kes positioniert, was Iris Marion Young soziale Positioniertheit nennt.63 An einigen Stellen kumulieren Erfahrungen, etwa Diskriminierungserfahrun­ gen. Beispielsweise werden als „Frauen“ positionierte Personen öfter als solche adressiert und auch sexistisch diskriminiert. Das ist auch die sub­ stanzielle Begründung für die rechtliche Hervorhebung von Frauen in Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG, einem materialen Gleichheitssatz, der Diskriminie­ rung als strukturelles Problem begreift. Crenshaw und Young verstehen so­ ziale Ungleichheit allerdings als ein Geflecht, nicht nur als Strang zwi­ schen männlich und weiblich. Diese soziale Realität fängt eine andere Grundgesetznorm ein, nämlich Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG. Das gilt jedenfalls bei der Zugrundelegung materialer Gleichheit. Es ist umstritten, inwieweit Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG eine solche gewährt. Vereinfacht gesagt lassen sich Differenzierungs- und Hierarchisierungsverbot unterscheiden. Das Diffe­ renzierungsverbot ist im Grundsatz ein formaler Gleichheitssatz: Unter­ scheidungen innerhalb der ausgewiesenen Ungleichheitsachsen sind recht­ fertigungsbedürftig (und -fähig). Als Hierarchisierungsverbot hingegen nimmt Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG die soziale Wirklichkeit in den Blick und strei­ tet für den Abbau von faktischer Ungleichheit: Ein materialer, konkretasymmetrischer Gleichheitssatz. Dem Bundesverfassungsgericht ist dieser nicht fremd. Die Nachtarbeits­ entscheidung führte konkret-asymmetrische Gleichheit ein: Schon am Maßstab des Art. 3 Abs. 2 GG aF, der kein Fördergebot enthielt, beurteilte diese „begünstigende Regelungen“, die der Angleichung der Lebensver­ hältnisse dienten, als zulässig und nicht durch den Gleichberechtigungs­ satz ausgeschlossen.64 Ein materiales Gleichheitsverständnis liegt auch dem Beschluss zur „Dritten Option“ zugrunde. Denn der Erste Senat nahm eine konkrete Wirklichkeitsbetrachtung vor, als er feststellte: „Zweck des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG ist es, Angehörige strukturell diskriminierungsgefährdeter Gruppen vor Benachteiligung zu schützen“65. Das begreift die Gesellschaft und ihre sozialen Vermachtungen konkret und benennt Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG als asymmetrisches Gleichheitsrecht.66 Dieser Ansatz findet Zu­

63 Young, Inclusion and Democracy, 2002, S. 92 ff. 64 BVerfG Urt. v. 28.1.1992 – 1 BvR 1025/82, 1 BvL 16/83, 1 BvL 10/91, NJW 1992, 964 (965). 65 BVerfG Beschl. v. 10.10.2017 – 1 BvR 2019/16, NJW 2017, 3643 (3647); vergleiche auch BVerfG Beschl. v. 27.8.2003, Az. 2 BvR 2032/01, NJW 2004, 50 (50). 66 Markard, Struktur und Teilhabe: zur gleichheitsdogmatischen Bedeutung der „Dritten Option“, in: Verfassungsblog 14.11.2017, https://verfassungsblog.de/str uktur-und-teilhabe-zur-gleichheitsdogmatischen-bedeutung-der-dritten-option/ (letzter Abruf am: 17.10.2022).

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spruch in der Wissenschaft und Praxis.67 Begründet wurde so etwa das Ber­ liner Partizipationsgesetz, das Beteiligungsrechte für Menschen mit Migra­ tionsgeschichte sowie für Rom:nja und Sinti:ze an der Berliner Exekutive einräumt.68 Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG büßt dadurch nicht an eigenständigem Gehalt ein: Er reicht insofern über das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG hinaus, als dass er ein Gleichberechtigungsgebot aufstellt, also einen Auftrag zur Herstellung materialer Gleichheit enthält, während Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG entsprechende Maßnahmen (nur) ermöglicht.69 Das tragende Argument hierfür ist das teleologische: Der Gleichheits­ satz hat einen Menschenwürdekern. Menschenwürde bedeutet Souveräni­ tät.70 In der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Organisationsein­ heit Staat ist das die Freiheit von Fremdbestimmung. Fremdbestimmun­ gen bewirkt aber nicht nur unmittelbar das Recht durch Anknüpfung einer Rechtsfolge an Merkmale, sondern eben auch die Positionierungen in der sozialen Matrix. Historisch erwachsene Ungleichheiten bilden sys­ temische, sich selbst re-aktualisierende Hierarchisierungsstrukturen aus. Innerhalb dieser bewegen sich Individuen. Die Einlösung des demokrati­ schen Versprechens von der Gleichheit und Freiheit – erinnert sei an Horst Dreier – bedarf daher einer konkret-asymmetrischen Auslegung des Diskriminierungsverbots als wirkungsvolles Instrument gegen Hierarchi­ sierungen im Netzwerk der Ungleichheiten. III. Parität intersektional – ein Oxymoron? Die Regeln im demokratischen Verbund bestimmt maßgeblich das Parla­ ment. Begreift man den Staat als Organisationsmodus grundsätzlich freier und gleicher Individuen, folgt aus der Menschenwürde und Volkssouverä­ 67 v. Mangoldt/Klein/Starck/Baer/Markard, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Abs. 2 und 3 Rn. 418 ff.; Grünberger/Mangold/Markard/Payandeh/Towfigh, Diversität in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, 2021, S. 53 ff.; Handbuch des Verfassungs­ rechts/Sacksofsky, 2021, § 19 Rn. 86. 68 Liebscher, Möglichkeiten zur Verbesserung der Chancen für Menschen mit Mi­ grationshintergrund/Migrationsgeschichte durch eine Novellierung des PartIntG Berlin. Rechtswissenschaftliches Gutachten, 2019, S. 25. 69 BVerfG Beschl. v. 10.10.2017 – 1 BvR 2019/16, NJW 2017, 3643 (3647); Grünber­ ger/Mangold/Markard/Payandeh/Towfigh, Diversität in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, 2021, S. 53 f. 70 BVerfG Urt. v. 2.3.1977, 2 BvE 1/76, NJW 1977, 751 (752); BVerfG Urt. v. 30.6.2009 – 2 BvE 2/08 u. a., NJW 2009, 2267 (2269); Habermas, Faktizität und Geltung, 7. Aufl. 2019, S. 122 f.

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nität deren gleichberechtigte Mitwirkung an der Staatsgestaltung – und das heißt in der parlamentarischen Demokratie: an der Gesetzgebung. Die Sozialstruktur des Bundestages kann Hinweise auf Partizipations­ hürden geben. Einer Recherche der Süddeutsche Zeitung zum 19. Deut­ schen Bundestag zufolge „fehlen“ hier nicht nur Frauen, sondern auch jüngere und ältere Menschen, Muslim:innen, Menschen mit „Migrati­ onshintergrund“, Menschen mit Behinderung, nicht-Heterosexuelle, Men­ schen, die in der DDR aufgewachsen sind, Alleinstehende, Dorfbewoh­ ner:innen und Nicht-Akademiker:innen.71 Quoten lassen sich auch für andere Kollektivitäten begründen, was hier exemplarisch für Menschen mit „Migrationshintergrund“ entwickelt werden soll. Der Marker steht in Anführungszeichen, denn er ist proble­ matisch; er birgt Potential für Essentialisierung und Stigmatisierung und überschneidet sich lediglich partiell mit der eigentlich brisanten rassisti­ schen Diskriminierung.72 Allein das Fehlen passgenauer Antidiskriminie­ rungsdaten rechtfertigt es, ihn weiter zu verwenden.73 Für eine Quote gibt es, wie in der Geschlechterdimension, demokratietheoretische und antidiskriminierungsrechtliche Argumente. Intersektionalität bedeutet, sich nicht mit eindimensionalen Lösungen zu begnügen, sondern die Herrschaftssysteme hinter Ungleichheitsstruktu­ ren – Kapitalismus, Postkolonialismus, Patriarchat – zu analysieren und ih­ nen zu begegnen.74 Der Marker „Migrationshintergrund“ weist auf postko­ lonialistische Hierarchisierungspraktiken hin. Kurzum: Nicht nur machte der Sexual Contract „den“ „Staatsbürger“ zum Mann, ein Racial Contract machte ihn zudem zum weißen Mann. Die Kolonialherrschaft und ihre Sendungsideologien haben eine rassistische Ungleichheitsstruktur geschaf­ fen, die sich bis heute als postkolonialistisches Herrschaftssystem hält.75

71 Siehe Brunner/Ebitsch/Endt/Hosse/Schories/Witzenberger/Zajonz, Volk und Ver­ treter, https://projekte.sueddeutsche.de/artikel/politik/bundestag-diese-abgeordnet en-fehlen-e291979/ (letzter Abruf am: 17.10.2022). 72 Ahyoud/Aikins/Bartsch/Bechert/Gyamerah/Wagner, Wer nicht gezählt wird, zählt nicht. Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten in der Einwanderungsge­ sellschaft – eine anwendungsorientierte Einführung, 2018, S. 11. 73 Für und Wider sowie Kernprinzipien der Erhebung diskutieren Ahyoud/Aikins/ Bartsch/Bechert/Gyamerah/Wagner, Wer nicht gezählt wird, zählt nicht. Antidis­ kriminierungs- und Gleichstellungsdaten in der Einwanderungsgesellschaft – eine anwendungsorientierte Einführung, 2018, S. 38 ff. 74 Roig, Wird Gleichberechtigung noch…intersektional?, djbZ 2/2019, 71 (71). 75 Mills, The Racial Contract, 1997, S. 13; Barskanmaz, Recht und Rassismus, 2019, S. 68 ff.

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Rassifizierte76 Subjekte werden nicht als Gleiche, sondern als Andere ge­ dacht. Ganz konkret wirkt sich das in Deutschland zum Beispiel auf die Mandatschancen von Menschen mit Migrationshintergrund aus.77 Sie wer­ den rassistisch diskriminiert, indem sie stereotypisiert und schließlich nachteilhaft nominiert werden. Im Vergleich zu ihrem Bevölkerungsanteil sind Menschen mit Migrationshintergrund deskriptiv unterrepräsentiert.78 Materiale Gleichheit und relationale Demokratie sprechen für eine fakti­ sche Angleichung der Zugänge zum Parlament auch in dieser Ungleich­ heitsdimension. Verfassungsrechtlich legitimiert werden diese durch Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG und das Demokratieprinzip. C. Fazit: Für eine materiale intersektionale Gleichheitsdogmatik Wo besteht Ungleichheit weiterhin fort oder wo werden neue Ungleich­ heiten geschaffen? Welcher Instrumente bedarf es zur Veränderung eines bestehenden Status quo? Resümierend lassen sich diese impulsgebenden Fragen aus dem Call for Papers für die Tagung „Frau.Macht.Recht.“ beant­ worten. Der im Staat organisierten Gesellschaft liegt ein schieres Netzwerk von Ungleichheit zugrunde. Art. 3 GG weist darauf hin, welche sozialen Grup­ pen besonders vulnerabel sind.79 Die Veränderung des ungleichen Status quo erfordert einen gleichberechtigten Dialog der Teilsouveräne. In unse­ rer parlamentarischen Demokratie ist ein wichtiger Verhandlungsort der Bundestag: Er schafft die für alle verbindlichen Gesetze. Er erzeugt also Recht, ordnet und verteilt Ansprüche sowie Macht. Erfolgreiche Delibera­

76 Barskanmaz, Recht und Rassismus, 2019, S. 68 ff. 77 Hossain/Friedhoff/Funder/Holtkamp/Wiechmann, Partizipation – Migration – Gender, 2016, S. 179 f., 190, 243. 78 Im Jahr 2020 lebten in Deutschland rund 21,9 Millionen Menschen mit Migrati­ onshintergrund (26,7 % der Bevölkerung); in den 20. Deutschen Bundestag wur­ den 83 Abgeordnete mit Migrationshintergrund gewählt (11,3 % der Parlamenta­ rier:innen), siehe Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Erwerbstätigkeit, Be­ völkerung mit Migrationshintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus 2020 – S. 31; MEDIENDIENST INTEGRATION, Mehr Abgeordnete mit Migrationshinter­ grund, 2021, https://mediendienst-integration.de/artikel/mehr-abgeordnete-mit-m igrationshintergrund-1.html (letzter Abruf am: 17.10.2022). 79 Markard, Struktur und Teilhabe: zur gleichheitsdogmatischen Bedeutung der „Dritten Option“, in: Verfassungsblog 14.11.2017, https://verfassungsblog.de/str uktur-und-teilhabe-zur-gleichheitsdogmatischen-bedeutung-der-dritten-option/ (letzter Abruf am: 17.10.2022).

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tion erfordert komplexe Wirklichkeitsbetrachtungen, die nur durch die Teilhabe verschiedentlich Positionierter möglich wird. Verfassungsrechtli­ cher Schlüssel hierfür ist die materiale Gleichheit unter sozial spezifisch positionierten Kollektivitäten – punktuell auch und gerade im Wahlrecht. Eine solche Kollektivität sind auch Frauen. Das Anliegen, Frau sollte mehr Recht machen, ist ob der anhaltenden Partizipationshürden berech­ tigt. Noch besser wäre es allerdings, müsste Recht dereinst keine Frauen mehr machen, also wenn die demokratische Gesellschaft nicht mehr auf rechtliche Kategorisierungen und positive Maßnahmen angewiesen wäre, weil die Wirrungen im Netz sozialer Ungleichheiten gelöst sind. Bis dahin bleibt das „Dilemma der Differenz“80, denn dorthin führen nur materiale Gleichheitsrechte, positive Maßnahmen und ein bewusster Umgang mit den Ordnungsfunktionen des Rechts.

80 Vielfach aufgegriffen aus Minow, Making all the Difference, 1990, S. 20.

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Geschlechtergerechtigkeit in der Gesellschaft der Singularitäten Bettina Rentsch*

A. Einleitung Es mag provokant anmuten, wenn in einem anlässlich des einhundert­ jährigen Geburtstags der Zulassung von Frauen zu juristischen Berufen verfassten Sammelband die Frage nach der Zukunft der Frauenförderung in der spätmodernen Gesellschaft gestellt wird. Der Bedarf nach eben solcher Förderung besteht selbstverständlich fort, wie zahlreiche weitere Beiträge in diesem Band erhellen. Wenn hier dennoch die Überlegung vorangestellt ist, „Frausein“ könnte in einer Gesellschaft, in der das Be­ sondere, das Einzigartige, an die Stelle des Allgemeinen tritt, an Wert verlieren, liegt darin gar kein Widerspruch zu diesen Befunden, sondern der Versuch einer Kontextualisierung gegenwärtig zu beobachtender Phä­ nomene im Spektrum der Förderung von Geschlechtergerechtigkeit mit Mitteln des Rechts. Als Grundlage dieses Kontextualisierungsversuchs soll eine Gesellschaftstheorie dienen, die Andreas Reckwitz in seinem Werk „die Gesellschaft der Singularitäten“ entwickelt hat, und deren Kernaussagen nachfolgend in einem ersten Schritt in gebotener Kürze zu skizzieren sein werden (B.).1 Im Anschluss daran gilt es den Erklärungswert der Gesellschaft der Singularitäten anhand zweier Phänomene im Diskurs um die rechtsförmige Förderung von Geschlechtergerechtigkeit zu erproben: Einen ersten Testfall bilden die Reaktionsunterschiede der Märkte auf gesetzliche Frauenfördermaßnahmen in der Wirtschaft in Form von Ge­ schlechterquoten und Zielgrößenbestimmungen einerseits und auf das Be­ kenntnis zu „Diversity“ andererseits (C. I.). In einem zweiten Schritt wird auf die Frage eingegangen, inwieweit Geschlecht spätmoderner Affektpra­ xis zugänglich ist und der Mehrwert einer Rekonstruktion von Geschlecht als Praxis am Beispiel modularer Mutterschaft skizziert (C. II. 2.).

* Die Verfasserin ist Juniorprofessorin für Bürgerliches Recht, Internationales Privat­ recht und Rechtsvergleichung an der Freien Universität Berlin. 1 Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 3. Aufl. 2020.

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B. Der gesellschaftstheoretische Rahmen Im Ausgangspunkt der Gesellschaft der Singularitäten steht die Beobach­ tung, dass eine die Industriegesellschaften der klassischen Moderne prä­ gende Praxis der Rationalisierung durch Spielarten einer Praxis der Singu­ larisierung ersetzt wird. Singularität oder Einzigartigkeit ist dabei zunächst eine individuelle und kollektive Erwartung: „Wohin wir auch schauen in der Gesellschaft der Gegenwart: Was immer mehr erwartet wird, ist nicht das Allgemeine, sondern das Besondere.“2 Was das für die Komposition der nachindustriellen Gesellschaft bedeutet, hat Ulrich Beck in seinem Werk „Risikogesellschaft“ als Erosionsvorgang beschrieben: Anstatt sich im Großverband zu organisieren – sei es durch Zugehörigkeit zu einer Klasse, einem Stand, einer Religion, einer Gewerkschaft – sucht das nach­ industrielle Individuum seinen eigenen Weg.3 Das hat eine Pluralisierung der Lebensstile, eine Zunahme der Optionen und einen Komplexitätszu­ wachs der gesellschaftlichen Struktur zur Folge,4 führt aber auch zur Ent­ stehung singulärer Kollektive, die sich selbst einen kulturellen Eigenwert verleihen.5 I. Die Logik des Besonderen Die von Reckwitz identifizierte Logik des Besonderen ist kein Zustand, sondern eine soziale Praxis, ebenso wie Reckwitz‘ Gesellschaftstheorie we­ niger als Zustandsbeschreibung denn als „Zeitdiagnose“ zu verstehen ist.6 Das Besondere ist keineswegs einfach nur da, sondern entwickelt sich per­ formativ. Besonderheit wird „gemacht“. Subjektseitig findet dazu Singula­ risierungsarbeit statt, die darauf abzielt, Wertschätzung bei den Adressaten zu erzeugen. Jene bildet die zweite Komponente des Singularisierungsvor­ gangs: „Singularisiert wird ein Subjekt dann, wenn seine Einzigartigkeit sozial wahrgenommen und geschätzt, wenn sie in bestimmten Techniken aktiv angestrebt und an ihr gearbeitet wird.“7 Das führt zu einem für

2 Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 3. Aufl. 2020, S. 7. 3 Tendenziell anders sieht es Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 3. Aufl. 2020, S. 62 ff. 4 Zu Allem Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, 1986. 5 Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 3. Aufl. 2020, S. 62. 6 Deutung bei Steinbach, Das Amt in einer Gesellschaft der Singularitäten, ARSP 108 (2022), 288 (289). 7 Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 3. Aufl. 2020, S. 429.

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Reckwitz für die Spätmoderne charakteristischen Kommunikationsprozess, in dessen Zentrum die Valorisierung, also die Bewertung der Singularisie­ rungsarbeit Einzelner, steht.8 Die digitale Revolution beschleunigt, vertieft den Valorisierungsprozess; sie normalisiert ihn aber auch in einem Maß, das ihn zum Default-Kommunikationsmittel werden lässt.9 II. Das kuratierte Selbst zwischen Persönlichkeitsentfaltung und Aufmerksamkeitsökonomie Soziale Systeme verarbeiten den um Valorisierungsprozesse herum entste­ henden Singularisierungsvorgang unterschiedlich, wobei das Augenmerk nachfolgend auf der Transformation der Ökonomie zu einer „postindus­ triellen Ökonomie der Singularitäten“ und der „sozio-kulturellen Authen­ tizitätsrevolution“ liegen soll. Ökonomisch fließt die als authentisch wahr­ genommene Einzigartigkeit eines Gutes in die Preisbildung ein; Güter werden zu Authentizitätsgütern. Im Ausgangspunkt tritt dabei neben den funktionalen ein affektiver Wert eines Gutes und neben die Funktionalität die Authentizität eines Gutes.10 Um Authentizitätsgüter zu sein, dürfen Dienstleistungen wie Sachen nicht nur ihren Zweck erfüllen. Sie müssen einerseits einen Seltenheitswert haben (Rarität) und andererseits „nach innen Eigenkomplexität“ (Originalität) aufweisen, die nach außen durch die deutliche Unterscheidbarkeit des Gutes von anderen sichtbar wird.11 Die Originalität eines Gutes erfordert im Ausgangspunkt innere Dichte im Sinne einer irreduziblen Komplexität. Das steigert den Marktwert eines Gutes, anstatt ihn, wie man erwarten könnte, wegen fehlender instantaner Brauchbarkeit zu reduzieren. In diesem Eigenwert des Überraschenden liegt nach Reckwitz der charakteristische Unterschied der spätmodernen Gesellschaft der Singularitäten zum Rationalisierungsparadigma der klassi­ schen Moderne. Die Rarität ist von der in die Preisbildung einfließenden Knappheit eines Gutes zu unterscheiden. Rarität bedeutet nicht quantita­ tive, sondern qualitative Seltenheit. Rar ist ein als einzigartig beschriebe­ nes oder wahrgenommenes Ereignis, eine auf individuelle Kundenbedürf­ nisse zugeschnittene Dienstleistung, sowie neue Methoden der Dienstleis­ tungserbringung. Rar sind aber auch Güter, deren Erwerb und Nutzung

8 9 10 11

Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 3. Aufl. 2020, S. 9, 64 ff. Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 3. Aufl. 2020, S. 225 ff. Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 3. Aufl. 2020, S. 8, 57 ff., 137. Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 3. Aufl. 2020, S. 127.

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in der gesellschaftlichen Wahrnehmung einem bestimmten, als exklusiv wahrgenommenen Personenkreis vorbehalten sind. Auch Güter, die eine „Geschichte“ erzählen, deren Herstellung an einen bestimmten Ort und Prozess und dessen Erfindung an einen bestimmten Namen gebunden ist, erfüllen den Anspruch an Rarität.12 Dass das Gut nicht im ökono­ mischen Sinne knapp ist – Reckwitz führt als Beispiel den Eames Chair an – ändert nichts an dessen preissteigernder Rarität. Rarität kann auch durch die als solche wahrgenommene zeitliche („vintage“) oder topogra­ phische Besonderheit des Gutes erzeugt werden. Die Authentizität eines Gutes wird durch gesellschaftliche Praxis, doing singularity, gemacht.13 Dass für Authentizitätsarbeit beträchtliche Ressourcen aufgewendet werden, ist nach Reckwitz gerade ein Charakteristikum der spätmodernen Kulturöko­ nomie. Gesellschaftlich beobachtet Reckwitz eine Praxis der Selbstkulturali­ sierung des Lebensstils als Kennzeichen einer neuen Mittelklasse.14 Mit Selbstkulturalisierung meint Reckwitz „ein bestimmtes, kosmopolitisches Verhältnis zur Kultur, […] eine umfassende Ästhetisierung und Ethisie­ rung des Alltagslebens, die nach Selbstverwirklichung und dem Authenti­ schen sucht“15. Diese Praxis ist das Ergebnis einer Symbiose von Praktiken der Bürger­ lichen Gesellschaft mit solchen der Romantik.16 Die Bürgerliche Praxis besteht in der konsequenten Arbeit am eigenen sozialen Status und dessen kontinuierlicher Hebung durch Bildung.17 Romantische Praxis besteht in der Tendenz zur Ästhetisierung und Ludifizierung der Lebenswelt.18 Diese vollzog sich allerdings „in Opposition zur Welt“19 und hatte eine gewollte Hinnahme der gesellschaftlichen Ausgrenzung, den Eintritt in eine von Drittanerkennung nicht getragene Sonderexistenz zur Folge.20 Die emo­ tionale Affizierung der Lebenswelt in der Spätmoderne hebt in Abkehr davon auf gesellschaftliche Anerkennung ab, verfolgt sie doch kein inneres Ziel maximaler Selbstgewahrwerdung, sondern ein äußeres Ziel erfolgrei­ cher – und das heißt durch gesellschaftliche Anerkennung belohnter –

12 13 14 15 16 17 18 19 20

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Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 3. Aufl. 2020, S. 130. Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 3. Aufl. 2020, S. 64 ff., 137. Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 3. Aufl. 2020, S. 283. Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 3. Aufl. 2020, S. 283. Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 3. Aufl. 2020, S. 286. Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 3. Aufl. 2020, S. 287. Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 3. Aufl. 2020, S. 286. Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 3. Aufl. 2020, S. 289. Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 3. Aufl. 2020, S. 289.

Geschlechtergerechtigkeit in der Gesellschaft der Singularitäten

Selbstverwirklichung.21 Entsprechend hebt auch die beständige Arbeit an der eigenen Besonderheit und Einzigartigkeit auf eine Verbesserung der Stellung im sozialen Feld ab. Die Gesellschaft bewertet diese Arbeit und so besteht auch soziale Interaktion in der fortlaufenden kollektiven Aufund Abwertung – Valorisierung – bestimmter kultureller Praktiken, in der wertvolle von wertlosen Arten der Lebensführung unterschieden und mit unterschiedlichem sozialem Wert belegt werden.22 Der Erfolg dieser Arbeit ist keineswegs voraussetzungslos, sondern ab­ hängig vom kulturellen Kapital eines Akteurs. Dazu zählen neben dem Bildungsgrad vor allem die daran geknüpften sozialen und ökonomischen Ausgangsbedingungen der Selbstverwirklichung. „Lebensführung als Kul­ tur“23 kann sich nur leisten, wen die Bewältigung seines Alltags nicht vollständig einnimmt; und Selbstkulturalisierung erfährt breiteren gesell­ schaftlichen Beifall, wenn sie auf „Assets“ des Kulturkapitalismus, vor al­ lem auf einer Hochschulbildung, aufbaut – und entsprechende Ressourcen zur Verfügung hat. Denn das spätmoderne Subjekt ist nicht Künstler, sondern Kurator; er erschafft weniger eine genuin eigene kulturelle Le­ benswelt als Module lebensweltlicher Elemente auszuwählen, die bereits entdeckt und gegebenenfalls valorisiert wurden.24 Das spätmoderne Sub­ jekt führt damit „ein kuratiertes Leben“.25 Der wesentliche Erfolgsfaktor der Praxis der Selbstkulturalisierung liegt in der sorgfältigen Auswahl der Elemente der singulären Identität, aber auch in deren Nutzung und Entwicklung für eigene Zwecke, die Reckwitz als Aneignung bezeichnet.26 Das Gelingen von Auswahl und Aneignung hängt von den Voraussetzun­ gen ab, unter denen sie stattfinden, und wird vor allem vom kulturellen Kapital beeinflusst. Damit ist die Ausgangsposition eines Individuums im sozialen Feld wiederum maßgebend für den Erfolg der Arbeit an der eige­ nen „Marke“. Die Entdeckung eines Objekts als Antiquität ist für die Stei­ gerung der eigenen Stellung im sozialen Feld erfolgversprechender, wenn der Entdeckende bereits über ausreichende Marker für kulturelles Kapital verfügt. Fließt damit letztlich das kollektive Urteil über den Geschmack einer Person in das Urteil über dessen soziale Position ein, verstärkt das so­ ziale (oder kulturelle) Ungleichheit. Ein kleiner Kreis gebildeter und krea­ tiver Akteure wirkt über seine Art des Konsums und der Lebensführung 21 22 23 24 25 26

Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 3. Aufl. 2020, S. 289. Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 3. Aufl. 2020, S. 284. Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 3. Aufl. 2020, S. 293. Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 3. Aufl. 2020, S 295. Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 3. Aufl. 2020, S. 297. Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 3. Aufl. 2020, S. 297.

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stilgebend für die Gesellschaft, während soziale Gruppen ohne Ressourcen für erfolgreiche Selbstkulturalisierung absteigen.27 Gleichzeitig birgt die Singularisierung aber auch enorme Chancen für bisherige Randgruppen, die Eigenschaften, die im Rationalisierungsparadigma als standardabwei­ chender Makel gegolten hätten, in Singularisierungskapital umwandeln zu können.28 C. Transformation von Geschlecht durch Singularisierungspraxis Haben diese Veränderungen in der spätmodernen Gesellschaft Auswirkun­ gen auf die Entwicklung und Förderung von Geschlechtergerechtigkeit mit Mitteln des Rechts; erklären sie möglicherweise sogar gegenwärtige Phänomene? Man könnte dem a priori mit dem Einwand entgegentreten, Recht sei als formalisierendes und generalisierendes und damit rationali­ sierendes Instrument einer Affektkultur wie der zuvor beschriebenen, die den gesellschaftlichen Nährboden für den Singularisierungsprozess bildet, nicht zugänglich. Dass eben das zu kurz greift und die beschriebenen kul­ turellen Valorisierungsprozesse im Gegenteil einen nicht unerheblichen Mehrwert für die Erklärung gesellschaftlicher Phänomene entfalten kön­ nen, sei nachfolgend an zwei Beispielen aus dem Privat- und Unterneh­ mensrecht erprobt, die auf den ersten Blick wenig gemein haben, nämlich erstens der Diskussion um Diversitätsförderung in Großunternehmen (I.) und zweitens der Abkehr von essentialistischen Verständnissen der Mutter­ rolle (II.). I. Singularisierungsarbeit im Kollektiv: Aus „Frauen“ mach‘ „Diversity“ Es mangelt in Deutschland nicht an gesetzgeberischen Maßnahmen zur Herstellung ausgeglichener Geschlechterverhältnisse oder zur Förderung von Diversität im Allgemeinen und ausgewogenen Geschlechterverhältnis­ sen im Besonderen. Die Effektivität der Maßnahmen ist allerdings weit hinter den politischen Versprechen zurückgeblieben, die sie begleitet ha­

27 Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 3. Aufl. 2020, S. 280 f. 28 Steinbach, Das Amt in einer Gesellschaft der Singularitäten, ARSP 108 (2022), 288 (290).

