100 Jahre Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität zu Köln 9783504387020

Die Universität zu Köln und damit zugleich die Rechtswissenschaftliche Fakultät feierte im Jahr 2019 ihr 100-jähriges Be

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100 Jahre Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität zu Köln
 9783504387020

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Festschrift 100 Jahre Rechtswissenschaftliche Fakultät Universität Köln

FESTSCHRIFT

100 JAHRE RECHTSWISSENSCHAFTLICHE FAKULTÄT UNIVERSITÄT KÖLN 1919-2019 herausgegeben von

Hanns Prütting

2020

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 02 21/9 37 38-01, Fax 02 21/9 37 38-943 [email protected] www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-06059-6 ©2020 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungsbeständig und umweltfreundlich. Einbandgestaltung: Lichtenford, Mettmann Satz: WMTP, Birkenau Druck und Verarbeitung: Kösel, Krugzell Printed in Germany

Vorwort Die neue Universität zu Köln und damit zugleich auch ihre Rechtswissenschaftliche Fakultät haben im Jahre 2019 das Jubiläum des 100-jährigen Bestehens gefeiert. Zwar wurde die alte Universität schon im Jahre 1388 gegründet. Sie wurde aber nach der Besetzung des Rheinlandes durch französische Truppen von Napoleon im Jahre 1798 geschlossen und konnte erst 1919 wieder eröffnet werden. Aus Anlass der vielfältigen Feiern zum Jubiläum 2019 hatte die Rechtswissenschaftliche Fakultät eine Vortragsreihe veranstaltet, mit der sie sich an die Kölner Bürger wenden wollte. Die Vorträge wurden daher größtenteils nicht in den Räumen der Universität, sondern bewusst an sehr verschiedenen Stellen außerhalb des Universitätsbereichs gehalten („Universität in Kölner Häusern“). Bereits der erste Vortrag unseres früheren Kölner Kollegen und heutigen emeritierten Regensburger Ordinarius Hans-Jürgen Becker zur Geschichte der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zwischen 1919 und 1950 war ein so großer Erfolg und rief so viele Fragen nach einer Veröffentlichung hervor, dass die Fakultät sich entschloss, sämtliche Beiträge zum Jubiläum 2019 in einem Sammelband zu veröffentlichen. Die Herausgabe des Bandes hat der Unterzeichnete im Namen des Dekans und der Fakultät übernommen. Im Jahr 2019 konnte neben der Fakultät auch das Oberlandesgericht Köln das Jubiläum seines 200-jährigen Bestehens feiern. Aus diesem Anlass hat die Vizepräsidentin des Straßburger Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Frau Prof. Dr. Angelika Nußberger, im Rahmen eines Festaktes einen Festvortrag gehalten, der ebenfalls in diesen Sammelband aufgenommen werden konnte. Bis heute existiert eine umfassende Geschichte der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln nicht. Die vorliegende Festschrift will daher einen kleinen Beitrag zu dieser künftigen Aufgabe leisten. Dazu sind in der Einführung zu dieser Festschrift einige Hinweise enthalten. Der Herausgeber dankt zugleich im Namen der gesamten Fakultät allen an der Organisation der Vortragsreihe Beteiligten und allen Autorinnen und Autoren für ihre engagierte Mitwirkung. Möge diese Festschrift ein weiterer kleiner Schritt auf dem Weg zu einer umfassenden Geschichte der Rechtswissenschaften Fakultät der Universität zu Köln sein. Köln, im Juli 2020

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Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Verzeichnis der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX Hanns Prütting Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Hans-Jürgen Becker Zur Geschichte der ersten 30 Jahre der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Köln 1919–1950 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Stephan Hobe Rechtsprobleme des Weltraumschrotts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Torsten Körber Das Recht vor den Herausforderungen der Digitalisierung . . . . . . . . . . . . . 55 Claus Kreß Hans Kelsen, Hermann Jahrreiß, Carl Schmitt und die Frage von Krieg und Frieden im Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Angelika Nußberger Kontinuität und Wandel Das Oberlandesgericht Köln als Teil eines europäischen ­ Gerichtsverbunds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Jan F. Orth Rechtsfragen des Dopings im Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Hanns Prütting Der Fall Gurlitt – Raubkunst oder Kunstraub? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Martin Paul Waßmer Kunst im Fokus des Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Stefan Wurster Können Demokratien Nachhaltigkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

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Verzeichnis der Autoren Becker, Hans-Jürgen em. Prof. Dr., Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Europäische Rechtsgeschichte und Kirchenrecht der Universität Regensburg Hobe, Stephan Prof. Dr. Dr. h.c., Institut für Luftrecht, Weltraumrecht und Cyberrecht; Jean Monnet-Lehrstuhl für Völkerrecht, Europarecht, europäisches und ­internationales Wirtschaftsrecht der Universität zu Köln Körber, Torsten Prof. Dr., Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Kartell- und Regulierungsrecht, Recht der digitalen Wirtschaft; Institut für Energiewirtschaftsrecht der ­Universität zu Köln Kreß, Claus Prof. Dr. Dr. h.c. Dr. h.c., Direktor des Instituts für internationale Friedenssicherung; Lehrstuhl für deutsches und internationales Strafrecht der ­Universität zu Köln Nußberger, Angelika Prof. Dr. Dr. h.c., Vizepräsidentin des Europäischen Gerichtshofs für ­Menschenrechte, Direktorin des Instituts für Ostrecht der Universität zu Köln Orth, Jan F. Prof. Dr., Vorsitzender Richter am Landgericht Köln, Honorarprofessor der Universität zu Köln Prütting, Hanns Prof. Dr. Dr. h.c. mult., Direktor des Instituts für Anwaltsrecht der Universität zu Köln Waßmer, Martin Paul Prof. Dr. Dr. h.c., Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschaftsund Steuerstrafrecht der Universität zu Köln Wurster, Stefan Prof. Dr., Hochschule für Politik an der Technischen Universität München

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Hanns Prütting

Einführung Inhaltsübersicht

I. Die historischen Abschnitte II. Die Generalstudien und die Vorgeschichte der Universitätsgründung (1248–1388) III. Die Geschichte der alten Universität (1388–1798)

IV. Die Versuche einer Wiedereröffnung und Neugründung (1798–1919) V. Die Neue Universität (1919–1945) VI. Die Universität in der Gegenwart (1945–2019) Fazit

Wie bereits im Vorwort angedeutet feiert die Universität zu Köln und damit zugleich die Rechtswissenschaftliche Fakultät im Jahr 2019 ihr 100jähriges Bestehen. Die alte Universität war im Jahr 1798 von Napoleon geschlossen worden und es hat eines 120-jährigen Bemühens bedurft, bis es gelungen ist, die neue Universität wiederum zu eröffnen. Bis heute fehlt es an einer umfassenden Darstellung und Aufarbeitung der Geschichte der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln. Die 100-Jahr-Feier der neuen Universität zu Köln und damit zugleich ihrer Rechtswissenschaftlichen Fakultät im Jahre 2019 hat dieses Desiderat einmal mehr deutlich hervortreten lassen. Der interessierte Leser kann aber aus dem in diesem Band enthaltenen Beitrag von Hans-Jürgen Becker entnehmen, dass unser früherer Kölner und heutiger Regensburger Kollege Becker an einer solchen Gesamtdarstellung ab 1919 seit langem arbeitet. Die folgende Skizze will weitere Ansatzpunkte für die Fakultätsgeschichte andeuten.

I. Die historischen Abschnitte Um das bisher vorhandene Material ein wenig näher zu sichten, bedarf es einer Einteilung der Kölner Universitätsgeschichte in fünf große Abschnitte: – die Zeit der Generalstudien und die Vorgeschichte der Universitätsgründung (1248–1388); – die Geschichte der alten Universität (1388–1798);

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– die vielfältigen Versuche der Wiedereröffnung und der Neugründung der Universität (1798–1919); – die neue Universität (1919–1945); – die Universität in der Gegenwart (1945–2019). Die Rechtswissenschaftliche Fakultät hat in allen fünf Phasen das äußere Schicksal der Gesamtuniversität geteilt und kann deshalb in denselben fünf zeitlichen Schritten betrachtet werden.

II. Die Generalstudien und die Vorgeschichte der Universitäts­ gründung (1248–1388) Das Mittelalter war bekanntlich von einer gewissen Enge von Wissenschaft und Kultur geprägt. Zwar gab es Kirchen- und Klosterschulen, es gab Klosterbibliotheken, es gab Wanderprediger. Es fehlte aber an staatlichen Institutionen und an Bildungseinrichtungen, die der Allgemeinheit offenstanden. So waren die Universitätsgründungen des ausgehenden Mittelalters in Italien, Frankreich und England (Bologna 1088, Paris, Oxford, Montpellier, jeweils Anfang des 13. Jahrhunderts, Cambridge 1209, Padua 1222, Neapel 1224) ein deutliches Zeichen des Aufbruchs. Wissenschaft und Kultur, aber auch die Ausbildung geistiger Berufe, entwickelten sich im europäischen Raum hin zu einem wissenschaftlichen Denken und zur Vernunft. Während an den Klosterschulen des Mittelalters das Wissen des Lehrers als verbindlich akzeptiert wurde und es die zentrale Aufgabe war, dieses Wissen zu konservieren und möglichst exakt weiterzugeben, wurden nun das Infragestellen des Wissens und der Begriff der Wahrheit zum Kerngedanken. Die Idee der „schola“, einer Diskussionsgemeinschaft von Lehrer und Schüler, wurde zum geistigen Ideal. So entstanden „hohe Schulen“ als coniurationes, als verschworene Gemeinschaften von Lehrenden und Studierenden. Nichts zeigt die Bedeutung dieser Zusammenschlüsse und ihren Anspruch deutlicher, als die Bezeichnung „universitas“ (also universitas magistrorum et scholarium), die bald zum exklusiven Namen wurde. Diese Entwicklung im süd- und westeuropäischen Raum führte dazu, dass deutsche Scholaren nach Italien und Frankreich zogen, um zu lernen und an der neuen Entwicklung teilzuhaben. Weltliche Institutionen griffen diese Entwicklung im 12. und 13. Jahrhundert in Deutschland nicht auf. So waren es die Bettelorden (Dominikaner, Franziskaner, Augustiner, Karmeliter), die an großen und bedeutenden Orten mit der Gründung von „Generalstudien“ begannen. Im Jahre 1248 gründeten zunächst die Dominikaner in Köln, der damals 2

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Einführung

Albertus Magnus (1200–1280)

größten deutschen Stadt, ein „Studium generale“ mit Albertus Magnus an der Spitze. Erst das 14. Jahrhundert mit den konkurrierenden Päpsten in Avignon und Rom bereitete den Boden für deutsche Universitätsgründungen (Heidelberg 1386, Köln 1388, zuvor schon Prag 1348, Wien 1365). Das 15. Jahrhundert brachte dann eine größere Zahl von Universitätsgründungen in Deutschland (Leipzig 1409, Rostock 1419, Trier 1455, Greifswald 1456, Freiburg 1457, Basel 1460, Ingolstadt 1472, Mainz 1477, Tübingen 1477). Literatur: Meuthen, Erich, Kölner Universitätsgeschichte, Band I, Die alte Universität, Köln/Wien 1988, Seite 41–51; Schieffer, Rudolf in Speer/Berger, Wissenschaft mit Zukunft, Die alte Kölner Universität im Kontext der europäischen Universitätsgeschichte, Köln/Weimar/Wien 2016, Seite 17–32; Schneider, Artur in Graven, Hubert, Festschrift zur Erinnerung an die Gründung der alten Universität Köln im Jahre 1388, Köln 1938, Seite 5–12. 3

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III. Die Geschichte der alten Universität (1388–1798) Am 21.5.1388 gründete die Stadt Köln mit Genehmigung von Papst Urban VI. die Universität. Als damals größte Stadt Deutschlands hatte Köln kein grundlegendes Problem, die neuen Magister und Scholaren aufzunehmen. Schon bald war die beachtliche Zahl von etwa 800 Studenten erreicht, die von zunächst 23 ordentlichen Professoren (später 34) unterrichtet wurden. Von Anfang an gab es die klassischen vier Fakultäten (Theologie, Jurisprudenz, Medizin, Artes Liberales). Die juristische Fakultät war von Beginn an eine Fakultät beider Rechte, also des kanonischen Rechts (Kirchenrecht) und des kaiserlichen Rechts (staatliches Recht). Das Aufblühen dieser neuen Universität und seine führende Rolle waren seit der Gründung bis zum Ende des 15. Jahrhunderts zu beobachten. Danach war ein gewisser Abstieg zu konstatieren. Die beibehaltene Organisationsstruktur des mittelalterlichen Pfründensystems und die katholische Prägung, die die Impulse der Reformation nicht aufnahm, werden meist als Gründe für den Abstieg genannt. Mit dem Einmarsch der französischen Truppen in das Rheinland im Oktober 1794 nahte das Ende der alten Universität. Sie wurde 1798 von Napoleon geschlossen und in eine Zentralschule nach französischem Vorbild umgewandelt. Literatur: Bianco, Franz Joseph von, Die alte Universität Köln und die späteren Gelehrtenschulen dieser Stadt, Teil I, Köln 1856; Graven, Hubert (Hrsg.), Festschrift zur Erinnerung an die Gründung der alten Universität Köln im Jahre 1388, Köln 1938; K ­ eussen, Hermann, Die alte Universität, Festschrift zum Einzug in die neue Universität, Köln 1934; Keussen, Hermann, Die alte Universität Köln, 1388–1798, in Zinsser, Ferdinand, Universität Köln 1919–1929, Köln 1929; Meuthen, Erich, Kölner Universitätsgeschichte, Band  I, Die alte Universität, Köln/Wien 1988; Speer, Andreas/Berger, Andreas (Hrsg.), Wissenschaft mit Zukunft, Die alte Kölner Universität im Kontext der europäischen Universitätsgeschichte, Köln/Weimar/Wien 2016; Zinsser, Ferdinand, Universität Köln 1919–1929, Köln 1929. Literatur zur rechtswissenschaftlichen Fakultät: Becker, Hans-Jürgen, Die Entwicklung der juristischen Fakultät Köln bis zum jahr 1600, in Der Humanismus und die oberen Fakultäten, Weinheim 1987, Seite  43–64; Becker, Hans-Jürgen, 600  Jahre Rechtswissenschaft in Köln, Aus der Geschichte der rechtswissenschaftlichen Fakultät, in: Festschrift der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität zu Köln, Köln 1988, Seite 3–30; Bohne, Gotthold in Graven, Hubert, Festschrift zur Erinnerung an die Gründung der alten Universität Köln im Jahre 1388, Köln 1938, Seite 109–236; Keussen, Hermann, Die alte Universität, Festschrift zum Einzug in die neue Universität, Köln 1934, Seite 229–268; Mallmann, Luitwin, Französische Juristenausbildung im Rheinland, 1794–1814, Köln/Wien 1987.

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Einführung

IV. Die Versuche einer Wiedereröffnung und Neugründung (1798– 1919) Von Anfang an bemühte sich die Stadt Köln intensiv um die Wiedereröffnung der Universität. Im Jahre 1808 wurde ein Universitätsgesetz erlassen, dessen Umsetzung in den Wirren der napoleonischen Kriege aber unterblieb. Seit 1855 gab es umfangreiche Bemühungen um die Schaffung einer Handelsakademie, deren Verwirklichung vor allem durch den Unternehmer Gustav von Mevissen (1815–1899) vorangetrieben wurde. Im Jahre 1901 wurde die erste selbständige deutsche Handelshochschule gegründet, 1904 folgte die Gründung einer Akademie für praktische Medizin und 1912 die Gründung der Hochschule für kommunale und soziale Verwaltung. Aber erst der seit 1917 im Amt befindliche neue Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer (1876– 1967) betrieb energisch und letztlich erfolgreich die Neugründung der Universität. Am 20.3.1919 stimmte die Kölner Stadtverordnetenversammlung einstimmig für die Neugründung. Ein Staatsvertrag zwischen der Stadt und der preussischen Regierung von Mai 1919 besiegelte die Gründung. Die Universität wurde am 20.6.1919 offiziell ihrer Bestimmung übergeben. Literatur: Becker, Hans-Jürgen, Die Entwicklung der juristischen Fakultät in Köln bis zum Jahr 1600, in Der Humanismus und die oberen Fakultäten, Weinheim 1987, ­Seite  43–64; Mallmann, Luitwin, Französische Juristenausbildung im Rheinland, 1744–1814, Köln/Wien 1987; Meuthen, Erich, Kölner Universitätsgeschichte, Band II, Köln/Wien 1988; Zinsser, Ferdinand, Universität zu Köln 1919–1929, Köln 1929, ­Seite 53–74.

V. Die Neue Universität (1919–1945) Der Ausbau der Neuen Universität vollzog sich sehr rasch. Die Basis war die Handelshochschule, die nun zur Wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät wurde. Die Rechtswissenschaftliche Fakultät musste dagegen nahezu vollständig neu aufgebaut werden. Zwei Professuren konnten von der Handelshochschule übernommen werden. Mit dem Neuaufbau waren im Jahre 1924 acht Professuren besetzt, 1930 waren es mit der Berufung von Hans Kelsen neun Professuren. Vier Professuren waren dem Zivilrecht zugeordnet, zwei dem Strafrecht und drei dem öffentlichen Recht. Schwerpunkte entwickelten sich im Wirtschaftsrecht, im Arbeitsrecht und im Steuerrecht. Die junge Fakultät konnte klangvolle Namen gewinnen: Fritz Stier-Somlo, Heinrich Lehmann, Hans Planitz, Godehard Ebers, Hans-Carl Nipperdey, Gotthold Bohne, Hans Kelsen. 5

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Hanns Prütting

Die positive Entwicklung der Weimarer Zeit brach mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933 sehr schnell ab. Der Rektor Godehard Ebers wurde zum Rücktritt gezwungen. Rektorat und Dekanate wurden mit NSDAP-Mitgliedern besetzt. Die Kölner Universität hatte sich selbst gleichgeschaltet. Die fachliche Ausrichtung der Rechtswissenschaftlichen Fakultät spiegelte sich sehr deutlich in der Gründung von Seminaren und Instituten. 1920 begann man mit dem Rechtswissenschaftlichen Seminar und den Seminaren für Politik, für Handels- und Industrierecht sowie dem Institut für Arbeits- und Wirtschaftsrecht. Ab 1930 kamen das Seminar für Deutsches Recht und das Kriminalwissenschaftliche Institut hinzu, ab 1931 das Institut für Völkerrecht und internationales Recht sowie das Institut für Kirchenrecht und Rheinische Rechtsgeschichte. Im Jahr 1943 wurde schließlich das Institut für Steuerrecht eröffnet (Ottmar Bühler). Der Zweite Weltkrieg hat auch die Kölner Universität stark betroffen. Im Sommer 1942 und im Februar 1943 trafen Luftangriffe die Universitätsgebäude. Im Oktober 1944 wurde der Universitätsbetrieb eingestellt. Literatur: Augsberg, Steffen/Funke, Andreas (Hrsg.), Kölner Juristen im 20. Jahrhundert, Tübingen 2013; Edelmann, Heidrun, Die Adenauers und die Universität zu Köln, Wien/Köln/Weimar 2019; Golczewski, Frank, Kölner Universitätslehrer und der Nationalsozialismus, Köln/Wien 1988; Haupts, Leo, Die Universität zu Köln im Übergang vom Nationalsozialismus zur Bundesrepublik, Köln/Weimar/Wien 2009; Knoch, Habbo/Jessen, Ralph/Ullmann, Hans-Peter, Die Neue Universität zu Köln, Wien/Köln/ Weimar 2019; Lehmann, Heinrich, Die rechtswissenschaftliche Fakultät, in Zinsser, Ferdinand, Universität zu Köln 1919–1929, Köln 1929; Meuthen, Erich, Kölner Universitätsgeschichte, Band II und III, Köln/Wien 1988; Zinsser, Ferdinand, Universität zu Köln, 1919–1929, Köln 1929.

VI. Die Universität in der Gegenwart (1945–2019) Schon im Dezember 1945 konnte die Universität im notdürftig wiederhergestellten Hauptgebäude wiedereröffnet werden. Im Jahr 1954 übernahm das Land Nordrhein-Westfalen die Universität, deren Geschichte als Universität der Stadt Köln (seit 1388) damit endete. 1955 wurde neben den vier Gründungsfakultäten (Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Rechtswissenschaft, Medizin, Philosophie) als fünfte Fakultät die Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät eröffnet. 1980 folgten die Erziehungswissenschaftliche und die Heilpädagogische Fakultät. Das zahlenmäßige Anwachsen der Universität vollzog sich mit großem Tempo. 1980 wurde Köln mit 40.000 Studie6

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Einführung

renden die größte Universität in Nordrhein-Westfalen, 1996 wurde sie mit 63.000 Studierenden die größte Universität Deutschlands. Im Jahr 2012 wurde Köln Exzellenzuniversität (bis 2019). Die Rechtswissenschaftliche Fakultät begann 1950 mit zehn Seminaren und Instituten. Dies waren das Kriminalwissenschaftliche Institut, das Seminar für Staatsphilosophie und Rechtspolitik, das Institut für Kirchenrecht und Rheinische Rechtsgeschichte, das Institut für Arbeits- und Wirtschaftsrecht, das ­Institut für internationales und ausländisches Privatrecht, das Seminar für Völkerrecht, das Seminar für Deutsches Recht sowie das Institut für Steuerrecht. Anfang der sechziger Jahre kamen das Institut für das Recht der Europäischen Gemeinschaften, das Institut für Luft- und Weltraumrecht, das Institut für Neuere Privatrechtsgeschichte sowie das Institut für Versicherungsrecht hinzu. 1964 wurden die Institute für Ostrecht und für Energierecht gegründet, 1966 das Institut für Verfahrensrecht, 1968 das Institut für Rundfunkrecht, 1970 das Institut für Staatsrecht, 1986 das Institut für Anwaltsrecht sowie 1991 das Institut für Wissenschaftsrecht. Literatur: Hansmeyer, Karl-Heinrich/Henning, Friedrich-Wilhelm (Hrsg.), 600  Jahre Kölner Universität, Reden und Berichte zur Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Universität, Köln 1989; Knoch, Habbo/Jessen, Ralph/Ullmann, Hans-Peter (Hrsg.), Die neue Universität zu Köln, Wien/Köln/Weimar 2019; Meuthen, Erich (Hrsg.), Kölner Universitätsgeschichte, Band III, Köln/Wien 1988.

Fazit Die Geschichte der neuen Universität zu Köln (1919–2019) ist eine Erfolgsgeschichte. Das hat das Jubiläumsjahr 2019 in vielfältiger Weise gezeigt. Dank der großen Zahl von Monographien und Sammelwerken ist die Geschichte der Gesamtuniversität gut erschlossen. Hervorzuheben sind die Festschriften der Jahre 1929, 1934, 1938, 1988 und 2019 sowie die Schriftenreihe „Studien zur Geschichte der Universität zu Köln“ (Band 1, 1985 bis Band 19, 2016) im Böhlau-Verlag Wien/Köln. Dagegen muss die Geschichte der Rechtswissenschaftlichen Fakultät noch geschrieben werden. Hier schließt sich der Kreis. Wie eingangs berichtet, arbeitet Hans-Jürgen Becker seit langem an einer Gesamtdarstellung der Rechtswissenschaftlichen Fakultät seit 1919. Sein Beitrag in dem vorliegenden Sammelband ist für alle Interessierten sicherlich ein sehr guter Einstieg in die Geschichte.

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Hans-Jürgen Becker

Zur Geschichte der ersten 30 Jahre der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Köln 1919–1950 Inhaltsübersicht

1. Die Gründungsphase 2. Die Entwicklung der Fakultät bis zum Jahre 1933 3. Die Zeit des Nationalsozialismus 3.1. Die Machtergreifung 3.2. Personelle Veränderungen 3.3. Doktoranden und ihre Schicksale

3.4. Das Semester des Carl Schmitt im Sommer 1933 3.5. Der Wandel der Studienordnung 3.6. Neuberufungen und das sich ­anbahnende Ende der NS-Zeit 4. Ende und Neuanfang Schlussbemerkung

Die Geschichte der Kölner Rechtswissenschaftlichen Fakultät muss noch geschrieben werden. Es war und ist mein Plan, ein Teilstück dieser spannenden Geschichte zu publizieren.1 Da jedoch anlässlich der 100-Jahr-Feier der Universität zu Köln ein Vortrag erbeten war, habe ich die Arbeiten an einer Gesamtdarstellung der Fakultätsgeschichte von 1919 bis 1950 unterbrochen, um schon vorab von Teilergebnissen zu berichten. Das hoffentlich bald fertige Buch wie auch der heutige Vortrag sollen dem Andenken jener Mitglieder der Fakultät gewidmet sein, die auf Grund nationalsozialistischer Zwangsmaßnahmen in den Jahren 1933 bis 1935 aus der Fakultät ausscheiden mussten. Es handelt sich um folgende Wissenschaftler: Godehard Ebers: *1880–†1958, an der Kölner Universität 1920–1935 Walter Goldschmidt: *1891–†1940, an der Kölner Universität 1920–1934 Franz Haymann: *1874–†1947, an der Kölner Universität 1923–1935 Hans Kelsen: *1881–†1973, an der Kölner Universität 1930–1933 Ludwig Waldecker: *1881–†1946, an der Kölner Universität 1934–1935 Alfred Wieruszowski: *1857–†1945, an der Kölner Universität 1920–1933 1 Der Plan wurde schon 1988 gefasst, als man der Gründung der alten Universität vor 600  Jahren gedachte. Vgl. Hans-Jürgen Becker, 600  Jahre Rechtswissenschaft in Köln. Aus der Geschichte der Rechtswissenschaftlichen Fakultät in Festschrift der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität zu Köln, Köln u.a. 1988, S. 3–30. 9

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Hans-Jürgen Becker

Ohne die Leistungen und das Engagement dieser Persönlichkeiten wäre die Geschichte der Fakultät in ihren Anfangsjahren anders und viel weniger glanzvoll verlaufen.

1.  Die Gründungsphase Die seit 1388 bestehende Universität Köln, nach Prag, Wien und Heidelberg die vierte Universitätsgründung im Heiligen Römischen Reich, fand unter Napoleon 1798 ihr Ende. Nach der Neuordnung Europas durch den Wiener Kongress fiel Köln mit der Rheinprovinz an das Königreich Preußen, das aber seine rheinische Universität 1819 nicht in Köln, sondern in Bonn gründete. Viele Versuche, in den folgenden Jahrzehnten am traditionsreichen Ort die Universität neu zu gründen, scheiterten. Köln musste sich bemühen, auf andere Weise ein Zentrum für wissenschaftliche Ausbildung zu werden. Im Zuge der im späten 19. Jahrhundert aufkommenden Idee, Handelshochschulen als eine Art von Vorstufe zu einer Universität zu gründen (Leipzig 1898, Frankfurt am Main 1901, Berlin 1906, Mannheim 1907, München 1910, Nürnberg 1919), wurde auch in Köln 1901 eine solche Handelshochschule errichtet. 1904 folgte die Einrichtung einer Akademie für praktische Medizin, 1912 die Gründung einer Hochschule für kommunale und soziale Verwaltung. In der Zeit des 1. Weltkriegs waren es führende Handelsstädte, die einen neuen Typ von Universität ins Leben riefen, die sich von den herkömmlichen Universitäten durch eine neue Ausrichtung unterscheiden wollten. Nachdem in Frankfurt am Main 1914, in Hamburg 1919 eine solche „moderne“ Hochschule entstanden war, wollte man auch in Köln nicht nachstehen. Auf der Grundlage der drei genannten Vorgängereinrichtungen gelang es Oberbürgermeister Dr.  iur. Konrad Adenauer in enger Zusammenarbeit mit Geheimem Regierungsrat Dr. iur. Christian Eckert (Dozent und Leiter der Handelshochschule) trotz der angespannten Situation am Kriegsende und trotz der ablehnenden Haltung der Bonner Universität die Genehmigung zur Gründung einer städtischen Universität in Köln von der preußischen Regierung zu erhalten. Es war nicht leicht, das Ministerium in Berlin von dem Plan einer Universitätsneugründung dicht neben der bereits bestehenden Bonner Hochschule zu überzeugen. In erster Linie wurde die Notwendigkeit einer Verstärkung der wissenschaftlichen Präsenz in Köln betont. Im Vordergrund stand hier ein nationales Motiv: Es gelte, in Anbetracht der Besetzung des Rheinlandes durch die Alliierten auf der einen, dem Verlust der Reichsuniversität Straßburg auf der anderen Seite, ein Zeichen zu setzen. Die starke Betonung der nationalen Bedeutung einer weiteren Universität im Westen des Reichs („Grenzlanduni10

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Zur Geschichte der Universität Köln 1919–1950

versität“, „Westlanduniversität“) wurde abgemildert durch den Zusatz, man strebe zugleich eine Verstärkung der Völkerverbindung zum Wohl Europas an. In wissenschaftlicher Hinsicht sei es das Ziel, neben der bestehenden alten preußischen Universität in Bonn einen Typ von Hochschule zu errichten, der sich durch eine neuartige Aufteilung zwischen Forschungsaufgaben (Instituten) und Unterrichtsaufgaben (Seminaren) auszeichne. Man werde zugleich großen Wert auf weltanschauliche und wissenschaftsmethodische Pluralität legen. Auch im Hinblick auf die zu gründende Rechtswissenschaftliche Fakultät wolle man neue Schwerpunkte setzen, etwa im Hinblick auf eine Akzentuierung des Öffentlichen Rechts, des Kommunalrechts und des Internationalen Rechts. Besonderen Wert lege man auf eine Synthese zwischen juristischem Praxisbezug und wissenschaftlicher Hochschulbildung. Dazu seien insbesondere Fächer wie Handels-, Gewerbe- und Industrierecht, Arbeitsrecht, Wissenschaftliche Politik, Bank- und Börsenrecht und Kriminalwissenschaften geeignet. Nach den langen und gründlichen Vorbereitungen wurde die Universitätsgründung beachtenswert schnell vollzogen. Am 4.1.1919 genehmigte das preußische Staatsministerium den von Oberbürgermeister Konrad Adenauer vorgelegten Kölner Universitätsplan, jedenfalls grundsätzlich. Die Kölner Stadtverordnetenversammlung stimmte am 20.3.1919 der Gründung einer Universität zu. Die preußische Staatsregierung ermächtigte am 27.5.1919 den Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung zum Abschluss des Universitätsvertrags zwischen Preußen und der Stadt Köln. In der von der Landesregierung verliehenen Kölner Satzung heißt es u.a.: Die Universität ist eine Landeshochschule. In ständiger Vertretung des Ministers obliegt die Aufsicht einem von ihm bestellten Staatskommissar.2 Die innere Verwaltung der Universität untersteht dem Kuratorium, das u.a. zuständig ist für die Aufstellung des Haushaltsplans, die Vermögensverwaltung, die Einstellung von Beamten und Angestellten, die Stellungnahme zu Berufungsvorschlägen der Fakultäten. Vorsitzender des Kuratoriums ist der Oberbürgermeister der Stadt Köln, wo­ rin der städtische Charakter der Hochschule zum Ausdruck kommt. Schon am 29.5.1919 wurde der Staatsvertrag über die Errichtung einer Universität Köln

2 Dieses Amt übte von 1919–1921 der Kölner Regierungspräsident Philipp Brugger (1865–1943), ab dem 2.2.1923 bis zum 25.3.1933 der Oberpräsident der Rheinprovinz Johannes (Hans) Fuchs (1874–1956) aus. Fuchs wurde 1933 von den Nationalsozialisten abgesetzt, von den Amerikanern 1945 wieder eingesetzt und – ähnlich wie Oberbürgermeister Konrad Adenauer – nach kurzer Zeit von den Engländern wieder abgesetzt. 11

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abgeschlossen.3 Mit einem Festakt wurde am 12.6.1919 im Großen Saal des Gürzenich die Eröffnung gefeiert. Als erste konnten sich die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche und die Medizinische Fakultät konstituieren, wobei sie sich auf die beiden bereits bestehenden Vorgängereinrichtungen stützen konnten. Die Rechtswissenschaftliche Fakultät konstituierte sich erst am 9.1.1920. Das Hochschulkollegium, in dem die hauptamtlichen Professoren und Dozenten der Handelshochschule und der Hochschule für kommunale und soziale Verwaltung vertreten waren, setzte zur Vorbereitung der Fakultätsgründung eine Kommission unter Leitung von Professor Dr. iur. Fritz Stier-Somlo ein. In deren letzter Sitzung am 9.1.1920 wählte man – in Anwesenheit des Rektors der Universität Professor Dr. iur. Christian Eckert – als ihren ersten Dekan Professor Dr. Fritz Stier-Somlo. Gemäß einer Vereinbarung mit dem Ministerium sollte der Start nach der Berufung von sechs Ordinarien am 1.1.1920 erfolgen, doch konnten bis zum 9. Januar nur fünf Professoren gewonnen werden. Rückblickend stellte Heinrich Lehmann 1929 fest:4 „[Die Fakultät] fand wenig, auf dem sie aufbauen konnte; es fehlte die Tradition, die natürliche Wegbereiterin der Zukunft. Der Fakultät und ihren Zielen mußte Wesen und Gestalt verliehen werden; ihr mußten die Persönlichkeiten gefunden werden, die wissenschaftliches Leben entzündeten; ihr mußten nicht zuletzt auch die sachlichen Mittel geschaffen werden, deren Vorhandensein die unerläßliche Voraussetzung jeder tieferen wissenschaftlichen Forschung bildet.“

Die Fakultät bestand also zunächst aus fünf ordentlichen Professoren: Dr. Andreas von Tuhr5 (vorher Basel, Straßburg und Halle) für Römisches und Bürgerliches Recht,

3 Universitätsvertrag, Universitätsarchiv Köln Zug. 9/2747. Vgl. hierzu Bernd Heimbüchel, Die neue Universität in Kölner Universitätsgeschichte, Bd. 2, Das 19. und 20. Jahrhundert, Köln 1988, S. 325 ff. und 336 ff. 4 Heinrich Lehmann, Rechtswissenschaftliche Fakultät in Universität Köln 1919– 1929, mit einem Vorwort von Rektor Prof. Dr. Ferd. Zinsser, Köln 1929, S. 129–148, hier S. 129. 5 1864–1925. Vgl. zu ihm Sibylle Hofer, Andreas von Tuhr (1864–1925): Das Phänomen eines gelobten Begriffsjuristen, in Steffen Augsberg und Andreas Funke (Hrsg.), Kölner Juristen im 20. Jahrhundert. Beiträge zu einer Ringvorlesung an der Universität zu Köln im Sommersemester 2010 und Wintersemester 2010/2011, Tübingen 2013, S. 5–31. 12

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Dr. Fritz Stier-Somlo6 für Öffentliches Recht und Politik (vorher Kölner Handelshochschule), Dr. Heinrich Lehmann7 (vorher Straßburg) für Römisches und Bürgerliches Recht, Handelsrecht und Zivilprozeß, Dr.  Hans Planitz8 (vorher Frankfurt a.M. für Deutsches sowie Bürgerliches Recht und Handelsrecht, Dr. Godehard Josef Ebers9 (vorher Münster) für Öffentliches Recht. Mit der Suche nach einem geeigneten Vertreter für das Fach Strafrecht tat man sich anfangs schwer. Zunächst wurde Dr.  Eduard Kern10 (Privatdozent aus München) ein Lehrauftrag erteilt, der aber bald einen Ruf nach Freiburg i.Br. erhielt. Ende des Sommersemesters 1920 wurde dann Dr.  Arthur Baumgarten11 (Genf) für Strafrecht und Rechtsphilosophie berufen. Dr. Heinrich Mitteis12 (Privatdozent aus Halle) wurde zum 1.4.1921 auf das Ordinariat für Deutsche Rechtsgeschichte, Deutsches Privatrecht und Bürger 6 1873–1932. Vgl. zu ihm Ina Gienow, Leben und Werk von Fritz Stier-Somlo, jur. Diss. Köln 1990. 7 1876–1963.  Vgl. zu ihm Marc-Philippe Weller, Heinrich Lehmann (1876–1963): Ein Pionier des Privat- und Wirtschaftsrechts in Steffen Augsberg und Andreas Funke (Hrsg.), Kölner Juristen (wie Fn. 5), Tübingen 2013, S. 33–52. 8 1882–1954. Vgl. zu ihm Hans-Jürgen Becker, Hans Planitz (1882–1954). Die Erforschung der Geschichte des deutschen Privat- und Vollstreckungsrechts und der Rechtsgeschichte der mittelalterlichen Stadt, in Steffen Augsberg und Andreas Funke (Hrsg.), Kölner Juristen (wie Fn. 5), Tübingen 2013, S. 75–99. 9 1880–1958.  Vgl. zu ihm Alexander Hollerbach, Über Godehard Josef Ebers. Zur Rolle katholischer Gelehrter in der neueren publizistischen Wissenschaftsgeschichte in Horst Ehmke (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Scheuner zum 70. Geburtstag, Berlin 1973, S. 143–162. 10 1887–1972. Vgl. zu ihm Eberhard Schmidhäuser, Eduard Kern in Ferdinand Elsner (Hrsg.), Lebensbilder zur Geschichte der Tübinger Juristenfakultät, Stuttgart 1977, S. 177–188. 11 1884–1966. Vgl. zu ihm Gerd Irrlitz, Rechtsordnung und Ethik der Solidarität. Der Strafrechtler und Philosoph Arthur Baumgarten, Berlin 2008; ders., Arthur Baumgarten (1884–1966), in Steffen Augsberg und Andreas Funke (Hrsg.), Kölner Juristen (wie Fn. 5), S. 101–135. 12 1889–1952. Vgl. zu ihm Götz Landwehr, Heinrich Mitteis, in Juristen im Portrait. Festschrift zum 225jährigen Jubiläum des Verlages C. H. Beck, München 1988, S. 572–583; Hans-Peter Haferkamp, Art. „Mitteis, Heinrich (1889–1952)“, in HRG III, ²2016, Sp. 1574–1575; Johannes Liebrecht, Die junge Rechtsgeschichte, Tübingen 2018, S. 107–235. 13

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liches Recht berufen. Für den zweiten strafrechtlichen Lehrstuhl (Straf- und Strafprozessrecht) konnte zum Wintersemester 1923/24 Dr. Gotthold Bohne13 (Privatdozent aus Leipzig) gewonnen werden. Von da an bestanden an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät acht Ordinariate: vier für das Privatrecht (einschließlich Rechtsgeschichte), zwei für das Öffentliche Recht und zwei für das Strafrecht. Der rasche Aufbau des Lehrkörpers hatte allerdings zur Folge, dass noch eine gewisse Instabilität herrschte. Durch Wegberufungen trat schon bald ein Wechsel in der Zusammensetzung der Fakultät ein. Andreas von Tuhr folgte einem Ruf an die Universität Zürich. Zu seinem Nachfolger wurde zu Ende des Sommersemesters 1920 Dr. Hans Lewald14 (vorher Frankfurt a.M.) berufen. Da aber auch Professor Lewald schon im Sommersemester 1923 wieder nach Frankfurt a.M. zurückkehrte, wurde nun Dr.  Franz Haymann15 (vorher Rostock) ab dem Wintersemester 1923/24 zum Ordinarius für Römisches und Deutsches Bürgerliches Recht bestellt. Professor Baumgarten nahm zum Wintersemester 1923/24 einen Ruf an die Universität Basel an. Zu seinem Nachfolger wurde Dr.  Albert Coenders (vorher Greifswald) berufen, der im Herbst 1923 seine Lehrtätigkeit in Köln begann. Professor Heinrich Mitteis folgte zum Wintersemester 1924/25 einem Ruf an die Universität Heidelberg. Sein Nachfolger wurde ab dem Sommersemester 1925 Dr. Hans Carl Nipperdey16 (vorher Jena). Die Fakultät blieb von da ab in der nun bestehenden Zusammensetzung Gotthold Bohne, Albert Coenders, Godehard Ebers, Franz Haymann, Heinrich Lehmann, Hans Carl Nipperdey, Hans Planitz und Fritz Stier-Somlo für viele Jahre konstant.

13 1890–1957. Vgl. zu ihm Richard Lange, Nachruf auf Gotthold Bohne in Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 69 (1957), S. 499–500; https://rektorenpor​ traits.uni-koeln.de/rektoren/gotthold_bohne/. 14 1883–1963. Vgl. zu ihm Karl-Heinz Below, Art. „Lewald, Hans“ in NDB 14 (1985), S. 411 f.; Axel Flessner, Hans-Lewald (1883–1963) in Bernhard Diestelkamp u.a. (Hrsg.), Juristen In Frankfurt am Main, Baden-Baden 1989, S. 128–135. 15 1883–1963. Vgl. zu ihm Bernd Heimbüchel, Die neue Universität, Bd. 2 (wie Fn. 3), S.  451, 454, 464  f.; Franz Dillmann, Beschweigen ist unverfänglicher als Aufdeckung. Die juristische Fakultät im Nationalsozialismus in Wolfgang Blaschke u.a. (Hrsg.), Nachhilfe zur Erinnerung. 600  Jahre Universität zu Köln, Köln 1988, S. 98–109, hier S. 103 f.; Albert Coenders † in Zs. für die gesamte Strafrechtswissenschaft 75 (1963), S. 371. 16 1895–1968. Vgl. zu ihm Thorsten Hollstein, Die Verfassung als „Allgemeiner Teil“. Privatrechtsmethode und Privatrechtskonzeption bei Hans Carl Nipperdey (1895– 1965), Tübingen 2007. 14

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Auf diesen wenigen Schultern ruhte das anspruchsvolle Programm, das vorsah, innerhalb einer neuartig ausgerichteten Universität ein spezielles Profil auch für die Rechtswissenschaftliche Fakultät zu entwickeln. Man strebte an, die Lehre praxisnah zu gestalten. Die Lehrfächer sollten die Entwicklung vom tradierten Lernstoff hin zur Vermittlung eines modernen, praxisnahen Rechts zum Ausdruck bringen. Man wollte Lehre und Forschung interdisziplinär ausrichten. Deshalb war man bestrebt, auch Hochschullehrer aus benachbarten Fakultäten, etwa aus den Wirtschaftswissenschaften, der Medizin und der Geschichte heranziehen. Dabei sollte Forschung und Lehre von einem Geist der Liberalität und Offenheit geprägt sein. Gerade der Initiator der neuen Universität Konrad Adenauer legte großen Wert darauf, dass unterschiedliche Standpunkte zu einem Dialog der Wissenschaftler führen sollten. In der Satzung der Fakultät vom 27.2.1924 waren die Ziele, die man erreichen wollte, folgendermaßen umschrieben: „Die Aufgabe der Rechtswissenschaftlichen Fakultät besteht in der Pflege und dem Unterricht aller Zweige der Rechtswissenschaft an der Universität. Außerdem hat die Fakultät gemeinsam mit der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät die Aufgaben der früheren Hochschule für kommunale und soziale Verwaltung zu erfüllen. Die Fakultät ist befugt und auf Anfordern des Ministers gehalten, über Gegenstände ihres Lehrbereichs wissenschaftliche Gutachten zu erstatten.“

Heinrich Lehmann fügte in seinem Bericht von 1929 rückblickend hinzu:17 „[…] die Kölner Rechtswissenschaftliche Fakultät [hat] nicht nur die Ziele der bestehenden älteren juristischen Fakultäten zu verfolgen. Ohne daß die Pflege der rechtsgeschichtlichen Fächer einschließlich der Verfassungsgeschichte im geringsten hinter ihrer Pflege an anderen Universitäten zurückstände, sind die Gebiete des Handelsrechts, Gewerbe- und Industrierechts, Arbeitsrechts, Bank- und Börsenrechts stark betont, ist ferner auf die Ausgestaltung des Öffentlichen Rechts in allen seinen Zweigen und auf die wissenschaftliche Politik großes Gewicht gelegt worden. Bei allem Festhalten an den guten Traditionen älterer Universitäten tritt der Charakter des modernen Rechtsunterrichts sowohl in der Behandlung der Einzelrechtsgebiete wie in der Methode deutlich hervor.“

Diese ehrgeizigen Ziele hätte man aus eigener Kraft nicht erreichen können.  Man war nicht nur auf die Unterstützung aus den Nachbarfakultäten, ­sondern auch auf die Mithilfe von erfahrenen Praktikern aus der Justiz und aus der Wirtschaft angewiesen. An dieser Stelle können nur wenige Namen ­genannt werden. In der Gründungsphase hielt etwa Dr. iur. Benedikt Schmitt-

17 Heinrich Lehmann, Rechtswissenschaftliche Fakultät (wie Fn. 4), S. 130. 15

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mann,18 Ordinarius für Sozialpolitik der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät, eine Vorlesung zum Thema „Soziale Grundlagen des Ar­ beitsrechts“. Es waren aber vor allem Richter, Rechtsanwälte und Syndizi von großen Betrieben, die der Fakultät im Hinblick auf einen praxisnahen Unterricht unter die Arme griffen. Genannt seien insbesondere Dr. iur. Peter Aberer, Rechtsanwalt am OLG (Vorlesungen im Bereich des Bürgerlichen Rechts und Handelsrechts), Justizrat Dr.  iur. August Adenauer,19 Rechtsanwalt am OLG (Bürgerliches Recht und Handelsrecht), Honorarprofessor Dr.  h.c. Eduard Gammersbach,20 Rechtsanwalt am OLG (Bürgerliches Recht und Handelsrecht), Justizrat Dr. iur. Hubert Graven,21 OLG-Rat (ab 1922 Honorarprofessor Köln und Senatspräsident am OLG: Bürgerliches Recht und Handelsrecht), ao. Professor Dr. iur. Dr. phil. Edmund Kloeppel,22 Vorstandsmitglied der Elberfelder Farbenfabriken (später Bayer AG: Gewerblicher Rechtsschutz) und nicht zuletzt Justizrat Dr. iur. hc. Alfred Wieruszowski,23 OLG-Rat (ab 1920

18 1972–1939.  Vgl. zu ihm Alfred Kuhlmann/Helmut Moll, Professor Dr.  Benedikt Schmittmann (1872–1939). Ein christlicher Gesellschaftspolitiker im Räderwerk des Nationalsozialismus in Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein, Heft 202, Pulheim 1999; Hugo Maier, Art. „Schmittmann, Benedikt“, in NDB 23 (2007) S. 249 f. – Schmittmann wurde im KZ Sachsenhausen ermordet. 19 1872–1952. Vgl. zu ihm Robert Steimel, Kölner Köpfe, Köln 1958, Sp. 26; Thorsten Hollstein, Die Verfassung als „Allgemeiner Teil“ (wie Fn. 16), S. 79; Heidrun Edelmann, Die Adenauers und die Universität zu Köln, Wien u.a. 2019, S. 11–14, 17 f., 27, 30, 85, 108, 111–113, 115, 118, 139, 281, 284–287, 293, 310, 314, 329, 372. Vgl. ferner https://de.wikipedia.org/wiki/Benedikt_Schmittmann. 20 1890–(unbekannt). Vgl. zu ihm Universität Köln 1919–1929 (wie Fn. 4), S. 134; Erich Meuthen (Hrsg.), Kölner Universitätsgeschichte, Bd. 3: Die neue Universität. Daten und Fakten, Köln u.a. 1988, S. 281. 21 1869–1951. Vgl. zu ihm Frank Golczewski, Kölner Universitätslehrer und der Nationalsozialismus (Studien zur Geschichte der Universität zu Köln 8), Köln 1988, S. 35–37; Bernd Heimbüchel; Die neue Universität, Bd. 2 (wie Fn. 3), S. 374 und 381; Verena Berchem, Das Oberlandesgericht Köln in der Weimarer Zeit (Rechtsgeschichtliche Schriften 17), Köln 2004, S. 332; Heidrun Edelmann, Die Adenauers (wie Fn. 19), S. 196. https://de.wikipedia.org/wiki/August_Adenauer. 22 1871–1926. Vgl. zu ihm Louis Palow, Lizenz und Lizenzvertrag im Recht des Geistigen Eigentums, Tübingen 2006, S. 79 und 132; Andreas Sattler, Emanzipation und Expansion des Markenrechts, Tübingen 2015, S. 114 und 120. Vgl. ferner https:// de.wikipedia.org/wiki/Edmund_Kloeppel. 23 1857–1945. Vgl. zu ihm Hans-Jürgen Becker, Alfred Ludwig Wieruszowski. Richter, Hochschullehrer, Goetheforscher in Helmut Heinrichs u.a. (Hrsg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, München 1993, S. 403–413; Horst Göppinger, Juristen jüdischer Abstammung, S. 130, 210, 229, 390. Vgl. ferner: https://de.wikipedia.org/ wiki/Wieruszowski. 16

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Honorarprofessor Köln, ab 1921 Senatspräsident am OLG: Bürgerliches Recht und Handelsrecht). Es ging nicht nur darum, den Weg von der Pandektenwissenschaft des 19. Jahrhunderts zum noch jungen Bürgerlichen Gesetzbuch zu beschreiten. Es mussten gleichzeitig neue Rechtsgebiete wie Industrierecht, Arbeitsrecht, Sozialrecht, Internationales Recht, Bank- und Börsenrecht, Gewerblicher Rechtsschutz vermittelt werden. Im Öffentlichen Recht wurde der Blick gleichfalls weiter: Hier ging es darum, die Weimarer Reichsverfassung von 1919 in Forschung und Lehre darzustellen und noch wenig bearbeitete Fächer wie Kommunalrecht, Staatskirchenrecht, Steuerrecht, Völkerrecht und Politische Wissenschaften zu erschließen. Dies gelang bemerkenswerter Weise gut, da man sich auf die Mithilfe der Nachbarfakultäten stützen konnte. Im Bereich von Recht und Wirtschaft stellten sich insbesondere die Professoren Fritz Karl Mann,24 Paul Moldenhauer,25 Alfred Müller-Armack,26 Erwin Geldmacher,27 Ernst Walb28 sowie Leopold von Wiese und Kaiserswaldau29 zur Verfügung. Im Be-

24 1883–1979.  Vgl. zu ihm Karl-Heinrich Hansmeyer und Klaus Mackscheidt, Fritz Mann in Friedrich-Wilhelm Henning (Hrsg.), Kölner Volkswirte. Über den Beitrag Kölner Volkswirte und Sozialwissenschaftler zur Entwicklung der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (Studien zur Geschichte der Universität zu Köln 7), Köln u.a. 1988, S. S. 15–38. 25 1876–1947. Vgl. zu ihm Peter Koch, Art. „Moldenhauer, Paul“ in NDB 17 (1994), S. 722–723; Ulrich Hübner, Die Geschichte des Instituts für Versicherungswissenschaft an der Universität zu Köln in Fünfzig Jahre Institut für Versicherungswissenschaft an der Universität zu Köln (Schriftenreihe des Instituts für Versicherungswissenschaft an der Universität zu Köln, N.F. 45), hg. von Dieter Farny, Berlin 1991, S. 27 f. 26 1901–1978.  Vgl. zu ihm Bertram Schefold, Vom Interventionsstaat zur sozialen Marktwirtschaft. Der Weg Alfred Müller Armacks, Düsseldorf 1999; G. Kegel, Humor und Rumor, S. 149; Kölner Personen-Lexikon, S. 383 f. 27 1885–1965.  Vgl. zu ihm Hans H. Hohlfeld, Erwin Geldmacher als Forscher und Lehrer, in: Industriebetrieb und industrielles Rechnungswesen. Neue Entwicklungstendenzen. Festschrift für Erich Geldmacher, Wiesbaden 1961, S.  95–100; Adolf Hesse, Erwin Geldmacher zum Gedenken in Zs. für handelswiss. Forschung 1966, S. 6–71. 28 1880–1946. Vgl. zu ihm Reinhold Hömberg, Ernst Walb (1880 bis 1946) in Friedrich Wilhelm Henning (Hrsg.), Betriebswirte in Köln (Studien zur Geschichte der Universität zu Köln 6) Köln 1988, S. 35–70 [Literaturverzeichnis S. 67–70]; Frank Golczewski, Kölner Universitätslehrer (wie Anm. 21), S. 191, 206, 395. 29 1876–1969. Vgl. zu ihm Heine von Alemann, Leopold von Wiese (1876 bis 1969) in Friedrich-Wilhelm Henning (Hrsg.), Kölner Volkswirte (wie Anm. 24), S. 97–138. 17

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reich Recht und Geschichte konnte man auf die Professoren Gerhard Kallen30 und Herbert Kühn31 zurückgreifen. Besonders intensiv war die Zusammenarbeit im Feld Recht und Medizin, wo sich die Professoren und Dozenten Gustav Aschaffenburg,32 Walter Brandt33 und Hans Bürger-Prinz34 betätigten. Zum gelungenen Start und zum bald errungenen Ansehen der Universität Köln hat auch die sehr aktive Selbstverwaltung der Universitätsbehörden, insbesondere aber auch der jeweiligen Dekane beigetragen. Die Liste der Dekane der Rechtswissenschaftlichen Fakultät von der Gründung bis in das Jahr 1950 umfasst folgende Namen: 1920:

Fritz Stier-Somlo

1920/21: Heinrich Lehmann (Rektor 1921/22) 1921/22: Hans Planitz (Rektor 1929/30) 1922/23: Godehard Ebers (Rektor: 1932–1933, Niederlegung des Amtes 11.4.1933) 1923/24: Godehard Ebers 1924/25: Franz Haymann 1925/26: Albert Coenders 30 1884–1969. Vgl. zu ihm Nachrufe von Theodor Schieffer in Historisches Jahrbuch 93 (1973), S.  258–260 und Erich Meuthen in Historische Zeitschrift 216 (1973), S. 522–523; Frank-Rutger Hausmann, Die Geisteswissenschaften im „Dritten Reich“, S. 691–693. 31 1895–1980. Vgl. zu ihm Konrad Fuchs, Art. „Kühn, Herbert“, in NDB 13 (1982), S. 195 f.; ders., Art. „Kühn, Herbert“ in Bibliographisch-Biographisches Kirchenlexikon 16 (1999), S. 882–885. 32 1866–1944. Vgl. zu ihm Dorothea Seifert, Gustav Aschaffenburg als Kriminologe, Freiburg 1981; Bernd Heimbüchel; Die neue Universität, Bd. 2 (wie Fn. 3), S. 190, 376, 395, 398 f., 430, 441, 464 f., 596; ders., Der Verbrecher und seine Erforscher. Die deutsche Kriminologie in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus in Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte 8 (2006/2007), S. 256–279. 33 1889–1971. Vgl. zu ihm Gerhard Wolf-Heidegger, Walter Brandt zum 75. Geburtstag in Acta Anatomica 57 (1964), S. 1–4; Rolf Ortmann, Die jüngere Geschichte des Anatomischen Instituts der Universität zu Köln 1919–1984. 65 Jahre in bewegter Zeit, Köln u.a. 1986, S. 15 und 63 ff. 34 1897–1976.  Vgl. zu ihm Jan Gross (Hrsg.), Erfahrungen vom Menschen in der ­Psychiatrie, München 1980; Hendrik van den Bussche u.a. (Hrsg.), Medizinische Wissenschaft im „Dritten Reich“: Kontinuität, Anpassung und Opposition an der Hamburger Medizinischen Fakultät, Berlin 1989, S. 82–85. 18

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1926/27: Gotthold Bohne (Rektor 1949/50) 1927/28: Hans Carl Nipperdey 1928/29: Heinrich Lehmann 1929/30: Fritz Stier-Somlo (Rektor 1925/26) 1930/31: Godehard Ebers 1931/32: Dr. Hans Planitz (Rektor 1929–1930) 1932/33: Hans Kelsen (Niederlegung des Amtes 11.4.1933) 1933/34: Hans Carl Nipperdey 1934/35: Gotthold Bohne (Rektor 1949–1951) 1935/36: Heinrich Lehmann 1936/37: Hans Planitz 1937/38: Hans Planitz 1938/39: Hans Planitz 1939/40: Hermann Jahrreiß (Rektor 1956–1958) 1940/41: Hermann Jahrreiß 1941/42: Hermann Jahrreiß 1942/43: Ernst von Hippel 1943/44: Ernst von Hippel 1944/45: Ernst von Hippel 1945/46: Hans-Carl Nipperdey 1946/47: Rudolf Schmidt 1947/48: Hermann Krawinkel 1948/49: Hans-Carl Nipperdey 1949/50: Hans-Carl Nipperdey 1950/51: Hans Peters (Rektor 1964–1965) 19

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Zu dieser Liste ist zu bemerken, dass gerade die Gründungsväter der Universität und die in der Anfangsphase tätigen Dekane wegen ihrer politischen Haltung beziehungsweise wegen ihrer jüdischen Herkunft in der Zeit des Dritten Reichs schweren Verfolgungen ausgesetzt waren. Dies gilt für Oberbürgermeister Dr.  iur. Konrad Adenauer, der am 12./13.3.1933 zum Rücktritt gezwungen wurde. Dies gilt auch für Professor Dr. iur. Christian Eckert, der am 25.9.1933 aus seinen Stellungen als Geschäftsführender Vorsitzender des Universitätskuratoriums, als Direktor des Forschungsinstituts für Sozialforschung und als Professor für Wirtschaftliche Staatswissenschaften aus dem Staatsdienst entlassen wurde. Der Gründungsdekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät Fritz Stier-Somlo wurde wegen seiner jüdischen Herkunft seit dem Ende der 20er Jahre bedrängt und entging durch einen tödlichen Verkehrsunfall im Jahre 1932 weiterer Verfolgung durch die Nationalsozialisten, die er im Jahre 1933 mit Sicherheit hätte erwarten müssen.35 Hans Kelsen wurde am 11.4.1933 zur Niederlegung seines Amtes als Dekan gezwungen; er wurde wenig später als Professor zwangsbeurlaubt und verlor seine Lehrbefugnis. Noch im gleichen Jahr musste er emigrieren. Godehard Ebers wurde am 11.4.1933 in gleicher Weise gezwungen, sein Amt als Rektor aufzugeben; er wurde 1935 zwangsbeurlaubt. Auch Franz Haymann wurde 1935 zwangsweise in den Ruhestand versetzt und musste schließlich emigrieren. Der Aderlass, den die Rechtswissenschaftliche Fakultät in den Jahren 1933 bis 1935 erlitt, war so stark, dass man den Unterricht kaum noch gewährleisten konnte. Auf die bedrückenden Ereignisse in der Zeit des Nationalsozialismus ist später noch einmal ausführlicher zurückzukommen.

