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German Pages [324] Year 2005
Franziskus von Assisi
BEIHEFTE ZUM ARCHIV FÜR KULTURGESCHICHTE IN VERBINDUNG MIT KARL ACHAM, GÜNTHER BINDING, EGON BOSHOF, WOLFGANG BRÜCKNER, KURT DÜWELL, GUSTAV ADOLF LEHMANN, MICHAEL SCHILLING HERAUSGEGEBEN VON
HELMUT NEUHAUS HEFT 54
FRANZISKUS VON ASSISI Das Bild des Heiligen aus neuer Sicht
herausgegeben von
DIETER R. BAUER, HELMUT FELD, ULRICH KÖPF
§ 2005
BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Giovanni Cimabue, Franziskus von Assisi. Fresco in der Unterkirche von San Francesco in Assisi, ca. 1280 (Foto: akg-images, Berlin) © 2005 by Böhlau Verlag G m b H & Cie, Köln Ursulaplatz 1, D-50668 Köln Tel. (0221) 913 90-0, Fax (0221) 913 90-11 [email protected] Druck und Bindung: Interpress Co. Ltd., Budapest Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier. Printed in Hungary ISBN 3-412-09403-X
Inhalt
Zur Einfuhrung
VII
FRANZ XAVER BISCHOF
Der Stand der „Franziskanischen Frage"
1
THEO ZWEERMAN
Franziskus von Assisi als Mystiker Versuch einer neuen Annäherung im Lichte einiger seiner Schriften
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HELMUT FELD
Die Gleichnisse des heiligen Franziskus
49
OKTAVIAN SCHMUCKI
Spiritualität, Askese und Krankheiten nach den Schriften des Franziskus von Assisi
71
DAVID ETHELBERT FLOOD
Franziskus und die Offenheit der Geschichte
97
LEONHARD LEHMANN
„Erlösung" in den Schriften des hl. Franziskus
107
DANIELA MÜLLER
Franziskus und der Katharismus Gemeinsamkeiten und Differenzen im Natur- und Erlösungsverständnis... 141 ULRICH KÖPF
Hugolino von Ostia (Gregor IX.) und Franziskus
163
GIULIA BARONE
Elias von Cortona und Franziskus
183
NIKLAUS KÜSTER
Was Franziskus und Klara von Assisi verbindet Neuere Interpretationen zwischen unzertrennlicher Freundschaft und brüderlichem Desinteresse
195
vi
Inhalt
ANTON ROTZETTER
Franziskus und Klara. Anmerkungen zu einem befremdenden Ritual des heiligen Franz (II Cel 207)
213
KASPAR ELM
Agnes von Prag und Klara von Assisi - Na Frantisku und San Damiano
227
KLAUS KRÜGER
Repräsentation und Sinnstiftung. Zum Franziskusbild im Medium der frühen Tafelmalerei
251
WOLFGANG SCHENKLUHN
Die Doppelkirche San Francesco in Assisi: Stand und Perspektiven der deutschsprachigen Forschung
271
Register: Historische Personen
283
Quellenauswahl
285
Autorinnen und Autoren
287
Zur Einführung
Franziskus von Assisi (um 1181-1226) gehört zu den großen Gestalten der europäischen Religionsgeschichte. Seine Bedeutung reicht weit über die eines Ordensstifters und Heiligen der katholischen Kirche hinaus. Seine religiösen Vorstellungen und die Lebensform seiner frühen Gemeinschaft wurden zu ihrer Zeit als etwas unerhört Neues empfunden. Verbindlichkeit und Sinn des von ihm verkündeten Lebensideals waren bereits zu seinen Lebzeiten heftig umstritten. Im Bereich der historischen, philologischen und theologischen Wissenschaften erwies sich das frühe Franziskanertum als einer der fruchtbarsten, interessantesten, wichtigsten Komplexe überhaupt, vergleichbar vielleicht nur der Geschichte Jesu und des Urchristentums oder deijenigen der Französischen Revolution. Die wissenschaftliche Beschäftigung im modernen Sinne mit dem Franziskanertum begann mit dem irischen Franziskaner Lucas Wadding (1588-1657), der eine erste Edition der Schriften des heiligen Franziskus veranstaltete, die 1623 in Antwerpen herauskam; zwei Jahre später erschien in Lyon der erste Band seiner 'Annales Minorum', der monumentalen Ordensgeschichte, von der Wadding selbst sechzehn Bände schrieb. Neue und entscheidende Impulse erhielt die Franziskusforschung gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch die Werke protestantischer Gelehrter, unter denen vor allem Karl Müller, Paul Sabatier und Henry Thode zu nennen sind. Die von ihnen markierten philologischen, kulturgeschichtlichen und religionshistorischen Probleme sind bis heute nicht erledigt. In den vergangenen Jahrzehnten führte vor allem die in den franziskanischen Ordensgemeinschaften angesiedelte Forschung zu beachtlichen Ergebnissen; das wachsende Interesse an Franziskus in den Geschichts- und Kulturwissenschaften erbrachte in jüngerer Zeit neue Erkenntnisse insbesondere über die mittelalterlichen Quellen zu seinem Leben und über seine religiöse Weltvorstellung. Vor diesem Hintergrund schien es den drei auch für den nun vorgelegten Tagungsband Verantwortlichen sinnvoll und geboten, besonders im Hinblick auf den deutschsprachigen Raum, aber selbstverständlich unter Berücksichtigung der internationalen Forschung eine wissenschaftliche Studientagung zu organisieren: Franziskus von Assisi. Stand und Perspektiven der deutschsprachigen Forschung (25.-29. März 1998 in Weingarten/Oberschwaben, veranstaltet von der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart). Erklärtes Anliegen war es, zu einem kritischen Resümee der neueren FranziskusForschung zu fuhren und Impulse für die weitere wissenschaftliche wie über-
Vili
Dieter R. Bauer, Helmut Feld, Ulrich Köpf
haupt jede nachdenkende Beschäftigung mit dem frühen Franziskanertum zu geben, das als utopische Sicht von Mensch, Welt und Gott seine eigentliche Wirkung vielleicht noch vor sich hat. Für die Forschung steht fraglos an erster Stelle die Quellenfrage, die als „Franziskanische Frage" par excellence seit über einem Jahrhundert die wissenschaftlichen Gemüter bewegt. In diesen Bereich gehört auch die Frage nach der Art der Mitteilung der franziskanischen Quellenschriften: Sind sie direkt und naiv zu lesen und zu übersetzen, oder enthalten sie vielleicht so etwas wie „verdeckte Mitteilungen", Informationen also, die der Verfasser über den Wortlaut hinaus - durch kunstvolle Gestaltung des Textes oder zwischen den Zeilen oder im beredten Verschweigen - einem bestimmten Leserkreis geben möchte? Wie hat sich Franziskus selbst, dieser Visionär und Schauspieler Gottes, mitgeteilt? Was ist die Bedeutung seiner Darstellungen und Gleichnisse? Wie standen Franziskus und Klara von Assisi zueinander? War Klara eine eigenständige geistige Persönlichkeit, oder war sie total von Franziskus abhängig? Geben ihre Briefe an Agnes von Prag darüber Aufschluß? Das Bild des Heiligen von Assisi ist bis heute durch die 'Legenda maior' des heiligen Bonaventura geprägt. Bekanntlich hat sie seit 1266 die früheren Legenden ersetzt und einen übermächtigen Einfluß erlangt. Kann sie als eine wirkliche Quelle für Leben, Persönlichkeit und Absichten des Franziskus gelten, gibt sie ein allzu geglättetes und geschöntes Idealbild wieder, oder ist sie gar eher als verhängnisvolle Geschichtsklitterung zu beurteilen? Das historische Bild des Franziskus wäre unvollständig ohne die überragenden Zeitgenossen, die mit ihm in direkter Weise zu tun hatten und seinen Weg maßgeblich beeinflußten, namentlich den Kardinalbischof Hugolino von Ostia (den späteren Papst Gregor IX.) und Bruder Elias von Cortona, seinen Nachfolger im Amt des Generalministers. Elias gilt als der Erbauer der Doppelkirche San Francesco in Assisi und der zweiten großen städtischen Franziskanerkirche, der von Cortona. Welches waren die leitenden Ideen, die der Grabeskirche des Heiligen zugrunde liegen? Wohl zum ersten Mal durch Henry Thode ist die überragende Bedeutung des Franziskus sowohl fur die Architektur wie für die Bildende Kunst ins Blickfeld gerückt worden. Was steckt hinter der frühen Ikonographie des Franziskus? Und nicht zuletzt ist immer wieder erneut ein Überdenken der zentralen religiösen Ideen des Franziskus gefordert: des sachlichen Gehaltes seiner Visionen, seiner Vorstellungen von der Erlösung der Welt auf dem Hintergrund des Katharertums des 12. und 13. Jahrhunderts. Inwieweit hat die leibliche Befindlichkeit des Heiligen, sein komplexes Krankheitsbild, damit etwas zu tun? Mit diesen Fragen, die in Weingarten behandelt und diskutiert wurden, sind wichtige Probleme der franziskanischen Frage im weiteren Sinne ange-
Zur Einführung
IX
schnitten. Inwieweit die dazu gegebenen Antworten gelungen sind, mag der Leser des nun vorliegenden Tagungsbandes beurteilen. Mit dem Erscheinen dieses Bandes kommt das ganze Projekt endlich zu einem guten Ende; leider zögerten einige unglückliche Umstände die Fertigstellung des Buches immer wieder hinaus. Seiner aktuellen Bedeutung in der wissenschaftlichen Diskussion - so der allgemeine Eindruck - tut dies keinen Abbruch; doch bitten wir um Verständnis dafür, daß die neueste Literatur nicht mehr eingearbeitet werden konnte. Dem Anliegen, den franziskanischen Studien im deutschsprachigen Raum neue Impulse zu geben, aber auch, die gelehrte und nachdenkende Beschäftigung mit dieser wichtigen Epoche des Mittelalters und des westlichen Christentums zu fördern, werden die Beiträge sicherlich immer noch uneingeschränkt gerecht. Zum Schluß bleibt noch die angenehme Pflicht zu danken: der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart für die Ermöglichung des ganzen Projekts sowie allen, die durch ihre engagierte Beteiligung die Studientagung zu einem Erfolg werden ließen; den Referentinnen und Referenten darüber hinaus für ihre speziellen Beiträge und für die Bereitschaft, die Manuskripte zu überarbeiten und für die Publikation zur Verfügung zu stellen; Frau Petra Braun sowie - jeweils während der kurzen Zeit eines Praktikums - Jan Friedrichs, Marion Müller, Christiane Scheel und Vera Thorwarth für verschiedene administrative und redaktionelle Arbeiten; Frau R. Johanna Regnath für Textverarbeitung und Gestaltung, Frau Christa Wassermann fürs Korrekturlesen sowie Frau Waltraud Schnell für Mitarbeit am Register; dem Herausgeber des Archivs für Kulturgeschichte für die Aufnahme unter die „Beihefte" und nicht zuletzt dem Böhlau Verlag für die Herstellung des Buches - hier ganz besonders Herrn Johannes van Ooyen.
Stuttgart und Tübingen, im Frühjahr 2005 Dieter R. Bauer, Helmut Feld und Ulrich Köpf
FRANZ XAVER
BISCHOF
Der Stand der „Franziskanischen Frage"
D e n Auftakt zu der nunmehr annähernd hundert Jahre dauernden w i s s e n schaftlichen D i s k u s s i o n um die sogenannte „Franziskanische Frage" gab der französische protestantische T h e o l o g e und Historiker Paul Sabatier mit der ebenso herausfordernden w i e glänzend geschriebenen Biographie ' V i e de S. François d ' A s s i s e ' 1 , die am 23. N o v e m b e r 1893 im Verlag Fischbacher in Paris mit d e m Aufdruck des nächstfolgenden Jahres erschien. D a s epochemachende, v o n Sabatiers Lehrer Ernest Renan angeregte und w e n i g e Monate nach Erscheinen indizierte Werk hat das g ä n g i g e Franziskusbild bis in die jüngste Zeit herein geprägt und der modernen theologischen und historischen Franziskusforschung entscheidende Impulse verliehen. 2 Freilich schied e s auch im A u g e n b l i c k die Geister. D e n n Sabatier nahm in einer knapp hundertseitigen 'Étude critique des sources' 3 , die er seinem B u c h voranstellte, eine radikale Umwertung der bis dahin bekannten Quellen über Franziskus v o n A s s i s i (1181/82—1226) 4 vor. B i s z u m Erscheinen v o n Saba-
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3 4
Paul SABATIER, Vie de S. François d'Assise, Paris 1894. - Die französische Ausgabe erschien bis 1931 in 42 Auflagen, die deutsche, von Margaret Lisco besorgte Übersetzung ('Leben des Heiligen Franz von Assisi', Berlin 1895) erlebte bis 1935 fünf Auflagen. Insgesamt wurde das Werk Sabatiers in vierzehn Sprachen übersetzt. Zu Sabatier (1858-1928) und seiner Bedeutung für die Franziskus-Forschung zuletzt: Francesco d'Assisi attesa dell'ecumenismo. Paul Sabatier e la sua „Vita di S. Francesco" cent'anni dopo. Atti del Convegno di Studi organizzato dall'Istituto di Studi Ecumenici S. Bernardino e dalla Facoltà Valdese di Teologia. Roma 9 marzo 1993, Venezia 11 marzo 1993 [Studi Ecumenici 12 (1994) Heft 3], Venezia 1994; Helmut FELD, in: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon, hg. ν. F. W. BAUTZ, Bd. 8, Hamm 1994, 1041-1045 (Lit.). SABATIER, Vie de S. François d'Assise (wie Anm. 1), XXXI-CXXVI. Über die fast unüberschaubare Fülle des Schrifttums über Franziskus unterrichtet die 'Bibliographia Franciscana' des römischen Istituto Storico dei Frati Minori Capuccini. - Neue deutschsprachige bzw. in die deutsche Sprache übersetzte und aus Quellen gearbeitete Biographien sind: Gert WENDELBORN, Franziskus von Assisi. Eine historische Darstellung, Leipzig 2 1982; Raoul MANSELLI, Franziskus. Der solidarische Bruder, Zürich 2 1989 (italienische Originalausgabe: San Francesco d'Assisi, Roma 3 1982); Isnard Wilhelm FRANK, Franz von Assisi. Frage auf eine Antwort, Mainz 2 1992; Helmut FELD, Franziskus von Assisi und seine Bewegung, Darmstadt 1994; Chiara FRUGONI, Franz von Assisi. Die Lebensgeschichte eines Menschen, Zürich/Düsseldorf 1997 (italienische Originalausgabe: Vita di un uomo: Francesco d'Assisi, Torino 1995).
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Franz Xaver Bischof
tiers Franziskusbiographie hatten sich Darstellungen über das Leben des Heiligen von Assisi in der Hauptsache auf die Viten des Thomas von Celano ( t um 1260), vor allem aber auf das Franziskusleben des heiligen Bonaventura (1217/18-1274) gestützt, während die Opuscula' des Franziskus mehr als schmückendes Beiwerk zu den Legenden denn als ursprüngliche Quellen betrachtet wurden. Sabatier dagegen beurteilte die von Kirche und Orden anerkannten Lebensbeschreibungen Celanos und Bonaventuras mit größtem Vorbehalt. Statt dessen griff er auf die Schriften des Franziskus zurück, insbesondere auf sein Testament, dessen Echtheit damals bezweifelt wurde, außerdem auf die damals zwar bekannte, aber wenig ernst genommene 'Legenda trium sociorum'. In ihr meinte er die entscheidende Quelle für die Beurteilung des Lebens von Franziskus und seiner ursprünglichen Zielsetzungen erkennen zu können. Dabei war er allerdings der Überzeugung, die Drei-Gefahrten-Legende in ihrer heutigen Gestalt liege nur in verkürzter Form vor. Der Hauptteil, der von der Armut und der Ordensregel gehandelt habe, sei vom Generalminister Crescentius von Jesi (1244-1247), einem Gegner der Zelanti innerhalb des Ordens, unterdrückt worden. 5 Auf der Suche nach dieser Quelle entdeckte er in mehreren Handschriften die Schrift 'Speculum perfectionis', die er 1898 in einer bis heute nicht ersetzten Edition vorlegte.6 Sabatier glaubte, in dieser Schrift den vermeintlich von der Ordensleitung unterdrückten Teil der Drei-Gefáhrten-Legende gefunden zu haben und hielt zeitlebens an der Auffassung fest, das 'Speculum perfectionis' sei eine 1227 von Bruder Leo, einem der vertrautesten Freunde des Heiligen, verfaßte Protestschrift gegen Maßnahmen des Bruders Elias und damit der früheste erhaltene Bericht über Franziskus überhaupt.7 Nicht so sehr diese Beurteilung der Quellenlage aber bildete den Stein des Anstoßes, sondern die Schlußfolgerungen, die Sabatier daraus zog. Insbesondere sah er eine tiefe Kluft zwischen der ursprünglichen franziskanischen Idee und ihrer Verwirklichung in der Geschichte. Der durch ihn zentral herausgearbeitete Punkt lag in der Annahme, der Kardinalprotektor Hugolin und nachmalige Papst Gregor IX. (1227-1241) habe mit Hilfe einiger Brüder, allen voran des Bruders Elias von Cortona (um 1180-1253), die ursprünglichen Intentionen des Franziskus rücksichtslos kirchlichen Interessen untergeordnet, damit aber auch das religiöse „Ideal" des Heiligen zerstört (das in Nachahmung des Lebens Christi und der Apostel in gänzlicher Armut, tiefster Demut und völliger Selbstentäußerung bestanden habe) und
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SABATIER, Vie de S. François d'Assise (wie Anm. 1), LXI-LXXVIII. Paul SABATIER, Speculum perfectionis seu S. Francisci Assisiensis. Legenda antiquissima auctore fratre Leone, Paris 1898. Ebd., XIX.
Der Stand der „Franziskanischen Frage"
3
die Umwandlung der ursprünglichen fraternitas in einen „Mönchsorden im engsten Sinne des Wortes" 8 erreicht. Hinter der alsbald einsetzenden, intensiv und jahrzehntelang stark emotional und interessenorientiert geführten Auseinandersetzung über Sabatiers Sichtweise der franziskanischen Quellen stand ein überaus komplizierter und vielschichtiger Fragenkomplex, der unter dem eingangs genannten Namen „Franziskanische Frage" in die Geschichte der modernen Franziskusforschung eingegangen ist. Der Begriff „question franciscaine" wurde erstmals von Sabatier in einem Schreiben vom 6. Oktober 1898 an den italienischen Exegeten Salvatore Minocchi verwendet.9 In der Folge wurde die Bezeichnung seit dem Erscheinen von Minocchis Aufsatz 'La questione francescana' 10 aus dem Jahre 1902, in welchem dieser das Verhältnis der Legendenliteratur zum Leben des Franziskus behandelte, als Fachausdruck für den gesamten Fragenkomplex übernommen. Konkret ging und geht es bei der „Franziskanischen Frage" um die Frage nach dem unterschiedlichen Franziskusbild in den Quellen, um die bis heute nicht abgeschlossene Diskussion über die historische Einordnung und Bewertung des überlieferten Quellenmaterials, die nach dem Urteil Ulrich Köpfs „für die Biographie des Heiligen dieselbe Schlüsselposition gewonnen" hat „wie die 'synoptische Frage' für die Leben-Jesu-Forschung" 11 . Zur Diskussion stehen das Alter, die Vorlagen, die gegenseitige Abhängigkeit bzw. das Verhältnis der einzelnen Lebensbeschreibungen zueinander, ihre Zuverlässigkeit und historische Glaub-
8
SABATIER, Vie de S. François d'Assise (wie Anm. 1), 280. Vgl. ebd., 116, 316-319 u. ö.; Franz Xaver BISCHOF, Die „Franziskanische Frage" - Ein ungelöstes historiographisches Problem. Aus Anlaß der verbesserten deutschen Neuauflage des Werkes „Franziskus. Der solidarische Bruder" von Raoul Manselli, Münchener Theologische Zeitschrift 41 (1990), 355-382, hier: 367 f. - Zur heutigen Beurteilung Papst Gregors IX. und Bruder Elias': Machtfiille des Papsttums (1054-1274) (Die Geschichte des Christentums 5), hg. v. André VAUCHEZ, Freiburg/Basel/Wien 1994, 569-571, Reg.; Dieter BERG, Elias von Cortona. Studien zu Leben und Werk des zweiten Generalministers im Franziskanerorden, Wissenschaft und Weisheit 41 (1978), 102-126; Giulia BARONE, Elias von Assisi, in: Lexikon des Mittelalters 3 (1986), 1826f.; DIES., Frate Elia: suggestioni da una rilettura, in: 1 compagni di Francesco e la prima generazione minoritica. Atti del XIX Convegno internazionale. Assisi, 17-19 ottobre 1991, Spoleto 1992, 59-80; FELD, Franziskus von Assisi (wie Anm. 4), 319-400. 9 Vgl. Stanislao DA CAMPAGNOLA, Gli storici umbri e la „questione francescana", in: La „Questione francescana" dal Sabatier ad oggi (Atti del I Convegno internazionale Assisi, 18-20 ottobre 1973), Assisi 1974, 119-169, hier: 133. 10 Salvatore MINOCCHI, La questione francescana, Giornale storico della letteratura italiana 29(1902), 293-326. 11 Ulrich KÖPF, Franz von Assisi, in: Mittelalter I (Gestalten der Kirchengeschichte 3), hg. ν. Martin GRESCHAT, Stuttgart u.a. 1983, 282-302, hier: 283.
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Franz Xaver Bischof
Würdigkeit - und damit die Frage nach der „wahren", der historischen, oder genauer: der Wirklichkeit am nächsten kommenden Franziskusdarstellung.12 Nun stellte sich die Frage nach dem unterschiedlichen Franziskusbild in den Quellen bekanntlich nicht erst im historisch besonders interessierten 19. Jahrhundert. Sie war schon im Mittelalter Gegenstand heftigster ordensinterner Auseinandersetzungen gewesen. Gemeint ist die Tatsache, daß die Ansichten über die ursprünglichen Intentionen des Stifters - etwa hinsichtlich der anfänglich angestrebten Struktur und Aufgabe der Gemeinschaft oder des rechten Verständnisses von Ordensregel und Armutsgebot - wenn nicht schon zu Lebzeiten, so doch innerhalb weniger Jahre nach dem Tod des Heiligen weit auseinander klafften. Einflüsse von außen, wie der Einbruch des Joachimismus, verstärkten diesen Konflikt noch. Es gilt daher zu beachten, daß die jeweiligen Autoren und Kompilatoren ihr Franziskusbild vermittelten, darauf bedacht, gleichzeitig auch ihr Verständnis franziskanischen Lebens als authentisch auszugeben und zu rechtfertigen. Die überlieferten Franziskusleben tradieren folglich immer auch das theologische und kirchenpolitische Programm, dem die Schreiber verpflichtet waren. Sie widerspiegeln - je nach Entstehungszeit in unterschiedlicher Intensität - die jahrzehntelangen Parteienkämpfe zwischen einer Minderheit von „Eiferern" (Spiritualen) und einer Mehrheit von „Laxen" (Konventualen) innerhalb des Ordens, wie sie im sogenannten Armutsstreit des 13. und frühen 14. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichten. In der Folge wurden je nach Standort der Verfasser Quellen ergänzt, in Teilen verkürzt oder umredigiert. Die Quellen über Franziskus schildern deshalb vielfach ein gedeutetes Leben, dessen geschichtlicher Wahrheitsgehalt erst von Fall zu Fall zu ermitteln ist.13
12 Aus der überreichen Literatur zur „Franziskanischen Frage" seien in Auswahl genannt: Sophronius CLASEN, Legenda antiqua S. Francisci. Untersuchung über die nachbonaventurianischen Franziskusquellen, Legenda trium Sociorum, Speculum Perfectionis, Actus B. Francisci et sociorum eius und verwandtes Schrifttum (Studia et Documenta Franciscana V), Leiden 1967; La „Questione francescana" (wie Anm. 9); Stanislao DA CAMPAGNOLA, Le origini francescane come problema storiografico, Perugia 2 1979; Raoul MANSELLI, Nos qui cum eo fuimus. Contributo alla questione francescana (Bibliotheca Seraphico-Capuccina 28), Roma 1980; Lorenzo Di FONZO, Questione Francescana, in: Dizionario degli Istituti di Perfectione 7 (1983), 1133-1154; BISCHOF, Die „Franziskanische Frage" (wie Anm. 8), 355-382 (Lit.); Edith PÁSZTOR, La questione francescana oggi, in: Gli studi francescani dal dopoguerra ad oggi (Atti del Convegno di Studio. Firenze, 5 - 7 novembre 1990), hg. v. Francesco SANTI, Spoleto 1993, 3 8 8 394; Enrico MENESTÒ, La „questione francescana" come problema filologico, in: Maria Pia ALBERZONI u.a., Francesco d'Assisi e il primo secolo di storia francescana, Turin 1997, 117-143. 13 Zur Frühgeschichte des Franziskanerordens und zum Armutsstreit: Handbuch der Kirc h e n g e s c h i c h t e III/2, h g . v . H u b e r t JEDIN, F r e i b u r g / B a s e l / W i e n 1 9 6 8 , 2 1 4 - 2 2 9 ,
453-
460; Karl August FINK, Papsttum und Kirche im abendländischen Mittelalter, München 1981, 72-88; André VAUCHEZ, Die Bettelorden und ihr Wirken in der städtischen Ge-
Der Stand der „Franziskanischen Frage"
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Was die Überlieferung betrifft, so sind im Zusammenhang mit der „Franziskanischen Frage" zwei Eckdaten bedeutsam: 1244 erließ das Generalkapitel von Genua einen Aufruf, mündliche Überlieferung festzuhalten, nachdem vorausgehend 1228/29 im Auftrag Papst Gregors IX. die erste und älteste Biographie des Franziskus, die 'Vita prima' des Thomas von Celano, erschienen war. Diese Maßnahme führte zur Entstehung weiterer literarischer Erzeugnisse, vor allem der 'Drei-Gefahrten-Legende' und der zweiten Vita des Thomas von Celano. Beide Legenden betonen die ihnen wichtig erscheinenden Elemente franziskanischer Lebensform. Das zweite Datum verbindet sich mit der fatalen Bestimmung des Pariser Generalkapitels von 1266, das nur die 'Legenda maior' Bonaventuras als einzige authentische und normative Lebensbeschreibung des Franziskus gelten lassen wollte und verfügte, alle vorbonaventurianischen Franziskusleben zu vernichten. Das Testament des Heiligen hatte Papst Gregor IX. auf Drängen der Ordensleitung bereits 1230 in der Bulle 'Quo elongati' als nicht rechtsverbindlich erklärt.14 Bei den in der Zeit nach 1266 entstandenen Schriften zum Leben des Franziskus - wie der 'Compilado Perusina' (Textsammlung von Perugia, häufig auch 'Legenda Perusina' genannt) oder dem 'Speculum perfectionis' - handelt es sich um Sammelwerke mündlich tradierten Materials, die in Reaktion auf den Kapitelsbeschluß von 1266 verfaßt wurden und die, worauf gleich noch näher eingegangen wird, wertvolles altes Überlieferungsgut über das Leben des Heiligen enthalten.15 In den letzten hundert Jahren haben zahlreiche quellenkritische Untersuchungen zur Klärung des Problems der Echtheit, der Datierung, der Chronologie und des Charakters der verschiedenen Quellenschriften über Franziskus beigetragen. Hilfreich im Zusammenhang mit der „Franziskanischen Frage" ist zunächst die Unterscheidung der Lebensbeschreibungen in offizielle und nicht offizielle Schriften. Diese auf den 1984 verstorbenen italienischen Mesellschaft, in: DERS., Machtfulle des Papsttums (wie Anm. 8), 833-860; DERS., Protestund Häresiebewegungen in der römischen Kirche, in: Die Zeit der Zerreißproben (1274-1449) (Die Geschichte des Christentums 6), hg. v. Michel MOLLAT U. André VAUCHEZ, Freiburg/Basel/Wien 1991, 315-346, hier: 323-327 (Lit.); Kurt RUH, Geschichte der abendländischen Mystik II, München 1993, 457-495 (Lit.); Ulrich HORST, Evangelische Armut und päpstliches Lehramt. Minoritentheologen im Konflikt mit Papst Johannes XXII. (1316-34) (Münchener Kirchenhistorische Studien 8), Stuttgart/ Berlin/Köln 1996 (Lit.). 14 Zur Bulle 'Quo elongati': Herbert GRUNDMANN, Die Bulle „Quo elongati" Papst Gregors IX., AFH (= Archivum Franciscanum Historicum) 54 (1961), 3-25. 15 Zur Entstehung des franziskanischen Schrifttums jetzt auch: Dieter BERG, Geschichtsschreibung und historisches Bewußtsein. Zur Entwicklung der franziskanischen Historiographie im Hohen und Späten Mittelalter, in: Frate Francesco d'Assisi. Atti del XXI Convegno internazionale - Assisi, 14-16 ottobre 1993 (Atti dei Convegni della Società internazionale di studi francescani e del Centro interuniversitario di studi francescani), Spoleto 1994, 221-248.
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Franz Xaver Bischof
diävisten und Franziskusbiographen Raoul Manselli zurückgehende und in der Franziskusforschung seither weithin rezipierte Einteilung ersetzt zugleich den früheren, zu falschen Schlüssen verleitenden Begriff „Schriften des Bruders Leo".16 Offizielle Schriften sind auf Bestellung, das heißt im Auftrag des Papstes oder der Ordensleitung, geschrieben und vermitteln das von Kirche und Orden approbierte Franziskusbild. Dazu zählen die Trilogie des Thomas von Celano und die Franziskusvita Bonaventuras. Nicht offizielle Schriften, von denen die 'Legenda trium sociorum' und die 'Compilatio Perusina' wohl die wichtigsten sind, sind dem Kreis der ursprünglichen Gefährten zuzurechnen. Ihr Bild des Franziskus ist geprägt von der jeweiligen Gruppenzugehörigkeit ihrer Verfasser, und sie unterscheiden sich in ihrer Tendenz nicht selten von den offiziellen Biographien. Innerhalb der nicht offiziellen Schriften kann nach dem Einteilungsschema Mansellis zusätzlich unterschieden werden zwischen systematisch und nicht systematisch geordneten Legenden und Textsammlungen. Erstere folgen einer chronologischen Ordnung oder einem „Tugendkatalog", wie namentlich die 'Legenda trium sociorum' und das 'Speculum perfectionis'; letztere sind Textsammlungen im eigentlichen Sinn, ohne erkennbare innere Ordnung. Dazu gehören die 'Compilatio Perusina', das 'Speculum perfectionis minus', das 'Manuscript Little' und die 'Actus beati Francisci et sociorum eius'. In der deutschsprachigen Franziskusforschung haben vor kurzem der Franziskaner Engelbert Grau und der Theologe und Historiker Helmut Feld wichtige Beiträge über die Beschaffenheit und Problematik der Franziskusquellen vorgelegt: Grau in der Einführung zur Celano-Trilogie, die 1988 in der Reihe 'Franziskanische Quellenschriften' in vierter, von ihm überarbeiteter Übersetzung erschien17; Feld in seinem 1994 bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, Darmstadt, erschienenen Werk 'Franziskus von Assisi und seine Bewegung' 18 . Beide Autoren referieren mit profunder Sach- und Quellenkenntnis in jeweils prägnanter Form den Stand der Forschung, was nicht heißt, daß sie in allem übereinstimmen.19
16
MANSELLI, N O S q u i c u m e o
fiiimus
( w i e A n m . 10), 1 5 - 4 4 .
17 Thomas von Celano, Leben und Wunder des Heiligen Franziskus von Assisi. Einführung, Übersetzung, Anmerkungen von Engelbert GRAU (Franziskanische Quellenschriften 5), Werl 5 1994. 18 FELD, Franziskus von Assisi (wie Anm. 4). 19 Dies gilt auch für Fragen, auf die hier nicht näher eingegangen wird. Beispielsweise bezeichnet GRAU, Thomas von Celano (wie Anm. 17), 54, die von der modernen Franziskusforschung lange Zeit kaum beachtete Schrift 'Sacrum Commercium s. Francisci cum Domina Paupertate' als eine 1227 entstandene „biblisch-heilsgeschichtliche Reflexion des jungen Ordens über sich selbst in Abgrenzung zum bisherigen Mönchtum der Kirche"; FELD, Franziskus von Assisi (wie Anm. 4), 45, dagegen betrachtet sie als eine „allegorische Erzählung über die Begegnung des Franziskus und seiner Gefährten mit der personifizierten Armut", welche „gegen Ende des 13. Jahrhunderts" verfaßt worden
Der Stand der „Franziskanischen Frage"
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Ist sich die Forschung über Gliederung, zeitliche Entstehung und Charakterisierung der ältesten Literatur über Franziskus mehrheitlich einig - auch darüber, daß die Schriften des Franziskus unbedingten Vorrang vor den anderen Quellen zum Leben des Franziskus haben und Quellen wie die 'Legenda trium sociorum' und andere Sammlungen Nachrichten über Franziskus enthalten, die zum Teil in den Legenden Celanos und Bonaventuras enthalten sind, zum Teil ein anderes, eigenes Franziskusbild übermitteln - , so bleiben doch viele Fragen und Probleme ungelöst oder sind vorgelegte Lösungsvorschläge umstritten. Dies gilt insbesondere für die 'Legenda trium sociorum', an der sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung um die „Franziskanische Frage" zu einem guten Teil entzündet hatte, nachdem Sabatier in ihr eine zwar authentische, aber unvollständige Legende sah, die durch das 'Speculum perfectionis' zu ergänzen sei, und auf den Umstand hinwies, daß auf die Berichte über Jugend, Bekehrung und Ordensjahre des Franziskus bis zum Jahre 1220 umgehend die Schlußkapitel mit den zusammenfassenden Berichten über Tod, Heiligsprechung und Übertragung in die neue Grabeskirche folgen würden. Erinnert sei nur daran, daß insbesondere der gelehrte Bollandist François van Ortroy in schroffer Abgrenzung gegen Sabatier der 'Drei-Gefährten-Legende' jede Glaubwürdigkeit absprach und sie als ein Machwerk des ausgehenden 13. bzw. frühen 14. Jahrhunderts bezeichnete. Der der Legende vorausgehende Begleitbrief, der diese als von den drei Franziskusgefährten Leo, Rufinus und Angelus 1246 verfaßt ausgebe, sei entweder eine Fälschung oder gehöre zu einer anderen Schrift; die Legende selbst aber sei zu ihrem großen Teil eine umgearbeitete Zusammenfassung von Texten aus der zweiten Vita des Thomas von Celano und anderen Quellen. Weil van Ortroy zugleich die von Sabatier mit großem Vorbehalt behandelten Celano-Viten wieder aufgewertet hatte, fand er ungeachtet des Einspruchs Sabatiers rasch breite Zustimmung, und seine Sichtweise wurde vor allem innerhalb des Franziskanerordens fast allgemein rezipiert. 20 Dazu beigetragen haben mag, daß die Franziskaner Leonhard Lemmens und Michael Bihl die Aussagen van Ortroys stützten und auch der protestanti-
ist. Die gleiche Auffassung wie FELD vertreten die kunstgeschichtliche Dissertation von Ruth WOLFF, Der heilige Franziskus in Schriften und Bildern des 13. Jahrhunderts, Berlin 1996, 6 1 - 7 0 , und FRUGONI, Franz von Assisi (wie Anm. 4), 8 7 - 9 0 , wobei für WOLFF die Schrift wahrscheinlich im Jahre 1227 entstanden ist, während FRUGONI die Datierung offen läßt. 20 Zum Ganzen: Sophronius CLASEN, Zur Kritik van Ortroys an der Legenda trium sociorum, in: Miscellanea Melchor de Pobladura I (Bibliotheca Seraphico Capuccina 23), Rom
1 9 6 4 , 3 5 - 7 3 ; DERS., L e g e n d a a n t i q u a ( w i e A n m .
1 2 ) , 4—6; G u y PHILIPPART, L e
Bollandiste François van Ortroy et la Legenda trium sociorum, in: La „Questione Francescana" (wie Anm. 9), 171-197; BISCHOF, Die „Franziskanische Frage" (wie Anm. 8), 3 7 0 f.
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sehe Historiker Walter Goetz in der Legende nicht mehr als eine Kompilation aus I und II Celano zu sehen vermochte.21 In der Folge schied die 'Drei-Gefahrten-Legende' aus der Reihe der bedeutenden Franziskusquellen aus.22 Erst Sophronius Ciasen, ein profunder Kenner der frühfranziskanischen Geschichte, hat wenige Jahre vor seinem Tod 1974 eine sachliche Neubeurteilung eingeleitet. Seine fundamentale quellenkritische Studie 'Legenda antiqua S. Francisci' 23 (1967) wies der Erforschung der „Franziskanischen Frage" eine neue Richtung, nachdem diese nach dem Zweiten Weltkrieg vorübergehend in den Hintergrund des Forschungsinteresses getreten war.24 Ciasen legte in seiner Untersuchung Vorarbeiten fur eine kritische Edition der 'Legenda trium sociorum', des 'Speculum perfectionis' und anderer Quellen vor. Gleichzeitig rückte er von der bisher angewandten literarkritischen Methode ab, die von der Voraussetzung ausgeht, daß wörtliche Übereinstimmung auch unmittelbare oder mittelbare Abhängigkeit bedeutet („vertikale" Überlieferung). Diese habe sich als einseitig und unzureichend erwiesen und der parallel laufenden mündlichen Überlieferung nicht gebührend Rechnung getragen. Statt dessen versuchte Ciasen erstmalig und im Rückgriff auf die neutestamentliche synoptische Evangelienforschung, den untersuchten Legenden mit Hilfe der formgeschichtlichen Methode ihren jeweiligen „Sitz im Leben" (ihren historisch-kulturellen Kontext) zuzuweisen, der konstitutiv für ihr Verständnis ist. Hinsichtlich der 'Drei-Gefahrten-Legende' glaubte Ciasen die These Sabatiers nachweisen zu können (freilich ohne dessen präzise Datierung: Greccio, 11. August 1246, zu übernehmen), die 'Legenda trium sociorum' sei 1246 von den Franziskusgefährten Leo, Angelus und Rufinus abgefaßt worden und habe späteren Franziskuslegenden wie der zweiten Celano-Vita oder der Vita Bonaventuras als Quelle gedient. Die von Sabatier vermeintlich konstatierte „Unvollständigkeit" der Legende sei jedoch nicht durch die Schrift 'Speculum Perfectionis' zu ergänzen, sondern viel-
21 Walter GOETZ, Die Quellen zur Geschichte des hl. Franz von Assisi. Eine kritische Untersuchung, Gotha 1904, 91-158. - Vgl. Engelbert GRAU, Walter Goetz und die „Franziskanische Frage" im deutschen Raum, in: La „Questione francescana" (wie Anm. 9), 81-118; BISCHOF, Die „Franziskanische Frage" (wie Anm. 8), 371. 22 Beispielsweise fand die 'Drei-Gefährten-Legende' auch keine Berücksichtigung in der Monographie von Kajetan ESSER, Anfange und ursprüngliche Zielsetzungen des Ordens der Minderbrüder (Studia et Documenta Franciscana 4), Leiden 1966. 23 CLASEN, Legenda antiqua (wie Anm. 12). 24 Dies hing nicht zuletzt damit zusammen, daß sich das Forschungsinteresse damals auf die Herausgabe der Schriften des Franziskus konzentrierte, deren kritische Edition Kajetan ESSER (1913-1978) dann 1976 mit der Edition 'Die Opuscula des hl. Franziskus von Assisi. Neue textkritische Edition', Grottaferrata 1976, zum Abschluß bringen konnte (zweite, erweiterte und verbesserte Auflage besorgt von Engelbert GRAU, Grottaferrata 1989).
Der Stand der „Franziskanischen Frage"
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leicht - wie sich Ciasen vorsichtig ausdrückte - durch den zweiten Teil der zweiten Vita des Thomas von Celano.25 Die genauen Entstehungsbedingungen der 'Legenda trium sociorum' und ihr Verhältnis zu dem Brief aus Greccio vom 11. August 1246, den die drei Gefährten Leo, Angelus und Rufinus an den Generalminister Crescentius von Jesi richteten, bleiben indes umstritten. Kontrovers diskutiert wird heute insbesondere die Frage, ob dieser Brief ursprünglich zum Text der 'Drei-Gefahrten-Legende' gehörte oder ob er einer anderen (nicht erhaltenen) Sammlung von Erinnerungen zuzurechnen sei, denn in ihrem Schreiben erklären die Gefährten explizit, daß ihr Bericht „nicht nach Art einer Legende"26 abgefaßt sei, sondern ein Florilegium von Begebenheiten enthalte, die in den älteren Viten angeblich nicht berücksichtigt worden seien. Der Argumentationslinie Ciasens folgend ist sich die deutschsprachige, zumal ordensinterne Forschung weitgehend einig, daß Brief und Legende zusammengehören und diese 1246 verfaßt worden sei. Diese Auffassung vertritt auch der französische Franziskaner Théophile Desbonnets, der im Kommentar seiner 1974 erschienenen Edition der 'Legenda trium sociorum' die Zusammengehörigkeit von Brief und Legende mit dem gleichen Argument wie Ciasen verteidigt, nämlich mit der Begründung, daß der Brief in allen Handschriften der 'Drei-Gefahrten-Legende' enthalten sei.27 Den gegenteiligen Standpunkt vertritt der Franziskanerkonventuale Lorenzo Di Fonzo. In seiner Studie 'L'Anonimo Perugino' aus dem Jahre 1972 und in nachfolgenden Arbeiten spricht er sich für eine Spätdatierung aus und nennt als Abfassungszeit den Zeitraum zwischen 1305 und 1320. Auch bestreitet er (wie andere Forscher und ehedem van Ortroy) eine Zusammengehörigkeit von Brief und Legende, hauptsächlich mit dem Argument, daß der Brief im Widerspruch zum Inhalt der 'Drei-Gefahrten-Legende' stehe.28 Anderer Auffassung 25 CLASEN, Legenda antiqua (wie Anm. 12), 311. Vgl. ebd., 314-399. - Zum Einfluß der mündlichen Überlieferung auf die Bildung der franziskanischen Quellen auch: Raoul MANSELLI, Tradizione orale e redazione scritta a proposito di Francesco d'Assisi, in: DERS., Francesco e i suoi compagni (Bibliotheca Seraphico-Capuccina 4 6 ) , Rom 1 9 9 5 , 6 3 - 7 5 (Erstdruck in: Miscellanea di studi in onore di Vittore Branca. I. Dal Medioevo al Petrarca, Firenze 1 9 8 3 , 1 7 - 2 7 ) . 26 Die Dreigefahrtenlegende des heiligen Franziskus von Assisi von Bruder Leo, Rufin und Angelus. Einführung, Übersetzung und Anmerkungen von Engelbert G R A U und Anonymus Perusinus. Übersetzung von Hanspeter BETSCHART in Zusammenarbeit mit Engelbert GRAU. Einführung und Anmerkungen von Engelbert GRAU (Franziskanische Quellenschriften 8), Werl 1993, 80. 27 Théophile DESBONNETS, Legenda trium Sociorum. Edition critique, AFH 67 (1974), 38-144, hier: 86. 28 Lorenzo Di FONZO, L'Anonimo Perugino tra le fonti francescane del secolo X I I I . Rapporti letterari e testo critico, Miscellanea Franciscana 72 (1972), 117-483, hier: 3 6 4 396. Vgl. Emanuela PRINZIVALLI, Un Santo da leggere: Francesco d'Assisi nel percorso delle fonti agiografiche, in: ALBERZONI, Francesco d'Assisi (wie Anm. 12), 71-115,
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ist die in Rom lehrende Historikerin und Franziskusbiographin Chiara Frugoni. Sie hält die 'Drei-Gefahrten-Legende' „für gleichzeitig, wenn nicht gar in einigen Teilen für früher entstanden als die Vita prima"29 des Thomas von Celano und knüpft damit an einen Vorschlag John Moormans aus dem Jahre 1940 an30. Eine „Zwischenposition" vertritt in der deutschsprachigen Forschung Helmut Feld. Für ihn ergibt sich in Übereinstimmung mit der Argumentation Ciasens eine Frühdatierung der 'Drei-Gefahrten-Legende', weil zum einen Thomas von Celano in seiner zweiten Vita die 'Drei-Gefahrten-Legende' wiederholt als Vorlage benützt habe und sich zum anderen in ihr Aussagen fänden, „die nur auf einer genauen Kenntnis der Verhältnisse der franziskanischen Bewegung basieren können"31. Dagegen kann nach Feld der Brief der drei Brüder aus Greccio „unmöglich zu der jetzt vorliegenden 'DreiGefährten-Legende' gehören", jedoch hervorragend „zu den nicht in chronologischer Reihenfolge gegebenen Episoden und Berichten" passen, „wie sie in den Sammlungen des Speculum perfectionis und der Legenda Perusina enthalten"32 seien. Die Historikerin Edith Pásztor schließlich meint, daß das vom Ordensgeneral Crescentius von Jesi 1244 eingeforderte Material nicht erhalten geblieben oder beim derzeitigen Forschungsstand unbekannt sei und daß auch von der „Blütenlese", die den Brief der drei Gefährten begleitet haben soll, kein Text überliefert sei, der sich nach kritischer Überprüfung in historischer und philologischer Hinsicht als Werk dieser drei Brüder erweisen würde.33 Eine künftig vielleicht mehrheitlich Konsens findende Antwort auf diese schwierige Frage legte vor kurzem Engelbert Grau vor. In der Einführung seiner 1993 in den 'Franziskanischen Quellenschriften' erschienenen deutschen Übersetzung der 'Drei-Gefährten-Legende' (auf der Textgrundlage der 'Acta Sanctorum' der Bollandisten und nicht der von ihm als „nicht in allem
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31 32 33
hier: 89. - GRAU, Die Dreigefährtenlegende (wie Anm. 16), 195, bedauert denn auch, daß die einschlägigen Arbeiten von Sophronius CLASEN im nicht deutschsprachigen Raum „noch immer fast unbekannt sind". Chiara FRUGONI, Die Träume in der Legende der drei Gefährten, in: Träume im Mittelalter. Ikonologische Studien, hg. v. Agostino PARAVICINI BAGLIANI U. Giorgio STABILE, Stuttgart/Zürich 1989, 73-90, hier: 73; DIES., Franz von Assisi (wie Anm. 4). John R.H. MOORMAN, The Sources for the Life of S. Francis of Assisi, Manchester 1 9 4 0 (Nachdruck: Farnborough 1 9 6 6 ) ; La „Questione francescana" (wie Anm. 9 ) , 2 1 7 220 (Votum MOORMAN). - Vgl. David E. FLOOD, John Moorman zur „Franziskanischen Frage", Wissenschaft und Weisheit 3 5 ( 1 9 7 2 ) , 4 1 ^ 4 8 . FELD, Franziskus von Assisi (wie Anm. 4), 34—38, hier: 36. Ebd., 38. PÁSZTOR, La questione francescana (wie Anm. 1 2 ) , 3 7 . - Auch MENESTÒ, La „questione francescana" (wie Anm. 12), 136, ist der Ansicht, daß keine der bekannten Quellen mit der „Blütenlese" von 1246 gleichgesetzt werden könne.
Der Stand der „Franziskanischen Frage"
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befriedigend"34 beurteilten 'Édition critique' Desbonnets!) hält Grau - die Arbeit Ciasens fortsetzend - an der Echtheit und Vollständigkeit der 'Drei-Gefáhrten-Legende' ebenso fest wie an der Abfassungszeit 1246, der Verfasserschaft der drei Gefährten und der Zusammengehörigkeit des Briefes aus Greccio mit der Legende. Hinsichtlich der Vollständigkeit fuhrt Grau (gestützt namentlich auf Arbeiten des Schweizer Kapuziners Oktavian Schmucki35) sodann den Nachweis, die beiden letzten Kapitel der 'Drei-Gefährten-Legende', die Kapitel 17 und 18, seien, anders als Ciasen meinte, nachbonaventurianischen Ursprungs. Diese beiden Kapitel seien, wie schon Desbonnets vermutete36, der Schrift erst in späterer Zeit beigefugt worden. Dafür sprächen insbesondere die Absicht der Verfasser, keine Legende zu schreiben, sodann drei erhaltene Handschriften, die nur die Kapitel 1-16 enthielten, und außerdem der Bericht über die Stigmatisation des Franziskus, der hinsichtlich der Zeitangabe bonaventurianisch beeinflußt sei. Mit der Zufügung der beiden Kapitel aber sei, so die These Graus, der Bericht der drei Gefährten erst zur Legende geworden.37 Gleichzeitig mit der Neubearbeitung der 'Drei-Gefahrten-Legende' legte Grau erstmalig eine deutsche Übersetzung auch des sogenannten 'Anonymus Perusinus' vor.38 In dieser Schrift liefert der unbekannte Verfasser, der sich als Schüler der Gefährten des Franziskus zu erkennen gibt, eine Darstellung über die Anfänge der franziskanischen Bewegung. Grau spricht sich, auch hierin in Weiterfuhrung der Arbeiten Ciasens, dafür aus, daß der 'Anonymus Perusinus' von der 'Drei-Gefahrten-Legende' abhänge und ihm diese als Vorlage gedient habe. Helmut Feld bejaht grundsätzlich diese Reihenfolge, läßt jedoch die Möglichkeit einer Abhängigkeit beider Verfasser von einer gemeinsamen nicht bekannten Quelle offen. 39 Damit steht auch in dieser Frage die deutschsprachige der anderssprachigen, vor allem italienischen Forschung gegenüber, nehmen doch der Herausgeber der lateinischen Ausgabe, Lorenzo Di Fonzo, und ihm folgend andere Forscher eine gerade umgekehrte Abhängigkeit an, wobei allerdings seine Beweisführung letztlich nicht zu überzeugen vermag.40 Gegensätzliche Auffassungen bestehen auch in der Verfasserfrage, welche die deutschsprachige Forschung offen läßt, während Di Fonzo meint, Bruder Johannes von Perugia (t um 1270) als 34 Die Dreigefährtenlegende (wie Anm. 26), 73. 35 Ebd., 67 f. - Gemeint ist vor allem die Untersuchung: Oktavian SCHMUCKI, De operibus circa S. Francisci vitam ac spiritum nuperius in lucem editis, Collectanea Franciscana 43 (1973), 385^407.
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DESBONNETS, Legenda trium Sociorum (wie Anm. 27), 86. Die Dreigefährtenlegende (wie Anm. 26), 61-68. Ebd., 185-275. Lateinische Ausgabe: Di FONZO, L'Anonimo (wie Anm. 28), 434-^65. FELD, Franziskus von Assisi (wie Anm. 4), 38 f., hier: 38. Di FONZO, L'Anonimo (wie Anm. 28). - Zur Kritik an Di FONZO: Die Dreigefahrtenlegende (wie Anm. 26), 189-212; FELD, Franziskus (wie Anm. 4), 38.
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Autor identifizieren zu können.41 Weitgehend einig ist sich die Forschung indes in der Datierung des 'Anonymus Perusinus', dessen Abfassungszeit zwischen 1262 und 1270 anzusetzen ist.42 Dagegen ist es im Vergleich zur früheren Auseinandersetzung in der heutigen deutschsprachigen Franziskusforschung um das 'Speculum Perfectionis', Sabatiers wichtigstes Beweisstück zur Stützung seiner Thesen, auffallend ruhig geworden. Dies dürfte primär damit zusammenhängen, daß in der Forschung seit langem Konsens darüber besteht, daß die Schrift in der vorliegenden Form nicht, wie Sabatier meinte, von Bruder Leo 1227 verfaßt worden ist, sondern aus dem frühen 14. Jahrhundert - nämlich aus dem Jahre 1318 - stammt, in Abhängigkeit zur 'Compilado Perusina' steht und im Sinne der Spiritualen gesammeltes Material enthält.43 Trotz zahlreicher Einzelstudien fehlt indes noch immer eine gründliche Untersuchung über Bedeutung und Komposition sowie über den Zweck dieser Schrift - eine Lükke, die in Frankreich und Italien mit unterschiedlichen Ansätzen etwa Michel Causse44, Riccardo Infantino 45 und Daniele Solvi46 zu füllen versuchen. Umstritten ist vor allem der Ansatz von Causse, der im Bemühen um eine „Rehabilitation" des 'Speculum perfectionis' auf die These Sabatiers zurückgreift. Bei aller Abgrenzung von Sabatier (besonders hinsichtlich seines Quellenverständnisses) vertritt Causse doch die Auffassung, das 'Speculum Perfectionis' sei in seiner ursprünglichen Fassung im Jahre 1227 von Bruder Leo auf sogenannte rotuli niedergeschrieben worden, hierauf von den drei Gefährten zu der in der 'Compilado Perusina' sich findenden Version umgearbeitet und schließlich - nachdem die rotuli 1311 von Ubertin von Casale (1273-1317) entdeckt worden seien - in der Zeit zwischen 1311-1318 im
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D i FONZO, L ' A n o n i m o ( w i e A n m . 2 8 ) , 3 9 6 - 4 0 9 . V g l . GRAU, in: D i e D r e i g e f ä h r t e n l e -
gende (wie Anm. 26), 196; FELD, Franziskus von Assisi (wie Anm. 4), 38. 42 Eine Ausnahme bildet der französische Kapuziner Pierre BÉGUIN, der die Abfassungszeit vor das Jahr 1241 verlegt, mit dieser These indes ziemlich allein steht: Pierre BÉGUIN, L'Anonyme de Pérouse. Un témoin de la fraternité franciscaine primitive confronté aux autres sources contemporaines, Paris 1979, 18-29. Im Anschluß an ihn auch: PRINziVALLi, Un santo da leggere (wie Anm. 28), 90. 43 Vgl. CLASEN, Legenda antiqua (wie Anm. 12), Reg.; GRAU, in: Celano, Leben und Wunder (wie Anm. 17), 64-66; FELD, Franziskus von Assisi (wie Anm. 4), 41 f. 44 Michel CAUSSE, Paul Sabatier et la question franciscaine, RHPhR (= Revue d'Histoire et de Philosophie Religieuses) 67 (1987), 113-135; DERS., Question franciscaine (2E article). Du Speculum Perfectionis aux „rotuli" de Frère Léon, RHPhR 69 (1989), 2 8 5 307.
45 Riccardo INFANTINO, Lo „Speculum perfectionis" nella „questione francescana", Anal e c t a T O R 19 ( 1 9 8 7 ) , 411—4-59.
46 Daniele SOLVI, Lo „Speculum perfectionis" e le sue fonti, AFH 88 (1995), 377-459.
Der Stand der „Franziskanischen Frage"
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heutigen 'Speculum Perfectionis' zu einem Ganzen zusammengefügt worden. 47 Eine wichtige - für manche auch die entscheidende - Wende in der Behandlung der „Franziskanischen Frage" ist mit dem Namen Raoul Manselli verbunden. In seiner grundlegenden, leider unübersetzt gebliebenen quellenkritischen Untersuchung 'Nos qui cum eo fuimus. Contributo alla questione francescana' 48 (1980) setzte Manselli den von Ciasen gewiesenen Weg der Anwendung der formgeschichtlichen Methode auf die Quellen zum Leben des Heiligen von Assisi mit großer Entschiedenheit fort. Diese geht davon aus, daß es vor und neben der schriftlichen Überlieferung eine mündliche Tradition gibt, die die berichteten Tatsachen bereits langsam umwandelte und von bestimmten Leitbildern her deutete. In den überlieferten Quellentexten ist also die spätere redaktionelle Arbeit der Kompilatoren und Legendenschreiber vom eigentlichen Überlieferungsgut, das ihnen vorlag, zu unterscheiden. Manselli untersuchte in minuziöser stilistischer und inhaltlicher Analyse jene Berichte, die sich in den franziskanischen Textsammlungen des 13. und frühen 14. Jahrhunderts finden und die sich explizit als Augenzeugenberichte zu erkennen geben - in der Regel mit der feststehenden Formel: „Wir, die mit ihm zusammen waren" 49 . Dabei gelang ihm der Nachweis, daß es sich bei diesen Textstellen nicht bloß um eine literarische Form, sondern um echte Erinnerungen der Gefährten des Franziskus handelt, die ein unmittelbares Franziskusbild vermitteln 50 ; Erinnerungen, die Franziskus ohne hagiographische Tendenz zeigen, als einen „Mann aus Fleisch und Blut", als „Heiligen mit menschlichem Antlitz" 51 , und die deutlich machen, wie schwerwiegend der Konflikt des Heiligen mit den fuhrenden Ministern des Ordens war. Erhalten geblieben sind diese Gefahrtenerinnerungen in Celanos 'Vita secunda s. Francisci' (jeweils ohne die Bestätigungsformel), im 'Speculum perfectionis', im 'Speculum perfectionis minus', im 'Manuscript Little' und in der 'Compilatio Perusina'. Namentlich die letztgenannte Schrift, die zwischen 1310 und 1312 abgefaßt wurde, kann als eigentliches „Sammelbecken für mündliche Überlieferung" 52 bezeichnet werden. Sie wurde nach ihrer Entdeckung 1922 von Ferdinand Delorme (1926) 53 , Jacques Cambell (1967) 54 , Ro47 CAUSSE, DU Speculum Perfectionis aux „rotuli" de Frère Léon (wie Anm. 44), 2 8 5 307. - Zur Kritik an CAUSSE: SOLVI, LO „Speculum perfectionis" (wie Anm. 46), 382 f.; Giovanni GÖNNET, En marge de la „question franciscaine", Heresis 24 (1995), 37-41. 48
MANSELLI, NOS qui c u m e o f u i m u s ( w i e A n m . 12).
49 Ebd., 44—57, 59-247 (Text der Perikopen und Zusammenfassung). 50 Ebd., 59-247, hier bes.: 238. 51 Elisabeth HUG u. Anton ROTZETTER, Franz von Assisi. Gotteserfahrung und Weg in die Welt, Olten/Freiburg i.Br. 2 1984, 145. 52 Thomas von Celano, Leben und Wunder (wie Anm. 17), 63 (Kommentar von GRAU). 53 Ferdinand M. DELORME (Hg.), La „Legenda antiqua S. Francisci". Texte du Ms. 1046 (M 69) de Pérouse, Paris 1926.
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salind Β. Brooke (1970)55 und Marino Bigaroni (1975, 21992)56 unter jeweils anderer Überschrift ediert, wobei mit Cambell und Brooke auch andere Forscher der Meinung sind, es handele sich hier um das Florilegium der drei Gefährten aus dem Jahr 1246, das nach Brooke durch Teile aus anderen Handschriften zu ergänzen sei. Eine deutsche Ausgabe dieser Schrift fehlt, doch findet sich eine Übersetzung der darin enthaltenen Nos qui cum eo fuimusPerikopen in dem von Elisabeth Hug und Anton Rotzetter herausgegebenen Textband 'Franz von Assisi. Gotteserfahrung und Weg in die Welt' 57 . In der 'Compilatio Perusina' und den übrigen hier genannten Quellen findet sich somit Überlieferungsgut, das Nachrichten aus der Sicht jener Gefährten enthält, die Franziskus in den letzten Jahren nahe standen. Diese Nachrichten informieren über verschiedene brisante Themen der frühiranziskanischen Zeit, wie die Auslegung der Armut durch Franziskus, und ergänzen das offiziell überlieferte Franziskusbild oder stellen es in Frage.58 Die neue Ausrichtung der „Franziskanischen Frage" hat Auswirkungen auf ihre Erforschung. Diese wird heute mehrdimensional behandelt: Es geht nicht mehr nur um die gegenseitige Abhängigkeit der Quellen voneinander und um ihren Wahrheitsgehalt, sondern es werden auch die je eigene Tendenz und Absicht der Quellen sowie ihre eigene Wirkungsgeschichte beleuchtet. Dabei steht nicht mehr die Sabatier'sche „Suche nach der Quelle der Quellen" im Mittelpunkt (wobei das bis heute nicht gelöste Problem gerade in der Frage liegt, ob eine solche Quelle überhaupt jemals existiert hat59), sondern der Vergleich der Quellen mit dem Ziel, die individuellen Merkmale derselben zu bestimmen. Auf diese Weise sollen die unterschiedlichen Franziskusbilder, welche die jeweiligen Autoren und Kompilatoren entwarfen und welche sich in den Quellen finden, rekonstruiert und zusätzlich geklärt werden, warum in der jeweiligen Quelle gerade dieser oder jener Aspekt des Lebens des Franziskus besonders hervorgehoben wurde. Auch soll deutlich werden, inwiefern
54 I Fiori dei tre compagni. Testi francescani latini ordinati con introduzione e note, hg. v. Jacques CAMBELL, Mailand 1967. 55 Rosalind Β. BROOKE, Scripta Leonis, Rufini et Angeli Sociorum S. Francisci. The Writings of Leo, Rufino and Angelo Companions of St. Francis, Oxford 1970. 56 Marino BIGARONI, „Compilatio Assisiensis" dagli Scritti di fra Leone e Compagni su S. Francesco d'Assisi. Dal Ms. 1046 di Perugia. II edizione integrale riveduta e corretta con versione italiana a fronte e varianti (Pubblicazioni della Biblioteca Francescana, Chiesa Nuova-Assisi 2), Porziuncula 2 1992. 57 HUG/ROTZETTER, Franz von Assisi (wie Anm. 51). 58 Zum historischen Wert dieser Berichte auch: FELD, Franziskus von Assisi (wie Anm. 4), 40 f. 59 Vgl. MANSELLI, N o s qui cum e o fuirnus ( w i e A n m . 12), 5 f.; DERS., Franziskus ( w i e
Anm. 4), 265.
Der Stand der „Franziskanischen Frage"
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diese Auswahl mit der Abfassungszeit des Textes zusammenhängt und welche Absicht die Autoren und Kompilatoren im jeweiligen Kontext verfolgten. 60 Indes bleibt die „Franziskanische Frage" eine quaestio disputata! Vor allem in Italien fehlt es nicht an kritischen Stimmen, die bei aller Anerkennung der Verdienste Mansellis auf Grenzen seines methodischen Ansatzes hinweisen und, wie namentlich Enrico Menestò, die Unumgänglichkeit philologischer Forschung für die Lösung der „Franziskanischen Frage" in Erinnerung rufen, weil die Formgeschichte die mit der „Franziskanischen Frage" verbundenen Probleme allein nicht lösen könne und diese Frage auch und vor allem ein philologisches Problem darstelle. 61 Daneben steht die Forderung des Franziskaners David Ethelbert Flood, die „Franziskanische Frage" überhaupt als einen „Irrweg der Forschung zu beurteilen und abzutun" 62 , denn der historische Franziskus lasse sich über die Schriften des Franziskus und die Quellen zur Geschichte Assisis erreichen. Die erzählenden Quellen dagegen gehörten zu einer anderen Geschichte. Beim heutigen Stand der Forschung ist somit ein baldiges Ende der wissenschaftlichen Auseinandersetzung trotz der immer komplexer werdenden Erörterungen über diesen Gegenstand nicht in Sicht. Dazu sind die Lücken in der Textüberlieferung und die kontrovers diskutierten Einzelprobleme, wie insbesondere das Verhältnis des Briefes von Greccio zur 'Drei-Gefahrten-Legende', zu groß. Doch ist zu hoffen, daß die künftige Franziskusforschung zusätzliches Licht in manche heutige Streitfrage zu bringen vermag - vor allem durch eine kritische Edition sämtlicher Franziskusquellen und eine stärker interdisziplinäre (hoffentlich vermehrt auch Sprachbarrieren überwindende) Zusammenarbeit historischer und philologischer Forschung. Ob sie auch zu einer erschöpfenden und abschließenden Antwort auf die „Franziskanische
60 PÂSZTOR, La questione francescana oggi (wie Anm. 12), bes.: 33-35; SOLVI, Lo „Speculum" (wie Anm. 46), 381. - Vgl. Hans SEVENHOVEN, Franziskusforscher begegnen sich, Wissenschaft und Weisheit 51 (1988), 219-222 (Bericht über das Symposium deutschsprachiger Franziskusforscher in der Johannes-Duns-Scotus Akademie in Mönchengladbach vom 23. bis 27. August 1987). 61 Dazu zuletzt: MENESTÒ, La „questione francescana" (wie Anm. 12), 117-143, bes.: 129 f.; DERS., Per un'edizione critica delle biografie e leggende francescane, in: Gli studi francescani dal dopoguerra ad oggi (Atti del Convegno di Studio. Firenze 5-7 nov e m b r e 1 9 9 0 ) , h g . v . F r a n c e s c o SANTI, S p o l e t o 1 9 9 3 , 2 4 5 - 2 6 7 , 3 8 0 - 3 8 8 ( D i s k u s s i o n ) .
- Vgl. Carlo DOLCINI, Francesco d'Assisi e la storiografia degli ultimi vent'anni: problemi di metodo, in: Frate Francesco d'Assisi (wie Anm. 15), 5-35, hier: 8; Roberto RUSCONI, Dalla „questione francescana" alla storia, in: ALBERZONI, Francesco d'Assisi ( w i e A n m . 12), 3 3 9 - 3 5 7 .
62 David Ethelbert FLOOD, Die Verwendung der Franziskusgeschichte, Wissenschaft und W e i s h e i t 4 6 ( 1 9 8 3 ) , 1 3 8 - 1 6 3 , hier: 148.
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Frage" mit den bis heute höchst unterschiedlichen, nicht selten einander widersprechenden Deutungen des Franziskus fuhren wird, bleibt abzuwarten.63
63 Siehe dazu das Fazit, das Engelbert GRAU, Thomas von Celano (wie Anm. 17), 53, vor zehn Jahren zur „Franziskanischen Frage" zog: „Eine endgültige und allseits zufriedenstellende Lösung der 'franziskanischen Frage' wird kaum je gefunden werden können [...] Stets neue Hypothesen mit Einführung neuer 'Unbekannter' bringen keine Klarheit, sondern Verwirrung. Einzig und allein geduldiges Arbeiten und Forschen vor allem an Texten kann da und dort noch etwas Licht in die Probleme bringen. Mehr ist nicht zu erwarten!" - Vgl. die Feststellung von Salvatore MINOCCHI, La questione francescana (wie Anm. 10), 295, aus dem Jahre 1902: „Pur troppo è noto: in questi ultimi tempi, tutti gli studi e le ricerche fatte, e tante ipotesi arrischiate circa le origine francescane e sulle fonti biografiche di san Francesco, sono passate senza che nessuno desse della spinosa questione un risolvimento dagli eruditi comunemente accetato; chè, anzi, essa divenne più che mai difficile ed intricata."
THEO
ZWEERMAN
Franziskus von Assisi als Mystiker Versuch einer neuen Annäherung im Lichte einiger seiner Schriften Zum Andenken an Fidentius van den Borne OFM Was ich hier vorlege, ist eine kleine Auswahl aus den Ergebnissen der von Edith van den Goorbergh OSC und mir seit 1986 gemeinsam durchgeführten Untersuchung.1 Ein Teil dieser gemeinsamen Untersuchung hat zu einem Buch über die vier Briefe von Klara von Assisi an Agnes von Prag gefuhrt.2 In diesem Jahr ist von uns, wiederum gemeinsam, ein Buch über die Spiritualität von Franziskus veröffentlicht worden, namentlich über deren mystischen Gehalt.3 Mit Oktavian Schmucki und Hélène Nolthenius sowie weiteren Forschern gehen wir darin von der Überzeugung aus, daß Franziskus zuerst und vor allem als Mystiker, oder wenn man will, als Gottessucher zu verstehen ist. Nach unserer Überzeugung ist der qualitative Unterschied zwischen den Zeugnissen der Zeitgenossen einerseits und seinen eigenen Schriften andererseits, gerade wenn man Franziskus als Mystiker beleuchten will, sehr ernst zu nehmen. Hierin schließen wir uns den genannten Autoren, zu denen auch Thaddée Matura gezählt werden kann, an - mit der einen Ausnahme allerdings, daß wir einige Schriften von Franziskus als Berichte über seine mystischen Erfahrungen interpretieren, die die genannten Forscher, soviel wir wissen, nicht als solche deuten. Unsere Methode der Textinterpretation versucht vor allem der Struktur der Texte gerecht zu werden. Die schwere Aufgabe, „zu lesen, was da steht", läuft für uns darauf hinaus, sorgfältig der Frage nachzugehen, welche Muster bestimmten Texten ihre Form gegeben haben. Wir bedienen uns der Methode einer textimmanenten (oder synchronen) Lesung, mit der Exegeten, sich der Literaturwissenschaft anschließend, Textmuster aufdecken. Wichtig ist, daß wir der angewandten Zahlensymbolik besondere Aufmerksamkeit widmen 1 2
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Eugène PLOUVIER OFM und Marianne SCHLOSSER bin ich sehr dankbar für die Übersetzung des Textes ins Deutsche. Edith VAN DEN GooRBERGH/Theo ZWEERMAN, Clara van Assisi: licht vanuit de verborgenheid. Over haar brieven aan Agnes van Praag, Assen 1994. Eine englische Übersetzung wird demnächst publiziert. Eine deutsche Übersetzung ist in Vorbereitung. Edith VAN DEN GooRBERGH/Theo ZWEERMAN, Was getekend: Franciscus van Assisi. Aspecten van zijn schrijverschap en brandpunten van zijn spiritualiteit, Assen 1998. Eine englische Übersetzung ist in Vorbereitung.
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und weiter auch liturgische Texte aus Franziskus' Zeit berücksichtigen, die auf seine Schriften ein anderes Licht werfen können, zum Beispiel Texte des Festes der Kreuzerhöhung4. Eine Frage, die wir anläßlich unserer Methode oft hören, ist: „Gehen Sie mit ihrer Aufmerksamkeit für Strukturen nicht fälschlich davon aus, daß Franziskus ein Gelehrter war, der seine Texte logisch strukturierend zusammengestellt hat?" Denn obwohl dem gängigen Bild seiner Person und seines Vorgehens tatsächlich auch viele romantische Vorstellungen anhaften, bleibt es doch unleugbar, daß er nie eine akademische Ausbildung gehabt hat und daß er das auch selbst offen vertritt. Diese Fragen liegen auf der Hand. Dennoch bleiben wir dabei, daß die schriftstellerische Tätigkeit von Franziskus sich nicht zu einer Interpretation eignet, die ihn in die Kategorie frei assoziierender Schriftsteller und ekstatisch begeisterter Dichter einreiht. Festzuhalten ist auch, daß Franziskus, da er in einer mittelalterlichen Tradition des Dichtertums stand, nachweislich einige Texte sehr sorgfaltig zusammengestellt hat. Das bedeutet aber nicht, daß wir ihn als einen Hochgebildeten bezeichnen möchten. Worauf es ankommt, ist dies: Franziskus war tatsächlich kein Theologe oder Philosoph im Sinne eines fachkundig Ausgebildeten. Er war aber, genau wie Klara, ein meditierender, ein betrachtender Mensch, der die Weisheit eines sehr Begnadeten in Wort und Tat weiterzugeben wußte. Dieses Weitergeben machte es aber notwendig, daß er sich ganz bestimmt der Denk- und Sprachformen bediente, mit denen er seine Begeisterung erkennbar machen konnte. Mit Kajetan Esser und Anton Rotzetter machen wir einen Unterschied zwischen seiner „äußerlichen Entwicklung" und seinen „innerlichen Triebkräften und Formprinzipien". Bestimmte Texte, mit denen er an die Öffentlichkeit trat, bilden ja, genau wie die Lebensfakten, die seine Biographen erzählen, eine „Äußerlichkeit", die auf eine eigene Weise auf seine Begeisterung verweist.5 Auch fur den Charismatiker Franziskus waren bestimmte Schemata, Denkrahmen und Vorstellungsformen unentbehrlich. Ohne diese konnte er nicht geordnet und bildend sprechen. So gibt es auch nur religiöse Erfahrungen, insofern es Formen und Rahmen gibt, in denen diese Erfahrungen zu fassen sind. Kennzeichnend für Franziskus ist wohl, daß er diese Kategorien und Schemata und genauso die Zahlensymbolik nicht vorangehenden Theologen und ebenso wenig klassischen Autoren, sondern der Heiligen Schrift, der kirchlichen Liturgie und manchmal auch den Texten geistlicher Autoren, die
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Vgl. Louis VAN TONGEREN, Exaltatio crucis. Het feest van Kruisverheffing en de zingeving van het kruis in het Westen tijdens de vroege Middeleeuwen. Een liturgiehistorische Studie, Tilburg 1995. Eine englische Übersetzung ist 2000 in der Reihe „Liturgia Condenda" vom Peeters Verlag zu Löwen veröffentlicht worden. Kajetan ESSER spricht über „Gestaltprinzipien" und „Formprinzipien" in seinem Buch: Anfänge und ursprüngliche Zielsetzungen des Ordens der Minderbrüder, Leiden 1966, 209.
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er irgendwie zur Kenntnis genommen hatte, entlehnte. Als Motto unseres Unternehmens könnte ein Wort von Emily Dickinson dienen: „Divinity dwells under seal." Denn der Begriff „Mystik" verweist ja von jeher sowohl auf Abschirmung und Abgeschlossenheit als auch auf die verhüllte und dennoch enthüllbare Bezeichnung dessen, was jemand mit Scheu mitteilen will. Bevor ich mich in medias res begebe, möchte ich noch zwei Bemerkungen vorausschicken: 1. Ein wichtiger Punkt ist, daß unsere Analysen der einzelnen Schriften von Franziskus schließlich einander gegenseitig beleuchten. Ich sage „schließlich", weil die von uns vertretene gegenseitige Beleuchtung und Bestätigung der Interpretationen einzelner Schriften erst am Ende unserer Suche in diesen Texten vollkommen möglich ist. Unsere Methode des Interpretierens eines Textmusters bringt nämlich mit sich, daß die Interpretation des einen Textes meistens auch die Interpretation eines anderen Textes unterstützt. Dies gilt ebenso fur den umgekehrten Fall. Konkret: Was bei unserer Auslegung des Grußes an die Tugenden noch kaum etwas mehr ist als eine Vermutung („Wenn man diese Schrift so und so interpretiert, dann kommt diese und jene sehr schöne Struktur zum Vorschein."), wird beim Vergleich mit unserer Auslegung der 27. Ermahnung eine bedeutende Bestätigung erfahren - so wie unsere Interpretation der 27. Ermahnung ihrerseits durch die Interpretation des Grußes an die Tugenden bestätigt werden wird. Weiterhin wird die Interpretation der 27. Ermahnung an Plausibilität gewinnen, wenn man unsere Auslegung des Lobpreises Gottes darauf bezieht. In dieser Weise kann man fortfahren. Um es mit den Worten von Pascal zu sagen: „All diese Beweise halten sich gegenseitig aufrecht. Wenn der eine wahr ist, so ist es der andere auch." 6 Erst die gegenseitige Bestätigung und die Konvergenz unserer jeweiligen Interpretationen der Schriften werden die Haltbarkeit jeder einzelnen dieser Interpretationen voll beleuchten. 2. Um es nicht bei allgemeinen Behauptungen bewenden zu lassen, analysieren wir in unserem Buch Schritt für Schritt die einzelnen Texte. Das ist an dieser Stelle nicht möglich - selbst dann nicht, wenn ich mich, wie beabsichtigt, auf einige der von uns untersuchten Texte beschränke. Was ich in diesem Aufsatz darlegen kann, sind: -
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eine Übersicht über den Aufbau der Kapitel 5 und 6 der Bullierten Regel, ebenso eine Übersicht über den Aufbau der Ermahnungen-Reihe, einige Bemerkungen zur Struktur des Lobpreises Gottes und einige Bemerkungen zu den Unregelmäßigkeiten in dem Gedicht, das, wie sich zeigen wird, die 27. Ermahnung ist.
Blaise PASCAL, Oeuvres Complètes, Paris 1963; aus: „Pensée inédite XV", 640.
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Dies alles geschieht in der Hoffnung, daß die Strukturen, die zum Vorschein kommen, für sich sprechen werden - ungefähr so wie eine digressio werde ich schließlich einige Überlegungen zu einer These präsentieren, die für manchen noch immer sehr befremdend und fast unmöglich ist: daß Franziskus, der ioculator, sich der Zahlensymbolik bedient hat und daß er verhüllte, oder wenn man will, verschlüsselte Berichte hinterlassen hat.
Bullierte Regel, 5. und 6. Kapitel Die auffalligste Akzentuierung in diesen zwei zentralen Kapiteln ist wohl: Dies ist jene Erhabenheit der höchsten Armut (Vs 4). Es scheint sich um einen zusätzlich betonten Höhepunkt der Personalisierung dessen zu handeln, worum der Text kreist: der freiwilligen Armut. Wenn es sich in diesem „himmelhohen" Lob um eine derartige Personalisierung handelt, dann wäre gerade hier die Frage angebracht, wie Franziskus so lyrisch über etwas sprechen konnte, was viele Menschen unfreiwillig in aller Härte erleiden müssen. Auch wenn man bedenkt, wie sehr er vom Recht der Armen auf ein menschenwürdiges Leben überzeugt war und sich tatsächlich mit den Allerärmsten solidarisch zeigte, so bleibt dies doch eine bedenkliche Personalisierung oder Idealisierung. Handelt es sich bei Vers 4 um eine Personalisierung eines abstrakten Begriffs? Kann etwas Abstraktes Menschen zu Erben einsetzen und sie durch Tugenden adeln? Der einzige, der sie als solche eingesetzt und geadelt hat, ist Gott. Steht hier dann vielleicht höchste Armut statt Gott, der die zentrale Stelle in diesem ungewohnten Lebensprojekt hat und der dessen wichtigster Ausführender ist? Wir meinen, daß Franziskus hier tatsächlich einen Decknamen für denjenigen verwendet, den er öfters als Höchsten anredet. Ein erster Grund fur unsere Interpretation dieses bemerkenswerten und äußerst wichtigen Pleonasmus ist, daß Franziskus anderswo noch zweimal Gott mit dem Wort Armut bezeichnet - so wie er Gott auch als Demut anredet. Ein wichtiger Grund liegt auch in Vers 5: Diese (besser ist: „Dieser") soll euer Anteil [portio] sein. Franziskus zitiert hier einen Psalmvers, in dem mit dem Wort „Erbteil" (oder „Anteil") Gott selbst bezeichnet wird („ich sage: du bist meine Zuflucht, mein Anteil im Lande der Lebenden"). Die konzentrische Formgebung erfahrt hier durch eine zahlenmäßige Analyse dieser Kapitel eine Bestätigung. Zusammen zählen sie 204 Wörter (Kapitel 5: 56 Wörter; Kapitel 6: 148 Wörter). Der Text ist so konstruiert worden, daß zweimal zwei Bestandteile das Zentrum umgeben. Die ersten sechs Wörter dieses Zentrums lauten: Haec est illa celsitudo altissimae paupertatis. Die
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Kombination der zwei Bestandteile davor (A und B) und die der Bestandteile danach (ab Vers 6,4b von C und B' und A') zählt in beiden Fällen 99 Wörter. Die zahlenmäßige Struktur sieht also folgendermaßen aus: -
Vers 5,1-6,3: 99 Wörter Vers 6,4a: 6 Wörter (das Zentrum) Vers 6,4b-6,9: 99 Wörter.
A.
Vers 5,1-5,2: (der Heilige Geist?)
5.1 5.2
Fratres illi, quibus gratiam dedit Dominus Iaborandi, laborentfìdeliter et devote, ita quod, excluso otio animae inimico, sanctae orationis et devotionis spiritum non exstinguant, cui debent cetera temporalia deservire.
B.
Vers 5,3-6,3: (der Sohn?)
5.3
De mercede vero laboris pro se et suis fratribus corporis necessaria recipiant praeter denarios velpecuniam et hoc humiliter, sicut decet servos Dei etpaupertatis sanctissimae sectatores. Fratres nihil sibi approprient nec domum nec locum nec aliquam rem. Et tanquam peregrini et advenae in hoc saeculo in paupertate et humilitate Domino /amulantes vadant pro eleemosyna confldenter, nec oportet eos verecundari, quia Dominus pro nobis se fecit pauperem in hoc mundo.
5.4 6.1 6.2 6.3
C.
Vers 6,4-6,5 : (der Vater?)
6,4a HAECESTILLA CELSITUDO ALTISSIMAEPAUPERTATIS, 6,4b quae vos, carissimos fratres meos, heredes et reges regni caelorum instituit, pauperes rebus fecit, virtutibus sublimavit. 6.5 Haec sit portio vestra, quae perducit in terram viventium. B'
Vers 6,6: (der Sohn?)
6.6
Cui, dilectissimi fratres, totaliter inhaerentes nihil aliud pro nomine Domini nostri Jesu Christi in perpetuum sub cáelo habere velitis.
A'
Vers 6,7-6,9: (der Heilige Geist?)
6.7
Et, ubicumque sunt et se invenerint fratres, ostendant se domésticos invicem inter se. 6.8 Et secure manifestet unus alteri necessitatem suam, quia, si mater nutrii et diligit filium suum carnalem, quanto diligentius debet quis diligere et nutrire fratrem suum spiritualem? 6.9 Et, si quis eorum in infirmitate ceciderit, alii fratres debent ei servire, sicut vellent sibi serviri.
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Bei der Formgebung dieses Textes haben die Zahlen 6 und 99 deutlich als Strukturzahlen gedient. Diese Zahlensymbolik (zweimal 3 χ 33; einmal 2 χ 3), die später auch bei Dante solch eine wichtige Funktion haben wird, enthält ohne Zweifel einen Verweis auf das Geheimnis der heiligsten Dreieinigkeit. Dies wird durch drei kreuzweise Platzierungen der Stichwörter in den Bestandteilen des Textes bestätigt, die vielleicht auf je eine der drei göttlichen Personen hinweisen. Wir interpretieren sanctissima paupertas als Hinweis auf den Sohn, weil sich bei Franziskus, wo es die Brüder und die Jünger betrifft, die Begriffe „Nachfolger" und „nachfolgen" [sequi] nahezu immer auf den Sohn beziehen.
Die Reihe der Ermahnungen Unser Ausgangspunkt war die Frage, ob es in der Serie auffallige Regelmäßigkeiten oder Unregelmäßigkeiten gibt. Diese sind in der Tat vorhanden: 1. Ermahnung 2 fällt auf, weil dies der einzige Spruch ist, der einen Kommentar zu einem Wort aus dem Alten Testament gibt (Gen 2,16-17). 2. Die Ermahnungen 13, 14, 15 und 16 fangen jeweils mit einer Seligpreisung von Jesus aus dem Prolog der Bergpredigt an (Mt 5,1-12). 3. Ab Ermahnung 17 fangen zehn Ermahnungen alle mit beatus [selig] an. (In dieser Hinsicht schließen sie sich den vier vorangehenden Seligpreisungen von Jesus an.) Die meisten beginnen mit beatus servus [selig der Knecht]. 4. Ermahnung 27 fällt auf als der Spruch, der eine Unterbrechung in der genannten Serie der Ermahnungen bildet, die alle mit beatus beginnen. Auch die Form der 27. Ermahnung ist in bezug auf das Ganze der Serie einmalig. 5. Die Serie zählt insgesamt 28 Ermahnungen. Mit gutem Recht kann man sich fragen, ob diese Zahl hier eine besondere Bedeutung hat. In der mittelalterlichen Zahlensymbolik wies die Zahl 28 unter anderem auf die Kirche hin. 6. Bestimmte Ermahnungen weisen thematisch oder in der Formulierung Ähnlichkeiten miteinander auf, die für die Aufdeckung eines unterschwelligen Musters der Serie von Bedeutung sein könnten.