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ben.29 Eine mit dem (ersten) Führungspositionengesetz 2015 eingeführte Geschlechterquote im Aufsichtsrat börsennotierter und paritätisch mitbe­ stimmter Unternehmen hat zwar in den Grenzen des gesetzlichen Befehls ihr gewünschtes Ergebnis erreicht. Die erwünschte Anschubwirkung für die Frauenförderung hat sich aber bislang kaum messbar eingestellt.30 Dass der Gesetzgeber 2021 mit dem zweiten Führungspositionengesetz dem er­ wünschten Ergebnis nun im Wege „harter“, also unmittelbar rechtsfolgen­ bewehrter, Regulierung nachhelfen musste, mag hierfür als Beleg dienen. Der Erfolg gesetzgeberischer Angebote zur Selbstregulierung in Form der Zielgrößenpflicht, mit dem der Gesetzgeber Anreize für selbstregulierte Frauenförderung in Unternehmen setzen wollte, ist ähnlich gering: Weder setzen sich Unternehmen ausreichend ehrgeizige Zielgrößen, noch war die Befolgungsdichte der Veröffentlichungspflicht bislang hoch genug, um eine effektive Regulierung über Reputationsverluste erwarten zu lassen. Das zweite Führungspositionengesetz schließt die Befolgungslücken nicht unbedingt.31 Sucht man nach Gründen für diese Entwicklung, fällt auf, dass Ge­ schlechterquoten und Zielgrößenbestimmungen im unternehmensrechtli­ chen Schrifttum überwiegend negativ aufgenommen wurden. Diese Reak­ tion steht in einem deutlichen Kontrast zur Empfehlung einer „diversen“ Besetzung der Leitungsebenen, wie sie im Deutschen Corporate Governance Kodex aktueller Fassung niedergelegt ist, die breite Zustim­ mung findet. Die Befolgungsquote zu Ziff. 4.1.5 des DCGK 2017 unter al­ len zur Abgabe einer Entsprechungserklärung verpflichteten Unterneh­ men betrug im Jahr 2018 95,5 %.32 Börsennotierte deutsche Unternehmen halten Vielfalt also für ein wichtiges Element guter Unternehmensfüh­ rung. Das überrascht zunächst, da Diversität – ebenso wie Frauenförde­ rung – gesellschaftspolitisch konnotiert ist, nämlich in der Forderung nach dem Einschluss und der gezielten Förderung von Frauen und ethnischen Minderheiten in der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und der dort entstandenen Forderung nach gezielter Diskriminierung, affirmative

29 Eingehend Rentsch, Board Diversity als Zukunftsaufgabe der Corporate Governance, ZGR 2022, 107 ff. 30 So auch Redenius-Hövermann, Zur Frauenquote im Vorstand, ZIP 2021, 1365 (1380): „Verfassungsrechtlich eingriffsintensiv und wirkungsarm.“ 31 Redenius-Hövermann, Zur Frauenquote im Vorstand, ZIP 2021, 1365 (1378, 1381). 32 von Werder/Danilov, Corporate Governance Report 2018: Kodexakzeptanz und Kodexanwendung, DB 2018, 1997.

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action, ihre Wurzeln hat.33 Auch in Deutschland konkretisiert sich Diversi­ tät im Ruf nach der Aufgabe eines formalen Gleichheitsverständnisses zu­ gunsten eines umweltsensiblen Konzepts materieller Gerechtigkeit.34 In diesem Sinne schafft Assembly Bill No. 979 des US-Bundesstaates Kalifor­ nien eine „Diversitätsquote“ für Unternehmen mit Sitz im Bundesstaat, wonach mindestens ein Mitglied des Leitungsorgans sich einem unterre­ präsentierten Teil der Gesellschaft zugehörig fühlen muss.35 Auch Diversity Management galt in seiner Frühzeit als Bewältigungsstrategie für neue He­ rausforderungen infolge der Globalisierung der Kapital- und Arbeitsmärk­ te.36 Mittlerweile hat es sich aber von der politischen Forderung nach Min­ derheitenförderung emanzipiert.37 Zwar spielen auch für sie exogene Merkmale wie Herkunft, Ethnie oder sexuelle Identität/Geschlecht eine Rolle. Hinzukommen aber endogene Merkmale wie der berufliche Hinter­ grund, die Branchenkenntnis und das Alter. Der DCGK konkretisiert, „Di­ versität […] durch Alter, Geschlecht, Bildungs- und Berufshintergrund […] aber auch durch Internationalität.“38 Endogene und exogene Kriterien stehen dabei gleichberechtigt nebeneinander.39 Diversität wird außerdem mit einer Steigerung der Unternehmensleistung in einen Zusammenhang gestellt. So wird vertreten, erst gezielte Diversitätsförderung ermögliche

33 Grünberger, Geschlechtergerechtigkeit im Wettbewerb der Regulierungsmodelle, RW 1 (2012), 1 (8 f.); Lindau, Verhandelte Vielfalt – Die Konstruktion von Diver­ sity in Organisationen, 2011, S. 1 f.; Anwendungsbeispiel bei Grünberger/ Mangold/Markard/Payandeh/Towfigh, Diversität in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, 2021. 34 Grünberger, Geschlechtergerechtigkeit im Wettbewerb der Regulierungsmodelle, RW 1 (2012), 1 (11); ders., Personale Gleichheit, 2013, S. 738 f. 35 Als unterrepräsentiert gelten laut Assembly Bill No. 979, wer sich als (im Origi­ nal) “Black, African American, Hispanic, Latino, Asian, Pacific Islander, Native American, Native Hawaiian, or Alaska Native” oder als “gay, lesbian, bisexual, or transgender” identifiziert. 36 Statt Vieler Gebert, Durch diversity zu mehr Teaminnovativität. Ein vorläufiges Resümee der empirischen Forschung sowie Konsequenzen für das diversity Ma­ nagement, DBW 64 (2004), 412 ff. 37 Bissels/Sackmann/Bissels, Vielfalt in Organisationen. Ein blinder Fleck muß se­ hen lernen, SozW 5 (4) (2001), 403 ff. 38 Begründung DCGK 2020. Zu den Begriffsvarianten und Streitständen im Zusam­ menhang mit dem DCGK Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder, Deutscher Cor­ porate Governance Kodex/Bachmann, Deutscher Corporate Governance Kodex, 7. Aufl. 2018, Rn. 882 ff. 39 Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder, Deutscher Corporate Governance Kodex/ Bachmann, 8. Aufl. 2021, DCGK A.1 Rn. 5.

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einem Unternehmen die volle Ausschöpfung seines Humankapitals.40 Wenn der Vorstand ausweislich Ziff. A.1 DCGK bei der Besetzung von Führungspositionen auf Diversität achten soll, wird das mit dem Anliegen begründet, „ein breites Reservoir von für Vorstandsfunktionen geeigneten Kandidaten und Kandidatinnen zu schaffen“.41 Das wiederum soll ein Si­ gnal an nachgelagerte Unternehmensebenen senden, „dass sich harte Ar­ beit lohnt“, also Aufstiegschancen für alle Mitarbeiter:innen im Unterneh­ men bestehen.42 Dieses Narrativ hat sich breit etabliert. Dem 2011 als Grünbuch veröffentlichten Corporate Governance-Rahmen der Europä­ ischen Kommission43 zufolge sollen durch „[d]ie Vielfalt in den Profilen der Mitglieder und ihres Werdegangs […] die Ressourcen und der Sachver­ stand ausgeweitet werden. […] Unterschiede führ[t]en zu einer breiteren Diskussion, einer besseren Überwachung und größeren Herausforderun­ gen auf der Verwaltungsratsebene.“44 Erwägungsgrund 18 der CSR-Richtli­ nie45 meint, „Vielfalt bei Sachverstand und Auffassungen [erleichtere] […] ein gutes Verständnis der organisatorischen und geschäftlichen Angelegen­ heiten […] und versetz[e] die Mitglieder dieser Organe in die Lage, Ent­ scheidungen der Geschäftsleitung konstruktiv zu hinterfragen […].“46 Die leistungssteigernde Wirkung von Vielfalt wird dabei selbstverständlich un­ terstellt; sie ist aber ebenso wenig empirisch bestätigt wie die spiegelbildli­ che Annahme, eine (zu) homogene Unternehmensleitung erleichtere un­ ternehmensschädliche „Seilschaften“ und offenbare Sensibilitätsmängel gegenüber den Auffassungen Dritter.47 Studien aus dem akademischen Zu­ lassungswesen erlauben es, diese Unterstellung zumindest in Zweifel zu ziehen. Beispielsweise legt Heather Mc Donald in ihrem Werk The Diversity Delusion offen, dass Affirmative Action-Programme US-amerikanischer Universitäten diskriminierend gegen die überrepräsentierten ethnischen

40 Sog. Resource Dependence Theory und Behavioral Theory of the Firm, Nachw. bei Blümle, Der Einfluss geschlechtsspezifisch diversifizierter Aufsichtsräte auf die Ergebnisqualität: ein Literaturüberblick, IRZ 2016, 515 ff. 41 Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder, Deutscher Corporate Governance Kodex/ Bachmann, 8. Aufl. 2021, DCGK A.1 Rn. 2. 42 Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder, Deutscher Corporate Governance Kodex/ Bachmann, 8. Aufl. 2021, DCGK A.1 Rn. 2. 43 Grünbuch Europäischer Corporate Governance-Rahmen, KOM(2011) 164 endg. 44 KOM(2011) 164 endg., 6, Ziff. 1.1. 45 RL 2014/95/EU, ABl. L 330, 1 – 9. 46 Ebenso Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder, Deutscher Corporate Governance Kodex/Kremer, 8. Aufl. 2021, DCGK B. 1., Rn. 4. 47 Formulierung bei Kremer/Bachmann/Lutter/v.Werder, Deutscher Corporate Governance Kodex/Kremer, 8. Aufl. 2021, DCGK B. 1., Rn. 4.

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Gruppen wirken und umgekehrt diejenigen Bewerber:innen, die von den Programmen profitieren, signifikant schlechtere messbare Qualifikatio­ nen, vor allem SAT-Scores, aufweisen.48 Wird die Forderung nach Diversität also allein deswegen breiter akzep­ tiert als das Desiderat unternehmerischer Förderung des unterrepräsentier­ ten Geschlechts, weil sie sich in die Systemlogiken der Wirtschaft einge­ fügt hat?49 Dass das allein als Begründung nicht herhält, belegt der Um­ stand, dass auch Teams mit ausgewogenen Geschlechterverhältnissen eine höhere Leistungsfähigkeit und ein besserer Output nachgesagt wird.50 In Deutschland ist diese Begründung lediglich nicht mehr dominant. Die Führungspositionengesetze stützen sich vielmehr auf den verfassungsrecht­ lich fundierten gesellschaftspolitischen Wunsch nach Geschlechtergerech­ tigkeit;51 so soll aus dem verfassungsrechtlichen Gleichstellungsauftrag aus Art. 3 Abs. 2 GG52 der politische Handlungsauftrag folgen, die Entgeltlü­ cke zwischen Männern und Frauen zu reduzieren.53 Auf die Zusammen­ hänge zwischen einer heterogenen Besetzung von Führungsgremien und der verbesserten Wirtschaftsleistung eines Unternehmens mit einer Ge­ schlechterquote wird auch im Zusammenhang mit der Quotenregelung hingewiesen,54 sie scheinen dem Gesetzgeber aber nicht hinzureichen, um den durch die Einführung von Geschlechterquoten verübten Eingriff in die Unternehmensautonomie zu rechtfertigen. Auch ein Hinweis auf die Rigidität des Regulierungsmittels „Geschlech­ terquote“ taugt nur auf den ersten Blick als Unterscheidungskriterium,55 da die Führungspositionengesetze den Anwendungsbereich der Quoten­ regelung auf einen kleinen Kreis großer und ohnehin sozialpflichtiger Unternehmen beschränken und im Übrigen mit einer Zielgrößenpflicht arbeiten, die sich von der Diversitätsempfehlung des DCGK nur darin ab­ hebt, dass Unternehmen konkrete Aussagen zu Zielgrößen treffen und ver­ öffentlichen müssen. Dass eben hier der springende Punkt liegen könnte, deutet der Umstand an, dass der Diversitätsbegriff des DCGK an Kontur 48 McDonald, The Diversity Delusion, 2020, S. 35 ff. 49 So Grünberger, Geschlechtergerechtigkeit im Wettbewerb der Regulierungsmo­ delle, RW 1 (2012), 1 (11). 50 Statt Vieler BT-Drs. 18/3784, 1 ff. 51 Prägnant Grünberger, Geschlechtergerechtigkeit im Wettbewerb der Regulie­ rungsmodelle, RW 1 (2012), 1 (3). 52 BT-Drs. 18/3784, 2. 53 BT-Drs. 18/3784, 41. 54 BT-Drs. 18/3784, 1 f., 41. 55 So noch Rentsch, Board Diversity als Zukunftsaufgabe der Corporate Governance, ZGR 2022, 107 (141 f).

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verloren hat. Zwar verzeichnen die Diversitätsempfehlungen angesichts der steigenden Internationalisierung der DAX 30-Vorstände gewisse Erfol­ ge; umgekehrt werden dafür die professionellen Biografien der Vorstands­ mitglieder immer homogener. Es ist also eine Entwicklung zu beobachten, die allenfalls unter Hinweis auf die an Konturarmut grenzende Offenheit des dem DCGK zugrundeliegenden Diversitätskonzepts nicht die Frage aufdrängt, ob die breite Akzeptanz für Diversität mehr als ein Lippenbe­ kenntnis ist. Nur, wenn man unterstellt, dass Unternehmen die Diversi­ tätsempfehlungen des DCGK durchweg mit dem Aufruf an Internationali­ sierung gleichsetzen, hat der DCGK tatsächlich effektive Selbstregulierung angestoßen. Das legt die Überlegung nahe, gerade die begriffliche Offen­ heit und die Loslösung von Fragen der Geschlechtergerechtigkeit könnten hinter der mittlerweile breiten Akzeptanz für die Diversitätsempfehlungen des DCGK stehen. Mutet umgekehrt eine Geschlechterquote im direkten Vergleich mit einem Konzept, das nicht nur Rücksicht auf das Geschlecht, sondern auch auf sonstige Asymmetrien und vor allem auf intersektionale Diskriminie­ rungen nimmt, schlicht „altbacken“ an? Deutet man die Konkretisierung der Diversitätsempfehlung als kultu­ rellen Valorisierungsprozess neu, in dessen Rahmen sich Kollektive ein Alleinstellungsmerkmal erarbeiten wollen, drängt sich eben das auf. Ein doing diversity lässt Unternehmenseliten Raum zur Selbstkulturalisierung; ebenso wie Individuen ein „kuratiertes Leben“ führen, ist auch Unterneh­ men zunehmend daran gelegen, ihre Einzigartigkeit herauszustellen. Hin­ zu kommt der Eigenwert des Besonderen im „apertistisch-differenziellen“ spätmodernen Wettbewerbsstaat, was den Handel mit Gütern befördert, die ein Alleinstellungsmerkmal aufweisen.56 Diversity Management zählt auch Reckwitz zufolge zu den wichtigsten Ausprägungen einer Singulari­ sierung der Wirtschaft.57 Es lassen sich noch weitere Beispiele nennen, die diese Tendenz untermauern; erwähnt sei an dieser Stelle das Vordrin­ gen unternehmerischer mission statements, der corporate purpose, mit deren rechtlicher Einordnung sich die Gesellschaftsrechtswissenschaft schwer­ tut.58 Unternehmen schaffen sich und nutzen durch all diese Konzepte Raum zur Kuratierung ihrer Einzigartigkeit. Nur ein konzeptionell offenes Bekenntnis zu Diversität erfüllt diesen Zweck, da es dem Unternehmen 56 Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 3. Aufl. 2020, S. 378. 57 Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 3. Aufl. 2020, S. 381. 58 Fleischer, Die Corporate Purpose – Ein neues Management-Konzept, ZIP 2021, 5 ff.; Rentsch/Weller, Die gute Kapitalgesellschaft, erscheint in: Festschrift für Martin Henssler, erscheint 2023.

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Freiräume für Singularisierungsarbeit eröffnet. Eben so will sich die Di­ versitätsempfehlung des DCGK verstanden wissen. Diversität soll danach nicht nur konditional an das Unternehmensinteresse angebunden sein, sondern ein Regulierungsangebot mit „der selbstregulatorischen Grund­ philosophie des Kodex“59 vereinen. Das setzt voraus, dass „der Vorstand […] frei [ist] zu bestimmen, was er unter Vielfalt versteht und welchen Diversitätskriterien er mehr oder weniger Gewicht einräumt“60. Ein derart offenes Diversitätskonzept erlaubt Unternehmen also die aktive Nutzung gesellschaftspolitischer Anliegen als kompetitiven Faktor im spätmodernen Wettbewerbsstaat. Damit nicht genug: Indem Unterneh­ men eigene Akzente im Minderheitenschutz setzen und den Prozess der Diversifizierung der Unternehmensführung durch kluge Marketingstrate­ gien in den Kommunikationsprozess einspeisen können, in dem kulturel­ le Valorisierung stattfindet, können sie ihre Position im sozialen Feld durch Teilnahme an einem an ökonomische Größen rückgekoppelten kulturellen Valorisierungsprozess verbessern. Die Kapitalgesellschaft als „nüchternes“ Gebilde der klassischen Moderne erarbeitet sich also über ihre Diversitätsstrategie einen für die Teilnahme am Prozess kultureller Valorisierung essentiellen kulturellen Eigenwert. Geschlechterquoten und Zielgrößenpflichten eröffnen keinen derartigen Entfaltungsspielraum, der die soeben beschriebene Singularisierungsarbeit erlauben würde. Im Ge­ genteil: Ein Valorisierungsprozess kann schon nicht in Gang gesetzt wer­ den, weil es am nötigen Entfaltungsraum fehlt, wenn der Gesetzgeber das gesellschaftlich mit einem hohen Wert versehene Ziel einer vielfältigen Besetzung der Unternehmensleitung auf die Binärformel Mann – Frau verengt und auf diese Weise Frauenförderung aus der Verhandlungsmasse der unternehmerischen Einzigartigkeit herausnimmt. Geschlechterquote – so lautet auch die Botschaft der Führungspositionengesetze – „muss sein“, wohingegen pauschale Diversitätsbekenntnisse schlicht Spielräume für die spielerische Entwicklung und Konkretisierung der Unternehmenskultur eröffnen und auf diese Weise eine Hintergrundfolie bieten, vor der sich die Entwicklung kultureller Selbstständigkeit und „Individualität“ im Un­ ternehmen und die sie spiegelnden gesellschaftlichen Valorisierungspro­ zesse erst vollziehen können.

59 Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder, Deutscher Corporate Governance Kodex/ Bachmann, 8. Aufl. 2021, DCGK A.1 Rn. 7. 60 Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder, Deutscher Corporate Governance Kodex/ Bachmann, 8. Aufl. 2021, DCGK A.1 Rn. 7.

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II. Singularisierungsarbeit am Individuum: Modulare Mütter Lässt sich auch Geschlecht kulturalisieren, ludifizieren und auf diese Wei­ se in den Prozess gesellschaftlicher Valorisierung einspeisen? Das setzt voraus, dass sich Geschlecht überhaupt als Bestandteil sozialer Praxis re­ konstruieren lässt (1.). Unter dieser Voraussetzung lässt sich eine jüngere Entscheidung des Supreme Court des Vereinigten Königreichs als Beispiel dafür deuten, wie das gesellschaftliche Verständnis von Geschlecht sich als Bestandteil spätmoderner Subjektkultur verändert (2.). 1. Geschlecht als Gegenstand spätmoderner Selbstkulturalisierung Geschlecht hat viele Dimensionen; es kann als exogener, also nicht verän­ derlicher, Faktor die Grundlage für die Zuschreibung bestimmter Merk­ male und Eigenschaften bilden; es kann ein Symbol für gesellschaftliche Rollenzuschreibungen sein, oder in eben dieser Funktion den Ausgangs­ punkt materialer oder kritischer Analyse bilden. In der vor allem durch Judith Butler vorangetriebenen Dekonstruktion von Geschlecht greifen dabei materiale (kritische) Analysen und poststrukturalistische, praxeologi­ sche Konzeptionalisierungen ineinander. Anknüpfend an Michel Foucault61 wird Geschlecht als Bühne kultureller Inskription, also als Geschlechter­ performanz, neu erzählt.62 Auch wenn dabei letztlich offenbleibt, ob es sich bei Geschlecht letztlich um ein Symbol oder um eine soziale Praxis handelt, setzt Butlers Analyse einen Schlusspunkt hinter essentialistische gesellschaftstheoretische und ästhetische Geschlechterkonzeptionen. Erst auf dieser Hintergrundfolie kann sich um Geschlecht eine Semantik entwi­ ckeln, die es als Modul für die Entwicklung moderner Affektkulturen akti­ viert.63 Erst wenn Geschlecht performativ verstanden wird, kann es, anders formuliert, den Gegenstand von Affekten bilden. Erst auf Grundlage dieser Affizierung wird Geschlecht zum Gegenstand kultureller Valorisierung. Auch wenn die vorstehenden Überlegungen notwendig einiges unter­ stellen, was an sich der eingehenderen Begründung bedürft hätte, liefern sie die gedankliche Basis für die Hypothese der nachfolgenden Beispiele: Die Anerkennung fluider, auf Selbstwahrnehmung beruhender Geschlech­

61 Foucault, Subjekt und Macht, in: ders., Ästhetik der Existenz, 2008, 81 ff. 62 Butler, Gender Trouble, 1990, 176 et passim. 63 Zu deren Voraussetzungen Reckwitz, Das hybride Subjekt, 2006, S. 34 ff.; ders., Unscharfe Grenzen – Perspektiven der Kultursoziologie, 2008, S. 177 f.

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teridentität sowie die wachsende Sensibilität für den Besonderheits-Mehr­ wert des Geschlechts in Verknüpfung mit anderen identitätsbildenden Merkmalen lassen sich als Ausprägungen eines kulturellen Valorisierungs­ prozesses deuten. Geschlechteridentität kann also zum Gegenstand von Singularisierungsarbeit werden. 2. Mutterschaft als modulares und kommerzielles Konzept 2020 ist der Supreme Court des Vereinigten Königreichs in einer aufsehen­ erregenden Entscheidung von seiner bis dato geltenden Rechtsauffassung abgerückt, dass die Kosten einer im Ausland bestellten kommerziellen Leihmutter im Vereinigten Königreich nicht ersatzfähig seien.64 Im Verei­ nigten Königreich ist nur die nicht-kommerzielle Leihmutterschaft zuläs­ sig: Eine Frau kann sich gegen Erstattung notwendiger Aufwendungen be­ reiterklären, ein Kind für Dritte auszutragen.65 Jede darüber hinausgehen­ de Vergütung der Leihmutter, die weder als notwendige Aufwendungen anzusehen ist noch gerichtlich (ggf. rückwirkend) genehmigt wurde, ist untersagt (s. 54(8) Human Fertilisation and Embryology Act 1990).66 Der Surrogacy Arrangements Act 1985 („SAA“) verbietet die Aufnahme von Verhandlungen über kommerzielle Leihmutterschaft, die Teilnahme hier­ an sowie Angebote zum Aushandeln entsprechender Vereinbarungen un­ ter Strafandrohung (s. 2(1) SAA). Straffrei bleiben in beiden Ländern die Wunscheltern sowie die Leihmutter (§ 1 Abs. 3 Nr. 2 ESchG [persönlicher Strafausschließungsgrund]; s. 2(2), (2B) SAA). Im Vereinigten Königreich sind weiter kommerzielle Surrogacy Arrangements, also Verträge, vermöge derer die Leihmutter sich einen Vermögensvorteil aus der Leihmutter­

64 Whittington Hospital NHS Trust v XX [2020] UKSC 14; die nachfolgenden Über­ legungen sind angelehnt an Rentsch/Wollschläger, Leihmutterschaft als Scha­ densersatz – Babies Beyond the Law, ZEuP 2021, 712 ff. 65 Als notwendige Aufwendungen würden bspw. medizinische Versorgungskosten sowie Ausgleichszahlungen für entgangenes Arbeitseinkommen angesehen wer­ den, so Dethloff, Leihmutterschaft – Globale Rechtsvielfalt und ihre Herausforde­ rungen, BRJ 2019, 12 (13); dies., Leihmutterschaft in rechtsvergleichender Per­ spektive, in: Ditzen/Weller (Hrsg.), Regulierung der Leihmutterschaft, 2018, 55 ff. 66 Schwind, Regulierung der Leihmutterschaft im Vereinigten Königreich, in: Dit­ zen/Weller (Hrsg.), Regulierung der Leihmutterschaft, 2018, 117 (125); Briody v. St. Helen's and Knowsley Area Health Authority [2001] EWCA Civ. 1010, [2001] 2 FLR 1094, Rn. 10.

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schaft versprechen lässt (s. 1(4) SAA) nicht einklagbar (s. 1A SAA),67 eben­ so wenig wie eine Vereinbarung über die Herausgabe des Kindes nach der Geburt bei der nicht-kommerziellen Leihmutterschaft.68 Dass die Kosten einer ausländischen Leihmutter nun doch als Schadens­ berechnungsmaßstab in Frage kommen, soll in erster Linie dem Umstand geschuldet sein, dass es sich dabei um den lebensnächsten Maßstab für eine Bemessung eines Schadensersatzanspruchs in Geld handle. Die mit fremden Eizellen durchgeführte Leihmutterschaft bilde den status quo an­ te zwar nicht vollständig, wohl aber bestmöglich nach. 2001 hatte der Court of Appeals die Ersatzfähigkeit kommerzieller Leihmutterschaftsver­ einbarung noch abgelehnt, und zwar nicht nur unter Hinweis auf den darin liegenden public policy-Verstoß, sondern auch, weil die Aufwendun­ gen im Rahmen einer nicht-kommerziellen, im Vereinigten Königreich durchgeführten Leihmutterschaft kein anknüpfungsfähiger Schadenspos­ ten seien.69 Die Empfängnisfähigkeit als status quo ante sei schlicht nicht rekonstruierbar: Die Schwangerschaft einer Dritten und das von dieser unter Einsatz fremder Eizellen geborene Kind seien jeweils ein Aliud zur verlorenen Fertilität. Die Eizellen „gehörten“ der Klägerin nicht.70 Im Rahmen der Naturalrestitution könne die Klägerin daher nicht verlan­ gen, ein Kind „zu erhalten“, sondern lediglich, auf natürlichem Wege ein Kind zu zeugen.71 Der Court of Appeal verwies die Klägerin daher auf andere Schadensposten, einerseits eine Kompensationszahlung für den Behandlungsfehler, andererseits eine Geldentschädigung für den Verlust ihrer Gebährfähigkeit (loss of amenity).72 Das soll nun nicht mehr gelten. Der Umweg über die Leihmutterschaft sichere der Geschädigten zumindest zwei von vier „Mutterfreuden“, näm­ lich, ein Kind zu haben, das die Gene des eigenen Partners in sich trägt,

67 Schwind, Regulierung der Leihmutterschaft im Vereinigten Königreich, in: Dit­ zen/Weller (Hrsg.), Regulierung der Leihmutterschaft, 2018, 117 (119) m.w.N. über die Entwicklung der Rechtsprechung. 68 Schwind, Regulierung der Leihmutterschaft im Vereinigten Königreich, in: Dit­ zen/Weller (Hrsg.), Regulierung der Leihmutterschaft, 2018, 117 (119). 69 Briody v St. Helen's and Knowsley Area Health Authority [2001] EWCA Civ. 1010, [2001] 2 FLR 1094, Rn. 9, 16; Whittington Hospital NHS Trust v XX [2020] UKSC 14, Rn. 24. 70 Briody v St. Helen's and Knowsley Area Health Authority [2001] EWCA Civ. 1010, [2001] 2 FLR 1094, Rn. 25. 71 Briody v St. Helen's and Knowsley Area Health Authority [2001] EWCA Civ. 1010, [2001] 2 FLR 1094, Rn. 26. 72 Briody v St. Helen's and Knowsley Area Health Authority [2001] EWCA Civ. 1010, [2001] 2 FLR 1094, Rn. 34, 55.

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und es großzuziehen.73 Dies stehe schließlich der biologischen Mutter­ schaft in nichts nach, da sich das gesellschaftliche Bild von Ehe und Fami­ lie seit Briody74 „dramatisch“ verändert, genauer: für neue Lebensformen geöffnet habe.75 Das gerade beschriebene Beispiel deutet einen engen Ausschnitt eines Phänomens an, das sich in westlichen Gesellschaften beobachten lässt. So hat das Bundesverfassungsgericht den Schutzbereich des Grundrechts auf Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) auf gleichgeschlechtliche Paare ausge­ dehnt, soweit diese mit ihrem Kind in einer „sozial-familiären Beziehung“ leben.76 Das soll grundsätzlich die Familiengründung mit Hilfe moderner Reproduktionsmedizin einschließen.77 Der für die Zwecke der vorliegen­ den Überlegungen springende Punkt ist aber ein anderer: Der Supreme Court des Vereinigten Königreichs bricht das binär verstandene Konzept der Mutterschaft auf und konzipiert es als modulares Phänomen neu. Das hat (mindestens) drei Konsequenzen. Erstens wird das vormals monolithi­ sche Verständnis von Mutterschaft aufgegeben. Das Binärsystem Mutter und Nicht-Mutter, das der Court of Appeals in der Entscheidung Briody noch unterstellt hatte, wird von einem Verständnis abgelöst, das Mutter­ sein wenn noch nicht als Spektrum, so aber doch als graduell konstruier­ bares gesellschaftliches Phänomen erachtet und auf diese Weise von einem exogenen Faktor zu einem „Optionenraum der eigenen Selbstentfaltung“78 umfunktioniert. Auf diese Weise wird die Mutterschaft, zweitens, zugäng­ lich für Prozesse der Selbst- und Neuerfindung, des Hinzufügens, Verän­ derns und Personalisierens, und dient damit der eingangs beschriebenen Arbeit des spätmodernen Individuums an der eigenen Einzigartigkeit; es zeigt sich aber auch, dass die Gesellschaft der Singularitäten ungeahnte Chancen bietet, da sie es der ihrer Gebährfähigkeit beraubten Frau erlaubt, eben dies als Merkmal ihrer Einzigartigkeit in den Prozess kultureller Va­ lorisierung einzuspeisen. Schließlich gilt es einen dritten Aspekt zu erwäh­ nen, der eine deutliche Nähe der Entscheidungsgründe zu einem Charak­ teristikum der Logik der Singularisierung erkennen lässt und ihm umge­

73 Whittington Hospital NHS Trust v XX [2020] UKSC 14, Rn. 47. 74 Briody v St. Helen's and Knowsley Area Health Authority [2001] EWCA Civ. 1010, [2001] 2 FLR 1094, Rn. 5, 9. 75 Whittington Hospital NHS Trust v XX [2020] UKSC 14, Rn. 48. 76 BVerfG Urt. v. 19.2.2013 - 1 BvR 3247/09 - 2. und 3. Leitsatz, JZ 2013, 640; hierzu u.a. Hillgruber, Gibt es ein Recht auf ein Kind?, JZ 2020, 12 (13). 77 Hillgruber, Gibt es ein Recht auf ein Kind?, JZ 2020, 12 (13). 78 Steinbach, Das Amt in der Gesellschaft der Singularitäten, ARSP 108 (2022), 288 (290).