2.  Die Entwicklung der Fakultät bis zum Jahre 1933 Es ist erstaunlich, dass die Studentenzahlen trotz der politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu Anfang der 20er Jahre erfreulich zunahmen und sogar mit den Zahlen der Jura-Studenten im renommierten Bonn bald Schritt halten konnten. Der Überblick36 zeigt die Zahlen der Studenten jeweils für die Sommersemester von 1920 bis 1950 an. Der Höchststand wird im Som35 Es kam sozusagen zu einer Verfolgung in effigie, da sein Rektor-Portrait nicht im Senatssaal aufgehängt, sondern am 26.6.1933 „der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur Verfügung gestellt“ wurde. Seine beiden Töchter aus 1. Ehe Clara und Helene wurden 1944 nach Auschwitz bzw. 1945 nach Theresienstadt deportiert. 36 Die Zahlen sind übernommen von Helmut Titze, Das Hochschulstudium in Preußen und Deutschland 1820–1944, Göttingen 1987, S. 97 und F.-W. Henning u.a., Statistik der Studierenden, des Lehrkörpers und der Promotionen in E. Meuthen (Hrsg.), Kölner Universitätsgeschichte, Bd. 3 (wie Fn. 20), S. 293 f. 20

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mersemester 1930 erreicht. Die Zahl der Studentinnen steigt nur zaghaft an und erreicht den Höchststand im Sommersemester 1932, um dann in der Zeit des Nationalsozialismus ständig abzunehmen. Sie nimmt in der Kriegszeit leicht zu, um dann zu Beginn der 50er Jahre deutlich zu wachsen. Semester (SoSe)

Preuß. Universitäten

Universität Köln37

1920

9.261

349 (7)

1922

10.198

625 (26)

1924

10.600

752 (23)

1926

9.920

1.086 (27)

1928

13.815

1.613 (37)

1930

13.636

1.488 (60)

1932

10.706

1.191 (75)

1934

6.388

671 (23)

1936

4.074

487 (11)

1938

2.504

298 (2)

1940/1

1.703

181 (2)

1942

105 (08)

1944

108 (16)

1946

541 (19)

1948

909 (60)

1950

1.229 (122)

37 Die Zahlen beziehen sich auf die Gesamtheit der Kölner Jura-Studenten. Die Zahl der Studentinnen darunter ist in den Klammern kenntlich gemacht. 21

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Eine Stärke der sich formierenden Fakultät lag in der Gründung von Forschungsinstituten. Auch hier muss ein knapper Überblick Institutsgründungen und ihre Direktoren genügen:38 1. DAS ALLGEMEINE JURISTISCHE SEMINAR (1919/1920): Andreas von Tuhr (1920), Heinrich Lehmann (1920–1921), Hans Lewald (1922), Fritz Stier-Somlo (1923–1924), Gotthold Bohne (1924–1927), Hans Carl Nipperdey (1928–1968) 2. SEMINAR FÜR DEUTSCHES RECHT (seit 1920): Hans Planitz u. Hans Carl Nipperdey 3. INSTITUT FÜR HANDELS-, INDUSTRIE- UND AUSLANDSRECHT (1920): Heinrich Lehmann (1920–1946), Hans Planitz (1925–1941), Hans Carl Nipperdey (1925–1950), Rudolf Schmidt (1942–1950) – Abteilung für englisches Recht (1927–1934): Hans Walter Goldschmidt 4. SEMINAR FÜR POLITIK (1919/1920–1933, aus der Hochschule für kommunale und Soziale Verwaltung übernommen: Fritz Stier-Somlo, 1932– 1932. – Nachfolger: Hans Kelsen 5. KRIMINALISTISCHES INSTITUT (1923), gegründet von Arthur Baumgarten und Gustav Aschaffenburg. – Ab 1925: Kriminalwissenschaftliches Institut: Gotthold Bohne (1923–1957), Albert Coenders (1923–1946), Gustav Aschaffenburg (1928–1934) 6. INSTITUT FÜR VÖLKERRECHT UND INTERNATIONALES RECHT (1930): Hans Kelsen (1930–1933), Fritz Stier-Somlo (1930–1932), Godehard Josef Ebers (1930–1935). – Kommiss. Direktoren: Carl Schmitt 1933; Walter Hamel (1935–1937) 7. INSTITUT FÜR KIRCHENRECHT UND RHEINISCHE KIRCHENRECHTSGESCHICHTE (1930): Godehard Josef Ebers (1930–1935), unterstützt von Joseph Lammeyer und Fritz Gescher; Ernst von Hippel (1940– 1958). Das Institut wurde 1941 geschlossen39

38 Zu den Instituten der Rechtswissenschaftlichen Fakultät vgl. Peter Peil u.a., Die akademischen Einrichtungen und ihre Leiter 1919–1987 in E. Meuthen (Hrsg.), Kölner Universitätsgeschichte, Bd. 3 (wie Fn. 20), S. 127–140. 39 Zur Geschichte des Instituts vgl. Manfred Baldus, 70 Jahre Institut für Kirchenrecht und rheinische Kirchenrechtsgeschichte, im Internet https://www.kirchenrecht. jura.uni-koeln.de/15372.html. 22

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Die Institute brachten eine große Zahl von Nachwuchswissenschaftlern hervor. Im Folgenden sollen die Habilitationen aufgelistet werden: 1920: Dr. iur. Dr. sc. pol. Hans Goldschmidt: Verwaltungsrecht, Preußische Rechtsgeschichte, Deutsches Recht 1921: Dr. iur. Dr. theol. Dr. phil. Josef Lammeyer: Kirchenrecht 1923: Dr. theol. Dr. iur. Franz Gescher: Kirchliche Rechtsgeschichte, ­Kirchenrecht, Deutsche Rechtsgeschichte 1925: Dr. iur. Dr. phil. Edmund Kloeppel: Gewerblicher Rechtsschutz 1930: Dr. iur. Rudolf Reinhardt: Bürgerliches Recht und Arbeitsrecht 1930: Dr. iur. Karl Maria Hettlage: Staats- u. Verwaltungsrecht, Finanzu. Steuerrecht 1931: Dr. iur. Karl Peters: Straf- und Strafprozessrecht 1932: Dr. iur. Rolf Dietz: Bürgerliches Recht, Handelsrecht, Arbeitsrecht 1935: Dr. iur. Hermann Conrad: Deutsche Rechtsgeschichte, Deutsches ­Privatrecht 1935: Dr. iur. Hans Welzel: Straf- und Strafprozessrecht 1938: Dr. iur. Hermann Nolte: Bürgerliches Recht u. Handelsrecht 1939: Dr. iur. Hellmut Merzdorf: Verfassungs- und Verwaltungsrecht 1946: Dr. iur Gerhard Kegel: Bürgerliches Recht, Handelsrecht, Rechts­ vergleichung 1946: Dr. iur. Hans-Jürgen Schlochauer: Völkerrecht 1947: Dr. iur. Carl Josef Hering: Kirchenrecht, Staatslehre, Rechtsphilosophie 1947: Dr. iur. Friedrich Warncke: Allgemeine Staatslehre, Staatsrecht Die Zahl der Promotionen stieg anfangs sehr langsam, erreichte dann mit dem Wachsen der Studentenzahlen im Sommersemester 1933 einen ersten Höhepunkt mit 109 Dissertationen.40 In den Anfangsjahren des Nationalsozialis40 Einen Überblick über die Zahl der abgeschlossenen Dissertationen bietet F.-W. Henning u.a., Statistik der Studierenden, des Lehrkörpers und der Promotionen in E. Meuthen (Hrsg.), Kölner Universitätsgeschichte, Bd.  3 (wie Fn.  20), Tab.  18, S. 364–366. 23

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mus blieben die Zahlen hoch, wobei sich ohne Zweifel darunter auch einige „Blut- und-Boden“-Dissertationen oder Arbeiten befanden, die sich dem unguten Stil der Zeit des Nationalsozialismus allzu sehr angepasst hatten.41 Für den Geist einer Fakultät zeugen insbesondere auch die vorgenommenen Ehrenpromotionen. Die von der Fakultät der Universitätsleitung ausgewählten Persönlichkeiten sind ohne Ausnahme dieser Auszeichnung würdig gewesen. Es handelt sich um Gründer und Förderer der Universität und um anerkannte Forscher. Einer der Gehrten war ein herausragender Künstler (Erwin Fischer): 1921: Geh. Regierungsrat Professor Karl Duisberg42 (Leverkusen), Reichsarbeitsminister Heinrich Brauns43 (Berlin) und Professor Philipp Lotmar44 (Bern) 1922: Prof. Dr. Fritz Hartung45 (Kiel, Historiker) und Dr. Konrad Adenauer46 1925: Wilhelm von Crayen (Berlin, Walter de Gruyter-Verlag)

41 Als Beispiel sei genannt Ferdinand Sieger, Die künstlerische Entlehnung im deutschen Urheberrecht, Diss. iur. Köln 1936. Gutachter waren Albert Coenders und Hans Planitz. Vgl. zu seiner Arbeit, die fachlich etwas bietet, aber durch NS-Zitate der Zeit angepasst wurde, Irmtraud Götz von Olenhusen/Albrecht Götz von Olenhusen, „Nazisuppe“ oder: Pathologien der Erinnerung. Thomas Bernhards Dramen und die Geschichtskultur in literaturkritik.de, Ausgabe 8/2013, Anm. 61 u. 67 [https://​ literaturkritik.de/id/18202]. Sieger (1912–1996) war nach 1945 ein anerkannter Fachanwalt für Urheberrechtsfragen. 42 Werner Plump, Carl Duisberg 1861–1935. Anatomie eines Industriellen (Historische Bibliothek der Gerda-Henkel-Stiftung), München 2016. 43 Markus Lingen, Art. „Brauns, Heinrich“ in Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL) 17, Herzberg 2000, Sp. 175–184; Hubert Mockenhaupt, Heinrich Brauns (1868–1939) in Rheinische Lebensbilder. Band 4, Köln 1982, S. 211– 232. 44 Catherine Antoinette Gasser, Philipp Lotmar 1850–1922, Professor der Universität Bern, Frankfurt a.M. 1997. 45 Gerhard Oestreich, Fritz Hartung als Verfassungshistoriker (1883–1967) in Der Staat, Jg. 7 (1968), S. 447–469; Hans-Christof Kraus, Verfassungslehre und Verfassungsgeschichte – Otto Hintze und Fritz Hartung als Kritiker Carl Schmitts in Dietrich Murswiek u.a. (Hrsg.), Staat – Souveränität – Verfassung. Festschrift für Helmut Quaritsch zum 70. Geburtstag, Berlin 2000, S. 637–661. 46 Alle Kölner Fakultäten statteten dem Universitätsgründer durch Verleihung der Ehrendoktorwürde ihren Dank ab. 24

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1927: Kommerzienrat Alfred Neven Du Mont47 (Köln), Justizrat Hugo ­Mönnig48 (Köln) und Professor J. de Louter49 (Völkerrechtler, Hilversum) 1928: Edwin Fischer50 (Berlin, Schweizer Pianist) 1930: Walther Froelich,51 OLGRat in Köln, später RGRat 1934: Hugo Schäffer,52 Präsident des Reichsversicherungsamtes 1938: Prof. Dr. Dionisio Anzilotti,53 Universität Rom (Intern. Recht) 1938: Prof. Dr. Rudolf Meissner,54 Universität Bonn (Germanist) 1938: Prof. Dr. Olivier-Martin,55 Universität Paris (Rechtshistoriker)

3.  Die Zeit des Nationalsozialismus 3.1.  Die Machtergreifung Schon Ende der 20er Jahre radikalisierte sich ein Teil der Studentenschaft.56 Es kam zu ersten antisemitischen Angriffen auf die Professorenschaft. So wurde am 15.11.1929 von nationalsozialistischen Studenten ein Flugblatt verbreitet, in dem es hieß: „Können Sie, Herr Kommilitone, diese Dinge begreifen, wenn Sie wissen, daß von 4 Dekanen der Universität 2 Dekane jüdischer Rasse (Professor Stier-Somlo, Professor Aschaffenburg) sind?“ Betroffen waren zwei Professoren, die der Rechtswissenschaftlichen Fakultät angehörten bzw. mit ihr 47 Ulrich S. Soénius, Art. „Neven DuMont, Alfred Eduard Maria“ in NDB 19, Berlin 1999, S. 191. 48 Everhard Kleinertz, Art. „Mönnig, Hugo“ in NDB 17, Berlin 1994, S. 662–664.  49 Vgl. zu ihm https://de.wikipedia.org/wiki/Jan_de_Louter. 50 Vgl. zu ihm de.wikipedia.org/wiki/Edwin_Fischer. 51 Vgl. zu ihm https://de.wikipedia.org/wiki/Walther_Froelich. 52 https://www.historikerkommission-reichsarbeitsministerium.de/Biografien/Hugo-Schaeffer. 53 K.-H. Lingens, Art. „Anzilotti, Dionisio (1869–1950) in Michael Stolleis (Hrsg.), ­Juristen. Ein biographisches Lexikon. Von der Antike bis zum 20.  Jahrhundert. München 1995, S. 38 f. 54 Art. „Rudolf Meissner“ in Christoph König (Hrsg.), Internationales Germanistenlexikon 1800–1950. Band 2, Berlin u.a. 2003, S. 1195–1196. 55 Wilhelm Enßlin, Art. „Francois Marie Olivier-Martin“ in https://www.badw.de/­ fileadmin/nachrufe/Olivier-Martin%20Francois%20Marie.pdf. 56 Zum Folgenden vgl. Bernd Heimbüchel, Die Neue Universität, Bd. 2 (wie Anm. 3), S. 583–392; Frank Golczewski, Kölner Universitätslehrer (wie Anm. 21), S. 44–76. 25

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eng verbunden waren. Da die Übergriffe dieser Art zunahmen, erließen Rektor Hans Planitz und der Senat am 17./19.2.1930 ein Verbot der Hochschulgruppe „Nationalsozialistischer Deutscher Studentenbund“ für die Dauer eines Jahres. Als die Rektorwahl für die Periode 1930/31 vorbereitet wurde, sah sich am 3.7.1932 Professor Aschaffenburg wegen antisemitischer Angriffe gezwungen, seine Kandidatur zurückzuziehen. Am 8.3.1933 hissten nationalsozialistische Studenten unter Protest des Rektors Ebers auf der Universität die Hakenkreuzfahne. Der schamlose Überfall am 31.3.1933 von SA- und SS-Leuten auf „jüdisch“ aussehende Juristen im Justizgebäude am Reichensperger-­ Platz war ein Menetekel für das, was bald kommen sollte. Die Machtergreifung durch Adolf Hitler am 30.1.1933 ergriff sehr bald auch die Organisation der Universität. Leider ist festzuhalten, dass die von den neuen Machthabern geplante und dann flächendeckend durchgeführte Gleichschaltung der Universitäten in Köln voreilig vorweggenommen wurde. Am 4.4.1933 wurde Rektor Godehard Ebers durch einen Kreis von Professoren unter Leitung des neuen, von den Nationalsozialisten eingesetzten Staatskommissars Dr. rer. pol. Winkelnkemper zum Rücktritt aufgefordert. Nach Zögern kündigt Ebers seinen Rücktritt für den 11. April an. Als neuer Rektor wurde der Mediziner Professor Ernst Leupold (1884–961, Mitglied der NSDAP seit 1923) gewählt. Wie es zu dieser Aktion kam, geht aus dessen Aufzeichnungen hervor:57 „In einer zweistündigen Unterredung [Mittwoch 5.4.1933] besprachen wir [Dekan der Med. Fak. Ernst Leupold und der für die Universität nun zuständige Staatskommissar Dr.  Peter Winkelnkemper, gleichzeitig Chefredakteur des ‚Westdeutschen Beobachters‘] die Personalien und grundsätzlichen Universitätsfragen. Donnerstag, den 6.  abends um 7 ½ Uhr hatten wir [u.a. die Professoren Geldmacher, Nipperdey, Heimsoeth, Thorbecke] im Rathaus eine vertrauliche Besprechung  […] Im Vordergrund stand die Frage, welche von den Professoren abzubauen seien. […]. Wesentlich war die Erkenntnis,  […] daß der Rücktritt von Ebers [als Rektor] unaufschiebbar sei […] Nach langer Debatte konnten wir [Samstag 8. April, Teilnehmer: Ebers, Geldmacher, Nipperdey und Planitz] die Bedenkens des Rektors zerstreuen, nachdem ich vorgeschlagen hatte, daß außerdem die vier Dekane und der ganze Senat zurücktreten sollten. Es wurde der offizielle Rücktritt auf Dienstag, den 11. April festgelegt…“

Und so geschah es: Am 11.4.1933 traten Rektor und Dekane von ihren Ämtern zurück. Die neuen Amtsträger wurden am gleichen Tag gewählt. Neuer Rektor der Universität wurde Dr. med. Ernst Leupold, neuer Dekan der Rechtswis57 Aus den Aufzeichnungen des ersten nationalsozialistischen Rektors Ernst Leupold vom April 1933 [Universitätsarchiv Köln Zugang 67/159], hier zitiert nach Bernd Heimbüchel, Die Neue Universität, Bd. 2 (wie Fn. 3), S. 590. 26

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senschaftlichen Fakultät wurde Hans Carl Nipperdey. Die Alma Mater Colo­ niensis hat sich am 11.4.1933 als erste deutsche Universität „freiwillig“ gleichgeschaltet. 3.2.  Personelle Veränderungen Der NS-Staat führte die brutale Umformung der Gesellschaft bekanntlich auf „legalem“ Weg durch. Schlag auf Schlag ergingen Gesetze und Verordnungen, die auch die Organisation und die Struktur der Universitäten veränderten. Verhängnisvoll waren insbesondere: 7.4.1933: Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums; 25.4.1933: Gesetz gegen Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen; 21.1.1935: Gesetz über die Entpflichtung und Versetzung von Hochschullehrern; 15.9.1935: Reichsbürgergesetz; 15.9.1935: Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre; 26.1.1937: Deutsches Beamtengesetz. Von diesen Unrechtsgesetzen waren Professoren, Assistenten und Studenten, aber auch Mitarbeiter der Universitätsverwaltung betroffen. Als erstes traf es Professoren, die auf Grund ihrer jüdischen Herkunft oder ihrer politischen Einstellung aus der Universität gedrängt wurden. Sie sollen hier in der zeitlichen Reihenfolge der Verdrängung kurz vorgestellt werden. 3.2.1. Als Erster musste Hans Kelsen58 die Universität verlassen. Es hatte große Mühe gekostet, den berühmten Staatsrechtslehrer aus Wien nach Köln zu locken. Zum 15.10.1930 konnte er endlich als ordentlicher Professor für Völkerrecht nach Köln berufen werden. Im Studienjahr 1932/33 war er Dekan, doch konnte er sein Amt nicht bis zum Ende führen, denn bereits am 12.4.1933 wurde er zwangsweise beurlaubt und verlor am 11.9.1933 seine Lehrbefugnis. Aus Sorge um sein Leben hat er Köln sehr schnell verlassen. Über Genf, Prag und wieder Genf konnte er noch bis 1940 in Europa arbeiten. Dann emigrierte er in die USA, wo er zunächst als Lecturer in Harvard tätig war und dann als Professor nach Berkeley (Kalifornien) wechselte. Sein Weggang bedeutete auch für die Rechtswissenschaftliche Fakultät einen schweren Schlag. Dekan Nipperdey wandte sich im Namen der Fakultät mit einem sehr engagierten Schreiben vom 18.4.1933 an das Ministerium in Berlin. Es heißt hier u.a.:59

58 Horst Dreier, Hans Kelsen (18811973) in Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts: Deutschland  – Österreich  – Schweiz, hrsg. von Peter Häberle u.a., Berlin 2015, S. 281–303. 59 Abdruck in Hans-Jürgen Becker, 600  Jahre Rechtswissenschaft in Köln. Aus der Geschichte der Rechtswissenschaftlichen Fakultät, in: Festschrift der Rechtswis27

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„Eine Verabschiedung Professor K.s wäre nicht nur ein empfindlicher Verlust für die Universität Köln, sondern auch eine Schädigung des Ansehens der deutschen Wissenschaft. Die Fakultät bittet daher, die vorläufig verfügte Beurlaubung von Professor K. nicht in eine endgültige Maßnahme übergehen zu lassen, ihn vielmehr in seinem Lehramt zu belassen.“

Alle Professoren, mit Ausnahme von Carl Schmitt, unterzeichneten diese Petition, 60 doch hatte sie keinerlei Erfolg. 3.2.2. Fast gleichzeitig mit Kelsen ist auch Alfred Wieruszowski61 aus der Fakultät ausgeschieden. Er war, obgleich er seinem jüdischen Glauben treu geblieben war, im Justizdienst bis zum Senatspräsidenten am OLG in Köln aufgestiegen. Die Universität Bonn hatte ihm anlässlich der 100-Jahrfeier 1919 den juristischen Ehrendoktor verliehen. Von 1920 an hielt er bis 1933 Vorlesungen im Bereich des Zivilrechts. In Anerkennung seiner Verdienste um die Fakultät wurde er 1920 zum Honorarprofessor ernannt. Als er im April 1933 auf dem Weg zur Vorlesung war, stieß er auf ein Plakat62 mit den Worten „Der Jude kann nur jüdisch denken. Schreibt er deutsch, dann lügt er.“ Von dieser antisemitischen Sudelei war er so schockiert, dass er umgehend um seine Beurlaubung bat und seine Vorlesung einstellte. Unter schwierigen Bedingungen senschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität Köln, Köln u.a. 1988, S. 3–30, hier S. 23–26. 60 Der Name von Carl Schmitt war zwar maschinenschriftlich aufgeführt worden, jedoch fehlt hier die Unterschrift. In seinen Tagebüchern führt Schmitt dazu am Dienstag, 18.4.1933 aus: „Um ½ 9 kam Nipperdey. Er reist wegen Kelsen nach Berlin, ich unterschrieb die lächerliche Eingabe der Fakultät nicht, elende Gesellschaft, sich für einen Juden derartig einzusetzen, während sie tausend anständiger Deutscher kaltblütig verhungern und verkommen lassen. Brief von Herlitz aus Stockholm [Nils Herlitz, 1888–1978, Historiker und Staatsrechtler] wegen Kelsen. Diese Macht der Juden, hielt mich aus der Sache heraus. Nipperdey ist vielleicht auch Jude, das Ganze war mir unangenehm.“ Notiz zum Donnerstag, 20.4.1933: „[…] Dann zu Nipperdey, der von Berlin zurück war, anscheinend nichts ausgerichtet und sein Schreiben jedenfalls nicht überreicht hat. […] nett unterhalten, über Juden (was Nipperdey anscheinend peinlich war). […]“. Die Zitate aus Carl Schmitt, Tagebücher 1930–1934, hg. von Wolfgang Schuller in Zusammenarbeit mit Gerd Giesler, Berlin 2010, S. 283 und 284. 61 Hans-Jürgen Becker, Alfred Ludwig Wieruszowski (1857–1945). Richter, Hochschullehrer, Goetheforscher in Helmut Heinrichs u.a. (Hrsg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, München 1993, S. 403–413. 62 Es handelt sich um ein Plakat der Deutschen Studentenschaft mit der Überschrift „Wider den undeutschen Geist“, das im Zusammenhang mit der Aktion der Bücherverbrennung verbreitet wurde. Die 5. These lautet: „Der Jude kann nur jüdisch denken. Schreibt er deutsch, dann lügt er […]“ 28

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lebte er weiter in Köln und musste stets befürchten, deportiert zu werden. Im Oktober 1944 konnte er mit Hilfe seiner zweiten Frau Frieda Fischer-Wieruszowski, geb. Bartdorff, und einiger freundlicher Menschen in Richtung Berlin entfliehen, wo er am 9.2.1945 im jüdischen Krankenhaus verstorben ist. 3.2.3. Auch Hans Walter Goldschmid,63 ein jüngerer Bruder des in Berlin wirkenden Professors für Prozessrecht James Goldschmidt, war im Justizdienst aufgestiegen. Er war 1905 in Berlin zum Dr. iur. promoviert worden und erwarb 1908 noch den Dr. rer. pol. Neben seinem richterlichen Dienst arbeitete er wissenschaftlich und wurde im Jahre 1920 der erste Habilitand der Kölner Rechtswissenschaftlichen Fakultät mit der Schrift „Eigentum und Eigentums­ teilrechte in ihrem Verhältnis zur Sozialisierung“. 1925 wurde er zum Honorarprofessor ernannt. Neben seiner Haupttätigkeit als OLG-Rat hielt er von 1920 bis 1933 Vorlesungen in den Gebieten Verwaltungs- und Wirtschaftsrecht, Preußische Rechtsgeschichte und Englisches Recht. Auf Grund seiner jüdischen Herkunft wurde ihm am 20.9.1934 die Lehrbefugnis entzogen. Er emigrierte nach England, doch wurde er zu Kriegsbeginn interniert. Als „Enemy Alien“ wurde er zusammen mit anderen Emigranten von England nach Kanada verschifft. Sein Schiff, die „Andora Star“, wurde aber am 2.7.1940 torpediert und ging unter. Seit dieser Zeit gilt er als im Atlantik verschollen. 3.2.4. Godehard Ebers64 war ao. Professor in Münster und wurde als Vertreter des Öffentlichen Rechts 1919 an die in Gründung begriffene Rechtswissenschaftliche Fakultät berufen. Er begründete 1931 das Institut für Kirchenrecht und rheinische Rechtsgeschichte. In den Jahren 1923/24 und 1930/31 war er Dekan, im Jahr 1932/33 Rektor der Universität. Nachdem er bereits als Dekan zum Rücktritt gezwungen worden war, wurde sein Lehrstuhl am 12.9.1935 aufgehoben und er selbst zum 30.9.1935 zwangsweise emeritiert. Zunächst konnte er seinen wissenschaftlichen Weg in Innsbruck fortsetzen, wohin er zum Wintersemester 1936/37 berufen wurde. Aber gleich nach dem „Anschluss“ Österreichs wurde er im März 1938 inhaftiert, später beurlaubt und im Mai 1938 in den Ruhestand versetzt. Erst nach 1945 konnte er wieder als Professor in Innsbruck wirken. Von 1946 bis 1950 war er Mitglied des österreichischen Verfassungsgerichtshofs.

63 Immo Eberl u.a. (Hrsg.), 150  Jahre Promotion an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen. Biographien der Doktoren, Ehrendoktoren und Habilitierten 1830–1980 (1984), Stuttgart 1984, Nr. 348, S. 108 f. 64 Alexander Hollerbach, Über Godehard Josef Ebers (wie Fn. 9). 29

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3.2.5.  Franz Haymann65 war zunächst Richter, bis er sich in Frankfurt am Main 1907/08 mit einer Arbeit über „Zur Grenzziehung zwischen Schenkung und entgeltlichem Geschäft“ habilitierte. Nach Professuren in Frankfurt am Main und Rostock wurde er 1923 als ordentlicher Professor nach Köln (Nachfolge von Hans Lewald) berufen. Seit dem Wintersemester 1923/24 hielt er Vorlesungen in den Gebieten Bürgerliches Recht, Versicherungsrecht, Römische Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie. Im Studienjahr 1924/25 war er Dekan. Wegen seiner jüdischen Herkunft wurde er zum 30.9.1935 zwangsweise emeritiert. Er konnte nach England emigrieren und starb 1947 in Oxford. 3.2.6. Ludwig Waldecker66 war 1911 in Gießen bei Fritz von Calker promoviert worden. 1913 konnte er sich in Berlin bei Otto von Gierke habilitieren. Sein Weg führt ihn 1921 nach Königsberg, wo er ordentlicher Professor für Öffentliches Recht und Steuerrecht wurde. 1929 nahm er einen Ruf an die ­Universität Breslau an. Im Zusammenhang mit dem „Fall Cohn“ und den Auseinandersetzungen im Gefolge des sog. Preußenschlags kam es in seinem Dekanat an der Universität zu Unruhen, die von rechtsgerichteten und nationalsozialistischen Studenten geschürt waren. Das Ministerium in Berlin gewährte ihm nur unzureichenden Schutz und zog ihn aus der „Stosstruppfakultät Breslau“ ab. Waldecker wurde zunächst beurlaubt und dann 1934 nach Köln versetzt, wo man ihn, den man nicht gerufen hatte, kühl aufnahm. Schon am 30.9.1935 wurde Waldecker zwangsweise emeritiert. Nachdem er in Köln nur unzureichend versorgt war, zog er nach Leipzig um. Seine Hoffnung, hier nach Kriegsende 1945 eine Anstellung zu finden, ging nicht in Erfüllung. Nach Krankheit und Entbehrungen verstarb er am 8.5.1946 in Leipzig. 3.2.7. Für die Ausbildung der jungen Juristen, insbesondere zur Vorbereitung auf das Erste Staatsexamen, waren auch in Köln Repetitoren tätig, sehr zum Verdruss der Universitätsprofessoren. Einen besonders guten Ruf hatte bei den Studenten Rechtsanwalt Dr. iur. Viktor Loewenwarter67 (1887–1973). Er war ab 1920 Rechtsanwalt am OLG Köln, war aber vor allem als erfolgreicher Autor von Lehrbüchern („Das BGB in der Rechtsprechung der Gegenwart“) und als gesuchter Repetitor tätig. Obgleich er als „Frontkämpfer“ das gesetzliche 65 Emilio Betti, Nachruf auf Franz Haymann in Bullettino dell’Istituto di Diritto romano 51/52, Rom 1948, S. 430431; Hans Carl Nipperdey, Nachruf auf Franz Haymann in Süddt. Juristenzeitung 1949, S. 586. 66 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd.  3 und Bd.  4, München 1999 und 2004, Register. 67 Otto Geudtner u.a., … nicht mehr zugelassen. Das Schicksal des Kölner Juristen Victor Loewenwarter, Köln 1995; Klaus Luig,  … weil er nicht arischer Abstammung ist. Jüdische Juristen in Köln während der NS-Zeit, Köln 2004, S. 265–267. 30

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„Privileg“ hatte, trotz seiner jüdischen Abstammung noch über das Jahr 1933 hinaus tätig sein zu dürfen, entzog man ihm 1933 die Zulassung als Rechtsanwalt. Er musste nach Chile emigrieren und starb 1973 in Santiago de Chile. 3.3.  Doktoranden und ihre Schicksale Selbstverständlich waren auch Assistenten und Doktoranden von den Verfolgungsmaßnahmen betroffen. Dies soll an wenigen Beispielen erläutert werden, Bei Hans Kelsen promovierten u.a. Hans Hermann Herz (1908–2005; seit 1939 John H. Herz) 1931 zum Thema „Die Identität des Staates“ und Alphons Silbermann (1909–2000) 1933 zum Thema „Haftung und Wiedergutmachung im Völkerrecht“. Beide mussten kurze Zeit später emigrieren. Bei Fritz Stier-Somlo promovierte 1930 Hans Mayer (1907–2001) zum Thema „Die Krisis der deutschen Staatsrechtslehre und die Staatsauffassung von Rudolf Smend“. Auch er konnte sich mit Mühe ins Ausland retten. Bei Albert Coenders und Gotthold Bohne wurde, nachdem sich Carl Schmitt verweigert hatte, Ossip K. Flechtheim (1909–1998) noch 1934 mit einer Arbeit zum Thema „Hegels Strafrechtstheorie“ promoviert. Ebenso wie seine Studienkollegen musste auch er sein Heil in der Emigration suchen. Andere Doktoranden erlitten das Schicksal, dass ihnen ihr Doktortitel nachträglich aberkannt wurde.68 In der rechtswissenschaftlichen Fakultät traf dieses Unrecht Bloch, Reinhard (Prom. am 27.10.1924), Boch, Theodor (10.6.1932), Flechtheim, Ossip K. (9.2.1934), Herrmann, Heinz (24.6.1932), Kahn, Heinz (27.7.1923), Kohlen, Karl-Erich (2.12.1932), Kötter, Walter (1.7.1921), Levy, Ernst (9.2.1923), Löwendahl, Hans Adolf (27.7.1932), Mayer, Hans (17.7.1930), Meininghaus, Max (25.2.1921), Mennen, Hermann-Josef (13.12.1929), Neugarten, Fritz (30.6.1933), Philipp, Hans Gotthold (27.7.1932), Schlesinger, ­Erich (25.7.1924), Schütz, Georg (15.7.1932), Werr, Friedrich (8.2.1935). Vermutlich gehören auch Herz, Hans Hermann (1931) und Falk, Ernst (29.7.1924) zu den Betroffenen. Alphons Silbermann musste 1933 noch vor Drucklegung seiner Arbeit so überstürzt emigrieren, dass ihm seine Doktorurkunde erst 1965 vom damaligen Dekan Ulrich Klug ausgehändigt werden konnte.

68 Vgl. hierzu Margit Szöllösi/Andreas Freitäger, „Doktorgrad entzogen! Aberkennung akademischer Titel an der Universität Köln 1933 bis 1945, Wissen 2005. – Der Rektor der Universität zu Köln Prof. Dr. Axel Freimuth sprach in einem Festakt am 12.12.2005 offiziell die Wiederzuerkennung der zu Unrecht entzogenen Doktortitel aus. 31

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3.4.  Das Semester des Carl Schmitt im Sommer 1933 In der Gründungsphase der Universität herrschte die Vorstellung, durch Berufungen von Professoren mit unterschiedlichen Standpunkten könne ein weltanschaulicher und wissenschaftlicher Pluralismus gefördert werden. 69 Diese Vorstellung mag mitgewirkt haben, als nach dem Tod von Fritz Stier-Somlo der Lehrstuhl für öffentliches Recht neu zu besetzen war. Seit 1925 hatte sich die Fakultät um die Errichtung einer neuen staatrechtlichen Professur bemüht. Es sollte aber noch bis 1930 dauern, bis der neue Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Allgemeine Staatslehre und Rechtsphilosophie“ mit Professor Hans Kelsen besetzt werden konnte. Die Fakultät war stolz darauf, mit Kelsen einen „überall als erste Autorität anerkannten Geist“ gewonnen zu haben. 1932 war Fritz Stier-Somlo bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Er wurde in der Vorlesung Öffentliches Recht zunächst durch Hans Peters, damals Beamter im Preußischen Kultusministerium, vertreten. Bei der Suche nach einem geeigneten Nachfolger70 entwarf man zunächst eine Dreier-Liste mit den Namen Walter Jellinek (Hamburg), Karl Rothenbücher (München) und Carl Schmitt (Berlin); doch sollte in erster Linie mit Carl Schmitt verhandelt werden. Der Kuratoriumsvorsitzende Konrad Adenauer äußerte Bedenken gegen Schmitt, der einen schwierigen Charakter habe; auch müsse man auf dessen Verhältnis zu Kelsen achten. Nipperdey setzte sich stark für Schmitt ein, der „unbestritten weitaus der bedeutendste Staatsrechtler Deutschlands“ sei. Es kam nun entscheidend auf das Votum von Kelsen an. Schmitt sorgte sich, ob Kelsen sich gegen ihn stellen würde. Anlässlich eines Besuchs von Carl Schmitt in Köln trafen sich die beiden am 31.10.1932; man kam gut miteinander aus. Nachdem Schmitt den Ruf nach Köln erhalten hatte, dankt Dekan Hans Kelsen seinem neuen Kollegen ausdrücklich in einem Brief vom 15.11.1932 für die Annahme des Rufes. Man sprach sich wegen der Vorlesungszeiten ab. Die Erwartung der Kölner Fakultät schien in Erfüllung zu gehen: Nun hatte man zwei der angesehensten Staatsrechtler für Köln gewinnen können, die ganz unterschiedliche Auffassungen vertraten. Nipperdey schreibt

69 Bernd Heimbüchel, Die Neue Universität, Bd. 2 (wie Fn. 3), S. 530 ff. und S. 574 ff. 70 Zum Folgenden Bernd Heimbüchel, Die Neue Universität, Bd.  2 (wie Anm.  3), S.  453–461; Reinhard Mehring, Carl Schmitt (1888–1985): Sinnwandel eines Semesters – vom Agon mit Kelsen zum Probelauf des „Kronjuristen“ in Steffen Augsberg und Andreas Funke (Hg,), Kölner Juristen (wie Fn. 5), S. 137–161 [Nachdr. in ders., Kriegstechniker des Begriffs. Biographische Studien zu Carl Schmitt (Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 78), Tübingen 2014, S. 73–98]. 32

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stolz an Eckert, dass die beiden Professoren Köln auf dem Gebiet des Öffentlichen Rechts zur ersten Universität Deutschlands machen würden. Es sollte ganz anders kommen. Denn Kelsen wurde auf Grund des Berufsbeamtengesetzes bereits am 12.4.1933 beurlaubt; seine Lehrbefugnis wurde ihm am 11.9.1933 entzogen. Als Carl Schmitt am 18.4.1933 wegen des beginnenden Sommersemesters in Köln eintraf, war Kelsen bereits aus Sorge um sein Leben abgereist.71 Für Carl Schmitt begann nun eine sehr hektische Zeit, in der er sich dem Nationalsozialismus zuwendete, Parteimitglied der NSDAP wurde und seinem ausgeprägten Antisemitismus freien Lauf ließ. Carl Schmitt hielt in diesem Sommersemester 1933 viele Vorträge im „neuen Geist“, die vom „Westdeutschen Beobachter“, dem amtlichen Organ der NSDAP, abgedruckt oder ausführlich kommentiert wurden. Am 20.6.1933 hielt er seine Antrittsvorlesung zum Thema „Reich – Staat – Bund“,72 am 11. Juli wurde er von Göring in den Preußischen Staatsrat aufgenommen. Aber in Köln, das für ihn zu weit von den Machtzentren des Dritten Reichs entfert war, hielt es ihn nicht mehr. Ihn erreichten Anfragen der Universitäten in Heidelberg und München, doch nahm er dann den Ruf nach Berlin, den er am 1.9.1933 erhalten hatte, schon eine Woche später an. Reinhard Mehring urteilt:73 „Das Kölner Intermezzo brachte seinen Aufstieg in die Rolle des Kronjuristen: gesetzgeberisch beratendes Wirken, Kontakte zur NS-Führung, große Publicity, Genugtuung und Rache für Leipzig, Triumph über akademische Rivalen, Machtpositionen in der Zukunft, Karriere und Hoffnungen auf eine Nähe zum ‚Führer‘.“ 3.5.  Der Wandel der Studienordnung Auch wenn die Universität schon im April 1933 gleichgeschaltet worden war, blieb der Vorlesungsbetrieb davon zunächst noch wenig berührt. Es galt noch unverändert die alte Ausbildungsordnung.74 Einen ersten Einschnitt brachte 71 Die Behauptung von Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen, Bd. 1, Frankfurt a.M. ²1985, S. 144, Schmitt habe bei seinem Eintreffen in Köln „als erstes die sofortige Entlassung des Juden und Marxisten Hans Kelsen“ gefordert, trifft nicht zu. Zu diesem Zeitpunkt war Kelsen bereits in den Ruhestand versetzt worden und hielt sich nicht mehr in Köln auf. 72 Abdruck in Carl Schmitt, Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar, Genf, Versailles: 1923–1939, Hamburg 1940, Nr. 22, S. 190–198. 73 Reinhard Mehring, Kriegstechniker des Begriffs (wie Fn. 70), S. 98. 74 Ausbildungsordnung für das rechtwissenschaftliche. Studium 11.8.1923, JMBl S. 588 und 589; Reform der Ausbildungsverordnung durch AV vom 19./20.6.1929, JMBl 182 und S. 183. 33

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die Justizausbildungsordnung des Reichs vom 22.7.1934:75 Der gesamte Bildungsgang des Juristen soll nun von der nationalsozialistischen Weltanschauung geprägt sein. Der Fächerkanon im engeren Fachgebiet entsprach aber gem. § 5 im Wesentlichen der bisherigen Auswahl. Eine grundlegende Änderung war dann mit den Richtlinien für das Studium der Rechtswissenschaft vom 18.1.1935 (sog. Eckhardtsche Studienreform)76 angestrebt worden: Die alte Einteilung des Lehrstoffes nach Fächern (Rechtsgeschichte, Zivilrecht, Öffentliches Recht u.s.w.) wurde aufgegeben. Gliederungspunkte sind, inspiriert durch die neue Lehre vom „konkreten Ordnungsdenken“, u.a. Volk (Unterpunkte u.a. Volk und Rasse, Sippenforschung), Stände, Staat, Rechtsverkehr, Rechtschutz u.s.w. „Bauer“ heißt es nun statt Landwirtschaftsrecht, „Arbeiter“ statt Arbeitsrecht, „Unternehmer“ statt Unternehmensrecht, „Boden“ statt Immobilienrecht, „Ware und Geld“ statt Kaufrecht und Sachenrecht. Auch in Köln wurde das Vorlesungsverzeichnis entsprechend umgestaltet. In jedem Vorlesungsverzeichnis wurde außerdem ein Faksimile des neuen amtlichen Studienplans (einschließlich der Stundenzahlen) beigefügt. Man darf aber annehmen, dass  – von wenigen Spezialvorlesungen, etwa zum Thema „Rasse“ abgesehen  – die Professoren in der Regel ihre alten Vorlesungsmanuskripte unter den neuen Überschriften vortrugen. 3.6.  Neuberufungen und das sich anbahnende Ende der NS-Zeit Da viele Professoren aus politischen bzw. rassistischen Gründen ausscheiden mussten, kam immer wieder die Frage auf, ob der Vorlesungsbetrieb noch aufrecht erhalten werden könne. Die tiefgreifenden Veränderungen im Lehrkörper sollen durch einen Vergleich der jeweiligen Personalsituation im Sommersemester 1933 und im Sommersemester 1938 deutlich gemacht werden: Sommersemester 1933: Dekan Hans Kelsen (Absetzung April 1933) Ordentliche Professoren: Heinrich Lehmann, Hans Planitz, Godehard Josef Ebers (zwangsemeritiert 1935), Hans Kelsen (zwangsemeritiert 1933), Franz Haymann (zwangsemeritiert 1935), Albert Coenders, Carl Schmitt (1933 nach Berlin berufen), Gotthold Bohne, Hans Carl Nipperdey

75 RGBl I 1934, 727–736. 76 DWEV 1, 1935, S.  48–50.  Verfasser der neuen Studienordnung war Professor Dr.  iur. Karl August Eckardt (1901–1979), der gleichzeitig eine erläuternde Broschüre publizierte: Das Studium der Rechtswissenschaft (Der deutsche Staat der Gegenwart 11), Hamburg 1935. 34

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Honorarprofessoren: Alfred Wieruszowski (in den Ruhestand versetzt 1933), Hubert Graven, August Adenauer, Arthur Brand (Ruhestand 1935) Außerordentliche Professoren: Hans Goldschmidt (Entzug der Lehrbefugnis 1934), Joseph Lammeyer77 Privatdozenten: Karl Maria Hettlage,78 Rudolf Reinhardt,79 Karl Peters,80 Rolf Dietz81 Lehrbeauftragte: Georg Hellwig, Erich Röhrbein Sommersemester 1938: Dekan: Hans Planitz (1941 nach Wien berufen) Ordentliche Professoren: Heinrich Lehmann, Hans Planitz, Albert Coenders, Ludwig Waldecker (1934 nach Köln versetzt, 1935 zwangsemeritiert), Gotthold Bohne, Hans Carl Nipperdey, Hermann Jahrreiss, Gustav Adolf Walz (von Breslau 1938, nach München berufen 1939) Honorarprofessoren: Hubert Graven, August Adenauer, Karl Becker Außerordentliche Professoren: Joseph Lammeyer Privatdozenten: Karl Peters, Hermann Conrad82 Lehrbeauftragte: Ernst Friesenhahn,83 Gustav W. Heinemann,84 Carl Murhard, Erich Röhrbein 77 1870–1932. Nikolaus Hilling, Nachruf auf Joseph Lammeyer in Archiv für katholisches Kirchenrecht 123 (1944/48), S. 104 f. 78 1902–1995.  Klaus Vogel, Karl Maria Hettlage zum 90.  Geburtstag in Archiv des öffentlichen Rechts 117 (1992) S. 644–645. 79 1902–1976. Erich Schwinge, Rudolf Reinhardt – Sein Leben und Wirken in Festschrift für Rudolf Reinhardt zum 70.  Geburtstag 7.6.1972, hrsg. von Klemens Pleyer, Köln 1972, S. 1–12. 80 1904–1998. Klaus Tiedemann, Art. „Peters, Karl Albert Josef “ in NDB 20 (2001), S. 241 f. 81 1922–1971. Reinhard Richardi, Rolf Dietz in Juristen im Portrait. Festschrift zum 225jährigen Jubiläum des Verlages C. H. Beck, München 1988, S. 250–260. 82 1904–1972.  Karl S.  Bader, Gedenkrede für Hermann Conrad (1904–1972) in ­Joachim Rückert u. Dietmar Willoweit (Hrsg.), Die Deutsche Rechtsgeschichte in der NS-Zeit, Tübingen 1995, S. 327–341. 83 1901–1984. Stefan Stolte, Ernst Friesenhahn in Mathias Schmoeckel (Hrsg.), Die Juristen der Universität Bonn, S. 186–231. 84 1899–1976. Dieter Koch, Art. „Heinemann, Gustav Walter“ in Biographisch-Biblio­ graphisches Kirchenlexikon 17 (2000), Sp. 620–631 35

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In der Zeit von 1934 bis 1945 wurden neu berufen oder auf Weisung des Ministeriums nach Köln versetzt die Professoren Ludwig Waldecker85 (1881– 1946) für Öffentliches Recht (1934 von Breslau nach Köln zwangsversetzt und schon 1935 zwangsemeritiert); Hermann Jahrreiß86 (1894–1992): Öffentliches Recht, Völkerrecht, Rechts- und Staatsphilosophie (1937 von Greifswald berufen). Dekan 1939–1942 und 1951/52, Rektor 1956/57, Präsident der Westdeutschen Rektorenkonferenz 1958/60); Gustav Adolf Walz87 (1897–1948): Öffentliches Recht, Völkerrecht, Rechts- und Staatsphilosophie (Mitglied der NSDAP seit 1931, auf Weisung des Ministeriums 1938 nach Köln versetzt, bereits ein Jahr später nach München berufen). Während des Zweiten Weltkriegs wurden an die Kölner Fakultät berufen die Professoren Rudolf Schmidt88 (1886–1965) für Römisches und Deutsches Bürgerliches Recht (1940 von Halle berufen); Ernst von Hippel89 (1895–1984) für Öffentliches Recht, Völkerrecht, Rechtsund Staatsphilosophie (1940 von Königsberg berufen), Ottmar Bühler90 (1884–1965) für Deutsches und internationales Finanz- und Steuerrecht (1943 von Münster berufen); Hermann Krawinkel91 (1895–1975) für Germanische Rechtsgeschichte, Deutsches Privatrecht, Verfassungsgeschichte, Internationales Privatrecht, Kirchenrecht, Völkerrecht, Englisches Recht (1943 von Königsberg berufen). Die Neuberufungen brachten bedeutende Gelehrte nach Köln, die dem NS-Regime weitgehend fernstanden. Lediglich Gustav Adolf Walz war ein überzeugter Nationalsozialist, der allerdings nur ein Jahr lang in Köln tätig war. Doch es bleibt festzuhalten, dass die Fakultät insgesamt sehr geschwächt war. Michael Stolleis bemerkte hierzu: „Nachdem 1935 auch der gerade aus Breslau vertriebene Ludwig Waldecker seines Amtes enthoben war, konnte die Kölner Fakultät als ‚gesäubert‘ angesehen werden. Sie war dann allerdings auch fachlich, was das öffentliche Recht angeht, mehr oder weniger

85 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd.  3 und Bd.  4, München 1999 und 2004, Register. 86 Klaus Stern, Hermann Jahrreiß. Persönlichkeit und Werk in Archiv für öffentliches Recht 119 (1994), S. 137–155. 87 Christoph Schmelz, Der Völkerrechtler Gustav Adolf Walz. Eine Wissenschaftskarriere im „Dritten Reich“, Berlin 2011. 88 Hans Carl Nipperdey, Nachruf auf Rudolf Schmidt in NJW 1966, S. 289. 89 Günter Kohlmann u.a., Ernst von Hippel (1895–1984) zum Gedächtnis. Reden anläßlich der Akademischen Trauerfeier am 7.2.1985, Köln 1985. 90 Albert J. Rädler, Ottmar Bühler in Juristen im Portrait. Festschrift zum 225jährigen Jubiläum des Verlages C. H. Beck, München 1988, S. 195–204. 91 Hans Hattenhauer, Nachruf auf Hermann Krawinkel in ZRG (GA) 1977, S. 441– 447. 36

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stillgelegt. Hermann Jahrreiß hat später bemerkt, es habe 20 Jahre gedauert, bis der Stand von 1920 wieder erreicht worden sei.“92

4.  Ende und Neuanfang Im Zweiten Weltkrieg war Köln mehrfach Fliegerangriffen ausgesetzt, die die Stadt am Rhein schließlich zu einem Trümmerhaufen machten. Auch die Universität Köln war davon betroffen: 1942 erlitt das Universitätshauptgebäude von 1934 schwere Schäden; 1944 wurde das Gebäude der Lindenburg zerstört. Am 10.10.1944 fand die letzte Senatssitzung statt, die Vorlesungen wurden eingestellt. Die amerikanischen Streitkräfte, die die Stadt am 5.3.1945 erobert hatten, schlossen am 6.3.1945 die Universität. Die Amerikaner setzten umgehend Konrad Adenauer wieder als Oberbürgermeister ein.93 Der Gründer der neuen Universität im Jahre 1919 musste auch jetzt wieder für seine Universität aktiv werden. Er veranlasste, dass der frühere Rektor Josef Kroll nach Köln geholt wurde und wieder in diesem Amt tätig sein konnte. Hans Carl Nipperdey94 wurde kommissarischer Prorektor. Die Militärregierung genehmigte am 27.4.1945 die vorläufige Satzung der Universität und verfügte die Wiedereröffnung der Universität zum 24.10.1945, so dass in der Zeit vom 26.11.–10.12.1945 wieder mit Vorlesungen begonnen werden konnte. Die Rechtswissenschaftliche Fakultät konnte im Wintersemester 1945/46 mit 414 Studenten beginnen. Am 5.11.1945 wurden Josef Kroll zum Rektor und Hans Carl Nipperdey zum Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät gewählt. Im Rahmen der sog. Entnazifizierung wurde Nipperdey am 24.10.1946 durch die britische Militärregierung, die die amerikanische Militärmacht inzwischen abgelöst hatte, wegen seiner Schriften in der NS-Zeit aus seinem Professorenamt entlassen.95 Seine Berufung gegen diesen Akt hatte nach einigen Monaten letztlich Erfolg: Mitte Juli 1947 wurde ihm ein Entlastungszeugnis ausgestellt. Zuvor hatte Nipperdey sich bei den englischen Behörden für eine Neuforma92 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3 (1914– 1945), München 1999, S. 283. 93 Bernd Heimbüchel, Die Neue Universität, Bd. 2 (wie Fn. 3), S. 600–614; Leo Haupts, Die Universität zu Köln im Übergang vom Nationalsozialismus zur Bundesrepublik (Studien zur Geschichte der Universität zu Köln 18), Köln 2007. 94 Zur Rolle von Nipperdey beim Wiederaufbau der Fakultät vgl. Thorsten Hollstein, Die Verfassung als „Allgemeiner Teil“ (wie Fn. 16), S. 76 ff. 95 Hierzu Thorsten Hollstein, Die Verfassung als „Allgemeiner Teil“ (wie Fn.  16), S. 87–97. 37

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tion der Fakultät eingesetzt und sich bemüht, die aus ihrem Amt verdrängten Professoren Hans Kelsen, Godehard Ebers, Franz Haymann und Ludwig Waldecker wieder nach Köln zurückzuholen, leider ohne Erfolg. Der Lehrbetrieb konnte mit der verbliebenen Professorenschaft zunächst fortgesetzt werden. Doch war es dringend erforderlich, den Personalbestand der Fakultät zu stärken. So gelang es, Bernhard Rehfeldt96 (1902–1968), der 1943 ao. Professor an der Universität Greifswald war, 1946 zunächst als Gastprofessor und ab 1948 als o. Professor für Bürgerliches Recht, Handelsrecht und Deutsche Rechtsgeschichte zu gewinnen. 1949 wurde Theodor Süss97 (1892– 1961) berufen. Süss war 1929 o. Professor in Breslau, 1935 in Berlin 1935, 1943 in Erlangen gewesen. Oft war er allerdings von Köln abwesend, denn er war u.a. 1954 Botschafter in Kuba und Haiti, kehrte aber 1955 auf seinen Lehrstuhl für Römisches Recht, Bürgerliches Recht, Handelsrecht, Zivilprozessrecht, Privatversicherungsrecht und internationales Privatrecht zurück. Hans Peters98 (1896–1966), der 1932 den durch Tod vakant gewordenen Lehrstuhl von Fritz Stier-Somlo für kurze Zeit vertreten hatte und seit 1946 o. Professor für Öffentliches Recht und Verwaltungsrecht in Berlin geworden war, konnte 1949 für Köln gewonnen werden, wo er 1950/51 und 1956/57 Dekan und 1964/65 Rektor der Universität wurde. Einen großen Gewinn für die Fakultät bedeutete es, dass Gerhard Kegel99 (1912–2006) – 1945 zunächst Fakultätsassistent – sich 1946 bei Heinrich Lehmann habilitierte. Ab 1950 war er o. Professor für Bürgerliches Recht, Handelsrecht, Internationales Privatrecht und Privatrechtsvergleichung. Er begründete 1950 das Institut für internationales und ausländisches Privatrecht und war von 1950 bis 1978 dessen Direktor. Das Dekanat führte er 1954–1956. Und weitere Nachwuchswissenschaftler traten auf: Im Wintersemester 1950/51 hielt Karl Carstens100 (1914–1992), LLM Yale, Bevollmächtigter Bremens beim Bund, eine Vorlesung über „Verfassungsrecht der Vereinigten Staaten von 96 Sten Gagnér, Nachruf auf Bernhard Rehfeld in ZRG (GA) 1969, S. 440–442 (mit Schriftenverzeichnis). 97 Hans Carl Nipperdey, Theodor Süss. Gedenkrede am 5.6.1961 in der Universität Köln in AcP 160 (1961), S. 193–209. 98 Klaus Stern, In memoriam Hans Peters: Rede anläßlich der Gedenkfeier für Prof. Dr.  Dr.  h.c. Hans Peters am 16.1.1967 (Kölner Universitätsreden 37), Krefeld 1967. 99 Heinz-Peter Mansel, Nachruf auf Gerhard Kegel in NJW 2006, S. 1109 f.; Hilmar Krüger, Gerhard Kegel (1912–2006) in RabelsZ 71 (2007), 1–5. 100 http://www.bundespraesident.de/DE/Die-Bundespraesidenten/Karl-Carstens/ karl-carstens.html; Tim Szatkowski, Karl Carstens. Eine politische Biographie, Köln u.a. 2007. 38

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Nordamerika“. 1952 habilitierte sich dieser junge Staatsrechtler bei Hermann Jahrreiß und wurde 1960 Ordinarius der Rechtswissenschaftlichen Fakultät für Staatsrecht und Völkerrecht. In dieser neuen Phase der Fakultät kam es zu weiteren Gründungen von Instituten, die teilweise bereits in den Kriegsjahren ihren Anfang hatten:101 8. SEMINAR FÜR JUGENDRECHT (1939–1945): Hans Carl Nipperdey 9. ABTEILUNG VERSICHERUNGSRECHT (ab 1940; später Institut für Versicherungswirtschaft an der Universität zu Köln, Abteilung für Versicherungsrecht, seit 1961: INSTITUT FÜR VERSICHERUNGSRECHT): Erich Roehrbein (1940–1961), Ernst Klingmüller (1961–1982) 10. INSTITUT FÜR STEUERRECHT (ab 1942): Ottmar Bühler (1942–1952), Armin Spitaler (1953–1963) 11. INSTITUT FÜR VERWALTUNG DER GEMEINDEN UND GEMEINDEVERBÄNDE 1943–1945: Oskar Türk (1943–1945) 12. SEMINAR FÜR STAATSPHILOSOPHIE UND RECHTSPOLITIK (ab 1947): Ernst von Hippel (1947–1967), Carl Joseph Hering (1963–1968) 13. FORSCHUNGSINSTITUT FÜR SOZIAL- UND VERWALTUNGSWISSENSCHAFTEN AN DER UNIVERSITÄT ZU KÖLN 1947–1961 (Leopold von Wiese und Kaiserswaldau (1947–1955), Hans Carl Nipperdey (1955– 1956) 14. INSTITUT FÜR WOHNUNGSRECHT UND WOHNUNGSWIRTSCHAFT AN DER UNIVERSITÄT ZU KÖLN (seit 1950): Hans Carl Nipperdey 1950–1968) 15. INSTITUT FÜR INTERNATIONALES UND AUSLÄNDISCHES PRIVATRECHT (seit 1950): Rudolf Schmidt (1950–1959), Gerhard Kegel (1950– 1978) 16. INSTITUT FÜR LUFT- UND WELTRAUMRECHT (seit 1950): Alex Meyer102 (1950–1974)

101 Fortsetzung der Institutsliste von S. 22. Vgl. auch hier Peter Peil u.a., Die akademischen Einrichtungen und ihre Leiter 1919–1987 in E. Meuthen (Hrsg.), Kölner Universitätsgeschichte, Bd. 3 (wie Anm. 20), S. 130–140. 102 Marietta Benkö, Art. „Meyer, Alex“ in NDB 17 (1994), S. 326 f. 39

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Schlussbemerkung Der Rückblick auf das wechselvolle Schicksal der Rechtswissenschaftlichen Fakultät in den ersten 30 Jahren ihres Bestehens hat gezeigt, dass es zwei Anfänge gegeben hat. Der erste Anfang in den 20er Jahren zeigt eine Fakultät, der es in wenigen Jahren gelungen war, zu einer der führenden Einrichtungen zur Erforschung des Rechts und zur Ausbildung von Juristen zu werden. Die Zeit des Nationalsozialismus hat die Fakultät so schwer getroffen, dass man ihren Untergang befürchten musste. Gleichwohl gelang es trotz der widrigen politischen Umstände, bedeutende Neuberufungen durchzuführen. Das Ende des Zweiten Weltkrieges eröffnete einen zweiten Anfang, wobei in personeller Hinsicht eine gewisse Kontinuität der Entwicklung entgegen kam. Im Jahre 1950 steht eine Fakultät vor unseren Augen, die gefestigt ist und bereit ist, die Rechtsordnung der noch jungen Bundesrepublik mit zu gestalten. Dass aus ihrem Lehrkörper gleich zwei Bundespräsidenten hervorgegangen sind, Gustav Heinemann und Karl Carstens, ist vielleicht nicht nur ein Zufall.

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Rechtsprobleme des Weltraumschrotts Inhaltsübersicht

Einleitung I. Nutzung des Weltraums seit 1957 (Juri Gagarin, Sputnik) 1. Der „Sputnik-Schock“ 2. Klassische Weltraumanwendungen

II. Ist eine solche Nutzung des Weltraums erlaubt? 1. Weltraummüllvermeidung 2. Wegschaffung von Weltraummüll (Space Debris Remediation) 3. Neue Lösungen Schluss

Einleitung Eindrucksvoll beschreibt Heidrun Edelmann in ihrem spannenden Buch „Die Adenauers und die Universität zu Köln“,1 mit welcher List Konrad Adenauer als damaliger Kölner Oberbürgermeister die Wiedereröffnung der Kölner Universität und damit auch diejenige der Rechtswissenschaftlichen Fakultät betrieben hat und damit einen ganz wesentlichen Grundstein zur heutigen Stellung unserer Alma Mater gelegt hat. Was nun unsere Fakultät recht eigentlich auszeichnet, und was sie, wie ich beobachtend meine auch sagen zu können, einzigartig im Konzert der deutschen Rechtsfakultäten macht, ist ihre Vielfältigkeit. So reichen die Befassungsgegenstände, wenn man einmal die weniger verbreiteten Rechtsgebiete aufzählen möchte, über das Versicherungsund Medienrecht zum Medizinrecht und zum Investitionsrecht, über das Sportrecht und das Ostrecht sowie die Schiedsgerichtsbarkeit schließlich auch zu einem Rechtsgebiet, welches in Deutschland nur und ausschließlich in Köln studiert werden kann, das Luftrecht sowie das Weltraumrecht und das Cyberrecht. Dabei darf ich mit Stolz darauf verweisen, dass unser Institut bereits 94 Jahre alt ist und damit nur kurz nach der Wiedereröffnung der Rechtswissenschaftlichen Fakultät das Licht der Welt erblickt hat.2 Freilich geschah dies nicht in Köln, sondern in Königsberg, wo Otto Schreiber 1925, kurz nach ersten Kodi1 Heidrun Edelmann, Die Adenauers und die Universität zu Köln, Wien/Köln/Weimar, 2019. 2 Stephan Hobe, Institute of Air and Space law University of Cologne, 3.rd ed. 2015. 41

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fizierungen des modernen Fliegens (Paris 1919; Warschau 1929) die Idee hatte, ein entsprechendes Institut für Luftrecht zu gründen. Über das damalige Königsberg und Leipzig findet das Institut zwischen 1939 und 1945 am Leipziger Platz in Berlin seine Bleibe. Es wird indes im Jahr 1945 bei einem Bombenangriff auf Berlin mitsamt der unendlich wertvollen Bibliothek vollständig zerstört. Da der dritte Direktor des Instituts, Rüdiger Schleicher, dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus angehörte  – er wurde mit den Bonhoeffers 1945 in Berlin hingerichtet – ranken sich zudem Gerüchte um Treffen der Verschwörer des 20. Juli 1944 im Institut für Luftrecht.3 Der Nestor des deutschen Luftrechts – Alex Meyer – gründete das Institut im Jahre 1951 als Absolvent der Kölner Alma Mater in Köln neu, und zwar damals in der Gyrhofstraße. Seit den späten 1950er Jahren kamen dann mit der neuen Weltraumtechnologie und ihrer auch rechtlichen Relevanz das Weltraumrecht hinzu und erst vor zwei Jahren haben wir uns entschlossen, mit dem Cyberrecht einen neuen Forschungsgegenstand in die Institutsagenda aufzunehmen. Doch ich möchte beruhigen: nicht wird hier von dem so schwierigen Gebiet des Cyberrechts die Rede sein, noch vom Luftrecht, sondern von einem besonderen Problem, welches sinnbildlich für Schwierigkeiten des derzeitigen völkerrechtlichen Kodifikationsprozesses geworden ist: es geht um Rechtsprobleme des Weltraumschrotts, die ich Ihnen nachfolgend ein wenig näher bringen möchte. Dabei soll zunächst einmal kurz beschrieben werden, um was es sich eigentlich dabei handelt, und warum dieser Befassungsgegenstand von einer enormen praktischen Bedeutung ist sowie dann in einem zweiten Abschnitt, inwieweit das Recht auf diese Herausforderung bislang reagiert hat oder, wie wir sagen müssen, eben leider nur sehr schwache Reaktionen gezeigt hat. Das wird uns schließlich am Ende zu einer Art Resümee führen, in dem ich Ihnen einige weitere Gedanken zu diesem so schwierigen Thema mit auf den Weg geben möchte. Aber was ist eigentlich Weltraum – jedenfalls im Rechtssinne? Wir könnten einerseits unter dem Weltraum das ganze Universum verstehen. Von diesem Universum bestehen 95% aus „dark matter“ und „dark energy“. Wir könnten andererseits unter dem Weltraum unsere Galaxie verstehen, die aus 100 000 Millionen Sternen und 50 Milliarden Planeten besteht. Da liegt es schon näher, unter Weltraum jedenfalls das uns einigermaßen bekannte Sonnensystem zu verstehen, das aus einem Stern, nämlich der Sonne und acht

3 Dazu Uwe Gerrens, Rüdiger Schleicher  – Leben zwischen Staatsdienst und Verschwörung, Gütersloh 2009. 42

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darum kreisenden Planeten (Merkur, Venus, Mars, Erde, Jupiter, Saturn, Uranus, Neptun) besteht. Und rechtlich gesehen regelt eben das Weltraumrecht auch nur die menschlichen Tätigkeiten im Weltraum. Dabei ist auffällig, dass im Weltraumrecht, jedenfalls soweit es kodifiziert ist, obwohl es sich dabei um ein vergleichsweise neues Gebiet handelt, sich keine Definition des Weltraums selbst befindet. Unser Bezugssystem Weltraum ist also in der Regel unser Sonnensystem, also die acht Planeten, die einschließlich der Erde um die Sonne kreisen. Versucht man, sich für einen Moment einen Begriff von den Dimensionen im Weltraum zu machen, so gibt es nur eine Feststellung: Alles ist unfasslich groß. Das wird bereits durch das verwendete Maß, nämlich das Lichtjahr, deutlich. Ein Lichtjahr ist die Entfernung, die das Licht in einem Jahr zurücklegt, wobei Licht mit einer Geschwindigkeit von 300 000 km/s sich fortbewegt. Um ein Gefühl für Dimensionen zu bekommen: Das Weltraumobjekt, das bisher die größte Distanz zurückgelegt hat, ist 0,002 Lichtjahre vorangekommen. Unser Sonnensystem ist 5 Milliarden Jahre alt. Das Alter der Erde, verglichen damit ist 4.6 Milliarden Jahre. Der Durchmesser der Erde mutet hingegen vergleichsweise bescheiden an mit „nur“ 12 742 km. Es ist bereits angedeutet worden: Es gibt keine Definition des Weltraums. Wenn wir aber das zugrunde legen, was für uns jedenfalls zunächst einmal das Sonnensystem ist, wird man zudem sagen können, dass Weltraum der physische Raum jenseits der Erdatmosphäre ist, also zwischen 80 und 100 km oberhalb des Meeresspiegels. Damit stellt das Weltraumrecht die rechtlichen Normen bereit, die für die für menschlichen Aktivitäten im Weltraum geschaffen wurden, wobei es sich zumeist um Erforschungs- oder Nutzungsaktivitäten handelt.4

I. Nutzung des Weltraums seit 1957 (Juri Gagarin, Sputnik) 1. Der „Sputnik-Schock“ Beginnen wir aber in der Zeit, als der Weltraum noch seine Unschuld hatte. Die moderne Weltraumfahrt beginnt mit dem Start des ersten künstlichen Satelliten Sputnik 1 am 4. Oktober 1957.5 Dass dieser Beweis der sowjetischen 4 Siehe zu allem Stephan Hobe, Space Law, Momos/Hart Baden-Baden 2019, S. 1–15. 5 Zusammenfassend Hobe, Fn. 4, S. 32. 43

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Beherrschung der Raketenantriebstechnik im Kalten Krieg ein besonderes Signal darstellte, war den Amerikanern sofort klar.6 Die Russen hatten damit die Parität erreicht, was die nukleare Abschreckung anging. Beide Blöcke verfügten über entsprechende nukleare Möglichkeiten und konnten vermittels der Weltraumtechnik über Interkontinentalraketen auf ballistischen Flugkörpern nukleare Waffen in das jeweilige feindliche Lager befördern. Doch interessiert uns weniger die sehr spannende daraus folgende militärstrategische Konsequenz als vielmehr, dass seitdem die Benutzung des Weltraums  – ein wenig abseits der Öffentlichkeit  – schwunghaften Auftrieb genommen hat. Vor allem in verschiedenen Umlaufbahnen um die Erde, etwa im niedrigen Erdorbit (Low Earth Orbit) zwischen 100–300 km über dem Meeresspiegel, dem Medium Earth Orbit in etwa 2000 km und dem Geosta­ tionären Orbit in 36.000 km Höhe sind Weltraumaktivitäten seit 1957 also seit gut 60 Jahren verzeichnet.7 2. Klassische Weltraumanwendungen Es sind dies vor allem satellitäre Anwendungen:8 etwa 850 Satelliten, solche, die der Aufklärung dienen, weitere friedliche Fernerkundungssatelliten, vor allem auch Kommunikationssatelliten sorgen für stete Frequentierung vor allem dieser wichtigen Umlaufbahnen, dazu befindet sich dort seit zwei Jahrzehnten die Internationale Weltraumstation ISS,9 die sich auf einer niedrigen Erdumlaufbahn (LEO) um die Erde bewegt, viele Raketen sind in den Weltraum geschossen worden mit unterschiedlichen Raketen(ober)stufen und es wird derzeit über weitere entsprechende Aktivitäten zu touristischen Zwecken gesprochen. Weltraumschrott, rechtlich definiert als „any man-made Earth-orbiting object which is non-functional with no reasonable expectation of assuming or re­ suming its intended function, or any other function for which it is or can be expected to be authorized, including fragments and parts thereof “10 sind v.a. Teile von Weltraumobjekten  – etwa Raketenoberstufen  – die während des 6 Treffliche Beschreibung bei Walter A. McDougall, … the Heavens and the Earth, New York, 1986. 7 Siehe Hobe, Fn. 4, S. 6. 8 Siehe Hobe, Fn. 4, S. 19–24.  9 Hobe, Fn. 4, S. 24–26. 10 International Academy of Astronautics, Ad hoc expert group of the IAA’s, Committee on safety, rescue and Quality, Orbital Debris – Status and Possibilities for Control, Space Policy 9 (1993), S. 185 ff. 44

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Starts eines Weltraumobjekts oder aufgrund von Explosionen und Kollisionen entstehen. Sie halten sich in Umlaufbahnen um die Erde i.d.R. über längere Zeit, je nach Höhe etwa bis 900 Jahre, auf. Solche Schrottteile haben keinen Gebrauchswert, sondern stellen vielmehr eine wesentliche Gefahr für die Raumfahrt dar. Eine natürliche und effektive Gegenwirkung wird durch die Schwerkraft der Erde erzeugt,  – allerdings nur in niedrigen Umlaufbahnen. Ansonsten bieten sich insoweit in sehr begrenztem Umfang aktive Manöver (sog. de-orbiting Maßnahmen) an. Dass die Raumfahrt ihre Spuren im All hinterlassen hat, sie also Rückstände in Form von kleineren und größeren Partikeln hinterlassen haben, kann bei entsprechender Aktivität nicht verwundern. So wird heute vermutet, dass es etwa 200 Millionen kleine Weltraumtrümmer zwischen 1 mm und 1 cm gibt, 700.000 Objekte einer Größe zwischen 1 und 10 cm und mehr als 21.000 Objekte einer Größe von mehr als 10 cm. Überlegt man sich, dass sich gegenwärtig knapp 1000 aktive Satelliten in Erdumlaufbahn befinden, so mutet dies doch erheblich viel an. Aber warum sind diese kleinen und Kleinstpartikel von einer nicht geringen Gefährlichkeit? Dies liegt an der sogenannten Aufprallgeschwindigkeit, die auch kleinste Partikel durch die entsprechende Beschleunigung in Erdum­ laufbahnen haben. Sie rangiert zwischen 8 und 15 Metern pro Sekunde, im Durchschnitt 10 Meter pro Sekunde in einer niedrigen Erdumlaufbahn. Ab­ gebrannte Raketenstufen, kleinere und kleinste abgesplitterte Partikel von Weltraumobjekten und auch abgesprungene Farbe können hier etwa solche Gefahren ausmachen. Darüber hinaus hat es besonders schwere Zwischenfälle gegeben, so etwa die Kollision eines privaten US-gesteuerten Iridium 33 Satelliten und eines außer Funktion befindlichen russischen Satelliten Kosmos 2251 im Februar 2009.11 Die Kollision beider hat eine Wolke von etwa 1500– 2000 Weltraumtrümmerteilen größer als 10 cm und Tausenden von kleineren Debris Stücken (wie das Fachwort heißt) produziert. Wesentlich ist hier insbesondere die Tatsache, dass ein ausreichender Schutz nur gegen entsprechende Weltraumtrümmer von einer Größe bis zu 1 cm möglich ist. Das heißt, Weltraumtrümmer größer als 1 cm können einen großen Satelliten funktionsuntüchtig machen. Das Problem wird dadurch noch verschärft, dass, wie dies etwa im Jahre 2007 passierte, Anti-Satelliten-Tests nach dem Völkerrecht erlaubt sind und entsprechend häufig durchgeführt werden. So machten sich die  Chinesen im Jahre 2007 daran, ihren eigenen Satelliten Fengyun-1c ab­

11 Peter Stubbe, State Accountability for Space Debris, Brill Nijhoff 2017, S. 18. 45

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zuschießen,12 was über 1.000 Debris Stücke einer Größe von mehr als 10 cm hervorbrachte. Was insgesamt so besonders problematisch ist, ist der sogenannte Kaskadeneffekt, der dazu führt, dass Schleierwolken von Debris Partikeln durch weitere Kollisionen immer mehr von einzelnen kleinen und kleinsten Debris Partikeln hervorbringen. Und wir erinnern uns noch mit Schrecken, dass sich der indische Minister­ präsident Modi kurz vor den indischen Wahlen in diesem Jahr damit brüstete, einen indischen Satelliten mit Anti-Satelliten-Körpern abzuschießen. Die Konsequenzen nach dem Test am 27. März 2019, nämlich eine weitere riesige Debris-Wolke, waren entsprechend unvermeidbar.13

II. Ist eine solche Nutzung des Weltraums erlaubt? In einem weiteren Schritt wollen wir uns nun überlegen, was eigentlich das  ­internationale Weltraumrecht dazu sagt. Weltraumrecht gibt es seit den 1960er-Jahren. Es ist entstanden im Schoße der Vereinten Nationen und wurde ­entworfen von einem Weltraumausschuss, der mittlerweile 92 Staaten zu ­Mit­gliedern hat.14 Im Schoße des Weltraumausschusses sind 5 in­ternationale völkerrechtlich verbindliche Verträge zu Stande gekommen, der  internatio­ nale Weltraumvertrag,15 von dem gleich näher die Rede sein wird, das Welt-

12 Philip C. Saunders, Charles D. Lutes, China’s ASAT Test, Motivations and Im­pli­ cations, Institute for National Strategic Studies, National Defense University (INSS Special Report) Juni 2007. 13 NASA administrator Jim Bridenstine said on the April 1, 2019 that India’s recent anti-satellite test created 60 pieces of orbital debris big enough to track, 24 of which rise higher than the International Space Station’s orbit around Earth, NASA TV, https://www.space.com/nasa-chief-condemns-india-anti-satellite-test.html, zuletzt abgerufen am 19.7.2019. 14 A/AC.105/C.2/2019/CRP.3, Status of International Agreements relating to acti­ vities in outer space as at 1 January 2019, Committee on the Peaceful Uses of Outer Space, Legal Subcommittee Fifty-eighth session, Vienna, 1–12 April 2019. 15 Vertrag über die Grundsätze zur Regelung der Tätigkeiten von Staaten bei der Erforschung und Nutzung des Weltraums einschließlich des Mondes und anderer Himmelskörper (Treaty on Principles Governing the Activities of States in the ­Exploration and Use of Outer Space, including the Moon and Other Celestial ­Bodies), 18 UST 2410, 610 UNTS 205, 6 ILM 386 (1967), in Kraft getreten am 10.10.1967. 46

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raumrettungsabkommen,16 ein Weltraumhaftungsabkommen,17 ein Weltraumregistrierungsabkommen18 und der sogenannte Mondvertrag.19 Alle diese Kodifikationen entstanden in den Jahren zwischen 1967 und 1979. ­Seitdem gibt es keine verbindlichen Kodifikationen mehr, vielmehr hat sich der Weltraumausschuss darauf verlegt, der Generalversammlung nur noch Dokumente vorzulegen, die keine rechtliche Verbindlichkeit erreichen sollen und damit als Resolutionen der UN-Generalversammlung verabschiedet werden.20 Die Problematik des Weltraumrechts als Konsens gebundenes Völkerrecht wird besonders deutlich, wenn man bedenkt, dass zwar in den ersten 12 Jahren, von 1967 bis 1979 immerhin 5 internationale Konventionen zustande kamen, danach aber in nun über 40 Jahren keine einzige mehr, obwohl es etwa gerade mit dem Thema Weltraumschrott durchaus Anlass für solche Kodifikationen gegeben hätte. 1. Weltraummüllvermeidung Werfen wir einmal einen kurzen Blick auf den wichtigsten dieser Verträge, den Internationalen Weltraumvertrag von 1967. Er bestimmt zunächst in seinem grundlegenden Artikel II WRV, dass der Weltraum wie auch die Himmelskörper keiner nationalen Aneignung unterliegen, also sogenannte Staatengemeinschaftsräume wie etwa auch die Hohe See und der Meeresboden sind. Artikel  III des Weltraumvertrages macht das allgemeine Völkerrecht auch auf menschliche Aktivitäten im Weltraum anwendbar, wobei Artikel I des Weltraumvertrages Erforschung und Nutzung des Weltraums für weitgehend frei 16 Weltraumrettungsabkommen (Agreement on the Rescue of Astronauts, the Return of Astronauts and the Return of Objects Launched into Outer Space), unterzeichnet am 22.4.1968 in Kraft getreten am 3.12.1968, 672 UNTS 119.  17 Weltraumhaftungsabkommen (Convention on International Liability for Damage Caused by Space Objects), unterzeichnet am 29.3.1972, in Kraft getreten am 1.9.1972, 961 UNTS 187.  18 Weltraumregistrierungsabkommen (Convention on Registration of Objects Launched into Outer Space), unterzeichnet am 14.1.1975, in Kraft getreten am 15.9.1976, 1023 UNTS 15. 19 Mondvertrag (Agreement Governing the Activities of States on the Moon and Other Celestial Bodies), unterzeichnet am 18.12.1979, in Kraft getreten am 11.7.1984, 1363 UNTS 3.  20 Stephan Hobe, Space law – an analysis of its development and its future, in Brünner/Soucek (Hrsg.), Outer Space in Society, Politics and Law, Springer 2011, S. 480; Stephan Hobe, Space Law, Nomos 2019, S. 62; Anja Nakarada Pecujlic, „Mechanisms for the Development of International Norms regarding Space Activities”, ESPI ­Report Nr. 57, May 2016, S. 26. 47

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erklärt.21 Nutzung bedeutet dabei auch wirtschaftliche Nutzung und es findet sich eigentlich ausdrücklich im Weltraumvertrag, außer dass die Nutzung22 nur limitiert militärischen Zwecken dienen darf, recht wenig an umweltorientierter Einschränkung. Insbesondere Artikel XI des Weltraumvertrages versagt in dieser Hinsicht fast vollständig. In Jahre 1967 war das allgemeine ­Bewusstsein von der Notwendigkeit der Kodifikation umweltrelevanter völkerrechtlicher Abkommen noch nicht sehr ausgeprägt. Das beginnt erst 1972 mit der internationalen Umweltkonferenz von Stockholm. Seitdem sind im allgemeinen Völkerrecht eine unendliche Anzahl völkerrechtlicher Verträge zum Artenschutz (Artenvielfalt), zum Klimaschutz (s. das jüngst seit einem Jahr bestehende Pariser Abkommen von 2018), und dem Gewässerschutz, sowohl für Flüsse als auch für Meere etc. verabschiedet worden. Aber für den Weltraum ist dies bislang nicht wirklich gelungen. Artikel XI WRV ist, ohne dass wir uns hier in Einzelheiten verlieren wollen, von der weit überwiegenden und in meinen Augen absolut zutreffenden Auffassung als eine Bestimmung entlarvt worden, die für den Schutz der Umwelt im Weltraum – und um nichts anderes handelt es sich ja bei der möglichsten Freihaltung von Erdumlaufbahnen gegenüber Weltraummüll – vergleichsweise ungeeignet ist.23 Kann man anderes aus Artikel I Abs. 1 des Weltraumvertrages schließen, wonach die Erforschung und Nutzung des Weltraums das sogenannte „Anliegen der gesamten Menschheit“ sind? Es gibt interpretatorische Versuche in diese Richtung.24 Verbindliches etwa durch ein Gericht ausgesprochenes interpretiertes Recht haben wir nicht. Denn es gibt schlicht und ergreifend bislang noch kaum Fälle, was mit der erst ansatzweise beginnenden kommerziellen 21 Stephan Hobe, Article I in S. Hobe, B. Schmidt-Tedd, K.U. Schrogl (Hrsg.), Cologne Commentary on Space Law, vol. I, Carl Heymanns Verlag (2009), S. 31. 22 S. Gorove, Interpreting Article II of the Outer Space Treaty, 37 Fordham Law ­review 349 (1969), S. 351; C. Christol, Article 2 of the 1967 Principles Treaty Revisited, IX Annals of Air and Space Law, 217 (1984), S. 236; S. Freeland, R. Jakhu, Article II in S.  Hobe, B. Schmidt-Tedd, K.U. Schrogl (Hrsg.), Cologne Commentary on Space Law, vol. I, Carl Heymanns Verlag (2009), S. 44 ff.; Stephan Hobe, Die rechtlichen Rahmenbedingungen der wirtschaftlichen Nutzung des Weltraums, Duncker & Humblot (1992), S. 237. 23 S. Marchisio, Article IX in S. Hobe, B. Schmidt-Tedd, K.U. Schrogl (Hrsg.), Cologne Commentary on Space Law, vol. I, Carl Heymanns Verlag (2009), S. 168 ff. 24 Rüdiger Wolfrum, Common Heritage of Mankind, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Nr. 43, 1983, S. 312; Stephan Hobe, Was bleibt von gemeinsamen Erbe der Menschheit? in Klaus Dicke et al (Hrsg.), Weltinnenrecht: Liber Amicorum Jost Delbrück, Duncker & Humblot 2005, S. 330; Kemal Baslar, The Concept of the Common Heritage of Mankind in International Law, Martinus Nijhoff 1998, S. 38. 48

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Nutzung des Weltraums eng zusammenhängt. Und so dürfte die Befürchtung einleuchten, dass es sehr unterschiedliche Interpretationen darüber gibt, was eigentlich „Anliegen der gesamten Menschheit“ in diesem Kontext heißen soll. Ist damit die weitere Nutzung des Weltraums gemeint? Oder in der Tat nur die umweltverträgliche Nutzung? Es ist sehr schwer aus dem Allgemeinplatz des Artikels I Abs. 1 des Weltraumvertrages mehr im Hinblick auf den Umweltschutz im Weltraum herauszulesen. Dieser Auffassung waren auch die Weltraumagenturen, etwa die amerika­ nische NASA und die europäische ESA sowie die japanische JAXA, die indische und weitere Weltraumagenturen, die gemeinsam seit den 1990er Jahren den Gefahren der weiteren „Vermüllung“ des Weltraums entgegenwirken wollten.25 Sie beschlossen, auch angesichts der zutreffenden Auffassung, dass auch die Anwendung des allgemeinen Völkerrechts wie etwa das Polluter Pays Principle, wegen nicht wirklich einwandfrei nachzuweisender völkerrechtlicher Verbindlichkeit als Gewohnheitsrecht nicht eine Handhabe zur Vermeidung von Weltraummüll geben würde, die Verabschiedung allerdings ausdrücklich als unverbindlich deklarierter Prinzipien, die sogenannten „Space Debris Mitigation Guidelines“ (Richtlinien für die Vermeidung von Weltraumschrott).26 Diese wurden im Jahre 2002 erstmals veröffentlicht und im Jahre 2007 noch einmal überarbeitet. Bemerkenswert an diesen Richtlinien ist, dass sie ganz ausdrücklich als rechtlich unverbindlich27 bezeichnet werden, also im Kern weitgehend Programmsätze, aber keine rechtsverbindlichen Prinzipien darstellen. Damit wird auf ein Problem verwiesen, welches zunehmend auch das Weltraumrecht erfasst hat und was darin besteht, dass es unendlich schwierig geworden ist für alle Staaten verbindliches Recht zu schaffen.