Anfang und Ende der Reihe Die 1. Ermahnung handelt hauptsächlich von der Verborgenheit Gottes: Der Vater wohnt in unzugänglichem Licht. Zeige [ostende] uns den Vater, und das genügt uns. Daß Verborgenheit in bestimmter Hinsicht auch für Menschen wesentlich ist - besonders dort, wo es um die durchlebte Verbundenheit mit
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Gott geht - , hält uns Franziskus in der letzten der 28 Ermahnungen vor. Dieser Schluß der Ermahnungen-Reihe ist nicht nur „Schluß" in der Bedeutung von „Ende", sondern er bedeutet hier auch „Abschließung" und „Abschirmung", um die Intimität der Betrachtung zu respektieren. Es ist möglicherweise kein Zufall, daß die letzten Worte der letzten Ermahnung implizit auf die Mutter Jesu, die gläubig Betrachtende, hinweisen. Die erste Ermahnung eröffnet mit Jesus, dem Weg zum Vater; die abschließende Ermahnung fuhrt die Person Mariens vor Augen: Bild und Vorbild der Kirche, die die Geheimnisse des Herrn in ihrem Herzen bewahrt. Die Mitte der Serie wird durch vier kurze Kommentare zu den Seligpreisungen von Jesus gebildet: die Ermahnungen 13, 14, 15 und 16.
Ermahnung 2 Dieser verhältnismäßig kurze Text ist die einzige Ermahnung, die ausschließlich ein Wort aus dem Alten Testament, nämlich aus dem Buch Genesis, kommentiert. Die Einsichten, die Franziskus hier bei seiner Ergründung der Ursiinde des alten Adam entfaltet, betreffen wesentliche Brennpunkte seiner Spiritualität.
Ermahnung 27 Ermahnung 27 - so hoffe ich anschließend plausibel machen zu können stellt uns den neuen Adam vor Augen, der, an den neuen Baum des Lebens (d.h. dem Kreuz) festgenagelt, das wohlbewachte „Haus" ist, in dem der dreieinige Gott wohnt. Ich bin mir dessen bewußt, daß diese Interpretation der 27. Ermahnung Erstaunen hervorrufen kann. Ich bitte darum, mir in dieser Frage zunächst zu vertrauen, bis ich unsere Interpretation dieser Ermahnung ein wenig erläutert habe. Übrigens rechtfertigt schon die schöne Ordnung der ganzen Reihe die besondere Aufmerksamkeit fur die 27. Ermahnung innerhalb dieses Ganzen.
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Ermahnung 1: VERBORGENHEIT Gottes (Vers 3: Domine, OSTENDE nobis Patrem et sufficit nobis; Vers 14: usquequo gravi CORDE?) Ermahnung 2: der alte Adam (Erläuterung eines Wortes aus dem AT: dixit) Ermahnungen 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12: ZEHN Ermahnungen, die Worte aus dem NT kommentieren (dicit/ait): der LEHRENDE Teil D pc R W E r; VJ
DIE WAHRHEIT Ermahnung Ermahnung Ermahnung Ermahnung
13 14 15 16
Vier Kommentare zu den Seligpreisungen Jesu {Beatus)
DAS LEBEN Ermahnungen 26, 25,24, 23, 22, 21,20, 19, 18, 17: ZEHN Ermahnungen, die ebenfalls mit Beatus beginnen: der SPIRITUELLE TEIL Ermahnung 27: der neue Adam Ermahnung 28: Anregung, um Gottes Gaben VERBORGEN zu halten (Vers 1: bona quae Dominus sibi OSTENDIT; Vers 3: qui secreta Domini observât in CORDE suo)
Zwei Reihen von zehn Ermahnungen Die übrigen Ermahnungen bilden zwei Reihen von je zehn Sprüchen: Ermahnung 3 bis einschließlich 12 und Ermahnung 17 bis einschließlich 26.
Die zweite Reihe: Ermahnung 17 bis einschließlich 26 Die Ermahnungen, die zu dieser Reihe gehören, haben gemein, daß jede von ihnen mit dem Begriff „selig" anfangt. In weitaus den meisten Fällen folgt dann „der Knecht", manchmal aber auch „der Mensch" oder J e n e r Ordensmann". Man könnte hier von zehn Seligpreisungen sprechen, die Franziskus
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selbst betreffen. Er formuliert diese aber erst, nachdem er einige Seligpreisungen Jesu erwogen hat. Die erste Reihe: Ermahnung 3 bis einschließlich
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Diese Texte haben alle einen instruierenden Charakter. Sie prägen Lehrmomente ein, die im Neuen Testament aus dem Mund Jesu („der Herr sagt") oder in den Paulinischen Briefen aufgezeichnet sind. Man kann darum Damien Vorreux und Pierre Brunette beistimmen, die diese Reihe als „die lehrhaften Ermahnungen"7 kennzeichnen. Zwar fehlt dieses lehrhafte Moment in der Reihe der Ermahnungen 17 bis 26 nicht ganz, aber dort wird doch vor allem ein glücklich machendes Leben vor Augen gestellt. Wenn man unter anderem mit Brunette diese zweite Reihe als „den spirituellen Teil" der Serie kennzeichnet, dann macht das Wort Jesu, das die erste Ermahnung eröffnet: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben" tatsächlich den Aufbau der ganzen Reihe übersichtlich. Die Wahrheit (der lehrhafte Teil: Ermahnung 3-12) und das Leben (der spirituelle Teil: Ermahnung 1726) bilden zusammen den Weg an den Ermahnungen entlang. Dieser Weg hat seinen Ursprung und sein Ziel in der Verborgenheit Gottes. Dies ist sowohl ein Weg der Umkehr und Buße gegenüber der selbstsüchtigen Haltung des alten Adam (Ermahnung 2) als auch ein Weg der Hinwendung zu Christus, der auf verhüllte Weise in der 27. Ermahnung angedeutet wird. In der Mitte macht Franziskus die Seligpreisungen Jesu zu den seinen, um zu zeigen, daß bei einem dienstbaren Menschen Entbehrung und Leiden paradoxerweise mit dem Glück eines Lebens im Frieden zusammengehen können - und daß bei den Menschen, die reinen Herzens sind, dieses Leben aufblüht in der Anbetung des lebendigen und wahren Gottes.
Eine Architektur Die Übereinstimmungen zwischen Gruppen der Ermahnungen und zwischen bestimmten einzelnen Ermahnungen, auf die ich leider nicht eingehen kann, haben die zum Aufbau der ganzen Reihe fuhrende Spur gezeigt. Wie würde das Gefuge der Serie aussehen, wenn man diese Sprüche als die sich in einer 7
Théophile DESBONNETS/Damien VORREUX, Saint François d'Assise, Documents et Premières Biographies. Deuxième édition revue et augmentée, Paris 1968 und 1981, 36; Pierre BRUNETTE, Essai d'analyse symbolique des Admonitions de François d'Assise. Une herméneutique de son expérience spirituelle à travers ses écrits, Montréal 1989, 52.
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Kirche befindenden Kapitelle oder Tableaus deutete? Es ist zwar nicht so, daß wir beweisen können, daß Franziskus bei der Zusammenfügung der einzelnen Sprüche das Bild einer Kirche vor Augen gehabt hätte. Wohl meinen wir aber, daß eine derartige Darstellung der Ordnung der Ermahnungen eine gewisse Wahrscheinlichkeit hat. Dafür können folgende Punkte dienen: -
-
-
Man hat schon oft bemerkt, daß Franziskus räumlich dachte. Ebenso deutete er den Gehorsam als einen Raum, in dem sich die Brüder befinden oder aus dem einige leider fortgezogen sind. In der Mnemotechnik, der Kunst des Nichtvergessens, hat von jeher die Vorstellung eines Gebäudes gute Dienste geleistet. Versuche, Gegenstände im Gedächtnis zu bewahren, werden wesentlich erleichtert, wenn man sich ein Gebäude mit vielen Räumen vorstellt und dann die einzelnen zu behaltenden Objekte oder Themen der Reihe nach auf diese Räume verteilt. 8 In ähnlicher Form kann auch das „Gebäude" der Ermahnungen als Gedächtnisstütze dienen. Ausschlaggebend ist für uns, daß es sich insgesamt um 28 Ermahnungen handelt. Zu Franziskus' Zeiten galt diese Zahl als symbolische Andeutung der Kirche. Auf diesen Symbolwert werde ich später noch näher eingehen.
Mehr als eine gewisse Plausibilität fur die Anwendung der Metapher eines Kirchengebäudes auf die Sammlung der Ermahnungen bringe ich hier nicht vor. Vielleicht kann aber diese Metapher wohl behilflich sein, die schöne Struktur des Ganzen anschaulich zu machen. der Norden 2 3 4 5 6 7 8 9
10 11 12
1
13 14
28
16 15
der Westen
der Osten 27 26 25 24 23 22 21 20 19 18 17 der Süden
Orientieren wir diesen Grundriß, so stehen die vier Kommentare zu den Seligpreisungen Jesu (13-16) nach Osten gerichtet. In der Symbolik des Kirchengebäudes als Hinweis auf den mystischen Leib Christi weist die Apsis auf Christus als Haupt der Kirche hin. Die Ermahnungen 1 und 28 sind an der Westseite situiert, bilden den Eingang und den Ausgang des Kirchengebäudes. Zusammen mit den Ermahnungen 2 und 27 markieren diese Textpassagen die Vorhalle, das Atrium. Die Tür und das Atrium weisen auf Christus als den Zugang zum Vater hin. Über dem Eingang einer Kirche gibt es oft ein Tym8
Mary CARRUTHERS, The Book of Memory. A Study of Memory in Medieval Culture, Cambridge 1990, 71 f.
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panon, auf dem Christus als Majestas Domini mit einem Buch dargestellt ist, in dem steht: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben." Der erste Satz der Ermahnungen-Reihe scheint hieran zu erinnern: Der Herr Jesus sagt zu seinen Jüngern: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich."
28 Malereien in der Oberkirche von San Francesco in Assisi9 Nun wende ich mich einigen thematischen und zahlenmäßigen Übereinstimmungen zwischen der Struktur der Ermahnungen-Reihe und der Anordnung der Fresken in der Oberkirche des Sacro Convento in Assisi zu, die zum Gedächtnis an Franziskus angefertigt und bei den Erdbeben im September 1997 so stark zerstört wurden. AT
Schöpfung und Sündenfall Der alte Adam 1 2 3 4
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28 27 26 25 24 23 22 21 20 19 18 17 16 NT
Das Leiden Christi Der neue Adam
Wenn man die Anordnung der Sammlung der 28 Ermahnungen kennt, fallen bei einer globalen Kenntnisnahme der Anordnung der Fresken in der Oberkirche drei Dinge auf: -
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In der Oberkirche gibt es 28 Malereien, die sich auf Franziskus beziehen. (Zwanzig betreffen sein Leben und seinen Tod; die übrigen stellen Ereignisse nach seinem Tod dar.) Die zahlenmäßige Übereinstimmung mit der Ermahnungen-Serie springt ins Auge. Links vom Eingang ist Adams Sündenfall dargestellt. Rechts vom Eingang sieht man Jesus Christus, den neuen Adam. Genau wie im von uns beschriebenen „Kirchengebäude der Ermahnungen" figurieren hier also der alte und der neue Adam, und zwar an den gleichen Stellen in beiden Gebäuden: links und rechts vom Eingang. Was die Ermahnungen betrifft, beziehen wir uns auf Ermahnung 2 und Ermahnung 27. Gerhard RUF, Franziskus und Bonaventura. Die heilsgeschichtliche Deutung der Fresken im Langhaus der Oberkirche von San Francesco in Assisi aus der Theologie des heiligen Bonaventura, Assisi 1974, 237.
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Bestimmte Bilder in der Oberkirche entsprechen offenbar wohlüberlegt bestimmten anderen Bildern. Diese gegenseitigen „Spiegelungen" ergeben Querverbindungen. Dies erinnert an die Existenz einiger bemerkenswerter Verbindungslinien (oder wenn man will: „Kreuzrippen") in der Ermahnungen-Reihe, die wir in unserem Buch dargestellt haben.
Namentlich die Zahl 28 und die Positionierung des „alten und neuen Adam" kann man kaum zufällig nennen. Damit erhebt sich also die Frage, ob die Baumeister und Maler der Oberkirche vielleicht die Struktur der Ermahnungen-Serie vor Augen hatten, als sie den Bauplan ihrer Kirche entwarfen. Dies erscheint uns höchst unwahrscheinlich. Die Art und Weise, in der Franziskus die Sammlung konstruiert hat, ist nicht sofort durchsichtig. Uns sind auch keine Zeugnisse bekannt - weder aus seiner Zeit noch aus einer späteren Periode - , die die von uns aufgedeckte Struktur der Ermahnungen-Reihe beschreiben, geschweige denn die festgestellten Übereinstimmungen mit der Oberkirche. Uns fehlt die Kompetenz für die Beantwortung der Frage, ob sich möglicherweise sowohl Franziskus als auch die Architekten der Oberkirche von bereits vorliegenden Ideen oder Vorbildern haben inspirieren lassen. Letztere müßten dann sowohl die zahlenmäßige Übereinstimmung als auch die besondere Stellung des alten und des neuen Adam betreffen.
Ergänzende Überlegungen zum Symbolwert der erwähnten Zahlen Die Zahl 28 Diese Zahl hatte zu Franziskus' Zeiten einen symbolischen Wert. Schon Beda hat darauf hingewiesen, daß 28 eine „vollkommene Zahl" sei. Als solche drückt 28 seiner Meinung nach die Vollkommenheit der Kirche Christi aus.10 Hinzu kommt, daß 28 auch das Produkt der Multiplikation von vier und sieben (4 χ 7) ist. Die Zahl vier steht für den Raum - man denke an die vier Himmelsrichtungen - und die Zahl sieben für die Zeit - sieben Tage bilden eine Woche.
10 Bedae Opera, in: Corpus Christianorum, pars II, 2 A, 47: Psalm 28 (Vulgat): De consummatione tabemaculi handelt über die Vollkommenheit der Kirche: Hinc est enim quod huius numeri psalmus in consummatione tabemaculi attitulatur, quem totum de perfectione sanctae ecclesiae constat esse cantatuirr, vgl. Heinz MEYER, Die Zahlenallegorese im Mittelalter. Methode und Gebrauch. München 1975, 155.
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Die Zahl 8 Die 8. Ermahnung lenkt durch ihre Verbindung zur 1. Ermahnung unsere Aufmerksamkeit auf sich; und das gilt ebenso für die Ermahnungen 21 und 28. Ohne Zweifel hat die Zahl 8 fur Franziskus eine besondere Bedeutung gehabt. Die Symbolik der Zahl 8 geht auf die Bibel zurück. Dort verweist sie auf Gott, der mit dem Menschen etwas Neues anfängt. Die Bedeutung dieser Zahl für Franziskus ist deutlich: In seinem Testament spricht er achtmal über die Initiative Gottes. Auch im Sonnengesang, der nach einer eingreifenden Erfahrung des von Gott an ihm gewirkten Neuen entstand, ertönt achtmal der Refrain: „Gepriesen seist du, mein Herr." Daß die Zahl 8 auch in der ErmahnungenReihe einen Hinweis auf die Urheberschaft Gottes enthält, zeigt schon die 1. Ermahnung, in der achtmal Dominus [Herr], achtmal Pater [Vater] und achtmal Spiritus [Geist] vorkommen. Die Initiative Gottes wird auch in der 8. Ermahnung besonders hervorgehoben. Die Ermahnungen 21 und 28 rufen zum respektvollen Umgang mit den Geheimnissen Gottes auf. Franziskus ' Vision der Kirche Was kann den Gestalter der Ermahnungen-Serie bewogen haben, sorgfaltig strukturierend die vielleicht zum Teil schon bestehenden Sprüche zusammenzubringen? Warum sollte er eventuell mit der Serie von Sprüchen die Vorstellung eines Kirchengebäudes skizzieren haben wollen? Und gesetzt den Fall, daß Franziskus der Gestalter der Sammlung war - was wir annehmen - und er tatsächlich, wie einige Forscher meinen, die Reihe am Ende seines Lebens zusammengestellt hat: Was kann ihn gerade dann bewogen haben, es auf diese Weise zu tun? Eindeutige Antworten auf diese Fragen können wir nicht geben. Allerdings scheint es uns gut möglich zu sein, die aufgedeckten strukturellen Hinweise mit der Vision in Zusammenhang zu bringen, die Franziskus im Jahre 1224 auf dem Berg La Verna hatte und von der er in seinen beiden letzten Lebensjahren die Erinnerung in der Gestalt der Wundmale Christi leiblich mitgetragen hat. Christus, der Gekreuzigte, der als der endgültig Lebende das Haupt seines Leibes, der Kirche, ist: So hatte Ihn Franziskus auf dem Kreuz in der Damiankirche, wo er den Auftrag „Geh und stelle mein Haus wieder her" bekam, dargestellt gesehen. Und so hatte er Ihn, unvergleichlich erfreulicher und schmerzlicher, unserer Ansicht nach in der Vision auf dem Berg La Verna erschaut.
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Lobpreis Gottes Franziskus, mit den Wundmalen seines Herrn gezeichnet - was wurde hierüber nicht schon alles gesagt und gesungen? Aber das Dokument, das er, tief beeindruckt von der ihm zuteil gewordenen Vision, eigenhändig verfaßt hat, lag uns bis vor kurzem nur in amputierter Form vor. Alle Ehre gilt auch hier Kajetan Esser, der den Befund von Duane V. Lapsanski von 1974 in die von ihm 1976 besorgte kritische Herausgabe der 'Opuscula' aufgenommen hat sei es auch mit einigen umstrittenen Umordnungen. Anerkennung gebührt auch Attilio Bartoli Langeli, der sich vor kurzem bemüht hat, das Autograph des Lobpreises aufs neue einer Untersuchung zu unterziehen. Auch seinen Befund haben wir dankbar zur Kenntnis genommen. Es muß uns aber doch von der Seele, daß wir lieber nicht erfahren hätten, daß der Forscher, wie er selbst sagt, auf diesen Text eigentlich mehr Zeit hätte verwenden müssen.11 Der Lobpreis zählt 33 Anrufungen: ein Hinweis auf die Anzahl der Lebensjahre Jesu. Die Anrede „Du bist" markiert alle Verse mit Ausnahme des Schlußverses. Drei Teile lassen sich voneinander abgrenzen: 1. In den ersten acht Anrufungen verwendet Franziskus hauptsächlich Adjektive. Er erkennt Gott als den Erhabenen und zugleich Nahen, eins und dreifaltig. 2. Dann folgen größtenteils kurze Anrufungen mit Substantiven, die verschiedene Aspekte des Wesens Gottes und der Gaben Gottes an den Menschen bezeichnen. 3. Der letzte Vers übernimmt wieder Wörter aus den ersten acht Anrufungen. Der Eröffhungsvers (Vers 1) besteht aus drei Satzteilen zu je drei Wörtern. Laudes Dei
altissimi
Esser
I.Teil:
1.
1. Tu es sanctus Dominus Deus solus, qui facts mirabilia. 2. Tu es fortis, 3. tu es magnus, 4. tu es altissimus. 5. Tues rex potens,
2.
11 Attilio BARTOLI LANGELI, Gli Autografi di Francesco d'Assisi (con una nuova edizione della Lettera di Spoleto), in: Frate Francesco d'Assisi. Atti del XXI Convegno internazionale, Assisi, 14-16 ottobre 1993, Spoleto 1994, 126ff.
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3.
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6. TUPA TER SANCTE, REX CAELI ET TERRAE. [sieben Wörter] 7. Tu es trinus et unus, Dominus Deus deorum. 8. Tu es bonum, omne bonum, summum bonum, Dominus Dens vivus et verus. II. Teil 9. (1) 10. (2) 11.(3) 12. (4)
Tu es caritas, amor, tu es sapientia, tu es humilitas, tu es patientia.
13. 14. 15. 16.
tu es tu es tu es tu es
(5) (6) (7) (8)
pulchritudo, mansuetudo, securitas, quietas.
17. (9) 18. (10j 19.(11) 20. (12) 21. (13)
[fünf Wörter] tu es gaudium et laetitia tu es spes nostra, tu es iustitia, tu es temperantia. TUES OMNIA DIVmA NOSTRA AD SUFFICIENTIAM. [sieben Wörter]
22. (14) 23.(15) 24. (16) 25.(17)
Tu es pulchritudo, tu es mansuetudo, tu es protector, tu es custos et defensor.
[fünf Wörter]
26.(18) Tu es fortitudo, 27. (19) tu es refugium, 28. (20) tu es spes nostra. 29.(21) 30.(22) 31.(23) 32. (24)
Tu es fides nostra, tu es caritas nostra, tu es tota dulcedo nostra, tu es vita aeterna nostra.
[fünf Wörter] [fünf Wörter]
III. Teil 33. (magnus et admirabilis Dominus, Deus omnipotens, misericors Salvator).
[acht Wörter]
Der sechste Vers unterbricht das Gleichmaß der Tu es mit: „Du heiliger Vater, König des Himmels und der Erde." Franziskus schreibt: „König des Himmels und der Erde." Er erkennt vorzugsweise dem Vater die Königswürde zu. „Heiliger Vater König" steht genau in der Mitte des ersten Teils des Lobpreises.
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Dieser Teil zählt insgesamt 49 Wörter: Vor Pater sánete rex stehen 23 Wörter, und danach folgen gleichfalls 23 Wörter. Es gibt einige bemerkenswerte Übereinstimmungen zwischen dem zweiten Teil des Lobpreises von Franziskus und der Oratio de Sancta Trinitate' aus dem neunten Jahrhundert12. 1. Auxiliatrix es tu mihi trinitas sancta. Exaudí me, exaudí me deus meus. 2. Tues deus meus vivus et verus. 3. Tues pater meus sanctus. 4. Tu es dominus meus pius. 5. Tu es rex meus magnus. 6. Tu es iudex meus iustus. 7. Tues magistermeus unus. 8. Tu es adiutor meus opportunus. 9. Tu es medicus meus potentissimus. 10. Tu es dilectus meus pulcherrimus. 11. Tues panis meus vivus. 12. Tu es sacerdos in aeternum. 13. Tu es dux meus a patria. 14. Tu es lux mea vera. 15. Tu es dulcedo mea sancta. 16. Tu es sapientia mea clara. 17. Tues simplicitas mea pura. 18. Tu es unitas mea catholica. 19. Tu es concordantia mea pacifica. 20. Tu es custodia mea tota. 21. Tues [portio] mea bona. 22. Tu es salus mea sempiterna. 23. Tu es misericordia mea magna. 24. Tu es sapientia mea robustissima salvator mundi qui sine fine vivis et régnas in saecula saeculorum amen.
Franziskus' Lobpreis beginnt gleichfalls mit einem Lobpreis der Heiligen Dreieinigkeit (1. Teil) und endet auch mit Salvator. Das Mittelstück seines Lobpreises zählt gleichfalls 24 Anrufungen. Im Gegensatz aber zu dieser Oratio verwendet Franziskus nirgends „mein", sondern wiederholt „unser". Offensichtlich spricht er als Mitglied der Kirche.
12 In: Dom André WLLMART, Precum Libelli Quattor Aevi Karolini. (Ephemerides Liturgicae), (prior pars), Roma 1940, 13; vgl. DESBONNETS/VORREUX, Saint François (wie Anm. 7), 30 f.
Franziskus von Assisi als Mystiker
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Die Symbolik der Zahl 24 Hatte vielleicht die Zahl 24 für Franziskus eine besondere Bedeutung? Unsere Antwort lautet ohne weiteres: Ja. Ich erwähnte bereits, daß diese Zahl im schönen Aufbau der Ermahnungen-Reihe eine Funktion hat. Hier ist wichtig, daß diese Zahl eine der Übereinstimmungen zwischen dem Lobpreis und der 27. Ermahnung darstellt. In der Bibel und in der christlichen Tradition weist die Zahl 24 auf die Wirkung des Heiligen Geistes im Leben der Menschen und auf den Lobpreis des Höchsten hin. Die Zahl 6 symbolisiert nämlich die Wirkung des Heiligen Geistes; die Zahl 4 steht fur Universalität. Franziskus hat ins Mittelstück seines Lobpreises höchstwahrscheinlich die doppelte Symbolik der Zahl 24 hineingewoben - also sowohl die Wirkung des Heiligen Geistes in der Kirche als auch den universellen Lobpreis Gottes. In seinem Lobpreis hatte Franziskus durch die Verwendung der Zahl 28 außerdem die Kirche vor Augen (vgl. unten, wo ich Ermahnung 27 mit dem Lobpreis Gottes vergleiche). Im ganzen des zweiten Teils des Lobpreises fallen einige Punkte auf: -
-
Die dreizehnte Anrufung fallt aus der Reihe, da sie wesentlich länger als die anderen Anrufungen ist. Die ersten vier Anrufungen zeigen eine auffallige Übereinstimmung mit den ersten zwei Versen der 27. Ermahnung: Dort kommen die gleichen Wörter vor. Diese ersten vier Anrufungen sind durch Reim miteinander verbunden. Auch die darauf folgenden Anrufungen sind jeweils in Vierergruppen durch Reim miteinander verbunden. Eine Ausnahme bilden da die achtzehnte, neunzehnte und zwanzigste Anrufung, die also in dieser Hinsicht eine Unregelmäßigkeit zeigen.
Diese Feststellungen rechtfertigen die Einteilung dieses zweiten Teils des Lobpreises in Strophen von je vier Anrufungen, unter der Voraussetzung, daß: 1. die Sonderposition der dreizehnten Anrufung verantwortet wird; 2. die Eigenart der aus drei Anrufungen bestehenden fünften Strophe verständlich gemacht wird.
„ Unser Reichtum ": die Mitte des zweiten Teils Die dreizehnte Anrufung, ein Vers mit sieben Wörtern, steht genau in der Mitte des zweiten Teils des Lobpreises: 40 Wörter gehen ihr voran, und 42 Wörter folgen ihr nach. Der Vers spiegelt in dieser Hinsicht die Mitte des ersten Teils, wo das Gleichmaß des „Du bist" durch die Anrufung „Du heiliger
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Vater, König des Himmels und der Erde" unterbrochen wird. Auch dieser Vers besteht, wie gesagt, aus sieben Wörtern. Man könnte sagen, daß der Reichtum aller vorangehenden und folgenden Anrufungen sich in diesem Vers konzentriert. Wie ich oben schon andeutete, unterbricht dieser Vers außerdem das Gleichmaß der vierzeiligen Strophen. Dadurch, daß „unser Reichtum" in der Mitte des zweiten Teils steht - das Wort divitia ist das vierundvierzigste Wort, nostra das fünfundvierzigste; der ganze Teil zählt 89 Wörter - , bildet dieser Ausdruck gleichsam einen Brennpunkt. Dies wird durch die Beobachtung bestätigt, daß dieser Vers seinen Platz zwischen der dritten Strophe, die mit einer Anrufung von fünf Wörtern beginnt (Tu es gaudium et laetitia), und der vierten Strophe, die mit einer Anrufung von gleichfalls fünf Wörtern endet (Tu es custos et defensor), hat. An wen richtet Franziskus sich mit dieser Anrufung? Ein Hinweis liegt in den Worten „zur Genüge". In der 1. Ermahnung zitiert er die Stelle des Johannes-Evangeliums, an der Philippus zu Jesus sagt: „Zeige uns den Vater, und das genügt uns" [et sufficit nobis], worauf Jesus antwortet: „Philippus, wer mich sieht, sieht auch den Vater."
Strophe 1 : 1. Tu es caritas, amor, 2. tu es sapientia, 3. tu es humilitas, 4. tu es patientia. Strophe 3: 9. Tues gaudium et laetitia (fünf Wörter), 10. tu es spes nostra, 11. tu es iustitia, 12. tu es temperantia.
Strophe 2: 5. Tu es pulchritudo, 6. tu es mansuetudo, 7. tu es securitas, 8. tu es quietas.
Vers 13: TU ES OMNIA DIVITIA NOSTRA AD SUFFICIENTIAM. (sieben Wörter) Strophe 5: 18. Tu es fortitudo, 19. tu es refugium, 20. tu es spes nostra. Strophe 6: 21. Tu es fides nostra, 22. tu es caritas nostra, 23. tu es tota dulcedo nostra (fünf Wörter), 24. tu es vita aeterna nostra (fünf Wörter), (fünfmal nostra)
Strophe 4: 14. Tu es pulchritudo, 15. tu es mansuetudo, 16. tu es protector, 17. tu es custos et defensor (fünf Wörter).
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Unsere Interpretation, daß Franziskus sich hier an Jesus wendet, wird durch den Abschnitt in der Regel von 1221 bestätigt, in dem er wie folgt zum Vater betet: „Wir bitten flehentlich, unser Herr Jesus Christus, dein geliebter Sohn, an dem du dein Wohlgefallen hast, möge mit dem Heiligen Geiste, dem Tröster, dir für alles Dank sagen, wie es dir und ihm gefallt; er ist es ja, der dir stets fur alles zur Genüge ist [qui tibi semper sufficit ad omnia], durch den du uns so viel gegeben hast. AUeluja." (RegNB 23,5)
Ich kann mich hier leider nicht mit jeder der sechs Strophen und mit jedem einzelnen Vers beschäftigen, sondern beschränke mich auf das Ganze der sechs Strophen, aufgefaßt als Repräsentation der Vision des Seraphen mit sechs Flügeln auf dem Berg La Verna (siehe nebenstehende Grafik).
Ermahnung 27 Mit anderen Autoren stellen wir fest, daß die 27. Ermahnung, im ganzen der Ermahnungen-Reihe betrachtet, einmalige Züge aufweist. 13 In unserer Gestaltung des Textes kommen die eingewobenen Reime dieser laude besser zur Geltung als in der von Esser gebotenen Präsentation des Textes. Auch die Unregelmäßigkeiten in Rhythmus und Reim dieser „Lehrdichtung" kommen hier als scheinbare „Webfehler" zum Vorschein. Wir drucken die Reime fett und die Unregelmäßigkeiten kursiv. Die zwei Strophen umfassen jeweils drei Verse. Der fünfte Vers ist mit dem Endreim -iendum abweichend. In den Endreimen der ersten Strophe herrscht der Α-Laut vor, in den Endreimen der zweiten Strophe der O-Laut. Ich beschränke mich hier auf die Unregelmäßigkeiten. Unsere Deutung der erwähnten Tugenden als Hinweise auf die Personen der Dreieinigkeit Gottes lasse ich hier unbesprochen. 1. 2. 3. 4. 5.
Ubi caritas est et sapientia, ibi nec timor nec ignorantia. Ubi est patientia et humilitas, ibi nec ira nec perturbatio. Ubi est paupertas cum laetitia, ibi nec cupiditas nec avaritia. Ubi est quies et meditatio, ibi ñeque sollicitudo ñeque vagatio. Ubi est timor Domini ad atrium suum custodiendum (vgl. Lk 11,21 ),
13 So Heinrich BOEHMER, Analekten zur Geschichte des Franciscus von Assisi. Tübingen/Leipzig 1904, 3 1961, Einleitung, XLIII.
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6.
ibi inimicus non potest habere locum ad Ubi est misericordia et discredo, ibi nec superfluitas nec induratio.
ingrediendum.
Fünf Unregelmäßigkeiten in der Versgestaltung ziehen die Aufmerksamkeit auf sich: 1. Vers fünf ist in Form und Länge abweichend, denn er besteht aus zweimal acht Wörtern. Die übrigen fünf Verse zählen je zweimal fünf Wörter. 2. Im ersten Vers steht est an einer anderen Stelle als in den übrigen Versen. 3. Im zweiten Vers fehlt ein Endreim. 4. Im dritten Vers steht cum, wo in den anderen Versen et steht. 5. Im vierten Vers steht neque, wo sonst nec steht. Wo ein Gedicht Unregelmäßigkeiten aufweist, ist dies möglicherweise der Ungeschicklichkeit des Schriftstellers zuzuschreiben. Es ist aber auch möglich, daß ein Dichter, der sonst seine Meisterschaft bewiesen hat, bewußt Unregelmäßigkeiten in die Architektur eines Verses „einbaut", um den aufmerksamen Leser auf die Spur einer tieferen Bedeutung zu bringen. Es ist unsere Überzeugung, daß Franziskus, dessen Sonnengesang seine Fähigkeiten als Dichter deutlich beweist, auch in die 27. Ermahnung Unregelmäßigkeiten eingewoben hat, die es dem Leser oder Hörer ermöglichen, mehr zu erfahren, als das Gedicht als Lehrdichtung über Tugenden und Untugenden erkennen läßt.
Der fünfte Vers als „Schlüssel" Die auffalligste Unregelmäßigkeit bildet der fünfte Vers. Die befremdliche Unterbrechung des Rhythmus erscheint hier als eine crux. Aber gerade dieser Vers liefert den Schlüssel, der den Zutritt zur tieferen Bedeutungsschicht eröffnet. Franziskus zitiert nahezu buchstäblich aus dem Lukasevangelium (11,21): Cum fortis armatus custodii atrium suum, in pace sunt ea quae possidet. „Wenn der Starke bewaffnet seinen Hof bewacht, dann ist sein Besitz im Frieden."
Wo der Text des Evangeliums fortis armatus hatte, hat Franziskus timor Domini geschrieben. Warum ersetzt er die Formulierung „der bewaffnete Starke"? War sie als Ausdruck der Kraft nicht ausreichend? Diese Fragen stellen sich, wenn man diese Ermahnung als eine Präsentation der den Menschen von Gott geschenkten Kräfte [virtutes] hört. Für die Beantwortung dieser Fragen sind drei Vorgehensweisen hilfreich: 1. solche, die sich an der Tradition der Mönche orientieren. Diese lasse ich hier unberücksichtigt;
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2. solche, die eine mögliche Parallele der 27. Ermahnung und des Lobpreises Gottes im Auge haben; 3. solche, die auf die Frage eingehen, warum Franziskus hier aus dem elften Kapitel des Lukasevangeliums zitiert. Worum geht es in diesem Kapitel? Auch diesen Ansatz muß ich hier unberücksichtigt lassen. In unserem Buch wird er ausfuhrlich besprochen.
Ermahnung 27 neben dem Lobpreis Gottes Wie kann verständlich gemacht werden, daß „der Starke" durch „die Furcht des Herrn" ersetzt wird? In welchem Zusammenhang spricht Franziskus an anderen Stellen über „Stärke"? Im Lobpreis Gottes tut er dies schon am Anfang, noch bevor er Gott als „Erhabensten" anredet: „Du bist der Starke" \forfis]. Auch im zweiten Teil dieses Lobpreises sagt er zu Gott: „Du bist die Stärke" [fortitude]. Dies reizt uns, weil diese Anrufung zwischen den Versen „Du bist unser Wächter und Verteidiger" und „Du bist die Erquickung" steht. Es handelt sich jeweils um Betitelungen, die das Bild hervorrufen, das auch der fünfte Vers der 27. Ermahnung vor Augen fuhrt: das Bild eines Bereiches, der bewacht oder beschützt werden muß, damit eine feindliche Macht nicht „eindringen" kann. 14 (Dieses letzte Wort ingressi wird auch in Lukas 11,26 verwendet.) Und nun stellt sich heraus, daß diese Anrufung „Du bist die Stärke" in der fünften Strophe des zweiten Teils des Lobpreises steht. Ich stelle hier den fünften Vers und die vierte und fünfte Strophe nebeneinander. Admonitio 27:
LaudDei:
5.
4.
Ubi est timor Domini ad atrium suum custodiendum (vgl. Lk 11,21), ibi inimicus non potest habere locum ad ingrediendum.
Tu es pulchritudo, tu es mansuetudo, tu es protector, tu es custos et defensor. 5. Tu es fortitude, tu es refugium, 6. tu es spes nostra.
Der fünfte Vers der 27. Ermahnung fällt durch die Unregelmäßigkeit im ganzen des Gedichtes auf; auch die fünfte Strophe - wir sahen es schon - fallt durch ihre Unregelmäßigkeit im ganzen der 24 Anrufungen des zweiten Teils des Lobpreises auf. Was verbindet diese fünfte Strophe und den fünften Vers miteinander? In beiden Fällen werden - so stellten wir fest - Begriffe verwendet, die Bewachung, Schutz und Verteidigung ausdrücken. Im fünften Vers 14 Vgl. RegNB 22,21-31: vs 24 ingressi, vs 25 custodiamus.
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der Ermahnung wird dieses Bild noch durch die Feststellung verstärkt, daß ein „Eindringen" ausgeschlossen ist. Nun ist der Lobpreis unter dem Eindruck der Vision geschrieben, die die Gestalt des gekreuzigten Seraphen vor Augen führte, dessen Körper mit zwei Flügeln beschirmt wird. Die Frage drängt sich dann auch auf, ob diese Vision etwa auch beim Verfassen der 27. Ermahnung vor Augen stand. In diesem Fall wäre „sein H o f [atrium suum] die Bezeichnung dieses beschützten und bewachten Körpers. Aber wie soll man dann die Formulierung timor Domini [„Furcht des Herrn"] verstehen? Diese Wörter wären dann als Bezeichnung der abschirmenden Flügel des Seraphen zu deuten. Ist dann aber die Übersetzung „Furcht des Herrn" beizubehalten? Wir stellen diese Frage, weil Franziskus im 16. Vers des 17. Kapitels der Regel von 1221 über die „Furcht Gottes" spricht. Et semper super omnia desiderai divinum timorem / et divinam sapientiam / et divinum amorem / Patris / et Filii / et Spiritus Sancii. (RegNB 17,16)
Divinus timor [„Furcht Gottes"] muß unseres Erachtens hier als einer der Namen für Gott, den Vater verstanden und demnach als „Scheu Gottes" übersetzt werden. Dieser Zusammenhang zwischen der fünften Strophe und dem fünften Vers (zusammen mit dem Hinweis auf die Christusvision) mag zwar - genau wie die Übersetzung mit „Scheu" - fremd anmuten, er erweist sich aber als möglich: eine Möglichkeit, die noch vergrößert wird, wenn Sachverständige vorbringen, daß atrium [„Hof'] in der zeitgenössischen Kirchensymbolik nicht selten einen Hinweis auf den Leib Christi enthielt, und wenn einige Texte der Kirchenväter oder Theologen über die „Furcht des Herrn" im Sinne der „Scheu Gottes" seinen Geschöpfen gegenüber sprechen.
Unregelmäßigkeiten von unten aus betrachtet und gezählt Daß wir die 27. Ermahnung als einen Text interpretieren, in dem auch auf verhüllte Weise Franziskus' Vision des Seraphen angedeutet wird, ist durch die oben angeführte Parallele mit dem Lobpreis natürlich noch keineswegs begründet. Um die Plausibilität unserer Interpretation zu verstärken, bringen wir hier Argumente verschiedener Herkunft und verschiedenen Gewichtes vor.
Die Zahl 28 im Lobpreis Gottes und in der 27. Ermahnung Am Lobpreis Gottes ist bemerkenswert, daß dieser Text, wenn man ihn von unten aus liest, an den Gruß an Maria erinnert: Salve regina, (mater) misericordiae, vita, dulcedo et spes nostra. Kann man ein solch merkwürdiges Verfahren, einen Text „von unten" aus zu lesen, wohl noch vernünftig nennen? Daß die Antwort dennoch positiv ausfällt, mag deutlich werden, wenn wir uns
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ins Gedächtnis rufen, was das Fest Mariä Aufnahme in den Himmel für Franziskus bedeutete. Am Tag dieses Festes, dem 15. August 1224, begann er seine Exerzitien auf dem Berg La Verna. Dort befand sich übrigens eine Kapelle, die Maria von den Engeln - das heißt, „der in den Himmel aufgenommenen Maria" - gewidmet war. Die aufwärtsgehende Bewegung in „Aufnahme in den Himmel" hat auf textueller Ebene ihre Entsprechung im „Vonunten-aus-Lesen". Diese textuelle Eigenartigkeit wird durch die Anwendung der Symbolik der Zahl 28 bestätigt, mit der Franziskus, wie wir wiederholt sahen, auf die Kirche hinweist. Hinzu kommen die Hinweise auf das Salve Regina. Der Hinweis auf die Mutter Jesu läßt sich folgendermaßen verstehen: Maria als Urbild der Kirche 15 . Auch in seinem Gruß an die selige Jungfrau Maria betont Franziskus nachdrücklich das Band zwischen Maria und der Kirche: „Sei gegrüßt, Herrin, heilige Königin, heilige Gottesmutter Maria, die du zur Jungfrau Kirche gemacht worden bist." 16 In diesem Zusammenhang ist folgendes bedeutungsvoll: Eine der Unregelmäßigkeiten in der 27. Ermahnung ist der Gebrauch des neque [„noch"] als Synonym für nec [„kein"] in Vers 4. Ist diese Abweichung vom Muster der übrigen Verse nur als spielerische Variation zu betrachten? Beim Zählen wiederum von unten ausgehend - stellt sich heraus, daß das zweite neque vor vagatio das achtundzwanzigste Wort ist. Hinzu kommt, daß auch der Lobpreis einen ähnlichen Hinweis gibt. Als wir nämlich von unten ausgehend die Wörter des zweiten Teils zählten, stellte sich dort heraus, daß die sechste und die fünfte Strophe zusammen aus 28 Wörtern bestehen. Auch dort findet sich also ein Hinweis auf die Kirche, der die festgestellte Erinnerung an das Salve Regina bestätigt.
Andere eingewobene Zahlen Außer der Zahl 28 spielen in der 27. Ermahnung auch andere Zahlen eine bemerkenswerte Rolle. -
In Vers 3 ist cum [„mit"] eine der oben festgestellten Unregelmäßigkeiten. In den Versen 1, 2, 4 und 6 steht ja dort, wo ein Tugendenpaar erwähnt wird, immer et [„und"]. Erneut stellt sich die Frage, ob diese Abweichung
15 Leonard LEHMANN, Franziskus - Meister des Gebets, Werl 1989, 132 ff. 16 SalBMV 1; vgl. Isaac von STELLA: De Maria et Ecclesia, Sermo 51, SC, 339, 200-216: de virgine maire Ecclesia, und weiter: In tabernáculo uteri Mariae moratus est Christus novem mensibus; in tabernáculo fidei Ecclesiae usque ad consummationem saeculi; in cognitione et dilectione fìdelis animae in saecula saeculorum morabitur (vgl. SalBMV 4: ave tabernaculum eius).
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ein Zufall ist. Das Wort cum ist nämlich, von oben ausgehend gezählt, das vierundzwanzigste Wort der Ermahnung. Die Zahl 24 wies zu Franziskus' Zeiten, wie bereits gesagt, auf die universelle Wirkung des Heiligen Geistes und auf den Lobpreis Gottes hin. Ermahnung 27 und der zweite Teil des Lobpreises zählen jeweils sechs Verse und sechs Strophen. Die Symbolik der Zahl 6 hat bei Franziskus eine wichtige Funktion. Im Lobpreis, so stellten wir fest, spielt die Zahl 5 eine Rolle. Um die Mitte des zweiten Teils herum stehen symmetrisch zwei Anrufungen, die je fünf Wörter umfassen. Ganz unten in diesem Teil stehen fünf Anrufungen mit dem Wort nostra: gerade an der Stelle, an der die Kirche sonstwie zur Sprache gebracht wird. Die zwei letzten Anrufungen des zweiten Teils zählen gleichfalls je fünf Wörter. Außerdem sind im Lobpreis die fünfte Strophe und in der 27. Ermahnung der fünfte Vers unregelmäßig. Daß mit Ausnahme des fünften Verses alle Zeilen der 27. Ermahnung fünf Wörter umfassen, ist ebenfalls wichtig. Die Zahl 5 wies zu Franziskus' Zeiten unter anderem auf die fünf Wundmale des gekreuzigten Christus hin.17 Der fünfte Vers, in dem es sich nach unserer Interpretation darum handelt, daß Gott, der Vater, den Leib seines auferstandenen Sohnes unantastbar beschützt, besteht aus zweimal acht Wörtern. Die Zahl 8 symbolisierte als eschatologische Zahl von jeher die Auferstehung Jesu und die Initiative Gottes.18 Daß gerade im fünften Vers (Erinnerung an die fünf Wundmale) die Auferstehung bezeichnet wird, weckt aufs neue Aufmerksamkeit. Das Erstaunliche an der Vision von Franziskus ist ja, daß Schmerz und Freude darin eine einzige Wirklichkeit darstellen.
Ermahnung 27: Christus, mit der Kirche
verbunden
Nachdem wir zunächst einmal auf jene Eigenartigkeiten der 27. Ermahnung aufmerksam gemacht haben, die in ihrer tieferen Bedeutung zuvor nicht sofort deutlich waren - man denke unter anderem an die sich darin verbergende Zahlensymbolik - , ist die Frage angebracht, ob die Übereinstimmungen zwischen dem Lobpreis und der 27. Ermahnung unsere Interpretation der Vision als Präsentation Christi in seiner Verbundenheit mit der Kirche bestätigen. In welchen Punkten stimmen die beiden Texte überein? -
Teil II des Lobpreises zählt sechs Strophen; Ermahnung 27 sechs Verse.
17 Dorothea FORSTNER, Die Welt der christlichen Symbole. Innsbruck/Wien/München 1982,51. 18 V g l . MEYER, Z a h l e n a l l e g o r e s e ( w i e A n m . 10), 1 3 4 .
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Teil II des Lobpreises zählt 24 Anrufungen; Ermahnung 27 würde, wenn ihre Regelmäßigkeit nicht durch den abweichenden Vers unterbrochen wäre, gleichfalls 24 Tugenden und Untugenden vorführen. Die ersten vier Namen, mit denen Gott im zweiten Teil des Lobpreises angerufen wird, kommen in den ersten zwei Versen der 27. Ermahnung als Tugenden vor. Die fünfte Strophe des zweiten Teils des Lobpreises ist unregelmäßig: Sie zählt nur drei Anrufungen, die sich außerdem nicht reimen. Der fünfte Vers der 27. Ermahnung weicht ebenfalls von den anderen Versen ab. Zur Deutung der Zahl 28: In beiden Texten wird, wenn man „von unten aus" liest, die Aufmerksamkeit sowohl auf die Kirche als auch auf Mariä Aufnahme in den Himmel gelenkt. Daß durch diese Zahl (von unten ausgehend gezählt) die fünfte Strophe des Lobpreises nochmals in ihrer Eigentümlichkeit abgegrenzt wird, ist - von der 27. Ermahnung aus betrachtet nicht ohne Bedeutung. Dort verschafft ja der fünfte Vers den wichtigsten Zugang zur Deutung des Gedichtes im Lichte der Vision des Seraphen. Die Zahl 5 ist übrigens offensichtlich in der 27. Ermahnung ohne weiteres dominierend: Mit Ausnahme des fünften Verses zählen alle Zeilen fünf Wörter.
Die Art und Weise, wie die Zahlen 5 und 28 in beide Texte eingewoben sind, führt zu der Schlußfolgerung, daß der Lobpreis genau wie die 27. Ermahnung nicht nur auf den gekreuzigten Christus hinweist, sondern auch auf dessen Verbundenheit mit der Kirche.
Erinnerungen an biblische Zeichen am Himmel Gibt es möglicherweise Gründe dafür, daß Franziskus in den fünften Vers der 27. Ermahnung einen bemerkenswerten Hinweis auf das elfte Kapitel des Lukasevangeliums eingebaut hat? Könnte dann auch mit Hilfe anderer Texte aus der Heiligen Schrift Licht auf den Zusammenhang zwischen der 27. Ermahnung und Franziskus' Vision geworfen werden? Der Gedanke, den wir dabei haben, ist, daß Franziskus Schrifttexten, in denen das Wort „Zeichen" [signum] vorkommt, besondere Aufmerksamkeit gewidmet hat. Er hatte ja seine Vision als „Zeichen aus dem Himmel" verstanden. „Zeichen" spielte zu Franziskus' Zeiten in der Liturgie des Festes der Kreuzerhöhung eine besondere Rolle. Die wichtige Antiphon dieses Festes lautet: „Dieses Zeichen des
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Kreuzes wird am Himmel stehen, wenn der Herr zum Urteil kommen wird; dann wird, was in den Herzen verborgen ist, ans Licht gebracht werden." 19 Franziskus zitiert im fünften Vers einige Worte aus Vers 21 des elften Kapitels des Lukasevangeliums. Warum zitiert er gerade aus diesem Teil dieses Evangeliums? Lukas 11,16 spricht ausdrücklich von einem signum de caelo. Der Kontext des Zitates aus Lukas 11,21 enthält mehrere Elemente, die irgendwie mit Themen der 27. Ermahnung und des Lobpreises Gottes in Verbindung stehen. Ausfuhrlichere Informationen dazu finden sich in unserem Buch.
Jesus Christus, Alpha und Omega Im Sonnengesang und im Lobpreis der Tugenden hat Franziskus die biblische Symbolik der Buchstaben A und O als Hinweise auf Christus eingewoben. Das gleiche ist der Fall in der 27. Ermahnung, die in unserer Interpretation den „neuen Adam" präsentiert. Die Tugenden und Untugenden der ersten Hälfte der Ermahnung enden alle mit dem Buchstaben A - mit Ausnahme des abweichenden zweiten Verses. Analog enden die Tugenden und Untugenden der zweiten Hälfte alle mit dem Buchstaben O, wobei wiederum der mittlere, fünfte Vers eine Ausnahme bildet. Die Deutung der Namen der Tugenden als Hinweis auf je eine der Personen der göttlichen Dreieinigkeit muß ich, wie bereits gesagt, hier unbesprochen lassen.
Franziskus als verhüllender Dichter Was hat Franziskus bewogen, in einigen Schriften verschleiernde Ausdrücke zu verwenden? Die Andeutung der Vision auf dem Berg La Verna hat er offensichtlich in der 27. Ermahnung mit einer Darlegung über Tugenden und Untugenden verschleiert - ein Beispiel für ein damals wohlbekanntes Genre. Warum diese Verwendung einer Verschlüsselung, die erst nach recht umfangreichen Nachforschungen entziffert werden kann? Warum dieses Spiel des Einwickeins und des Versteckens - und zwar so, daß nichtsdestoweniger entdeckt werden kann, was er weitergeben wollte? Diese Fragen drängen sich umso mehr auf, als es für manche befremdend ist, daß ausgerechnet Franziskus sich irgendeiner Geheimsprache bedient haben sollte. Wie hätte dieser einfache Mann, der sich selbst einen Ungebildeten nannte, zu so etwas kommen können?
19 VAN TONGEREN, Exaltatio crucis (wie Anm. 4), 250 f.
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Eine nicht zu übersehende Antwort auf diese Fragen gibt zuallererst Franziskus selbst in dem unmittelbar auf die 27. Ermahnung folgenden Vers. Er preist ausdrücklich jenen Knecht selig, „der kein Verlangen hat, die Geheimnisse des Herrn zu offenbaren". Dieser Schluß der Ermahnungen-Serie fungiert offenbar als ein „Schloß" für das, was der Herr ihm gezeigt hat: ein Schloß, für das wohl ein bestimmter Schlüssel erforderlich ist.
Verstecken und verhüllen als literarische
Verfahrensweise
Mit dem, was Franziskus in der 28. Ermahnung bemerkt, steht er in einer langen schriftstellerischen Tradition, in der die Verwendung der Verhüllung nicht selten ausdrücklich vorkommt. So sind zum Beispiel die abschließenden Worte des 'Goldenen Briefes' von Wilhelm von Saint Thierry auch so etwas wie ein „Schloß" im Sinne einer „Verriegelung". Zwar, so sagt er da, ist es die Gottesliebe oder die Liebe zu seiner Liebe, die uns dazu bringt, über Ihn zu sprechen. Dennoch gilt es dabei, dieses Wertvolle nicht unverhüllt zu verkünden, sondern es vielmehr „in seiner Zelle zu verbergen und es in sein Inneres einzuschließen" 20 . Und immer soll als Aufschrift über seinem Inneren und über seiner Zelle stehen: Secretum meum mihi [„Mein Geheimnis gehört mir."]. Was bei vielen geistlichen Schriftstellern herauszuhören ist, steht nicht außerhalb des breiten Stroms mittelalterlicher Literatur. „Mancher mittelalterliche literarische Text enthält den Rat, über Sachen des Herzens absolute Geheimhaltung zu bewahren." Außerdem betrachten mittelalterliche Dichter sich selbst nicht als „autonome Schöpfer eines Kunstwerkes, sondern vielmehr als intermediär" 21 , und zwar namentlich in bezug auf die Gaben Gottes. W o man Verhüllung für notwendig hielt, wurde dann auch im Mittelalter ein buntes Ganzes literarischer Genres verwendet, die in der Nachfolge ähnlicher Bräuche im klassischen Altertum und in der Bibel „Verstecken" und „Verhüllen" [integumentum-, involucrum] als gemeinsamen Nenner haben. 22 Die Einkleidung, durch die eine tiefere Bedeutung versteckt wurde, fungierte als Deckmantel, sowohl im Sinne des Schutzes als auch im Sinne der Verhüllung. Allerlei Formen der Allegorie und des Sprechens in Gleichnissen gehören zu diesem Genre. Auch die Zahlensymbolik war ein Mittel, bestimm20 Guillaume de Saint Thierry, Lettre aux frères du Mont-Dieu (Lettre d'or). Introduction, texte critique, traduction et notes par J. DECHANET (SC, 223), Paris 1975, 384-385: sed celare in cella, et recondere in conscientìa. 21 Diny HOGENELST/Frits VAN OOSTROM, Handgeschreven wereld. Nederlandse literatuur en cultuur in de Middeleeuwen, Amsterdam 1995, 15, 67; vgl. 187. 22 Vgl. Hennig BRINKMANN, Verhüllung („integumentum") als literarische Darstellungsform im Mittelalter, in: Der Begriff der Repraesentatio im Mittelalter. Stellvertretung, Symbol, Zeichen, Bild, hg. v. Albert ZIMMERMANN, Berlin/New York 1971, 314-339.
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te Sachen verhüllt anzudeuten. Dies brachte zum Beispiel Bernhard von Clairvaux dazu, Silbenkryptogramme zusammenzustellen, die er unter anderem in einer seiner Predigten über das Hohelied verbarg.23 Daß dies in einem Text geschah, der „ohne Zweifel eine der am meisten mystischen Stellen seiner Schriften"24 ist, sagt übrigens auch viel über die Verbindung von Mystik und Verhüllung aus. Es war dann auch Bernhards Überzeugung, daß „der heilige Geist die Gestalten der Geheimnisse in den göttlichen Schriften zu beschützen wünschte, und sie nicht unverhüllt zur Verfügung stellen wollte"25. Mystik - Scheu — Verhüllung Mystik - das griechische Wort myein, von dem dieses Wort abstammt, drückte dies schon von jeher aus - veranlaßt Verriegelung und Verhüllung. Immer wußte man sich daran gehalten, keinen Eingriff in die Gott schuldige Scheu zu machen, wenn Er sich in einer besonderen Weise offenbart. Auch wenn die geschenkte Intimität nicht mit paranormalen Phänomenen verbunden ist welche Mystiker vielmehr ihrer eigenen Schwäche zuschreiben - , auch dann ist diese scheue Zurückhaltung geboten. Josef Sudbrack drückt dies folgendermaßen aus: „Jede geistliche Erfahrung braucht den Schutz vor zudringlichen Augen und selbst vor der eigenen Neugier des Erfahrenden. Was die Dogmatik als 'Geheimnis' aufweist, zeigt sich in der Spiritualität als Scheu, Scham, Vorsicht, Behutsamkeit, Ehrfurcht, Einhüllen in Bilder und Symbole. Mit einer eindeutigen Informationssprache, die haargenau Bescheid weiß, kann man das Phänomen nicht erfassen. Man muß immer wieder von der Oberfläche eines Bildes oder einer Alltagserfahrung hinabsteigen in den Grund der Erfahrung." Und weiter stellt er fest: „Die 'geistliche Scham' hat eine tiefmenschliche Struktur: die nackte Prostituierung der eigenen Erfahrung ist ebenso tödlich wie die prüde Verheimlichung. Wir brauchen Formen, in die wir unsere Gottesbegegnung hineinlegen können, die diese Gotteserfahrung zugleich verhüllen wie enthüllen." Dies betrifft dann unter anderem Sprachformen, die „das flackernde Licht unseres Gotteserlebens zugleich entzünden wie schützen vor widrigen Winden"26.
23 Jean DEROY, Bernardus en Orígenes. Enkele opmerkingen over de invloed van Orígenes op Sint Bernardus' sermones super Cantica Canticorum, Haarlem 1963, 150ff. In dieser Weise hat Bernardus die Zahl 99 in einem Silbenkryptogramm eingewoben. (In römischen Ziffern: IC, d.h. IESUS CHRISTUS). In ähnlicher Weise versteckte er in einem von ihm geschriebenen Text den Namen CLARAEVALLIS (Clairvaux). 24 Adriaan BREDERO, Bernhard von Clairvaux im Widerstreit der Historie, Wiesbaden 1966, 58. 25
DEROY, B e r n a r d u s ( w i e A n m . 2 3 ) , 152.
26 Josef SUDBRACK, Erfahrungsräume geistlicher Scham, Geist und Leben 49 (1976), 4 6 60, 47 u. 60; vgl. Reinhold HASKAMP, Ich schäme mich. Ein Plädoyer gegen die Unver-
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Mystik und Poesie Wenn wir unsere Aufmerksamkeit nun auf einige Gedichte von Franziskus lenken, ist es wichtig, daß gerade Poesie sich besonders fur diese verhüllte Andeutung dessen eignet, was Menschen übersteigt und sich trotzdem ahnen läßt. Daß Poesie dies in sich hat, ist in unserer Zeit wohl besonders bemerkenswert, wo sich heutzutage Informationsnetze über die ganze Erde verbreiten und - wie es ein feinsinniger Denker sagt - Poesie „der letzte Schlupfwinkel der Transzendenz im westlichen Humanismus" 2 7 ist. Durch die einmalige Verflechtung verschiedener Elemente (Klang, Rhythmus, Reim, Mehrdeutigkeit usw.) ist es im poetischen Genre möglich, viel mehr als die bloße Summe dieser Sprachmittel hervorzurufen. Und weil dieses Ganze, gerade als „Verdichtung", eine bestimmte Geschlossenheit in sich hat, bietet es zugleich einen Schutz vor der gierigen, jede Gelegenheit ergreifenden Konsumkultur gegenwärtiger Machart.
Franziskus: verhüllend und enthüllend? Trifft das bisher Gesagte, wie oft auch von der Geschichte der Mystik bestätigt, auch für Franziskus zu? Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, wie der Fragende die Person und das Dichtertum des Heiligen beurteilt. Hat er vor allem das romantische Bild eines begeisterten „Herausplatzers" und eines frei assoziierenden Schriftstellers, der ekstatisch betet und dichtet, im Kopf, dann muß die Antwort wohl negativ sein. Die neuesten Untersuchungen einiger seiner Schriften zeigen aber ein anderes Bild. Sie weisen nach, daß er manche Schriften sorgfältig zusammengestellt hat. 28 Außerdem sind die Zeugnisse der Biographen über sein Bestreben, über sein Gebetsleben Geheimhaltung zu bewahren, so deutlich, daß man den Gedanken, daß Franziskus sich an verhüllende Sprachspiele herangewagt hat, nicht ausschließen kann. 29 schämtheit, Würzburg 1989 (3. Teil: Ehrfurcht und Scham vor dem Geheimnis Gottes, 113-166). 27 Emmanuel Lévinas, Noms Propres, Toulouse 1976, 24. 28 Vgl. Theo Zweerman, Über eine neue Deutungsweise der Schriften des hl. Franziskus von Assisi. Ein Arbeitsbericht, Wissenschaft und Weisheit 51 (1988), 213-218; 216f. Aufgrund der dürftigen Schulausbildung, die Franziskus in Assisi empfing, hat man gemeint, auch nur die Möglichkeit einer künstlichen Komposition seiner Schriften kategorisch ablehnen zu müssen. Unseres Erachtens aber bedeutet eine lückenhafte Ausbildung keineswegs, daß eine begabte Person nicht über eine solche Ausbildung hinausgewachsen sein kann. Die Kulturgeschichte zeigt im Gegenteil an vielen Stellen, daß große Erneuerer oft in bestimmten Bereichen Autodidakten waren. Warum sollte dies nicht auch beim hochbegnadeten Kaufmannssohn aus Assisi der Fall gewesen sein? 29 Vgl. I C e l 9 6 .
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Schon in dem Gleichnis von der Frau in der Wüste, das er dem Papst Innozenz erzählt, zeigt er sich als Meister der Einkleidung. Was er mit dieser Parabel aussagen will, tritt erst am Schluß der Erzählung - und dann ebenso überraschend wie wirksam - ans Licht: „Herr, diese arme Frau, die der Herr in seiner Barmherzigkeit so sehr geehrt hat, indem Er sie liebte, und die Ihm, weil Er ein Wohlgefallen daran hatte, Söhne schenkte, bin ich."30 In dieser Hinsicht ist es aufschlußreich, was Celano über Franziskus' Sorge, die Stigmata vor seinen Brüdern zu verbergen, erzählt.31 Wie hätte er, der in der 28. Ermahnung so unzweideutig erkennen läßt, „das Gute, das der Herr ihm gezeigt hat", vor respektlosen Blicken schützen zu wollen, anders vorgehen können, wo es seine Vision auf dem Berg betraf? Wo der Höchste sich ihm als der respektvoll Bedeckende offenbart hat, da war auch für Franziskus respektvolles Bedecken mehr als je zuvor ein Erfordernis. Es ist dann auch sehr wohl verständlich, daß Raoul Manselli, wenn er von Franziskus' Erfahrung auf dem Berg La Verna spricht, diese charakterisiert als ein „Erlebnis f...], das ohne weiteres streng persönlich war". Wenn er dann aber wiederholt hinzufugt, daß Franziskus über die Stigmatisation nichts mitgeteilt hat und daß dieses Ereignis „für andere völlig nutzlos war", übersieht er die Berichte der Biographen.32 Diese erwähnen, daß es nach dem 14. September 1224 für Franziskus geradeso drückend war, daß er einerseits sich selbst treu bleiben wollte - und demnach das, was ihm widerfahren war, geheim halten wollte - , aber daß ihm andererseits durch den Rat einiger von ihm ins Vertrauen gezogener Brüder klar wurde, daß die geschenkte Begnadung eine Botschaft enthielt, die nicht nur ihm, sondern auch anderen galt. Übrigens gilt vielleicht auch, daß er dort dermaßen bewegt war, daß für ihn zutraf, was Hélène Nolthenius in ihrem Buch über den Mystiker Franziskus bemerkt: „Wer wirklich von Schaffensdrang beseelt ist, kann ja nicht schweigen über das, was ihn stark ergreift, auch nicht aus Demut."33 Ihre Meinung jedoch, daß Franziskus mit Ausnahme des nach der Stigmatisation verfaßten Lobgesangs und des Sonnengesangs keinen Bericht über seine mystischen Erfahrungen hinterlassen hat, geht nach unserer Ansicht zu weit.34
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3 Soc, 50-51. I Cel 95. Raoul MANSELLI, Saint François d'Assise, Paris 1981, 292 f. Hélène NOLTHENIUS, Een man uit het dal van Spoleto. Franciscus tussen zijn tijdgenoten, Amsterdam 1988, 270. 34 Ebd. Auch Kurt RUH ist der Meinung, daß Franziskus „keine gewortete, sondern gelebte Mystik" darbietet. Vgl. „Zur Grundlegung einer Geschichte der franziskanischen Mystik", in: Vita Seraphica, Anregungen und Mitteilungen der Sächsischen Franziskanerprovinz vom Heiligen Kreuz, hg. v. Provinzialat Werl, 61 (1980) Heft 1/2, 3; DERS., Geschichte der abendländischen Mystik. Band II: Frauenmystik und franziskanische Mystik der Frühzeit, München 1993, 380: „Franziskus hat sich nie als Mystiker verstanden. Er spricht überhaupt nicht von seinem Innenleben." In einer wichtigen Arbeit
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Franziskus hat dies, soviel wir wissen, tatsächlich nicht in der Form eines direkten autobiographischen Berichtes getan, wohl aber mittels Verschlüsselungen in der Form einer enthüllbaren Verhüllung. Er tat solches im Lobpreis Gottes und im Zusammenhang damit in der 27. Ermahnung, ebenso im Gruß an die Tugenden und in der Komposition der Ermahnungen-Reihe. Er wußte ja, daß er die Aufgabe hatte, sowohl der erforderlichen Scheu gerecht zu werden als auch mitzuteilen, was ihm - auch zugunsten anderer - anvertraut worden war. Er hat diese Aufgabe erfüllt, indem er seine Vision in bekannten Genres verschleiert, unter anderem im Genre des Kampfes zwischen Tugenden und Untugenden, weitergab. Wie in einem Palimpsest - einem Pergament, auf dem ein früher geschriebener Text unter einem anderen Text durchschimmert - ließ Franziskus in einigen Schriften eine tiefere Bedeutung aufscheinen, indem er die Zahlensymbolik anwandte und diskret auf biblische Texte, liturgische Lieder und Lesungen verwies. Die auffällige Stellung der Vokale A und O und die Einflechtung der Christusmonogramme vollenden dieses Spiel des Verhüllens und Enthüllens - gleichsam als eine Mitteilung darüber, für wen und mit wem er leben wollte.
Franziskus ' theologische Intuition, von seinen Berichten über seine Vision aus beleuchtet Was hat Franziskus in dieser wunderbaren Erscheinung des Mannes, der aussah wie ein Seraph, gesehen? Was verbirgt sich hinter diesem Zeichen? In unserer Aufdeckung des Lobpreises Gottes und der 27. Ermahnung ist schon manches ans Licht getreten: der gekreuzigte und verherrlichte Christus, der eng mit seiner Kirche verbunden ist. So ist Er der neue Adam, das Alpha und Omega, mit und in seiner Kirche, mit und in jedem Ihn Suchenden, mitlebend. In dieser Vision erscheinen verschiedene Bedeutungsschichten. In gewissem Sinn ist sie an allen Seiten spannungsvoll. Spannungsvoll ist das Zusammengehen von Traurigkeit und Freude im staunenden Seher. Spannungsvoll ist das „Ineinander" von Leiden und Verherrlichtsein des Gekreuzigten. Vor allem ist überraschend, daß sowohl Jesus als auch die Kirche vor Augen geführt werden und daß Franziskus die Kirche auf die in den Himmel aufgeüber die Mystik des heiligen Franziskus erörtert Oktavian SCHMUCKI in überzeugender Weise relevante Schriften des Heiligen. Den Gruß an die Tugenden, den Lobpreis Gottes und die 27. Ermahnung, denen wir in unserem Buch u.a. besondere Aufmerksamkeit widmen, läßt er jedoch außer Betracht. Vgl. DERS., Zur Mystik des hl. Franziskus im Lichte seiner Schriften, in: Abendländische Mystik im Mittelalter, hg. v. Kurt RUH, Stuttgart 1986, 241-268. Vgl. Theo ZWEERMAN, Mystik bei Franziskus von Assisi. Unter besonderer Berücksichtigung der „Salutatio Virtutum", in: Mystik in den franziskanischen Orden. Band 3, hg. v. Johannes-Baptist FREYER, Kevelaer 1993, 20-46.
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nommene Maria bezieht. Dies alles steht außerdem in der Perspektive der Heilsgeschichte. Der auferstandene Herr, der der Schicksale dieses Lebens in der Zeit enthoben ist, ist dennoch tiefgehend am Schicksal der Seinen beteiligt. Franziskus hat tatsächlich in der Vision des Seraphen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem Zusammenhang gesehen: im Geiste der Liebe, die sich beim Sterben Jesu unzerstörbar zeigte und die Ihn danach fähig machte, weiterhin die Kirche zu beseelen. Unser Beitrag zum Durchdenken der theologischen Intuition von Franziskus ist in der Aufdeckung dessen gelegen, was er in den von uns untersuchten Schriften über diese Vision zu erkennen gegeben hat. Der Ausdruck „Intuition" bekommt hier eine prägnante Bedeutung, weil wir uns auf das von ihm damals Geschaute richten. Wenn wir dann noch hinzufugen, was er dort hörte - betraf dies etwa die Namen der göttlichen Personen in den genannten Gedichten? - , so kann seine Vision viel über die Grundlagen seiner Spiritualität zu erkennen geben. In unserem Buch verfahren wir in vier Phasen: 1. Die Hinweise auf das Band zwischen Christus und seiner Kirche verlangen weitere Aufhellung. Dies gilt besonders für die Zahlensymbolik, die Franziskus in seine Texte eingewoben hat. 2. Wir gehen auf Franziskus' Sicht bezüglich der Frage „Maria und die Kirche" ein. 3. Die besonderen Namen, die Franziskus für jede der Personen der Dreieinigkeit vorbringt, erfordern nähere Besinnung. 4. Seine Gotteserkenntnis könnte Licht auf die Herkunft der Brennpunkte seiner Spiritualität werfen, die wir in den hier nicht erörterten Teilen unseres Buches gefunden haben. Die an dieser Stelle gegebenen Deutungen dürften hoffentlich schon einen Eindruck von dem vermitteln, was wir in unserem Buch erstrebt und geboten haben.
HELMUT
FELD
Die Gleichnisse des heiligen Franziskus
Franziskus von Assisi gehört zu den großen Gleichnis-Erzählern der europäischen Literatur, in eine Reihe mit Homer, Piaton, Jesus, Dante, Shakespeare, Goethe. In der Franziskus-Forschung ist das bisher zu wenig beachtet worden. Jesus gegenüber, dem er sich in allem anzugleichen und den er sogar zu übertreffen suchte, hat er voraus, daß er ein wirklicher bedeutender Dichter war wenngleich es auch bei Jesus, in der Tradition des jüdischen Prophetentums, dichterische Züge gibt.1 Mein Lehrer Wolfgang Schadewaldt (1900-1974) hat das Wesen der Dichtung beschrieben als „eine Art Sehertum, Sehertum des Seienden". „Die Grundkraft der Dichtung, wenn sie sich denn als Dichtung recht versteht", ist nach Schadewaldt Jenes welt-enthüllende, wirklichkeitsbegründende Sehertum eines je eigentlich Seienden innerhalb des gegebenen und gewohnten Alltags." „Dichtung als die ursprüngliche Kraft solchen Sichtens eines tieferen, eigentlichen Seins erweist sich damit als ebenso Welt entdeckend wie Wirklichkeit begründend [...] Das Mittel auf dem Weg der Dichtung ist nicht der Begriff, sondern das Gleichnis, Bild. Die Absicht: nicht das Bezeichnen, sondern das Bedeuten. Die Genauigkeit, die auch das dichterische Wort verlangt: nicht Eindeutigkeit, Exaktheit (ακρίβεια), sondern adäquat gestufte Deutlichkeit (σαφήνεια)." Das Wort der Dichtung ist demnach nicht „einfach-geltend", sondern „wesenhaft mehrdeutig oder vielmehr: es ist geschichtet"2. Würde man das 'Sonnenlied' (Canticum Fratris Solis) des Franziskus an diesen Kriterien messen, so ergäbe sich die Bestätigung, daß es, ungeachtet der rein äußerlichen Zusammenstückelung aus zahlreichen traditionellen sprachlichen Einzelelementen, zu den ganz großen Dichtungen unseres Kulturkreises gehört.3 - Aber das ist längst bekannt.
1 2
Vgl. dazu besonders: C. F. BURNEY, The Poetry of our Lord. An Examination of the Formal Elements of Hebrew Poetry in the Discourses of Jesus Christ, Oxford 1925. Wolfgang SCHADEWALDT, Das Wort der Dichtung, in: DERS., Goethestudien, Zürich 1 9 6 3 , 4 0 5 - 4 3 2 ; Zitate: e b d . , 4 0 5 , 4 0 7 , 4 1 0 , 4 1 3 ; v g l . auch: M a r t i n HEIDEGGER, WOZU D i c h t e r ? , in: DERS., H o l z w e g e , Frankfurt a . M . 3 1 9 5 7 , 2 4 8 - 2 9 5 .
3
Uber das 'Sonnenlied' (Canticum Fratris Solis oder: Laudes Creaturarum) im Kontext der religiösen Weltvorstellung des Franziskus vgl.: Helmut FELD, Franziskus von Assisi und seine Bewegung, Darmstadt 1994, 228-204; ebd. weitere Literatur.
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Zu den großen dichterischen Gestaltungen des Franziskus gehören auch seine Gleichnisse. In den letzten hundert Jahren waren die Gleichnisse Homers und die Gleichnisse Jesu Gegenstand zahlreicher Untersuchungen bedeutender Philologen und Theologen. In seinem Vortrag 'Die Zuverlässigkeit der synoptischen Tradition', der aus einer Reihe von Diskussionen mit Tübinger Kollegen und Schülern hervorging und von seiner Frau Maria Schadewaldt posthum veröffentlicht wurde4, hat Schadewaldt den Grund für seine souveräne Mißachtung nicht aller Ergebnisse, aber der Grundtendenz dieser Forschungen genannt: Es sind die vorgefaßten Kategorien, die Vorstellungen von dem, was ein Gleichnis zu sein habe, die diese Deutungen weithin bestimmen und leiten. Schon Hermann Fränkel hatte in seinem 1921 erschienenen Buch über die homerischen Gleichnisse die grundfalsche Vorstellung von dem tertium comparationis in Anlehnung an Johann Georg Hamann als „Mordslüge" bezeichnet, weil die von ihm kritisierten Philologen meinten, man habe die Gleichnisse Homers vollständig erklärt, wenn man nur das tertium comparationis säuberlich herauspräpariert habe.5 Schadewaldt lastet Neutestamentlern wie Adolf Jülicher, Rudolf Bultmann und anderen in ihrer Nachfolge einen ähnlichen methodischen Grundfehler an, wie er vor ihnen in der Homer-Forschung gemacht wurde: Aufgrund einer rationalistisch-rhetorisierenden Vorstellung wird das Gleichnis aufgeteilt in Bildhälfte und Sachhälfte und anschließend das tertium comparationis ermittelt. Entsprechen die Gleichnisse Jesu nicht diesem Schema und ist keine pädagogische Bedeutung oder kein illustrativer Sinn zu erkennen, dann ist auch die ursprüngliche Aussage oder Pointe nicht mehr zu erkennen. So konnte Bultmann mit dem berühmten Sämann-Gleichnis (Mk 4,3-9), aber auch mit vielen anderen Gleichnissen verfahren. Dabei wird die Deutung, die Jesus selbst von seinem Gleichnis gibt (Mk 4,11-20), als (angeblich erst in der späteren christlichen Gemeinde entstandene) „Verstockungstheorie" von dem Gleichnis abgetrennt. Schadewaldt erläutert sein Verständnis vom homerischen Gleichnis am Beispiel des Gleichnisses, in dem der im Kampf stürzende Hektor mit einer vom Blitz getroffenen Eiche verglichen wird (II. 14,414-420)6: „ Und wie wenn unter dem Schlag des Vaters Zeus eine Eiche umstürzt, Entwurzelt, und aus ihr kommt ein schrecklicher Geruch von Schwefel, Und den erfüllt nicht Kühnheit, wer immer es sieht Und nahe ist, denn schwer ist der Wetterstrahl des großen Zeus: So fiel des Hektor Kraft schnell in den Staub zu Boden,
4
5 6
Wolfgang SCHADEWALDT, Die Zuverlässigkeit der synoptischen Tradition, Theol. Beitr. 19 (1982), 201-223; englische Übersetzung: The Reliability of the Synoptic Tradition, in: Martin HENGEL, Studies in the Gospel of Mark, London 1985, 85-113. Hermann FRANKEL, Die homerischen Gleichnisse, Göttingen 1921, 1-3. Homer: Ilias. Neue Übertragung von Wolfgang SCHADEWALDT, Frankfurt a.M. 1975, 240 f.
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Und aus der Hand warf er die Lanze, und auf ihn stürzte der Schild Und der Helm, und um ihn klirrten die Waffen, die erzverzierten." „Das homerische Gleichnis ist nicht dazu da, damit ein Vorgang, der an sich nicht verständlich wäre, verständlich gemacht werden soll. Der Vorgang, daß ein Held umstürzt, ist durchaus verständlich und nicht unverständlich. Wenn er getroffen wird, fällt er um und kracht zu Boden, das versteht jeder Mensch. Und dennoch wird gesagt: wie eine Eiche, [...] Was ist nun das Neue, das hier dazukommt? Die Gleichnisse haben dadurch, daß sie zwei Aspekte eröffnen, einmal den Aspekt auf das reale Geschehen: Hektor stürzt um, und dann den Aspekt auf ein anderes Geschehen, in diesem Fall ein Naturgeschehen: die Eiche stürzt um, was nun die Eiche als riesenhaften, gewaltigen Baum uns vor die Sinne stellt - durch dieses Hinblicken nach zwei Seiten wird in den beiden Seiten das Dritte, das Gemeinsame gefunden, nicht als tertium comparationis, sondern als das, was umfassend gründet, also das Wesen. Die Gleichnisse Homers sind wesenenthüllend. In dem Gleichnis: Hektor stürzt um wie eine Eiche, wird nicht nur der gewaltige Sturz charakterisiert - was stürzt schon so wie eine Eiche? - sondern es wird charakterisiert, was Hektor ist, daß er als Mensch eine Eiche ist. Das alles ist ein komplexes Ganzes." 7
Schadewaldt meint nun, daß es auch bei den Gleichnissen Jesu entscheidend auf „das Wesenenthüllende" ankommt. Das Zufällige im Leben der Menschen wird auf das Immer, das Beständige, Gründende zurückgeführt. Es geht Jesus fast immer um das Kommen des Reiches Gottes. Er spricht selbst vom „Geheimnis" des Gottesreiches (Mk 4,11), das den Jüngern offenbart wird, für die Nicht-Verstehenden dagegen ein Rätsel bleibt. So ist das Gleichnis zugleich Offenbaren und Verhüllen, ein „offenbarendes Verhüllen" und ein „verhüllendes Offenbaren"8. Ich habe diese Bemerkungen vorausgeschickt, weil ich meine, daß das Wesentliche davon, vor allem das über die jesuanischen Gleichnisse Gesagte, auch auf die Gleichnisse des Franziskus zutrifft. Im Bewußtsein der Vorläufigkeit und Unvollkommenheit solcher Schematisierungen teile ich die Gleichnisse des Franziskus in drei Gruppen ein: (I) Gleichnisse, die das Verhältnis der franziskanischen Gemeinschaft zur Gesamtkirche zum Gegenstand haben; (II) Gleichnisse, die einzelne franziskanische Ideale vorstellen; (III) Gleichnisse, die das Selbstverständnis des Frater minor (und des Franziskus selbst) erläutern.
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SCHADEWALDT, Zuverlässigkeit (wie Anm. 4), 206; über das homerische Gleichnis vgl. auch: DERS., Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. Die Vorsokratiker und ihre Voraussetzungen (Tübinger Vorlesungen, Bd. 1 ), unter Mitwirkung von Maria SCHADEWALDT hg. v. Ingeborg SCHUDOMA, Frankfurt a.M. 2 1979, 65-74. Ebd., 207.
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I. Die franziskanische Bruderschaft innerhalb der Gesamtkirche Das Gleichnis von der armen, schönen Frau in der Wüste Das wohl bekannteste Gleichnis des Franziskus ist das von der armen, schönen Frau in der Wüste. Der Heilige selbst hat es dem Papst Innozenz III. erzählt, als er zwischen Ostern und Pfingsten des Jahres 1209 mit seinen ersten elf Gefährten an der Römischen Kurie erschien, um die päpstliche Bestätigung seiner Bruderschaft zu erlangen.9 Es ging dabei um die Billigung der Lebensweise der Brüder in extremer Armut, wie sie in der dem Papst vorgelegten ersten Fassung der Regel festgehalten war. Denn das andere Anliegen des Franziskus, die Erlaubnis zu predigen, hatte Innozenz III. ohne weiteres erteilt. Er forderte Franziskus dann auf, bezüglich der Armut den Willen Gottes im Gebet zu erkunden. Bei der zweiten Audienz erzählte Franziskus dem Papst das Gleichnis, das ihm der Herr selbst „im Geiste" offenbart hatte. Das Gleichnis von der Frau in der Wüste ist in drei verschiedenen Fassungen überliefert. Die älteste und kürzeste Version befindet sich in einer Predigt des Odo von Cheriton (in der südenglischen Grafschaft Kent), die im Jahre 1219 niedergeschrieben wurde. 10 Ob diese älteste, noch zu Lebzeiten des Franziskus fixierte Form auch die ursprüngliche ist, scheint jedoch sehr zweifelhaft, vor allem, weil in ihr eine entscheidende Pointe, nämlich der Abschluß einer legalen Ehe, fehlt. In der Fassung des Odo von Cheriton beginnt das Gleichnis ganz einfach mit der Feststellung, ein König habe eine Frau im Wald geschwängert: Quidam rex impregnavit quondam in nemore. „Auf die Frage, wer denn seine Brüder ernähre - weil er alle ohne Unterschied aufnahm - , hat Bruder Franziskus geantwortet: Ein König schwängerte eine Frau im Wald. Sie gebar. Nachdem sie das Kind eine Zeitlang ernährt hatte, kam sie zur Pforte des Königs, damit er in Zukunft für seinen Sohn sorge. Als dem König das gemeldet wurde, erwiderte er: 'An meinem Hof essen so viele schlechte und unnütze Menschen; da ist es nur recht, daß mein Sohn unter ihnen seinen Unterhalt bekommt.'"
In der Erklärung des Gleichnisses hat Franziskus gesagt, er sei die Frau, die der Herr mit seinem Wort geschwängert habe und die geistliche Söhne geboren habe. Wenn der Herr so viele Ungerechte ernähre, dann dürfe man sich nicht wundern, wenn er seinen eigenen Söhnen zusammen mit den anderen Unterhalt gewähre.
9 Über die näheren Umstände dieser Visite vgl. FELD, Franziskus (wie Anm. 3), 166-178. 10 Michael BIHL, S. Francisci parabola in sermonibus Odonis de Ceritonia an. 1219 conscriptis, AFH (= Archivum Franciscanum Historicum) 22 (1929), 584-586.