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kehrt rechtsvergleichend ein Alleinstellungsmerkmal verleiht: Dem Mehr­ heitsvotum des Supreme Court ist die Unterstellung zu entnehmen, dass die Fähigkeit, Kinder zur Welt zu bringen, einen kommerziellen Wert ha­ ben kann. Dass dieser Gegenwert durch die Orientierung an der in Groß­ britannien verbotenen Praxis der kommerziellen Leihmutterschaft kom­ mensurabel wird, wirft einige konstruktive Probleme auf, die an dieser Stelle nicht interessieren müssen.79 Für die vorliegenden Überlegungen weitaus relevanter ist nämlich die Einsicht, dass die Öffnung der Mutter­ schaft für kulturelle Valorisierungsprozesse mit der Ökonomisierung der Module einhergeht, die das spätmoderne Subjekt zum Zwecke seiner Selbstentfaltung neu zusammensetzen und personalisieren kann. Die Fä­ higkeit, Mutter zu sein, wird so zum Gegenstand eines Prozesses der Au­ thentizitätsperformanz; das Erleben und Fühlen des Mutterseins wird gleichzeitig kommerzialisiert und erhält so die Fähigkeit, sich in spätmo­ derne Wettbewerbslogiken einzufügen.80 D. Ausblick Wird die Cis-Frau in der Spätmoderne und wird Geschlecht zum Modul, mit dessen Hilfe das Individuum in der spätmodernen Affektkultur eine einzigartige Identität kuratiert? Es ließen sich noch zahllose weitere Bei­ spiele nennen, die diese Behauptung stützen können – aber sicherlich auch ebenso viele, die diese Tendenz widerlegen könnten. Allein dieser Beobachtung wegen wird sich der Beitrag einer Prognose über die „Zu­ kunft des weiblichen Geschlechts“ enthalten – ganz abgesehen davon, dass dies nach dem vorstehenden Kurzabriss vermessen erschiene. Durch ein abschließend geäußertes Achselzucken verlieren die vorangegangenen Überlegungen aber – nach Ansicht der Autorin – keineswegs an Wert: Die Gesellschaft der Singularitäten und ein im Hintergrund ablaufen­ des doing generality schließen einander ebenso wenig aus,81 wie sich aus der gesellschaftstheoretischen Ausdeutung bestimmter Phänomene der Ge­ schlechtergerechtigkeit als Bestandteile kollektiver Singularisierungspraxis normative Desiderate entwickeln lassen. Wohl aber birgt die Abkehr von einem essentialistischen Geschlechterverständnis ein nicht unerhebliches

79 Rentsch/Wollschläger, Leihmutterschaft als Schadensersatz, ZEuP 2021, 712 (720 ff.). 80 Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 3. Aufl. 2020, S. 141 ff. 81 Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 3. Aufl. 2020, S. 48 ff.

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Potential für die individuelle Selbstbestimmung: In der spätmodernen Gesellschaft macht nicht Recht Frau, sondern hat Frau Macht durch Recht – ob nun in kultureller, ökonomischer oder sozialer Hinsicht.

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Geschlecht im Umweltrecht Ida Westphal*

A. Einleitung Die Allgegenwärtigkeit von Geschlechterfragen vermag den Eindruck zu vermitteln, dass auch im und für Recht die wesentlichen Fragen in Be­ zug auf die Bedeutung von Geschlecht beantwortet sind. Dabei gibt es Rechtsbereiche, in denen Geschlecht bisher gar keine Rolle spielt. Ein sol­ cher Bereich ist das Umweltrecht. Die Abwesenheit der Geschlechterfrage in einem Rechtsbereich bedeutet aber nicht, dass Geschlecht tatsächlich keine Bedeutung hat. Vielmehr zeigt der Beitrag, dass eine feministische Perspektive einen kritischen Zugang zu Umweltrecht eröffnet. Dieser ist in der Situation von akuten und existentiellen Umweltproblemen, wie der Klimakrise, und der scheinbaren Wirkungslosigkeit des Rechts, ihnen zu begegnen, von Bedeutung. Die Frage nach dem Geschlecht auf neue Rechtsbereiche wie das Um­ weltrecht auszuweiten, passt zur Entwicklung der feministischen Rechts­ wissenschaft und feministischen Debatten allgemein, von sog. Frauenfra­ gen (zB mit der Forderung nach einem Wahlrecht) zu Geschlechterfra­ gen.1 Sarah Elsuni betont, dass sich nahezu jedes Rechtsgebiet für eine kritische2 Befragung aus feministischer Perspektive lohne.3 Geschlecht ist

* Ida Westphal verfolgt ein Promotionsprojekt im Rahmen der DFG-Forschungs­ gruppe „Recht – Geschlecht – Kollektivität“ an der Humboldt-Universität zu Berlin. Die Verfasserin bedankt sich für die hilfreichen Kommentare und Unter­ stützung in unterschiedlichen Stadien der Arbeit an diesem Artikel herzlich bei ihrer Betreuerin BVRin Prof. Dr. Susanne Baer, LL.M. (Michigan), bei Dr. Petra Sußner und Alina Mehrens aus dem Projekt „Anspruch auf eine gemeinsame Welt? Geschlecht in Umweltrecht und Umweltklagen“, sowie bei Fiona Schmidt, Inga Schuchmann, Lucy Chebout und Suse Brettin. 1 Handbuch Rechtsphilosophie/Baer/Elsuni, 2. Aufl. 2021, 296 (298 ff.). 2 Im Sinne einer reflexiven Hinterfragung, s. dazu Baer, Rechtssoziologie, 4. Aufl. 2021, § 2 Rn. 74 ff. 3 Elsuni, Feministische Rechtstheorie, in: Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts, 3. Aufl 2020, 225 (226 f.).

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dabei zentrale, aber nicht ausschließliche Analysekategorie4 und meint das durch Geschlechterverhältnisse konstituierte soziale Geschlecht als gesell­ schaftliches Ordnungsprinzip und Machtverhältnis.5 Umweltrecht ist ein Rechtsbereich, in dem sich die Geschlechterdi­ mension auf den ersten Blick nicht aufdrängt. Wenig überraschend hat Umweltrecht daher aus feministischer Perspektive bisher wenig Aufmerk­ samkeit erfahren.6 Im Kontrast hierzu gibt es bereits seit Jahrzehnten eine pluralistische feministische Forschung zum Mensch-Natur-Verhältnis. Auch in der Umweltpolitik(-beratung) spielt Geschlecht schon länger eine Rolle.7 Die Schnittstelle von Geschlechtergerechtigkeit und Klimagerech­ tigkeit wird auch von der Klimabewegung mit dem Slogan „No Clima­ te Justice without Gender Justice“ betont. Anlass für die Frage nach dem Geschlecht im Umweltrecht kann aber – ganz in der Tradition der Ge­ schlechterforschung – schlicht die Feststellung von vergeschlechtlichten Lebensrealitäten sein: Folgen von Umweltzerstörung und Klimakrise tref­ fen Menschen unterschiedlich stark, auch entlang von Geschlecht. So ha­ ben es etwa Menschen mit Sorgeverpflichtungen schwerer, vor Umweltka­ tastrophen zu fliehen; schlechte Umweltbedingungen, die zu Krankheiten führen, bedeuten eine Mehrbelastung für Personen mit Sorgetätigkeiten.8 4 Handbuch Rechtsphilosophie/Baer/Elsuni, 2. Aufl. 2021, 296 (296); Elsuni, Femi­ nistische Rechtstheorie, in: Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts, 3. Aufl. 2020, 225 (240). 5 Handbuch Rechtsphilosophie/Baer/Elsuni, 2. Aufl. 2021, 296 (297, 299 f.); Au­ tor:innenkollektiv, Einleitung, in: Foljanty/Lembke (Hrsg.), Feministische Rechts­ wissenschaft. Ein Studienbuch, 2. Aufl. 2012, 19 (22 f.). In Bezug auf Umweltthe­ men werden Geschlechterfragen auch aus einer Männlichkeitsperspektive gestellt, s. etwa Hultman/Pulé (Hrsg.), Ecological Masculinities, 2019. 6 Für das internationale Klimaregime aber etwa Morrow, Gender in the global cli­ mate governance regime, in: MacGregor (Hrsg.), Routledge Handbook of Gender and Environment, 2017, 398; Morrow, Changing the Climate of Participation, in: Magnusdottir/Kronsell (Hrsg.), Gender, Intersectionality and Climate Institutions in Industrialised States, 2021, 17; darüber hinaus werden feministische Zugänge in kritischen Analysen erwähnt, sind aber nicht zentral, s. zB Grear, ‘Anthropocene, Capitalocene, Chthulucene’: Re-encountering Environmental Law and its ‘Subject’ with Haraway and New Materialism, in: Kotzé (Hrsg.), Environmental Law and Governance for the Anthropocene, 2017, 77. 7 S. für den Bereich der Klimapolitik etwa Spitzner/Hummel/Stieß/Alber/Röhr, In­ terdependente Genderaspekte der Klimapolitik, https://www.umweltbundesamt.de /publikationen/interdependente-genderaspekte-der-klimapolitik (letzter Abruf am: 27.10.2022). 8 Stieß/Hummel/Kirschner, Arbeitshilfe zur gleichstellungsorientierten Folgenab­ schätzung für die Klimapolitik, 2018, S. 16 f., 24 f., die Genderdimensionen allge­ mein nach unterschiedlichen Lebensbereichen aufschlüsseln.

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Sichtbar werden diese Betroffenheiten auch in der Arbeit von Nichtregie­ rungsorganisationen und Netzwerken, die sich Themen wie einer genderresponsiven Klimapolitik9 oder dem Schutz vor schädlichen Umweltche­ mikalien, deren Verwendung Frauen besonders trifft,10 annehmen oder eine feministische Position zum europäischen Green Deal einfordern.11 Es sind die vergeschlechtlichten Betroffenheiten, die eine Geschlechter­ perspektive am vehementesten an das Recht herantragen. Im Wege sog. Klimaklagen fordern Frauen vor Gerichten eine ambitioniertere Klimapo­ litik und thematisieren damit Geschlechterfragen in Bezug auf Umwelt und Recht.12 Die Öffnung der feministischen Rechtswissenschaft hin zu neuen Rechtsgebieten erfordert vor diesem Hintergrund auch eine Befra­ gung von Umweltrecht aus feministischer Perspektive. Die feministische Rechtswissenschaftlerin Catherine MacKinnon formuliert dies auf die Frage von Susanne Baer, in welchen Rechtsbereichen eine feministische Interven­ tion besonders bedeutsam sei, wie folgt: „Ich würde damit anfangen, in alle Fächer ein Verständnis von der Rolle zu integrieren, die Geschlechterungleichheit in [dem] jeweiligen Rechtsgebiet spielt, so wie es derzeit konstruiert ist – und zwar nicht nur die rechtswissenschaftliche Arbeit im Fach, sondern das Rechtsge­ biet selbst. […] Dem würde ich nun das Umweltrecht hinzufügen, insbesondere hinsichtlich der Auswirkungen, die der Klimawandel auf die Geschlechterungleichheit hat, und hinsichtlich der Wirkung, die Geschlechterungleichheit auf eine erhöhte Verletzbarkeit durch den Klimawandel und auf die spezifischen Schwierigkeiten hat, gegen ihn anzugehen.“13

9 S. die Arbeit des Netzwerks „GenderCC – Women for Climate Justice“ (Gen­ derCC), https://www.gendercc.net/home.html (letzter Abruf am: 27.10.2022). 10 S. etwa die Arbeit des Netzwerks „Women Engage for A Common Future“ (WECF) zu diesem Thema in dem Projekt ChemFem – Gender und Chemikali­ en, https://www.wecf.org/de/chemfem/ (letzter Abruf am: 27.10.2022). 11 European Environmental Bureau (EEB)/Women Engage for a Common Future (WECF), Why the European Green Deal Needs Ecofeminism – Moving from gender-blind to gender-transformative environmental policies, 2021. 12 S. etwa die Beschwerde der Schweizer „Klimaseniorinnen“, die derzeit beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof anhängig ist (Az. 53600/20). Dieser Fall wird im Rahmen des DFG-geförderten Forschungsprojekt „Anspruch auf eine gemeinsame Welt? Geschlecht in Umweltrecht und Umweltklagen“, aus dem heraus auch dieser Beitrag entstanden ist, von Dr. Petra Sußner beforscht. 13 Baer/MacKinnon, Gleichheit, realistisch, JöR 67 (2019), 361 (372).

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Über die Frage nach dem Geschlecht lässt sich dann das zentrale Umwelt­ problem Klimakrise (auch) als gesellschaftlich bedingt verstehen; als „Aus­ druck krisenhafter gesellschaftlicher Naturverhältnisse“.14 So verstanden sind durch sie nicht nur Hierarchien und Machtverhältnisse im zwischen­ menschlichen Bereich angesprochen, sondern auch im Mensch-Natur-Ver­ hältnis. In dieser Kombination ergeben sich neue Fragen an Umweltrecht, die der Beitrag aufzeigt. Er ist zum einen im Kontext der kritischen Rechtswissenschaften zu verorten, die aufzeigt „was Recht tatsächlich und oft im Widerspruch zu seinen behaupteten Funktionen bewirkt“.15 Die Frage nach Geschlecht im Recht ist dann auch eine rechtssoziologische – aus rechtssoziologischer Sicht ist die feministische Perspektive eine, die aufzeigt und kritisiert, dass und wie Recht von Hierarchien und Machtverhältnissen durchzogen ist. Indem er sich auf Umweltrecht bezieht, knüpft der Beitrag zum anderen an ein vor allem international aufkommendes kritisches Umweltrecht16 an, das Umweltrecht etwa aus postkolonialer17 oder posthumanistischer18 Perspektive befragt. Um sich der Frage zu nähern, welche Rolle Geschlecht im öffentlichen Umweltrecht spielt, gibt der Beitrag zunächst einen Überblick über Um­ weltrecht als Rechtsgebiet (B.). Sodann geht er auf Wissensbestände ein, die für die Suche nach Geschlecht im Umweltrecht herangezogen werden können (C.). Mit der so vorgenommenen auch disziplinären Perspekti­ verweiterung werden beispielhaft Themenkomplexe für eine geschlechter­ theoretische Perspektive aufgezeigt (D.). Um die präsentierten Ansätze greifbarer zu machen, wird mit dem Immissionsschutzrecht als beispiel­ haftem Referenzgebiet gearbeitet.

14 Hackfort, Klimawandel und Geschlecht, 2015, S. 18; Anna Grear arbeitetet mit der Formulierung „crisis of human hierarchy“ als Gegenentwurf zu vor allem ökonomischen Erzählungen der Klimakrise, s. Grear, Towards ‘climate justice’?, 2014, S. 103, S. 110. 15 Baer, Rechtssoziologie, 4. Aufl. 2021, § 4 Rn. 188. 16 S. etwa Kotzé (Hrsg.), Environmental Law and Governance for the Anthropoce­ ne, 2017; sowie Philippopoulos-Mihalopoulos/Brooks (Hrsg.), Research Methods in Environmental Law, 2017. 17 S. etwa Alam/Atapattu/Gonzalez/Razzaque (Hrsg.), International environmental law and the Global South, 2015; Natarajan, Third World Approaches to In­ ternational Law (TWAIL) and the environment, in: Philippopoulos-Mihalopou­ los/Brooks (Hrsg.), Research Methods in Environmental Law, 2017, 207. 18 S. dazu etwa die Sonderausgabe Nr. 12 des Journal of Human Rights and the En­ vironment von Dezember 2021 zum Thema „Posthuman legalities: New Materia­ lism and law beyond the human“.

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B. Umweltrecht: Anthropozentrischer Umweltschutz und Technikbezug Öffentliches Umweltrecht ist ein umfangreicher Rechtsbereich. Anhand der Darstellung von Ziel und Schutzzweck (I.), Grundprinzipien und Sys­ tematik (II.) stellt der folgende Abschnitt Umweltrecht in Grundzügen sowie anhand des Immissionsschutzrechts vor.19 Sodann werden einige zentrale Charakteristika herausgearbeitet, die für eine geschlechtertheoreti­ sche Perspektive auf Umweltrecht von Bedeutung sind (III.). I. Gegenstand und Schutzzweck des Umweltrechts, sowie Umweltbegriff Umweltrecht regelt den Schutz der Umwelt vor bereits eingetretenen, noch stattfindenden oder künftigen Umweltschäden und -belastungen.20 Umweltrecht kann den Schutz der Umwelt als Hauptzweck (Umweltrecht im engeren Sinne) oder als Nebenzweck/-effekt (Umweltrecht im weiteren Sinne) verfolgen bzw. erreichen.21 Für Umweltrecht sind also der Umwelt­ schutzbegriff sowie der darin enthaltene Umweltbegriff zentral. Umweltschutz kann als sog. anthropozentrischer Umweltschutz vom Menschen ausgehen und ihn:sie bzw. die menschlichen Lebensgrundlagen schützen. Dem gegenüber steht der sog. ökozentrische Umweltschutz, der Natur um ihrer selbst willen schützt. Ausgehend von einem anthropozen­ trischen Ansatz der Verfassung (Art. 20a GG) ist Umweltrecht überwie­ gend anthropozentrisch,22 auch wenn dieser Anthropozentrismus nicht durchgehend besteht und Einzelgesetze auch ökozentrische Schutzzwecke haben können.23 In der Schutzzweckbestimmung des Immissionsschutzrechts lassen sich zunächst beide Elemente finden: Es schützt „Menschen, Tiere und Pflan­ zen, den Boden, das Wasser, die Atmosphäre sowie Kultur- und sonstige

19 Der Beitrag arbeitet mit einem Beispiel aus dem nationalen öffentlichen Umwelt­ recht, trotz des Wissens um die starke Prägung durch internationales und EUUmweltrecht; s. dazu etwa Kloepfer, Umweltrecht, 4. Aufl. 2016, §§ 9, 10. 20 Schlacke, Umweltrecht, 8. Aufl. 2021, § 1 Rn. 6. 21 Schlacke, Umweltrecht, 8. Aufl. 2021, § 2 Rn. 4. 22 Schlacke, Umweltrecht, 8. Aufl. 2021, § 1 Rn. 10. 23 Nach Kahl/Gärditz, Umweltrecht, 12. Aufl. 2021, § 4 Rn. 18 erschwert die Hetero­ genität in einzelnen Regelungsmaterien das Herausarbeiten eines einheitlichen Schutzzwecks im Umweltrecht; Kloepfer, Umweltrecht, 4. Aufl. 2016, § 1 Rn. 6 unterscheidet zwischen einem übergeordneten umweltrechtlichen Schutzzweck und den jeweils in Einzelgesetzen festgelegten Schutzzwecken.

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Sachgüter vor schädlichen Umwelteinwirkungen“, § 1 Abs. 1 Bundesim­ missionsschutzgesetz (BImSchG)24. Da der Begriff der „schädlichen Um­ welteinwirkungen“ wiederum in Bezug zum Menschen definiert wird,25 ist der mit dem Immissionsschutzrecht bezweckte Umweltschutz aber am Ende doch anthropozentrisch.26 Auch der (rechtliche) Umweltbegriff ist anthropozentrisch. Umwelt meint in rechtlicher Hinsicht die natürliche27 Umwelt im Sinne der natür­ lichen Lebensgrundlagen des Menschen, aber als Teil einer menschlich gestalteten und bebauten Umwelt und damit auch in Abgrenzung von einer unberührten Natur.28 Im Sinne des anthropozentrischen Umwelt­ schutzes geht es mit diesem rechtlichen Umweltbegriff um Auswirkungen von Handlungen auf Umweltmedien (Boden, Wasser, Luft, etc.) als natür­ liche Lebensgrundlagen des Menschen und mit Rückwirkungen für den Menschen.29 II. Grundprinzipien und Systematik Umweltrecht baut auf Grundprinzipien mit „systembildende[n], interpre­ tationsleitende[n] und rechtspolitische[n] Funktionen“30 auf. Ihnen kommt v.a. durch die Verankerung im EU-Primärrecht auch rechtliche Bindungswirkung zu.31 Zentral sind das Vorsorgeprinzip, das Verursacher­ prinzip und das Kooperationsprinzip.32 Das Vorsorgeprinzip strebt als Pri­ märziel eine gefahrenfreie Umwelt an und beinhaltet das Ziel der Gefah­

24 Bundes-Immissionsschutzgesetz v. 17.5.2013 (BGBl. 2013 I 1274), zuletzt geändert durch Artikel 12 Absatz 3 des Gesetzes vom 8.10.2022 (BGBl. 2022 I 1726). 25 S. § 3 Abs. 1 BImSchG. 26 So im Ergebnis auch Schlacke, Umweltrecht, 8. Aufl. 2021, § 9 Rn. 24; anders BImSchG-Kommentar/Jarass, 13. Aufl. 2020, § 1 Rn. 11, 23; der Unterscheidung wird keine große Bedeutung für die Praxis zugemessen, s. Schlacke, Umweltrecht, 8. Aufl. 2021, § 1 Rn. 11. 27 In Abgrenzung von der gesamten Umgebung im Sinne eines extensiven Umwelt­ begriffs, s. Kloepfer, Umweltrecht, 4. Aufl. 2016, § 1 Rn. 53. 28 Dies als restriktiven Umweltbegriff bezeichnend Kloepfer, Umweltrecht, 4. Aufl. 2016, § 1 Rn. 54, 59. 29 Kloepfer, Umweltrecht, 4. Aufl. 2016, § 1 Rn. 60. 30 Ramsauer, Allgemeines Umweltverwaltungsrecht, in: Koch (Hrsg.), Umweltrecht, 5. Aufl. 2018, § 3 Rn. 27; Kloepfer, Umweltrecht, 4. Aufl. 2016, § 4 Rn. 17. 31 Kloepfer, Umweltrecht, 4. Aufl. 2016, § 4 Rn. 17. 32 Schlacke, Umweltrecht, 8. Aufl. 2021, § 3 Rn. 1.

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renvermeidung, auch im Sinne eines Nachweltschutzes.33 Tatsächlich ist Vorsorge dann vor allem Risikovorsorge und steht im engen Zusammen­ hang mit dem Wissenschafts- und Technikbezug im Umweltrecht (dazu sogleich).34 Im Immissionsschutzrecht etwa ist neben dem Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen die Vorsorge zentral (§ 1 BImSchG).35 Vorsorge bedeutet dabei aber nicht die gänzliche Vermeidung von Emis­ sionen.36 Das Verursacherprinzip verfolgt unter allgemeinen Gerechtig­ keitserwägungen das Sekundärziel der Lastenverteilung und weist Vermei­ dungs- und Beseitigungslasten nach Verantwortlichkeit zu.37 Das Koopera­ tionsprinzip zielt auf eine Verantwortungs- und Aufgabenverteilung für die kooperative Wahrnehmung der Aufgabe „Umweltschutz“ als gemein­ same Aufgabe von Staat und Gesellschaft ab.38 Darüber hinaus gibt es wei­ tere Ausdifferenzierungen oder Nachbarprinzipien dieser Grundprinzipi­ en.39 Das öffentliche Umweltrecht im engen Sinne teilt sich in einen all­ gemeinen Teil, der materielle Grundprinzipien und Verfahrensregeln, so­ wie in einen besonderen Teil, der zB bestimmte Umweltmedien oder -gefahren regelt.40 Inhaltlich unterteilt sich das besondere Umweltrecht in unterschiedliche Teilbereiche. Je nach Schutzgütern hat Rüdiger Breuer bereits 1981 Teilbereiche des Umweltrechts nach medialem, kausalem, vi­ talem und integriertem Umweltschutz unterschieden.41 Während medialer Umweltschutz einzelne Umweltmedien schützt (zB Wasserrecht), schützt kausaler Umweltschutz vor bestimmten Gefahrenquellen (zB Immissions­ schutzrecht). Der vitale Umweltschutz zielt unmittelbar auf den Schutz von Pflanzen und Tieren ab (zB Naturschutzrecht) und beim integrierten Umweltschutz geht es um übergreifende Aufgabenstellungen (zB Raum­ planungsrecht, Gesundheitsrecht).

33 34 35 36 37 38 39 40 41

Kloepfer, Umweltrecht, 4. Aufl. 2016, § 4 Rn. 20, 23, 97. Schlacke, Umweltrecht, 8. Aufl. 2021, § 3 Rn. 6 f. BImSchG-Kommentar/Jarass, 13. Aufl. 2020, § 1 Rn. 13, 22. BImSchG-Kommentar/Jarass, 13. Aufl. 2020, § 1 Rn. 13. Kloepfer, Umweltrecht, 4. Aufl. 2016, § 4 Rn. 20, 92, 97 f. Kloepfer, Umweltrecht, 4. Aufl. 2016, § 4 Rn. 129, 131. S. im Einzelnen etwa Kloepfer, Umweltrecht, 4. Aufl. 2016, § 4 Rn. 22 ff. Schlacke, Umweltrecht, 8. Aufl. 2021, § 2 Rn. 22. Breuer, Strukturen und Tendenzen des Umweltschutzrechtes, Der Staat, 1981, 393 (393); auf diesen Systematisierungsvorschlag nimmt etwa Schlacke, Umwelt­ recht, 8. Aufl. 2021, § 2 Rn. 22 ff. Bezug; Kahl/Gärditz, Umweltrecht, 12. Aufl. 2021, § 1 Rn. 3 weist darauf hin, dass diese Einteilung nur als Vorstrukturierung dienen kann, da sie unterkomplex sei. Seit dem Systematisierungsvorschlag von Breuer hat insbesondere das Klimaschutzrecht rasant an Bedeutung gewonnen.

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III. Zentrale Charakteristika von Umweltrecht Einige zentrale Charakteristika des Umweltrechts sind ein starker Tech­ nikbezug, externe und interne Zielkonflikte, sowie Besonderheiten des Rechtsschutzes.42 Umweltrecht zeigt eine Dominanz von Technik- und Naturwissen­ schaftsbezügen – es ist in großen Teilen Technikrecht.43 Gesetzliche Tech­ nikklauseln, etwa zum „Stand der Technik“44, erfüllen eine Scharnier­ funktion.45 Hieraus folgt, dass der Zustand von Umwelt auch in seiner Bedeutung für den Menschen vor allem in quantitativen oder quantifi­ zierten Umweltstandards, wie Immissions- und Emissionsgrenzwerten im Immissionsschutzrecht, dargestellt wird.46 Der starke Bezug zur Naturwis­ senschaft und Technik hat Rückwirkung auf den Inhalt der Grundprinzi­ pien – wie etwa des Vorsorgeprinzips, das in seiner Ausgestaltung die Risikovorsorge eng mit dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse und Technikentwicklung verknüpft. Vorsorge ist demnach zu verstehen als „Vorsorge nach Maßgabe der technischen Möglichkeiten“.47 Der Stand der Technik ist auch im Immissionsschutzrecht als techni­ schem Sicherheitsrecht48 prägend. Hier geht es neben der Begrenzung der Einträge (Immissionen) auch darum, den Ausstoß von Schadstoffen oder andere Emissionen an der Quelle zu begrenzen. Der Stand der Technik ist zentral für die Betreiberpflichten zur Emissionsbegrenzung: Nach dem Stand der Technik vermeidbare schädliche Umwelteinwirkungen sind zu verhindern (§ 22 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BImSchG) und unvermeidbare schädli­ che Umwelteinwirkungen mit dem Stand der Technik auf ein Mindest­ maß zu reduzieren (§ 22 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 BImSchG). Die Anlage zum BImSchG definiert Kriterien zur Bestimmung des Stands der Technik. Hier geht es um Vorsorgeaspekte und darum, dynamisch den Fortschritt 42 Diese beiden Charakteristika sind aus der allgemeinen Darstellung zum Umwelt­ recht in Kloepfer, Umweltrecht, 4. Aufl. 2016, § 1 Rn. 69 ff. ausgewählt. 43 Kloepfer, Umweltrecht, 4. Aufl. 2016, § 1 Rn. 126 ff. 44 Eine Legaldefinition enthält § 3 Abs. 6 BImSchG. Zur Abgrenzung des Stands der Technik von weiteren Technikstandards Sparwasser/Engel/Voßkuhle, Umwelt­ recht, 5. Aufl. 2003, § 1 Rn. 189 ff. 45 Messerschmidt, Europäisches Umweltrecht, 2011, S. 37; Kloepfer, Umweltrecht, 4. Aufl. 2016, § 3 Rn. 130 ff.; mit Beispielen aus dem EU-Recht Kingston/ Heyvaert/Čavoški, European Environmental Law, 2019, S. 32. 46 Sparwasser/Engel/Voßkuhle, Umweltrecht, 5. Aufl. 2003, § 1 Rn. 195. 47 Rehbinder, Ziele, Grundsätze, Strategien und Instrumente, in: Rehbinder/Schink (Hrsg.), Grundzüge des Umweltrechts, 5. Aufl. 2018, § 3 Rn. 41. 48 Schlacke, Umweltrecht, 8. Aufl. 2021, § 9 Rn. 24.