25 ESA’s Annual Space Environment Report, 17.7. 2019, S. 1, https://www.sdo.esoc.​ esa.int/environment_report/Space_Environment_Report_latest.pdf, zuletzt abgerufen am 19.7.2019. 26 Space Debris Mitigation Guidelines of the Committee on the Peaceful Uses of Outer Space, UNOOSA 2010, http://www.unoosa.org/pdf/publications/st_space​_49E.pdf, zuletzt abgerufen am 19.7.2019. 27 IADC Space Debris Mitigation Guidelines, http://www.unoosa.org/documents/ pdf/​spacelaw/sd/IADC_space_debris_mitigation_guidelines.pdf, zuletzt abgerufen am 19.7.2019; Philip De Man, Exclusive Use in an Inclusive Environment: The ­Meaning of the Non-Appropriation Principle for Space Resource Exploitation, Springer (2016), S.  347; Joseph N. Pelton, New Solutions for the Space Debris ­Problem, Springer 2015, S. 5. 49

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Die „Space Debris Mitigation Guidelines“, die also nur Verhaltensmaßregeln zur Vermeidung von Weltraummüll sind, nicht aber zur Wegschaffung vorhandenen Weltraummülls sehen u.a. vor: 1. durch entsprechende bauliche Maßnahmen die Möglichkeit der Entstehung von Weltraumschrott zu minimieren, 2. auch das Potential für Unfälle, bzw. etwa das Abbrechen von Teilen von Weltraumobjekten (also etwa Satelliten oder Raketenoberstufen) zu minimieren, 3. die Möglichkeit zufälliger Kollisionen zu minimieren. Hieran wird man wohl erkennen müssen, dass Staaten zunehmend aufgegeben wird, größere Transparenz bezgl. der Flugbahn ihrer eigenen Weltraumkörper obwalten zu lassen. 4. Am bedeutendsten ist die Aufforderung im  – es sei noch einmal betont nicht rechtlich verbindlichen – Prinzip 4, dass jede absichtliche Zerstörung wie beim Anti-Satellite Testing oder sonstige gefährliche Aktivitäten in Umlaufbahnen zu unterbleiben habe. 5. Auch die Möglichkeit, dass nach der Beendigung einer Mission durch etwa nukleare Antriebe Gefahren entstehen, solle minimiert werden. 6. Verhaltensgrundsatz 6 ruft dazu auf, die Langzeit Anwesenheit von Weltraumobjekten und verschiedenen Stufen von Startgeräten in einer niedrigen Erdumlaufbahn nach dem Ende der Mission auf ein Minimum zu senken. Und schließlich sieht das Prinzip Nummer 7. vor, den Langzeitaufenthalt von Weltraumobjekten und Startfahrzeugen bzw. Orbitalstationen im Geostationären Orbit nach dem Ende der Lebenszeit zu minimieren. Insgesamt solle es vor allem Aufgabe sein, die entsprechend vorhandene Energie an Weltraumkörpern gezielt zu nutzen, um Weltraumobjekte in eine niedrige Erdumlaufbahn und dann zum Absinken in die Erdatmosphäre zu veranlassen, was regelmäßig zum Verglühen des Weltraumobjekts führt, wobei insgesamt der Umfang der Reste vergleichsweise gering ist. Die schon so umstrittenen und eben auch rechtsunverbindlichen Grundsätze gelten nun nur für die Vermeidung von Weltraummüll, aber hier ist mein Eindruck, wenn ich die Praxis verschiedener Staaten beobachte, und auch das, was in zunehmenden nationalen Weltraumgesetzen veröffentlicht wird, dass Staaten in einem zunehmenden Umfang sich auch freiwillig an diese Richtlinien halten. Für den Völkerrechtler ist dies dann eine insofern rechtlich relevante Situation, als von diesem Zeitpunkt an von der Entstehung einer entspre50

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chenden, von Staatenüberzeugung getragenen Staatenpraxis, mithin von der Entstehung von Völkergewohnheitsrecht die Rede sein kann. 2. Wegschaffung von Weltraummüll (Space Debris Remediation) Aber wie sieht es mit dem noch viel schwierigeren Problem der Entfernung des Weltraummülls aus den wichtigen Erdumlaufbahnen aus. Ist das Recht in der Lage, Staaten dazu zu bewegen, die vorhandene Verunreinigung des Weltraums durch eine Verpflichtung zur Reinigung entsprechender Umlaufbahnen voranzubringen? Hier zeigt sich, wenn Sie so wollen, die hässliche Fratze der internationalen Gemeinschaft. Sie propagiert zwar regelmäßig Solidarität, tut dies aber weitestgehend als Lippenbekenntnis. Wenn es um die Freihaltung, bzw. die Reinigung des Weltraums und hier der besonders gefährdeten Umlaufbahnen geht, herrscht weitgehend Stillschweigen. Warum? Weil eine solche Reinigung, die heute technologisch bereits möglich wäre, natürlich sehr viel Geld28 kostet. Machbar wäre dies deshalb, weil zum einen die Möglichkeit besteht, die Weltraumtrümmer durch Netze einzufangen,29 bzw. es auch Satelliten gibt, die in der Lage sind, an Debris-Stücken anzudocken und sie so anzustupsen, dass diese über den Eintritt in eine Erdumlaufbahn30 durch weiteres nach unten Stupsen und den dann erfolgenden Wiedereintritt in die Erdatmosphäre verglühen. Dies kostet aber, wie schon angedeutet, sehr viel Geld. Und deshalb sind alle bisherigen Versuche, hier zu einer einigermaßen angemessenen Lösung zu kommen, im Sande verlaufen. Welche rechtlichen Möglichkeiten gäbe es denn? Über Artikel III des Weltraumvertrages wäre grundsätzlich der Zugriff auf Regeln des allgemeinen Völ-

28 Toru Yamamoto, Hiroyuki Okamoto, Satomi Kawamoto, Cost analysis of active ­debris removal scenarios and system architectures, 7th European Conference on Space Debris, 2017. 29 Ingo Retat, Robert Axthelm, Uwe Schlossstein, Barbara Klotz, Wolfgang Tritsch, ­Susanne Vahsen, Net Capture System for Debris Removal Demonstration Mission, 7th European Conference on Space Debris, 2017; Pavel M. Trivailo, Hirohisa Kojima, Dynamics of the Net Systems, Capturing Space Debris, Trans. JSASS Aerospace Tech. Japan Vol. 14, No. ists30, pp. Pr_57-Pr_66, 2016. 30 Ingo Retat, Robert Axthelm, Uwe Schlossstein, Barbara Klotz, Wolfgang Tritsch, ­Susanne Vahsen, Net Capture System for Debris Removal Demonstration Mission, 7th European Conference on Space Debris, 2017; M. Andrenucci, P. Pergola, A. Ruggiero, Active Removal of Space Debris Expanding foam application for active debris removal, Final Report, 2011. 51

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kerrechts möglich.31 Hier fällt uns natürlich das sogenannte Polluter Pays Principle ein,32 welches für manche Konventionen des Internationalen Umweltrechts eine Verpflichtung des Verschmutzers zur Wiedergutmachung des durch die Verschmutzung entstandenen Schadens, der sogenannten restitutio ad integrum hervorruft. Doch ist, wie man nach wie vor erkennen muss und oben schon angeklungen ist, die Frage äußerst streitig, ob es sich tatsächlich bei diesen Regeln bereits um sich verfestigt habendes Völkergewohnheitsrecht handelt. Nur dann, wenn allgemein die Staaten im Weltraum auch beim Erlaubtsein von Aktivitäten – denn dass der Start von Weltraumobjekten in den Weltraum zu keinem Zeitpunkt bislang verboten gewesen ist, erscheint nicht zweifelhaft  – eine entsprechende Erfolgshaftung vorsehen würden  – könnte man hier das Polluter Pays Principle einsetzen. Dies scheint mir freilich wegen der strengen Voraussetzungen, die wir an eine entsprechende Regel anlegen müssten, ziemlich zweifelhaft.33 Und, wie ich selbst aus leidvoller Erfahrung sagen kann, so sind wir von einem internationalen Konsens in dieser Frage – insbesondere wegen der immensen finanziellen Lasten – weit entfernt. 3. Neue Lösungen Deshalb erscheint es mir, und nunmehr spreche ich nur für mich selbst, eher angemessen, nach ganz anderen Lösungen zu suchen. Mir scheint es völlig illusorisch, Staaten aus ihrer Blockadehaltung für jede Lösung bezüglich finanzieller Aufwendungen zur Beseitigung des bestehenden Weltraumschrotts zu bewegen. Und das internationale Haftungsrecht, welches wir auch im Weltraumrecht durch die Weltraumhaftungskonvention vorfinden, löst unser Pro31 Art III Weltraumvertrages lautet: „Bei der Erforschung und Nutzung des Weltraums einschließlich des Mondes und anderer Himmelskörper üben die Vertragsstaaten ihre Tätigkeit in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht einschließlich der Charta der Vereinten Nationen im Interesse der Erhaltung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit sowie der Förderung internationaler Zusammenarbeit und Verständigung aus.“; O. Ribbelink, Article III in S. Hobe, B. Schmidt-Tedd, K.U. Schrogl (Hrsg.), Cologne Commentary on Space Law, vol. I, Carl Heymanns Verlag (2009), S. 64 ff.; U. Bohlmann, S. Freeland, The regulation of Space Activities and the Space Environment in A. Shawkat, Md J.H.B. Tareq, M.R. Chowdhury, E.J. Techera, Routledge Handbook of International Environmental Law, Routledge (2013), S. 375–391. 32 Lotta Viikari, The Environmental Element in Space Law, Martinus Nijhoff Publishers 2008, S. 184. 33 Lotta Viikari, Environmental aspects of space activities in Frans von der Dunk (Hrsg.) Handbook of Space Law, Edward Elgar 2015, S. 764. 52

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Rechtsprobleme des Weltraumschrotts

blem in keiner Weise. Es knüpft nämlich zentral, wie wohl alle Haftungskonventionen, an die Notwendigkeit der Zurechnung einer Handlung eines Weltraumobjekts an einen bestimmten Staat an.34 Und es ist leicht vorstellbar, dass einem kleinen Stück von Weltraummüll nicht auf der Stirn geschrieben steht, aus welchem Land es kommt und welchem ursprünglich intakten Weltraumobjekt es entstammt.35 Es scheint auch deshalb das Weltraumhaftungsrecht als nicht besonders geeignet. Was meines Erachtens deshalb perspektivisch einzig anzustreben ist, ist eine Fondslösung für die Zukunft.36 Staaten sollten in der Zukunft dann, wenn sie den Weltraum für ihre Experimente und vor allem auch kommerziell nutzen wollen, einen entsprechend von der internationalen Gemeinschaft festzulegenden finanziellen Betrag in einen Fonds einzahlen. Es geht letztlich um nichts anderes als die Nutzung der Natur zu kommerziellen Zwecken. Wir müssen auch auf der Erde schmerzlich lernen, dass die Nutzung der Natur nicht „for free“ ist, sondern eben ihren Preis hat.37 Dass es dagegen natürlich Proteste der noch jungen Weltraumindustrie geben wird, die ihre Projekte in unendlichen Kostenbelastungen untergehen sieht, liegt zwar auf der Hand, sollte aber die internationale Gemeinschaft nicht von diesem richtigen Schritt abhalten. Ich meine also, dass es an der Zeit sei, Klugheit walten zu lassen und im Sinne der Zukunftsfähigkeit des Mediums Weltraum, also vor allem der nutzbaren Erdumlaufbahnen, hier eine entsprechende Abgabe für die aktive Weltraumfahrt zu fordern.

Schluss Damit komme ich zum Schluss. Wie durch ein Brennglas reflektiert das Weltraumrecht Ziele und Versäumnisse, sowie Schwierigkeiten der internationalen 34 Artikel II und III Weltraumhaftungskonvention, siehe Lesley Jane Smith, Armel Kerrest, Article II and Article III in S. Hobe, B. Schmidt-Tedd, K.U. Schrogl (Hrsg.), Cologne Commentary on Space Law, vol. II, Carl Heymanns Verlag (2013), S. 116– 135. 35 About Space Debris, https://m.esa.int/Our_Activities/Space_Safety/Space_Debris/ About_space_debris, zuletzt abgerufen am 19.7.2019; Orbital Debris: A Technical Assessment, https://www.nap.edu/read/4765/chapter/5, zuletzt abgerufen am 19.7.2019. 36 Ricky Lee, Law and Regulation of Commercial Mining of Minerals in Outer Space, Springer 2012, S. 293; Elena P. Kameetskaya, On the Establishment of a World Space Organisation: Some Considerations and Remarks, 32 Proc. Coll I Outer Space, 1989, S. 358. 37 Jessica Espey, Sustainable development will falter without data, Nature  – Inter­ national Journal of Science, vol. 571, issue 7765, 2019. 53

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Politik und des allgemeinen Völkerrechts. Es wird zunehmend schwierig, wie auch im allgemeinen Völkerrecht, welches natürlich auch auf dem Konsens der Staaten und deren Einsicht in die Notwendigkeit von Regelungen für ihr friedliches Zusammenleben basiert, hier für die Nutzung des Weltraums zu entsprechenden Konsenslösungen zu kommen. Wie auch im allgemeinen Völkerrecht ist dies meines Erachtens zunehmend nur noch über die Setzung von Anreizen (sogenannter incentives) erreichbar.38 Das Völkerrecht, wie auch das Weltraumrecht, bieten insofern sehr anschauliche und lehrreiche Beispiele der Inzentivierung einer möglichen Rechtsbefolgung. In der eher archaischen Ordnung des Völkerrechts kann nur Anreiz-gesteuert die Verfolgung und letztlich auch Erzwingung bestimmter Ziele erreicht werden. Wir sollten also darauf hinarbeiten, für den Bereich Space Debris Anreize zu schaffen, so dass es sich wirtschaftlich lohnt Debris zu vermeiden und dass prämiert wird, wer Weltraumschrott einfängt und vernichtet. Eine marktwirtschaftlich strukturierte Weltraumreinigungsindustrie wäre hier das wohl am besten geeignete Mittel und jeder Erzwingung, die sowieso nicht gelingt, vorzuziehen.39 In diesem Bewusstsein einer Rechtsordnung, die auf in gewisser Weise verhaltensgesteuerter Freiheit der Entfaltung des Einzelnen und von Unternehmen in der internationalen Ordnung basiert, geht das Institut bald in die nächsten 100 Jahre an einer Fakultät, die hoffentlich noch lange die Möglichkeit gibt, wissenschaftlich-kreativ tätig sein zu können, wie sie dies schon in den vergangenen 100 Jahren getan hat. Ich bin stolz, Mitglied dieser Fakultät zu sein, und es ist mir ein Anliegen, dies am Ende dieses Vortrags auch deutlich zum Ausdruck zu bringen.

38 David M. Driesen, The Economic Dynamics of Law, Cambridge University Press 2012, S. 19; Alan O. Sykes, The Economics of Public International Law, University of Chicago, 2004; Eileen M. Crumm, The Value of Economic Incentives in Inter­ national Politics, Journal of Peace Research 1995. 39 Jospeh, N. Pelton, Space 2.0: revolutionary Advances in the Space Industry, Springer 2019, S. 87; Stella Tkatchova, Emerging Space Markets, Springer 2018, S. 107. 54

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Torsten Körber

Das Recht vor den Herausforderungen der Digitalisierung Inhaltsübersicht

I. Ausgangspunkt

IV. Digitale Plattformen

II. Digitalisierung

V. Daten

III. Algorithmen und Künstliche ­Intelligenz

VI. Fazit

I. Ausgangspunkt Digitalisierung betrifft heute praktisch alle Wirtschaftssektoren und Lebensbereiche. Wir sind zu Beginn des 21. Jahrhunderts Teil einer umfassenden digitalen Transformation ausgesetzt, die tiefgreifende Umwälzungen, aber auch zahlreiche Chancen mit sich bringt. In diesem Zusammenhang ist oft von „Industrie 4.0“ oder von der „4. Industriellen Revolution – nach Einführung der Dampfmaschine, der Fließbandproduktion und der Automatisierung  – die Rede. Noch wichtiger erscheint allerdings, dass wir uns auch in der Frühphase der „4. Informationellen Revolution“ befinden. Nach Erfindung der Sprache, der Schrift und des Buchdrucks hat die Möglichkeit der Informationssammlung und Informationsvermittlung mit der Einführung von Internet und Big Data einen erneuten Quantensprung erfahren. Diese „Informationsrevolution“ verändert und transformiert nicht nur die Wirtschaft. Die „digitale Transformation“ hat alle Bereiche der Gesellschaft erfasst. Sie prägt mit ihrem hohen Innovationstempo die Medien, die öffentliche wie private Kommunikation, zunehmend aber auch die Arbeitswelt und das Gesundheitswesen, Rechtspflege und Verwaltung, politischen Diskurs und Privatleben, und natürlich auch die Wissenschaft – um nur beispielhaft einige Felder zu nennen.

II. Digitalisierung „Digitalisierung“, verstanden im weiten Sinne digitaler Datenübermittlung und Datenverarbeitung, hat sich als Massenphänomen nicht erst in den letzten Jahren zugetragen. Schon 1981 kam der erste IBM PC auf den Markt. Seit 1989 gibt es digitale ISDN-Telefonie. Seit 1992 haben wir digitalen Mobilfunk. 1991 erblickten das World Wide Web und insbesondere auch der heute allgegen55

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wärtige Internet Protocol-Standard (IP) das Licht der Welt. Trotzdem hat die di­gitale Transformation von Gesellschaft, Wirtschaft und Recht nicht schon vor 30 oder 40 Jahren begonnen, sondern erst in den letzten Jahren maßgeblich an Fahrt aufgenommen. Die Gründe dafür sind in erster Linie technischer, aber auch ökonomischer Art. Auf der technischen Seite basiert die digitale Transformation einerseits auf der Möglichkeit einer schnellen und kostengünstigen Übertragung großer Datenmengen. Heute konkurrieren VDSL, Glasfaser, TV-Kabel und schnelle Funknetze. Mit 5G steht ein weiterer Technologiesprung im Bereich der Datenübertragung vor der Tür. Weitere technische Grundlage der digitalen Revolution ist, dass durch immer schnellere und billigere Prozessoren, Speicher und Algorithmen die Grundlagen für die Gewinnung, Speicherung und Verarbeitung immer größerer Datenmengen in Echtzeit geschaffen worden sind, kurz: für Big Data.1 Auf dieser Basis haben sich in der wirtschaftlichen Praxis unzählige neue digitale Dienste und Geschäftsmodelle entwickelt, die über das Internet einem großen, oft globalen Publikum angeboten werden. Das Internet hat nicht nur die Informationsverbreitung revolutioniert, sondern auch den Vertrieb von digitalen wie analogen Diensten und Produkten. Die Kosten für den Markt­ zutritt und den nationalen oder sogar globalen Vertrieb haben sich in vielen Bereichen drastisch reduziert. Über Marktplätze wie Amazon Marketplace und eBay haben auch kleine Anbieter von Waren Zugang zum Weltmarkt, ohne einen eigenen Vertrieb aufbauen zu müssen. Digitale Dienste werden heute, in diversen Sprachvarianten, oft global angeboten. Das „Home Office“ muss heute nicht mehr in derselben Stadt oder auch nur in demselben Land liegen. Auch bestimmte Arbeitsleistungen werden global im Wege des „Crowdworking“ – wie bei Amazons Mechanical Turk – abgefragt.2 Das bringt neue Herausforderungen u. a. für das Arbeitsrecht mit sich, weil die Grenzen zwischen selbstständiger und abhängiger Arbeit verwischt werden und eine grenzüberschreitende Durchsetzung von Schutzvorschriften schwierig, wenn nicht sogar unmöglich ist. Diese Entwicklungen haben Produktvielfalt, Erwerbschancen und Innovation beflügelt, aber auch eine Reihe von Rechtsfragen aufgeworfen. Rechtssetzung und Rechtsanwendung sind in den letzten Jahren komplexer geworden, weil die Digitalisierung den Akteuren einen zunehmend interdiszi Dieser Beitrag ist das moderat um Belege ergänzte Manuskript zu einem am 10.5.2019 gehaltenen Vortrag. Die Vortragsform wurde im Wesentlichen beibehalten. 1 Dazu auch BNetzA, Digitale Transformation in den Netzsektoren, Mai 2017, S. 30 ff. und 66 ff. 2 Vgl. https://www.mturk.com/. 56

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plinären und grenzüberschreitenden Blick abverlangt. Wer Recht setzen, dazu beraten oder Entscheidungen treffen will, sollte daher auch die ökonomischen und technischen Hintergründe verstehen. Wer als Anwalt oder Richter Rechtsfragen „mehrseitiger Märkte“ behandeln möchte, kommt nicht ohne gewisse ökonomische Grundkenntnisse aus und wer zu „Smart Contracts“3 oder „Blockchain“4 judiziert, sollte wenigstens im Ansatz die technische Funktionsweise dieser Verträge bzw. Verfahren verstehen. Diese Komplexität macht Gesetzgebung und Rechtsanwendung anfälliger für eine interessengeleitete Beeinflussung und lässt eine unabhängige Beratung durch die Wissenschaft heute wichtiger denn je erscheinen. Investitionen in die Forschung an Universitäten ist daher heute lohnender denn je. Andererseits lassen Digitalisierung und Big Data die Welt zusammenwachsen. Nationale Gesetze und Behördenkompetenzen stoßen an ihre Grenzen. Strenger nationaler Daten-, Jugendoder Arbeitnehmerschutz ist eine gute Sache. Doch können Unternehmen solcher Regulierung immer leichter durch eine Flucht in Länder mit geringer Regulierungsdichte ausweichen. Strenge nationale Regelungen laufen dadurch möglicherweise ins Leere oder sie erweisen sich sogar als Standortnachteile für heimische Unternehmen. Auch die Universitäten sind vor dem Hintergrund der Globalisierung berufen, zunehmend interdisziplinär und mit internationalen Bezügen auszubilden. Die Universität zu Köln ist insoweit sehr gut aufgestellt. Von besonderer Bedeutung im Kontext von Digitalisierung und Recht sind erstens die wachsende Rolle von Algorithmen und Künstlicher Intelligenz (KI), zweitens der Siegeszug internetbasierter Plattformunternehmen, z.B. für Waren (wie Amazon und eBay), für digitale Dienstleistungen (wie Apple, Face­book, Google und Microsoft) und für Medieninhalte (wie Netflix oder YouTube). Drittens ist auch die Rolle von Daten wichtiger geworden. Daten sind eine wichtige Ressource der digitalen Ökonomie. Sie werden von manchen sogar für „das Öl der digitalen Ökonomie“5 oder für ein Zahlungsmittel6 gehalten. Viertens ist damit (jedenfalls in Europa) eine wachsende Rolle des Datenschutzrechts verbunden, das immer mehr alle anderen Rechtsgebiete, einschließlich des Privatrechts überlagert. Die 2018 wirksam gewordene Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) legt hiervon Zeugnis ab. Welche He3 Dazu etwa Heckelmann, Zulässigkeit und Handhabung von Smart Contracts, NJW 2018, 504. 4 Dazu etwa Schrey/Thalhofer, Rechtliche Aspekte der Blockchain, NJW 2017, 1431. 5 Zu Recht gegen dieses Bild auch Kaben in Körber/Immenga (Hrsg.), Daten und Wettbewerb in der digitalen Ökonomie, 2016, S. 125 f. 6 Dagegen etwa Körber, Konzeptionelle Erfassung digitaler Plattformen und adäquate Regulierungsstrategien, ZUM 2017, 93, 95 f. 57

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rausforderungen folgen daraus für das Recht? Erfordern „Industrie 4.0“, „Handel 4.0“ und „Medien 4.0“ auch ein „Recht 4.0“?

III. Algorithmen und Künstliche Intelligenz Werfen wir zunächst einen Blick auf die Rolle von Algorithmen und Künstlicher Intelligenz. Ein „Algorithmus“ ist genaugenommen nur ein Rechenvorgang nach einem bestimmten sich wiederholenden Schema. Der Begriff wird in der öffentlichen Debatte allerdings auch als Synonym für komplexe Computerprogramme verwendet. Mit dem Begriff „Künstliche Intelligenz“ (oder kurz: KI) wird der Versuch beschrieben, bestimmte menschliche Entscheidungsstrukturen durch Algorithmen nachzubilden, die dann anstelle des Menschen „Entscheidungen treffen“.7 Algorithmen sind z.B. für automatisierte Produkte relevant (Stichwort: autonomes Fahren), aber auch für die automatisierte Produktion in der Industrie 4.0 (Stichwort: Smart Factory). Ihre wachsende Bedeutung stellt unter anderem das zivile Haftungs- und Vertragsrecht (Stichwort: Smart Contracts) und die Rechtspflege (Stichwort: Legal Tech)8 vor neue Herausforderungen. Das sind nur einige wenige Beispiele, die bereits eine Fülle von Rechtsfragen aufwerfen.9 Wozu ein Versagen von Algorithmen führen kann, wurde erst jüngst durch die tragischen Flugzeugabstürze der Boeing 737 Max-Flugzeuge deutlich. Diese Unglücke wurden nach derzeitigem Kenntnisstand durch einen fehlerhaften Algorithmus ausgelöst, der sich zu allem Übel nicht durch die menschlichen Piloten ausschalten ließ. Menschen wurden zu Objekten und Opfern des Versagens von Technik gemacht. Das wirft zivilrechtlich die Frage auf, wer für solche Fehler einstehen muss. Hierfür kommen verschiedene Personen in Betracht, z.B. der Nutzer (also z.B. der Autofahrer oder Pilot), der Eigentümer bzw. Halter der fehlerhaften Maschine, ihr Hersteller oder auch der Programmierer des fehlerhaften Algorithmus. Bei genauerem Zusehen stellt sich allerdings heraus, dass wir es hier letztlich gar nicht mit einem spezifischen „Digitalisierungsproblem“ zu tun haben, sondern eher mit „altem Wein“ in neuen „Schläuchen“, denn die gleichen Fragen stellen sich letztlich auch in „analogen 7 Dazu etwa Herberger, „Künstliche Intelligenz“ und Recht, NJW 2018, 2825; https:// de.wikipedia.org/wiki/Künstliche Intelligenz. 8 Dazu etwa Wagner, Legal Tech und Legal Robots in Unternehmen und den diese beratenden Kanzleien, BB 2017, 898; Römermann/Günther, Legal Tech als berufsrechtliche Herausforderung, NJW 2019, 551. 9 Dazu auch Körber/König, Haftungsrecht 4.0 in Frenz (Hrsg.), Handbuch Industrie 4.0, 2020, S. 257. 58

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Fällen“, in denen Maschinen, Tiere oder andere „teilautonome Systeme“ eingesetzt werden, von denen Gefahren für Dritte ausgehen. Und auch die Antworten können – ganz ohne Digitalisierung des Rechts – auf der Basis des klassischen Zivilrechts gefunden werden. In erster Linie haftet bei autonomen Systemen  – wie bei einem „analogen“ Auto – nach meinem Dafürhalten der Halter, denn er trägt die Verantwortung dafür, dass die gefährliche Maschine auf die Öffentlichkeit „losgelassen“ ­wurde. Die Halterhaftung ist schon heute bei Kfz10 oder Drohnen11 als verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung ausgestaltet. Die Europäische Kommission erwägt, eine EU-weite generelle Gefährdungshaftung für Halter autonomer Systeme einzuführen, um insoweit Rechtssicherheit herzustellen.12 Der Halter kann möglicherweise Rückgriff beim Hersteller nehmen und dieser ggf. beim Programmierer. Der Hersteller haftet nach den Grundsätzen der Produzentenhaftung ggf. auch neben dem Halter direkt gegenüber den Geschädigten.13 Den Nutzer, z.B. den Fahrer eines autonomen Fahrzeugs, wird vermutlich seltener als bisher eine Haftung treffen, soweit er sich auf das korrekte Funktionieren des Algorithmus verlassen durfte. Aber auch er muss für eine schuldhafte Fehlbedienung oder mangelnde Überwachung der Maschine einstehen. Wer z.B. ein selbstfahrendes Tesla-Fahrzeug nutzt, muss stets bereit sein, notfalls selbst zu übernehmen. Er darf nicht während der Fahrt schlafen oder sich volltrunken von der Software chauffieren lassen. Halter, Fahrer und Hersteller können und werden sich schließlich im Wege einer Haftpflichtversicherung von ihren Haftungsrisiken freizeichnen. Der Gesetzgeber wird ggf. über weitere Pflichtversicherungen nachdenken müssen wie sie schon heute z.B. für Pkw bestehen. Letztlich handelt es sich bei alledem aber nicht um ein neues „Haftungsrecht 4.0“, sondern allenfalls um eine moderate, zumeist klarstellende Anpassung des geltenden Rechts, das im Grundsatz schon heute „fit“ für die Digitalisierung ist. Allerdings wirft das autonome Fahren (als Beispiel für die zunehmende Automatisierung) auch noch ganz andere Fragen auf, die das öffentliche Recht und das Strafrecht – und darüber hinaus die ethischen Grundlagen des Rechts – betreffen. Die klassische Frage ist in diesem Kontext, wie ein Algorithmus, der ein autonomes Fahrzeug steuert, für Konfliktsituationen programmiert werden muss, in welchen es um die Abwägung von Rechtsgütern bis hin zum Le10 Vgl. § 7 Abs. 1 StVG. 11 Vgl. § 33 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 1 Abs. 2 S. 2 LuftVG. 12 Europäische Kommission, Liability for emerging digital technologies, SWD(2018) 137 final. 13 Vgl. ProdHaftG und die einschlägige Rspr. zu § 823 Abs. 1 BGB. 59

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ben geht: Soll der Algorithmus im Zweifel den Fahrer oder einen Fußgänger opfern? Soll er das Fahrzeug, wenn nur diese beiden Optionen bestehen, in die Kindergruppe oder in die Rentnergruppe lenken? Auf der einen Seite wird niemand ein Auto kaufen, das im Zweifel den Fahrer opfert. Ein englischsprachiger Beitrag zu dem Thema trägt deshalb den eingängigen Titel „Why Self-­ Driving Cars Must Be Programmed to Kill“.14 Auf der anderen Seite sind dem Staat (zumindest dem deutschen) Grenzen gesetzt, weil er – wie das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Luftsicherheitsgesetz zum Abschuss entführter Flugzeuge entschieden hat – keine Ermächtigung aussprechen darf, Leben zu opfern, um andere Leben zu retten.15 Die derzeit praktizierte (und vielleicht einzig vertretbare) Lösung ist es, dass es keine wirklich vollautonomen Fahrzeuge gibt. Kommt es zu einer Notfall-Situation, muss das System die Entscheidung wieder dem menschlichen Fahrer überlassen, auch wenn ein Fahrer, der sich normalerweise „fahren lässt“, damit vermutlich noch stärker überfordert sein wird als ein traditioneller „Selbstlenker“. Dieses Beispiel zeigt, dass Fragen der Digitalisierung oft nicht nur Rechtsfragen sind. Andere Disziplinen wie Ökonomie, Informatik oder Philosophie sind ebenfalls angesprochen. Die Rechtswissenschaftliche Fakultät hat deshalb jüngst eine fachübergreifende „Forschungsstelle für Recht und Ethik der digitalen Transformation“ gegründet. Ähnlich wie mit der Haftung verhält es sich auch mit der Frage, ob Algorithmen wirksam Willenserklärungen abgeben und Verträge schließen können. Algorithmen de lege ferenda eine „Teilrechtsfähigkeit“ zuzuerkennen und ihnen die Fähigkeit zuzusprechen, „eigene“ Willenserklärungen abzugeben, wie vereinzelt gefordert wird,16 halte ich für falsch. Ein solcher Ansatz würde auch in der Sache nicht weiterhelfen, weil Algorithmen über kein eigenes Vermögen verfügen und letztlich doch dahinterstehende Personen für ihre Fehler einstehen müssten. Maschinen oder Softwareprogramme haben keine Rechtspersönlichkeit. Vielmehr sind Erklärungen, über deren Inhalt faktisch der Al­ gorithmus „entscheidet“ als Willenserklärungen desjenigen anzusehen, der sich eines solchen Programms bedient. Dies gilt grds. auch für sog. „Smart Contracts“, d.h. selbstausführende, auf Algorithmen basierende Verträge bzw. Computerprogramme, die manipulationssicher (z.B. in einer Blockchain) gespeichert sind und die bei Eintritt einer bestimmten Bedingung automatisch

14 S.  https://www.technologyreview.com/s/542626/why-self-driving-cars-must-be-pro​ grammed-to-kill/. 15 BVerfG, Urt. v. 15.2.2006 – 1 BvR 357/05, BVerfGE 115, 118. 16 Vgl. etwa Teubner, Digitale Rechtssubjekte? AcP 218, 155 ff. 60

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eine zuvor vereinbarte Handlung vornehmen, z.B. Nachbestellungen tätigen oder Stromverbräuche im Rahmen der Elektromobilität abrechnen. Ein eher skurriles Beispiel aus der Praxis dafür, dass bei solchen „Entscheidungen durch Algorithmen“ etwas schief gehen kann, ist der Fall „The Making of a Fly“. Zwei antiquarische Buchhändler – profath und bordeebook – vertrieben antiquarische Bücher über den Amazon Marketplace. Beide Konkurrenten nutzen Preissetzungsalgorithmen, um die Preise des jeweiligen Wettbewerbers zu überwachen und die eigenen Preise automatisch anzupassen. Dies geschah auch für ein vergriffenes Buch über Evolutionsbiologie – „The Making of a Fly“ von Peter Lawrence. Der Algorithmus von profath war so programmiert, dass er den eigenen Preis einmal am Tag auf das 0,9983-fache des Preises von bordeebooks anpasste. Der Algorithmus von bordeebooks setzte den Preis wiederum einmal täglich auf das 1,270589-fache des Preises von profath fest. Das Zusammenspiel dieser beiden Algorithmen hatte zur Folge, dass sich der Preis für das Buch immer weiter hochschaukelte. Am Ende wurde es für sage und schreibe 23.698.655,93 Dollar (plus 3,99 Dollar Versandkosten) angeboten. Nachdem der Fehler erkannt war, wurde der Preis auf angemessene 106,23 US-Dollar gesenkt.17 In diesem Fall ist kein Schaden entstanden. Soweit bekannt, hat niemand das Buch für 24 Mio. Dollar erworben. Aber hätten die Algorithmen z.B. in die andere Richtung gewirkt und das Buch am Ende für einen Cent angeboten, hätten sich die Buchhändler das grundsätzlich als eigene Erklärung zurechnen lassen müssen. Wenn ein Algorithmus einen solchen Fehler macht, muss sich derjenige, der dem Algorithmus quasi ein „Blankett“ ausgestellt und ihn zum Einsatz gebracht hat, daran festhalten lassen. Das gilt auch dann, wenn die „Entscheidungen von Algorithmen“ zu Rechtsverstößen führen, z.B. weil sie diskriminierende Entscheidungen treffen, Preise auf einem ausbeuterischen Niveau festsetzen oder Kartelle schließen,18 denn letztlich steht hinter jeder „Entscheidung“ eines Algorithmus eine Programmroutine, die ein Mensch programmiert hat und für deren Einsatz sich letztlich ein Mensch entschieden hat. Auch die Zurechnung automatisierter Willenserklärungen wirft damit letztlich keine besonderen „digitalen“ Probleme auf. Eine gesetzliche Klarstellung, wie sie u.a. die Arbeitsgruppe 4 der Plattform Industrie 4.0 angeregt hat,19 ist daher nicht unbedingt erforderlich, mag aber dennoch sinnvoll sein, um letzte Zweifel auszuräumen.

17 S. https://www.wired.com/2011/04/amazon-flies-24-million/. 18 Vgl. etwa Ylinen, Digital Pricing und Kartellrecht, NZKart 2018, 19. 19 S. Plattform Industrie 4.0, Industrie 4.0 – wie das Recht Schritt hält, 2016, abrufbar unter http://t1p.de/cucs. 61

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Als drittes Beispiel für das Wirken und für die Grenzen von Algorithmen möchte ich einen kurzen Blick auf das Feld „Legal Tech“ werfen. Unter „Legal Tech“ versteht man – kurzgefasst – Software-Lösungen und Online-Dienste, die den Rechtsanwender bei der juristischen Analyse unterstützen oder diese Analyse (teil-)automatisiert auf der Basis von Algorithmen durchführen und die darauf zielen, effizientere und schnellere Rechtsberatung zu ermöglichen.20 Schon heute werden diverse unterstützende Legal Tech-Anwendungen im Bereich der Dokumentenanalyse genutzt. So hilft z.B. die Software „Leverton“ bei der Analyse komplexer Immobilienverträge21 und die Software „Kira“ tut ähnliches im Bereich der Dokumentensichtung bei Due Dilligence-Prüfungen.22 Diese Programme sichten tausende von Seiten und erleichtern es damit den Anwälten und Ökonomen, sich auf die „höheren Dienste“ der Analyse der wirklich wichtigen Dokumente zu konzentrieren. Daneben treten zunehmend automatisierte juristische Beratungsdienste. So gibt es bereits Portale oder „Plattformen“, die den Bürgern die Möglichkeit bieten, automatisiert ihre Rechte geltend zu machen oder Rechtsauskünfte zu erhalten. Sie können z.B. Hartz IV-Bescheide auf rightmart.de oder Park-Knöllchen auf donotpay.com auf Fehler untersuchen lassen. Gleich mehrere Portale werben um die Gunst von Kunden, die Flugreiseentschädigungen begehren, so etwa www.flightright.de oder www.wirkaufendeinenflug.de. Andere Plattformen wie smartlaw.de bieten sog. „Vertragsgeneratoren“ an, die gegen eine vergleichsweise geringe Gebühr zwischen 9 und 79 Euro mithilfe eines Frageund Antwort-Dialogs – eines sog. „Chatbots“ – Vertragsformulare und Schreiben von A wie „Abmahnung eines Arbeitsnehmers“ bis Z wie „Zwischenmietvertrag“ erstellen. Solche Legal Tech-Angebote werden den Rechtsberatungsmarkt verändern, aber sie werden die Anwaltschaft – und erst recht die Justiz – sicher nicht ersetzen. Eine echte „Rechtsberatung“ durch Legal Tech-Anwendungen findet (noch?) nicht statt. Die meisten aktuellen Vertragsgeneratoren sind wenig mehr als „automatisierte Formularsammlungen“ oder Checklisten mit Ausfüllanleitung, ähnlich wie die Steuerberatungssoftware, die viele von uns nutzen. 20 Dazu etwa Wagner, Legal Tech und Legal Robots in Unternehmen und den diese beratenden Kanzleien, BB 2017, 898; Römermann/Günther, Legal Tech als berufsrechtliche Herausforderung, NJW 2019, 551; s. auch https://de.wikipedia.org/wiki/ Legal_Technology. 21 S. https://www.leverton.ai/de/. 22 S. https://kirasystems.com/. 62

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„Chatbots“ und die dahinterstehenden Algorithmen sind – jedenfalls noch – nicht in der Lage, kreativ zu denken, komplett neue Sachverhalte zu erfassen und komplexe Lösungen abseits von vordefinierten Standards zu finden.23 Die eigentliche juristische Arbeit bleibt damit menschlichen Rechtsberatern vorbehalten. Und das gilt natürlich erst recht für die Justiz. Dass Algorithmen verbindliche Entscheidungen anstelle der staatlichen Justiz treffen, erscheint schon mit Blick auf den Grundsatz des gesetzlichen Richters ausgeschlossen. Einen Menschen zu Objekt eines Strafurteils zu machen, das von einem Algorithmus ausgesprochenen wird, würde sicher auch die Menschenwürde verletzten. Bußgeldbescheide werden allerdings  – etwa bei zu schnellem Fahren  – schon heute automatisiert erstellt. Und auch für die Schiedsgerichtsbarkeit im Handelsverkehr kann anderes gelten, wenn sich die Parteien freiwillig einem Algorithmus unterwerfen. Hinzu kommt, dass auch die staatliche Justiz vor der Frage steht, welche Rolle man juristischen Analysetools für die Vorbereitung von Entscheidungen beimessen kann und vor allem beimessen will. So gibt es z.B. Legal Tech-Ansätze im Bereich der Prozessrisikoanalyse oder „Legal Prediction“, die umfassend Behörden- oder Gerichtsentscheidungen auswerten und auf dieser Basis versuchen, den Ausgang offener oder noch gar nicht eröffneter Rechtsstreitigkeiten vorherzusagen.24 Das ist sicherlich hilfreich, wenn es darum geht, als Anwalt das Prozesskostenrisiko abzuschätzen, wird aber problematisch, wenn Richter dadurch unter Druck gesetzt werden, den Vorschlägen des Algorithmus zu folgen. Ein entsprechendes Caveat gilt in Bezug auf das sog. „predictive policing“, also für die bereits heute eingesetzte computerbasierte Vorhersage von Kriminalität. Ein solches Verfahren ist als generelles Hilfsmittel – etwa, wenn es um den sinnvollen Einsatz knapper Polizeiressourcen geht – sicher sinnvoll.25 Es wird aber problematisch, wenn es das Verhalten konkreter Individuen voraussagt und darauf basierende Einzelfallentscheidungen getroffen werden sollen. Im Film „Minority Report“ werden „künftige Mörder“ gejagt und präventiv festgenommen, weil ein Algorithmus zu dem Schluss gekommen ist, dass sie sonst Straftaten begehen würden. Dass so etwas nicht nur „science fiction“ ist, zeigt 23 So zu Recht auch Meyer, Digitale Disruption, 2. Aufl. 2017, S. 61. 24 Dazu etwa Zander, Vorhersagen, wie Richter ticken: Legal Prediction, AnwBl 2017, 181. 25 Dazu etwa Singelnstein, Predictive Policing: Algorithmenbasierte Straftatprognosen zur vorausschauenden Kriminalintervention, NStZ 2018, 1. 63

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ein Blick nach China. Dort ist Datenschutz praktisch nicht existent, und ein „social scoring“ (d.h. die Überwachung und Bewertung des Alltagsverhaltens von Menschen) hat erhebliche Auswirkungen auf das Leben von Individuen.26 Dass eine solche Dauerüberwachung auch bei uns nicht fernliegt, zeigen Gesundheits-Apps und ähnliche Telematik-Dienste. Solange solche Apps freiwillig und im Einklang mit dem Datenschutz eingesetzt werden, ist nichts dagegen einzuwenden. Würden sie aber Voraussetzung, um überhaupt noch eine bezahlbare Krankenversicherung zu bekommen, müsste der Staat aktiv werden. Die Digitalisierung bietet viele Chancen, die wir grundsätzlich nutzen und nicht aus Angst vor dem Neuen und Unbekannten verteufeln sollten. Bloßes „Unbehagen“ ist eine denkbar schlechte Grundlage für Gesetzgebung. Aber ein demokratischer Rechtsstaat muss natürlich auch darauf achten, die verfassungsmäßige Ordnung und die Bürgerrechte zu wahren. Man muss auch in Zeiten der Digitalisierung nicht „alles zu machen, was geht“. Die Digitalisierung ist allerdings – anders als dies manche Politikerrede vermuten lässt  – keine Staatsaufgabe, wir leben in einer Marktwirtschaft und nicht in einer Planwirtschaft. Das zu betonen ist heute wichtiger denn je. Digitalisierung ist in erster Linie Aufgabe der Selbstorganisation von Wirtschaft und Gesellschaft. Sie findet in der Regel ganz von selbst statt, wenn und soweit sie effizient ist und der Staat sie nicht in übertriebenem Maße behindert. Vornehmste Aufgabe des Staates ist es in diesem Kontext, gerade auch durch Rechtssetzung, der Digitalisierung Leitplanken zu setzen und dafür zu sorgen, dass Allgemeinwohlinteressen gewahrt bleiben, wenn der Markt versagt, z.B. beim Aufbau von schnellen Internetleitungen im ländlichen Raum oder im Bereich des Datenschutzes. Staatliches Handeln bedarf dabei – wenn es in die Rechte der Bürger oder Unternehmen eingreift  – stets einer Legitimation. Selbststeuerung durch den Markt ist die Regel, Regulierung die einer Begründung bedürftige Ausnahme. Ist Regulierung im Grundsatz erlaubt, muss sie so wettbewerbsneutral wie möglich erfolgen. Im Bereich der Digitalisierung bedeutet dies, dass der Staat zwar Digitalisierung an sich fördern darf, z.B. um im Bereich der Funkfrequenzen eine „digitale Dividende“ zu heben. Aber der Staat darf nicht darüber entscheiden, welche von mehreren konkurrierenden Technologien sich durchsetzt. Daher hat die EU-Kommission z.B. zu Recht eine Bevorzugung von DVB-T-Fernsehen 26 Dazu etwa https://www.deutschlandfunk.de/social-score-wie-china-die-digitale-­ ueberwachung-vorantreibt.676.de.html?dram:article_id= 442872. 64

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Das Recht vor den Herausforderungen der Digitalisierung

gegenüber digitalem Kabel und Satellit verboten,27 und Gleiches würde gelten, wenn der Staat DAB-Radio fördern würde, nicht aber gleichermaßen andere digitale Radioangebote, z.B. über das Internet. Auch und besonders im Bereich der Digitalisierung ist dabei wichtig, dass der Staat sich auch von ökonomischem Sachverstand leiten lässt, und jedenfalls nicht nur von Ideologien und Partikularinteressen oder von dem Irrglauben, es besser zu wissen als der Markt.

IV. Digitale Plattformen Verlassen wir das weite Feld von Algorithmen und KI und wenden uns dem zweiten großen Themenfeld zu: Digitalen Plattformen. Wenn im Kontext der Digitalisierung von einer „Disruption“ oder „Revolu­ tion“ die Rede ist, dann ist dies zumeist mit dem großen Erfolg sog. Platt­ formunternehmen verbunden. Wer früher Menschen transportieren wollte, musste Fahrzeuge kaufen. Wer Reisende beherbergen wollte, baute Hotels, und wer eine Zeitung herausgeben wollte, musste einen Verlag gründen. Heute dominiert Flixbus das deutsche Fernbusgeschäft, obwohl es selbst nur einen einzigen Bus besitzt. Airbnb ist ein maßgeblicher Anbieter für Hoteldienstleistungen, ohne über eigene Hotels zu verfügen, und Google News stellt Überblicke journalistischer Beiträge zu einer Art Online-Zeitung zusammen, ohne selbst Journalisten zu beschäftigen. Diese Unternehmen der Digitalwirtschaft fungieren als „Plattformen“, die unterschiedliche wirtschaftliche Interessen und Akteure zusammenführen. Sie führen Transportunternehmen und Fahrgäste zusammen (wie Flixbus oder Uber). Sie verbinden Verlage und Leser (wie Google News) oder sie vermitteln (wie Airbnb oder YouTube) sogar Kontakte unmittelbar zwischen Bürgerinnen und Bürgern, die ihre Leistungen im Sinne einer „Sharing Economy“ direkt miteinander austauschen. Kommerzielle Anbieter (etwa Hotels oder Privatfernsehsender) werden dadurch teilweise verdrängt. Recht und Politik stehen insoweit vor der Herausforderung, einen fairen Wettbewerb von alten und neuen Diensten zu ermöglichen, ohne die Innovation zu behindern. Das Recht ist oft an den traditionellen Diensten orientiert und erfasst die neuen Dienste daher nicht. Es fehlt an einem regulatorischen „Level Playing Field“, also an gleichen Wettbewerbsbedingungen für alle. So ist beispielsweise das Taxigewerbe strengen Regeln durch das Personenbeförderungsrecht unter27 S. dazu EuG v. 6.10.2009 – T-24/06, ECLI:EU:T:2009:388 – MABB/Kommission. 65

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worfen, von denen viele Vermittlungsplattformen wie Uber Pop nicht erfassen. Das Privatfernsehen unterliegt weit stärker als Internetdienste wie You­ Tube oder Netflix der Regulierung durch den Rundfunkstaatsvertrag. Die Forderung nach „gleichem Recht für alle“ ist im Grundsatz berechtigt. Daraus sollte aber nicht vorschnell die Forderung abgeleitet werden, die neuen Dienste oder gleich das ganze Internet zu regulieren bzw. sogar die neuen Dienste ganz zu verbieten. Der Staat darf den Wettbewerb nicht verzerren, aber das bedeutet nicht, dass er gezwungen wäre, nunmehr auch die neuen Dienste der alten Regulierung zu unterwerfen oder sie sogar zu untersagen, weil die alte Regulierung für sie ganz einfach nicht passt. Vielmehr sollte der Staat den durch die Digitalisierung gesteigerten Wettbewerb zum Anlass nehmen, über eine Deregulierung der alten Dienste nachzudenken. So gibt es im Personenbeförderungsrecht möglicherweise anachronistische Regelungen, die effektiv eher die etablierten Unternehmen als die Fahrgäste schützen. Die Regulierung des Privatfernsehens durch den Rundfunkstaatsvertrag ist in weiten Teilen anachronistisch. Sie wurde in Zeiten analoger Frequenzknappheit etabliert, um die Meinungsvielfalt zu sichern. In Zeiten des Internet und der Digitalisierung haben wir aber sicher kein „Knappheitsproblem“ mehr, sondern eher ein neues Problem des Informationsüberflusses. Eine schon für das Fernsehen unzeitgemäße Regulierung auf das Internet zu übertragen, und z.B. Privilegien für das öffentlich-rechtliche Fernsehen oder „Programmfenster“ zu verlangen, ist meines Erachtens abwegig.28 Eine staatliche Regulierung muss hier – wenn sie überhaupt erforderlich ist – anders gestaltet sein. So wäre es beispielsweise offensichtlich unsinnig, die auf einen Kundenschutz vor finanzieller Ausbeutung gerichteten Schutzregelungen des Telekommunikationsgesetzes auf monetär kostenfreie „OTT-Dienste“ (wie WhatsApp oder Skype) zu übertragen, für welche die Kunden mit ihrer Aufmerksamkeit für Werbung und vielleicht auch durch Einräumung von Datennutzungsrechten bezahlen. Andererseits stellen sich aber vielleicht neue Herausforderungen im Bereich des Datenschutzes und des Fernmeldegeheimnisses.29 Kurzgefasst: Das Recht „fit“ für die Digitalisierung zu machen, bedeutet nicht notwendig, zusätzliche neue Regeln zu setzen. Wird ein Gesetz überprüft, sollte als erstes die Frage gestellt werden, ob es in Zeiten der digitalen Transformation überhaupt noch erforderlich ist. Ist im konkreten Fall tatsächlich Regulierung legitimiert und nicht Deregulierung angezeigt, so muss bezüglich des 28 Dazu schon Körber, Sektorspezifische Rundfunkregulierung oder „Wettbewerb 2.0“?, ZWeR 2009, 315 ff. 29 Dazu etwa Wissenschaftlicher Arbeitskreis für Regulierungsfragen der BNetzA, ­Fragen der Regulierung von OTT-Kommunikationsdiensten, Positionspapier v. 15.7.2016. 66

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„Wie“ der Regulierung darauf geachtet werden, dass das Gesetz möglichst neutral, insbesondere technologieneutral, ausgestaltet wird, damit es nicht zum Innovationshindernis wird. Ähnlich vorsichtig müssen auch die Rechtsanwender vorgehen, wenn sie mit neuen „digitalen“ Sachverhalten konfrontiert sind. Beispielsweise versuchen etablierte Unternehmen im Kontext der Digitalisierung bisweilen, sich mithilfe des Kartellrechts vor Wettbewerb und vor Innovation zu schützen. So kann in der traditionellen „Leistung gegen Geld-Welt“ kein Anbieter seine Leistungen – seien es Waren oder Dienste – dauerhaft unter den Selbstkosten oder sogar kostenlos anbieten. Hier wäre eine Insolvenz vorprogrammiert. Wer sich dennoch – scheinbar wider die ökonomische Vernunft – so verhält, führt mutmaßlich Böses im Schilde. Es liegt der Verdacht nahe, dass ein finanzstarkes Unternehmen seine Produkte für eine gewisse Zeit kostenlos oder zu Kampfpreisen verteilt, um die Wettbewerber zu verdrängen, ein Monopol zu erringen und dann die Verluste doppelt wieder hereinzuholen, indem es die Bürger durch Monopolpreise „schröpft“. Genau dies wurde Google Maps durch traditionelle Anbieter von Kartendiensten vorgeworfen. Bevor es Google Maps gab, musste man Kartenausschnitte für den Internetauftritt („Wo sie uns finden“) gegen Geld bei kommerziellen Kartendiensteanbietern lizenzieren. Google Maps bot diesen Dienst dann seit 2006 kostenfrei an. Das hatte – wenig überraschend – zur Folge, dass sich viele Nutzer von den traditionellen Diensten abwandten und stattdessen Google Maps nutzten. Die Marktanteile der traditionellen Anbieter schrumpften, und sie drohten vom Markt zu verschwinden. Ein Kartendiensteanbieter wandte sich daraufhin an die Kartellbehörden und verlangte, dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten. Zu Unrecht: Das Angebot der Google Maps-Dienste ist nämlich – obwohl für die Nutzer grds. kostenfrei – kein Fall der Kampfpreis­ unterbietung. Google „verschenkt“ seine Dienste gar nicht, sondern finanziert sie indirekt über Werbung. Die Einnahmen sind auf eine andere Marktseite „verlagert“. Google Maps operiert auf einem mehrseitigen Markt mit einer kostenfreien und einer kostenpflichtigen Seite. Das Unternehmen verwendet also lediglich ein innovatives, digitales Geschäftsmodell  – das sich übrigens gar nicht so sehr vom Privatfernsehen oder von kostenlosen Anzeigenblättern unterscheidet. Die Verdrängung der traditionellen Anbieter ist nicht Ausdruck einer wettbewerbswidrigen Kampfpreisunterbietung, sondern im Gegenteil Ausdruck eines funktionierenden Wettbewerbs der Geschäftsmodelle. Die Kartellbehörden haben dies erkannt und das Ansinnen, das kostenfreie Angebot von Google Maps zu unterbinden, zu Recht zurückgewiesen.30 30 Dazu auch Körber, Google im Fokus des Kartellrechts, WRP 2012, 767. 67

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Wer nicht effizient und innovativ ist, verschwindet vom Markt und macht Platz für zukunftsfähigere Unternehmen. Das ist in der Ökonomie nicht anders als in der Natur. Es gilt der Grundsatz des „Survival of the fittest“. Es ist gerade die Gefahr Marktanteile zu verlieren – oder umgekehrt: die Aussicht, Marktanteile zu gewinnen – welche die Unternehmen dazu antreibt, ihre Preise zu senken und ihre Produkte zu verbessern. Der Bessere möge gewinnen. Das ist Wettbewerb, von dem auch die Konsumenten profitieren. Bisweilen hat man allerdings den Eindruck, dass diese Selektion in der Digitalwirtschaft „zu gut“ funktioniert. Gerade in der digitalen Ökonomie zeigt sich auf einigen Märkten eine Tendenz zur „Monopolisierung“. Unternehmen wie Google, Facebook oder Amazon haben in letzter Zeit sehr große Marktanteile errungen, teils sogar Quasi-Monopole etabliert. Das hat den Ruf nach einer „Zerschlagung“, jedenfalls aber strengeren Regulierung der „Internetmono­ pole“ laut werden lassen, der sich sowohl an die Behörden als auch an den Gesetzgeber richtet. So forderte im Januar 2018 die aus gut 20 Nichtregierungsorganisationen (darunter z.B. BUND und Oxfam) bestehende Initiative „Konzernmacht beschränken“, u.a. eine missbrauchsunabhängige Entflechtung, insbesondere auch großer Internetunternehmen, eine Regulierung kommerzieller Plattformen und einen Parlamentsvorbehalt für Ministererlaubnisse in der Fusionskontrolle.31 Überlegungen zu einer missbrauchsunabhängigen Entflechtung nach dem Muster „groß ist böse“ sind schon im Rahmen der 8. GWB-Novelle 2013 angestellt worden und damals zu Recht schnell wieder im Giftschrank der Wettbewerbspolitik verschwunden. Jedes Unternehmen strebt danach, im Wettbewerb zu wachsen und seinen Wettbewerbern Marktanteile abzujagen. Das ist – wie wir gesehen haben – die Essenz des Wettbewerbs. Würden Unternehmen Gefahr laufen, zerschlagen zu werden, nur weil sie „zu erfolgreich“ sind, so würde das Kartellrecht von einem Instrument zum Schutz des Wettbewerbs zu einer Waffe gegen Wettbewerb und gegen Innovation pervertiert. Das wäre dann eher „DDR 2.0“ als „Rechtsstaat 4.0“. Monopole sind – wenn sie im Wettbewerb errungen werden – nach deutschem wie europäischem Recht legal. Eine Entflechtung ist im deutschen wie euro­ päischen Kartellrecht außerhalb der Fusionskontrolle zu Recht nur als ultima ratio gegenüber kartellrechtlichen „Intensivtätern“ vorgesehen, denen weder durch Untersagungsverfügungen noch durch drastische Bußgelder beizukommen ist. Es ist daher richtig, dass das Kartellrecht den Sirenengesängen, die eine Entflechtung oder staatliche Überwachung fordern, widerstanden hat. Sie sind in ähnlichem Maße ökonomisch abwegig und verfassungsrechtlich be31 S.  https://www.oxfam.de/ueber-uns/publikationen/breites-buendnis-gegen-markt​ macht-megakonzerne. 68

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denklich wie die jüngst kolportierten, neo-sozialistischen Forderungen nach einer Enteignung von Haus- und Grundeigentümern oder nach einer Verstaatlichung von BMW. Insbesondere weiß man heute, dass es Märkte gibt, die – etwa wegen starker Skalen- oder Netzeffekte – zu einem Oligopol (d.h. es gibt nur wenige Anbieter) oder sogar zu einem Monopol tendieren. Das muss der Konsumentenwohlfahrt und der Innovation, solange wirksamer Wettbewerb gewährleistet ist, nicht abträglich sein, sondern kann sie sogar fördern. Es gibt hochkonzentrierte Märkte mit intensivem Wettbewerb (etwa im Mobilfunk). Und selbst vorübergehende Monopole können unbedenklich sein, solange sie angreifbar (contestable) sind und der Monopolist von heute befürchten muss, morgen durch einen „Wettbewerb um den Markt“ vom Thron gestoßen zu werden. Das ist in der Vergangenheit gerade in der digitalen Ökonomie des Öfteren geschehen. So hat Facebook MySpace bzw. StudiVZ als führendes soziales Netzwerk abgelöst, und bei den Suchmaschinen folgte Yahoo! auf AltaVista, um dann selbst von Google abgelöst zu werden.32 Eine Zurückhaltung der Kartellbehörden bedeutet in diesem Kontext kein „laissez faire“. Vielmehr hat die kartellrechtliche Missbrauchsaufsicht ein waches Auge auf das Verhalten marktbeherrschender Unternehmen, um zu verhindern, dass sie ihre Macht missbrauchen, um ihre Kunden auszubeuten oder ihre Wettbewerber zu behindern und ihre Macht auf andere Märkte auszudehnen. Während man den US-Behörden insoweit – freundlich ausgedrückt – in der Tat eine starke Zurückhaltung attestieren kann (die erst in jüngster Zeit wieder etwas härteren Tönen weicht),33 neigen die deutschen und europäischen Behörden – auch in der digitalen Ökonomie – keineswegs zu übertriebener Milde, sondern schießen im Gegenteil bisweilen über das Ziel hinaus, weil sie zu früh in Fällen eingreifen, die der Wettbewerb auch selbst gelöst hätte. Zwei Beispiele: Als Microsoft 2004 nach Auffassung der EU-Kommission versuchte, sein Quasi-Monopol auf dem Markt für PC-Betriebssysteme auf den Markt für Streaming Media-Player für die Wiedergabe von Musik und Videos über das Internet auszudehnen, wurde es mit einem Bußgeld von rund 500  Mio. Euro belegt und verpflichtet, in Europa neben dem vollständigen Windows auch eine abgespeckte Windows-Version ohne Media-Player anzu32 Dazu schon Körber, Analoges Kartellrecht für digitale Märkte, WuW 2015, 120, 123 f.; ders., Die Macht der Monopole, NZKart 2018, 105. 33 S.  https://www.deutschlandfunk.de/kartellrechtliche-ueberpruefung-usa-wollen-­ internet.1773.de.html?dram:article_id= 450577. 69

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bieten.34 Allerdings hatte die Kommission die Rechnung ohne den Wirt gemacht: Niemand kaufte diese abgespeckte Version. Praktisch alle PCs wurden weiterhin mit dem vollständigen Windows mit Media Player ausgeliefert. Trotzdem ist der Windows Media-Player heute nicht das dominierende Abspielprogramm für das Medienstreaming im Internet, sondern praktisch irrelevant. Mit anderen Worten: Die Kommission hatte sich geirrt. Ein Eingreifen war nicht erforderlich. Und Gleiches gilt für eine Entscheidung von 2009, mit welcher Microsoft von der Kommission aufgegeben wurde, in der europäischen Version von Windows einen Auswahlbildschirm für verschiedene Webbrowser zur Verfügung zu stellen, um eine Dominanz des „Microsoft Internet Explorers“ zu verhindern.35 In der Folgezeit sank die Bedeutung des Internet Explorers zwar in der Tat. Aber das galt nicht nur für Europa, sondern auch für alle anderen Länder, in denen Windows weiter ohne diesen Auswahlbildschirm verkauft wurde. Heute liegt der Marktanteil der Microsoft Browser (MSIE und Edge) z.B. auch in den USA bei unter 20 %, weil zwischenzeitlich andere, bessere Produkte auf den Markt gekommen sind.36 Die Kommission lag wieder falsch. Ob die Kommission mit ihren jüngsten Entscheidungen gegen Google besser fährt, bleibt abzuwarten. Diese Beispiele zeigen, dass die Kraft des Marktes, des Wettbewerbs und der Innovation, die gerade in der digitalen Ökonomie besonders stark ist, oft sogar von den insoweit besonders kompetenten Kartellbehörden unterschätzt wird. Manche Gerichte – etwa das Bundesverfassungsgericht in seiner Rundfunkrechtsprechung37 – und bisweilen auch der Gesetzgeber sind insoweit leider tendenziell noch misstrauischer dem Markt gegenüber. Diese Beispiele zeigen aber auch, dass der kartellrechtliche Instrumentenkasten durchaus die erforderlichen Werkzeuge enthält, um auch die digitale Ökonomie zu kontrollieren. Man muss diese Werkzeuge nur richtig anwenden. Es ist daher richtig, dass mit der 9. GWB-Novelle 2017 keine nur für die Digitalwirtschaft geltenden Sondernormen ins deutsche Kartellrecht eingefügt wurden. Dass es im deutschen wie europäischen Kartellrecht keine spezifisch auf die digitale Ökonomie ausgerichteten Vorschriften gibt, ist keine Schwäche, sondern eine Stär34 KOMM. 24.3.2004, Case 37792 – Microsoft (Media Player). 35 KOMM. 16.12.2009, Case 39530 – Microsoft (Internet Explorer). 36 S. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/184317/umfrage/marktanteile-der-­ browser-bei-der-internetnutzung-in-den-usa-seit-2009/. 37 Vgl. etwa BVerfG v. 11.9.2007 – 1 BvR 2270/05, 1 BvR 809/06 und 1 BvR 830/06, BVerfGE 119, 181; kritisch dazu Körber, Sektorspezifische Rundfunkregulierung oder „Wettbewerb 2.0“?, ZWeR 2009, 315 ff. 70

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ke. Das Kartellrecht ist gerade deshalb fit für die digitale Ökonomie, weil es keine besonderen Regelungen für die digitale Ökonomie enthält und es bleibt zu hoffen, dass die neuerlichen (politisch gewollten, aber im Grunde überflüssigen) Ergänzungen des GWB im Rahmen der 10. Novelle („GWB-Digitalisierungsgesetz“) ähnlich moderat ausfallen werden. Auch wenn es auf den ersten Blick widersprüchlich klingt, gerade im Fehlen besonderer Digitalregelungen den Schlüssel für den Erfolg des GWB in Bezug auf die Regulierung der Digitalwirtschaft zu sehen, so leuchtet dieser Befund ein, wenn man sich vor Augen führt, dass das Kartellrecht – ebenso wie etwa das BGB – oftmals auf Generalklauseln setzt. Solche Generalklausen können von Behörden und Gerichten flexibel eingesetzt werden, um trotz der ungeheuren Dynamik der digitalen Ökonomie mit eben dieser Dynamik Schritt zu halten, während notwendig auf den technischen Status quo zugeschnittene Spezialregeln schnell veralten, weil Gesetzgebung ein regelmäßig langwieriger Prozess ist. Dies gilt nicht nur für das Kartellrecht, sondern für die meisten Rechtsgebiete. Man denke nur an das seit 120 Jahre in seinem Kern unverändert funktionsfähige Bürgerliche Gesetzbuch.