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Man hat wohl an eine Strauchdirne zu denken - ähnlich der Ellen in Ken Folletts bekanntem historischem Roman 'Die Säulen der Erde'11 - , mit der der König bei einer zufalligen Begegnung im Wald sexuell verkehrte und einen (oder mehrere) Söhne zeugte. Bereits diese Version belegt, daß Franziskus selbst das Bewußtsein von der besonderen Erwählung seiner selbst und seiner Gemeinschaft innerhalb der Kirche hatte. Die Söhne jedoch sind zwar die „eigenen", echten Kinder des Königs, aber sie entstammen nicht einer legal geschlossenen Ehe. Deshalb halte ich es fur unwahrscheinlich, daß Franziskus das Gleichnis so erzählt hat, wie es Odo von Cheriton überliefert. Eine längere Fassung steht in der 'Drei-Gefährten-Legende'12. Sie ist annähernd wortgleich mit derjenigen des Thomas von Celano in seiner zweiten Legende13. Gravierende Unterschiede zeigen sich nur in der jeweiligen Deutung des Gleichnisses. Ich bringe hier das Gleichnis in der Fassung der 'Drei-Gefáhrten-Legende', die meiner Meinung nach die ursprüngliche, das heißt: die dem Franziskus am nächsten stehende, ist. „Eine arme, schöne Frau war in einer Wüste. Ihre Schönheit bewunderte ein großer König und begehrte, sie zur Frau zu nehmen, denn er dachte sich, aus ihr schöne Söhne zeugen zu können. Die Ehe wurde geschlossen und vollzogen, und viele Söhne wurden geboren und aufgezogen. Zu ihnen sagte die Mutter folgendermaßen: 'Meine Söhne, schämt euch nicht, denn ihr seid des Königs Söhne. Geht also an seinen Hof, und er wird euch alles Notwendige zur Verfugung stellen.' Als sie zum König kamen, bewunderte der König ihre Schönheit, und er erkannte in ihnen die Ähnlichkeit mit sich selbst und sagte zu ihnen: 'Wessen Söhne seid ihr?' Als sie ihm antworteten, sie seien die Söhne der armen Frau, die in der Wüste lebe, da umarmte sie der König mit großer Freude und sagte: 'Fürchtet euch nicht, denn ihr seid meine Söhne. Wenn sich nämlich Fremde von meinem Tisch ernähren, um wieviel mehr ihr, die ihr meine legitimen Kinder seid.' Der König sandte nun zu der genannten Frau, daß sie alle von ihm empfangenen Söhne an seinen Hof sende, damit sie dort ernährt würden."
In diesem Gleichnis, das ihm auf visionäre Weise eingegeben worden war, erkannte Franziskus eine göttliche Offenbarung über sich selbst und seine Gemeinschaft, die „Männer des Evangeliums". In dem Bewußtsein, Träger einer göttlichen Verheißung und Vollender einer von Gott übertragenen Aufgabe zu sein, trat er erneut vor den Papst, erzählte ihm das Gleichnis und gab sogleich dessen Deutung:
11 Ken FOLLETT, Die Säulen der Erde, Bergisch Gladbach 24 1995 (englischer Originaltitel: The Pillars of the Earth, London 1989). 12 Legenda trium sociorum (= 3 Soc), 50 f. Die franziskanischen Quellenschriften werden im folgenden, wenn nicht anders vermerkt, nach der neuen kritischen Edition zitiert: Fontes Franciscani, a cura di Enrico MENESTÒ e Stefano BRUFANI, S. Maria degli Angeli/Assisi 1995 (= Fontes Fr.). 13 Thomas von Celano, Vita secunda S. Francisci (= II Cel), 16.
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„Ich bin, Herr, diese ganz arme Frau, die der liebende Herr durch seine Barmherzigkeit ausgezeichnet hat, und es hat ihm gefallen, sich aus ihr legitime Söhne zu zeugen. Der König der Könige sagte mir aber, er werde alle Söhne, die er aus mir zeugen werde, auch ernähren. Denn wenn er die Fremden ernährt, dann muß er erst recht die Legitimen ernähren. Wenn nämlich Gott den Sündern zeitliche Güter gibt wegen ihrer Liebe zu den zu ernährenden Söhnen, um wievie! mehr wird er den Männern des Evangeliums schenken, denen dies nach rechtem Verdienst zukommt." D i e s e Deutung, die nach Auskunft der Quelle Franziskus selbst dem Gleichnis gibt, unterstreicht, daß es sich bei den Söhnen der armen Frau um legitime, in einer rechtmäßigen Ehe gezeugte Kinder handelt. Es wird damit ein ungeheuerer Anspruch erhoben: Die Anhänger der v o n Franziskus ins Leben gerufenen B e w e g u n g sind die legitimen Söhne Christi, die Auserwählten Gottes, das neue Israel, die inmitten der „Fremden" leben, die auch am Tisch des Königs sitzen. Mit diesen Fremden sind die Welt-Menschen gemeint, die aber doch auch Christen und Glieder der Kirche sind. Was hier in der Deutung mittels der in den franziskanischen Quellen beliebten Technik der verdeckten Mitteilung ausgesprochen wird, enthält, wie schon Ernst Benz vermutet hat, ein ungeheueres häretisches Potential. 14 Daß diese Deutung nicht erst von den „häretischen" Franziskaner-Spiritualen in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts erfunden wurde, sondern bereits Franziskus selbst es war, der dieses Bewußtsein der Erwählung seiner selbst und seiner Bruderschaft als dem „neuen, geringen Volk" der letzten Stunde der Welt-Zeit hatte, geht auch aus der 'Legenda Perusina' klar hervor. Franziskus läßt dort den Sohn Gottes bei seinem Vater um die Instituierung der Fratres Minores bitten. 15 Und Thomas
14 Ernst BENZ, Ecclesia Spiritualis. Kirchenidee und Geschichtstheologie der franziskanischen Reformation, Stuttgart 1934 (Nachdruck Darmstadt 1964), 79; über die Technik der verdeckten Mitteilung vgl. Helmut FELD, Die Technik der „verdeckten Mitteilung" in den frühen franziskanischen Quellen, in: Humanismus und Reformation (Arbeiten zur Hist, und Syst. Theol. 3), hg. v. Reinhold MOKROSCH u. Helmut MERKEL, München u.a. 2001, 9-19; vgl. zu diesem Aspekt auch den Beitrag von Theo ZWEERMAN in diesem Band. 15 Unde quadam vice dixit: 'Religio et vita fratrum Minorum est quidam pusillus grex, quem Filius Dei in hac novissima hora suo Patri celesti postulavit dicens: Pater, vellem quodfaceres et dares michi quendam novum et humilem populum in hac novissima hora, qui esset dissimilis in humilitate et paupertate ab omnibus aliis qui precesserunt et esset contentus habere me solum. ' Et ait Pater dilecto Filio suo: Fili, factum est quod postulasti. Unde dicebat beatus Franciscus quod 'ideo voluti Dominus ut vocarentur fratres Minores, quia iste est populus quem Filius Dei suo Patri postulavit' [...] Et ait beatus Franciscus: 'Non est magnum, si Dominus habere voluit quendam parvum populum inter omnes alios qui precesserunt, qui esset contentus habere ipsum solum altissimum et gloriosum? ' („Compilado Assisiensis" dagli Scritti di fra Leone e Compagni su S. Francesco d'Assisi. Dal Ms. 1046 di Perugia. II edizione integrale riveduta e corretta a cura di Marino BIGARONI, Porziuncola 1992, 306-310 [c. 100,6-8. 23]). Vgl. auch ebd. c. 16 (ed. c. 50/52), wo Christus den Orden als „seine Familie" bezeichnet, für die er immer sorgen werde.
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von Celano, dem die Deutung der 3 Soc bekannt war, hat sie durch eine erbauliche und mit der kirchlichen Rechtgläubigkeit konforme Interpretation ersetzt 16 : „Diese Frau war Franziskus, aufgrund der sich in vielen Kindern zeigenden Fruchtbarkeit, nicht etwa, weil sich in seinen Taten eine Weichlichkeit gezeigt hätte; die Wüste: die Welt, zu jener Zeit unkultiviert und unfruchtbar hinsichtlich der Tugendlehre; die schöne und zahlreiche Nachkommenschaft der Söhne: die große und an jeglicher Tugend schöne Anzahl der Brüder; der König: der Sohn Gottes, dem die aufgrund der heiligen Armut Ähnlichen mit der gleichen Lebensform entsprechen, die ihre Nahrung vom Tisch des Königs empfangen und jeglichen nichtigen Glanz verachten, wenn sie, mit der Nachahmung Christi zufrieden und von Almosen lebend, durch die Schmähungen der Welt erkennen, daß sie in der Zukunft einmal zu den Seligen gehören werden." In dieser tugendfrommen (und die ursprüngliche Intention des Erzählers verfälschenden) Deutung ist gänzlich das apokalyptisch-endzeitliche Motiv eliminiert. Die in dem Gleichnis so nachdrücklich betonte Schönheit der Frau, des Königs und der gemeinsamen Söhne ist moralisierend auf eine Schönheit an Tugend reduziert. Franziskus meint jedoch nichts anderes als die Schönheit, in der bereits die in der endgültigen Erlösung der Welt wiederhergestellte ursprüngliche Schönheit aufleuchtet und die sich später auch in der Erscheinung des gekreuzigten Seraphen auf dem Berg La Verna zeigen wird - gerens formant pulcherrimi hominis17; cuiuspulchritudo inaestimabilis erat nimisn. Wenn aber Franziskus damals dem Papst das Gleichnis mit seiner Deutung in der von der 3 Soc überlieferten Form vorgetragen hat, warum hat der ihn
16 IlCel 17. 17 3 Soc 69. 18 I Cel 94; vgl. hierzu: FELD, Franziskus (wie Anm. 3), 268 f.; betr. der Schönheit vgl. auch unten die Gleichnisse von dem Generalkapitel und der Frauenstatue im himmlischen Heiligtum! Nach der Beschreibung, die der Nachfolger des Franziskus im Amt des Generalministers, Bruder Elias von Cortona, in seinem Rundschreiben an den Orden vom Aussehen des toten Franziskus gibt, war der Leichnam von sehr schönem Aussehen. Dies stand im Gegensatz zu dem erbärmlichen Anblick, den der Heilige zu seinen Lebzeiten infolge seiner Leiden bot. Es ist damit gesagt, daß sich bei Franziskus die gleiche Verbindung von Gestaltlosigkeit im Leiden (nach Is 53,2 f.) und Schönheit in der Verklärung (nach Ps 44,3; 1 Sam 16,1, 17,24) zeigte wie bei dem menschgewordenen Gottessohn: Dum adhuc vivebat spiritus eius in corpore, non erat in eo adspectus, sed despectus vultus eius et nullum membrum in eo remansit absque nimia passione. Ex contractione nervorum membra eius rigida erant, sicut soient esse hominis mortui, sed post mortem eius pulcherrimus adspectus est, miro candore rutilans, laetifìcans videntes. (Epistola Encyclica de transitu S. Francisci 20 f.; Fontes Fr., 254). Vgl. auch den zweiten Brief Klaras von Assisi an Agnes von Böhmen (Fontes Fr., 2270 f.): Sponsum tuum prae filiis hominum speciosum [Ps 44,3], pro salute tua factum virorum vilissimum, despectum, percussum [Is 53,2 f.] [...] intuere, considera, contemplare, desiderans imitari. Vgl. hierzu jetzt: Helmut FELD, Franziskus von Assisi, München 2001, 76-79: „Kleiner Exkurs über die Schönheit des Seraphen".
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dann nicht auf der Stelle als Häretiker inhaftieren lassen? Es geschieht aber nun etwas ganz anderes, unerwartetes: Innozenz III. läßt sich auf das Gleichnis ein. Denn dieser nüchterne, scharf denkende Jurist und zupackende Machtpolitiker auf dem Apostolischen Stuhl war - wie Franziskus selbst - ein Visionär. Im tiefsten Winkel seiner Seele wurzelte er im Dichterischen und Träumerischen. Und so erinnerte er sich an eine Traum-Vision, die er wenige Tage vor dem Besuch des Franziskus gehabt hatte: Die Kirche des heiligen Johannes im Lateran, die päpstliche Kathedralkirche also, drohte einzustürzen. Aber ein unscheinbarer, verachtenswert aussehender Ordensmann bewahrte sie vor dem Ruin, indem er seinen Rücken unter die im Fall begriffene Mauer schob. Auf einmal wurde es Innozenz III. klar, daß die ihm im Traum erschienene Gestalt niemand anderer als Franziskus war. Es hat sich hier der innere Gleichklang hergestellt, der die Aufnahme und Weiterfährung des Gleichnisses ermöglicht, ganz ähnlich wie es im Evangelium bei der griechischen Frau aus Syrophönizien der Fall ist, die möchte, daß Jesus ihre Tochter von einem Dämon befreit (Mk 7,24-30): Als Jesus sie mit den Worten „Es ist nicht recht, daß man den Kindern das Brot wegnimmt und es den kleinen Hunden hinwirft" abwimmeln will, gibt sie zur Antwort: „Ja, Herr, aber es essen doch auch die kleinen Hunde unter dem Tisch von den Brocken, welche die Kinder fallen lassen." Schadewaldt hat das, was hier geschieht, als „Eingehen in das Gleichnis", „Glaubensereignis im Gleichnis" bezeichnet. 19 Im Falle von Innozenz III. kann allerdings keine Rede davon sein, daß er sich definitiv auf die Sache des Heiligen von Assisi eingelassen hätte. Das, was in seiner Seele ausgelöst wurde, war, wie bei allen Großpriestern, die Franziskus im Verlauf seines späteren Lebens zu „bekehren" suchte, transitorischer Natur. In diesem einen entscheidenden Augenblick seines Pontifikats und der Geschichte der westlichen Kirche war es ihm aber gegeben, den tieferen Sinn des Gleichnisses zu erfassen und darauf einzugehen. Voraussetzung dafür war, daß er selber das Traumgesicht von der einstürzenden Laterankirche hatte. Um nochmals Wolfgang Schadewaldts „Theorie" zu bemühen: In dem Gleichnis von der armen, schönen Frau in der Wüste führt Franziskus das Zufallige seiner (geschichtlichen) Erscheinung auf das Bleibende, das ist in diesem Fall Gottes Bestimmung, zurück. Das Entstehen der franziskanischen Bewegung ist so, wie wenn in einem bestehenden Königreich der Träger der legitimen Macht, der König selbst, sich insgeheim in den Bereich außerhalb der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung, die Wüste, begibt und dort Kinder zeugt, deren Rechtmäßigkeit und Schönheit eines Tages offenbar werden.
19 SCHADEWALDT, Zuverlässigkeit (wie Anm. 4), 208 f.
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Das Gleichnis von dem schwarzen Zwerghuhn Das Gleichnis von dem schwarzen Zwerghuhn ist ebenfalls in der 'Drei-Gefahrten-Legende' und in der zweiten Legende des Thomas von Celano überliefert. 20 Auch diesmal handelt es sich um eine Traumvision. „Sitz im Leben" ist die tiefe Krise, in die der Orden während der einjährigen Abwesenheit des Franziskus im Orient (1219/1220) geraten war. 21 „Franziskus nahm sich vor, von dem erwähnten Herrn Papst Honorius einen von den Kardinälen der Römischen Kirche gewissermaßen als Papst für seinen Orden zu erbitten, nämlich den vorgenannten Herrn von Ostia, an den sich die Brüder wenden könnten, wenn es erforderlich wäre. Der heilige Franziskus hatte nämlich eine Vision gehabt, die ihn möglicherweise veranlaßte, einen Kardinal zu erbitten und den Orden der Römischen Kirche anzuempfehlen. Er hatte nämlich ein kleines, schwarzes Huhn gesehen, das befiederte Beine und Füße hatte, gerade wie eine Haustaube. Es hatte so viele Küken, daß es sie nicht unter seinen Flügeln versammeln konnte. Sie umkreisten vielmehr das Huhn und blieben draußen vor. Als er vom Schlaf erwachte, begann er über diese Vision nachzudenken, und er erkannte sogleich durch den Heiligen Geist, daß er mit diesem Huhn bildlich gemeint sei, und sagte: 'Ich bin dieses Huhn, von kleiner Gestalt und schwarzem Aussehen: ich muß einfältig wie eine Taube, beflügelt durch die Federn der Tugenden, zum Himmel fliegen. Aber der Herr hat mir aufgrund seiner Barmherzigkeit viele Brüder gegeben, die ich aus eigener Kraft nicht beschützen kann. Deshalb ist es notwendig, daß ich sie der heiligen Römischen Kirche anvertraue, damit diese sie unter dem Schatten ihrer Flügel beschütze und leite.'"
Die Situation des Ordens, wie sie sich darstellte, nachdem er auf mehrere tausend Mitglieder angewachsen war, und das Verhältnis des Franziskus zu seiner nunmehr unübersichtlich gewordenen Bewegung wird durch einen Vorgang in der Natur, das Verhalten von Tieren, wie man es auf jedem kleinen Bauernhof Mittelitaliens beobachten konnte, illustriert. Zwerghühnchen sind federleicht; sie können wie Tauben über Zäune und Dächer fliegen. Nicht selten legt die Henne an versteckter Stelle ein Nest an, das zwanzig und mehr Eier enthalten kann. Eines Tages verschwindet sie und taucht nach drei Wochen mit einer großen Kinderschar wieder auf, welche die Fassungskraft ihrer Flügel bei weitem übersteigt. Wenn nicht zufällig eine größere Ersatzglucke vorhanden ist, der die Küken untergeschoben werden können, gehen die meisten von ihnen zugrunde. Ich habe diesen Vorgang selbst während des Zweiten Weltkrieges mehrmals erlebt, als auf dem Land fast alle Leute Zwerghühner hielten, weil man deren Eier nicht abliefern mußte. An dem Gleichnis und seiner Deutung sind vor allem zwei Züge wichtig: die Taubenartigkeit des schwarzen Zwerghuhns und seine Kleinheit. Die Taubengleichheit ist Bild für die ursprüngliche Einfalt (sancta simplicitas) und die
20 3 Soc 63; II Cel 24. 21 Vgl. hierzu: FELD, Franziskus (wie Anm. 3), 319-323.
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anderen Ideale des Franziskus und der Fratres Minores in seiner Nachfolge. Diese Ideale beflügeln ihre Träger zum direkten Flug „in den Himmel". Als die Bewegung noch aus wenigen Brüdern bestand, konnte sich ihre Lebensform ungestört an ihren hochgespannten Idealen ausrichten. Nachdem sich im Lauf der Jahre in großer Zahl Menschen von verschiedenartiger Herkunft und mit unterschiedlichen Absichten der Gemeinschaft angeschlossen hatten, überforderte sowohl die organisatorische als auch die spirituelle Leitung die Kräfte eines einzelnen: des kleinen Franziskus. Die Kleinheit der schwarzen Zwerghenne machte es notwendig, sich gewissermaßen nach einer größeren Glucke umzusehen, unter deren Flügeln alle Brüder Platz finden und von der sie beaufsichtigt werden konnten: die Römische Kirche, verkörpert durch den Kardinalbischof Hugolino, der nun als „Protektor" und „Papst" des Ordens dessen eigentliche Leitung übernahm. Hugolino hat noch zehn Jahre später als Papst am Anfang der Bulle 'Quo elongati', die er am 28. September 1230 erließ, die Franziskaner (fast höhnisch) auf den Gegensatz zwischen ihren taubenartigen Idealen und den tatsächlichen Erfordernissen der rauhen Wirklichkeit hingewiesen22: „Je höher ihr, entfernt von der Welt, wie die Tauben mit erhobenen Flügeln in die Abgeschiedenheit der Kontemplation über euch selbst hinweggeflogen seid, umso deutlicher seht ihr die Pfeile der Sünden voraus, und das Auge eures Herzens erforscht mehreres, wodurch ihr den Fortschritt eures Heils behindert seht. Daher offenbart der Geist in euren Gewissen zuweilen Dinge, die anderen verborgen sind. Aber indem der Glanz der geistlichen Erkenntnis durch die Finsternis menschlicher Schwäche gehemmt wird, schleicht sich manchmal der Skrupel des Zweifels ein, und es ergeben sich fast unentwirrbare Schwierigkeiten."
Mit dieser rhetorisch verschlungenen Ouvertüre leitete Gregor IX. das Dokument ein, mit dem er die franziskanische Bewegung endgültig auf die rechtlichen und spirituellen Dimensionen eines normalen Ordens innerhalb der katholischen Kirche zurückstutzte und den erklärten Willen des Stifters außer Kraft setzte. Aber schon zu Beginn der Zwanzigerjahre, während die Abfassung der 'Regula bullata' vorbereitet wurde, hatte sich der Schatten dieses Juristen und Machtmenschen über die Bewegung gelegt, und bei Franziskus ist zu dieser Zeit nichts mehr zu spüren von der sieghaften Gewißheit, die er
22 Herbert GRUNDMANN, Die Bulle „Quo elongati" Papst Gregors IX, AFH 54 (1961), 3 25; ebd. 13: Quo elongati a seculo ut columbe pennis assumptis in secessum contemplations super vos ipsos evolastis, eo conspectius peccatorum iaculo previdetis et plura, per que conspicitis salutis impediri profectum, cordis vestri oculus perscrutatur. Unde que tecta sunt aliis, in conscientiis vestris quandoque spiritus manifestai, sed splendore intelligentie spiritalis caligine humane infirmitatis obducto scrupulus interdum dubitationis inducitur et difficultates quasi inextricablies ingeruntur. Vgl. dazu: Helmut FELD, Die Totengräber des heiligen Franziskus von Assisi, Archiv für Kulturgeschichte 68 (1986), 319-350; ebd. 339 f.
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und seine ersten Gefährten hatten, als sie nach der Begegnung mit Innozenz III. von Rom aufbrachen. Damals hatte Franziskus im Traum am Straßenrand einen hohen Baum gesehen, über den er rasch hinauswuchs und den er mit Leichtigkeit (facillime) zur Erde niederbog. 23 Der „Herr Innozenz", den er in dem Baum erkannte, und die Römische Kurie hatten die Bewegung nur fur ein paar Jahre am langen Zügel gehen lassen. Im Jahre 1220 war für Franziskus die Zeit gekommen, nach Rom zurückzukehren und sich unter die Flügel der großen römischen Glucke zu begeben.
Das Gleichnis von den Brotkrumen und der Hostie In den Anfang der Zwanzigerjahre, in die kritische Zeit, in der Franziskus befürchtete, daß ihm sein ursprüngliches Ideal zwischen den Händen zerrinnen, gewissermaßen zerbröseln könnte, gehört das Gleichnis von den Brotkrumen und der Hostie, das leider nur in der zweiten Celano-Legende überliefert ist, aus der es der heilige Bonaventura in seine 'Legenda maior' übernommen hat.24 Die Vision hat diesmal schon fast alptraumartigen Charakter. „Zur Zeit, als die Brüder eine Zusammenkunft veranstalteten, um über die Bestätigung der Regel zu diskutieren, hatte der Heilige, der sich mit der Sache intensiv beschäftigte, folgenden Traum: Es schien ihm, er habe winzige Brotkrumen von der Erde aufgesammelt und müsse sie an viele hungrige Brüder verteilen, die um ihn herumstanden. Und als er zögerte aus Furcht, daß so kleine Krümel ihm wie kleine Staubkörner aus den Händen gleiten könnten, ließ sich eine Stimme vernehmen, die ihm von oben zurief: 'Franziskus, forme aus all den Krümeln eine einzige Hostie und gib allen, die mögen, davon zu essen!' Das tat er, und diejenigen, die sie nicht mit Andacht empfingen oder das empfangene Geschenk geringschätzig behandelten, wurden plötzlich von deutlich erkennbarer Lepra geschlagen. Am Morgen erzählte der Heilige alles seinen Gefährten, wobei er bedauerte, daß er die geheimnisvolle Bedeutung der Vision nicht verstehe. Kurz darauf aber, während er im Gebet wachte, vernahm er vom Himmel folgende Stimme: 'Franziskus, die Brotkrumen der vergangenen Nacht sind die Worte des Evangeliums, die Hostie ist die Regel, die Lepra ist die Bosheit.'"
Diese Traumvision ist dem Gleichnis von dem schwarzen Zwerghuhn sehr verwandt. Hier wie dort droht etwas ganz Wesentliches verloren zu gehen. Mit den Brotkrumen sind die grundlegenden evangelischen Ideale gemeint; die Küken dagegen sind die Brüder selbst, die von der Zerstreuung bedroht sind. In beiden Fällen erscheint die Römische Kirche als rettende Instanz: Durch
23 3 Soc 53; bezeichnenderweise ist dieser Traum in keiner der „offiziellen" Legenden enthalten. Zu dem optimistischen Bewußtsein des Franziskus bezüglich seiner Bewegung zu dieser Zeit vgl. jedoch: I Cel 33; über den Traum vom Baum am Straßenrand: FELD, Franziskus (wie Anm. 3), 177 f. 24 II Cel 209; LegMaior IV, 11.
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ihre Autorität und die päpstlich approbierte Gesetzgebung erhält die schwankende Bruderschaft Stabilität.
Die Gleichnisse von den Äpfeln und dem Fischer In die allererste Frühzeit der (zahlenmäßig noch kleinen) Bewegung gehören die beiden Gleichnisse von den Äpfeln und dem Fischer, in denen Franziskus die Zukunft seiner Gemeinschaft beschreibt. Wahrscheinlich in dem Eremitorium von Poggio Bustone über dem Tal von Rieti, wohin sich Franziskus im Herbst 1208 mit seinen ersten sechs Gefährten zurückgezogen hatte,25 sagte er den Brüdern die stürmische Entwicklung, aber auch die darauf folgende Dekadenz der Bewegung voraus: Sie werde zu einer unermeßlichen Zahl von Mitgliedern aus allen Völkern und Sprachen anwachsen und sich über die gesamte Erde ausbreiten. Nachdem er mit seiner Freude darüber die Gefährten angesteckt hatte, fuhr er fort: „Um in Treue und Andacht unserem Herrgott für alle seine Gaben zu danken, liebe Brüder, und damit ihr erkennt, wie wir jetzt und in Zukunft leben müssen, vernehmt die Wahrheit über die zukünftigen Ereignisse. Zu Beginn der Existenz unseres Ordens werden wir süße und überaus köstliche Äpfel finden; danach werden wir weniger wohlschmeckende bekommen; am Ende werden wir so bittere aufsammeln, daß wir sie nicht essen können, weil sie infolge ihrer Säure für alle ungenießbar sein werden, obzwar sie von außen duftend und überaus schön anzusehen sind."
Unmittelbar daran schließt sich bei Celano das Gleichnis von dem Fischer an, das Franziskus nach 3 Soc um die gleiche Zeit dem Bruder Ägidius erzählte.26 Es ist unverkennbar dem Gleichnis Jesu von dem Fischernetz (Mt 13,47—48) nachgebildet und damit ein Zeugnis dafür, wie Franziskus schon zu diesem frühen Zeitpunkt über seine Bruderschaft dachte. „Wie ich euch sagte, wird der Herr uns wachsen lassen, bis wir ein recht zahlreiches Volk geworden sind. Dann wird es gehen wie bei einem Fischer, der seine Netze im Meer oder einem See auswirft und eine große Menge Fische fängt. Wenn er sie alle in sein Boot genommen hat, hat er keine Lust mehr, alle mitzunehmen, weil es zu viele sind. Er sucht die größten und diejenigen, die ihm gefallen, aus und tut sie in Behälter, die anderen wirft er wieder hinaus."
Es ist mehr als nur eine Ironie der Geschichte, daß die letzte Prophezeiung nicht in Erfüllung ging: Franziskus ist nicht mehr dazu gekommen, seine Fische zu sortieren. Als es so weit war, eliminierte er keineswegs die unfähigen Mitglieder aus dem Orden. Vielmehr gewann schließlich das Gesetz der großen Zahl auf Kosten der hochgespannten Ideale der Frühzeit die Oberhand.
25 I Cel 2 6 - 2 8 ; vgl. FELD, Franziskus (wie Anm. 3), 159-163. 26 I Cel 28; vgl. 3 Soc 33.
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II. Die franziskanischen Ideale Die beiden nächsten Gleichnisse betreffen zentrale Tugenden des franziskanischen Ideals: Keuschheit und Gehorsam.
Das Gleichnis von den zwei Königsboten Sowohl die 'Legenda Perusina' als auch die zweite Celano-Legende überliefern das Gleichnis von den zwei Königsboten. Franziskus scheint es seinen Gefährten des öfteren erzählt zu haben.27 „Unkeusche Augen pflegte er mit der folgenden Rätselrede zu fixieren: Ein frommer und mächtiger König schickte nacheinander zwei Boten zu einer Königin. Der erste kehrte zurück und berichtete, wobei er nur die Botschaft mit seinen Worten wiedergab. Als weiser Mann behielt er nämlich seine Blicke in seinem Kopf zurück und ließ sie nicht umherschweifen. Auch der zweite kehrte zurück, und nach wenigen Worten seiner Botschaft spann er eine lange Geschichte über die Schönheit der Herrin zusammen. 'Wirklich, Herr, ich habe eine überaus schöne Frau gesehen. Glücklich, wer sie genießen kann!' Aber der König antwortete: 'Du nichtswürdiger Knecht! Hast du deine unkeuschen Blicke auf meine Braut geworfen? Natürlich wolltest du die Ware kaufen, die du dir so genau angesehen hast!' Dann ließ er den ersten nochmals rufen und sagte: 'Was hältst du von der Königin?' Der antwortete: 'Ich habe einen sehr guten Eindruck, weil sie mich bereitwillig anhörte und klug antwortete.' 'Ist sie denn überhaupt nicht schön?' Er antwortete: 'Es ist deine Sache, dir das näher anzusehen. Meine Aufgabe war lediglich, die Worte mitzuteilen.' Da erging seitens des Königs folgender Urteilsspruch: 'Du, der du keusche Augen hast, bleibe mit noch keuscherem Leib in meiner Wohnung! Der da aber soll das Haus verlassen, damit er mein Ehebett nicht befleckt!' Der Heilige fugte hinzu: 'Wer würde sich nicht fürchten, eine Braut Christi anzuschauen?'"
Das Gleichnis offenbart die überaus strenge Auffassung, die Franziskus von der Keuschheit hatte und die, wie im Falle der beiden anderen traditionellen Mönchstugenden, Armut und Gehorsam, weit radikaler ist als das, was in früheren Zeiten von Ordensleuten erwartet wurde. Bekanntlich hat aber auch schon Jesus den begehrlichen Blick mit der Hurerei gleichgesetzt (Mt 5,28). Es scheint aus dem Gleichnis hervorzugehen, daß Franziskus in jeder Frau die potentielle Braut Christi sah. Möglicherweise ist diese rigorose Auffassung durch katharischen Einfluß bedingt. Die seltsame Gehemmtheit, die er den Frauen in ihrer Mehrzahl gegenüber an den Tag legte, wurde aber schon von den Zeitgenossen als ungewöhnlich empfunden und hatte ganz gewiß auch neurotische Ursachen. Thomas von Celano berichtet, er habe einmal einem Gefährten anvertraut, er kenne überhaupt nur zwei Frauen von Angesicht.28 Es 27 Legenda Perusina (= LegPer) 37 (ed. 28 II Cel 112.
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1992, 82/84); II Cel 113.
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sind wohl Jacopa dei Settesoli, die für ihn „Bruder (!) Jacoba" war, und Chiara di Favarone gemeint. Ein ganz entscheidendes Element des Gleichnisses wollen wir nicht übersehen: Der „keusche" Herold wird mit der Würde eines königlichen Kämmerers ausgezeichnet. Damit wird auf den himmlischen Lohn hingewiesen, der den erwartet, der die irdische „Strapaze" der Keuschheit ebenso wie die der Armut und Selbstverleugnung auf sich nimmt.
Das Gleichnis von dem Leichnam Den vollkommenen Gehorsam, wie er ihn von einem Ordensmann erwartete, hat Franziskus unter dem Bild eines menschlichen Leichnams beschrieben. Er gab damit seinen Anhängern zu verstehen, wie sie sich in diesem Punkt von dem, was in anderen Orden üblich war, zu unterscheiden hätten.29 „Als der heilige Franziskus zu einer anderen Zeit einmal mit seinen Gefährten zusammensaß, da sagte er seufzend: 'Es gibt auf der ganzen Welt kaum einen Ordensmann, der seinem Oberen in vollkommener Weise gehorcht.' Da sagten die Gefährten bewegt: 'Vater, sage du uns, welches der vollkommene und höchste Gehorsam ist.' Und er antwortete, indem er den Gehorsam unter dem Bild eines Leichnams beschrieb: 'Nimm einen leblosen Körper und lege ihn, wohin du willst. Du wirst sehen: er widerstrebt nicht, wenn er bewegt wird; er murrt nicht, wenn er abgelegt wird; er beschwert sich nicht, wenn man ihn liegen läßt. Wenn er auf einen Stuhl (cathedra) gesetzt wird, dann wird er nicht das oben Liegende, sondern das Unterste ansehen; kleidet man ihn in Purpur, wird er noch blässer. Das', sagte er, 'ist der wirkliche Gehorsam: er beurteilt nicht kritisch, warum er bewegt wird; er kümmert sich nicht darum, wohin man ihn stellt; er besteht nicht darauf, daß man seine Lage ändert. Wird er zu einem Amt erhoben, behält er die gewohnte Demut. Je mehr er geehrt wird, desto mehr hält er sich für unwürdig.'"
Der hier beschriebene Kadaver-Gehorsam bedeutet nichts anderes als die völlige Selbstaufgabe. Ein wesentlicher Unterschied zu dem, was in den älteren Orden üblich war, besteht allerdings auch darin, daß die gleiche Selbstverdemütigung und Schäbigkeit, wie die Drei-Gefährten-Legende sagt, auch von den Amtsträgern erwartet wird. Das Bedenkliche und Gefährliche dieses Gehorsamsideals wird aber aus dem nachfolgenden Satz der gleichen Legende deutlich: „Sie machten keinen Unterschied zwischen gerechter und ungerechter Vorschrift, weil sie der Meinung waren, daß alles, was angeordnet wurde, dem Willen des Herrn entspreche."30 Zu Beginn des „konfessionellen" Zeitalters, im 16. Jahrhundert, hat dann bekanntlich Ignatius von Loyola das Ideal des franziskanischen Kadaver-Gehorsams erneuert, indem er von den Mitgliedern seiner Gesellschaft Jesu einen an dem Verhalten eines Krückstocks in der
29 IlCel 152. 30 3 Soc 42.
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Hand eines alten Mannes oder dem eines Leichnams orientierten Gehorsam verlangte.31 Die Erfahrungen, welche die neuere Kirchen- und Sektengeschichte vor Augen fuhrt, zeigen, daß man um das Psychopathische und Menschenfeindliche solcher vorgeblichen „Ideale" nicht herumreden und sie nicht beschönigen darf - was den ernsthaften Versuch, sie in ihrem religionsgeschichtlichen Kontext zu verstehen, nicht ausschließt. Mit den Worten cathedra und purpura enthält das Gleichnis einen verdeckten Hinweis auf die Prälaten, die Großpriester, die sich in purpurne Gewänder kleiden und sich auf einer cathedra inthronisieren lassen. Damit ist - über die Primärintention des Gleichnisses hinaus - gesagt, daß auch die hohen Prälaten, trotz ihrer zeitweiligen Verkleidung, in den Augen Gottes „Leichen" sind. Indem er durch den radikalen Gehorsam gewissermaßen zum Toten wird, gelangt der Minderbruder zu seinem eigentlichen Wesen.
III. Das wahre Wesen des Frater Minor Was eigentlich den Frater Minor ausmacht, hat Franziskus seinen Gefährten noch anhand von drei weiteren eindrücklichen Gleichnissen klarzumachen versucht.
Das gemeinsame Generalkapitel aller Orden Das Gleichnis von dem gemeinsamen Generalkapitel aller Orden der katholischen Kirche entstammt nicht einem Traum oder einer Vision, sondern es ist wie das vorausgehende Gleichnis von dem Leichnam und das im nachfolgenden behandelte von der wahren und vollkommenen Freude eine bildhafte Erzählung von dem Typ: „Stellt euch einmal vor, daß..." Es schildert also eine irreale, utopische Situation, die gleichwohl für den Hörer leicht vorstellbar ist. Thomas von Celano bezeichnet die Rede des Heiligen als moralis parabola, ein Gleichnis mit ethischem Anspruch also; der Schwerpunkt läge demnach in der Mahnung, die Einheit des Ordens zu wahren. Franziskus selbst aber kommt es mehr auf die Darstellung des Wesens seiner religio an, wie aus seiner Deutung hervorgeht. Natürlich ist es eine idealistische, utopische Vorstellung, die kaum jemals so verwirklicht werden konnte.32
31 Ignatius: Die Satzungen der Gesellschaft Jesu, aus dem Spanischen übersetzt und eing e l e i t e t v o n M a r i o SCHOENENBERGER u. R o b e r t STALDER, in: H. U . VON BALTHASAR,
Die großen Ordensregeln, Einsiedeln 3 1974, 355, 375 f. 32 IlCel 191 f.
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„Sein beständiger Wunsch und sein stets wachsames Bestreben war es, das Band der Einheit unter seinen Söhnen zu bewahren, damit diejenigen, die der gleiche Geist gezogen, der gleiche Vater gezeugt hatte, in einem einzigen Mutterschoß friedlich und liebevoll behütet würden. Er wollte, daß die Größeren mit den Kleinen vereint, die Weisen mit den Einfältigen in brüderlicher Zuneigung verbunden, die weit voneinander Entfernten durch das Band der Liebe vereinigt wären. Er trug einmal ein Gleichnis moralischen Charakters vor, das keinen geringen Belehrungsgehalt enthielt: 'Stellt euch vor', sagte er, 'es soll ein Generalkapitel aller Ordensleute, die in der Kirche sind, stattfinden! Weil also Gebildete und Ungebildete anwesend sind, Wissende und solche, die ohne Wissenschaft wissen, wie man Gott gefallt, wird einem von den Weisen und einem von den Einfaltigen das Wort zu einer Predigt gegeben. Der Weise überlegt - er ist nämlich wirklich ein Weiser - und bedenkt bei sich: 'Hier ist nicht der Ort, mit Wissenschaft anzugeben, wo es Leute gibt, welche die Wissenschaft vollkommen beherrschen, und ich muß auch nicht unbedingt, wenn ich unter den scharfsinnigsten Leuten das Wort ergreife und subtile Dinge erläutere, durch Vorwitz auffallen. Es wird vielleicht mehr herauskommen, wenn ich einfach rede.' Der festgesetzte Tag bricht an; die Scharen der Heiligen versammeln sich; sie dürsten danach, die Predigt zu hören. Der Weise tritt vor, in Sackleinen gekleidet und den Kopf mit Asche bestreut, und zur Verwunderung aller predigt er mehr durch die Tat und faßt sich kurz. 'Große Dinge', sagt er, 'haben wir versprochen; noch größere sind uns versprochen. Bewahren wir diese, sehnen wir uns nach jenen! Das Vergnügen ist kurz, die Strafe ewig, das Leiden gering, die Herrlichkeit ohne Ende. Die Berufung ergeht an viele, die Erwählung wird wenigen zuteil, alle erhalten ihre gebührende Belohnung.' Die Hörer brechen mit reuevollem Herzen in Tränen aus, und sie verehren diesen wahrhaft Weisen als Heiligen. 'Sieh da', sagt der Einfältige bei sich, 'der Weise hat mir alles weggenommen, was ich vorhatte zu tun oder zu sagen. Aber ich weiß, was ich tue. Ich kenne einige Verse aus den Psalmen. Ich werde mich wie der Weise benehmen, nachdem der die Rolle des Einfältigen übernommen hat.' Es kommt die Sitzung des darauffolgenden Tages. Der Einfältige steht auf und stellt einen Psalm als Predigtthema vor. Dann bringt er, vom Geist Gottes inspiriert, so glutvoll, scharfsinnig, gefallig, aufgrund der inspirierten Gnade Gottes, seine Predigt zu Ende, daß alle voller Staunen sagen: 'Mit den Einfältigen findet Gottes gelehrtes Gespräch statt' (Prov 3,32). Dieses Gleichnis moralischen Charakters, das er so vortrug, erläuterte der Mann Gottes folgendermaßen: 'Unsere religiöse Gemeinschaft ist eine überaus große Versammlung, gewissermaßen ein allgemeines Konzil, das aus allen Teilen der Welt unter eine Lebensform zusammengekommen ist. In ihm profitieren die Weisen von den Vorzügen der Einfältigen, wenn sie sehen, wie die Ungebildeten mit feuriger Kraft das Himmlische suchen und die nach menschlichen Maßstäben Ungelehrten durch die Kraft des Geistes das Geistliche erfassen. In diesem Konzil nutzen auch die Einfältigen die Vorzüge der Weisen zu ihrem Vorteil, wenn sie sehen, wie berühmte Männer sich zusammen mit ihnen um des gleichen Zieles willen demütigen, die überall auf der Welt mit Ruhm bedeckt leben könnten. Darin', sagte er, 'erstrahlt die Schönheit dieser Familie, deren vielgestaltiger Schmuck dem Hausvater sehr gefällt.'"
Dieses Letztere ist besonders bemerkenswert: daß Franziskus das Eigentümliche und Unverwechselbare seiner religio, des Ordens der Minderbrüder, als Schönheit bezeichnet. Sie besteht in der gegenseitigen Ergänzung der gebil-
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deten und der einfachen, ungelehrten Brüder. Wenn alle das begreifen und entsprechend leben, ist der Orden eine einige Familie, an deren Schönheit der Hausvater seine Freude hat. Wer ist mit dem pater familias gemeint? Man kennt das Wort aus den Gleichnissen des Matthäus- und des Lukas-Evangeliums, wo es häufig vorkommt und Gott bezeichnet (z.B. Mt 20,1; 21,33). Aber unverkennbar meint Franziskus hier auch sich selber. Die Betonung der Schönheit der franziskanischen Gemeinschaft erinnert an das Gleichnis von der armen, schönen Frau in der Wüste und meint hier wie dort dasselbe. Die Entstehung des Gleichnisses von dem Generalkapitel aller Orden setzt eine Situation voraus, in der die Zahl der Mitglieder des Ordens zwar schon beträchtlich war, die Verhältnisse aber noch nicht unübersichtlich geworden waren, so daß die ganze Bewegung aus dem Ruder zu laufen drohte (wie es nach 1220 der Fall war). Die Erwähnung eines allgemeinen Konzils scheint auf das IV. Laterankonzil (1215) hinzudeuten. Das Gleichnis wird also in den Jahren 1215-1218, in optimistischer Stimmungslage des Erzählers, entstanden sein.
Die Frauenstatue im himmlischen
Heiligtum
Die überragende Rolle, die Franziskus sich selbst im Reich Gottes und im Kosmos zuschrieb, läßt das Gleichnis von der Frauenstatue im himmlischen Heiligtum erahnen, das ebenfalls nur in der zweiten Celano-Legende überliefert ist.33 „Ich möchte hier über eine denkwürdige Vision des Heiligen berichten: Eines Nachts dämmerte er nach Beendigung eines langen Gebetes allmählich in den Schlaf hinüber und schlief schließlich ganz ein. Da wurde seine heilige Seele in das Heiligtum Gottes geführt und sah dort im Traum unter anderem eine Dame, die folgendermaßen aussah: Ihr Kopf schien aus Gold zu sein, Brust und Arme aus Silber, der Bauch aus Kristall, die unteren Körperteile aus Eisen. Sie war von hoher Gestalt, anmutigem und regelmäßigem Körperbau. Aber die Dame von ausnehmend schöner Gestalt war bedeckt mit einem schmutzigen Mantel. Als der selige Vater am folgenden Morgen aufgestanden war, erzählte er Bruder Pacificus, dem heiligen Mann, die Vision, aber er erklärte nicht, was sie bedeute. Die Vision haben dann viele nach ihrem Belieben ausgelegt. Ich möchte mich aber an die Interpretation des erwähnten Pacificus halten, und zwar nicht ohne Grund. Er sagte: 'Diese Dame von ausnehmend schöner Gestalt ist die schöne Seele des heiligen Franziskus. Der goldene Kopf bedeutet die Betrachtung und die Weisheit von den ewigen Dingen; die Brust und die Arme aus Silber sind die Worte Gottes, über die
33 II Cel 82. Die im 25. Kapitel der Actus B. Francisci wiedergegebene Form des Gleichnisses bezieht sich nur auf die verschiedenen Epochen des Ordens: Actus Beati Francisci et sociorum eius. Nuova edizione postuma di Jacques CAMBELL a cura di Marino BiGARONI e Giovanni BOCCALI (Pubblicazioni della Biblioteca Francescana Chiesa Nuova - Assisi 5), Porziuncola/Assisi 1988, 298-311; vgl. auch ebd., Einleitung, 31 f.
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man im Herzen meditiert und die man in der Tat vollbringt; der Kristall bedeutet in seiner Härte die Nüchternheit, mit seinem Glanz die Keuschheit; das Eisen ist die feste Standhaftigkeit. Nimm sodann an, der schmutzige Mantel sei das verachtete Körperchen, mit dem die kostbare Seele bedeckt wird.' Viele indes, die Gottes Geist besitzen, verstehen unter dieser Dame die Armut, insofern sie die Braut des Vaters ist. Sie sagen: 'Diese machte der Lohn der Herrlichkeit zu Gold, die Kunde von ihrem Ruhm zu Silber, das offene Bekenntnis allein, daß es weder außen noch innen Geldverstecke gebe, zu Kristall, die Standhaftigkeit bis zum Ende zu Eisen. Die Einschätzung der irdischen Menschen hat aber dieser strahlenden Dame einen schmutzigen Mantel gewoben.' Mehrere Leute wenden aber dieses Orakel auf den Orden an, indem sie dem Ablauf der aufeinander folgenden Zeitepochen, wie er bei Daniel steht, folgen. Aber daß das Gleichnis sich auf den Vater [Franziskus] bezieht, geht vor allem daraus hervor, daß er durchaus nicht wollte, daß es ausgelegt würde, weil er Anmaßung vermeiden wollte. Hätte er es nämlich auf den Orden bezogen, dann hätte er es nicht mit Schweigen übergangen."
Das „Heiligtum Gottes", in das Franziskus im Traum entrückt wird, ist das im Hebräerbrief beschriebene himmlische Heiligtum (Hebr 8,2). Der Ausdruck sanctuarium Dei ist alttestamentlich (Ps 72,17 u.ö.). Die Dame, die der Heilige „unter anderen Dingen" dort erblickt, scheint eine Statue zu sein, worauf die Materialien schließen lassen, aus denen sie besteht: Gold, Silber, Bergkristall, Eisen. Aber die Statue scheint trotzdem nicht leblos zu sein. Es handelt sich überdies unverkennbar um einen nackten Körper. Nach der auch von dem Erzähler, Thomas von Celano, bevorzugten Deutung, die er von Bruder Pacificus hat, handelt es sich um die schöne Seele (formosa anima) des heiligen Franziskus. Franziskus hat demnach eine Art virtueller, geistiger Existenz in dem himmlischen Heiligtum. Daß er in das secretarium der göttlichen Majestät entrückt worden sei, wo er mit Gott selbst vertrauliche Gespräche hatte, erzählt Franziskus auch bei anderer Gelegenheit.34 Bei der Statue denkt man natürlich sogleich an die Statue, die Nebukadnezar (Nabuchodonosor), der König von Babylon, und danach der Prophet Daniel im Traum gesehen haben (Dan 2,31 f.). Im Kontext der Prophetie Daniels bedeuten das Gold und die anderen Materialien, aus denen die Statue gefertigt ist, die Herrschaft Nebukadnezars und die darauf folgenden Reiche, die alle am Ende durch einen Stein, das heißt: die Macht Gottes, zertrümmert werden (Dan 2,34-45). Das läßt darauf schließen, daß in dem Gleichnis des Franziskus ebenfalls ein apokalyptisches Element enthalten sein könnte. Doch im Gegensatz zu dem Traum Nebukadnezars fehlt darin der Hinweis auf das Ge34 II Cel 52: Hinc est quod beatus pater die quadam fratri cuidam, quem plurimum diligebat, retulit verbum istud quod tune de s ibi familiari reportaverat secretario Maiestatis: 'Hodie ', inquit, 'est aliquis servus Dei super terram propter quem, donee vixerit ipse, non permittit Dominus famem super homines desaevire. ' - Der Biograph bemüht sich zu versichern, der Heilige habe sich diese Rolle nicht aus Einbildung zugeschrieben, sondern zur Erbauung des Hörers.
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rieht Gottes und überhaupt alles Negative. Die Statue, die Franziskus sieht, befindet sich im himmlischen Heiligtum Gottes und besteht nur aus edlen Materialien. Bei Daniel bestehen Bauch und Oberschenkel aus Erz (Bronze), die Unterschenkel aus Eisen, die Füße teils aus Eisen, teils aus Ton. Die Statue des Franziskus hat einen Bauch aus Kristall, die Beine und Füße sind vollständig aus Eisen. Wenn also bei der Deutung nicht nur an Franziskus allein, sondern auch an seine Bewegung zu denken ist, dann fehlt jeglicher Hinweis auf deren Dekadenz (wie wir ihn aus anderen Gleichnissen kennen); es wird vielmehr auf ihren die Zeiten überdauernden Bestand in der Sphäre des Ewigen hingewiesen. Es ist also von der kosmischen Dimension des Franziskanertums die Rede. Es ist dann auch klar, weshalb sich der Heilige bezüglich der Deutung des Gleichnisses ausgeschwiegen hat: Es war nicht allein aus Demut, wie der Biograph unterstellt, sondern weil eine solche Deutung die Grenzen der kirchlichen Orthodoxie überschritten hätte. Man erinnert sich, daß Franziskus auch bei einer anderen Gelegenheit eisern geschwiegen hat: nämlich über die Worte, die ihm der Seraph bei der Vision auf dem Berg La Verna mitgeteilt hatte. 35 Von nicht geringer Bedeutung ist auch, daß der Biograph die Geschichte aus dem Munde des Bruders Pacificus erfahren hat. Pacificus war in seinem „weltlichen" Leben Troubadour gewesen und hatte aus der Hand des Kaisers (vermutlich Heinrichs VI., vielleicht aber auch Friedrichs II.) die Dichterkrone empfangen. 36 Nicht nur weil er Troubadour war, sondern vor allem wegen seiner Vision von den leeren Engelsthronen in der Kirche von Bovara 37 ist anzunehmen, daß er dem Katharertum nahe stand und eben deshalb fur die eschatologischen und kosmologischen Dimensionen der franziskanischen Erlösungsvorstellung besonders empfänglich war.
Über die wahre und vollkommene Freude Dieses Gleichnis wurde in einer ganz anderen seelischen Stimmung erzählt als die beiden zuletzt behandelten, nämlich in einer gedrückten und pessimistischen, die aber eben durch die Erkenntnis der „wahren" Freude überwunden 35 Vgl. Bonaventura, Legenda Maior (= LegMaior) XIII,4; Feld, Franziskus (wie Anm. 3), 269 f. 36 II Cel 106. 37 LegPer 65 (ed. B I G A R O N I 2 1992, 178); vgl. II Cel 123; hierzu: F E L D , Franziskus (wie Anm. 3), 275 f. Im Anschluß an den Bericht über die „Bekehrung" und Namensänderung des Pacificus durch Franziskus bemerkt Thomas von Celano, der ehemalige Dichter habe visionären Zugang zu Dingen gehabt, die anderen verborgen blieben; so habe er einmal ein großes Tau auf der Stirn des Franziskus erblickt, das, von verschiedenfarbigen Kreisen umstrahlt, an die Schönheit eines Pfaus erinnert habe (II Cel 106).
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wird. Kajetan Esser, der den Text in seiner ursprünglichen Gestalt ediert hat, meint, der Bericht lasse sich chronologisch nicht fixieren.38 D a er aber auf Bruder Leonard zurückgeht, der nach II Cel 31 mit Franziskus im Sommer 1220 aus dem Orient zurückgekommen war, kann ihn der Heilige nur in seinen letzten Lebensjahren diktiert haben. Derselbe Bruder Leonard berichtet ebendort, der heilige Franziskus habe eines Tages bei S. Maria [Porziuncola] den Bruder Leo zu sich gerufen und gesagt: „'Bruder Leo, schreibe!' Der antwortete: 'Ja, ich bin bereit.' 'Schreibe', sagte er, 'was die wahre Freude ist: Es kommt ein Bote und sagt, daß alle Professoren von Paris zum Orden gekommen sind. Schreibe: Nicht die wahre Freude! Desgleichen, daß alle Prälaten von jenseits der Alpen, die Erzbischöfe und Bischöfe, weiterhin der König von Frankreich und der König von England sich dem Orden angeschlossen haben. Schreibe: Nicht die wahre Freude! Weiter, daß meine Brüder zu den Ungläubigen gezogen sind und sie alle zum Glauben bekehrt haben; weiter, daß ich so große Gnade von Gott habe, daß ich Kranke heilen und viele Wunder wirken kann. Ich sage dir, daß in alldem nicht die wahre Freude besteht. Sondern was ist die wahre Freude? Ich kehre von Perugia zurück, und in tiefer Nacht komme ich hierher, und es ist Winterzeit, schlammig und so kalt, daß sich Klunker eiskalten, gefrorenen Wassers am Saum der Kutte bilden und beständig auf die Beine schlagen, daß sie wund werden und das Blut aus den Wunden fließt. Und ganz verdreckt und verkühlt und vereist komme ich an die Pforte, und nach langem Klopfen und Rufen kommt ein Bruder und fragt: 'Wer ist da?' Ich antworte: 'Bruder Franziskus!' Und er sagt: 'Hau ab! Das ist keine gehörige Zeit, umherzugehen. Du wirst hier nicht hereinkommen.' Und wie ich nochmals darauf bestehe, antwortet er: 'Hau ab! Du bist ein Einfaltspinsel und Dummkopf. Du kommst von jetzt an nicht mehr zu uns herein. Wir sind so zahlreich und so gut, daß wir dich nicht brauchen.' Und ich stehe erneut an der Pforte und sage: 'Um der Liebe Gottes willen, nehmt mich wenigstens für diese Nacht auf!' Und er antwortet: 'Nein! Geh zum Ort der Kreuzträger und bitte da um Einlaß!' Ich sage dir, wenn ich dann Geduld habe und mich nicht aufrege, daß darin die wahre Freude und die wahre Tugend und das Seelenheil besteht.'" Das Gleichnis ist wieder eines v o n denen, die eine gedachte Situation vorstellen. Die Erzählung ist geprägt von der Resignation und Niedergeschlagenheit des diktierenden Franziskus. Nichts mehr von der Hoffnung, einmal „die Prälaten zu bekehren" 39 , oder der Siegesgewißheit einer von Gott vorgesehenen und behüteten Bruderschaft „echter Söhne", in der die Ideale der Armut und Liebe verwirklicht sind! Die Szene spielt an der Pforte des Klosters bei der Portiuncula-Kirche, das nach dem Willen des Stifters „Modell und Beispiel für
38 Kajetan ESSER, Die Opuscula des hl. Franziskus. Neue textkritische Edition (Spicilegium Bonaventurianum 13), Grottaferrata (Romae) 1973, 461. Für die Auffassung des Franziskus von der (inneren, geistlichen) Freude ist auch wichtig: LegPer 120 (ed. Bi2 GARONI 1992, 404/406), ein Text, der ebenfalls aus den letzten Lebensjahren des Heiligen stammen dürfte. 39 LegPer 20 (ed. BIGARONI 21992, 60); vgl. auch II Cel 145!
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den gesamten Orden" (speculum et bonum exemplum totius religionis) sein sollte.40 Aus der Ansammlung primitiver Schilfhütten um das kleine Kirchlein herum ist ein richtiges Kloster mit einer verschließbaren Klosterpforte geworden. Die selbstbewußt gewordenen Brüder brauchen den einfältigen, weltfremden Franziskus nicht mehr; seine Ideale haben sich innerhalb seiner Bewegung überlebt. Und der so rüde Abgewiesene und aus der von ihm initiierten Bewegung faktisch Ausgeschlossene erkennt, daß eben darin erst die vollkommene Freude und das ewige Heil liegt. Bekanntlich ist dieses Gleichnis auch in die 'Actus-Fioretti' aufgenommen worden, deren Autor die äußere Dramatik der vorgestellten Szene noch erheblich gesteigert hat, wodurch aber der Erzählung viel von ihrer inneren Spannung verloren gegangen ist.41 In den Gleichnissen des Franziskus - sie sind allesamt Zeugnisse einer hohen dichterischen Phantasie und prophetischen Begabung - eröffnet sich ein Blick auf das tiefste Wesen der franziskanischen Religion und der religiösen Idee ihres Stifters. Zusammen mit der bilder- und symbolreichen Sprache des Franziskus und seinen wortlosen Pantomimen (Performances)42 sind sie darüber hinaus Dokumente für die Gedanken- und Weltfülle dieser überaus fruchtbaren und zukunftsträchtigen Epoche, der ersten Hälfte des „größten Jahrhunderts". In rechter Weise bedacht, führt die von Franziskus in seinen Gleichnissen gedachte und gedichtete Utopie nicht in eine sektiererische Enge - wenngleich Elemente psychischer und religiöser Krankheit in ihr keineswegs zu leugnen sind - , sondern hat möglicherweise ihre Zukunft erst noch vor sich.
40 LegPer 56 (ed. BIGARONI21992, 140); vgl. ebd. 142, 144; II Cel 18. 41 Vgl. Actus B. Francisci, ed. CAMBELL (wie Anm. 33), 158-164. 42 Vgl. dazu: Helmut FELD, Die Zeichenhandlungen des Franziskus von Assisi, in: Gert MELVILLE (Hg.), Institutionalität und Symbolisierung, Köln u.a. 2001, 393-408; DERS., Franziskus von Assisi und die Mystik, in: Hildegard von Bingen in ihrem Umfeld Mystik und Visionsformen in Mittelalter und früher Neuzeit, hg. v. Änne BÄUMERSCHLEINKOFER , Würzburg 2001, 161-196.
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Spiritualität, Askese und Krankheiten nach den Schriften des Franziskus von Assisi Zum Andenken an P. Engelbert Grau OFM, den lieben Freund und verdienten Franziskusforscher (1915-1998) Weil ich schon mehrmals Gelegenheit hatte, mich zum Themenkreis Spiritualität und Krankheit des hl. Franziskus zu äußern1, kann es sich beim nachfolgenden Vortrag nicht darum handeln, den verehrten Kollegen völlig neue Einsichten vorzulegen. Die verfügbare Zeit gestattet es zudem nicht, die zum Teil recht divergierenden Ergebnisse zusammenzufassen, geschweige denn kritisch zu diskutieren, was einzelne Gelehrte nach meinen Ausführungen zum Thema am Kongreß der „Società Internazionale di Studi Francescani" 1976 in Assisi geäußert haben. Aufgrund klarer Quellenaussagen in Gefährtenberichten glaube ich überzeugend nachgewiesen zu haben, daß die Malaria die
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Erstmals in einer Textpassage meiner Dissertation: Oktavian SCHMUCKI, Das Leiden Christi im Leben des hl. Franziskus von Assisi. Eine quellenvergleichende Untersuchung im Lichte der zeitgenössischen Passionsfrömmigkeit, Rom 1960, bes. 59-62: „Franziski mystische Verehrung des leidenden Jesus in den Kranken und in Natursymbolen". Zuvor wurde die Studie veröffentlicht in: Collectanea Franciscana [= CF] 30 (i960), 5-30; 129-145; 241-263; 353-397; De Sancti Francisci Assisiensis stigmatum susceptione. Disquisitio historico-critica luce testimoniorum saeculi XIII, in: DERS., CF 33 (1963), 210-266; 392-422; CF 34 (1964), 5-62; 241-338; De infirmitatibus S. Francisci Assisiensis inde a iuventute usque ad stigmatum susceptionem, in Miscellanea Melchor de Pobladura, Bd. I, Rom, 1964, 99-120; Stigmatisation, in: LThK [= Lexikon fur Theologie und Kirche] IX ( 2 1964), 1081-1082; Les maladies de Saint François d'Assise avant sa stigmatisation, in: Medicina nei secoli. Rivista storicomedica (Roma) 9 (1972), Nr. 1, 18-57 (gegenüber der latein. Version überarbeitet und ergänzt); Gli ultimi due anni di san Francesco d'Assisi e il rinnovamento della nostra vita, in: DERS., Laurentianum 17 (1976), 209-250; Le malattie di Francesco durante gli ultimi anni della sua vita, in: Francesco d'Assisi e francescanesimo dal 1216 al 1226. Atti del IV Convegno Intemazionale, Assisi, 15-17 ottobre 1976, Assisi 1977, 318362; San Francesco d'Assisi e l'esperienza della morte, in: DERS., 750° anniversario del transito di san Francesco. „Con san Francesco a servizio dei sofferenti". Assisi 19-23 settembre 1977, hg. v. Oliviero NALDINI, Florenz 1978, 39-56, oder in: DERS., Fidelis 65 (1978), 3-18; S. Francesco e S. Chiara modelli nelle loro infermità e nell'assistenza ai malati, Florenz 1981, oder in: S. Francesco e il mondo della sofferenza [...] convegno nazionale dei Padri Cappuccini Ospedalieri, Roma, 11-15 maggio 1981, hg. v. O. NALDINI [Florenz 1981], 43-111 (gegenüber dem nachstehenden Lexikonartikel ist diese Darstellung mit einem kritischen Apparat ausgestattet); Infermità, malattia, malato, salute,
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hauptsächliche Krankheit des Poverello war und daß er bei seiner Teilnahme am fünften Kreuzzug 1219/20 von der sogenannten ägyptischen Augenkrankheit oder der körnigen Bindehautentzündung (medizinisch: Coniunctivitis Trachomatosa Seu Granulosa) angesteckt wurde. 2 Auch w e n n neuerdings Ärzte die schon früher vertretene, jedoch der Quellenbasis entbehrende Hypothese v o n der Tuberkulose als seiner angeblichen Grundkrankheit erneuern bzw. in ihm die Ansteckung durch die Brucellose, eine v o n Bakterien hervorgerufene Allgemeinerkrankung, voraussetzen 3 oder die Malaria-Diagnose anderweitig als unhaltbar nachzuweisen suchen 4 , sehe ich mich nicht veranlaßt, meine Überzeugung zu ändern. N o c h mit mehr Recht gilt dies, w e n n zwei nordamerikanische Autoren, Joanne Schatzlein O S F und Daniel P. Sulmasy O F M jüngst die Auffassung vertreten, Franziskus sei selber v o n Aussatz angesteckt worden. 5 Sie stehen damit in der biopathographischen Forschung über Franziskus nicht bloß allein, sondern verkennen zudem die Tatsache, daß das A u f treten unübersehbarer Verunstaltungen an seinem Körper durch die Lepra die
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assistenza ai malati, hg. ν. E. CAROLI, in: Dizionario Francescano. Spiritualità, Padua 1983, 725-770: mit Ergänzungen in der Lit. nochmals in der Neuauflage: Infermità ..., in: Dizionario Francescano. Spiritualità, hg. v. E. CAROLI, Padua [21995], 827-872; Das Phänomen Krankheit im Leben des hl. Franziskus von Assisi, in: Fidelis 71 (1984), 116-134, oder in: Vita Fratrum 21 (1984), 3-17; The Stigmata of St. Francis of Assisi: A Critical Investigation in the Light of the Thirteenth-Century Sources (Franciscan Institute Publications. History Series; No. 6), St. Bonaventura, Ν.Y., 1991; s. darüber U. KÖPF in: CF 65 (1995), 262-264. Es sei hier verwiesen auf meinen letzten, die vorausgehende Forschung zusammenfassenden Deutungsversuch: Das Phänomen Krankheit (wie Anm. 1). So teilweise S. CIANCARELLI (wie Anm. 4 ) ; die Brucellosis vertritt K . HAINES, The Death of St. Francis of Assisi, in: Franziskanische Studien 58 (1976), 27-46. So Sante CIANCARELLI, Le malattie di Francesco d'Assisi (discussione diagnostica), in: Analecta TOR 14/130 (1978), 273-293, wo er seine bereits von anderen Rezensenten kritisierte Rekonstruktion in seinem Buch: Francesco di Pietro [di] Bernardone, malato e santo [Florenz 1972] (s. eine Anzahl von Besprechungen in BF [Bibliographia Franciscana] XIII, Nr. 554), erneuert. - Hier sei kurz hingewiesen auf José CASANOVAS, Las enfermidades de San Francisco de Asís, in: Verdad y Vida 40, Madrid 1982, 267-174, der zur Frage nichts Neues beiträgt. - Ähnlich verdient die vom Titel her ungerechte und anmaßende Studie von Francesco OJETTI, Una patografía di san Francesco dopo otto secoli di quasi assoluto silenzio e di errate interpretazioni, in: Forma Sororum (Assisi) 23 (1986), 174-186, Abb., es nicht, daß man sich mit ihr auseinander setzt. Es handelt sich um eine Parteinahme für die Auffassungen von S. Ciancarelli. - Nicht einsehen konnte ich Gerry LOBO, The infirmities in the life of Francis of Assisi, in: Tau. Review of Franciscanism (Bangalore) 11 (1986), 79-93; 12 (1987), 74-82. The diagnosis of St. Francis: evidence for Leprosy, in: Franciscan Studies 47 (1987), 181-217: „In summary, the signs and symptoms of St. Francis, as understood in the light of both medieval medical thought and modern medical knowledge, and the evidence provided by paleopathological and paleoepidemiological data suggest that S. Francis suffered from clinically significant leprosy of the borderline or tuberculoid form" (215).
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Bußpredigt in verschiedenen Gebieten Italiens unmöglich gemacht hätte. Zudem hätte man es ihm - trotz seines verbreiteten Rufs als Heiliger - nicht erspart, wie die übrigen Leprosen in einer abgesonderten Brüdergemeinschaft leben zu müssen. 6 Die von den Autoren vorgelegte biopathographische Deutung muß von einem Medizingeschichtier kritisch überprüft werden.
1. Pflege und innere Einstellung der Minderbrüder, die während des Wanderapostolats schwer erkrankten, nach der „nicht bullierten" Regel Jeder Versuch, die spirituelle Deutung von Krankheit durch Franziskus genauer zu erfassen, muß von der quellenkritisch - gegenüber den biographischen Schriften des 13. Jahrhunderts - unvergleichlich sichereren Basis seiner Opuscula ausgehen. Während der Phase der haus- und heimatlosen Wanderpredigt in der Frühzeit7 befanden sich Minderbrüder, die während ihrer Verkündigung erkrankten, in einer sehr schwierigen, ja menschlich fast ausweglosen Lage. Der Ordensgründer und mit ihm die seit etwa 1212 periodisch in den Generalkapiteln zusammenkommenden Brüder8 mußten sich unvermeidlich mit dem Problem auseinandersetzen, wie den am Weiterwandern verhinderten Brüdern geholfen werden konnte.
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Vgl. Luciano CANONICI, Lebbroso, lebbrosario, in: Dizionario francescano [ 2 1995] (wie Anm. 1), 955-972; W. HUGO, Francis of Assisi and the Leper: hagiography, history and meaning, in: The New Round Table 38 (1985), 107-130; M. FOUNTAIN, Retrieving the legend of „Francis and the Leper". Toward a critical method of informing Franciscan consciousness, in: ebd., 139-158. - Für den weiteren Zusammenhang s. G. DE SANDRE GASPARINI, Lebbrosi e lebbrosari tra misericordia e assistenza nei secoli XII—XIII, in: La conversione alla povertà nell'Italia dei secoli XII-XIV. Atti del XXVII Convegno storico intemazionale, Todi, 14-17 ottobre 1990, Spoleto 1991, 239-268 (s. M. D'ALATRI, in: CF 62 [1992], 726 f.); Nicole BÉRIOU U. François-Olivier TOUATI, „Volúntate Dei leprosus". Les lépreux entre conversion et exclusion aux XII e et XIII e siècles. (Testi, studi, strumenti 4), Spoleto 1991 (s. BF XVII, Nr. 397 und die Besprechung von O. van ASSELDONK, in: CF 65 [1995], 316 f.). Vgl. Kajetan ESSER, Anfänge und ursprüngliche Zielsetzungen des Ordens der Minderbrüder (Studia et Documenta Franciscana IV), Leiden 1966, 54—60 („Nicht seßhafte Wanderprediger"). Vgl. Gratien DE PARJS, Histoire de la fondation et de l'évolution de l'Ordre des Frères Mineurs au XIIIE siècle. Bibliographie mise à jour par Mariano D'ALATRI et Servus GIEBEN (Bibliotheca Seraphico-Capuccina 29), Rom 1982, 11, Anm. 17.
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In der 'Regula non bullata' [= R e g N B ] , Kapfitel] X, das nach David Ethelbert Flood OFM 9 in seiner Grundstruktur auf die Zeit vor dem IV. Laterankonzil (1215) zurückgeht, schreibt Franziskus vor, daß kein Bruder, der irg e n d w o v o n einer Krankheit befallen wird, von den Begleitern seinem Schicksal überlassen werden darf. Vielmehr sollen sie einen Bruder - im Bedarfsfall sogar mehrere - bestimmen, „die ihm dienen, w i e sie selber bedient werden wollten" 1 0 (vgl. Mt 7,12). D e n heutigen Leser verwundert zunächst die Unbestimmtheit der „sie"; näherhin jener Verantwortlichen, die mit der Aufgabe betraut werden, fur den kranken Bruder die nötige Vorsorge zu treffen. Es könnte sich dabei - dies gilt namentlich fur die Frühzeit - um einen der beiden Brüder, dem bei der Aussendung temporär, d.h. für die Zeit der Predigtmission, eine g e w i s s e Leitungsaufgabe über den Gefährten zugewiesen war, handeln." Etwa v o m Zeitpunkt nach 1214 an, da die Brüderschaft in Eremitorien seßhaft zu werden begann, ist zu vermuten 1 2 , daß die „Minister und Diener der anderen Brüder" es waren, denen die Sorgepflicht fur Kranke anvertraut war. D i e s e n kommt ja nach der ' R e g N B ' u.a. die Aufgabe zu, die „Brüder auf die
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David FLOOD, Die Regula non bullata der Minderbrüder (Franziskanische Forschungen 19), Werl/Westf. 1967, 139. 10 Vgl. Kajetan ESSER, Die Opuscula des hl. Franziskus von Assisi. Neue textkritische Edition. Zweite, erweiterte und verbesserte Auflage besorgt von Engelbert GRAU (Spicilegium Bonaventurianum XIII), Grottaferrata (Romae) 1989, 386 f. (Ich zitiere immer nach dieser Edition und zwar mit dem Sigel: ESSER-GRAU, Op): Si quis fratrum in inflrmitate ceciderit, ubicumque fuerit, alii fratres non dimittant eum, nisi constituatur unus de fratribus vel plures, si necesse fuerit, qui serviant ei, sicut vellent sibi serviri. Die Schriften des hl. Franziskus von Assisi. Einführung, Übersetzung, Erläuterungen Lothar HARDICK und Engelbert GRAU. (Franziskanische Quellenschriften, 1), Werl/Westf. 8 1984, 188 (fortan zitiere ich diese Übersetzung mit: HARDICK-GRAU, Schriften). Sie übersetzen: „Wenn einer der Brüder schwer [Heraushebung von mir] krank werden sollte ...", was sinngemäß richtig ist, jedoch über den Wortlaut hinausgeht. - Zu diesem Kapitel der RegNB ist mir allein der kurze Kommentar von Kajetan ESSER („Melius catholice observemus". Eine Erklärung der Regel unseres Ordens im Lichte der Schriften und übrigen Worte des heiligen Franziskus, in: Werkbuch zur Regel des hl. Franziskus, Werl/Westf. 1955, 127-258; 198 f.) bekannt. - Weil in den Fragmenta alterius Regulae non bullatae I, 71: ESSER-GRAU, Op, 304; II, 21: 309; III, 4: 311 f. (vgl. auch: Giorgio M. VIGNA, Synopsis Regularum sancti Francisci Assisiensis, S. Maria degli Angeli - Assisi 1997, 36) allein redaktionelle Abweichungen vorkommen, die den Sinn der Aussagen nicht verändern, erübrigt sich eine einzelne Analyse dieser Texte. 11 So habe Franziskus (vgl. Legenda trium sociorum, Nr. 46: Fontes Franciscani, hg. v. E. MENESTÒ e S. BRUFANI u.a. (Medioevo Francescano Testi 2), [S. Maria degli Angeli], Edizioni Porziuncola (1995) - fortan zit.: Fontes Franc., 1419) - nach seinem Entscheid, zu unserer Mutter, zur heiligen römischen Kirche zu gehen - den 11 Brüdern mitgeteilt: Faciamus unum ex nobis ducem nostrum et habeamus ipsum quasi vicarium Iesu Christi... 12 Vgl. O. SCHMUCKI, „Secretum solitudinis". De circumstantiis externis orandi penes S. Franciscum Assisiensem, in: CF 39 (1969), 5-58, 25 (Nr. 3).
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Provinzen und Niederlassungen" zu verteilen. 13 Der Verantwortliche wird - j e nach dem besonderen Fall - die Pflege des auf dem W e g Erkrankten einem oder gar mehreren Brüdern übertragen. Ihm bzw. ihnen wird eindringlich das B e f o l g e n der Goldenen Regel anempfohlen: „Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen!" (Mt 7,12). Die evangelische Anweisung wird hier auf den besonderen Fall der Krankenpflege angewendet. Die damit beauftragten Brüder sollen sich dem Dienst am siechen Mitbruder so hingeben, w i e sie dies für sich erwarten würden, w e n n sie selber krank wären. 1 4 Damit erklärt der Ordensgründer die Eigenerwartung zum Maß zwischenmenschlichen Verhaltens. 1 5 Es mag erstaunen, daß sich hier Franziskus nicht auf das Motiv beruft, das die Krankenpflege, besonders seit der 'Regula monasteriorum' des hl. Benedikt, inspiriert, daß der Pfleger im Kranken Christus selber dient. 16 Für den evangelischen Radikalismus der frühfranziskanischen Lebensform ist kennzeichnend, daß keine gemeinsame Pflegestätte vorgesehen wird, w o der bettlägerige Bruder hätte untergebracht werden können. Es liegt nahe, daß der Ordensgründer als A u s w e g zunächst an die Hospizien und Leprosorien dachte, w o die Brüder zeitweilig Aufnahme fanden, indem sie sich an der Pflege der Kranken aktiv beteiligten. 1 7 Nur im Falle „höchster Notwendigkeit"
13 RegNB IV, 2F.: ESSER-GRAU, Op, 380. Natürlich erhebt sich die Frage, wann genau dieses Kap. der Urregel von 1209 hinzugefügt worden ist. Vgl. David E. FLOOD, Die Regula non bullata (wie Anm. 9), 113. Mangels ausdrücklicher Aussagen der Quellen oder indirekter Hinweise in den Schriften selber ist eine Datierung unmöglich. 14 RegNB X, 2: ebd., 387: .. qui serviant ei, sicut vellent sibi serviri. Die Edd. verweisen in Anm. 8 auf Augustinus, Epistulae classis II, Ep. 40, IV, 4: PL 33, 155, als mögliche Quelle für Franziskus bzw. den von ihm für Formulierung des Textes in Anspruch genommenen Minderbruder. 15 Vgl. A. SAND U. G. W. HUNOLD, Goldene Regel, in: LThK IV (31995), 821-823 (Lit.). 16 Diese Idee war Franziskus zweifellos nicht fremd, wie es sich aus biographischen Berichten ergibt; s. Oktavian SCHMUCKJ, Das Leiden Christi (wie Anm. 1), 59-62, 59 f. Vgl. zur Motivgeschichte z.B. J. AGRIMI U. Ch. CRISCIANI, Malato, medico e medicina nel Medioevo. (Storia della scienza 19), Turin [1980], 95-138 („Gli uomini di Chiesa: regole e assistenza"), bes. 100 f. (Benedikt); I. NOYE, Maladie, in: DSAM [= Dictionnaire de spiritualité ascétique et mystique] X, Paris 1980, 137-152, bes. 140-149 („L'usage chrétien de la maladie"); H. SCHIPPERGES, Die Kranken im Mittelalter, München 31993, 175-179 („Krankenversorgung in der Klostermedizin"), bes. 177. 17 Als Beispiel sei die gastfreundliche Aufnahme der zwölf ersten Minderbrüder im Hospital des hl. Antonius beim Lateran 1209 angeführt; s. O. SCHMUCKJ, Das Leiden Christi (wie Anm. 1 ), 15 f. (mit Lit. und Quellennachweis). - Sehr kennzeichnend ist sodann der Bericht der Compilatio Assisiensis [richtiger: Perusina], Nr. 65: Fontes Franc, (wie oben, Anm. 11), 1562: Quodam tempore [d.h. wohl 1213/14] beatus Franciscus ibat per vollem Spoletanam et ibat cum eo frater Pacißcus, qui fuit de Marchia Anconitana et in seculo vocabatur 'rex versuum ', nobilis et curialis doctor cantorum. Et hospitati sunt in hospitali leprosorum de Trevio [Trevi bei Spoleto], - Für die Zeit und historischen Umstände darf ich verweisen auf meine Studie: Franciscus „Dei laudator et cultor", in: Laurentianum 10 (1969), 3-36; 173-215; 245-282; 199 f.
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durfte der Kranke einer Drittperson außerhalb der Brüderschaft zur Fürsorge übergeben werden. 1 8 Dabei denkt man unwillkürlich an Häuser kirchlicher Amtsvertreter, w i e Priester oder Bischöfe, an Klöster 1 9 oder an befreundete Familien, die auf eine ausdrückliche Bitte hin den schwer erkrankten Minderbruder in Pflege nahmen. Für Franziskus selber wissen wir, daß er u m 1216/17 - wohl infolge eines Fieberanfalls - die Gastfreundschaft und Pflege v o n Bischof Guido II. in Assisi annehmen mußte. 2 0 Leider haben sich meines Wissens keine Berichte über die Krankheitsformen von Minderbrüdern während ihrer Wanderpredigt erhalten. Es waren jedenfalls: Malariaanfälle nach Durchwandern von Sumpfgegenden; totale Erschöpfungszustände als Folge ungenügender und unregelmäßiger Ernährung trotz unvorstellbar langer Fußmärsche 2 1 ; schwere Erkältungen, Lungen- und Nierenentzündungen oder Rheumarthritis nach tagelangem Durchnäßtwerden oder Übernachten im Freien bei völlig unzulänglichem Kleiderschutz - gestattet waren ja bloß ein Habit, eventuell ein Unterhabit und kurze Höschen 2 2 ; auch Tuberkulose; sogar Aussatz oder ernstere körperliche Verletzungen, etwa durch Bein- und Armbrüche.
18 ... sed in maxima necessitate possunt ipsum dimitiere alicuipersonae quae suae debeat satis/acere infirmitati: RegNB Χ, 2: ESSER-GRAU, Op, 387. 19 In diesem Zusammenhang darf man sicher an Benediktinerklöster denken: „Neben der klosterinternen Krankenabteilung [dem infirmarium] besaß nahezu jedes Kloster eine Herberge zur Pflege von kranken Durchreisenden (cella hospitum, hospitium ...). Während demnach fur den Konvent interne Krankenräume zur Verfügung standen, die infirmaría, organisierte man für die Aufnahme der Kranken, Armen und Pilger ein eigenes, extern gelegenes Haus, das hospitale pauperum": H. SCHIPPERGES, Krankheit, V. Mittelalter, in: TRE [= Theologische Realenzyklopädie] 19 (1990), 689-694; 691 (Zitat), 693 f. (Lit.). Daß der Poverello tatsächlich mit Benediktinerklöstern Verbindungen hatte, ergibt sich aus Quellenberichten und der entsprechenden Literatur; s. Collectanea Franciscana - Bibliographia Franciscana [= CF-BF], Index 1931-1970, 210a („Benedictinorum amicitia"). 20 Vgl. die entsprechenden Hinweise in meiner Studie: Les maladies de S. François (wie Anm. 1), 24-27; für die letzte Lebenszeit s. DERS., Le malattie di Francesco (wie Anm. 1), 349-353. 21 Ein kennzeichnendes Beispiel berichtet II Cel 114: E. GRAU, 324: „Der heilige Franziskus wanderte einmal nach Bevagna. Da geschah es, daß er infolge des Fastens vor Schwäche das Städtchen nicht mehr erreichen konnte. Sein Gefährte aber schickte einen Boten zu einer geistlichen Frau und ließ demütig für den Heiligen um Brot und Wein bitten." 22 Vgl. RegNB II, 13, in: ESSER-GRAU, Op, 379: Alii vero fratres qui promiserunt obedientiam, habeant unam tunicam cum caputio et aliam sine caputio, si necesse fuerit, et cingulum et braceas. - Für die nachstehend genannten Krankheiten von Malaria, Tuberkulose und Lepra s. die Hinweise von J. SCHATZLEIN U. D. P. SULMASY, The Diagnosis of St. Francis (wie Anm. 5), 196-200; nicht einsehen konnte ich: Stefan WINKLE, Geißeln der Menschheit - Kulturgeschichte der Seuchen, Zürich 1997; s. die sehr positive Besprechung von H. FELDMEIER, in: Neue Zürcher Zeitung, Mittwoch, 18. März 1998, Nr. 64, S. 46c-d.
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In einem zweiten Teil des Regelstatuts wendet sich Franziskus an den von der Krankheit betroffenen fratrem infirmum selber, den er zunächst bittet, er solle für all das, was er erleidet, dem Schöpfer Dank sagen 23 . Zudem sei er bestrebt, sich dem Willen Gottes gänzlich anzugleichen, gleichviel ob er krank bleibe oder gesund werde. Sollte die Krankheit andauern, bedenke er, daß ihr Sinn in einer spirituellen Reinigung und Reifung besteht. Wen Gott für das ewige Heil bestimmt hat (vgl. Apg 13,48), den nimmt er „durch die Stacheln von Geißelschlägen 24 und Krankheiten" in die Schule, um ihn zur Besinnung zu bringen und in ihm Reuegesinnung 25 hervorzurufen. Der Ordensgründer unterbaut diese heilspädagogische Schau, indem er die Worte aus Offb 3,19 anführt: „Die ich liebe, die weise ich zurecht und züchtige ich".26 Die zwei Bibelzitate aus Apg 13,48 und Offb 3,19 dürften zu jenen gehören, mit denen Br. Cäsar von Speyer im Auftrag des Poverello die RegNB „durch Worte aus dem Evangelium" ausgeschmückt hat.27 Spätestens hier stellt sich natürlich die Frage, inwieweit diese Vorstellung vom strafenden Gott, der die Geißel der Krankheit zur Prüfung der Getreuen schwingt, tatsächlich der Frömmig-
23 Et rogo fratrem infirmum, ut referai de omnibus gratias Creatori; et quod qualem vult eum Dominus talem se esse desideret sive sanum sive infirmum, quia omnes, quos Deus ad vitam praeordinavit aeternam (vgl. Apg 13,48), flagellorum atque infirmitatum stimulis et compunctionis spiritu erudii, sicut Dominus dicit: Ego quos amo corrige et castigo (Offb 3,19). Et si quis turbabitur vel irascetur sive contra Deum sive contra fratres, vel si forte sollicite postulaverit medicinas nimis desiderans liberare carnem cito morituram, quae est animae inimica, a malo sibi evenit et carnalis est, et non videtur esse de fratribus, quia plus diligit corpus quam animam: RegNB, X, 3—4: ESSER-GRAU, Op, 387; HARDICK-GRAU, Schriften, 188 f. - Wie sehr das Lob- und Dankgebet die Frömmigkeit des Ordensgründers prägte, ersieht man etwa aus dem Sachregister bei HARDICK-GRAU, Schriften, 344b (Danksagung), 356a (Lob Gottes, loben, Lobpreis Gottes). 24 Mit dem Wort flagella - weil durch et mit infirmitates verbunden - sind jedenfalls Schicksalsschläge - vorab im körperlichen Bereich - gemeint; s. A. BLAISE U. H. CHIRAT, Dictionnaire latin-français des auteurs chrétiens, Tumhout [1954], 355a „... (fig.) fléau, malheur (postcl.), peines, châtiments" (mit einem Zitat aus Augustin, das eine ähnliche Sinnbedeutung aufweist [flagellum Dei = Unterweisung zur Buße]). 25 Zu compunctionis spiritus (kommt in den Op nur hier vor!), s. Joseph PEGON, Componction, in: DSAM II (1953), 1312-1321. - Wer Franziskus in der Redigierung dieser Stellen beistand, inspirierte sich hier an GREGOR D. GR., Homilía in Evangelia XVII, 18: PL 76, 1148c; vgl. G. M. VIGNA, Synopsis Regularum (wie Anm. 10), 35, Anm. 10. 26 Vgl. zur Stelle z.B. H. RITT, Offenbarung des Johannes. (Die neue Echter Bibel. Neues Testament 21), [Würzburg 1986], 35b, der als biblische Quellen bzw. Parallelen hinweist auf: Spr 3,11 f.: Mein Sohn, verachte nicht die Zucht des Herrn, widersetz dich nicht, wenn er dich zurechtweist! Wen der Herr liebt, den züchtigt er, wie ein Vater seinen Sohn, den er gern hat; ebenso auf Hebr 12,4-13, und Jak 1,12. 27 Jordan von GIANO, O.Min., Chronik, 15: L. HARDICK, Nach Deutschland und England. Die Chroniken der Minderbrüder Jordan von Giano und Thomas von Eccleston (Franziskanische Quellenschriften 6), Werl/Westf. 1957, 51.