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der Technik und wissenschaftlicher Erkenntnisse nachzuvollziehen. Auch spielt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine zentrale Rolle: Zur Be­ stimmung des Standes der Technik müssen Kosten und Nutzen abgewo­ gen werden.49 Anlagenbetreiber sind daher nicht grundsätzlich verpflich­ tet, die technisch wirksamste Lösung zu verwenden und es gilt kein bedin­ gungsloser Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen.50 Insofern ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip auch Grenze der Vorsorgepflicht.51 Auf der Seite der Einträge werden Grundlagen für den Gesundheitsschutz defi­ niert. Die Verwaltungsvorschrift der Technischen Anleitung zur Reinhal­ tung der Luft (TA-Luft)52 etwa definiert unter anderem Immissionswerte, also Werte, die die zulässigen Einträge bezeichnen, und „dem Schutz der Nachbarschaft vor unvertretbar hohen Schadstoffbelastungen, zB aus In­ dustrieanlagen“53 dienen; für die erfassten Luftschadstoffe wird der Schutz der menschlichen Gesundheit eingehalten, „wenn die […] ermittelte Ge­ samtbelastung die [genannten] Immissionswerte an keinem Beurteilungs­ punkt überschreitet“.54 Weiterhin zeichnet sich Umweltrecht durch Zielkonflikte einerseits im Verhältnis zu anderen wirtschafts- oder strukturpolitischen Zielen, ande­ rerseits zu anderen umweltschutzinternen Zielen (zB räumlicher Vertei­ lung von Umweltbelastungen als Gerechtigkeitsfrage) aus.55 Eng hiermit verbunden ist ein Grundverständnis von Umweltrecht als Begrenzungs­ recht im Sinne der Einschränkung von Freiheitsrechten von potentiellen

49 Insgesamt spricht Sparwasser/Engel/Voßkuhle, Umweltrecht, 5. Aufl. 2003, § 1 Rn. 193 von einem „komplexen integrativ-ökonomische[n] Anforderungsprofil“. 50 Kloepfer, Umweltrecht, 4. Aufl. 2016, § 15 Rn. 305 ff.; s. auch Anlage zu § 3 Abs. 6 BImSchG. 51 Kloepfer, Umweltrecht, 4. Aufl. 2016, § 15 Rn. 305 ff. 52 Neufassung der Ersten Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Bundes-Immissionsschutzgesetz (Technische Anleitung zur Reinhaltung der Luft – TA Luft) v. 18.8.2021, GMBl 2021 Nr. 48-54 1050. 53 Kloepfer, Umweltrecht, 4. Aufl. 2016, § 15 Rn. 109. 54 S. Ziffer 4.2.1 der TA-Luft. 55 Kloepfer, Umweltrecht, 4. Aufl. 2016, § 1 Rn. 76 ff.; Rehbinder, Ziele, Grundsätze, Strategien und Instrumente, in: Rehbinder/Schink (Hrsg.), Grundzüge des Um­ weltrechts, 5. Aufl. 2018, § 3 Rn. 7 ff.

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Umweltnutzenden.56 Rechtsdogmatisch äußern sich diese Zielkonflikte darin, dass Abwägungen im Umweltrecht eine große Bedeutung haben.57 Schließlich zeichnet sich Umweltrecht durch sehr spezifische Regeln zum Rechtsschutz, also dem Zugang zu Gericht in Umweltstreitigkeiten, aus. Umweltrecht hat einen starken objektivrechtlichen Gehalt, der die umweltrechtliche Verbandsklage als Ausnahme vom Grundsatz des Indivi­ dualrechtsschutzes bedingt. Ausgehend von dem starken Allgemeinwohl­ bezug im Schutzzweck des Umweltrechts erlaubt die Verbandsklage die Durchsetzung objektiven Umweltrechts durch anerkannte Umweltvereini­ gungen.58 Weitere Klagemöglichkeiten bestehen im Wege der sog. Dritt­ klagen, die von Einzelpersonen gegen Projekte erhoben werden können. Eine subjektive Klagebefugnis besteht hier nach der Schutznormtheorie nur dann, wenn die gerügte Rechtsverletzung sich auf eine Norm bezieht, die spezifisch auch dem Schutz der klagenden Person dient. Weitere Vor­ aussetzung ist eine räumlich und zeitlich spezifische Betroffenheit.59 Das Immissionsschutzrecht etwa unterscheidet in der Definition der „schädli­ chen Umwelteinwirkungen“ (§ 3 Abs. 1 BImSchG) ausdrücklich zwischen der Allgemeinheit und der Nachbarschaft. Nur letztere gehören zu dem zur Klage befugten Personenkreis.60 Sog. Klimaklagen, die dem Klimabe­ schluss des Bundesverfassungsgerichts61 zugrunde lagen, werden oft in Zu­ sammenarbeit zwischen Verbänden und Einzelkläger:innen geführt. C. Die Suche nach dem Geschlecht: Neue Perspektiven auf Umweltrecht Die bisherige Darstellung bestätigt, dass Geschlecht im Umweltrecht keine Rolle zu spielen scheint, geht es doch verkürzt gesprochen um die Regu­ lierung von unternehmerischen Aktivitäten in Bezug auf ihre Umweltaus­ 56 Kloepfer, Umweltrecht, 4. Aufl. 2016, § 1 Rn. 75; in diese Lesart lässt sich wohl auch der Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts einordnen, demnach künftige Klimaschutzmaßnahmen potenziell freiheitsgefährdend sind und eine rechtfertigungsbedürftige Grundrechtsvorwirkung begründen können, s. BVerfG Beschl. v. 24.3.2021 – 1 BvR 2656/18, 1 BvR 78/20, 1 BvR 96/20, 1 BvR 288/20, NJW 2021, 1723, Rn. 182 ff. 57 Kloepfer, Umweltrecht, 4. Aufl. 2016, § 1 Rn. 76. 58 Die umweltrechtliche Verbandsklage ist auf nationalstaatlicher Ebene sowohl in § 64 Bundesnaturschutzgesetz als auch in § 2 Umweltrechtsbehelfsgesetz geregelt. 59 Zu beiden Voraussetzungen s. Kloepfer, Umweltrecht, 4. Aufl. 2016, § 8 Rn. 48 ff. 60 Kloepfer, Umweltrecht, 4. Aufl. 2016, § 8 Rn. 70 ff. 61 BVerfG Beschl. v. 24.3.2021 – 1 BvR 2656/18, 1 BvR 78/20, 1 BvR 96/20, 1 BvR 288/20, NJW 2021, 1723.

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wirkungen mit vor allem technisch-wissenschaftlichen Kriterien der Risi­ kovorsorge. Für die Frage, ob und wie Geschlecht dennoch eine Rolle im Umweltrecht spielt, bedarf es daher einer Perspektiverweiterung. Der fol­ gende Abschnitt stellt Ansätze vor, die Geschlecht in Bezug zu Recht oder zur Natur setzen. Dafür wird zunächst Geschlecht als Analysekategorie nä­ her definiert und differenziert (I.). Die feministische Rechtswissenschaft befragt das Recht nach der Rolle von Geschlecht (II.). Weitere interdiszi­ plinäre Wissensbestände beschäftigen sich aus feministischer Perspektive mit dem Mensch-Natur-Verhältnis (III.). I. Geschlecht als analytische Kategorie Geschlecht und Geschlechterverhältnisse wirken auf unterschiedliche Art und Weise. Geschlecht als analytische Kategorie kann viel meinen. Allge­ mein lässt sich daher – um die Kategorie Geschlecht in Bezug auf Um­ welt- und Nachhaltigkeitsforschung und -politik handhabbar zu machen – ein Systematisierungsbedürfnis erkennen.62 Hofmeister/Katz/Mölders haben folgende analytische Kategorien in der Überschneidung von Nachhaltig­ keitswissenschaften und Geschlechterforschung ausgemacht: Geschlecht als Identitäts- und Differenzkategorie, als Strukturkategorie, als epistemo­ logische Kategorie oder als Prozesskategorie.63 Geht es – ausgehend von gelebten Realitäten – um Betroffenheiten, wird Geschlecht als Identitäts- oder Differenzkategorie angesprochen, etwa wenn Frauen sich wie im Falle der „Klimaseniorinnen“ vor Gericht auf ihr Frau-Sein (in diesem Fall in Verschränkung mit Alter) beziehen.64

62 Sowohl Spitzner/Hummel/Stieß/Alber/Röhr, Interdependente Genderaspekte der Klimapolitik, in: Umweltbundesamt (Hrsg.), https://www.umweltbundesamt.de/ publikationen/interdependente-genderaspekte-der-klimapolitik, S. 51 ff. (letzter Abruf am: 27.10.2022), als auch Weller/Fischer/Hayn, Gender Impact Assessment der Angewandten Umweltforschung Bremen (GIA): Abschlussbericht zum For­ schungsvorhaben 134, S. 81ff, https://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/2 2012 (letzter Abruf am: 27.10.2022) sprechen von Genderdimensionen oder un­ terschiedlichen Analysebenen, auf denen Geschlecht wirkt. 63 Hofmeister/Katz/Mölders, Grundlegungen im Themenfeld Geschlechterverhält­ nisse und Nachhaltigkeit, in: Hofmeister/Katz/Mölders (Hrsg.), Geschlechterver­ hältnisse und Nachhaltigkeit. Die Kategorie Geschlecht in den Nachhaltigkeits­ wissenschaften, 2012, 33 (47 ff.). 64 In der Beschwerdeschrift berufen sich die „Klimaseniorinnen“ darauf, dass sie „in der Vergangenheit, der Gegenwart […] und der Zukunft […] durch klimawan­ delbedingte Hitzewellen erheblich gefährdet waren, sind und sein werden“ und

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Problematisch kann sein, wenn damit Geschlechtszuschreibungen fortund festgeschrieben werden, zB im Hinblick auf geschlechtsspezifische Vulnerabilität.65 Geschlecht kann im Umweltrecht auch als Strukturkate­ gorie wirken. So kann es die Hierarchisierung zwischen Arbeits- und Ver­ sorgungssphären im Sinne einer geschlechtsspezifischen Arbeits- und Auf­ gabenteilung nutzen oder verstärken. Dies kann zum Beispiel eine Rolle bei vergeschlechtlichten Mobilitätsmustern aufgrund der Trennung von Versorgungs- und Arbeitssphären und damit verbundenen Geschlech­ terstereotypen spielen.66 Darüber hinaus kann Geschlecht als epistemologi­ sche Kategorie wirken, dh Wissensproduktion und -bestände prägen. Als Prozesskategorie ist Geschlecht angesprochen, wenn es darum geht, wie ein bestimmtes Naturverständnis (und damit auch ein mittelbar darauf aufbauendes Geschlechtsverständnis) ständig – in gesellschaftlicher Inter­ aktion – konstituiert, aktualisiert und reproduziert wird (sog. „Doing Na­ ture“ aufbauend auf dem „Doing Gender“). In dieser Kategorie liegt der Fo­ kus also auf dem Prozesshaften. II. Feministische Rechtswissenschaft Feministische Rechtswissenschaft bringt eine Analyse des Rechts mit der Kategorie Geschlecht als Vorzeichen zusammen. „Die“ feministische Rechtswissenschaft gibt es allerdings ebenso wenig wie „den“ Feminismus. Für den Blick auf Umweltrecht werden in der Folge dennoch einige übergeordnete Grundannahmen, Querschnittsthemen und Leitfragen aus­ gemacht, um sie auf Umweltrecht zu übertragen. Dafür geht der Beitrag von einer weiten Definition der feministischen Rechtswissenschaft aus. Sie stellt ausgehend von den Lebensrealitäten „die Frage, wie Recht Macht­ verhältnisse und Ausschlüsse produziert und mit welchen Strategien es

setzen sich daher „für die Gesundheit und die Menschenrechte älterer Frauen in einer sich gefährlich erwärmenden Welt ein“, s. S. 5 der Beschwerde, abrufbar un­ ter: https://www.klimaseniorinnen.ch/dokumente/ (letzer Abruf am 27.10.2022). 65 Dieses Problem ist allgemein als „feministisches Dilemma“ bekannt, s. Handbuch Rechtsphilosophie/Baer/Elsuni, 2. Aufl. 2021, S. 298, 300 und wird im Recht auch als Gruppismus-Problem beschrieben, s. Baer, Rechte und Regulierung. Das Prob­ lem des Gruppismus für die Grund- und Menschenrechte, in: Frietsch/Denner­ lein/Steffen (Hrsg.), Verschleierter Orient – Entschleierter Okzident?, 2012, 21. 66 MwN Spitzner/Hummel/Stieß/Alber/Röhr, Interdependente Genderaspekte der Klimapolitik, https://www.umweltbundesamt.de/publikationen/interdependentegenderaspekte-der-klimapolitik, S. 44, 69 f. (letzter Abruf am: 27.10.2022).

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zur Veränderung dieser Machtverhältnisse eingesetzt werden kann“67. Ge­ schlecht ist dabei zentrale Analysekategorie für Recht und Rechtsbeziehun­ gen (s.o.). Mit einem weiten Verständnis der Analyse von Machtverhältnis­ sen öffnet die feministische Rechtswissenschaft den Blick auch für weitere Machtverhältnisse und ihre Wirkung im und durch Recht (zB aufgrund von Alter).68 Aufgrund der Lebensrealitäten als „epistemologischem Aus­ gangspunkt“69 zeichnet sich feministische Rechtswissenschaft wie feminis­ tische Theorie allgemein seit jeher durch den interdisziplinären Dialog aus.70 Grundannahme feministischer Rechtswissenschaft ist zunächst die Ein­ sicht, dass Recht Wirklichkeit schafft.71 Ausgehend hiervon geht es um die Frage, wie Recht Geschlecht und Geschlechterverhältnisse konstruiert und umgekehrt, wie Geschlechterverhältnisse auf Recht wirken.72 Dies bezieht sich etwa auf Binaritäten, die Recht festschreibt und damit aufrechterhält, sowohl als dualistische Geschlechtszuschreibung in Mann/Frau in einer

67 Ausdrücklich mit dieser weiten Definition Autor/innenkollektiv, Einleitung, in: Foljanty/Lembke (Hrsg.), Feministische Rechtswissenschaft. Ein Studienbuch, 2. Aufl. 2012, 17 (23 f.); ähnlich Elsuni, Feministische Rechtstheorie, in: Buckel/ Christensen/Fischer-Lescano (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts, 3. Aufl. 2020, 225 (240). 68 Analytisch werden spezifische Diskriminierungssituationen, die durch die Diskri­ minierung aufgrund eines Strukturmerkmals (zB Geschlecht) in der Überschnei­ dung mit Diskriminierungen aufgrund weiterer Strukturmerkmale entstehen, als Intersektionalität gefasst; s. dazu etwa Handbuch Rechtsphilosophie/Baer/Elsuni, 2. Aufl. 2021, 296 (299); Elsuni, Feministische Rechtstheorie, in: Buckel/Christen­ sen/Fischer-Lescano (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts, 3. Aufl. 2020, 225 (237 ff.). 69 Handbuch Rechtsphilosophie/Baer/Elsuni, 2. Aufl. 2021, 296 (296). 70 Elsuni, Feministische Rechtstheorie, in: Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts, 3. Aufl. 2020, 225 (227); ausführlich dazu Davies, Law’s Truths and the Truth About Law: Interdisciplinary Refractions, in: Davies/Munro, The Ashgate research companion to feminist legal theory, 2013, 65 (65); Baer, Inklusion und Exklusion. Perspektiven der Geschlechterforschung in der Rechtswissenschaft, in: Verein Pro FRI (Hrsg.), Recht Richtung Frauen. Beiträge zur feministischen Rechtswissenschaft, 2001, 33 (41) mahnt jedoch „me­ thodisches Rüstzeug zur kritischen Evaluation“ an. 71 Catherine MacKinnon zitierend Handbuch Rechtsphilosophie/Baer/Elsuni, 2. Aufl. 2021, 296 (296); ebenfalls zum Verhältnis zwischen Recht und Realität in der feministischen Rechtswissenschaft Autor/innenkollektiv, Einleitung, in: Fol­ janty/Lembke (Hrsg.), Feministische Rechtswissenschaft. Ein Studienbuch, 2. Aufl. 2012, 19 (25 f.). 72 Elsuni, Feministische Rechtstheorie, in: Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts, 3. Aufl. 2020, 225 (227).

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rechtlich fixierten Kategorisierung, als auch als daran anschließende dualis­ tische Zuschreibungen, vor allem in Bezug auf Zweigeschlechtlichkeit und Heteronormativität.73 Eine weitere Grundannahme feministischer Rechts­ wissenschaft ist, dass Objektivitäts- und Neutralitätsansprüche des Rechts und der Rechtswissenschaft in Wirklichkeit Ausdruck (androzentrischer) Partikularinteressen sind und diesen dienen.74 Als übergeordnetes Querschnittsthema lässt sich etwa eine Kritik an der Trennung zwischen öffentlicher und privater Sphäre ausmachen.75 Hiermit wird ein Dualismus beschrieben, der mit geschlechtsbezogenen Differenzierungen und einer „Unterordnung und Rechtlosstellung“ des privaten Bereichs und damit traditionell von Frauen einhergeht.76 Recht gestaltet die Trennung der öffentlichen und privaten Sphäre aktiv mit – etwa durch die Schaffung von Rechten ausschließlich in bestimmten Lebensbereichen. Feministische Rechtswissenschaft arbeitet rechtliche Be­ nachteiligungen heraus, die aus als privat markierten unbezahlten Sorgetä­ tigkeiten resultieren.77 Ausgehend von den Grundannahmen und Querschnittsthemen stellt fe­ ministische Rechtswissenschaft Leitfragen nach In- und Exklusion im und

73 Handbuch Rechtsphilosophie/Baer/Elsuni, 2. Aufl. 2021, 296 (299 f.); insbesonde­ re Ansätze der Queer Theory kritisieren die Binarität von Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit, s. etwa Künzel, Feministische Theorien und Debatten, in: Foljanty/Lembke (Hrsg.), Feministische Rechtswissenschaft. Ein Studienbuch, 2. Aufl. 2012, 52 (64 f.). Zur Berücksichtigung von nicht-binären Personen im Rahmen von Parität s. den Beitrag von Lea Rabe in diesem Tagungsband, S. 201 ff. 74 Autor/innenkollektiv, Einleitung, in: Foljanty/Lembke (Hrsg.), Feministische Rechtswissenschaft. Ein Studienbuch, 2. Aufl. 2012, 19 (26 f.); Schmidt, Grundan­ nahmen des Rechts in feministischer Kritik, in: Foljanty/Lembke (Hrsg.), Femi­ nistische Rechtswissenschaft. Ein Studienbuch, 2. Aufl. 2012, 74 (77 ff.); zur Ob­ jektivität mit einem Fokus auf dem Zivilrecht Kocher, Objektivität und gesell­ schaftliche Positionalität, KJ 2021, 268. 75 Handbuch Rechtsphilosophie/Baer/Elsuni, 2. Aufl. 2021, 296 (300 f.). 76 Schmidt, Grundannahmen des Rechts in feministischer Kritik, in: Foljanty/ Lembke (Hrsg.), Feministische Rechtswissenschaft. Ein Studienbuch, 2. Aufl. 2012, 74 (80 f.). 77 So wird auch aufgrund dessen etwa eine andere Systematisierung von Recht bzw. Einteilung nach Lebensbereichen vorgeschlagen, vgl. Autor/innenkollektiv, Ein­ leitung, in: Foljanty/Lembke (Hrsg.), Feministische Rechtswissenschaft. Ein Stu­ dienbuch, 2. Aufl. 2012, 19 (28).

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durch Recht,78 nach dem Rechtssubjekt und verschleierten Stereotypen,79 sowie rechtstatsächlich nach den Auswirkungen von Recht.80 III. Ökofeminismus: Feministische Herausforderungen des Mensch-NaturVerhältnisses Die Suche nach Geschlecht im Umweltrecht eröffnet neue interdiszipli­ näre Schnittstellen. Zahlreiche Arbeiten in außerrechtlichen Disziplinen haben sich mit der Überschneidung von Gesellschaft, Natur und Ge­ schlecht aus feministischer Perspektive beschäftigt.81 Für die Integration von Geschlecht in Umweltrecht erscheinen besonders jene Arbeiten als gewinnbringend, die sich dem Bereich des Ökofeminismus82 zuordnen 78 Baer, Inklusion und Exklusion. Perspektiven der Geschlechterforschung in der Rechtswissenschaft, in: Verein Pro FRI (Hrsg.), Recht Richtung Frauen. Beiträge zur feministischen Rechtswissenschaft, 2001, 33. 79 Baer, Komplizierte Subjekte zwischen Recht und Geschlecht. Eine Einführung in feministische Ansätze in der Rechtswissenschaft, in: Kreuzer (Hrsg.), Frauen im Recht–Entwicklungen und Perspektiven, 2001, 9. 80 Baer, Komplizierte Effekte. Zur Wirkung von Recht, in: Mahlmann (Hrsg.), Ge­ sellschaft und Gerechtigkeit. Festschrift für Hubert Rottleuthner, 2011, 243; Au­ tor/innenkollektiv, Einleitung, in: Foljanty/Lembke (Hrsg.), Feministische Rechtswissenschaft. Ein Studienbuch, 2. Aufl. 2012, 19 (25 f.). 81 Wohl vor allem aufgrund der Vielzahl der disziplinären Ansätze und Strömungen gehen Überblickswerke des Ökofeminismus in der Regel auf einige Grundannah­ men ein und stellen erst dann einzelne Ansätze vor; so etwa die Aufteilung zwi­ schen „Foundations“ und „Approaches“ in MacGregor (Hrsg.), Routledge Hand­ book of Gender and Environment, 2017; einen interessanten Ansatz wählen Hof­ meister/Katz/Mölders (Hrsg.), Geschlechterverhältnisse und Nachhaltigkeit, 2012, indem sie zunächst auf Ähnlichkeiten in Struktumerkmalen und Forschungsprin­ zipien zwischen Geschlechterforschung und Nachhaltigkeitswissenschaften ein­ gehen und erst dann Forschungsbereiche systematisieren und einzelne Ansätze vorstellen. 82 Ich verwende den Begriff des Ökofeminismus in dem Wissen um unterschiedli­ che Benennungen in dem Bereich und Kontroversen um diesen Begriff vor allem aufgrund seiner Prägnanz, mit der er die Verbindung von feministischen und ökologischen Fragestellungen beschreibt, sowie darüber hinaus in der Erkennt­ nis, dass die Essentialisierungsvorwürfe, die auf einzelne Ansätze zutreffen mö­ gen, nur einen kleinen Teil der umfangreichen ökofeministischen Forschung be­ treffen und aus diesem Grund der Begriff zum großen Teil zu Unrecht in Verruf gekommen ist. Zum Begriff des Ökofeminismus, seiner schwierigen Rezeption inkl. einem „historischen Rucksack“, sowie unterschiedlichen Ansätzen des Mensch-Natur-Verhältnisses, die Ökofeminismus bedeuten kann s. Handbuch Umweltethik/Bauhardt, 2016, 212 (213); Handbuch Interdisziplinäre Geschlech­

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lassen. Vereinfacht dargestellt geht Ökofeminismus davon aus, dass einer­ seits Herrschaftsbeziehungen zwischen Menschen, aber auch gegenüber der Natur bestehen und diese Herrschaftsbeziehungen strukturelle/symbo­ lische Ähnlichkeiten aufweisen bzw. sich bedingen.83 Insofern bestehen Ähnlichkeiten zu der gewählten weiten Definition feministischer Rechts­ wissenschaft. Gemeinsames Ziel ökofeministischer Ansätze ist, zur macht­ kritischen Theoretisierung und Analyse der Wechselwirkungen zwischen Geschlecht, Gesellschaft und Natur beizutragen.84 Grundlage für die herrschaftsförmigen Beziehungen zwischen Men­ schen aber auch zwischen Mensch-Natur ist nach ökofeministischen An­ sätzen die Abtrennung von allem Natürlichen. Herausgearbeitet und kriti­ siert wird der Natur-Kultur-Dualismus als Zweiteilung, mit dem dann die Abwertung alles Nicht-Menschlichen einhergeht. Da auch geschlechtsbe­ zogene oder andere gesellschaftliche Hierarchisierungen oft mit naturali­ sierten Unterschieden zwischen Geschlechtern gerechtfertigt werden, stellt sich zwangsläufig die Frage nach dem zugrundeliegenden Naturverständ­ nis.85 Dies ist eines, das ausgehend von einem mechanistischem Weltbild Natur (und alle mit Natur Assoziierten) als unbewegt und passiv ansieht.86

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terforschung/Bauhardt, 2019, 467; zur Verortung des Ökofeminismus in der Ent­ wicklung des Feminismus allgemein Thompson/MacGregor, The Death of Na­ ture: Foundations of ecological feminist thought, in: MacGregor (Hrsg.), The Routledge Handbook of Gender and Environment, 2017, 43 (46 ff.). Unter Rückgriff auf ein Zitat von Karen Warren s. Holland-Cunz, Soziales Sub­ jekt Natur, 1994, S. 38; ähnlich Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterfor­ schung/Bauhardt, 2019, 467 (467 f.). Hofmeister/Katz/Mölders, Grundlegungen im Themenfeld Geschlechterverhält­ nisse und Nachhaltigkeit, in: Hofmeister/Katz/Mölders (Hrsg.), Geschlechterver­ hältnisse und Nachhaltigkeit. Die Kategorie Geschlecht in den Nachhaltigkeits­ wissenschaften, 2012, 33 (78). Hofmeister/Katz/Mölders, Grundlegungen im Themenfeld Geschlechterverhält­ nisse und Nachhaltigkeit, in: Hofmeister/Katz/Mölders (Hrsg.), Geschlechterver­ hältnisse und Nachhaltigkeit. Die Kategorie Geschlecht in den Nachhaltigkeits­ wissenschaften, 2012, 33 (34 f.). Zur ideengeschichtlichen und wissenschaftshistorischen Entwicklung eingehend Merchant, The Death of Nature, 2020/1990. Der Titel („Death“) verweist auf die sich im Laufe der Zeit verändernde Auffassung von Natur, von vormals aktiv und lebendig hin zur Passivität; zur Einordnung Bauhardt, Einführung: Ein Standardwerk der feministischen Umweltforschung und Wissenschaftskritik, in: Merchant, Der Tod der Natur: Ökologie, Frauen und neuzeitliche Naturwissen­ schaft, 2020, sowie Thompson/MacGregor, The Death of Nature: Foundations of ecological feminist thought, in: MacGregor (Hrsg.), The Routledge Handbook of Gender and Environment, 2017, 43.

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Es beseitigt normative Barrieren87 und ermöglicht damit die Ungleichbe­ handlung von Menschen wegen vermeintlich natürlicher Unterschiede so­ wie die Ausbeutung der Natur aufgrund ihrer vermeintlichen Leblosigkeit und Handlungsohnmacht. Damit wird klar, wie wichtig und grundlegend es ist, sich aus feministischer Perspektive mit dem Naturverständnis aus­ einanderzusetzen.88 Einzelne Themen scheinen zusätzlich zur Dualismuskritik am MenschNatur-Verhältnis für eine Übertragung in eine feministische Kritik am Umweltrecht besonders interessant: Verwandt mit der ökofeministischen Dualismuskritik ist die Kritik am Anthropozentrismus in dem Sinne, als dass Anthropos als Mensch außerhalb der Natur steht. Gleichzeitig kritisieren Ökofeminist:innen, dass der etwa für das Anthropozän als geo­ logische Epoche namensgebende Anthropos zu Unrecht eine Verallgemei­ nerung darstelle und verschleiere, welche spezifischen Machtverhältnisse und Strukturen in der Hervorbringung dieser geologischen Epoche wir­ ken.89 Darüber hinaus gibt es eine ausgeprägte Kritik an Wissenschaft und Technologieentwicklung aus feministischer Perspektive (sog. feministische Wissenschafts- und Technologiestudien): Ausgehend von einer Kritik an wissenschaftlicher Objektivität unterstützt sie aus wissenschaftlicher Per­ spektive die Dualismuskritik90 und weist auf vergeschlechtlichte Muster in der Suche nach Lösungen für Umweltprobleme und Klimakrise hin

87 Merchant, The Death of Nature, 2020/1990, assoziiert diese „normative cons­ traints“ mit einer organischen Weltsicht, s. S. 22 f., 111. 88 Alaimo, Bodily natures, 2010, S. 4 ff.; Alaimo, Undomesticated ground, 2000, S. 1 ff.; gleichzeitig ist es aufgrund der Geschichte des Ökofeminismus und der schnellen Essentialisierung von Frauen und Natur auch ein risikobehaftetes Un­ terfangen, bzw. eines, das droht, die Verbindungen zwischen Frauen und Natur zu idealisieren oder zu dramatisieren, s. Handbuch Interdisziplinäre Geschlech­ terforschung/Bauhardt, 2019, 467 (468). 89 Dies tun auch andere kritische, insbesondere postkoloniale Ansätze. Allgemein zum Anthropozän aus Genderperspektive Di Chiro, Welcome to the White (M)Anthropocene?, in: MacGregor (Hrsg.), Routledge Handbook of Gender and Environment, 2017, 487; es werden unterschiedliche Benennungsvorschläge ge­ macht, um die Ursachen ausdrücklicher zu benennen, zB Kapitalozän („capita­ locene“) von unter anderem Jason Moore, oder um ein Verständnis für die Komplexität der (nötigen) Interaktionen zu schaffen, zB mit dem Chtuluzän („chtulucene“) von Donna Haraway. 90 Thompson/MacGregor, The Death of Nature: Foundations of ecological feminist thought, in: MacGregor (Hrsg.), The Routledge Handbook of Gender and En­ vironment, 2017, 43 (48).