V. Daten Im letzten Teil meines Vortrags möchte ich mich der Frage zuwenden, welche Anforderungen an das Recht sich aus der zunehmenden Rolle von Daten ergeben. Zivil- und wettbewerbsrechtliche Fragen der Datenwirtschaft sind vielfältig. Etwa die Frage nach dem richtigen Niveau des Datenschutzrechts,38 die Frage, ob wir ein „Datenschuldrecht“ oder „Dateneigentumsrecht“ brauchen,39 weil im Internet oft mit Daten statt mit Geld „bezahlt“ werde,40 die Frage, ob wir im Gegenteil – wie jüngst Frau Nahles gefordert hat – Daten zum „Gemeingut“ erklären und ein allgemeines „Daten für alle“-Teilhaberecht an den Datenschätzen großer Unternehmen einführen sollten.41 In diesem Zusammenhang ist, wie bereits erwähnt oft von Daten als „Öl der digitalen Wirtschaft“ oder Daten als „Währung des Internets“ die Rede. Beide Bilder sind 38 Hierzu erfolgten auch sehr umfassende Debatten im Rahmen der Schaffung der DSGVO, die deshalb in weiten Teilen von Kompromissformeln geprägt ist. 39 Dazu etwa Zech in Körber/Immenga (Hrsg.), Daten und Wettbewerb in der digitalen Ökonomie, 2017, S. 31 ff. 40 Vgl. etwa Schmidt-Kessel/Grimm, Unentgeltlich oder entgeltlich? – Der vertragliche Austausch von digitalen Inhalten gegen personenbezogene Daten, ZfPW 2017, 84. 41 S. https://www.spd.de/aktuelles/daten-fuer-alle-gesetz/. 71

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falsch. Daten sind weder eine Ressource wie jede andere, noch sind sie als Zahlungsmittel geeignet.42 Diese Fragen werden insbesondere am Beispiel großer Plattformen wie Google oder Facebook diskutiert, denn diesen Unternehmen ist es gelungen, mithilfe von „Big Data-Technologien“ Daten in bisher ungeahnter Menge in Echtzeit zu erfassen, zu verarbeiten – und auch zu monetarisieren. Zu diesem Zweck haben sie sich als „Plattformen“ zwischen (mindestens) zwei Kundengruppen positioniert. Wir haben dieses „mehrseitige“ Geschäftsmodell bereits bei Google Maps kennengelernt. Auf der einen Seite stehen die Verbraucher, die digitale Dienste wie Internetsuche oder Kartendienste erhalten, ohne dafür einen Geldpreis bezahlen zu müssen. Auf der anderen Seite stehen die Werbekunden, die dieses Geschäftsmodell durch ihre Anzeigen indirekt finanzieren. Trotzdem ist auch die Verbraucherseite kommerziell nicht unbedeutend. Die Verbraucher bestimmen durch ihre Aufmerksamkeit die Effektivität der Werbung. Die Unternehmen erhalten nämlich nur dann Geld von ihren Werbekunden, wenn die Verbraucher eine Werbeanzeige „anklicken“. An dieser Stelle kommen nun die Verbraucherdaten als Ressource ins Spiel, denn je mehr ein Unternehmen über die Bedürfnisse und Vorlieben seiner Kunden weiß, desto besser kann es sowohl seine Produkte als auch die Werbeanzeigen auf diese Präferenzen hin zuschneiden. Es kann durch beides mehr Aufmerk­ samkeit, mehr „Klicks“ und damit letztlich auch höhere Werbeeinnahmen ­erzielen. Da die Angebote von Google, Facebook und einigen anderen (ins­ besondere US-amerikanischen und chinesischen) Unternehmen besonders erfolgreich sind, haben sie sehr viele Nutzer und verfügen daher auch über besonders viele Nutzerdaten, die es ihnen erlauben, ihre Produkte und Werbeangebote zu optimieren.43 Daten spielen in diesem Geschäftsmodell also eine große Rolle. Sie sind eine wichtige Ressource für die Produktoptimierung, und sie scheinen auch so etwas wie eine Gegenleistung für monetär kostenfreie Dienste wie Kartendienste, Internetsuche oder soziale Netzwerkdienste zu sein, aber der Schein trügt. Daten sind weder eine Währung noch mit Geld vergleichbar. Die These von den „Daten als Währung des Internets“ gerät erstens bereits ins Wanken, wenn man die klassischen Geldfunktionen als „Zahlungsmittel“, „Wertaufbewahrungsmittel“ und „Recheneinheit“ betrachtet: Bereits die Eig42 Dazu etwa Körber, Konzeptionelle Erfassung digitaler Plattformen und adäquate Regulierungsstrategien, ZUM 2017, 93, 95 f. 43 Auch hierzu Körber, Konzeptionelle Erfassung digitaler Plattformen und adäquate Regulierungsstrategien, ZUM 2017, 93, 95 f. 72

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nung von Daten als „Zahlungsmittel“ erscheint fraglich, weil sie anders als Geld regelmäßig nicht knapp sind. Das erschwert eine klare Wertzuordnung. Als „Wertaufbewahrungsmittel“ eignen sich Daten auch nicht, weil sie oft im Zeitlauf an Wert verlieren. Was ein Verbraucher vor zehn Jahren gern gekauft hätte, ist heute in der Regel uninteressant. Und für ihren Einsatz als „Rechen­ einheit“ gibt es viel zu viele Arten von Daten und (anders als z.B. bei Geldwährungen) auch keinen Schlüssel, nach dem man den Wert verschiedener Datenkategorien ineinander umrechnen könnte. Zweitens kann der Verbraucher dieselben Daten grundsätzlich beliebig oft verwenden, z.B. für Suchanfragen bei mehreren Suchdiensten, und auch diese Unternehmen können die Daten unabhängig voneinander parallel oder nacheinander nutzen. Mit anderen Worten: Die meisten Daten von Google, Facebook & Co. sind (anders als ggf. bestimmte Maschinendaten) nicht rival in der Nutzung und ihre Nutzungsrechte sind nicht exklusiv einem Nutzer zugeordnet. Der Einsatz von Daten führt weder zu ihrem Verlust, noch nutzt er sie ab. Auch das Bild, Daten seien „das Öl“ der digitalen Ökonomie, ist schon deshalb falsch. Drittens werden Daten – anders als Geld – auch nicht „ausgegeben“. Geld kann man nur einmal ausgeben, dann ist es weg. Soweit Verbraucher im Internet „Daten“ gegen Dienste tauschen, räumen sie den Unternehmen aber nur Nutzungsrechte an den Daten ein, ohne die Daten zu verlieren. Wenn in der Literatur behauptet wird, ein Internetdienstleister, der Verbraucherdaten kommerziell nutze, dürfe nicht anders behandelt werden, als ein Zahnarzt, der sich formularmäßig ausbedinge, anfallendes Altzahngold des Patienten auf eigene Rechnung verwerten zu dürfen,44 ist das daher falsch. Dem Zahnarzt zugeeignetes Gold würde dem Patienten entzogen. Bei Daten ist das nicht so. Und anders als Gold haben Daten auch regelmäßig keinen Marktwert. Ihr Wert ist nur relativ: Ein und dasselbe Datum kann für Unternehmen A sehr wertvoll, für Unternehmen B dagegen völlig wertlos sein. Der Google Chefökonom Val Harian besuchte vor einigen Jahren das Institut für Wirtschaftsforschung in Köln. Er erzählte dort, er sei vor seinem Vortrag in einer Bäckerei gewesen. Dort habe er die Verkäuferin gefragt, ob er die erworbenen Backwaren auch mit seinen Daten bezahlen könne, was diese natürlich abgelehnt habe. Viertens können die Unternehmen über Daten nicht so frei verfügen wie über Geld oder andere Ressourcen. Dies gilt jedenfalls für personenbezogene Daten. Diese Daten sind kein „Gut wie jedes andere“, weil sie in einem engen 44 Wendehorst/Graf v. Westphalen, Das Verhältnis zwischen Datenschutz-Grundverordnung und AGB-Recht, NJW 2016, 3745, 3748 f. 73

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Zusammenhang mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung stehen. Daher setzt das Datenschutzrecht der Datensouveränität Grenzen. Die Erhebung, Speicherung und Nutzung von Daten ist  – unbeschadet besonderer gesetzlicher Erlaubnistatbe­ stände  – durch die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) im Grundsatz verboten.45 In der Summe brauchen wir aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes ein starkes Datenschutzrecht, aber wir brauchen kein besonderes Datenschuldrecht oder Dateneigentumsrecht, und wir sollten auch beim Datenschutz darauf achten, mit Blick auf die hohe wirtschaftliche Relevanz von Daten nicht über das Ziel hinauszuschießen und dadurch Innovation zu behindern. Das bedeutet nicht, dass wir uns bei Datenschutz auf das Niveau der USA oder Chinas begeben sollten, aber wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass der Datenschutz nicht ohne Kosten ist. Vielleicht kann man nicht beides haben – strengen Datenschutz und Internetriesen wie Google oder Baidu. Die Politik sieht das freilich noch anders und hofft  – so etwa der Koalitionsvertrag46  – dem Missstand, dass die Internetriesen allesamt in den USA und China sitzen, durch Industriepolitik entgegenwirken zu können. Hinzu kommt der verbreitete Gedanke, Unternehmen wie Facebook oder Google beuteten die Nutzer aus, weil sie von diesen Datennutzungsrechte erhielten, ohne eine adäquate Gegenleistung zu erbringen.47 So spricht etwa Frau Nahles in ihrem „Daten für alle“-Papier von einem „datenindustriellen Komplex“, gemeint sind Google, Facebook & Co. Sie bezeichnet Daten als „Gemeingut“, das nicht von den Unternehmen produziert würde, sondern von den Bürgerinnen und Bürgern, und fordert daher eine „Demokratisierung der Datennutzung durch eine allgemeine Datenteilungspflicht“. Dafür schlägt sie ein neues „Daten für alle-Gesetz“ vor.48 Dieser Ansatz passt zu der derzeitigen antiliberalen Grundstimmung, die Markt und Wettbewerb misstraut, nach mehr Intervention und Regulierung bis hin zu Entflechtung und Enteignung ruft, und die den Staat für schlauer wähnt als den Markt. Mir erscheint das zweifelhaft.

45 Vgl. Art. 6 DSGVO. 46 S. https://www.cdu.de/system/tdf/media/dokumente/koalitionsvertrag_2018.pdf. 47 Vgl. etwa Wendehorst/Graf v. Westphalen, Das Verhältnis zwischen Datenschutz-­ Grundverordnung und AGB-Recht, NJW 2016, 3745; Schmidt-Kessel/Grimm, Unentgeltlich oder entgeltlich? – Der vertragliche Austausch von digitalen Inhalten gegen personenbezogene Daten, ZfPW 2017, 84. 48 S. https://www.spd.de/aktuelles/daten-fuer-alle-gesetz/. 74

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Erstens gibt es eine durchaus erhebliche Anzahl von „datenreichen“ Unternehmen und sonstigen Datenquellen. So verfügen z.B. auch Kreditkartenunternehmen, Banken, Versicherungen, Automobilkonzerne und große Handels­ unternehmen über sehr große Datenbestände. Nicht zuletzt verfügt auch der Staat unmittelbar oder über öffentliche Unternehmen über sehr viele Daten. Dass nur die US-Riesen „viele Daten“ hätten, ist eine verzerrte Wahrnehmung. Zweitens werden die Wettbewerbschancen nicht allein durch deren schiere Menge der Rohdaten bestimmt. Die „Rohdaten“ (etwa zu Vorlieben oder Standort der Nutzer) sind ein wichtiger Rohstoff. Dieser Rohstoff wird durch leistungsfähige Algorithmen mit anderen Daten kombiniert und zu Erkenntnissen verarbeitet. Die Unternehmen pressen den „Kohlenstaub der Rohdaten“ erst zu „Diamanten“ in Form wirtschaftlich wertvoller Erkenntnisse. Diese Erkenntnisse sind, wie wir gesehen haben, eine wichtige Grundlage für die Optimierung innovativer Geschäftsmodelle und Dienste. Markterfolg und Marktmacht sind aber letztlich von der Qualität dieser Geschäftsmodelle und Dienste abhängig. Dies wird auch durch die Entwicklung des Marktes für soziale Netzwerke belegt: Facebook konnte 2007 MySpace bzw. StudiVZ als Marktführer ablösen, obwohl diese Wettbewerber zunächst über mehr Nutzer und auch über mehr Daten verfügten. Umgekehrt konnte Google+ Facebook nicht verdrängen, obwohl Google über deutlich mehr Daten verfügt als Facebook. Die Hoffnung, Teilhaberechte würden dazu führen, dass die deutschen und europäischen Googles und Facebooks „nur so aus dem Boden sprießen“, dürfte sich daher vermutlich als trügerisch erweisen. Drittens ist auch die verbreitete These, die Rohdaten von Google oder Facebook seien ein „Gemeingut“ bzw. sie stünden allen Nutzern zu, ebenso falsch wie die Behauptung, die Nutzer erhielten keine nennenswerte Gegenleistung. Das ist einerseits bereits deshalb falsch, weil die „Gegenleistung“, auf welche Unternehmen wie Google oder Facebook aus sind, gar nicht in erster Linie die Nutzerdaten sind, sondern die Aufmerksamkeit für Werbung. Die Nutzerdaten sind lediglich ein Rohstoff, der dazu dient, die Aufmerksamkeit der Nutzer für diese Werbung zu erhöhen. Das wird oft übersehen, weil wir in Europa sehr auf den Datenschutz fokussiert sind. Andererseits stellen die Nutzer ihre Daten keineswegs ohne Gegenleistung zur Verfügung. Sie erhalten dafür Dienstleistungen (wie Internetsuche oder Kartendienste), deren Produktion, wenn man nicht nur auf die Grenzkosten – also z.B. die Kosten der Beantwortung einer Suchanfrage – schaut, sondern auch die Investitionen einbezieht, durchaus kostspielig ist. Das wird oft verkannt, weil aus den gegen Null gehenden Grenzkosten oder aus der Kostenlosigkeit der Dienste von Google, Facebook & Co. fälschlich auf ihre Wertlosigkeit geschlossen wird. 75

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Viertens senkt eine Pflicht zum Teilenmüssen – wie jede Zugangsregulierung – möglicherweise die Bereitschaft der Unternehmen zu Investitionen und Innovationen. Zwar erscheint es wenig wahrscheinlich, dass Google, Facebook & Co. damit aufhören würden, Daten zu sammeln und innovativ zu sein, wenn sie ihre Daten teilen müssten. Aber auch die Effekte in Bezug auf Investitionen und Innovationen der Teilhabeberechtigten sind ambivalent. Die Teilhabeberechtigten würden von möglichen Herausforderern, welche die Macht der Internetriesen durch ganz neue Ansätze angreifen könnten, zu deren Kunden gemacht, und auf diese Weise die bestehende Machtstellung der US-Riesen perpetuiert. Fragt man in diesem Kontext mittelständische IT-Unternehmen, was für sie das größte Innovations- und Wettbewerbshindernis ist, so ist das meistens nicht der Mangel an Rohdaten, sondern der Mangel an Risikokapital und der Mangel an IT-Fachkräften, denen die großen Unternehmen mehr Geld zahlen können. Insoweit wäre es vermutlich auch industriepolitisch zielführender – wenn auch weniger populär – über eine echte Erleichterung des Zugangs ausländischer Fachkräfte zum deutschen Arbeitsmarkt zu diskutieren als über den Zugang zu den Daten ausländischer Unternehmen. Falls aber doch ein Problem der „Datenknappheit“ bestehen sollte, so erscheint mir ein Ansatz vorzugswürdig, wie ihn die EU in jüngerer Zeit in Bezug auf nicht-personenbezogene Daten (also z.B. bestimmte Industriedaten) verfolgt hat. Die EU hat 2018 die Verordnung über einen Rahmen für den freien Datenverkehr nicht-personenbezogener Daten erlassen, mit der sie danach strebt in Parallele zu den Grundfreiheiten des AEUV einerseits staatliche Hindernisse des grenz­überschreitenden Datenverkehrs abzubauen und andererseits private Kooperation durch Standardisierung und durch ein freiwilliges Teilen von Daten auf vertraglicher Basis anzuregen.49 Die EU-Kommission hat dazu 2018 einen Leitfaden für die gemeinsame Nutzung von Daten des Privatsektors veröffentlicht.50 Das ist eine „Hilfe zur Selbsthilfe“. Kleinere, noch „datenarme“ Unternehmen und Start-Ups könnten durch eine solche Kooperation miteinander, aber auch mit großen Unternehmen, ihre Wettbewerbschancen verbessern. Ein Beispiel dafür, dass so etwas funktionieren kann, ist die seit Jahrzehnten mit dem Segen des Kartellrechts geübte Kooperation von Versicherungsunternehmen im Rahmen der gemeinsamen Statistikarbeit. Diese Zusammenarbeit

49 VO 2018/1807, ABl. 2018, L 303/59. 50 Leitfaden vom 25.4.2018, SWD(2018) 125 final. 76

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Das Recht vor den Herausforderungen der Digitalisierung

ermöglicht es kleineren Versicherern überhaupt erst, auf Augenhöhe am Markt teilzunehmen.51 Daneben sollte – auch wenn das insbesondere den Kommunen nicht gefallen dürfte – der Staat selbst mit gutem Beispiel vorangehen und die umfangreichen Datenschätze des Staates und (soweit dies möglich ist, ohne diese gegenüber Wettbewerbern zu diskriminieren) der öffentlichen Unternehmen – natürlich unter Beachtung des Datenschutzes  – in noch weiterem Umfang als bisher52 verfügbar machen. Erst wenn diese Ansätze scheitern, ist Raum für eine weitergehende staatliche Regulierung von Datenzugangsrechten gegenüber privaten Unternehmen.

VI. Fazit Das bestehende Recht ist für die Herausforderungen der Digitalisierung besser gerüstet als viele denken. Für einen hektischen Wettlauf der Gesetzgeber und Ministerien besteht kein Grund. Weniger ist auch in diesem Kontext oft mehr. Der Staat sollte Wirtschaft und Gesellschaft nur Leitplanken setzen, in deren Rahmen sich Wettbewerb und Innovation frei entfalten können, und er sollte sicherstellen, dass überall, wo Menschen leben und arbeiten, schnelle Datennetze verfügbar sind. Der Staat sollte sich dabei aus dem Wettbewerb der Technologien und Geschäftsmodelle so weit wie möglich heraushalten, also neutral sein und da­rauf achten, dass er sich dabei von ökonomischem Sachverstand leiten lässt und weniger von Lobbyinteressen, Ideologien oder gar von einem allgemeinen Unbehagen gegenüber der Innovation. Der Staat sollte vor allem auch darauf achten, dass er nicht „auf die Großen zielt und die Kleinen trifft“, wie dies gerade bei Gesetzen im Bereich der Digitalisierung des Öfteren der Fall war und ist. Beispielsweise sind manche Anforderungen des Datenschutzes,53 der Internetregulierung54 oder des Urheber-

51 Dazu etwa Imgrund, Zusammenarbeit von Versicherern nach dem Wegfall der Versicherungs-GVO, WuW 2017, 530. 52 Vgl. etwa das Informationsfreiheitsgesetz und dessen EU-Grundlage in der (gerade neu gefassten) PSI-Richtlinie. 53 Vgl. etwa das Recht auf Datenportabilität in Art. 20 DSGVO. 54 Vgl. etwa das Netzwerkdurchsetzungsgesetz. 77

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Torsten Körber

rechts55 für die „Großen“ nur lästig. Für die „Kleinen“ können sie dagegen zu Marktschranken werden und Innovation verhindern. Der Glaube mancher Politiker, es besser zu wissen als der Markt, basiert oft nur auf angemaßtem Wissen und birgt ein sehr hohes Fehlerrisiko. Daher sollte auf industriepolitische Eingriffe in das freie Spiel der Marktkräfte so weit wie möglich verzichtet werden. Ein Mangel an staatlicher Regulierung ist sicher nicht der Grund für den mutmaßlichen Rückstand der europäischen Digitalökonomie gegenüber den USA und China. „Europäische Champions“ lassen sich auch in der Digitalwirtschaft nicht herbeiregulieren. „Die Zukunft soll man nicht voraussehen wollen, sondern möglich machen“.56

55 Vgl. etwa die Art.  15  ff. der EU-Urheberrechtsrichtlinie 2019/790, ABl 2019, L 130/92. 56 De Saint-Exupéry, Die Stadt in der Wüste/La citadelle (1948). 78

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Claus Kreß

Hans Kelsen, Hermann Jahrreiß, Carl Schmitt und die Frage von Krieg und Frieden im Völkerrecht* Inhaltsübersicht

I. Das Ende des Ersten Weltkriegs und die Debatte über das neue Völkerrecht gegen den Krieg

II. Das neue Völkerrecht gegen den Krieg und der Nürnberger Prozess III. Nachwirkung

Sehr geehrte Frau Chefpräsidentin, sehr verehrte, liebe Gräfin von Schwerin! Ich danke Ihnen herzlich für Ihre Gastfreundschaft. Hans-Jürgen Becker hat vor einigen Wochen an diesem Ort an die lange Geschichte fruchtbaren Zusammenwirkens zwischen Ihrem hohen Gericht und meiner Fakultät erinnert.1 Es zeigt, dass diese kostbare Tradition lebendig ist, wenn Kölner Rechtswissenschaftler aus Anlass des 100. Jahrestags der Wiedereröffnung der Kölner Universität im wunderschönen Kölner Oberlandesgericht sprechen dürfen. Verehrte Damen, meine Herren, „Das hohe Werk dauernder Völkerversöhnung und Völkergemeinschaft zum Heile Europas zu fördern, sei die besondere Aufgabe der Universität Köln, der westlichsten deutschen Großstadt, die mitten in den Aufeinanderprall der verschiedenen Kulturen hineingestellt ist. (…) Dem wirklichen Völkerbunde, dem Fortschritte der Völker zu einer höheren Stufe ihrer Entwicklung zu dienen, sei ihr heiliger Beruf.“

Von diesem Wunsch beseelt sprach Konrad Adenauer vor hundert Jahren im Rahmen des Festakts zur Wiedereröffnung der Universität zu Köln.2 Hiernach liegt es nicht fern, den 100. Jahrestags dieser Wiedereröffnung zum Anlass zu nehmen, zu Ihnen über Krieg und Frieden als Frage des Völkerrechts zu sprechen. Für die Wahl dieses Themas sprechen überdies die Namen Hans Kelsen, * Für die kritische Lektüre des Manuskripts danke ich sehr herzlich Hans-Jürgen Becker, Thomas Darnstädt, Horst Dreier, Hans-Peter Haferkamp, Matthias Jestaedt, Jörg-Detlef Kühne, Gertrude Lübbe-Wolff, Michael Stolleis und Annette Weinke. 1 S. den Beitrag von Hans-Jürgen Becker in diesem Band. 2 Abgedruckt in Eröffnungsfeier der Universität Köln. Reden gehalten bei dem Festakt im großen Festsaal des Gürzenich am 12.6.1919 und bei der Akademischen ­Feier in der Aula der Universität am 20.6.1919, verlegt bei Heinrich Z. Gonski, Köln 1919, S. 10.  79

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Claus Kreß

Hermann Jahrreiß und Carl Schmitt. Diese drei sind die Protagonisten meines Vortrags. Kelsen, Jahrreiß und Schmitt gehörten jeweils für gewisse Zeit der Kölner Juristenfakultät an – und sie sind mit meinem heutigen Thema innig verbunden. Die Geschichte, die ich Ihnen heute erzählen werde, ist nicht mehr als ein kleiner Ausschnitt eines weitaus komplexeren ideengeschichtlichen Prozesses. Es ist der Ausschnitt, mit dem meine Protagonisten verwoben sind. Ich hoffe, Sie werden mir am Ende zustimmen, dass es sich um einen nicht unwichtigen Ausschnitt handelt. Ich wäre überdies froh, könnte Ihnen der heutige Ausschnitt meine wissenschaftliche Faszination für die Frage von Krieg und Frieden im Völkerrecht verständlich machen. Erlauben Sie mir bitte ein herzliches Wort des Danks an meinen Kollegen und Freund Scott Shapiro aus Yale, bevor ich mich medias in res begebe: Scott nahm vor mehr als fünf Jahren Kontakt mit mir auf. Er hatte von der Kölner Handakte von Hermann Jahrreiß zum Nürnberger Prozess gehört.3 Ich traf Scott am Rand einer Jahrestagung der Amerikanischen Gesellschaft für Völkerrecht in Washington zu einem Mittagessen. Daraus wurde ein Gespräch, das uns die Tagung für den betreffenden Tag vergessen ließ. Scott erzählte mir davon, er sitze gemeinsam mit seiner Kollegin Oona Hathaway an einem Buch zu der Ideengeschichte von Krieg und Frieden im Völkerrecht seit Hugo Grotius. In einem Kapitel des Buchs werde Köln eine Rolle spielen. Den Entwurf dieses Kapitels schickte er mir alsbald zur Lektüre. Ich war gefesselt. Ich hatte mit meinem Team entschieden, unter dem Schirm meines neuen Kölner Instituts jährlich zu einer Hans Kelsen Memorial Lecture of International Peace and S­ ecurity Law einzuladen. Scotts Buchkapitel in statu nascendi schien mir der ideale Gegenstand für die inaugurierende Vorlesung zu sein. Scott nahm die Einladung an, und von seiner glanzvollen Vorlesung werde ich heute vielfach zehren. Das gilt auch für Onas und Scotts inzwischen erschienenes Buch The Internationalists.4 Es zählt zu den in der letzten Zeit weltweit meistdiskutierten völkerrechtlichen Werken. Scotts Hans Kelsen Memorial Lecture war auch ein denkwürdiges Ereignis in der Geschichte der Kölner Juristenfakultät. Denn es erinnerte in der Aula unserer Universität ein jüdischer Gelehrter an das schwere Unrecht, das Hans Kelsen hier bei uns in Köln widerfahren ist. Ich würde mich sehr freuen, wenn mein heutiger Vortrag einen weiteren kleinen Beitrag dazu leisten könnte, dass die Erinnerung an dieses Unrecht in Köln lebendig bleibt. 3 Zu ihr Lars Berster/Claus Kreß, Verteidigung im Nürnberg Prozess: Die Akten von Hermann Jahrreiß in Peter W. Marx/Hubertus Neuhausen (Hrsg.), Schätze der Universität zu Köln, Greven Verlag, Köln 2019, S. 162 ff. 4 Oona A. Hathaway/Scott J. Shapiro, The Internationalists. How a Radical Plan to Outlaw War Remade the World, Simon  & Schuster, New York/London/Toronto/ Sydney/New Delhi 2017.  80

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I. Das Ende des Ersten Weltkriegs und die Debatte über das neue Völkerrecht gegen den Krieg Lassen Sie uns nun an das Ende des Ersten Weltkriegs zurückgehen. Denn hier beginnt meine Geschichte. Dem klassischen europäischen Völkerrecht hätte es entsprochen, dem Friedensvertrag eine Amnestieklausel beizufügen.5 Doch insbesondere Großbritannien und Frankreich dringen auf Strafverfolgung.6 Insbesondere Wilhelm II. soll wegen der Entfesselung eines Angriffskriegs zur Verantwortung gezogen werden.7 Die eigenen Völkerrechtler indessen bremsen: Der Angriffskrieg werde zwar von der öffentlichen Meinung verurteilt, er verletze aber keine Norm des geltenden Völkerrechts.8 Dieses Votum entspricht dem herrschenden Verständnis des klassischen Völkerrechts. Hiernach gibt es ein freies Kriegführungsrecht der Staaten, das ius ad bellum.9 Aufgabe des klassischen Völkerrechts ist es hiernach nicht, dem Erhalt des Friedens durch ein Verbot des Kriegs zu dienen. Dem Völkerrecht ist lediglich die Aufgabe zugewiesen, den Krieg durch ein Recht im Krieg – das ius in bello – zu domestizieren. In Anbetracht der Katastrophe des Großen Kriegs spüren die Völkerrechts­ berater der Siegermächte, dass dieses Völkerrecht problematisch geworden ist. – Und sie empfehlen der Politik, das Völkerrecht zu ändern.10 Hin zu einem 5 Für die Amnestieklauseln in den westfälischen Friedensverträgen (dort jeweils Art. 2), s. J. F. Scheidt, Traité sistématique touchant La Connoissance De l’Etat Du Saint Empire Romain De La Nation Allemande, ou le Droit Public De Cet Empire, tiré Des Loix Fondamentales De La Jurisprudence Politique (et) des Auteurs Les Plus Célébrés Et Les Plus Désintéressés. Tome quatrième, 1754, p. 156; https://reader.​ digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10561571_00001.html. 6 S.  hierzu aus der neueren historischen Literatur insbesondere Marcus M. Payk, Frieden durch Recht? Der Aufstieg des modernen Völkerrechts und der Friedensschluss nach dem Ersten Weltkrieg, Walter De Gruyter, Berlin/Boston 2018, S. 498 ff. 7 Hierzu eingehend William A. Schabas, The Trial of the Kaiser, Oxford University Press, Oxford 2018.  8 Commission on the Responsibility of the Authors of the War and on Enforcement of Penalties, Report Presented to the Preliminary Peace Conference, The American Journal of International Law 14 (1920), 95, 118; für eine Zusammenfassung der Arbeit dieser Kommission, s. Schabas, Fn. 7, S. 99 ff. 9 Hierzu ein wenig näher (auch mit Hinweisen auf andere Deutungsmöglichkeiten der historischen Entwicklung) Claus Kreß, Shakespeares „Heinrich V.“ und das Recht des Krieges, Juristen Zeitung 69 (2014), 1143.  10 Commission on the Responsibility of the Authors of the War and on Enforcement of Penalties, Fn. 8, 120. 81

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Verbot des Kriegs, einem ius contra bellum. Der Völkerbund, der mit dem Versailler Vertrag errichtet wurde, bringt noch kein umfassendes Kriegsverbot. Immerhin setzt die Völkerbundakte dem Recht zum Krieg erste bedeutsame prozedurale Grenzen. Auch die Idee der kollektiven Sicherheit in Gestalt der kollektiven Sanktionierung eines unerlaubten Kriegs findet in der Akte einen ersten Ausdruck.11 Meine erste Hauptperson, Hans Kelsen,12 befürwortet die Bewegung hin zu einem, wie es zu dieser Zeit häufig heißt, „neuen Völkerrecht“. Kelsen lehrt in Wien. Er glaubt an die Kraft des Rechts, gesellschaftlichen Wandel zu befördern. Dabei ist der Inhalt des Rechts bei Kelsen strikt kontingent. Das Recht ist nach seiner reinen Rechtslehre Medium zur Verwirklichung von ihm vorausliegenden politischen Vorstellungen. Kelsens großes völkerrechtspolitisches Projekt war die Herausbildung einer institutionalisierten Völkerrechtsgemeinschaft im Dienst des Friedens. 1920 erscheint eines seiner völkerrechtlichen Hauptwerke: „Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts“.13 Den Gedanken einer absoluten Souveränität des Staats hält Kelsen für unvereinbar mit dem Begriff des Völkerrechts.14 Innerhalb eines Völkerrechts, das die Gleichheit der Staaten zur Norm erhebt, kann es für ihn keinen absolut souveränen Staat geben. Das eröffnet die Möglichkeit, den Staat in überstaatliche Rechtsgemeinschaften zu integrieren, so auch in ein System kollektiver Sicherheit, in dem Gewalt nur noch als Sanktion eines vorangegangenen Rechtsbruchs zur Anwendung kommen darf. Kelsens Völkerrechtstheorie ist auch offen für die Anerkennung nicht-staatlicher Völkerrechtssubjekte:

11 Die maßgeblichen Art. 10 bis 16 der Völkerbundakte sind abgedr. in Stefan Bar­ riga/Claus Kreß (Hrsg.), The Travaux Préparatoires of the Crime of Aggression, Cambridge University Press, Cambridge 2012, S. 114 ff.; zu ihnen näher Ian Brownlie, International Law and the Use of Force of States, Oxford University Press, Oxford 1963, S. 55 ff. 12 Zu ihm neuerdings Thomas Olechowski, Hans Kelsen. Biographie eines Rechtswissenschaftlers, Mohr Siebeck, 2020. Für eine knappe Gesamtwürdigung, s. Horst Dreier, Hans Kelsen (1881–1973) „­Jurist des Jahrhunderts?“ in Helmut Henrichs/ Harald Franzki/Klaus Schmalz/Michael Stolleis (Hrsg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, C.H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, München 1993, S. 705 ff.; s. auch Hathaway/Shapiro, Fn. 4, S. 230 ff.; für eine eindrucksvolle Würdigung von Kelsens Völkerrechtslehre, der dieser Vortrag zentrale Erkenntnisse verdankt, s. Jochen von Bernstorff, The Public International Law Theory of Hans Kelsen. Believing in Universal Law, Cambridge University Press, Cambridge 2010.  13 Hans Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts. Beitrag zu einer Reinen Rechtslehre, Verlag J. C. B. Mohr, Tübingen 1920. 14 Eingehend von Bernstorff, Fn. 12, S. 61 ff. 82

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Kelsen ist – bereits 1920 – ein theoretischer Vordenker des Völkerstrafrechts.15 Eines Völkerstrafrechts, das den einzelnen Menschen als eine vom Völkerrecht unmittelbar in die Pflicht genommene Rechtsperson begreift. Doch das ist einstweilen Zukunftsmusik. In der internationalen Politik wird der nächste wichtige Schritt 1928 getan.16 Er bleibt auf der Ebene des zwischenstaatlichen Völkerrechts, aber seine Bedeutung ist fundamental. Auf Initiative der Außenminister Frankreichs und der USA kommt es zum Briand-Kellogg-Pakt. Franzosen und Amerikaner streiten bis heute, wem das Recht der ersten Namensnennung zukommt. Art. I des Pakts lautet wie folgt: „Die Hohen Vertragschließenden Parteien erklären feierlich im Namen ihrer Völker, dass sie den Krieg als Mittel für die Lösung internationaler Streitfälle verurteilen und auf ihn als Werkzeug nationaler Politik in ihren gegenseitigen Beziehungen verzichten.“17

Da ist es also, das ius contra bellum, das bislang fehlende Kriegsverbot. Die Unterzeichnungs-Zeremonie findet in Paris statt. Stresemann nimmt für Deutschland teil. Der Außenminister hatte Deutschland auf den Pfad der friedlichen Revision des Versailler Vertrags geführt. – Und hierbei sucht Stresemann die Unterstützung der USA. Teil dieser Politik ist die deutsche Einladung an einen amerikanischen Professor für Geschichte.18 Der Mann heißt James Shotwell. Shotwell folgt der Einladung und hält 1927 einen Vortrag in Berlin. Shotwell war Mitglied der amerikanischen Delegation in Versailles und hat den Reiz der Völkerrechtspolitik entdeckt. So arbeitet Shotwell hinter den Kulissen – durchaus mit einiger List – auf das Kriegsverbot hin. In Berlin, in der Hochschule für Politik, plädiert Shotwell mit offenem Visier. Er fordert den Kriegsächtungspakt. Er ruft aus, man sei am größten Wendepunkt der Menschheitsgeschichte. Im Vortragssaal sitzt meine zweite Hauptperson, Carl Schmitt.19 Schmitt ist 1927 ein sehr erfolgreicher deutscher Rechtswissenschaftler – mit sehr anderen Positionen als denen Kelsens: Schmitts Sicht auf den Völkerbund ist dezi15 Hans Kelsen, Der völkerrechtliche Strafanspruch wegen völkerrechtswidriger Kriegshandlungen, Neue Freie Presse Wien, 8.9.1920, 3 f. 16 Hierzu im einzelnen Hathaway/Shapiro, Fn. 4, S. 112 ff. 17 Abgedr. etwa in Christian Tomuschat/Christian Walter (Hrsg.), Völkerrecht, Nomos Verlagsgesellschaft, 7. Aufl., Baden-Baden 2017, S. 485.  18 Zum Folgenden näher Hathaway/Shapiro, Fn. 4, S. 217 ff. 19 Umfänglich zu Leben und Werk Reinhard Mehring, Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. Eine Biographie, Verlag C.H. Beck, München 2009. 83

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diert kritisch. Für ihn ist es der Versuch der Siegermächte, die Ungerechtigkeit von Versailles zu Lasten Deutschlands völkerrechtlich zu zementieren. Für Schmitt ist der Völkerbund in seiner Essenz Ausdruck anglo-amerikanischer Hegemonie unter dem Deckmantel des Rechts. Schmitt ist von Shotwells Vortrag alarmiert. Noch 1927 hält Schmitt an derselben Hochschule für Politik eine seiner berühmtesten Vorlesungen: Diejenige zum Begriff des Politischen.20 Die für das Politische spezifische Unterscheidung ist hiernach die zwischen Freund und Feind. Zum politischen Begriff des Feinds gehört die Möglichkeit des Kriegs. Souveränität bedeutet die Macht, die Möglichkeit des Kriegs zu aktualisieren. Diese Macht liegt beim Staat, dessen jus belli ihn daher zur maßgeblichen politischen Einheit macht. Schmitt wörtlich: „Dadurch dass ein Volk nicht mehr die Kraft oder den Willen hat, sich in der Sphäre des Politischen zu halten, verschwindet das Politische nicht aus der Welt. Es verschwindet nur ein schwaches Volk.“21

Fundamental anders als der Staat Kelsens kann sich der Staat Schmitts keinem Gewaltverbot unterwerfen und in ein völkerrechtliches System der kollektiven Sicherheit integrieren. Nimmt man dem Staat die Freiheit, einen anderen Staat zum Feind zu erklären und gegen diesen Krieg zu führen, hebt man Schmitts Staat in seinem Kern auf. Schmitt hält ein universelles Gewaltverbot auch für unehrlich und gefährlich. Es würde dazu führen, dass Krieg künftig im Namen der Menschheit gegen Rechtsbrecher geführt würde. Damit würde ein universaler Begriff für nationale politische Zwecke okkupiert. Schmitt sagt an dieser Stelle einen seiner berühmt gewordenen Sätze: „Wer Menschheit sagt, will betrügen.“22 Aber es sei noch schlimmer: Für den, der den Begriff der Menschheit usurpiere, liege es nahe, dem Gegner die Menschlichkeit abzusprechen und den Krieg besonders unmenschlich zu führen. Verlassen wir Berlin. Nehmen wir stattdessen Kurs auf Köln, um Kelsen dorthin zu folgen. Kelsen wird – tatkräftig befördert von Adenauer – nach Köln berufen und nimmt hier 1930 seine Lehrtätigkeit auf.23 Kelsen ist der Wechsel wohl nicht zuletzt wegen 20 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Duncker & Humblot, Berlin 1963. Zu Schmitts Änderungen am Text von 1927 in der Fassung von 1932, s. Martti Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations. The Rise and Fall of International Law 1870–1960, Cambridge University Press, Cambridge 2002, S. 436 f. 21 Schmitt, Fn. 20, S. 54.  22 Schmitt, Fn. 20, S. 55; dazu näher Koskenniemi, Fn. 20, S. 432 ff. 23 Hathaway/Shapiro, Fn. 4, S. 230 ff. Die Universität zu Köln hatte Kelsen bereits in den Jahren 1925–1927 zu gewinnen versucht; Matthias Jestaedt, in ders. (Hrsg.), Hans Kelsen. Werke, Band 1, Mohr Siebeck, 2007, S. 77, dort Fn. 228. 84

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des in Wien inzwischen grassierenden Antisemitismus willkommen. In Köln gründet Kelsen das Institut für Völkerrecht und Internationales Recht. Alsbald stellt sich die Frage der Berufung Schmitts nach Köln.24 Der rechtswissenschaftliche Gegensatz zwischen Kelsen und Schmitt könnte kaum schärfer sein. Zu den tiefgreifenden völkerrechtstheoretischen Differenzen habe ich bereits ein wenig gesagt. Hier noch ein Beispiel aus dem Verfassungsrecht. Kelsen und Schmitt haben sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, wer Hüter der Verfassung sein sollte. Schmitt schreibt 1929, es sei zunächst der Reichsprä­sident.25 Kelsen stellt dem das Modell der Verfassungsgerichtsbarkeit entgegen.26 In Schmitts Tagebuch finden sich hierzu die folgenden Einträge: 19.8.1931: „Zu Hause ein Eilbrief von Freiburg, der Aufsatz von Kelsen [Hans Kelsen, „Wer soll der Hüter der Verfassung sein?“, Die Justiz 6, 1930/31, S. 576–628], aufgeregt, Angst, Gefühl besiegt zu sein, abends Karten gespielt bei Adolf Siepmann, Bier getrunken mit Jup, der Verrückte wird vorübergehen, deprimiert; der Kommunismus wird siegen und ich halte Europa in Schach.“27

20.8.1931: „Immer noch Ekel wegen des Aufsatzes von Kelsen.“28

Kelsen unterstützt Schmitts Berufung nach Köln. Er setzt ein hell leuchtendes Beispiel für gelebtes wissenschaftliches Ethos: Man fürchtet den starken Gegner nicht, sondern man begrüßt ihn freudig. Ohne Sorge, die eigene Ausstrahlung könnte leiden. Stattdessen in der Zuversicht, dass die eigene Fakultät durch die produktive geistige Auseinandersetzung gewinnen möge. Nipperdey formuliert diese Zuversicht bündig wie folgt: „Carl Schmitt und Kelsen machen Köln auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts zur ersten Universität Deutschlands.“29 24 Hierzu näher Reinhard Mehring, Carl Schmitt (1888  – 1985): Sinnwandel eines Semesters  – vom Agon mit Kelsen zum Probelauf des „Kronjuristen“ in Steffen Augsberg/Andreas Funke (Hrsg.), Kölner Juristen im 20. Jahrhundert, Mohr Siebeck, Tübingen 2013, S. 137 ff. 25 Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung, Archiv des öffentlichen Rechts 55 (1929), 161.  26 Hans Kelsen, Wer soll Hüter der Verfassung sein?, Dr. Walther Rothschild, Berlin 1931. 27 Wolfgang Schuller (Hrsg.), Carl Schmitt, Tagebücher 1930–1934, Berlin 2010, S. 132. 28 Ebendort. 29 Universitätsarchiv Köln, Zugang 17/5273, Bl.  26; zit. in Mehring, Fn.  24, S.  145 (dort bei und in Fn. 35). Bei Hathaway/Shapiro, Fn. 4, S. 232, heißt es „(…) two great figures of a mediocre faculty (…)“. 85

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Mit Wirkung vom 1.1.1934 wird Kelsen in Köln entlassen. Bereits am 13.4.1933 war er beurlaubt worden. Die Petition der Fakultät zu seinen Gunsten ist bekannt. Schmitts fehlende Unterschrift auch. Schmitt wird kommissarischer Direktor von Kelsens altem Institut. Schmitt wird 1971 rückblickend sagen: „Ich hatte gar nichts gegen Kelsen.“30 In seinem Tagebuch steht für den 18.4.1933, es war Schmitts Ankunftstag in Köln: „Um 1/2 9 kam Nipperdey. Er reist wegen Kelsen nach Berlin, ich unterschrieb die lächerliche Eingabe der Fakultät nicht, elende Gesellschaft, sich für einen Juden derartig einzusetzen, während sie tausend anständiger Deutscher kaltblütig verhungern und verkommen lassen. Brief von Herlitz aus Stockholm wegen Kelsen. Diese Macht der Juden, hielt mich aus der Sache heraus. Nipperdey ist vielleicht auch Jude, das Ganze war mir unangenehm.“31

Schmitt entscheidet sich nach dem Ermächtigungsgesetz, so sein Biograph Mehring, „definitiv für den Nationalsozialismus“.32 Alsbald wechselt Schmitt nach Berlin. Es zieht ihn in die Nähe der neuen Machthaber. Kelsen geht nach Genf und von dort nach Prag an die dortige deutsche Universität.33 Schon seine Antrittsvorlesung dort wird von Faschisten gestört. Er benötigt bald Polizeischutz und entschließt sich dann zur Rückkehr nach Genf. Auch hier findet er indessen keine Ruhe mehr. Er emigriert nach Amerika. Roscoe Pound, der Dekan von Harvard, nennt Kelsen 1934 den führenden Juristen der Zeit. Doch der Präsident von Harvard erklärt, man habe kein Geld, Kelsen auf Dauer einzustellen. Auf Dauer eingestellt wird indessen der frühere deutsche Reichskanzler Heinrich Brüning. 1942 wird die Lage für Kelsen so prekär, dass er bei Roscoe Pound anfragt, ob dieser ihm eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter oder in einer Bibliothek geben könne. Nun ist es Zeit, meine dritte Hauptperson in den Blick zu nehmen. Es handelt sich um Hermann Jahrreiß.34 Er wird 1937 Nachfolger Kelsens, und Kelsens altes Institut wird zum Seminar für Völkerrecht. Jahrreiß’ Doktorvater und Habilitationsbetreuer ist Richard Schmidt.35 Schmidt begeistert sich in Leipzig 30 Frank Hertweck/Dimitrios Kisoudis (Hrsg.), „Solange das Imperium da ist“. Carl Schmitt im Gespräch mit Klaus Figge und Dieter Groh 1971, Duncker & Humblot, Berlin 2010, S. 92 31 Abgedr. in Schuller, Fn. 27, S. 283. 32 Mehring, Fn. 24, S. 148. 33 Näher Hathaway/Shapiro, Fn. 4, S. 244 ff. 34 Hathaway/Shapiro, Fn. 4, S. 285: „(A)n obscure professor of international law, Kelsen’s successor at the University of Cologne“. 35 Die folgenden Erkenntnisse verdanke ich Annette Weinke, Hermann Jahrreiß (1894–1922): Vom Exponenten des völkerrechtlichen „Kriegseinsatzes“ zum Verteidiger der deutschen Eliten in Nürnberg in Augsberg/Funke, Fn. 24, S. 163 ff. 86

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für die Geopolitik, eine Modedisziplin, die in Deutschland in dieser Zeit vor allem mit dem Namen Karl Haushofer verbunden ist. Die Geopolitik betont die Raumgebundenheit der Politik und zu ihrem Vokabular gehört die Idee eines für die Überlebensfähigkeit eines Volks hinreichenden Lebensraums. Jahrreiß wird nicht Mitglied der NSDAP und nichts spricht dafür, dass er sich zu irgendeinem Zeitpunkt für den Rassenantisemitismus der Nazis erwärmt. Er kritisiert Versailles, sieht aber Perspektiven für eine friedliche Revision. Mit Schmitt setzt Jahrreiß sich differenziert auseinander. In einem instruktiven neuen Beitrag schreibt Dirk Blasius: „Jahrreiß war Mitte der 1920er Jahre als junger Privatdozent eine Stimme rechtspolitischer Vernunft und Kompetenz.“36 1934 wird Jahrreiß Mitglied des Völkerrechtsausschusses von Hans Franks Akademie für Deutsches Recht. Nach anfänglichem Schwerpunkt auf Völkerrechtsfragen im Zusammenhang mit einer friedlichen Revisionspolitik gerät der Ausschuss zunehmend unter den Einfluss von Carl Schmitt.37 Wir müssen uns daher zunächst nochmals Schmitt zuwenden. Dieser referiert 1937 auf der Jahrestagung der Akademie für Deutsches Recht zum diskriminierenden Kriegsbegriff.38 Im Wesentlichen ist es eine weitere Entfaltung des im Begriff des Politischen angelegten Gedankengangs. Für uns ist besonders interessant, dass nun ein weiterer Völkerrechtsgelehrter im Bild erscheint. Es handelt sich um Hersch Lauterpacht.39 Lauterpacht ist jüdischer Herkunft und Schüler Kelsens. Über Wien und London ist er nach Cambridge gelangt und hat dort den Whewell Chair erklommen. Lauterpacht ist im Begriff, der weltweit führende Völkerrechtler zu werden. In seinem Arbeitszimmer hängt ein Bild Kelsens. Schmitt hat Lauterpacht als bedeutsamen Gegner erkannt,40 als führenden Repräsentanten der neuen Richtung im Völkerrecht, deren Sprengkraft Schmitt weiterhin darin sieht, das staatlich organisierte Volk zu entthronen, zugunsten einer institutionalisierten Weltrechtsordnung. Verlassen wir für einen Moment das Reich der Ideen: Im November 1937 hält Hitler in der Reichskanzlei ein Treffen mit einigen Ministern und hochrangigen Militärs ab. Dieses Treffen wird durch die Niederschrift seines persönlichen Adjutanten Hossbach bekannt. Hitler erklärt den Anwesenden, dass sei36 Dirk Blasius, Völkerrecht im Jahrhundert der Weltkriege. Eine Studie zu Hermann Jahrreiß, Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte (2018), 100, 104.  37 Weinke, Fn. 35, S. 178 ff. 38 Carl Schmitt, Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff, Vierte Auflage, Duncker & Humblot, Berlin, 2007, S. 42 ff. 39 Zu seinem Leben s. Elihu Lauterpacht, The Life of Hersch Lauterpacht, Cambridge University Press, Cambridge 2010; s. auch Hathaway/Shapiro, Fn. 4, S. 238 ff. 40 S. etwa Schmitt, Fn. 38, S. 14 ff., 49 (dort mit Fn. 46). 87

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ne Vision vom Lebensraum für das deutsche Volk nur durch Gewalt zu verwirklichen sei. Österreich und die Tschechoslowakei rücken als erste Ziele ins Visier. Im März 1938 wird Österreich annektiert, im September 1938 wird in München beschlossen, der Tschechoslowakei die Abtretung des Sudentenlandes abzunötigen, und im März 1939 kommt es zur Zerschlagung der Rest­ tschechoslowakei. Einen Monat später, im April 1939, hält Carl Schmitt in Kiel einen Vortrag. Sein Titel: „Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte“.41 Kernanliegen dieses Vortrags sind die Einführung der Begriffe „Großraumordnung“ und „Reich“ in das Völkerrecht. Paradigma für Schmitts Großraumordnung ist die Monroe-Doktrin der USA von 1823.42 Der ursprüngliche Kern dieser Doktrin war die Anerkennung der Unabhängigkeit der südamerikanischen Staaten und der Schutz dieser Unabhängigkeit durch die Zurückweisung der Intervention außeramerikanischer Mächte. Die außeramerikanischen Mächte waren im historischen Kontext ­primär diejenigen der Heiligen Allianz.43 Als Heilige Allianz seiner Zeit sieht Schmitt die westlichen Demokratien mit ihren universalistischen Begriffen, die für ihn im Völkerrecht die typischen Waffen des Interventionismus sind.44 Dem stellt Schmitt gegenüber: „(E)in echtes Großraumprinzip, nämlich die Verbindung von politisch erwachtem Volk, politischer Idee und politisch von dieser Idee beherrschtem, fremde Interven­ tionen ausschließenden Großraum“.45

Schmitt möchte auch den Begriff des Reichs mit völkerrechtlicher Dignität versehen. Unter Reich versteht er das staatlich verfasste Volk, dessen politische Idee in einen bestimmten Großraum ausstrahlt. Ein Reich in diesem Sinn ist nicht der Großraum, sondern ein Reich hat seinen Großraum. Schmitts Grundthese lautet, das zwischenstaatliche Völkerrecht habe sich überlebt. Für die Zukunft gelte: 41 Carl Schmitt, Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht, Duncker & Humblot, Unveränderter Abdruck der 1941 erschienenen 4.  Auflage, Berlin 1991. Zu Schmitts Großraumkonzeption besonders umfänglich Mathias Schmoeckel, Die Großraumtheorie. Ein Beitrag zur Geschichte der Völkerrechtswissenschaft im Dritten Reich, insbesondere der Kriegszeit, Duncker & Humblot, Berlin 1994.  42 Schmitt ebendort, S. 22 ff. Zur Monroe-Doktrin knapp Antony Anghie, Identifying Regions in the History of International Law in Bardo Fassbender/Anne Peters (Hrsg.), The Oxford Handbook on the History of International Law, Oxford University Press, Oxford 2012, S. 1058, 1065–1067.  43 Schmitt, Fn. 41, S. 29.  44 Ebendort, S. 33. 45 Ebendort, S. 30. 88

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„Sobald aber völkerrechtliche Großräume mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte anerkannt sind und die Sonne des Reichsbegriffs aufgeht, wird ein abgrenzbares Nebeneinander auf einer sinnvoll eingeteilten Erde denkbar und kann der Grundsatz der Nichtintervention seine ordnende Wirkung in einem neuen Völkerrecht entfalten.“ 46

Das Deutsche Reich sieht Schmitt an der Spitze dieses neuen Völkerrechts: „Aus einer schwachen und ohnmächtigen ist eine starke und unangreifbare Mitte Europas geworden, die imstande ist, ihrer großen politischen Idee, der Achtung jedes Volkes als einer durch Art und Ursprung, Blut und Boden bestimmten Lebenswirklichkeit, eine Ausstrahlung in den mittel- und osteuropäischen Raum hinein zu verschaffen und Einmischungen raumfremder und unvölkischer Mächte zurückzuweisen. Die Tat des Führers hat dem Gedanken unseres Reichs politische Wirklichkeit, geschichtliche Wahrheit und eine große völkerrechtliche Zukunft verliehen.“47

Kehren wir nun zu Jahrreiß zurück. In seiner Kölner Antrittsvorlesung48 kritisiert er hellsichtig – man ist versucht zu sagen: kelsenianisch – die Idee eines freien Kriegführungsrechts.49 Auch hält er noch an der Vorstellung fest, Zwischenstaatenrecht habe die Herrschaftsgewalten in Europa so zu binden, dass die Völker miteinander in Frieden leben können. Weniger friedlich wird es dann gegen Ende des Texts im Hinblick auf Afrika. Hier sieht Jahrreiß die für Europa zur Erhaltung seines „technischen Lebensstands“ erforderlichen „Reserveräume“. Hier plädiert Jahrreiß für eine gesamteuropäische koloniale Anstrengung. Er fügt hinzu: „Wir unterschätzen nicht den Widerstand der Farbigen“.50 Bald wird der Ton insgesamt unfriedlich. 1939 und 1941 erscheinen zwei Aufsätze zu Schmitts Großraumlehre. In den meisten Würdigungen, die das Werk von Jahrreiß nach dem Zweiten Weltkrieg erfahren hat, werden sie nicht erwähnt. Auch Jahrreiß selbst erwähnt sie nicht, als er zunächst 1986 in einem autobiographischen Beitrag und 1987 in einem Gespräch mit Hartmut Schiedermair, einem seiner Nachfolger, auf sein Berufsleben zurückblickt.51 Wenn ich es recht sehe, haben diese beiden Aufsätze erstmals durch Annette Weinke eine nähere Würdigung erfahren. Weinkes sehr gehaltvoller Beitrag zu

46 Ebendort, S. 49. 47 Ebendort, S. 63. 48 Hermann Jahrreiß, Völkerrecht und Völkerfriede um Europa, Verlag von W. Kohlhammer, Stuttgart, 1937.  49 Ebendort, S. 7 ff. 50 Ebendort, S. 28. 51 Die „Zusammenfassung des Gesprächs vom 18.2.1987“, die Verf. einsehen konnte, befindet sich in der Bibliothek des Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht der Universität zu Köln. 89

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Jahrreiß52 findet sich in dem Band „Kölner Juristen im 20. Jahrhundert“, den wir zwei damals jungen Kölner Juristen, Steffen Augsberg und Andreas Funke, verdanken.53 Der Beitrag von 1939 ist kurz.54 Hierin wird Schmitts große Linie, wie Jahrreiß sie nennt, mit erkennbarem Wohlwollen nachgezeichnet, aber darauf hingewiesen, es gebe offene Fragen auf unterer Abstraktionshöhe. Diesen widmet sich Jahrreiß in seinem umfänglicheren Text von 1941.55 Dieser beginnt wie folgt: „Fast zwei Jahre tobt der Krieg, den Großbritannien nach einer Vorbereitungspolitik des Zeitgewinns getreu seinem alten Rezept dem Deutschen Reich erklärt hat.“ Sodann paraphrasiert Jahrreiß Schmitts Deutung des geschichtlichen Prozesses. Gegenüber dem Begriff des Großraums bevorzugt Jahrreiß den des politischen Kontinents – und schreibt: „Dieser (der alte) Zustand wird nunmehr abgelöst durch einen unverschleierten Zustand mehrerer nebengeordneter politischer Kontinente in einer Weltordnung, die keine angelsächsische Vormundschaft kennt, aber auch nicht mit einer (…) rechtlichen Gleichheit aller Staaten ohne Rücksicht auf Größe, Aufgaben und Leistungsfähigkeit hantiert.“56

Der neue Zustand zeichnet sich für Jahrreiß allerdings nur in seinen Grundlinien ab: Der politische Kontinent Amerika wird fortbestehen. Daneben wird Europa unter deutsch-italienischer und Ostasien unter japanischer Führung stehen, so wie es der Dreimächtepakt 1940 zum Ausdruck bringe. Die Schicksale Englands, Russlands und Afrikas erscheinen Jahrreiß noch offen. Innerhalb der politischen Kontinente könne es keine staatliche Souveränität geben, für Völkerrecht innerhalb eines politischen Kontinents gibt es einen Anwendungsbereich bestenfalls in technischen Fragen. Der Aufsatz schließt wie folgt: „Aus einem von der Regierung der Vereinigten Staaten für notwendig gehaltenen, wenn nicht gewünschten Krieg Englands gegen Deutschland wurde ein Abdrosselungskrieg der vereinigten angelsächsischen Mächte gegen Europa und eine gegen ganz Europa gerichtete Überschwemmungsdrohung der Sowjetunion. Härte, Dauer und Ergebnisse des Selbstbehauptungs- und Befreiungskriegs der Achse und der sich um sie scharenden Völker werden über den Umfang des politischen Kontinents und über seine innere Ordnung, über die Verfassung dieser Staatenverbindung entschei52 Weinke, Fn. 35.  53 Augsberg/Funke, Fn. 24. 54 Hermann Jahrreiß, Völkerrechtliche Großraumordnung. Bemerkungen zu einer Schrift von Carl Schmitt, Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht 6 (1939), 608.  55 Hermann Jahrreiß, Wandel der Weltordnung. Zugleich eine Auseinandersetzung mit der Völkerrechtslehre von Carl Schmitt, Zeitschrift für öffentliches Recht 21 (1941), 513.  56 Ebendort, S. 520. 90

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den. Im Wandel der Weltordnung entstehen geschriebene und ungeschriebene Kontinentsverfassungen und ein Zwischen-Kontinente-Recht.“57

II. Das neue Völkerrecht gegen den Krieg und der Nürnberger Prozess Wechseln wir den Blick und richten ihn auf die völkerrechtlichen Debatten in Amerika vor dessen Kriegseintritt.58 Im Vordergrund steht hier nun die Frage der Neutralität. Dürfen die USA Großbritannien Kriegsmaterial liefern? Nach klassischem Neutralitätsrecht ist die Antwort klar: die USA dürfen es nicht. 1940 stellt sich diese Frage Robert Jackson – dem Robert Jackson, der später Amerikas Chefankläger in Nürnberg werden soll. Jackson ist zu diesem Zeitpunkt Attorney General der USA. Jackson zweifelt nicht wirklich daran, dass das alte Neutralitätsrecht mit dem Briand Kellogg Pakt überwunden sei. Aber er sucht professoralen Beistand. Er findet ihn bei Hersch Lauterpacht.59 Lauterpacht ist seit langem der Auffassung, das Kriegsverbot des Briand Kellogg Pakts habe dem alten Völkerrecht der Neutralität den Boden entzogen. Denn dieses sei untrennbar verbunden mit dem überkommenen freien Kriegführungsrecht. Dem neuen diskriminierenden Kriegsbegriff müsse die Möglichkeit entsprechen, zwischen Angreifer und Verteidiger zu differenzieren. Sie erinnern sich: Schmitt hatte Lauterpacht 1937 als einen bedeutsamen Widersacher ausgemacht. Schmitt hat Recht. Im März 1941 zeichnet Roosevelt den Lend-Lease-Act, mit dem die USA zur Diskriminierung zwischen den Kriegsparteien übergehen. Ende März rechtfertigt Jackson dieses Gesetz in einer gefeierten Rede vor der Inter-Amerikanischen Juristenvereinigung in Havanna – auf der Grundlage eines Gutachtens von Lauterpacht. Doch Jackson geht weiter. In seinem folgenden Ausruf wirft Nürnberg bereits seinen Schatten voraus: „Das Prinzip der Ächtung des Kriegs als Instrument nationaler Politik muss der Ausgangspunkt für jeden Plan eines internationalen Wiederaufbaus sein. Und eine der vielversprechenden Richtungen der Rechtsentwicklung ist es, jede mögliche Art von

57 Ebendort, S. 536. 58 Eingehend Hathaway/Shapiro, Fn. 4, S. 168 ff., 177 ff., 245 ff. 59 Hersch Lauterpacht, Memorandum on Certain Aspects of the Law of Neutrality, 3 September 1941 in Elihu Lauterpacht (Hrsg.), Hersch Lauterpacht. International Law. Collected Papers. Volume V Disputes, War and Neutrality, Cambridge University Press, Cambridge 2004, S.  659.  Interessante Dokumente hierzu in Elihu Lauterpacht, Fn. 39, S. 141 ff. 91

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Sanktion bereitzustellen, um den Kriegsverzicht zu einem lebendigen Prinzip unserer Gesellschaft zu machen.“60

Lauterpacht kehrt nach Cambridge zurück. Dort unterstützt er die Cambridge Group. Diese hat es sich zum Ziel gesetzt, die Strafverfolgung von Kriegsverbrechen nach dem Krieg vorzubereiten. Lauterpachts Blick geht über die klassischen Kriegsverbrechen hinaus. Wie Jackson nimmt er den Angriffskrieg selbst in den Blick. Im Juli 1942 schreibt er: „Das Recht der internationalen Gesellschaft, das diesen Namen verdient, muss die Auffassung, dass es zwischen Nationen keine strafbare Aggression gebe, mit Entschiedenheit verwerfen. Dieses Recht muss vielmehr in Betracht ziehen, dass die Verantwortung für eine geplante Verletzung des Briand Kellogg Pakts in den Bereich des Strafbaren fällt.“61

Jackson und Lauterpacht sind sich also einig. Doch das genügt nicht. Es führt kein gerader Weg nach Nürnberg. In den USA dominiert lange die Linie von Finanzminister Morgenthau. Sie lautet auf summarische Exekution.62 Bei einer Gelegenheit plädiert Morgenthau dafür, alle Mitglieder der NSDAP hin­ zurichten. Ihm wird bedeutet, davon gebe es vielleicht 13 Millionen. Er antwortet, er habe angenommen, es seien nur fünf Millionen. Auch Churchill befürwortet Exekutionen – allerdings nur in den bis zu hundert schwersten Fällen. Die Befürworter eines Strafprozesses sitzen im Kriegsministerium der USA – mit Kriegsminister Stimson an der Spitze. Die Prozessbefürworter haben einen bemerkenswerten Verbündeten: Stalin.63 Er erwärmt sich sehr für die Idee eines Strafprozesses. Oder sagen wir es genauer: für die ihm in der Praxis vertrautere Idee eines Schauprozesses. Franklin D. Roosevelt teilt Morgenthaus Skepsis lange Zeit. Doch am Ende ändert er seine Meinung. Hierzu kommt es außerhalb des Dienstwegs – und die entsprechende kleine Geschichte ist ganz reizend:64 William Chanler ist New Yorker bester Herkunft, Peter Stuyvesant gehört zu seinen Vorfahren. Er war Wall Street Jurist – und Idealist. Er wird Rechtsberater der amerikanischen Streitkräfte und glühender Befürworter der Idee eines Strafprozesses wegen Angriffskriegs. Doch Chanler, in60 Von mir ins Deutsche übertragen nach dem englischen Zitat in Hathaway/Shapiro, Fn. 4, S. 247.  61 Hersch Lauterpacht, The Law of Nations and the Punishment of War Crimes in Elihu Lauterpacht (Hrsg.), Fn. 59, S. 519 (dort in Fn. 42). 62 Hathaway/Shapiro, Fn. 4, S. 254 ff. 63 Zur russischen Haltung näher Thomas Darnstädt, Nürnberg. Menschheitsverbrechen vor Gericht, Piper Verlag, München/Berlin 2015, S. 16 ff. 64 Und Hathaway/Shapiro, Fn. 4, S. 257 ff. erzählen sie fesselnd in weiteren Einzelheiten als im Text. 92

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zwischen im Pentagon, dringt nicht durch, jedenfalls nicht auf dem Dienstweg. Da besinnt er sich John Boettigers, der mit ihm im Pentagon arbeitet. Denn Boettiger hat einen großen Vorzug: Er ist mit Anna Roosevelt verheiratet, der Tochter und Vertrauten des Präsidenten. Boettiger verbringt die Weihnachtsferien am Ende des Jahres 1944 gemeinsam mit seinen Schwiegereltern. Chanler erkennt seine Chance, verfasst ein halbseitiges Plädoyer und bittet ­Boettiger darum, es dem Herrn Schwiegervater zu übergeben. Was nun genau geschieht, wissen wir nicht. Doch eines wissen wir: Am 3. Januar schickt der Präsident seinem Außenminister einen Vermerk. Der Präsident bittet um einen Sachstandsbericht zur amerikanischen Haltung in der Frage eines Strafprozesses gegen Hitler und andere Nazi-Größen und fügt hinzu: Die Anklage sollte den Angriffskrieg umfassen. Im April 1945 stirbt Roosevelt. Truman wird an dessen neuer Linie festhalten. So schlägt Robert Jacksons Stunde. Bald spricht er vor der amerikanischen Völkerrechtsgesellschaft zum Thema der Strafverfolgung.65 Allzu direkt wird er nicht, denn er ist inzwischen zum Richter am Supreme Court avanciert. Dennoch wird seine Ansprache als Bewerbungsrede verstanden. Die offizielle Anfrage lässt nicht lange auf sich warten. Ende April nimmt Jackson das Angebot an, amerikanischer Chefankläger in Nürnberg zu werden. Sein Kernanliegen kennen wir bereits aus Havanna: Es ist die Sanktionierung des Angriffskriegs. Ab Ende Juni verhandeln die vier Mächte in London. Die Sache mit dem Angriffskrieg gestaltet sich schwierig. Widerstand kommt insbesondere von den Franzosen: „Très fragile“66 sei die völkerrechtliche Basis, heißt es dort. Doch Jackson setzt sich durch. Jacksons inoffizieller Berater ist einmal mehr Lauterpacht, den er von London aus in Cambridge besucht. Lauterpacht schlägt die folgende Nürnberger Verbrechenstrias vor: Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Doch nicht nur Lauterpacht, auch sein Lehrer Kelsen erhebt seine Stimme.67 Kelsen ist inzwischen in Diensten der amerikanischen Regierung, und er erkennt einen Fehler im ersten Entwurf des Statuts für das Nürnberger Militärtribunal. Der Angriffskrieg war hier – dem zwischenstaatlichen Reflex der Völkerrechtler folgend – selbst als strafbar eingestuft worden. Kelsens Intervention führt zu der Präzisierung, dass die individuelle Beteiligung am Angriffskrieg strafbar sei.