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keit des Heiligen entspricht, zumal sie in seinen „Schriften" sonst nirgendwo anzutreffen ist. Was der Heilige mit der spirituellen Reifung durch physisches Leiden genau meint, verdeutlicht er, indem er verschiedene Möglichkeiten negativer Reaktion aufzählt. So können sich im Erkrankten eine innere Unruhe, die offene Empörung wider Gott, die Erregung gegen die pflegenden Brüder28 und ein übertriebener Wunsch nach Arzneien einstellen, „da er zu sehr sein Fleisch zu befreien begehrt, das bald sterben wird und ein Feind der Seele ist"29. Das Urteil über solche Formen der Ablehnung ist hart: Sie stammen vom bösen Feind (a malo sibi evenit). Wer so reagiert, ist „fleischlich" gesinnt30 „und scheint nicht zu den Brüdern zu gehören, weil er den Leib mehr liebt als die Seele". Die restriktive Einstellung zur medizinischen Behandlung hängt nicht zuletzt mit der franziskanischen Armut zusammen, weil schon damals die Konsultation eines Arztes und der Erwerb der von ihm verordneten Arzneien zum Teil mit erheblichen Kosten verbunden waren.31 Soweit ein Vergleich mit der relativ schmalen Basis der übrigen Opuscula schlüssig ist, gehören unzweifelhaft zu Elementen des frühfranziskanischen Charismas: das Betonen der 'Goldenen Regel' in der Pflege kranker Brüder; deren Einladung zum Dank gegen Gott für ihre Leiden und zu ihrer vollen Einordnung in die göttliche Fügung und das Einhalten der evangelischen Armut hinsichtlich des Arztes und der Arzneien. Andere Momente - nicht zuletzt einzelne auf Augustin und Gregor zurückweisende Textelemente der an den kranken Bruder gerichteten Mahnung - dürften am ehesten auf das Konto eines gebildeten Bruders gehen.32 Hingegen entspricht die so akzentuierte Gegenüberstellung von Seele und Leib, die auch von anderen „Schriften" bezeugt wird, sicher Vorstellungen des Poverello. Wenn hier der Körper des kranken Minderbruders irgendwie verselbständigt und von seiner Seele gleich-
28 Mit fratres dürften die mit der Pflege beauftragten Minderbrüder gemeint sein, auch wenn sie nicht ausdrücklich als solche gekennzeichnet sind. 29 Übersetzung nach HARDICK-GRAU, Schriften, 188 f. 30 Vgl. in HARDICK-GRAU, Schriften, 292-294, den Exkurs 'Leib' und 'Fleisch'. Carnalis ist „der widerspenstige, böse Wille, der sich dem Guten widersetzt, der sich gegen Gott richtet, als das Prinzip des Widergöttlichen im Menschen" (294). Immerhin ist vom ganzen Kontext sicher auch der menschliche Körper im somatischen Sinn mit gemeint. 31 Vgl. u.a. bei Heinrich SCHIPPERGES, Die Kranken im Mittelalter (wie Anm. 16), 149f.: „Mineralien als Heilmittel" (so z.B. Edelsteine und Gold); J. AGRIMI U. Ch. CRISCIANI, Malato, medico (wie Anm. 16), wo in den italienisch übersetzten Dokumenten des öfteren vor der Habsucht der Ärzte gewarnt wird. Immerhin - so wird eingeschärft - sollen diese arme Patienten umsonst behandeln (198 f., 203 f.). 32 Vgl. hierzu Heinrich SCHIPPERGES, Krankheit V (wie Anm. 19), 688 f., '4. Kranksein als Weg zur geistigen Läuterung'.
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sam abgehoben wird, wirkt - unbewußt - eine durch alle Jahrhunderte bis ins Mittelalter unterschwellig anwesende platonische Tradition weiter.33 In Kap. XXIII, das in einem späteren Zeitpunkt mit Oratio et gratiarum actio umschrieben wird und das David Ethelbert Flood als einen laudaähnlichen Umriß der franziskanischen Lebensordnung für die am Minderbrüderleben interessierten Menschen auffaßt, wendet sich der Ordensgründer an die Vertreter der verschiedenen Berufe, Stände, Lebensalter und an Menschen in besonderen Lebenslagen. Neben einer Reihe anderer bittet er im Namen aller „Minderen Brüder" die sanos et infirmos, ut omnes in vera fide et poenitentia verharren.34
2. Pflege und innere Einstellung der Minderbrüder, die während des Wanderapostolats schwer erkrankten, nach der „bullierten" Regel Was die 'Regula bullata' [= RegB] von 1223 im Kap. VI vom Textbestand der 'RegNB' X übernimmt, ist auf den ersten Blick überraschend wenig: Et si quis eorum in infirmitate ceciderit, alii fratres debent ei servire, sicut vellent sibi serviri35. Weil ausdrückliche historische Zeugnisse darüber fehlen, sind wir allein auf Vermutungen angewiesen, warum die in der 'RegNB' an kranke Minderbrüder gerichtete Mahnung im Nachfolgetext der RegB gänzlich ausgelassen wurde. Es wäre zweifellos zu einfach anzunehmen, der Wegfall dieses 33 Für Franziskus s. HARDICK-GRAU, Schriften, 292-294 ('Leib' und 'Fleisch'); S. VERHEY, Der Mensch unter der Herrschaft Gottes. Versuch einer Theologie des Menschen nach dem hl. Franziskus von Assisi, Düsseldorf [1960], 211 (Register: Leib Feind der Seele - hassen). - Zum geistesgeschichtlichen Hintergrund s. z.B. J. B. METZ, Leib. III. Leib-Seele-Verhältnis, in LThK VI (21961), 902-905 „Piaton faßt das Verhältnis akzidentell: Der Leib erscheint als die in sich wesenlose, undialektisch hemmende und entfremdende Durchgangsphase des reinen Geistaufschwunges des Menschen ('Kleid', 'Kerker', 'Grab' u.a.)" (902); T. RENTSCH, Leib-Seele-Verhältnis, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. J. RITTER U. K. GRÜNDER, V, Basel/ Stuttgart 1980, 185-206. 34 Satz 7: ESSER-GRAU, Op, 400; D. E. FLOOD, Die Regula non bullata (wie Anm. 9), 134-136. „Kapitel XXIIII ist ein in dankbarem Jubel überschwenglicher Aufruf zur Buße" (134). Vgl. nun den ebenso ausführlichen wie eindringlichen Kommentar von Leonhard LEHMANN, Tiefe und Weite. Der universale Grundzug in den Gebeten des Franziskus von Assisi, Werl/Westf. 1984, 175-219 („Das große Dank- und Mahnlied in der Regula non bullata [RegNB XXIII]"). 35 Satz 9: ESSER-GRAU, Op, 369. Der Unterschied zwischen RegNB X und RegB VI ist bes. augenfällig in der Gegenüberstellung bei G. M. VIGNA, Synopsis Regularum (wie Anm. 10), 3 5 .
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Abschnitts sei allein der für die 'RegB' insgesamt feststellbaren Kürzungstendenz zuzuschreiben. Vielleicht erschien dem Kardinal Hugolin, der nach Ausweis seiner Regelerklärung 'Quo elongati' an der letzten Formulierung der 'RegB' direkten Anteil genommen hatte36, und den an der Textbereinigung ebenfalls beteiligten Ministri37, daß die angemahnten Haltungen vom durchschnittlichen Minderbruder doch zu viel verlangten und daß vorab das Urteil über darin versagende Kranke zu hart sei. Hingegen täuscht eine bloße Gegenüberstellung der dem Wortlaut nach übereinstimmenden Textteile beider Regeln über den wahren Sachverhalt hinweg. Es darf nicht übersehen werden, daß die Fürsorge für kranke Minderbrüder in der definitiven Regel als Sonderfall der evangelischen Bruderliebe behandelt wird; ein Text, der immer noch auf die Phase der nicht-seßhaften Wanderprediger anspielt und das Maß für die wechselseitige Offenheit und Hilfsbereitschaft der Brüder vom Vorbild der Kindesliebe einer Mutter herleitet: „Und wo immer die Brüder sind und sich treffen, sollen sie sich einander als Hausgenossen erzeigen. Und vertrauensvoll soll einer dem andern seine Not offenbaren; denn wenn schon eine Mutter ihren leiblichen Sohn nährt und liebt (vgl. 1 Thess 2,7), um wieviel sorgfaltiger muß einer seinen geistlichen Bruder lieben und ernähren?"38 So hoch wie der übernatürliche den natürlichen Bereich überragt, so sehr müssen die Beziehungen unter Minderbrüdern die hingebende Liebe einer Mutter noch übersteigen. Im gleichen thematischen Kontext, ohne freilich das Problem kranker Brüder eigens zu erwähnen, verwendete schon die 'RegNB' IX, 10-11, dieselbe Analogie, auch wenn sie hier literarisch noch schlichter formuliert war: „Und vertrauensvoll soll einer dem anderen seine Not offenbaren, damit er ihm das Notwendige ausfindig mache und verschaffe. Und jeder liebe und ernähre seinen Bruder, wie eine Mutter ihren Sohn liebt und ernährt (vgl. 1 Thess 2,7); dabei wird Gott ihm [d.h. dem die Liebe erweisenden Bruder] Gnade schenken."39 Das Motiv der mehr als mütterlichen Liebe in der Krankenfürsorge fehlt m.W. in vorfran36 Vgl. H. GRUNDMANN, Die Bulle 'Quo elongati' Papst Gregors IX. [vom 28. September 1230], in: AFH [= Archivum Franciscanum Historicum] 54 (1961) 3-25, 20f. Lin. 2 5 28: Et cum ex longa familiaritate, quam idem Confessor [Franciscus] nobiscum habuit, plenius noverimus intentionem ipsius et in condendo predictam Regulam et obtinendo confirmationem ipsius per Sedem Apostolicam sibi astiterimus ...; s. auch: ESSER-GRAU, Op, 365. Vgl. zum Problem RegNB-RegB: L. IRIARTE, Lo que San Francisco hubiera querido decir en la Regla, in: Estudios Franciscanos 77 (1976), 375-391. 37 Vgl. besonders Gratien de PARIS, Histoire de la fondation (wie Anm. 8), 100-107. „Saint François ne reçut donc pas toute faite du ciel, cette Règle dont la composition, lente et pénible, sortit de la collaboration du fondateur, des ministres et du cardinal Hugolin" (101). - Weitere neuere Literatur s. bei ESSER-GRAU, Op, S. XXXII f. 38 HARDICK-GRAU, Schriften, 169f.; Satz 7f.: ESSER-GRAU, Op, 369. - Vgl. über „diese mehr als mütterliche, weil göttliche Liebe" nach Franziskus K. ESSER, „Melius catholice observemus" (wie Anm. 10), 194—200. 39 HARDICK-GRAU, Schriften, 187; für den lateinischen Text s. ESSER-GRAU, Op, 386.
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ziskanischen Ordensregeln. Weil die Mutter-Analogie in den 'Schriften' auch anderweitig auftritt, legt sich die Annahme nahe, sie sei einem besonders engen Verhältnis des Heiligen zur eigenen Mutter entsprungen. 40 Die 'RegB' IV, 2 erwähnt kranke Brüder nochmals im Zusammenhang mit dem absoluten Geldverbot. Einzig für „die Bedürfnisse der Kranken und die Bekleidung der anderen Brüder" - also für zwei in der Beobachtung der absoluten Armut besonders schwierige Sonderfälle - steht es allein den Ministern und Kustoden zu, die Hilfe geistlicher Freunde anzurufen, damit sie aus ihrem eigenen Vermögen in Fällen unumgänglicher Not für Abhilfe sorgen. 41 Es sei eigens hervorgehoben, daß in der 'RegNB ' VIII, 3/7 die Pflege kranker Brüder vom allgemeinen Geldverbot ausdrücklich ausgenommen worden war. Freilich war auch dann das Erbitten von Geldalmosen nur fur besondere Notfalle erlaubt. 42 In den beiden Regeln verbietet Franziskus das Reiten auf einem Pferd, weil es sich hierbei um ein Statussymbol höherer und begüteter Schichten handelt, nimmt jedoch davon Brüder aus, die infirmitate vel magna necessitate cogantur43. Auch wenn infirmitas „nicht nur Krankheit, sondern noch umfassender 'körperliche Schwäche'" bedeuten kann, wie Lothar Hardick und Engelbert Grau richtig anmerken 44 , dürfte dem Heiligen hier vor allem die Lage eines Minderbruders vor Augen gestanden sein, dem das Zurücklegen der Wegstrecke zu Fuß bis zur nächsten Niederlassung wegen Krankheit unmöglich war. So ritt der Heilige bei seiner Rückkehr aus Ägypten 1220 auf einem Esel, weil debilis homo erat et infirmus, wie ein Gefährtenbericht durchaus glaubwürdig überliefert. 45
40 Vgl. die entsprechende Lit. über seine Mutter „Pica" und den „mütterlichen" Charakter seiner Liebe in CF-BF. Index, 2 I 0 a - b (mater eius ...) und 211b (caritas [...] sensus maternus). 41 RegB IV, 2: ESSER-GRAU, Op, 368: Tarnen pro necessitatibus infirmorum et aliis fratribus induendis, per amicos spirituales, ministri tantum et custodes sollicitam curam gérant...;
HARDICK-GRAU, S c h r i f t e n , 1 6 8 .
42 Unde nullus fratrum, ubicumque sit et quocumque vadit, aliquo modo tollat nec recipiat nec recipi faciat pecuniam aut denarios neque occasione vestimentorum nec librorum nec pro pretio alicuius laboris, immo nulla occasione, nisi propter manifestam necessitatem infirmorum fratrum ...: ESSER-GRAU, Op, 384. 43 RegNB XV, 2: ESSER-GRAU, Op, 389; RegB III, 12: 368: Et non debeant equitare, nisi manifesta necessitate vel infirmitate cogantur. - Vgl. Κ. ESSER, Melius catholice... (wie Anm. 10), 169f.: „Das Reiten war damals ein Vorrecht der großen Herren. Wer Macht hatte oder wer reich war, konnte es sich erlauben und leisten, zu Pferd zu reisen. Die Minderbrüder sollten sich aber, wenn sie unterwegs waren, weder den Mächtigen noch den Reichen angleichen ...". 44
HARDICK-GRAU, S c h r i f t e n , 1 6 8 , A n m . 2 2 ; v g l . a u c h A . BLAISE U. H . CHIRAT, D i c t i o n -
naire latin-français (wie Anm. 24), 442a. 45 Comp. Assis. [Perusina], Nr. 72: Fontes Franc., 1575 f. - Vgl. auch für eine andere Gelegenheit: I Cel 63: Fontes Franc., 339 ... accidit beatum Franciscum ad dictum lo-
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3. Autobiographische Hinweise auf Krankheiten des Franziskus in einzelnen 'Opuscula' Hinweise auf eigene Krankheiten des Poverello fehlen in den Opuscula ebenfalls nicht. Weil er propter infirmitatem et debilitatem [...] corporis einzelne Adressaten - mutmaßlich „Brüder und Schwestern von der Buße" - nicht persönlich besuchen konnte, beschloß er, ihnen zu einem leider nicht mehr genau bestimmbaren Zeitpunkt durch einen Brief und beauftragte Boten das spirituelle Lehrschreiben der sogenannten 'Epistola ad fideles II' zu übersenden.46 Wie auch aus anderen Quellentexten hervorgeht, ist es für Franziskus kennzeichnend, daß er sich fur seine evangelische Ausstrahlung von keiner noch so schweren Erkrankung hemmen ließ. Seiner 'Epistola toti Ordini missa' fugt Franziskus - wohl um 1225 oder 1226 - ein Confiteor ein, weil er die Gott versprochene Regel, besonders was die darin enthaltenen Vorschriften über das Göttliche Offizium betrifft, nicht eingehalten habe, sive negligentia sive infìrmitatis meae occasione sive quia ignorons sum et idiota47. Der Heilige bekennt hier sein Ungenügen im Vollzug des Stundengebets, u.a. weil unterdessen sich sein allgemeiner Gesundheitszustand durch die chronisch gewordene Malaria und die Sehkraft wegen der körnigen Bindehautentzündung, der sogenannten ägyptischen Augenkrankheit, ständig verschlechtert hatten.48 In seinem im September oder Anfang Oktober 1226 diktierten Testament nimmt der sterbende Ordensgründer sich vor: „Und obwohl ich einfältig und krank bin, will ich doch immer einen Kleriker haben, der mit mir das Offizium [nach dem Brauch der römischen Kurie] hält, wie es in der Regel steht."49 Der beste Kenner der frühfranziskanischen Liturgie, Stephen Joseph Peter van Dijk OFM beleuchtet den Hintergrund dieser zunächst eigenartigen Aussage. Aufgrund seiner wachsenden Erblindung wäre Franziskus von der Rezitationspflicht des Offiziums entbunden gewesen. Er nahm jedoch im Hinblick auf cum [Arezzo] per aliam viam transiere: iverat enim eques, eo quod erat debilis et infirmus. 46 Satz 3: ESSER-GRAU, Op, 208; ebd., 213-215, s. die Andeutungen über die Abfassungszeit und Adressaten dieses Schreibens; S. XXXI, s. die neuere Literatur darüber; vgl. auch HARDICK-GRAU, Schriften, 59 (Einleitung) und 60 (Text). 4 7 Satz 3 8 f . : ESSER-GRAU, Op, 262; 2 6 4 - 2 6 9 („Einzelfragen"); HARDICK-GRAU, Schrif-
ten, 93. Gegenüber der Frühdatierung durch Kajetan Esser („nach Februar/März 1220": 265) glaube ich mit triftigen Gründen 1225/26 als Abfassungsjahr nachgewiesen zu haben: La „Lettera a tutto l'Ordine" di san Francesco, Rom 1980, 3-6. 48 Vgl. O. SCHMUCKI, La „Lettera ..." (wie Anm. 47), 28-33, besonders 32, wo ich andere Momente seines Confiteor zu erklären versucht habe. Vgl. auch DERS., Gotteslob und Meditation nach Beispiel und Anweisung des hl. Franziskus von Assisi, Luzern 1980, 2 5 f. 49 Satz 29: HARDICK-GRAU, Schriften, 219; s. den lateinischen Urtext bei ESSER-GRAU, Op, 442. - Ebd., S. XXIV f., vgl. die neuere Lit. zum Test.
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seine Sendung, forma Minorum - ein lebendiges Vorbild der Minderbrüder zu sein, Zuflucht zu einer bei Weltklerikern und Mönchen länger zuvor geübten Praxis, sich von einem Kleriker-Mitbruder die Gebetsstunden vorlesen zu lassen.50 Aus seiner letztwilligen spirituellen Verfügung im Testament wurden in den letzten Jahren wohl wenige Sätze so verschieden und kontrovers gedeutet wie dessen Einleitung: „So hat der Herr mir, dem Bruder Franziskus, gegeben, das Leben der Buße zu beginnen: denn als ich in Sünden war, kam es mir sehr bitter vor, Aussätzige zu sehen. Und der Herr selbst hat mich unter sie geführt, und ich habe ihnen Barmherzigkeit erwiesen. Und da ich fortging von ihnen, wurde mir das, was mir bitter vorkam, in Süßigkeit der Seele und des Leibes verwandelt."51 Auch aus anderen zeitgenössischen Quellen wissen wir, daß der Aussatz damals als besonders abstoßende Erkrankung galt. „Betroffen ist in erster Linie das Antlitz, das seine menschlichen Züge verliert [...] Die Stimme wird hohl und kreischend, katzenhaft. Der Körper bekommt einen süßlichen Fäulnisgeruch. Das Humanum verschwindet hinter der Maske der Bestie."52 Weil die Familie des Fernkaufmanns Pietro di Bernardone in der Ebene unweit vom Aussätzigenspital San Lazzaro in Arce Besitzungen hatte53, war es für Francesco kaum zu vermeiden, an Aussatz Erkrankten zu begegnen, wenn er im Namen des Vaters dieses Landgut besuchte. Thomas von Celano 50 Ursprung und Inhalt der franziskanischen Liturgie des 13. Jahrhunderts, in: Franziskanische Studien 51 (1969), 86-116, 192-217, 194 f. 51 Dominus ita dedit mihifratri Francisco incipere faciendi poenitentiam: quia cum essem in peccatis, nimis mihi videbatur amarum videre leprosos. Et ipse Dominus conduxit me inter illos et feci misericordiam cum Ulis. Et recedente me ab ipsis, id quod videbatur mihi amarum, conversum fuit mihi in dulcedinem animi et corporis (Sätze 1-3: EsSER-GRAU, Op, 438; fìir die deutsche Übersetzung: HARDICK-GRAU, Schriften, 217). Es kann sich hier natürlich nicht darum handeln, alle jüngst vorgebrachten Interpretationen zu referieren, zumal mir hier - vom gestellten Thema her - allein die auf die Aussätzigenpflege bezogenen Gesichtspunkte hervorzuheben obliegt. Zudem sei mir gestattet, auf meine Studie zurückzuverweisen: Zur Mystik des hl. Franziskus von Assisi im Licht seiner „Schriften", in: Abendländische Mystik im Mittelalter. Symposion Kloster Engelberg 1984, hg. v. Kurt RUH (Germanistische Symposien. Berichtsbände, VII), Stuttgart 1986, 241-268; 247 f. - Vgl. nun auch Ulrich KÖPF, Leidensmystik in der Frühzeit der franziskanischen Bewegung, in: Von Wittenberg nach Memphis. Festschrift für Reinhard Schwarz, hg. v. W. HOMOLKA U. O. ZIEGELMEIER, Göttingen 1989, 137-160, bes. 141-144, mit eindringendem Kommentar. 52 Vgl. H. SCHIPPERGES, Die Kranken im Mittelalter (wie Anm. 16), 100-104, 101 (Zitat); J. AGRIMI U. Ch. CRISCIANI, Malato, medico ... (wie Anm. 16), 14-18, mit ebenfalls bemerkenswerten Ausführungen. Hier sei auch hingewiesen auf ein Zitat aus Jacques DE VITRY (123-126), der ausdrücklich vom fast unausstehlichen Gestank in den Leprosorien berichtet (124). 53 Vgl. A. FORTINI, I documenti degli archivi assisani e alcuni punti controversi della vita di san Francesco, in AFH 43 (1950), 3^*4; 17 f. und 23-31.
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berichtet in der 'Vita prima': „So entsetzlich kam ihm [...] einst der Anblick v o n Aussätzigen vor, daß er sich mit der Hand die N a s e zuhielt, w e n n er zur Zeit seines Weltlebens aus einer Entfernung v o n etwa z w e i Meilen ihre Häuser nur sah." 54 In diesen historischen Kontext muß das zuvor angeführte autobiographische Zeugnis im 'Testament' eingefügt werden. Nachdem Herr Francesco selber mit Leprakranken zusammenkam, u m ihnen mitfühlende Hilfe zu erweisen, erfolgte eine grundlegende Umschichtung seiner Empfindungswelt. Wie er sich von der Hand des Herrn erstmals zum Überschreiten der instinktiven Abwehrschwelle fuhren ließ, erfaßte ihn ein so unbeschreibliches mystisches Wonnegefühl, daß es von der Personmitte auf den leiblichen Bereich ausstrahlte.
4. Das Beispiel unbußwilliger Todkranker in der 'Epistola ad Fideles I-II' In beiden Redaktionen der 'Epistola ad Fideles I' 55 und der 'Epistola ad Fideles II' 56 liegt ein kennzeichnendes Beispiel der Bußpredigt des Franziskus vor,
54 I Cel 17: Thomas von Celano, Leben und Wunder des hl. Franziskus von Assisi. Einführung, Übersetzung, Anmerkungen v. E . GRAU, Werl/Westf. 4 1 9 8 8 , 9 2 . 55 Et nihil habetis in hoc saeculo neque in futuro. Et putatis diu possidere vanitates huius saeculi, sed decepti estis, quia veniet dies et hora, de quibus non cogitatis, nescitis et ignoratis; inßrmatur corpus, mors appropinquai et sic moritur amara morte. Et ubicumque, quandocumque, qualitercumque moritur homo in criminali peccato sine poenitentia et satisfactione, si potest satisfacere et non satisfacit, diabolus rapit animam suam de corpore eius cum tanta angustia et tribulatione, quod nemo potest scire, nisi qui recipit. Et omnia talenta et potestatem et scientiam et sapientiam (2 Chr 1,12), quae putabant habere, auferretur [!] ab eis (vgl. Lk 8,18; Mk 4,25). Etpropinquis et amicis relinquunt et ipsi tulerunt et diviserunt substantiam eius et dixeruntpostea: 'Maledicta sit anima sua, quia potuit plus dare nobis et acquirere quam non acquisivit '. Corpus comedunt vermes, et ita perdiderunt corpus et animam in isto brevi saeculo et ibunt in inferno, ubi cruciabuntur sine fine (Teil II, Satz 14-18: ESSER-GRAU, Op, 179 f.). - Vgl. nun - ergänzend zur Ed. critica von ESSER-GRAU: R . PAZZELLI, Il titolo della „Prima recensione della lettera ai fedeli". Precisazioni sul Codice 225 di Volterra (cod Vo), in: Analecta TOR 19/142 (1987), 233-240; engl.: 241-248, und besonders Leonhard LEHMANN, „Exultatio et exhortatio de poenitentia". Zu Form und Inhalt der 'Epistola ad Fideles I', in: Laurentianum 29 (1988), 564-608; s. meine Kurzbesprechung dazu in: CF 60(1990), 257 f. 56 II, Satz 72-85: ESSER-GRAU, Op, 212 f.: lnfirmatur corpus, mors appropinquai, veniunt propinqui et amici dicentes: 'Dispone tua '. Ecce uxor eius et filii eius et propinqui et amici fingunt flere. Et respiciens videi eos flentes, movetur malo motu; cogitando intra se dicit: 'Ecce animam et corpus meum et omnia mea pono in manibus vestris '. Vere, iste homo est maledictus, qui confidit et exponit animam suam et corpus et omnia sua in
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in der das Sterben eines unbußfertigen Sünders vorgestellt wird. In der ersten Fassung wendet sich Franziskus an eine Vielzahl von Lesern, die sich dem Aufruf zur evangelischen Umkehr und zur Rückgabe unrechtmäßig erworbener Güter hartnäckig verweigern. In der zweiten Fassung fuhrt der Heilige die der Buße sich Verschließenden auf eine Einzelperson zurück, die somit zur Symbolfigur erhoben wird. Dabei steht der Bußunwillige nicht nur anstelle einer Mehrzahl, sondern seine Verweigerung vor dem ans Sterbebett gerufenen Priester wird gleichsam in Szene gesetzt. Die Inszenierung in 'Ep. Fid. II' folgt einem psychologisch sehr geschickt rekonstruierten Ablauf des Geschehens in der Krankenstube. Die Verwandten und Freunde werden sich des Ernstes der Lage des Sterbenskranken voll bewußt. Sie fordern ihn darum unverblümt auf, sogleich die letztwilligen Verfugungen über seinen Besitz zu treffen. Die Frau, die Kinder, die Verwandten und Freunde, welche das Bett des Sterbenden umstehen, brechen in Tränen aus. Der Briefschreiber setzt voraus, daß das gemeinsame, fast wie auf Kommando erfolgte Weinen allein von materiellen Interessen bestimmt war. An diesem Punkt blickt der Todkranke auf und wird von der Teilnahme der Seinen tief bewegt. Aus dieser Gemütswallung heraus zeigt er sich sofort bereit, sein gesamtes Hab und Gut, ebenso die bevorstehende Beerdigung des Leibes dem engeren Verwandtenkreis zu überlassen. Die zweimalige Aufforderung: ecce (seht), womit Franziskus Sätze des ersten Teils beginnen läßt, zeugt davon, wie sehr er als Erzähler den Leser ins Geschehen einbeziehen möchte. Erst nachdem die Frage der Erbfolge erledigt ist, denken die Verwandten daran, entsprechend christlicher Lebensübung den Priester ans Sterbebett zu rufen. Auch hier wird die Aussprache zwischen Seelsorger und Sterbendem in einzelnen Momentaufnahmen ebenso realistisch wie glaubwürdig wiedergetalibus manibus; unde Dominus per prophetam: Maledictus homo, qui confìdit in homine (Jer 17,5). Et statim faciunt venire sacerdotem; dicit ei sacerdos: 'Vis recipere poenitentiam de omnibus peccatis tuis? ' Respondet: 'Volo '. 'Vis satisfacere de commissis et his quae fraudasti et decepisti homines, sicut potes, de tua substantia? '. Respondet: 'Non '. Et sacerdos dicit: 'Quare non? ' 'Quia omnia disposui in manibus propinquorum et amicorum '. Et incipit perdere loquelam et sic moritur ille miser. - Sed sciant omnes, quod ubicumque et qualitercumque homo moriatur in criminali peccato sine satisfactione et potest satisfacere et non satisfecit, diabolus rapii animam eius de corpore suo cum tanta angustia et tribulatione, quantam nullus scire potest, nisi qui recipit. Et omnia talenta et potestas et scientia, quam putabat habere (vgl. Lk 8,18), auferetur ab eo (Mk 4,25). Et propinquis et amicis relinquit, et ipsi tollent et divident substantiam eius et dicent postea: 'Maledicta sit anima eius, quia potuit plus dare nobis et acquirere quam non acquisivit'. Corpus comedunt vermes; et ita perdit corpus et animam in isto brevi saeculo et ibit in inferno, ubi cruciabitur sine fine. - Zu dieser Fassung - die erste war ihm damals noch unbekannt - s. Kajetan ESSER, Der Brief des hl. Franziskus an die Gläubigen, in: DERS.; Studien zu den Opuscula des hl. Franziskus von Assisi, hg. v . E d m u n d KURTEN u. I s i d o r o DE VILLAPADIERNA, R o m 1 9 7 3 , 3 4 1 - 3 5 0 , w o er j e d o c h
diese Stelle nicht kommentiert.
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geben. Der Priester fragt den Sterbenden, ob er die Buße für die begangenen Sünden annehmen wolle. Das klare Ja des Beiragten läßt den Priester nach seiner Bereitschaft weiterfragen, ob er für unrecht Erworbenes Genugtuung leisten wolle. Der Sterbende hat jedoch allen Besitz zuvor den Seinen vermacht und ist darum nicht mehr imstande, der Forderung nachzukommen. Weil er diese Bedingung nicht erfüllen will bzw. nicht mehr erfüllen kann, verliert er das Anrecht auf die sakramentale Sterbehilfe, verscheidet kurz darauf in Angst und Verzweiflung. Nach der Überzeugung des Briefschreibers wird der Verstorbene eine Beute Satans und fällt der ewigen Verdammnis anheim. Ob Franziskus sich - mindestens im zweiten Fall - von einer Exempelsammlung inspirieren ließ57, bedürfte einer genaueren Untersuchung. Ähnlich ist es leider nicht möglich, das Jahr zu bestimmen, in dem er die Έρ. Fid. II' vom Krankenbett aus diktiert hat.58 Wahrscheinlich hat er während seiner Wanderpredigt selber ähnliche Beispiele mangelnder Bußwilligkeit von Sterbenskranken persönlich erlebt und an deren furchterregend schwerer Agonie teilgenommen.59 Sicher spiegelt der Abschnitt die außergewöhnliche Stellung des Todes in der mittelalterlichen Religiosität60, einen gewissen zeitgenössischen Rigorismus gegen öffentliche Sünder und die in eindrucksstarken Beispielen auf die Volksphantasie einwirkende Predigtweise des Poverello61 wider. 57 Vgl. die reiche Literatur bei Ch. DAXELMÜLLER, Exempel, in: LThK III (31995), 1104 f. - Mit dieser Literaturgattung bringt Carlo DELCORNO, Origini della predicazione francescana, in: Francesco d'Assisi e francescanesimo dal 1216 al 1226. Atti del IV Convegno Internazionale, Assisi, 15-17 ottobre 1976, Assisi 1997, 124—160; 154 f., diesen Ausschnitt tatsächlich in Verbindung. 58 Dies ist R. PAZZELLI, Le somiglianze di idee e di fraseologia fra la „Lettera ai fedeli" e la „Regola non bollata", in: Analecta TOR 21/146 (1989), 213-234, entgegenzuhalten, denn die RegNB weist eine längere redaktionelle Entwicklung auf. Vgl. auch oben, Anm. 9. 59 Hier sei wenigstens hingewiesen auf Thomas von Celano, Tractatus de miraculis, Nr. 41 : Fontes franc., 675 f., wo Franziskus einem Ritter von Celano, der ihn liebenswürdigerweise als Gast ins Haus aufnahm, den nahen Tod vorhersagte und ihn bei dem ihn begleitenden Minderbruder-Priester beichten hieß. - Nur am Rande sei hier angemerkt, daß die Todesangst natürlich ist und in keiner Weise auf moralische Verantwortung rückschließen läßt. Zudem können auch ungläubige und wegen Untaten schwer belastete Menschen die Todesgrenze urplötzlich oder doch ohne vom äußeren Beobachter wahrnehmbare Anzeichen von besonderer Angst überschreiten. 60 Vgl. u.a. Ph. ARIES, Geschichte des Todes. Aus dem Französischen von H.-H. HENSCHEN u. U. PFAU, Zürich 1984; H. SCHIPPERGES, Die Kranken im Mittelalter (wie
Anm. 16), 42-63 ('Einstellung zu Leben, Leiden und Tod'); A. ANGENENDT, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 1997, 659-683 ('21. Kap.: Der Tod und seine Liturgie'). 61 Vgl. neben der in Anm. 57 angeführten Studie von C. DELCORNO U. a. Michael BIHL, De S. Francisco praedicante ita, ut de toto corpore faceret linguam, in: AFH 20 (1927), 196-199; CF-BF. Index, 488 („praedicatio"); G. CONCETTI, Predicazione, predicatore,
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5. Krankheit als Nachfolge des Gekreuzigten in den 'Ermahnungen VI' und Ύ ' Die 28 zum Teil sehr kurzen 'Admonitiones' des Poverello gestatten es leider nicht, ihre nähere Veranlassung ob sie z.B. als Mahnungen an Brüder während der Kapitel oder bei anderen Gelegenheiten vorgetragen wurden oder ihre genauere Entstehungszeit festzulegen. 62 Für unseren Themenkreis sind die 'Adm. VI' und 'V' heranzuziehen, weil in ihnen im Zusammenhang mit dem Nachfolge-Christi-Gedanken bzw. dem Sich-Rühmen im Kreuze das Wort infirmitas vorkommt, das nicht nur physische oder moralische Schwäche, sondern auch Krankheit bedeuten kann. Weil man davon ausgehen kann, daß der Heilige diese Mahnsprüche in altitalienischer Sprache vorgetragen hat, in der infirmitate unbezweifelbar Krankheit bedeutet, klingt im Wort dieser Sinn mindestens mit.63 In der 'Adm. VI' erwähnt der Ordensgründer das innige Bild des Guten Hirten64, näherhin seine grenzenlose Liebe, womit Jesus zur Rettung seiner
in: Dizionario francescano 2[ 1995] (wie Anm. 1), 1589-1606; R. MANSELLI, Il gesto come predicazione per san Francesco d'Assisi, in: DERS., Francesco e i suoi Compagni, Rom 1995, 287-301. 62 Vgl. ESSER-GRAU, Op, 65-121 (Einleitung und Text). „Wir gehen wohl nicht fehl, wenn wir in dieser Spruchsammlung kurze Mahnreden sehen [...], die Franziskus zu verschiedener Zeit gegeben hat, die dann später gesammelt und z. T. stichwortartig zu einer großen Mahnrede an die Brüder zusammengestellt werden" (120). - Vgl. ebd., S. XXVII f., neuere Literatur über die Adm. - Vgl. auch HARDICK-GRAU, 98 f., und besonders P. VAN LEEUWEN U. S. VERHEIJ, Woorden van heil van een kleine mens. Commentaar op de Vermaningen van Franciscus van Assisi. Commentaar op De echte vreugde [door] Α. JANSEN (Reeks Commentaren op de Franciscaanse bronnen 2), Utrecht 1986; P. BRUNETTE, Essai d'analyse symbolique des Admonitions de François d'Assise. Une herméneutique de son expérience spirituelle à travers ses écrits, Montréal (Kanada) 1989, cf. BF XVI, Nr. 184, 186 (mit Buchbesprechungen), XIX, Nr. 210-216 (weitere Literatur). 63 Der Verfasser hat diese Stellen in seiner ersten größeren Arbeit: Das Leiden Christi (wie Anm. 1), 24 f., zu interpretieren versucht. Aus großer zeitlicher Distanz dazu glaube ich, daran nichts Wesentliches ändern zu müssen. - Noch entschiedener trat vor mir Carl ANDRESEN, Franz von Assisi und seine Krankheiten, in: Wege zum Menschen. Monatsschrift für Seelsorge, Psychotherapie und Erziehung 6, Göttingen 1954, 33-43; 42 f.; 44, für infirmitas als Krankheit ein. 64 Vgl. die Literatur in meiner Studie: Leiden Christi (wie Anm. 1), 8, Anm. 21; nun s. besonders: A. LEGNER, Hirt, Guter Hirt, in: LCI (= Lexikon der christlichen Ikonographie) II (1970), 289-299 (Abb.); J. ZMIJEWSKI, U. ZELINKA, G. NITZ, Hirt, Guter Hirt, i n : L T h K V ( 3 1 9 9 6 ) , 1 5 5 - 1 5 8 ( L i t e r a t u r ) . - A d m . V I : ESSER-GRAU, O p , 1 1 0 :
Attenda-
mus, omnes fratres, bonum pastorem, qui pro ovibus suis salvandis crucis sustinuit passionem. Oves Domini secutae fuerunt eum in tribulatione et persecutione, verecundia et fame, in infirmitate et tentatione et ceteris aliis; et de his receperunt a Domino vitam
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Schafe die Kreuzigung erlitt. Die oves Domini sind wohl mit all jenen Jüngern - Aposteln, Blutzeugen, Heiligen und Christen - gleichzusetzen, die ihm durch verschiedene Formen von Leiden, wie Entbehrungen, Prüfungen, Verfolgungen, Entehrung und infirmitates, nachgefolgt sind. Das Wort infirmitates muß wohl vom persönlichen Erfahrungshorizont des Heiligen her als Krankheiten verstanden werden. Wenn diese Deutung der geschichtlichen Wirklichkeit entspricht, hat Franziskus die Krankheit als eine der bevorzugten Formen der Kreuzesnachfolge gesehen. Die Gefahr der Nachgeborenen hingegen besteht darin, beim bloßen Bewundern und verbalen Verherrlichen früherer Großtaten von Heiligen stehenzubleiben. Anstelle des Nachvollziehens tritt dann das selbstgefällige Nacherzählen. Die 'Adm V' steht thematisch in engem Zusammenhang mit derjenigen über den Guten Hirten, indem sie über das Sich-Rühmen im Kreuz handelt.65 Hier können wir der ganzen Entfaltung seiner Mahnung nicht einzeln folgen, weil nicht alle Gedanken das hier im Vordergrund stehende Thema berühren. Im Kernsatz wendet sich der Heilige gegen jede Art von Selbstruhm wegen besonderen Wissens, ausgedehnter Sprachenkenntnisse, theologischen Scharfsinnes, körperlicher Schönheit, des Reichtums oder gar der Wundergabe. „[...] dies alles ist nicht deinem Wesen entsprechend, und nichts gehört zu dir, und du kannst dich dessen in keiner Weise rühmen. Aber in dem Folgenden können wir uns rühmen: in unseren infirmitates (vgl. 2 Kor 12,5) können wir täglich das heilige Kreuz unseres Herrn Jesus Christus tragen (vgl. Lk 14,27)"66. In einem Punkt nur glaubt Franziskus sich rühmen zu dürfen: in seinen Leisempiternam. Unde magna verecundia est nobis servis Dei, quod sancii fecerunt opera et nos recitando ea volumus recipere gloriam et honorem. 65 Attende, o homo, in quanta excellentia posuerit te Dominus Deus, quia creavit et formavit te ad imaginem dilecti Filii sui secundum corpus et similitudinem (vgl. Gen 1,26) secundum spiritum. Et omnes creaturae, quae sub caelo sunt, secundum se serviunt, cognoscunt et obediunt Creatori suo melius quam tu. Et etiam daemones non crucifìxerunt eum, sed tu cum ipsis crucifìxisti eum et adhuc crucifìgis (vgl. Hebr 6,6), delectando in vitiis et peccatis. Unde ergo potes gloriari? Nam si tantum esses subtilis et sapiens, quod omnem scìentiam (vgl. 1 Kor 13,2) haberes et scires ìnterpretari omnia genera linguarum (vgl. 1 Kor 12,28) et subtiliter de caelestibus rebus perscrutar!, in omnibus his non potes gloriari; quia unus daemon scivit de caelestibus et modo seit de terrenis plus quam omnes homines, licet aliquis fuerit, qui summae sapientiae cognitionem a Domino receperit specialem. Similiter et si esses pulchrior et ditior omnibus et etiam si faceres mirabilia, ut daemones fugares, omnia is ta tibi sunt contraria et nihil ad te pertinet et in his nil potes gloriari; sed in hoc possumus gloriari in infirmitatibus nostris (vgl. 2 Kor 12,5) et baiulare quotidie sanetam crucem Domini nostri Jesu Christi ( v g l . L k 1 4 , 2 7 ) : ESSER-GRAU, O p , 1 0 9 f.
66 Satz 7-8: HARDICK-GRAU, Schriften, 103. - Vgl. dazu die Literatur und Hinweise in meiner Studie: Das Leiden Christi (wie Anm. 1), 25 Anm. 84. - Vgl. die entsprechende Literatur zur Adm. VI und V - außer der oben, Anm. 61, bereits genannten in: ESSERGRAU, Op, S. XXVIII; David FLOOD, Le Ammonizioni di S. Francesco V e VI, in: Vita Minorum 66, Montegrotto Terme 1995, 315-322.
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den, mögen sie nun von der Last der evangelischen Wanderpredigt, von dem durch Krankheiten und Lebensstrenge geschwächten Leib, von der Erfahrung menschlichen Unverständnisses und menschlicher Bosheit, von der Sorge um die Reinheit des ursprünglichen Ideals oder vom Verspüren menschlicher Unzulänglichkeit stammen. Dabei liegt der Grund des Selbstruhmes nicht etwa in der menschlichen Leistung, vielmehr enthüllen sich die Kraft und Herrlichkeit Gottes am klarsten im Leiden, das er in Gemeinschaft mit dem Gekreuzigten erträgt. 67
6. Franziskus und die kranken Schwestern von San Damiano Nicht ohne besondere Bedeutung sind Stellen der 'Schriften', in denen Franziskus die besondere Lage kranker Schwestern im Kloster San Damiano von Assisi vor Augen steht. Im 'Brief der hl. Klara an die hl. Agnes von Prag' abgefaßt „wohl in den ersten Monaten des Jahres 1238" - berichtet sie von einem Schreiben, das der Ordensgründer an sie gerichtet hatte, worin er für die „Armen Damen von San Damiano" die Fastenpflicht fur bestimmte Festtage aufhebt. Sie stellt zudem seine Weisungen fur Kranke vor: „Jedenfalls soll Deine Klugheit [Agnes] wissen, daß außer den gebrechlichen und kranken Schwestern, denen wir gemäß seiner [des Franziskus] Mahnung und seinem Befehl hinsichtlich aller Speisen die größtmögliche Rücksichtnahme angedeihen lassen sollen, keine von uns Gesunden etwas anderes als nur Fastenspeisen genießen darf, sowohl an Wochen- wie an Festtagen." 68 Bewegend ist auch, was der 1225 schwerkranke Ordensvater vor seinem nahen Tod als „Mahn- und Trostlied" seinen geistlichen Töchtern in der volkssprachlichen Laude Audite Poverelle diktiert: Quelle ke sunt adgravate
de infirmitate / et l'altre ke per lor[o] sfujo adfatigate, / tutte quante lo sosténgate en-pace, / Ka multo v[en]deri[te] cara questa fa[t]iga, / ka casuna será-regina / en celo coronata cum la Vergine Maria — „Jene, die von Krankheit beschwert sind, / und die andern, die ihretwegen sich abmühen, / ihr alle, ertragt es in Frieden. / Denn um hohen Preis werdet ihr verkaufen solche 67 Vgl. O. SCHMUCKI, Leiden Christi (wie Anm. 1), 25. 68 Satz 2: HARDICK-GRAU, Schriften, 225; Epistola s. Ciarae de ieiunio scripta, 2: ESSERGRAU, Op, 455; s. auch Leben und Schriften der heiligen Klara. Einführung, Übersetzung und Anmerkungen von Engelbert GRAU. Erläuterungen von Lothar HARDICK. (Franziskanische Quellenschriften 2), Werl/Westf. 5 1980, 124. - Nicht zugänglich war mir: B. C. WALKER, Holy feast and holy fast. The religious significance of food to Medieval women (The New Historicism. Studies in Cultural Poetics 1), Berkeley/Los Angeles/London 1987: s. Isidoro DE VILLAPADIERNA U. P. MARANESI, Bibliografia di santa Chiara di Assisi 1930-1993, Roma 1994, 70, Nr. 578 (mit Angaben von Rezensionen).
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Müh', / da eine jede wird Königin sein / im Himmel gekrönt mit der Jungfrau Maria." 69 Als unausweichliche Folge der außergewöhnlichen, in San Damiano geübten Lebensstrenge, wegen der schlechten Versorgungslage der Gemeinschaft und der engen Wohnverhältnisse im Klosterbau erkrankten viele Schwestern der Frühzeit. Über dem Refektorium der hl. Klara mußte denn auch ein relativ großes Infirmarium eingerichtet werden. Franziskus wendet sich sowohl an die Kranken selber, welche er von der Last ihrer Leiden bedrückt weiß; aber auch an die mit der Pflege der Siechen betrauten Schwestern, die sich in diesem Dienste bis zur Erschöpfung abmühen. Beiden wünscht der Heilige, daß sie ihre je besondere Lage mit dem nötigen Herzensfrieden ertragen, ohne sich gegen das eigene Los aufzulehnen. Der textkritisch wie theologisch schwierige Vers, der - in der rekonstruierten Form von Professor Aldo Menichetti und Professorin Franca Brambilla Ageno - die Gefahr eines gewissen spirituellen Merkantilismus suggeriert, steht unzweifelbar in Spannung mit dem von den Schriften klar bezeugten Verzicht auf ein moralisches Verdienstdenken. 70 Hingegen entspricht die Aussicht, daß die geduldig leidenden und die aufopfernd pflegenden Schwestern im Himmel als Königinnen gekrönt werden, Vorstellungen des Heiligen.71
7. Die Friedens- und Todesstrophe im 'Sonnengesang' des hl. Franziskus Rein chronologisch beschließen die Laissen H-I bzw. die Verse 10-13 des 'Cantico di Frate Sole' den Themenkreis: Franziskus und Krankheit in seinen 69 ESSER-GRAU, Op, 480; 462-488 (Einfuhrungsfragen); die deutsche Übersetzung von Oktavian SCHMUCKÍ; s. bei L. LEHMANN, Franziskus - Meister des Gebets. Kommentar zu den Gebeten des heiligen Franz von Assisi (Bücher franziskanischer Geistigkeit 32), Werl 1989,278, 275-288; für einen längeren Kommentar und die Besprechung der vorausgehenden Literatur s. O. SCHMUCKÍ, L'„Audite Poverelle". Il Canto d'esortazione di san Francesco alle Povere Dame di San Damiano, in: In spiritu et veritate. Miscellanea di studi offerti al P. Anselmo Mattioli in occasione del suo 8 Γ anno di età, Roma 1995, 621-650. 70 Vgl. O. SCHMUCKÍ, L'„Audite Poverelle" (wie Anm. 69), 646-649, besonders 648. 71 Vgl. etwa Ultima voluntas s. Ciarae scripta: ESSER-GRAU, Op, 449, 448 f. und 450 (Einführung); HARDICK-GRAU, Schriften, 221. - Vgl. auch L. LEHMANN, Tiefe und Weite (wie Anm. 34), 99-119 („Die Mariengebete [Antiphon und SalBMV]"). - Noch deutlicher tritt die marianische Figur in der Frömmigkeit der hl. Klara hervor; vgl. Lothar HARDICK, Das Bild der Gottesmutter, in: E. GRAU u. DERS., Leben und Schriften der heiligen Klara (wie Anm. 68), 186-188. - Weitere Literatur s. bei I. DE VILLAPADIERNA u. P. MARANESI, B i b l i o g r a f i a di S. C h i a r a ( w i e A n m . 6 8 ) , 6 6 - 6 9 ( p a s s i m ) .
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'Schriften'. Es wäre vermessen, wollte ich hier über die recht komplexen literarkritischen Fragen und die geradezu uferlose Literatur zur berühmtesten der von Franziskus 1225-1226 diktierten altitalienischen Lauden umfassend referieren.72 Weil Franziskus als Folge akuter körniger Bindehauterkrankung den zwischen dem Potestà und Bischof Guido II. entbrannten Streit persönlich nicht schlichten konnte, fügte er seinem Cantico die Versöhnungsstrophe (Laisse H) hinzu. Den wegen gegensätzlicher irdischer Interessen entzweiten Parteihäuptern ließ er die erweiterte Laude durch zwei Minderbrüder vorsingen73: Laudato si, mi Signore, per quelli ke perdonano / per lo tuo amore, et sostengo infirmitate et tribulatione. / Beati quelli ke Ί sosterrano in pace, / ka da te, altissimo, strano incoronati. - „Gelobt seist du, mein Herr, fur jene, die verzeihen um deiner Liebe willen / und Krankheit ertragen und Not. / Selig jene, die solches ertragen in Frieden / denn von dir, Höchster, werden sie gekrönt".74 Der Patient lag in einem Dunkelzimmer des Häuschens, bestimmt für Minderbrüder im seelsorgerlichen und praktischen Dienst des San-DamianoKlosters, als er von der besorgniserregenden Spannung zwischen den höchsten Autoritäten der Stadt Assisi hörte. Das Gotteslob für jene, die sich zur Versöhnung bereit zeigen, erklärt sich am besten durch einen konkreten Konfliktfall; denn vom Gesamttenor des Cantico auf den Schöpfer wegen seines wunderbaren Wirkens in den vier Elementen hebt sich diese Laisse thematisch deutlich ab. Im Anschluß an die vorausgehende Reihe des Laudato si entsteht hier die Hoffnung, daß sich die zwei schwer Verfeindeten aus Liebe zu Gott (per lo tuo amore) gegenseitig die Schuld vergeben mögen.
72 Vgl. u.a. L. LEHMANN, Tiefe und Weite (wie Anm. 34), 279-324; s. besonders 280, Anm. 7-8; 10 (Lit.), 282 f.: Gliederung des altitalienischen Urtextes und der deutschen Übersetzung; vgl. auch ESSER-GRAU, Op, 122-133; HARDICK-GRAU, Schriften, 212— 215; O. SCHMUCKI, Zur Mystik des hl. Franziskus, in: Abendländische Mystik (wie Anm. 51), 259-264 (mit den entsprechenden Anmerkungen, im nachgestellten kritischen Apparat); besonders bedeutsam ist das Werk von V. BRANCA, Il „Cantico di Frate Sole". Studio delle fonti e testo critico. [III] ristampa, Florenz 1994 (BF XVIII, Nr. 252, mit Rez.); weitere neuere Literatur von unterschiedlichem Wert ist angezeigt in BF XV (1981-85), Nr. 340-392; XVI (1986-89), Nr. 248-267; XVII (1991-92), Nr. 281-298; XVIII (1993-94), Nr. 253-264; XIX (1995), Nr. 240-245. - C. GARZENA, Terra fidelis manet. Humilitas e servitium nel „Cantico di frate Sole", Florenz 1997; s. die ausführliche Besprechung von Leonhard LEHMANN, in: CF 67 (1997), 582-585. 73 Vgl. Comp. Assis. [Perusina], Nr. 84: Fontes Franc., 1599 f.: Eodem tempore cum iaceret infirmus, predicatis Laudibus et iam compositis, episcopus civitatis Assisii, qui tunc erat, excomunicavit [!] potestatem Assisii, cum contra ipsum indignatus ille qui erat potestas fecit fortiter et curiose preconizari per Assisii civitatem, ut nullus homo sibi venderei aut ab ipso emeret auf cum ipso contractum faceret; et ita nimis oderant se ad invicem. 74 Laisse H, Verse 10-11: L. LEHMANN, Tiefe und Weite (wie Anm. 34), 282 (nach V. BRANCA). - Übers, von Leutfried SIGNER, ebd., 283.
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Woraus jedoch erklärt sich der Einschub über Krankheit und Drangsal? Dieses Moment dürfte sich dem Dichter vom biopathographisch-psychologischen Kontext her durch Ideenassoziation aufgedrängt haben. Weil er infolge seiner infirmitate ans Bett gefesselt war, war er außerstande, in eigener Person die Vermittlung zwischen den beiden Hadernden in die Hand zu nehmen. Zugleich erinnert er sich an die während des langen Siechtums selber verspürte Gefahr zur Entmutigung. Alle jene, die bereitwillig sind zur wechselseitigen Versöhnung, und alle, welche die Last von Krankheit und Drangsal (tribulatione15) in Frieden ertragen, werden vom Höchsten dereinst mit himmlischer Herrlichkeit gekrönt werden. Hier ist die Übereinstimmung mit des Heiligen Mahnlied Audite Poverelle offenkundig, auch wenn im 'Cantico' der Bezug auf die „Königin Maria" fehlt. Aus einem Gefährtenbericht erfahren wir, wann und warum der sterbenskranke Ordensgründer den Grundgedanken der Laisse I bzw. der Verse 12-13 dem 'Cantico di frate Sole' vorweggenommen hat. Von dem ihn behandelnden Arzt „Bonus Johannes" aus Arezzo 76 verlangte Franziskus Auskunft über seine Wassersucht. Der Befragte eröffnete ihm jedoch erst nach längerem Insistieren die aussichtslose Lage seines Gesundheitszustandes. „Der selige Franziskus, so wie er krank im Bett lag, rief mit höchster Hingabe und Ehrfurcht vor dem Herrn, mit ausgebreiteten Armen und Händen und großer innerer wie äußerer Freude aus: 'Sei willkommen, mein Bruder Tod!'" 77 . Im Lichte dessen, was wir aus anderen Quellen über die letzten Lebenswochen des Heiligen wissen, trägt dieser biographische Bericht alle Kennzeichen der Glaubwürdigkeit an sich. So wissen wir etwa aus der 'Salutatio Virtutum', daß der Poverello die Tugenden personifizierte. 78
75 Vgl. BLAISE-CHIRAT, Dictionnaire latin-français (wie Anm. 24), 828a: „[...] fig. torture, tourment, affliction, malheur, tribulation"; S. LÓPEZ, Pazienza, persecuzione, tribolazione, sofferenza, in Dizionario francescano [ 2 1995] (wie Anm. 1), 1381-1392. 76 Um nicht wider Lk 18,19b zu verstoßen, weil Jesus an dieser Stelle Gott allein gut heißt, redete er den „Bonus Ioannes" - ein Ehrentitel - einfach mit „Bruder Johannes" an. 77 Comp. Ass. [Perus.], Nr. 100: Fontes Franc. 1634f.; s. in meiner zusammenfassenden Studie: Das Phänomen Krankheit (wie Anm. 1), 127-132 („Im Antlitz von Bruder Tod"); P. PRINI, Laudato si, mi Signore, per sora nostra morte corporale, in: Frate Francesco 44, Rom 1977, 121-131; A. DO C A R M O CHEUICHE, Sâo Francisco e a interpretaçâo fraternal da morte, in: A. G. PILONETTO (Hg.), Francisco de Assis 750 anos depois. Documentos Franciscanos, no. 16, vol. XVI, 1978, Petrópolis RJ, 1978, 123-133; A. ROMANINI u.a., Recenti studi sulla Cappella del Transito in Santa Maria degli Angeli di Assisi, in: Francesco, il francescanesimo e la cultura della nuova Europa. A cura di I. BALDELLI e A. M. ROMANINI, Roma [1986], 227-260; A. M É N A R D , Morte, morto, sorella morte, in Dizionario francescano [ 2 1995] (wie Anm. 1), 1199-1210. 78 Vgl. ESSER-GRAU, Op, 427f.; z.B.: Ave, regina sapientia, Dominus te salvet cum tua sorore sancta pura simplicitate (Satz 1: 427). - Vgl. L. LEHMANN, Tiefe und Weite (wie Anm. 34), 221-246 (samt der vorausgehenden Literatur).
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Aus einer anderen Stelle der 'Compilado Assisiensis [Perusina]' scheint hervorzugehen, daß der Heilige die Todesstrophe seinem Cantico hinzufügen ließ, als ein Bruder - jedenfalls Br. Elias von Assisi - ihm aufgrund des ärztlichen Befundes den baldigen Hinschied mitgeteilt hat: Pater, scias in ventate quod, nisi de celo Dominus suam medicinam mitteret corpori tuo, tua infìrmitas est incurabilis, et parum vivere debes, sicut et medici iam dixerunt - „Vater, wisse nach der Wahrheit, daß, sofern der Herr vom Himmel her fur deinen Leib nicht ein Heilmittel schickt, deine Krankheit unheilbar ist, und du sollst, wie die Ärzte bereits gesagt, nur noch kurze Zeit leben."79 Daraufhin habe Franziskus die Brüder Angelus Tancredi und Leo rufen lassen, damit sie ihm „von Bruder Tod sängen". Er habe nämlich damals vor der letzten Laisse das Gotteslob wegen des Bruders Tod einfügen lassen.80 Somit fügt sich die Laisse I problemlos in den biographischen und spirituellen Lebenskontext des Heiligen ein: Laudato si, mi signore, per sora nostra morte corporale, / da la quale nullu homo vivente po ' skappare. / Guai a quelli, ke morrano ne le peccata mortali: / beati quelli ke trovará ne le tue sanctissime voluntati / ka la morte secunda noi farrà male - „Gelobt seist du, mein Herr, für unseren Bruder, den leiblichen Tod, / dem kein Mensch lebend entrinnen kann. / Wehe jenen, die in tödlicher Sünde sterben. / Selig jene, die er finden wird in deinem heiligsten Willen, / denn der zweite Tod wird ihnen kein Leid antun."81 Während von der Gefahr, unbußfertig zu sterben und deswegen dem göttlichen Gericht zu verfallen, bereits in Έρ. Fid. Ι-Π' die Rede ist, wird die Unvermeidlichkeit, daß alle Menschen dem Tod entgegengehen, von anderen Stellen der 'Schriften' nicht bezeugt. Dagegen kommt die Forderung des Poverello, sich in den Willen Gottes voll zu ergeben, in seinen Opuscula' öfter vor.82 Neu ist das ausdrückliche Lob Gottes für sora nostra morte corporale. Selber sterbenskrank, dürfte Franziskus den Grund dieser einzigartigen Personifizierung in seinem Glauben gesehen haben, daß der Tod ihn dem Sterben des Erlösers gleichförmig machen und ihm in geschwisterlicher Liebe das Tor zum ewigen Leben aufschließen würde.83 Diese positiv-frohe Schau
79 Nr. 7: Fontes Franc., 1475-1477; 1476 (Zitat). - Übersetzung vom Verf. 80 Ebd., 1476 f. 81 L. LEHMANN, Tiefe und Weite (wie Anm. 34), 282 f. - Vgl. HARDICK-GRAU, Schriften, 215, Anm. 13, die als Quelle für die Bezeichnung: „der zweite Tod" - als Verdammung im göttlichen Gericht - hinweisen auf Offb 2,11 bzw. 20,6. 82 Vgl. HARDICK-GRAU, Schriften, 365a-b (Register: Wille, Wollen). 83 Vgl. bes. II Cel 217: Fontes Franc., 632: Nam et mortem ipsam, cunctis terribilem et exosam, hortabatur ad laudem, eique laetus occurrens, ad suum invitabat hospitium: 'Bene veniat', inquit, 'soror mea mors!' Ad medicum autem: 'Audacter, frater medice, proximam prognostica mortem, quae mihi erit ianua vitae! ' - Franziskus hat sein Sterben unbezweifelbar mit dem Kreuzestod Christi zu verbinden gesucht: s. O. SCHMUCKI, Das Leiden Christi (wie Anm. 1), 68-72, wo eine Reihe von Quellenbelegen zusammentragen wird.
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des ihm irgendwie in menschlicher Gestalt erscheinenden „Bruder Tod" steht in merkwürdigem Gegensatz zum Schrecknis des unbußfertig sterbenden Sünders nach dem 'II. Brief an die Gläubigen' und noch mehr zu teilweise pathologischen Ausdrucksformen der 7ote«ia«z-Bewegung des 14. und 15. Jahrhunderts.84
8. Zusammenfassung Nach den vorausgehenden Textanalysen über das Phänomen und die Sinnbedeutung von Krankheit in den 'Opuscula' legt sich nun ein mehr synthetischer Rückblick nahe. 1. Für die frühfranziskanische, nicht seßhafte Wanderpredigt und die radikale Armutsauffassung des Poverello ist kennzeichnend, daß weder in den beiden Regelfassungen noch in den an den eigenen Orden gerichteten Schriften wie in der 'Epistola toti Ordini missa' und im 'Testament' ein Hinweis auf ein ordenseigenes Infirmarium enthalten ist. Minderbrüder, die während ihres Wanderapostolats schwer erkrankten, werden in der Regel zwar der Fürsorge der übrigen Brüder anempfohlen, doch solange eigene Niederlassungen noch fehlten, mußten bettlägrige Patienten bis zu ihrer Genesung oder zu ihrem Tod unvermeidlich äußeren Institutionen für die Betreuung übergeben werden. Diese waren wohl meist Hospize für Pilger und Arme oder Aussätzigenheime oder kirchliche Stellen, wie z.B. Klöster oder Bischöfe, oder dem Orden besonders wohlgesinnte Familien. Wie prekär und problematisch die Lage schwer kranker Minderbrüder war, geht allein daraus hervor, daß Franziskus in der 'Nicht bullierten Regel' für sie - in extremen Notfällen - sogar einen Dispens vom streng gehandhabten Geldverbot vorsieht. Aus der 'Bullierten Regel' verschwindet diese Ausnahmelösung, an deren Stelle der Rekurs an geistliche Freunde des Ordens tritt. 2. Bedeutend reicher sind die spirituellen Gesichtspunkte, die sich aus den einzeln erläuterten Texten ergeben. -
In den beiden Regelfassungen mahnt Franziskus seine Brüder, sich bei der Pflege kranker Mitbrüder an der sogenannten Goldenen Regel des Evangeliums zu orientieren. Der Beweggrund, im leidenden Bruder (auch außerhalb des Ordens) Jesus Christus selber zu pflegen, fehlt
84 Vgl. oben, unter Abschnitt 4, bzw. F. ZOEPFEL, Totentanz, in: LThK X ( 2 1965), 2 7 7 279, mit reicher Literatur; H. ROSENFELD, Totentanz, in: LCI IV (1972), 343-347 (Lit., Abb.).
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zwar in den 'Schriften', wird jedoch von vertrauenswürdigen biographischen Berichten bezeugt. In der 'Bullierten Regel' erscheint ein gegenüber der vorausgehenden Tradition mutmaßlich originelles Motiv: Die Minderbrüder sollen leidenden Brüdern eine noch innigere Liebe erweisen, als sie eine Mutter zum eigenen Kind hegt. Im Mahnlied 'Audite Poverelle' erinnert der Poverello die Schwestern von San Damiano, welche die langwierige Betreuung kranker Mitschwestern bedrückt, an die kommende, mit Maria vergleichbare Krönung durch Gott. Der Ordensgründer erweist sich als Seelsorger an Kranken inner- und außerhalb seiner Brüderschaft. Kranke und Gesunde fordert er eindringlich auf, in der heilsversichernden Buße auszuharren. Gleichsam als negative Folie dazu dient das Beispiel der bzw. des dem Bußaufruf sich verschließenden Sterbenskranken, um die Briefadressaten auf den unaufschiebbaren Ernst der Entscheidung zur Umkehr aufmerksam zu machen. Alle Kranken bittet der Heilige, sich dem Willen Gottes bedingungslos anheimzugeben und dem Herrn für die Prüfung sogar zu danken. Durch ihr Leiden befinden sie sich in enger Gemeinschaft mit dem Erlöser, dessen Kreuz ihnen Grund zum Ruhm wird. Nirgendwo erscheint Krankheit als Strafe für persönliche Schuld, wie dies Stellen des Alten Testaments bezeugen 85 ; hingegen weiß Franziskus um deren heilspädagogische Funktion als spirituelle Reinigung und Reifung. Wo kranke Brüder sich wider ihr Los empören, sich in Ungeduld wider die eigenen Pfleger wenden und übermäßig nach der Gesundheit bzw. nach Ärzten und Arzneien verlangen, beweisen sie damit nur, daß sie nicht wahre Minderbrüder sind. Eigens angemerkt sei, daß der Ordensgründer in einem leider nicht erhalten gebliebenen Brief an Klara kranke Schwestern eigens von der Fastenpflicht ausnimmt. Die 'Opuscula' bezeugen einzelne Momente der eigenen Krankheit des Ordensgründers und ebenso seine persönliche Einstellung zu seinem Leiden und zu dem anderer Kranker. Im 'Testament' verrät er, wie sehr das Überwinden der instinktiven Abwehrhaltung wider Aussätzige seinen entscheidenden Schritt in das neue Leben der Buße bestimmt und zu einer Erfahrung mystischer Wonne geführt hat. Ausgerechnet in Zeiten schwerer Erkrankung diktierte der Heilige eine Reihe von 'Schriften', die an Inhalt, Umfang und Zielsetzung weit über den konkreten Anlaß ihrer Abfassung hinausweisen.
85 Vgl. J. SCHARBERT, Krankheit II. Altes Testament, in: TRE XIX (1990), 680-683, besonders 682.
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Menschlich wie medizinisch ein unlösbares Rätsel stellt dar, daß organisch schwer belastende Krankheiten - so die in ihren Auswirkungen chronisch gewordene Malaria und die körnige Bindehautentzündung des Trachoms - die Aufmerksamkeit des Patienten nicht auf das eigene Leid begrenzt86, sondern immer neu fur eine universale apostolische Weite geöffnet haben. Zeugen dafür sind die zwei sogenannten 'Briefe an die Gläubigen', durch die er jedenfalls Mitglieder seines Bußordens spirituell besuchen wollte; der 'Brief an den gesamten Orden' und sein 'Testament', mit denen er seinen Brüdern ein religiöses Vermächtnis hinterließ; das vor wenigen Jahren wieder entdeckte Mahnlied 'Audite Poverelle', womit er die Schwestern von San Damiano zugleich tröstete und belehrte, und schließlich der 'Cantico di Frate Sole', bei dem er in drei Ansätzen nicht allein ein literarisches Monument von Weltrang schuf, sondern vom Krankenbett aus friedensstiftend wirkte.
86 Vgl. das Zitat eines Psychologen in meiner Studie: San Francesco d'Assisi e l'esperienza cristiana della morte (wie Anm. 1), 14: „Sul piano psicologico la malattia è caratterizzata da tre elementi: il restringimento del proprio mondo; l'egocentrismo; un atteggiamento fatto allo stesso tempo di tirannia e di dipendenza." Vgl. auch O. SCHMUCKI, Das Phänomen Krankheit (wie Anm. 1), 131: „Trotzdem der Ordensvater in den beiden letzten Lebensjahren von unglaublichen Leiden bedrückt war und er 'Bruder Tod' unentwegt in die Augen blickte, behielt er dennoch ein anhaltendes und ausgeprägtes Interesse für die Geschicke seiner Brüderschaft, eine bewunderungswürdige Willensstärke im Ertragen heftigster Schmerzen. Haltungen, die im stärksten Gegensatz zum fortschreitenden Kräftezerfall (cachexia) standen. Denn damit bilden sich normalerweise die seelischen Reaktionsfähigkeiten zurück, und es treten öfters Teilnahmslosigkeit und sogar depressive Zustände auf. Bei Franziskus überbrückte und überhöhte seine mystische Gott- und Christus-Erfahrung den stetigen Ausfall menschlicher Kräfte."
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Franziskus und die Offenheit der Geschichte
Bonaventura von Bagnoregio hat die 'Legenda maior', seine Franziskusdarstellung, zwischen 1260 und 1263 geschrieben. Mit der Materie war er schon vertraut. Er hatte sich schon vor seiner Amtszeit als Generalminister eingehend mit Franziskus befaßt, wie die Reportatio seiner Predigt vom 4. Oktober 1255 klarmacht. 1 Beim Generalkapitel von 1260 in Narbonne erhielt Bonaventura den Auftrag, ein neues Franziskusleben zu schreiben, und er hat die neue Vita dem folgenden Kapitel 1263 in Pisa vorgelegt. Michael Bihl nimmt an, daß Bonaventura in Pisa mit einem Exemplar seiner 'Legenda maior' für jede Provinz erschienen ist. Als das Kapitel zu Ende ging und jeder der 34 Provinzialminister den Weg nach Hause einschlug, hatte er in seinem bescheidenen Gepäck eine brauchbare Vorlage für weitere Kopien. Es überrascht also nicht, daß viele Handschriften der 'Legenda maior' bis in unsere Tage überlebt haben. Während wir Hunderte von Handschriften der 'Legenda maior' aus dem 13. und 14. Jahrhundert haben, die uns wenig über den historischen Franziskus verraten, haben wir dagegen nur späte Handschriften von der Frühen Regel, die über Franziskus hinaus über manches berichtet. Bonaventura von Bagnoregio schrieb seine Franziskusvita unter anderen Bedingungen, als dies der Anonymus von Perugia tat.2 Während Bruder Johannes, der Anonymus von Perugia, Begleiter und Vertrauter von Bruder Bernhard von Quintavalle, seine Beschreibung unter den undurchschaubaren Begleitumständen des Jahres 1241 verfaßte, kurz nach dem Ende der Amtszeit von Bruder Elias als Ordensgeneral, schrieb Bonaventura seine Zusammenfassung in den sechziger Jahren des 13. Jahrhunderts, als der Orden seine Stellung in Kirche und Gesellschaft konsolidiert hatte. Bonaventura schrieb seine Darstellung über Franziskus als hochgebildeter Mann, worin er sich von Bruder Johannes von Perugia eindeutig unterscheidet. Während man in Unkenntnis der mittelalterlichen klassischen Bildung wie Rhetorik eher einer narrativen Erzählweise anhing, neigte Bonaventura dazu, die Überlieferung über Franziskus eher begrifflich zu interpretieren.
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Saint Bonaventura, Sermons de diversis, hg. v. J. BOUGEROL, Paris 1993, 787-812. Der Herausgeber sagt, daß dies die bedeutendste Rede auf Franziskus sei. Ich v e r w e i s e b e i d e r S t e l l u n g n a h m e v o n P. BÉGUIN u n d T. DESBONNETS a u f d e n A n o -
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Unter den vielen Aussagen, die von den Darstellungen, Berichten und Erzählungen über Franziskus bekannt sind, befinden sich solche, die Franziskus mit den Anfangsjahren der franziskanischen Bewegung in Verbindung bringen, und andere, die ihn eher von dem damaligen Geschehen lösen. Bonaventura gelingt in seiner 'Legenda maior' diese Verknüpfung mit der Geschichte des Franziskus auf gelungene Weise, da hier Wichtiges über die frühfranziskanische Zeit berichtet wird.
Ein apokalyptischer Franziskus „Es wäre nicht leicht, eine Schrift zu finden, die auf das apokalyptische Programm mit mehr Klarheit und Unmittelbarkeit aufmerksam macht, als Bonaventuras Leben des heiligen Franziskus" - so leiten Emmerson und Herzman ihr Kapitel über die 'Legenda maior' ein.3 Die Autoren erklären, daß Bonaventura seinen apokalyptischen Widerhall mit einer Hinwendung zu verpflichteter Referenz an vergangene Zeiten stützt. Seine einleitende Aussage erklärt feierlich, daß Gottes Gnade die Freunde der Armut, also treue Franziskaner, in diesen letzten Zeiten durch seinen treuen Diener Franziskus besucht hat. Das Apokalyptische setzt sich fort, indem Bonaventura die Friedensmission des Franziskus hervorhebt. Auf diese Weise erreicht er das Ende und die Kulmination seines eröffnenden Standpunkts über Franziskus' Leben: Er identifiziert Franziskus als den Engel des sechsten Siegels, wie es Johannes in der Apokalypse verkündet hat. Als Bestätigung dieser historischen Rolle des Franziskus verweist Bonaventura auf die Wunden Christi, die dem Körper des Franziskus vom Heiligen Geist aufgedrückt wurden. So fangt die 'Legenda maior' an, und so fuhrt der Verfasser seine Vita aus. In seiner Einleitung gibt Bonaventura auch zu verstehen, wie er seine Aufgabe zu erledigen gedenkt. Zuerst will er dem Ablauf des Lebens chronologisch nicht folgen, und dann schreibt er, daß er dem Anfang, dem Fortschritt und dem Ende dieses Lebens in seinen fünfzehn Kapiteln folgen will. Und so macht er es. Er fangt mit vier chronologischen Kapiteln an, dann widmet er dem Leben acht thematische Kapitel, bevor er das Ganze mit drei weiteren chronologischen Kapiteln beendet. Und so - wie Emmerson und Herzman mit großer Akribie ausführen - legen die acht Kapitel, wie es der symbolische Wert der Zahl Acht haben will, die vielen Tugenden des Franziskus als gültig für alle Zeiten dar. Dieser strukturellen Aussage gegenüber gibt es die sieben chronologischen Kapitel, in zwei Gruppen zu jeweils vier bzw. drei Kapiteln 3
R. EMMERSON/R. HERZMAN, The Apocalyptic Imagination in Medieval Literature, Philadelphia 1992.
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nach dem Vorbild der Offenbarung des Johannes aufgeteilt. Diese sieben Kapitel spiegeln das traditionelle Schema der Weltzeiten und die Etappen der Kirchengeschichte wider. Der verworrene Weg fuhrt durch große Trübsal bis in den endgültigen Frieden hinein. Es kommt noch hinzu, daß die vier und die acht und die drei Kapitel eine dreiteilige Struktur der 'Legenda' ergeben. Auf Grund dieser Analysen schließen Emmerson und Herzman, daß Bonaventura das Leben des Franziskus apokalyptisch lesen und vorfuhren will (55). In der 'Legenda maior' identifiziert Bonaventura Franziskus dreimal als den Engel des sechsten Siegels. Dies geschieht zuerst in der Einleitung, dann im vierten Kapitel, wo Bonaventura die Entwicklung und den Sinn des Ordens betrachtet (70). Bonaventura identifiziert Franziskus ein drittes Mal im dreizehnten Kapitel als den Engel des sechsten Siegels, wo er die Stigmatisation behandelt. Hier legt Bonaventura seine Beweise für die Stigmatisation vor. Seine Beweise schließen eine Predigt des Papstes Alexander IV. ein, welche Bonaventura selber gehört hatte. Am Ende dieses dreizehnten Kapitels blickt er auf die sechs Visionen des Kreuzes zurück, die das Fortschreiten des Lebens des Franziskus markiert haben, und fugt das siebte Mal als die Vollendung der sechs vorangegangenen dazu, wie das siebte Zeitalter den Verlauf der Geschichte beendet. So darf er ausrufen: „Der Seraph und der Gekreuzigte hat Dich, Franziskus, markiert. Du bist der zweite Engel, der mit der Sonne aufgeht, und das Zeichen des lebendigen Gottes führt." In seinen allerersten Worten bietet Bonaventura den treuen Freunden der Armut seinen Bericht über das Leben des Franziskus, um ihnen Kraft und Weisung für ihren Weg zu geben. Bonaventura schließt das dreizehnte Kapitel mit der Bemerkung ab, die Stigmata bewiesen die Gültigkeit der franziskanischen Lehre. Als Engel des sechsten Siegels in einem apokalyptischen Szenario verkündet Franziskus ein neues Zeitalter, das Zeitalter des Friedens. Bonaventura ging kein zweites Mal in solcher Ausführlichkeit auf das Leben des Franziskus ein, obwohl er immer wieder die Zeiten und die zeitgemäße Berufung des Ordens erforschte. Wie können wir also die gespannte Aufmerksamkeit verstehen, mit der die vielen jungen Franziskaner seinen 'Collationes in Hexaemeron' im April und Mai 1273 in Paris folgten? In diesen Collationes ging Bonaventura weit über die historische Rolle des Franziskus hinaus. Er berührte aber das Thema, und wenn seine Zuhörer mehr darüber wissen wollten, konnten sie Stoff genug für ihre Studien in der 'Legenda maior' finden.
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Die 'Legenda maior' und die frühfranziskanische Geschichte In seiner 'Legenda maior' ging Bonaventura auf das Leben eines Menschen ein, der 1226 mit vierundvierzig Jahren gestorben war. Er redete über Vorkommnisse im Leben dieses Menschen. Man kann einen Lebensweg nicht sinnvoll darstellen, ohne eine Auswahl von Einzelheiten zu treffen und ohne diese Einzelheiten nach einem Plan vorzutragen. Deshalb läßt er unbrauchbare Auskünfte zugunsten nützlicher Informationen fallen, wobei die Unterscheidung über die Brauchbarkeit mit dem Gesamtbild der Darstellung zusammenhängt. Deshalb gefallen uns einige Erzählungen über Franziskus und andere nicht. Wenn wir Gründe für unser Gefallen angeben wollen, wenn wir den objektiven Wert der einen Darstellung gegenüber einer anderen beweisen wollen, dann rufen wir den historischen Franziskus auf den Plan. Hier, wo es um den historischen Franziskus und die 'Legenda maior' geht, fuge ich zwei kurze Bemerkungen ein. Die erste wiederholt eine Binsenwahrheit, die wir seit Sabatier und Goetz kennen, eine Binsenwahrheit, die Esser ernstgenommen hat. Die zweite Bemerkung baut auf der ersten auf. Sabatier und Goetz haben die primäre Bedeutung des frühfranziskanischen Schrifttums hervorgehoben oder die Schriften des Franziskus, wie so viele sagen, um die späteren Aussagen der erzählenden Quellen auf ihren kritischen Wert hin zu prüfen. Dieses Schrifttum haben sie sozusagen als Maßstab angeführt, nach dem spätere Berichte zu beurteilen seien. Esser hat gezeigt, wie beträchtlich dieses Schrifttum und deshalb seine Bedeutung als Kriterium wohl ist. Als zweite Bemerkung unterstreiche ich die Tatsache, daß das frühfranziskanische Schrifttum, das wir als wichtigen Maßstab seit einem Jahrhundert angenommen haben, als Auszeichnung und Nebenprodukt intensiven Gedankenaustausches zwischen den ersten Minderbrüdern zustande gekommen ist. Das Schrifttum diente den ersten Brüdern als Ausdruck ihrer gemeinsamen Geistesausrichtung hinsichtlich des Ziels und der Verfahrensweise und war mit Warnungen und Anregungen bestückt, die auf damalige Erfahrungen und Umstände eingingen. Als Franziskus zu jenen außerhalb der Bruderschaft sprach, wie er es in seiner Botschaft an die Poenitenten tat, sprach er sie nicht so sehr als Außenseiter an, sondern vielmehr als mögliche Mitglieder der sich rasch entwickelnden Bewegung. In diesen Texten spricht Franziskus nicht zu uns. Wenn man sie liest, hört man, wie Franziskus zu seinen Brüdern spricht und wie die Brüder untereinander reden. Jeder dieser Diskurse hat seinen Kontext hinsichtlich der großen Bedeutung dessen, was die Brüder zueinander sagten und warum. Der historische Franziskus existiert nicht allein, sondern nur im Gespräch mit anderen. Die Schriften sind Zeugnisse einer gemeinsamen Geschichte, und ohne diese Geschichte anhand dieser Quellen aufzuzeigen, kommen wir an den historischen Franziskus nicht heran. Deshalb ist es so schwer, etwa das Testament kritisch zu deuten.