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(zB über Markt- oder Techniklösungen).91 Vor allem in der ökofeminis­ tischen politischen Ökonomie liegt ein Fokus auf Fragen von Arbeit, Reproduktion und Sorge. Aus makroökonomischer Perspektive geht es darum, dass in marktvermittelten Ansätzen die Reproduktionssphäre, in­ klusive der (Re-)Produktion durch Natur ausgeblendet wird.92 Zentral aus einer ökofeministischen Perspektive ist dann erweiternd eine materielle und strukturelle93 Parallelität der vergeschlechtlichten Ausbeutung in der häuslichen Sphäre mit der Ausbeutung von Natur. Es wird aufgezeigt, wie ökonomische Strukturen nicht nur sozial benachteiligend und ungerecht, sondern auch im ökologischen Sinne nicht nachhaltig sind.94 D. Umweltrecht aus feministischer Perspektive: Synthese Feministisches Umweltrecht bringt Geschlecht als Analysekategorie mit­ hilfe der vorgenannten Ansätze zusammen. Im Folgenden stelle ich mögli­ che Themenbereiche hierfür vor. Ziel ist keine umfassende Aufarbeitung der Themen in ihrer Bedeutung für Umweltrecht, sondern beispielhaft Forschungsthemen und -fragen auszumachen. Diese orientieren sich ent­ lang der folgenden Erzählung: Die Trennung zwischen Natur und Kul­ tur, die Gegenstand von Dualismuskritik ist (I.), bildet die Grundlage für implizite Ab- und Aufwertungsprozesse, die das Männliche als Norm setzen, etwa über das Rechtssubjekt (II.). Ist ein Normsubjekt gesetzt, so verschleiert es dann die Partikularität von Positionen zugunsten von Objektivitäts- und Neutralitätsansprüchen in der Wissenschaft und techni­ schen Lösungsstrategien (III.). Gleichzeitig setzen sich diese Wertungen in allen Lebensbereichen fort, besonders in der Trennung zwischen Arbeits-,

91 Prägend waren hier Arbeiten von Sandra Harding, Evelyn Fox Keller, Donna Haraway oder Londa Schiebinger, sowie im deutschsprachigen Raum etwa Elvira Scheich. 92 Allgemein hierzu Bauhardt, Nature, care and gender: Feminist dilemmas, in: Bau­ hardt/Harcourt (Hrsg.), Feminist Political Ecology and the Economics of Care, 2018, 16; sowie Mellor, Ecofeminist Political Economy: A Green and Feminist Agenda, in: MacGregor (Hrsg.), Routledge Handbook of Gender and Environ­ ment, 2017, 86. 93 Im Gegensatz zu einer essentialisierenden Verbindung zwischen Frauen und Na­ tur, vgl. Mellor, Ecofeminist Political Economy: A Green and Feminist Agenda, in: MacGregor (Hrsg.), Routledge Handbook of Gender and Environment, 2017, 86 (89). 94 Mellor, Ecofeminist Political Economy: A Green and Feminist Agenda, in: MacG­ regor (Hrsg.), Routledge Handbook of Gender and Environment, 2017, 86 (86).

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und Reproduktionssphäre (IV.). Rechtlich anschaulich gemacht werden die möglichen Forschungsfragen für ein feministisches Umweltrecht wie­ derum am Immissionsschutzrecht. I. Dualismuskritik: Gesellschaft und Natur im Umweltrecht Sowohl der feministischen Rechtswissenschaft als auch ökofeministischen Ansätzen ist eine – wenn auch unterschiedlich geartete – Dualismuskri­ tik gemein. Vereinzelt wurde dieses Thema bereits gendertheoretisch in­ formiert mit Bezug zum Umweltrecht aufgegriffen, auch wenn diese Bei­ träge die Frage nach der konkreten Integration dieser Ansätze in Recht offen lassen.95 Mit der Dualismuskritik ist Geschlecht als epistemologische und Prozesskategorie angesprochen; so kann aufgezeigt werden, wie Um­ weltrecht in seinem ideengeschichtlichen Ausgangspunkt (etwa über den Umweltbegriff), seinem Schutzzweck und den in Bezug genommenen Wissensbeständen auf den Natur-Kultur-Dualismus zurückgreift. Mit Ge­ schlecht als Prozesskategorie kann dann aufgezeigt werden, wie dieser Dualismus – im Sinne des „Doing Nature“ – in Grundlagen und Praxis des Umweltrechts ständig aktualisiert wird. Hier lässt sich rechts- und umweltsoziologisch96 anknüpfen und fragen, wie genau Umweltrecht das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Natur gestaltet, etwa in konkreten Behörden- oder Gerichtsentscheidungen, und umgekehrt, wie der NaturKultur-Dualismus Umweltrecht strukturiert und damit die in ihm enthal­

95 Petersmann, Response-abilities of care in more-than-human worlds, JHRE 2021, 102 etwa geht auf die onto-epistemologischen Grundlagen für internationales Umweltrecht aus einer Perspektive des Neuen Materialismus ein, allerdings nicht aus einer dezidiert feministischen Perspektive. 96 Mit der Rechtssoziologie kommen „Zustände in Recht und Gesellschaft“ in den Blick und wie sie „voneinander abhängen, sich gegenseitig beeinflussen und einem rechtlich-sozialen Wandel unterliegen“, s. Pflüger, zitiert nach Baer, Rechtssoziologie, 4. Aufl. 2021, § 2 Rn. 68. In der Umweltsoziologie erlaubt das Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse nach den Wechselwirkungen in den dynamischen und dauerhaften Beziehungsmustern zwischen Mensch, Gesell­ schaft und Natur zu fragen und erkennt hierbei „Geschlecht“ als basales Ord­ nungsmuster von Gesellschaft an, s. dazu Handbuch Umweltsoziologie/Becker/ Hummel/Jahn, 2011, 75. Die gesellschaftlichen Naturverhältnisse weichen damit den Natur-Kultur-Dualismus auf, vgl. Çağlar/Mar Castro Varela, do/Schwenken, Einleitung: Feministische Perspektiven auf Klima, in: Çağlar/Mar Castro Varela, do/Schwenken, Geschlecht – Macht – Klima: Feministische Perspektiven auf Kli­ ma, gesellschaftliche Naturverhältnisse und Gerechtigkeit, 2012, 7 (15).

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tenen und sich reproduzierenden Wechselwirkungen zwischen Mensch und Natur formt.97 Vor diesem Hintergrund lässt sich dann etwa das Im­ missionsschutzrecht mit dem zentralen Konzept des dynamischen Um­ weltschutzes nach dem „Stand der Technik“ als ständige Aktualisierung des Mensch-Natur-Verhältnisses verstehen, das freilich und gerade auch in seiner Geschlechterdimension noch konkret zu beschreiben und herauszu­ arbeiten wäre. Rechtsdogmatische Ableitungen könnten dann etwa in Be­ zug auf umweltrechtliche Schutzkonzepte möglich sein, zB im Zusam­ menhang mit dem Vorsorgeprinzip und seiner Konkretisierung über den Technikbezug. II. Umweltrechtliches Rechtssubjekt jenseits von Androzentrismus und Anthropozentrismus? Vielversprechend für feministisches Umweltrecht ist die Auseinander­ setzung mit dem männlich gesetzten Normsubjekt (sog. Androzentrismus) im Verhältnis zum Umweltrechtssubjekt. In theoretischer Hinsicht lässt sich auch für deutsches und europäisches Umweltrecht98 das Idealsubjekt im Sinne des mit Handlungsmacht ausgestatteten Subjekts des Umwelt­ rechts herausarbeiten. Wer ist dieser für das (auch rechtliche99) Anthro­ pozän namensgebende Anthropos genau? In einer solchen Fragestellung ist Geschlecht als epistemologische aber auch Strukturkategorie angespro­ chen, geht es doch darum, welches Wissen über Zugänge und Bedürfnisse in Bezug auf Natur zugespitzt im umweltrechtlichen Subjekt ihren Aus­

97 Mit einem ähnlichen Ansatz und unterschiedliche Zugänge darstellend Lange, How to think about ‘nature-society’ interactions in environmental law ‘in action’, in: Philippopoulos-Mihalopoulos/Brooks (Hrsg.), Research Methods in Environ­ mental Law, 2017, 29. 98 In Bezug auf das Rechtssubjekt im internationalen Umweltrecht, allerdings nicht explizit aus Geschlechterperspektive Grear, ‘Anthropocene, Capitalocene, Chthu­ lucene’: Re-encountering Environmental Law and its ‘Subject’ with Haraway and New Materialism, in: Kotzé (Hrsg.), Environmental Law and Governance for the Anthropocene, 2017, 77; Grear, Deconstructing Anthropos, Law and Critique, 2015, 225. 99 S. etwa Sinder, Anthropozänes Verfassungsrecht als Antwort auf den anthropoge­ nen Klimawandel. Besprechung von BVerfG, Beschl. v. 24.3.2021 – 1 BvR 2656/18 u. a., JZ 2021, 1078.

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druck findet100 und welche strukturell bedingten Lebensrealitäten dadurch abgedeckt werden. Hier besteht insofern ein Zusammenhang zur Kritik am Natur-Kultur-Dualismus, da dieser auch zu Ausschlussmechanismen auf Ebene des Rechtssubjekts führt. Aus feministischer Perspektive muss gefragt werden, wie eine epistemologische nicht ausschließende Offenheit aussehen kann, die diesen Dualismus nicht bedient.101 Die Frage nach dem Subjekt in Zusammenschau mit einer Androzen­ trismuskritik stellt auch vergeschlechtlichte Betroffenheiten in den Fokus – und damit Geschlecht als Identitätskategorie. Feministisches Umwelt­ recht kann aufzeigen, welche Körper/Menschen bei bestimmten Grenz­ werten, wie zB den Immissionswerten aus der TA-Luft zum Gesundheits­ schutz in den Blick genommen werden und welche (körperlichen) Realitä­ ten und dadurch entstehende besondere Vulnerabilitäten aus dem Blick geraten.102 Denn ein bestimmter Grenzwert allein suggeriert, dass dieser für alle gleich schützend bzw. der Schadstoff für alle Menschen gleicher­ maßen gefährlich ist. Mit Blick auf untergesetzliche Normen zur Konkre­ tisierung etwa der immissionsschutzrechtlichen Schutzpflichten mit dem Ziel des Gesundheitsschutzes wie der TA-Luft ist schwer ersichtlich, wer – im Sinne welcher Menschen/Körper – hier geschützt wird und mit seinen:ihren körperlichen Bedürfnissen über Grenzwerte berücksichtigt wird.103 Eine feministische Perspektive kann das geschützte Rechtssubjekt im Wege der Rekonstruktion hervorbringen. Überschneidungen bestehen dann mit Geschlecht als Strukturkategorie, wenn etwa bestimmte verge­ schlechtlichte Tätigkeiten zu besonders hohen Expositionen führen. Dass in der Realität unterschiedliche Sensibilitäten bestehen und auch Umwelt­ politik und -regulierung hierauf einen Einfluss haben, zeigt schon die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen zu vergeschlechtlichten Auswir­ kungen in bestimmten Bereichen der Umweltpolitik.104 Verschiedene Ver­ fahren, wie das Gender Impact Assessment, wurden vorgeschlagen, um ver­ 100 Mit einem solchen Verständnis des Zusammenhangs zwischen Rechtssubjektivi­ tät und Wissensbeständen Grear, Towards ‘climate justice’?, Journal of Human Rights and the Environment 2014, 103 (129 f.). 101 Dazu auch Grear, Towards ‘climate justice’?, Journal of Human Rights and the Environment 2014, 103 (130 f.) mit der Frage nach den „epistemological impli­ cations of embodiment“. 102 Allgemein dazu etwa Foster, Vulnerability, equality and environmental justice – The potential and limits of law, in: Holifield/Chakraborty/Walker (Hrsg.), Vulnerability, equality and environmental justice, 2017, 136. 103 Eingehend zu der Thematik aber ohne Geschlechterbezug Böhm, Der Norm­ mensch, 1996. 104 S. das Beispiel WECF (Fn. 12).

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geschlechtlichte Auswirkungen von Umwelt- und Klimapolitik im Wege einer gleichstellungsorientierten Folgenabschätzung zu bewerten.105 Eine feministische Perspektive verspricht aber auch darüber hinausgehend eine neue – machtkritische – Perspektive auf die Tatsache, dass unterschiedliche Sensibilitäten und die fehlende Möglichkeit, diese im Umweltrecht zu be­ rücksichtigen, gesetzte Erkenntnis im Umweltrecht zu sein scheint.106 Die Frage nach der Betroffenheit ist auch vor dem Hintergrund der feministischen Frage nach In- und Exklusion bedeutsam, da Klagerechte von Einzelpersonen – in Abgrenzung zu dem Verbandsklagerecht – auch im Umweltrecht nur bei einer spezifischen Betroffenheit bestehen. Wird mit Grenzwerten etwa zur Bestimmung der Grenze von gesundheitsschäd­ lichen Aktivitäten gearbeitet, wie zB in der TA-Luft, stellt sich dann die Frage, wie effektiv eine vom Normmenschen abweichende Betroffenheit auch über die Gerichte rechtlichen Schutz erfahren kann. Hier lassen sich auch Fragen nach Beteiligungsmöglichkeiten (etwa in Verfahren der Öffentlichkeitsbeteiligung bei umweltrelevanten Projekten) sowie der Re­ präsentation (zB bei den UN-Klimaverhandlungen) anschließen, die aber zT bereits Gegenstand wissenschaftlicher Ausarbeitungen sind.107 III. Doppelte Kritik an Objektivität und Neutralität im Umweltrecht Feministische Rechtswissenschaft und ökofeministische Ansätze hinterfra­ gen Neutralitäts- und Objektivitätsansprüche und weisen jeweils für das Recht und für die Naturwissenschaften auf eine Einbettung in gesellschaft­ liche Machtstrukturen hin. Im Umweltrecht kommt das Instrument des Rechts mit Naturwissenschaft und Technik als zentralen Wissensbestän­ den zusammen, sodass Objektivitäts- und Neutralitätsansprüche in doppel­ ter Weise wirken. Feministisches Umweltrecht hinterfragt beide sowie

105 Spitzner/Hummel/Stieß/Alber/Röhr, Interdependente Genderaspekte der Klima­ politik, https://www.umweltbundesamt.de/publikationen/interdependente-gend eraspekte-der-klimapolitik, S. 98 ff. (letzter Abruf am: 27.10.2022). 106 Mit dem Verweis auf Fehlsteuerungen Sparwasser/Engel/Voßkuhle, Umwelt­ recht, 5. Aufl. 2003, § 1 Rn. 196; s. auch Rehbinder, Ziele, Grundsätze, Strategien und Instrumente, in: Rehbinder/Schink (Hrsg.), Grundzüge des Umweltrechts, 5. Aufl. 2018, § 3 Rn. 26, 232. 107 Morrow, Perspectives on environmental law and the law relating to sustainabi­ lity: A continuing role for ecofeminism?, in: Philippopoulos (Hrsg.), Law and Ecology. New Environmental Foundations, 2011, 126.

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ihr spezifisches Zusammenkommen:108 Wie wirkt es sich aus, wenn An­ drozentrismus zugleich im Umweltrecht (zB über sein Idealsubjekt) und in den in Bezug genommenen Wissensbeständen (wie den in Bezug ge­ nommenen Körpern) wirkt? Hiermit lässt sich im Immissionsschutzrecht etwa die Bedeutung und der Inhalt des „Stands der Technik“ für umwelt­ rechtliche Entscheidungen hinterfragen. Auch stellt sich die Frage nach al­ ternativen und ausgeschlossenen Wissensbeständen, die etwas über den Zustand der Natur, die Auswirkungen menschlicher Aktivität auf sie und Rückwirkungen auf den Menschen aussagen. Geschlecht ist hier also wie­ derum epistemologisch in Bezug auf Wissensbestände angesprochen. Die „Scharnierfunktion“ der Technikklauseln begründet damit einerseits eine disziplinäre Offenheit des Umweltrechts, hegt diese aber gleichzeitig auch einseitig ein und prägt damit die Realität des rechtlichen Umweltschutzes, zum Beispiel in Bezug auf die Argumente in gerichtlichen Auseinanderset­ zungen um die Genehmigungsfähigkeit immissionsschutzrechtlicher Anla­ gen. Mit dem starken Fokus auf Naturwissenschaft und Technik ist auch Geschlecht als Strukturkategorie angesprochen und lassen sich etwa im an­ lagenbezogenen Umweltschutz des Immissionsschutzrechts vergeschlecht­ lichte Lösungsstrategien ausmachen. Sie sind durch Männlichkeitsmodelle geprägt, etwa in der Prämisse der sich ständig fortschrittlich weiterentwi­ ckelnden Technik für den Umweltschutz.109 Hinzukommt Geschlecht als Identitätskategorie, wenn es etwa um das Zustandekommen von unterge­ setzlichen Standards geht.110 IV. Arbeit, Reproduktion und Sorge im Umweltrecht Ähnlich wie feministische Rechtswissenschaft unterschiedliche Realitäten in Bezug auf das Erwerbsleben in ihrer rechtliche Bedeutung aufzeigt, ist denkbar, dass umweltpolitische Maßnahmen, die in Recht umgesetzt wer­

108 Auch in der Umweltrechtswissenschaft sind Objektivität und Neutralität zB in Bezug auf die Risikovorsorge bereits Thema, s. etwa für EU Recht Kingston/ Heyvaert/Čavoški, European Environmental Law, 2017, S. 29 ff. 109 So spricht die Anlage zum BImSchG in Ziffer 5 von den „Fortschritte[n] in der Technologie und in den wissenschaftlichen Erkenntnissen“ als Kriterium zur Be­ stimmung des Standes der Technik. Gemeinsam mit der dynamisch angelegten Betreiberpflicht ergibt sich hierdurch eine Fortschrittserzählung. 110 S. hierzu die Ausführungen von Lee, EU Environmental Law, Governance and Decision-Making, 2. Aufl. 2014, S. 113 ff., 192 ff.

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den, umweltrelevante und ggf. sogar sanktionsbewährte Aufgaben in den privaten Bereich verlagern.111 Mit Geschlecht als Strukturkategorie lässt sich danach fragen, wie Umweltrecht in bestimmten vergeschlechtlichten Strukturen wirkt, zB wo es um arbeitsbedingt vergeschlechtlichte Schad­ stoffexposition geht. Kommt es – bei dem Beispiel des Immissionsschutz­ rechts bleibend – zu schadstoffbedingten Gesundheitsproblemen,112 hat dies wiederum Rückwirkungen auf Art und Umfang von Sorgetätigkeiten. Mit Hilfe der feministischen Ökonomiekritik lässt sich Geschlecht als Strukturkategorie im Umweltrecht dann noch weiter verstehen: Im Zu­ sammenhang mit der Bedeutung von wirtschaftlichen Erwägungen im Umweltrecht kann es darum gehen, welchen Tätigkeiten eine Bedeutung für das Allgemeinwohl zugeschrieben wird, sodass sie in umweltrechtliche Abwägungen zum Ausgleich von Zielkonflikten einfließen. Ein Herausar­ beiten dieser Konflikte aus feministischer Perspektive und was mit wel­ chem Gewicht in eine solche Abwägung einfließt, scheint besonders span­ nend, da die Umweltgesetze des besonderen Umweltrechts diese Konflikte selbst nicht benennen und schon auf dieser Ebene ggf. eine Verschleierung stattfindet.113 Eine geschlechtertheoretisch informierte Perspektive ermög­ licht eine kritische Analyse des Auswahlprozesses, der die abwägungsrele­ vanten Umstände festlegt. Beispielhaft ist hier die Kosten-Nutzen-Abwä­ gung im Rahmen der Bestimmung vom „Stand der Technik“ im Immis­ sionsschutzrecht114 – eine feministische Perspektive eröffnet hier einen neuen Blick darauf, was etwa durch ökonomische Wertentscheidungen als Kosten und Nutzen in die Abwägung einfließt. Sie nimmt dabei vor allem in den Blick, welche nicht-monetarisierten Belange für die jeweilige Entscheidung eine Rolle spielen.

111 Stieß/Hummel/Kirschner, Arbeitshilfe zur gleichstellungsorientierten Folgenab­ schätzung für die Klimapolitik, 2018, S. 16 f., die in diesem Zusammenhang von einem Risiko der Feminisierung von Umweltverantwortung sprechen. 112 Die Gesundheitsauswirkungen von umweltrechtlichen Vorschriften und Refor­ men werden zum Teil von Umweltverbänden thematisiert und modelliert, s. etwa Myllyvirta/Gierens, Health Impacts of Germany’s Proposed Coal Power Plant Emissions Limits, 05/2020, https://energyandcleanair.org/wp/wpcontent/uploads/2021/03/Germany-Power-Plant-health-impacts.pdf (letzter Ab­ ruf am: 27.10.2022) in Bezug auf Gesundheitsauswirkungen unterschiedlicher Reformvorschläge der Verordnung über Großfeuerungs-, Gasturbinen- und Ver­ brennungsmotoranlagen (13. BImSchV). 113 Dazu Rehbinder, Ziele, Grundsätze, Strategien und Instrumente, in: Rehbinder/ Schink (Hrsg.), Grundzüge des Umweltrechts, 5. Aufl. 2018, § 3 Rn. 8. 114 S. die Anlage zum BImSchG für die Kriterien zur Bestimmung des Standes der Technik.

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E. Fazit Was zeigt eine Geschlechterperspektive auf das für die Zwecke dieses Bei­ trags als Beispiel dienende Immissionsschutzrecht? Der Beitrag hat gezeigt, dass Immissionsschutzrecht und Umweltrecht allgemein geschlechtertheo­ retisch im Sinne eines feministischen Umweltrechts be- und hinterfragt werden können und mit welchem Handwerkszeug dies geschehen kann: Die feministische Rechtswissenschaft ist der Ausgangspunkt; aufgrund der bisherigen Abwesenheit der Themen von „Natur“ und „Umwelt“ im um­ weltrechtlichen Sinne muss jedoch auf weitere interdisziplinäre Wissens­ bestände zurückgegriffen werden, um die Bedeutung von Geschlecht im Umweltrecht zu erfassen. Die daraus abgeleiteten neuen interdisziplinären Schnittstellen zeigen, dass gesellschaftliche Hierarchisierungen und Macht­ verhältnisse nicht nur zwischenmenschlich wirken, sondern auch das Mensch-Natur-Verhältnis durchziehen. Die daraus abgeleiteten Fragestel­ lungen sind keineswegs immer neu (zB Natur-Kultur-Dualismus oder An­ thropozentrismus), jedoch können sie aus der geschlechtertheoretischen Perspektive machtkritisch analysiert werden. Die aus der Analyse der Hier­ archisierungen und Machtverhältnisse gewonnen Erkenntnisse können mithilfe einer Zusammenführung von rechts- und umweltsoziologischen Ansätzen an Recht rückgebunden werden, mit denen Umweltrecht dann als spezifisches Beziehungsmuster zur Gestaltung des Mensch-Natur-Ver­ hältnisses innerhalb der gesellschaftlichen Naturverhältnisse verstanden werden kann.115 Zu beobachten sind hier nicht abschließend dargestellte themati­ sche Überscheidungen feministischer Rechtswissenschaft und ökofeminis­ tischer Ansätze. Dies überrascht wenig, da feministische Forschung und Theorie immer auch inter- und transdisziplinär mit einem epistemologi­ schen Ausgangspunkt bei den Lebensrealitäten sind. Für eine geschlech­ tertheoretisch informierte Analyse von Umweltrecht bedarf es dennoch einer Übertragungsleistung, um aus dieser Zusammenführung eine Kri­ tik am Umweltrecht aus geschlechtertheoretischer Perspektive zu ermögli­ chen. Das heißt, es erschließt sich nicht von selbst, was die Frage nach Geschlecht im Umweltrecht genau bedeutet. Um hier eine Handhabe zu bekommen, wurde vorliegend Geschlecht als analytische Kategorie vorge­ 115 Umweltrecht ist so gesehen aber nur einer von vielen Rechtsbereichen, der das Mensch-Natur-Verhältnis gestaltet, da auch in anderen Rechtsbereichen Wech­ selwirkungen zwischen Natur und Gesellschaft bestehen. Insofern kann auf die Unterscheidung von Umweltrecht im engeren Sinne und in einem weiteren Sinne verwiesen werden, s.o.

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stellt. Die Frage danach, wie mit Umweltrecht in Anbetracht von struktu­ rellen Verwobenheiten von Geschlechterungleichheit mit der Klimakrise und Umweltzerstörung überhaupt umgegangen werden kann, bleibt da­ mit in diesem Beitrag aufgrund des Fokus auf einem analytischen Zugang vorerst unbeantwortet.116 Gerade in Bezug auf (natur-)philosophische Betrachtungen, wie etwa zum Natur-Kultur-Dualismus, ist die Herausforderung, diese Kritik für Recht handhabbar zu machen. Hierbei handelt es sich im Gegensatz zu vergeschlechtlichten Auswirkungen auf Einzelne um vergeschlechtlichte Konzepte,117 die die Frage nach dem dogmatischen Ertrag einer geschlech­ tertheoretischen Perspektive auf Umweltrecht aufwerfen. Diese ist nicht nur einer aktivistisch inspirierten Herangehensweise wichtig, sondern ebenfalls aus einer feministischen, die ihren Ausgangspunkt bei den Le­ bensrealitäten hat. Hierfür braucht es weitere Forschung, für die dieser Beitrag eine Grundlage schafft. Diese Grundlagenarbeit ist nötig, um bei einer feministischen Kritik am Umweltrecht durch einseitige Narrative von Vulnerabilität und Betroffenheit nicht in Essentialisierungsfallen zu tappen. Es tut sich damit eine Trennung zwischen einer eher abstrakt analytischen/theoretischen Perspektive und tatsächlichen Betroffenheiten, die etwa das Antidiskriminierungsrecht oder den Menschenrechtsschutz mit einem Geschlechterfokus ansprechen (s. das Beispiel der Klimasenio­ rinnen, Fn. 12) auf. Die hier formulierten Forschungsfelder für Geschlecht im Umweltrecht erlauben, ausgehend von Betroffenheiten, die Strukturen, die im Umwelt­ recht wirken, in den Blick zu nehmen. Gerade im Umweltrecht, das kei­ nen ausschließlichen individualrechtlichen Ansatz verfolgt (s. Verbands­ klage) und durch umwelt- und wirtschaftspolitische Zielkonflikte geprägt ist, scheint dies von Bedeutung. Insofern schärft die feministische Perspek­ tive den Blick für Machtpotentiale und -wirkungen im Umweltrecht, ist aber nur eine Möglichkeit der kritischen Auseinandersetzung. Vor dem Hintergrund der umweltrechtlichen Zielkonflikte hat besonders eine öko­ nomische Kritik eine Bedeutung.118 Feministische Ökonomiekritik scheint

116 Grear, Towards ‘climate justice’?, Journal of Human Rights and the Environ­ ment 2014, 103 (103, 106 ff.) spricht etwa von einer „strukturellen Komplizität“ von Recht in Bezug auf Umweltzerstörung. 117 Mit dem Begriff der „gendered concepts“ etwa Alaimo, Undomesticated ground, 2000, S. 13. 118 Grear, Towards ‘climate justice’?, JHRE 2014, 103 macht dies besonders deutlich, da in ihrer Herleitung der Klimakrise als „crisis of human hierarchy“ die „corpo­ rate form“ zentral ist.

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besonders geeignet, die impliziten vergeschlechtlichten (Ab-)Wertungen aufzuzeigen, die hier am Werk sind. Gerade in diesem Bereich wird aber auch deutlich, dass eine feministische Perspektive andere kritische Perspektiven einbeziehen muss, wenn sie Unterdrückungs- und Ausbeu­ tungsverhältnisse nicht selektiv analysieren will. Einen Anspruch auf Voll­ ständigkeit erhebt feministische Rechtswissenschaft aber ohnehin nicht, wird doch mit der weiten Definition feministischer Rechtswissenschaft be­ tont, dass Geschlecht nur den Ausgangspunkt für einen Blick auf weitere Dimensionen von Ausbeutung und Unterdrückung bildet. Insofern kann und muss sich eine feministische Kritik am Umweltrecht, ausgehend von Geschlecht als Vorzeichen, weiterer kritischer Ansätze bedienen. Praktische Anknüpfungspunkte ergeben sich schließlich für Perspekti­ ven der Umweltgerechtigkeit, die aber zumindest in ihrer rechtsbezogenen Ausgestaltung Geschlecht bisher größtenteils auszublenden scheinen. Vor allem in den USA wurden Fälle von Umweltrassismus und -klassismus unter dem Begriff der Umweltgerechtigkeit als Fragen an und Herausfor­ derung von Umweltrecht mit Blick auf die Verstärkung von gesellschaft­ lichen Machtverhältnissen durch unterschiedliche Betroffenheiten oder Repräsentation in umweltrelevanten Entscheidungen ausbuchstabiert.119 Auch in Deutschland hat es hierzu einige wenige Veröffentlichungen gegeben.120 Diese Fragen können auch ausgehend von Geschlecht als Aus­ gangspunkt der Fragestellung adressiert werden. Allgemeiner kann es bei einer geschlechtertheoretischen Perspektive auf Umweltrecht auch darum gehen, seine sozialen Dimensionen in den Fokus zu rücken und zu verste­ hen, wie es im Sinne der gesellschaftlichen Naturverhältnisse wirkt.