65 Hathaway/Shapiro, Fn. 4, S. 261 ff. 66 Ebendort, S. 267 (Jules Basdevant). 67 Einzelheiten ebendort, S. 268 ff. 93

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Als Carl Schmitts Kontrahenten dabei sind, Rechtsgeschichte zu schreiben, wird auch Schmitt tätig.68 Denn Friedrich Flick lässt ihn um ein Rechtsgutachten bitten. Flick hat von den alliierten Plänen gehört, auch deutsche Großindustrielle anzuklagen. Flick ist in Sorge, Schmitt zur Hilfe bereit. Schmitt hatte die rückwirkende Strafgesetzgebung der Nazis aus Anlass des Reichstagsbrandprozesses gerechtfertigt. Hierzu hatte er das Gebot nullum crimen sine poena proklamiert.69 Nun gutachtet er, eine Strafverfolgung wegen Angriffskriegs würde den Gesetzlichkeitsgrundsatz verletzen.70 Schmitt übergibt sein Gutachten Rudolf Dix, dem Strafverteidiger von Flick. Ausweislich Schmitts Tagebuch nennt Dix das Gutachten eine „völkerrechtliche Seminarübung“. Tatsächlich sieht es ganz danach aus. Denn Flick wird nicht angeklagt. Angeklagt wird hingegen Jodl, der Chef des Wehrmachtführungsstabs im Oberkommando der Wehrmacht. Jodl erkundigt sich, ob er einen Experten im Straf- oder im Völkerrecht benötige. Er erhält die Antwort, Expertise auf beiden Feldern könne in seinem Fall vermutlich nicht schaden. In der Folge öffnet sich für Hermann Jahrreiß der Weg nach Nürnberg. Er wird später zu Protokoll geben, Franz Exner, Jodls Hauptverteidiger habe ihn gebeten mitzuwirken. Annette Weinke weist ergänzend darauf hin, dass eine solche Anfrage Exners Jahrreiß kaum ungelegen gewesen sein konnte.71 Denn Jahrreiß erhält nach dem Krieg zunächst keine Lehrbefugnis. In einem Bericht vom August 1945 empfiehlt Nipperdey, Jahrreiß im Universitätsdienst nicht weiter zu verwenden.72 Jahrreiß verteidigt in Nürnberg also an der Seite Exners – und unterstützt von Jodls zweiter Ehefrau, Luise, als Sekretärin. Diese spricht Englisch, und sie ist elegant. Marlene Dietrich wird sie später im Film Judgment at Nuremberg spielen. Jahrreiß fällt die Aufgabe zu, für die Verteidigung insgesamt darzutun, dass die Anklage wegen Angriffskriegs dem Gesetzlichkeitsprinzip widerspreche. Das Plädoyer ist Jahrreiß’ großer Auftritt in Nürnberg. Hier vielleicht die Quintessenz seiner Rede: „Die Vorschriften des Statuts negieren die Grundlagen des Völkerrechts, sie nehmen das Recht eines Weltstaats voraus. Sie sind revolutionär. Vielleicht gehört ihnen im 68 Einzelheiten ebendort, S. 271 ff. 69 Carl Schmitt, Nationalsozialismus und Rechtsstaat, Juristische Wochenschrift 63 (1934), 90.  70 Carl Schmitt, Das international-rechtliche Verbrechen des Angriffskrieges und der Grundsatz „Nullum crimen, nulla poena sine lege“, herausgegeben, mit Anmerkungen und mit einem Nachwort versehen von Helmut Quaritsch, Duncker  & Humblot, Berlin 1994. 71 Weinke, Fn. 35, S. 170.  72 Hans Carl Nipperdey, Bericht über den Zustand der Juristischen Fakultät, August 1945, Universitätsarchiv Köln Zug 44/205, S. 8.  94

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Hoffen und Sehnen der Völker die Zukunft. Der Jurist, und nur als solcher darf ich hier sprechen, hat lediglich festzustellen, daß sie neu sind, umstürzend neu. Das Recht über Krieg und Frieden zwischen den Staaten hatte für sie keinen Platz, konnte für sie keinen Platz haben. So sind sie Strafgesetze mit rückwirkender Kraft.“73

Jahrreiß wird für seine Gerichtsrede viel Lob erhalten. Telford Taylor, der amerikanische Chefankläger in den Nürnberger Folgeprozessen, wird schreiben, einen besseren Fürsprecher hätten die Angeklagten kaum haben können.74 Im SPIEGEL soll es im Nachruf auf Jahrreiß heißen, die Gerichtsrede habe „deutsche Rechtsgeschichte gemacht“.75 Nun, dass die Sache der Verteidigung in Jahrreiß’ Plädoyer eindrucksvoll zur Geltung gebracht worden ist, sei hier nicht bestritten. Doch in welchem Umfang war dies tatsächlich Jahrreiß’ Verdienst? Diese Frage führt zurück zu Schmitts „völkerrechtlicher Seminarübung“, Sie erinnern sich: dem Gutachten für Flick. Auch wenn in den Einzelheiten und in der sprachlichen Gestaltung erhebliche Unterschiede bestehen, so ist die Übereinstimmung von Schmitts Gutachten und Jahrreiß’ Gerichtsrede in den zentralen Bausteinen nicht zu übersehen. Kannte Jahrreiß Schmitts Gutachten? Wir wissen es nicht. Doch wir wissen von der Übergabe von ­Schmitts Gutachten an Dix. Und Dix sollte alsdann die Verteidigung Schachts im Nürnberger Prozess übernehmen. Oona Hathaway und Scott Shapiro haben Recht, wenn sie es für eher fernliegend halten, dass Dix Jahrreiß Schmitts ­Gutachten vorenthalten haben könnte.76 Ich möchte nicht so weit gehen wie Hathaway und Shapiro, die vermuten, Schmitt sei in Nürnberg als Bauchredner zugegen gewesen.77 Indessen halte ich die Annahme für durchaus plausibel, dass Jahrreiß in Nürnberg ein zweites Mal auf Schmitts geistiger Spur gewandelt ist. Einen Bauchredner gibt es in Nürnberg sicher – und das ist Lauterpacht. Sein Sprachrohr ist der englische Chefankläger.78 Schon die Eröffnungsrede von Hartley Shawcross schreibt im Wesentlichen Lauterpacht. Auch Shawcross’ Antwort auf „die ausgezeichneten Ausführungen von Professor Jahrreiß“ ent-

73 Internationaler Militärgerichtshof, Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Nürnberg 14.11.1945–1.10.1946, Veröffentlicht in Nürnberg, 1948, Amtlicher Text in deutscher Sprache, Band  17, S. 521.  74 Telford Taylor, The Anatomy of the Nuremberg Trial, Alfred A. Knopf, New York 1992, S. 474 f. 75 Im Nachruf auf Hermann Jahrreiß im SPIEGEL vom 2.11.1992. 76 Hathaway/Shapiro, Fn. 4, S. 288. 77 Ebendort. 78 Ebendort, S. 282 ff. 95

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stammt Lauterpachts Feder. Eine bemerkenswerte Passage dieser Antwort zielt direkt auf Schmitt, ohne diesen beim Namen zu nennen: „Es mutet seltsam an, wenn die Angeklagten, die als Deutsche Regierung die meisten europäischen Staaten überrannt, brutal deren souveräne Unabhängigkeit mit Füßen getreten und mit prahlerischem und großtuerischem Zynismus die Souveränität der eroberten Staaten dem neuen Begriff der ‚Großraumordnung’ unterworfen haben – es mutet seltsam an, sage ich, wenn diese Angeklagten sich auf die geheimnisvollen Kräfte und die Heiligkeit staatlicher Souveränität berufen.“79

Auch die Amerikaner zielen auf Schmitt – sie auf seine strafrechtliche Verantwortlichkeit.80 Karl Löwenstein war zunächst ein Bewunderer von Schmitt und hatte mit ihm in den 1920er Jahren korrespondiert. 1933 verlor Löwenstein seine Stellung an der Münchner Universität und flieht in die USA. Nun, 1945, kehrt er als Mitglied der amerikanischen Besatzungsmacht nach Deutschland zurück – und nimmt Schmitt ins Visier. Er verfasst ein Memorandum, in dem er Schmitts geistige Kraft lobpreist. Allerdings habe Schmitt seine fast genialische Begabung in den Dienst des Bösen gestellt. Insbesondere habe seine Großraumtheorie dem Naziregime die theoretische Grundlage für sein Streben nach der Weltherrschaft geliefert. Schmitt verbringt ein Jahr in verschiedenen Internierungslagern. Er schreibt den Text Ius Publicum Europaeum,81 in dem er die Überlegungen aus dem Begriff des Politischen fortführt. Er beschwört seine geistigen Brüder Bodin und Hobbes als die Theoretiker der alten Ordnung, auf die nun der rechtliche Terror eines blutigen Bürgerkriegs folgen werde. „Die Einmischung von Argumentationen und Institutionen rechtlicher Art vergiftet den Kampf. Sie steigert ihn zu äußerster Härte, indem sie Mittel und Methoden der Justiz zu Mitteln und Methoden der Vernichtung macht. Man sitzt im Gerichtshof, ohne aufzuhören, der Feind zu sein!“82

Schmitt wird 1946 entlassen. Doch 1947 wird er erneut vorgeladen – und dies, so will es die Geschichte, von einem alten Kölner Bekannten. Es handelt sich um Ossip Flechtheim. Für die Kunstfreunde unter Ihnen: Flechtheim ist Neffe83 des berühmten Kunsthändlers der Avantgarde, Alfred Flechtheim, der maßgeblich an der Kölner Sonderbund-Ausstellung beteiligt war, zu der wir 79 Internationaler Militärgerichtshof, Fn. 73, Band 19, S. 516. 80 Zum Folgenden näher Hathaway/Shapiro, Fn. 4, S. 292 ff. 81 Carl Schmitt, Jus publicum Europeaum, Typoskript, Archiv der Max-Planck-Gesellschaft (Signatur: Abt. Va, Rep. 13 Schmitt, Nr. 2/1). 82 Ebendort, S. 2. 83 Im Vortrag hieß es irrtümlicherweise „Sohn“. Ich danke Frau Kollegin Ursula ­Peters für den Hinweis auf das Versehen. 96

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zuletzt im Wallraff-Richartz-Museum eine wunderbare Retrospektive84 erleben durften. Flechtheim Junior, der mit dem Kommunismus sympathisiert, hatte  – es mag erstaunen  – bei Schmitt promovieren wollen. Doch Schmitt lehnte ab. Dennoch gelang Flechtheim die Kölner Promotion  – zu Hegels Strafrechts­theorie. Publiziert wurde sie erst später, 1936, in der Tschechoslowakei, leider ohne erhellendes Vorwort.85 Flechtheims Doktorgrad wurde 1938 entzogen. 1947 wird meine Fakultät dieses Unrecht auf Flechtheims Antrag hin revidieren.86 Der Rektor der Universität zu Köln, Axel Freimuth, wird in seiner Erklärung vom Dezember 2005 an das Flechtheim und vielen anderen jüdischen Wissenschaftlern in Köln widerfahrene Unrecht erinnern. Er wird erklären, dass sich die Universität zu Köln voller Scham zu ihrer Verantwortung bekennt.87 Flechtheim musste aus Deutschland fliehen. Er geht zunächst nach Genf, wo er – wie Kelsen – am Institut de Hautes Études Internationales eine kurze Heimstatt fand. Dann emigrierte er in die USA und arbeitete an der Columbia in New York. Während des Kriegs trat Flechtheim in die US Armee ein. Und als Angehöriger der amerikanischen Streitkräfte kehrte er nach Deutschland zurück. Flechtheim führt die erste Vernehmung Schmitts durch, dann übernimmt Robert Kempner.88 Kempner war bis 1932 Beamter im preußischen Innenministerium, dann wurde der jüdische Jurist und Sozialdemokrat entlassen. Kempner verhört Schmitt viermal im Nürnberger Justizpalast.89 Zunächst ist er wohl davon überzeugt, Schmitt habe Hitler mit seiner Großraumtheorie eine entscheidende theoretische Grundlage für die deutschen Angriffskriege geliefert. Schmitt verteidigt sich im Kern mit zwei Argumenten: Er habe, erstens, seit 84 Barbara Schaefer (Hrsg.), 1912 Mission Moderne. Die Jahrhundertschau des Sonderbundes, Wienand, Köln 2012; s. in diesem Band insbesondere Barbara Schaefer, Die Sonderbundausstellung 1912, 36, 43, 51; Rainer Stamm, „wir wenigen Menschen, die gesammelt haben“ – Die Leihgeber der Sonderbundausstellung, 58, 63.  85 Ossip Kurt Flechtheim, Hegels Strafrechtstheorie, Verlag Rudolf M. Rohrer, Brünn/ Prag/Leipzig/Wien, 1936. 86 Margit Szöllösi-Janze/Andreas Freitäger/TeilnehmerInnen des Hauptseminars „Die Universität Köln im Nationalsozialismus“ Wintersemester 2003/2004 (Verf. und Hrsg.), „Doktorgrad entzogen!“ Aberkennungen akademischer Titel an der Universität zu Köln 1933 bis 1945, Kirsch Verlag, Nümbrecht 2005, S. 78 ff. 87 Abgedr. in Szöllösi-Janze u.a., Fn. 86, S. 7. 88 Hermann Weber, Robert M. W. Kempner (geb. 1899). Vom Justitiar in der Polizeiabteilung des Preußischen Innenministeriums zum stellvertretenden US-Hauptankläger in Nürnberg in Henrichs u.a., Fn. 12, S. 793. 89 Hierzu im Einzelnen Joseph W. Bendersky, Carl Schmitt’s Path to Nuremberg: A Sixty-Year Reassessment, Telos 239 (2007), 6; s. auch Mehring, Fn. 19, S. 451 ff.; Hathaway/Shapiro, Fn. 4, S. 295 ff. 97

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seiner – wie er es nennt – „öffentlichen Diffamierung vom Dezember 1936“ nicht mehr mit der Nazispitze in Verbindung gestanden. Hitler sei seiner Theorie, zweitens, nicht gefolgt, sondern habe eine irrationale biologisch-rassistische Lebensraumpolitik betrieben. Wörtlich: „Es wäre demnach nur eine ungerechtfertigte, einem geistwidrigen System unverdient zukommende, ideelle Bereicherung für Hitler, wenn eine wissenschaftlich wohl durchdachte Konstruktion mit der Hitlerschen Eroberungspolitik unter einen Begriff gebracht würde.“90

Kempner ist am Ende wohl überzeugt davon, dass Schmitt sich im rechtlichen Sinn nicht schuldig gemacht hat, und er entlässt ihn. Der Fall Schmitt wirft zwei faszinierende – auch heute relevante – Fragen des Völkerstrafrechts auf: Unter welchen Voraussetzungen gelangt ein Völkerrechtswissenschaftler in einem politischen System, auch ohne ein Amt innezuhaben, auf die Ebene der politischen Führung? Wo verläuft die Grenze zwischen erlaubter wissenschaftlicher Theoriebildung und verbotener Beratung eines verbrechensgeneigten Politikers durch einen Wissenschaftler? Dieser Vortrag ist nicht der Ort für eine umfassende Antwort. Doch die folgende Anmerkung zum Fall Schmitt sei erlaubt: Schmitt hat die Möglichkeit, seine Großraumlehre zur Legitimation deutscher Angriffskriege heranzuziehen, zu klein geredet. Denn diese Lehre weist deutlich dahin, den Staaten im Großraum den vollen völkerrechtlichen Schutz gegenüber dem jeweiligen Reich zu verwehren. Pikanterweise ist es Jahrreiß, der diese Konsequenz für sein „Zwischen-Kontinente-Recht“ klar gezogen hat. Dies festzustellen, heißt nicht, den Abstand zu bestreiten, der zwischen Schmitts Großraumtheorie und der nationalsozialistischen Idee vom Lebensraum besteht.91 Ein Abstand, 90 Helmut Quaritsch (Hrsg.), Carl Schmitt: Antworten in Nürnberg, Duncker  & Humblot 2000, S. 78. 91 Für eine ähnliche Gesamtbetrachtung, s. Koskenniemi, Fn. 20, S. 421. S. auch den hochinstruktiven Beitrag von Horst Dreier, Wirtschaftsraum  – Großraum  – Lebensraum. Facetten eines belasteten Begriffs in Horst Dreier/Hans Forkel/Klaus Laubenthal, Raum und Recht. Festschrift 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät, Duncker & Humblot, Berlin 2002, S. 47, 71 ff., der den Abstand zwischen Schmitts gedanklichem Entwurf und dem nationalsozialistischen Denken und Handeln unter näherer Betrachtung der Kritik völkischer NS-Theoretiker und NS-Juristen an Schmitt näher herausarbeitet. 98

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und zwar ein persönlicher, bestand seit Dezember 1936 tatsächlich auch wieder zwischen Schmitt und dem Naziregime. Schmitt hatte mächtige Gegner unter den Nazis. Und diese sorgten dafür, dass Schmitt vom SS-Organ Schwarzes Korps im Dezember 1936 an den Nazi-Pranger gestellt wurde. Schmitts widerwärtige antisemitische Raserei der Jahre zuvor hatte ihn nicht vor seinem Sturz in der Ämterhierarchie der Nazis bewahrt. Sein Traum, Führer des Führers zu werden, war Ende 1936 tatsächlich ausgeträumt.92 Kempner hatte daher überzeugende Gründe für seine Entscheidung, Schmitt freizulassen. In seiner Entscheidung liegt übrigens eine bemerkenswerte Pointe: Sie widerlegt am Fall Schmitt selbst Schmitts düstere Prognose, die Einmischung von Argumentationen und Institutionen rechtlicher Art müsse den Kampf vergiften. In Schmitts Tagebuch heißt es für den 17.8.1949: „Da ist also nun ein mächtiges Reich in Amerika, das uns in Europa besetzt und beherrscht. Ich habe als Angehöriger des besetzten, beherrschten und besiegten Deutschland mit der Macht dieses mächtigen Reiches zu tun gehabt. Ich bin verhaftet worden, man hat mir mein intimstes Eigentum, meine Bibliothek, weggenommen, man hat mich zu den kriminellen Verbrechern in die Zelle gesteckt, kurz, ich bin in die Hände dieses mächtigen amerikanischen Reiches geraten. Ich war neugierig auf meine neuen Herren. Aber ich habe bis heute, 5 Jahre lang, noch niemals nur mit einem Amerikaner gesprochen, sondern nur mit deutschen Juden, mit Herrn Löwenstein, Flechtheim und ähnlichen, die mir durchaus nicht neu waren, sondern die ich schon lange gut kannte. Ein sonderbarer Herr der Welt, dieser arme Yankee, neumodisch mit seinen uralten Juden.“93

Schmitt zieht sich ins Privatissimum nach Plettenberg zurück. Dort wird er 1985 sterben. Sein wissenschaftlicher Beitrag zur Frage von Krieg und Frieden im Völkerrecht bleibt – wie ich sogleich andeuten werde – bedeutsam.94 Die Pilgerzüge von Anhängern nach Plettenberg bleiben mir in Anbetracht seiner widerwärtigen antisemitischen Entgleisungen ein Rätsel. Wie ist es mit Jahrreiß weitergegangen? Nach einem weiteren Einsatz in Nürnberg, und zwar im Nürnberger Juristenprozess, lehrt Jahrreiß ab dem Wintersemester 1947/1948 wieder in Köln. Offenbar ist ihm – nicht zuletzt dank großer Rednergabe  – anhaltender Lehrerfolg beschieden. Hans Peters, der im Kreisauer Kreis mitwirkte, würdigt ihn als hochherzige Persönlichkeit von vor-

92 Mehring, Fn. 19, S. 378 ff.; Mehring, Fn. 24, S. 160 f. 93 Carl Schmitt, Glossarium: Aufzeichnungen der Jahre 1947–1951, herausgegeben von Eberhard Frhr. Von Medem, Duncker & Humblot, Berlin 1991, S. 264.  94 Übereinstimmend Koskenniemi, Fn. 20, S. 424.  99

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nehmer Gesinnung.95 Meine Mutter, eine der frühen Kölner Jurastudentinnen, hat ihn ähnlich erlebt: als fähigen und liebenswürdigen Hochschullehrer. Jahrreiß, der sich nun sehr auf dem Feld der Hochschulpolitik engagiert, wird 1958 Rektor der Universität, später ihr Ehrenbürger. 1992 stirbt er im hohen Alter. Klaus Stern nennt ihn in seinem Nachruf einen „Großen der deutschen Rechtswissenschaft“.96 Der Kölner Altrektor Matz nennt ihn eine „überragende Gestalt der Geschichte der Universität zu Köln“.97 Diese Lobpreisungen bedürfen im Licht des aktuellen Erkenntnisstands mindestens der Ergänzung. Nehmen wir nochmals Hans Kelsen ins Bild: Er wird 1945 – endlich – Full Professor in Berkeley. Er stirbt 1973. Der Staatsrechtler und Rechtsphilosoph Horst Dreier, ein herausragender Kelsen-Kenner, beschließt seinen Rückblick auf Hans Kelsen wie folgt: „Hans Kelsen, der Jurist des Jahrhunderts? Vielleicht. Auf jeden Fall aber mehr als nur ein Jurist.“98

III. Nachwirkung Klingen die Vermächtnisse meiner Protagonisten zur Völkerrechtsfrage von Krieg und Frieden heute nach? Um diese Frage geht es im letzten Teil der Geschichte, die ich Ihnen erzählen möchte. In Sterns Nachruf auf Jahrreiß heißt es, ein opus magnum habe dieser nicht hinterlassen.99 Ich möchte ergänzen, dass es mir nicht gelungen ist, für die heutige völkerrechtliche Debatte zu Krieg und Frieden deutliche Spuren auszumachen, die originär mit dem Namen Jahrreiß verbunden sind. Deutlich anders liegen die Dinge bei Kelsen und Schmitt.

95 Hans Peters, Hermann Jahrreiß zum 70. Geburtstag, Archiv des öffentlichen Rechts 89 (1964), 372. 96 Klaus Stern, Hermann Jahrreiß. Persönlichkeit und Werk, Archiv des öffentlichen Rechts 119 (1994), 137.  97 Verein zur Förderung der Rechtswissenschaft (Hrsg.), Hermann Jahrreiss (19.8.1894– 23.10.1992) zum Gedächtnis. Reden anläßlich der Akademischen Trauerfeier für Herrn Professor Dr. Dr. h.c. mult. Hermann Jahrreiß am 28.10.1993, Köln 1994, S. 12.  98 Dreier, Fn. 12, S. 731.  99 Stern, Fn. 96, 144.  100

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Kelsen verfasst noch im Krieg die Schrift Peace through Law.100 Er bleibt sich treu.101 Er schlägt vor, Gewalt nur noch als Sanktion und nach einer entsprechenden gerichtlichen Entscheidung zuzulassen.102 Kelsen plädiert also für ein System obligatorischer zwischenstaatlicher Gerichtsbarkeit.103 Hinzukommen soll ein System internationaler Strafgerichtsbarkeit.104 Die Satzung der Vereinten Nationen bleibt deutlich hinter Kelsens Ideal zurück. Sie sieht keine zwingende internationale Gerichtsbarkeit vor, von einer internationalen Strafgerichtsbarkeit ist überhaupt nicht die Rede. Dementsprechend findet sich in Kelsens berühmtem Kommentar zur UNO-Charta105 viel Kritik an deren Fassung.106 Dennoch: Die Texte der neuen völkerrechtlichen Ordnung atmen stärker Kelsens Geist als den Schmitts: Das Verbot des Kriegs wird zu einem Verbot von Gewalt erweitert, um Schlupflöcher zu schließen.107 Ein neues System der kollektiven Sicherheit wird errichtet.108 Dieses sieht sogar die Möglichkeit vor, dass die Staaten der UNO Truppen zur Verfügung stellen, die der Welt-Sicherheitsrat in Weltpolizeieinsätzen gegen Friedensstörer zum Einsatz bringen könnte.109 Schließlich: Das Nürnberger Tribunal hatte dem Völkerstrafrecht zum Durchbruch verholfen und den Angriffskrieg zum schwersten internationalen Verbrechen erklärt.110 Und die Generalversammlung der UNO bestätigt diese Nürnberger Prinzipien nun als allgemein geltendes Völkerrecht.111 Hiermit ist die Entscheidung über die Gestalt der neuen völkerrechtlichen Ordnung aus der rechtstheoretischen Perspektive Schmitts indessen nicht gefallen. Hiernach ist weiter zu fragen: Orientieren diese Texte in der tatsächlichen Praxis der Staaten? Werden sie also in diesem Sinn wirklichkeitsmächtig? Fragt man so, stellen sich im Kalten Krieg alsbald Zweifel ein. Das System 100 Hans Kelsen, Peace Through Law, The Lawbook Exchange Ltd., Clark/New Jersey 2008 (Kelsens Vorwort stammt vom Juni 1944). 101 Im Einzelnen von Bernstorff, Fn. 12, S. 191 ff. 102 Ebendort, S. 3. 103 Ebendort, S. 13 ff. 104 Ebendort, S. 110 ff. 105 Hans Kelsen, The Law of the United Nations. A Critical Analysis of its Fundamental Problems, F. A. Praeger, 2. Auflage, New York 1951 (erste Auflage, New York 1950). 106 von Bernstorff, Fn. 12, S. 226. 107 S. Art. 2 Nr. 4 der Satzung der Vereinten Nationen. 108 S. Art. 39 ff. der Satzung der Vereinten Nationen. 109 S. Art. 43 ff. der Satzung der Vereinten Nationen. 110 Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg, Fn. 73, Band 1, S. 189 ff. 111 Generalversammlung der Vereinten Nationen, Resolution 95 (I), 11.12.1946. 101

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k­ ollektiver Sicherheit bleibt in der Praxis, von einem kurzen Moment des ­Korea-Konflikts abgesehen, durch das wechselnde Veto der beiden Supermächte blockiert. Das Gewaltverbot wird in der Praxis – sagen wir es vorsichtig – erheblichen Belastungsproben ausgesetzt. Werfen wir zur Verdeutlichung einen Blick zurück auf die Kubakrise des Jahres 1962, eine der gefährlichsten Annäherungen des Kalten Kriegs an einen heißen.112 In Anbetracht sowjetischer Waffenlieferungen an Kuba unterbreiten amerikanische Juristen Präsident Kennedy den Vorschlag, ein von ihnen so genanntes „erweitertes Selbstverteidigungsrecht“ zur Gewährleistung von so genannter „Blocksicherheit“ in Anspruch zu nehmen. Erinnern Sie sich an die Monroe-Doktrin? Die Juristen schlagen ihrem Präsidenten in diesem kritischen Moment vor, den Geist dieser Doktrin zu revitalisieren. „Was zur Hölle ist die Monroe-Doktrin!“, antwortet Kennedy. Und dennoch: Die nachfolgende, im Zusammenspiel mit der Organisation Amerikanischer Staaten beschlossene Seeblockade Kubas ist bei Licht besehen eher mit Schmitts Großraumprinzip vereinbar als mit dem völkerrechtlichen Gewaltverbot. 1963 spricht der frühere amerikanische Außenminister Dean Acheson vor der amerikanischen Völkerrechtsgesellschaft und blickt auf die Kuba-Krise zurück. Er sagt: „Die Macht, die Position, und das Prestige der Vereinigten Staaten ist durch einen anderen Staat herausgefordert worden; und das Recht erfasst solche letzten Fragen der Macht ganz einfach nicht – einer Macht, die an die Wurzeln der Souveränität rührt.”113

Das ist Schmitts Begriff des Politischen. Richten wir den Blick kurz auf die andere Seite: Nach dem Einmarsch in der Tschechoslowakei verkündet die Sowjetunion im November 1968 die Breschnew-Doktrin der eingeschränkten Souveränität innerhalb des Ostblocks.114 Diese Doktrin widerspricht dem Gewaltverbot. Zwanglos rationalisieren lässt sie sich dagegen mit dem Großraumgedanken. Die Liste der Beispiele ließe sich fortführen. Ich nenne nur noch den Fall Nicaragua, wir nähern uns schon langsam dem Ende des Kalten Kriegs. Der Internationale Gerichtshof begründet 1984 mit großer Mühe seine Zuständigkeit und verurteilt die USA 1986 wegen einer Verletzung des Ge-

112 Aus völkerrechtlicher Sicht faszinierend hierzu Abram Chayes, The Cuban Mis­ sile Crisis, Oxford University Press, New York 1974, dessen Darstellung die nachfolgenden Zeilen folgen. 113 Remarks by the Honorable Dean Acheson, The Cuban Quarantine, Proceedings of the American Society of International Law 57 (1963), 14. 114 Angelika Nußberger, Russia in Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), The Max Planck Encyclopedia of Public International Law, Band  8, Oxford University Press, Oxford 2012, S. 1029, 1054 (Nr. 120). 102

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waltverbots.115 Konsequenz ist nicht etwa, dass die USA dieses Urteil anerkennen. Vielmehr entziehen sie dem Gerichtshof für die Zukunft jedwede Zuständigkeit. Auf dem Feld der internationalen Strafgerichtsbarkeit werden bis zum Ende des Kalten Kriegs so gut wie keine greifbaren Schritte unternommen, Jacksons Nürnberger Versprechen einzulösen, den schöpferischen Präzedenzfall für die Zukunft in eine feste Rechtsform zu überführen. Das veranlasst Klaus Stern 1993 in seinem Nachruf auf Jahrreiß zu dem Satz: „Jahrreiß unterlag den Siegern und siegte doch“.116 Die Formulierung halte ich nicht für glücklich. Aber ich glaube zu ahnen, was Stern meinte. Nach dem jetzigen Erkenntnisstand wäre es wohl treffender gewesen, zu fragen, ob die Praxis der Staaten im Kalten Krieg jedenfalls auf dem Gebiet des Völkerstrafrechts Schmitt Recht gegeben hatte. Helmut Quaritsch, ein von Schmitt inspirierter nimmermüder Kritiker der Idee eines Völkerstrafrechts, ist sich dessen noch 1994 sicher. Er nennt die Arbeit der Völkerrechtskommission auf diesem G ­ ebiet „Glasperlenspiele einer internationalen Juristensekte“.117 Ähnlich de­zidiert hatte sich 1989 der Völkerrechtsberater der Adenauer-Zeit, Wilhelm Grewe, geäußert. Er schrieb: „Die strafrechtliche Verfolgung von führenden Einzelpersonen für die Entfesselung eines Angriffskrieges war, was die Vergangenheit betrifft, ein Justizirrtum (dem Rudolf Hess, was immer man über seine Rolle im Dritten Reich denken mag, mit 40jähriger Haft zum Opfer gefallen ist); was die Zukunft betrifft, wäre es ein Irrweg. Was die übrigen Straftatbestände des Londoner Statuts anlangt, so erscheint es wenig sinnvoll, sich immer noch an die gescheiterten Ansätze zu klammern und sich der Hoffnung hinzugeben, daß man eines Tages doch noch zu einem umfassenden Völkerstrafrecht, angewandt von einem Internationalen Strafgerichtshof, kommen werde.“118

Nun ist beim Ausrufen eines Endes der Rechtsgeschichte Vorsicht geboten. Das gilt auch für die Sterbeglöckchen, die dem Völkerstrafrecht nicht zuletzt in Deutschland im Kalten Krieg geläutet worden sind. Der neue Geist der Zeit erfasst 1990 zunächst das zuvor paralysierte System der kollektiven Sicherheit. Nach dem völkerrechtswidrigen Gewalteinsatz des Irak gegen Kuwait aktiviert der Sicherheitsrat dieses System. In seiner Rede an die amerikanische Nation

115 Internationaler Gerichtshof, Case Concerning Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v. United States of America), Urteil vom 27.6.1986, S. 14. 116 Stern, Fn. 96, 154. 117 Helmut Quaritsch, Nachwort zu Carl Schmitt, Fn. 70, S. 219.  118 Wilhelm Grewe, Rückblick auf Nürnberg in Kai Hailbronner/Georg Ress/Torsten Stein (Hrsg.), Staat und Völkerrechtsordnung. Festschrift für Karl Doehring, Springer Verlag, Berlin/Heidelberg, 1989, S. 229, 248 f. 103

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spricht George Bush Senior vom Aufbruch in eine Neue Weltordnung.119 Dem hätte Schmitt zustimmen können – wenn auch mit Besorgnis. Kelsen hingegen hätte in der kollektiven Sanktion des irakischen Friedensbruchs nicht mehr – allerdings auch nicht weniger  – sehen dürfen als die späte Annäherung der  Praxis an den seit 1945 bestehenden normativen Anspruch.120 Kelsen, so  meine ich, hätte diese Annäherung ebenso mit Hoffnung erfüllt wie die Renaissance der Internationalen Strafgerichtsbarkeit. Diese erlebt 1998, mit der Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs, dem ersten ständigen internationalen Strafgericht der Rechtsgeschichte, einen ersten Höhepunkt.121 Inzwischen folgte ein weiterer Entwicklungsschritt, dessen Bedeutung Sie gegen Ende dieses Vortrags werden einzuordnen wissen: Die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs über das Verbrechen des Angriffskriegs  – heute wird es Aggression122 genannt – ist seit dem 17.7.2018 eröffnet:123 Fast ein Jahrhundert nach dem Ersten Weltkrieg, als der entsprechende Diskussionsprozess begann. Weist der Lauf der Völkerrechtsgeschichte zur Frage von Krieg und Frieden als am Ende doch in die Richtung von Kelsens großem kosmopolitischen Projekt? In bestimmter Hinsicht lässt sich dies gewiss sagen: Das System kollektiver Sicherheit hat sich entfaltet. Zwischenzeitlich haben es die Staaten sogar dahin weiterentwickelt, dass es möglich geworden ist, die Perversion der Staatsgewalt zu einem internen Instrument des Terrors zu sanktionieren. Zugleich hat das Völkerrecht der Friedenssicherung mit der Erstreckung der internationalen Strafgewalt auf den Angriffskrieg eine historisch präzedenzlose institutionelle Verdichtung erreicht. Andererseits gilt die Einsicht in die Offenheit der Rechtsgeschichte auch hier – und Schmitts Vermächtnis bleibt nach meiner Überzeugung mehr als nur im Hintergrund lebendig. Das zeigt – erstens – bereits der Durchbruch beim Verbrechen der Aggression. Man darf es gewiss als 119 George Bush senior, State of the Union Adress, 29 January 1991; https://millercenter.​ org/the-presidency/presidential-speeches/january-29-1991-state-union-address. 120 Christopher Greenwood, New World Order or Old? The Invasion of Kuwait and the Rule of Law, The Modern Law Review 55 (1992), 153. 121 Claus Kreß, The International Criminal Court as a Turning Point in the History of International Criminal Justice, in: Antonio Cassese (Hrsg.), The Oxford Companion to International Criminal Justice, Oxford University Press, Oxford 2009, S. 143.  122 Umfassend zu diesem Verbrechen Claus Kreß/Stefan Barriga (Hrsg.), The Crime of Aggression: A Commentary, 2 Bände, Cambridge University Press, Cambridge 2017. 123 Claus Kreß, Die Aktivierung der Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs für das Verbrechen der Aggression, Archiv des Völkerrechts 56 (2018), 269. 104

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eine Ironie der Geschichte bezeichnen, dass die USA, Großbritannien und Frankreich heute zu den großen Skeptikern gehören. Keiner dieser Staaten hat die entsprechenden Vertragsänderungen bislang ratifiziert.124 Nicht selten wird zur Begründung geltend gemacht, das Verbrechen der Aggression sei von anderer Natur als die übrigen völkerrechtlichen Verbrechen. Das Verbrechen der Aggression sei hochpolitisch, wohingegen Völkermord, Menschlichkeitsverbrechen und Kriegsverbrechen Verbrechen größter Grausamkeit seien  – ­atrocity crimes. In anderer Begrifflichkeit, aber in der Sache genau so hatte Schmitt in seinem Nürnberger Gutachten argumentiert. Zweitens ist die zwischenzeitliche Hochphase bei der kollektiven Sicherheit einstweilen vorüber. Die syrische Tragödie ist insoweit Fanal. Drittens gibt es wieder verstärkt Krisenanzeichen im Hinblick auf die Beachtung des Gewaltverbots, 125 die jedenfalls teilweise mit kaum verhohlenen aggressiven Großraumdenken einhergehen. Donald Trumps Anerkennung der völkerrechtswidrigen israelischen Annexion der Golan-Höhen hat das völkerrechtliche Gebot verletzt, Gebietserwerbungen, die sich dem Einsatz von Gewalt verdanken, die Anerkennung zu versagen. Dieses Gebot geht auf die nach dem damaligen amerikanischen Außenminister Stimson benannte Linie zurück, die die USA zu Beginn der 1930er Jahre nach der japanischen Invasion in der Mandschurei einschlugen. Russland begründete seine Annexion der Krim nicht zuletzt mit seinem über die Krim noch weit hinausreichenden Schutzanspruch zugunsten ethnischer Russen. Die Türkei erweckt mit ihrem Vorgehen in kurdisch dominierten Teilen Syriens seit einiger Zeit den Eindruck, die Vorstellung von einem territorialen Vorhof in Syrien sei für sie bedeutsamer als das völkerrechtliche Gewaltverbot. Der Fall China liegt deutlich komplizierter. Immerhin lassen auch hier ausgreifende Gebietsansprüche im südchinesischen Meer und die brüske Zurückweisung eines internationalen Schiedsspruchs, der Chinas Völkerrechtsposition widerspricht, aufhorchen. Schließlich, aber nicht zuletzt, bleibt Schmitts Vermächtnis auch auf der begrifflichen Ebene hochaktuell. Der Begriff der internationalen Gemeinschaft hat sich einige Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Begriff des Völkerrechts verdichtet.126 Im heute geltenden Völkerrecht ist dieser Begriff wohl der zentrale Bezugspunkt für Kelsens 124 Für eine Reflexion im Licht des Vermächtnisses der Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg, s. Claus Kreß, The Peace Making Process after the Great War and the Origins of International Criminal Law Stricto Sensu, German Yearbook of International Law 62 (2019) (im Druck). 125 Claus Kreß, Zur Lage des völkerrechtlichen Gewaltverbots, Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik 12 (2019), 453. 126 Andreas Paulus, Die internationale Gemeinschaft im Völkerrecht. Eine Untersuchung zur Entwicklung des Völkerrechts im Zeitalter der Globalisierung, Verlag C. H. Beck, München 2001. 105

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kosmopolitisches Projekt. Doch zunehmend regen sich in Afrika, Asien und Südamerika Stimmen, denen zufolge dieser Begriff auch Deckmantel für eine neo-koloniale Hegemonie des liberalen Westens sei. Bis zu einem gewissen Punkt äußert sich bei diesen Stimmen genau die Art von Ideologie, die „dem Westen“ vorgehalten wird: Das vermeintlich rechtliche Argument verkleidet ein dahinter stehendes handfestes politisches Interesse. Teils aber scheint mir die Kritik begründet, dass der Begriff der internationalen Gemeinschaft für moralische Postulate in Anspruch genommen wird, zu denen es bislang an einem belastbaren internationalen Konsens fehlt. Nichts anderes ist bei dem systematisch vergleichbaren Völkerrechtsbegriff des Menschenrechts zu beobachten. Der Satz Schmitts „Wer Menschheit sagt, will betrügen“ ist – gelinde gesagt  – überspitzt. Doch entfernt man seinen polemischen Überschuss, so kommt ein sachlicher Kern zum Vorschein. Dieser kann durchaus ein produktiver Stachel im Fleisch einer Völkerrechtsordnung sein kann, die den Gedanken von der internationalen Gemeinschaft aufgenommen hat.127 Auch Kelsen könnte das anerkennen, so meine ich. Fragt man nach der Remedur, so bietet Kelsens viel geschmähter Formalismus die größte Hoffnung. ­Gemeint ist nicht die Hoffnung auf die eine richtige Antwort im Zug einer formal-juristischen Suche nach dem völkerrechtlichen status quo. Gemeint ist  vielmehr im Anschluss an den finnischen Völkerrechtshistoriker Martti Koskenniemi die Hoffnung, dass eine Kultur des Formalismus die von Schmitt so genannten universellen Begriffe am verlässlichsten gegen eine von politischen Interessen angetriebene hegemoniale Inanspruchnahme abschirmen könnte.128 Eine solche Kultur des Formalismus könnte dem universellen Völkerrechtsprojekt die Fähigkeit bewahren, einen Beitrag zum Erhalt des Friedens zu leisten – wie bescheiden auch immer dieser Beitrag sein mag. Vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben.

127 Zu den Gegenwartsfragen des ius puniendi der internationalen Gemeinschaft s. Claus Kreß, Preliminary Observations on the ICC Appeals Chamber’s Judgment of 6 May 2019 in the Jordan Referral re Al-Bashir Appeal, Occasional Paper Series No. 8, Torkel Opsahl Academic Epublisher, Brüssel 2019.  128 Koskenniemi, Fn. 20, S. 494 ff. 106

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Kontinuität und Wandel Das Oberlandesgericht Köln als Teil eines europäischen ­Gerichtsverbunds* Inhaltsübersicht

I. Clickbaiting und Kleingedrucktes – das moderne Selbstbild des OLG Köln II. 1819/2019 – Zweihundert Jahre ­europäischer Geschichte III. Gesellschaft und Zeitgeist

IV. Freiheit, Gleichheit und Europa V. Richter als Grenzgänger VI. Europäischer Gerichtsverbund VII. Fachgerichte als Pioniere bei der Lösung neuer Rechtsfragen VIII. Pas de deux

I. Clickbaiting und Kleingedrucktes – das moderne Selbstbild des OLG Köln Wissen Sie, was Clickbaiting ist? Was man in einem Knastladen kaufen kann? Wie man mit trickreichem Kleingedruckten beim Handyvertrag umgehen soll? Nun, die Antworten auf diese Fragen sind Teil der rheinischen Rechtsgeschichte der Gegenwart. Sie sind eine Momentaufnahme der Themen, die die Justiz im Jahr 2019 beschäftigen und mit denen sich das Oberlandesgericht Köln auf seiner Homepage im Juni 2019 vorstellt. Vor 200 Jahren ist dies sicherlich anders gewesen. Am Rheinischen Appellationsgerichtshof zu Cöln, von Friedrich Wilhelm III, König von Preußen durch Kabinettorder vom 21.6.1819 gegründet, gab es keine Homepage, kein Clickbaiting und keine Handyverträge, wohl noch nicht einmal etwas Kleingedrucktes. Und doch wurde Recht gesprochen, galt es, gesellschaftliche Konflikte zu lösen, damals wie jetzt. Zwischen 1819 und 2019 liegen – mindestens – drei Revolutionen, drei große und viele kleine Kriege, ein zweites und ein drittes Reich wurden gegründet und sind wieder untergegangen, Verfassungen wurden geschrieben und zur * Der Text beruht auf einem am 28.6.2019 gehaltenen Festvortrag bei der 200-Jahrfeier des Oberlandesgerichts Köln. 107

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Makulatur erklärt. Zwischen 1819 und 2019 liegen 200 Jahre europäischer Geschichte. Am Appellationsgerichtshof aber wurde geurteilt und verurteilt, gab es Gewinner und Verlierer, diejenigen, die beschwingt die Stufen zur Straße hinunterliefen und diejenigen, die gesenkten Kopfes aus dem Gebäude schlichen. Das Gericht änderte seinen Namen – aus dem „Appellationsgerichtshof “ wurde mit dem Inkrafttreten der neuen Reichsjustizgesetze im Jahr 1879 ein „Oberlandesgericht“; es zog um in das zwischen 1907 und 1911 neu gebaute palastartige Gebäude am Reichenspergerplatz. Es änderten sich auch die Paragraphen, die angewandt wurden, nicht zuletzt mit dem BGB, das 1900 in Kraft trat. Seit dem 1.1.2017 ist eine Frau Präsidentin; auch das wäre 1819 nicht vorstellbar gewesen. „Clickbaiting“, „Homepage“ – das klingt nicht so recht nach deutschen Rechtsbegriffen. Am Appellationsgerichtshof von anno dazumal mag man von „responsabilité délictuelle“ oder „responsabilité contractuelle“ gesprochen haben, kam doch das französische Recht zur Anwendung. Gäbe es einen Komparativ zu „europäisch“, könnte man darüber streiten, ob das Gericht zur Zeit seiner Gründung oder in der Gegenwart „europäischer“ war bzw. ist. Jedenfalls wird in Köln nicht nur deutsche, sondern auch europäische Rechtsgeschichte geschrieben. Das Oberlandesgericht Köln steht für Kontinuität und Wandel. Ist es noch dasselbe wie der einstige Appellationsgerichtshof? Ist es ein Aliud? Zeit, Zeitgeist, Europa, Richter, Recht, alles hat sich gewandelt. Und doch hat das OLG seine Markenzeichen, seine Offenheit und „Europäischheit“, gewahrt.

II. 1819/2019 – Zweihundert Jahre europäischer Geschichte „Während auf dem Wiener Kongress die Herrscherhäuser ohne Beteiligung des Volkes über die Abtretung von Gebieten und ‚Seelen‘ verhandelten und Europa so neu ordneten, leben wir heute nach den Gräueln zweier Weltkriege in einem demokratisch regierten und politisch geeinten Europa.“ So schreibt Margarete Gräfin von Schwerin im Grußwort zu der zu Ehren des 200-jährigen Bestehens des Gerichts von ihr und Hans-Peter Haferkamp herausgegebenen Festschrift.1 In der Tat, als das Gericht gegründet wurde, war es eine ande1 Haferkamp, Hans-Peter/Schwerin, Margarete Gräfin von (Hrsg.): Das Oberlandesgericht Köln zwischen Preußen, Frankreich und dem Rheinland. Festschrift zum 200-jährigen Bestehen (1819 bis 2019), Köln 2019. 108

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re Zeit, eine Zeit, in der Napoleon und Goethe noch lebten und Mozart und Kant gerade gestorben waren. 1819 lag die Französische Revolution, die eine tiefe Zäsur in die europäische Geschichte gegraben hatte, gerade erst eine Generation zurück; im Rückblick der Zeitzeugen mag sich die Begeisterung für die neuen Ideale mit der Angst vor Abgründen von Gewalt und Anarchie gemischt haben. Stichworte sind einerseits der Aufbruch aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, andererseits Guillotine und Königsmord. Die nachfolgenden napoleonischen Kriege haben Europa noch lange Zeit in Bann gehalten, 1812 mit dem Russlandfeldzug, 1813 mit der Völkerschlacht von Leipzig, 1814 mit der Verbannung Napoleons nach Elba und schließlich das Jahr 1815 mit den sich überschlagenden Ereignissen: Napoleons Rückkehr aus Elba und seiner Herrschaft der Hundert Tage, der Schlacht von Waterloo und Napoleons zweiter Verbannung nach Sankt Helena, dem Wiener Kongress und der Gründung des Deutschen Bundes. 1819 konnte man die großen Wirren, so mögen wir annehmen, bereits mit einer gewissen Distanz betrachten und beginnen, sie zu sortieren und einzuordnen. Das Neue, das die Französische Revolution gebracht hatte, blieb wohl eine Herausforderung, blieb präsent, aber erst einmal hatte man doch mit der Restauration ein Stück der „Alten Welt“ zurückgeholt. Aber auch die Alte Welt war eine europäische Welt. Nicht nur Heere, auch Ideen machten an den Grenzen nicht halt. Dies galt in besonderer Weise für Rechtsideen, seien sie auf Schlagworte verkürzt wie „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ oder in hunderten von Paragraphen als Werkzeug für den Alltag aufbereitet wie das neue bürgerliche Recht im Code Civil. Was aus Frankreich kam, hatte Erfolg. Der Code Civil war zu einem echten Exportschlager, die französische Menschenrechtserklärung zu einem Referenztext für geschriebene und ungeschriebene Verfassungen geworden. Diesen Ideen standen im Deutschen Bund die Karlsbader Beschlüsse entgegen, die just in dem Jahr gefasst wurden, in dem auch der Appellationsgerichtshof in Köln gegründet wurde – vier Gesetze, die insbesondere die Pressefreiheit einschränkten und die Zensur einführten, die Überwachung der Universitäten und Entlassungen oder Berufsverbote für liberal und national gesinnte Professoren anordneten; sie waren eine Antwort auf die Ermordung von August von Kotzebue durch einen jungen Burschenschafter, spiegelten aber vor allem die Angst vor einer neuen Revolution, vor zu viel „französischen Ideen“. Das Jahr 1819 war nicht mehr die Zeit der Perücken, aber noch immer die Zeit der Postkutschen. Von Köln nach Berlin waren es zehn Tagesreisen. Das Industriezeitalter hatte noch nicht begonnen, auch wenn sich die Zeichen kom109

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mender Veränderungen mehrten. So war die Dampfmaschine bereits 1765 von James Watt erfunden und 1776 erstmals industriell eingesetzt worden. 1804 entwickelte Richard Trevithick die erste funktionsfähige Lokomotive; 1830, ein knappes Jahrzehnt nach dem Jahr, das uns interessiert, begann auf der Strecke Liverpool–Manchester der regelmäßige Personenverkehr. Das Rheinland lag im Zentrum; emotionaler gesagt, im Herzen Europas, zwischen Frankreich und Deutschland, „zu keinem ganz gehörend“. Einzigartig war, wie sich dort die Alte und die Neue Welt ineinanderschoben, wie das Französische, das für Aufbruch stand, neben das Preußische, Inbegriff des Bewahrenden und Althergebrachten, trat. 1814 waren mit dem Ersten Pariser Frieden die rheinischen Gebiete unter preußische Verwaltung gekommen; erst 1815 mit dem Zweiten Pariser Frieden nach dem Sieg der Verbündeten über den zurückgekehrten Napoleon wurde das Gebiet endgültig preußisch. Und heute? Die Grenzen in Europa sind völlig neu gezogen. Schlagbäume gehören, zumindest in der Theorie, in diesem Teil Mitteleuropas der Vergangenheit an. Monarchien sind nur mehr etwas für Hochglanzillustrierte; Nachrichten zu gekrönten Häuptern finden sich in Tageszeitungen allenfalls unter der Rubrik „Vermischtes“. Revolutionen können sie nicht mehr auslösen. Bei Wahlen erinnert man sich weniger daran, dass sie eine demokratische Errungenschaft sind, als dass man darum bangt, wie sie durch das Internet verfälscht werden könnten. Manches, was 1819 neu und faszinierend war, ist schon wieder museal und fast vergessen, anderes hat damals seinen Ausgang genommen und beschäftigt uns noch immer oder immer mehr.

III. Gesellschaft und Zeitgeist Aber nicht nur das historische Umfeld in Europa hat sich geändert. Auch die europäischen Gesellschaften „ticken“ anders. Die Grundkoordinaten des Lebens sind nicht mehr dieselben. Zwar wird man noch geboren und stirbt auch noch, aber ob man eine Mutter hat oder zwei oder drei – eine biologische, eine genetische und eine soziale – das ist schon nicht mehr so sicher. Haben Georg Büchner und Franz Schubert ihre Lebenswerke mit weniger als 30 Jahren vollendet und galt man mit 45 Jahren als „alt“, so hat man nunmehr eine durchschnittliche Lebenserwartung, die gegen die magische Zahl 90 geht. Auch darüber, wann man tot ist und ob es verschiedene mehr oder weniger endgültige Formen des Tot-Seins gibt, wird in der Gegenwart gestritten. Ehe und Familie gibt es noch, allerdings verbergen sich dahinter neue Realitäten; schaltete man im 19. Jahrhundert Nebenbuhler im Duell aus, lebt man mit ihnen heute in Patchworkfamilien zusammen. Wörter wie „Gesinde“ oder „Untertan“ greifen 110

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ins Leere: Menschen- und Gesellschaftsbild haben sich grundlegend geändert. Wer hätte sich Anfang des 19. Jahrhunderts eine LGBT-Community vorstellen können? Oder für möglich gehalten, dass nicht über das Recht, wohl aber über die Größe der Tätowierungen von Polizisten gestritten wird? Es ist eine andere Zeit und ein anderer Zeitgeist, damals und heute. Stand man damals noch vor der industriellen Revolution, in der man mit mehr als 30 km pro Stunde fahrende Züge als gesundheitsgefährdend ansah, blicken wir, mittlerweile an Atomenergie, Feinstaub und Klimawandel gewöhnt, fast schon mit Nostalgie auf diese frühen Anfänge zurück. In einer digitalen Welt bewegen uns neue Umbrüche. Das Leben ist einerseits Verfügungsmasse, andererseits gefährdetes Gut geworden. Und wir wissen, dass wir Antworten auf die Fragen unserer Zeit weniger denn je in von klaren Grenzen eingefassten Nationalstaaten finden können. Wir lieben es, unsere Gegenwart mit „post“-Attributen zu versehen, sprechen von „postindustrieller Dienstleistungsgesellschaft“ ebenso wie von „Postmoderne“; sogar von „Postdemokratie“ und „Postzivilisation“ ist schon die Rede. Alles scheint aus der Verankerung geraten zu sein.

IV. Freiheit, Gleichheit und Europa Aber vielleicht ist all das Neue doch nicht so neu. Vielleicht vermag gerade der Blick zurück auf das 19. Jahrhundert die Vorstellung zu relativieren, wir seien mit noch nie Dagewesenem konfrontiert. Das Rheinland war damals im Zentrum Europas, und es ist es noch heute. Damals wurde nicht in Köln, aber für Köln eine Entscheidung getroffen, die die Weichen in Richtung Moderne stellte. Und diese Entscheidung hat viel mit dem zu tun, was wir heute feiern. In der Festschrift2 zu 175 Jahren Oberlandesgericht Köln finden sich die Porträts zweier Männer im vorgerückten Alter. Sie sind dort nicht zufällig abgebildet und verdienen es, auch zur 200-Jahrfeier nochmals Erwähnung zu finden: Karl August Fürst von Hardenberg und Friedrich Leopold von Kircheisen. Die beiden waren Protagonisten in einem Streit, in dem es vordergründig um den Zeitpunkt einer Rechtsreform, in Wirklichkeit aber um die Grundprinzipien des Rechts und damit um unterschiedliche Visionen einer gerechten Ge­ 2 Laum, Dieter/Klein, Adolf/Strauch, Dieter (Hrsg.): Rheinische Justiz. Geschichte und Gegenwart. 175 Jahre Oberlandesgericht Köln, Köln 1994. 111

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sellschaft ging: Karl August Fürst von Hardenberg war preußischer Staatskanzler, Friedrich Leopold von Kircheisen preußischer Justizminister, ersterer Verfechter der Idee, den Code Civil im Rheinland beizubehalten, letzterer ­Fürsprecher einer Übernahme des Allgemeinen Preußischen Landrechts im Rheinland. Die Auseinandersetzung lässt sich als ein Spiel mit Intrigen oder aber als ein Ringen um die beste sachgerechte Lösung erzählen. Es ging um viel, nämlich um: – die Rechtsgleichheit aller Bürger vor Richter und Gesetz, – die richterliche Unabhängigkeit, – die Mündlichkeit und Öffentlichkeit der Verhandlungen, – die Trennung von Gericht und Anklagebehörde, – die Laienbeteiligung an der Strafrechtspflege (und schließlich auch um) – den gesetzlichen Schutz von Ehre, Leben und Eigentum. Dies waren die Grundprinzipien des französischen Code Civil sowie des französischen Prozessrechts. Beide waren nach der Eroberung durch die napoleonischen Truppen – gewissermaßen als Besatzungsrecht – für einige Jahre in den linksrheinischen Gebieten angewandt worden. In dem Streit, ob man das Besatzungsrecht beibehalten sollte oder nicht, ging es um Heterogenität versus Einheitlichkeit, um Modernität versus Tradition, um Annahme des Fremden versus Bevorzugung des Eigenen. Hardenberg setzte sich durch: Das französische Recht wurde beibehalten. Hardenberg ging fintenreich vor, um den dem Französischen abgeneigten preußischen König zu überzeugen. Seine Entscheidung war aber gewissermaßen basisdemokratisch abgesichert, da er nicht nur eine Expertenkommission eingesetzt hatte, um zu prüfen, welches Recht vorzugswürdig sei, sondern auch „alle sachkundigen, dem Vaterland und der guten Sache ergebenen Männer“ um Stellungnahmen gebeten hatte. Vertreter der verschiedensten Berufe, Kaufleute, Bauern, Ärzte, Geistliche, hatten erklärt, dass die rheinischen Rechtszustände, insbesondere mit Blick auf Gerichtsverfassung und Prozesswesen, gut und erhaltenswert seien. Auch die Städte Trier, Köln, Koblenz und Düsseldorf schrieben entsprechende Petitionen. Man begrüßte das Neue: Entfeudalisierung, Gewaltenteilung, Gewerbefreiheit. Am preußischen Recht dagegen kritisierte man Rechtsinstitute wie die Patrimonialgerichtsbarkeit und den sogenannten „eximierten Gerichtsstand“ – überlieferte Institute, mit de112

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nen die Ungleichheiten der Standesgesellschaft, aber auch strafrechtliche Überbleibsel eines vergangenen Denkens wie die körperliche Züchtigung zur Herbeiführung von Geständnissen und die so genannte „außerordentliche Strafe“, eine bloße Verdachtsstrafe, festgezurrt wurden. Nun entspricht all dies, was die weitsichtigen Bürger im Rheinland zu Beginn des 19. Jahrhunderts lobten, dem, was wir heute als Grund- und Menschenrechte bezeichnen und was unseren gemeinsamen europäischen Fundus ausmacht. Über das Rheinland konnten die neuen Rechtsideen in Preußen eindringen und erprobt werden; sie konnten sich bewähren und schließlich in das deutsche Prozessrecht und in das deutsche bürgerliche Recht Aufnahme finden. Dass es so kam, war alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Üblicherweise oktroyieren die Sieger den Besiegten ihr Recht auf; das kennen wir aus der Geschichte. Aber dass die Sieger das Recht derer übernehmen, die sie vertrieben haben und damit sogar eine Rechtszersplitterung im neu vereinten Land in Kauf nehmen, ist mehr als ungewöhnlich. Und fast schon an ein Wunder grenzt es, wenn sich diese eigentlich fremden, von außen importierten Ideen gegenüber dem Althergebrachten durchsetzen. Dass es so kam, war ein Glücksfall.