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Mit der 'Legenda maior' hat Bonaventura von Bagnoregio eine Dimension der frühfranziskanischen Geschichte und der Erfahrung des historischen Franziskus hervorgehoben, welche dem Orden zu Bonaventuras Zeit sehr zugute kam. Thomas von Celano hat diese Dimension am Anfang seines 'Tractatus de miraculis' betont. Gerade zu der Zeit aber geriet diese Perspektive durch die Extravaganzen des Gerhard von Borgo San Donnino in Verruf. Sie mußte wieder in einen kritischen Zustand gebracht werden, denn die ersten Franziskaner führten etwas Neues in das gemeinsame Leben der Menschen ein. Der apokalyptische Franziskus des Bonaventura entspricht der Überzeugung der ersten Brüder, dank ihrer Lebensweise an einer historischen Schwelle zu stehen. Um 1220 laden die Brüder - und nicht nur Franziskus - in einer ftohlokkenden Botschaft an ihre Zeitgenossen alle Menschen zur Umkehr ein. (Wir kennen den Text als dreiundzwanzigstes Kapitel der Frühen Regel.) Zuerst aber hatten sie den historischen Ort angegeben, an dem diese Umkehr stattzufinden habe, und die Art und Weise, nach der dies geschehen solle. Diese Umkehr fand unter dem Urteil des Richters der Geschichte statt, indem die Umkehrwilligen sich für andere Menschen gleich einer Zelebration menschlicher Existenz einsetzten. Dieser Ort wurde durch Mt 25 inszeniert. Mit ihrem Aufruf zur Umkehr brachten Franziskus und seine Mitstreitenden ihre politische Aktion mit dem Ende der Geschichte zusammen. Die frühen Franziskaner stellten ihren Lebensweg in einen eschatologischen Zusammenhang der Verkündigung. Sie eröffneten mit einem kurzen Rückblick der Geschichte: Erschaffung, Sündenfall, Erlösung. Dies zeigt, daß sie erkannten, wie die Gnade des Augenblicks und das Umschlagen von Kummer in Glückseligkeit zu bewerten war. Dennoch benutzten sie nicht so bekannte Kategorien wie die Franziskaner am Ende des Jahrhunderts, sprachen aber dennoch ihre Zeitgenossen von jenseits des fünften Zeitalters her an. Etwa zur gleichen Zeit proklamierte Franziskus in seiner Botschaft an die Poenitenten trotz einer unterschiedlichen Logik und mit anderen Worten einen ähnlichen Anspruch. In seiner Mitteilung erläutert Franziskus einem breiten Publikum den Ursprung und die Ursache der Freude und Hoffnung, welche seine Gemeinschaft erhob. Er ermahnte jene, die er beauftragte, die gleiche Verpflichtung zu machen und die Konsequenzen daraus zu befolgen. Er versicherte ihnen, daß ihnen dann ebenfalls der Heilige Geist offenbar werden würde. Es würde ihr Dasein verändern. Obwohl Franziskus seine Botschaft in keinen eschatologischen Zusammenhang stellte, blickte er auf die historischen Ereignisse zurück, die diese Möglichkeit eröffnet hatten. Darüber hinaus sprach er als Repräsentant derjenigen, die in ein neues und gesegnetes Zeitalter eintraten, in seiner Beschreibung der Niederkunft des Heiligen Geistes zu den Männern und Frauen, die „solche Dinge taten". Die frühen franziskanischen Schriften als Gesamtheit führen uns zu dem Lebensmittelpunkt der frühen Brüder. Mit Franziskus im Zentrum standen die Brüder an einer histori-
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sehen Schwelle. Die Frühe Regel reflektiert ihre Entdeckung der Möglichkeiten und die Wege, welche sie unter die Führung des Geists des Herrn brachte und zu „geistigen Männern" machte. Das erste Zeichen dessen, was diese in ihrer späteren Verkündigung offenbaren, ist ihr Bekenntnis zu einem Leben des Dienens (Kapitel 7 der Frühen Regel). Wir haben inzwischen die Nachricht vernommen, welche im Versprechen gipfelt, im Geist des Herrn aufzuerstehen. In seinen Ermahnungen geht Franziskus gezielt auf die Mängel der Bewegung ein und zeigt neue Wege zu einem gesegneten Dasein. In diesem Sinne sei auf die Aussagen des frühfranziskanischen Schrifttums, vor allem auf Kapitel XVII der Frühen Regel und auf die Botschaft des Franziskus an die Poenitenten, hingewiesen. In seiner 'Salutatio virtutum' besingt Franziskus den Geist, durch den die Brüder alle interessierten Weltentwürfe überwunden und aufgelöst hatten. Dabei genügt es nicht, Franziskus herauszuheben und allein auf seine menschlichen Tugenden zu verweisen, ihn als homo alterius saeculi zu feiern. Zusammen mit anderen hatte er eine politia spiritualis alterius saeculi in Gang gebracht: eine Politik eines anderen Zeitalters. Um eine Übereinstimmung bezüglich der frühfranziskanischen Geschichte erzielen zu können, müssen der Beitrag des Franziskus zum weiteren Schicksal der Bruderschaft und sein Einfluß auf die Zeitgenossen beurteilt werden. Die Texte offenbaren, daß Franziskus und seine Brüder davon überzeugt waren, daß sie ein neues Leben erreicht hatten. Sie teilten es bereitwillig mit anderen, da sie fühlten, dazu berufen worden zu sein. Die Überzeugung der ersten Brüder, an einer historischen Schwelle zu stehen, hat Bonaventura in der 'Legenda maior' dadurch aufgegriffen, daß er Franziskus als den Engel des sechsten Siegels identifiziert hat. In den Jahren nach 1220 legte sich rasch die Überzeugung, ein seliges Leben im neuen Zeitalter zu führen. Die Ernüchterung setzte bereits zu Franziskus' Lebzeiten ein, und während Bonaventura die Zügel des Amtes ergriff, glitt die gesamte franziskanische Organisation zu den Wurzeln der Geschichte zurück, von denen die ersten Brüder glaubten, sich ausreichend entfernt zu haben. Die Brüder, die an der Ausarbeitung der 'Regula bullata' mitwirkten, hatten den Bezug zwischen Arbeit und Seligkeit nicht verstanden oder schon wieder vergessen. Der Anonymus von Perugia erwähnt und erklärt die historische Eröffnung nicht. Bonaventura aber ist an den Unzulänglichkeiten seines Materials vorbei bis in die Zeit um 1220 gelangt und hat die historische Bedeutung der von Franziskus vorgetragenen Lebensweise im Kontext kirchlicher Strukturen betont. Er hatte keinen Grund, seine Mitbrüder 1263 als erste Spitze eines neuen Zeitalters anzuzeigen, wie sie sich wohl um 1220 verstanden. Er tat das Nächstbeste und brachte sie mit Franziskus als Wegweiser zusammen. Indem so Bruder Thomas von Celano eine Denkschrift schrieb und Bruder Johannes seinen Brüdern Material für Meditation zur Verfügung stellte, betonte Bruder Bonaventura 1263 die Bedeutung von Franziskus als Engel des sechsten
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Siegels. In der Einleitung zur 'Legenda' stellt er deutlich dar, für wen Franziskus der Engel des sechsten Siegels sei. Das erste Wort in der Legenda ist apparuit, und die Gnade Gottes wirkte sicherlich in Franziskus, aber auch in den Freunden der Armut. Sie sind es, die davon zu lernen haben. Der folgende Satz erklärt, wie Franziskus ihr Lehrer und Meister sei. Zusammen mit ihm verlassen sie die Finsternis, um ins Licht einzutreten. Nachdem er die Rolle des Franziskus im Leben seiner Brüder festgelegt hat, fährt er mit seiner Identifizierung als Engel des sechsten Siegels in der Apokalypse des Johannes fort. Sofort nach dieser Identifizierung bindet Bonaventura Franziskus noch fester in das Leben seiner Brüder ein. Er benutzt erstmals die erste Person Plural und unterscheidet zwischen der Bewunderung der Welt vor Franziskus und seiner Annahme durch die Brüder als Modell für ihr Leben. Er lädt sie ein, dem Beispiel des Franziskus in der Nachfolge des Herrn nachzueifern. Dann erwähnt er die Stigmatisation als Gottes Legitimierung dieses Lebensmodells. Mit Franziskus will Bonaventura seinen Brüdern den Sinn ihres Lebens deuten. Bonaventura kehrt zu dieser Aussage über die wegweisende Rolle des Franziskus zurück, wenn er seine Behandlung der Stigmata abschließt (XIII 10). Wenn er noch einmal die Stigmata als Gottes Anerkennung der von Franziskus vorgeführten Lebensweise betont, will er die Antwort der Brüder schon vorgestalten. Niemand kann einen solchen Beweis angreifen, schreibt er, oder abweisen oder schmähen. Im Modell Franziskus müssen die Brüder alle die angegebene Lebensrichtung anerkennen. Auch sie müssen die Welt verlassen, um den Weg des wahren Friedens zu betreten. Ähnlich wie im Sacrum commercium, wo der Verfasser die Brüder zur Weisheit Christi und in die Nähe zum Paradies führt, so will Bonaventura die Brüder weg von einer verfahrenen Welt über eine Schwelle in die neue Zeit des Friedens hinüberführen. Bonaventura hat das Leben des Franziskus in einer Weise dargestellt, welche an den früheren Glauben von einem seligen Leben in einem neuen Zeitalter anknüpft. Die 'Legenda maior' hat ihre Begrenzungen. Die Lebensweise der ersten Brüder hing weniger von Tugendhaftigkeit als von einer Neudefmierung des Lebens unter den Menschen und in der Welt ab. Bonaventura hat die Dynamik der frühfranziskanischen Bewegung nicht verstanden, wie es in Kapitel VII der 'Legenda' deutlich wird, das von der Armut des Franziskus handelt. Armut ist der Prüfstein franziskanischer Authentizität. In den ersten Zeiten hat die Armut, sowohl als materielle Beschränkung als auch als soziale Dissonanz, die Trennung zwischen der Bruderschaft und der Gesellschaft gezeichnet. Die Brüder führten ein bescheidenes Leben, weil sie wenig brauchten und weil die Leute sie schief anschauten. Franziskanische Armut, die Armut des sechsten Kapitels der Regel, wackelte, sobald die Brüder ihren Wert in den Augen der damaligen Zeitgenossen bewiesen hatten, denn sobald dies klar war, waren gute Christen mehr als bereit, sie mit dem Notwendigsten zu ver-
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sorgen. Kapitel VII der 'Legenda maior' leidet unter der Zweideutigkeit, welche sich schnell zur Armut des Franziskus gesellte. Die Zweideutigkeit entsteht durch die Schwierigkeit, Jesu Christi Armut in einer christlichen Welt zu verwirklichen. Bonaventura leitet das Kapitel über die Armut mit einem Satz ein, der die Liebe des Franziskus zur Armut als eine besondere Gnade Gottes darstellt. Dann vermählt er Franziskus mit der Armut Christi, denn die Armut hat den Sohn Gottes begleitet, als die Welt ihn verunglimpfte. Das Wort Christi, in seiner Zeit verschmäht, wurde aber zu den Zeiten des Franziskus sehr hoch geschätzt und von niemandem mehr als von Franziskus. Diese öffentliche und verbreitete Hochschätzung für den Herrn und für sein Wort Schloß Franziskus und seine Not ein, denn Franziskus verwirklichte das Wort in einer Weise, die anderen sehr gefiel. Somit wird das Gerede über seine Armut zu einer kulturellen Übung, so daß das Lob für den Poverello zu einer Anerkennung seiner Tugendhaftigkeit wird, die das Notwendige des Lebens verkörpert. Aber der Engel des sechsten Siegels muß in einer sehr kritischen Entfernung zur Welt stehen und deshalb als Feind der Welt gelten, was Franziskus aber keineswegs in der Darstellung der Legenda erfährt. Ein Abschnitt im Kapitel über die Armut enthüllt den Unterschied zwischen der Armut der ersten Brüder und der Armut der 'Legenda maior'. Nach der Darstellung des Bonaventura fordert Franziskus seine Brüder zum Betteln auf. Denn nach den Worten des Franziskus sind sie in dieser letzten Stunde entsandt worden, um den Auserwählten eine Chance zu geben, das Wort Christi zu hören: Denn was sie für diese Geringen gemacht haben, haben sie für den Herrn getan. Damit ist die Verbindung zu Mt 25 geknüpft. Dieser Satz kommt auch in dem Ausruf vor, den die Brüder um 1220 haben ertönen lassen. Der Unterschied liegt 1220 darin, daß die Brüder die Worte des Herrn der Geschichte vernehmen. Der Herr heißt das Tun der Brüder gut: Er lobt ihren Dienst an den Notleidenden und Vergessenen. Aus diesem Grund können die Brüder, nutzlose Brüder, konsequent darin fortfahren, ihrer Zuhörerschaft ein Programm historischer Hoffnung ans Herz zu legen. Wie Franziskus es in seiner Botschaft an die Poenitenten versichert, empfangen Männer und Frauen den Geist des neuen Zeitalters, wenn sie Ähnliches (talia), wie soeben dargestellt, tun. Diese Werke des neuen Geistes führen die Vergessenen der Geschichte in die neue Welt mit ein, was nie die Akzeptanz der äußeren Welt erleben wird. Folglich werden sich Christen über solche Tätigkeiten mit der Armut des Herrn vertraut machen. Die 'Legenda' hat die Handlung fallenlassen, welche den Unterschied ausmacht. Sie feiert die Armut des Franziskus, ohne die Handlungslinie anzugeben, wonach die ersten Brüder die Armut Christi kennengelernt haben. Die 'Legenda maior' hat die Grundeinstellung und die Triebkraft der frühfranziskanischen Zeit nicht verstanden. Darin war Bonaventura nicht allein. Die Ausführungen über die Armut in Kapitel VII kommen alle von dem
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zweiten Lebensbericht des Thomas von Celano. Daß Thomas von Celano die Dynamik der ersten Bruderschaft nicht verstanden hat, beweisen die Abschnitte 3 8 ^ 1 in seinem ersten Leben, wo er die Regel als Quelle benutzt. Er hat den Text als einen ausgedehnten Beweis der Tugendhaftigkeit der ersten Brüder ausgelegt. Dabei geht es in jener Quelle nicht nur um die Tugend, sondern eher um die Auseinandersetzung der Brüder mit ihrer Umwelt. Auch der Anonymus von Perugia, der die Härten der Frühzeit erwähnt, gibt keine Erklärung ab, warum es so war. Dies ist die grundlegende Schwäche im Sacrum commercium. In dieser symbolischen Geschichte erlernen die Brüder um Franziskus wohl eine besondere Weisheit von der Armut Christi, welche sie von ihrer Welt entfremdet. Nur teilt diese Geschichte nicht mit, über welche Handlungen sie zu diesem Gespräch mit der Armut gelangt waren. Alle erzählenden Quellen setzen den kulturellen Zusammenhang voraus, worin sie sich befinden. Bei keinem ist das deutlicher als bei Bruder Johannes, dem Anonymus von Perugia. In Anbetracht aller erzählenden Quellen gibt Bonaventura als einziger Franziskus eine kritische Schärfe. Diese ist es, welche es den ersten Brüdern erlaubte, Menschen ganz anders zu sehen und andere Möglichkeiten zu ergreifen. Ein apokalyptischer Franziskus lädt seine Brüder ein, ihrer Zeit mit Argwohn zu begegnen. In der Auseinandersetzung mit jeweils gegenwärtigen Strömungen stellt Argwohn die erste Tugend eines Christen dar. Diese Einstellung spielte eine bedeutende Rolle im ganzen Denken Bonaventuras. Er kannte die Gefahren seiner Zeit, die den redlichen Weg der Brüder und die Sache Christi bedrohten. Hier kommt die geistige Fähigkeit Bonaventuras zur Geltung. Johannes von Perugia hatte keine Theorie über Gegensätze und ihre Austragung im Leben. Deshalb greift er auf sozialen Anstand zurück (die via plana von Abschnitt 30) und stellt den Orden als Schule anerkannter Tugendhaftigkeit vor. Aber anders als Johannes es haben will, verfügten die ersten Brüder über eine besondere Geistesausrichtung, welche ihnen eine besondere Kraft verlieh und sie distinktiv absonderte. Sie haben ihren Weg anders aufgefaßt; ihre Besonderheit stammte keineswegs von ihrer Tugendhaftigkeit allein. Bonaventura hatte das Wissen und die Denkfähigkeit, um die Eigenart der frühfranziskanischen Geschichte wahrnehmen zu können. Andere Erzähler konnten dem nicht gerecht werden. Als Theorie stellt Bonaventura die Identifizierung des Franziskus mit dem Engel des sechsten Siegels in eine ablehnende und warnende Beziehung zu seiner Zeit. Eine solche Theorie spricht den Orden als solchen an, während Erzählungen über Franziskus ohne eine Theorie nur moralische Anregungen fur den einzelnen sind. Zu einer Zeit, als sich der Orden es sich bequem machen konnte, forderte der Franziskus der 'Legenda maior' alle heraus, ihre Berufung neu zu durchdenken und den Weg ins neue Zeitalter fortzusetzen. Der apokalyptische Franziskus ist eine Theorie der franziskanischen Geschichte - und keine schlechte.
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Die 'Legenda maior' als Geschichtstheorie hat die Bedingungen für eine weitere Auseinandersetzung um Vergangenheit und Zukunft im Orden gesetzt. Sie erwartete entweder Gutheißung und Entwicklung oder Kritik und Ablehnung. Leider wurde dieses kritische Gespräch nicht offen ausgetragen. Petrus Olivi, der sich der Frage als Aufgabe annahm, mit einem besonderen Sinn finden Beitrag der Armut dazu, wurde amtlich gebremst und ausgeschaltet. So ging Bonaventuras Herausforderung an seine Brüder in die Geschichte ein. Die Erzählungen um Franziskus, die noch hervorgebracht und weitergereicht wurden, gingen nicht auf die Herausforderung der frühfranziskanischen Geschichte ein. Nach dem anerkannten Maßstab des frühfranziskanischen Schrifttums gingen sie eindeutig an der Sache vorbei. Sie boten kein Programm fur die Organisation, welche der Orden geworden war, sondern wurden weitergereicht. Ihr Beitrag hatte keine Bedeutung für die franziskanische Vereinigung als Ganze.
LEONHARD
LEHMANN
„Erlösung" in den Schriften des hl. Franziskus
Wenn man ein Thema anvertraut bekommt, das stark auf einen Begriff eingeschränkt ist, schaut man erst einmal, was andere dazu geschrieben haben. So suchte ich zuerst in dem bekannten 'Dizionario Francescano' nach dem Artikel 'Redenzione'. Zu meiner Überraschung stellte ich fest, daß auch die zweite, um einige Artikel (Voci) erweiterte Ausgabe, die sich als riveduta ankündigt, in den meisten Beiträgen aber unverändert geblieben ist, weder einen Artikel über „Erlösung" noch „Heil" (salvezza) enthält1. Ähnlich fiel das Ergebnis aus, als ich in der 'Bibliographia Franciscana' nachschaute, die alles, was mit Spiritualität und Geschichte der breiten franziskanischen Bewegung zu tun hat, mit Fleiß und Akribie zu verzeichnen sucht. Kann es denn sein, daß bei so vielem, was über Franziskus geschrieben wurde, das Thema „Erlösung" noch nicht behandelt wurde? Gestreift wurde es natürlich von denen, die über die Weihnachts-, Passions- und Kreuzesfrömmigkeit des Heiligen geschrieben haben.2 Berührt wurde es in Gesamtdarstellungen der Geistigkeit des hl. Franziskus von Kajetan Esser und Engelbert Grau3, S. Verhey4, L. Iriarte5, A. Rotzetter6, A. Pompei7, G. Iammarrone8 und anderen; und ganz von den Schriften ausgehend und sich auf sie beschrän1
Dizionario Francescano: Spiritualità, II edizione riveduta e ampliata a cura di Ernesto CAROLI, Padova 1995.
2
3 4 5 6
7 8
Genannt sei nur Oktavian SCHMUCKI, Das Geheimnis der Geburt Jesu in der Frömmigkeit des hl. Franziskus von Assisi, in: Collectanea Franciscana 41 (1971), 260-287; DERS., Das Leiden Christi im Leben des hl. Franziskus von Assisi, Rom 1960. Vgl. die betr. Artikel Natale, Croce, Passione im gen. Dizionario. Kajetan ESSER U. Engelbert GRAU, Antwort der Liebe. Der Weg des franziskanischen Menschen zu Gott, Werl 1958. Sigismund VERHEY, Der Mensch unter der Herrschaft Gottes. Versuch einer Theologie des Menschen nach dem hl. Franziskus von Assisi, Düsseldorf 1960. Lazaro IRIARTE, Vocazione francescana, Mailand 1975. Anton ROTZETTER, Franz von Assisi: Lebensgeschichte - Lebensprogramm - Grunderfahrung, in: DERS./Willibrord Ch. VAN DIJK/Thaddée MATURA, Franz von Assisi: ein Anfang und was davon bleibt, Zürich 1981, 4 1993, 17-163; DERS., Erinnerung und Leidenschaft, Freiburg 1989. Alfonso POMPEI, Francesco d'Assisi: Intenzionalità teologico-pastorale delle Fonti Francescane, Roma 1994. Giovanni IAMMARRONE, La spiritualità francescana, Anima e contenuti fondamentali, Padova 1993.
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kend, sind zu nennen: N. Nguyen van Khanh, C. Paolazzi, C. Vaiani, L. Sangermano und 1996 wieder Th. Matura9. Doch in keinem dieser mehr oder weniger dicken Bücher gibt es ein Kapitel über „Erlösung", „Heilsgeschichte" oder ähnliche Titel. Sie sprechen wie im Vorübergehen auch von Erlösung, binden das Thema ein in die Sicht der Heilsgeschichte bei Franziskus und handeln dabei, wie wir sehen werden, ganz richtig und dem Denken des Heiligen entsprechend. Erst in dem neueren, umfangreichen Werk von Helmut Feld finden wir ein Kapitel, das mit „Welterlösung" überschrieben ist.10 Seiner Meinung nach identifiziert sich Franziskus in seiner Kopf-Zeichnung auf der Chartula für Bruder Leo mit dem ersten und zweiten Adam und „weist auf seine eigene Stellung in dem neu zu interpretierenden Erlösungsgeschehen hin"11. Für die Neuheit spräche das Tau-Zeichen. In der Vision des Seraphen und im Empfang der Wundmale sei Franziskus sich bewußt und gewiß geworden, ein „zweiter Christus" zu sein. Auch wenn diese Bezeichnung erst hundert Jahre später aufkommt (in den 'Actus beati Francisci' 6), die Vorstellung der „Konformität und Identität mit Christus muß auf Franziskus selbst zurückgehen"12. Feld schreibt dem Armen von Assisi eine neue, viel weitere Sichtweise von Erlösung zu, als die offizielle Kirche sie vertrat, und scheint ihn zum Propheten einer allumfassenden Welterlösung zu machen. Gerade weil er sich dafür mehr auf Visionen, als Offenbarung Gottes gedeutete Eingebungen und versteckte Andeutungen in den späten hagiographischen Quellen stützt als auf Franziskus' eigene Schriften, befragen wir hier nur die letzteren. Wir gehen zuerst jenen Stellen nach, wo Franziskus direkt von „Erlösung" spricht, stellen sie dann in den näheren Zusammenhang seiner Schriften13 und schließlich in
Norbert N G U Y E N VAN KHANH, Gesù Cristo nel pensiero di san Francesco secondo i suoi scritti, Mailand 1984; Carlo PAOLAZZI, Lettura degli scritti di Francesco d'Assisi, Mailand 1987; Cesare VAIANI, La via di Francesco: una sintesi della spiritualità francescana a partire dagli Scritti di san Francesco, Mailand 1993; Luciano SANGERMANO, Francesco attraverso i suoi scritti, Rom 1995; Thaddée MATURA, François d'Assise, „auteur spirituel". Le message de ses écrits, Paris 1996. 10 Helmut FELD, Franziskus von Assisi und seine Bewegung, Darmstadt 1994, 215-278; vgl. die Besprechung von Kurt-Victor SELGE in: Theologische Literaturzeitung 121
9
(1996), 278-280.
11 Ebd., 259. 12 Ebd., 262. 13 Kajetan ESSER, Die Opuscula des hl. Franziskus von Assisi, neue textkritische Edition. Zweite, erweiterte und verbesserte Auflage besorgt von E. GRAU (Spicilegium Bonaventurianum XIII), Grottaferrata (Rom) 1989. Sie werden zitiert nach der deutschen Ausgabe von Lothar HARDICK U. E. G R A U , Die Schriften des hl. Franziskus von Assisi. Achte, verbesserte Auflage, Werl 1984. Nach diesem Werk richten sich auch die üblich gewordenen Abkürzungen. Für die hier selten angeführten hagiographischen Quellen (i-II Cel = die beiden Viten des Thomas von Celano; 3 Soc = Dreigefährtenlegende;
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den weiteren Kontext seiner Zeit. Was den letzten Punkt angeht, beschränke ich mich allerdings auf eine allgemeine Einordnung in die Tradition. Denn wie die Katharer, Waldenser, Humiliaten oder andere heterodoxe Gruppen sich die Erlösung vorstellten, wird im Beitrag von Dr. Daniela Müller behandelt.
1. Der statistische Befund a) Nicht „Erlösung", sondern „Erlöser" Es ist sicher typisch für die Sprechweise des Franziskus, daß das Substantiv redemptio nicht vorkommt (hingegen einmal bei Klara: 4 Agn 22 14 ). Er denkt nicht in Abstraktionen, sondern konkret: So spricht er vom Erlöser und dies meist im Zusammenhang von „Schöpfer, Erlöser und Retter". Diese Trilogie begegnet in den Schriften dreimal: einmal im Missionsstatut (RegNB 16,9) als das die Christen von Andersgläubigen unterscheidende Bekenntnis, sodann zweimal in Gebetstexten: RegNB 23,27; ErklVat 1. Es sei auch hier angemerkt, daß diese Trilogie bei Klara nicht aufscheint; ja, das Wort redemptor kommt nur in dem apokryphen, in seiner Textfassung jedenfalls weniger authentischen Brief an Ermentrudis von Brügge vor (Ermen 16), aber hier im Zusammenhang mit consolator optimus und merces aeterna. Ihren Schriften zufolge dürfen wir also schon schließen, daß Klara weit weniger, ja vielleicht gar nicht den Bogen schlägt von der Schöpfung über die Erlösung bis zur Parusie, während das Gottesbild bei Franziskus von dieser heilsgeschichtlichen Linie geprägt ist, wie wir sehen werden.
b) Bevorzugung des Verbs „ erlösen " Gebraucht Franziskus nie das Wort „Erlösung" und nur dreimal „Erlöser", so doch sechsmal das Verb „erlösen" {redimere), immer eindeutig bezogen auf Jesus Christus bzw. Gott. Nennen wir gleich die Stellen in einer soweit möglich chronologischen Reihenfolge: Test 5; RegNB 23,3.8; BrKI 3; OffPass VI,15; BrOrd 4. LegMaior = Legenda maior Bonaventuras, etc.) verweise ich auf die „Franziskanischen Quellenschriften" (10 Bde.), Werl 1957-1997. 14 Ciaire d'Assise, Ecrits. Introduction, texte latin, traduction, notes et index par MarieFrance BECKER/Jean-François GODET/Thaddée MATURA (Sources Chrétiennes 325), Paris 1985, 2 1997. Deutsche Ausgabe, nach der sich auch die Siglen richten: Leben und Schriften der hl. Klara von Assisi. Siebte, völlig neu bearbeitete Ausgabe von E. GRAU, Werl 1997.
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1. Zuerst ist jene aus der liturgischen Feier der Kreuzfeste stammende, von Franziskus aber beträchtlich erweiterte Anbetungsformel zu nennen, die er im 'Testament' überliefert. Sie reicht in die Frühzeit des Ordens zurück und wird von den ältesten Quellen mit kaum voneinander abweichendem Wortlaut bezeugt: „Wir beten dich an, Herr Jesus Christus, (hier) und in allen deinen Kirchen auf der ganzen Welt, und wir preisen dich, denn durch dein heiliges Kreuz hast du die Welt erlöst." (Test 5; I Cel 45; 3 Soc 37; LegMaior 4,3)
2. Ausgiebig beschäftigen muß uns die „franziskanische Präfation", also ein liturgisch geprägter Text in der nicht bullierten Regel, der mit Oratio et gratiarum actio überschrieben ist (RegNB 23). Dieses lange 23. Kapitel am Ende der ersten erhaltenen Regel fand nach David Flood „neben der forma vitae für die Brüder seinen Platz in der Regel als eine allen Menschen anzubietende Erklärung ihrer Lebensweise, und zwar in Gestalt einer Laude"15. Hier kommt nun das Verb redimere sowohl im von Flood und anderen als „Glaubensbekenntnis", von mir als „Danksagung in fünf Strophen" gekennzeichneten ersten Teil vor wie auch im von Flood und mir als Buß-Exhorte beschriebenen zweiten Teil.16 Wer die beiden Stellen liest, spürt gleich auch ihren parallelen Aufbau und die Bewegung vom Glaubensbekenntnis zum Tun des Glaubens, vom Dank zur liebenden Hingabe, vom Jubel zur Bußpredigt, von der Exsultatio zur Exhortatio: „Und wir sagen dir Dank, weil du, gleichwie du uns durch deinen Sohn erschaffen hast, so durch deine heilige Liebe, mit der du uns geliebt hast, ihn selbst als wahren Gott und wahren Menschen aus der glorreichen, allerseligsten, immerwährenden Jungfrau, der heiligen Maria, hast geboren werden lassen, und weil du durch sein Kreuz und sein Blut und seinen Tod uns, die gefangen waren, hast erlösen wollen." (RegNB 23,3) „Laßt uns alle 'aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele, aus ganzer Gesinnung, aus aller Kraft und Stärke, mit ganzem Verstand (vgl. Mk 12,30-33), mit allen Kräften' (vgl. Lk 10,27), mit ganzer Anstrengung, mit ganzer Zuneigung, mit unserem ganzen Innern, mit allen Wünschen und aller Willenskraft Gott, den Herrn, lieben, der uns allen den ganzen Leib, die ganze Seele und das ganze Leben geschenkt hat und schenkt, der uns erschaffen hat, erlöst hat und uns einzig durch sein Erbarmen retten wird, der uns Elenden und Armseligen, Üblen und Stinkenden (foetidi), Undankbaren und Bösen alles Gute erwiesen hat und erweist." (RegNB 23,8) 15 David E. FLOOD, Die Regula non bullata der Minderbrüder (Franziskanische Forschungen 19), Werl 1967, 136. 16 D . FLOOD, D i e R e g u l a ( w i e A n m . 15), 1 3 4 - 1 3 6 ; T h . MATURA, F r a n ç o i s ( w i e A n m . 9),
60-70: „Le Credo de François (1 Reg 23,1-6)"; Leonhard LEHMANN, Tiefe und Weite. Der universale Grundzug in den Gebeten des Franziskus von Assisi (Franziskanische Forschungen, 29), Werl 1984, 155-188; DERS., „Gratias agimus tibi". Structure and content of chapter 23 in the Regula non bullata, in: Laurentianum 23 (1982), 312-375.
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3. In den 15 Psalm-Kompositionen des Passionsoffiziums kommt das Verb „erlösen" nur einmal vor. Das erstaunt einigermaßen, wenn man bedenkt, daß in der Vulgata-Version der Psalmen Redemptor zwei, Redemptio drei und Redimere 21 Mal vorkommt.17 Vom Schulunterricht her, aus der Liturgie und durch das persönliche Beten kannte Franziskus die Psalmen ziemlich auswendig. Wie das von ihm zusammengestellte Offizium vom Leiden des Herrn zeigt, geht er frei mit ihnen um und weiß je nach vorgestellter Szene eine Art Bild-Meditation zu verfassen. Daß er darin so wenig das in den Psalmen vorgegebene Wortfeld „Erlösung" aufgreift, läßt immerhin den Schluß zu, daß sich ihm das Thema Erlösung nicht sehr aufdrängte. Doch scheint natürlich das, was damit gemeint ist, häufiger mit anderen Worten auf. Aufschlußreich ist, was Franziskus in die Psalmen einfügt oder wie er sie verändert; er tauft sie gleichsam, wandelt sie von einem jüdischen zu einem christlichen Gebet. So steht redimii im zweitletzten Vers des Psalmes zur Non, also zur Todesstunde Jesu; darin läßt Franziskus Jesus am Kreuz die Vorübergehenden so ansprechen: „O ihr alle, die ihr auf dem Weg vorüberzieht, habt acht und seht, ob ein Schmerz ist wie mein Schmerz" (Off VI, 1 = Kl 1,12). Er fährt dann mit dem Sterbepsalm 21 fort, der geschickt mit einigen Versen aus anderen Klage-Psalmen angereichert wird. Während die ersten 14 Verse ein Gebet Jesu zum Vater sind, sind die letzten zwei ein Gebet der Gemeinde, ein Lobpreis und ein Bekenntnis des Franziskus und derer, die mit ihm beten: „'Gepriesen sei der Herr, der Gott Israels' (Lk 1,68), der die Seelen seiner Knechte mit seinem eigenen heiligsten Blut erlöst hat; und er wird alle jene nicht verlassen, die auf ihn hoffen." (vgl. Ps 33,23) „Und wir wissen, daß er kommt, daß er kommen wird, nach Gerechtigkeit zu richten." (vgl. Ps 95,13) (Off VI,15-16)
Näher betrachtet liegen diesem Text je ein Vers oder Halbvers aus dem AT sowie aus dem NT zugrunde - beide Testamente werden also ohne Scheu vereint, im Gegensatz zu den Katharern, die das AT ablehnten.18 Außerdem ist der erste Vers in der Liturgie beheimatet, im Benedictus, das täglich zur Laudes gebetet wird; ebendort begegnet auch das Substantiv „Erlösung". Der Anfang des 'Benedictus' lautet nämlich:
17 Gabriel TONINI, Concordantiae Bibliorum Sacrorum Vulgatae Editionis, Prati 1861: Redemptor: Ps 18,14; 77,35; Redemptio: Ps 18,8; 110,8; 129,7; Redimo: Ps 7,2; 25,11; 30,5; 33,22; 43,25; 48,7.15; 54,18; 70,23; 71,14; 73,2; 76,14; 77,42; 102,4; 105,11; 106,2. 18 Vgl. Kajetan ESSER, Franziskus von Assisi und die Katharer seiner Zeit, in: Archivum Franciscanum Historicum 51 (1958), 225-264.
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„Benedictos Dominus Deus Israel, quia visitavit etfecit redemptionem plebis suae " (Lk 1,68).
Mag der Gedanke der Erlösung also durchaus vom 'Benedictus' kommen, so ist doch die Verbalform sowie der ganze zweite Halbvers original von Franziskus: „'Benedictus Dominus Deus Israel' (Lk 1,68a), qui redemit animas servorum suorum de proprio sanctissimo sanguine suo et non derelinquet omnes qui sperant in eo" (vgl. Ps 33,23).
4. Im sogenannten Brief an die Kleriker, der mangels einer Adresse und eines Absenders sowie aufgrund seines Stils eher ein schriftgewordenes „Mahnwort an die Kleriker" darstellt19, kommt redimere im zentralen und bedeutungsvollen Satz vor, der die Begründung liefert fur die den eucharistischen Gaben sowie den „Namen und Worten Gottes" gebührende Verehrung: „Nichts haben und sehen wir nämlich materiell (corporaliter) in dieser Weltzeit von ihm, dem Allerhöchsten, selbst, als den Leib und das Blut, die Namen und Worte, durch die wir geschaffen und 'vom Tod zum Leben' (1 Joh 3,14) erlöst sind." (BrKl 3)
5. Zuletzt ist der nach Oktavian Schmucki doch eher spät, d.h. „wahrscheinlich 1225" anzusetzende Brief an alle Brüder zu nennen.20 Hier kommt das Wort in der langen, hierarchisch gegliederten Grußadresse vor, in der Franziskus sich bewußt an alle Brüder wendet (darum gab Kajetan Esser dem Brief den neuen Titel 'Brief an den ganzen Orden' statt 'Brief an das Kapitel'21) - vom Generalminister bis zum „einfachen Bruder", vom zeitlich „ersten bis zum letzten", und in der er sich auf typische Weise, Sendungsbewußtsein und Demut verbindend22, vorstellt: „Allen hochwürdigen und geliebtesten Brüdern, dem Bruder Α., dem Generalminister des Ordens der Minderen Brüder, seinem Herrn, und den anderen Generalministern, die nach ihm sein werden, und allen in Christo demütigen Ministern und Kustoden und Priestern dieser Brüderschaft und allen einfachen und gehorsamen Brüdern, den ersten und den letzten, wünscht Bruder Franziskus, ein unbedeutender und hinfalliger Mensch, euer ganz kleiner Knecht, Heil in dem, der uns erlöst und in seinem überaus kostbaren Blute gewaschen hat." (BrOrd 2-3)
19 Vgl. Leonhard LEHMANN, Das schriftliche Mahnwort des hl. Franziskus an alle Kleriker, in: W i s s e n s c h a f t u n d W e i s h e i t 5 2 ( 1 9 8 9 ) , 1 4 7 - 1 7 8 .
20 Oktavian SCHMUCKI, La „Lettera a tutto l'Ordine" di san Francesco, in: L'Italia Francescana 55 (1980), 2 4 5 - 2 8 6 .
21 Kajetan ESSER, Die Opuscula (wie Anm. 13), 237-238; Lothar HARDICK U. Engelbert GRAU, Die Schriften (wie Anm. 13), 87. 22 Vgl. Leonhard LEHMANN, Der Mensch Franziskus im Licht seiner Briefe, in: Wissenschaft und Weisheit 46 (1983), 108-138.
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Nun geht es darum, diese fünf Stellen in das Gesamtbild der Schriften einzuordnen.
2. Theologische Leitlinien Wenn wir nun versuchen, die wenigen Stellen, wo direkt von „Erlösung" die Rede ist, auszulegen, ergeben sich meines Erachtens vier theologische Leitlinien.
a) Die heilsgeschichtliche
Sicht
Was wir heute Heilsgeschichte nennen, ist bei Franziskus und den Theologen seiner Zeit noch konkret ausgefaltet und mit den drei Eckpunkten der Heilsgeschichte benannt. Wie er nicht das Substantiv redemptio gebraucht, so auch nicht creatio\ und salvatio begegnet nur einmal im Abschluß der Regel (RegNB 24,1). Statt abstrakte Termini zu gebrauchen, wendet er sich lieber unmittelbar an den Urheber, Bewirker und Vollender der Heilsgeschichte, den einen und dreifaltigen Gott: Vater, Sohn und Heiliger Geist. Es fällt auf, wie die drei Momente der Heilsgeschichte in trinitarischem Kontext stehen und dieser wiederum auf die Liturgie verweist. Das wohl älteste Zeugnis haben wir in dem so wichtigen Missionsstatut (= RegNB 16).23 In ihm wird die eigentliche Wortverkündigung an die zweite Stelle gesetzt nach dem wichtigeren gelebten Zeugnis des Minder- und Untertanseins. Nach eingehender Prüfung und Überlegung im Gebet können die Missionare den Sarazenen und anderen Nichtchristen „das Wort Gottes verkünden: sie sollen glauben an den allmächtigen Gott, den Vater und den Sohn und den Heiligen Geist, den Schöpfer aller Dinge, an den Sohn, den Erlöser und Retter, und sie sollen sich taufen lassen und Christen werden; denn wenn jemand nicht wiedergeboren wird aus dem Wasser und dem Heiligen Geist, kann er nicht in das Reich Gottes eingehen (Joh 3,5)" (RegNB 16,7). Die Verkündigung mündet, so Gott will, in die Taufe; das Sakrament ist die Vollendung und Besiegelung. Die Liturgie der Taufe mit Wasser und das Kreuzzeichen sind hier deutlich herauszuhören. Was aber in der Taufliturgie so deutlich nicht steht, ist die Trilogie „Schöpfer - Erlöser - Retter". Sie entspricht 23 Vgl. Leonhard LEHMANN, Grundzüge franziskanischen Missionsverständnisses nach Regula non bullata 16, in: Franziskanische Studien 66 (1984), 68—81; Horst VON DER BEY, Vom kolonialen Gottesexport zur befreienden Mission (Studien zur Theologie der Kulturen und Religionen 6), Alfter 1996, 10-55: „Das Missionsverständnis des Franz von Assisi".
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Leonhard Lehmann
wohl der Trilogie „Vater - Sohn - Geist", wobei allerdings dem Sohn die beiden Titel Redemptor et Salvator zukommen und der ganze Nachsatz über die Taufe, in dem ja auch Spiritus Sanctus vorkommt, sich auf den Heiligen Geist bezieht. Parallel gesetzt, sieht der Text so aus: ... ut credant Deum omnipotentem Patrem et Filium et Spiritum Sanctum
creatorum omnium, redemptorem et salvatorem, ut baptizentur et efficiantur christiani, quia quis renatus non fuerit ex aqua et Spiritu Sancto, non potest intrare in regnum Dei (Joh 3,5).
Der Vater wird hier als „Schöpfer aller Dinge" bezeichnet, worin man ein Bekenntnis zur Gutheit alles Geschaffenen und eine verborgene Abwehr katharischer Auffassungen erkennen kann. Dem Sohn ist „Erlöser und Retter" zugeordnet. Daß „Retter" nicht bloß ein Synonym von „Erlöser" ist, geht aus den beiden Stellen in Kapitel 23 derselben Regel hervor, die wir schon zitiert haben; dort wird das Verb im Futur gebraucht: salvabit (RegNB 23,8). Wird im Missionsstatut Gott als „Schöpfer aller Dinge" verkündet, so steht er im 23. Regelkapitel mehr als Erschaffer und Erhalter des Menschen im Blickpunkt. Dreimal ist die Totalität ausgesagt, um gegen die Haltung der Katharer zu betonen, daß der ganze Mensch, auch sein Leib, von Gott stammt, ja Geschenk ist - am Anfang in seiner Entstehung und jeden Tag neu. Der totalen Zuwendung Gottes zu uns soll unsere Ganzhingabe und totale Liebe zu ihm entsprechen: „Laßt uns alle aus ganzem Herzen, [...] mit ganzer Zuneigung, [...] mit allen Wünschen und aller Willenskraft Gott lieben, der uns allen den ganzen Leib, die ganze Seele und das ganze Leben geschenkt hat und schenkt, der uns erschaffen hat, erlöst hat und einzig durch sein Erbarmen retten wird" (RegNB 23,8).
Das neunmalige „ganz" (totus) und dreimalige „alle" (omnes) auf Seiten des Menschen unterstreicht unüberhörbar, daß wir restlos und total, mit allem, was wir sind und haben, Gott lieben sollen, der uns zuerst geliebt und uns „alles Gute erwiesen hat und erweist". Da Gott uns „den ganzen Leib", „das ganze Leben", „alle Kräfte", „alles Gute und alle Güter schenkt", sollen wir ihn auch „mit allen Kräften", „mit dem ganzen Leib und Leben" wiederlieben. „Auf die totale Liebe Gottes zum Menschen hat als Antwort eine totale Liebe des Menschen zu Gott zu erfolgen". 24 Wenn alles Gute von ihm stammt, ist es eigentlich nur logisch, daß wir, wie Franziskus so oft sagt, Gott, dem höchsten Gut, „alles Lob, alle Herrlichkeit, allen Dank, alle Ehre, allen Preis und alles Gute
24 Anton ROTZETTER, Die Funktion der franziskanischen Bewegung, Schwyz 1977, 116.
.Erlösung" in den Schriften des hl. Franziskus
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zurückgeben" (PreisHor 11). Sein privates Stundengebet beschließt er gewöhnlich, d.h. mehrmals am Tag, so: „Laßt uns preisen den Herrn, den lebendigen und wahren Gott: laßt uns ihm stets Lob, Herrlichkeit, Ehre, Segen und alles Gute zurück geben. Amen. Amen."
Hieß es im Missionsstatut „Schöpfer - Erlöser - Retter", so heißt es jetzt im Dank- und Mahnlied der nicht bullierten Regel: „[...] der uns erschaffen hat, erlöst hat und einzig durch sein Erbarmen retten wird". Erschaffung und Erlösung geschahen in der Vergangenheit, die Rettung aber steht noch aus. Sie geschieht übrigens „einzig durch sein Erbarmen" oder „allein aus Gnade" (sola gratia), wie Franziskus an anderer Stelle sagt (BrOrd 52); ein Prinzip, das er also schon vor Martin Luther betont.25 Daß dies wiederum nicht Passivität bedeutet, zeigt neben anderen Schriften der Schluß des Missionsstatuts, wo Haltungen der Bergpredigt angemahnt werden und der letzte Satz dann lautet: „Und wer ausharrt bis ans Ende, der wird gerettet werden" (RegNB 16,21 = Mt 10,22; 24,13).
Salvator meint also eindeutig den künftigen Retter, der „in seiner und des Vaters und der Engel Herrlichkeit kommen wird" (RegNB 16,9; vgl. Lk 9,26). Mit dem letzten Zitat kommen wir auch dem Verständnis näher, warum Franziskus die Rollen der drei göttlichen Personen nicht streng trennt. Es ist für ihn der eine und doch dreifaltige Gott, der in allem wirkt, von der Schöpfung bis zur Vollendung. Jedes göttliche Wirken, das etwas außerhalb Gottes hervorbringt, wird dem Vater, dem Sohn und dem Hl. Geist zugeschrieben. 26 Diese „ökonomische" Dreifaltigkeit erscheint auch, wo Franziskus von der Vermittlung des Sohnes bei der Welterschaffung, bei der erlösenden Inkarnation und bei der Verherrlichung der Gerechten spricht, so daß er schließlich im mystischen Lobpreis von Alverna ohne Unterscheidung der göttlichen Personen ausrufen kann: „Du 'heiliger Vater' (Joh 17,11), 'König des Himmels und der Erde' (Mt 11,25). Du bist der dreifaltige und eine Herr, der Gott aller Götter. Du bist das Gute, jegliches Gut, das höchste Gut, der Herr, der lebendige und wahre Gott"27 (LobGott 2-3).
25 Vgl. L. LEHMANN, Franziskus, Meister des Gebets (Bücher franziskanischer Geistigkeit 32), Werl 1989, 231-234; DERS., Francesco, uomo ecumenico, in: Italia Francescana 71 (1996), 62-75.
26 Vgl. Alfonso POMPEI, Francesco d'Assisi: Intentionalità teologico-pastorale delle Fonti Francescane, R o m 1994, 2 5 0 - 2 5 3 .
27 Vgl. L. LEHMANN, Tiefe und Weite (wie Anm. 16), 249-262; DERS., Franziskus, Meister des Gebets (wie Anm. 25), 190-198.
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Im Blick auf die Dreifaltigkeit kommt aber hier - wie auch in anderen Gebeten des Heiligen - dem Vater der Vorrang zu; er schließt gleichsam die anderen zwei Personen, die ja von ihm ausgehen, in sich ein.28 Auf der Linie der kirchlichen Hochgebete29 ist auch in der langen franziskanischen Präfation der Dank an den „allmächtigen, [...], höchsten Gott, den heiligen und gerechten Vater" gerichtet (RegNB 23,1), selbst wenn dann in den folgenden Strophen die Schöpfung vorwiegend dem Vater, die Erlösung und Rettung vorwiegend dem Sohn zugeschrieben wird. Gegen Ende des hymnischen Dank- und Mahnlieds, das an alle Stände in Kirche und Welt gerichtet ist, fließen dann die Titel „Schöpfer" und „Retter" zusammen und münden in den Lobpreis und Dank gegenüber dem „erhabenen und höchsten ewigen Gott, der Dreifaltigkeit und Einheit, dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist, dem Schöpfer von allem und dem Retter aller, die an ihn glauben, auf ihn hoffen und ihn lieben" (RegNB 23,11). Die hier gegenwärtige Dreier-Struktur ist die Fortsetzung von jener vorausgehenden, in der die ausschließliche Ausrichtung unseres Wünschens und Wollens auf den „allein wahren Gott, die Fülle des Guten", gefordert wird, um dann, zuerst negativ, dann positiv den lebenslangen, totalen, uns ganz einfordernden Dienst vor Gott anzumahnen: Nichts soll (uns) hindern, nichts uns trennen, nichts dazwischenkommen (interpolet). 3 0 „Überall, an jedem Ort, zu jeder Stunde und zu jeder Zeit, täglich und unablässig wollen wir alle wahrhaft und demütig an ihn glauben und an ihm im Herzen festhalten und ihn lieben, ehren, anbeten, ihm dienen ..." (RegNB 23,10-11).
Exklusivität und Universalität bedingen hier einander: Nichts soll uns von Gott trennen, ihm soll überall und jederzeit unsere ganze Aufmerksamkeit gehören, weil er unser Schöpfer, Erlöser und Retter ist, unser höchstes Gut 28 94mal bezieht sich Franziskus in seinen Schriften auf Gott-Vater, 26mal ist die Anrede Jesus in den Mund gelegt: Es ist Jesus, der sich (vor allem in den Psalmen) an den Vater wendet oder der von seinem Vater spricht. Vgl. Thaddée MATURA, François (wie Anm. 9), 96: „François contemple la paternité de Dieu à sa source même, dans l'attitude du Fils devant son Père. Il découvre cette attitude dans la prière du Fils: Jn 17 et Mt 26,36-46." 29 Giambattista MONTORSI, Francesco ha composto una preghiera eucaristica?, in: Studi Francescani 92 (1995), 13-18. Der Autor stellt mit Elementen aus den Gebeten des Heiligen ein Hochgebet zusammen. Ähnliche Versuche stammen von Helmut SCHLEGEL, Assisi für Pilger: ein Begleitbuch für Besinnung und Liturgie, Werl 1995, 164-173.
30 So wage ich interpolet zu übersetzen; Anton ROTZETTER, Die Demut Gottes. Meditationen, Lieder, Gebete, Zürich 1977, wählt „stören"; L. HARDICK U. E. GRAU, Die Schriften des hl. Franziskus (wie Anm. 13), 203, Anm. 76, übersetzen „falschen" und erklären: „Das Objekt dieses Satzes wird nicht genannt. Man wird es wohl in dem Gottesbekenntnis von Vers 9 sehen dürfen: Nichts soll dieses Gottesbekenntnis hindern, nichts soll von ihm trennen, durch nichts soll es gefälscht werden."
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und einziges Glück, unser ein und alles. Das Franziskus zugeschriebene Stoßgebet 'Deus meus et omnia', das zum bekannten Motto (und Logo) des Ordens wurde, läßt sich gut aus dieser hymnischen Laude ableiten und als deren Kurzformel verstehen. Aufgrund der betonten Ineinsschau der Dreifaltigkeit Gottes kann Franziskus einerseits differenzieren in Vater, Sohn und Geist, andererseits aber auch nach der Nennung der drei Personen fortfahren: „Schöpfer von allem und Retter aller, die an ihn glauben und auf ihn hoffen und ihn lieben [...]". Was hier ganz feierlich klingt, fuhrt dann in der Vaterunser-Meditation zu der kurzen Anrede: „O heiligster Vater unser: unser Schöpfer, Erlöser, Tröster und Retter" (ErwVat 1).
Ohne das Glaubensgeheimnis von der Dreifaltigkeit und Einheit zu nennen, fuhrt Franziskus hier die ganze Heilsgeschichte auf den Vater zurück, was ja nicht verkehrt ist, insofern der Vater der Ursprung des Heils ist und seinen Sohn gesandt hat. Für die Rechtgläubigkeit spricht, daß sich eine ähnliche Rückführung auf den Sohn oder den Hl. Geist nicht findet; nirgendwo sagt Franziskus: „O heiliger Herr Jesus Christus: unser Schöpfer, Erlöser und Tröster." Franziskus erklärt das Vaterunser nicht, wie es vor ihm Kirchenväter getan haben, sondern er erweitert es betend 31 ; er bleibt in der Spur des von Jesus gelehrten Gebets, das für Christen das Gebet par excellence ist. Obwohl die Blickrichtung auf den Vater dominiert, ist Franziskus' Meditation aber doch erstaunlich offen auf den Sohn und den Hl. Geist; denn es ist ja nicht schwer, im Redemptor und Salvator Jesus Christus zu erkennen und im Consolator den Hl. Geist. Franziskus greift hier wohl, wie Kajetan Esser herausgearbeitet hat, auf eine Vorlage zurück, in welcher die Terne „Creator, Redemptor, Consolator" schon vorkam und auf die Dreifaltigkeit gedeutet wurde. 32 Der ursprünglichen Trias hat Franziskus sein geliebtes et Salvator angehängt und durch die zweimalige Nennung des Sohnes (Redemptor et Salvator) eine besondere christo-
31 Darum spreche ich lieber von der „Erweiterung" als von der „Erklärung des Vaterunsers" (ErwVat statt ErklVat). Leider hat man den Titel Expositio einfach von vorausgehenden „Erklärungen zum Vaterunser" übernommen. Vgl. L. LEHMANN, Franziskus, Meister des Gebets (wie Anm. 25), 139-165: „Meditation über das Gebet des Herrn"; DERS., Wenn Leben Beten wird: Franz von Assisi (Bücher franziskanischer Geistigkeit, 34), Werl 1998. 32 Kajetan ESSER, Die dem hl. Franziskus von Assisi zugeschriebene „Expositio in Pater noster", in: Collectanea Franciscana 40 (1970), 241-271, oder in DERS., Studien zu den Opuscula des hl. Franziskus, hg. v. Edmund KURTEN und Isidoro DE VILLAPADIERNA (Subsidia Scientifica Franciscalia 4), Rom 1973, 225-257.
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logische Note in die vorausbestehende Trinitätsformel gebracht.33 Der Zusatz Salvator vervollständigt die heilsgeschichtliche Linie, indem er dem Moment der Schöpfung und jenem der Erlösung, die in der Vergangenheit liegen, noch jenen der Rettung hinzufugt, die noch aussteht. Salvator ist darum - wie wir auch aus dem Futur in salvabit (RegNB 23,8) gesehen haben - mit „Retter" zu übersetzen und nicht mit „Heiland".34 Franziskus verlängert hier die heilsgeschichtliche Linie durch den Ausblick auf die Wiederkunft Christi als Richter und Retter. War in der Vorlage hauptsächlich an die Schöpfung, Erlösung und Geistsendung gedacht, so ist durch die Hinzufugung der Parusie auch das eschatologische Moment des christlichen Glaubens ins Blickfeld gerückt: Gott ist der Herr der ganzen Geschichte von der Schöpfung bis zur Parusie. Auch in seinen übrigen Schriften ist der Ordensgründer sich der Endzeit bewußt; er lehrte und lebte so sehr auf die künftige Welt hin, daß „gar viele herbeieilten, ihn zu sehen und zu hören, weil sie ihn für einen Menschen des kommenden Zeitalters hielten" (3 Soc 54; vgl. I Cel 36).35 Zeitlich-universales Denken, das die ganze Heilsgeschichte umgreift, drückt sich zu Beginn der Vaterunser-Erweiterung in der Anrede Gottes als „Schöpfer, Erlöser, Tröster und Retter" aus. Solches Denken ist auch in den übrigen „Strophen" der Vaterunser-Meditation festzustellen, auf die wir hier aber nicht mehr weiter eingehen wollen.36
b) Das Faktum der Erlösung Der unterschiedliche Tempus-Gebrauch sagte uns, daß Erlösung und Rettung nicht einfach dasselbe sind: redimere steht immer im Perfekt, salvare im Futur. Diese Beobachtung schließt ein, daß die Erlösung geschehen ist; sie ist ein Faktum, an das der Christ glaubt. Dieses Bekenntnis unterscheidet ihn z.B. von den Juden, die immer noch auf den Erlöser-Messias warten. So schrieb neulich die israelische Journalistin Rachel Michaeli in der Tageszeitung „Ha'aretz": „Wann und wie unsere Erlösung stattfinden wird, das weiß nur der Heilige, gelobt sei er. Wir kennen seine Uhrzeiten nicht. Daß der Staat Israel besteht, bedeutet nicht, daß 33 Maria S u c c o , Le preghiere di san Francesco, Assisi 1967, 45: „Francesco [...] nel suo cristocentrismo trinitario unisce al Padre creatore, il Figlio redentore e salvatore e lo Spirito consolatore nostro." 34 So noch L. HARDICK U. E. GRAU in: Die Schriften (wie Anm. 13), 96. Vgl. schon meine Kritik zur Neuausgabe der Schriften des hl. Franziskus, in: Laurentianum 22 (1981), 302-318.
35 Vgl. Kajetan ESSER, „Homo alterius saeculi." Endzeitliche Heilswirklichkeit im Leben des hl. Franziskus, in: Wissenschaft und Weisheit 20 (1957), 180-197. 36 Vgl. L. LEHMANN, Tiefe und Weite (wie Anm. 16), 149-174.
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die Erlösung in unsere eigenen Hände gegeben wurde, sondern daß sie als ein ersehntes Ziel bestehen bleibt."37
Die Erlösung ist ein Ereignis der Vergangenheit, das allen Menschen zugute kommt; sie ist ein Angebot, ein Geschenk, das wir nicht verdient haben. Es kommt aber nicht zur Entfaltung ohne uns. Das Faktum der Erlösung garantiert nicht schon die Rettung. Die Zeit dazwischen, die Jetztzeit, ist die Zeit der Entscheidung zur Annahme oder Ablehnung der Erlösung. Es ist die Zeit der Buße, wie Franziskus sagt. Er dankt ja Gott, dem Vater, so: „Wir sagen dir Dank, weil dein Sohn kommen wird in der Herrlichkeit seiner Majestät, um jene, die nicht Buße getan [...] haben, ins ewige Feuer zu stürzen, und um allen, die [...] dir in Buße gedient haben, zu sagen: 'Kommt, ihr Gesegneten meines Vater, nehmt das Reich in Besitz, das euch bereitet ist vom Anbeginn der Welt'." (vgl. Mt 25,34) (RegNB 23,4).
Diese Buße ist im wesentlichen eine „Antwort der Liebe", wie K. Esser und E. Grau sinnvoll ihre Synthese franziskanischer Spiritualität überschrieben haben. 38 Wir sollen mit allem, was wir sind und haben, den lieben, „der uns erschaffen und erlöst hat und retten wird", obwohl wir doch nichtsnutzig, vergänglich und böse sind (vgl. RegNB 23,8). Diese Buße ist nichts anderes als die Verwirklichung der drei göttlichen Tugenden, die ja christliches Leben erst grundlegen und um die Franziskus zu Beginn seines „Lebens in Buße" (Test 1 ) gebetet hat: „Schenke mir rechten Glauben, gefestigte Hoffnung und vollendete Liebe, Gespür und Erkenntnis, Herr, damit ich deinen heiligen und wahrhaften Auftrag erfülle" (GebKr).
Darum preist er dann auch zuversichtlich Gott als den „Retter aller, die an ihn glauben und auf ihn hoffen und ihn lieben" (RegNB 23,11). Wer glaubt, hofft, liebt, bringt die Erlösung in sich zur Auswirkung und wird zweifellos gerettet. Auch bei Franziskus lebt der Christ also im „Schon und noch Nicht", in der Spannung des empfangenen und zu wirkenden Heils. Die Gabe der Erlösung wird zur Aufgabe. Mit Worten des Apostels Paulus: „Wir, die wir dem Tag angehören, wollen nüchtern sein und wollen uns rüsten mit dem Panzer des Glaubens und der Liebe und mit dem Helm der Hoffnung auf das Heil. Denn Gott hat uns nicht dazu bestimmt, daß wir dem Zorngericht verfallen, sondern daß wir das Heil erlangen durch unseren Herrn Jesus Christus." (1 Thess 5,8-9).
Daß die Erlösungstat Jesu ein geschenktes Unterpfand ist, das man nur einlösen muß, zeigt eine weitere Beobachtung am Text: Von der Schöpfung, von der Inkarnation und von der Parusie spricht Franziskus sehr bestimmt: Gott 37 Auf Deutsch zitiert in: Christ in der Gegenwart 50 (1998), Nr. 2, 14. 38 Kajetan ESSER U. Engelbert G R A U , Antwort der Liebe. Der Weg des franziskanischen Menschen zu Gott (Bücher franziskanischer Geistigkeit, 3), Werl 1958; dieses 350 Seiten starke Buch wurde zu Recht in viele Sprachen übersetzt und gilt als Klassiker.
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hat „alles Geistige und Körperliche geschaffen und uns [...] ins Paradies gestellt"; er hat seinen „Sohn aus der hl. Jungfrau Maria geboren werden lassen"; der Sohn „wird kommen in der Herrlichkeit seiner Majestät". Vom Zwischenstadium der Erlösung aber heißt es: „Du hast uns erlösen wollen" (RegNB 23,1-3). Am universalen Heilswillen Gottes besteht kein Zweifel. Die entscheidende Frage ist nur, ob auch wir wollen. Von daher versteht man auch besser, warum in dem theologisch so dichten Gebet am Ende des Briefes an den gesamten Orden unser Wollen so betont wird: „Allmächtiger, ewiger, gerechter und barmherziger Gott, gib uns Elenden, um deiner selbst willen das zu tun, von dem wir wissen, daß du es willst und immer zu wollen, was dir gefällt..." (BrOrd 50). 39
Immer wollen, was Gott gefallt - das ist ein hochgestecktes Ziel! Franziskus bittet um diese Gabe, dem Willen Gottes möglichst nahe zu kommen. Wie sehr es ihm dabei auf die uneigennützige Absicht, auf die Reinheit des Herzens, ankommt, zeigt der Zusatz „um deiner selbst willen" {propter temetipsum). Der Wille des Menschen ist nicht ausgeschaltet, im Gegenteil: Wir sollen wollen, aber immer das, was Gott entspricht. Die Erlösung verurteilt weder zur Passivität noch gewährt sie ein Ausruhen auf Lorbeeren. In seinen Mahnungen und Weisungen nimmt Franziskus viele jener Jesus-Worte auf, die an den freien Willen des Menschen appellieren: „Wenn du vollkommen sein willst, geh und verkaufe, was du hast, und gib es den Armen" (Mt 19,21 = RegNB 1,2). „Wenn jemand mir nachfolgen will, verleugne er sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir" (Mt 16,24 = RegNB 1,3). „Wenn jemand zu mir kommen will und nicht Vater und Mutter und Frau und Kinder [...] gering achtet, kann er mein Jünger nicht sein" (Lk 14,26 = RegNB 1,4). „Wer sein Leben retten will, wird es verlieren" (Lk 9,24 = Erm 3,2) usw. Francescos Schriften sind so sehr von Verben wie velie (volo), desiderare und quaerere durchzogen, daß man auch bei ihm wie im Mönchtum von einer Theologie der Sehnsucht, von einem unablässigen Verlangen nach Gott sprechen kann.40 Es ist am besten in jener schon erwähnten Maxime zusammengefaßt, die alles Wollen und Wünschen auf den einen Schöpfer-Gott ausrichtet, der die Quelle alles Guten ist und sich als Gut (bonum) und Güter (bona) in die Welt verströmt: Nihil aliud desideremus, nihil aliud velimus, nihil aliud placeat et delectet nos nisi Creator et Redemptor et Salvator noster, solus verus Deus, qui est plenum bonum, omne bonum, totum bonum [...] (RegNB 23,9).
39 Vgl. L. LEHMANN, Franziskus, Meister des Gebets (wie Anm. 25), 226-227. 40 Vgl. Jean LECLERCQ, Wissenschaft und Gottverlangen. Zur Mönchstheologie des Mittelalters, Düsseldorf 1963; Jacques Guy BOUGEROL, Desiderio, in: Dizionario Francescano, Padova 1995, 391-398.
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c) Zwei Gruppen von Erlösten: Büßer und Nicht-Büßer Die Erlösung ist eine Tatsache. Ihre Früchte aber müssen von jedem einzelnen angenommen werden. Gott drängt sich nicht auf, er läßt jedem die Freiheit. Von diesem freien Willen des Menschen ist Franziskus zutiefst überzeugt, aber ebenso auch vom Risiko, dem die menschliche Freiheit ausgesetzt ist.41 In seiner nun schon mehrfach erwähnten „Präfation" ahmt er die Größe des Menschen und dessen tiefen Fall klanglich nach, wenn er da zuerst feierlich proklamiert: „Wir sagen dir Dank, weil du [...] uns, geformt nach deinem Bild und deiner Ähnlichkeit, ins Paradies gestellt hast."
und dann lapidar feststellt: „Und durch unsere eigene Schuld sind wir gefallen" (RegNB 23,1-2).
Der brüske Abbruch der schwungvollen Danksagung macht die ganze Misere deutlich, in die der Mensch geraten ist. Von seiner einzigartigen Höhe ist er in die Tiefe gefallen. „Geschaffen in der unvergleichlichen Würde einer Ikone Gottes und wie dieser für die Freiheit und Güte gemacht, ist der Mensch von einzigartiger Größe. Doch durch eigene Schuld ist er auch ein erbärmliches Wesen. Die menschliche Realität, wie Franziskus sie sieht, hat zwei Gesichter: Glanz und Elend".42 Die Anfange sind glanzvoll, der Fortgang der Geschichte erbärmlich, da der Mensch „seinen Willen als sein Eigentum beansprucht und sich mit dem Guten brüstet, das der Herr in ihm spricht und wirkt" (Erm 2,3). Das ist nach Franziskus die Hauptsünde, vor deren verschiedenen Schattierungen er immer wieder warnt. Gegenmittel zu diesem Stolz und Habenwollen sind Demut und Armut, oder mit einem Wort: die Buße. „Wir sind ins Paradies gestellt - und gefallen." Diese Aussage betrifft nicht nur das erste Elternpaar, sondern uns alle. Damit anerkennt Franziskus die Größe wie die Erbärmlichkeit aller Menschen: Alle sind zu Hohem berufen, aber Sünder. Der Ausweg heißt Bekehrung, Buße (Metänoia). Er ist uns erschlossen, weil Gott „uns, die gefangen waren, hat erlösen wollen" (RegNB 23,4). Durch Jesu Tod am Kreuz steht das Paradies wieder offen bzw. können wir wieder aufrecht stehen. Einzige Voraussetzung ist die Annahme der Erlösung, die Hinkehr zu Gott, die Buße. Von seiner eigenen Umkehr ausgehend, kann darum Franziskus am Ende seines Lebens im Rückblick von einer Zeit sprechen, „als ich noch in Sünden war", und von jener danach als einem „Le41 Sehr schön sagt das T. MATURA, François (wie Anm. 9), 168: „François n'ignore pas le risque auquel la liberté humaine est exposée et, avec le même sérieux que Jésus dans l'Evangile, il la met en face de sa responsabilité." 42
T. MATURA ( w i e A n m . 9 ) , F r a n ç o i s , 1 4 8 .
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ben in Buße" (Test 1-2). Aus Dankbarkeit für die eigene Bekehrung und um der Liebe des Erlösers zu antworten (vgl. II Cel 172), brachte er allen die Botschaft der Buße. Das war seine Mission, und dazu hatte er auch eigens den Auftrag Innozenz' III.: „Geht und predigt allen Buße, wie es euch der Herr eingibt" (I Cel 33). Diese spontane, einfache, volksnahe Bußpredigt war allen Brüdern, Klerikern wie Laien, erlaubt, ja anempfohlen, und Franziskus gab ihnen dafür sogar ein Modell: die laus et exhortatio (RegNB 21), die Lauda, die im Laufe der Zeit dann Lieder hervorbringt wie den 'Sonnengesang'. In dem Predigtmuster werden Aufforderungen aus der Bergpredigt und Weisungen der Apostel aneinandergereiht, die zu einem entschieden christlichen Leben anleiten sollen. Sie münden in die Alternative von „Selig" und „Wehe": „Selig, die in Buße sterben, denn sie werden im Himmelreich sein. Wehe jenen, die nicht in Buße sterben, denn sie werden 'Kinder des Teufels' (1 Joh 3,10) sein, dessen Werke sie tun, und sie werden 'in das ewige Feuer' kommen (Mt 18,8; 25,41)" (RegNB 21,7-8).
Hier sehen wir, wie Franziskus das künftige Schicksal der Erlösten sieht: Die einen haben sich zu Gott bekehrt und von ihm beschenken lassen, die anderen sind „zum Auswurf des eigenen Willens zurückgekehrt" (Erm 3,10) und haben sich „an Lastern und Sünden erfreut" (Erm 5,3). Wer Buße tut, weiß, daß er erlöst ist, und handelt danach. Er sieht aus wie ein Erlöster, er tritt auf wie ein Erlöster. Die „Männer der Buße aus der Stadt Assisi" (3 Soc 27) müssen etwas von Spielleuten Gottes an sich gehabt haben, wenn sie Buße als frohlockendes Spiel verkünden konnten, wie es noch aus dem kunst- und klangvollen „Dankund Mahnlied" der nicht bullierten Regel zu vernehmen ist.43 Genau aus dieser schwungvoll an die ganze Welt gerichteten Laude ergibt sich aber, daß die Minderen Brüder nicht nur die Christen, sondern „alle Menschen wo nur immer auf Erden, die sind und sein werden, bitten, [...] im wahren Glauben und in der Buße auszuharren, denn anders kann niemand gerettet werden" (RegNB 23,7). Erlöst sind alle; diese Botschaft muß ihnen nur nahegebracht und ihr dann im Leben entsprochen werden durch die Buße. So teilt sich die Welt für Franziskus in zwei Sorten von Erlösten: in solche, die Buße tun, und solche, die keine tun. Entsprechend ist der Entwurf für den späteren Brief 'An alle Männer und Frauen, die in der ganzen Welt wohnen' (unzulänglich 'Brief an die Gläubigen' genannt: 2 BrGl 1) ganz einfach nach diesen beiden Gruppen gegliedert: -
„Von denen, die Buße tun" (1 BrGl 1,1-19). „Von denen, die nicht Buße tun" (1 BrGl 2,1-18).
43 Schon Agostino VICINELLI, Gli Scritti di san Francesco d'Assisi e ,,i Fioretti", Verona 1955, sagt von RegNB 23: „Sembra uno degli inni che dovevano andar cantando per il mondo quelli che il Fondatore diceva i suoi 'giullari di Dio'" (88). Vgl. David FLOOD, The Birth of a Movement, Chicago 1975,49-50.
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Die beiden Kapitel entsprechen sich spiegelbildlich: Das erste ist ein Jubel über das Glück derer, die in ihrem Leben der Buße sozusagen in das innertrinitarische Leben Gottes hineinwachsen und als „Söhne und Töchter des Vaters, Brüder, Schwestern und Mütter des Sohnes und Anverlobte des Hl. Geistes" die neue Familie Gottes bilden. Das zweite ist im Kontrast dazu eine Klage über die Blindheit und Lauheit derer, die „das wahre Licht, unseren Herrn Jesus Christus, nicht sehen, [...], das Böse erkennen, wissen und tun und so wissentlich ihre Seele verlieren" (1 BrGl 2,7.10). Die Klage geht in eine Drohung über und mündet schließlich in den Hinweis auf die Höllenqualen: „Wo und wann und wie auch immer ein Mensch in schwerer Sünde ohne Buße und Genugtuung stirbt, wenn er Genugtuung leisten kann und sie nicht leistet, da reißt der Teufel seine Seele unter solcher Angst und Qual aus dem Leib, wie es niemand verstehen kann, der es nicht selbst erlebt" (1 BrGl 2,1 S).44
Der ernste Aufruf zur Buße mit der Androhung des ewigen Todes will nichts anderes als zur Umkehr bewegen, damit alle Erlösten gerettet werden. Denn Jesus ist gekommen, damit alle das Leben haben, und zwar in Fülle (vgl. Joh 10,10). „Und er will, daß wir alle durch ihn gerettet werden", sagt Franziskus im Schreiben an die Gläubigen (2 BrGl 14). Die Rettung (salvatio) hängt also wesentlich von unserer Einstellung, von unserer Antwort auf die Erlösung ab. Auch im Sonnengesang, der meist nur als heiteres Lied auf die Schönheit der Schöpfung angesehen wird, ist ein ernster Bußruf nicht zu überhören. Was der umbrische Dichter dort über den Menschen sagt, ist Verheißung und Mahnung zugleich, je nachdem in welcher moralischen Verfassung sich der Hörer befindet. Er muß die Stunde des Todes als unwiderrufliche Entscheidung über seine Zukunft ernst nehmen und darf im irdischen Leben nicht das ewige vergessen: „Gelobt seist du, mein Herr, für jene, die verzeihen um deiner Liebe willen und Krankheit ertragen und Not. Selig, die ausharren im Frieden, denn du, Höchster, wirst sie einst krönen. Gelobt seist du, mein Herr, für unseren Bruder, den leiblichen Tod; kein lebender Mensch kann ihm entrinnen. Wehe jenen, die in tödlicher Sünde sterben. Selig, die er finden wird in deinem heiligsten Willen, denn der zweite Tod wird ihnen kein Leid antun" (Sonn 8 - 9 ) .
44 Vgl. Lazaro IRIARTE, Temi di vita francescana (Dimensioni spirituali 9), Rom 1987, 115-124; Leonhard LEHMANN, Exsultatio et Exhortatio de Poenitantia. Zu Form und Inhalt der „Epistola ad Fideles I", in: Laurentianum 2 9 (1988), 5 6 4 - 6 0 8 .
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„Wehe" und „Selig" ist auch hier die Alternative. Je nach der Grundoption des Menschen, je nachdem, ob er in Buße stirbt oder nicht, entscheidet er selber über seine Zukunft. Geschaffen, erlöst und zu Großem berufen von Gott, steht es in seinem Willen, ob er auch gerettet wird. Stimmt sein Wille mit dem „heiligsten Willen" seines Schöpfers überein, geht er ein in die Freude seines Herrn. So ist hier auch die künftige Welt eingeteilt in Menschen, deren Erlösung zur Vollendung gelangt ist, und solche, die ihr Erlöstsein von Gott ausgeschlagen und sich selbst an dessen Stelle gesetzt haben.
d) „Erlöst durch sein Kreuz und sein Blut " Zur Tatsächlichkeit der Erlösung als vergangenes, aber in jedem Christenleben zu aktualisierendes Ereignis kommt die Grausamkeit, mit der die Erlösung uns zuteil wurde. Franziskus verschweigt nichts von der Härte, den Qualen, den seelischen und physischen Leiden, die der Gottes- und Menschensohn „um unseres Heiles willen" auf sich nahm. In seinem aus Psalm-Versen und eigenen Zusätzen zusammengestellten Passionsoffizium geht er den Leidensweg Jesu vom Ölberg (Ps I) bis zum Kalvarienberg (Ps V-VI) nach. Es ist ja auffallend, daß Franziskus sein privates Stundengebet mit der Komplet des Gründonnerstags beginnt. Die einleitende Rubrik verrät auch den Grund: „weil unser Herr Jesus Christus in jener Nacht verraten und gefangengenommen worden ist". Tatsächlich lassen die gewählten Psalmverse den Ölberg vor uns erstehen. Wir können den weinenden und vor Angst schwitzenden Heiland zum Vater flehen hören: „O Gott, meine Tränen hast du kommen lassen vor dein Angesicht" (Off 1,1).
Wir werden Zeugen der Verurteilung durch den Hohen Rat (V. 2). Wir fühlen Jesu Enttäuschung darüber, daß Undank der Welt Lohn ist (V. 3), und erleben seine Einsamkeit, da selbst die engsten Freunde und Verwandten ihn im Stich lassen (V. 7). In dieser Situation heißt es nun treffend von Jesus: „Ich aber betete" (V. 4); und um dieses Beten Jesu zum Vater deutlich zu machen, fährt Franziskus in direkter Rede fort: „Mein heiligster Vater, König des Himmels und der Erde, weiche doch nicht von mir, denn nah ist die Trübsal, und keiner ist da, der mir hilft" (V. 5).
Mit Psalmworten gibt Franziskus erstaunlich genau jene Szene wieder, die bei Lk 22,41 beschrieben ist. An Joh 18,6 erinnert der Vers 6: „Zurückweichen werden meine Feinde an jenem Tag, da ich dich anrufe; sieh, erkannt habe ich, daß du mein Gott bist" (Off 1,6 = Ps 55,10).
Vers 8 spielt deutlich auf den Verrat durch Judas an; verraten und verkauft steht Jesus da. Doch aus seiner Klage über die Ausweglosigkeit seiner Lage
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rafft er sich erneut zu einer Bitte an den Vater auf (V. 9), die in Vers 10 verstärkt wird und mit der Zuversicht bekundenden Anrede endet: „Herr, Gott meines Heils". Die gedanklichen Stufen dieser Ölberg-Meditation mit Hilfe von Psalmen geben Einblick, wie Franziskus die Passion Jesu betrachtet: Er läßt die einzelnen Momente des Ölbergereignisses an seinem geistigen Auge vorüberziehen; Tränen, Feinde, Rat halten, Haß statt Liebe, Verlassenheit, Verrat sind hier die Stichworte. Aber nicht in einer Ausmalung der äußeren Leiden besteht das Kunstvolle dieses Psalmen-Mosaiks, sondern darin, daß Franziskus die innere Haltung Jesu enthüllt: seine Traurigkeit, Enttäuschung und Angst auf der einen Seite, sein restloses Vertrauen auf den Vater auf der anderen Seite. Durch die zweifach in den Psalm eingefugte Anrede „Heiliger Vater" werden dieses Vertrauen und die gehorsame Hingabe an den Vater besonders betont. Wie Jesus am Ölberg mit dem Vater rang und sich freiwillig ihm übereignete, so läßt Franziskus seinen Herrn auch hier beten: „Vater". Im Brief an die Gläubigen bringt er diese Grundhaltung Jesu in dem schönen Bildwort zum Ausdruck: „Er legte seinen Willen in den Willen des Vaters" (2 BrGl 10).
Der Psalm zur Matutin meditiert, wie Jesus allein die Nacht im Gefängnis verbringt (Off II). Im Psalm zur Prim sieht der Beter realistisch den Tod auf Jesus zukommen, wenn er diesen sagen läßt: „Eine Schlinge haben sie meinen Füßen gelegt und haben meine Seele niedergebeugt. Sie haben vor meinen Augen eine Grube gegraben" (Off 111,6-7 = Ps 56,7).
Der Psalm zur Terz erinnert lebhaft an die dramatischen Vorgänge, die sich beim römischen Statthalter Pontius Pilatus abspielten (vgl. Mt 27,11-26). Die Verse fuhren den Beschluß des Hohen Rates vor Augen, das insgeheim gefällte Todesurteil, die Geißelung, Verspottung und Dornenkrönung (Mt 27,26-31 ) wie auch die Ecce-homo-Szene (Joh 19,4-5). Die ganze Klage des Erlösers gipfelt in der Aussage: „Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch, der Leute Spott und die Verachtung des Volkes" (Off IV,7 = Ps 21,7).
Mehr als Klage beherrscht aber Gelassenheit die Szene, denn wiederum mündet die Betrachtung in die Bitte: „Heiliger Vater, halt doch deine Hilfe nicht fern von mir, schau her zu meinem Schutz" (OffIV,9 = Ps 21,20).
Die Psalm-Komposition zur Sext, zur Stunde, als Jesus gekreuzigt wurde, betrachtet den Erlöser am Kreuz. Mit lauter Stimme rufend, trägt dieser sein Gebet und seine Klage vor den Vater. Auf dem Lebensweg haben Feinde ihm eine Schlinge gelegt. Jetzt fühlt sich der Gekreuzigte von allen verlassen (Off
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V,l-6). Mit Psalm 68 sieht Franziskus den Heiland mit Schmach und Schande bedeckt, fremd geworden sogar den Angehörigen. Doch auch jetzt erklingt in Vers 9 die Vater-Anrede, die erkennen läßt, wie sehr sich Franziskus gleichsam in den Beter am Kreuz hineinversenkt und sich durch ihn und mit ihm an Gott Vater wendet. Seine Klage läßt dann an die Verhöhnung durch den Schacher zur Linken denken und an den Spott der „Leute, die vorbeikamen, den Kopf schüttelten und riefen: Du willst den Tempel niederreißen und in drei Tagen wieder aufbauen? Wenn du Gottes Sohn bist, hilf dir selbst und steig herab vom Kreuz!" (Mt 27,39-40). Mit weiteren Klagepsalmen zeichnet Franziskus dann das Bild vom Gottesknecht am Kreuz. Stichworte dafür sind: Feinde haben sich zusammengerottet, Geißeln wurden gesammelt, falsche Zeugen standen auf und erhoben ungerechte Anklagen. Daß sie Gutes mit Bösem heimzahlten, klingt wie ein Fazit für das Lebensschicksal Jesu. Der Psalm zur Non ist eindeutig auf die Todesstunde Jesu am Kreuz bezogen. Denn nach den Synoptikern „rief Jesus um die neunte Stunde laut: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? [...] Jesus schrie noch einmal laut auf. Dann gab er seinen Geist hin" (Mt 27,46-50). Das Sterben Christi prägt hier ganz die Meditation des Franziskus: Zuerst läßt er in Ich-Aussagen den Erlöser am Kreuz sprechen (Off VI, 1-14), dann gibt er sozusagen Antwort darauf in einem Lobpreis auf die Erlösung und in einem Glaubensbekenntnis (Off VI, 15-16). Franziskus bleibt also nicht bei der Klage Jesu stehen, sondern sieht ihn ab Vers 11 als den Auferstandenen und Erhöhten. Hierzu muß er aus sechs verschiedenen Psalmen entsprechende Verse wählen, während er vorher nur dem Psalm 21 nachzugehen brauchte. Hier im zweiten Teil, wo der Osterglaube den Beter leitet, stehen auch die persönlichen Zusätze des Heiligen, die über die alttestamentlichen Psalmen weit hinausgehen. Die Sicht Jesu als gehorsamen Gottesknecht, als erhöhten „Herrn, der vom Holz herab herrscht" (Off VII,9), und als wiederkommenden Richter und Retter verhindert eine einseitige Ausmalung der Leidensgeschichte. Daß dennoch die Qual der Schmerzen, die Not der Verlassenheit, die Enttäuschung über den Verrat des Judas und die Undankbarkeit der Menschen, kurz: daß dennoch die blutige Realität der Striemen und der fürchterlichen Kreuzigung nicht verschwiegen wird, zeigt der Zusatz „mit seinem eigenen heiligsten Blut {de proprio sanctissimo sanguine suo)". Er steht in Vers 15 des Psalms zur Non zwischen dem Anfang des 'Benedictus' (Lk 1,68a) und dem Zitat aus Ps 33,23, verbindet also die beiden Testamente, wie Christus durch sein Blut die Trennwand zwischen Juden und Heiden eingerissen hat. Der Psalmvers ist das zuversichtliche Ende von Psalm 33 (34) und lautet im 'Psalterium Romanum': Deus redimet animas servorum suorum et non derelinquet omnes qui speroni in eo (Ps 33,23).
Was im Psalm allerdings im Futur steht, wandelt Franziskus ins Perfekt (redemit) und bezieht so die Erlösung klar auf die Tat Jesu. Wie er schon beim
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Vaterunser nicht zögerte, den Vater auch Redemptor und Salvator zu nennen (ErwVat 1), so zögert er auch hier nicht, den gottmenschlichen Erlöser schlechthin mit dem Gott Israels in eins zu setzen und für genaue Dogmatiker gegen die Grundregeln der Idiomenkommunikation zu verstoßen. 45 Es ist eben Gott, der dreifaltige, der in der ganzen Heilsgeschichte am Werk ist. Auch wenn Franziskus hier auf der Linie des AT den „Gott Israels" preist, so hat er doch eindeutig den Herrn Jesus Christus vor Augen, der uns „mit seinem eigenen heiligsten Blut erlöst hat". Für diesen Einschub kann der 1. Petrusbrief Pate gestanden haben, wo es schon im ersten Kapitel heißt: „Ihr wißt, daß ihr von eurem verkehrten, von den Vätern ererbten Wandel nicht mit vergänglichen Werten, mit Gold und Silber, losgekauft seid, sondern durch das kostbare Blut Christi, des Lammes ohne Fehl und Makel" (1 Petr 1,18-19).
Noch näher liegt allerdings das „Te Deum", wo man gegen Schluß singt: „Steh deinen Söhnen bei, Herr, die du mit deinem kostbaren Blut erlöst hast." - Te ergo quaesumus, tuis famults subvertí, quos pretioso sanguine redemisti.
Der von Franziskus eingefügte Zusatz betont die Menschheit des Gottessohnes, dessen „Schweiß wurde wie Tropfen Blutes, das zur Erde rinnt" (2 BrGl 9 = Lk 22,44) und der sein Blut für uns vergoß. Er litt nicht zum Schein, wie zeitgenössische Irrlehrer behaupteten, sondern wirklich. Ferner bedeutet der Zusatz auch: Gott hat kein Fremdopfer verlangt, nicht andere für sich durchs Feuer gehen lassen, sondern seinen eigenen Sohn für uns dahingegeben. „Dieser ging nicht mit dem Blut von Böcken und Rindern, sondern mit seinem eigenen Blute ein für allemal in das Allerheiligste hinein: er, der eine ewig gültige Erlösung bewirkt hat" (Hebr 9,12).