119 S. v.a. Gerrard/Foster (Hrsg.), The law of environmental justice, 2. Aufl. 2009; Forschungsbedarf für Deutschland in Bezug auf Umweltrassismus zeigen Ituen/ Tatu Hey, Der Elefant im Raum – Umweltrassismus in Deutschland. Studien, Leerstellen und ihre Relevanz für Umwelt- und Klimagerechtigkeit, 2022 auf. 120 S. etwa grundlegend Kloepfer, Umweltgerechtigkeit – Environmental Justice in der deutschen Rechtsordnung, 2006.

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„Feminismus ist Arbeit gegen die Schubladen“ Ein Gespräch über Differenz und Hierarchie, Perspektivenerweiterung und (Vor-)Bilder Richterin des BVerfG Prof. Dr. Dr. h.c. (Michigan, Hasselt, Luzern) LL.M. Susanne Baer, Johanna Groß, Rebecca Militz und Sina Ness*

Susanne Baer ist eine der einflussreichsten Wissenschaftlerinnen der recht­ lichen Genderforschung im deutschsprachigen Raum und gehört zu den führenden Vertreterinnen einer feministischen Rechtstheorie. In wissen­ schaftlichen Publikationen wie auch im Rahmen ihres breiten Engage­ ments hat sie sich pionierhaft mit unterschiedlichen Diskriminierungsfor­ men beschäftigt. Susanne Baer versteht Recht als ein „Phänomen der ge­ sellschaftlichen Wirklichkeit“; Rechtswissenschaft ist für sie im besten Sin­ ne „kritische“ Wissenschaft.1 Dementsprechend ist ihre Arbeit regelmäßig darauf ausgerichtet, Recht auch aus der Perspektive anderer Disziplinen zu begreifen, mit einer „interdisziplinären Rechtsforschung“2. Angelegt war diese Interdisziplinarität bereits in ihrer Entscheidung, 1983-1988 so­ wohl Rechts- als auch Politikwissenschaften an der FU Berlin zu studieren. Mehrere Stationen im Ausland weisen zudem auf weitere Schwerpunkte hin: Die Einbeziehung europäischen und internationalen Rechts und den Rechtsvergleich, besonders zu Konflikten um Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit – den bestimmenden Themen ihrer Arbeit. Besonders be­ deutsam waren, so Susanne Baer selbst, die Begegnung mit der US-ameri­ kanischen feministischen Rechtswissenschaftlerin Catharine A. MacKinnon, die sie als akademische Lehrerin nachhaltig geprägt hat, und mit der sie an der University of Michigan arbeitete. Nach einer Promotion bei Prof. Simitis und Prof. Denninger in Frankfurt a.M. zu dem Thema „Würde oder

* Johanna Groß und Sina Ness sind Doktorandinnen und Akademische Mitarbeite­ rinnen an der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg. Rebecca Militz ist Rechtsreferendarin am Landgericht Heidelberg und Wissenschaftliche Hilfskraft an der Juristischen Fakultät. Wir danken Juliane Widder für ihre Unterstützung bei der Erstellung der Transkription. 1 So auf ihrer Webseite, abrufbar unter https://www.rewi.hu-berlin.de/de/lf/ls/bae/wi ssen/rechtsforschung (letzter Abruf am: 11.12.2022). 2 Das ist Untertitel des Lehrbuchs Baer, Rechtssoziologie, 5. Aufl. 2022.

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Gleichheit?“, einer Studie zur „angemessenen grundrechtlichen Konzepti­ on von Recht gegen Diskriminierung am Beispiel sexueller Belästigung am Arbeitsplatz in der Bundesrepublik Deutschland und den USA“ (Nomos 1995), und der Habilitation, die sich mit „dem Bürger“ als Leitfigur im allgemeinen Verwaltungsrecht „zwischen Obrigkeit und aktivierendem Staat“ beschäftigte (Mohr Siebeck 2011), folgten Lehrstuhlvertretungen in Erfurt und Bielefeld neben der Gastlehre an der CEU Budapest, in Toronto und Linz. 2002 erhielt Susanne Baer den Ruf an die damals neu eingerichtete Professur für Öffentliches Recht und Geschlechterstudien an der Humboldt-Universität zu Berlin, der ersten dieser Art in Deutschland. 2003 siedelte sie dort das Gender-Kompetenzzentrum zur Beratung der Bundesregierung an, war Sprecherin des Zentrums für Geschlechterstudi­ en, Studiendekanin der Juristischen Fakultät und 2005 Vizepräsidentin der HU Berlin. 2011 folgte schließlich die Wahl zur Richterin des Bundesver­ fassungsgerichts in den Ersten Senat als Berichterstatterin für Arbeitsrecht, Wissenschafts- und Vereinigungsfreiheit und Teile des Sozialrechts. Geehrt wurde ihr wissenschaftliches Engagement unter anderem mit der Verlei­ hung der Ehrendoktorwürde durch die Universitäten Michigan, Luzern und Hasselt. Im Gespräch mit Johanna Groß, Rebecca Militz und Sina Ness auf der Tagung Frau.Macht.Recht. spricht Susanne Baer über die Be­ deutung von feministischer Rechtswissenschaft als „Arbeit gegen Schubla­ den“, die Notwendigkeit einer intersektionalen Analyse des Rechts und die Herausforderungen, vor denen Forschende in diesem Bereich nach wie vor stehen. FMR: Liebe Frau Baer, die in diesem Tagungsband gesammelten Beiträge beruhen auf Vorschlägen, die uns in Reaktion auf ein Anfang 2022 veröf­ fentlichter Call for Papers erreicht haben. Bei damaliger Durchsicht der eingereichten Exposés ist uns aufgefallen, wie viele – gerade jüngere – Wis­ senschaftler:innen und Student:innen Biographien „erster“ Juristinnen, al­ so Berichte über Leben und Werk der ersten im deutschsprachigen Raum juristisch ausgebildeten Frauen, eingereicht haben. Das reiht sich ein in eine aktuell zunehmende Anzahl an Dissertationsprojekten und sonstigen Veröffentlichungen in diesem Bereich.3 Wir können uns vorstellen, dass 3 Siehe zB Michl, Wiltraut Rupp-von Brünneck (1912-1977), 2022; Hansen, Erna Scheffler (1893-1983), 2018; Freund, Die Verwaltungsjuristin Theanolte Bähnisch (1899-1973) und der Deutsche Frauenring, 2018; zudem in diesem Band Michl, Der Heidelberger Juristinnenkreis. Selbstorganisation und Selbstbehauptung von Jurastudentinnen im Nationalsozialismus, S. 27 ff. sowie Schwamborn, Frau. Macht. Europarecht. Der Weg der „Mütter Europas“ von 1922 über 1952 bis 2022,

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dieses Interesse an den ersten Frauen in den Berufen der Rechtspflege auch etwas mit der Suche nach Vorbildern zu tun hat, an denen es gerade wäh­ rend der juristischen Ausbildung angesichts einer vorwiegend männlichen Professorenschaft weiterhin fehlt.4 Warum sind Vorbilder so bedeutsam und wie wirkt sich das Fehlen von Vorbildern auf junge Jurist:innen aus? Welche Rolle haben Vorbilder für Sie persönlich auf Ihrem Lebensweg gespielt? SB: Zuerst einmal vielen Dank für die Einladung und herzlichen Glück­ wunsch zu Ihrer Initiative, diese Tagung durchzuführen. Als ich davon hörte, hat mich das beeindruckt – und wenn ich meine hoffentlich schüt­ zende Verfassungsrichterinnenhand darüber halten kann, dann tue ich das gerne. Sodann: Ihre Frage nach den Vorbildern sollte an einem wissenschaft­ lichen Ort auch wissenschaftlich beantwortet werden. Dazu gibt es For­ schung: Was machen Vorbilder mit Menschen? Welche Funktion haben sie in Organisationskulturen, aber auch für Lebenswege, für Karrieren? Das sind spannende Studien, gerade wenn sie gender-kompetent arbeiten. Ich antworte hier aber biographisch. In meiner derzeitigen Position ist die Anrufung als Vorbild natürlich nicht ganz selten. Als Verfassungsrich­ terin bekleide ich eine herausgehobene Position, und auch die Professur an der Humboldt-Universität war zwar nicht die erste, die sich mit Ge­ schlechterstudien beschäftigte – zu nennen sind mindestens Ursula Rust, Sibylle Raasch oder Heide Pfarr oder Ute Sacksofsky –, aber es ist doch die erste, die so breit ansetzt und offiziell in der Juristischen Fakultät und gleichzeitig in den Geschlechterstudien verankert ist. Also: eine „first“ – und wohl manchmal auch Vorbild. Ich hadere allerdings ein wenig mit dem Begriff. Ein Bild ist ja immer eine Fixierung. Und die kulturwissen­ schaftlich informierten Geschlechterstudien bringen uns ebenso wie die Psychologie bei, dass ein Bild ganz leicht zu einem Stereotyp wird, dass Stereotypen ganz leicht in eine Essentialisierung übergehen, und dass Es­ sentialisierung dann Vorurteile fundiert. Vorbilder sind wunderbar – aber ein Problem ist, damit eventuell auf das Geschlecht reduziert zu werden – und dann geschieht genau das, wogegen sich der Feminismus wendet. S. 73 ff.. Einen Überblick über „erste“ Juristinnen bietet Röwekamp, Juristinnen. Lexikon zu Leben und Werk, 2005. 4 Einigermaßen aktuelle Zahlen hierzu bieten Sacksofsky/Stix, Was lange währt und immer noch nicht gut ist. Zur Repräsentanz von Frauen in der Wissenschaft vom Recht, KJ 51 (2018), 464 (467), die in ihrer Studie einen Professorinnenanteil von 17,6 % an juristischen Fakultäten in Deutschland ermitteln.

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Ein weiteres Problem ist der häufige Kurzschluss von der einen Frau auf die Paradefrau, von der Ausnahme auf die immer noch abwesende Regel. Ich versuche also Vorbild zu sein und das gleichzeitig zu brechen. Ich bin eine Frau in solchen Ämtern, und das sagt etwas, und ich bin wohl weltweit die erste gewählte, ihr Privatleben nicht versteckende lesbische Verfassungsrichterin, aber ich stehe nicht für alle. Gerne Vorbild, denn es ist wichtig, wenn Menschen verkörpern, dass eine Universität oder ein Gericht auch „unsere“ Orte sind. Und gerne nur eine von vielen, denn es ist wichtig, wirkliche Vielfalt ernst zu nehmen – der Frauen, der Homose­ xuellen. „Vor-Bild“ – das ist also für mich etwas Wunderbares – und eine Herausforderung. Ich selbst habe von Begegnungen mit wunderbaren Menschen und sehr oft mit Frauen auch unglaublich profitiert. Sie haben mir – und das ist das Schöne, was ich mit „Vorbildern“ verknüpfe – gezeigt, dass Türen nicht immer nur verschlossen sind, sondern auch aufgehen können. Und sie haben mir gezeigt, dass es viele Wege gibt, um Ziele zu erreichen. Also versuche ich das auch: Zu zeigen, durch diese Tür kann man gehen – ich bin da auch durchgegangen, das ist nicht immer einfach, und hinter der Tür kann es auch mal kühl werden, aber hindurchgehen – das ist möglich. Ich habe den Eindruck, dass sich da als Professorin an einer juris­ tischen Fakultät, wo sich bundesweit weiter beschämende Zahlen einer männlich-langweiligen Hegemonie halten, und auch als Verfassungsrichte­ rin, solange an den Höchstgerichten oft immer noch ganz mehrheitlich Männer richten, eine Aufgabe stellt. Letztlich ist Diversität – oder eben „Vielfalt“ – in herausgehobenen Positionen, sei es an der Universität, in Gerichten oder auch in Parlamenten, auf Regierungsbänken und den Cor­ porate Boards, so selten wie entscheidend. Mit der verwandten Forderung nach Parität haben Sie sich ja befasst5 – auch die ist wichtig, um zu sagen: „Da geht noch was.“ Sie fragen auch nach meinen Vorbildern. Wie gesagt: Für mich waren und sind Begegnungen wichtig: Das kleine Gespräch am Rande, in dem ich mich überhaupt erst trauen musste, eine Frage zu stellen – da erinnere ich mich an Halbsätze von Menschen, die ich bewunderte, und die mir in einer Zeit Mut gemacht haben, in der ich eher zweifelte, unsicher war. Oder ich erinnere eine anerkennende Bemerkung, ungefragt und un­ erwartet, von einer mir fremden, aber beeindruckenden Persönlichkeit. So kam vor vielen Jahren Erica Fischer, eine österreichische Journalistin und

5 Siehe hierzu den Beitrag in diesem Band von Rabe, Parität und demokratische Gleichheit. Eine intersektionale Analyse, S. 201 ff.

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Autorin6, am Rande einer Veranstaltung auf mich zu und sagte nur: „Das war schlau, was Sie da gerade gesagt haben.“ Das hat mich lange begleitet. Positive Resonanz ist wichtig. Und für mich bleibt das so, auch als Verfas­ sungsrichterin. So war es auch mit Rosalie Abella, der grandiosen Richterin am kanadischen Supreme Court, als erste Jüdin und erste Schwangere „on the bench“: Sie kam auf mich zu, nahm mich auf, ermutigte, gab Rat – und ließ mich ein wenig miterleben, wie sie denkt, lacht, arbeitet. Bei Treffen mit ihr durfte ich noch andere berühmte Richter:innen treffen – und ich war sehr beeindruckt, und auch stolz wie Bolle: Diese Menschen waren (und sind) Leuchtsterne an meinem Himmel! Und ich durfte ihnen begegnen, mit ihnen diskutieren, von ihnen lernen. Das hilft, das hält! Selbst wenn Karriere und Lebenslauf noch so glatt wirken, gibt es doch Zweifel – und Herausforderungen. Und gute Vorbilder ermöglichen es, dabei zu bleiben, und von ihnen zu lernen. Ermutigung, Türöffnung, Lernen lassen – das dürften für mich die Kernfunktionen eines Vorbilds sein. FMR: In Vorbereitung auf diese Diskussion haben wir einige Interviews und Portraits mit Ihnen und über Sie gelesen. Dabei ist uns besonders aufgefallen, wie häufig Ihre „Andersartigkeit“ betont wird. „Prof. Dr. Un­ gewöhnlich“ wurden Sie nach Ihrer Nominierung von der Financial Times Deutschland getauft7, viele Artikel nennen Ihre offen gelebte Homosexua­ lität und ihre feministischen Überzeugungen. Letzteres ist insbesondere auch deshalb interessant, weil sich dahinter der „Vorwurf des Politischen“8 versteckt – und das ist in Wissenschaft und Justiz eine Abwertungsstrate­ gie. Es ist die Vorstellung, dass man Ihre politische Position teilen müsse, um Ihre rechtswissenschaftlichen Analysen ernst nehmen zu können; dass es sich vielleicht gar nicht um „echte“ Rechtswissenschaft handeln könnte. Der Vorwurf ereilt besonders häufig feministisch Forschende. Das zeigt sich auch daran, dass der politische Hintergrund bei Rechtswissenschaft­ ler:innen sonst eher selten betont wird. Gleichzeitig ist uns aufgefallen,

6 Lesenswert sind u.a. Fischer, Feminismus Revisited, 2019 und dies., Ohne uns ist kein Staat zu machen. DDR-Frauen nach der Wende, 1990. Sehr bekannt wurde der Roman Fischer, Aimée & Jaguar. Eine Liebesgeschichte, Berlin 1943, 1994. 7 Stieber, Kopf des Tages: Susanne Baer – Prof. Dr. Ungewöhnlich, Financial Times Deutschland, 10.11.2010, abrufbar unter https://www.ftd.de/politik/deutschland/: kopf-des-tages-susanne-baer-prof-dr-ungewoehnlich/50193234.html (letzter Abruf am: 2.11.2022). 8 Siehe hierzu in diesem Band Brünger, Der Vorwurf des Politischen. Vorverständ­ nisse in der Rezeption feministischer Rechtswissenschaft, S. 183 ff.

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dass Sie die genannten Attribute durchaus auch zur Selbstbeschreibung nutzen, sich in Interviews also selbst als „anders“ oder ganz offen als Feministin bezeichnen. Welche Rolle spielt es für Sie selbst als Juristin – und insbesondere als Verfassungsrichterin – , sich als Feministin zu be­ zeichnen? SB: Ihre Beobachtung ist sehr interessant. Ich habe mir selbst versprochen, auch und gerade in einem hohen Amt nicht zu vergessen, wo ich herkom­ me, wer mich gefördert hat, wofür ich stehe, wem das Hoffnung oder sogar Vertrauen geben kann, dass ich in diesem Amt bin. Also werde ich keinen Vortrag halten, keinen öffentlichen Auftritt absolvieren, ohne das Wort „feministisch“ zu benutzen, auch ohne mich zu „outen“ – und das ist nicht immer einfach, trifft keineswegs überall auf Sympathie, kostet auch. Die Labels sind ja ohnehin schwierig, weil jedes Label einem Kernanliegen des Feminismus widerspricht – als Arbeit gegen die Schublade, gegen das Stereotyp, gegen die Reduktion auf „Ach, das ist die Frau am Verfassungs­ gericht“ oder „Ach, das ist die Lesbe“. Das bediene ich und bewege mich also in einer Paradoxie, wie beim Vorbild. Aber ich versuche auch hier, das zu brechen. Und Sichtbarkeit für die zu schaffen, die sich die Kosten nicht ohne weiteres leisten können. Und immer wieder zu verdeutlichen, dass ich nur eine von vielen bin. Die Beschreibungen meiner Person werden dabei auch sehr unter­ schiedlich kodiert. Da ist der Vorwurf, dass mein Tun politisch sei. In der Wissenschaft ist das vernichtend, denn es soll ja sagen, dass ich den Boden des Wissenschaftlichen verlasse, den Anforderungen wissenschaftlicher Ar­ gumentation nicht genüge. Und gegenüber einer Verfassungsrichterin ist der Vorwurf noch schlimmer: politisch, also nicht juristisch. Job verfehlt. Hier ist die Zuweisung des Politischen, die gerade feministischen Analysen gern angehängt wird, ein Ausschlussargument und damit sehr gefährlich. Die zweite Zuschreibung lautet, wissenschaftliche Arbeit in der feminis­ tischen Forschung oder den Legal Gender Studies sei subjektiv geprägt, biographisch bedingt, reine Interessenspolitik, oder heute oft meist de­ nunzierend „Identitätspolitik“. Das trifft feministische Forschung und die Gender Studies insgesamt, und auch andere Forschung, die Wissen gegen Ausgrenzung setzt. Nur: Wenn sich jemand seit langem kritisch mit Iden­ titätspolitik auseinandersetzt, dann sind es gerade die Gender Studies! Wer wissen will, was an Identitätspolitik schwierig ist, sollte gerade sie fragen! Für die Frauenstudien und Gender Studies ist ja gerade die kriti­ sche Perspektive auf genau jene Essentialisierung zentral, die Menschen auf eine Identität reduziert. Und trotzdem gibt es diese Unterstellung. Das ist falsch, und auch das ist gefährlich. Und da sind mir durchaus auch 272

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übergriffige Momente in Erinnerung. Denn wo es angeblich subjektiv wird, also „Betroffenheit“ regiert, unterstellen Leute sogar Gewalt- oder Missbrauchserfahrungen. Übergriffig. Sachlich falsch. Gefährlich. Der dritte Vorwurf entzündet sich letztlich an der Inter- und Transdiszi­ plinarität kritischer und insbesondere auch feministischer Forschung. Es ist der Vorwurf des „Nicht-Rechtswissenschaftlichen“. Da heißt es dann, mein Argument sei jetzt aber „sehr soziologisch“. In einer juristisch-dog­ matischen Debatte ist das ein Killer. Denn eigentlich wird hier gesagt: „Du trägst nichts zu dieser Diskussion bei. Was Du sagst, mag zwar auch interessant sein, aber das gehört woanders hin.“ Auch das ist also ein Ausgrenzungsmechanismus, der zugleich den Mainstream fixiert. Das sind hegenominale Strategien. Produktiv sieht anders aus. Sie haben auch gefragt, wie ich mit diesen Erfahrungen umgehe. Da suchen ja viele nach Antworten, denn diese Vorwürfe werden als Denun­ ziationen heute häufig und gezielt eingesetzt. So ist auch das Bundesverfas­ sungsgericht regelmäßig mit dem Vorwurf konfrontiert, es agiere politisch und nicht juristisch. Und das zielt gern auf die Feministin, ist ja klar, plau­ sibel. Die Reaktion darauf fällt unterschiedlich aus, je nach Kontext, aber auch abhängig von der eigenen Kraft, sich zu wehren. Eine Reaktion ist natürlich die ordentliche, theoretisch fundierte Antwort: Wie unterschei­ den sich Recht und Politik, oder Forschung und Ideologie? Systemtheore­ tisch ließe sich sagen: Der Code des Politischen ist die Macht, der Code des Juristischen ist das Recht, und der Code der Wissenschaft die Wahrheit; und das unterscheidet sich jeweils kategorial. So kann ein Verfassungsge­ richt nichts, aber auch gar nichts mit dem Code der Macht durchsetzen, weil es keine Machtressourcen hat. Es muss mit dem Code des Rechts arbeiten, also Entscheidungen juristisch begründen. Deshalb habe ich im­ mer ein kleines Grundgesetz dabei – ganz ordentlich: der Hinweis auf das Recht. Aber oft hört da niemand wirklich zu. Denunziationen sind ja keine Gesprächsangebote, sondern sollen nur abwerten. Manchmal waltet auch „kognitive Renitenz“9 – dann werden auch noch so gute Argumente und Daten nicht aufgenommen. Die ordentliche, sachliche Gegenrede ist in dem Zusammenhang zwingend, nur fruchten tut sie häufig nicht. Eine Alternative ist für mich die Verallgemeinerung, die mein Gegen­ über einbindet. Dann weise ich darauf hin, dass biographische Gründe sehr viele Menschen dazu bringen, sich für ein Thema zu interessieren und darüber zu forschen. Nehmen Sie die Kommentierungen zu Art. 6 und

9 Vertiefend dazu Baer, Recht als Praxis. Herausforderungen der Rechtsforschung heute, ZfRSoz 36 (2016), 213.

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Art. 7 GG. Wer schreibt? Wer interessiert sich dafür besonders? Sind diese Menschen verheiratet und haben viele Kinder? Vermeiden Sie hier bitte den Kurzschluss, Biographie entspräche Kompetenz! Aber es ist ganz legi­ tim, aus einer biographischen Erfahrung, aus dem begrenzten Raum, den wir in der Welt so wahrnehmen, ein Forschungsinteresse zu generieren. Und so ist es bei Frauen auch – nur haben die die ganze Welt vor sich. Ich versuche also, Leute abzuholen: „Bei Dir ist es doch auch so!“ Es hat doch Gründe, sich für Umweltrecht zu interessieren, oder für Kapitalmarkt­ recht, und dazu gehören biographische Erfahrungen. Bestenfalls lässt sich dann wissenschaftstheoretisch klären, was aufgeklärte Objektivität bedeu­ tet, die das Subjektive nicht negiert. Was gibt es noch? Je nach Kraft und Humor versuche ich manchmal auch, eher deutlich zu zeigen, dass die Vorwürfe schlicht denunzierender Blödsinn sind. Das ist schwieriger geworden – das Lachen erstickt da oft im Halse –, denn derzeit ist das ein Kampf gegen eine große Welle öffentli­ cher Wahrnehmung, die in den letzten Jahren noch einmal gewachsen ist. Angriffe gegen Gender Studies und feministische Forschung sind häufiger, ausdrücklicher, härter und personenbezogener als zuvor10, und sie werden von rechtsautoritären politischen Kräften gut finanziert und orchestriert. Zum Beispiel gibt es immer wieder parlamentarische Anfragen zur Zahl der Genderprofessuren und dem Ausmaß der Förderung, um offizielle Drucksachen mit Denunziation zu füllen. Schlimmstenfalls führt das – wie sogar in einigen Mitgliedstaaten der EU – mit dazu, Gender Studies zu schließen. Hier wird also politisch ernsthaft gekämpft. Gerade deshalb ist es erforderlich, solchen Angriffen entgegen zu treten. Schließlich gehe ich mit solchen Vorwürfen auch manchmal verglei­ chend, oft rückfragend oder aber freundlich helfend um. Wenn die ande­ ren auf dem Panel als Herr Prof. Dr. Sowieso und Prof. Dr. Sonstwas vorgestellt werden, und ich mit „Ja, die macht Geschlechterstudien“ – dann muss ich reagieren, ein bisschen ironisch, aber doch klar. Ohne akademische Titel geht – im Vergleich – nichts. Und dann doch bitte auch: Geschlechterstudien, ja, aber auch vergleichendes Verfassungsrecht, Rechtssoziologie, Verwaltungswissenschaften. Die anderen sind auch nicht

10 Vertiefend dazu Hark/Villa (Hrsg.), Anti-Genderismus. Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen, 2. Aufl. 2015; Kas­ tein/Dağlar-Sezer/Beaufaӱs, Mobilisierungen gegen Feminismus und ‚Gender‘. Er­ scheinungsformen, Erklärungsversuche und Gegenstrategien, 2021; international vergleichend Scheele/Roth/Winkel (Hrsg.), Global Contestations of Gender Rights, 2022.

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nur Kommunalrechtler. Der direkte Vergleich kann Augenhöhe herstel­ len. Die andere Technik ist die Rückfrage. Das mache ich wirklich gern! „Was meinen Sie denn genau mit Feminismus? Was meinen Sie, genau, mit Gender?“ Das lässt sich auch schön naiv intonieren: „Echt? Gender Studies? Erklären Sie mal! Ich mach‘ so viel, wissen Sie...“ Wieder anders funktionieren Lektüretipps. Viele Menschen reden und schreiben leider über Feminismus und Gender, ohne sich fachlich infor­ miert zu haben. Da lohnt sich der Hinweis, dass es hier nicht um Anek­ doten geht, die eigene Tochter oder „eine Bekannte“, sondern um ein wissenschaftliches Feld, international, schon länger forschend. Und dass ein weiteres Gespräch nur Sinn ergibt, wenn wenigstens die Grundbegriffe verstanden sind. Ein Einführungsbuch gefällig? Sonst lässt sich das Niveau, das wir uns wünschen, schlicht nicht erreichen. Ich frage mich aber auch: Warum gibt es diese Vorwürfe und Anfein­ dungen überhaupt, und warum oft so aggressiv? Klar: Gender Studies oder feministische Kritik berühren Themen, die für die meisten Menschen, wenn sie das ernst nehmen, sehr persönlich sind. Ratio und Emotio, Öffentliches und Privates – dabei ist Vieles, das auf eigene Erfahrungen und Entscheidungen verweist, und das ist in anderen Wissenschafts- und Themenfeldern nicht ohne Weiteres der Fall. Die emotional affektive Auf­ ladung der Forschung zu Geschlechterverhältnissen liegt auch daran, dass viele Menschen dann gleich die eigene Sexualität, die eigene Familiener­ fahrung, die eigenen Kinder, die eigenen großen Lebensfragen oder den eigenen schlechten letzten Witz im Kopf haben. Zudem sind Gender Stu­ dies heute – fachlich richtig verstanden – immer intersektionale Studien, denn sie befassen sich mit Geschlecht im Kontext weiterer strukturell relevanter Ungleichheiten. Sexismus steht also neben Rassismus, Behinde­ rung (im wahrsten Sinne des Wortes), und so weiter und so fort.11 Das lädt Diskussionen – auch juristische Debatten! – spezifisch auf, persönlich und nicht zuletzt: politisch. Wo die Rückkehr zum Patriarchat erträumt wird, sind Gender Studies störend. Und auch sonst stört diese Forschung Normalitätsannahmen. Das ist in seiner irritierenden Wirkung nicht zu unterschätzen.

11 Zur Intersektionalität und dem Stand der Diskussionen im Antidiskriminierungs­ recht vertiefend Mangold/Payandeh (Hrsg.), Handbuch Antidiskriminierungs­ recht. Strukturen, Rechtsfiguren und Konzepte, 2022.

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FMR: „Feminismus als Arbeit gegen die Schubladen“ – daran wollen wir gerne anknüpfen: Es gibt nicht die feministische Theorie, nicht den Feminismus, sondern ganz unterschiedliche feministische Strömungen. Uns ist aufgefallen, dass Sie in Ihren Beiträgen und Veröffentlichungen eine durchaus eigene Kategorisierung feministischer Theorien vornehmen, denn Sie unterscheiden zwischen einem Feminismus im weiteren und im engeren Sinne, auch als Generationenfrage.12 Feminismus im engeren Sin­ ne werde formuliert, wenn „Frauen zum Ausgangspunkt“13 (der Betrach­ tung) genommen werden. Das basiert auf Annahmen zur Differenz mit Männern auf der einen und Frauen auf der anderen Seite. Es kann dazu führen, dass nur bestimmten Akteur:innen – meistens Frauen – die Fähig­ keit zu feministischem Denken, Verständnis und daraus resultierenden (politischen) Handlungen zugestanden wird. So eng könnte auch unser Titel Frau.Macht.Recht. verstanden werden, der ja Frauen zum Ausgangs­ punkt nimmt. Dagegen basiert ein Feminismus im weiteren Sinne, so schreiben Sie, auf einer Analyse der Hierarchie, und denkt Gerechtigkeit umfassend. Feminismus – und damit auch Gleichstellungspolitik – ist dann nicht (mehr) nur Sache von „Frauen und Männern“, sondern eben Politik im Wissen um die Wirkmacht von Geschlecht im Kontext weiterer Kategorien wie Alter, sexueller Orientierung und Lebensform, Herkunft oder Behinderung. Was hat es mit dieser Differenzierung auf sich? Und wie kann das für eine feministische Betrachtung des Rechts auch in der praktischen Umsetzung fruchtbar gemacht werden? SB: Ich würde das historisieren, also geschichtlich einordnen. Das Denken in Generationen ist ja schwierig. Aber es gibt historische Verläufe von Forschung und Diskussionen. So begannen die Geschlechterforschung und feministisch-politische Debatten in Europa und wohl weltweit mit Frauenforschung, um die Geschlechterdifferenz aufzudecken und männli­ che Normalität als einseitig und defizitär zu entlarven. Der generalisier­ te Mann als das Paradesubjekt musste erst einmal vom Thron gestoßen werden; es galt, die Frau auszugraben. Und dann: die Frauen, Plural. Es gab eben nicht nur Verfassungsväter, sondern Verfassungseltern, wenn auch mit erstaunlich wenigen Müttern, wobei ein Kind mit sehr vielen

12 Baer, Perspektiven der Gleichstellungspolitik – kritische und selbstkritische Fra­ gen, STREIT 3 (2005), 91 (97). 13 Grundlegend dazu – und interessant – der Klassiker Stang Dahl, FrauenRecht. Eine Einführung in feministisches Recht, 1987.