V. Richter als Grenzgänger Mit den französischen Ideen blieben die französische Sprache und die französische Bildung im preußisch gewordenen Rheinland. Die Karrieren der bedeutendsten Juristen der Zeit legen davon ein beredtes Zeugnis ab. So war etwa Christoph Wilhelm Heinrich Sethe ursprünglich im preußischen Kleve tätig, wurde dann unter napoleonischer Besatzung Generalprokuror am einstigen Appellationsgerichtshof Düsseldorf und Staatsrat im Großherzogtum Berg. Als „avocat du Rhin“ vertrat er deutsche Interessen gegenüber Napoleon. Später verteidigte er als Mitglied der Rheinischen Immediat-Justiz-Kommission den Code Civil. Schließlich wurde er zum Chefpräsidenten des Rheinischen Revisions- und Kassationshof in Berlin berufen. Sethe lebte in verschiedenen Welten, war eine Art Grenzgänger. Heute hätte er sich wahrscheinlich in einem Concours beworben und wäre europäischer Beamter geworden. Ähnlich Heinrich Gottfried Wilhelm Daniels  – 1775 wurde er zum Doktor beider Rechte promoviert, als Advokat in Bonn zugelassen und machte zunächst in Bonn und Köln Karriere. Nach dem Einmarsch der Franzosen wurde er zum Mitglied des Obertribunals des Département de Rhin-et-Moselle er113

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nannt, verlor dann aber seiner Ämter und nutzte die Zeit, um den Code Civil zu übersetzen. Von 1804 bis 1805 war er Generalprokuror am Kassationshof in Paris; 1813 wurde er als Generalprokuror nach Brüssel versetzt. 1817 trat er in preußische Dienste, war kurzzeitig in Berlin und wurde 1819 zum ersten Präsidenten des Appellationsgerichtshofs in Köln ernannt; war so ein Vorvorvorgänger von Margarete Gräfin von Schwerin. Paris – Brüssel – Berlin – Köln – Passt da nicht mein eingangs erwähnter, nicht existierender Komparativ? Die Karriere von Daniels ist „europäischer“ als das, was heute möglich wäre. Gegenwärtig haben wir, soweit ich weiß, zwar viele europäische Austauschprogramme, bei denen Richter an Gerichten verschiedener europäischer Staaten hospitieren  – so habe ich eine Richterin des Bundesverwaltungsgerichts bei einer Sitzung am Conseil d’État getroffen – aber mir wäre nicht bekannt, dass man einzelne Stadien der Richterkarriere in verschiedenen Staaten nahtlos aneinanderfügen könnte, dass es staatenübergreifende Richterkarrieren gäbe. Vielleicht weist hier die Vergangenheit den Weg in die Zukunft. Allerdings ist dies – zugegebenermaßen – eine etwas geglättete Darstellung. Immerhin waren die Staaten, zwischen denen Sethe und Daniels hin- und herwechselten, viele Jahre miteinander im Krieg, so dass die verschiedenen Berufsstationen vor allem bedeuteten, dass vielseitig geschulte Juristen unter fremder Besatzung weiterarbeiten konnten. Das Europa der Gegenwart dagegen ist als Friedensprojekt konzipiert. Es ist nicht nur bilateral, deutsch-französisch, sondern umfasst (noch) 28 europäische Staaten mit sehr verschiedenen Kulturen, insbesondere auch mit sehr verschiedenen Rechtskulturen. Die einzelnen Gerichte wie das Oberlandesgericht Köln fügen sich in einen umfassenden europäischen Gerichtsverbund ein. Sie sind das Gerüst, das innere Tragegestell der europäischen Konstruk­ tion, die mit Recht auf Recht baut und Richterinnen und Richter braucht, die europäisch denken.

VI. Europäischer Gerichtsverbund Einbindung ins Mehrebenensystem Geläufiger als der Begriff „Europäischer Gerichtsverbund“ ist der von Andreas Vosskuhle geprägte Begriff des „Europäischen Verfassungsgerichtsverbunds“, in den er neben den nationalen Verfassungsgerichten auch den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg einbezieht. Über diese berühmten Dreiecksverhältnisse wird viel diskutiert, insbesondere danach gefragt, wer was wie besser entschei114

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den kann und wie man das komplizierte Gefüge so ins Lot bringt, dass die Untergerichte nicht über „zu viel Europa“ und vor allem nicht über zu viele europäische höchstrichterliche in sich widersprüchliche Judikate klagen. Aber die in der letzten Zeit mit Verve geführten Diskussionen über Rechtsstaatlichkeit zeigen, dass nicht nur diejenigen Gerichte, die „Europa“ im Namen führen, europäisch sind. Vielmehr sind alle Gerichte in das europäische Mehrebenensystem eingebunden und mit feinen, bei oberflächlichem Blick vielleicht gar nicht erkennbaren Fäden aneinandergefügt. Gerichte wie das Oberlandesgericht Köln wenden deutsches Recht an ebenso wie sie europäisches Recht anwenden. Wie unsere bordeauxroten Reisepässe sind auch unsere Gerichte deutsch und europäisch zugleich – beides gehört zusammen. Mehr noch: Werden bei Einzelentscheidungen Grund- und Menschenrechte berührt, sind nicht nur die Artikel des Grundgesetzes einschlägig, sondern auch die Europäische Menschenrechtekonvention, die nicht Teil des supranationalen Rechts, sondern des Völkerrechts ist. Judizieren in Europa bedeutet daher, eine besondere Verantwortung zu tragen. Sollte es auch nur einen schwarzen Peter unter den Gerichten geben, so wirft er doch bereits ein negatives Licht auf die Rechtsprechungskultur in Europa im Allgemeinen. Ein Musterknabe kann dagegen allen anderen zeigen, was Eintreten für den Rechtsstaat im Einzelfall bedeuten kann. Es ist ein Grundpfeiler des Unionsrechts, dass die innerhalb der Europäischen Union entscheidenden Gerichte verpflichtet sind, das Recht der EU, soweit es für eine konkrete Entscheidung relevant ist, anzuwenden; in Zweifelsfällen können bzw. müssen sie Auslegungsfragen dem EuGH vorlegen; ein Beispiel aus jüngster Zeit ist etwa die Vorlagefrage des OLG Köln nach der obligatorischen oder fakultativen Verwendung des Formblatts für den Antrag auf Erteilung eines Europäischen Nachlasszeugnisses. Das mögen oft recht technische Fragen sein. Das Mitspielen aller ist aber conditio sine qua non für das Funktionieren eines einheitlichen Rechtssystems. Prüfung von Qualitätsstandards Ist das Vorabentscheidungsersuchen lang geübte Tradition, so hat der EuGH doch mit Urteilen aus der letzten Zeit den Zusammenhalt im Gerichtsverbund und die europäische Identität der Gerichte noch weiter gestärkt. In den Worten des Präsidenten des EuGH Koen Lennarts bei einem kürzlich in Luxemburg gehaltenen Vortrag ist die neuere Rechtsprechung des EuGH, insbeson-

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dere in den Urteilen Associacio Sindical do Juizes Portugueses3 und LM,4 in ihrer Wirkung mit dem legendären Urteil van Gend en Loos5 vergleichbar. Der EuGH argumentiert nunmehr, dass aus der Tatsache, dass es nicht nur dem EuGH, sondern allen mitgliedsstaatlichen Gerichten obliege, in der Rechtsordnung der Union gerichtliche Kontrolle zu gewährleisten, zu folgern sei, dass alle Gerichte, um überhaupt als Gerichte anerkannt zu werden, gewisse Mindestanforderungen zu erfüllen hätten. Diese gälte insbesondere mit Blick auf ihre Unabhängigkeit. Dazu führt der Gerichtshof aus: „Der Begriff der Unabhängigkeit setzt u.a. voraus, dass die betreffende Einrichtung ihre richterlichen Funktionen in völliger Autonomie ausübt, ohne mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet zu sein und ohne von irgendeiner Stelle Anordnungen oder Anweisungen zu erhalten, und dass sie auf diese Weise vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder gefährden und deren Entscheidungen beeinflussen können. … Neben der Nichtabsetzbarkeit der Mitglieder der betreffenden Einrichtung (…) stellt auch eine der Bedeutung der ausgeübten Funktionen entsprechende Vergütung eine wesentliche Garantie der richterlichen Unabhängigkeit dar.“6

Diese Worte sind nicht im luftleeren Raum gesprochen, sondern beziehen sich, wie jeder aus dem Kontext versteht, auf problematische Rechtsreformen insbesondere in Ungarn und Polen; über Letztere wurde gerade in dieser Woche ein deutliches Urteil in Luxemburg gefällt. In der Folge dieser Rechtsprechung können, wie in der Entscheidung LM ausgeführt, Fachgerichte bei Anwendung des EU-Rechts, insbesondere bei europäischen Haftbefehlen, prüfen, ob das „Gegenüber“, das Gericht, das den entsprechenden Haftbefehl ausgestellt hat, im Sinne dieser Standards auch wirklich ein „Gericht“ ist. Das ist, wie wenn man in einem Sportclub ein bestimmtes Leistungsniveau vereinbart und dann die Mitglieder untereinander aufgefordert sind, dies auch gegenseitig zu überprüfen, um zu entscheiden, wer im Team bleiben darf. Europa beruht auf Vertrauen. Dieses Vertrauen muss robust sein – bei Zweifeln sind Nachfragen möglich und nötig. Unzweifelhaft gibt es im Augenblick Zweifel an der Europatauglichkeit so manchen europäischen Gerichts. Europa muss sich seiner selbst vergewissern. Die neue Rechtsprechung des EuGH 3 EuGH v. 27.2.2018  – C-64/16  – Associação Sindical dos Juízes Portugueses/Tribunal de Contas. 4 EuGH v. 25.7.2018 – C-216/18 – LM. 5 EuGH v. 5.2.1963 – 26/62 – van Gend en Loos. 6 EuGH (Fn. 3), Rn. 44 f. 116

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bringt dies zum Ausdruck; bildlich gesprochen sind ihr die Sorgenfalten anzusehen. Es kann nicht mehr als selbstverständlich gelten, was einmal selbstverständlich war. Positive Konsequenz einer negativen Entwicklung aber mag sein, dass die europäische Identität der Fachgerichte, letztlich das „Wir-Gefühl“ in dem Sinne gestärkt wird, als dass sich die in Europa tätigen Richter zusammengehörig und gemeinsamen Zielen verpflichtet fühlen, dass es für sie ein Qualitätssiegel ist, in den europäischen Verbund eingebunden zu sein. Vermeint man im Hintergrund all dieser aufgeregten Diskussionen nicht den wissenden Blick des Fürsten Hardenberg zu sehen, auf jenem Porträt, das auch im OLG Köln hängt? Auch für ihn ging es damals um die Frage der Unabhängigkeit der Gerichte von der Exekutive. Aufgrund seiner Reformen ist das Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit Teil unserer Tradition geworden, für die wir nun gemeinsam eintreten dürfen. Entscheidungen in Menschenrechtsfragen Wenn man „Europa“ sagt, gilt es nicht nur nach Luxemburg zu blicken, sondern auch nach Straßburg. Denn dort wacht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Rahmen des Europarats über die Einhaltung europäischer Mindeststandards, auf die sich nicht nur die EU-Staaten, sondern auch die Staaten des östlichen und südöstlichen Europa, insbesondere auch Russland und die Türkei, verpflichtet haben; der Europarat ist ja gerade in dieser Woche mit der Entscheidung, die Sanktionen gegen Russland aufzuheben, in die Schlagzeilen gekommen. Auch im Zusammenspiel mit dem EGMR kommt dem OLG Köln eine wichtige Rolle zu. Fälle, die Rechtsgeschichte geschrieben haben, sind über die Schreibtische von Kölner Richtern gelaufen, ihre Argumente sind Teil der europäischen juristischen Diskussion geworden. Dies gilt in erster Linie für den berühmten Fall Prinz Adam von Liechtenstein versus Deutschland,7 den die Große Kammer des EGMR im Jahr 2001 entschieden hat. Es ist ein Fall, der von den Irrungen und Wirrungen der Nachkriegszeit erzählt, auch wenn der Sachverhalt sich erst in den 90er Jahren zugetragen hat. Casus belli ist das Bild „Szene um einen römischen Kalkofen“ von Pieter van der Laer, ein Gemälde aus dem Jahr 1640. Es gehörte dem Vater 7 EGMR (GK) v. 12.7.2001 – Nr. 42527/98 – Prince Hans-Adam II of Lichtenstein v Germany. 117

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des Fürsten von Liechtenstein, befand sich aber nach dem Krieg auf dem Gebiet der ehemaligen Tschechoslowakei. Auf der Grundlage der berühmten Beneš-Dekrete wurde es konfisziert, obwohl danach eigentlich nur Enteignungen deutscher und ungarischer Staatsbürger möglich gewesen wären. Zwischen einem liechtensteinischen Fürsten und den deutschen Besatzern war man aber nicht bereit gewesen zu unterscheiden. Viele Jahrzehnte wurde um die Herausgabe des Bildes gestritten, als es der Stadt Köln für eine Ausstellung geliehen wurde. Die deutschen Gerichte, und so auch das OLG, erklärten sich auf der Grundlage der „Convention on the Settlement of Matters Arising out of the War and the Occupation“ aus dem Jahr 1952, die eine Klausel zur „Endgültigkeit und Unanfechtbarkeit“ der damaligen Entscheidungen enthielt, für unzuständig, über derartige Herausgabeforderungen zu entscheiden. Vor dem EGMR ging es um die Frage des Zugangs zum Gericht, um das faire Verfahren und den Eigentumsschutz. Im Ergebnis akzeptierte der EGMR die detaillierte Argumentation des Kölner OLG, die von BGH und Bundesverfassungsgericht bestätigt worden war. Es wurde keine Konventionsverletzung festgestellt. Weitere wichtige Fälle, in denen das OLG Köln als Vorinstanz involviert war, waren etwa der Fall Zaunegger versus Deutschland aus dem Jahr 2009,8 bei dem über das gemeinsame Sorgerecht der Eltern bei explizitem Widerspruch der Mutter gestritten wurde, oder der Fall Wolter and Sarfert versus Deutschland9, bei dem es um die aus Stichtagsregelungen resultierende Benachteiligung unehelicher Kinder im Erbrecht ging. Auch im Übrigen tragen nicht selten dieselben berühmten Antragsteller erst am Kölner OLG und dann am Straßburger Gerichtshof vor – gerade wenn es um einen Ausgleich zwischen dem Recht auf Privatleben und der Pressefreiheit geht. Gerade in dieser Woche wieder wurde über einen Karl-Theodor zu Guttenberg betreffenden Fall10 entschieden.

8 OLG Köln v. 2.10.2003 – 25 UF 115/03; EGMR v. 3.12.2009, Nr. 22028/04 – Zaunegger v Germany. 9 OLG Köln v. 11.10.2010 – 2 Wx 39/10; EGMR v. 14.12.2017 – Nr. 59752/13 und 66277/13 – Wolter and Sarfert v Germany. 10 OLG Köln v. 2.7.2015 – 15 U 21/15; EGMR v. 25.6.2019 – Nr. 14047/16 – Karl-Theodor zu Guttenberg v Deutschland. 118

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VII. Fachgerichte als Pioniere bei der Lösung neuer Rechtsfragen Mitglied im europäischen Gerichtsverbund zu sein bedeutet, mit den jeweiligen Argumenten gehört zu werden, auch wenn man auf europäischer Ebene so manches Problem im Ergebnis anders beurteilen mag. Dass die Argumente der Fachgerichte auch im Übrigen über die Landesgrenzen hinaus gehört werden, gilt insbesondere dann, wenn sie über völlig neue Rechtsprobleme zu entscheiden haben, dann, wenn es gilt, erste Furchen durch ein neues Rechtsgebiet zu ziehen. Hier vermögen gut begründete Entscheidungen europaweit Modellwirkung haben. Ein Beispiel dafür wäre, und damit komme ich auf meine eingangs gestellte Frage zurück, das Clickbaiting, das man mit „Digitale-Aufmerksamkeit-Erhaschen“ übersetzen könnte. Dabei wird eine reißerische Überschrift mit Bildern Prominenter in Verbindung gebracht, so dass sich, wie das OLG so schön sagt, eine „Neugierlücke“11 öffnet: Die Nachricht gebe, wie das OLG ausführt, einerseits genug Informationen aus einem emotionsbehafteten Bereich, um die Leser neugierig zu machen, andererseits sei sie als bloßer „Informationsschnipsel“12 nicht genug, um diese Neugier vollends zu befriedigen. Um die Leser gezielt zum Weiterklicken zu animieren, werde bewusst in Kauf genommen, dass die verlinkte Meldung im Zielartikel keinerlei Bezug zu den abgebildeten Personen habe. Vielmehr werde die Beliebtheit der Abgebildeten gezielt zu dem (einzigen) Zweck, möglichst viel „Traffic“13 auf die eigene Internetseite umleiten zu können und den eigenen Internetauftritt bekannter zu machen, genutzt, und durch die so erzeugten Klicks Werbemehreinnahmen zu erzielen. Um diesem Missbrauch entgegenzuwirken, ist, wie das OLG nun jüngst entschieden hat, Schadensersatz zu gewähren. Es wird sich zeigen, ob dieses Urteil Schule macht.

VIII. Pas de deux Damit komme ich zum Schluss. Es gibt in Köln, nicht weit von hier, ein ganz wunderbares Museum, das Mu­ seum Kolumba, dessen gegenwärtige Ausstellung unter dem Titel „Pas-dedeux“ firmiert. Pas-de-deux ist ein Tanz; im Kontext der Ausstellung verstanden als eine spielerische Verbindung zwischen aus verschiedenen Zeiten stammenden Gegenständen. Gegenübergestellt werden Gegenstände aus der 11 OLG Köln v. 28.5.2019 – 15 U 160/18 – Clickbaiting, Rn. 43. 12 Ebd. 13 Ebd. 119

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Antike, dem Mittelalter und der Moderne, und dies in einer Weise, dass manches Mal verblüffende Ähnlichkeiten, manches Mal aber auch, dass hinter den Kunstgegenständen völlig unterschiedliche Lebensverständnis und Empfinden verschiedener Epochen offenbar werden. Der Appellgerichtshof zu Cöln aus dem Jahr 1819 und das Kölner Oberlandesgericht aus dem Jahr 2019 könnten sich gleichermaßen bei einem Pas-de-deux gegenübertreten. Frappant wären die Unterschiede – 26 ältere Herren mit steifer Kleidung stünden einer recht gemischten Gruppe von 142 Richterinnen und Richtern am Oberlandesgericht gegenüber. Sie würden sich über ihre Fälle unterhalten und die einen über die anderen und die anderen über die einen staunen. Hans-Peter Haferkamp analysiert in seinem Festschriftbeitrag einen Maklervertrag, mit dem ein zum Kriegsdienst Verpflichteter einen Makler beauftragt, jemanden zu suchen, der statt seiner den Dienst an der Waffe anzutreten bereit ist. Wie, so etwas gibt es? – Mit derartigen Fallgestaltungen wären die Kollegen vom OLG sicherlich nicht vertraut. Ob die Kollegen vom Appellationsgerichtshof dagegen für eine Frage nach Schadensersatz beim Click­ baiting Verständnis hätten? Geht es aber um das Pochen auf Unabhängigkeit, die Ausgestaltung eines fairen Verfahrens, den Schutz vor willkürlicher Verhaftung, wären die Richter des „Jetzt“ und die Richter des „Damals“ in einem innigen Pas-de-Deux vereint. Und auch über ihre Vision zu Europa könnten sie sich austauschen. 1819 konnte man sich sicherlich nicht vorstellen, welcher Weg dem Projekt „Europa“ vorgezeichnet wäre, durch welche Höhen und Tiefen, um nicht zu sagen „Abgründe“, es gehen würde im 19. und, mehr noch, im 20. Jahrhundert und wie überraschend gut das Projekt „Europa“ dann, trotz aller Sorgen und Bedenken, zu Beginn des 21. Jahrhunderts dastehen würde. Auch dass die Übernahme eines auf Gleichheit und Transparenz verpflichteten Rechts im Rheinland so weitreichende Auswirkungen haben würde, hätten die Kollegen des Appellationsgerichshofs wohl kaum vorhergesehen. Das OLG Köln ist nicht identisch mit dem Appellationsgerichtshof. Aber trotz all des Wandels hat es bewahrt, was von Anfang an sein Markenzeichen war – seine Offenheit für Neues. Und so verwundert es auch nicht, dass es sich auf seiner Homepage mit Clickbaiting und Knastladen vorstellt. Und uns neugierig macht zu erfahren, was es für ein Gericht bedeutet, nach 200-jähriger Geschichte im 21. Jahrhundert angekommen zu sein.

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Rechtsfragen des Dopings im Sport1 Inhaltsübersicht

1. Einleitung 2. Übersicht 3. Definition 4. Akteure bei der Dopingbekämpfung a) Allgemeines b) Die Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) c) Die Nationale Anti-Doping-­ Agentur (NADA) d) Der CAS/TAS e) Das DIS-Sportschiedsgericht 5. Staatliche Dopingbekämpfung a) Der Startschuss moderner ­Dopingbekämpfung b) Europaratsabkommen gegen ­Doping im Sport

c) UNESCO-Konvention gegen ­Doping im Sport d) Das Verhältnis staatlicher und ­verbandlicher Dopingbekämpfung 6. Nachweis und Dopingsanktion 7. Dopingsanktion 8. Dopingnachweis und „strict liability“ 9. Das Beweismaß der „comfortable ­satisfaction“ 10. Dopingbekämpfung und Grundrechte a) Die Abgabe der Urin-Dopingprobe unter Sichtkontrolle b) Fall Semenya 11. Rechtsschutz gegen Dopingsanktionen 12. Ausblick und Fazit

1. Einleitung Doping ist die Geißel des Sports Seitdem Sport als Wettbewerb zur Ermittlung der besten Athleten und Mannschaften ausgeübt wird, versuchen unlautere Akteure immer wieder ihre Leistung mit unzulässigen Mitteln und Methoden zu verbessern. Im Doping hat sich ein regelrechter eigener – wenn auch sehr unsportlicher – Wettlauf entwickelt: Ganz im Sinne der berühmten Hase- und Igel-Fabel ersinnen findige Forscher neue, bislang nicht nachweisbare Dopingmittel oder undetektierbare Methoden gerade dann, wenn auf der Dopingbekämpfungsseite der Nachweis eines lange bekämpften Mittels oder das Aufspüren der bislang verborgenen 1 Vortrag von Verf. im Rahmen der Jubiläumsreihe „Universität in Kölner Häusern“ am 7.6.2019 im deutschen Sport- und Olympiamuseum in Köln. Für die Veröffentlichung wurde die Vortragsform im Wesentlichen beibehalten. – Die Vortragsreihe richtete sich an alle interessierten Kölner Bürger und nicht notwendigerweise an Fachpublikum, weswegen die Ausführungen zum Teil sehr grundsätzlich sind. 121

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Methode endlich gelingt. In welches internationale und hochkriminelle Netz Dopingmachenschaften im Sport der heutigen Zeit verstrickt sind, ist zu Beginn des Jahres 2019 bei den Nordischen Ski-Weltmeisterschaften in Seefeld schmerzlich ans Licht gekommen. Zwar haben sich die internationalen und nationalen, die überfachlichen und fachlichen Sportvereine und -verbände die Dopingbekämpfung seit jeher auf die Fahnen geschrieben. Richtig erfolgreich waren sie hiermit jedoch nie. Regelrechte Fehlschläge lassen sich für Sportarten (z.B. den Radsport) und sogar in ganzen Staaten (z.B. Russland) konstatieren. Nicht zuletzt deswegen haben sich viele nationale Gesetzgeber, darunter auch der deutsche, dazu entschlossen, Anti-Doping-Gesetze zu erlassen, um das verbandliche System der Dopingbekämpfung mit staatlicher Macht nachhaltig zu unterstützen. Ein Schelm ist, wer Böses dabei denkt, dass den Sportverbänden die Dopingbekämpfung nicht so gut gelingt, wie sie es sollte. Trotzdem muss man sich vor Augen führen, dass wirksame und gute Dopingbekämpfung auch für die Sportverbände ein zweischneidiges Schwert ist. Leistungssport ist international und national zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor geworden; es wird sehr viel Geld verdient und ausgegeben. Die Vermarktungsmaschinerie läuft aber nur dann rund, wenn mit teuer bezahlten Fernsehbildern der Sport als ein sauberer – dopingfreier – Sport verkauft werden kann. So sehr die Sportverbände an einer Aufklärung und Verhinderung von Dopingfällen ein Inte­ resse haben sollten, weil sie nach dem in den Präambeln ihrer Satzungen beschworenen Fair-Play-Prinzip dem Grunde nach auch dem sauberen Sport verpflichtet sind, so sehr müssen sie eine allzu offene Dopingbekämpfung fürchten: Ein Sport, in dem zu viel Mogelei und Mauschelei nachgewiesen wird, lässt sich eben nicht so gut verkaufen.

2. Übersicht Dieser Aufsatz behandelt ausschließlich Rechtsfragen der Dopingbekämpfung. Nach einer Definition des Dopingbegriffs werden zunächst die Akteure der Dopingbekämpfung vorgestellt. Es wird also herausgestellt, welche Institutionen auf welchen Ebenen in die Dopingbekämpfung eingeschaltet sind. Im Anschluss daran werden die rechtlichen Grundlagen für die Aufgabenverteilung bei der Dopingbekämpfung zwischen Verbänden und Staat untersucht. Wie der Dopingnachweis funktioniert und welche Dopingsanktionen ausgesprochen werden können, ist Gegenstand des nachfolgenden Abschnitts. Inwiefern ausgewählte Maßnahmen der Dopingbekämpfung mit den Grundrechten der Athleten in Einklang zu bringen sind, muss dann hinterfragt werden. Schließ122

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lich ist zu untersuchen – soweit eine Grundrechtsgefährdung bei Beteiligten in Betracht kommt –, wie sich der Rechtsschutz für die Athleten gestaltet und ob dieser ausreichend ist.

3. Definition Genauso, wie es keine universelle Definition von Sport gibt, so gibt es auch keine einheitliche, allgemeine und anerkannte Definition von Doping. Einigkeit besteht allerdings hinsichtlich der Tatsache, dass es sich um unterschiedliche Formen der unzulässigen Leistungssteigerung im Sport handelt. Hierbei ist das Unzulässigkeitskriterium konstitutiv. Selbstverständlich ist es Aufgabe aller Sportler, die eigene Leistung durch Training und veränderte Taktiken zu steigern. Dies ist gerade Ziel des sportlichen Betriebs. Alle Aktivitäten werden nur unzulässig, wenn sie unlauter sind. Diese Beurteilung ist indes immer normativ und unterliegt auch einer gewissen Dynamik. Daher hat sich für die Dopingbekämpfung das so genannte Listenprinzip durchgesetzt: Als Doping ist verboten, was auf einer Dopingliste steht. So definiert auch Art.  1 des NADA-­Codes (NADC) 2015: „Doping wird definiert als das Vorliegen eines oder mehrerer der nachfolgenden in Art. 2.1 bis Art. 2.10 festgelegten Verstöße gegen Anti-­Doping-Bestimmungen.“ Einige dieser Bestimmungen werden nachfolgend kurz angesprochen.

4.  Akteure bei der Dopingbekämpfung a) Allgemeines An der Dopingbekämpfung nehmen international und national zahlreiche Institutionen teil. Hier sind zunächst die Anti-Doping-Agenturen, die WADA als weltweite Anti-Doping-Agentur und die NADA als nationale Anti-Doping-­ Agentur für Deutschland zu nennen. Auf ihre Aufgaben ist gleich zurückzukommen. Jeder Staat soll eine eigene nationale Anti-Doping-Agentur haben, damit der internationale Code in das jeweilige nationale Sportrecht überführt und vor Ort überwacht werden kann. Eine wichtige Rolle bei der Dopingbekämpfung spielen natürlich auch die internationalen und nationalen Sportfachverbände, die als solche für eine spezifische Sportart zuständig sind. Über die Bindung der Athleten an ihre Statuten unterwerfen die Fachverbände die Athleten regelmäßig auch den Anti-Doping-Bestimmungen. Diese Unterwerfung unter die Regeln und die Straf­ gewalt der Verbände erfolgt juristisch gesehen vertraglich, nämlich durch den 123

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sog. „Regelanerkennungsvertrag“. Athleten können und dürfen nicht an internationalen und nationalen Sportwettbewerben teilnehmen, wenn sie die verlangten und gestellten Regelanerkennungsvereinbarungen mit den Veranstaltern oder den zuständigen Verbänden nicht abgeschlossen haben. Dies gilt etwa auch für die Ebene der Olympischen Spiele, wenn insoweit internationale überfachliche Verbände oder – im Rahmen der Nominierung – überfachliche nationale Verbände, wie der DOSB, ins Spiel kommen. Eine Nominierung durch den DOSB zu Olympischen Spielen erfolgt nicht ohne Regelanerkennung, eine Teilnahme an den vom IOC veranstalteten Olympischen Spielen nicht ohne Regelanerkennung diesem gegenüber. Auch diese Erklärungen enthalten Bindungen an das Anti-Doping-Regelwerk. Durch nationale Gesetzgeber werden Zuschüsse der öffentlichen Hand an die Sportverbände daran geknüpft, dass diese sich zur Einhaltung des international anerkannten Anti-Doping-Regelwerks verpflichten. Bei der Anerkennung des Anti-Doping-Regelwerks erfolgt üblicherweise auch der Abschluss einer sog. „Schiedsvereinbarung“, welche die Folge hat, dass Streitigkeiten über Anti-Doping-Maßnahmen nicht durch die ordentlichen Gerichte, sondern durch Schiedsgerichte entschieden werden. Für die internationale Ebene ist dieses Schiedsgericht der CAS. Auf nationaler Ebene ist das DIS-Sportschiedsgericht zuständig. Auf beide Institutionen wird später auch noch einzugehen sein. Festzuhalten bleibt, dass das internationale privatrechtliche System der Dopingbekämpfung durch die Verbände in einem Netzwerk von Verträgen und Unterwerfung der Beteiligten aufgespannt wird, die auf Vereinbarungen mit oder Mitgliedschaften in den entsprechenden Vereinigungen beruhen. Dass der Regelanerkennungsvertrag das sportrechtliche Mittel der Wahl ist, um Sportler an übergeordnete Regelwerke zu binden, ist in Deutschland nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auch rechtlich abgesichert. Die wesentlichen Grundlagen hierfür legte das Gericht in der berühmten und lesenswerten „Reitsportentscheidung“.2 Welche Aufgaben und Befugnisse in diesem System den Staaten zukommen, wird ebenfalls an späterer Stelle zu beleuchten sein. b)  Die Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) Bei der WADA handelt es sich um eine Stiftung schweizerischen Rechts, die im Jahr 1999 auf Initiative des IOC gegründet wurde. Sie hatte ihren Sitz zu2 BGH v. 28.11.1994 – II ZR 11/94, BGHZ 128, 93. 124

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nächst in der Schweiz, der Hauptsitz wurde allerdings später in das kanadische ­Montreal verlegt, insbesondere auch um eine größere Unabhängigkeit vom IOC zu dokumentieren. Zu ihren Aufgaben gehören im Wesentlichen die Harmonisierung und Koordinierung von Anti-Doping-Programmen auf internationaler und nationaler Ebene im Hinblick auf den Nachweis und die Verhinderung von Doping auch durch abschreckende Maßnahmen. Ihre wichtigsten Instrumente dafür sind der sog. WADA-Code (WADC) und weitere sog. „Interna­tional Standards“. Sie bilden die Grundlage der weltweiten Anti-­ Doping-Maßnahmen und -Sanktionen. Der WADC ist damit das weltweit gültige und sportartenübergreifende Anti-Doping-Regelwerk. Der Vorstand der WADA ist ein 38-köpfiger Stiftungsrat mit Vertretern der Olympischen Bewegung und der Länderregierungen. Ihm obliegt auch die Aufstellung der vorgenannten Kodizes. c)  Die Nationale Anti-Doping-Agentur (NADA) In Deutschland wurde zur Umsetzung der Anti-Doping-Bestimmungen der WADA im Jahr 2002 die NADA als rechtsfähige Stiftung des bürgerlichen Rechts mit Sitz in Bonn gegründet. Eine ihrer Hauptaufgaben ist sicherlich die Aufstellung und Durchsetzung des NADC, des Nationalen Anti-Doping-­ Codes. Dieser ist für den deutschen Sport das sportartenübergreifender Anti-Doping-Regelwerk. Der NADC basiert auf dem WADC und den sog. „International Standards“. Der NADC setzt alle wesentlichen Bestimmungen des WADC für Deutschland um. Die NADA koordiniert und kontrolliert die nationale Umsetzung aller Anti-Doping-Maßnahmen. Seit 2015 ist sie als Institution zuständig für die Durchführung aller Wettkampf- und Trainingsgruppenkontrollen für alle deutschen Verbände, vergleiche Art. 5.2.3 NADC. d)  Der CAS/TAS Der „Court of Arbitration for Sport“ oder das „Tribunal Arbitral du Sport” ist der internationale Sport-Schiedsgerichtshof mit Sitz in Lausanne. Er ist für alle sportrechtlichen Streitigkeiten aufgrund vertraglicher Unterwerfungen zuständig, die die Athleten – wie bereits ausgeführt – spätestens bei der jeweiligen Wettbewerbsmeldung und regelmäßig beim Erwerb einer entsprechenden Lizenz für die Sportart erklären. Der Sportgerichtshof tritt nach allgemeiner Vorstellung  – und auch nach der Konzeption der deutschen ZPO unter bestimmten Voraussetzungen – regelmäßig an die Stelle der staatlichen Gerichte gemäß der §§ 1025 ff., 1032 Abs. 1 ZPO. Seine Entscheidungen haben – unter bestimmten Voraussetzungen auch in Deutschland – die gleiche Qualität wie Urteile staatlicher Gerichte, § 1061 Abs. 1 ZPO in Verbindung mit dem „New 125

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Yorker Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche“ (UNÜ). Dem CAS kommt nach der Konzeption des weltweiten Dopingbekämpfungssystems die Letztentscheidungskompetenz in Dopingsachen zu. Der Internationalen Sportschiedsgerichtsbarkeit ist in der jüngeren Vergangenheit nicht unerhebliche Kritik entgegengehalten worden. Diese Kritik ist insbesondere aus den Verfahren von Claudia Pechstein vor dem CAS, vor dem Schweizer Bundesgericht, vor den deutschen Gerichten und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bekannt. Auf diese Kritik wird später noch einzugehen sein. Gleichwohl ist auch Verf. der Auffassung, dass der Sport ohne internationale Schiedsgerichtsbarkeit die vorkommenden Streitigkeiten nicht angemessen lösen könnte. Eine Konzentration der Streitigkeiten bei einem ausschließlich internationalen Sportgerichtshof stellt schnelle Ent­ ­ scheidungen und eine Einheitlichkeit der Rechtsprechung sicher, die durch entsprechende Sportrechtsexperten als Schiedsrichter wahrgenommen wird. Überließe man diese Rechtsprechung den nationalen Gerichten, ließen die Konsequenzen, die daraus erwüchsen, den Sportfreund schaudern: Natürlich kann Doping-Rechtsprechung nicht in den Händen nationaler Gerichte liegen, weil wir sonst über den Globus verteilt eine sich stark unterscheidende Beurteilung von Fragen über Dopingverstöße im Sport vorfinden könnten. Dass gewisse nationale Richter eigene Athleten bei der Beurteilung in Doping-Sachverhalten eher schonen könnten, um internationale Sperren zu vermeiden, ist alles andere als fernliegend. Schließlich käme auch auf die nationalen Justizbehörden eine zusätzliche Belastung hinzu, die durch entsprechende Expertise und Personal zunächst einmal geschultert werden müsste. e)  Das DIS-Sportschiedsgericht In Deutschland besteht seit dem 1.1.2008 bei der Deutschen Institution für Schiedsgerichtsbarkeit in Köln das deutsche Sportschiedsgericht. Es ist für ­nationale Dopingstreitigkeiten zuständig. Gegründet wurde es auf eine gemeinsame Initiative von DIS und NADA. Es spricht als Schiedsgericht erster In­stanz die Dopingstrafe auf Antrag der NADA aus, wenn die NADA das Ergebnismanagement in Dopingsachen von dem jeweiligen Sportfachverband übernommen hat. Als Schiedsgericht zweiter Instanz ist es für Doping-Straf­ entscheidungen der Sportverbände zuständig, wenn dies – wie regelmäßig – vorgesehen oder vereinbart ist. In diesem Fall ist die NADA zwingend an dem Verfahren zu beteiligen, vergleiche §  57 DIS-SportSchiedsO, wodurch die NADA ihrer nationalen Überwachungs- und Koordinierungsfunktion nachkommen kann. In jedem Fall behält der CAS die Letztentscheidungskompetenz, 126

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wofür in Dopingsachen vor dem DIS-Sportschiedsgericht eine zwingende ­Berufungsmöglichkeit für die NADA vorgesehen ist, vergleiche §  61 DIS-­ SportSchiedsO.

5.  Staatliche Dopingbekämpfung a)  Der Startschuss moderner Dopingbekämpfung Besondere öffentliche Aufmerksamkeit zog der Dopingskandal der Olympischen Sommerspiele 1988 in Seoul auf sich. Ben Johnson gewann mit 9,79 Sekunden das 100 m-Finale der Herren. Drei Tage später wurde er des Dopings mit Stanozolol überführt. Goldmedaille und Weltrekord wurden aberkannt. Johnson wurde später als Wiederholungstäter im Doping lebenslang gesperrt. Die aus diesem Skandal resultierende Sensibilisierung hat einen großen Beitrag zum Entstehen der modernen Dopingbekämpfung geleistet. Interna­ tionale und nationale Politik wurden in stärkerem Maße als vorher auf die Dopingproblematik im Sport aufmerksam. b)  Europaratsabkommen gegen Doping im Sport Der Europarat erließ am 16.11.1989, also im engen zeitlichen Zusammenhang mit dem Doping-Skandal um Ben Johnson, eine erste zwischenstaatliche Anti-­ Doping-Konvention, die jedoch nur europäischen Zeichnerstaaten verpflichtete. Die Konvention trat durch Ratifikationsgesetz in Deutschland am 1.6.1994 in Kraft. Ihr Zweck war die Dopingbekämpfung. Als Ziel hierfür wurde die Harmonisierung der Anti-Doping-Bestimmungen ausgerufen. Umsetzungsmodell war dabei ein Miteinander von Staaten und Verbänden mit einer primären Zuständigkeit der Sportverbände. Ein Zusatzprotokoll zu dem Abkommen sieht die gegenseitige Anerkennung von Dopingkontrollen vor. c)  UNESCO-Konvention gegen Doping im Sport Besonders wichtig für die internationale Dopingbekämpfung ist die UNESCO-­ Konvention gegen Doping im Sport. Sie wurde am 19.10.2005 in Paris geschlossen und gilt als erster völkerrechtlicher Vertrag gegen Doping mit globaler Reichweite. Die Konvention ist zwischenzeitlich von insgesamt 185 Staaten ratifiziert und seit dem 1.2.2007 in Kraft. Hierdurch wird die internationale Zuständigkeit der WADA anerkannt. Darüber hinaus werden die Verbotsliste (Anhang I) und einige der „International Standards“ (Anhang II) gemäß Art. 4 Abs. 3 der Konvention zu ihren Bestandteilen erklärt. Diese eigentlich privatrechtlichen Regelungen werden damit in den Rang des Völkerrechts erhoben, 127

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was rechtstechnisch und für die Dopingbekämpfung bemerkenswert ist. Selbstverständlich darf hieraus nicht gefolgert werden, dass die WADA nunmehr selbst, als privatrechtliche Organisation, Völkerrecht setzen kann, indem sie etwa die Verbotsliste oder andere „International Standards“ ändert. Für die Änderungen ist mit den Vertragsparteien ein besonderes Notifizierungsverfahren vorgesehen. Wird dieses nicht durchlaufen oder abgelehnt, bleibt die jeweils vereinbarte Fassung Gegenstand des Vertrages. d)  Das Verhältnis staatlicher und verbandlicher Dopingbekämpfung Art. 9 Abs. 1 des Grundgesetzes regelt: „Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden.“ Hieraus wird die so genannte „Verbandsautonomie“ abgeleitet. Sie gibt den Sportvereinen und -verbänden eine sehr weite Selbstorganisationsbefugnis und eine institutionelle Garantie. Man spricht von einer Primärzuständigkeit der Sportverbände für alle Regulierungen, die für den Sport vorzusehen sind. Damit spricht das Grundgesetz dem Sport zugleich eine Kompetenzvermutung aus: Angesichts der jahrelangen intensiven Befassung in den Verbänden mit dem Sport an sich wird eine gewisse Gewähr dafür geboten, dass sich auch das beste Fachwissen um die Sportart und ihre Besonderheiten in den jeweiligen Verbänden befindet. Trotzdem ist natürlich auch der organisierte Sport nicht losgelöst von unserem üblichen Rechts­ rahmen – auch wenn die Verbände dies früher, der DFB z.B. noch während des sog. „Bundesliga-Skandals“, für sich in Anspruch genommen haben. Das Grundgesetz und die geltenden Gesetze geben einen ebenso verbindlichen rechtlichen Rahmen für den Sport wie für alle Bürger und Institutionen unter dem Regime dieser Verfassung. Damit ist das System des Sports in Deutschland zwar von staatlichem Recht durchdrungen, es ist jedoch als solches staatsferner als andere Lebensbereiche ausgestaltet.3 Somit kommen die sportrechtliche Regelaufstellung und die Durchsetzung dieser Regeln regelmäßig den Sportverbänden zu. Der Staat hat zunächst hinter diesen Regelungen zurück zu stehen, durchaus auch im Sinne einer Subsidiarität. Trotzdem gibt es mittlerweile – fast unbestritten: zulässigerweise – staatliche Dopingbekämpfung in Deutschland. Sie geschieht mittelbar z.B. über die Bindung von staatlichen Zuschüssen an die Unterwerfung der Sportverbände unter die anerkannten Anti-Doping-Institutionen und -Regeln, nämlich insbesondere WADA, WADC, NADA, NADC und CAS. Wie der deutsche Gesetzgeber dies im Hinblick auf die Schiedsgerichtsbarkeit erreichen will, ergibt sich aus der – misslungenen – Vorschrift des § 11 AntiDopG. Unmittelbare Dopingbekämpfung durch den Staat findet seit Dezember 2015 in stärkerem Maße durch das AntiDopG statt. 3 Fechner/Arnhold/Brodführer, Sportrecht, 1. Aufl. 2014, 2. Kap., Rz. 1.  128

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Gegenüber dem früher geltenden Arzneimittelgesetz (AMG) wurden die Verbote und die Strafverfolgung erheblich ausgeweitet, insbesondere was den Eigenbesitz und die Verwendung von Dopingmitteln durch Sportler an sich selbst angeht.

6.  Nachweis und Dopingsanktion Der Dopingnachweis erfolgt in der Regel durch Dopingkontrollen und Doping­ ermittlungen (Art. 5 NADC). Ausgangspunkt ist, wenn es um verbotene Substanzen geht, regelmäßig eine „positive Dopingprobe“, also ein „abweichendes Analyseergebnis“ in der A-Probe (Blut- oder Urinprobe). Aber im Doping-Ermittlungsverfahren sind auch alle anderen Beweismittel grundsätzlich zulässig, wie z.B. Zeugenaussagen und ein Geständnis des Athleten. Wenn das zuständige Sportgericht aufgrund der vorgelegten Beweismittel überzeugt ist, wird es möglicherweise auch völlig ohne Vorliegen einer Blut- oder Urinprobe zu einem Dopingverdikt zu kommen. In einem solchen Fall ist bei der Beweiswürdigung natürlich besondere Sorgfalt erforderlich: Es erscheint insbesondere denkbar, dass durch falsche Zeugenaussagen andere Athleten ausgeschaltet werden sollen oder ein Athlet durch ein Geständnis die Schuld für ein Dopingvergehen auf sich nimmt, um dahinterstehende Strukturen und Dopingsysteme zu schützen.

7. Dopingsanktion Die Dopingsanktion, die ein Sport- oder dafür bestelltes Schiedsgericht ausspricht, besteht in der Regel aus zwei Elementen: Zum einen wird Folgenbeseitigung angeordnet. Konkret kommt es zur Annullierung von Ergebnissen, also der Aberkennung von Titeln, Platzierungen und Medaillen. Damit wird die unlautere Wettbewerbsteilnahme korrigiert und die sportliche Ehre, die auf einer falschen Platzierung beruhte, abgeschöpft. Regelmäßig wird zum anderen sanktioniert. Es kommt damit regelmäßig zu einer Sperre des Athleten. Ihm wird also verboten, über einen bestimmten Zeitraum seinem Sport im organisierten Rahmen nachzukommen. Die Sperre eines Athleten beträgt bei einem absichtlichen Erstverstoß, also z.B. beim Vorhandensein einer verbotenen Substanz nach Art. 10.2 NADC, vier Jahre. Der Code sieht jedoch auch verschiedene Herabsetzungsmöglichkeiten vor. So kann etwa die Sperre auf zwei Jahre reduziert werden, wenn dem Sportler der Nachweis gelingt, dass er den Verstoß gegen Anti-Doping-Bestimmungen nicht absichtlich begangen hat, oder er sich durch eine Kronzeugenaussage an der Aufklärung von Do129

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pingvertriebssystemen beteiligt. Gelingt es dem Sportler schließlich nachzuweisen, dass ihn an dem Verstoß gegen Anti-Doping-Bestimmungen letztlich überhaupt kein Verschulden trifft, so kann von einer Sperrstrafe gänzlich abgesehen werden. Diese Vorschrift hat naturgemäß einen sehr engen Anwendungsbereich. Er dürfte regelmäßig nur dann vorliegen, wenn ein – sehr seltener – Fall des Unterschiebens von Substanzen durch einen Konkurrenten im Wettkampf vorliegt und durch den Athleten nachgewiesen werden kann. Verstößt ein Athlet erneut, zum zweiten Mal, gegen Anti-Doping-Bestimmungen, so werden die vorgesehenen Strafen erheblich erhöht. Regelmäßig kommt eine Verdoppelung der ursprünglichen Sperrstrafe in Betracht. Darüber hinaus sieht der Code im Wiederholungsfall besondere Mindeststrafen vor. Bei einem dritten Verstoß gegen Anti-Doping-Bestimmungen droht dem Sportler in der Regel eine lebenslange Sperre, wie sie im Anti-Doping-Code vorgesehen ist. Dies ist nach deutschem Recht im Hinblick auf den geltenden Resozialisierungsgedanken bei der Verhängung von Strafen nicht unproblematisch. Da die Schiedssprüche der Schiedsgerichte, auch internationaler Schiedsgerichte, in Deutschland neben vielen formalen Voraussetzungen indes nur auf die Vereinbarkeit mit dem ordre public überprüft werden, können diese – gerade wohl noch – wirksam auch in Deutschland vollzogen werden.

8.  Dopingnachweis und „strict liability“ Für den Dopingnachweis sind im Anti-Doping-Code folgende Voraussetzungen geregelt: 2.1 Vorhandensein einer Verbotenen Substanz, ihrer Metaboliten oder Marker in der Probe eines Athleten 2.1.1 Es ist die persönliche Pflicht eines jeden Athleten, dafür zu sorgen, dass keine Verbotenen Substanzen in seinen Körper gelangen. Athleten sind für jede Verbotene Substanz oder ihre Metaboliten oder Marker verantwortlich, die in ihrer Probe gefunden werden. Demzufolge ist es nicht erforderlich, dass Vorsatz, Verschulden, Fahrlässigkeit oder bewusster Gebrauch aufseiten des Athleten nachgewiesen wird, um einen Verstoß gegen Anti-Doping-Bestimmungen gemäß Artikel 2.1 zu begründen. Ein ausreichender Nachweis eines Verstoßes gegen Anti-Doping-Bestimmungen gemäß Artikel 2.1 ist in einem der nachfolgenden Fälle gegeben: das Vorhandensein einer Verbotenen Substanz, ihrer Metaboliten oder Marker in der A-Probe eines Athleten, wenn der Athlet auf die Analyse der B-Probe verzichtet und die B-Probe nicht analysiert wird; oder, wenn die B-Probe des Athleten analysiert wird und das Ana­ lyseergebnis das Vorhandensein der Verbotenen Substanz oder ihrer Metaboliten oder Marker in der A-Probe des Athleten bestätigt; oder, wenn die B-Probe des Athleten auf zwei Flaschen aufgeteilt wird und das Analyseergebnis der zweiten Flasche das Vor130

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handensein einer Verbotenen Substanz, ihrer Metaboliten oder Marker in der ersten Flasche bestätigt.

Durch diese Regelungen wird eine sog. „strict liability“, eine unbeschränkte Haftung des Athleten für alle in seinem Körper vorgefundenen Stoffe und deren Metaboliten und Marker etabliert. Dies ist ein besonders rigides Haftungssystem, wird aber – je nach der konkreten rechtlichen Ausgestaltung – im Wesentlichen als wirksam angesehen. Denn schließlich ist der Athlet derjenige, der den besten und einfachsten Einfluss darauf hat, welche Substanzen er in seinem Körper gelangen lässt. Ein System verschuldensunabhängiger Haftung finden wir in anderen Rechtsbereichen in der Regel sonst nur, wenn es durch Parlamentsgesetz besonders angeordnet ist, etwa im Straßenverkehr, in der Luftfahrt oder im Atomgesetz. Gleichwohl hat sich im Sportrecht an anderer Stelle, nämlich bei der Haftung von Fußballvereinen für ihre Anhänger, eine verschuldensunabhängige Haftung in der Praxis weitestgehend durchgesetzt, obwohl ihre Rechtmäßigkeit von der herrschenden Meinung in Deutschland immer noch bestritten bleibt.

9.  Das Beweismaß der „comfortable satisfaction“ Für das Beweismaß des Dopingnachweises ist Art. 3 des Anti-Doping-Codes einschlägig: Die Organisationen tragen die Beweislast für das Vorliegen eines Verstoßes gegen Anti-­Doping-Bestimmungen. Das Beweismaß besteht darin, dass die Organisation gegenüber dem Disziplinarorgan überzeugend darlegen kann, dass ein Verstoß gegen Anti-Doping-Bestimmungen vorliegt, wobei die Schwere des Vorwurfs zu berücksichtigen ist. Die Anforderungen an das Beweismaß sind in jedem Fall höher als die gleich hohe Wahrscheinlichkeit, jedoch geringer als ein Beweis, der jeden vernünftigen Zweifel ausschließt.

Diese Vorschrift etabliert das berühmte Beweismaß der „comfortable satis­ faction“, das für Sanktionen von nationalen und internationalen Gepflogenheiten stark abweicht. Als deutscher Jurist erwartet man hier das Maß der richterlichen Überzeugung aus § 286 ZPO oder § 261 StPO. Vertreter des common law verlangen von ihren Entscheidern in ihrem Gerichtsverfahren eine Überzeugung „beyond reasonable doubt“, was der deutschen Formel des BGH „ein Maß an Überzeugung, das vernünftigen Zweifeln Schweigen gebietet“, bereits sehr nahekommt. Nach dem Wortlaut des Codes reicht für eine Verurteilung wegen eines Doping-­Vergehens eine richterliche Überzeugung von 51 % bis hin zu 99,9 %. 131

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Das Mindestmaß an richterlicher Überzeugung steigt zwar in Abhängigkeit von der Schwere des Verstoßes, liegt aber nach dem Wortlaut der Vorschrift unter dem Beweismaß, das staatliche Gerichte jeweils verlangen. Dies ist unter dem Regime des Grundgesetzes nicht akzeptabel. Es ist anerkannt, dass Grundrechtsschutz auch durch das Verfahrensrecht selbst erreicht wird. Es ist nicht einzusehen, dass jahrelange Sperren, wie sie durch die Sportgerichte verhängt werden können, gegenüber Sportlern mit einem niedrigeren Überzeugungsgrad ausgesprochen werden können als bei den staatlichen Gerichten, obwohl die Entscheidung der Sportschiedsgerichte letztlich in jeder Hinsicht anstelle der staatlichen Urteile treten und wie diese vollstreckt werden können. Es ist daher damit zu rechnen, dass sich deutsche Schiedsrichter in Anti-Doping-Verfahren schließlich immer auf den im staatlichen Verfahren angewandten Überzeugungsmaßstab stützen. Dies verbessert die Qualität der Sport-Rechtsprechung und die Rechtssicherheit für die Athleten. Insgesamt ist festzuhalten, dass mit dem Nachweismaßstab und dem Beweismaßstab, die der WADC für Dopingsanktionen auf der ganzen Welt vorsieht, die Athleten schlechter gestellt sind, als sie gestellt wären, wenn die entsprechenden Dopingsanktionen durch (Zivil-)Gerichte in Deutschland abgeurteilt werden würden.

10.  Dopingbekämpfung und Grundrechte a)  Die Abgabe der Urin-Dopingprobe unter Sichtkontrolle Die Abgabe einer Urin-Dopingprobe findet für Athletinnen und Athleten unter Sichtkontrolle durch einen Kontrolleur im Auftrag der Nationalen Anti-Doping-Agentur statt. Hierbei haben alle Athletinnen und Athleten die Hosen bis zum Knie herunterzulassen und ein etwaiges Oberteil sowie die Ärmel bis auf Brust- bzw. Ellenbogenhöhe hochzukrempeln.4 Damit hat der Dopingkontrolleur uneingeschränkte Sicht auf den Intimbereich der Athletin oder des Athleten und beobachtet auch den eigentlichen Vorgang der Urinabgabe. Es liegt auf der Hand, dass dies einen ganz erheblichen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Sportler darstellt, die eine entsprechende Urinprobe abgeben müssen.

4 Instruktiv insoweit das Video der NADA, das über den Ablauf einer Dopingkon­ trolle detailliert Auskunft gibt: https://www.youtube.com/watch?v=yuWdBjXChgo. 132

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Ob dies rechtlich zulässig ist, richtet sich insbesondere nach Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes. Die Vorschriften lauten: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“ (Art. 2. Abs. 1 GG) und „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ (Art. 1 Abs. 1 GG). Aus Artt. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG hat der Bundesgerichtshof früh das Allgemeine Persönlichkeitsrecht (APR) abgeleitet, das durch Schrifttum, das BVerfG und die Fachgerichte weiterentwickelt wurde und heute die „Statur eines Grundrechts gewonnen“ hat. Geschütztes Rechtsgut ist (heute) der Geltungsanspruch des Menschen in der sozialen Welt, die ihn prägt und die er wiederum auch dadurch prägt, dass er durch sein Handeln von ihr anerkannt werden will. Damit ist letztlich „Ehre“ aufgerufen. Das ist immer dann der Fall, wenn der soziale Geltungsanspruch und die Selbstachtung des Menschen auf dem Spiel stehen. Beispiele sind: Interesse an Privatheit, Recht auf den eigenen Namen, am eigenen Bild, am eigenen Wort, auf Kenntnis der eigenen Abstammung, Recht auf Intimität.5 Hiernach schützen Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG einen „Kernbereich privater Lebensgestaltung“ (= „Intimsphäre“) als absolut unantastbar. In diesem „Innenraum“ privater Lebensgestaltung besitzt der Mensch sich selbst und muss sich dorthin ohne Zutrittsmöglichkeit der Umwelt, insbesondere der öffentlichen Gewalt, zurückziehen können. Die nachgelagerte „Privatoder Geheimsphäre“, die sich von der Intimsphäre in ihrem Sozialbezug unterscheidet, umschreibt einen Bereich, in dem Eingriffe zwar nicht generell ausgeschlossen sind, ihre Rechtmäßigkeit sich aber nach besonders strengen Vorgaben richtet. Die letzte sog. „Sozialsphäre“ umschreibt einen das APR allenfalls berührenden Bereich, der von der Umwelt ohnehin nicht abgeschirmt werden kann. Maßnahmen, die diesen Bereich betreffen, weisen – wenn überhaupt – nur eine geringe Belastungsintensität auf. Nach der klassischen Konzeption sind die Grundrechte der Verfassung Abwehrrechte gegen den Staat.6 Heute ist jedoch anerkannt, dass die Grundrechte eine objektive Wertordnung verkörpern, die für alle Bereiche des Rechts – auch für das Privatrecht – gilt. Über die zivilrechtlichen Generalklauseln wie §§ 138, 242, 826 BGB, die über die normativen Rechtsbegriffe ausfüllungsbedürftig sind, erlangen Grundrechte Wirkung im Privatrecht zwischen Privaten. Man spricht von mittelbarer Drittwirkung der Grundrechte. Einen scho5 Maunz/Dürig/Di Fabio, GG Art. 2 Abs. 1 Rz. 127. 6 Maunz/Dürig/Di Fabio, GG Art. 2 Abs. 1 Rz. 158. 133

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nenden Ausgleich der beteiligten Grundrechte, eine gerechte Berücksichtigung der beiderseitigen Interessen erlangt man in der Regel durch eine umfassende Güterabwägung der beteiligten Rechte („praktische Konkordanz“). Letztlich wird man den bei der Urinkontrolle durch den Verband mittelbar vorgenommenen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Sportlers noch der Privatsphäre zuordnen müssen. Die Intimsphäre dürfte wegen des fehlenden Sexualbezugs und wegen der eindeutigen Zuordnung zum Sportgeschehen noch nicht betroffen sein. Außerdem ist wegen der Eingriffsintensität zu bedenken, dass nur ein Kontrolleur vom gleichen Geschlecht wie der Athlet anwesend ist und selbstverständlich auch keine Aufzeichnungen von der Probenabnahme gefertigt werden, die in den Medien oder im Internet Verbreitung finden könnten. Bei der Güterabwägung zwischen dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Athleten und dem legitimen Dopingkontrollbedürfnis der Verbände, das dem Schutz von Art. 9 Abs. 1 GG unterfällt, ist ferner zu berücksichtigen, dass es zahlreiche Tricks gibt, die Abgabe der Urin-Dopingprobe zu verfälschen. Es gibt verschiedene Wege, etwa sauberen Fremdurin in das Kontrollgefäß zu bringen, oder weitere Substanzen in die Kontrollflüssigkeit einzubringen, um die Probe zu verfälschen und den Nachweis verbotener Substanzen zu erschweren. Der Fantasie der Athleten scheinen insoweit keine Grenzen gesetzt zu sein. Es sind Fälle bekannt, in denen Athleten sauberen Fremdurin in den eigenen Körper eingeführt haben, um letztlich eine saubere Urinprobe abgeben zu können. Wegen dieses Einfallsreichtums, der ansonsten zu leicht gegebenen Manipulierbarkeit der Dopingprobe und der Notwendigkeit einer wirksamen Dopingbekämpfung scheint dieser nicht unerhebliche Eingriff in das Persönlichkeitsrecht der Athleten dennoch gerade noch gerechtfertigt zu sein. b)  Fall Semenya Auch wenn sich der Fall von Caster Semenya nicht als Doping-Fall darstellt, ist er hier beispielhaft aufzuführen, weil er aufzeigt, wie weit die Sportverbände für das Ziel der Regeleinhaltung zu gehen bereit sind. Bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften 2009 in Berlin lief die Athletin im 800-Meter-Finale eine sensationelle Zeit, mit der sie ihre Konkurrentinnen chancenlos zurückließ. Dies wurde öffentlich beachtet und warf auch bei den zuständigen Verbänden einige Fragen auf. Es stellte sich heraus, dass bei der Athletin eine Intersexualitätsproblematik vorliegt. Der Internationale Leichtathletikverband (IAAF) reagierte hierauf mit einer „DSD-Regel“. Hierbei steht DSD für „Differences of Sex Development“, was ins Deutsche am besten mit „Intersexualitätsproblematik“ übertragen wird. 134

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Diese DSD-Regeln der IAAF verlangen von Athletinnen mit einem erheblich  erhöhten Testosteronspiegel und einem daraus resultierenden „wesent­ lichen Androgenisierungseffekt“, ihren Testosteronspiegel durch die Einnahme von Medikamenten für mindestens sechs Monate unter den Grenzwert von 5 nmol/l zu senken, damit sie an den Frauenwettbewerben teilnehmen dürfen. Hintergrund dieser Regelung ist der Schutz der Frauenwettbewerbe vor übermächtigen Konkurrentinnen, die andere biologische Voraussetzungen mitbringen als andere Frauen. Ohne Zweifel erreicht man damit das gewünschte Ziel, die Ergebnisse in den Frauenwettbewerben insgesamt vergleichbar zu halten. Allerdings geht diese Regelung erstaunlich weit. Indem sie Fragen der sexuellen Identität und der Konzentration von Sexualhormonen im Blut der Athletinnen regelt, greift sie in nie dagewesener Tiefe in das Persönlichkeitsrecht der Athletinnen ein. Am 30.4.2019 hat der CAS durch einen Schiedsspruch eine Klage von Caster Semenya (mit einigen Bedenken hinsichtlich der praktischen Durchsetzbarkeit der Regelung) zurückgewiesen und die DSD-Regeln der IAAF im Wesentlichen für rechtmäßig erklärt.7 Seit dem 31.5.2019 war dieser Schiedsspruch und die IAAF-Regel durch eine einstweilige Anordnung des Schweizerischen Bundesgerichts vorläufig außer Kraft gesetzt, so dass Caster Semenya vorläufig auch ohne Hormontherapie an Frauenwettbewerben teilnehmen konnte. Ende Juli 2019 wurde die provisorische Außerkraftsetzung des Schiedsspruchs durch das SchwBG endgültig wieder aufgehoben. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, so lautet bekanntlich Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG. So lautete auch, leicht abgewandelt, ein ablehnender Kommentar zu der IAAF-Regelung und zum Schiedsspruch in der Frankfurter Allge­meinen Zeitung vom Tag nach dem Schiedsspruch des CAS.8 Die Frage, ob mit dieser Regelung des Welt-Leichtathletikverbandes schon die Menschenwürde betroffen ist, ist nicht leicht zu beantworten. Wäre dies der Fall, dann wäre die Re­ gelung, die für Athletinnen mit einer Intersexualitätproblematik gilt, schlechterdings nicht zu rechtfertigen. Auch darf natürlich nicht verkannt werden, dass Art. 1 Abs. 1 GG, also die Menschenwürde, schon bei der Bestimmung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts eine Rolle spielt. Die berühmte „Objekt-Formel“ von Dürig, „Die Menschenwürde ist getroffen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird.“9 7 SpuRt 2019, 211.  8 Schürmann in Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.6.2019, Nr. 126, S. 36.  9 Günter Dürig in Maunz/Dürig, GG Art. 1 Abs. 1 Rz. 36 (bis zur 54. Lfg. Januar 2009). 135

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dürfte hier nicht weiterhelfen, weil die Sportlerin gerade nicht zum Objekt herabgewürdigt wird, sondern letztlich sich selbst dazu bereit erklärt, an den organisierten Wettbewerben als Sportlerin teilzunehmen. Alles dreht sich also abermals um die Frage, in welcher Sphäre man in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Athletinnen hier eingreift. Der Eingriff erscheint sehr weitgehend. Auf der anderen Seite gehört die Vergleichbarkeit der Wettbewerbe zu einer der Grundfesten des organisierten Sports. Zu entscheiden ist die Frage hier nicht. Klar ist, dass noch intensivere Eingriffe von Sportverbänden in das allgemeine Persönlichkeitsrecht von Sportlerinnen und Sportlern kaum vorstellbar sind. Ob diese allein mit der angeblichen Freiwilligkeit der Teilnahme am organisierten Sport und der Notwendigkeit der Vergleichbarkeit sportlicher Wettbewerbe gerechtfertigt werden kann, muss in der Rechtswissenschaft, der Philosophie und in den Sportwissenschaften sowie gesellschaftlich diskutiert und dann festgelegt und entschieden werden. Gut vertreten lässt sich auch die von Schürmann in der FAZ vertretene Auffassung: Man regelt einfach nichts und dann ist Caster Semenya eben „einfach ein überbordendes Talent“.10