Diese Stelle scheint mir am besten Franziskus' Zusatz zu beleuchten, womit er den Psalm wiederum verchristlichte und die instrumental-reale Bedeutung des „heiligsten Blutes" Christi für unsere Erlösung betonte. Daß der Hebräerbrief dem Poverello nicht ganz fremd ist, zeigt eine andere Stelle aus dem Brief an den gesamten Orden, wo er mit Hebr 10,28 an die Strafen erinnert, die jene erhielten, die das Gesetz des Moses übertraten: „Wieviel größere und schlimmere Strafen erleidet gerechterweise, wer den Sohn Gottes mit Füßen getreten und das Blut des Bundes, in dem er geheiligt worden ist, für unrein gehalten und dem Geist der Gnade Schmach angetan hat" (BrOrd 18; vgl. Hebr 10,29).
„Blut des Bundes" verbindet hier wiederum das Alte mit dem Neuen Testament, aber in Franziskus' Denken auch das Blut des Kreuzes mit dem heiligen Blut der Eucharistie. Das geht aus den dem Zitat folgenden Versen hervor 45 Vgl. Oktavian SCHMUCKI, Gotteslob und Meditation nach Beispiel und Anweisung des hl. Franziskus von Assisi, Luzern 1980, 49; Gerhard-Ludwig MÜLLER, Idiomenkommunikation, in: Lexikon für Theologie und Kirche 5, Freiburg 1996,403-406.
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(BrOrd 19-22), die hier nicht mehr eigens betrachtet werden können. - Hingegen sei die Bemerkung gestattet, daß Franziskus sicher auch gern an Orte wie Weingarten (Stadt unserer Tagung und Ort des Referats, das diesem Beitrag zu Grunde liegt) gepilgert wäre, wo eine Heilig-Blut-Reliquie verehrt wird.
e) ,, Geopfert für unsere Sünden und uns zum Ansporn " Wie wir gesehen haben, erinnert Franziskus wiederholt an die sich opfernde Liebe des „wahren Gottes und wahren Menschen" Jesus Christus, der „durch sein Kreuz und sein Blut und seinen Tod uns, die gefangen waren, hat erlösen wollen" (RegNB 23,3). Er wünscht seinen Brüdern „Heil in dem, der uns erlöst und in seinem überaus kostbaren Blut gewaschen hat" (BrOrd 3). Er nennt das Blut „heiligst" und „überaus kostbar", weil es der Preis der Erlösung ist und den Ernst der Liebe Gottes anzeigt. „So sehr hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen einzigen Sohn dahingab" (Joh 3,16). Von dieser unglaublichen, auf die Rettung aller Menschen bedachten Liebe spricht Franziskus im längeren Brief an die Gläubigen, wo er die Grundrisse einer Wort-Gottes- und Erlösungstheologie darlegt: Nachdem er bekannt hat, daß „das Wort des Vaters, so würdig, so heilig und glorreich" (2 BrGl 4), Fleisch geworden ist und am Ölberg nach hartem Ringen mit dem Willen des Vaters den Weg des Leidens angetreten hat, fährt er fort: „Dieses Vaters Wille war, daß sein gebenedeiter und glorreicher Sohn, den er uns geschenkt hat und der für uns geboren wurde, sich selbst durch sein eigenes Blut als Opfer und Gabe auf dem Altar des Kreuzes darbringen sollte; nicht seinetwegen, 'durch den alles geschaffen ist' (Joh 1,3), sondern für unsere Sünden, indem er uns ein Beispiel hinterließ, damit wir seinen Fußspuren folgen" (2 BrGl 11-13).
In diesem Satz haben wir sowohl die Ehrfurcht vor dem aus der Herrlichkeit des Vaters kommenden und im Osterereignis verherrlichten Sohn wie auch das Bekenntnis zu seiner Menschwerdung und „Pro-Existenz": „uns geschenkt", „für uns geboren", „für unsere Sünden" geopfert. Jesus war ganz der Mensch fur andere.46
46 Vgl. L. LEHMANN, Tiefe und Weite (wie Anm. 16), 145; zum Christus-Bild auch T. MATURA, François (wie Anm. 9), 102-122: „Le Verbe du Père, si digne, saint et glorieux". So oft Franziskus auch das „Für uns" im Leben und Sterben Jesu betont, so kann ich doch der Entscheidung K. ESSERS, Die Opuscula (wie Anm. 13), 327, und seiner Übersetzer L. HARDICK/E. GRAU, Die Schriften (wie Anm. 13), 141, Anm. 11, nicht folgen, die statt „pro bonis" „pro vobis" lesen und so Franziskus eine soteriologische Deutung von Ps 108 unterstellen; Gründe für die Ablehnung in: L. LEHMANN, Tiefe und Weite (wie Anm. 16), 133, und bei L. GALLANT, „Dominus regnavit a ligno". L'„Officium Passionis" de saint François d'Assise, Paris 1978, 158; 208; 356.
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Mit der Metapher „Altar des Kreuzes" ist ferner die Brücke geschlagen vom einmaligen blutigen Opfer am Kreuz zur unblutigen Gedächtnisfeier dieses Opfers im Laufe der Geschichte, „bis er kommt in Herrlichkeit". In der Tradition des NT, genauer des Hebräerbriefes, und der vor allem durch Augustinus und Anselm von Canterbury geprägten kirchlichen Lehre sieht Franziskus das Kreuzesleiden und den Tod Jesu als vom Vater gewünschtes Opfer zur Genugtuung für unsere Sünden, aber auch als Ansporn, damit wir seinen Fußspuren folgen (vgl. 1 Petr 2,21). So heißt es auch zu Beginn einer langen Mahnung an alle Brüder: „Geben wir acht, wir Brüder alle, was der Herr sagt: 'Liebet eure Feinde und tut denen Gutes, die euch hassen' (vgl. Mt 5,44); denn unser Herr Jesus Christus, dessen Fußspuren wir folgen müssen, hat seinen Verräter Freund genannt und sich freiwillig denen überliefert, die ihn kreuzigten. Darum sind alle jene unsere Freunde, die uns ungerechterweise Drangsal und Ängste, Schmach und Unrecht, Schmerzen und Qualen, Marter und Tod antun; und diese müssen wir sehr lieben, weil wir für das, was sie uns antun, das ewige Leben erlangen" (RegNB 22,1-4).
Der Leidensweg Jesu, der uns von Adams Schuld befreite, erlöst auch vom Mechanismus der Gewalt und dem Gesetz der Vergeltung. Weil Jesus seinen Verräter Freund genannt hat (vgl. Mt 26,50), folgert Franziskus in einer offenbar originellen Anwendung 4 7 , daß auch wir die Feinde Freunde nennen und sie lieben sollen. Die Befolgung der Praxis Jesu hilft zu unserer Erlösung vom Bösen und fuhrt zum Frieden. Es ist dieser in der Person Christi verankerte, heutige Formen des Pazifismus übersteigende Friede, der nach R. Manselli den Friedensprediger aus Assisi zutiefst kennzeichnet. Für ihn gibt es keine Feinde, auch wenn ihm Personen feindlich gesinnt sind; er fürchtet sie nicht; er gewinnt sie durch seine Liebe oder hält es für wert, kraft dieser Liebe und als Konsequenz daraus fur sie zu sterben (Martyrium). Darum polemisiert er nicht, verurteilt und verdammt keinen. Er als idiota und illiteratus will in „frommer Einfalt" (pia simplicitas) einfach dem Beispiel Jesu folgen. In dieser Einfachheit liegt seine Größe. Der innere, der wahre Friede kommt ihm aus seiner Liebe zu Christus. Er spürt sie und läßt sie andere spüren. Er ist ein erlöster Mensch und darum ein Mensch der Erlösung für andere. 48
47 So behauptet jedenfalls Dominique GAGNAN, Office de la Passion, prière quotidienne de Saint François d'Assise, in: Antonianum 55 (1980), 3-86; 66, Anm. 132: „L'exégèse de François s'avère ici tout à fait originale; alors que ses contemporains et prédécesseurs voient en ce terme d'ami par lequel Jésus s'adresse à Judas, une forme d'ironie, François, au contraire, y reconnaît la forme archétype de l'amour des ennemis"; Belege S. 28, Anm. 43. 48 Vgl. R. MANSELLI, San Francesco e l'eresia, in: DERS., Francesco e i suoi compagni (Bibliotheca Seraphico-Capuccina 46), Rom 1995, 235-255; 254.
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f ) „Durch dein heiliges Kreuz hast du die Welt erlöst" Die Stellen, die wir bisher in Betracht gezogen haben, sprechen immer von den Menschen, von uns, die durch das Kreuz und Blut Jesu Christi erlöst sind. In der Tat begegnet nur in der Anbetungsformel im Testament das Bekenntnis, daß auch die Welt erlöst ist. Da dieser Teil der Formel zu jenem Gebet gehört, das Franziskus aus der Liturgie der Kreuzfeste übernommen hat49, könnte man vermuten, daß die Idee der Welterlösung ihm weniger liegt. Allerdings belegen die Quellen, daß er dieses Gebet gerne gebetet und auch seinen Gefährten gelehrt hat (I Cel 45; 3 Soc 37; Anonymus Perusinus 19; LegMaior IV,3). Hätte er die Welt nicht als erlöst betrachtet, hätte er den Schluß des Gebetes abändern können in „durch dein heiliges Kreuz hast du uns erlöst", wie er ja auch sonst in dieses und andere überlieferte Gebete kreativ eingegriffen hat. Halten wir also fest: Franziskus spricht nur in diesem übernommenen Gebet von der erlösten Welt; ansonsten sind es die Menschen, denen er bewußt macht, daß und um welchen Preis sie erlöst sind, und die er in Mahnungen, Briefen und Liedern auffordert, Gott zu danken und ihm zu dienen in großer Demut (vgl. Sonn 14). Während er jede und jeden als Schwester und Bruder annimmt und niemanden von seiner Achtung und Liebe ausschließt, hat er doch zur Welt ein anderes Verhältnis: als Schöpfung Gottes ist sie gut und schön, als Tummelplatz der Dämonen ist sie verführerisch. Er zählt sie zu den Feinden, die uns täuschen: „Fleisch, Welt und Teufel, die uns vormachen, daß die Sünde süß, Gott zu dienen aber bitter ist" (2 BrGl 69). Wie bei Paulus und Johannes kann auch bei Franziskus die Welt zum Widerpart Gottes werden, wenn der Mensch sich in ihr verschließt, Weltliches zum Göttlichen macht. Franziskus spricht von der Weisheit dieser Welt (vgl. 1 Kor 2,6) und der Weisheit des Leibes, die durch die „reine, heilige Einfalt zu Fall kommen" (GrTug 10). Im Brief an die Gläubigen vereint er sich mit dem Gebet Jesu für seine Jünger (Joh 17,9-11): „Heiliger Vater, bewahre sie in deinem Namen, die du mir in der Welt gegeben hast. [...] Ich bitte fur sie und nicht fur die Welt" (1 BrGl 1,14.16; 2 Br Gl 57-58).
In der Welt haben die Jünger Drangsal, ja Verfolgung zu erwarten; sie müssen darin den Glauben bewahren. Es gilt zu kämpfen, „solange diese Welt besteht" (BrOrd 48). Sie ist vergänglich, ja kurz, Himmel oder Hölle sind aber ewig und ohne Ende (2 BrGl 85). Müssen sich die Minderbrüder einerseits vor dem „Geist dieser Welt" in acht nehmen, so sind sie anderseits von Gott mitten in diese Welt hinein gesandt, „damit sie durch Wort und Werk seiner Stimme Zeugnis geben und alle wissen lassen, daß niemand allmächtig ist außer ihm" (BrOrd 9). 49 Für die Belege und den genauen Vergleich vgl. L. LEHMANN, Tiefe und Weite (wie Anm. 16), 51-58.
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So ist die Welt eigentlich neutral, weder böse noch gut. Sie ist der Wohnund Wirkraum des Menschen; dieser kann sich in ihr und an ihr selbst verwirklichen, d.h. Plan und Bild Gottes zum Ausdruck bringen. Die Welt ist das Kloster der Minderbrüder, wie das 'Sacrum Commercium' (Nr. 63) emphatisch demonstriert. Aber dieselbe „allegorische Erzählung", in der „die innere, geistige Suche des Franziskus und seiner Brüder nach der Armut als eine fur den jungen Orden geeignete Lebensform dargestellt" wird 50 , zeigt auch, daß die Minderen Brüder umso mehr mit der Herrin Armut verbunden sind und Christus gefallen, je weniger sie besitzen und dieser Welt anhangen. Wenn sie arm an Dingen, aber reich an Tugenden sind, folgen sie dem nach, der, „obwohl er reich war (2 Kor 8,9) über alle Maßen, selber in der Welt mit der seligen Jungfrau Maria, seiner Mutter, die Armut erwählen wollte" (2 BrGl 5). Gott hat diese Welt nicht verworfen, sondern sich auf sie eingelassen. Er kam zur Welt - an einem unscheinbaren Ort, in einem verlassenen Dorf, „in tierischen Verhältnissen" (Anton Rotzetter), von Hirten und Heiden zuerst erkannt. „Am Anfang der Stall, am Ende der Galgen" (W. Jens) - so sieht auch Franziskus den Weg der Erlösung, einen Weg der inneren und äußeren Armut. Die Erlösung ist aber überstrahlt von der göttlichen Herrlichkeit, die der Sohn beim Vater hatte und in die er, nachdem er das Erlösungswerk vollbracht hatte, wieder aufgenommen wurde. So ist „das heiligste, geliebte Kind, für uns geboren am Weg und in eine Krippe gelegt", doch auch „erhaben über die Könige der Erde" (Off XV,7.4), und der zerschundene und zerschlagene Gottesknecht am Kreuz ist trotz allem der göttliche Erlöser, der „vom Holz herab herrscht" (Off VII,9). Diese aus dem Psalterium Romanum und der Liturgie stammende 51 Verdeutlichung (a Ugno), in der auch 1 Pt 2,24 nachklingt, steht in der Karfreitags- und Ostervesper, die bei Franziskus identisch ist (!). Dort betet er auch folgenden Vers, mit dem er begründet, warum alle Völker Gott zujubeln sollen: „Denn der heiligste Vater im Himmel, unser König vor Ewigkeiten, hat seinen geliebten Sohn aus der Höhe gesandt und hat das Heil gewirkt inmitten der Erde" (Off VII,3; vgl. Ps 73,12).
Dieser Vers spielt nicht nur auf Weihnachten als den Anfang unserer Erlösung an, sondern legt den Kern der ganzen Heilsgeschichte bloß. Vor dem Sündenfall war die Schöpfung dem Königtum des ewigen Gottes unterstellt; der Mensch gehorchte dem göttlichen Gebot, indem er „den Baum in der Mitte des Gartens" (Gen 2,9) achtete. Durch den Sündenfall verlor er seine Mitte. 50 Ruth WOLFF, Der heilige Franziskus in Schriften und Bildern des 13. Jahrhunderts, Berlin 1996, 70; die Verfasserin weist (S. 61-70) die Bestimmung des Werkes als „Mysterienspiel" durch Esser u. Grau als ungenügend zurück; es ist für sie eine „geistliche allegorische Erzählung, die Elemente der weltlichen Minnedichtung in sich aufgenommen hat" (S. 69). 51 Belege bei L. LEHMANN, Tiefe und Weite (wie Anm. 16), 137.
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Gott selbst hat die ursprüngliche Ordnung wiederhergestellt, indem er seinen Sohn sandte, der das Heil wirkte „in medio terrae". Wie vom Baum der Erkenntnis (vgl. Erm 2: de Ugno scientiae) sich das Unheil auf alle Menschen fortpflanzte, so breitet sich vom Baum des Kreuzes das Heil aus auf die ganze Schöpfung. Wenn Franziskus den ganzen Kosmos in den Osterjubel miteinzustimmen heißt, ist dies der Widerhall auf die kosmische Bedeutung des Kreuzes, durch das Gott das Heil gewirkt hat „inmitten der Erde". So können wir mit Helmut Feld sagen, daß das franziskanische Verständnis von Erlösung universal ist. Die Anbetungsformel im Testament „ist in wörtlichem und radikalem Sinne zu verstehen" 52 . Was diese Aussage dann im Laufe der Untersuchung alles impliziert, können wir allerdings nicht mehr voll teilen, insbesondere wenn aus Franziskus aufgrund seines einzigartigen Verhältnisses zur Natur, seiner Visionen und Wundmale der Gründer einer neuen „Religion der Welterlösung" wird. Franziskus' eigene Aussagen in seinen Schriften sind nüchterner und bewegen sich auf der Linie biblisch-liturgischer Tradition.
3. Einordnung in die Tradition Die Hauptaussage des Menschen in der Bibel ist im Grunde die Bitte: „Herr, erbarme dich!" Damit anerkennt er, daß er die letzten und tiefsten Nöte, die sein Dasein betreffen oder aus eigenem Versagen herrühren, nicht aus eigener Kraft lösen, sich nicht selbst erlösen kann. Kern der Offenbarung - schon im AT - ist das Glück, Hilfe, Erlösung und Befreiung zu erfahren durch „Gott, den Herrn des Heils" 53 . Beides, die Hilfsbedürftigkeit des Menschen wie seine Anerkennung eines höheren hilfsbereiten Herrn, drückt sich im erwähnten Gebetsruf aus. Er glaubt, daß Gott, noch bevor man zu ihm ruft, ein dem Menschen zugewandter Gott ist, der sich um das Schicksal des einzelnen kümmert wie auch um das Heil seines Volkes, wie es Israel glaubte. a) Erlösung
im AT
Nach dem Zeugnis des Ersten Testamentes hat Jahwe sein Volk erwählt und aus verschiedenen bedrängenden, menschlich nicht zu bewältigenden Situationen befreit (vgl. z.B. Ri 3,9 f.; 1 Sam 11). Herausragende Tat Jahwes war die 52 H. FELD, Franziskus und seine Bewegung (wie Anm. 10), 215. 53 Wie Osmund M. GRÄFF OFMCap (1910-1997) seine Auswahl-Übersetzung des AT betitelt hat: Das Alte Testament: Gott der Herr des Heils, München/Paderborn/Wien 1973.
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Befreiung aus Ägypten, aus dessen Knechtschaft er sein Volk „mit erhobenem Arm und starker Hand" herausführte. Einige Psalmen erinnern und feiern diese Rettungstat, durch die sich Israel zur Freiheit berufen (vgl. später Paulus!), aber auch zur Gemeinschaft als Volk zusammengeführt weiß. In späterer Zeit wird analog zur Befreiung aus Ägypten die Heimkehr aus dem Exil als neue Erlösungstat verstanden und gepriesen (z.B. Jes 43,1 ; 44,21 f.). Wie einige Psalmen zeigen (z.B. Ps 34), erhofft und erbittet auch der einzelne Israelit, aus Gefahren errettet oder vor dem Tod bewahrt zu werden. Neben diesen Bedrohungen von außen gibt es auch Gefahren von innen: Sünde, Zorn, Haß, aber auch Sattheit und Stolz mindern oder bedrohen das Leben (vgl. Gen 6,5; 8,21; Jer 13,23; 17,9). Von diesem Übel der Sünde, von begangenem Unrecht, vermag sich der Mensch nicht aus eigener Anstrengung zu befreien; er ist angewiesen auf die Vergebung und Wiederannahme durch Gott (z.B. Ps 39; 51; 130). Für Israel als Volk steht die Erlösung aus der Sklaverei in Ägypten im Vordergrund; auch der einzelne weiß sich von Jahwe getragen, auf die Probe gestellt und errettet. Darüber hinaus blitzt aber auch, vor allem bei den Propheten, die Einsicht oder Hoffnung durch, daß Jahwe alle Armen erlösen, d.h. ihnen Gerechtigkeit widerfahren lassen wird (Jes 9,2-7). Ein universaler Friede zwischen den Völkern, ja eine Versöhnung zwischen Wolf und Lamm, Natter und Kind, erscheinen als mögliche Utopien (Jes 2,2-5; 11,6-9; 65,17-25). Diese hier nur angedeuteten Erlösungsvorstellungen im AT sind so allgemein, so gegenwärtig in Katechese und Liturgie (Kartage, Ostern), daß man sie auch bei Franziskus voraussetzen darf. Von Biographen berichtete Ereignisse wie Vogelpredigt, Loskauf von Lämmern, Versöhnungspredigten und -taten (Sultan, Bischof und Podestà in Assisi, Bürger in Arezzo usw.), Zähmung des Wolfes von Gubbio und andere Zeichenhandlungen rufen vor allem die letzte, die universale oder globale, unseren ganzen Globus miteinbeziehende Erlösung in Erinnerung. In Franziskus' eigenen Schriften finden sie aber keine ausdrückliche Erwähnung. Hier erscheint alles auf den Erlöser Jesus Christus konzentriert, wie besonders deutlich die Stelle aus dem Psalm zur Non zeigte, wo Franziskus einfügte: „durch sein eigenes kostbares Blut". b) Erlösung im NT Während der alttestamentliche Begriff „Löser" (goel) aus dem Familienrecht genommen ist, wo er die Auslösung von Familienbesitz oder Leben bezeichnet, ist der neutestamentliche Erlöser-Name so ter, Retter. Ist in den Evangelien Erlösung noch auf die Herrschaft Gottes bezogen, die Jesus verkündet und in Taten als angebrochen bezeugt, macht Paulus die Erlösung an Kreuz und Auferstehung Christi fest. Sie ist fur ihn der Inbegriff des Evangeliums (1 Kor
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15,1-5), nach dem Jesus für unsere Sünden starb und auferweckt wurde um unserer Rechtfertigung willen (Rom 4,25). Paulus entfaltet im Römerbrief ein geniales Erlösungskonzept, das mit dem Christus-Geschick verbunden ist. Das Erlösungskonzept des Johannes versteht sich aus seinem konsequenten Entscheidungsdualismus heraus. Die Welt liegt im Argen (1 Joh 5,19), ist voll Finsternis, Tod, Haß, Sünde. Dennoch liebt Gott die Welt und sendet seinen Sohn, um die Welt zu retten (Joh 3,16 ff.). Alle Menschen sind aufgerufen, sich angesichts des Offenbarers und der Offenbarung zu entscheiden. Aus der Dringlichkeit folgt die präsentisch formulierte Eschatologie: Der Nichtglaubende ist schon gerichtet, der Glaubende wird nicht gerichtet (vgl. Joh 3,18). Vater und Sohn kommen und nehmen bei dem Wohnung, der sich von ihrer Liebe ergreifen läßt (14,23). Die Heilsgaben sind unzertrennlich an Jesus gebunden: Er ist das Licht der Welt (8,12), die Tür (10,7.9), die Auferstehung und das Leben (14,6). Weitere Heilsgaben sind: Friede (14,27; 16,33), Versöhnung (1 Joh 2,2), Freude (Joh 15,11). Christus sendet den Parakleten, der die Jüngerschaft in der ganzen Wahrheit leiten (16,13) und zum Zeugnis befähigen wird (14,26; 15,26 f.). Liegt bei den Synoptikern der Akzent auf der Reich-Gottes-Predigt Jesu, so bei Johannes auf dem Leben und Heil, das Jesus anbietet und das sowohl für jetzt wie für die Zukunft gilt. Dem ganzen NT aber ist der Gedanke gemeinsam, daß die Rettung von Gott kommt. „Einem zur Erlösung führenden Heilsweg, der aus eigener Kraft des Menschen beschritten wird, steht die Fremderlösung gegenüber, die der rettenden Gnade eines göttlichen Erlösers entspringt; auf diese bezieht sich der ursprüngliche Sinn des lateinischen, mit seinen Ableitungen in den romanischen Sprachen und im Englischen fortlebenden Begriffs redemptio, der die Erlösung zunächst als einen Loskauf bezeichnet, der einen Käufer voraussetzt." 54 Dieser Käufer ist der Vater, der um den Preis seines eigenen Sohnes uns loskauft. Die Konzentration auf Christus, die wir bei Franz finden, ist also durchaus paulinisch-johanneisch, wobei freilich zu unterstellen ist, daß ihm diese auf Jesu Lehre, Leben und Tod zugespitzte Erlösung eher aus der Liturgie als aus der Hl. Schrift zugeflossen ist. Er hat teil an der bis ins Mittelalter unbestrittenen Überzeugung, daß Gott in Jesus Christus Mensch und Welt erlöst hat. Diese Grundbotschaft des NT wurde verkündet und gefeiert, weniger aber reflektiert. Da direkte Bestreitungen fehlten, gab und gibt es, was die Soteriologie betrifft, bis heute keine ausdrücklichen kirchlichen Lehrentscheidungen; was nicht heißt, daß man das Thema vernachlässigt hätte.
54 Günter LANCZKOWSKI, Erlösung: I. Religionsgeschichtlich, in: TRE (= Theologische Realenzyklopädie) 14, Berlin 1985, 606; vgl. Joachim GNILKA U. Harald WAGNER, Erlösung, in: LThK (= Lexikon für Theologie und Kirche) 3, Freiburg 1995, 800-812.
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c) Dogmatisch Zunächst ist zu sagen, daß der weitere Begriff für Erlösung „Heil" ist. Vom NT an sind sich alle Theologen einig in der Aussage, daß das Heil in und durch Jesus Christus verwirklicht ist. Heil meint das Gesamtfeld der christlichen Soteriologie, Erlösung deren spezifische Interpretation. Nach Martin Seils gibt es keine klare Begriffsabgrenzung von „Versöhnung" und „Erlösung". Letztere ist nur eine der Vorstellungen, unter denen das, was Heil ist oder bedeutet, im Christentum näher begriffen und ausgearbeitet worden ist. Vorherrschend sind Bilder vom „Loskauf' und von „Befreiung". Auch andere Bilder und Begriffe wie „heiliger Tausch" 55 , „Versöhnung" und „Rechtfertigung" wurden wirkungsvoll, aber dann im Frühmittelalter durch die Theorie vom Heil als „stellvertretende Genugtuung" ersetzt oder interpretiert. Heil als Erlösung bestimmte die Soteriologie des patristischen Altertums, Heil als Genugtuung jene des scholastischen Mittelalters, Heil als Rechtfertigung jene der Reformation. 56 Keiner der Begriffe ist von vornherein dem, was christliches Heil ist, angemessener als der andere. Die Soteriologie wurde nie dogmatisch auf einen Begriff allein eingegrenzt. Dies ließ eine breite Diskussion zu, so daß man in der Geschichte drei Strömungen feststellen kann. Gisbert Greshake charakterisiert sie als drei aufeinanderfolgende Typen: „I. Erlösung als Paideia durch Christus im Rahmen des antiken griechischen KosmosDenkens; II. Erlösung als innere Begnadung des einzelnen unter der Voraussetzung einer rechtlichen Wiederherstellung des ordo zwischen Gott und Mensch; III. Erlösung als inneres Moment der Geschichte der neuzeitlichen Subjektivität." 57 Hier interessiert vor allem die zweite Ausprägung im Mittelalter, als die Lehre von der satisfactio vicaria vorherrschend wurde. Diese wurde von Anselm von Canterbury (1033-1109) entwickelt und erlebte im folgenden Jahrhundert des aufblühenden Kirchenrechts einen Siegeszug, der bis in unsere Zeit andauerte. Der Satisfaktionslehre zugrunde liegt die Idee des ordo. Erlösung ist Wiederherstellung der durch die Sünde zerbrochenen Ordnung (ordo). Sie besteht darin, „daß Christus die aus dem Rechtsbruch der Sünde folgende 55 Vgl. Raymund SCHWAGER, Der wunderbare Tausch: Zur Geschichte und Deutung der Erlösungslehre, München 1986. Klara lobt die Königstochter Agnes in Prag ob ihrer Entscheidung: „Welch großer und löblicher Tausch, die irdischen fur die ewigen Güter zu verlassen, die ewigen Güter für die irdischen zu verdienen [...]!" (1 Agn 30). Vgl. Edith VAN DEN GOORBERGH, „Ein lobwürdiger Tausch": eine Strukturanalyse des ersten Briefes der hl. Klara von Assisi an die hl. Agnes von Prag anhand der TauschMetapher, in: Wissenschaft und Weisheit 57 (1994), 77-97. 56 Martin SEILS, Heil und Erlösung: IV. Dogmatisch, in: TRE 14, 6 2 2 - 6 3 7 , hier: 623. 57 Gisbert GRESHAKE, Der Wandel der Erlösungsvorstellungen in der Theologiegeschichte, in: Erlösung und Emanzipation, hg. v. Leo SCHEFFCZYK (Qaestiones Disputatae 61), Freiburg 1973, 69-101.
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Strafe von uns abwandte, indem er sich selbst als Sühnopfer für uns dem Vater anbot und so das gestörte Verhältnis von Gott und Mensch wieder instandsetzte. Die ganze Emphase liegt damit auf dem Opfertod Jesu, auf seinem Leben nur insofern, als es Hingabe und Gehorsam an den Vater für uns ist." 58 Man verstand also Erlösung in juristischem und moralischem Sinn: Was erlöst, ist die Erfüllung vorgegebener Bedingungen nach der Art, wie man Gefangene loskauft (dazu hat 1198 der hl. Juan Baptist de la Concepción den Orden der Trinitarier gegründet), Geißeln befreit oder geraubtes Gut zurückerwirbt. Dieses Bild schien den Theologen am geeignetsten, um die durch Jesus Christus geschehene Erlösung auszudrücken. Loskauf geschieht da, wo man einen Preis bezahlt. Da kein Mensch die Schuld bezahlen kann, nimmt der Vater als Lösegeld das Opfer seines Sohnes an, der sich freiwillig anbietet, fur die Erlösung der Welt zu sterben. Das Bild vom Loskauf ist gut im NT begründet: „Jesus gab sein Leben als Lösegeld für viele" (Mk 10,45). In Rom 3,24 ist die Rede vom „Loskauf in Christus Jesus". Die Wirklichkeit, die dieses Bild umschreiben will, kommt deutlich in Eph 1,7 zum Ausdruck: „In Christus haben wir die Erlösung (= den Loskauf) durch sein Blut, die Vergebung der Sünden." Manchmal wird auch der Lösepreis in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt: „Ihr seid freigekauft um einen teuren Preis" (1 Kor 6,20). Während Irenaeus (f ca. 190), der Bischof von Lyon, in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts noch deutlich die Menschwerdung in die Mitte rückte, ist für Anselm der Kreuzestod Christi wichtiger. Die feudalen Rechtsverhältnisse des Mittelalters machten den Benediktiner empfänglich für das Gerechtigkeits-Motiv, das auch in der Hl. Schrift anklingt. Jesus bezahlt mit seinem Blut den Preis, den die Gerechtigkeit als Genugtuung für unsere Sünden fordert. 59 Ein Mensch kann Gott gegenüber nicht mehr tun als das, wozu er ohnehin schon verpflichtet ist. Eine wirkliche Genugtuung kann deshalb allein von einem Gottmenschen kommen. Genugtuung kann also nicht stattfinden, sagt Anselm in seinem berühmten Werk Cur Deus homo, „wenn es nicht jemanden gibt, der Gott für die Sünde des Menschen etwas Größeres gibt als alles, was außerhalb Gottes existiert. [...] Auch ist es notwendig, daß der, der aus seinem Eigenen Gott etwas wird geben können, das alles überragt, was unter Gott steht, größer ist als alles, was Gott nicht ist. [...] Nichts aber ist über allem, was Gott nicht ist, außer Gott. [...] Also kann diese Genugtuung nur Gott leisten [...] Es darf sie aber niemand leisten außer dem Menschen, sonst leistete
58 Ebd. 85. Vgl. Helmut KESSLER, Die theologische Bedeutung des Todes Jesu, Düsseldorf 1970; Dietrich WIEDERKEHR, Glaube an Erlösung, Konzepte der Soteriologie vom NT bis heute, Freiburg 1978. 59 Vgl. Bonifac A. WILLEMS, Erlösung in Kirche und Welt (Quaestiones Disputatae 35), Freiburg 1968,49.
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nicht der Mensch Genugtuung" (CDH II,6).60 Gott ist also Mensch geworden, um als Gottmensch Genugtuung zu leisten für den Menschen und ihn so zu erlösen. Indem Jesus Gott freiwillig sein Leben gab, gab er mehr, als er mußte. Genau wie Irenaeus betrachtet auch Anselm den Tod Christi als eine freie Tat des höchsten Gehorsams (CDH 11,18). „Dieser Tod ist in sich eine Wiederherstellung der göttlichen Ordnung auf der menschlichen Ebene. Die göttliche Ordnung war auf der menschlichen Ebene durch den Ungehorsam der Sünde gestört worden. Ihre Wiederherstellung bedeutet naturgemäß: freiwilliger Gehorsam."61 Eben diese freiwillige Gehorsamshingabe betont auch Franziskus in seinem Leidensoffizium und in seinem sogenannten Brief an die Gläubigen (2 BrGl 10-14). Sanfte Kritik an Anselms Engflihrung der Erlösung auf die Satisfaktion wird erst Thomas von Aquin (t 1274) üben. Er deutet Erlösung wieder auf mehrere Arten: Er zeigt, daß Christus die Erlösung für uns verdiente, daß Leiden und Tod Genugtuung leistete, daß der Kreuzestod uns erlöste, weil er ein Opfer war. Selbst die neutestamentliche Idee vom Freikauf findet bei Thomas eine Würdigung. Auch kehrt er wieder zur altkirchlichen Lehre zurück, daß Erlösung sich am Christen vollzieht, indem er in den Sakramenten und in der Liturgie Kontakt aufnimmt mit Christus. Diese Betonung des sakramentalrealen Vollzugs der Erlösung hat sich auch bei Franziskus durchgehalten. Er ist überzeugt, daß wir vom Allerhöchsten in dieser Welt leibhaft-konkret (corporaliter) „nichts haben und sehen als den Leib und das Blut, die Namen und Worte, durch die wir geschaffen und vom Tod zum Leben erlöst sind" (BrKl 3). Und er beklagt sich, daß es so wenige sind, die Christus in sich aufnehmen und so gerettet sein wollen (vgl. 2 BrGl 1"5; 1 BrGl 2,2).
Zusammenfassung Franziskus erörtert nicht Konzepte von „Erlösung", sondern wendet sich direkt an den „Schöpfer, Erlöser und Retter". Mit der Tradition der Kirche glaubt er, daß Jesus Christus uns durch sein Leiden und Sterben von der Sünde und ewigem Tod erlöst hat. Er hat teil am allgemeinen Glauben, wie er im Credo verankert ist: Crucifixus pro nobis. Das pro nobis/vobis gehört zur genuin christlichen Soteriologie und hat eine starke Verbreitung im apostolischen Zeugnis. Jesu Deutung beim Letzten Mahl, als er den Jüngern den
60 Anselm von Canterbury, Cur Deus homo - Warum Gott Mensch geworden, lateinischdeutsch, besorgt und übersetzt von Franciscus Salesius SCHMITT, München 1956; Darmstadt 3 1970. 61 B. A. WILLEMS, Erlösung (wie Anm. 59), 52.
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Kelch reichte mit den Worten: „Trinkt alle daraus; dies ist mein Blut des Neuen Bundes, das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden" (Mt 26,28), führte zur „Für-uns"-Aussage nach Ostern. „Für" (hyper) wird zum Schlüsselwort für alles, was in und durch Christus geschehen ist. Es findet sich auch mehrmals in Franziskus' Schriften. Daß Gottes Sohn als „geliebtes Kind uns gegeben und für uns geboren wurde am Weg" (Off XV,7), als „guter Hirte für seine Schafe die Marter des Kreuzes erlitten hat" (Erm 6,1), ,för uns zum Vater gebetet" (RegNB 22,41) und „sich selbst für unsere Sünden auf dem Altar des Kreuzes dargebracht hat" (2 BrGl 11-12), veranlaßt ihn, Gott zu danken und zu loben und sich selbst fur andere einzusetzen. Sicher in Abwehr der Lehre der Katharer, wonach Jesus nur einen Scheinleib gehabt und nie wirklich gelitten habe, betont Franziskus die wahre Menschwerdung Gottes und das blutige Leiden Christi. Auf der Linie der Liturgie bekennt er, daß wir „durch das kostbare Blut Jesu Christi erlöst sind". Er wünscht, daß die Christen durch die aktive Teilnahme am sakramentalen Leben der Kirche sich die Gnade der Erlösung aneignen und für sie dankbar bleiben. Die Freude über Weihnachten und Ostern soll auch Tiere und Pflanzen, ja den ganzen Kosmos erfassen, der an der Erlösung teilhat. Durch das heilige Kreuz erlöst, ist die Welt zum Ort Gottes geworden, auch wenn in ihr sich weiterhin der Kampf zwischen Gut und Böse austobt. Mann und Frau müssen sich in dieser Erdenzeit entscheiden und bewähren, das Geschenk der Erlösung annehmen und entsprechend leben. In der Entfaltung der Heilslehre gab und gibt es verschiedene Akzentuierungen, je nachdem, ob man mehr den Anfang oder das Ende des irdischen Lebens Jesu betont. Drei Linien lassen sich unterscheiden: 1. Die erste Linie ist in der ostkirchlich-orthodoxen Soteriologie bestimmend. Für sie besteht die Heilswirkung in einer durch Christus ermöglichten und von ihm abhängigen Vergöttlichung (theiosis) des Menschen. Sie hat prinzipiell dadurch schon stattgefunden, daß Gott Mensch geworden ist. Schon die personale Union von Gott und Mensch in Jesus ist Erlösung. Daß Mensch und Welt von Gott angenommen sind, ist bereits schon das Heil. Leben, Kreuz und Auferstehung sind sozusagen nur Exekutionsereignisse des „Neuen Seins in Jesus als dem Christus" (P. Tillich). Indem der Mensch, der an seiner Endlichkeit und an den Ungerechtigkeiten dieser Welt leidet, von der Endlichkeit befreit und zur unverhüllten Erkenntnis und Schau Gottes gefuhrt wird, ist er erlöst. Christus hat in seiner Menschwerdung die Gemeinschaft mit Gott wiederhergestellt; sie ist dank seines dem Menschen verliehenen Geistes (pneuma) wieder möglich, ja sein Ziel. Wenn wir auf den Weihnachtspsalm des hl. Franz schauen und auf seine innige Krippenfeier in Greccio, müssen wir sagen, daß bei ihm diese Linie stark ausgeprägt ist. Allerdings führt er sie immer weiter bis zur Er-
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lösung am Karfreitag. 62 Das Kreuz ist die Aufgipfelung der Erlösungsgeschichte und ihr eigentliches Ziel. So sehr er in Abwehr katharischer Ideen betont, daß Christus aus dem Schoß Marias „das wirkliche Fleisch unserer Menschlichkeit und Gebrechlichkeit angenommen hat" (2 BrGl 4), so sehr steuert er doch gleich auf die Passion zu und sieht im Opfertod Jesu den Willen des Vaters erfüllt, der wollte, daß „sein gebenedeiter Sohn, den er uns geschenkt hat und der für uns geboren wurde, sich selbst durch sein eigenes Blut als Opfer und Gabe auf dem Altar des Kreuzes darbringen sollte [...] fur unsere Sünden" (2 BrGl 11-12). Daß Christus dem Willen des Vaters entsprochen, „seinen Willen in den Willen des Vaters gelegt hat" (2 BrGl 10), ist für Franziskus die Mitte der Erlösung. 2. So ist Franziskus in die im Mittelalter vorherrschende zweite Linie einzuordnen, wonach nicht die Inkarnation, sondern Kreuz und Auferstehung das Heil konstituieren. Dabei wird immer ein Zusammenhang von Tod und Schuld vorausgesetzt, der es möglich oder nötig macht, daß durch Kreuzestod und Auferstehung das Heil verwirklicht wird. Wie nach Anselm von Canterbury, so mußte auch nach Franziskus der Gottmensch Jesus den Tod nicht auf sich nehmen; er tat es aber freiwillig für uns, aus Liebe, im Gehorsam und als Genugtuung vor Gott. Wenn man die eucharistischen Hochgebete anschaut, spürt man noch heute das Vorherrschen dieser zweiten Linie. So ist im zweiten wie dritten Kanon von der Menschwerdung Gottes ebensowenig die Rede wie von der Arbeit Jesu in Nazareth, seiner Predigt und seinen Heilungen. Jesu öffentliches Leben und Wirken scheint keine erlösende Rolle zu spielen, sondern nur sein Tod, seine Auferstehung, Himmelfahrt und Parusie. 3. In dieser Lücke siedelt sich eine heutige, dritte Linie der Soteriologie an: Sie betont den Heilscharakter der Verkündigung und des Verhaltens Jesu, seine Reich-Gottes-Botschaft und -Tat. Die Soteriologie wird nicht mehr so sehr wie bei den Vätern christologisch aus der Person-Einheit Jesu mit dem Vater begründet als vielmehr anthropologisch; etwa in dem Sinn, daß Jesus der „öffentliche Sach-Walter" Gottes in der Welt und für die Menschen gewesen ist (Hans Küng). Der Lebensausgang Jesu gilt dann als letzte Bewährung seines Lebensauftrags, Auferweckung als Bestätigung der Verkündigung und Tat Jesu durch Gott. ,Jfeil ist also die einzigartige Innovationsbewegung, die Jesus in die Welt brachte und an der man durch
62 Vgl. Anm. 2; ferner Anton ROTZETTER, Franziskus feiert Weihnachten, Eschbach/ Markgräflerland 1989; Leonhard LEHMANN, Ein Psalm des hl. Franziskus zur weihnachtlichen Zeit, in: Geist und Leben 63 (1990), 5-15; Johannes B. FREYER, Der demütige und geduldige Gott, Franziskus und sein Gottesbild, Mönchengladbach 1991; H. FELD, Franziskus und seine Bewegung (wie Anm. 10), 234-239.
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ihn Anteil bekommt."63 Diese dritte Linie im christlichen Verständnis von Erlösung erlaubt es, dem Menschen eine stärkere Verantwortung fur unsere Welt und Zukunft zuzuschreiben. Und das ist es, was wir heute unbedingt brauchen, soll die Welt erlöster aussehen und der Mensch etwas vom Reich Gottes ahnen.
63 M. SEILS, Heil und Erlösung (wie Anm. 56), 627; vgl. Jürgen WERBICK, Soteriologie, Düsseldorf 1990; Internat. Theolog. Kommission, Gott der Erlöser (Kriterien 96), Freiburg 1997.
DANIELA M Ü L L E R
Franziskus und der Katharismus Gemeinsamkeiten und Differenzen im Natur- und Erlösungsverständnis Gewidmet Jean Duvernoy, einem der besten Kenner des Katharismus, zum 80. Geburtstag Wenn bislang die Frage nach Bezügen zwischen Franziskus und dem Katharismus gestellt wurde, so geschah dies fast immer nur von Seiten der Franziskus- und Franziskanerforscher. Die folgenden Ausführungen kommen dagegen von der „anderen" Perspektive her und gehen vertieft vom Katharismus aus. Vielleicht aber ergeben sich damit neue Blickwinkel, die für die Franziskusforschung nicht ohne Bedeutung sind. Zunächst sei eine persönliche Bemerkung vorausgeschickt: Wenn Roger Sorrell 1 1988 bemerkt, daß offensichtlich kein anderer moderner Forscher den Beitrag von Kajetan Esser über 'Franziskus von Assisi und die Katharer seiner Zeit' 2 gelesen habe, so darf festgestellt werden, daß genannter Beitrag in meiner Dissertation über die Albigenser von 1986 3 die Grundlage für die These abgab, daß es einen wesentlichen Unterschied bei der Entstehung der beiden Bettelorden gegeben habe: daß nämlich - ganz im offensichtlichen und belegbaren Gegensatz zu Dominikus - Franziskus seine Bewegung ohne einen Bezug auf die Katharer, also nicht quasi als Gegenreaktion gegen heterodoxe Gruppen, gegründet habe. Heute bin ich geneigt, die Dinge differenzierter zu sehen, könnte also nicht mehr jegliche Beziehung, selbst als Negativfolie, zwischen Katharern und Franziskus leugnen, ganz im Unterschied zu Sorrell. Welche Ansatzpunkte einer Beziehung sich ergeben könnten, soll im folgenden in drei Schritten dargelegt werden: Zunächst wird auf den zeitgeschichtlichen katharischen Hintergrund speziell in Norditalien eingegangen, dann in einem zweiten Schritt auf Vergleichs- und Differenzpunkte im Naturverständnis des Franziskus zu den katharischen Lehren, was drittens zwangsläufig zu Fragen im Erlösungsverständnis bei Franz und den Katharern führt.
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Vgl. Roger SORRELL, St. Francis o f Assisi and Nature, N e w York/Oxford 1988, 147. Kajetan ESSER, Franziskus von Assisi und die Katharer seiner Zeit, Archivum Franciscanum historicum 51 (1958), 2 2 5 - 2 6 4 . Vgl. Daniela MÜLLER, Albigenser - die wahre Kirche? Eine Untersuchung über das Kirchenverständnis der 'ecclesia Dei', Würzburg 1986, 208 f.
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Methodisch soll noch angemerkt sein, daß hier die „franziskanische Frage"4 sicher nicht vertieft, geschweige denn geklärt werden kann, da dies eine Aufgabe der auf Franziskus spezialisierten und schon jahrelang mit den einschlägigen Quellen arbeitenden Forscher ist. So werden im folgenden sowohl die 'Opuscula' des Franziskus wie auch die Legenden und Viten auf mögliche Ansatzpunkte zum Katharismus durchleuchtet, was hier allerdings nur kursorisch geschehen kann. Es gäbe sehr viel mehr noch aus den franziskanischen Schriften direkt zu entdecken, was aber den gegebenen Rahmen sprengen würde.
I. Zeitgeschichtlicher Hintergrund Wenn Paul Sabatier in seiner bekannten und immer noch lesenswerten Franziskus-Biographie die Frage nach zeitgeschichtlichen Einflüssen auf Franziskus stellt, kommt er auch auf die Katharer, „im eigentlichen Sinne des Wortes die Ketzer des 13. Jahrhunderts"5, zu sprechen. Anders als bei den Waldensern bestreitet Sabatier jedoch jeglichen katharischen Einfluß auf Franziskus, wobei sein Argument allerdings heute kaum noch zu überzeugen vermag: Während die Katharer der Kirche aufgrund eines „festen Lehrsatzes, der dem Dogma der katholischen Kirche vollkommen widersprach", feindlich gegenüberstanden, hätte Franziskus sich niemals mit Lehrfragen beschäftigt.6 Doch wir wissen heute, daß der Katharismus nicht primär oder ausschließlich als Lehrkonkurrenz wegen eines dualistischen Ansatzes von zwei unabhängigen aber eben nicht gleichwertigen - Prinzipien zu verstehen ist, sondern daß er vor allem als kritische Anfrage an die Praxis der Kirche, sei es im Verständnis der Sakramentenspendung, sei es in der Frage nach der Rechtmäßigkeit des Zehnten, seinen Anfang nahm. Es ist davon auszugehen, daß die Katharer gerade nicht dem Typ der „altbekannten" Häretiker der ersten christlichen Jahrhunderte entsprochen haben, die aufgrund eingehender und skrupulöser Bibellektüre zu anderen exegetischen Aussagen mit subtiler Argumentations-
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Prägnant formulierte Engelbert G R A U diese folgendermaßen: „Die franziskanische Frage dreht sich im wesentlichen um das Problem, wie man die Quellen zum Leben des hl. Franziskus, Vita I und II Celanos, die sogenannte Dreibrüderlegende und das Speculum perfectionis werten soll. Der Streit der Forscher spitzte sich auf die Frage zu, wie das Abhängigkeitsverhältnis dieser Quellen voneinander ist", vgl. Thomas von Celano, Leben und Wunder des Heiligen Franziskus von Assisi. Einführung, Übersetzung, Anmerkungen von P. Engelbert GRAU, Werl 1955, 42. Paul SABATIER, Leben des Heiligen Franz von Assisi, Zürich 1953, 62. „Das erhellt allein schon daraus, daß Franziskus sich niemals mit Lehrfragen beschäftigen wollte [...] Über Dogmen zu brüten, schien ihm ein nichtiges Werk", ebd.
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technik gekommen waren, sondern daß sie, die vor allem die Laien anzogen, ursprünglich und dauerhaft durch ihre unterschiedliche Lebenspraxis wirkten. Gerade die Fülle der unterschiedlichen Lehrdifferenzierungen in den katharischen Gemeinden zeigt klar, daß nicht ein - möglichst auch noch genau zu definierender - Lehrsatz den Kern ihres Glaubens und Zusammenhalts ausmachte.7 Helmut Feld hat prägnant die fur die „franziskanische Frage" wesentlichen Züge des Katharismus herausgestellt8, die hier in aller gebotenen Kürze erwähnt werden sollen. Dem katharischen Selbstverständnis nach waren die Heterodoxen weder Reformer noch Gegenkirche, sondern allein die wahre und einzige Kirche Christi. Ihre Schriftkenntnis war allgemein anerkannt, auch wenn sie die Bibel in sehr eigener Art lasen und verstanden, wobei ihre Hauptschrift das Johannesevangelium war. Aus diesem leiteten sie auch ihren Dualismus ab, d.h. den Glauben an Gott und ein böses Prinzip. Je nachdem, ob das Böse selbst ursprungshaft war oder von Gott geschaffen, wird ihr Dualismus gemeinhin als „absolut" oder „gemäßigt" bezeichnet, auch wenn dies mißverständlich sein kann. Die oft kargen Belegstellen aus der Schrift für diesen Dualismus werden durch kosmische Mythen gestützt, deren gnostische Herkunft zum Teil sehr deutlich ist. Besonders der Engelsturz spielte eine wichtige Rolle, da die Katharer sich selbst und die Menschen überhaupt als „gefallene" Engel verstehen. Der eigentliche, von Gott geschaffene Kern im Menschen ist die Engelseele, während der Körper als Teil der materiellen Welt Schöpfung des Bösen ist.9 So suchen sie ihr Heil in der Befreiung von allen materiellen Banden, was jedoch letztlich nie auf Erden möglich ist. Wichtigster Schritt auf dem Erlösungsweg ist der Empfang der Geisttaufe, des Consolamentum, durch welches der Mensch zum „guten Christen", zur „guten Christin" wird. In den Inquisitionsregistern werden diese dann als „Vollkommene", als perfecti bzw. perfectae, bezeichnet. Die guten Christen unterliegen strengen Fasten- und 7
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Vgl. dazu etwa schon Herbert GRUNDMANN, Religiöse Bewegungen im Mittelalter. Untersuchungen über die geschichtlichen Zusammenhänge zwischen der Ketzerei, den Bettelorden und der religiösen Frauenbewegung im 12. und 13. Jahrhundert und über die geschichtlichen Grundlagen der deutschen Mystik (Historische Studien 267), Darmstadt 2 1961. Vgl. Helmut FELD, Franziskus von Assisi und seine Bewegung, Darmstadt 1994, 92 f. Diesen Akzent stellte ich in den Mittelpunkt des zweiten, dogmatischen Kapitels meiner Studie „Frauen vor der Inquisition. Lebensform, Glaubenszeugnis und Aburteilung der deutschen und französischen Katharerinnen" (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte, Abteilung Abendländische Religionsgeschichte 166), Mainz 1996. Für den Historiker Lothar KOLMER allerdings, der das Forschungsfeld mittelalterlicher Häresien wohl glaubt monopolisieren zu können, bleiben theologische Zusammenhänge unzugänglich. Dies belegt seine Rezension meiner Arbeit in: Historische Zeitschrift 265 (1997), 762 f. Vielleicht zeugt seine unangemessene Darstellung auch von den Schwierigkeiten im eigenen Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft gegenüber normativen Ansätzen, wie sie in Theologie und Jurisprudenz die Regel sind.
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Enthaltsamkeitsgeboten, so ist jede tierische Nahrung und jede sexuelle Handlung verboten. Den wenigen guten Christen steht die Menge der Gläubigen gegenüber, diejenigen, die sich noch auf dem Weg zum Consolamentum befinden, das die meisten erst auf dem Totenbett erhalten - übrigens analog zur Praxis der ersten christlichen Jahrhunderte und aus ähnlichen Gründen: Da befürchtet wurde, das „sündenlose" Leben - denn Taufe wie Consolamentum befreiten zuallererst von der Sünde, und zwar von der durch und mit dem Menschsein gegebenen - nicht durchhalten zu können, wollten viele ihre Erlösung auf diese Art „sicherstellen". Hauptzentren des Katharismus waren zu Beginn Flandern und das Rheinland, dann Südfrankreich und Norditalien, wohl nicht zufällig also die durch den Handel und die fortgeschrittene Verstädterung kulturell hochstehenden Gebiete Europas. In der herrschenden Forschung wird bei der Frage nach der Entstehung des Katharismus stark auf östliche Einflüsse abgestellt. Die bulgarischen Bogomilen hätten sich auch nach Westen hin ausgebreitet, so daß die Katharer in dieser Perspektive quasi als westliche Bogomilen fungieren.10 Ich hingegen betone stärker, zusammen mit einem Teil der französischen Forschung11, die christlichen und die gnostischen Elemente der Bewegung, so daß ich davon ausgehe, daß es im Westen, unabhängig von einer direkten Einflußnahme aus dem Osten, immer noch Relikte gnostischen Glaubensgutes gab. Eine wie auch immer geartete „Missionierung" aus dem Osten traf dann in meinem Verständnis auf die untergründig immer noch vorhandenen gnostischen Strömungen, die, ohne strenggenommen „dualistisch" zu sein - das heißt von der Existenz zweier unabhängiger, gleich ewiger Prinzipien auszugehen - , die Trennung zwischen der geistlich-göttlichen und der materiell-irdischen Welt für gegeben ansahen. Da im Westen nach dem Auftreten der Manichäer so gut wie nie zwischen Gnosis als Strömung auch innerhalb des Juden- und Christentums und Manichäismus unterschieden wurde - und das zum Teil sehr bewußt nicht - , wundert es eigentlich auch nicht, daß im Grunde alle Häresien des 11., 12. und 13. Jahrhunderts als aus dem Osten kommend dargestellt wurden - nach dem Schisma von 1054 bestimmt auch ein willkommenes Propagandamittel, um die Rechtgläubigkeit Roms zu unterstreichen.12 In den katharischen Lehren liegt zum überwiegenden Teil christlich-gnostisches Gedankengut, so daß sie, auch gemessen an ihrem Anliegen, nicht als „neue" 10 Hier läßt sich der Bogen spannen von Arno BORST, Die Katharer (Schriften der Monumenta Germanicae Histórica 12), Stuttgart 1953, bis hin zu Gerhard ROTTENWÖHRER, Der Katharismus. 4 Bde. Bad Honnef 1982-1993. 11 Vgl. etwa Jean DUVERNOY, Le catharisme: la réligion des cathares, Toulouse 1976. 12 Vgl. hierzu Daniela MÜLLER, Ketzer und Ketzerinnen. Über die „fremde" Wurzel abweichender Glaubensvorstellungen und ihrer Bekämpfung. Das Beispiel des Katharismus, in: Der Umgang mit dem Fremden in der Vormoderne. Studien zur Akkulturation in bildungshistorischer Sicht, hg. v. Christoph LÜTH/R.W. KECK/E. WIERSING, Köln/Weimar/Wien
1997,211-228.
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Religion, sondern als zwar christliche, aber durch wichtige Akzentverschiebungen heterodox gewordene Variante des Erlösungsglaubens an Christus durch den Geist verstanden werden können. 13 Schon um die Mitte des 12. Jh. sind katharische Gemeinden in Mittelitalien zu finden. So gab es die katharischen Bistümer der Toskana (Florenz) und Umbriens (Spoleto). Speziell für Italien gibt uns der ehemalige Katharer und spätere Inquisitor Rainer Sacconi wertvolle Hinweise. 14 Er teilt die italienischen Katharer in drei große Gruppen ein: die Albanisten, die sich, aus Südfrankreich kommend, in der Gegend von Verona und der Lombardei niedergelassen haben; die Bagnolenser waren in Mantua, Brescia, Bergamo, der Grafschaft Mailand und in der Romagna angesiedelt. Ihnen stehen die Katharer in der Mark Treviso, der Toskana und dem Spoleto-Tal nahe. Schließlich gibt es noch die Concorezzaner, die in der ganzen Lombardei verstreut sind und die eigene Sondermeinungen vertreten. Für Florenz und Umgebung hat Georgi Semkov 1986 eine Studie über die dortigen Katharer vorgelegt 15 , die zeigt, daß der Katharismus nicht nur, wie bisher angenommen, vor allem im Stadtadel und Patriziat vorherrschend gewesen ist, sondern alle Schichten, auch bäuerliche, umfaßt haben könnte, so daß sein Einfluß tatsächlich gesellschaftsumspannend gewesen sein müßte. Wie auch in Südfrankreich spielten in den katharischen Gemeinden Italiens Frauen eine oft tragende Rolle. So hatten zwei perfectae, Militia de Monte-Meato und Julitta von Florenz, zum Ende des 12. Jahrhunderts in dem nicht allzu weit von Assisi entfernten Orvieto eine Schlüsselrolle übernommen und viele Männer und Frauen vom Katharismus überzeugt, wobei Julitta schon vorher als katharische Missionarin in Florenz aufgetaucht war. Die beiden Frauen hatten nach der Vertreibung der Katharer und Katharerinnen aus dem Ort durch Bischof Riccardo im Verborgenen die Mission fortgesetzt und sich aufgrund großer Frömmigkeit Verehrung in der ganzen Stadt erworben, so daß der Bischof selbst, von ihnen beeindruckt, sie einer klerikalen Bruderschaft angliederte - der einzige Weg, den die mittelalterliche Kirche kannte, um religiös motivierte Laien in ihre Ordnungsvorstellungen integrieren zu können. Militia war von beiden die aktive, in der Tradition der Martha Stehende, die sich etwa fur die Reparatur des Daches der Kathedrale einsetzte, während Julitta, Maria nacheifernd, sich dem kontemplativen Leben widmete. Nach ihrer Entdeckung als „Ketzerinnen"
13 Diese Perspektive ist nicht die der herrschenden historischen Schule, sondern stützt sich auf theologische Erkenntnisse, vgl. z.B. meine Ausführungen in MÜLLER, Frauen (wie Anm. 9), 129-270. 14 Vgl. Raynier Sacconi, Summa de Catharis, ed. F. SANJÊK, Archivum Fratrum Predicatorum 44 (1974), 38-60. 15 Vgl. Georgi SEMKOV, Die Katharer von Florenz und seiner Umgebung in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, Heresis 7 (1986), 59-75.
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wurde ihr Verhalten in den klassischen Ketzertopoi beschrieben, und sie wurden als Wölfe, die im Schafspelz einhergingen, geschildert.16 Neben dieser ins Auge fallenden räumlichen Nähe gibt es noch eine zweite Möglichkeit, eine Kenntnis katharischer Lehren bei Franziskus anzunehmen: seine Beziehung zur Poesie, zur Dichtung, eine Beziehung, die gleichfalls von Helmut Feld 17 angesprochen wurde. In ekstatischen Erregungszuständen sprach Franziskus französisch, sein Name und die endgültige Namensgebung deuten auf eine besondere Beziehung seines Vaters Pietro di Bernardone zu Frankreich hin. Vielleicht stammt ja die Mutter Pica auch aus dem Languedoc, wie Feld zu überlegen gibt.18 Die Begeisterung des Franziskus für höfisches Rittertum und höfische Lebensart, wie sie für ihn verbürgt ist, bildet ohne Frage die wesentlichen Elemente der Troubadour-Lyrik, durch die sie als Ideal vielleicht erst begründet wurden. Besonders in Frankreich war und ist nun die Frage einer Beziehung zwischen Troubadours und Katharern weiterhin eine cause célèbre, wobei wenigstens nicht mehr bestritten wird, daß überhaupt die Frage danach gestellt werden sollte. Auch hier ist das zeitliche und räumliche Auftreten von Troubadouren und Katharern zu übereinstimmend, als daß nicht nach möglichen Verbindungen gefragt werden könnte. Die wirkungsträchtigste Gegenmeinung zur herkömmlichen Ansicht - daß nämlich kein Zusammenhang zwischen beiden bestanden habe - vertrat 1939 Denis de Rougemont in seinem gedankenreichen, beeindruckenden Buch „Die Liebe und das Abendland", in dessen Neuauflage von 1972 er sich auch intensiv mit seinen Kritikern befaßt. 19 Rougemont listet eine große Zahl von Troubadouren auf, von denen verbürgt ist, daß sie Katharer waren. Auf einigen der Argumente de Rougemonts fußt René Nelli 20 , wenn er die Berührungspunkte zwischen Troubadouren und Katharern aufzählt, etwa daß beide die gleiche Zuhörerschaft und oft genug die gleichen Schutzherren und vor allem -damen hatten. Mit einer Fülle von Belegen will de Rougemont zudem klarstellen, daß die Liebe der Troubadoure gerade keine rein „weltliche" Sache war, sondern, in pessimistischen Grundtönen klingend, davon überzeugt, daß die wahre Liebeserfullung hier auf Erden nicht möglich sei, sondern nur im Jenseits. Die gemeinte „reine" Liebe sei eben die der „Reinen", der Katharer, gewesen, die sich die wahre Erfüllung der Liebe als mystische Hochzeit zwischen Geist und Seele vorstellten. Die von den Sängern verehrte „Dame" wäre demnach nichts anderes als, wie de Rougemont formuliert, „der geistige Teil des Menschen, 16 Vgl. die Annalen von Florenz, a. 1173, in: MGH SS 19, 224, sowie Vita Petri Parentii, in: Acta SS, Antwerpen/Paris u.a., 1643 ff., Bd. 2, 86-87. 1 7 V g l . FELD ( w i e A n m . 8 ) , 9 5 - 9 7 .
18 Ebd., 95. 19 Vgl. Denis DE ROUGEMONT, Die Liebe und das Abendland, Zürich 1987. 20 Vgl. René NELLI, L'Exotique des Troubadours, Paris 1963, und mit einer Fülle von Belegen, Originaltexten, Übersetzungen und Kommentaren DERS., Les Troubadours, 2 B d e . , Paris 1 9 6 5 / 6 6 .
Franziskus und der Katharismus
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den seine im Körper gefangene Seele mit einer sehnsüchtigen Liebe ruft, die nur der Tod erfüllen kann" 21 . Auch wenn bei den Troubadouren nur die bei Nelli „abgeschwächten" formalen Bezüge zu den Katharern gegeben wären, so fällt auf, daß Franziskus jedenfalls das Bild von der Frau in symbolischer Weise aufnahm, so im Gleichnis von der Frau in der Wüste. Inhaltlich wurde seit Ernst Benz 22 ja immer wieder darauf hingewiesen, daß sich in diesem Gleichnis ein bis an die Grenzen der Häresie reichendes Kirchenverständnis ausdrückt, da die Söhne des Franziskus als die legitimen Söhne Christi gelten, während die Fremden, die mit am Tisch sitzen, eigentlich nur die Papstkirche meinen können, wie Helmut Feld konsequent herausstellte. 23 So drängt sich die Frage auf, ob nicht Franziskus auch durch die Einflüsse der Troubadour-Lyrik auf katharisches Gedankengut gestoßen worden sein könnte - eine Frage allerdings, die hier nicht eindeutig beantwortet werden kann, sondern als Gedankenanstoß für intensivere Nachforschungen verstanden werden sollte. War nicht auch einer der ersten Gefährten des Franziskus, Bruder Pacificus, ein ehemaliger Troubadour? Mit den bisherigen Ausführungen wurde versucht, Grundzüge des Katharismus aufzuzeigen, und warum es allein aufgrund der lokalen und biographischen Gegebenheiten mehr als wahrscheinlich ist, daß Franziskus mit dem Katharismus in Berührung gekommen ist - ob direkt oder indirekt, muß allerdings offen bleiben. Bei den nächsten beiden Punkten soll nochmals betont werden, daß es sicher keine (materiellen) Beweise dafür gibt und auch nicht geben kann, daß zwischen Franziskus und dem Katharismus eine Verbindung bestanden habe. Doch durch einen hier notgedrungen kursorisch bleibenden Vergleich wichtiger zentraler Punkte bei ihm und den Katharern ergibt sich unter Umständen eine Evidenz, die eine Hypothesenbildung in dieser Hinsicht nahelegen könnte. Direkte Anhaltspunkte im franziskanischen Schrifttum für eine Beziehung Franziskus - Katharer finden sich nur ins Negative gewendet, sozusagen als „Anti-Ketzerpropaganda", in der 'Vita II' und im 'Tractatus de miraculis' des Thomas von Celano. Im Kapitel 48 der 'Vita II' 24 wird geschildert, wie sich ein Kapaunschenkel in Alessandria in einen Fisch verwandelt. In Alessandria nämlich wird Franziskus mit einem Mann konfrontiert, der der Beschreibung nach wohl nur ein Katharer gewesen sein kann. Dieser wirft Franziskus vor, Fleisch zu essen,
21
D E ROUGEMONT ( w i e A n m . 1 9 ) , 1 0 8 .
22 Vgl. Ernst BENZ, Ecclesia Spiritualis. Kirchenidee und Geschichtstheologie der franziskanischen Reformation, Stuttgart 1934, Nachdruck Darmstadt 1964, 79. - Hierzu auch FELD ( w i e A n m . 8 ) , 1 7 3 f.
23 Ebd. 24 Vgl. Thomas von Celano (wie Anm. 4), 309-311.
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woraufhin aber sich sein „Beweisstück", eben der Kapaunschenkel, den ihm Franziskus am Abend zuvor gegeben hat, in Fisch verwandelt. Über dieses Wunder erstaunt, bekehrt sich der Katharer und tut Buße. Erst nachdem er den Heiligen um Verzeihung für seine Schmähungen gebeten hat, erhält der Kapaunschenkel wieder sein ursprüngliches Aussehen. Diese Geschichte wirft aber doch allerlei Fragen auf: Gehörte - zumindest in Alessandria - die Abstinenz von Fleisch so sehr zum Bild eines Heiligen, daß also jemand, der Fleisch aß, in seiner Predigt unglaubwürdig wurde? Warum aber störte dann die Rückverwandlung in Fleisch nicht mehr das Ansehen des Heiligen? Vor allem aber: Der Katharer hatte ja die Wahrheit gesagt, als er den Franziskus des Fleischgenusses zieh, wirkte denn da nicht das „Wunder" etwas anstößig? Die Zielrichtung der Erzählung ist ohne Frage klar: Franziskus ist heiligmäßig, er ist kein Katharer, und wer sich gegen ihn stellt, stellt sich gegen Gott. Der Katharer dürfte Franziskus zunächst dasselbe vorgeworfen haben wie allen Klerikern: daß sein Leben nicht seiner Lehre entsprach, er also ein Heuchler sei. Von dieser Anschuldigung wird Franziskus öffentlich gereinigt und, vom Eingreifen Gottes beeindruckt, bekehrt sich der Katharer. Insgesamt dürfte hier ein Versuch vorliegen, die nicht ungefährliche Nähe zum Katharismus kirchenloyal zu „entschärfen", was durch die letztliche Bekehrung eines Katharers durch Franz augenfällig wird. Auffallend dabei ist, daß Franziskus während der eigentlichen Konfrontation - dem Angriff des Katharers auf ihn während einer Predigt - merkwürdig passiv bleibt: Es handeln und reden der Katharer und das Volk, Franziskus erscheint im zweiten Teil dagegen in keinem Satz als Subjekt. Hier ist wohl schon der Heilige, dem Verehrung zuteil wird, beschrieben, nicht der durch Zeichenhandlungen auffallende Zeitgenosse Franziskus. Im Mirakelbuch ist im zehnten Kapitel 25 die Geschichte von der Rettung Schiffbrüchiger verzeichnet. Der Name eines der in Seenot befindlichen Matrosen wird mit perfectus angegeben, was die Vorstellung eines katharischen „Vollendeten" hervorruft. Dieser verhöhnt den hl. Franziskus, wie der Katharer in Alessandria, indem er ironisch seine Macht, Wunder zu wirken, anruft. Doch entgegen seinen Erwartungen werden seine Forderungen erfüllt - auch hier hat Franziskus über einen Katharer triumphiert. Ob dieser sich bekehrt, wird zwar nicht mehr ausdrücklich gesagt, doch legt es die Logik der Geschichte nahe. Noch eine weitere Episode könnte auf eine Beziehung Franziskus und Katharer gemünzt sein: Die in den 'Fioretti' im 21. Kapitel überlieferte Legende vom Wolf von Gubbio. Helmut Feld hat vermutet, daß mit dem Wolf „ein Mensch gemeint ist: einer, der aus der städtischen, bürgerlichen Welt heraus-
25 Ebd., 497 f.
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gefallen ist oder ihr nie angehörte [...]"26. Doch vielleicht wird hier mit einem klassischen Topos der Ketzer gemeint, den Franziskus wiederum bekehrt? Die genannten Berichte haben jedenfalls als durchgängiges Motiv die Bekehrung von Katharern durch Franziskus zum Thema. Dadurch kann er in einer Zeit, als es die Einrichtung der Inquisition schon gab, die bekanntlich erst nach seinem Tode um 1233 errichtet wurde, als offensichtlicher Gegner der Katharer geschildert werden, und so kann seine Rechtgläubigkeit bestens betont werden. Allerdings berühren in den Episoden seine Art des Umgangs mit den Katharern; da ist nicht von fanatischem Haß oder glühendem Bekehrungseifer die Rede, sondern von einem Grundverständnis, das beide teilen, aber unterschiedlich auslegen: die Hinwendung in Armut und Demut zum Menschen, um Gott zu suchen. So kann neben der offensichtlichen Antiketzerpropaganda sehr wohl ein Zug von historisch Gemeinsamem entdeckt werden, der ja erst die Pointen ermöglicht: die Askese, das Verständnis für diejenigen, die „vom Wege abkommen". Selbst wenn Einflüsse auf Franziskus durch die katharische Lehre vorgelegen haben, wäre ein solches Verhalten den Katharern gegenüber denkbar für Franziskus gewesen, denn sicher war er überzeugt, daß der katharische Weg nicht der richtige war, sonst hätte er wohl keine Gemeinschaft gegründet, sondern wäre Katharer geworden.
II. Naturverständnis Zunächst soll in dem Naturverständnis von Franziskus der zentrale Punkt herausgegriffen werden, der immer wieder angeführt wird, um einerseits die Frage nach einem möglichen katharischen Einfluß zu stellen und um andererseits diese Frage mit Entschiedenheit zu verneinen: Gemeint ist seine überreich bezeugte Liebe zu den Tieren und zur Natur. Schon Helmut Feld hat mit schönen Beispielen belegt, daß Franziskus nicht der erste christliche Heilige war, der ein besonders enges Verhältnis zu den Tieren gehabt hatte. Keltische Einflüsse, vermittelt über die irischen Wanderprediger, können hier ebenso eine Rolle gespielt haben wie das in den Schriften der Kirchenväter besonders greifbare hellenistische Gedankengut. 27 So hat sich lange Zeit bei christlichen Denkern jedenfalls die griechische Vorstellung einer abgestuften Beseelung der Pflanzen- und Tierwelt erhalten, die den Tieren eine - wenn auch im Vergleich zur menschlichen minderwertigere
26 Helmut FELD, Beseelte Natur. Franziskanische Tiererzählungen, Tübingen 1993, 81. 27 Vgl. hierzu etwa Edward A. ARMSTRONG, Saint Francis: Nature Mystic. The derivation and significance of the nature stories in the Franciscan Legend, Berkeley/Los Angeles/London 1976, 3 Iff.
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- Seele zuschrieb und damit eine Erlösungsbedürftigkeit. In der berühmten Römerbrief-Stelle des Paulus (Rom. 8,19-23) finden wir dieses universale Erlösungsverständnis belegt, was eigentlich jeder anthropozentrischen Theologie die Spitze hätte brechen müssen - es aber nicht tat, wie gerade aus dem Erfolg des Franziskus einst und jetzt abgelesen werden kann. Die Stellung des Katharismus zu Tieren wird von Franziskusforschern zumeist unter dem Gesichtspunkt des Wiedergeburtsglaubens dargestellt - um den Gegensatz zu Franziskus besonders zu betonen. Die katharische Lehre habe wegen des Wiedergeburtsglaubens, der auch die Möglichkeit einer Wiedergeburt in tierischer Gestalt annahm, ihr spezifisches Verhältnis zu Tieren begründet, das also nichts mit Mitleiden zu tun gehabt habe; dabei wird auch noch wie von Edward Armstrong auf östliche, sprich buddhistische Anklänge im Katharismus verwiesen.28 Tiere seien also nur deshalb nicht getötet, mißhandelt oder gegessen worden, weil in ihnen gefallene Seelen wohnen könnten, die einmal auch Menschen gewesen waren oder wieder werden könnten. Doch scheint dies eine auf nicht genügender Kenntnis des Katharismus beruhende Darstellung zu sein. Helmut Feld hat hier wohl mit größerer Berechtigung andere Linien gesehen.29 Zunächst soll festgehalten sein, daß alle Informationen, die wir über den katharischen Wiedergeburtsglauben besitzen, erst aus dem 13. Jahrhundert stammen. Weder in den spärlichen Dokumenten katharischer Provenienz noch in den Schriften der frühen Polemiker wie Ebrardus Bethuniensis30 wird er erwähnt. Die Vorstellung von einem Engelsturz muß auch tatsächlich nicht notgedrungen den Glauben an Seelenwanderung nach sich ziehen, sondern kann auch in eine „radikale" Eschatologie münden, die durch Fortpflanzungsverweigerung glaubt, das Reich Gottes „herbeizwingen" zu können. Voraussetzung hierfür wäre dann aber die Überzeugung, daß durch alle zur Zeit lebenden Menschen die Zahl der Engel erfüllt werden könnte. Es wäre also denkbar, daß jede der gefallenen Seelen nur eine einmalige Chance erhielte, um Buße für die Verfehlungen als Engel zu tun. Im Katharismus, der ja auffälligerweise keinen Anlaß gab zu einer Lehrverurteilung des Wiedergeburtsglaubens, scheint zunächst die Vorstellung einer nur bestimmten Anzahl von Wiedergeburten vorherrschend gewesen zu sein. Petrus Vallium Sarnaii spricht in seiner 'Hystoria Albigensis' von sieben Wiedergeburten31, Alanus weiß von acht bis sechzehn zu berichten32, und die 28 Ebd., 145. 29
V g l . FELD ( w i e A n m . 8 ) , 2 2 0 f f .
30 Ebrardus Bethuniensis, Liber antihaeresis, in: Maxima Bibliotheca veterum patrum 24, 1525-84. 31 Petrus Vallium Sarnaii monachus, Hystoria Albigensis, hg. v. P. GUÉBIN/E. LYON, 3 Bde., Paris 1 9 2 6 - 1 9 3 9 , Bd. I, 93.
32 Alanus de Insulis, De fide catholica haereticos sui temporis, Patrologia Latina, ed. Jacques-Paul MIGNE (= PL), 210; 317.
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Autiers lehren sieben bzw. neun 33 . Dies legt nahe, das Schicksal der Menschen mit den Kategorien der Verdammung und Errettung zu erfassen, also sehr wohl ein Gericht stattfinden zu lassen. Doch daneben findet sich die Überzeugung, daß die Anzahl der Wiedergeburten schlechthin unbegrenzt sei und es so lange die Wiedergeburt gebe, bis der letzte gefallene Engel sich zum Katharismus bekehrt habe. 34 Selbst die Dämonen können, wenn es Gottes Barmherzigkeit will, gerettet werden. 35 Generell läßt sich sagen, daß der Glaube an eine nur begrenzte Anzahl von Reinkarnationen mit dem Gerichtsgedanken (notwendig) stärker verbunden war als die Vorstellung einer unbegrenzten Zahl. Während wir so genügend Hinweise auf den Glauben an eine Wiedergeburt der gefallenen Seelen finden, so sind die Aussagen, die von einer solchen in Tiergestalt sprechen, sehr selten: Sie finden sich ohne Ausnahme im Register des Jacques Fournier zu Beginn des 14. Jahrhunderts. Wir wissen, daß die katharische Lehre sich in dieser Zeit in vielen Punkten stark verändert hatte und viele Elemente des Volksglaubens aufgenommen hatte. Die beiden expliziten Berichte über die Wiedergeburt als Pferd und Esel richten 36 wollen primär die Lehre von der Seelenwanderung „unter Beweis" stellen und sind damit als Predigtexempel einzuordnen. Begründet muß offengelassen werden, ob die Katharer damit überhaupt an die Wiedergeburt in Tiergestalt glaubten. Was wissen wir aber konkret vom Verhalten der Katharer gegenüber Tieren? Ein Schlachter wird bedauert, da er Sünde auf sich lädt, indem er die Tiere tötet; ein Schäfer, der seinen Esel grausam mißhandelt, wird scharf getadelt. 37 Am bekanntesten ist die Weigerung der „guten Christen" und „Christinnen", Hühner zu töten, eine für Frauen im Mittelalter alltägliche Arbeit. Später wird diese Weigerung geradezu zur „Ketzerprobe", wie sie von der Inquisition und ihren Spitzeln angewandt wird, um Frauen oder Männer der Häresie zu überführen. 38 Fand ein „guter Christ" ein Tier, das in einer Falle gefangen war, so hatte er es zu befreien und ein entsprechendes Entgelt für den Fallensteller zu hinterlegen. 39 Hätte sich die Zuwendung der Katharer an Tiere auf ein rein funktionales Interesse wegen einer möglichen Wiedergeburt beschränkt, so wäre es nicht klar, warum sie ganz allgemein das Töten und Mißhandeln der Tiere so scharf verboten, denn allen Katharern und Kathare33 Peire Autier nennt sieben, in: Le registre d'Inquisition de Iacobus Fornerii, évêque de Pamiers (1318-1325), hg. v. J. DUVERNOY, 3 Bde. (Bibliothèque Méridionale 41, ser. 2), Toulouse 1965, Bd. I, 207; Guilhem neun, vgl. ebd., 473. 34 Vgl. ebd., Bd. II, 35; 408. 35 Vgl. ebd., Bd. II, 509. Näheres s. MÜLLER, Albigenser (wie Anm. 3), 117 ff. 36 Vgl. Le registre d'Inquisition de Iacobus Fornerii (wie Anm. 33), II, 408. 37 Vgl. ebd., Bd. II, 108 und 73. 38 Vgl. Collection Doat 25, fol. 42r-v. 39 Vgl. M. E. HARRIS, Le problème des bonshommes devant l'animal piège dans le rituel cathare occitan, Heresis 2 (1984), 15-19.
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rinnen war es Überzeugung, daß zur Erlösung der Empfang des Consolamentum nötig war; das Töten eines Tieres hätte also nur zur schnelleren Befreiung der in ihm gefangenen Seele gefuhrt und damit der Seele die schnellere Möglichkeit gegeben, als Mensch den Weg zum Consolamentum zu finden. Denn als Tier wurde für sie niemand erlöst. Gesetzt den Fall, daß sie in den Tieren tatsächlich mögliche Gefäße für die Wiedergeburt der gefallenen Engel sahen, hätten sie die Tiere als wahre Brüder und Schwestern ansehen müssen, die sich nur im Äußeren, in der Körperlichkeit, vom Menschen unterschieden. Das Äußere aber war nicht die Schöpfung Gottes, sondern des bösen Prinzips. Tieren war umso mehr Mitleid entgegenzubringen, als daß sie noch auf einer minderen Bewußtseinsstufe als der Mensch waren und deshalb auch noch mehr zu büßen hatten. Franziskus scheint in seinem Verhalten Tieren gegenüber einerseits eine starke Verbundenheit, ja Ehrfurcht empfunden zu haben, andererseits aber sah er die Tiere nicht als wesensmäßig vom Menschen unterschiedene Gattung an, so daß er von ihnen auch ein moralisches Verhalten nach menschlichen Maßstäben erwartete - so seine starke Mißbilligung einer Sau, die in einer Nacht ein neugeborenes Lamm tötete; oder seine Beurteilung der Rotkehlchen. 40 Nur deshalb auch konnte eine Predigt an sie Sinn machen. Von Franziskus ist auch überliefert, daß er nicht allen Tieren gegenüber diese Gefühle der seinsmäßigen Verbundenheit empfand; Stechmücken, Böcke und Säue erschienen ihm als Verkörperungen des Dämonischen. 41 In einem Inquisitionsregister aus dem 13. Jahrhundert findet sich dazu die katharische Meinung, daß Heuschrecken und Stechmücken Geschöpfe des Bösen seien; allgemein erstreckte sich das Tötungsverbot nicht auf Kaltblüter wie Fische oder Reptilien oder Insekten. 42 Wenn Franziskus die berühmten hymnischen Lobpreisungen nicht nur auf die Tiere, sondern auch auf die kosmischen Erscheinungen wie Sonne und Mond hielt, dann stoßen wir im Katharismus zwar auch auf ein besonderes Interesse an den Gestirnen, aber diese werden, im Vergleich zu den Belegstellen, die das Verhältnis zu den Tieren betreffen, nur sehr selten und nur für wenige katharische Gemeinden erwähnt. Nazarius und seine italienischen Katharer und Katharerinnen gingen davon aus, daß der Teufel aus der (Licht)krone Adams die Sonne und einen Teil des Mondes gemacht habe, aus der (Licht)krone Evas den Mond, die Sterne und fünf Sterne, die nicht am Firmament erscheinen. Sonne und Mond hielt Nazarius für belebte Dinge, die einmal im Monat Unzucht trieben. Rose und Honig seien aus der Vereinigung von Mond und Sonne hervorgegangen. 43 Auf den ersten Blick erscheint es
40 Vgl. FELD, Beseelte Natur (wie A n m . 26), 55 ff. und 47 ff. 41
V g l . FELD, F r a n z i s k u s ( w i e A n m . 8), 2 2 4 .