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aktiven Vätern sozial durchaus bemerkenswert ist.14 Aber das musste eben erst sichtbar werden! Hier hat etwa Ute Gerhard wichtige Beiträge zur Ge­ schichte der Frauen im Recht erarbeitet, und zwar nicht nur im Familienund Eherecht, wo man die Frauen ja immer schon vermutete, sondern eben auch auf anderen Rechtsgebieten.15 Das leistet bis heute Frauenfor­ schung, zunächst sehr oft historisch orientiert, aber heute zum Beispiel eindrücklich in der Gender-Medizin, und eben auch in Rechtsgebieten, die nicht auf Anhieb naheliegen. Das ist die Frage nach den Frauen, also nach Lebens- oder, wie Andrea Maihofer es gefasst hat, nach „Existenzweisen“16. Aber es ist dann auch die Frage nach den Normen: Mit welcher Vor­ stellung vom Rechtssubjekt der billig-und-gerecht-Denkenden arbeiten wir eigentlich? Die ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, ehemalige Ministerin und Professorin Jutta Limbach erklärte in der Vorle­ sung zum Schuldrecht des BGB, im Verbraucherschutzrecht stelle sich die Frage, welche Folgen etwa eine defekte Waschmaschine habe, und zwar geschlechtsspezifisch. Das war mehrfach revolutionär, denn es lenkte den zivilrechtlichen Blick auf die Realität „des Verbrauchers“ und es illustrierte Haftung nicht nur am Kauf des Pkw. Auch hier wurde das hegemoniale Normalmodell vom Thron gezogen, und es wurden typisierbare Erfahrun­ gen und Rollenerwartungen berücksichtigt. Geschlecht war damit nicht mehr nur Eigenschaft, sondern auch Zuschreibung. Jetzt ging es um die Norm von Mann und Frau, um Männlichkeit und Weiblichkeit. Und das entwickelte sich weiter. Nicht nur die Frau, auch die Frauen, nicht nur Weiblichkeiten, sondern unterschiedliche Weiblichkeiten wur­ den Thema. Dazu gehört dann die Intersektionalisierung des Geschlechter­ begriffs. Und das wirft schwierige Fragen auf. So intervenierten in der Ver­ fassungsdebatte nach 1989 zur Ergänzung des Art. 3 Abs. 2 GG um den heutigen zweiten Satz die Schwarzen Frauen – bewusst als „Schwarze Deutsche“ –, und zur Ergänzung des Art. 3 Abs. 3 GG die Frauen mit Be­ hinderung mit dem Einwurf: „Wir sind nicht weiß und Teil der Mittel­ schicht. Wir sind vielfach anders.“ Und das bedeutet: Ihr habt die Normal­ biographie „männlich“ entthront, jetzt entthront bitte auch die Normal­

14 Mit den „Müttern des Europarechts“ beschäftigt sich in diesem Band Schwam­ born, Frau. Macht. Europarecht. Der Weg der „Mütter Europas“ von 1922 über 1952 bis 2022, S. 73 ff. 15 Beispielhaft sei genannt: Gerhard, Frauenbewegung und Feminismus, 2022; Ger­ hard, Für eine andere Gerechtigkeit. Dimensionen feministischer Rechtskritik, 2018. 16 Mehr dazu in dem gleichnamigen Buch Maihofer, Geschlecht als Existenzweise, 1995.

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biographie „Mann-Frau“. Das beschäftigt die Forschung auch heute, mit vielen konzeptionellen Kontroversen, wie etwa um die Arbeiten von Judith Butler. Intersektionalität ist nun als der Begriff, den Kimberlé Crenshaw aus der US-amerikanischen Schwarzen Frauenbewegung übernommen hat, vom Combahee River Collective, einem aktivistischen Zusammenschluss17, als Beschreibung von mehrdimensionaler Diskriminierung nicht mehr wegzudenken. Das lässt sich als weites Verständnis von Feminismus fassen. Ich würde heute sagen, es ist ein inklusives Verständnis von Geschlecht, Gender und Diskriminierung. Und dann kommt noch ein Faktor hinzu: In diesen Debatten haben wir uns ordentlich am Verfassungstext orientiert, also auf Merkmale oder auf Gruppen bezogen, auf Personenbeschreibungen fixiert. Dahinter liegt aber die Frage, ob damit wirklich das Problem adressiert wird, das den Feminismus beschäftigt. Mein Problem ist ja nicht Differenz. Es ist doch schick, wenn alle different sind. Das Problem ist Ungleichheit, Dominanz, oder wie ich es beschrieben habe: Hierarchie. Diese Diskussion setzt beim Konzept der Gleichheit an. Wer Geschlechterverhältnisse ernst nimmt, erkennt doch auch, dass eine vergleichende Gleichheit, symmetrisch ge­ dacht, nicht weiter hilft, sondern Recht gegen die hierarchische Ungleich­ heit, asymmetrisch gedacht, gebraucht wird. Daher gehen Ansätze der feministischen und sonst kritischen Rechtswissenschaft davon aus, dass Gleichheit ein Recht gegen materielle (oder: substantielle) Ungleichheit sein muss. Ute Sacksofsky hat mit ihrem großartigen und wegweisenden Buch „Das Grundrecht auf Gleichberechtigung“ auf Dominanz gesetzt.18 Das ist auch ein Leitbegriff von Catharine MacKinnon: „not difference, domi­ nance“.19 Und das ist die weitere Bewegung in dieser Entwicklung: nicht die Perspektive des „Opfers“, sondern der Überlebenden, die sich wehren. Damit stehen nicht nur Benachteiligung und Ausgrenzung im Fokus, son­ dern auch die andere Seite, die Seite der Gegenwehr, auch die Macht der Privilegien und der Normalität. Ich selbst halte Normalität als Normalisierung, ähnlich wie das Konzept der Hegemonie hier für sehr produktiv, ebenso wie Privileg und Privile­

17 Etwa The Combahee River Collective, Ein Schwarzes feministisches Statement, in: Kelly (Hrsg.), Schwarzer Feminismus. Grundlagentexte, 2. Aufl. 2022, 49. 18 Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, 2. Aufl. 2015. 19 Beispielhaft MacKinnon, Feminism Unmodified, 1988, S. 32 ff.; auf deutsch MacKinnon, Auf dem Weg zu einer feministischen Jurisprudenz, STREIT 11 (1993), 4; zu feministischer Politik MacKinnon, Butterfly Politics, 2017; ebenfalls auf Dominanz setzt – nach wie vor lesenswert – Rommelspacher, Dominanzkul­ tur. Texte zu Fremdheit und Macht, 2006.

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gierung, die im Konzept der Hierarchie angelegt sind. Meine Arbeit zu Recht gegen sexuelle Belästigung – also die Promotion über „Würde oder Gleichheit“ – hat mir gezeigt, dass ein Blick auf Hierarchien hier analy­ tisch genauer sein kann. Hierarchie ist zwar auch Zustand, aber sofort unter Verdacht. Zudem suggeriert Hierarchie keinen Vergleich, sondern ein hergestelltes Verhältnis. In Hierarchien gibt es Verantwortung, und es riecht nach Ausbeutung, nach fehlender Legitimation. Vielleicht fasst „Hierarchie“ deshalb Diskriminierung besser als „Differenz“ oder auch „Ungleichheit“, als produktiver Begriff. Entscheidend ist damit auch: In Heterogenität, Differenz, Diversität, Vielfalt liegt kein Problem. Ganz im Gegenteil: Gleichheitsrecht, Gleich­ stellungsrecht, Antidiskriminierungsrecht sollen eine Welt schaffen, in der Unterschiedlichkeit wunderbar produktiv begeistern und nebeneinander gelebt werden kann, also in Differenz etwas Positives liegt. Die feminis­ tisch entscheidende Frage lautet daher nicht: Was ist Differenz? Sondern: Wann, wo, und warum ist Differenz kein Verhältnis nebeneinander, son­ dern über- und untergeordnet, also hierarchisch? FMR: Sie waren nun eine der ersten Dozentinnen in Deutschland, die an einer rechtswissenschaftlichen Fakultät zu feministischer Rechtswissen­ schaft gelehrt hat. Heute, rund zwanzig Jahre später, gibt es zwar einige Lehrstühle, die ausdrücklich einen Fokus auf Gender- oder Geschlechter­ forschung legen; entsprechende Vorlesungen und Seminare fristen aber weiterhin ein Schattendasein, wo – getrennt vom restlichen Stoff im Jurastudium – Fragen zum Recht als politisches Herrschafts- und Steue­ rungsinstrument im Geschlechterkontext gestellt werden. Feministische Betrachtung kann aber in ganz unterschiedlichen Rechtsgebieten Bedeu­ tung erlangen,20 wie auch die beeindruckende Vielfältigkeit Ihres wissen­ schaftlichen Werkes zeigt. Wir möchten deshalb eine Frage stellen, die von Ihnen selbst stammt:21 Wenn Sie den Stundenplan einer rechtswissen­ schaftlichen Fakultät entwerfen dürften – wie sähe er aus? Und daran anknüpfend: Gibt es Rechtsgebiete oder juristische Themen, für die ein feministisches Rechtsverständnis besonders entscheidend ist; in denen fe­ ministische Betrachtungen eine größere Rolle spielen als in anderen, und wenn ja, warum?

20 Siehe dazu in diesem Band Westphal, Geschlecht im Umweltrecht, S. 239 ff. 21 Aus dem Interview Baer/MacKinnon, Gleichheit, realistisch, JöR 67 (2019), 361 (372).

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SB: Als ich die Frage Catharine MacKinnon gestellt habe, wusste ich schon, dass sie schwer zu beantworten ist – aber da rechnete ich natürlich nicht damit, dass sie mir selbst gestellt werden würde... Ich muss auch hier grundsätzlich einsteigen: Die Stundenpläne für juristische Fakultäten sind problematisch, weil sie wenig forschendes Lernen ermöglichen, obwohl ein exploratives Studium eigentlich mehr als angezeigt wäre und für die morgige Praxis besser qualifizieren würde. Das lässt sich ändern, aber in Deutschland werden die Examensanforderungen gesetzlich festgelegt; Experimentierfreiheit oder auch schnelle Reaktionen auf aktuelle Fragen sind da schwer. In meiner Wunschfakultät wäre da mehr möglich; da wären didaktische Konzepte mit ins Stammbuch geschrieben. Dazu kommt: Die feministische Perspektive, die antirassistische Per­ spektive, die postkoloniale Perspektive, die queere Rechtskritik – also die großen Strömungen der kritischen Auseinandersetzung mit den Normal­ subjekten im Recht – gehören in die Grundlagenfächer, weil sich hier Grundfragen stellen. An der Humboldt-Universität ist das ein Aspekt der Rechtssoziologie, gehört aber auch in die Rechtsgeschichte und die Rechtsphilosophie, als kritische Perspektivierung. Nicht die einzige, aber wichtig, und historisch wie theoretisch wirksam. Daher stehen in meinem Lehrbuch neben Weber oder Luhmann auch Foucault oder MacKinnon. Hierhin gehört auch: Immer doppelgleisig fahren, ähnlich wie beim Gender Mainstreaming neben traditioneller Gleichstellungspolitik. In einer Fakultät stünde also neben den Grundlagen mit Vertiefungen die Verankerung spezieller Fragen in den dogmatischen Fächern. Wirklich spannend wird es ja erst, wenn eine gewisse Vorbildung und nicht die alte Skepsis im Raum ist. Daher muss in den Grundlagen klarwerden: „Was war denn noch Gender und Intersektionalität?“, um dann in die Tiefe gehen zu können. Und das geht eigentlich in allen Fächern – überall gibt es komplizierte und spannende Fragen, die bearbeitet werden wollen, teils auch bereits international bearbeitet werden. Gibt es nun juristische Fächer, in denen das besonders produktiv ist? Im Verfassungsrecht lohnt es sich wohl an jeder Stelle... Im Familienrecht, in dem die Geschlechterfrage meist vermutet – und manchmal darauf redu­ ziert – wird, ist eine Kompetenz im Umgang mit Geschlechterhierarchien extrem relevant – und Familien- oder auch Erbrecht sind auch extrem relevant für das Leben von Menschen, aber an juristischen Fakultäten bislang eher vernachlässigt. Das könnte Gründe haben… Hat es vielleicht etwas mit Geschlecht zu tun?

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Der Spaziergang lohnt sich aber in allen Rechtsgebieten.22 Ein Beispiel ist das Bauplanungsrecht: Umweltgerechte Stadt, nachhaltige Stadt, und eben auch: geschlechtergerechte Stadt, mit Blick auf Mobilitätsverhalten, auf Mobilitätsbedürfnisse. Hier ist viel zu machen. Im Strafrecht dürfte das für die meisten evident sein, im Zivilrecht habe ich mit dem Haftungs­ recht ein Feld genannt. Die Frage, ob ein Regelungsbereich geschlechtsspe­ zifisch geprägt ist, eine bestimmte Geschlechterordnung normiert, gegen Hierarchien gewappnet ist oder sie gar fördert, sollte immer mitlaufen. Die Antworten werden schon deshalb unterschiedlich intensiv ausfallen, weil sich der Forschungsstand unterscheidet. Aber es gibt auch im englisch­ sprachigen, im französisch- und im spanischsprachigen Raum zu vielen Themen sehr interessante Impulse. Und das führt nicht nur zum besseren Verständnis des Regelungsbereichs, der Regelungen und der dogmatischen Figuren, sondern auch – und das ist ein weiteres Ziel der Rechtswissen­ schaft – zur Entwicklung besserer Ideen, dann hoffentlich auch zu gerech­ teren Regeln und Entscheidungen. Die feministische Betrachtung spielt analytisch und auch gestaltend eine Rolle. FMR: „Eine Betrachtung des Verfassungsrechts lohnt sich“, haben wir ge­ hört. Daher wollen wir über Art. 3 GG reden. In den letzten Jahren sind Stimmen laut geworden, die die Verwendung des Begriffs der „Rasse“ in Art. 3 Abs. 3 GG kritisieren.23 Der Begriff birgt das Risiko, affirmativ ver­ standen zu werden: Jeder Bezug auf „Rasse“ knüpft an die vermeintliche Existenz von „Rassen“ an. Sie formulieren dieses Dilemma als „Ambiva­ lenz der Diskriminierungsverbote“24 in Art. 3 Abs. 3 GG, die nicht nur Nachteile beseitigen, sondern auch Stereotypen reproduzieren können. Während diese Diskussion im Zusammenhang mit dem Begriff „Rasse“ in­ tensiv geführt wird, bleibt es um die Verwendung des Rechtsbegriffs „Ge­ schlecht“ still. Sie hinterfragen dies und arbeiten heraus, dass so die An­ nahme bestehen bleibt, es gebe eine „biologische Substanz, die Männer 22 Baer, Komplizierte Subjekte zwischen Recht und Geschlecht. Eine Einführung in feministische Ansätze in der Rechtswissenschaft, in: Kreuzer (Hrsg.), Frauen im Recht – Entwicklung und Perspektiven, 2001, 9. 23 Dazu etwa Kaneza, Black Lives Matter: Warum Rasse nicht aus dem Grundgesetz gestrichen werden darf, RuP 2020, 536; Cremer, Das Verbot rassistischer Diskri­ minierung. Vorschlag für eine Änderung von Artikel 3 Absatz 3 Satz 1 Grundge­ setz, 2020; Liebscher, Rasse im Recht – Recht gegen Rassismus. Genealogie einer ambivalenten rechtlichen Kategorie, 2021; Ludyga, Rasse als Rechtsbegriff?, NJW 2021, 911. 24 Von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz/Baer/Markard, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Abs. 2, 3 Rn. 374.

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von Frauen unterscheidet“25. Dabei handelt es sich wieder – in Abgren­ zung zu der von Ihnen verfolgten Perspektive auf Hierarchie – um eine Differenz. Wie ließe sich dieses Dilemma auflösen? SB: Das ist eine Frage, zu der sich in der Forschung viele Ansätze finden. Im Antidiskriminierungsrecht gibt es – auch aufgrund der identitätskriti­ schen Erkenntnisse aus den Gender Studies, den Queerstudies und den Antirassismus-Studien – eine breite Diskussion zu der Frage, ob die in Art. 3 Abs. 3 GG genannten Merkmale oder Eigenschaften selbst ein Prob­ lem darstellen. „Ambivalenz der Diskriminierung“, „Paradox der Diffe­ renz“, „Dilemma der Differenz“ – all das beschreibt das Problem. Ich habe versucht, ein postkategoriales Antidiskriminierungsrecht zu entwerfen, uns also von den Kategorien zu trennen, die stets einen Essentialisierungs­ schub mit sich bringen, und assoziativ einer Festlegung zu entkommen, wonach Menschen etwas sein müssen, und stattdessen danach zu fragen, inwiefern Menschen hierarchisiert werden. Das ist der Unterschied. Ein postkategoriales Antidiskriminierungsrecht, und damit auch Art. 3 Abs. 3 GG, ließe sich ähnlich formulieren wie in der südafrikanischen Verfas­ sung, als Reaktion auf Rassismus, Sexismus und ähnliche Diskriminierun­ gen.26 Anstelle eines Merkmals stünden dann die Diskriminierungsmodi im Vordergrund. Im Rahmen der Auslegung von Art. 3 Abs. 3 GG hilft es aber auch schon, den Willen der Verfassungsgebenden nachzuvollziehen: Sie wollten ein Rassismusverbot, ein Sexismusverbot etc. schaffen. Begriffe können schwierig sein. „Behinderung“ wirft hier auch Fragen auf. Auch dazu gibt es eine in den Rechtswissenschaften noch wenig rezi­ pierte Debatte. Die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen hat aber bereits einen Paradigmenwechsel von „Du bist behindert“ zu „Du wirst behindert“ vollzogen. Auch hier geht die Bewegung weg vom Opfer und hin zu Dynamiken. Das scheint mir der richtige Weg zu sein. FMR: Wir können also festhalten: Die rechtliche Fixierung von Kategorien wird der Realität des Lebens oft nicht gerecht und zementiert diskriminie­

25 Baer, Der problematische Hang zum Kollektiv und der Versuch, postkategorial zu denken, in: Jähnert/Aleksander/Kriszio (Hrsg.), Kollektivität nach der Subjektkri­ tik, 2013, 47 (51 f.). 26 Chapter 1 (Founding Provisions), Nr. 1 (b): The Republic of South Africa is one, sovereign, democratic founded on the following values: [...] (b) non-racialism and non-sexism.

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rende Zuschreibungen.27 Die Anknüpfung an Identitäten – die unter Um­ ständen auch überhaupt erst durch diese Anknüpfung konstruiert werden – war und ist Gegenstand zahlreicher Auseinandersetzungen. Sie weisen darauf hin: „Uns fehlt der Sprachgebrauch, der es ermöglicht, geteiltes Schicksal (zu) formulieren, ohne Menschen allein darauf zu reduzieren.“28 Sie haben zwar gesagt, dass es schwierig ist, aber wir wollen nochmals daran festhalten: Wie sieht ein angemessenes, postkategorial formuliertes Gleichheitsrecht aus Ihrer Sicht aus? Wie können hierbei diskriminierende Festlegungen umgangen werden? SB: Eine weitere Baustelle, die an dieser Stelle auftaucht, ist der Grup­ pismus. Ich nutze hier das Konzept des Groupism des Soziologen Rogers Brubaker,29 der sich mit kriegerischen Konflikten insbesondere auf dem Balkan beschäftigt hat und beschreibt, dass sie oft aus Grenzarbeit und damit aus Gruppenfixierungen entstehen. Es werden Gruppen geschaffen, essentialisiert und gegenübergestellt, voneinander abgegrenzt, und so ent­ stehen Gruppenkonflikte. Das zeigt sich auch in der Forschung zum Nationalismus: Er entsteht als Selbsterzählung, in der wir selbst als „die Deutschen“ anders sind als „die Franzosen“. Zwar kann das ermächtigend sein, befreiend, ganz wunderbar – und nicht zuletzt scheint dies einem menschlichen Bedürfnis zu entsprechen, sich mit anderen zu identifizie­ ren. Dennoch ist die Zusammenfassung von höchst unterschiedlichen Menschen in eine Gruppe, mit einer Essenz, in einer Gruppenidentität, problematisch: Gruppismus grenzt ab, und in dieser Abgrenzung liegt eine Hierarchisierung. Vor diesem Hintergrund habe ich eine Allergie dagegen entwickelt, wenn in juristischen oder politischen Debatten Frauen und Männer oder Homosexuelle und Heterosexuelle als Gruppen beschrieben werden. Auch biographisch hatte und habe ich den Eindruck, in keine dieser Gruppen zu gehören. Das thematisiert die Forschung zu „minorities

27 Baer, Ungleichheit der Gleichheiten? Zur Hierarchisierung von Diskriminie­ rungsverboten, in: Klein/Menke (Hrsg.), Universalität – Schutzmechanismen – Diskriminierungsverbote. 15 Jahre Wiener Weltmenschenrechtskonferenz, 2008, 421 (445). 28 Baer, Der problematische Hang zum Kollektiv und der Versuch, postkategorial zu denken, in: Jähnert/Aleksander/Kriszio (Hrsg.), Kollektivität nach der Subjekt­ kritik, 2013, 47 (49); zum Problem des „Gruppismus“ auch Baer, Rechte und Regulierung, in: Dennerlein/Frietsch/Steffen (Hrsg.), Verschleierter Orient – ent­ schleierter Okzident?, 2012, 23. 29 Brubakers, Ethnizität ohne Gruppen, 2007.

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within minorities“: Was, wenn Sie zur Gruppe gezählt werden, aber deren Prämissen nicht teilen? Gruppen sind problematisch, weil sie rigide sind. Wie können wir also beschreiben, dass Ungleichheiten geteilte Erfah­ rungen sind? Dass etwa Lohndiskriminierung eine geschlechtsspezifische Erfahrung in Deutschland ist, kollektiv geteilt, insbesondere von Frauen, zudem rassistisch codiert, usw.? Es ist eine geteilte Erfahrung, schlechter bezahlt zu werden. Aber das macht Frauen nicht zu einer Gruppe. Juris­ tisch ist das die Frage nach der mittelbaren Diskriminierung. Die Rechtsfi­ gur ist zur Teilzeitbeschäftigung von Frauen entwickelt worden – weil es Frauenschicksal ist, teilzeitbeschäftigt zu sein. Aber es sind nicht alle, und alle je verschieden. Es handelt sich, was wir von der Soziologie lernen kön­ nen, um gesellschaftliche „Strukturen“, um Ungleichheitslagen, um Erfah­ rungsräume. Vielleicht kommen wir damit weiter. Deshalb ist auch der Be­ griff der „strukturellen“ Diskriminierung interessant, denn er verdeutlicht: Das bist nicht du, sondern eine gesellschaftliche Anordnung, die diesen 20-Prozent schlechteren Lohn erzeugt, und es bist nicht du, sondern eine Zuweisung, die Familienarbeit machen zu müssen, andere Leistungserwar­ tungen oder männliche Hegemonialitätserwartungen erfüllen zu müssen. Deshalb beschäftigen wir uns in Berlin in einer Forschungsgruppe30 mit der Frage, wie sich Kollektive, Geschlecht und Recht zueinander verhalten. Das kann dann ganz praktisch juristisch werden: Wir haben in Berlin begonnen, an die internationale Bewegung der „feminist judgements“ anzu­ knüpfen. Dort werden gerichtliche Entscheidungen umgeschrieben, um zu zeigen, dass man die Welt im Tatbestand oder Sachverhalt auch nicht-es­ sentialistisch, nicht-stigmatisierend und nicht-gruppistisch beschreiben und sich dann ohne Stigmatisierung oder Abwertung damit besser auseinan­ dersetzen kann. Wir nennen das „Re-Law“, das Re-formulieren von Recht: Weg von der Essenz, weg von der einen Identität, ohne nur zu sagen, „wir sind doch alle Individuen und wir wären so gerne Mensch“. Wenn wir dann Gesellschaft besser beschreiben können, kommen wir auch weiter. FMR: In einem Beitrag aus dem Jahr 2008 resümieren Sie: „Im Gleichstel­ lungsrecht ist viel erreicht worden. Formal ist die Gleichberechtigung glo­ bal, europäisch und national garantiert. Entwicklungen in der Gleichstel­ lungspolitik zeigen jedoch, dass der Stand des Erreichten durchaus prekär ist.“31 Dieser prekäre Zustand resultiert – so erklären Sie es – unter ande­

30 DFG-Forschungsgruppe „Recht – Geschlecht – Kollektivität“. 31 Baer, Frauen und Männer, Gender und Diversität: Gleichstellungsrecht vor den Herausforderungen eines differenzierten Umgangs mit „Geschlecht“, in: Ario­

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rem daraus, dass Menschenrechte für Frauen immer wieder eine Relativie­ rung erfahren, zum Beispiel durch Vorbehalte in völkerrechtlichen Verträ­ gen, und dass die Strategie des Gender Mainstreaming, also die durchgän­ gige Beachtung von Gleichstellung als Ziel jeder Politik, nicht ausreichend verfolgt werde, oder aber auch daraus, dass Gleichstellungspolitik mit Fa­ milienpolitik gleichgesetzt und dadurch verkürzt behandelt wird.32 Nun hat sich seit 2008 einiges getan: 2017 hat der Bundestag die Ehe für alle und kürzlich die Abschaffung von § 219a StGB beschlossen, oder das OLG Frankfurt a.M. verpflichtete unlängst zur Umsetzung der „Dritte Option“Rechtsprechung des BVerfG 33 die Deutsche Bahn, eine geschlechtsneutrale Ansprache von Personen bei der Fahrkartenbuchung im Internet zu er­ möglichen, und stärkte so die Rechte von nicht-binären Personen.34 Gleichzeitig, wie Sie es eben schon angesprochen haben, erstarken antife­ ministische Bewegungen und antifeministische Rhetorik. Auch internatio­ nal erleben wir mit der aktuellen Entscheidung des Supreme Court zum Schwangerschaftsabbruch35 einen Backlash. Wir fragen uns: Wie schätzen Sie die gegenwärtige Lage der Gleichstellungsbemühungen ein? Ist sie nicht mehr, immer noch oder vielleicht wieder prekär? Gibt es Themen, die als „überwunden“ betrachtet werden können? Lassen sich größere Ent­ wicklungslinien erkennen? SB: (lacht) Wie viele Tage haben wir denn? Denn wenn Sie mich mit dem Zitat konfrontieren – und ich freue mich aufrichtig, dass Sie meine Texte gelesen haben –, gebe ich zu, dass ich mir damals nicht vorgestellt habe, wie umkämpft das Gleichstellungsrecht wieder sein wird. Die Austritte aus der Istanbul-Konvention des Europarats gegen Gewalt, und insbeson­ dere gegen häusliche Gewalt, erschüttern mich. Die Zeiten, in denen es für Nationalstaaten wichtig war, in einem weltweiten Konsens zu stehen,

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li/Cottier/Farahmand/Küng (Hrsg.), Wandel der Geschlechterverhältnisse durch Recht?, 2008, 21 (21). Baer, Frauen und Männer, Gender und Diversität: Gleichstellungsrecht vor den Herausforderungen eines differenzierten Umgangs mit „Geschlecht“, in: Arioli/ Cottier/Farahmand/Küng (Hrsg.), Wandel der Geschlechterverhältnisse durch Recht?, 2008, 21 (28 f.). BVerfG Beschl. v. 10.10.2017 – 1 BvR 2019/16, BVerfGE 147, 1 – Verfassungs­ rechtlicher Schutz der geschlechtlichen Identität. OLG Frankfurt a.M. Urt. v. 21.06.2022 – 9 U 92/20, NJW-RR 2022, 1254 – Entschädigungsanspruch einer Person nicht-binärer Geschlechtszugehörigkeit. Dobbs, State Health Officer of the Mississippi Department of Health et al. v. Jack­ son Women’s Health Organization et al., 597 U. S., 2022.