11.  Rechtsschutz gegen Dopingsanktionen Ob der Rechtsschutz, insbesondere durch den CAS, im Falle von Dopingsanktionen gegen Sportler ausreichend ist, wird in der jüngeren Vergangenheit zum Teil engagiert diskutiert. In diesem Zusammenhang ist natürlich der Fall von Claudia Pechstein zu nennen. Diese deutsche Ausnahmeathletin, die nach der Beurteilung einer medizinischen Fachkommission und des DOSB-Präsidenten Alfons Hörmann im deutschen Sport als rehabilitiert gilt, kämpft seit über einem Jahrzehnt rechtlich gegen die gegen sie verhängte Dopingsperre. Stichpunktartig kann der „Dopingfall“, von dem Claudia Pechstein selbst sagt, dass es einen solchen nicht gebe, wie folgt zusammengefasst werden: Die ISU, die International Skating Union, sperrt Claudia Pechstein im Jahr 2009 für zwei Jahre wegen Blutdopings während der damaligen Weltmeisterschaft. Claudia Pechstein ruft gegen die Sperre den CAS an. Der CAS bestätigt die Sperre. Claudia Pechstein klagt gegen die Sperre vor der deutschen ordentlichen Gerichtsbarkeit. Der BGH weist die Klage letztlich ab. Gegen die Sperre durch den CAS und gegen die Zurückweisung ihrer Beschwerde und Revision vor dem SchwBG erhebt Claudia Pechstein Individualbeschwerde zum EGMR. 10 Schürmann, a.a.O. 136

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Dort erzielt sie einen Teilerfolg, der aber nur darin besteht, dass der Gerichtshof eine Verletzung der Vorschriften über die Öffentlichkeit vor dem CAS feststellt, weswegen Claudia Pechstein ein – gemessen an ihrer geltend gemachten Schadenersatzforderung  – kleines Kompensationsentgelt zufließen soll. Der eigentlich angegriffene Spruch des Schiedsgerichts bleibt jedoch bestehen. Wie bereits ausgeführt gibt es keine Teilnahme an der Mehrkampf-WM in Hamar am 7.2.2009 ohne Unterzeichnung der Schiedsvereinbarung. Im Claudia Pechstein-Fall lautete die abgegebene Unterwerfungserklärung wie folgt: „I, the undersigned, accept the ISU Constitution, which establishes an ISU Disci­ plinary Commission and recognizes the Court of Arbitration for Sport (CAS), in Lausanne, Switzerland as the arbitration tribunal authorized to issue final and binding awards involving the ISU, its Members and all participants in ISU activities, excluding all ­recourse to ordinary courts; and am familiar with the ISU Anti-Doping Rules and also with the List of Prohibited Substances and Methods and I declare that I will fully comply with such Rules.“

Damit die Schiedsgerichtsbarkeit mit ihren Urteilen an Stelle der staatlichen Gerichtsbarkeit treten kann, gibt es – nicht nur nach deutschem Recht – besondere Anforderungen an die Schiedsgerichte. Sie müssen vergleichbar unabhängig und unparteiisch sein wie staatliche Gerichte und andere wesentliche Verfahrensvorschriften einhalten. Claudia Pechstein setzte sich vor allen o.g. Gerichten insbesondere gegen die Besetzung des CAS-Panels (drei Personen) zur Wehr, das als Spruchkörper des CAS über ihre Berufung gegen die ISU-Sperre zu entscheiden hatte. Sie beanstandete u.a.: – die Zusammensetzung des ICAS, der die Schiedsrichterliste bestimmt, – das Quorum für die Zusammensetzung der Schiedsrichterliste, – die Bestimmung des Vorsitzenden des Panels durch den Präsidenten der Berufungsabteilung des CAS und – die geschlossene Schiedsrichterliste. Auch der BGH hat diese Fragestellungen in seiner Entscheidung11 untersucht. Ausgangspunkt für seine Untersuchung war der folgende Ansatz: Weil Claudia Pechstein auf ihren Rechtsschutz (Art.  19 Abs.  4 GG) vor den ordentlichen Gerichten verzichtet hat, ist dies nur wirksam, wenn die Neutralität und Unabhängigkeit des Schiedsgerichts mit den Standards bei staatlichen Gerichten vergleichbar sind. Im Ergebnis stellt der BGH aber fest, dass aus dem Verfahren der Erstellung der Schiedsrichterliste des CAS kein strukturelles Ungleich11 BGH v. 7.6.2016 – KZR 6/15, BGHZ 210, 292.  137

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gewicht hergeleitet werden könne, das die Unabhängigkeit und Neutralität des CAS in einem Maße beeinträchtige, dass seine Stellung als „echtes“ Schiedsgericht in Frage stünde.12 Der EGMR teilt diese Ansicht13 Es gibt allerdings ein sehr lesenswertes Sondervotum zweier Richter, das zu einem ganz anderen Ergebnis kommt.14 Die große Kammer des EGMR hat eine Übernahme der Sache zwischenzeitlich (ohne Begründung) abgelehnt, so dass das ursprüngliche Urteil des EGMR (eine Kammerentscheidung) bestehen bleibt. Dies hat der EGMR nur durch Pressemitteilung bekanntgegeben. Diese Auffassung kann nicht überzeugen, weil Claudia Pechstein einige gewichtige und nach hier vertretener Ansicht auch durchgreifende Argumente gegen eine hinreichende Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des CAS vorgebracht hat. Hierzu muss man wissen, dass in solchen Sachen wie der vorlie­ genden – also in Berufungsentscheidungen –, das konkrete Panel, das einen Rechtsstreit für den CAS entscheidet, mit drei Schiedsrichtern besetzt ist. ­Jeweils einen dieser Schiedsrichter benennen die Parteien, also der sanktions­ betroffene Sportler und der sanktionswillige Verband. Den dritten Schiedsrichter, den Vorsitzenden des Panels, bestimmt der Präsident der Berufungsabteilung. Hier ist zunächst bemerkenswert, dass der BGH insoweit von einem falschen Sachverhalt ausgegangen ist: Er nahm an, der Vorsitzende des Spruchkörpers würde nur dann vom Präsidenten der Berufungsabteilung bestimmt werden, wenn die Parteien sich nicht auf einen bestimmten Schiedsrichter einigen. Das ist jedoch nicht der Fall. Tatsächlich bestimmt der Präsident der Berufungsabteilung immer den Vorsitzenden des Panels. Die Crux der Sache ist, dass die Schiedsrichter nur von der CAS-Schiedsrichterliste ausgesucht werden können. Diese Schiedsrichterliste ist ein „closed shop“: Andere qualifizierte Personen können, solange sie nicht auf der Liste stehen, nicht zum Schiedsrichter bestellt werden. Die Aufstellung der Schiedsrichterliste übernimmt der so genannte ICAS, eine Art Stiftungsrat, der insgesamt 20 Mitglieder hat. Vier von diesen Mitgliedern bestimmen die internationalen Sportverbände, vier weitere die Nationalen Olympischen Komitees und vier davon das IOC. Vier weitere dieser Mitglieder werden von den gerade genannten Organisationen benannt, sollen aber ausgewählt werden „with a view to safeguarding the interests of the athletes“. Nur vier Mitglieder des ICAS werden unabhängig von Organisationen, die die anderen Mitglieder ernen12 BGH v. 7.6.2016 – KZR 6/15, BGHZ 210, 292, Rz. 26. 13 EGMR v. 2.10.2018 – 40575/10, SpuRt 2018, 253.  14 EGMR v. 2.10.2018 – 40575/10, SpuRt 2018, 253, 259. 138

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nen, ausgewählt. Weiß man, dass der organisierte Sport aus Funktionären besteht, die sich über Jahre und Jahrzehnte vom nationalen in den internationalen und vom international-fachlichen in den international-überfachlichen Betrieb hochgedient haben, stellt man schnell fest, dass 16 Mitglieder des ICAS aus dem nicht zu trennenden Bereich der Sportverbände stammen. Sie haben die regelmäßige Vertretung der Verbandsinteressen nicht nur von der Pike auf gelernt, sondern über Jahrzehnte trainiert. Das sind in der Regel nicht ausschließlich Athleten-, sondern verbandliche Sportvertretungsinteressen. Claudia Pechstein hat deswegen geltend gemacht, dass bei der Aufstellung der Schiedsrichterliste durch dieses Gremium zumindest die Gefahr besteht, dass eher verbandsnahe Schiedsrichter ausgewählt werden und diese deswegen auf der Liste überwiegen. Dies dürfte zutreffend sein. Ebenso hatte dies auch das Oberlandesgericht München in seiner „Pechstein-Entscheidung“ gesehen.15 Noch bedenklicher gestaltet sich der Eindruck von der Schiedsrichterliste, wenn man weiß, dass diese bis zum 31.12.2011 nach der mittlerweile geänderten Vorschrift S14 des CAS-Statuts entsprechend dem gleichen Quorum aufgestellt worden ist. Ein Fünftel der Schiedsrichter wurden nämlich vorgeschlagen von den internationalen Sportverbänden, ein Fünftel von den Nationalen Olympischen Komitees und ein weiteres Fünftel vom IOC. Ein weiteres Fünftel, völlig analog zur Besetzung des ICAS, wurde ebenfalls von den vorgenannten Organisationen vorgeschlagen, aber erneut ausgewählt „with a view to safe­guarding the interests of the athletes“. Lediglich ein Fünftel der auf der Schiedsrichterliste befindlichen Schiedsrichter wurden unabhängig von den Organisationen, die die anderen Schiedsrichter benennen, ausgewählt. Damit kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Schiedsrichterliste jedenfalls bis zur Änderung des CAS-Statuts mit einem erheblichen Übergewicht mit Schiedsrichtern besetzt war, bei denen zumindest ein Hinweis darauf besteht, dass sie tendenziell verbandsnah positioniert sein und entscheiden könnten. Trotz dieser nachgewiesenen, potenziell möglichen Verbandsnähe vieler Schiedsrichter hat der BGH in der vorgenannten Entscheidung die hinreichende Unabhängigkeit des CAS bestätigt. Dementsprechend fiel die Rezeption des BGH im Schrifttum aus. Deutlich ist bereits die Stellungnahme von Prof. Dr. Peter W. Heermann, Bayreuth:16 „Ein ‚blaues Auge‘ ist üblicherweise nur eine vorübergehende Erscheinung und heilt schnell. Der mahnende Zeigefinger des Kartellsenats wird beim CAS gleichfalls kaum nachwirken. Indes ist die Argumentation des BGH, die ihn zu den eingangs dargestell15 OLG München, SpuRt 2015, 78. 16 NJW 2016, 2224. 139

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ten Rechtsansichten führte, in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht mit teils erheblichen Zweifeln behaftet. Diese bleiben einstweilen bestehen und sind kaum geeignet, die nicht nur unter Athleten verbreiteten Vorbehalte gegenüber dem CAS auszuräumen. Hier sollte und kann nicht auf die Selbstheilungskräfte der Natur vertraut werden.“ (NJW 2016, 2224)

Ebenso kritisch äußert sich Prof. Dr. Dr. h.c. Hanns Prütting, Köln:17 „Die klaren Ergebnisse des BGH, wonach der CAS ein echtes Schiedsgericht darstellt und die Unterwerfung der Athleten unter die jeweiligen Schiedsklauseln der nationalen und internationalen Verbände als freiwillig anzusehen ist, werden durch vertretbare, aber nicht sonderlich zwingende Entscheidungsgründe untermauert. Warum die Zusammensetzung der geschlossenen Schiedsrichterliste für den CAS und vor allem die Bestellung des Vorsitzenden des konkreten Spruchkörpers bei Uneinigkeit der Parteien bedenkenfrei sind und keiner Reform bedürfen, erschließt sich dem Betrachter nicht.“

Sehr plakativ und sehr deutlich, wohl aber zutreffend, äußert sich Prof. Dr. Hermann-Josef Bunte, Bielefeld:18 „Die Begründung dafür, ein strukturelles Ungleichgewicht bei der Besetzung des Schiedsgerichts zu verneinen, mutet naiv an.“

Dem ist nichts hinzuzufügen.

12.  Ausblick und Fazit Diese kleine Einführung in die Rechtsfragen rund um die Dopingbekämpfung zeigt auf, welche Herausforderungen es nach wie vor in diesem Bereich gibt. Es ist zwar auch mithilfe der internationalen Politik und den Nationalstaaten gelungen, ein mittlerweile schlagkräftigeres Dopingkontrollsystem zu etablieren. Der ewige Wettlauf zwischen den Dopenden und den Dopingbekämpfern wird aber niemals aufhören; eine sportrechtliche Befassung mit Dopingfragen ebenso nicht. Insgesamt braucht es daher Experten, um die vielen spannenden Rechtsfragen, die in diesem Vortrag nur angedeutet werden konnten, mit juristischem Handwerkszeug und Sportsachverstand zu hinterfragen und zu beantworten. Die potenziell sehr hohen Strafen bei Doping müssen mit Augenmaß ausgesprochen werden. Angesichts ihrer regelmäßig karrierebeendenden Wirkung muss ein Überzeugungsmaßstab bei den erkennenden Kammern erreicht werden, der rechtsstaatlichen Ansprüchen genügt. 17 SpuRt 2016, 143. 18 EWiR 2016, 415. 140

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Insbesondere auf dem Gebiet des Rechtsschutzes für die Athleten gibt es noch eine Menge Arbeit zu leisten. Schiedsgerichtsbarkeit im Sport ist wichtig und sinnvoll – jedoch nicht um jeden Preis. Auch wenn sich Deutschland als Vorzeigestaat der Rechtsstaatlichkeit versteht, kann es erforderlich sein, dass man – will man in einer globalisierten Welt am internationalen Sportbetrieb teilnehmen – die eigenen Ansprüche behutsam relativieren muss. Die im Sport geltenden Modelle werden auch in Staaten angewendet, deren Rechtssysteme vom deutschen Vorbild stark abweichen. Das gerade noch akzeptable Maß von Abstrichen an rechtsstaatlichen Garantien ist jedoch im Fall von Claudia Pechstein deutlich überschritten worden. Das Bundesverfassungsgericht, bei dem eine Verfassungsbeschwerde von Claudia Pechstein gegen die BGH-Entscheidung anhängig ist, sollte trotz und wegen der Entscheidung aus Straßburg die Chance ergreifen und dafür sorgen, dass Claudia Pechstein nicht nur im Sport, sondern juristisch rehabilitiert ist. Ob Claudia Pechstein tatsächlich gedopt hat, weiß wahrscheinlich nur sie selbst. Aus rechtswissenschaftlicher Sicht ist eines jedoch sicher: Mit den damaligen Methoden und den seinerzeit gewonnenen Erkenntnissen war es juristisch nicht einwandfrei möglich, sie wegen eines Dopingverstoßes zu verurteilen.

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Der Fall Gurlitt – Raubkunst oder Kunstraub? Inhaltsübersicht

I. Einleitung II. Der Gang der Ereignisse 1. Vorgeschichte – Die Familie Gurlitt 2. Zollkontrolle und Beschlagnahme 3. Erbe III. Das Verhalten der Staatsanwaltschaft Augsburg IV. Die rechtliche Kategorisierung der Bilder 1. Die Bilder von Louis Gurlitt 2. Von Hildebrand Gurlitt nach 1945 erworbene Bilder 3. Von Hildebrand Gurlitt vor 1945 ­erworbene Bilder 4. „Entartete“ Kunst 5. Raubkunst 6. Mit Fremdgeld erworbene Kunst 7. Ungeklärte Provenienz 8. Zwischenergebnis



V. Die Eigentumslage bei Raubkunst 1. Erwerb vom Berechtigten 2. Gutgläubiger Erwerb 3. Erbgang 4. Ersitzung 5. Verjährung 6. Vermutung bei ungeklärter ­Provenienz 7. Restitutionsgesetze und ­Washingtoner Erklärung 8. Sinn und Zweck der Gesetzeslage 9. Ergebnis VI. Abweichende Auffassungen zur Rechtslage 1. Hemmung der Verjährung 2. Unterbrechung der Verjährung durch die staatsanwaltschaftliche Beschlagnahme 3. Unzulässige Einrede der Verjährung 4. Weitere Erwägungen VII. Ergebnis

I. Einleitung Mit dem Thema soll über den Einzelfall hinaus eine generelle und hochaktuelle Entwicklung angesprochen werden. Es geht um Kunst, aber nicht um Kunst als ästhetischer Genuss, sondern um politische und rechtliche Einwirkungen auf die Kunst. Zwei Diskussionsstränge seien mit konkreten Namen schlaglichtartig benannt: – Emil Nolde und die entartete Kunst, – Hildebrand Gurlitt und die Raubkunst.

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Mein Thema heute ist zwar der Fall Gurlitt. Wir werden aber sehen, dass das Stichwort „entartete Kunst“ dabei eine gewisse Rolle spielt. Woher kommt im Fall Nolde die Aktualität? Im Hamburger Bahnhof in Berlin läuft derzeit (und noch bis zum 15.9.2019) eine groß angelegte Ausstellung mit Bildern von Emil Nolde. Diese Ausstellung und der dazu gehörende Katalog haben das Bild zerstört, das wir alle uns dank Siegfried Lenz „Deutschstunde“ von Emil Nolde als Opfer der Nationalsozialisten gemacht hatten. Denn Nolde war zwar ein großer Maler. Sein Werk wurde von den Nazis als entartet bezeichnet. Aber er war trotzdem überzeugter Nationalsozialist, der um Hitlers Wohlwollen noch bis 1945 buhlte, und er war ein radikaler Antisemit. Das zweite Stichwort der Raubkunst ist zwar kein neues Thema (so gibt es die sogenannte Limbach-Kommission bereits seit 2003), es hat aber durch den Fall Gurlitt in extrem hohem Maß an Aufmerksamkeit gewonnen. Jüngster Ausdruck ist die Diskussion um die Rückgabe kolonialer Raubkunst aus deutschen (und ebenso aus französischen) Museen. Auch das Verfahren um die Herausgabe des Welfen-Schatzes, das zur Zeit vor dem US-amerikanischen Supreme Court läuft, gehört in diesen Zusammenhang. Wie ist es zum Fall Gurlitt gekommen?

II. Der Gang der Ereignisse 1. Vorgeschichte – Die Familie Gurlitt Die Familie Gurlitt war in Dresden ansässig. Der Großvater von Hildebrand Gurlitt war der Landschaftsmaler Louis Gurlitt, der Vater war Kunsthistoriker, ein Bruder war Musikwissenschaftler und ein Cousin war Kunsthändler. Hildebrand Gurlitt wurde 1895 in Dresden geboren. Er studierte Kunstgeschichte in Dresden, Berlin und Frankfurt am Main. 1924 wurde er in Frankfurt zum Dr.  phil. promoviert. Von 1925 bis 1930 leitete Hildebrand Gurlitt das König-Albert-Museum in Zwickau. Er veranstaltete in dieser Zeit zahlreiche Ausstellungen und baute in dem Museum eine moderne Kunstsammlung avantgardistischer zeitgenössischer Maler auf. Nach seiner durch den Kampfbund für deutsche Kultur betriebenen Entlassung in Zwickau wurde Hildebrand Gurlitt Leiter des Kunstvereins in Hamburg. Sowohl die Entlassung in Zwickau 1930 als auch die in Hamburg 1933 wurde von nationalsozialistischen Kreisen auch vor dem Hintergrund seiner jüdischen Abstammung betrieben. Nach der Entlassung in Hamburg machte sich Hildebrand Gurlitt als Kunsthändler selbständig. Er war sehr erfolgreich und handelte neben international angesehener 144

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Kunst unter der Hand auch mit der in der nationalsozialistischen Zeit sogenannten „entarteten“ Kunst. Offenbar scheinen ihn seine guten Geschäftsbeziehungen zu mächtigen Hamburger Persönlichkeiten vor Verfolgung wegen der teilweise jüdischen Abstammung geschützt zu haben. 1942 wechselte Hildebrand Gurlitt von Hamburg nach Dresden. Die Beschlagnahme sogenannter „entarteter“ Kunst beruhte auf einem Gesetz von 1938. Zwischen 1938 und 1941 wurde diese beschlagnahmte Kunst im Inund Ausland verkauft. Hildebrand Gurlitt war einer von vier vom Reich offiziell bestimmten Kunsthändlern, die sich dieses Geschäft teilten. 1943 wurde er offiziell als einer der Haupteinkäufer für das geplante Hitlermuseum in Linz ernannt und beteiligte sich in dieser Funktion an dem nationalsozialistischen Kunstraub insbesondere in Frankreich. Zu diesem Kunstraub gehörte neben der Beschaffungsabteilung für die Kunstsammlung Göring und dem Sonderauftrag für das geplante Linzer Museum auch das Vorhaben, die napoleonische Beute aus dem Jahre 1806 zurückzuholen. Teilweise wurden in Frankreich beschlagnahmte Werke aber auch an den Kunsthandel in Paris abgegeben und waren deshalb im normalen Handel zu erstehen. Hildebrand Gurlitt blieb bis März 1945 in Dresden und floh von dort mit seiner Familie und einer erheblichen Zahl von Kunstwerken in den Raum Bamberg. Dort wurde er von der US-Armee interniert. Die von ihm auf Lastwagen mitgeführten Kunstwerke wurden von der amerikanischen Armee beschlagnahmt und Gurlitt zu wesentlichen Teilen im Jahre 1950 zurückgegeben. Gurlitt durchlief nach 1945 ein Entnazifizierungsverfahren und wurde von der Spruchkammer Bamberg-Land im Juli 1948 rehabilitiert, weil er seine jüdische Herkunft, seine fehlende Zugehörigkeit zu irgendeiner nationalsozialistischen Organisation sowie seinen Einsatz für die Kunst der Moderne geltend machen konnte. Anschließend wurde Hildebrand Gurlitt ab 1948 Leiter des Kunstvereins für die Rheinlande und Westfalen in Düsseldorf. Am 9.11.1956 verstarb Hildebrand Gurlitt an den Folgen eines Autounfalls in Düsseldorf. Die von Gurlitt angelegte Sammlung von Bildern wurde mit seinem Tode an seine Witwe vererbt. Im Jahre 1967 wurde der gesamte Nachlass im Rahmen eines weiteren Erbgangs an den gemeinsamen Sohn Cornelius (geb. 1932 in Hamburg) übertragen. Soweit die Vorgeschichte. 2. Zollkontrolle und Beschlagnahme Am 22.9.2010 kontrollierten deutsche Zollfahnder Cornelius Gurlitt im Zug von Zürich nach München. Er führte 9.000 Euro in bar bei sich, also einen Betrag unterhalb der meldepflichtigen Bargeldgrenze von 10.000 Euro. Dennoch wurde ein Verfahren wegen des Verdachts der Hinterziehung von Ein145

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fuhrumsatzsteuer gegen ihn eröffnet. Ein Anfangsverdacht wurde bejaht, weil ein Handeln knapp unterhalb der Grenze des rechtlich Erlaubten verdachts­ begründend wirken könne (!!). Im Rahmen dieses Verfahrens beantragte die  Staatsanwaltschaft einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss, der am 23.9.2011 durch das AG Augsburg erging. Dieser Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschluss war nach heute wohl anerkannter Auffassung außerordentlich dürftig und unschlüssig. Erst ein knappes halbes Jahr später, nämlich am 28.2.2012, wurde daraufhin die Wohnung von Cornelius Gurlitt in München durchsucht. Es wurden gemäß § 94 StPO insgesamt 1406 Gegenstände beschlagnahmt, darunter 1280 Bilder. Die Beschlagnahme wurde im November 2013 (also fast zwei Jahre später) der Öffentlichkeit bekannt, weil am 3.11.2013 in der Online-Ausgabe des Focus ein Bericht über einen „aufgetauchten“ und „geretteten“ Nazi-Schatz erschien. Am 7.4.2014 schloss Cornelius Gurlitt mit dem Freistaat Bayern und der Bundesrepublik Deutschland eine Vereinbarung, wonach er sich verpflichtete, den Fortgang der Prove­ nienzforschung zu gewährleisten und etwaige Raubkunst zurückzugeben.1 Am 6.5.2014 verstarb Cornelius Gurlitt in München. In einem kurz vor seinem Tod im Januar 2014 verfassten Testament hatte er als Erben für den gesamten Kunst-Nachlass die Stiftung „Kunstmuseum Bern“ eingesetzt. Nach Aussage des noch lebenden Cousins von Cornelius Gurlitt war entscheidendes Motiv für diese Erbeinsetzung die Empörung über die Beschlagnahme seiner Bilder. Im Zeitpunkt des Todes von Cornelius Gurlitt lagen die beschlagnahmten Bilder bereits mehr als zwei Jahre in der Verwahrung der Staatsanwaltschaft. Zum damaligen Zeitpunkt unterlagen gerade einmal acht Bilder  (!) dem Verdacht, Raubkunst zu sein. Mit dem Tod von Cornelius Gurlitt wurde das Strafverfahren eingestellt. Im März 2019 wurde ein Bild von Paul Signac als Raubkunst identifiziert und zurückgegeben. Es war das siebte Bild, bei dem sich der Verdacht auf Raubkunst bestätigt hat. 3. Erbe Aufgrund der testamentarischen Bestimmungen hat das Kunstmuseum Bern am 24.11.2014 die Erbschaft angenommen. Eine Woche später wurden alle Werke aus dem Nachlass von Cornelius Gurlitt ins Internet eingestellt. Allerdings erhob Ende November 2014 eine Cousine von Cornelius Gurlitt (die damals 86 Jahre alte Uta Werner) Anspruch auf das Erbe. Sie beantragte einen Erbschein beim zuständigen Nachlassgericht in München, letztlich ohne Erfolg. Inzwischen sind Teile der Sammlung Gurlitt 2017 in Bonn, in Bern und zuletzt 2018 in Berlin in Ausstellungen gezeigt worden. 1 Ausführlich dazu mit Wiedergabe des Textes der Vereinbarung Lenski, JZ 2014, 888. 146

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Der Fall Gurlitt – Raubkunst oder Kunstraub?

III. Das Verhalten der Staatsanwaltschaft Augsburg Lassen Sie mich kurz auf das Verhalten der Staatsanwaltschaft Augsburg eingehen. Das Verfahren gegen Cornelius Gurlitt wurde von Anfang an ausschließlich wegen des Verdachts der Hinterziehung von Einfuhrumsatzsteuer geführt. Für ein Zollvergehen spielt allerdings ein möglicher NS-Bezug von Bildern keinerlei Rolle. Zu Unrecht wird bis heute immer wieder behauptet, die Beschlagnahme sei wegen des Raubkunstverdachts erfolgt (der Besitz von Raubkunst wäre übrigens gar kein Straftatbestand gewesen, erst Recht nicht der Besitz von entarteter Kunst). Schon die Bejahung eines Anfangsverdachts erscheint dabei als geradezu abenteuerlich. In jedem Falle bleibt es völlig unverständlich, warum Jahre lang 1280 Bilder von Cornelius Gurlitt beschlagnahmt wurden und blieben, deren Bezug zu dem steuerrechtlichen Delikt nicht erkennbar ist. Selbst wenn man dies anders sehen wollte, wäre die Beschlagnahme nach ihrem Umfang und nach ihrer zeitlichen Dauer zweifellos unverhältnismäßig gewesen. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft später auf Delikte wie Hehlerei, Unterschlagung und Geldwäsche ausgedehnt wurden. Diese Erwägungen wird man wohl als abwegig bezeichnen dürfen. Die Tatsache, dass der erst Ende 2013 der Öffentlichkeit bekannt gewordenen Kunstfund im Privatbesitz von Cornelius Gurlitt eine sicherlich wichtige öffentliche Debatte über sogenannte Raubkunst ausgelöst hat, kann das konkrete Strafverfahren nicht rechtfertigen. Insgesamt erscheint das Verhalten der Staatsanwaltschaft Augsburg als unverständlich und rechtsstaatlich höchst kritikwürdig. Die im November 2013 vom Bund und vom Freistaat Bayern gegründete Task Force „Schwabinger Kunstfund“, die im Wege der Amtshilfe für die Staatsanwaltschaft tätig wurde, ist im Übrigen ohne Rechtsgrundlage gegründet worden (Basis war angeblich die Washingtoner Erklärung von 1998, die aber Privatpersonen gar nicht betrifft) und hat umfangreiche Untersuchungen zu möglicher entarteter Kunst und zu NS-Raubkunst veranlasst, die ohne jeden strafrechtlichen Bezug waren. Ihre Tätigkeit hat bis zu 40 Mitarbeiter umfasst und zwischen 2013 und 2018 Kosten in Höhe von 3.5 Millionen Euro produziert.

IV. Die rechtliche Kategorisierung der Bilder Lassen Sie mich nun zu der rechtlichen Kategorisierung der Bilder kommen. Zu den im Jahre 2012 beschlagnahmten 1280 Bildern kamen später in dem 147

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Haus von Cornelius Gurlitt in Salzburg noch weitere 238 Bilder hinzu, also 1518 Bilder. Für alle diese Bilder stellt sich die Frage nach der privatrechtlichen Zuordnung. Diese lässt sich nur klären, wenn man sieben verschiedene Kategorien von Bildern aus der Erbmasse trennt. 1. Die Bilder von Louis Gurlitt Die Erbmasse enthält nach den Feststellungen des Kunstmuseums Bern eine größere Zahl von Bildern des Landschaftsmalers Louis Gurlitt, des Urgroßvaters von Cornelius Gurlitt. Die Rechtslage an diesen Bildern ist eindeutig und unbestritten. Es handelt sich um Werke im Eigentum der Familie Gurlitt, die durch Erbgang Eigentum von Cornelius Gurlitt geworden waren. 2. Von Hildebrand Gurlitt nach 1945 erworbene Bilder Hildebrand Gurlitt war zeitlebens ein aktiver und erfolgreicher Kunsthändler und Sammler gewesen. Er hat unstreitig in seiner Sammlung auch Bilder gehabt, die nach 1945 ordnungsgemäß erworben worden waren. Auch deren Rechtslage ist eindeutig und unbestritten, sie waren sein Eigentum. 3. Von Hildebrand Gurlitt vor 1945 erworbene Bilder Eine erhebliche Zahl von Bildern hatte Hildebrand Gurlitt vor 1945 erworben. Darunter sind auch Bilder, die zu Marktpreisen und ohne eine Berührung mit der Raubkunstproblematik erworben worden waren. Auch für diese Bilder gilt, dass die Rechtslage eindeutig ist im Sinne eines Eigentums von Hildebrand Gurlitt. 4. „Entartete“ Kunst Soweit Bilder zwischen 1937 und 1941 aus Museen als „entartete“ Kunst2 entfernt und Hildebrand Gurlitt zum Verkauf übergeben wurden oder er solche Bilder selbst ankaufte, ist zunächst klarzustellen, dass es sich dabei rechtlich um eine vollkommen andere Situation als bei der sogenannten Raubkunst handelt.3 Denn die bereits 1937 einsetzende und mit einem Gesetz über die Einziehung von Erzeugnissen „entarteter“ Kunst vom 31.5.1938 gerechtfertigte Beschlagnahme solcher Kunstwerke betraf nur Bilder im Eigentum von damaligen Reichsangehörigen oder inländischen juristischen Personen. Durch 2 Vgl. dazu Kunze, Restitution entarteter Kunst, 2000. 3 So auch Heuer, NJW 1999, 2558; a.A. Müller-Katzenburg, NJW 1999, 2551. 148

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die Entfernung von entarteter Kunst aus deutschen Museen hat sich das Deutsche Reich also selbst bestohlen. Soweit diese Bilder nicht zerstört wurden, wurden sie in vielen Fällen ins Ausland verkauft. Nach 1945 haben die Alliierten im Falle der „entarteten“ Kunst im Gegensatz zum Problem der Raubkunst mögliche Restitutionsregelungen ausdrücklich abgelehnt. Auch der deutsche Bundesgesetzgeber hat solche Regelungen bis heute nicht erlassen. Dies kann rein rechtlich nur in der Weise verstanden werden, dass der Eigentumserwerb von Bildern der „entarteten“ Kunst bei ordnungsgemäßer vertraglicher Abwicklung rechtlich möglich war. Die Erwerber von Bildern „entarteter“ Kunst haben also ordnungsgemäßes Eigentum erworben. Es handelte sich um einen Akt staatlicher Zensur von Kunst, nicht um zivilrechtlich angreifbare Handlungen. Nach fachkundigen Hinweisen sollen sich im Nachlass von Cornelius Gurlitt circa 300 Werke „entarteter“ Kunst befunden haben. Die Berner Ausstellung enthielt eine erhebliche Zahl solcher Werke. 5. Raubkunst Als Raubkunst werden üblicherweise diejenigen Kunstwerke bezeichnet, die sich als verfolgungsbedingt entzogene Kulturgüter darstellen. Dieser Bereich erfasst insbesondere die Entziehung von Kunstwerken gegenüber Personen, die von den Nationalsozialisten aus rassischen, religiösen oder politischen Gründen verfolgt wurden. Raubkunst richtet sich also als verbrecherische Handlung gegen Personen und ist von Art und Inhalt der einzelnen Kunst­ werke vollkommen unabhängig. Insofern ist Raubkunst strikt von entarteter Kunst zu trennen. Abzutrennen ist ferner die sogenannte Beutekunst, die kriegsbedingt durch Besatzung eines fremden Landes im Krieg geraubt wird.4 Soweit allerdings Beutekunst etwa in Frankreich von Teilen der jüdischen Bevölkerung entzogen wurde, liegt sowohl ein Fall von Raubkunst als auch von Beutekunst vor. Der Begriff der Raubkunst erfasst nicht nur den gewaltsamen verfolgungsbedingten Entzug von Kunstwerken, sondern auch den Verkauf solcher Kunstwerke und damit die scheinbar freiwillige Aufgabe des Eigentums aus verfolgungsbedingten Gründen. Nach 1945 wurde die Nichtigkeit aller dieser Rechtsakte bezüglich der Raubkunst durch die alliierten Restitu­ tionsregelungen und später auch durch Regelungen des deutschen Rechts (zuletzt im Vermögensgesetz nach der Wiedervereinigung 1990) anerkannt. Nur bezüglich des Bereichs der sogenannten Raubkunst bestand also für den Nachlass von Cornelius Gurlitt echte Rechtsunsicherheit.

4 Vgl. dazu Schoen, Der rechtliche Status von Beutekunst, 2004. 149

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Nach den bisherigen Feststellungen betrifft dies im konkreten Fall von den circa 1500 Bildern sieben Fälle, in denen der Raubkunstverdacht eindeutig bestätigt worden ist. Es geht also um deutlich weniger als 1 % der Sammlung. 6. Mit Fremdgeld erworbene Kunst Nicht auszuschließen ist es, dass sich unter den Bildern auch solche vor 1945 erfolgten Erwerbungen von Hildebrand Gurlitt befanden, die dieser mit vom Deutschen Reich zur Verfügung gestellten Geldern erworben hatte. In diesem Falle wäre er wahrscheinlich als Kommissionär des Deutschen Reiches aufgetreten. Bei einer Einkaufskommission erwirbt allerdings der Kommissionär zunächst selbst Eigentum an der Kommissionsware und ist sodann verpflichtet, die Ware nach den §§ 929 ff. BGB an den Kommittenten zu übereignen. Dazu ist er nach § 384 Abs. 2 HGB schuldrechtlich verpflichtet. Die Verletzung dieser Pflicht würde einen Schadensersatzanspruch auslösen, nicht aber die Eigentumslage verändern. Die tatsächlichen Vorgänge vor 1945 sind insoweit ungeklärt, insbesondere das Vorliegen von Übertragungsakten, sodass Hildebrand Gurlitt insoweit in Einzelfällen nur noch Verwahrer der Bilder für den Eigentümer (also den Staat) gewesen wäre. Falls die angekaufte Kommissionsware ihrerseits Teil der Raubkunst gewesen wäre, wären wohl bereits der Kommissionsvertrag und ebenso das Ausführungsgeschäft nichtig gewesen. Unabhängig von den tatsächlichen Vorgängen lässt sich feststellen, dass auch insoweit einzelne Bilder im Nachlass enthalten sein können, an denen Hildebrand Gurlitt kein Eigentum besaß. Diese Bilder wären also rechtlich den Raubkunstfällen gleichzustellen. 7. Ungeklärte Provenienz Das praktisch wohl schwierigste Problem der Beurteilung der Kunstsammlung Gurlitt liegt nun freilich darin, dass offenbar bis heute eine gewisse Zahl der Bilder mit ungeklärter Provenienz vorhanden ist. Diese ungeklärten Fälle müssen rechtlich zunächst dem möglichen Bereich der Raubkunst zugeschlagen werden. 8. Zwischenergebnis Das führt mich zu folgender Bewertung: Die Bilder aus den Kategorien 1 bis 4 hätten Cornelius Gurlitt in jedem Fall sofort als sein völlig unbestrittenes Eigentum zurückgegeben werden müssen. Dagegen kann nicht eingewendet werden, dass die Provenienz aller 1500 Bilder zunächst unklar war. Die Aussonderung etwa der Louis Gurlitt-Bilder konnte der Taskforce „Schwabinger 150

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Kunst“ wohl kaum ein unüberwindbares Problem bereitet haben. Auch für die nach 1945 erworbenen Bilder soll es Unterlagen gegeben haben, die eine Feststellung erleichterten. Schließlich dürfte es auch aus der Kategorie der „entarteten“ Kunst Bilder geben, die aus deutschen Museen stammten und damit sicher nicht im Verdacht von Raubkunst standen. In allen diesen Fällen war und ist die Rechtslage nicht ernsthaft streitig. Warum diese Bilder mehr als zwei Jahre lang beschlagnahmt geblieben sind, bleibt unverständlich.

V. Die Eigentumslage bei Raubkunst 1. Erwerb vom Berechtigten Raubkunst als ein verfolgungsbedingter Entzug von Kulturgütern wird heute als menschenrechtswidrig eingestuft. Nach deutschem Recht waren daher Verträge über den Erwerb von Raubkunst sowohl gemäß § 138 Abs. 1 BGB sittenwidrig als auch gemäß § 134 BGB i.V.m. strafrechtlichen Normen (etwa Raub, Diebstahl, Nötigung, Erpressung, Betrug – je nach Einzelfall) nichtig. Eigentum vom Berechtigten an solchen Kulturgütern konnte daher weder bei verfolgungsbedingtem Entzug noch bei verfolgungsbedingter vertraglicher Abgabe erworben werden. 2. Gutgläubiger Erwerb Mit dem Entzug oder der durch verfolgungsbedingten Druck erfolgten Abgabe von Kulturgütern ist zugleich das Tatbestandsmerkmal des §  935 Abs.  1 BGB erfüllt, wonach die jeweiligen Sachen dem Eigentümer abhandengekommen waren. Dies schließt für alle weiteren rechtsgeschäftlichen Erwerbsvorgänge einen Eigentumserwerb aufgrund guten Glaubens gemäß §§ 932–934 BGB aus. 3. Erbgang Soweit sich im Nachlass von Hildebrand Gurlitt Sachen befanden, an denen er kein Eigentum besaß, konnte unstreitig auch durch die jeweiligen Erbgänge an die Witwe, den Sohn und das Kunstmuseum Bern kein Eigentum erworben werden. Der Erwerbsvorgang durch die Erbschaft ist ein gesetzlicher Erwerb, auf den Regeln des gutgläubigen Erwerbs keine Anwendung finden.

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4. Ersitzung Eigentum kann aber durch Ersitzung erworben werden, wenn der Besitzer die Sache mindestens zehn Jahre im Eigenbesitz hatte und bezüglich des Eigentumserwerbs gutgläubig war (§ 937 BGB). Er durfte also im Hinblick auf das fehlende Eigentum im Erwerbszeitpunkt weder gewusst haben, dass ihm das Eigentum nicht zusteht, noch grob fahrlässig gewesen sein. Für Hildebrand Gurlitt kann guter Glaube ausgeschlossen werden. Für seine Witwe und für den Sohn Cornelius ist dies unklar. Die Tatsache, dass nicht nur Hildebrand Gurlitt, sondern auch dessen Erben nach 1945 wiederholt behauptet haben, die Bilder seien 1945 in Dresden verbrannt, spricht eher gegen die Annahme von gutem Glauben. Damit würde Ersitzung ausscheiden. Zu bedenken bleibt freilich, dass im Streitfalle der Gegner des möglicherweise Ersitzenden dessen bösen Glauben beweisen müsste. Auch wenn man Ersitzung im konkreten Fall ablehnt, gilt es zu bedenken, dass der Gesetzgeber bei gestohlenen oder sonst abhanden gekommenen Sachen nach zehn Jahren die Chance auf Rechtsfrieden und Rechtsbewahrung einräumt. Diese Zehnjahresfrist ist bei der Bewertung der Verjährungsfristen nicht ohne Bedeutung. 5. Verjährung Große Schwierigkeiten bereitet nach deutschem Recht die Verjährung in solchen Fällen. Sowohl nach früherem Recht (bis 2001) als auch heute verjähren gemäß § 194 Abs. 1 BGB alle Ansprüche mit Ausnahme einiger familienrechtlicher Verhältnisse und grundbuchrechtlicher Positionen. Dies gilt nach § 197 Abs. 1 Nr. 1 BGB ausdrücklich auch für den Herausgabeanspruch aus Eigentum, der nach 30  Jahren verjährt.5 Die frühere Unsicherheit in der zuletzt genannten Frage6 ist vom Gesetzeswortlaut des heutigen §  197 Abs.  1 BGB beseitigt und die Rechtslage damit ausdrücklich klargestellt. Das hat freilich die unangenehme Konsequenz, dass nach Ablauf von 30 Jahren ein Eigentümer zwar nicht seine abstrakte Eigentumsposition verliert, aber aus dieser Eigentumsposition keinerlei Ansprüche mehr herleiten kann, soweit sich der Besitzer auf Verjährung beruft. Dem Eigentümer bleibt also ein nudum ius, ein Recht ohne Durchsetzungschance. Deshalb ist in der Literatur verschiedentlich geltend gemacht worden, diese Rechtslage könne nicht anerkannt werden.7 Neben angedeuteten verfassungsrechtlichen Bedenken wird vor al5 Andere Herausgabeansprüche (§§ 861, 1007 BGB) würden gemäß § 199 Abs. 4 BGB bereits nach 10 Jahren verjährt sein. 6 Vgl. im Einzelnen Remien, AcP 201, 730, 735 ff. m.w.N. 7 Statt vieler Armbrüster, FS für H. P. Westermann, 2008, S. 53 ff.; Remien, AcP 201, 730 ff. 152

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lem de lege ferenda darauf hingewiesen, der Gesetzgeber sollte die Schaffung eines nudum ius vermeiden. Dabei wird freilich übersehen, dass der Gesetzgeber nicht nur in § 197 Abs. 1 BGB, sondern auch an anderen Stellen eine solche Rechtslage bewusst in Kauf nimmt, um aus besonderen Gründen Rechtsklarheit herzustellen, so etwa im Fall des §  241 a BGB, also bei der Zusendung unbestellter Lieferungen. Insgesamt mag die Rechtslage de lege ferenda (also rechtspolitisch) zu Zweifeln Anlass geben, de lege lata (also nach geltendem Recht) ist sie eindeutig und in gewisser Weise auch stimmig. An einer gestohlenen oder in sonstiger Weise abhanden gekommenen Sache kann man sofort kein Eigentum erwerben (§ 935 BGB), nach zehn Jahren Eigenbesitz kann ein Gutgläubiger Eigentum erwerben (§ 937 BGB), nach 30 Jahren kann selbst der Bösgläubige trotz fehlenden Eigentums einen Herausgabeanspruch abwehren, wenn er Verjährung geltend macht, was er nicht muss und worauf im Falle Gurlitt der Erbe Cornelius kurz vor seinem Tode ausdrücklich verzichtet hat. Hinter diesem abgestuften Konzept stehen Gedanken des Verkehrsschutzes und des Rechtsfriedens sowie der Rechtssicherheit. 6. Vermutung bei ungeklärter Provenienz Wenig Beachtung gefunden hat im Gurlitt-Verfahren die Tatsache, dass Cornelius Gurlitt Besitzer der Bilder war, dem damit die Vermutung des § 1006 BGB zugutekam. Diese Vermutung ist unstreitig eine Beweislastregel und bedeutet, dass gemäß § 1006 Abs. 1 Satz 1 BGB jeder, der von Cornelius Gurlitt die Bilder herausverlangt, sein Eigentum nachweisen muss. Dies gilt zwar gemäß § 1006 Abs. 1 Satz 2 nicht für einen früheren Besitzer, dem die Sache gestohlen oder sonst abhandengekommen ist. Dieser müsste dann aber den Diebstahl bzw. das sonstige Abhandenkommen nachweisen. Für alle Bilder mit auf Dauer ungeklärter Provenienz konnte sich also Cornelius Gurlitt auf diese Vermutung stützen, ohne dass ihm Ansprüche aus einem möglichen (aber nicht bewiesenen) früheren Abhandenkommen der Bilder entgegengehalten werden konnte. In der Presse wurde dagegen fast durchgehend der Eindruck erweckt, im Falle Gurlitt gelte die Regel „in dubio contra reum“. Kulturstaatsministerin Monika Grütters hat das in die Worte gefasst, im Zweifel müsse man sich für einen Fall von Raubkunst aussprechen. 7. Restitutionsgesetze und Washingtoner Erklärung Bereits im Jahre 1947 erging ein Gesetz Nr. 59 der Militärregierung zur Rückerstattung feststellbarer Vermögensgegenstände an Opfer der nationalsozialis153

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tischen Unterdrückungsmaßnahmen.8 Da die amerikanische Besatzungsmacht die Bilder von Hildebrand Gurlitt im Jahre 1945 beschlagnahmt hatte und im Jahre 1950 im Wesentlichen zurückgegeben hat, kann ein Anspruch auf der Basis alliierter Gesetze ausgeschlossen werden. Später hat der deutsche Gesetzgeber verschiedene Restitutionsgesetze erlassen, so insbesondere das Bundesentschädigungsgesetz vom 18.9.1953 und das Bundesrückerstattungsgesetz vom 19.7.1957.  Im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung ist mit dem Vermögensgesetz vom 23.9.1990 noch einmal ein solches Gesetz ergangen, das in seinem § 1 Abs. 6 vorgesehen hatte, dass das Vermögensgesetz in entsprechender Anwendung auf die Einziehung von Vermögen unter nationalsozialistischer Ideologie anwendbar sei. Alle diese Restitutionsgesetze sahen als Erfordernis die Einreichung eines Antrags und die Wahrung einer bestimmten Frist vor. Diese Fristen sind im Wesentlichen bis zum 1.4.1958 und für das Vermögensgesetz bis zum 30.6.1993 bzw. in Sonderfällen bis zum 8.9.2005 abgelaufen. Schon aus diesem Grund sind Ansprüche nach deutschen Restitutionsgesetzen heute nicht mehr denkbar. Schließlich existiert mit Datum vom 3.12.1998 die sogenannte Washingtoner Erklärung, in der sich die Bundesrepublik Deutschland sowie die Bundesländer verpflichtet haben, „die nötigen Schritte zu unternehmen, um eine gerechte und faire Lösung zu finden“. In einer gemeinsamen Erklärung von Bund, Ländern und Kommunen vom Dezember 1999 wurde das bekräftigt. Unabhängig davon, dass diese Washingtoner Erklärung nicht als Gesetzesrecht in das Recht der Bundesrepublik Deutschland übernommen wurde, ist der Verpflichtete der Erklärung unstreitig nur die öffentliche Hand, nicht eine Privatperson. Auch aus der Washingtoner Erklärung ergeben sich also keine Ansprüche gegen Cornelius Gurlitt. Darüber hinaus kann aus diesem Grund die Washingtoner Erklärung keinesfalls die Grundlage für Ermittlungen der Task Force gegen eine Privatperson sein, was allerdings der bayerische Justizminister behauptet hatte. Das Kulturgüterrückgabegesetz vom 18.5.2007 (BGBl.  I S.  757) hat an der dinglichen Rechtslage keine Veränderungen vorgenommen. 8. Sinn und Zweck der Gesetzeslage Die Tatsache, dass sich die geschützte Rechtslage des Cornelius Gurlitt teilweise auf den reinen Zeitablauf und damit auf die Möglichkeit, die Einrede der Verjährung zu erheben, stützen konnte, hat zu vielfältigen Spekulationen An8 Zum alliierten Rückerstattungsrecht vgl. insbes. Wasmuth, NJW 2014, 747. 154

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lass gegeben. Nahe liegt vor allem die Frage, warum der deutsche Gesetzgeber bei der Reform des Verjährungsrechts im Jahre 2001 in voller Kenntnis der Problematik § 197 Abs. 1 Nr. 1 BGB geschaffen hat. Schon damals war klar gewesen, dass sich auf diese Weise auch ein Dieb, der seine Beute 30  Jahre versteckt hält, auf Verjährung berufen konnte. Ebenfalls bereits bekannt war im Jahre 2001, dass die Entscheidung des Gesetzgebers Auswirkungen auf den Bereich der Raubkunst haben könne. Dem wurde nicht selten großes Unverständnis entgegengebracht. Wie gut der Gesetzgeber dennoch beraten war, durch die 30-Jahres-Frist die Möglichkeit eines absoluten Schlussstrichs zu schaffen, zeigen aber folgende Überlegungen: Nach deutschem Recht kann (wie gezeigt) das Eigentum an einer einmal gestohlenen oder sonst abhandengekommenen Sache auf Ewigkeit weder vom Berechtigten noch gutgläubig erworben werden. Eine Ersitzung setzt langjährigen guten Glauben des Besitzers an seine Eigentumsposition voraus, scheidet also für den Täter generell aus und ist auch dann ausgeschlossen, wenn das Entziehungsereignis von solcher Bekanntheit ist, dass kein Dritter gutgläubigen Eigenbesitz geltend machen kann, zumal hierbei bekanntlich bereits grobe Fahrlässigkeit schadet. Gäbe es also § 197 Abs. 1 Nr. 1 BGB und damit den Verjährungstatbestand nicht, so wäre es nicht auszuschließen, dass etwa in einem Einzelfall gegenüber der in Paris zwischen 1941 und 1944 geraubten Kunst der Gegeneinwand denkbar wäre, der streitige Gegenstand sei zwischen 1794 und 1814 von Napoleonischen Truppen aus Deutschland entführt worden. Tatsächlich war insbesondere das Rheinland von 1794 bis 1814 von den Napoleonischen Truppen besetzt. In diesem Zeitraum sind in Städten wie Köln und Aachen in großem Umfang wertvolle und berühmte Kunstschätze nach Paris geschafft worden. Lassen Sie mich zur Verdeutlichung der Rechtslage noch ein weiteres berühmtes Kölner Beispiel anführen. Der im 13. Jahrhundert entstandene kunstvolle Schrein im Kölner Dom, der (angeblich) die Gebeine der Heiligen Drei Könige enthält, war an seiner Vorderseite mit dem weltberühmten Ptolemäerkameo aus dem Jahre 287 v. Chr. verziert. Dieser Kameo ist bekanntlich im Jahre 1574 gestohlen worden und kurze Zeit später in Wien wieder aufgetaucht. Bis heute befindet er sich seither im Kunsthistorischen Museum in Wien und wurde im Herbst 2014 erstmals nach Köln zur großen Ausstellung „Caspar Melchior Balthasar“ ausgeliehen. Ohne Verjährungsregelung könnte auch heute noch von Kölner Seite geltend gemacht werden, der Kameo sei gemäß § 985 BGB herauszugeben. Selbstverständlich würde dies sogleich die Folgefrage auslösen, auf welchem Weg der damalige Kölner Erzbischof den Kameo erworben hatte und wer in Wahrheit der ursprüngliche Eigentümer war. 155

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Die Beispiele mögen zur Verdeutlichung genügen, was es bedeuten würde, wenn Eigentumsherausgabeansprüche auf ewige Zeiten fortbestehen könnten.9 Dem kann auch nicht ernstlich entgegengehalten werden, man könnte eine Ausnahme zu § 197 Abs. 1 Nr. 1 BGB auf Raubkunst beschränken. Denn die Vergangenheit und gerade auch das 20. Jahrhundert sind voll von Beispielen der Entziehung von Kulturgütern aus rassischen, religiösen oder politischen Gründen weit über die Zeit zwischen 1933 und 1945 hinaus. Eine Norm, die allerdings § 197 Abs. 1 Nr. 1 BGB nur auf Vorfälle im Zeitraum von 1933 bis 1945 durch NS-Behörden abbedingt, erscheint verfassungsrechtlich kaum denkbar. Jenseits solcher Bedenken würde eine solche Norm möglicherweise Hildebrand Gurlitt gar nicht erfassen, der als jüdischer Bürger und (ab 1933) als selbständiger Kunsthändler durchgehend Geschäfte auf eigene Rechnung gemacht hat. 9. Ergebnis Im Falle der Gurlitt-Bilder war die Rechtslage eindeutig. Der gesamte Bestand der Bilder befand sich entweder im Eigentum von Cornelius Gurlitt oder bezüglich denkbarer abweichender Eigentumsrechte waren Herausgabeansprüche verjährt. Damit waren Ansprüche von dritter Seite generell ausgeschlossen. Die Bilder hatten auch keinen Bezugspunkt zum Vorwurf der angeblich entzogenen Einfuhrumsatzsteuer. Die Beschlagnahme der Bilder war rechtswidrig und nach Umfang und Zeitablauf unverhältnismäßig.

VI. Abweichende Auffassungen zur Rechtslage Angesichts der Eindeutigkeit der Rechtslage stellt man sich verwundert die Frage, aus welchen Gründen in den vergangenen Jahren eine so kontroverse Diskussion über die Eigentumslage an den Bildern geführt wurde. Dabei darf allerdings nicht verkannt werden, dass die Diskussion zu erheblichen Teilen in Talkshows und in den Tageszeitungen ohne sachgerechte juristische Bewertung geführt wurde. 1. Hemmung der Verjährung Verschiedene Überlegungen, die Verjährung des Herausgabeanspruchs zu verhindern, beziehen sich auf den Tatbestand der Hemmung der Verjährung, 9 Vgl. auch die Diskussion über in Russland befindliche deutsche Kulturgüter: Schoen, NJW 2001, 537; Dolzer, NJW 2000, 560. 156

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vor allem wegen höherer Gewalt. Nun meint höhere Gewalt Situationen, in denen eine Rechtsdurchsetzung ausgeschlossen ist (Stillstand der Rechtspflege, Kriegsereignisse, Naturkatastrophen). Nicht hierher gehören Unkenntnis von Tatsachen oder Rechtsunkenntnis sowie Beweisschwierigkeiten.10 Von einer Verhinderung der Rechtsverfolgung für Gläubiger durch höhere Gewalt kann in der Bundesrepublik Deutschland seit 1949 sicherlich nicht mehr ausgegangen werden. 2. Unterbrechung der Verjährung durch die staatsanwaltschaftliche Beschlagnahme Überlegt worden ist ferner, ob die Beschlagnahme durch die Staatsanwaltschaft den Besitz von Cornelius Gurlitt an den Bildern beendet hat und damit zu einer Unterbrechung der Verjährung führt. Dazu regelt § 198 BGB, dass bei dinglichen Ansprüchen der Vorbesitz eines Dritten nur dann relevant ist, wenn der derzeitige Besitzer Rechtsnachfolger wäre. Das ist im Verhältnis von Staatsanwaltschaft und Cornelius Gurlitt sicher nicht zu bejahen. Jedoch kann eine solche Unterbrechung nur dann in Betracht kommen, wenn Cornelius Gurlitt durch die Beschlagnahme seinerseits seinen Besitz verloren hat. Dies wäre zu verneinen, wenn während des Zeitraums der Beschlagnahme die Staatsanwaltschaft durch ihre Inbesitznahme zugleich dem Cornelius Gurlitt den Besitz gemittelt hätte. Dazu ist bedeutsam, dass durch die Beschlagnahme ein öffentlich-rechtliches Verwahrungsverhältnis entsteht, aufgrund dessen die Staatsanwaltschaft dem jeweils letzten unmittelbaren Besitzer zwangsläufig den Besitz mittelt.11 Durch die Beschlagnahme von Seiten der Staatsanwaltschaft ist also die Verjährung nicht unterbrochen worden. 3. Unzulässige Einrede der Verjährung Schließlich wurde verschiedentlich geltend gemacht, die Erhebung der Einrede der Verjährung könne eine treuwidrige und damit unzulässige Rechtsausübung sein. Dabei ist freilich zu beachten, dass die Treuwidrigkeit gerade vom Schuldner ausgehen muss. Ihn müsste der Vorwurf treffen, dass er durch sein Verhalten das rechtzeitige Geltendmachen des Anspruchs vereitelt hat. Solche Fälle sind denkbar, aber weitgehend von § 203 BGB erfasst.12 Der vorliegende 10 Vgl. BGH, NJW 1975, 1466; Deppenkemper in Prütting/Wegen/Weinreich, BGB, 9. Aufl. 2014, § 206 Rz. 2. 11 BGH, NJW 1993, 935, 936; BGH, NJW 1954, 1942, 1943; Magnus/Wais, NJW 2014, 1270, 1275. 12 Mansel in Jauernig, BGB, 15. Aufl. 2014, § 194 Rz. 8; Deppenkemper in Prütting/ Wegen/Weinreich, BGB, 9. Aufl. 2014, § 194 Rz. 11. 157

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Fall ist aber dadurch gekennzeichnet, dass Cornelius Gurlitt gar nichts gemacht hat. Er hat lediglich geschwiegen. Das ist in keinem Fall ein Tatbestand, der sich unter die treuwidrige Vereitelung der Rechtsdurchsetzung subsumieren ließe. 4. Weitere Erwägungen Nicht näher zu diskutieren sind hier Erwägungen de lege ferenda, die häufig angestellt wurden, so insbesondere der von Bayern eingebrachte Gesetzentwurf des Bundesrats zur rückwirkenden Abänderung des Verjährungsrechts, der wohl verfassungsrechtlich unhaltbar sein dürfte und um den es still geworden ist.13 Seit Sommer 2017 ist er nicht mehr existent. Abwegig ist wohl auch die in einer Dissertation aufgestellte Behauptung, § 197 BGB selbst sei verfassungswidrig. Dabei werden insbesondere der Gesetzeszweck und die Bedeutung einer 30-Jahres-Frist für die Gesamtrechtsordnung verkannt.

VII. Ergebnis 1. Der Fall Gurlitt ist ein Musterbeispiel für die Inszenierung eines Medien­ spektakels, allerdings ausgelöst durch ein unverständliches Handeln der Staatsanwaltschaft Augsburg. 2. Die moralische Dimension des Falles ist durch die schillernde Persönlichkeit von Hildebrand Gurlitt, der zugleich Täter und Opfer der NS-Geschehnisse war, schwer zu fassen. Jedenfalls Cornelius Gurlitt ist allein Opfer der Ereignisse geworden. 3. Die Zahl der echten Raubkunstfälle im Nachlass Gurlitt scheint sich im Bereich von unter 1 % der Bilder zu bewegen. Die noch heute benutzten Formulierungen vom „Nazi-Schatz“ und vom NS-Kunstraub sind eine Verleumdung. Die weitere Abwicklung ist durch die Vereinbarung zwischen Cornelius Gurlitt und dem Freistaat Bayern sowie der Bundesrepublik Deutschland vom 7.4.2014 in rechtsstaatlich und ethisch einwandfreier Weise gelöst. 4. In dem Buch von Maurice Philip Remy aus dem Jahr 2017 wird der Vorwurf erhoben, dass die Pressekampagne gegen die Gurlitt-Bilder vom Baye­ rischen Justizministerium bewusst gesteuert wurde, um von eigenen Versäumnissen und Fehlern abzulenken und eventuell drohende Amtshaftungsansprüche abzuwehren. Cornelius Gurlitt selbst wurde, so legt es 13 Überzeugend dazu Finkenauer, JZ 2014, 479. 158

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Remy nahe, durch die Ermittlungen der Justizbehörden in den Tod getrieben. An diesen Spekulationen möchte ich mich nicht beteiligen, kann aber nicht umhin zuzugeben, dass solche Vorwürfe eine gewisse Plausibilität in sich tragen. 5. Jenseits des konkreten Falles ist an dem abgestuften System des deutschen Rechts zwischen gutgläubigem Erwerb (Rechtserwerb ohne Frist), Ersitzung (Rechtserwerb nach zehn Jahren) und Verjährung auch von dinglichen Herausgabeansprüchen (Rechtserwerb faktisch nach 30 Jahren) festzuhalten.

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Kunst im Fokus des Strafrechts Inhaltsübersicht

I. Einführung

III. Schutzbereich der Kunstfreiheit

II. Kunst im Sinne des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG 1. Materialer Kunstbegriff 2. Formaler Kunstbegriff 3. Offener Kunstbegriff 4. Weitere Kriterien 5. Keine Kunst? a) Heatball-Aktion b) Rauchen als Theaterstück

IV. Schranken der Kunstfreiheit V. Kollision mit dem Strafrecht 1. Allgemeines Persönlichkeitsrecht (§ 185 StGB) 2. Eigentum (§ 303 StGB) 3. Tierschutz (§ 20a GG) VI. Zusammenfassung

I. Einführung Das Thema „Kunst und Strafrecht“ ist in den vergangenen Jahren sehr aktuell geworden. So hat Uwe Scheffler, ein Kollege aus Frankfurt/Oder, eine gleich­ namige Wanderausstellung1 konzipiert, die im Sommer 2018 auch an der Universität zu Köln zu sehen war und weithin Beachtung fand. Im Grunde genommen ist das Thema aber ein juristischer „Dauerbrenner“.2 Der Begriff „Kunst“ bezeichnet – ganz allgemein, im Gegensatz zur Natur – ein menschliches Kulturprodukt. Unter Kunst werden heute vor allem die schönen Künste mit ihren vielen Ausdrucksformen verstanden, die beständig erweitert werden. Hierzu gehören insbesondere: – Bildende Kunst (Malerei, Grafik, Bildhauerei, Architektur, Kunstgewerbe, Gebrauchskunst, Kunsthandwerk, Installation); – Musik (Komposition, Vokal- und Instrumentalmusik); – Literatur (Epik, Dramatik, Lyrik, Essayistik); – Darstellende Kunst (Theater, Tanz);

1 Umfangreiche Informationen unter http://www.kunstundstrafrecht.de. 2 Siehe nur Zabel, Die Kunst des Strafrechts, BRJ 2018, 74. 161

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– Medienkunst (Film, Video, Holografie, Internet, Computer, Mobiltelefonie, Spiele); – Aktionskunst (Happening, Fluxus, Performance, Flashmob); – Objektkunst. Allerdings kann die Kunst auch in die Rechte Anderer und der Allgemeinheit eingreifen und damit strafrechtliche Relevanz erlangen. Erinnert sei nur an den „Fall Böhmermann“.3 Der Satiriker und Fernsehmoderator Jan Böhmermann hatte bekanntlich am 31.3.2016 im Fernsehsender ZDFneo in der satirischen Late-Night-Show Neo Magazin Royale ein Gedicht vorgetragen, das sich mit dem türkischen Staatspräsidenten Erdoğan befasste. Bereits der Titel, „Schmähkritik“, ließ aufhorchen – und der Text löste, wie sich Böhmermann später mokierte, „fast den 3.  Weltkrieg“ aus.4 Das Strafverfahren, das nach mehreren Strafanzeigen und einem Strafantrag Erdoğans eingeleitet worden war, wurde schließlich von der Staatsanwaltschaft Mainz am 4.10.2016 eingestellt. Die Beschwerde Erdoğans gegen die Einstellung wurde kurze Zeit später, am 14.10.2016, von der Generalstaatsanwaltschaft Koblenz als unbegründet zurückgewiesen. Insbesondere die sog. engagierte Kunst, die politisch und gesellschaftlich Wirkung entfalten soll, sich gegen das Etablierte auflehnt, ist beständig in Gefahr, Gesetze zu brechen, da die Provokation und das Operieren an den Grenzen der Strafbarkeit gerade ihr Wesen ausmacht. Bestimmte Strafvorschriften gelten als „kunstgeneigt“: Beleidigung (§ 185 StGB), Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen (§  166 StGB), Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole (§ 90a StGB), Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (§  86a StGB), Volksverhetzung (§ 130 StGB), Gewaltdarstellung (§ 131 StGB), Verbreitung pornographischer Schriften (§ 184 StGB), Tierquälerei (§ 17 TierSchG) und Sachbeschädigung (§ 303 StGB). Dass das Strafrecht schnell ins Spiel kommen kann, überrascht nicht, da es den Schutz von Individual- und Allgemeinrechtsgütern bezweckt. Jedenfalls besonders sozialschädliche Eingriffe in Rechtsgüter müssen unter Strafe stehen – sonst kann das Strafrecht den gesellschaftlichen Frieden nicht wahren. So soll

3 Siehe https://www.ndr.de/kultur/Der-Fall-Boehmermann-eine-Chronologie,boeh​ mermann212.htm. 4 https://www.spiegel.de/kultur/tv/jan-boehmermann-das-sind-die-fakten-derstaatsaffaere-a-1086571.html. 162

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niemand unter dem Deckmantel der Kunst andere straflos beleidigen, Hassbotschaften verbreiten oder Sachen beschädigen dürfen. Um den Künstler und seine Werke zu schützen, ist in Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG die Kunstfreiheit verankert. Die Besonderheit besteht hierbei darin, dass sie keinem Gesetzesvorbehalt unterliegt. Demgegenüber steht die in Art.  5 Abs.  1 GG garantierte Meinungs- und Pressefreiheit unter dem Schrankenvorbehalt des Art. 5 Abs. 2 GG: „Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre“. Darf Kunst also – frei nach Kurt Tucholsky – alles?

II. Kunst im Sinne des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG Was unter Kunst im Sinne des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG zu verstehen und damit verfassungsrechtlich geschützt ist, ist  – wie könnte es unter Juristen anders sein – umstritten. Der Streit geht so weit, dass sogar ein Definitionsverbot gefordert wird, um den Staat daran zu hindern, der Bevölkerung seine Vorstellungen von Kunst aufzuzwingen.5 Das überzeugt aber nicht. Vielmehr ist von einem Definitionsgebot auszugehen, da es die verfassungsrechtliche Verbürgung der Kunstfreiheit gerade gebietet, bei der konkreten Rechtsanwendung den Schutzbereich zu bestimmen.6 1. Materialer Kunstbegriff Im Jahr 1971 versuchte sich das Bundesverfassungsgericht in der berühmten Mephisto-Entscheidung7 erstmals an einer Kunstdefinition. Hierbei ging es um den Roman „Mephisto“ von Klaus Mann, der erstmals im Jahre 1936 im Exil erschienen war. In dem Roman wird der Aufstieg des Schauspielers Hendrik Höfgen geschildert, der alle ethischen Bindungen abstreift, um im Pakt mit den nationalsozialistischen Machthabern Karriere zu machen. Als Vorbild diente Klaus Mann der Schauspieler Gustav Gründgens (*1899, †1963). Die Verfassungsbeschwerde richtete sich gegen das nach dem Tod von Gründgens durch seinen Adoptivsohn und Alleinerben erwirkte Verbot, das Buch zu vervielfältigen, zu vertreiben und zu veröffentlichen.