42 Vgl. Collection Doat 22, fol. 9 8 r - 9 9 v . 43 S. Anselm von Alexandria, Tractatus de haereticis, hg. v. A. DONDAINE, La hierarchie cathare en Italie, II, in: Archivum Fratrum Predicatorum 20, Rom 1950, 3 0 8 - 3 2 4 , hier
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nicht möglich, der Aussage einen positiven oder negativen Sinn im Lehrgebäude des Katharismus zuweisen zu können. Planeten und Gestirne unterlagen in Gnosis und Manichäismus gewissen Spekulationen, die aber durchweg erlösungsbezogenen Sinn hatten. Wir wissen, daß beide Richtungen, wobei ja der Manichäismus als eine der am stärksten ausgearbeiteten Formen der Gnosis zu werten ist, geschlechtliche Metaphern benutzten, um gerade Vorgänge der höchsten geistigen Ebene symbolträchtig zu verdeutlichen, so etwa wenn die Valentinianer von der „Geschlechtsgemeinschaft" (Syzygie) sprechen, um die göttlichen Emanationen zu bezeichnen, die im Sinne der Gnosis selbstredend nichts mit fleischlichmateriellen Vorgängen zu tun haben können. 4 4 In der Gnosis werden die Seelen, die mit den Engeln gleichzusetzen sind, zu Sternen 45 , wobei nicht vergessen werden sollte, daß ja selbst fur Thomas von Aquin die Engel zu den Himmelskörpern eine besondere Affinität aufweisen: Sie sind die Beweger der Gestirne. 46 So entspricht der Gedanke einer besonderen Verbindung Engel - Himmelskörper sicherlich dem mittelalterlichen Denken überhaupt, nur die Art der Relation wird unterschiedlich gelöst. Die gnostische Vorstellung, die j a von der Gleichheit der Substanzen ausgeht, zielt darauf ab, daß die männlichen Teile des Göttlichen sich mit den weiblichen vereinigen, vielleicht sogar darauf, daß das Böse mit dem Guten sich vermengt, was in Richtung Erlösung verweist. Schon die spätantike Lehre sah einen Zusammenhang zwischen der Entstehung der Menschenseele und den Planeten 47 . Dabei ist nicht zu übersehen, daß nach katharischem Glauben die gesamte sichtbare Welt, also inklusive der Planeten und Gestirne, vom Teufel stammt. Diese ist Nachahmung der himmlischen, oberen Welt des Vaters. Nur wenn sie wie Menschen und Tiere in sich die Keime des Göttlichen haben, hätten sie im Katharismus positiv gesehen werden können. Ob nun die Katharer und Katharerinnen auch in bezug auf die Planeten, Gestirne oder Elemente die
44
45 46 47
312: [...] quod Nazarius credit quod de corona Ade fecit diabolus solem, scilicet de una parte, et de altera fecit lunam; et de corona Eve fecit lunam et stellas et ν stellas que non sunt in firmamento; [...] quod sol et luna sunt res animatae, et quod quolibet mense fornicantur; et dicit quod ros et mei sunt de luxuria solis et lune [...]. Vgl. hierzu etwa Christoph MARKSCHIES, Valentinus Gnosticus? Untersuchungen zur valentinianischen Gnosis mit einem Kommentar zu den Fragmenten Valentins (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 65), Tübingen 1992. S. H. JONAS, Gnosis und spätantiker Geist, Bd. 1 (Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, N. F. 33 ), Göttingen 1934, 181 f. Vgl. S. Th (= Thomas von Aquin, Summa Theologica) I, 51,3, ad 3. Vgl. Hans-Josef KLAUCK, Die Gnosis als Weltanschauung der Antike, in: DERS., Alte Welt und neuer Glaube. Beiträge zur Religionsgeschichte, Forschungsgeschichte und Theologie des N T (Novum Testamentum et Orbis Antiquus/Studien zur Umwelt des Neuen Testaments 29), Fribourg/Göttingen 1994, 171.
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Möglichkeit einer Beseelung annahmen, kann wegen des hierüber schweigenden Quellenmaterials nicht gesagt werden. Entweder jedenfalls hat das böse Prinzip die kosmischen Elemente nur geschaffen als „Peinigung", als Mittel, um die gefallenen Seelen vom Weg des Heils abzuhalten, oder aber es sind auch in ihnen gefallene Engelseelen verkörpert, die ein starkes Gefühl der Verbundenheit ausgelöst hätten.
III. Erlösung Die Überlegungen zum Naturverständnis leiten bereits aus sich heraus über zu meinem dritten und letzten Punkt: dem Erlösungsverständnis. Das Erlösungsverständnis der Katharer ist - wie schon ausführlich an anderer Stelle begründet wurde48 - nur mit Hilfe ihrer Angelologie, ihrer Engelslehre, zu verstehen. Wie schon erwähnt, zeichnet sich der Mensch durch seine Dreiteilung in Körper, Geist und Seele aus, wobei der erste vom Teufel stammt, die beiden letzten Pole dagegen den göttlichen Anteil im Menschen beinhalten, oft sogar in gnostischer Weise49 ineinsgesetzt werden50. Die im Zentrum des christlichen Schöpfungsglaubens stehende WeltBeziehung des Schöpfers, die Transzendenz mit Immanenz vereint, da der Schöpfer sich einerseits als Welt-überlegen, andererseits als Welt-zugewandt zu erkennen gibt, ist im Katharismus weitgehend aufgegeben. Zwar wird die Unterschiedlichkeit zwischen Schöpfer und Geschöpf aufrechterhalten51, aber die wesensmäßige Verbundenheit des Schöpfers mit seinen Geschöpfen wird stark relativiert: Der Mensch ist nicht das Geschöpf Gottes, als solches ist ihm Gott auch nicht zugewandt, sondern der Schöpfer sorgt sich nur um seine eigentliche Schöpfung, den Engel. Deshalb hat Gott keinen Anteil an der Lenkung und der Erhaltung der Welt, sondern seine Zugewandtheit an sein Geschöpf äußert sich nur in seinem Erlösungswillen. Er ist der eschatologische Gott, der seine Geschöpfe nicht verläßt, sondern ihnen den Weg des Heils zeigt. Doch diese Erlösung ist nicht Erlösung der Welt, sondern von der Welt. Das eigentliche Gottesgeschöpf ist also nicht der irdische Mensch, sondern das
48
V g l . MÜLLER ( w i e A n m . 9 ) , 1 3 1 - 2 4 3 .
49 S. dazu Hans SÖDERBERG, La Réligion des Cathares. Etude sur le Gnosticisme de la Basse Antiquité et du Moyen Age, Uppsala 1949, 127-148. 50 Vgl. MÜLLER, Albigenser (wie Anm. 3), 76-81. 51 Auf die Geschöpflichkeit der Engel wird immer wieder verwiesen, auch wenn sich die Interpretation anbietet, daß die Engel Ausfluß göttlicher Substanz sind; Emanation und Schöpfung sind, wie von Eliade erkannt, keine notgedrungen sich ausschließenden Kategorien, sondern können ineinander übergehen, vgl. Μ. ELIADE, La naissance du monde, Paris 1959.
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geistig-seelische Engelwesen. Dieses ist der göttliche Kern, der sichtbare Mensch dagegen nur vorübergehende Erscheinung, die gleichermaßen in sich die göttlichen und teuflischen Anteile vermischt. Das Bindeglied zwischen göttlichem Geist und teuflischer Materie ist dabei die Seele, die vom Geist stammt, die aber dadurch, daß sie sich mit der Materie verbindet, in „Gefangenschaft" gerät, dabei aber der Garant ist, daß dieser „vermischte" Zustand von göttlichen und teuflischen Anteilen kein Heilshindernis darstellt. Die Vermischung gilt es aufzuheben, damit der Engel, das Gottesgeschöpf, rein wiederauferstehen kann. Bei einigen katharischen Gemeinden wurde in die Erlösung sogar Satan selbst eingeschlossen, der Prototyp des gefallenen Engels. Eine vermutlich dem Bogomilismus nahestehende 52 Sondermeinung vertrat offensichtlich Lepzet. Für ihn wurde Satan zu Unrecht aus dem Himmel vertrieben, und einst werde er seinen ihm zustehenden Platz wieder einnehmen. 53 Hiervon wurden aller Wahrscheinlichkeit die deutschen Katharer im 13. Jahrhundert geprägt, und von hier aus ist auch die „Ketzerei" der Lukardis in Trier zu verstehen. 54 Sie, eine, wie zugegeben wird, fromme Frau, vergoß über das Schicksal Satans Tränen, mit denen sie ihn erlösen zu können glaubte. Die Erlösung durch Tränen scheint zu sehr alten Motiven des christlichen Volksglaubens zu gehören, wobei Tränen offenbar Ausdruck der misericordia als christlicher Tugend sind. Schon Orígenes hatte ja die Dämonen, die unter das menschliche Niveau abgesunken waren, in die Allversöhnung miteinbegriffen, wobei dann seine Lehren anscheinend stark vereinfacht, und damit verfälscht, von den späteren Origenisten weitergegeben wurden. 55 Bei vielen katharischen Gemeinden stellt sich dann das Paradoxon, daß eine dualistische Lehre letztendlich in einem Monismus endet, d.h., daß die beiden entgegengesetzten Prinzipien in einer Allesversöhnung in eins fallen, während ja die katholische Lehre ihren Eingottglauben in einem endgültigen Dualismus bezüglich des menschlichen Schicksals enden läßt: Hier wird die Trennung zwischen Verdammten und Erretteten ewig stehen. Auch von Franziskus wird eine Episode überliefert, in der er überreichlich Tränen vergießt zum Gedenken an das Leiden Christi. Damit wird der erlösungsrelevante Bezug deutlich. Das Leiden Christi brachte den Menschen die Erlösung, und dieses Leiden nachzuvollziehen, ist nicht nur christliches Mitleiden, sondern Teil eines Identifikationsprozesses, durch den die Erlösung
52 Näheres dazu bei Gerhard ROTTENWÖHRER, Unde Malum. Herkunft und Gestalt des Bösen nach heterodoxer Lehre von Markion bis zu den Katharern, Bad Honnef 1986, 542.
53 Ed. Ignaz VON DÖLLINGER, Beiträge zur Sektengeschichte des Mittelalters, 2 Bde., München 1890, Ndr. 1963, hier: Bd. II, 371. 54 Vgl. Continuatio IV der Gesta Treverorum, ed. G. WAITZ in MGH, SS 24, 401. 55 Vgl. Näheres bei MÜLLER, Frauen (wie Anm. 9), 219 ff.
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sich von einem passiven Erleben „von oben" in einen kooperativen Akt des Sichöffnens für die göttliche Gnade und Vergegenwärtigens der göttlichen Macht wandelt. Erlösung erscheint bei Lukardis wie bei Franziskus so gesehen als Ansporn für den Menschen, sich für die Erfüllung der Erlösung tätig einzusetzen. Noch ein anderer Punkt im Leben des Franziskus, der eine gewisse Nähe zum Katharismus belegen könnte, soll abschließend herausgegriffen werden: die Vision und Stigmatisierung von La Verna (Alverna). Die Vision selbst kann als bekannt vorausgesetzt werden, so daß sogleich nach ihren Besonderheiten zu fragen ist. Franziskus sieht bekanntlich einen Seraphen mit sechs Flügeln und der Gestalt eines schönen gekreuzigten Menschen. Woher kann diese außergewöhnliche Christusvision stammen? 56 Nicht nur in bezug auf die Herkunft, das Wesen und die Bedeutung des Menschen erweist sich die Engellehre als richtungsweisend, auch Christus und sein Erlösungswerk erscheinen im Katharismus als Teile einer spezifischen Angelologie. So ungewohnt dies für den christlichen Kontext zu sein scheint, darf doch nicht vergessen werden, daß die Übertragung der Vorstellung eines himmlischen Geistwesens auf den irdischen Erlöser selbst für die kirchliche Christologie wegweisend war: Der Christus-Titel „Menschensohn" läßt sich aus spätjüdischen apokalyptischen Konzepten, wie sie in Dan 7 zu finden sind, erklären. Dort wird eine Engelsgestalt bezeichnet, deren Aufgabe die Verkündigung und Vermittlung des göttlichen Endgerichts war. Ende des dritten Jahrhunderts vor Christus vollzog sich dann die Identifizierung des himmlischen Wesens mit dem irdischen Messias. 57 Doch wird zu sehen sein, inwieweit die Katharer und Katharerinnen die Engelvorstellung vom Erlöser spezifisch ausarbeiteten. Undenkbar erscheint es im Katharismus, daß der göttliche Erlöser menschliches Fleisch angenommen haben könnte, und so wird immer wieder betont, daß Christus nur einen „Scheinleib" 58 oder einen „himmlischen Körper" 59 56 [...] apparuit ei seraph unus sex alas habens et inter alas gerens formarη pulcherrimi hominis cruciflxi, manus quidem et pedes extensos habentis in modum crucis, effigiemque Domini Iesu clarissime praetendentis, in: Legenda trium sociorum, ed. Théophile DESBONNETS, Archivum Franciscanum Historicum 67 (1974), 38-144, hier: 142. 57 Vgl. hierzu Heinz GEIST, Menschensohn und Gemeinde. Eine redaktionskritische Untersuchung zur Menschensohnprädikation im Matthäus-Evangelium (Forschungen zur Bibel 57), Würzburg 1986, der auf S. 43 darlegt: „In der Danielvorlage (Dan. 7,9.10.13) erscheint der Menschensohn als eine Engelsgestalt, die als authentischer Vermittler des göttlichen Endgerichts zu gelten hat [...] Es scheint, daß dabei dem Menschensohn die Schutz- und Beistandsfunktion des Völkerarchonten und Schutzengels, Michaels oder Gabriels, zugedacht ist. Der Menschensohn ist jedenfalls durchgehend als Engelwesen bestimmt [...]" 58 S. z.B. Alanus, (wie Anm. 32), 210, 321 f. oder Fournier (wie Anm. 33), Bd. I, 379. 59 Vgl. Brevis Summula contra errores notatos hereticorum, ed. C. DOUAIS, La Somme des Autorités à l'Usage des Prédicateurs Méridionaux, Paris 1895, 118.
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besessen habe und niemals „fleischlich" in die selige Jungfrau gekommen sei 60 . Durch die Annahme eines „geistigen" Körpers ist es den Katharern und Katharerinnen durchaus möglich, vom Körper Christi zu sprechen, darunter aber, wie etwa Moneta berichtet 61 , einen „himmlischen" Körper zu meinen, wahrscheinlich in Anlehnung an 1 Kor 15,47. Aufgrund dieses Verständnisses können sie auch von der Passion und dem Leiden Christi sprechen und es damit in für sie realem Sinn meinen. 62 Von hier führt ein direkter Weg zu ihrem „Wirklichkeitsverständnis", das durch die Annahme einer tieferen, inneren Wirklichkeit, die sich den Augen der rein realistischen Wirklichkeit verbirgt, eine philosophische Grundproblematik von höchster Bedeutung aufwirft, die zu behandeln hier nicht der Platz ist. Die katharische Auffassung von der „Körperlichkeit" Christi muß auf dem Hintergrund der kontroversen theologischen Diskussion um die Frage, ob den Engeln Körpern zu eigen seien, gesehen werden. So hatten Johannes von Damaskus, aber auch Ambrosius 63 dem Engel einen Leib, wenn auch einen von der menschlichen Art verschiedenen, zugeschrieben. Selbst Augustinus schwankte in dieser Frage 64 , so daß noch Bernhard von Clairvaux nicht sicher war, ob die Engel nicht sinnenbegabte Geschöpfe wie die Menschen seien 65 . Erst ab Thomas von Aquin galt diese Frage als entschieden - vielleicht auch als eindeutige Reaktion auf katharische Lehren zu werten? - , nämlich daß die Engel keine Körper hätten, die ihnen von Natur aus geeint seien. 66 Thomas verwirft die These Gregors des Großen, daß die Engel Sinnenwesen und folglich, wie jedes Sinnenwesen, aus Körper und Seele zusammengesetzt seien. 67 Bei der Wertung der katharischen Meinung darf also letztlich nicht vergessen werden, daß, wohl in direkter Reaktion auf sie, erst das Vierte Laterankonzil 1215 eine genaue Trennung der Bereiche vorgenommen hatte, der dann, wie gesehen, Thomas von Aquin gefolgt war: „Gott [...] gründete im Anfang der 60 Die adelige Bezersa soll laut Zeugenaussage gesagt haben: [...] qitod deus mmquam venit carnaliter in beatam virginem [...], Collection Doat 25, fol. 60r. 61 Moneta von Cremona, Adversus Catharos et Valdenses libri quinqué, ed. Thommaso Agostino R I C C H I N I , Rom 1743, Ndr. 1964, 249a. 62 So in Collection Doat 21, fol. 200v; in MS 609, fol. 80r, berichtet Pons de St. Michel, daß sein Bruder, der konsolierter Christ war, die Passion Christi erklärt habe und der Notar Guilhem Raimon die Passionsgeschichte vorgelesen habe, wohl ein Indiz daiur. daß der Aperfectus selbst nicht lesen konnte. Jedoch wird hier nicht näher ausgefühit, wie der gute Christ die Passion verstand - er könnte sie also durchaus in spirituellem Sinne interpretiert haben. 63 De virginibus, I, 8. 64 Vgl. De civ. Dei 13, 23 und 21,10. 65 Vgl. Sermones super Cantica Canticorum 5. 66 S. Th 1, 51,1: [...] quod angeli non habent corpora sibi naturaliter [...]. 67 Vgl. ebd. 51,1,2: Gregorius nominai angelum rationale animal. Omne autem animal componitur ex corpore et anima. Ergo angeli habent corpora naturaliter sibi unita.
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Zeit aus dem Nichts zugleich beide Reiche, das geistige und das körperliche, das der Engel und das der (sichtbaren) Welt, und darauf das des Menschen, der - aus Körper und Geist zusammengesetzt - gewissermaßen beiden Bereichen angehört."68 Zur Blütezeit des Katharismus gehörte die Frage nach den „himmlischen" Körpern der Engel dagegen zu einer der geläufigen, noch umstrittenen Fragen auch in der Schultheologie. Da Katharer und Katharerinnen Christus als Engel verstanden, schrieben sie ihm dementsprechend einen „englischen" Körper zu, so daß nur bedingt von „Scheinleiblichkeit" gesprochen werden kann. Für die Mehrheit der Heterodoxen besaß Christus einen Körper, nicht nur einen „zum Schein angenommenen", der jedoch nicht mit dem menschlichen Körper zu verwechseln war. Noch Thomas von Aquin mußte sich mit den Vorstellungen, Christus habe einen himmlischen Leib gehabt, auseinandersetzen. Er setzt diese Auffassung derjenigen gleich, Christus habe einen Scheinleib gehabt, wobei er für erstere Meinung Valentinus nennt, für die zweite jedoch die Manichäer anführt. Thomas betont dagegen, daß die Wesensform des Menschen dem Bereich der Natur angehöre und als solche einen bestimmten Stoff erfordere, nämlich Fleisch und Gebein.69 Gerade dieser Einwand aber traf die Katharer nicht: Für sie war das Eigentliche des Menschen der Engel, und, so gesehen, teilte gerade in ihrer doketistischen Auslegung Christus mit den Menschen das wahre Wesen, die wahre Natur, eben die des Engels. Thomas kann den doketistischen Positionen bereits eine gut ausgearbeitete Zweinaturenlehre Christi entgegensetzen, wobei er verdeutlicht, daß die Vereinigung von Gott und Mensch sich nicht in der Natur, sondern in der Person (Hypostase) vollzog.70 68 Viertes Laterankonzil, Heinrich DENZINGER, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, hg. von Peter HÜNERMANN, Freiburg u.a. 3 7 1 991 (= DH), 800: [...] qui sua omnipotenti virtute simul ab initio temporis utramque de nihilo condidit creaturam, spiritualem et corporalem, angelicam videlicet et mundanam: ac deinde humanam, quasi communem ex spiritu et corpore constitutam. 69 Vgl. S. Th III. 5,2: Primo enim, sicut non salvaretur vertías humanae naturae in Christo si corpus ejus esset phantasticum, ut posuit Manichaeus; ita etiam non salvaretur si poneretur caeleste, sicut posuit Valentinus. Cum ergo forma hominis sit quaedam res naturalis, requirit determinatam materiam, scilicet carnes et ossa, quae in hominis deflnitione poni opportet [...]. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß Thomas hier gerade auch gegen katharische Meinungen antrat, denn neben der schon erwähnten Vorstellung des himmlischen Körpers Christi (etwa bei Moneta, 249a) spricht Moneta, 47 f. auch von dem katharischen Glauben an einen corpus phantasticum-, beide von Thomas angegriffenen Positionen finden sich also sehr aktuell zu seiner Zeit im Katharismus vertreten. 70 Vgl. S. Th III, 2,6: Fides autem Catholica [...] neque dicit esse unionem factam Dei et hominis secundum essentiam vel naturam; neque etiam secundum accidens; sed medio modo, secundum subsistentiam seu hypostasim.
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Christus, das Haupt der Kirche, wird bei Thomas dann aber auch zum Haupt der Engel. Die Mißverständlichkeit dieser Rede ist dem Aquinaten offenbar bewußt, da er einschränkend klärt, daß sich eine hierfür vorausgesetzte Verwandtschaft zwischen Engeln und Menschen nicht auf den Leib erstrecke, sondern über die Seele der Gattung nach in der Natur zu finden sei.71 Statt Verwandtschaft aber nahmen die Katharer, wie gesehen, Identität zwischen Menschen und Engeln an, so daß für beide ein Körper galt, der dementsprechend himmlisch zu sein hatte. Einen himmlischen Körper für Christus anzunehmen, war Thomas, besonders im Hinblick auf die Bedeutung der Passion Christi, unmöglich, ebenso wie er ihm mit der göttlichen Wahrhaftigkeit für unvereinbar galt, da Christus so einen falschen Schein erweckt hätte.72 Doch dieser „Schein" ließ sich mit der spiritualistisch-allegorischen Auslegungsmethode der Katharer durchaus auch positiv deuten, nämlich als verborgener, nur den „Wissenden" zugänglicher Hinweis auf die innere, verborgene Wahrheit. Von den thomistischen Einwänden traf demnach nur der zweite ins Zentrum: die mit dem himmlischen Körper notwendig verbundene Leidensunfahigkeit, die selbst die Passion nur in geistigem Sinne auslegbar machte. Die Entfernung Gottes zu den Menschen war auch über Leiden, Mitleiden, nicht überbrückbar. Christus war für die Katharer also an erster Stelle ein Engel. Könnte dies im Hintergrund der Seraphen-Vision eine Rolle gespielt haben? Der Seraph von La Verna ruft noch eine andere „katharische" Konnotation wach: Im Inquisitionsregister des Jacques Foumier vom Beginn des 14. Jahrhunderts ist eine beeindruckende Geschichte erzählt, die in einer katharischen Predigt auftaucht: Gott beschloß, die Menschen, d.h. die gefallenen Engelseelen zu befreien, und verfaßte ein Buch, das er in die Mitte der himmlischen Geister legte. Zu ihnen sagte er, wer all dies erfüllen könne, was in dem Buch stehe, solle sein Sohn sein. Doch niemand wollte nach der Lektüre dies ausführen, zu schrecklich waren die Leiden. Zuletzt erklärt sich doch ein Engel bereit, der Johannes hieß. Er also stieg vom Himmel herab und wurde als Knabe in Bethlehem geboren.73 Sollte hier ein Hinweis auf Joh 1,6 verborgen sein? Johannes der Täufer scheidet aufgrund der spezifischen katharischen Lehren als positive Figur jedenfalls aus. Bei Johannes dem Evangelisten wird im Zusammenhang gleich an die Offenbarung gedacht werden können, in der ja nun auffallenderweise Engel eine überragende Rolle spielen. Tatsächlich könnte kein Bild treffender die katharische Geschichte vom Engel Johannes,
71 S. Th III, 8,4: [...] quod influentia Christi super omnes homines principaliter quidem est quantum ad animas: secundum quas homines conveniunt cum angelis in natura generis, licet non in natura speciei. Et hujus conformitatis ratione Christus potest dici caput angelorum, licet defìciat conformitas quantum ad corpora. 72 Vgl. S. Th III, 5,2. 73 Vgl. Foumier (wie Anm. 33), Bd. II, 45-46.
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der Gottes Sohn wurde, illustrieren als die Vision von La Verna. Zudem wissen wir, daß die Bagnolenser, die auch in der Gegend um Spoleto angesiedelt waren, gleichfalls angaben, daß der Name des Messias Johannes gewesen sei. Von Franziskus wird berichtet, daß sein ursprünglicher Taufname „Johannes" gewesen sei74 - sollte diese Namensgebung für ihn vielleicht einen tieferen Sinn enthalten haben? Da im katharischen Glauben Christus, wie gesehen, ein Engel wie die anderen ist, der nur aufgrund seiner Leidensbereitschaft, nicht aufgrund seiner Natur, zum Sohn Gottes wurde, bestand im Katharismus kein seinsmäßiger Unterschied zwischen Erlöser und Erlösten. Somit trug jeder gute Christ, jede gute Christin das Erlösungswerk in sich. Einzig die Tatsache, daß Christus die „frohe Botschaft", das Wissen um die Erlösung erstmals aufzeigte, hob ihn aus der Menge der Engel hervor. Für ein katharisches Verständnis wäre also nichts Revolutionäres in der Annahme gewesen, daß jemand als „zweiter" Christus, als alter Christus, die Erlösung weiter oder sogar zu Ende bringen könnte. Sollte hierin auch zum Teil die Erklärung dafür zu finden sein, warum die genauen Inhalte der Vision in Schweigen gehüllt wurden? Noch ein anderer Punkt ist bedenkenswert: In der apokryphen Schrift 'Interrogatio Johannis', die nachweislich bei den gemäßigten Katharern Italiens verwendet wurde 75 , ist Christus nur der zweite Sohn Gottes, der erst dann zu seinem einzigen Sohn wurde, als der Erstgeborene, der der Verwalter im himmlischen Reich des Vaters war, sein Name lautete Luzifer, vom Vater abgefallen war. Luzifer, der Lichtbringer, dessen engelhafte Schönheit sich erst nach seinem Sturz in eine Fratze verwandelte. Naheliegend scheint es, hier an die von Bruder Pacificus - dem ehemaligen Troubadour - berichtete Vision der leeren Engelsthrone zu denken. 76 Sollte diese Vision von Franziskus, entzündet von katharischem Gedankengut, also etwa andeuten, daß auch die scheinbar unüberbrückbaren Gegensätze, symbolisiert in Luzifer und Christus, letztendlich in sich zusammenfielen? Sollte ein „anderer" Erlöser diese Brücke zwischen gut und böse darstellen, zwischen körperlich und geistig? Abschließend sei zusammenfassend festgehalten: In den Ausführungen kamen die Unterschiede zwischen Franziskus und dem Katharismus vielleicht etwas zu kurz. Diese Auswahl wurde getroffen, da in der Literatur zumeist eingehend über die grundlegenden Differenzen zwischen beiden geschrieben wird, während auf mögliche Berührungspunkte kaum eingegangen wird. Wir werden keine „Beweise" im klassischen Sinne verlangen können, um über eventuelle Einflüsse des Katharismus auf Franziskus entscheiden zu können. An einigen Punkten ist die Nähe seiner Haltung und seines Glaubens zu
74 Vgl. FELD, Franziskus (wie A n m . 8), 100 f.
75 Vgl. Jean DUVERNOY, Albigéisme ou Catharisme, Cahiers du Sud 387/388 (1966), 196— 220, hier v.a. 207 f. 76 Vgl. Legenda Perusina, ed. Marino BIGARONI, II edizione integrale riveduta e corretta, Porziuncola 1992, 170.
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katharischen Lehren evident. Hierbei sollte nicht vergessen werden, daß der Katharismus zahlreiche christliche und gnostische Traditionen bewahrt hatte, die von der offiziellen westlichen Kirche beiseite geschoben oder wenig beachtet worden waren. Franziskus wird wohl vor allem durch das sittliche Beispiel der Katharer und Katharerinnen beeindruckt worden sein; inhaltlich griff er, vielleicht sogar ihm selbst unbewußt, einige Elemente des katharischen Weltbildes auf, um diese allerdings in einem genuinen Ansatz weiterzuleiten und mit der Lehre der Kirche in Einklang zu bringen. Während die Katharer keinen Wert auf eine „Reform" der Kirche legten, sondern selbst wahre Kirche zu sein beanspruchten, schien für Franziskus eine Trennung von der Kirche niemals diskutabel zu sein. Dabei allerdings hatte er, wie zu sehen war, das Bewußtsein einer ganz speziellen Sendung, die, im Vergleich mit der eigenen Beauftragung, den Auftrag der Kirche streng genommen stark relativierte und auf den zweiten Platz verwies. Doch war das ein eher kryptisches Moment seines Sendungsbewußtseins, das vielleicht einem Mann wie Hugolino von Ostia aufgefallen sein mochte, das aber letztlich die Einbindung der franziskanischen Lehre in die Kirche und deren Umformung nicht verhinderte. Im Unterschied zu den Katharern, für die nicht die Christologie, sondern die Pneumatologie eine überragende Rolle spielte, näherte sich Franziskus immer mehr der völligen Identifikation mit Christus an. Mochte er diesen auch zum Teil vor allem spirituell verstanden haben, so war fur ihn vor allem auch die körperliche Erfahrung mit dem gekreuzigten Erlöser zentral für sein eigenes religiöses Selbstverständnis. Bei allem bleibt er ein Mann, der es verstand, ohne Berührungsängste seinen eigenen Weg zu gehen. Manches von seinen Lehren wäre ohne den Katharismus schlecht denkbar, doch auch mit der Kenntnis der katharischen Lehren ist seine Person letztlich nicht restlos erklärbar. Nichts ist bei ihm reine Übernahme - weder aus dem Katharismus noch aus der offiziellen Kirchenlehre. Darin zeigt sich seine Singularität und Originalität bis heute.
ULRICH
KÖPF
Hugolino von Ostia (Gregor IX.) und Franziskus In memoriam P. Engelbert Grau OFM
I. Wer mit der Franziskus-Forschung nicht näher vertraut ist, der könnte hinter meinem Thema einen vielleicht interessanten, aber doch ziemlich beliebigen Aspekt der Biographie zweier bedeutender Persönlichkeiten vermuten. Biographischen Charakter hat das Thema in der Tat. Seit ihrem ersten Treffen in Florenz im Jahr 12171 sind sich beide nach Aussage der Quellen wiederholt persönlich begegnet.2 Diese Begegnungen hatten gewiß für die Biographie des Franziskus weit größere Bedeutung als fur die Hugolinos; aber sie haben immerhin auch in dessen Karriere deutliche Spuren hinterlassen. Weltgeschichtliche Bedeutung haben sie schließlich nach dem Tode des Franziskus gewonnen, als Hugolino von Ostia 1227 bis 1241 als Papst Gregor IX. regierte. Spätestens die einschneidenden Maßnahmen, die Hugolino als Papst ergriffen hat, lassen erkennen, daß der biographische Aspekt nur die Außenseite seines Verhältnisses zu Franziskus darstellt. In ihrem Licht zeigt sich klar, daß in den persönlichen Begegnungen offenbar nicht nur zwei völlig verschiedene Persönlichkeiten in unterschiedlicher Stellung und mit unterschiedlichen Lebensauffassungen einander gegenübergetreten, sondern auch unterschiedliche kirchen- und frömmigkeitsgeschichtliche Tendenzen und Kräfte aufeinandergetroffen waren: eine gelebte Religiosität und eine Form der Kirchenleitung, wie sie sich zu Beginn des 13. Jahrhunderts entwickelt hatten - in ihrer zeitgebundenen Ausprägung zugleich aber eine bestimmte Weise des Verhältnisses von Charisma und Amt, das die Kirchengeschichte seit ihren Anfangen spannungsund konfliktreich durchzogen hat.3 Spannungsreich muß jedem unvoreingenommenen Leser der Quellen das Verhältnis zwischen Franziskus und Kardinal Hugolino von Ostia erscheinen. Seit der Begründung einer historisch-kritischen Franziskus-Forschung durch 1 2
André CALLEBAUT, Autour de la rencontre à Florence de S. François et du Cardinal Hugolin (en été 1217), in: Archivum Franciscanum Historicum 19 (1926), 530-558. Edith PASZTOR, San Francesco e il Cardinale Ugolino nella „Questione Francescana", in: C o l l e c t a n e a F r a n c e s c a n a 4 6 ( 1 9 7 6 ) , 2 0 9 - 2 3 9 .
3
Für die Frühzeit des Christentums vgl. Hans VON CAMPENHAUSEN, Kirchliches Amt und geistliche Vollmacht in den ersten drei Jahrhunderten, Tübingen 2 1963 (Beiträge zur historischen Theologie 14).
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die Protestanten Karl Müller 4 und Paul Sabatier 5 hat es fortwährend das Interesse der Forscher auf sich gezogen. Es darf deshalb in einer Tagung über die neuere Franziskus-Forschung nicht fehlen. Freilich kann ich im vorgegebenen Rahmen nicht die Geschichte der vorgetragenen Lösungen nachzeichnen. 6 Sie bewegt sich sachlich in der ganzen Bandbreite der Möglichkeiten: von der Behauptung Sabatiers, zwischen dem Ideal der beiden Männer liege ein Abgrund, der im Gegensatz zwischen der Porziuncola, S. Damiano, den Carceri einerseits und der Grabeskirche S. Francesco andererseits anschaulich werde, 7 über verschiedene vermittelnde Auffassungen bis hin zur Meinung, Hugolino und Franziskus hätten weitgehend in ihren Zielen übereingestimmt oder sich doch wenigstens sehr nahegestanden. 8 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominieren die Versuche, einen Weg zwischen den beiden Extremen einer Harmonisierung und einer schroffen Entgegensetzung der beiden Personen und ihrer Standpunkte zu finden. Besonders gewichtig waren Ende der sechziger und zu Beginn der siebziger Jahre die sorgfältig abwägenden und eine vermittelnde Lösung bietenden Ausführungen des evangelischen Kirchenhistorikers Kurt-Victor Selge zum Thema. 9 Selge formuliert als Ergebnis:
4
Karl MÜLLER, Die Anfange des Minoritenordens und der Bußbruderschaften, Freiburg i.Br. 1885. Dazu: Klaus REBLIN, Freund und Feind. Franziskus von Assisi im Spiegel der protestantischen Theologiegeschichte, Göttingen 1988 (Kirche und Konfession 27), besonders 211-217.
5
6
7
8
9
Paul SABATIER, Vie de S. François d'Assise, Paris 1893; ich benutze die 46. Auflage Paris 1926. Dazu: Raoul MANSELLI, I biografi moderni di S. Francesco, in: San Francesco nella ricerca storica degli ultimi ottanta anni. 13-16 ottobre 1968 (Convegno del Centro di Studi sulla spiritualità medievale 9), Todi 1971, 9-31; Charles-Olivier CARBONELL, De Ernest Renan à Paul Sabatier: Naissance d'une historiographie scientifique de Saint François en France (1864-1893), in: L'immagine di Francesco nella storiografia dall'umanesimo all'ottocento. Atti del IX Convegno internazionale Assisi, 15—16— 17 ottobre 1981 (Società internazionale di Studi Francescani), Assisi 1983, 225-249; REBLIN, Freund und Feind (wie Anm. 4), besonders 217-227; Francesco d'Assisi attesa dell'ecumenismo. Paul Sabatier e la sua „Vita di S. Francesco" cent'anni dopo, in: Studi ecumenici 12 (1994), Heft 3. Einen ersten Überblick über die ältere Diskussion gibt Kurt-Victor SELGE, Franz von Assisi und Hugolino von Ostia, in: San Francesco nella ricerca storica (wie Anm. 5), S. 157-22; besonders 159-169. SABATIER, Vie (wie Anm. 5), schließt S. 420 mit der Aufforderung: „Puis [d.h. nach Besichtigung der Grabeskirche S. Francesco in Assisi] descendez à la Portioncule, passez à Saint-Damien, courez aux Carceri, et vous comprendrez l'abîme qui séparait l'idéal de François de celui du pontife qui le canonisait." So z.B. der Kapuziner Benedikt ZÖLLIG, Die Beziehungen des Kardinals Hugolino zum heil. Franziskus und zu seinem I. Orden, Diss, theol. Freiburg/Schweiz [1934], Münster i.W. O.J.; der erste Teil der Arbeit schon in: Franziskanische Studien 20 (1933), 1-33. Kurt-Victor SELGE, Franz von Assisi und Hugolino (wie Anm. 6); DERS., Franz von Assisi und die römische Kurie, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 67 (1970), 129— 161.
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„Von vollkommener Harmonie zwischen Franz und der Kirche, Franz und Hugolino kann man also ebensowenig sprechen wie von einem schroffen, unüberbrückbaren Gegensatz. Bei vollem persönlichem Vertrauen bestand ein sachlicher Konflikt verschiedener Konzeptionen." 1 0 Aus dieser Beurteilung heraus kommt er am Ende zu einer ausgleichenden Sicht der Politik Papst Gregors IX. gegenüber der franziskanischen Gemeinschaft. 1 1 Die lange Zeit in den Hintergrund getretene Auffassung Sabatiers hat in Deutschland in den letzten Jahren Helmut Feld mit großem Nachdruck wiederbelebt. Bereits 1986 hatte er Hugolino-Gregor genauso wie Bruder Elias von Cortona als einen „Totengräber des heiligen Franziskus" bezeichnet. 12 Dieses Urteil hat er in seinem großen und bedeutenden Franziskus-Buch von 1994 wiederholt und vertieft. 13 Mit diesem Buch muß sich jeder auseinandersetzen, der heute über das Thema „Hugolino von Ostia und Franziskus" spricht. „Totengräber" ist erstens im wörtlichen Sinn gemeint: Der Generalminister Elias und Papst Gregor haben die Beisetzung des Franziskus zunächst in der Kirche S. Giorgio innerhalb der südlichen Stadtmauer von Assisi, die später in das Kloster S. Chiara einbezogen wurde, und endgültig in der auf dem äußersten Ausläufer des Monte Subasio im Norden der Stadt, vor der Stadtmauer, neu erbauten Kirche S. Francesco veranlaßt. „Totengräber" hat aber noch einen tieferen und gewichtigeren Sinn: Feld sieht in Elias und Gregor Verräter an den Idealen des Franziskus und Zerstörer der ursprünglichen franziskanischen Lebensform. Wie immer man die Überzeugungskraft seiner Argumente im einzelnen beurteilen mag - seine Ausführungen machen auf jeden Fall deutlich, daß es bei den Beziehungen zwischen Hugolino-Gregor und Franziskus bis heute um ein zentrales Problem der Franziskus-Forschung geht. Das Urteil über Hugolino-Gregor hängt unmittelbar damit zusammen, wie wir die Persönlichkeit und die Ziele des Franziskus beurteilen, und umgekehrt fällt vom Verständnis Hugolino-Gregors Licht auf Absichten und Verhalten des Franziskus. Man könnte über dieses Thema eine ganze Tagung halten; Sie werden es mir deshalb nachsehen, wenn ich nur auf einzelne Aspekte eingehen und auch diese nur äußerst fragmentarisch, oft nur andeutungsweise behandeln kann. 14 Im folgenden werde ich zuerst die wichtigsten Daten aus den Beziehungen zwischen Hugolino-Gregor und Franziskus sowie seiner Gemeinschaft in Erinne-
10 Franz von Assisi und Hugolino (wie Anm. 6), 208. 11 Ebd., 2 1 0 - 2 2 2 . 12 Helmut FELD, Die Totengräber des heiligen Franziskus von Assisi, in: Archiv für Kulturgeschichte 68 (1986), 3 1 9 - 3 5 0 . 13 Helmut FELD, Franziskus von Assisi und seine Bewegung, Darmstadt 1994. 14 Auch in den Quellen- und Literaturangaben muß ich mich auf wenige Hinweise beschränken.
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rung rufen, sodann nach der Bedeutung dieser Beziehungen für die Geschichte der franziskanischen Gemeinschaft und ihrer Lebensform fragen und wenigstens andeuten, wie sich mir das Verhältnis der beiden Persönlichkeiten im ganzen darstellt.
II. Um die Beziehungen Hugolinos zu Franziskus zu verstehen, die sich von spätestens 1217 bis zum Tod des Franziskus 1226 erstrecken, müssen wir uns nicht nur das Verhältnis des Kardinals und späteren Papsts Gregor zur franziskanischen Gemeinschaft nach dem Tode des Franziskus klarmachen, sondern auch die Biographie Hugolinos im ganzen und sein Wirken abgesehen von den Beziehungen zum Franziskanertum vergegenwärtigen. Hugo, der in den zeitgenössischen Quellen meist Hugolino genannt wird, dürfte gegen 1170 oder etwas früher in Anagni, in der Campagna südöstlich von Rom, geboren worden sein. Wenn er - wie seine mittelalterliche Vita behauptet15 - aus der Familie der Grafen von Segni stammte, könnte er mit dem etwa zehn Jahre älteren Lothar von Segni, dem großen Papst Innozenz III., im 3. Grad blutsverwandt gewesen sein.16 Er studierte in Paris Theologie und in Bologna Rechtswissenschaften. Seine Vita berichtet auch, er sei in den Artes liberales und beiden Rechten (dem geistlichen und dem weltlichen) hervorragend ausgebildet gewesen, beredt wie Cicero und ein sorgfältiger Forscher und Lehrer der Theologie.17 Richtig sind gewiß die Bemerkungen über Hugolinos hohe Intelligenz und vorzügliche Bildung. Aber gegenüber der Wissenschaft hat er sich als Papst eher hindernd als fordernd verhalten.18 Schon 1228, also bald nach Beginn seines Pontifikats, richtete er an die Pariser Theologen eine dringende Warnung vor der Verfälschung der theologischen Wahrheit durch weltliches Wissen und die Phantasien der Philosophen. 1231 schärfte er das Verbot ein, die naturwissenschaftlichen Werke des Ari-
15 Vita Gregorii IX, in: Lodovico Antonio MURATORI, Rerum Italicarum scriptores, Bd. III/l, Mailand 1723, 575-587, hier: 575. 16 Die in der älteren Forschung allgemein anerkannte Angabe in der von Nicola Rosselli, Kardinal von Aragon, redigierten mittelalterlichen Vita bezweifelt Giuseppe MARCHETTI LONGHI, Ricerche su la famiglia di papa Gregorio IX, in: Archivio della R. Deputazione romana di Storia patria 67 (= N.S. 10) (1944), 275-305. Er hält Hugo für ein Mitglied der adeligen Familie de Papa, Papareschi oder Paparoni aus Anagni. 17 Vita (wie Anm. 15), 575. 18 Kurze Nachweise: Ulrich KÖPF, Die Ausübung kirchlicher Lehrgewalt im 13. und 14. Jahrhundert, in: Gewalt und ihre Legitimation im Mittelalter, hg. von Günther MENSCHING, Würzburg 2003 (Contradictio 1), 138-155.
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stoteles zu studieren, bis sie von jedem Verdacht eines Irrtums gereinigt seien. Er setzte auch eine Kommission ein, welche die libri naturales auf ihre inhaltliche Korrektheit überprüfen sollte. 1239 veranlaßte er die Beschlagnahme und Vernichtung der religiösen Bücher der Juden, namentlich des Talmuds, da sie der Grund für ihren hartnäckigen Unglauben seien. Dieser Mann, der sich auch durch eine institutionelle Verstärkung der Inquisition hervortat, hatte bei allem Wissen und aller Klugheit doch kein wirklich wissenschaftliches Ethos wie die Professoren der Universitäten, sondern ein vor allem von machtpolitischen und juristischen Überlegungen geleitetes Interesse an der Durchsetzung kirchlicher Autorität selbst auf Kosten der Freiheit. Wie weit ihn dabei auch genuin religiöse Empfindungen bewegten, auf die schon in den zeitgenössischen Quellen immer wieder hingewiesen wird, 19 kann hier nicht erörtert werden; es erforderte einen eigenen Beitrag. 20 Hugolino-Gregors eigentliche Stärke lag offenbar in der Rechtswissenschaft. Der Papst war ein vorzüglicher Kanonist, der das kirchliche Gesetzbuch, das Corpus Iuris Canonici, um eine Sammlung von 195 von ihm verfaßten Dekretalen bereichert hat: den Liber decretalium extra Decretum vagantium oder kurz Liber extra, den er im Rahmen einer Neukompilation der päpstlichen Dekretalen durch den Dominikaner Raimund von Peñafort herausgeben ließ.21 In ihm finden sich nicht nur inhaltliche Neuerungen, sondern auch wichtige Verbesserungen des kanonischen Verfahrens, schärfere Definitionen und Vorschriften zur Rechtspraxis. Es läßt sich aber zu allen Zeiten beobachten, daß ein tüchtiger Jurist nicht immer ein guter Theologe mit Verständnis für religiöse Fragen ist. So scheint auch Hugolino-Gregor in seinem Verhältnis
19 In eigenen Äußerungen Gregors wie in den erzählenden Quellen über ihn ist in auffalliger Weise vom Weinen die Rede. So soll er z.B. beim Besuch in der Porziuncola heftig geweint haben (II Celano 63) und bei der Heiligsprechung des Franziskus gar Ströme von Tränen vergossen haben (I Celano 125,11 : Tripudiai pastor Ecclesiae ac de intimis visceribus longa suspiria trahens et salutares singultus ingeminans lacrimarum rivulos educir, vgl. in diesem Zusammenhang noch ebd., 122,9; 123,6; 124,2). - Die meisten Quellen sind jetzt zusammengefaßt greifbar in: Fontes Franciscani, hg. von Enrico MEN E S T Ò / S t e f a n o BRUFANI u.a., S. Maria degli Angeli-Assisi 1995. Daneben benutze ich: Chronica Fratris Jordani, hg. von Heinrich BOEHMER, Paris 1908 (Collection d'Études et de Documents, 6). Die Zeichensetzung dieser Editionen wird gelegentlich stillschweigend berichtigt. 20 FELD, Franziskus (wie Anm. 13), 327-334, versucht mit beachtenswerten Überlegungen, ein Bild der „psychischen Verfaßtheit" Hugolino-Gregors zu zeichnen. Allerdings sollten vor psychohistorischen Erwägungen alle philologischen und historischen Gesichtspunkte erörtert werden. Die Hervorhebung des Weinens bei Hugo und durch ihn selbst hat meines Erachtens topischen Charakter. 21 Stephan KUTTNER, Raymond of Peflafort as editor: The 'decretales' and 'constitutiones' of Gregory IX, in: Bulletin of Medieval Canon Law N.S. 12 (1982), 65-80; vgl. auch: Filippo LIOTTA, I papi Anagnini e lo sviluppo del diritto canonico classico: tratti salienti, in: Archivum historiae pontifíciae 36 (1998), 33-47.
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zu Franziskus und seiner jungen Gemeinschaft viel stärker von juristischen als von theologischen Gesichtspunkten geleitet worden zu sein. Diesen Mann hat Innozenz III. 1206 zum Kardinalbischof von Ostia und Velletri und damit zugleich zum ranghöchsten Mitglied des Kardinalskollegiums gemacht. Als Kardinal hat Hugolino zahlreiche diplomatische Missionen erfüllt. So reiste er wegen des Thronstreits 1207 als päpstlicher Legat nach Deutschland. 1209 nahm er an der Kaiserkrönung Ottos IV. in Rom teil, und wahrscheinlich war er im Hintergrund auch am Sturz des Weifen und der Erhebung des Staufers Friedrich zum Gegenkönig beteiligt. Als Honorius III. 1216 zum Papst gewählt worden war, unterstützte ihn Hugolino bei der Vorbereitung des auf dem 4. Laterankonzil beschlossenen Kreuzzugs. In diesem Zusammenhang machte er zahlreiche Reisen durch Mittel- und Oberitalien. Am 19. März 1227 wurde Hugolino einmütig zum Nachfolger des am Vortag verstorbenen Honorius gewählt. Drei Jahre länger als sein Vorgänger, bis zu seinem Tod am 21. oder 22. August 1241, bekleidete er sein Amt. Sein Wirken als Papst stand vor allem im Zeichen des eskalierenden Konflikts mit Kaiser Friedrich II. An dessen Kaiserkrönung im November 1220 hatte er noch als Kardinal teilgenommen, und aus seiner Hand hatte Friedrich das Kreuz empfangen. Als Papst hat er 1227 den Kaiser exkommuniziert und seitdem mit allen Mitteln vierzehn Jahre hindurch gegen ihn gekämpft. All dies brauche ich hier nicht im einzelnen auszuführen. Es genügt, die heftigen Auseinandersetzungen mit dem Kaiser und seinen weltlichen wie kirchlichen Anhängern als einen Gregors gesamte Amtsführung begleitenden Umstand und auch als Hintergrund für sein Verhältnis zu Franziskus und zur franziskanischen Gemeinschaft im Auge zu behalten.
III. Doch wenden wir uns nun diesem Verhältnis zu. Ich sagte eingangs schon, daß wir den biographischen Quellen Nachrichten über eine Reihe von Begegnungen und Verhandlungen zwischen Kardinal Hugolino und Franziskus entnehmen können. Edith Pásztor zählt acht Anlässe auf, deren Datierung aber teilweise in der Forschung umstritten ist: die erste Begegnung in Florenz, das Auftreten des Franziskus vor Honorius III. in Gegenwart Hugolinos, die Besorgnis des Kardinals um die Gesundheit des Poverello, die Teilnahme des Franziskus an einer Mahlzeit im Hause des Kardinals, seine Begegnung mit Dominikus ebenfalls im Hause Hugolinos, den Besuch des Kardinals in der Porziuncola, sein Auftreten auf dem sogenannten „Mattenkapitel" und seine Übernahme eines Hauses in Bologna, das für die Brüder erbaut worden war. Auf Belege und auf eine Diskussion des sachlichen und zeitlichen Verhältnis-
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ses dieser Berührungen muß ich hier verzichten und greife nur den wohl wichtigsten Sachverhalt heraus: die Bestellung Hugolinos zum Kardinalprotektor. Auch sie wird in den Quellen ganz unterschiedlich dargestellt und in der Literatur dementsprechend gewertet. So schildert Thomas von Celano sie vollkommen harmonisierend als eine von der göttlichen Vorsehung herbeigeführte Entwicklung,22 während Jordan von Giano die Erinnerung an ihren Zusammenhang mit der Krise der franziskanischen Gemeinschaft im Jahre 1220 aufbewahrt hat.23 Als Franziskus im Sommer oder vielleicht schon im Frühjahr 1220 von seiner Reise in den Orient nach Italien zurückkehrte, war er empört über verschiedene Neuerungen, die während seiner Abwesenheit durch das erste „Seniorenkapitel" und einzelne Mitbrüder mit Unterstützung der römischen Kurie eingeführt worden waren.24 Er begab sich zu Papst Honorius III. (wann und an welchem Aufenthaltsort: Viterbo oder Orvieto, ist umstritten) und bat zum einen um Widerruf der Neuerungen, zum andern um Einsetzung des Kardinals Hugolino als „Protektor und Korrektor" der Bruderschaft. Besonders umstritten ist die Deutung dieser Entscheidung. Offenbar hatte Franziskus erkannt, daß sein persönlicher Einfluß auf die rasch wachsende Gemeinschaft und besonders auf ihre führenden Mitglieder nicht mehr ausreichte, um die Lebensform, die ihm vorschwebte, rein zu bewahren. Außerdem sah er, daß die römische Kurie die von seinen ursprünglichen Absichten abweichenden Tendenzen unter den Minderbrüdern ihrem Ziel dienstbar machte, die Gemeinschaft so weit wie möglich in traditionelle Bahnen monastischen Lebens zu lenken.25 Da sich ein Konfrontationskurs nicht zugleich gegen die Politik der Kurie und gegen starke Kräfte in der Gemeinschaft durchhalten ließ, wandte sich Franziskus dorthin, wo er am ehesten Gehör zu finden hoffte: an Kardinal Hugolino als den Vertreter der Kurie, der ihm seit einigen Jahren am nächsten gestanden hatte. Es ist eine zentrale Frage der Franziskus-Forschung, wie die Beziehung zwischen den beiden Männern aufgefaßt werden muß. Daß die
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I Celano 99 f.; II Celano 25. Jordanus von Giano, Chronica 14. Genaueres u. in Abschnitt V. Der nach Legenda Perusina (Fontes Franciscani nach BIGARONI: Compilatio Assisiensis) 18 beim „Mattenkapitel" von quamplures fratres sapientes et in scientia dodi dem Kardinal Hugolino vorgetragene Wunsch, er möchte Franziskus überreden, eine der älteren Regeln (Regulam beati Benedict i, beati Augustini et beati Bernardi) zu übernehmen, entsprach der von Innozenz III. entwickelten Strategie zur Integration zeitgenössischer religiöser Bewegungen. Bereits bei seinem ersten Besuch an der römischen Kurie war Franziskus geraten worden, ut ad vitam monasticam seu eremiticam diverteret (I Celano 33,1). Franziskus lehnte den beim „Mattenkapitel" geäußerten Wunsch kategorisch ab: Fratres mei, fratres mei, Deus vocavit me per viam humilitatis et ostendit michi viam simplicitatis: nolo quod nominetis michi Regulam aliquam, neque sancii Augustini, nec sancii Bernardi, nec sancii Benedicti (Legenda Perusina 18).
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harmonisierende Sicht, die bereits Gregor IX. 1230 in seiner Einleitung zur Bulle Quo elongati suggeriert 26 und die von den frühen Biographen am ausgeprägtesten Thomas von Celano vertritt,27 mit größter Vorsicht betrachtet werden muß, liegt auf der Hand. 28 Unabhängig davon, wie man das persönliche Verhältnis zwischen Franziskus und Hugolino sieht, wird man anerkennen müssen, daß die Bestellung eines Generalprotektors für den werdenden Orden nicht einfach der Ausdruck von Sympathie, ja von Liebe war, 29 sondern als Notlösung aus einer Krisensituation hervorging. Gewiß fühlte Hugolino sich als Protektor der Gemeinschaft in besonderer Weise verbunden, sah sich in dieser Funktion aber auch noch stärker als bisher zu Eingriffen in ihre Entwicklung ermächtigt. Es ist nur zu verständlich, daß sich diese Einstellung - mag man sie nun eher positiv als Verantwortungsbewußtsein oder eher negativ als Ausübung von Amtsgewalt oder gar als Machthunger deuten - nach dem Tode des Franziskus am 3. Oktober 1226 verfestigt hat, zumal nachdem Hugolino am 19. März des folgenden Jahres zum Papst gewählt worden war. Gregors nächstes Ziel im Blick auf den Orden war offenbar die Kanonisierung des Franziskus. Wer mit den Bemühungen um die Heiligsprechung von Ordensstifitern oder auch anderer bedeutender Religiösen vertraut ist, der weiß, daß es sich dabei weniger um die Institutionalisierung volksfrommer Verehrung oder gar um die angemessene postume Anerkennung einer bedeutenden Persönlichkeit handelt als um die Verfolgung sehr realer kirchenpolitischer Absichten. In der Regel steht die Gemeinschaft selbst hinter einer derartigen Initiative; sie kann aber auch von Außenstehenden instrumentalisiert werden. 30
26 Bei Herbert GRUNDMANN, Die Bulle „Quo elongati" Papst Gregors IX., in: Archivum Franciscanum Historicum 54 (1961), 3-25; wieder abgedruckt in: DERS., Ausgewählte Aufsätze. Teil 1: Religiöse Bewegungen, Stuttgart 1976 (Schriften der Monumenta Germaniae Histórica 25,1), 222-242, hier: 237, in der Antwort an die Provinzial- und den Generalminister des Ordens (s. u. Anm. 35): Et cum ex longa familiaritate, quam idem Confessor nobiscum habuit, plenius noverimus intentionem ipsius et in condendo predictam Regulam et obtinendo confirmationem ipsius per sedem apostolicam sibi astiterimus, dum adhuc essemus in minori officio constituti, declarari similiter postulastis dubia et obscura regule supradicte necnon super quibusdam difficilibus responden. 27 Vgl. besonders I Celano 99-100; 121-126. 28 In der neueren Forschung folgen dieser Tradition aber auch Gelehrte wie SELGE, Franz von Assisi und Hugolino (wie Anm. 6), und Raoul MANSELLI, Franziskus: der solidarische Bruder, übersetzt von Mara HUBER, Zürich/Einsiedeln/Köln 1984. 29 So stellt I Celano 99-101 das Verhältnis dar. 30 Das hat die Forschung der letzten Jahrzehnte deutlich gemacht. Zur Instrumentalisierung der Heiligsprechung vgl. z.B. Politik und Heiligenverehrung im Hochmittelalter, hg. von Jürgen PETERSOHN, Sigmaringen 1994 (Vorträge und Forschungen, 42); Adriaan H. BREDERO, Bernhard von Clairvaux. Zwischen Kult und Historie. Über seine Vita und ihre historische Auswertung, Stuttgart 1996.
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Bereits ein Jahr nach dem Tod des Franziskus, am 29. April 1228, ließ Gregor IX. die Bulle Reco lentes31 ausgehen, in der er den Plan zum Bau der Grabeskirche des Franziskus (einer specialis Ecclesia)32 mitteilte und zu seiner Unterstützung aufrief, was den Entschluß zur Kanonisation voraussetzte. Am 16. Juli erfolgte die Heiligsprechung in der bisherigen Begräbnisstätte, der Kirche S. Giorgio; drei Tage später (am 19.) verkündete der Papst in der Bulle Mira circa nos das große Ereignis und legte den Feiertag des neuen Heiligen auf den 4. Oktober fest. 33 Unter der Leitung des Generalministers Elias schritt die Errichtung einer neuen Kirche erstaunlich rasch voran. Bereits zwei Jahre, nachdem Gregor den Entschluß zum Kirchenbau verkündet hatte, am 22. April 1230, veröffentlichte er die Bulle Is, qui ecclesiam, in der er die neue Kirche auf dem „Paradieseshügel" von Assisi (Collis paradisi statt des bisherigen Ortsnamens Collis infernil) direkt dem römischen Bischof unterstellte und zu „Haupt und Mutter" (caput et mater) des Ordens erklärte.34 Am 25. Mai sollte die Übertragung der Reliquien des Heiligen von S. Giorgio nach der neuen Grabeskirche S. Francesco stattfinden, und die feierliche Translation wurde auch tatsächlich an diesem Tage vollzogen. In Wirklichkeit aber hatte der Generalminister Elias die Gebeine des Franziskus bereits zwei Tage vorher heimlich und ohne Wissen des Papstes, aber in Absprache mit den kommunalen Behörden von Assisi, nach S. Francesco verbringen und dort unter der Unterkirche beisetzen lassen. Doch dies nur nebenbei. Wichtiger ist, daß noch im selben Jahr 1230 am 28. September, also kurz vor dem Feiertag des Heiligen, Gregor die Bulle Quo elongati ausgehen ließ: wohl sein in der neueren Forschung umstrittenstes Dokument fur die Minderbrüder. Gregor beruft sich auf die Bitte der Brüder, er möge ihnen gewisse Dunkelheiten und Schwierigkeiten in der Regula bullata, also der von Honorius III. 1223 approbierten Ordensregel, erklären.35 Dieses Ansinnen widersprach freilich dem ausdrücklichen Willen des Franziskus, der in seinem Testament bestimmt hatte: „Allen meinen Brüdern, Klerikern und Laien, befehle ich streng im Gehorsam, daß sie keine Erklärungen zur Regel und auch nicht zu diesen Worten hinzufugen, indem sie sagen: So wollen sie verstanden werden. Sondern wie mir der Herr gegeben hat, einfaltig und lauter die Regel und 31 Bullarium Franciscanum, Bd. 1, hg. von Johannes Hyacinthus SBARALEA, Rom 1759, 40 f. Nr. 21. 32 Dazu Wolfgang SCHENKLUHN, San Francesco in Assisi: Ecclesia specialis. Die Vision Papst Gregors IX. von einer Erneuerung der Kirche, Darmstadt 1991; zum Begriff ecclesia specialis vgl. hier S. 212. 33 Bullarium Franciscanum, Bd. 1, 42-44, Nr. 25. 34 Ebd., 60-62, Nr. 49. 35 Bei GRUNDMANN (wie Anm. 26), 237: Sane constituas nuper in presentía nostra nuntiis, quos vos filii Provinciales ministri misistis, qui eratis in Generali Capitulo congregati, et te fili Generalis Minister personaliter comparente fuit nobis expositum, quod in Regula vestra quedam dubia et obscura et quedam intellectu difficilia continentur.
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diese Worte zu sagen und zu schreiben, so sollt ihr sie einfältig und ohne Erklärung verstehen und mit heiligem Wirken bis ans Ende beobachten." 36 Um ihre Anfrage an den Papst zu richten, mußten sich die Brüder also über den letzten Willen des Franziskus hinwegsetzen, und um ihnen zu antworten, mußte Gregor sogar das Testament außer Kraft setzen. Die Problematik der Situation war ihm durchaus bewußt. Er wies gleich eingangs darauf hin, daß Franziskus keine Auslegung der Regel durch einen Mitbruder gewünscht und in seinem Testament jede Erläuterung, aber auch jede Bitte um ein päpstliches Schreiben verboten und gewisse andere Bestimmungen eingefügt habe, die nur unter großen Schwierigkeiten eingehalten werden könnten. 37 Um die erbetene Antwort geben zu können, mußte er denn auch erklären, das mandatum, das Franziskus in seinem Testament über den Umgang mit der Regel gegeben habe, sei deshalb nicht bindend, weil er ohne Zustimmung der Brüder, zumal der insgesamt betroffenen Minister, keine Verpflichtung auferlegen konnte und auch seinen Nachfolger in keiner Weise verpflichtet habe; denn ein Gleichgestellter besitze keine Befehlsgewalt gegen einen Gleichgestellten. 38 Eine solche juristische Argumentation besaß offenbar Überzeugungskraft; sie begegnet bereits in einem Brief des Juristenpapsts Innozenz III. von 1200.39 Viel gewichtiger als die juristische Begründung ist aber der Inhalt von Gregors Ausführungen: Indem der Papst Franziskus als Gleichgestellten bezeichnet, bestreitet er dem charismatischen Gründer und Leiter eine besondere Weisungsgewalt gegenüber seiner Gemeinschaft, also gerade jenen Anspruch, den der Heilige in naiver Souveränität immer erhoben hat, und stellt ihn einfach in eine Reihe mit den Ministri. Was die Frage nach der Verbindlichkeit der „Gebote" und „Räte" betrifft, so betont Gregor, verbindlich seien nur die Räte, die in der Regel vorgeschrieben sind, dagegen nicht „andere Räte des Evangeliums". 40 Das Verbot der Annahme von Geld selbst unter Einschaltung 36 Testamentum 38 f.: Et omnibus fratribus meis clericis et laicis praecipio firmiter per obedientiam, ut non mittant glossas in regula ñeque in istis verbis dicendo: Ita volunt intelligi. Sed sicut dedit mihi Dominus simpliciter et pure dicere et scribere regulam et ista verba, ita simpliciter et sine glossa intelligatis et cum sancta operatione observetis usque in finem. 37 Bei GRUNDMANN (wie Anm. 26), 237 im Anschluß an das o. Anm. 35 Zitierte: Sed sánete memorie beatus confessor Christi Franciscus nolens regulam suam per alieuius fratris interpretationes exponi, mandavit circa ultimum vite sue, cuius mandatum ipsius dicitur testamentum, ut verba ipsius regule non glosentur, et ut verbis utamur eiusdem, quod sic vel sic intelligi debeant, non dicatur; adiciens quod fratres nullo modo aliquas litteras ab apostolica sede petant, et alia quedam interserens, que non possent sine multa difficultate servari. 38 Ebd., 237: ad mandatum illud vos dieimus non teneri, quod sine consensu fratrum et maxime ministrorum, quos universos tangebat, obligare nequivit nec successorem suum quomodolibet obligavit, cum non habeat imperium par in parem. 39 Ebd., 222, Anm. 1. 40 Ebd., 238,50f.
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eines Vermittlers (per interpositam personam) in der Regula bullata (c. 4) verkehrt er dahingehend, daß die Brüder für Geschäfte einen Beauftragten (nuntius) als Stellvertreter heranziehen dürften, der ihnen den persönlichen Umgang mit dem verhaßten Geld erspart. 41 Das Verbot gemeinschaftlichen Eigentums in c. 6 der Regel wird in bezug auf Immobilien durch die Fiktion unterlaufen, der Orden habe nur ein Nutzungsrecht (usus), während das Besitzrecht (dominium) bei den ursprünglichen Eigentümern verbleibe. Daneben setzt Gregor ein Eigentum an beweglichen Gütern (proprietas mobilium) in der Gemeinschaft bereits als etwas Selbstverständliches voraus. 42
IV. Hier breche ich den Bericht über Handlungen Hugolino-Gregors und über Ereignisse vor und nach dem Tode des Franziskus ab, verzichte auf eine Aufzählung weiterer Bullen und gehe auch nicht auf Gregors äußerst aufschlußreiche Beziehungen zu Klara und ihrer Gemeinschaft ein. Für diese Skizze müssen die gegebenen Beispiele genügen, um zu zeigen, daß und wie der Kardinal und Papst vielfaltig und nachhaltig in das Leben des Stifters und in die Entwicklung seiner Gemeinschaft eingegriffen hat. Zunächst stellt sich nun die Frage, ob sich durch diese Eingriffe Wichtiges an der franziskanischen Lebensform geändert hat. Damit sind nicht Änderungen gemeint, die sich aus innerer, sachlicher Notwendigkeit und dem Einfluß der Zeitumstände gleichsam von selbst ergaben und die im Grunde nur Konsequenzen aus den Anfangen und ursprünglichen Zielsetzungen waren. „Wichtiges" meint vielmehr einschneidende Brüche in der Entwicklung der Gemeinschaft und ihrer Lebensform. Wenn wir diese Frage verneinen müßten, dann beträfe mein Thema tatsächlich nur einen Ausschnitt aus der Ereignisgeschichte, einen Aspekt der Biographie der beiden Personen. Ich halte es nicht für möglich, daß heute jemand ernsthaft und mit wissenschaftlichen Argumenten diese Meinung vertritt. Wenn es so wäre, dann müßte nicht nur die Geschichte der Frühzeit des Minderbrüderordens, sondern auch die seiner späteren Entwicklung mit allen Spaltungen und Reformen neu geschrieben werden, dann wäre es unverständlich, weshalb heute (nach deutschem Sprachgebrauch gesagt) Franziskaner, Minoriten und Kapuziner unter uns sind. Der ganze Streit zwischen Spiritualen und Kommunität wäre dann eine bloß zufallige, anekdotische und längst
41 Ebd., 238,55-239,76. 42 Ebd., 239,77-240,91.
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erledigte Angelegenheit gewesen. Das wird aber niemand im Ernst behaupten wollen. Wenn wir die Frage bejahen, stellt sich sogleich die weitere, in welchem Umfang und in welcher Weise diese Brüche eingetreten sind. Ich meine in der Tat, ohne das hier im einzelnen ausführen zu können, daß bereits zu Lebzeiten des Franziskus und in verstärktem Umfang nach seinem Tod Brüche in der Geschichte der franziskanischen Gemeinschaft und ihrer Lebensform auftreten. Ich erinnere nur an die Entwicklung der Regel, die Franziskus immer als Ausdruck der vita evangelìi verstanden hat und die wir noch mindestens in drei Stadien verfolgen können: von der anfänglichen Zusammenstellung weniger Worte aus dem Evangelium43 über die wachsende Sammlung von Bibelstellen mit Einleitungen und Kommentaren (Regula non bullata) bis zu einer relativ knappen und straff durchgeformten Regel im Stil älterer Regeltexte (Regula bullata). Ich erinnere an die Umwandlung der ursprünglichen Bruderschaft zu einem Orden im kirchenrechtlichen Sinne oder an die Veränderung einer zentralen franziskanischen Norm: der radikalen Armutsforderung bis hin zu ihrer Aufweichung durch die Bulle „Quo elongati". Ich erinnere auch noch einmal an die gewiß nicht dem Wunsch des Franziskus entsprungene Kanonisation, an den Bau der zwar wunderschönen, aber dem Geist des Franziskus doch fremden Kirche S. Francesco und an die Beisetzung des Heiligen in dieser großen Grabeskirche in Abweichung von seinem Wunsch, in der Porziuncola zu ruhen.44 Es dürfte doch wohl nicht zu bezweifeln sein, daß die Gemeinschaft beim Tode Gregors IX., also gut dreißig Jahre nach der ersten Approbation durch Innozenz III., ihr Gesicht verändert hatte. Wie stark, das ist allerdings die Frage. Diese Frage kann ich vorerst nicht weiter erörtern; denn sie schließt die gesamte Problematik der franziskanischen Frühgeschichte ein und setzt die Klärung weiterer Fragen voraus. Aus meinen bisherigen Ausführungen läßt sich aber doch wohl festhalten, daß die franziskanische Gemeinschaft noch zu Lebzeiten ihres Stifters und vollends nach seinem Tod - also während der Amtszeit Hugolinos als Kardinal und als Papst - ihren Charakter merklich verändert hat (ob mehr oder weniger einschneidend, soll jetzt dahingestellt bleiben). Aus dieser Einsicht ergibt sich nun aber zwingend die Frage nach der Ursache oder dem Urheber der eingetretenen Veränderungen. Auf sie sind mehrere Antworten möglich. Eine Möglichkeit erwähne ich vorweg, aber nur, um sie zurückzustellen: die Meinung, die Änderungen hätten aus einer sachlichen, gleichsam anonymen Notwendigkeit heraus stattgefunden. Natürlich gibt es solche Veränderungen in der Geschichte: Mentalitätswandel, Frömmigkeitswandel, Wandel 43 Testamentan 14: [...] ipse Altissimus revelavit mihi, quod deberem vivere secundum formam sancii Evangelii. Et ego paucis verbis et simpliciter feci scribi et dominus Papa confirmavit mihi. 44 Dieser Wunsch ist in der Chronica des Jordanus von Giano, c. 50, überliefert.
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der Sehweise, des Denkens, Stilwandel u.ä. Phänomene. Nach solchen überpersönlichen, kollektiven Vorgängen sollte man freilich erst dann fragen, wenn die Suche nach erkennbaren handelnden oder auch leidenden Personen abgeschlossen ist. So weit sind wir aber noch längst nicht. Auch die tatsächlichen Veränderungen der franziskanischen Gemeinschaft, vor allem ihr starkes Wachstum innerhalb weniger Jahre und ihre rasche geographische Ausbreitung, mußten nicht automatisch zu einem einschneidenden Wandel ihrer Zielsetzungen und Leitvorstellungen führen. Zweifellos spielten dabei die Entscheidungen einzelner Personen und bestimmter Personengruppen eine wichtige Rolle. Es gibt mehrere Möglichkeiten, um nach solcher persönlichen Einflußnahme zu suchen: bei Franziskus selbst und in der franziskanischen Gemeinschaft, bei Hugolino-Gregor und bei anderen kirchlichen Amtsträgern. Bevor ich auf diese Möglichkeiten näher eingehe, muß ich zwei grundsätzliche Bemerkungen einschieben. 1. Zum einen dürfen wir das Verhältnis zwischen Hugolino und Franziskus nicht isoliert betrachten, wenn wir es verstehen wollen, sondern müssen es in den größeren Zusammenhang der Beziehungen zwischen dem Poverello und der kirchlichen Hierarchie hineinstellen. Die Quellen geben Nachricht von mehreren konkreten Begegnungen zwischen Franziskus und Inhabern hoher und höchster kirchlicher Ämter. Das sind vor allem - der fur Franziskus zuständige Ortsbischof Guido II. von Assisi.45 Er hat sein Amt von ungefähr 1204/1206 bis zu seinem Tod am 30. Juli 1228 bekleidet, also während der gesamten Zeitspanne von der conversio des Franziskus bis über seinen Tod hinaus. Er war dadurch eigentlich sein wichtigster geistlicher Ansprechpartner. Uns allen ist er aus dem Fresko der Oberkirche von S. Francesco in der spektakulären Szene vor dem Bischofspalast von Assisi gegenwärtig, in der er die Blöße des Franziskus, der sich eben von seinem Vater geschieden hat und vollkommen entkleidet vor der gaffenden Menge steht, mit seinem Mantel bedeckt. 46 Franziskus soll in der Folgezeit häufig seinen Bischof aufgesucht haben, der freilich kein volles Verständnis für sein Anliegen hatte 47 und ihm die Bitte um eine Kirche mit einer fadenscheinigen Ausrede abschlug. 48 Als Franziskus mit seinen ersten Gefährten 1209 oder 1210 nach Rom reiste, um bei Innozenz III. die Bestätigung seiner Lebensform zu erbitten, da traf er dort Bischof Guido an, der ihm nach anfang-
45 Vgl. Luciano CANONICI, Guido II d'Assisi. Il vescovo di S. Francesco, in: Studi Francescani 77 (1980), 187-206. 46 Vgl. I Celano 15; Legenda 3 Sociorum 20. 47 Vgl. z.B. seine Äußerung Legenda 3 Sociorum 35,5: Dura mihi videtur et aspera vita vestra, nihil scilicet in saeculo possidere. 48 Legenda Perusina 56,8: Frater, non habeo aliquam ecclesiam quam vobis dare valeam.
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licher Unzufriedenheit mit dem Auftauchen der Brüder den Zugang zur Kurie eröffnete. 49 Hier hatte Franziskus zunächst Kontakt mit dem Benediktiner Johannes aus dem römischen Kloster S. Paolo fuori le mura, der von 1205 bis zu seinem Tod 1215 Kardinalbischof von Sabina war.50 Er fand wohl Gefallen an Franziskus und seinen Gefährten, hatte aber offenbar Bedenken gegen ihre unstete Lebensweise, die sie in anstößige Nähe zu den katharischen und waldensischen Wanderpredigern brachte. Deshalb riet er ihnen zur Annahme der herkömmlichen koinobitischen oder eremitischen Lebensform.51 Franziskus war durch die Gespräche mit Johannes bereits auf die Politik der römischen Kurie eingestimmt; denn der Vorschlag des Kardinals war nicht seine persönliche Idee, sondern entsprach der Taktik, die Papst Innozenz III. gegenüber den religiösen Bewegungen eingeschlagen hatte: nicht Unterdrückung oder Ausschließung aus der kirchlichen Gemeinschaft, sondern Einbindung in überkommene Strukturen. Bereits in dieser Begegnung zeigt sich die Hartnäckigkeit, mit der Franziskus an seinen ursprünglichen Vorstellungen festhielt. Er ließ sich von Johannes nicht zur Anpassung an vorgegebene Modelle monastischen Lebens bewegen, sondern bestand auf seiner eigenen vita evangelii Iesu Christi.52 Genehmigt wurde sein Wunsch schließlich durch Papst Innozenz III. Kardinal Johannes dürfte das Treffen mit Franziskus arrangiert haben; er hatte den Papst auf die Ideen der Büßer aus Assisi vorbereitet.53 Man muß aber gewiß davon ausgehen, daß der Umgang des Franziskus mit dem Papst wesentlich distanzierter war als mit dem Kardinal. Zu Innozenz hatte der Poverello genausowenig unmittelbaren Zugang wie zu dem anderen Papst, der in seinem Leben eine Rolle spielte: zu Honorius III., der 1216-1227 regierte. Zwischen ihm und Franziskus dürfte vor allem Kardinal Hugolino vermittelt haben, der durch die Ernennung zum Protektor des Ordens 1220 in eine offizielle Stellung gegenüber Franziskus und seiner Gemeinschaft eintrat.
49 I Celano 32. 50 Vgl. Pio PASCHINI, Il cardinale Giovanni di San Paolo, in: Studi di storia e diritto in onore di Carlo Calisse, Bd. 3, Mailand 1940,107-118. 51 I Celano 33. 52 Vgl. Regula non bullata, Prolog 2: Haec est vita evangelii Jesu Christi, quam frater Franciscus petiit a domino papa concedi et confirman sibi. Et ille concessit et confirmavit sibi et suis fratribus habitis et futuris. 53 So der historische Kern der Darstellung der Legenda 3 Sociorum 49-52. Die Begegnung des Franziskus mit Innozenz ist bereits hier mit problematischen Elementen angereichert, die in späteren Quellen noch vermehrt wurden.
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Das Verhältnis zwischen Hugolino und Franziskus war also von vornherein durch die Erfahrungen des Poverello im Umgang mit hochrangigen Klerikern geprägt. Das müssen wir immer beachten, wenn wir diese Beziehungen zu verstehen suchen. 2. Eine zweite Bemerkung muß den Quellen zu Leben und Wirken des Franziskus gelten. Ich berühre hier ein zentrales Problem unserer Tagung: die franziskanische Frage. David Flood hat die Beschäftigung mit ihr als „Zeitverschwendung" bezeichnet. Das mag für ein rein systematischspirituelles Interesse richtig sein. Der Historiker kann sich jedoch mit einem solchen Urteil nicht begnügen, wenn er überhaupt ein Bild von Franziskus gewinnen will. Natürlich gibt es keine historischen Quellen, die vergangene Wirklichkeit vollkommen getreu, gleichsam von allen Seiten, abbilden. Es gibt immer nur die durch einen bestimmten Zugang ermöglichte Annäherung an die Vergangenheit. Personen des Mittelalters stehen uns relativ fern. Die meisten lassen sich nur in äußeren Lebensdaten fassen, während uns ihre Gesinnung und ihr inneres Erleben weitgehend verschlossen bleiben. Personen der Religionsgeschichte pflegen aber ihre Gedanken in ihren Schriften meist offener und ungeschützter auszudrücken als etwa Herrscher die ihren in Urkunden. Deshalb läßt sich von ihnen auch am ehesten eine Biographie unter Einschluß ihrer inneren Lebensgeschichte schreiben. Das gilt in hervorragendem Maße für Franziskus. Für ihn besitzen wir eine Fülle biographisch relevanten Materials. Ein großer Teil davon hat allerdings hagiographischen Charakter und kann deshalb nur mit der gebotenen Vorsicht gebraucht werden. Ich bin der Meinung, daß im Vordergrund jeder Beschäftigung mit Franziskus nicht die biographischen Quellen, sondern seine eigenen Opuscula stehen müssen.54 Auch wenn der Poverello nur einen Teil der unter seinem Namen überlieferten Texte selbst niedergeschrieben haben dürfte,55 muß er als Verfasser der meisten gelten. Unter ihnen halte ich das Testament nicht nur fur authentisch,56 sondern schreibe ihm eine Schlüsselrolle für das Verständnis des Franziskus zu.57 Seine äußere Bezeugung wie sein Inhalt, seine Benutzung
54 Vgl. Engelbert GRAU, Die neue Bewertung der Schriften des hl. Franziskus von Assisi seit den letzten 80 Jahren, in: San Francesco (wie Anm. 5), 33-73, der an Sabatiers Hinweis auf die Schriften des Franziskus als die beste Quelle für die Kenntnis seines Wollens anknüpft. 55 Daß er schreiben konnte, scheint zumindest durch das im Sacro Convento von Assisi aufbewahrte Autographon der Chartula fr. Leoni data gesichert. 56 Dazu Kajetan ESSER, Das Testament des hl. Franziskus von Assisi. Eine Untersuchung über seine Echtheit und seine Bedeutung, Münster 1949. 57 Im Unterschied zu Helmut FELD, Franziskus von Assisi (wie Anm. 13), der zwar meint: „Demnach wird man weiterhin an der Echtheit des Testamentes festhalten können", aber sein Gewicht ohne jede Begründung einschränkt, indem er fortfährt: „ohne es frei-
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durch die ältesten Quellen und die Art, wie Gregor IX. mit ihm umging - all dies bestärkt mich darin, es als Ausgangspunkt fur die Rekonstruktion der Franziskus-Biographie zu nehmen.58 Die erzählende Literatur hat einen ganz anderen Charakter. Die Aufzeichnung der Franziskus-Legende (im wörtlichen Sinn verstanden: als Lesetext für die Lesungen im Gottesdienst, bei Tisch, zur Erbauung) setzte die Kanonisierung und liturgische Verehrung des Heiligen voraus, stellte also die geschichtlichen Sachverhalte von vornherein in ein bestimmtes Licht. Sie bildet fur uns deshalb zunächst einmal eine Quelle für die Denkweise und die Ziele der frühen franziskanischen Gemeinschaft. Aber sie ist keineswegs nur das Produkt einer regen religiösen oder schriftstellerischen Phantasie; sondern sie verarbeitet Überlieferungen, in denen Erinnerungen an historisches Geschehen aufbewahrt sind. Das Problem ist allerdings, in welchem Umfang und mit welcher Zuverlässigkeit oder Wahrscheinlichkeit sich aus den einzelnen Quellen Material für eine historische Darstellung gewinnen läßt, insbesondere für eine Biographie des Franziskus. Das ist m. E. der Kern der „franziskanischen Frage", die hier nicht diskutiert werden kann, deren Bedeutung für unser Thema aber wenigstens in Erinnerung gerufen werden sollte.
V. Nach dieser Abschweifung kehre ich noch einmal zu der Frage zurück, wer denn eigentlich für die Veränderungen in der franziskanischen Gemeinschaft verantwortlich war. Daß Franziskus aus eigenem Antrieb und nach eigenen Vorstellungen die tatsächlich eingetretene Entwicklung seiner Gemeinschaft bis 1226 gelenkt und womöglich die Weichen für ihre späteren Geschicke gestellt hätte, kann niemand mit Gründen behaupten. Dagegen sprechen nicht nur die Richtungsbildungen, die schon zu seinen Lebzeiten begannen und sich nach seinem Tode fortsetzten, sondern auch allzu viele Nachrichten über seine Reaktionen darauf - etwa auf die schon erwähnten Vorgänge während seiner Abwesenheit im Orient 1219/20 oder beim „Mattenkapitel". Das Testament, in dem er sich auf die unmittelbare Eingebung Gottes beruft, macht seinen Widerspruch gegen Fehlentwicklungen in der Gemeinschaft deutlich. So verbietet z.B. Kapitel lieh zu überschätzen und es von vornherein zum Basistext und Maßstab gegenüber anderen Überlieferungen zu erheben" (S. 15 f.). 58 Ich habe das exemplarisch an der Rekonstruktion des Schlüsselerlebnisses des Franziskus zu zeigen versucht: Leidensmystik in der Frühzeit der franziskanischen Bewegung, in: Von Wittenberg nach Memphis. Festschrift für Reinhard Schwarz, hg. von Walter HOMOLKA/Otto ZIEGELMEIER, G ö t t i n g e n 1 9 8 9 , 1 3 7 - 1 6 0 .
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24 den Brüdern, Kirchen und Wohnungen aller Art in ihr Eigentum zu übernehmen, und schreibt ihnen vor, sie nur als Fremdlinge und Pilger zu benutzen - also gerade nicht die von der römischen Kurie gewünschte klösterliche Lebensform von Mönchen oder Regularkanonikern anzunehmen, die immer gemeinschaftliches Eigentum voraussetzt. Kapitel 25 verbietet ihnen, irgendwelche Privilegien - direkt oder durch eine Mittelsperson - von der Kurie zu erbitten, wie dies das ältere Mönchtum mit berechnender Selbstverständlichkeit getan hatte. Franziskus hat sich mit allen Kräften dagegen gesträubt, mit seinen Gefährten die ihm von der Kurie dringend empfohlene monastische, kanonikale oder eremitische Lebensform zu befolgen. Er hat das römische Ansinnen, das im IV. Lateranum 1215 Gesetz wurde, 59 sein Leben lang abgelehnt. Bis zuletzt blieb er in diesem zentralen Punkt völlig unnachgiebig und hat sich tatsächlich mit seiner Haltung durchgesetzt, die den Minderbrüdern eine eigene, von der Benediktsregel wie von der sogenannten Augustinusregel ganz unabhängige forma vivendi verschaffte. Doch es scheint mir auch zu einfach, gewissermaßen in Schwarz-WeißMalerei allein Kardinal Hugolino für die spätere Entwicklung verantwortlich zu machen und Gregor IX. vollends zum Verderber und Totengräber der ursprünglichen franziskanischen Lebensziele zu erklären. Der Wunsch der Kurie und Hugolinos nach einer Einbindung aller religiösen Bewegungen und Gruppierungen in kirchenrechtlich anerkannte und gesicherte Institutionen ist durchaus verständlich und sollte auch nicht moralisch abqualifiziert werden. Vor allem aber kann die Erklärung der Brüche und Veränderungen in der franziskanischen Frühgeschichte nicht auf eine schlichte Alternative reduziert werden. Zwischen Franziskus und Hugolino bzw. der römischen Kurie stand ein Kreis von Personen, der wesentlichen Anteil an der Entwicklung der Gemeinschaft hatte. Das sind die führenden Mitglieder der Gemeinschaft selbst. Durch die franziskanische Hagiographie sind wir so sehr auf die Rolle des Franziskus fixiert, daß wir den Anteil seiner Mitbrüder viel zu wenig beachten - abgesehen vielleicht von der Rolle des Elias. Über ihn ist ein eigenes Referat vorgesehen; deshalb erwähne ich jetzt nur die wichtigsten Vorgänge während der Orientreise des Franziskus 1219/20. Wie schon gesagt, geriet die Gemeinschaft damals in ihre erste schwere Krise, die sich vor allem in drei Vorgängen ausdrückte:
59 C. 13 (Sacrorum Conciliorum nova et amplissima collectio, hg. von Johannes Dominicus MANSI, Bd. 22, 1778, 1002 E): Ne nimia relìgionum diversitas gravem in ecclesia Dei confusionem inducat, fìrmiter prohibemus, ne quis de cetero novam religionem invernai: sed quicumque volueril ad religionem converti, unam de approbatis assumai. Similiter qui voluerit religiosam domum fundare de novo, regulam et institutionem accipiat de religionibus approbatis.