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Gleichberechtigung bzw. jedenfalls das Gewaltverbot anzuerkennen, sind wohl vorbei. Das ist ein großer Rückschritt. Diese Entwicklungen zeigen auch: Gleichstellungsrecht ist nie stabil. Zum einen ist Ungleichheit eine komplexe Angelegenheit, die stark vom jeweiligen Kontext abhängt und sich in Beziehungen und gesellschaftli­ chen Strukturen abspielt. Wir haben es sicher bereits mit Ungleichheitser­ fahrungen zu tun, die wir noch nicht benennen können. Dann reden wir in fünf oder zehn Jahren über Themen, die wir heute nicht einmal erah­ nen. Was wir als Ungerechtigkeit empfinden und bewerten, ist also sehr kontextuell und wandelbar. Zum anderen handelt es sich bei Fragen des Gleichstellungsrechts um Minderheitenprobleme, und zwar in doppelter Hinsicht: demokratisch wie machtpolitisch. Demokratisch ist das heraus­ fordernd, weil sich Gleichstellungserfolge politisch billig aufgeben lassen. Gleichstellungskämpfe – „Rechtskämpfe“ hat Ute Gerhard sie genannt36 – werden von denen geführt, die in der Ökonomie der Macht als politische Stimmgeber verzichtbar erscheinen. Oder deutlicher gesagt: Homosexuelle wieder über die Wupper gehen zu lassen, kostet politisch nicht die Regie­ rung. Ich hoffe allerdings, dass das bei Frauen anders ist. Zudem ist Gleichstellung strukturell nicht im Mehrheitsinteresse. Auch deshalb ist ein Verfassungsgericht öfter einmal gefordert, Gleichstellung zu befördern. Und deshalb gibt es Entscheidungen wie die über die dritte Option37, wo ja ganz klassisch nur entschieden wurde: Regeln dürfen eine kleine Minderheit nicht außen vor lassen. In dem Fall bedeutet das: Eine rigide zweigeschlechtliche Ordnung darf nicht sein, in der intersexu­ elle Menschen gar nicht vorkommen. Eine rigide zweigeschlechtliche Ord­ nung muss aber auch nicht sein, das lässt sich auch anders machen. Warum muss ein Verfassungsgericht entscheiden, und warum kommt nicht der Gesetzgeber auf diese schöne Idee? Weil es ganz wenige Menschen sind, die das betrifft. Weil es ein negativ besetztes Thema ist. Weil es sich um ein klassisches Minderheitenproblem handelt. Und das gilt nicht nur hier. Viele Gleichstellungsfragen sind politisch einfach nicht so attraktiv für Mehrheiten. Noch nicht einmal die Lohngleichheit scheint politisch interessant, da machen wir kaum Fortschritte, da ist Deutschland – nach wie vor – im internationalen Vergleich sehr schlecht platziert.38 Gleichstel­ 36 Wie in Gerhard, „Bis an die Wurzeln des Übels“. Rechtskämpfe und Rechtskritik der Radikalen, Feministische Studien 1 (1984), 86-104. 37 BVerfG Beschl. v. 10.10.2017 – 1 BvR 2019/16, BVerfGE 147, 1. 38 Lohn und Gehalt werden immer noch sehr stark an Geschlechterstereotype ge­ koppelt und Berufswege sind weiterhin stark geschlechtsstereotyp. Dazu in die­ sem Band Brandt, Gleicher Abschluss – gleiche Chancen? Ungleichheiten von

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lung ist also strukturell unattraktiv, deshalb immer gefährdet – und muss immer wieder abgesichert werden. Diese Fragilität sehen wir auch in der internationalen Rechtsprechung, wie der des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg. Hier gibt es sehr interessante Rechtsprechungslinien, gerade zu Regelun­ gen gegen sexualisierte Gewalt, die aber auch immer wieder gefährdet sind. Sie können verschwinden, wenn sich Mehrheiten im Gericht ändern, wenn sich Wahrnehmung ändert und wenn in Ländern der Widerstand groß ist, weil es bei der Gleichstellung angeblich um das ganz hausge­ machte eigene kulturell Tradierte geht. Also: Gleichstellung ist politisch oft nicht attraktiv, die Fragen sind ganz schnell auch persönlich, sie gelten als very domestic, als innenpolitisch, und da dürfe man sich nicht einmischen. Das betrifft Personenstandsrecht, Familie und Ehe oder auch Regelungen im Verhältnis zwischen Staat und Religion. In solchen als „national“ deklarierten Bereichen haben es Grund- und Menschenrechte schwer. In Deutschland ist das die Debatte um das kirchliche Arbeitsrecht. Auch da sind Gleichstellungsthemen spe­ ziell besetzt, rufen eine bestimmte Gegenwehr hervor, werden politisch denunziert, sind prekär – damals wie heute. Ich will nicht verkennen, dass sich die Zeiten ändern und geändert haben und Sie alle dazu jeden Tag beitragen. Aber gerade Geschlechterordnungen sind ziemlich stabil. In der Forschung belegt das die anthropologische Forschung zum doing gender. Geschlecht fällt nicht vom Himmel und ist auch nicht per Chromosomen „eingeimpft“, sondern wir alle stellen jeden Tag Geschlechterverhältnisse her. Das geschieht über die Art und Weise, wie wir miteinander umgehen, wie wir uns inszenieren, wie wir auftreten, wie wir appellieren, wie wir übereinander sprechen. Im Alltag stellen wir Geschlecht her – doing gender. Allerdings tun wir das heute natürlich anders als vor zehn, 15 oder 20 Jahren. Nur ändern sich die Dinge nicht in eine, nur positive Richtung. Beispielsweise ist in den Nachrichten der Leitmedien die leidig langwei­ lige Frage um geschlechtergerechte Formulierungen wohl „durch“. Da wird inklusiv gesprochen, und das ist gut so, denn Sprache ist nicht nur Kosmetik, sondern Weltwahrnehmung. Da ist etwas passiert. Aber das fällt dem einen oder anderen Professoren-Kollegen an juristischen Fakultäten noch etwas schwer. Oder: Es gibt mehr Gleichstellung, mehr Chancengleichheit, mehr Präsenz auch weiblicher Erfahrungen. Aber dazu kommt der heute oft aggressive Ton in der Geschlechterdebatte, wohl

Männern und Frauen in juristischen Berufen aus der Perspektive von Hochschul­ absolvent:innen, S. 93 ff.

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auch eine Reaktion auf Fortschritte in der Gleichstellung. Das ist ein Preis des Erfolgs. Wir erleben also eine gesellschaftliche Veränderung, aber: umkämpft. Fortschritt geht eben mit Widerstand einher. Es hat sich also vieles verändert, aber – ich gehöre nicht zu den geduldi­ gen Menschen auf dieser Welt – doch langsam. Als Minderheitenthema muss Gleichstellung von Gerichten durchgesetzt und vor Gerichte gebracht werden. Anderes funktioniert nur über Mehrheitsmechanismen wie die Gesetzgebung. Das meiste funktioniert über Alltagsverhalten, auch das eigene. Und in der Welt des Rechts funktioniert sehr viel über wissen­ schaftliche Reflexion. Deshalb ist Ihre Tagung eine wirklich gute Idee. Es braucht immer wieder die Intervention in den wissenschaftlichen Main­ stream, der ja schlau und klug und ganz vorne mit dabei sein will – aber an genau diesem Selbstverständnis auch gepackt werden muss, mit der Gender-Frage. Wer aktuell sein will, gut reflektiert, muss diese stellen. FMR: Sie behandeln nicht nur inhaltlich sehr spannende Themen, sondern verfolgen in der Forschung auch einen besonderen methodischen Ansatz: Im Unterschied zur Rechtswissenschaft handelt es sich bei den Gender Studies um eine transdisziplinäre Wissenschaft. Hier wird ein Problem aus den Perspektiven verschiedener Disziplinen beleuchtet; sie werden für einen erweiterten Erkenntnisgewinn genutzt. Die beteiligten Disziplinen sind durchaus divers; sie reichen von den Sozial- und Politikwissenschaf­ ten bis zu den Kulturwissenschaften, von der Geschichtswissenschaft bis zur Biologie. Eine Perspektivenvielfalt ist auch in Ihrer Forschung gut erkennbar. Dabei scheint uns eine Kategorie für unsere Tagung besonders interessant: Sie beziehen sich in unterschiedlichen Zusammenhängen auf das Narrativ39, auch die Geschichten, die (Leit-40)Bilder41, und damit auf

39 Baer, Rechtssoziologie, 5. Aufl. 2022; Über eine solche Bezugnahme in einem Vortrag mit dem Titel „Normalitätsannahmen und Leitbilder. Denkbare Beiträge interdisziplinärer Rechtsforschung zur Verfassungsgerichtspraxis“ am 17.5.2013 an der JLU Gießen berichtet auch die Gießener Allgemeine Zeitung vom 22.5.2013. 40 Baer, Schlüsselbegriffe, Typen und Leitbilder als Erkenntnismittel und ihr Ver­ hältnis zur Rechtsdogmatik, in: Schmidt-Aßmann/Hofmann-Riem (Hrsg.), Me­ thoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, 223 (224, 232 f.). Dazu auch das Interview mit Gaby Mayr im SWR 2006, abrufbar unter https://www.rewi.hu-berl in.de/de/lf/ls/bae/w/files/lsb_aktuell/interview_richterin_uebernehmen_sie.pdf (letzter Abruf am: 11.12.2022). 41 Baer, Schlüsselbegriffe, Typen und Leitbilder als Erkenntnismittel und ihr Ver­ hältnis zur Rechtsdogmatik, in: Schmidt-Aßmann/Hofmann-Riem (Hrsg.), Me­ thoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, 223 (238).

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Begriffe, die in der deutschen Rechtswissenschaft noch nicht bestimmt sind.42 Wir fragen uns – und hier vor allem Sie: Welche Narrative, welche Leitbilder gibt es im Zusammenhang mit juristischen Berufen und wie sind sie im Geschlechterkontext zu bewerten? Wir denken zum Beispiel an das Bild des neutralen und objektiven Richters, der ganz unabhängig von seiner Biographie agiert, oder auch an das Bild des Vollzeitbeamten oder des Einheitsjuristen, oder an das Parlament als „Gesetzgeber“. Was ist die Grundlage für diese Leitbilder und Narrative? Haben sie sich vielleicht auch verändert? Und wie werden sie – von wem und auf welche Weise – genutzt? SB: Mich hat wie gesagt die Skepsis gegenüber Bildern dazu gebracht, die Leitbilder zu untersuchen. Da stellt sich die Frage nach Stereotypen, nach dem bias, den Vorurteilen, die an Bildern hängen. Das betrifft eben auch die Ikone, das Vorbild – das deshalb problematisch wird. Es ist aber auch eine soziale Realität, dass wir Bilder im Kopf haben, die Erwartungen formen, Erstwahrnehmung und Einschätzung. Das zeigt uns die Psycho­ logie. Besonders eindrücklich sind Studien zu Bewerbungsgesprächen – und auch erschütternd, was da zählt. Abgeglichen wird da mit der Ähn­ lichkeit zu sich selbst; die Aussuchenden suchen quasi den Ziehsohn oder, seltener, die Ziehtochter, die ihnen ähnlich ist. Je mehr dann jemand abweicht, desto schwerer ist es, Qualität zu zeigen. Hier wirkt das Bild, das Menschen von sich selbst haben, und das Stereotyp der Position. Mit solchen Bildern befasst sich die Rechtssoziologie, und rezipiert die Vorurteilsforschung ebenso wie die Erkenntnisse aus Trainings, um die Bilder in unseren Köpfen und ihre Wirkung auf unsere Wahrnehmung und unsere Entscheidungen kompetent zu reflektieren, und dann wirklich fair zu urteilen. Die Idee ist also nicht – und das ist wichtig –, dass Gender Studies sexistische Vorurteile beseitigen. Die Idee ist vielmehr, Kompeten­ zen zu entwickeln, um mit den kleinen Sexismen im Kopf umgehen zu können. Das ist ein großer Unterschied. Wir müssen Bilder kennen, sie ernst nehmen, und gewissermaßen „deblockieren“. Aufgrund der Nähe des Juristischen als einer Textwissenschaft zur Lite­ ratur liegt es auch nahe, sich mit Narrativen zu befassen. Wir erzählen im Juristischen auch Geschichten – in jeder Entscheidung, in jeder Falllö­ sung, aber auch in jedem Gesetz, jedem Verwaltungsakt. Wenn wir da law as narrative betrachten, zeigt sich: Wir erzählen damit Welt. Versuchen Sie einmal, das Bürgerliche Gesetzbuch als Geschichte über die Welt zu

42 Damit befasst sich auch Blufarb, Geschichten im Recht, 2017, S. 93 ff.

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lesen. Was kommt denn in dieser Welt vor – und was nicht? Das war Jutta Limbachs Anliegen im Schuldrecht: Wo ist die Verbraucherin? Wie werden hier Subjekte stilisiert? Das ist ein oft sehr produktiver Umgang mit juristischen Arbeiten. Genauso lohnt sich der Blick auf die popular legal culture. Da geht es um Geschichten, also literarische Werke – wie Heinrich von Kleists „Der zerbrochene Krug“ –, aber auch um Filme – vom „Tatort“ über US-ame­ rikanische Serien bis zur Komödie, in denen Geschichten über Recht erzählt werden. Filme haben großen Einfluss auf Menschen und deren Rechtswahrnehmung sowie Rechtserwartung. Das haben Elisabeth Holz­ leithner und Karin Lukas am Beispiel der Serie „The Good Wife“ untersucht: Eine Anwältin ist die Hauptfigur, aber es gibt reichlich Sexismen.43 In jedem Bild hängt auch da die Ambivalenz der Essentialisierung. Es ist also sinnvoll, auch im Umgang mit Bildern kompetent zu werden. Auch als Richterin kann ich nicht so tun, als würde ich mit Robe zum „neutralen Nichts“. Ich muss mich damit beschäftigen, was in meinem Hinterkopf vorgeht, um das nicht durchschlagen zu lassen. Deshalb ist es gut, sich in der Beratung einzugestehen, was uns bei einem Fall umtreibt. Und es ist wichtig, auch soziologische Daten aufzubereiten, um zu erkennen, worum es auch geht. Im Verfassungsgericht ist das genauso wichtig wie in allen anderen Entscheidungspositionen. Das Verfassungsgericht ist sogar darauf angelegt. Es wird gezielt mit Menschen besetzt, die unterschiedliche weltanschauli­ che Ansichten haben, sehr konservativ, liberal, progressiv usw. Da ist es gut, mit Vorannahmen offen umzugehen. Als ich ans Bundesverfassungs­ gericht kam, war die Leitentscheidung schon getroffen, aber eine der ers­ ten großen Verhandlungen befasste sich mit der Sukzessivadoption von Kindern durch homosexuelle Eltern. Heterosexuelle durften das, andere nicht.44 Ich hatte doch Sorgen, ob da Vorurteile über Schwule und Lesben im Raum stehen würden, denn da gibt es viele. Ich fragte mich also: „Wie sollen wir denn damit umgehen?“ und war, auf einer ganz anderen Ebene als sonst, wirklich nervös, weil mir bewusst war, dass diese Vorurteile irgendwie auch mich betreffen. Gleichzeitig wusste ich nicht, wie ich das ansprechen sollte, ohne das eine Bild der parade-lesbischen Frau zu sein, die ich ja gar nicht repräsentiere. Es gab dann auch eine Situation, in

43 Holzleithner/Lukas, Sexuelle Übergriffe im Recht – ein populärkultureller Split­ ter am Beispiel von „The Good Wife“, in: Hladschik/Steinert (Hrsg.), Menschen­ rechten Gestalt und Wirksamkeit verleihen, 2019, 509 ff. 44 BVerfG Urt. v. 19.02.2013 – 1 BvL 1/11, BVerfGE 133, 59.

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der wir – ohne jetzt das Beratungsgeheimnis zu brechen – sogar über die fieseren Vorurteile gesprochen haben und das war wirklich sehr ein­ drücklich. Es fühlte sich etwa so an, als würden Sie in einer gemischten Gruppe sitzen und die Leute zu Ihnen sagen: „Ja, Frauen und Wissenschaft finde ich auch schwierig. Als ob die wirklich denken können!“ Da muss man sich sehr vertrauen und zutrauen, das zu bearbeiten. Das war aber eine Voraussetzung für die Entscheidung, die letztlich acht zu null, also vollkommen einstimmig gefallen ist. Wir müssen Narrative und Bilder als Faktum ernst nehmen, die eigenen sozusagen „herauspopeln“ – dabei hilft Forschung – und eine Kompetenz entwickeln, mit ihnen umzugehen. FMR: Hier müssen wir noch einmal nachhaken: In dem oben zitierten Beitrag gehen Sie sogar noch darüber hinaus. Sie beschreiben Narrative und Leitbilder nicht nur als etwas Problematisches, sondern regen auch dazu an, die „produktive Kraft der Bilder“45 nutzbar zu machen. SB: Ich versuche, Narrative und Leitbilder in der Lehre einzusetzen. Zum Beispiel unterrichte ich „den Kopftuchfall“ als Einstiegsfall in die interdis­ ziplinäre Rechtsforschung, um Jurist:innen klarzumachen, dass es für eine umfassende Betrachtung fünf bis sieben anderer Disziplinen bedarf. Das Eine ist: Wenn ich von „dem Kopftuch-Fall“ spreche, haben wahrschein­ lich alle ein Bild von einem bestimmten Kopftuch im Kopf. Daher zeige ich in der Vorlesung dann viele Bilder von ganz unterschiedlichen Kopf­ bedeckungen – und dann verändert sich etwas. Deswegen versuche ich, aktiv mit Bildern zu arbeiten. Es gab wohl mal ein Votum im Bundesver­ fassungsgericht, bei dem jemand ein Bild vor die Richter:innenschaft legte, um das Bild, das alle im Kopf hatten, zu brechen. Das Votum habe ich in meiner Amtszeit nicht gesehen und bin so weit im Gericht selbst nicht gegangen. Mit Bildern lässt sich also gut arbeiten, aber auch da braucht es interdisziplinäre Kompetenz, eine Bildkompetenz. Diese vermitteln die Bildwissenschaften, die sich damit befassen, wie Bilder sinnvoll eingesetzt werden können – ohne mit ihnen Schaden anzurichten. Das Andere ist: Menschen denken nicht linear. Schaubilder, Mindmaps und logische Bil­ der sind ein wirklich hilfreiches Instrument, um komplexe Sachverhalte und juristische Konstruktionen zu verstehen. Insofern ist die quasi-religiö­

45 Baer, Schlüsselbegriffe, Typen und Leitbilder als Erkenntnismittel und ihr Ver­ hältnis zur Rechtsdogmatik, in: Schmidt-Aßmann/Hofmann-Riem (Hrsg.), Me­ thoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, 223 (247).

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se Tradition einer Bildfeindlichkeit des Juristischen vielleicht ein bisschen übertrieben in einer Welt der Bilder. FMR: Zum Abschluss wollen wir nun noch eine Frage stellen, in der wir auf den Anlass der Tagung zurückkommen wollen: 100 Jahre Zulassung von Frauen zu den rechtswissenschaftlichen Examina und damit zu den juristischen Berufen. Wir haben einen historischen Rückblick gewagt, Ent­ wicklungen der letzten 100 Jahre nachvollzogen und aktuelle Herausfor­ derungen beobachtet. Vor diesem Hintergrund möchten wir auch einen Blick in die Zukunft wagen: Womit würde sich eine solche Tagung wie die unsere in 100 Jahren beschäftigen? Was wird vielleicht kein Thema mehr sein? Wir freuen uns auf einen realistischen, aber vielleicht auch hoffnungsvollen Blick in die Zukunft. SB: Hoffentlich geht das dann noch! Das sage ich, weil ich ein Jahr lang Akten zum Klimawandel gelesen habe – und wer sich damit ernsthaft beschäftigt, dürfte für die Situation in 100 Jahren nicht mehr sehr optimis­ tisch sein. Als zweite Variante hatte ich spontan im Kopf: Vielleicht braucht es die Tagung dann nicht mehr. Oder nur noch als historische Forschung, die die Einteilung von Menschen in zwei kleine Schubladen untersucht. Insofern finde ich auch die – leider immer wieder stark denunzierte – Entwicklung, non-binary-Identitäten anzunehmen, sich also nicht in eine der Schubladen einordnen zu wollen, eine sehr interessante. Das dürfte einer der innovativsten Ansätze sein, um das menschlich Unterschiedliche zu betonen. Die dritte Variante ist die: Vielleicht wissen wir dann noch etwas mehr darüber, wie produktiv, spannend und aufregend Geschlecht, Geschlech­ terdifferenzen, Geschlechterdifferenzierungen sind – und nun habe ich bewusst nicht Hierarchie gesagt. Es könnte sein, dass sich die Tagung dann überhaupt nicht mehr mit Unrechtserfahrungen, sondern nur noch mit Aufregendem beschäftigt. Oder anders: Ich hoffe, dass die Themen Sexis­ mus und Langeweile dann endlich durch sind – also: männliche Hegemo­ nie, wie auf Tagungen, bei denen nur Männer auf dem Podium sitzen. Das wäre wirklich schön! Ich finde auch Witze, die nicht sexistisch sind, viel witziger. Ich freue mich einfach auf die Zeit, in der wir nicht über das generische Maskulinum diskutieren, sondern uns überlegen, was nicht nur zutreffend, sondern schöner gesagt werden kann. Und geschlechterge­ rechte Sprache ist auch eine schönere Sprache – davon bin ich zutiefst überzeugt.

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Wenn der Klimawandel nicht dazwischenkommt, haben wir da Chan­ cen. Denn – und das ist jetzt die Bemerkung einer sich doch irgendwie älter fühlenden Person: Feminismus is back. Es gab eine Zeit, als der Begriff kaum präsent war. Angeblich so seventies, so diese alte „Selbsterfah­ rungs-Frauenbewegung“. Aber jetzt ist der Begriff als politisch relevanter, ernsthafter, analytischer und fordernder Begriff wieder da. Feminismus wird heute groß gedacht, als „Frauenfrage“ und darüber hinaus. Und es wird mit großer Souveränität gesagt: „Ich bin feministisch, weil…“ – schö­ ne Hashtags. Das beruhigt mich ein bisschen. Es ist wichtig, dass da keine Selbstverständlichkeit einkehrt, dass sich niemand der Illusion hingibt, wir hätten es schon geschafft. Denn wir haben es nicht geschafft. Heute funktioniert die Bewegung zusammen, und noch dazu humorvoll. Und deshalb denke ich: In 100 Jahren machen wir keine solchen Tagungen mehr. Dann machen wir eine andere Tagung, weil Sie es vorher geschafft haben, weiter zu kommen. Publikum: Sie haben zwar durchscheinen lassen, dass Sie dem Konstrukt des Vorbildes kritisch gegenüberstehen. Lassen Sie mich trotzdem eine Frage stellen, von der ich sicher bin, dass die Antwort – zumindest auf die­ ser Tagung – viele junge Frauen interessiert: Haben Sie einen essentiellen Rat an junge Frauen auf dem Weg in die Wissenschaft? SB: Ein Rat wäre: Die Mischung aus Mut und Humor ist lebenserhaltend. Sie ist wirklich wichtig und will gepflegt sein. Ich bin mir ziemlich sicher, dass nur trägt, auf dem eigenen Erkenntnisinteresse zu beharren. Die nicht selten angeratene Anpassung, zB in Form von „die Diss‘ muss zu dem Thema und dann muss die Habil‘ ganz anders sein.“, ist zumindest riskant. Aber: Das ist auch ein hoher Anspruch, weil Realismus in Bezug auf den Erwartungshorizont gefragt ist. Nur mit einem Lieblingsthema läuft es eben auch nicht. Sie müssen für die Eintrittskarte in die Wissenschaft unter Beweis stellen, dass Sie sich auch für unliebsame Arbeit nicht zu schade sind, damit die Kollegen und Kolleginnen Ihnen zutrauen, auch jede Grundkurs-Vorlesung gut zu halten, Sie also nicht nur an Ihren Hob­ bythemen hängen. Dazu kommt: Verfolgen Sie ein Ziel, das nicht nur Anerkennung im Mainstream ist. Mein Doktorvater, Spiros Simitis, sagte mir einmal: „Sie schreiben doch nicht für das Regal, oder?“ Das war ein wichtiger Satz. Es kostete Mut, die Dissertation so anzulegen, dass sie auch in der Welt relevant sein könnte, das hoffte ich jedenfalls. Simitis sagte mir außerdem: „Sie müssen Ihren Freunden Argumente geben, Ihre Feinde finden genug.“ Also: Mehr als die Lieblingsthemen! In 293

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einer Berufungskommission werden Leute, die Sie fördern wollen, Argu­ mente brauchen. Aber auch: Deshalb müssen Sie sich nicht unterwerfen. Die Wissenschaft ist ja auch offen, Mut, Innovationskraft und Dynamik zu belohnen. So konservativ gerade die Rechtswissenschaft vielfach handelt: Es ist Bewegung und Öffnung drin. Sie werden also an allen Fakultäten ein, zwei, drei Leute finden, die das, was Sie machen, gut finden. Dazu kommt noch: Sie müssen sich zeigen! Zu einer Mentoring-Veran­ staltung für Nachwuchswissenschaftlerinnen in Berlin kam einmal eine Vortragende in einem knallroten Kleid, auf roten High Heels. Ich dachte: „Das ist ja mal ein Auftritt für die Wissenschaft, in der man so grau unterwegs ist“. Der Vortrag trug den Titel „Rot tragen“. Das bedeutet nicht Ego-Shooting, aber auch: Keine falsche Schüchternheit. Wenn Sie auf die nächste Tagung gehen, sitzen Sie also etwa in Reihe vier. Nie außen, nie ganz hinten. Zeigen Sie sich! Da ich selbst – was man jetzt nicht glauben wird – zu einer gewissen Schüchternheit neige, war meine Devise auch immer: Nicht allein. Immer versuchen, jemanden mitzunehmen. Immer versuchen, andere zu finden. Wir sind mit unseren Erfahrungen nicht allein, und wir finden immer ein Gegenüber oder auch ein Miteinander, auch ein solidarisches Miteinander, das es gerade bei Enttäuschungen und Rückschlägen auch braucht. Und das gilt auch bei Leuten, bei denen man zuerst denkt: „Hey, die – oder der – ist doch auf einem anderen Stern“. Irgendetwas verbindet vielleicht doch. Die meisten Menschen haben ein gewisses kleines Rucksäckchen, in dem Rückschläge, Selbstzweifel oder auch „die Promotion wird nichts“ oder „da ist gerade dieses Buch erschienen und die nehmen mir mein Thema weg“ drin sind. Es ist wichtig, offen genug zu sein und zu bleiben. Was noch? Nie, nie, nie eine Kollegin runtermachen vor anderen. Und zwar, auch wenn etwas gerade nicht so toll war. Das geht gar nicht. Die Wissenschaftskultur trimmt ein Stück weit auf Konkurrenz und Ellenbo­ gen. Aber gehen Sie dem nicht auf den Leim. Das ist keine gute Idee und auf Dauer trägt es nicht – auch davon bin ich zutiefst überzeugt. Das war jetzt doch eher viel... Ich wünsche mir also, dass viele von Ihnen sich in die Wissenschaft aufmachen. Es ist nach wie vor der tollste Beruf ever. Kurz vor oder nach Verfassungsrichterin. Da bin ich mir nicht sicher. Publikum: Sie haben eben gesagt, dass geschlechtergerechte Sprache in den Nachrichten schon angekommen sei, in den juristischen Fakultäten hingegen größtenteils noch nicht. Ein anderer Platz, an dem die geschlech­ tergerechte Sprache noch nicht angekommen ist, sind Gesetzestexte, und

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insbesondere Verfassungstexte. Mich würde interessieren, wie Sie zu der Idee stehen, Gesetzestexte geschlechtergerecht zu formulieren. SB: Wie stehe ich dazu? Natürlich gesetzestreu! Denn es gibt bereits eine Vorgabe im Gleichstellungsdurchsetzungsgesetz, wonach das schon längst geschehen müsste. Diese Regelung müsste man wachküssen. Im Bund sind jedenfalls alle Ministerien dazu verpflichtet, in Referentenentwürfen etc. geschlechtergerecht zu formulieren. Das wird nur komischerweise nicht getan. Und das, obwohl es darüber hinaus auch förmliche Hinweise zur Rechtsetzung und sehr gute Sprachhinweise zur geschlechtergerechten Formulierung gibt. Nach meiner Erfahrung ist das ein sehr mühsamer Kampf, immer wieder einzufordern, auch sprachlich alle mitzunehmen, oder jedenfalls: präzise zu sein. Es ist auch eine der Forderungen, bei denen oft wenig Solidarität von Frauen zu erwarten ist. Das Thema geht vielen „auf den Sender“ und sie halten es nicht für wichtig genug, hierfür ihre Ressourcen einzusetzen. Das kann ich verstehen. Aber ich habe trotzdem den Eindruck, dass es das wert ist und halte viel davon, Regelungen, Entscheidungstexte, juristische Aufsatz­ texte etc. geschlechtergerecht zu formulieren. Sie werden dadurch insgesamt verständlicher. Der Mehrwert ist nicht nur Geschlechtergerechtigkeit, also ein inklusives, häufig eben sozial präziseres Sprechen – wenn ich über Richter rede, muss ich „Richter“ sagen, aber wenn ich Gerichte in Deutsch­ land beschreibe, auch Richterinnen nennen. Der Mehrwert ist auch, dass Texte oft kürzer werden, aus Passivkonstruktionen rauskommen und bessere Begriffe benutzt werden, die sich dann etablieren. Wir sehen an der Formu­ lierung „Studierende“, dass das verkraftbar ist. Dass bei „Lehrenden“ Leh­ rende allergischer sind, ist wohl eher ein Hierarchie- und Statusproblem, über das Einige noch hinwegkommen müssen. Also: Geschlechtergerechte Formulierungen lassen sich sehr gut machen. Nur: Darüber wird viel ausgehandelt – deshalb braucht es noch ein biss­ chen Geduld. Denn die Debatte ist ein symbolischer Kampf für viel mehr; es geht nicht nur um die Formulierung. Daher sind auch als provokativ empfundene Handlungen – wie die Studienordnung der Uni Leipzig, die im generischen Femininum formuliert wurde – hilfreich, um zu zeigen, dass Sprache nicht banal und nur „Kosmetik“ ist. Das zeigt sich ja auch, wenn sich Leute furchtbar darüber aufregen, wenn nur in weiblicher Form geschrieben wird. Ja, es gibt so ein paar Rechtstexte, die sich gut umschreiben ließen – wir versuchen das in unserem Projekt in Berlin: „Re-Law“ – und wir würden beim Umschreiben noch mehr entdecken als nur den kleinen Sexismus in der Formulierung. Insofern lohnt sich die Arbeit! 295