5 Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, 1967, S. 214 ff. 6 BVerfGE 75, 369, 377 – Strauß-Karikatur. 7 BVerfGE 30, 173 ff. – Mephisto. 163

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Das Bundesverfassungsgericht vertrat den sog. „materialen Kunstbegriff “: „Das Wesentliche der künstlerischen Betätigung ist die freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden. Alle künstlerische Tätigkeit ist ein Ineinander von bewußten und unbewußten Vorgängen, die rational nicht aufzulösen sind. Beim künstlerischen Schaffen wirken Intuition, Phantasie und Kunstverstand zusammen; es ist primär nicht Mitteilung, sondern Ausdruck, und zwar unmittelbarster Ausdruck der individuellen Persönlichkeit des Künstlers.“8 Dieser Kunstbegriff wurde dahingehend kritisiert, er bringe zwar die Unabgeschlossenheit der Kunst zum Ausdruck, sei aber zu unpräzise.9 Tatsächlich wirkt der materiale Kunstbegriff konturlos, da danach letztlich nahezu alles, was ein Mensch im Wege der schöpferischen Gestaltung erschafft, als Kunst zu qualifizieren wäre! 2. Formaler Kunstbegriff Im Jahr 1984 verwendete das Bundesverfassungsgericht in seiner nicht minder berühmten Entscheidung „Anachronistischer Zug“10 einen weiteren Kunstbegriff. In dem Fall ging es um ein 1980 aufgeführtes politisches Straßentheater, das auf dem 1947 entstandenen Gedicht von Bertolt Brecht „Der Anachronistische Zug oder Freiheit und Democracy“ basierte. Bei dem Anachronistischen Zug wurde der damalige Bayerische Ministerpräsident und Kanzlerkandidat, Franz Josef Strauß dargestellt – aus seiner Sicht wenig schmeichelhaft. Das Straßentheater lief wie folgt ab: Die Veranstalter bildeten einen Straßenzug. Ihm folgten u.a.: ein Kübelwagen mit einem „General“; ein Militärlaster mit einer Rakete und einer Militärkapelle; drei schwarze Limousinen (Kennzeichen SIE-MENS, FLI-CK, THYS-SEN); ein Wagen mit „Mitgliedern des Volksgerichtshofs“; ein Wagen mit schwarz uniformierten Angehörigen eines Sicherheitsdienstes. Im letzten Wagen, dem „Plagenwagen“, befanden sich Puppen, die Unterdrückung, Aussatz, Betrug, Dummheit, Mord und Raub symbolisierten und mit Masken von Nazigrößen versehen waren. Im Plagenwagen fuhr ein Darsteller mit, der eine weiße Gesichtsmaske mit den Zügen von Franz Josef Strauß trug. Während des Zuges wurde das Brecht-Gedicht rezitiert. Bei Nennung der jeweiligen Plage erhob diese sich und wurde von dem Darsteller von Strauß auf ihren Platz gedrückt. Kurz vor Schluss des Ge 8 BVerfGE 30, 173, 189 – Mephisto. 9 Kempen in BeckOK Grundgesetz, 41. Edition 15.5.2019, Art. 5 Rz. 161 m.w.N. 10 BVerfGE 67, 213 ff. – Anachronistischer Zug. 164

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dichts erhoben sich alle sechs Puppen und verstellten den Blick auf den Kanzlerkandidaten, so dass nur das von ihm hochgehaltene Schild „Freiheit und Democracy“ sichtbar blieb. Das Amtsgericht Kempten hatte diesen Sachverhalt als Beleidigung bewertet und die Veranstalter und den Darsteller von Strauß verurteilt. Das Bayerische Oberste Landesgericht verwarf die hiergegen gerichtete Revision als „offensichtlich unbegründet“. Das Bundesverfassungsgericht ging in seiner Entscheidung auch auf den sog. „formalen“ Kunstbegriff ein: Das Wesentliche eines Kunstwerkes könne darin zu sehen sein, „daß bei formaler, typologischer Betrachtung die Gattungsanforderungen eines bestimmten Werktyps erfüllt sind“, etwa „des Malens, Bildhauens, Dichtens, Theaterspielens usw.“11 Dieser Kunstbegriff stieß allerdings ebenfalls auf grundsätzliche Kritik: Er sei einerseits statisch und zu eng, da danach Fortentwicklungen und neue Erscheinungsformen, die bislang noch keinem Werktyp zuzuordnen sind, von der Kunstfreiheit nicht umfasst wären.12 Andererseits erscheint der formale Kunstbegriff auch zu weit, da ihm alles unterfällt, was einen etablierten Werktyp erfüllt. 3. Offener Kunstbegriff In der Entscheidung zum anachronistischen Zug führte das Bundesver­ fassungsgericht schließlich noch einen dritten Kunstbegriff auf, den sog. „offenen“. Dieser erblickt „das kennzeichnende Merkmal einer künstlerischen Äußerung darin  […], daß es wegen der Mannigfaltigkeit ihres Aussagegehalts möglich ist, der Darstellung im Wege einer fortgesetzten Interpretation immer weiterreichende Bedeutungen zu entnehmen, so daß sich eine praktisch unerschöpfliche, vielstufige Informationsvermittlung ergibt“.13 Die Schwäche dieser Definition, nach der Kunst durch einen schöpferischen Prozess gekennzeichnet ist, dessen Ergebnis vielfältige Interpretationsmöglichkeiten zulässt, besteht ersichtlich darin, dass er eine gewisse Qualität einfordert.14 Es überzeugt jedoch nicht, dass Trivialliteratur oder anspruchslose Fernsehproduktionen generell nicht dem Schutz der Kunstfreiheit unterfallen sollen.

11 BVerfGE 67, 213, 226 f. – Anachronistischer Zug. 12 Siehe nur Henschel, NJW 1990, 1937, 1939. 13 BVerfGE 81, 278, 291 ff. – Bundesflagge. 14 Henschel, NJW 1990, 1937, 1939. 165

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4. Weitere Kriterien Den „anachronistischen Zug“ subsumierte das Bundesverfassungsgericht unter alle drei Kunstbegriffe, so dass im Ergebnis offen bleiben konnte, welcher Kunstbegriff den Vorzug verdient. Diese Frage ist bis heute nicht geklärt – vielmehr betont das Gericht immer wieder, dass es schwierig sei, Kunst „abschließend zu definieren“,15 oder spricht gar von der „Unmöglichkeit, Kunst generell zu definieren“.16 Deshalb wendet das Bundesverfassungsgericht alle drei Kunstbegriffe nebeneinander an. Dies ist richtig, zumal die Definitionsansätze in Anbetracht ihrer Schwächen die Vielgestaltigkeit der künstlerischen Betätigung nicht abschließend erfassen können. Es ist daher im Wege einer Gesamtbetrachtung mit sämtlichen Kunstbegriffen zu operieren und zu prüfen, ob im Einzelfall hinreichende Anhaltspunkte dafür bestehen, den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 S. 1 zu eröffnen. In Zweifelsfällen empfiehlt es sich, weitere Kriterien heranzuziehen. So ist zu berücksichtigen, dass die Kunstfreiheit in weitem Umfang gewährleistet ist.17 Diesbezüglich von der Regel „in dubio pro arte“ zu sprechen, wird im verfassungsrechtlichen Schrifttum im Hinblick auf die Systematik der Freiheitsgrundrechte kritisiert.18 Aus dem Blickwinkel des Strafrechts ist anzumerken, dass die berühmte Regel „in dubio pro reo“ keine Beweisregel, sondern eine Entscheidungsregel darstellt,19 die sich lediglich auf das Vorliegen der tatsächlichen Grundlagen erstreckt, nicht aber auf rechtliche Zweifelsfragen. Als weiteres Indiz kann fungieren, dass ein anerkannter Kunstexperte es für vertretbar erachtet, ein Werk als Kunst anzusehen.20 Auch die Selbsteinschätzung des Künstlers, der sein Werk als „Kunst“ bewertet, kann von Bedeutung sein. Hierbei handelt es sich allerdings nur um einen Anhaltspunkt,21 da die abschließende rechtliche Bewertung nicht im Belieben des Einzelnen steht. Wenig aussagekräftig ist dagegen das Kunstempfinden der Bevölkerung. In den Worten meines Kollegen Bernhard Kempen: „Kunst hat sich in der Ver-

15 Siehe nur BVerfGE 119, 1, 20 – Esra. 16 BVerfGE 75, 369, 377 – Strauß-Karikatur. 17 BVerfGE 119, 1, 23 – Esra. 18 Scholz in Maunz/Dürig, GG, 86. EL Januar 2019, Art. 5 Abs. 3 Rz. 27. 19 Ott in Karlsruher Kommentar zur StPO, 8. Aufl. 2019, § 261 Rz. 63 ff. 20 Kempen in BeckOK Grundgesetz, 41. Edition 15.5.2019, Art. 5 Rz. 164 m.w.N. 21 Bethge in Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 5 Rz. 184. 166

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gangenheit oft genug gegen das Kunstempfinden der Mehrheit durchsetzen können und wird dies auch in Zukunft tun.“22 Schließlich hängt die Einordnung als Kunst nicht davon ab, welches Niveau ein Kunstwerk aufweist,23 da Kunst einer staatlichen Stil-, Niveau- und Inhaltskontrolle nicht zugänglich ist.24 5. Keine Kunst? Was fällt nicht unter Kunst? Dafür zwei Beispiele aus der Rechtsprechung: a) Heatball-Aktion Im April 2010 hatten zwei Ingenieure die Idee, Glühlampen mit einer Stärke von 75 und 100 Watt, die in Deutschland infolge europäischer Vorgaben nach dem 1.9.2010 nicht mehr in den Verkehr gebracht werden durften, unter der Bezeichnung „Heatballs“ über ein Unternehmen als „Kleinheizelemente“ zu vertreiben: Der Heatball produziere aus der zugeführten Energie 95 % Wärme und 5  % Licht. Für ihre „Heatball-Aktion“ (mit Internetseite und Verkauf) ­beriefen sie sich auf die Kunstfreiheit  – es handele sich um Aktionskunst.25 Sie wollten damit auf satirische Weise gegen die europäischen Vorgaben demonstrieren. Nachdem die erste Lieferung von 4.000 Heatballs verkauft war – für 1,69 Euro je Stück – trafen weitere Bestellungen ein, insgesamt 40.000. Die zweite Lieferung, die nach dem Verkaufsverbot vertrieben werden sollte, wurde zunächst vom Zoll im Flughafen Köln/Bonn aufgehalten.26 Im Januar 2011 untersagte dann die Bezirksregierung Köln das Inverkehrbringen der Heatballs. Sowohl das Verwaltungsgericht Aachen als auch das Oberverwaltungsgericht Münster bestätigten die Untersagungsverfügung.27 Der materiale Kunstbegriff sei nicht erfüllt, da eine freie schöpferische Gestaltung und Eindrucksverarbeitung ebenso wenig zu erkennen seien wie ein unmittelbarer Ausdruck der Persönlichkeit des Künstlers – zumal es sich bei der Antragstellerin um eine juristische Person handele. Auch unter den formalen Kunstbegriff falle 22 Kempen in BeckOK Grundgesetz, 41. Edition 15.5.2019, Art. 5 Rz. 165. 23 BVerfGE 81, 298, 305 – Deutschlandlied. 24 BVerfGE 75, 369, 377 – Strauß-Karikatur; BVerfGE 83, 130, 139 – Josefine Mutzenbacher; BVerfGE 81, 278, 291 – Bundesflagge. 25 Https://www.zeit.de/wissen/umwelt/2012-06/gluehlampe-heatballs-satire. 26 Https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/kleinheizgeraet-heatball-­ zoll-haelt-40-000-gluehbirnen-auf-11065089.html. 27 Siehe OVG Münster, NVwZ-RR 2012, 682 ff. 167

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die Aktion nicht, weil sich die „Heatball-Aktion“ einem bestimmten Werktyp nicht zuordnen lasse und satirische Elemente nicht zwingend dazu führen würden, dass Kunst vorliege. Ebenso wenig handele es sich im Sinne des offenen Kunstbegriffs um Kunst, da die „Heatballs“ alle Merkmale einer gewöhnlichen Lampe aufwiesen und nicht erkennbar sei, wie sie eine Vieldeutigkeit im Sinne eines künstlerischen Eindrucks vermitteln könnten. Und schließlich habe bei der Aktion der kommerzielle Aspekt im Vordergrund gestanden und diese in der Gesamtschau geprägt. Im Ergebnis verdient diese Bewertung keine Zustimmung. Vielmehr erfüllte die Heatball-Aktion alle drei Kunstbegriffe: Sie war das Ergebnis einer freien schöpferischen Gestaltung, einem bestimmten Werktyp zuzuordnen und vielfältiger Interpretation zugänglich. Dass die Heatballs verkauft wurden, spielt keine Rolle, da Kunst auch kommerziell sein darf – und nicht selten sogar sein muss! Durch die Einordnung als Kunst ist aber noch nicht darüber entschieden, dass die Aktion rechtmäßig war. Hiergegen kann der durch das Verbot von Glühbirnen angestrebte Umweltschutz ins Feld geführt werden. Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass die Heatball-Aktion im Jahr 2011 mit dem Deutschen IQ-Preis ausgezeichnet wurde.28 Außerdem ging der Streit auch nach der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Münster weiter. Die  Aktion endete erst am 31.3.2014 mit dem erfolgreichen Verkauf von 10.000 „Heatballs 2.0“!29 b) Rauchen als Theaterstück Zum zweiten Beispiel. Nachdem in Bayern ein bußgeldbewehrtes Rauchverbot in Gaststätten eingeführt worden war, kamen einige Wirte auf die Idee, „Historienspiele“ oder „Experimental-Theater“ aufzuführen, bei denen auch die Zuschauer mitmachen können. Thema: „Das Leben in einer Kneipe, wie es früher einmal war.“ Das Amtsgericht Memmingen verhängte im März 2011 gegen einen Wirt ein Bußgeld von 200 Euro. Die Amtsrichterin wird wie folgt zitiert: „Ich sehe weit und breit keine Kunst, sondern nur Rauchen.“ 30 Dass sich der Wirt auf die Kunstfreiheit berufe, sei unzulässig und lediglich reiner Protest gegen ein verfassungsmäßiges Gesetz. 28 Https://www2.mensa.de/ueber-den-verein/der-deutsche-iq-preis. 29 Zur Chronologie der Aktion https://de.wikipedia.org/wiki/Heatball. 30 http://www.abendzeitung-muenchen.de/inhalt.rauchverbot-gericht-qualmen-in-​ kneipen-ist-keine-kunst. 168

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Auch hier muss aber gelten: Die Aufführungen können – in engen Grenzen – durchaus als Kunst angesehen werden. Sie sind das Ergebnis einer freien schöpferischen Gestaltung, einem bestimmten Werktyp zuzuordnen und vielfältiger Interpretation zugänglich. Erneut sei daran erinnert, dass mit der Einordnung als Kunst noch nicht über die Rechtmäßigkeit entschieden ist, da – gerade bei „Daueraufführungen“  – der Schutz von Passivrauchern Vorrang haben muss.

III. Schutzbereich der Kunstfreiheit In erster Linie richtet sich die Kunstfreiheit – wie alle Freiheitsrechte – gegen den Staat. „Schon die ausdrückliche Aufnahme der Freiheit der Kunst in die Weimarer Verfassung […] war eine Reaktion auf die obrigkeitsstaatliche Bekämpfung neuer künstlerischer Entwicklungen.“31 Die Kunstfreiheit kann aber auch im Verhältnis von Privaten relevant sein, insbesondere wenn unter Berufung auf private Rechte künstlerische Werke durch Gerichte verboten werden sollen.32 Geschützt sind sowohl der „Werkbereich“ als auch der „Wirkbereich“ von Kunst.33 Zum Werkbereich gehört die künstlerische Betätigung, also die Vorbereitung, das Üben, der Materialerwerb, der Prozess des Herstellens und der Schutz des Ergebnisses.34 Der Wirkbereich umfasst hingegen die öffentliche Darbietung und Verbreitung, also die Ausstellung, Präsentation und den Verkauf, die Aufführung und die Veröffentlichung. Ohne die Erstreckung auf den Wirkbereich würde das Grundrecht weitgehend leerlaufen, da die Begegnung mit dem Werk für die Entfaltung der Kunstfreiheit sachnotwendig ist.35

IV. Schranken der Kunstfreiheit Wo sind die Grenzen der Kunstfreiheit zu ziehen, insbesondere im Hinblick auf das Strafrecht? Wie eingangs erwähnt, enthält Art. 5 Abs. 3 GG für die Kunstfreiheit keinen Gesetzesvorbehalt. Die Anwendung der Schranken aus anderen Grundrech31 BVerfGE 119, 1, 21 – Esra. 32 BVerfGE 119, 1, 21 – Esra. 33 Siehe nur BVerfGE 30, 173, 189 – Mephisto. 34 Kempen in BeckOK Grundgesetz, 41. Edition 15.5.2019, Art. 5 Rz. 169. 35 Kempen in BeckOK Grundgesetz, 41. Edition 15.5.2019, Art. 5 Rz. 170 f. 169

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ten, insbesondere der in Art.  5 Abs.  2 GG normierten Schranken der Meinungs- und Pressefreiheit, hat das Bundesverfassungsgericht aus systema­ tischen Gründen zu Recht abgelehnt.36 Dies heißt allerdings nicht, dass die  Kunstfreiheit „schrankenlos“ gewährleistet ist, sondern „dass die Grenzen  der Kunstfreiheitsgarantie nur von der Verfassung selbst zu bestimmen sind“.37 Uneinschränkbare Grundrechte können lediglich durch „kollidierende Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtsgüter“ in einzelnen Beziehungen begrenzt werden.38 Zu den letzteren gehören Verfassungsgrundsätze (wie die freiheitlich-demokratische Grundordnung, Art. 20 Abs. 1 GG) und Staatszielbestimmungen (etwa der Tierschutz, Art. 20a GG). Es bestehen demnach verfassungsimmanente Schranken. Kollidieren gleichrangige Rechtsgüter mit Verfassungsrang, gelangt das Prinzip der praktischen Konkordanz39 zur Anwendung. Danach sind die kollidierenden Grundrechtspositionen in ihrer Wechselwirkung zu erfassen und so in Ausgleich zu bringen, dass sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden.40 Dabei kommt dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besondere Bedeutung zu. Erforderlich ist eine umfassende Abwägung der widerstreitenden Interessen, wobei es sich verbietet, einem Rechtsgut generell den Vorrang einzuräumen.

V. Kollision mit dem Strafrecht Schauen wir uns anhand von Fällen an, wie der Interessenausgleich gemäß dem Prinzip der praktischen Konkordanz vorzunehmen ist. 1. Allgemeines Persönlichkeitsrecht (§ 185 StGB) Wie bereits anklang, kann die Kunstfreiheit insbesondere mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht kollidieren, das aus Art. 2 Abs. 1 GG (freie Entfaltung der Persönlichkeit) in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG (Menschenwürde) abgeleitet wird. Der Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist eröffnet, wenn in dem Kunstwerk eine bestimmte Person erkennbar ist. Ist dies

36 BVerfGE 30, 173, 191 f. – Mephisto. 37 BVerfGE 30, 173, 193 – Mephisto. 38 BVerfGE 28, 243, 260 f. – Dienstpflichtverweigerung. 39 Grundlegend Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 125 ff., 153. 40 BVerfGE 142, 74, 96 f. – Metall auf Metall. 170

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der Fall, reicht angesichts der hohen Bedeutung der Kunstfreiheit eine nur geringfügige Beeinträchtigung nicht aus, um diese zurücktreten zu lassen.41 Im Mephisto-Fall hatte das Oberlandesgericht42 das Verbot des Romans damit begründet, dass „die Romanfigur des Hendrik Höfgen in so zahlreichen Einzelheiten dem äußeren Erscheinungsbild und dem Lebenslauf von Gründgens derart deutlich entspreche, daß ein nicht unbedeutender Leserkreis unschwer in Höfgen Gründgens wiedererkenne“. Zudem hatte es dargelegt, dass Klaus Mann „ein grundlegend negatives Persönlichkeits- und Charakterbild des Höfgen und damit des verstorbenen Gründgens gezeichnet habe, das in zahlreichen Einzelheiten unwahr, durch erfundene, die Gesinnung negativ kennzeichnende Verhaltensweisen […] angereichert worden sei und verbale Beleidigungen und Verleumdungen enthalte, die Gründgens durch die Person des Höfgen zugefügt worden seien“. Der Roman wurde als „Schmähschrift in Romanform“ bewertet. Der Bundesgerichtshof43 hatte diese Wertung nicht beanstandet. Das Bundesverfassungsgericht sah ebenfalls „keine hinreichenden Gründe, dieser von den Gerichten vorgenommenen Wertung entgegenzutreten, daß der Autor ein negativ-verfälschendes Porträt des ‚Urbildes‘ Gründgens gezeichnet habe“.44 Dies bedeutet: „Je stärker ein Autor eine Romanfigur von ihrem Urbild löst und zu einer Kunstfigur verselbständigt (‚verfremdet‘), umso mehr wird ihm eine kunstspezifische Betrachtung zugutekommen“.45 Hinzuzufügen ist, dass der Roman bereits seit dem 2.1.1981 wieder erhältlich ist. Der Verlag hatte heimlich 30.000 Exemplare drucken lassen.46 Mangels Antrages auf Erlass einer einstweiligen Verfügung konnten die Exemplare verkauft werden. Beim Anachronistischen Zug ging es um eine Verurteilung wegen Beleidigung (§ 185 StGB). Das Bundesverfassungsgericht gab in diesem Fall der Kunstfreiheit den Vorrang:47 Das Amtsgericht Kempten habe verkannt, dass eine Gesamtbetrachtung anzustellen war und mehrere Interpretationsmöglichkeiten bestanden; so wäre in Bezug auf den Plagenwagen das Verständnis möglich, Franz Josef Strauß sitze mit den Nazigrößen im selben Wagen, sei ihnen gleichzusetzen und vertrete deren politische Ziele; ein anderer Beobachter 41 BVerfGE 67, 213, 228 – Anachronistischer Zug; BVerfGE 119, 1, 27 – Esra. 42 Mitgeteilt durch BVerfGE 30, 173, 197 f. – Mephisto. 43 Siehe BVerfGE 30, 173, 198 f. – Mephisto. 44 BVerfGE 30, 173, 199 – Mephisto. 45 BVerfGE 119, 1, 29 – Esra. 46 https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-14325060.html. 47 BVerfGE 67, 213, 228 ff. – anachronistischer Zug; nachfolgend erfolgte der Freispruch, siehe AG Kempten NJW 1985, 987. 171

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könnte dagegen zu dem Schluss gelangen, Strauß bekämpfe, wenn auch erfolglos, Verkörperungen des Nationalsozialismus. Dies bedeutet: Kann ein Kunstwerk auch in der Weise interpretiert werden, dass kein Eingriff in die Ehre vorliegt, gebührt der Kunstfreiheit der Vorzug! Im Fall Böhmermann wurde das Gedicht teilweise als Schmähkritik bewertet.48 Für die Staatsanwaltschaft Mainz war es dagegen nicht nachweisbar, dass Böhmermann einen ernstlichen Angriff auf den Achtungs- und Geltungsanspruch des türkischen Staatspräsidenten billigend in Kauf genommen habe:49 Es sei bereits fraglich, ob das Gedicht den objektiven Tatbestand eines Beleidigungsdeliktes erfülle, jedenfalls aber sei Böhmermann kein Vorsatz nachzuweisen; nach eigenen Angaben habe es ihm an einer derart übertriebenen und von der konkreten Person abgelösten Darstellung gelegen, dass sofort klar werden sollte, dass es sich um einen Witz oder Unsinn handele; diese Einlassung werde durch Inhalt, Entstehung und Art der Darbietung gestützt; zudem gingen im Rahmen einer Satiresendung getätigte Äußerungen mit Übersteigerungen und Überspitzungen einher; der Text enthalte eine geradezu absurde Anhäufung vollkommen übertriebener, abwegig anmutender Zuschreibungen negativ bewerteter Eigenschaften und Verhaltensweisen, denen jeder Bezug zu tatsächlichen Gegebenheiten fehle. Böhmermann hatte das Urbild (Erdoğan) demnach derart stark zu einer „Kunstfigur“ verfremdet, dass die Kunstfreiheit Vorrang hatte! 2. Eigentum (§ 303 StGB) Die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG ist ein weiteres Grundrecht, mit dem die Kunstfreiheit kollidieren kann. Weltweite Bekanntheit erlangte Ende der 1970er Jahre Harald Oskar Naegeli, der „Sprayer von Zürich“. Er sprühte aus Protest gegen das monotone Stadtbild Zürichs schwarze Strichfiguren auf öffentliche und private Wände. Die Schweizer Öffentlichkeit und die Behörden erblickten darin eine Sachbeschädigung, während Künstler und Intellektuelle den Figuren künstlerischen Wert beimaßen.50 Im Jahr 1981 wurde Naegeli in zweiter Instanz wegen wiederholter Sachbeschädigung (in 179 Fällen) von der II. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Zürich zu neun Monaten Haft ohne Bewährung und zur Schadensbeseitigung verurteilt. Der Vollstreckung 48 Fahl, Böhmermanns Schmähkritik als Beleidigung, NStZ 2016, 313, 318. 49 Näher Redaktion beck-aktuell, „Schmähkritik”: Ermittlungsverfahren gegen Jan Böhmermann wegen Erdogan-Beleidigung eingestellt, becklink 2004544. 50 Siehe nur Joseph Beuys in Müller (Hrsg.), Der Sprayer von Zürich: Solidarität mit Harald Naegeli, 1984, S. 10. 172

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des Urteils entzog er sich durch die Flucht nach Deutschland, genauer: nach Köln! Aufgrund eines internationalen Haftbefehls wurde Naegeli am 28.8.1983 verhaftet und schließlich im Jahr 1984 an die Schweiz ausgeliefert. Weder die Intervention von Künstlern noch ein Schreiben des Ex-Bundeskanzlers Willy Brandt konnten dies verhindern.51 Das Oberlandesgericht Schleswig erklärte die Auslieferung für zulässig, da es die beiderseitige Strafbarkeit des Verhaltens bejahte: Art.  5 Abs.  3 Satz  1 GG gestatte es einem Künstler auch in Deutschland nicht schlechthin, sich über die Eigentumsrechte anderer hinwegzusetzen.52 Das Bundesverfassungsgericht nahm im März 1984 die gegen diese Entscheidung erhobene Verfassungsbeschwerde mangels hinreichender Erfolgsaussicht nicht zur Entscheidung an. Als erstes Argument führte das Gericht an, die Kunstfreiheit erstrecke sich „von vorneherein nicht auf die eigenmächtige Inanspruchnahme oder Beeinträchtigung fremden Eigentums zum Zwecke der künstlerischen Entfaltung“.53 Diese apodiktische Begründung ist freilich unhaltbar. Im Mai 2016 hat das Gericht in der Entscheidung „Metall auf Metall“ ausdrücklich anerkannt, dass sich „ein prinzipieller Vorrang der Kunstfreiheit vor dem Eigentum nicht aus der Verfassung herleiten“ lässt.54 Überzeugender erscheint das zweite Argument: In Deutschland wie in der Schweiz könne sich Kunst „auch ohne Beschädigung fremden Eigentums entfalten“. Bei näherer Betrachtung überzeugt aber auch dies nicht vollends. Denn mit seinen Aktionen, die damals Denkanstöße setzten, legte Naegeli den Grundstein für die europäische Street-Art. Sein Werk erfuhr später auch in der Schweiz Wertschätzung und Anerkennung. Eines seiner letzten erhaltenen Strichmännchen, den Wassergeist Undine, den er im Jahr 1978 an eine Fassade gesprüht hatte, ließ der Kanton Zürich im Jahr 2004 restaurieren und konservieren. Ohne die Beschädigung fremden Eigentums hätte damals die heute anerkannte Street Art nicht entstehen können. Hiermit harmoniert es, wenn das Bundesverfassungsgericht in der bereits genannten Entscheidung „Metall auf Metall“ ausführt, bei der erforderlichen kunstspezifischen Betrachtung dürften stilprägende, genrespezifische Aspekte 51 Willy Brandt, Schreiben an den Bundesminister Hans-Dietrich Genscher vom 14.11.1983, abgedruckt in Müller (Hrsg.), Der Sprayer von Zürich: Solidarität mit Harald Naegeli, 1984, S. 109. 52 Mitgeteilt von BVerfG NJW 1984, 1293, 1294 – Naegeli. 53 BVerfG NJW 1984, 1293, 1294 – Naegeli. 54 BVerfGE 142, 74, 104 – Metall auf Metall. 173

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nicht unberücksichtigt bleiben.55 Bei der Abwägung ist demnach zu berücksichtigen, ob und inwieweit bestimmte Kunstformen ohne eine Beeinträchtigung fremden Eigentums überhaupt möglich sind. In dem Fall ging es um die Übernahme einer zweisekündigen Rhythmussequenz aus dem Musikstück „Metall auf Metall“ der Band „Kraftwerk“ von 1977. Moses Pelham hatte damit 1997 Sabrina Setlurs „Nur Mir“ als Endlosschleife hinterlegt. Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass die Verwendung von Samples zur künstlerischen Gestaltung einen Eingriff in Urheber- und Leistungsschutzrechte ausnahmsweise rechtfertigen kann. Der Rechtsstreit ist damit allerdings – nach mittlerweile 22  Jahren  – immer noch nicht beigelegt. Denn der Bundesgerichtshof hat die Frage, ob das Tonträger-Sampling nach europäischem Recht zulässig ist, dem Europäischen Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegt.56 Die Frage, ob Naegelis Kunst eine Sachbeschädigung darstellt, ist ebenfalls weiter aktuell. Denn Naegeli, der heute in seiner Wahlheimat Düsseldorf lebt, hatte im Oktober 2016 an der NRW-Akademie der Wissenschaften und der Künste sowie zwei weiteren Häusern schwarz-rote Flamingos aufgesprüht.57 Der Betreiber einer Tankstelle fühlte sich hierdurch geehrt, während die nordrhein-westfälische Akademie der Wissenschaften und der Künste Anzeige erstattete. Naegeli bewertete seine Aktionen selbst nicht als Sachbeschädigung und wollte einen Strafbefehl nicht akzeptieren. Am 2.4.2019 wurde das Verfahren gegen ihn wegen Sachbeschädigung vom Amtsgericht Düsseldorf gegen Geldauflagen eingestellt. Naegeli bewertete die Entscheidung für die Kunststadt Düsseldorf als „Peinlichkeit“.58 Allerdings wäre der Fall in der Kunstmetropole Köln wohl nicht anders entschieden worden. Denn die von Naegeli angestoßene europäische Street Art ist etabliert, sie kann sich heute auch ohne die Beschädigung fremden Eigentums entfalten. Es spricht nichts dagegen, die Erlaubnis des Eigentümers einzuholen, womit eine Sachbeschädigung ausgeschlossen ist. Manch einer wird einen echten „Naegeli“ sehr schätzen! Für den britischen Künstler Banksy, der seine Street Art ebenfalls häufig unerlaubt ausübt, stellt sich die Rechtslage nicht anders dar. Im Jahr 2002 startete er in London an der Waterloo Bridge eine Serie von Schablonen-Wandgemälden, 55 BVerfGE 142, 74, 104 – Metall auf Metall. 56 BGH, GRUR 2017, 895. 57 Https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gerichtsprozess-gegen-sprayerlegende-​ harald-naegeli-16121058.html. 58 Https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/sprayer-von-zuerich-harald-naegeli-​ muss-​fuer-flamingo-graffiti-zahlen-a-1260795.html. 174

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die ein junges Mädchen zeigen, das mit ausgestreckter Hand in Richtung eines roten, herzförmigen Ballons zeigt, der vom Wind davongetragen wird (Balloon Girl).59 Eine Version des Jahres 2004 wurde später herausgetrennt und erzielte bei einer Versteigerung 500.000  GBP.60 In Deutschland war Banksy u.a. in Hamburg tätig. Seine Arbeiten werden heute teilweise durch Plexiglas geschützt.61 Vor wenigen Tagen war er in Venedig aktiv.62 Vor der Strafverfolgung schützt ihn seine Anonymität. 3. Tierschutz (§ 20a GG) Für die Kollision mit einem Staatsziel, nämlich dem Tierschutz, gibt es gleichfalls einen anschaulichen, wenn auch unappetitlichen Fall. So musste sich die Justiz mit der Tötung zweier weißer Kaninchen befassen, die im Februar 2006 im Rahmen einer Performance in der Berliner Hinterhofgalerie „Monsterkeller“ stattgefunden hatte.63 Der Künstler Falk Richwien wollte damit zur „Reflexion des Fleischkonsums“ beitragen. Eine Assistentin brach den Kaninchen das Genick, anschließend nahm ein Metzgermeister die Kaninchen fachgerecht aus, während Richwien die Köpfe in Formaldehyd einlegte. Das Kammergericht Berlin64 verwarf die Revision, die sich gegen die Verurteilung der Beteiligten zu Geldstrafen richtete, als unbegründet. Das Landgericht Berlin habe – wie zuvor das Amtsgericht Tiergarten – ohne Rechtsfehler angenommen, dass die Angeklagten in mittäterschaftlichem Zusammenwirken die Kaninchen „ohne vernünftigen Grund” im Sinne des § 17 TierSchG getötet hätten: „Das Töten zweier Kaninchen durch Genickbrechen und Abschlagen der Köpfe im Rahmen einer Kunstinszenierung kann bei Vorliegen weiterer Umstände, die den Akt der Tötung in den Vordergrund stellen, indem diese gleichsam zelebriert und dem Publikum die Leichtigkeit der bewussten Tötung von Tieren der betroffenen Art vor Augen geführt wird, zur Bewertung des Vorgangs als sinnlose Tötung […] führen“.

59 Hierzu https://en.wikipedia.org/wiki/Girl_with_Balloon. 60 Https://www.bbc.com/news/uk-england-london-26022513. 61 Keil, Street-Art unter Plexiglas, https://taz.de/!474389. 62 Https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/banksy-street-art-kuenstler-bekennt-​ sich-zu-zweitem-kunstwerk-in-venedig-a-1269272.html. 63 Https://www.bz-berlin.de/artikel-archiv/zwei-kleinen-kaninchen-besonders-​ schutzlos-wurde-das-genick-gebrochen-aus-klamauk; https://www.bz-berlin.de/ artikel-archiv/hasen-killer-3. 64 KG, NStZ 2010, 175. 175

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Die Rechtfertigung Richwiens,65 dass man die „spirituell überhöhte Reflexion ins Gleichgewicht bringen müsse, dass man die geistige Ebene überhöht betrachten müsse und dass wir nicht so göttlich sind, wie wir zu glauben scheinen“, überzeugte die Gerichte nicht. Ebenso verfing der Einwand nicht, dass eine Woche später unter dem Titel „Kaninchen an Apricot“ der zweite Teil der Performance stattgefunden hatte  – womit die Tötung nicht sinnlos gewesen sei.66 Gegenüber dem in Art. 20a GG vorgegebenen und in § 17 Nr. 1 TierSchG konkretisierten Ziel, einen verantwortungsvollen Umgang mit Tieren zu erreichen, musste die Kunstfreiheit in diesem Fall zurücktreten. Hinzuzufügen ist, dass die Möglichkeit, Tiertötungen zu künstlerischen Zwecken vorzunehmen, vor Aufnahme des Tierschutzes als Staatszielbestimmung durch das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 26.7.200267 sehr umstritten war. So hatten Gerichte vereinzelt der Kunstfreiheit den Vorzug gegeben, da der Tierschutz mit dem TierSchG nur in einem einfachen Gesetz verankert war.68 Andere hatten dagegen die verfassungsimmanenten Schranken im „Sittengesetz“ erblickt, und die Kunstfreiheit zurücktreten lassen.69

VI. Zusammenfassung Fassen wir zusammen: Kunst ist verfassungsrechtlich durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG geschützt. Eine juristisch exakte Definition von Kunst ist nicht möglich. Ob ein Werk Kunst darstellt, kann jedoch anhand der verschiedenen Kunstbegriffe, gegebenenfalls unter Heranziehung weiterer Kriterien, in einer Gesamtschau bestimmt werden. Hierbei ist ein weites Verständnis zugrundezulegen. Geschützt sind sowohl der Werk- als auch der Wirkbereich der Kunst. Die Kunstfreiheit steht zwar unter keinem Gesetzesvorbehalt, sie ist aber dennoch nicht schrankenlos garantiert. Verfassungsimmanente Schranken bilden die kollidierenden Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtsgüter.

65 Https://www.spiegel.de/panorama/justiz/tierschutz-vs-kunst-kaninchenmeu​ cheln-​im-monsterkeller-a-486660.html. 66 Https://www.spiegel.de/panorama/justiz/tierschutz-vs-kunst-kaninchenmeu​ cheln-im-monsterkeller-a-486660.html. 67 BGBl. I 2002, 2862. 68 AG Kassel, NStZ 1991, 443, 444. 69 LG Köln, NuR 1991, 42. 176

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Kunst im Fokus des Strafrechts

Geht es um die Anwendung einer Strafvorschrift, ist im Wege der praktischen Konkordanz ein Ausgleich zwischen der Kunstfreiheit und den durch die Strafvorschrift geschützten Rechtsgütern mit Verfassungsrang herzustellen. Hierbei ist eine umfassende Abwägung vorzunehmen. Zu prüfen ist zunächst, ob das Kunstwerk auch eine Interpretation zulässt, bei der es an einem Eingriff fehlt. Weiter gilt, dass eine geringfügige Beeinträchtigung eines geschützten Rechtsgutes angesichts der großen Bedeutung der Kunstfreiheit nicht ausreicht, um diese zurücktreten zu lassen und die Strafbarkeit zu begründen. Die Kunstfreiheit muss aber insbesondere dann zurücktreten, wenn sie sich ohne Weiteres auch ohne die Beeinträchtigung von strafrechtlich geschützten Rechtsgütern mit Verfassungsrang entfalten kann.

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Können Demokratien Nachhaltigkeit? Inhaltsübersicht

I. Einleitung II. Die besonderen Herausforderungen nachhaltiger Politik I II. Demokratievorteil in der Theorie? 1. Interessenberücksichtigung

2. Planung und Implementation 3. Transparenz und Wettbewerb IV. Fehlender Demokratievorteil in der Empirie? V. Institutionelle Lösungsansätze

I. Einleitung Wir leben in einem Zeitalter, das geprägt ist von grundlegenden Transformationsprozessen. Diese sind zum einen ökonomischer Natur. Neben der zunehmenden Globalisierung, und einem damit einhergehenden verschärften internationalen Standortwettbewerb, hat auch die fortschreitende Entwicklung von der Industrie- zur Informationsgesellschaft das Potenzial, Gesellschaften langfristig fundamental zu verändern und staatliche Steuerung vor ganz neue ­Herausforderungen zu stellen. Daneben führen aber auch sozialer und demographischer Wandel sowie die anhaltende Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen (Klimawandel, Ressourcenverknappung, etc.) zu Problemen, auf die alle Gesellschaften im Sinne einer nachhaltigen Politikgestaltung Antworten finden müssen. Die Erhaltung der staatlichen Handlungsfähigkeit stellt eine weiter Langfristaufgabe dar. Geht man von der sogenannten „Churchill-­ These“ aus, nach der die Demokratie grundsätzlich als bestmögliche Staatsform anzusehen ist,1 so kann man folgern, dass Demokratien für die Bewältigung dieser Aufgaben besonders gut gewappnet sein dürften. Hieran hat sich in der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Debatte in den letzten Jahren allerdings erheblicher Zweifel breitgemacht. Neben Beispielen für eklatantes Demokratieversagen wird generell auf eine vermeintlich stark ausgeprägte 1 Winston Churchill sagte 1947 über die Demokratie: „No one pretends that demo­ cracy is perfect or all wise. Indeed, it has been said that democracy is the worst form of Government expect all those other forms that have been tried from time to time“ (Churchill 1974: 7566), s. Churchill, Winston S., Winston S. Churchill: His Com­plete Speeches, 1897–1963, Vol.  VII 1943–1949, hrsg. von Robert Rhodes James, New York, London, 1974: 7566. 179

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„Zukunftsvergessenheit der Demokratie“2 hingewiesen. Sehr prägnant kommt dies in einem Zitat von Altbundespräsident Richard von Weizsäcker3 zum Ausdruck: „Allgemein gesagt ist jede parlamentarische Demokratie auf einem Strukturproblem aufgebaut, nämlich der Verherrlichung der Gegenwart und der Vernachlässigung der Zukunft. Es ist nun einmal so, dass wir nicht anders regiert werden können und regiert werden wollen als durch auf Zeit gewählte Vertreter, die mit ihrem Angebot zur Lösung der Probleme gar keinen weiteren Dispositionsspielraum zur Verfügung gestellt bekommen als den ihrer Legislaturperiode. Damit will ich nicht behaupten, dass die gesamte politische Repräsentanz keinen Sinn für langfristige, zukünftige Aufgaben hätte. Nur steht sie vor der Notwendigkeit, sich Mehrheiten zu beschaffen.“

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob nicht gerade Demokratien mit diesen neuen langfristigen Herausforderungen überfordert sind und sich im Sinne nachhaltiger Politikgestaltung besonders schwer damit tun, die Interessen zukünftiger Generationen in ihre politischen Entscheidungsprozesse zu integrieren, gerade weil es ihr Kernanliegen ist, die aktuellen Präferenzen und kurzfristigen Interessen heute lebender Bürgerinnen und Bürger möglichst optimal zu befriedigen.4

II. Die besonderen Herausforderungen nachhaltiger Politik Dabei ist zunächst festzuhalten, dass nachhaltige Politikgestaltung ein in mehrfacher Hinsicht komplexes Unterfangen darstellt. Das Ziel Entwicklung anzustoßen, „which meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs”,5 setze eine Ausweitung der klassischen politischen Verantwortungsübernahme vom „hier und jetzt“ auf das „dort und später” voraus. Dieses normative Ziel stellt für die Politik in fünffacher Hinsicht eine Herausforderung dar. Es handelt sich (1) um eine mehrdimensionale, politikfeldübergreifende Querschnittsaufgabe, die ganz unterschiedliche ökonomische, soziale und ökologische Aspekte in den Blick 2 Vgl. u.a. Theisen, Heinz, Zukunftspolitik Langfristiges Handeln in der Demokratie 2000, München; Peter Graf Kielmansegg, Können Demokratien zukunftsverantwortlich handeln? 2001, Rede anläßlich der Verleihung des Schader-Preises am 8.11.2001, http://www.schader-stiftung.de/schader_stiftung/56.php. 3 Richard von Weizsäcker nach Friedrich, Holger/Mändler, Max/Kimakowitz, Ernst von, Die Herausforderung Zukunft: Deutschland im Dialog. Ein Appell der jungen Generation. Berlin, 1998: 53. 4 Höffe, Otfried, Ist die Demokratie zukunftsfähig? Über moderne Politik, München, 2009. 5 Brundtland Kommission, Our common future. Oxford, 1987. 180

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nehmen muss. Neben der Optimierung einzelner Nachhaltigkeitsziele stellt das ausbalancieren mannigfacher Bedürfnisse und die damit einhergehende Überwindung von Zielkonflikten (2) hohe Anforderungen, die ein syste­ matisch-ganzheitliches Vorgehen erforderlich machen. Die Befassung mit Problemen heutiger und zukünftiger Generationen erhöht nicht nur die Komplexität politischer Entscheidungen, sondern erfordert auch Handeln unter Unsicherheit (3), da die Wirkungen heutiger Entscheidungen für die Zukunft, je weiter diese von der Gegenwart entfernt liegt, immer unklarer werden und die unintendierten Nebenfolgen reflexiven gesellschaftlichen Handelns immer mitbedacht werden müssen. Neben der zeitlichen Ausdehnung des Verantwortungsbereichs (Interessenberücksichtigung zukünftiger Generationen) und der damit einhergehende Frage nach intergenerationeller Generationengerechtigkeit sowie der Überwindung von Diskontierungsanreizen (4) stellt schließlich auch die räumliche Ausdehnung des Verantwortungsbereichs, der zur Bewältigung zahlreicher grenzüberschreitender Nachhaltigkeitsprobleme (Klimawandel, etc.) unabdingbar ist, im Sinne intragenerationeller Gerechtigkeit (5), eine besondere Herausforderung dar.

III. Demokratievorteil in der Theorie? Nähert man sich nun der Frage, wie gut Demokratien Nachhaltigkeit „können“, zunächst von Seiten der Theorie an, so lassen sich mehrere Spezifika demokratischen Regierens abwägend in den Blick nehmen. Systematisiert werden können sie entlang der Fragen nach der Berücksichtigung gesellschaftlicher Interessen, der Bedeutung von Planung und Implementation sowie der Rolle von Transparenz- und Wettbewerbsorientierung in einem politischen Gemeinwesen. 1. Interessenberücksichtigung Im Hinblick auf die gesellschaftliche Interessenberücksichtigung kann davon ausgegangen werden, dass diese in demokratischen Staaten grundsätzlich deutlich breiter angelegt ist als in autokratisch regierten Ländern.6 Da das Selektorat in Demokratien im Unterschied zu Autokratien in aller Regel aus allen stimmberechtigten Bürgern besteht, muss eine Regierung, um eine win-

6 Bueno de Mesquita, Bruce/Morrow, James D./Siverson, Randolph/Smith, Alastair, Political Institutions. Policy Choice and the Survival of Leaders. In British Journal of Political Science 2002, 559–590. 181

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ning coalition zu schmieden, auf die sich ihre Herrschaft stützen kann,7 in weit stärkerem Maß die Interessen breiter Bevölkerungsteile befriedigen. Für autokratische Herrscher, die mitunter nur die Interessen einer sehr kleinen winning coalition, die z.B. aus wichtigen Militärs, hohen Parteidelegierten oder wirtschaftlichen Eliten bestehen kann, berücksichtigen brauchen, ist es rational vor allem private Güter (Mittel, die spezifische Bevölkerungsgruppen exklusiv bevorzugen) bereitzustellen, während demokratische Regierungen weit stärker öffentliche Güter mit hohem Gemeinwohlbezug anbieten müssen. Für die Frage nach der Nachhaltigkeitswirkung ist es nun allerdings entscheidend, inwieweit die Interessen zukünftiger Generationen vom Selektorat, dass auch in Demokratien maximal aus allen heute lebenden (Stimm-) Bürgern bestehen kann, berücksichtigt werden. Plausibel scheint eine solche Interessenberücksichtigung in Demokratien insbesondere dann, wenn angenommen werden kann, dass damit auch schon für die Mehrheit der heute lebenden Generationen erkennbare Vorteile verbunden sind. Je weniger dies der Fall ist,8 desto geringer dürfte auch ein möglicher positiver Demokratieeffekt ausfallen. Problematisch ist darüber hinaus, dass es gerade in Demokratien zu einer sehr starken Gewichtung von Gegenwartsinteressen kommen kann. Ursächlich hierfür zeichnet das Wiederwahlinteresse der Regierenden, die in der Demokratie maßgeblich von der Unterstützung der heute stimmberechtigten Bürgerinnen und Bürger abhängig sind und daher auf deren Interessen in besonderer Weise Rücksicht nehmen müssen. Die schwierig zu organisierenden Interessen zukünftiger Generationen bleiben dabei häufig unbeachtet und damit auf der Strecke. Als Ausfluss dieses Problems kommt es gerade in Demokratien zur Bildung mächtiger Verteilungskoalitionen,9 die ihre aktuellen Interessen häufig zum Schaden zukünftiger Generationen durchsetzen wollen. Auf der anderen Seite ebnen die politischen Freiheits- und Partizipationsrechte in Demokratien aber auch den Resonanzboden für große allgemeinwohl­ orientierte Gruppen (Klimaschutzinitiativen, wie im Moment die „Fridays for 7 Unter das Selektorat fallen alle Personen, die institutionelle Einflussmöglichkeiten auf die Wahl der politischen Führung besitzen, während die winning coalition die Personen bilden, deren Unterstützung für die politische Führung notwendig ist (Bueno de Mesquita u.a. 2002). 8 Vgl. zum Problem der Zukunfsdiskontierung: Birnbacher, Dieter, Läßt sich die Diskontierung der Zukunft rechtfertigen? in Zukunftsverantwortung und Generationensolidarität, Hrsg. Dieter Birnbacher und Gerd Brudermüller, Würzburg, 2001, 117–136. 9 Vgl. Olson, Mancur, The Rise and Decline of Nations. Economic Growth, Stagflation, and Social Rigidities, New Haven, 1982. 182

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Future“-Bewegung), bei deren Förderung Autokratien ein strukturelles Defizit aufweisen.10 2. Planung und Implementation Für eine Nachhaltige und somit auf zukünftige Ziele ausgerichtete Politik dürften daneben sowohl die Planung- als auch die Implementationskapazitäten eines politischen Systems eine maßgebliche Rolle spielen. Ein Hauptargument, das gegen eine nachhaltige Politik in Demokratien sprechen könnte, ist der ihr eigener, kurzer politischer Zeittakt in Folge einer Dauerwahlkampfatmosphäre. Die, unter dem Damoklesschwert der kurzfristigen Abwahlmöglichkeit entstehende, ständige Fokussierung auf eine aktuelle Problembearbeitung erschwert dabei langfristige Planungs- und Entscheidungsfindungsprozesse. Für einen fest im Sattel sitzenden autokratischen Herrscher stellen sich die damit einhergehenden Probleme dagegen unter Umständen nicht. Ist die Politics-Ebene in Demokratien somit einerseits auf einen sehr kurzfristigen Zeittakt geeicht, so stellen sie andererseits langfristig stabile und berechenbare institutionelle Rahmenbedingungen bereit, die eine nachhaltige Entwicklung erleichtern können. Dagegen ist die institutionelle Verlässlichkeit in autokratischen Regimen eher gering ausgeprägt und es kann, insbesondere aufgrund eines ungeregelten Herrschaftsübergangs, zu Instabilitäten und Brüchen in der Policygestaltung kommen. Hinzu tritt, dass es in autokratischen Regimen an eingebauten Mechanismen der Herrschaftskontrolle mangelt, wodurch ein Machtmissbrauch der Regierung wahrscheinlich wird. Demokratischen Systemen kann im Gegensatz zu autokratischen Regimen allerdings vorgehalten werden, dass sie sich besonders schwer damit tun, unangenehme und harte Reformen durchzusetzen, wie sie für die Interessendurchsetzung zukünftiger Generationen mitunter notwendig sein dürften. Ein weitgehend widerstandsfreies Durchregieren ist in ihnen aufgrund einer zumeist hohen Anzahl an institutionellen Machtbegrenzern und Vetospielern kaum möglich. Ausdruck findet dies in mitunter sehr langwierigen und zähen Entscheidungsfindungs- und Aushandlungsprozessen, die am Ende häufig mit Ergebnissen auf der Ebene des kleinsten gemeinsamen Nenners aller betei­

10 Wintrobe, Roland, Dictatorship: Analytical Approaches in The Oxford Handbook of Comparative Politics, Hrsg. Carles Boix und Susan C. Stokes, Oxford/New York, 2009, 363–394. 183

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ligten Akteure enden11, 12 und dabei einer grundlegend nachhaltigen Lösung nicht immer gerecht werden. Dem stehen allerdings erkennbare Implementationsvorteile von einmal getroffenen demokratischen Entscheidungen gegenüber, da sich diese auf eine starke inputgestützte Legitimationsgrundlage berufen können. 3. Transparenz und Wettbewerb Neben einer möglichst effektiven Implementation politischer Vorhaben sollten sich auch eine starke Transparenz- und Wettbewerbsorientierung positiv auf die nachhaltige Politikgestaltung in einem Land auswirken. So erleichtern transparente öffentliche Entscheidungsfindungsprozesse die Fehlerkorrektur, da Missstände eher bekannt werden (Frühwarnsystem) und die Regierenden durch ihre Rechenschaftspflicht gegenüber den heute lebenden Bürgern dazu angehalten sind, nach Lösungen auch für die in der Zukunft liegenden Probleme zu suchen. Die eingebauten, institutionell abgesicherten, öffentlichen Teilhabe- und Kontrollmöglichkeiten lassen es daher als plausibel erscheinen, dass Demokratien Vorteile aufgrund ihrer überlegenen Lern- und Fehlerkorrekturfähigkeit haben könnten.13 Der starke politische Wettbewerb, der innerhalb demokratischer Regime herrscht, kann zwar auf der einen Seite eine langfristig ausgerichtete Politikgestaltung erschweren, andererseits führt das stete Ringen um Politikinhalte und Wählerstimmen aber auch dazu, dass ständig Anreize zu einer Optimierung der momentanen Policy vorhanden sind. Eben

11 Scharpf, Fritz W., Interaktionsformen. Akteurzentrierter Institutionalismus in der Politikforschung, Opladen, 2000. 12 In Autokratien ist ein Durchregieren gegen Widerstände in der Bevölkerung durch den Einsatz repressiver Mittel zwar möglich, der Einsatz von Gewalt verursacht aber erhebliche Folgewirkungen, die sich negativ auf eine nachhaltige Entwicklung eines Gemeinwesens auswirken können. So ist die Aufrechterhaltung eines Repressionsapparats nicht nur an sich kostspielig, sondern erlaubt es einem Autokraten auch, gesellschaftliche Proteste gegen nicht nachhaltige Praktiken zu unterdrücken. Die permanente Androhung von Repression erzeugt darüber hinaus ein Klima, in dem die Herrschaftsunterworfenen es tunlichst vermeiden, für sie negative Informationen an die politische Führung weiterzuleiten. Dies führt dort aber zu einer verzerrten Realitätswahrnehmung (insufficient political feedback loop), wodurch auf realen Tatsachen basierende politische Entscheidungen erschwert werden. 13 Vgl. Tocqueville, Alexis de, Über die Demokratie in Amerika, München, 1984 franz. 1835/40; Schmidt, Manfred G., Demokratietheorien. Eine Einführung. Opladen, 2010. 184

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solche Anreize fehlen in einem gefestigten autokratischen System, was mittelbis langfristig dessen Innovationsfähigkeit verringern kann. Heruntergebrochen auf die Frage einer nachhaltigen Politikgestaltung lässt sich trotz der Probleme der Demokratie (Gegenwartsfixierung, kurzer politischer Zeittackt, mögliche Reformblockaden) vor dem Hintergrund ihrer Vorteile (breite Interessenbefriedigung, institutionelle Stabilität, Fehlerkorrekturund Lernfähigkeit) somit argumentieren, dass sie zumindest im Vergleich zu autokratisch verfassten Gemeinwesen bessere Ausgangsbedingungen haben sollten.

IV. Fehlender Demokratievorteil in der Empirie? Wie stellt sich das Bild nun dar, wenn ein vergleichender Blick auf die bisherigen realweltlichen Erfolge und Misserfolge nachhaltiger Politikgestaltung in Demokratien und Autokratien geworfen wird. Eine umfassende empirische Antwort ist aufgrund der aufgezeigten Vielgestaltigkeit nachhaltigkeitsrelevanter Politikbereiche schwierig und bedarf eines umfangreichen Forschungsprogramms. Anhand von zwei Beispielen, aus dem Bereich der fiskalischen Nachhaltigkeit (Staatsverschuldung) und der ökologischen Nachhaltigkeit (Klimaschutz) möchte ich im Folgenden aber zumindest einige Tendenzen aufzeigen, die als Basis für weitergehende Analysen genutzt werden können. Betrachtet man zunächst das Beispiel Fiskalische Nachhaltigkeit, so stellt sich die Frage, ob es Demokratien besser als Autokratien gelingt, die haushaltspolitischen Handlungsspielräume eines Staates dauerhaft zu sichern, indem die öffentliche Verschuldung (insbesondere im Ausland) möglichst gering und die Akkumulation von Auslandsvermögen möglichst hochgehalten wird. Die für die Demokratien ernüchternde empirische Erkenntnis lautet: nein. Zwar ist es Demokratien (begünstigt durch einen leichteren Kreditmarktzugang) weit eher als Autokratien in der Vergangenheit gelungen, akute Staatsbankrotte, die massive negative Auswirkungen auf die Mehrheit der heute lebenden Bevölkerung haben, abzuwenden,14 ein vergleichender Blick auf die Staats- bzw. Auslandsverschuldung zeigt aber, dass ein Demokratievorteil hier nicht zu erken-

14 Ein fiskalpolitisches Umdenken findet in Demokratien scheinbar häufig dann statt, wenn eine Finanzkrise für die Stimmbürger akut manifest wird: Posner, Paul/ Blöndal, Jón, Democracies and Deficits: Prospects of Fiscal Responsibility in ­Democratic Nations, in: Governance: An International Journal of Policy, Administration, and Institutions, Vol. 25, 2011, Nr. 1, 11–34. 185

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nen ist.15 16 Diese Lastenverschiebung auf zukünftige Generationen kann als Kehrseite einer stark gegenwartslastigen Interessenorientierung gewertet werden. Neben mächtigen Verteilungskoalitionen sind es oft auch ärmerer Wäh­ lergruppen in Demokratien die für mehr konsumtive Ausgaben im hier und jetzt plädieren. Sie unterliegen dabei der „Fiskalillusion“, dass eine kurzfristige konsumtive Ausgabenmaximierung („to spend without to tax”) langfristig für sie folgenlos bleiben kann.17 Die Churchill-These muss im Hinblick auf dieses Nachhaltigkeitsziel somit insgesamt zurückgewiesen werden. Differenziert stellt sich das Bild dar, wenn die ökologische Nachhaltigkeit, in Form von klimapolitischen Mitigationsanstrengungen in den Blick genommen wird. Systematisch lässt sich dabei zwischen Maßnahmen mit starker und schwacher ökologischer Nachhaltigkeitsorientierung unterscheiden.18 Während es bei ersteren darum geht, das natürliche Kapital eines Gemeinwesens möglichst absolut zu schützen und dabei im Sinne einer Suffizienzorientierung auch fundamentale Änderung von Lebensstilen und Wirtschaftsweisen anzustreben, geht man bei schwacher Nachhaltigkeitsorientierung davon aus, dass die Probleme grundsätzlich durch Effizienzmaßnahmen bearbeitet werden können, wobei eine Substitution natürlichen Kapitals durch andere Kapitalarten erlaubt wird. Hierbei spielen dann kurzfristige, technische Anpassungsmaßnahmen für die Lösung von Umweltproblemen eine zentrale Rolle. Heruntergebrochen auf die Frage einer Klimamitigation lassen sich Effizienzmaßnahmen im Sinne schwacher Nachhaltigkeit beispielsweise durch die Ausbaudynamik erneuerbarer Energien oder die Erhöhung der Energieeffizienz eines Landes erfassen, während im Sinne starker Nachhaltigkeit der Fokus weit stärker auf die tatsächliche Reduktion von Energieverbrauch und Klimagasemissionen gelegt werden sollte. Betrachtet man das Abschneiden der heutigen Demokratien im Systemwettbewerb, so lässt sich zum einen tatsächlich 15 Wurster, Stefan, Sparen Demokratien leichter? – Die Nachhaltigkeit der Finanzpolitik von Demokratien und Autokratien im Vergleich in dms – der moderne staat – Zeitschrift für Public Policy, Recht und Management, 5. Jg., 2012, Heft 2, 269–290. 16 Im Hinblick auf die Akkumulation von Auslandsvermögen erweisen sich einige Autokratien sogar als wesentlich erfolgreicher als das Gros der Demokratien, wobei durchaus in Zweifel gezogen werden kann, ob diese (Auslands-) Reserven tatsächlich zum längerfristigen Nutzen einer Mehrheit der Bevölkerung eingesetzt oder nicht vielmehr primär zur Absicherung und Bereicherung der Herrschafts­ elite angelegt werden. 17 Jacobs, Alan M./Matthews, J. Scott, Why Do Citizens Discount the Future? Public Opinion and the Timing of Policy Consequences, in: British Journal of Political Science, Vol. 42, 2012, Nr. 4, 903–935. 18 Wurster, Stefan, Comparing ecological sustainability in autocracies and democracies, in Contemporary Politics, 2013, Vol. 19, Nr. 1, 76–93. 186

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ein Demokratievorteil im Sinne einer schwachen Nachhaltigkeitsorientierung bei der Bearbeitung begrenzter, sichtbarer und technisch einfach zu lösender Umweltprobleme, bei Anpassungsmaßnahmen und im Falle vorhandener ökonomischer Win-Win Situationen (Ausbau erneuerbarer Energien und Energieeffizienzmaßnahmen, die der bisherigen Logik einer auf Wachstum ausgelegten Wirtschaftsweise nicht grundlegend zuwiderlaufen) feststellen. Kein klarer Demokratievorteil lässt sich hingegen bei der Bewältigung langfristig-schleichender und globaler Umweltprobleme nachweisen, die eine fundamentale Änderung von Lebensstilen und Wirtschaftsweise (tatsächliche Reduktion von Energieverbrauch und Klimagasemissionen) erfordern würden. Zentral ist somit die Erkenntnis, dass „democracies adapt to, but do not really solve, major environmental problems“.19 Dabei besteht in den meisten Demokratien kein Erkenntnis-, sondern primär ein Umsetzungsproblem, da die Tendenz zur Problemdiskontierung in aller Regel nur dann durchbrochen werden kann, wenn die negativen Auswirkungen langfristig problematischen Handelns auch schon für heutige Generationen von Wählern unmittelbar negative Auswirkungen haben. Demokratien scheinen somit kaum dazu in der Lage zu sein, fundamentale Änderungen von Lebensstilen und Wirtschaftsweise zu befördern, solange heutige Mehrheiten von diesen noch akut profitieren. Dies bleibt eine ernüchternde Erkenntnis, ohne dass damit ausgesagt wäre, dass Autokratien an dieser Stelle grundsätzlich erfolgreicher wären.

V. Institutionelle Lösungsansätze Vor dem Hintergrund der evidenten Nachhaltigkeitsprobleme in Demokratien stellt sich die Frage, welche institutionellen Reformen sinnvoll erscheinen, um das Grundproblem einer unzureichenden Interessenberücksichtigung zukünftiger Generationen strukturell in den Griff zu bekommen. Grundsätzlich steht dazu ein ganzes Arsenal an denkbaren Instrumenten zur Verfügung, das bis heute noch bei weitem nicht voll ausgeschöpft wurde.20 Diese Instrumente lassen sich dabei grundsätzlich danach anordnen, wie stark sie in den demokratischen Prozess eingreifen. Wenn die Eingriffstiefe möglichst geringge­ 19 Wurster, Fn. 18, 89. 20 Zwar haben einige Demokratien durchaus Instrumente für mehr Nachhaltigkeit implementiert und dabei als Gruppe betrachtet die Innovationsdynamik in Autokratien insgesamt übertroffen (vgl. Wurster, Stefan/Auber, Benjamin/Metzler, Laura/­ Rohm, Christian, Institutionelle Voraussetzungen nachhaltiger Politikgestaltung, in Zeitschrift für Politik (ZfP), Jg. 62, 2015, Heft 2, 177–196.), immer noch sind wir aber von einer flächendeckenden Einführung solcher Instrumente in Demokratien weit entfernt. 187

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halten werden soll, kann auf prozessorale Hürden (nachhaltige Gesetzesfolgenabschätzung), Informationspflichten (konsultative Nachhaltigkeitsräte ohne Vetomöglichkeit, Ombudsmannsysteme für Nachhaltigkeit) sowie partizipations- (Bürgerhaushalte) oder wettbewerbsorientierte Instrumente (Nachhaltigkeitspläne mit hinterlegtem Benchmarkingsystem) zurückgegriffen werden. Einen deutlich tieferen Einschnitt stellt eine Selbstbindung bzw. Selbstbeschränkung des demokratischen Souveräns in Form verfassungsrechtlicher Vorgaben dar, wie sie in Deutschland beispielweise mit der Einführung einer Schuldenbremse ins Grundgesetz hinterlegt wurde. Während eine Absenkung des Wahlalters (um jüngeren Generationen mehr Gewicht bei Wahlen zu ­ermöglichen) oder die Beschränkung von Amtszeiten (um Verkrustungen der politischen Entscheidungsprozesse zu vermeiden) nur relativ moderat in den demokratischen Prozess eingreifen, würden Vorschläge wie ein Nach­ haltigkeitsexpertengremium mit suspensiven oder gar absolutem Veto (um nichtnachhaltige Entscheidungen zu blockieren) oder die Einführung eines Extrastimmrechts für Eltern (unter der Annahme, dass so Interessen nachkommender Generationen besser gewahrt würden) grundlegende demokratische Prinzipen (Mehrheitsherrschaft, Gleichheit) fundamental in Frage stellen. Zwar könnten die angedeuteten institutionellen Neuerungen dazu beitragen, einige strukturelle Defizite der Demokratie im Hinblick auf die Förderung nachhaltiger Entwicklung zu mindern,21 sie bergen aber auch die Gefahr, eine Aushöhlung demokratischer Prozesse zu befördern. Vor dem Hintergrund immer drängender werdender Nachhaltigkeitsprobleme, die das Potenzial haben, menschliches Leben auf der Erde (zumindest wie wir es heute kennen) massiv zu gefährden, sollte die Diskussion um neue institutionelle Arrangements aber zumindest ernsthaft geführt werden. Nicht zuletzt, da ein sich verfestigendes Nachhaltigkeitsversagen in Demokratien auch zu einer Delegitimierung der Demokratie selbst beitragen dürfte.

21 Ihre jeweilige Nachhaltigkeitswirkung konnte bis heute empirisch allerdings noch nicht überprüft werden. 188

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