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Zum einen fand im Frühjahr 1220 erstmals kein Kapitel aller Brüder bei der Porziuncola statt, sondern nur ein Treffen der beiden Vikare Matthaeus von Narni und Gregor von Neapel mit fuhrenden Brüdern aus Italien, das sog. „Seniorenkapitel".60 Es beschloß neue, verschärfte Fastenbestimmungen vielleicht sogar in Angleichung an die rigorose Fastenpraxis der Katharer, um gegen diese konkurrenzfähig zu sein. Außerdem erwirkte das Kapitel von Honorius III. die Bulle Pro dilectis filiis vom 29. Mai,61 in der den Prälaten Frankreichs befohlen wird, die Gemeinschaft in allen Diözesen zuzulassen und zu fördern. Die Brüder werden hier erstmals als Ordo Fratrum Minorum bezeichnet und für rechtgläubig und fromm erklärt (recognoscimus catholicos et devotos). Im Unterschied zur Bulle Cum dilecti filii vom 11. Juni 121962 handelt es sich hier eindeutig um ein Privileg, wie Franziskus es ausdrücklich abgelehnt hatte. Zum andern übernahm Philippus Longus das Amt eines Generalvisitators der „Armen Frauen von S. Damiano" und erwirkte für sie ebenfalls ein päpstliches Privileg, das ihn ermächtigte, die Feinde seiner Schutzbefohlenen zu exkommunizieren - auch dies in offenkundigem Widerspruch zu den Absichten des Franziskus.63 Schließlich bemühte sich Johannes a Capella, der Aussätzige beiderlei Geschlechts um sich gesammelt hatte, an der Kurie um Anerkennung einer eigenen Regel für sie, d.h. er versuchte, sich mit einer Sondergemeinschaft von der franziskanischen Bruderschaft abzuspalten.64 Offenbar gab es bedeutende Kräfte in der Gemeinschaft - Philippus und Johannes gehörten ja zur Gruppe der ältesten Gefährten - , die mit der durch Franziskus eingeschlagenen und bisher weitgehend bewahrten Richtung nicht mehr zufrieden waren und Änderungen anstrebten. Führende Brüder waren bereit oder gar daran interessiert, den Vorstellungen der römischen Kurie entgegenzukommen, die weitgehend auf Angleichung an das ältere Mönchtum oder an das Kanonikertum hinausliefen.65 Die Legenda Perusina berichtet auch von kräftigem Widerstand unter den führenden Brüdern gegen seine Überarbeitung der Regel. Sie sollen aus Sorge vor seiner allzugroßen Strenge sogar gegenüber Bruder Elias als dem Vicarius des Franziskus gesagt haben, Franziskus möge jene Regel für sich selbst, aber nicht für sie machen.66 60 61 62 63 64 65
Jordanus von Giano, Chronica 12. Bullarium Franciscanum (wie Anm. 31), 5, Nr. 4. Ebd., 2, Nr. 2. Jordanus von Giano, Chronica 13. Ebd. So beim nicht eindeutig datierbaren „Mattenkapitel": Legenda Perusina 18 (wie Anm. 25). 66 Legenda Perusina 18,1-3: congregati ministri quamplures adfratrem Heliam, qui erat vicarius beati Francisci, dixerunt sibi: „Audivimus quod iste frater Franciscus facit unam novam Regulam; timemus, ne facial ita asperam, quod non possimus earn serva-
Hugolino von Ostia (Gregor IX.) und Franziskus
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Franziskus kehrte von seiner Orientreise krank zurück, und da sich von da an seine Gesundheit ständig verschlechterte und er der Leitung der sich rasch vergrößernden Gemeinschaft immer weniger gewachsen war, zog er sich zunehmend von dieser Wirksamkeit zurück, so daß sich der Einfluß anderer Brüder verstärken konnte. Doch obwohl er auf ein Leitungsamt verzichtete, beanspruchte er weiterhin die höchste geistliche Autorität in seiner Gemeinschaft. Daß er seine ursprünglichen Ideale bis zuletzt nie aus den Augen verloren hat, zeigt unwiderleglich sein Testament. Aber er hatte offenbar in seinen letzten Lebensjahren nicht mehr die Möglichkeit, seine Vorstellungen in der wachsenden Gemeinschaft mit der alten Strenge und Konsequenz durchzusetzen. Es ist aber auch nicht angemessen, den Schwarzen Peter allein den Mitbrüdern zuzuschieben, die der ursprünglichen Lebensform untreu wurden. Auch Franziskus selbst hat an dieser späteren Entwicklung seinen Anteil - allerdings kaum in aktiver Beteiligung. Richtig ist vielmehr, daß er daran unbewußt, ja gegen seine Absicht mitgewirkt hat. Als er aus dem Orient zurückkehrte und sah, was während seiner Abwesenheit geschehen war, wandte er sich an die Kurie und bat Papst Honorius, ihm Kardinal Hugolino von Ostia als Beschützer und Helfer zu geben, der an Stelle des Papstes, als dessen Vertreter,67 seine persönlichen Angelegenheiten und die des Ordens mit ihm beraten sollte. Auf den juristischen Sachverstand verratenden Gedanken, sich einen protector et corrector des Ordens zu erbitten, um unerwünschte Entwicklungen rückgängig zu machen oder mindestens zu verhindern, dürfte Franziskus kaum selbst gekommen sein. Diese Idee wurde ihm höchstwahrscheinlich von Hugolino nahegelegt. Dazu, daß er auf einen solchen Gedanken überhaupt einging, waren aber zwei Voraussetzungen nötig: Zum einen die Überzeugung, daß er von einem kirchlichen Hierarchen Gedeihliches für sich und seine Gemeinschaft erwarten dürfe. Diese Überzeugung hat Franziskus im Gegensatz zu den häretischen oder schismatischen religiösen Bewegungen seiner Zeit immer besessen. Sie gehört zum Grundbestand seiner Überzeugungen, scheint trotz seiner großen Selbständigkeit und Hartnäckigkeit geradezu mit seinem Charakter verbunden gewesen zu sein. Es genügt, an die eindeutigen Äußerungen zu erinnern, in denen Franziskus seine Treue zur katholischen Kirche und seinen tiefen Respekt vor geweihten Priestern ausspricht, und zwar deshalb, weil sie die einzigen Personen seien, die im Altarsakrament die leibliche Gegenwart des Herrn herbeiführen könnten.68 Das ist das eine Moment - unabhängig von jeder Lebenserfahrung. Dieser re. Volumus quod vadas ad eum et dicas ei, quod nos nolumus esse obligati ad illam Régulant; faciat pro se et non faciat pro nobis ". 67 Jordanus von Giano, Chronica 14: vice tua. 68 Testamentum 6-10.
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Respekt allein konnte Franziskus aber nicht zur Abweichung von seinen ursprünglichen Zielen bewegen; sonst hätten ihm schon Johannes von St. Paul oder Innozenz III. die Benedikts- oder Augustinusregel aufnötigen können. Dazu war noch ein Zweites nötig: die Einsicht, mit seiner Gemeinschaft zusammen die ursprünglichen Ideale nicht bewahren zu können. Das Erste war der notwendige, das Zweite der hinreichende Grund seines Verhaltens. Den letzteren konnte ihm aber nur die Erfahrung vermitteln. Spätestens bei der Rückkehr aus dem Orient 1220 gewann Franziskus den Eindruck, daß seine persönlichen Wirkungsmöglichkeiten in der Gemeinschaft - aus welchen Gründen auch immer - an Grenzen stießen. Die logische Konsequenz war, daß er dort Hilfe suchte, wo er meinte, vertrauen zu können: bei den führenden Geistlichen der römischen Kirche. Nachdem sein bisheriger Vermittler Kardinal Johannes von St. Paul 1215 gestorben war, trat Hugolino von Ostia an dessen Stelle. Als Franziskus ihn als Protektor erbat, da beabsichtigte er in keiner Weise, seine alten Ziele aufzugeben. Er wollte vielmehr gerade mit Hilfe dieses Kardinals seine Gemeinschaft auf die ursprüngliche Linie zurückfuhren. Den besten Beweis dafür liefert das Testament, in dem er gerade die ursprünglichen Ideale hervorhebt. Daß es dann doch gegen seine Absicht und gegen seinen ausdrücklichen Willen zu einer ganz anderen Entwicklung gekommen ist, das ist ein von tiefer Tragik durchdrungener Sachverhalt, den man nicht auf einen Urheber zurückführen kann, in dem vielmehr verschiedene Ursachen zusammenwirken. Es ist auf jeden Fall ein Vorgang, der sich nicht in Schlagworte fassen läßt, dessen Komplexität sich nur einer sehr differenzierenden Betrachtung erschließt. Und es ist ein faszinierender Vorgang, der die Franziskus-Forschung seit Sabatier beschäftigt und auch im vorliegenden Sammelband fortwährend zur Sprache kommt. Sein Verständnis setzt eine immer neue Lektüre und Analyse der Quellen voraus. Dabei wird die „Franziskanische Frage" auch künftig das zentrale Problem bleiben. Erst wenn der in den letzten Jahrzehnten größer gewordene und teilweise unter neuen Fragestellungen bearbeitete Kreis schriftlicher Quellen vollkommen erschlossen ist, wird eine weitere Klärung historischer Fragen wie der nach dem Verhältnis zwischen Hugolino-Gregor und Franziskus möglich sein.
GIULIA
BARONE
Elias von Cortona und Franziskus
In der Geschichte der franziskanischen Gemeinschaft spielte Bruder Elias bis zum Jahre 1239 eine sehr bedeutende Rolle. Obwohl das Thema meines Beitrages „Elias von Cortona und Franziskus" lautet, ist es notwendig, ein kurzes Resümee von Leben, Taten (und Missetaten) des Elias zu geben, damit die Leser sich eine klare Vorstellung von diesem außerordentlichen Menschen machen können. Wichtig ist es auch, kurz die Quellenlage zu diesem Thema darzustellen: Es wird für viele verwunderlich sein, daß die vielen Seiten, die die franziskanischen Autoren des 13. und 14. Jahrhunderts dem Nachfolger von Franziskus gewidmet haben, sehr wenig und manchmal gar nichts über die Beziehungen von Elias zu Franziskus enthalten. Im zweiten Teil des Aufsatzes möchte ich mögliche Gründe für dieses Phänomen aufzeigen. Eine kurze Bemerkung muß jedenfalls vorausgeschickt werden: Elias hat bis heute einen sehr schlechten Ruf unter den Forschern. Dies liegt in erster Linie daran, daß Paul Sabatier am Ende des 19. Jahrhunderts den historischen Wert der erzählenden Quellen, die aus dem Kreis der Spiritualen stammen ('Speculum perfectionis' und 'Actus Francisci et sociorum eius'), hervorgehoben und den offiziellen Quellen, in erster Linie der 'Vita beati Francisci' von Thomas von Celano und der 'Legenda Maior' von Bonaventura da Bagnoregio, jeden Wert abgesprochen hat. Nun liefern die Werke der Spiritualen ein sehr negatives Bild von Elias. Über Herkunft und Jugend von Elias wissen wir fast nichts oder besser nur das, was uns Thomas von Eccleston1 und Salimbene de Adam2 - die beide in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts schreiben - darüber erzählen. Ihre Berichte stimmen nicht überein. So wird zum Beispiel Elias in der Historiographie Assisi oder Cortona als Geburtsort zugeschrieben. Er war sicher einige Jahre in der Welt tätig, bevor er um 1211-1212 in die erste franziskanische Gemeinschaft eintrat. Aber ob er Notar in Bologna (wie es Thomas von Eccleston behauptet) oder Polsterer und Schullehrer in Assisi (Salimbene) war, werden wir nie genau erfahren. Er war sicher ein Laie, der wahrscheinlich 1
Thomas de Eccleston, De adventu fratrum Minorum in Angliam, in: Collection d'Études et de documents pour l'histoire religieuse et littéraire du Moyen Age 7, hg. v. A.G. LITTLE, Paris 1909, 79.
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Salimbene de Adam, Cronica, in: Scrittori d'Italia, 232-233, hg. ν. G. SCALIA, Bari 1966, 54.
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über eine geringe literarische und theologische Bildung verfugte, der aber Theologen und Gelehrte schätzte und später als Generalminister forderte.3 Für diejenigen, die die Anfänge der franziskanischen Gemeinschaft miterlebt hatten, war es jedenfalls nicht besonders wichtig, das weltliche Leben der Brüder vor ihrer „Bekehrung" ausfuhrlich zu beschreiben. Die einzige Ausnahme bildet in dieser Hinsicht, allerdings nicht für alle Autoren, Franziskus selbst.4 Aber die Jugendjahre eines Ordensgründers haben traditionell ihren Platz in einer Heiligenvita gefunden. Auch über die ersten Jahre, die Elias in der franziskanischen Gemeinschaft verbrachte, ist nichts überliefert. Sicher ist nur, daß Franziskus ihn im Jahre 1217 ins Heilige Land entsandte. Provinzialminister kann er nicht gewesen sein, weil die franziskanischen Provinzen erst später entstanden.5 Es war wahrscheinlich seine Aufgabe, die ersten franziskanischen Niederlassungen im Nahen Osten zu gründen und zu fördern. Wenn man bedenkt, daß Franziskus selbst nur zwei Jahre später Italien verließ, um sich den Kreuzfahrern in Damiette anzuschließen, und daß er höchstwahrscheinlich 1220 das Heilige Land besuchte, ist die Wahl von Elias als Oberem in einem Land, das für den künftigen Heiligen eine so große Rolle spielte, ein sicherer Beweis dafür, daß Franziskus von Assisi zu dieser Zeit zu Elias Vertrauen hatte. Mit Elias und Cäsarius von Speyer ist Franziskus im Jahre 1220 nach Assisi zurückgekehrt, wann genau, wissen wir leider nicht. Während und wegen seiner Abwesenheit war eine gravierende Krise in der Gemeinschaft ausgebrochen, und Franziskus war nicht mehr in der Lage, sich mit den Problemen der Organisation einer Gemeinschaft, die Tausende von Brüdern zählte, zu beschäftigen; er war seit Jahren ein kranker Mann, und in Damiette und in Syria hatte sich sein Gesundheitszustand noch verschlechtert. Aber war Franziskus einfach nicht mehr dazu in der Lage, oder wollte er nicht mehr? Die Frage wurde in den letzten Jahren nicht einstimmig beantwortet. Nach Meinung vieler Forscher6 - die ich völlig teile - wollte Franziskus nicht
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Ebd., 147. M. DE BEER, La conversion de St. François d'Assise selon son premier biographe Thomas de Celano, Strasbourg 1963, und C. FRUGONI, La giovinezza di Francesco nelle fonti (testi e immagini), Studi Medievali 25 (1984), 115-143. Die ministri provinciales werden in der 'Regula non bullata' erwähnt; über die erste Organisation der Franziskaner vgl. Jacques DALARUN, François d'Assise ou le pouvoir en question. Principes et modalités du gouvernement dans l'ordre des Frères mineurs, Paris/Bruxelles 1999, 49-55; Grado Giovanni MERLO, Storia di Frate Francesco e dell'Ordine dei Minori, in: Francesco d'Assisi e il primo secolo di storia francescana, Torino 1997, 8-12; L. PELLEGRINI, I quadri e i tempi dell'espansione dell'Ordine, ebd., 165-201 passim. Roberto RUSCONI, S.V. Francesco d'Assisi, Dizionario Biografico degli Italiani XLIX (1977), 668. Grado Giovanni MERLO, Storia di Frate Francesco (wie Anm. 5 ) , 1 0 - 1 1 ; Jacques D A LARUN, François d'Assise ou le pouvoir en question (wie Anm. 5), passim.
Elias von Cortona und Franziskus
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mehr. Die Gemeinschaft der ersten schönen Jahre, während denen alle Brüder nur nach wahrer Armut, innerlicher Demut und Nächstenliebe strebten, war endgültig vorbei. Am 22. September 1220 hatte Papst Honorius III. das Probejahr fur die neuen Brüder eingeführt; es war ein sehr klares Zeichen dafür, daß man in Rom die franziskanische Gemeinschaft als einen „normalen" Orden betrachtete oder betrachten wollte. Es ist unter diesen neuen Umständen verständlich, daß Franziskus, der den anderen gegenüber immer minor und servus sein wollte, während des folgenden Generalkapitels zurücktrat. 7 Die Quellen nennen die Brüder, welche die Verantwortung für den Orden in den folgenden Jahren trugen, oft Vikare von Franziskus; meiner Meinung nach waren Pietro Cattani - und nach dessen Tod Elias - die Oberen der Gemeinschaft. Vicarius heißt Stellvertreter des Oberen, wenn dieser abwesend oder krank ist. Aber für die Autoren, die die franziskanische Geschichte dieser Jahre überliefert haben, entschied Elias, was zu entscheiden war. Als zum Beispiel im Jahre 1221 vom Generalkapitel die Entscheidung getroffen wurde, eine Mission nach Deutschland zu senden, und der junge Jordan von Giano zögerte, sich dieser Mission anzuschließen, weil er befürchtete, in Deutschland eines elenden Todes zu sterben, hat ihm Elias per oboedientiam empfohlen, mit den anderen zu fahren. 8 Das heißt, daß Jordan wie die anderen Brüder Elias und nicht mehr Franziskus gehorchen mußte. Und in diesem Fall sind wir sicher, daß Franziskus am Kapitel teilgenommen und seine Meinungen geäußert hatte. Deswegen kann ich die Ansicht von Helmut Feld nicht teilen, der meint, daß Elias zuerst Vikar und erst später (1224) Generalminister wurde.9 Den Quellen ist eine solche konstitutionelle Entwicklung nicht zu entnehmen. Außerdem: Wenn ein guter Jurist wie Papst Gregor IX. in der Bulle 'Quo elongati' den Ordensgründer in seinen letzten Lebensjahren als par inter pares bezeichnet, heißt das, daß Franziskus am Ende seines Lebens nicht mehr Generalminister war; als Oberer wäre er kein par inter pares gewesen. Nach dem Tod des Heiligen (4. Oktober 1226) schickte Elias einen Rundbrief an alle Ordensmitglieder, um die traurige Nachricht mitzuteilen, die Brüder zu trösten, die letzten Worte des Ordensgründers zu übermitteln und in erster Linie das Wunder der Stigmata bekannt zu machen. 10 Im folgenden Generalkapitel wurde aber Giovanni Parenti zum Generalminister ernannt. Während der Amtszeit von Giovanni, von dem wir leider zu wenig wissen,
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Bulle cum secundum consilium, in: Bullarium Franciscanum I, Romae 1759, 6. Chronica fratris Jordani, Paris 1908 (Collection d'Études et de documents pour l'histoire religieuse et littéraire du Moyen Age; 6), hg. v. H . BOEHMER, 1 7 - 2 1 . 9 Helmut FELD, Franziskus von Assisi und seine Bewegung, Darmstadt 1994, 358-360. 10 Heliae Cortonensis Epistola encyclica de transitu sancti Francisci, in: Fontes Franciscani, hg. v. Enrico MENEST u. Stefano BRUFANI, Assisi 1 9 9 5 , 2 5 3 - 2 5 5 .
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wurde Franziskus heilig gesprochen (Juli 1228)", fand die Translation seiner Gebeine statt und wurde von Papst Gregor IX. eine erste Interpretation der Regel gegeben (Bulle 'Quo elongati') 12 . In diesen so wichtigen Jahren war Elias mit dem Bau der wunderbaren Basilika in Assisi beschäftigt.13 Schon Ende März 1228 wurde von einem ansonsten unbekannten Bürger von Assisi - Simone Puciarelli - Papst Gregor IX. ein Grundstück geschenkt, damit dort ein Konvent, eine Kapelle oder eine Kirche zu Ehren des heiligen Franziskus gebaut werden könne. Das Geschenk wurde von Elias als dem Vertreter des Papstes angenommen. Das Wichtigste an dieser Urkunde, die kürzlich von Attilio Bartoli Langeli kritisch ediert wurde14, besteht darin, daß der Schenker in keiner anderen Quelle aus Assisi genannt wird, daß Franziskus schon als Heiliger angesehen wird (er wurde erst vier Monate später vom Papst heilig gesprochen) und daß Elias einfach als frater Elias bezeichnet wird. Er hatte zu der Zeit wahrscheinlich kein Amt im Orden inne, aber er war in Assisi so bekannt, daß der Notar die übliche Klausel N. Ordinis Fratrum Minorum nicht hinzufügte. In seiner Chronik hat der englische Minoritenbruder Thomas von Eccleston, der sein Werk um 1257-60 verfaßte, die Nachricht überliefert, daß Elias während des Generalkapitels vom Frühjahr 1230 versucht hätte, sich von seinen Anhängern gewaltsam zum Generalminister ernennen zu lassen, und daß der Versuch gescheitert sei.15 Auch in diesem Fall ist es unmöglich, die Nachricht zu bestätigen oder zu widerlegen. Daß Elias zwei beziehungsweise drei Jahre später Generalminister wurde, scheint mir ein Beweis dafür zu sein, daß Thomas von Eccleston sich geirrt oder eine spätere Überlieferung wiedergegeben hat. Sonst hätte die Opposition gegen Elias schon im Jahre 1233 einen guten Grund gehabt, seine Wahl nicht anzunehmen. Und sicher hätten auch die anderen Quellen, die offen Elias kritisieren, diese so schöne Möglichkeit nicht verpaßt, den Generalminister anzuschwärzen. 11 Über die Kanonisation des Heiligen von Assisi vgl. Roberto PACIOCCO, „Sublimia negotia". Le canonizzazioni dei santi nella curia papale e il nuovo Ordine dei frati Minori, Padova 1996. 12 Herbert GRUNDMANN, Die Bulle „Quo elongati" Papst Gregors IX., Archivum Franciscanum Historicum 54 (1961), 20-25. 13 Hans BELTING, Die Oberkirche von San Francesco in Assisi, Berlin 1977, und Wolfgang SCHENKLUHN, San Francesco in Assisi: Ecclesia specialis. Die Vision Papst Gregors IX. von einer Erneuerung der Kirche, Darmstadt 1991. 14 Le carte duecentesche del Sacro Convento di Assisi (Istrumenti, 1168-1300), hg. von Attilio Bartoli LANGELI, Padova 1997 (Fonti e Studi Francescani; V), 10-11: Dedil, tradidit, cessìt delegavit et donavit simpliciter et inrevocabiliter inter vivos Simon Puciarelli fratri Helye recipienti pro domino Gregorio papa nono ... locum, oratorium ve/ ecclesiam pro beatissimo corpore sancii Francisci, vel quicquid de ei de ipsa re placuerit in perpetuum. 15 Thomas de Eccleston, De adventu (wie Anm. 1), 80, darüber Giulia BARONE, Da Frate Elia agli Spirituali (Fonti e Ricerche; 12), Mailand 1999,44-45.
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In den folgenden Jahren habe Elias jedenfalls sein Bestes getan, wenn wir Jordan von Giano, Thomas von Eccleston und Salimbene von Parma glauben wollen, um alle seine Mitbrüder gegen sich aufzubringen. Um den Bau der Basilika in Assisi zum Ende zu bringen, habe er von den Provinzen und den einzelnen Brüdern Geld verlangt; nie habe er ein Generalkapitel einberufen; gewaltsam und autoritär habe er versucht, die Brüder zum Gehorsam zu zwingen; die Laien wären gefördert und die gut ausgebildeten Minoriten, also die, die in der Lage waren, die Messe zu singen, Beichten zu hören und gut zu predigen, beseitigt worden.16 So oder ähnlich äußerten sich die oben genannten Chronisten kritisch.17 Um diese Kritiken richtig zu bewerten, haben Dieter Berg und ich gleichzeitig, aber ohne uns zu kennen - schon vor zwanzig Jahren den Versuch gemacht, die Werke und ihre Autoren in die Entwicklung des Ordens einzuordnen.18 Wir gelangten unabhängig voneinander zu derselben Schlußfolgerung, daß Jordan von Giano, Salimbene de Adam und Thomas von Eccleston die Klagen von denen wiedergegeben haben, die unter der Ordensleitung des Generalministers am meisten gelitten hatten und die dagegen meinten, die Zukunft des Ordens zu verkörpern: Theologen, Universitätsprofessoren, gut ausgebildete Prediger, Provinzialminister der reichsten und einflußreichsten Provinzen des Ordens (Teuthonia, Francia, Anglia, Lombardia). Mit der franziskanischen Gemeinschaft der Anfänge hatten sie wenig zu tun, aber ihnen war klar, was die römische Kurie und auch viele fromme Laien brauchten: eine gute und orthodoxe Seelsorge, das Beispiel eines christlichen Lebens, das arm und demütig sein mußte, ohne zu übertreiben.19 Die Ergebnisse unserer Forschungen aus den 70er Jahren werden heutzutage fast von allen angenommen, wie das Buch von Helmut Feld und der Sammelband über das erste Jahrhundert der franziskanischen Geschichte20, der vor drei Jahren veröffentlicht wurde, beweisen.
16 E b d . , 5 0 - 5 9 .
17 Thomas de Eccleston, De adventu (wie Anm. 1), 48 und 8285; Salimbene de Adam, Cronica (wie Anm. 2), 142-149 und passim; Chronica fratris Jordani (wie Anm. 8), 54-58. 18 Giulia BARONE, Frate Elia, Bullettino dell'Istituto Storico Italiano per il Medio Evo ed Archivio Muratoriano 85 (1974-75), 89-144, wieder gedruckt in DIES., Da Frate Elia (wie Anm. 15), 29-72; Dieter BERG, Elias von Cortona. Studien zu Leben und Werk des zweiten Generalministers im Franziskanerorden, Wissenschaft und Weisheit 41 (1978), 102-126. Der Artikel von Silvana VECCHIO, Elia di Assisi, Dizionario Biografico degli Italiani XLII (1993), 450-458, bietet keine neue Interpretation dar. F. SEDDA, La malawentura di frate Elia. Un percorso attraverso le fonti biografiche, Il Santo 41 (2001), 215-300.
19 Grado Giovanni MERLO, Storia di Frate Francesco (wie Anm. 5), 17-23. 20 Francesco d'Assisi e il primo secolo (wie Anm. 5).
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Im Mai 1239 wurde Elias vom Generalkapitel, das Papst Gregor IX. gegen seinen Willen einberufen hatte, abgesetzt. Die deutsche Forschung ist geneigt, im päpstlichen Verhalten eine kaiserfeindliche Parteinahme zu sehen.21 Gregor IX. habe nämlich demnach an der Absetzung des Elias deshalb aktiv teilgenommen, weil der Generalminister dem exkommunizierten Kaiser Friedrich II. gegenüber politisch eine freundliche Haltung einnahm; in der italienischen Forschung wird bis heute diesem Aspekt des Problems eine geringere Bedeutung zugewiesen. Meiner Meinung nach war die Unterstützung, die Elias dem Kaiser in den folgenden Jahren bot, eine Folge und keine Ursache seiner Absetzung.22 Sicher hat Friedrich II. versucht, durch Elias, der in der Zwischenzeit Assisi verlassen hatte, am Kaiserhof lebte und als kaiserlicher Anhänger exkommuniziert worden war, auf den Minoritenorden einzuwirken. Hätte er Erfolg gehabt, wäre die Mehrheit der Brüder Elias gefolgt; dann wäre die päpstliche Partei im Kampf um Italien viel schwächer gewesen. Aber so war es nicht; und Elias fuhr über Zypern nach Nicaea, um eine Allianz zwischen dem griechischen Kaiser und Friedrich II. zu schließen. Als der Minoritenbruder nach Italien zurückkam (1245/46), war der Kaiser zu der Überzeugung gelangt, daß der ehemalige Generalminister fur ihn keine Hilfe, sondern wahrscheinlich in politischer Hinsicht eher eine Belastung war. Elias ließ sich dann in Cortona, einer Stadt, die unter dem päpstlichen Interdikt stand, nieder und ließ eine zweite Kirche zu Ehren von Franziskus bauen. Er habe oft daran gedacht - so liest man in den Zeugenaussagen der Personen, Geistlichen und Laien, die mit ihm in seinen letzten Lebensjahren in Verbindung standen23 - , den Generalminister und den Papst um Verzeihung zu bitten, es aber nicht gewagt, weil er befürchtete, eingekerkert zu werden. Erst am Ende seines Lebens fand Elias den Mut, diesen wichtigen Schritt zu tun. So konnte er endlich um Verzeihung bitten, die Beichte ablegen und wieder in die Kirche aufgenommen werden. In seinen letzten Tagen habe er nie über Franziskus gesprochen und nie um seine Fürbitte gebeten. Ein letztes Rätsel... Wie man diesem kurzen Resümee eines langen und ereignisreichen Lebens entnehmen kann, sind Elias' verschiedene Lebensphasen durch die Quellen sehr ungleichmäßig beleuchtet. Praktisch sind wir nur über die Jahre 1233-38 gut informiert, als er Generalminister war und eine politische Rolle spielte: 1233, im Jahre der Alleluja-Bewegung, stiftete er den Frieden zwischen Spo-
21 Dieter BERG, Staufische Herrschaftsideologie und Mendikantenspiritualität. Studien zum Verhältnis Kaiser Friedrichs II. zu den Bettelorden, Wissenschaft und Weisheit 51 (1988), 32-35. 22 Giulia BARONE, Da Frate Elia (wie Anm. 15), 60-63, 83-84. 23 Le carte duecentesche (wie Anm. 13), 53-61.
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leto und Cerreto24; als päpstlicher Gesandter war er im Frühling des Jahres 1238 am kaiserlichen Hof 25 ; an ihn haben der Bischof von Lincoln, Robert Grosseteste, und der Kaiser selbst Briefe adressiert26; ihn hat Klara von Assisi in einem ihrer Briefe an Agnes von Prag warm gelobt27; über ihn haben sich in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts einige sehr einflußreiche Minoriten recht kritisch geäußert28, andere haben in den 30er Jahren energisch gegen ihn gekämpft29. Vor und nach dieser kurzen Phase seines Lebens sind die Nachrichten sehr spärlich. Die Periode vor dem Jahre 1217 bleibt im dunkeln, die Jahre, als er Vikar beziehungsweise Generalminister war, haben wenige Spuren hinterlassen: einen Brief, den er an die Brüder des Minoritenkonvents von Valenciennes adressierte30; die Beschreibung des Generalkapitels aus dem Jahre 1221 in der Chronik von Jordan von Giano; einige wichtige Sätze in Celanos erster Vita31 und in den Quellen, die von dieser Vita abhängen32; ein paar Andeutungen - der Name Elias kommt nicht vor - in der 'Legenda Maior' von Bonaventura, die man nur verstehen kann, wenn man die erste Legende Celanos kennt33.
24 Vgl. Edouard LEMPP, Frère Elie de Coitone. Etude biographique (Collection d'Études et de documents pour l'histoire religieuse et littéraire du Moyen Age; 3), 171-172, über die Allelujabewegung vgl. Lexikon des Mittelalters IV, 1879-1880. 25 Salimbene de Adam, Cronica (wie Anm. 2), 136: darüber Giulia BARONE, Da Frate Elia (wie Anm. 15), 50. Die Chronik von Salimbene ist jedenfalls durch klare, autobiographische Züge gekennzeichnet; vgl. Gabriella SEVERINO, Storiografia, genealogia, autobiografia. Il caso di Salimbene de Adam, in: Cultura e società nell'Italia medievale. Studi per Paolo Brezzi, Roma 1988, 775-793. 26 Vgl. H.R. LUARD, Roberti Grosseteste episcopi quondam Lincolniensis epistolae, London 1861 (Rerum Britannicarum Medii Aevi Scriptores; 25), Briefe Nr. 31 (117-118), 41 (133-134). E. WINKELMANN, Acta Imperii inedita, I, Innsbruck 1880, 299-300. 27 Epistola ad sanctam Agnetem de Praga, Bd. II, in: Fontes Franciscani (wie Anm. 10), 2270. 28 Vgl. oben Anm. 17. 29 Z.B. Giordano di Giano, Alberto da Pisa, Haymo von Faversham. 30 Jacobus Guisae, Annales historiae illustrium principum Hanoniae, in: MGH SS 30, hg. v. E. SACKUR, 1896, 294-295. 31 Folgende Quellen wurden durch die 'Vita prima' beeinflußt: Iuliani de Spira, Vita sancti Francisci, in: Fontes Franciscani (wie Anm. 10), 1025-1095 und Henrici Abricensis, Legenda sancti Francisci versificata, in: Fontes Franciscani (wie Anm. 10), 1131-1242; darüber, vgl. Raimondo MICHETTI, La „Vita beati Francisci" di Tommaso da Celano: storia di un'agiografia medievale, Franciscana 1 (1999), 135-141. 32 Bonaventurae de Balneoregio, Legenda Maior Sancti Francisci, in: Fontes Franciscani (wie Anm. 10), 812-813, 896. 33 Über die Spiritualen vgl. Franciscains d'Oc. Les Spirituels (ca. 1280-1324), in: Cahiers de Fanjeaux 10, Toulouse 1975; Chi erano gli Spirituali (Atti del III Convegno della Società Internazionale di Studi Francescani, Assisi, 16-18 ottobre 1975), Rimini 1976; Giulia BARONE, Spirituali, in: Dizionario degli Istituti di Perfezione Vili, Rom 1988, 2034-2040.
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Endlich kennen wir ein Bündel von Episoden, die nur die Quellen erzählen, die aus dem Kreis der Spiritualen und aus den ersten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts stammen und die ich am Ende dieser Studie kurz besprechen werde. Die zweite Vita34 Celanos, die 'Legenda Trium Sociorum' 35 , der Anonymus Perusinus, der in den letzten Jahren unter dem Titel 'De inceptione Ordinis' 36 bekannt geworden ist, nennen Elias nicht namentlich. Der Grund dieses Schweigens besteht wahrscheinlich darin, daß genau diese Quellen in der Zeit zwischen 1240 und 1250 entstanden sind, in einer Zeit also, als Elias exkommuniziert war und der kaiserlichen Partei angehörte. Einen solchen Mann als Freund und Gefährten von Franziskus darzustellen, seine Beziehung zum Heiligen zu beschreiben, wurde von den Autoren dieser Werke, die alle Franziskus verehrten, als unerträglich empfunden. Erst Anfang des 14. Jahrhunderts behauptete Angelo Clareno, der Führer der italienischen Spiritualen, daß Franziskus Elias zum seinem Vikar ernannt hatte, weil er seinen unwürdigen Brüdern einen unwürdigen Oberen geben wollte.37 Von einer langen Beziehung, die länger als fünfzehn Jahre dauerte, sind nur die pathetische Darstellung des Todes des Heiligen in der ersten Vita Celanos und Elias' Rundbrief übrig geblieben. Kein Wunder, daß sich in den letzten Jahren die Forschung in erster Linie mit dieser Darstellung und diesem Brief beschäftigt hat, was zu den Ergebnissen führte, die ich im dritten und letzten Abschnitt meines Aufsatzes vorstellen werde. Wie schon erwähnt, hat Thomas von Celano Elias mit wenigen Worten einen bedeutenden Platz in seiner 'Vita beati Francisci' eingeräumt. Viel konnte er aber über Elias nicht berichten, weil im Zentrum seines Werkes der neue Heilige steht (die 'Vita beati Francisci' wurde einige Monate nach der Heiligsprechung vollendet); aber der Vikar beziehungsweise Generalminister wird immer mit Sympathie und mit gebührlicher Achtung beschrieben. So habe sich Elias während den langen und schmerzhaften Krankheiten des Heiligen immer um ihn gekümmert. Als Franziskus vom Arzt nicht behandelt werden wollte, verpflichtete ihn der Generalminister zum Gehorsam und zwang ihn,
34 Thomae de Celano, Vita secunda sancii Francisci, in: Fontes Franciscani (wie Anm. 10), 441-639. 35 Legenda Trium Sociorum, in: Fontes Franciscani (wie Anm. 10), 1353-1445. 36 Anonymi perusini de inceptione vel fundamento ordinis, in: Fontes Franciscani (wie Anm. 10), 1297-1351. 37 Angelus Clarenus, Historia Septem tribulationum Ordinis minorum, in: Fonti per la storia dell'Italia medievale. Rerum italicarum scriptores 2, hg. v. Orietta ROSSINI, Rom 1999.
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sich helfen zu lassen.38 Dieses Verhalten von Elias ist auch durch andere, spätere Quellen überliefert.39 Mit einer sehr schönen Metapher hat der Hagiograph des Heiligen von Assisi die Stellung Elias' in den Jahren 1221-1226 so beschrieben: Franziskus habe ihn zum Vater der Brüder und zu seiner Mutter gemacht. Franziskus' Mutter: Alle Franziskaner konnten sicher sofort verstehen, was Thomas von Celano damit sagen wollte. In der 'Regula pro heremitoriis data' hatte Franziskus von zwei Arten von Brüdern in den Einsiedeleien gesprochen: den Müttern und den Kindern.40 Aufgabe der Kinder war es, den ganzen Tag zu beten und an Gott zu denken; Aufgabe der Mütter war es, die Kinder zu betreuen, ihnen jede unnötige Beziehung zur Welt zu ersparen und das Nötigste für sie zu besorgen. Nach der Biographie Celanos erfüllte Elias seine Aufgabe in den letzten Lebensjahren des Heiligen tadellos. Und als Mutter hatte er das große Glück gehabt, die Stigmata zu sehen, als der Heilige noch lebte.41 Thomas von Celano war lange Jahre nicht in Italien; er wurde - wie Jordan von Giano - als Missionar nach Deutschland entsandt. Ein Augenzeuge war er nicht; allerdings hat ihm in den ersten Jahren niemand vorgeworfen, ein beschönigtes Bild von Elias gezeichnet zu haben 42 Sicher hatte Gregor IX., der die 'Vita beati Francisci' genehmigte, nichts dagegen. Und Gregor war der Papst, der den Heiligen so gut gekannt hatte, daß er es für überflüssig hielt, Zeugen über Leben und Tugenden des Franziskus anzuhören, um ihn heilig zu sprechen.43 Thomas konnte oder wollte in seiner Biographie nicht über die Krise erzählen, die die Vorbereitung der 'Regula bullata' im Orden ausgelöst hatte. In der 'Legenda Maior' von Bonaventura da Bagnoregio und in den Quellen, die aus dem Kreis der Spiritualen stammen, wird diese Krise als gravierend beschrieben. Die Brüder hätten befurchtet, daß der heilige Ordensstifter ihnen eine zu strenge Regel auferlegen wolle. Sie hätten auch versucht, durch Elias eine Milderung der strengen Armut zu erreichen, und als die Regel endlich so
38 Thomas de Celano, Vita prima sancti Francisci, in: Fontes Franciscani (wie Anm. 10), 375. 39 Giulia BARONE, S. Francesco, S. Bonaventura e la malattia, in: Bonaventura francescano, Todi 1974, 271-278. 40 Regula pro eremitoriis data, in: Fontes Franciscani (wie Anm. 10), 215: „Uli qui volunt religiose stare in eremis sint tres fratres vel quattuor ad plus; duo ex ipsis sint maires et habeant duos filios vel unum ad minus. Isti duo qui sunt maires, teneant vitam Marthae...". 41 Thomas de Celano, Vita prima (wie Anm. 38), 375: „quem loco matris elegerat sibi... ". 42 In allen zitierten Quellen in Anm. 31 wird das Bild von Elias durch Thomas von Celano angenommen. 43 Vgl. Michael BIHL, De canonizatione S. Francisci (Archivum Franciscanum Historicum; 21), 1928, 468-514, und Roberto PACIOCCO, „Sublimia negotia" (wie Anm. 11), 88-95.
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geschrieben wurde, wie sie Christus Franziskus diktiert hatte, hätte der Vikar des Ordens „zufallig" das Schreiben verloren. Ein zweites Mal hätte der Heilige seine Regel niedergeschrieben, genauso wie sie vorher war.44 So erzählen die späteren Quellen. Ist ein solches Verhalten von Elias wahrscheinlich? Meiner Meinung nach absolut nicht. Er hatte die harten Zeiten der Anfänge des Ordens erlebt, und später, als viele seiner Mitbrüder im Jahre 1230 den Papst um Erklärungen der Regel baten, die ihrer Meinung nach zu streng und in mancher Hinsicht zu unklar war, war Elias nicht dabei. Die Bulle 'Quo elongati', die das Testament von Franziskus entkräftete, ist das Resultat der Bemühungen von Johannes Parenti, Antonius von Padua, Haymo von Faversham, Leo von Perego, aber nicht von Elias.45 Und solange Elias Generalminister war - bis zum Jahre 1239 - , wurden keine Konstitutionen erlassen, und die Regel blieb sine glossis (ohne Erklärungen - mit der Ausnahme der 'Quo elongati'), so wie Franziskus in seinem Testament befohlen hatte, sie einzuhalten.46 Wollte Elias auf diese Weise einfach den Wunsch des Heiligen erfüllen? Das wissen wir nicht und es ist auch eher unwahrscheinlich. Aber es ist sicher bemerkenswert, daß erst einige Tage nach Elias' Absetzung eine Menge von Konstitutionen erlassen wurde, die Padre Cenci wiedergefunden und vor einigen Jahren veröffentlicht hat.47 Einige Stunden vor seinem Tod, den er wie so viele Heilige vorhergesehen hatte, versammelte Franziskus seine Brüder um sich und segnete sie, als ersten Elias, den Oberen des Ordens. Der Heilige lobte ihn auch für alles, war er für ihn und den Orden getan hatte, so Thomas von Celano in seinem ersten Werk.48 Es war üblich, daß sich die Ordensstifter so verhielten und die Hagiographen den Tod des Ordensstifters so beschrieben.49 Aber nach Elias' Absetzung und Exkommunikation, nachdem er sich als der einzige und echte Nachfolger des Heiligen vorgestellt hatte, wurde, was üblich war, unüblich. In seinem zweiten Werk hat Thomas von Celano betont, daß der namentlich nicht genannte Elias nur als Vikar des Ordens als Erster gesegnet worden
44 Vgl. Bonaventurae de Balneoregio, Legenda Maior (wie Anm. 32), 812-813; Angelus Clarenus, Historia (wie Anm. 37), 92; Speculum perfectionis, in: Fontes Franciscani (wie Anm. 10), 1849-1850. 45 Grado Giovanni MERLO, Storia di Frate Francesco (wie Anm. 5), 20-21. 46 Testamentum, in: Fontes Franciscani (wie Anm. 10), 231: „Et omnibus fratribus meis clericis et laicis praecipio firmiter per oboedientiam, ut non mittant glossas in regula nec in istis verbis dicendo: Ita volunt intelligi. " 47 C. CENCI, De fratrum Minorum Constitutionibus Praenarbonensibus (Archivum Franciscanum Historicum; 83), 1990, 50-95. 48 Thomas de Celano, Vita I (wie Anm. 38), 384-385. 49 Jacques DALARUN, La mort des saints fondateurs, de Martin à François, in: Les fonctions des saints dans le monde occidental (IlIe-XIIIe siècle) (Collection de l'Ecole Française de Rome; 149), Rom 1991, 193-215.
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war. 50 Die Spiritualen haben neben Elias auch Bernhard von Quintavalle von Franziskus segnen lassen; in einer sehr späten Quelle, den 'Actus beati Francisci et sociorum eius', ist Bernhard der einzige, den der Heilige segnet. Er hätte dagegen entschieden abgelehnt, seinen Vikar zu segnen. 51 Raoul Manselli vertrat schon 1967 die Meinung, daß Franziskus auf diese Weise seine beiden alten Gefährten zu seinen Nachfolgern machen wollte. Elias wollte er zum amtlichen und Bernhard zum geistlichen Oberen ernennen. 52 Vor einigen Jahren hat Jacques Dalarun versucht, die Meinung von Raoul Manselli mit philologischen Argumenten zu unterstützen. Ich bin nach wie vor nicht von dieser These überzeugt. 53 Ich bezweifle, daß sich der Heilige Unruhe, Spaltungen und Auseinandersetzungen fìir seine Gemeinschaft gewünscht hat. Ein solches Ziel hätte er sicher mit einer solchen Doppelwahl erreicht! Unlängst hat Jacques Dalarun in seinem Buch über die franziskanischen Quellen meine Argumente angenommen und seine Ansicht grundsätzlich geändert. 54 Endlich muß ich kurz auf Elias' Rundbrief nach Franziskus' Tod eingehen. Für diesen Text wurden in den letzten sieben Jahren zumindest zwei neue Interpretationen vorgeschlagen. In ihrem berühmten Buch 'S. Francesco e l'invenzione delle stimmate' hat Chiara Frugoni die Meinung geäußert, daß die Stigmata eine Erfindung von Bruder Elias seien. 55 Bewußt oder unbewußt (mehr bewußt als unbewußt nach Frau Frugoni) habe er die Wunden und die Zeichen, die die Folge der vielen schweren Krankheiten des Heiligen waren, als wunderbares und „unerhörtes" Phänomen interpretiert. Die Mediävistin versuchte zu beweisen, daß die franziskanischen Autoren so verschiedene Beschreibungen der Stigmata in ihren Schriften bieten, daß das, was Elias den Brüdern schrieb, nicht der Wahrheit entsprechen könne. Ihre Interpretation des 50 Thomas de Celano, Vita II (wie Anm. 34), 631: Circumsedentìbus vero omnibus fratribus, extendit super eos dexteram suam, et incipiens a vicario suo capitibus singulorum imposuit... Nullus s ibi harte benedictionem usurpet quam pro absentibus in praesentibus promulgavit; ut alibi scripta est aliquid insonuit speciale, sed potius ad officium detorquendum. 51 Actus beati Francisci et sociorum eius, in: Fontes Franciscani (wie Anm. 10), 20962097. 52 Raoul MANSELLI, L'ultima decisione di S. Francesco (Bernardo da Quintavalle e la benedizione di san Francesco morente) (Bullettino dell'Istituto storico italiano per il Medio Evo; 78), 1967, 137-153. 53 Jacques DALARUN, La dernière volonté de saint Francois. Hommage à Raoul Manselli (Bullettino dell'Istituto storico italiano per il Medio Evo; 94), 1988, 329-366. F. SEDDA, Il gesto della benedizione-assoluzione di San Francescoi. Ancora sulla benedizione di Frate Elia, Biblioteca Francescana Sarda 10 (2002), 161-188. 54
G . BARONE, D a Frate E l i a ( w i e A n m . 1 5 ) , 3 5 - 3 9 u n d 8 5 - 8 6 . J a c q u e s DALARUN, L a
malawentura di Francesco d'Assisi (Fonti e ricerche; 10), Mailand 1996, 41-52. 55 Chiara FRUGONI, Francesco e l'invenzione delle stimmate. Una storia per parole e per immagini fino a Bonaventura e Giotto, Turin 1993.
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Giulia Barone
Rundbriefes von Elias und der Texte von Thomas von Celano und von Bruder Leo über die Stigmata hat Giovanni Miccoli meiner Meinung nach sehr überzeugend widerlegt: Im Grunde stimmen nämlich alle Quellen überein.56 Don Feiice Accrocca hat dagegen versucht, den Brief von Elias als eine Verfälschung eines flämischen Gelehrten aus dem 17. Jahrhundert, dem wir den Text verdanken, zu erklären. Tatsächlich konnte er, in seiner gut geschriebenen und gut argumentierten Arbeit, nur feststellen, daß Spoelberch - so heißt der Gelehrte - geneigt war, seine Vorlagen stilistisch etwas auszuschmükken; inhaltlich habe er sie immer treu wiedergegeben.57 Nach dieser sehr ausführlichen Arbeit sind wir vielleicht sicherer, daß Elias tatsächlich den Rundbrief geschrieben hat (wie von Jordan von Giano bestätigt wird), der erhaltene Text jedoch seinem Brief nicht wörtlich entspricht. Aber davon waren schon Edouard Lempp und Michael Bihl am Anfang des 20. Jahrhunderts überzeugt. Mit Franziskus' Tod ist das lange Miteinander zwischen ihm und Elias zu Ende gegangen. Wie und inwieweit diese Beziehung Elias' Aktivität als Generalminister beeinflußt hat, steht im Zentrum eines anderen Forschungsbereichs, der sich mit der Entwicklung des Franziskanerordens beschäftigt. Aber eine eindeutige Antwort auf diese zentrale Frage wird es leider wegen der mangelnden Quellenbasis nie geben.
56 Giovanni MICCOLI, Considerazioni sulle stimmate, in: Il fatto delle stimmate di S.Francesco, Assisi 1997, 13-39, wiederabgedruckt in: Franciscana (wie Anm. 31) 1 (1999), 101-121. 57 Felice ACCROCCA, Un apocrifo la „Lettera enciclica di Frate Elia sul transito di S. Francesco?" (Collectanea Franciscana; 65), 1995, 473-509.
NIKLAUS
KÜSTER
Was Franziskus und Klara von Assisi verbindet Neuere Interpretationen zwischen unzertrennlicher Freundschaft und brüderlichem Desinteresse*
Seit die Fioretti erzählt werden, hat die B e z i e h u n g z w i s c h e n Franziskus und Klara die Phantasie der M e n s c h e n beflügelt. Sie tat es auch, als die kritische Geschichtsschreibung sich ihrer anzunehmen begann, da selbst Forscher nie ganz ohne Phantasie reflektieren. Paul Sabatier, der die historische Franziskusforschung unseres Jahrhunderts initiiert hat, demonstriert gerade mit Blick auf „les amours de saint François et de sainte Claire", w i e fließend die Grenze z w i s c h e n geschichtlicher Rekonstruktion und poetischer Imagination werden kann. 1 A u c h seine modernsten N a c h f o l g e r bringen Einstellungen z u m G e g e n stand ihrer Forschung mit, w e l c h e auch die rationalste A n a l y s e der Quellen und eine kritische Synthese der Fakten unterschiedlich färben. D i e vorliegende Kurzstudie prüft verschiedene - mitunter gegensätzliche - Entwürfe v o n f ü n f
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Das Referat spiegelt den Forschungsstand zur Zeit der Tagung (Frühjahr 1998) wider. Inzwischen ist im deutschen Sprachraum eine neue Dissertation zu Klara von Assisi erschienen: Martina KREIDLER-KOS, Klara von Assisi. Schattenfrau und Lichtgestalt (Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie 17), Tübingen/Basel 2000. Die These zeichnet Klaras Weg von einem pointiert feministischen Ansatz her nach und versteht die Schwester nicht nur eigenständig, sondern in Spannung zum Poverello. Die Autorin tendiert allerdings dazu, in der methodischen Abgrenzung und Distanzierung das Verbindende der beiden großen Persönlichkeiten zu übersehen. Vgl. meine ausfuhrliche Rezension in: WiWei (= Wissenschaft und Weisheit) 64 (2001), 162-165. Die hier folgende Studie, zeitgleich zur Dissertation entstanden, stellt damit eine kritische Rückfrage an die brillante Doktorarbeit dar. In der Zwischenzeit hat das gemeinsame Auswerten der vitalen Klaraforschung zu einer neuen Studie geführt, in der Martina KREIDLERK O S , Ancilla RÖTTGER und Niklaus KÜSTER Klaras Weg in einer Trio-Optik beleuchten. Darin wird auch Klaras Beziehung zu Franziskus aus verschiedenen Blickwinkeln thematisiert. Die neuen Einsichten sind den Resultaten dieses Beitrages hinzuzufügen: Martina KREIDLER-Kos/Niklaus KÜSTER/Ancilla RÖTTGER, „Den armen Christus arm umarmen": Das bewegte Leben der Klara von Assisi - Antworten der aktuellen Forschung und neue Fragen, in WiWei 66 (2003) 1-79. Paul SABATIER, Vie de S. François d'Assise. Éd. définitive, Paris 1931, 189-211; kritisiert von Jacques DALARUN, Francesco: un passaggio. Donna e donne negli scritti e nelle leggende di Francesco d'Assisi, Roma 1994, 55-56; noch phantasievoller zeigt sich Paul SABATIER, Le privilège de la pauvreté, Revue d'histoire franciscaine 1 (1924), 1-54, 13-15 (speziell bei Klaras gemeinsamen Gang mit Franziskus an den Hof Papst Innozenz' III.).
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namhaften Wissenschaftlern auf ihr jeweiliges Grundanliegen, ihren Umgang mit der verfugbaren Quellenbasis und ihre wichtigsten Erkenntnisse. Zunächst werden vier Autoren befragt, die ihre Sicht der Beziehung zwischen Klara und Franz in der neuesten Zeit dargestellt haben. Alle sind Universitätsprofessoren: Leonardo Boff vertritt die lateinamerikanische Welt, Marco Bartoli den italienischen, Jacques Dalarun den französischen und Werner Maleczek den deutschsprachigen Kulturraum. Sie alle haben in den letzten Jahren Bücher publiziert, die - mit den unterschiedlichsten Ansätzen - größte Verbreitung gefunden oder zumindest in der Fachwelt beachtliches Aufsehen erregt haben. Zu ihnen gesellt sich die Amerikanerin Margaret Carney, die hierzulande mehr Aufmerksamkeit verdient hätte. Der verfugbare Raum erlaubt nur eine knappe Charakterisierung ihrer je eigenen Antwort auf die eine Frage, wie Franziskus zu Klara stand, gefolgt von kurzen historischen Rückfragen an ihre Quellenarbeit, ihr Gesamtbild und ihre allfälligen Auslassungen.
1. Leonardo Boff: „Zärtlichkeit und Kraft" Noch immer verkauft sich der Bestseller des brasilianischen Befreiungstheologen Leonardo Boff, der Franziskus 1981 „mit den Augen der Armen" sehen wollte.2 Seine Darstellung läßt sich dennoch als gelehrt und poetisch zugleich bezeichnen. Das erste Kapitel seines Franziskusbuches erhellt des Poverellos „Zärtlichkeit für Klara" als Zeichen gelungener „Integration des Weiblichen" (50). Boffs Ausgangspunkt ist die tiefenpsychologische Herausforderung an jeden Menschen, animus beziehungsweise anima zu integrieren. Franziskus sei darin eines der glücklichsten Modelle, das die abendländische Kultur hervorgebracht habe: Jeder Mann wächst und reift unter dem Blick der Frau, und jede Frau erblüht zu ihrer vollen Identität unter dem Blick des Mannes [...] Die Wege dieser Integration sind stürmisch und dramatisch wie kaum ein anderes Abenteuer des Menschen. Franziskus ist da keine Ausnahme [...] Der Mann muß die anima, die in ihm streckt, integrieren, das heißt die Dimension der Zärtlichkeit, der Fürsorge, des Annehmens, der intuitiven Sensibilität, alles dessen, was mit dem Leben und dem Entstehen des Lebens zu tun hat. Ebenso muß die Frau die Dimension des animus, die in ihr existiert, integrieren, das heißt der Objektivität der Welt, der Rationalität, der Ordnung und Ausrichtung und
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Leonardo BOFF, Zärtlichkeit und Kraft. Franz von Assisi mit den Augen der Armen gesehen, Düsseldorf 1989. Originalfassung: Säo Francisco de Assisi. Ternura e vigor, urna leitura a partir dos pobres, Petrópolis 1981.
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Was Franziskus und Klara von Assisi verbindet
schließlich alles dessen, was mit der Geschichte in Verbindung steht [...] In Franziskus begegnen wir einer der glücklichsten Synthesen, die die abendländische und christliche Kultur hervorgebracht hat [...] Ohne Machismus und Feminismus [...] bekunden sich in ihm eine zärtliche Kraft und eine kraftvolle Zärtlichkeit, die beide den Glanz und den archetypischen Charme seiner Persönlichkeit ausmachen (50-51).
Das Zitat verdeutlicht das Anliegen des Befreiungstheologen: am Beispiel des Poverello zu zeigen, wie Weibliches und Männliches innerpsychisch zusammenfinden und zwischenmenschlich zusammenspielen können - als Antwort an brasilianischen „machismo" und US-amerikanisch-europäischen Feminismus. Boff zeichnet in begeisterten Strichen, wie Franziskus und Klara in der „zarten Liebe" zueinander „sich auf dem Weg ihrer Individuation bereicherten" und ihre Freundschaft zugleich „durch die Liebe zu den Armen und zu Christus überboten" (55). Der Rückgriff auf einzelne Quellen hat dabei weniger beweisenden als illustrierenden Charakter für die eingangs vertretene psychologische These. Der Autor fugt passende Einzelaussagen aus unterschiedlichsten Schriften - Klara- und Franziskuszitate, Vita, Prozeßakten, Fioretti und Volkslegenden - nahtlos aneinander. Er interpretiert sie da psychologisch, dort mystisch, oft mit Farben poetischer Begeisterung und meist losgelöst vom historischen Kontext. Überblick über die wichtigsten verwendeten Quellen: vita erste Kontakte LegCl
conversio Flucht, Einkleidung LegCl
„schon als junge Menschen voneinander angezogen"
„Franziskus hat ihr die Substanz des Lebens vermittelt" ProCan (mammilla-Vision)
conversatio Volkslegende „Rosen im Winter" „arglose, zarte und reine Liebe" bleiben „verbunden in der Liebe zu Christus u. im Dienst am Armen"
„plantula" des Franziskus „Essen in Portiunkula" RegCl, TestCl
Fioretti „Klaras Gebet" „Gesicht im Brunnen" RegNB (frauenkritische Texte) „Realitätssinn und Wachsamkeit binden diese zarte Liebe ein"
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Das Bild dieser Freundschaft schließt mit einer zusammenfassenden These, die sich spätestens seit Dalaruns umfassender und kritischer Quellenbefragung so nicht mehr halten läßt: Für Franziskus ist die Frau Weg zur Gottesliebe und - in menschliche Liebe gekleidet Offenbarung der Liebe Gottes zu den Menschen. Sie darf weder Motiv zur Flucht noch Anlaß zur Besessenheit sein. Mit klarem Blick, der die Versuchungen der Einbildungskraft besiegt, kann er Klara liebevoll und keusch anschauen, so daß beide sich auf dem Weg zu ihrer eigenen Wesensidentität gegenseitig bereichern (56).
Boff dürfte in allen westeuropäischen Kulturen spirituelle Autorinnen- und Autorenkollegen finden, die ähnlich bestrebt sind, „die Botschaft des Franziskus für die Kultur der Gegenwart" (16) aufzuzeigen. Oft kaum um kritische Geschichtsforschung oder deren Erkenntnisse bemüht, verbinden sie bekannte Fakten, legendäre Traditionen, persönlich interpretierte „Symbolsprache" und moderne Psychologie zu einem faszinierenden Leitbild, das bestimmt nicht Historiker verärgern, sondern vielmehr heutige Lebensgestaltung inspirieren möchte. Da historische Rückfragen in diesem ersten Beispiel die Absicht des Autors verfehlen, seien sie hier unterlassen.
2. Werner Maleczek: „Anekdoten" und „Episoden" Ganz anders als der brasilianische Dogmatikprofessor nimmt sich sein Historikerkollege an der Universität Wien einen äußerst kritischen Umgang mit den Quellen vor. Sein kurzer Blick auf die Beziehung zwischen Franziskus und Klara sei hier vorgestellt, weil er eine sensationelle These stützt: Das wichtigste autobiographische Zeugnis Klaras über den Poverello sei eine Fälschung. Einmal zu der Überzeugung gelangt, daß sowohl das Armutsprivileg Innozenz' III. wie auch Klaras Testament nach 1448 in Perugia entstanden seien, sucht Maleczek auch innere Gründe für die Unzeitgemäßheit des letzteren zu Lebzeiten der Äbtissin.3 Rund sieben Seiten seiner Studie gehen der Beziehung zwischen Poverello und Poverelle nach. Sie sollen reichen, um die so oft verwendete „autobiographische" Quelle zu entwerten (66-72). Der Spezialist für die päpstliche Kurie unter Innozenz III. streicht mit Blick auf das Testament zunächst die Passagen weg, die eine Fälscherhand aus anderen Quellen übernommen haben könnte: Zitate aus der Regel oder aus Gefahrtenberichten. Das träfe speziell auch auf die interessante Geschichte der Prophetie von 1207 zu, die den Schwestern gleichsam eine Priorität vor den 3
Werner MALECZEK, Klara von Assisi. Das „Privilegium Paupertatis" Innocenz' 111. und das Testament der Klara von Assisi - Überlegungen zur Frage ihrer Echtheit (Bibliotheca seraphico-capuccina 47), Rom 1995, 58-72.
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Brüdern einräumt: Sie müßte seines Erachtens als bloße „Anekdote" und unbedeutende Reminiszenz in einem echten Lebensrückblick wichtigeren Erinnerungen weichen. Daß Maleczek die ordenspolitische Brisanz der „Episode" in den Jahren um 1250 verkennt, hatte ich anderswo schon Gelegenheit zu zeigen, ebenso daß Marco Bartolis These eines „ciclo di San Damiano" über spezielle Franziskusüberlieferungen statt sachlich widerlegt nur verbal auf die Seite gewischt wird. Maleczeks nicht selten kurzschlüssiger Umgang mit verschiedenen Quellen sei hier an einer zentralen Franziskusschrift für San Damiano näher illustriert (68-69): Die Forma vivendi, die Anweisung zu einem nach dem Evangelium geformten Leben [...] findet sich in die Regel von 1253 eingebaut (6, 3—4). Von Armut ist darin nicht die Rede. Bei der Ultima voluntas, die Franziskus den Schwestern knapp vor seinem Tod hinterließ und die ebenfalls ihren Platz in der Regel fand (6, 7-9), ist aber die Armut tatsächlich ein wichtiges Motiv. Auch die Begründung, die Klara für diese kurze Schrift ihres geistlichen Vaters gibt, verweist auf die Armut. Das [...] Mahnlied an die Klarissen, Audite poverelle, handelt hingegen nicht von der Armut. Der einzige Bezug ist die Anrede. Eine so ausschließliche Konzentration auf die Armut, wie sie das Testament nahelegen möchte, findet sich also in den Schriften des Franziskus für Klara und ihre Schwestern nicht.
Der Scharfsinn des Papstdiplomatikers droht Opfer seiner Spezialisierung zu werden. Auch wenn der kuriale Fachbegriff nicht aufscheint, müssen Thematik und Anliegen selbst noch lange nicht fehlen. Hat Franziskus, der Klara und ihre Schwestern zärtlich „Poverelle" nannte, Armut in ihrer Lebensform tatsächlich nicht vorgesehen? Hat sich Armut als faktisches Problem zu Lebzeiten Klaras nie gestellt (72)? Der zweite Befund kann erst nach Disqualifizierung des Thomas von Celano, einem Übergehen weiterer Klaraschriften und dem Ausschluß anderer zeitgenössischer Quellen gelingen. Maleczek hätte wenigstens die Lebensform von San Damiano, die Franziskus fur Klaras Schwestern schriftlich faßte, aufmerksam lesen können. Er hätte dabei nicht nur die geniale Dichte der kurzen Forma vivendi entdeckt, sondern darin gerade die beiden Kernanliegen des Testaments wiedergefunden: untrennbare Verbundenheit von Schwestern und Brüdern und gemeinsame Berufung im vivere secundum perfectionem sancii evangelii. Hätte der Wiener Professor, so sehr auf Begriffe fixiert, nur gefragt, was perfectio evangelii meint: Er hätte in Jesu Rat an den reichen Mann eine radikale Form von Armut erkannt (si vis perfectus esse) und dann in den Regeln des Poverello und der Poverella genau diesen Rat als identisches Echtheitskriterium für die gleiche Berufung minderer Brüder und armer Schwestern entdecken können.4
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Vgl. Tadeusz BARGIEL, Iniziazione alla vita religiosa nella tradizione monastica e nella primitiva fraternità francescana (Pars Dissertationis), Rom 1989, 56-62.
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Mt 19,21: (Evangelium)
Forma vivendi:
RegB 2, 6:
RegCl 2, 8:
Ait illi Iesus: „Si vis perfectus esse,
... eligendo vivere secundum perfectionem sancii Evangelii
dicant illi s
dicat ei
verbum sancii Evangelii, quod vadani et vendant omnia sua et ea studeant pauperibus erogare
verbum sancii Evangelii quod vadat et vendat omnia sua et ea studeat pauperibus erogare
vade, vende, quae habes et dapauperibus..., et veni, sequere me"
Maleczeks Umgang mit bedeutenden Quellen bestätigt seine voreilige Oberflächlichkeit an zahlreichen anderen Beispielen, was den Wert seiner Arbeit und die doppelte Fälschungsthese ins Wanken bringt. So berechtigt seine Anfragen an die Form des „Innozenzprivilegs" sind, so voreingenommen geschieht in der Folge die Quelleninterpretation mit Blick auf Klara-, Franziskus· und Celano-Texte. Hier begnügt der Diplomatiker sich damit, ihm widersprechende Aussagen im Dienste der vorgefaßten Fälschungsthese abzuschwächen oder zu überhören und markante Zeugnisse als unpräzise und unglaubwürdig oder gar selber als Fälschung darzustellen. Den Eindruck der Voreingenommenheit widerlegen auch die Beteuerungen nicht, mit denen Maria Pia Alberzoni Maleczeks „Quellenanalysen" preist.5 Wie andere Zeugnisse kehrt die wichtigste Quelle, die die Beziehung zwischen Franziskus und San Damiano thematisiert, im Licht einer sorgfaltigen historischen Interpretation und einer breiten Quellenbefragung in Klaras Lebenskontext zurück.6 Daß beide, Poverello und Poverelle, um die gemeinsam gewählte Armut und auch ihr „Naheverhältnis" ringen mußten, entschwindet dagegen bei Maleczek im oberflächlichen Bild einer Beziehung, die den Autor kaum wirklich interessiert.
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Maria Pia ALBERZONI, Contributo alla 'questione clariana', CFr (= Collectanea Franciscana) 67 (1997), 459-476: Die Mailänder Professorin übersetzte Maleczeks „attenta disanima dei passi in questione" und seine „analisi del contenuto e dello stile del Testamento in relazione agli scritti clariani" (zit. 461, 462) ins Italienische. Seine Fälschungsthesen finden sich mittlerweile mehrfach in Frage gestellt durch KREIDLERKos, Klara von Assisi (wie Anm. *), und erschüttert durch Attilio BARTOLI LANGELI, La cultura scritta dell'Ordine dei Minori, in: Francesco d'Assisi e il primo secolo di storia francescana, Turin 1997, 303-304. Nikiaus KÜSTER, Das Armutsprivileg Innozenz' III. und Klaras Testament: echt oder raffinierte Fälschungen?, CFr 66 (1996), 5-95. Der Artikel stellt Anfragen an fast sämtliche Thesen Maleczeks; die seit fünf Jahren in Aussicht gestellte Antwort aus Wien läßt noch immer auf sich warten.
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3. Marco Bartoli: „Klara - alter Franciscus" Die fundierte Klarabiographie des italienischen Mediävisten Bartoli, als historisches Gesamtbild noch immer unübertroffen, braucht hier nicht näher vorgestellt zu werden.7 Es gelingt dem Schüler Raoul Mansellis, Klara als Frau ihrer Welt lebendig werden, handeln und sprechen zu lassen. Mit Blick auf Franziskus fallen folgende Eckdaten auf: -
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Die von Boff und anderen Autoren vermutete „Anziehung", die beide schon früh „als junge Menschen verbindet", scheitert zunächst am Altersunterschied: Als Franziskus 1196 mündig wurde, zählte Klara eben zwei Jahre. Hinzu kam die soziale Kluft, die maiores und minores trennt. Der aristokratische Klan des Favarone di Offreduccio kehrte wohl erst nach 1205 aus dem Perusiner Exil in die Stadt zurück. Klara lebte hier, bis sie heiratsfähig wurde, ein eingeschlossenes Leben im aristokratischen Palazzo. Kontakte bahnten sich zunächst über die fama, Cousin Rufino und Gaben fur die Bauleute bei der Portiunkula an und führten dann zu heimlichen Treffen ab 1211 (31-62). Interesse aneinander und Problembewußtsein im Zusammenhang mit Klaras Plänen waren beidseitig, wenn auch verschieden akzentuiert. Franziskus bereitete mit Klara die Flucht sorgfältig vor, informierte den Bischof, gestaltete sie im liturgischen Rahmen des Palmsonntags und schnitt ihr die Tonsur. An Letzterer interpretiert Bartoli allerdings den „Weihecharakter" und Franziskus' rechtliche Unbekümmertheit fehl8 (62-69). Klaras Aufnahme in die fraternitas erfolgte erst Wochen später. In schmerzlichen Konflikten mit Verwandten sah Klara sich von den Brüdern allein gelassen und suchte über die Etappen San Paolo und Sant'Angelo di Panzo ihren Weg zunächst ganz auf sich gestellt. Erst angesichts ihres Durchhaltevermögens begleitete Franziskus die ersten Schwestern nach San Damiano und versprach ihnen gleiche cura et sollicitudo wie fur die Brüder, was er ein Leben lang hielt (69-84). Klaras schnell wachsende Gemeinschaft konnte sich ein Wanderleben nach Art der Brüder kirchenpolitisch nicht erlauben.9 Sie ließ sich jedoch ihre Marco BARTOLI, Chiara d'Assisi (Bibliotheca seraphico-capuccina 37), Rom 1989; deutsch: Klara von Assisi. Die Geschichte ihres Lebens, Werl 1993. Die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf das italienische Original. Daß Franziskus sich hier dem Bischof vorbehaltene Handlungen angemaßt hätte, widerlegt Luigi PADOVESE, La „Tonsura" di Chiara: gesto di consacrazione o segno di penitenza?, Laurentianum 31 (1990), 3 8 9 ^ 0 4 . Bezeichnend dafür sind die späteren päpstlichen Verurteilungen der sorores minores oder minoretae: Dokumente mit Kommentar in: S. Chiara d'Assisi. Scritti e documenti, a cura di Ginepro ZOPPETTI e Marco BARTOLI, Assisi/Padova/Vicenza 1994, 4 1 6 — 4 1 8 (cf. BF [Bibliographia Franciscana] I, 290), 419^429 (cf. BF I, 541-542).
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radikale evangelische Armut und damit die Offenheit ihres Klösterchens wie auch die enge Beziehung zu den Brüdern von niemandem nehmen auch von kurialer Politik nicht. Franziskus bestärkte Klara bis zu seinem Tod in ihrer Freiheit und ihrer eigenen Art, die gemeinsame Berufung zu entfalten (85-128). Zweimal mußte Franziskus allerdings kritisch intervenieren und Klara mit Druck zu notwendigen Zugeständnissen bewegen: zunächst in extremen Formen der Askese (Schlafen, Essen), dann in rechtlich-regulären Fragen, um die kirchliche Anerkennung ihrer noch semireligiösen Gemeinschaft anzubahnen. Anders als Dominikus seine Schwestern drängte Franziskus Klara 1215/1216 zur formalen Übernahme der Benediktsregel, um ihr faktisch größtmögliche Selbständigkeit einzuräumen (138-143, 96-101). Franziskus' häufige Ortsabwesenheit zwischen 1212 und 1221 führte nicht zu einer Entfremdung von San Damiano. Jedenfalls findet Bartoli keine zuverlässige Quelle, die auf ernsthafte Krisen schließen ließe oder widerlegen würde, was die wenigen erhalten gebliebenen Schreiben der letzten Jahre an Nähe erkennen lassen und was Klara selbst in Regel VI, 4-5 bekennt: Franziskus habe sein Versprechen von cura diligens et sollicitudo specialis „dum vixit diligenter implevit". Nach Franziskus' Tod blieb Klara seine treueste Zeugin und erscheint unter den Gefährten als jene, die die gemeinsame Inspiration am radikalsten und originellsten zugleich bewahrte - bis zur Anerkennung ihrer franziskanischen Schwestemregel zwei Tage vor ihrem Tod (171-198). 10 Bartoli schließt, „amore è questo il giusto nome del sentimento di fedeltà con cui Chiara visse per venticinque anni dopo la morte di Francesco, difendendo strenuamente il primitivo ideale di vita francescana e ponendosi, in seno all'Ordine e alla chiesa tutta, come un vero e proprio alter Franciscus" (189)."
Wenn Bartolis Gesamtbild quellenmäßig etwas schuldig bleibt, ist es die Interpretation jener wenigen Zeitzeugnisse, die Franziskus in einem schillerndproblematischen Licht zu San Damiano oder zu den Schwestern allgemein zeigen. Über die Aschenpredigt etwa, die Fortini und Sabatier nur mit Mühe positiv zu deuten vermochten12, die Regelaussagen im Hinblick auf die 10 Noch ausführlicher: Marco BARTOLI, Gregorio IX, Chiara d'Assisi e le prime dispute all'intorno del movimento francescano, Rendiconti dell'Accademia Nazionale dei Lincei. Classe di scienze morali, storiche e filosofiche 35 (1980), 97-108; DERS., „Novitas clariana". Chiara, testimone di Francesco, in: Chiara d'Assisi. Atti del XX Convegno internazionale. Assisi 15-17 ottobre 1992, Assisi/Spoleto 1993,157-185. 11 In der deutschen Fassung: 196. 12 SABATIER, Vie de S. François, 210 (wie Anm. 1); Arnaldo FORTINI, Nova Vita di san Francesco. 1/1, Assisi 1959, 447; eine sehr plausible Deutung der „Aschenpredigt", die Franziskus' Beziehung zu San Damiano nicht belastet sieht, muß BARTOLI bekannt
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Schwesternklöster, die Franziskus-Logia des Stephan von Narni und distanzierende Erzählungen in II Celano schweigt sich die sonst so gut dokumentierte Biographie leider aus.13 Von seinem Ansatz her wird sich Bartoli auch fragen lassen müssen, ob in seiner Sicht der Chiara - alter Franciscus die Eigenständigkeit der Schwester nicht unterschätzt wird und auch er Klara noch zu selbstverständlich vom Poverello her versteht.14
4. Jacques Dalarun: Frauliches ja - Frauen eher nein Was Bartoli im Ausblenden schwestern- oder frauenkritischer Zeugnisse überging, untersuchte Jahre später sein französischer Kollege Jacques Dalarun mit subtiler Leidenschaft. Von Jean Leclercq inspiriert, spürte der Historiker aus Besançon Franziskus' Bild der „donna", seiner Beziehung zu realen „donne", dem „femminile" und Tendenzen der „femminizzazione" in den Schriften des Poverello selbst und seiner Biographen nach.15 Seine Darlegungen und zusammenfassenden Erkenntnisse haben in der italienischen Fachwelt Aufsehen erregt: -
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Mit Blick auf Klara „muß von einer tiefgreifend asymmetrischen Beziehung" gesprochen werden. „Das hindert nicht, die ganze Faszination zu erahnen, die Franziskus auf Klara ausgeübt hat. Im Gegenteil: Auch in zwischenmenschlichen Beziehungen kann die vitalste Dynamik von Ungleichgewicht ausgehen" (141). „Bei Franziskus begegnen Frauen gleichsam zufällig, sie erscheinen beiläufig. Abgesehen von den beiden Zitaten in der Klararegel findet sich keine greifbare Spur eines spezifischen propositum, das Frauen in eine (ge-
sein, stammt sie doch von seinem Lehrer: Raoul MANSELLI, IL gesto come predicazione per san Francesco d'Assisi, in: DERS., Francesco e i suoi compagni (Bibliotheca seraphico-cappuccina 46), Rom 1995,287-301 [= CFr 51 (1981), 5-16], 13 Massive Franziskusworte, die Stephan von Narni überliefert, finden sich deutsch bei: Helmut FELD, Franziskus von Assisi und seine Bewegung, Darmstadt 1994, 419. (Leider enthält sich FELD jeden „weiteren Kommentars" und übersieht auch die Studie von Roberto RUSCONI von 1979 zur problematischen Tradition; siehe unten, Teil 5.) - Zu Celano: II Cel 204-207. 14 Hier wird eine feministische Forschung zweifellos neue Perspektiven auf die Gemeinschaft von San Damiano finden. - Nachtrag: Vgl. die entsprechende Kritik an BARTOLI in der inzwischen erschienenen Dissertation von KREIDLER-KOS, Klara (wie Anm. *), 50-65. 15 Die Studie erschien in italienischer Sprache (vgl. Anm. 1). Mittlerweile hat der französische Forscher das Buch auch - mir allerdings noch nicht greifbar - in seine Muttersprache übersetzt: Jacques DALARUN, François d'Assise: un passage. Femmes et féminité dans les écrits et les légendes franciscaines, Arles 1997.
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meinsame) Institution, eine Seelsorge, einen Heilsplan integrieren würde." Ganz anders große Gestalten und Seelsorger des 12./13. Jahrhunderts wie die Gründer von Fontevrauld oder Sempringham, ein Hildebert von Lavardin, Petrus Abaelard oder Jakob von Vitry und andere Prediger, „die immerhin versucht haben, Strukturen zu schaffen, Modelle zu finden und Reden auszuarbeiten, die sich tatsächlich an Frauen richten. Daß von solcher Sorge bei Franziskus jede Spur fehlt, bedeutet zwar nicht schon irgendeine Feindlichkeit, wohl aber der Mangel an Reflexion und eines speziellen Projektes" (142). - „Wenn die Haltung des Franziskus gegenüber der Frau und Frauen inkonsequent erscheint" - zum einen wenig Interesse an realen Frauen, zum anderen außergewöhnliche Schätzung weiblicher Allegorien und Rollen in der Spiritualität (49) - , „können die verschiedenen kulturellen Schichten", die schon Franziskus prägten, aber erst bei den Biographen deutlich zutage treten, manches erklären: „den Hof (der Troubadours) und die Wüste (der Eremitenväter) zu versöhnen ist keine leichte Aufgabe: die Frau zu umwerben, oder sie zu fliehen wie den Teufel [...] Und nicht einmal im finn 'amor fehlt die Angst vor der Frau ganz, wie Georges Duby aufgezeigt hat". Doch wo steht Franziskus, der zugleich französisch sang, das Evangelium hörte und die Vitae Patrum las? [...] „Zwischen höfischer Kultur und Wüstenvätern, zwischen Bretagne und Ägypten steht Franz im Zentrum eines Kreises. Und im Zentrum des Franziskus steht das Evangelium" (124, 130). -
Die Biographen des Franziskus werden sein relatives Desinteresse realen Frauen gegenüber in den späteren Konflikten um die cura monialium zu eigentlich frauen- und schwesternfeindlichen Aussagen oder Episoden zuspitzen. Der präzise historische Kern solcher Überlieferungen läßt sich nicht mehr aufspüren. Wohl läßt sich aber die historische Unmöglichkeit des Erzählten gerade an den Stellen nachweisen, welche die schärfsten Äußerungen überliefern: so beispielsweise im angeblichen Konflikt um den „Schwestern-Visitator" Philippus Longus, im 'Logion' über des „Teufels Schwestern" oder bei Kommentierungen des Aschenpredigt-Gestus (50-55, 77-78, 94-96). 16
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Interpretation der „Aschenpredigt" - erst durch den Hagiographen zum „clamoroso distacco" modelliert, biographisch aber in der „cautela" des Poverello vor realen Frauen begründet ( 7 7 - 7 8 ) - übersieht MANSELLI, Il gesto come predicazione (wie Anm. 12), 290-301. Die Studie deutet alle Elemente, die Dalarun nur aufzählt Asche, Kreis, Psalm, Schweigen - aus Franziskus' Leben und Umwelt. Asche erscheint als Zeichen der eigenen Demut und begegnet öfter in seinen letzten Jahren und im Kontext seines Sterbens. Mansellis fundierte Analyse schließt, ohne im Gestus eine „Angst vor der Frau" zu finden: „questa predica è, non un'umiliazione masochistica, ma un geDALARUNS
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Dalaruns höchst verdienstvolle Quellenanalysen und -vergleiche überzeugen durch ihre Sorgfalt und ihren weiten Horizont - der von Hieronymus bis Molière reichen kann. Zugleich reiben sie sich mit Blick auf Franziskus' Verhalten gegenüber realen Frauen und speziell Klara an vier Grenzen17: 1. Daß Franziskus Klara in seinen (erhalten gebliebenen) Schriften nie namentlich erwähnt, bedeutet noch lange nicht innere Distanz (23-24, 140). Da neben Gebeten nur Schriften an Brüder, Welt oder die „poverelle" als Gemeinschaft erhalten geblieben sind, baut die These letztlich auf ein argumentum ex silentio. Die in Quellen erwähnten, aber nicht überlieferten Schreiben an Klara könnten seine These explizit beweisen oder müßten sie auch widerlegen.18 2. Seltsam künstlich und lebensfern wirkt Dalaruns „akademische Trennung" zwischen Liebe zu und „Dienst an den Schwestern", der letztlich nur aus „Liebe zum Herrn" geschehe: Es gehe Franziskus um den Dominus, dem er die Schwestern als dominae beigeselle. Ob daraus eine emotionale Distanzierung zu lesen ist? (36-39, 99). Ob sich eine solche Diagnose halten läßt, wenn die Schwingungen des finn'amor im Titel dominae meae und der brüderlich-herzliche Ton in den drei überlieferten Schriften an San Damiano, insbesondere im 'Audite Poverelle', zusammengehört werden? 3. Der leise Vorwurf, Franziskus hätte kein spezifisches propositum fur Frauen entworfen, krankt am mehrfach bemühten „Vergleich" mit jener Welt, die Dalarun so lieb ist19: der Zeit der Ordensgründer im 11. und frühen 12.
sto di esemplarità, d'esortazione, d'amore: si ricordi in quale dolorose condizioni è ridotto il Francesco di questi anni!" (301). 17 Die Rezensionen in franziskanischen und historischen Fachzeitschriften zeigen sich eher zaghaft in kritischen Nachfragen: so Antonio CICERI, Revue d'histoire ecclésiastique 90 (1995), 533-535; DERS., AFH (= Archivum Franciscanum Historicum) 88 (1995), 323-324; Feiice ACCROCCA, CFr 65 (1995), 383-385; am kritischsten äußert sich David FLOOD, Vita Minorum 66 (1995), 379-381: „l'agire di Francesco [...] lo possiamo determinare ed esaminare bene. I sentimenti di Francesco, no", und ebenso im Schlußurteil: „il libro di Dalarun non rivela un grande interesse per la storia fondamentale del francescanesimo". 18 Vor Trugschlüssen aus der schmalen und zufällig überlieferten Quellenbasis wamt explizit Maria Pia ALBERZONI, La nascita di un'istituzione. L'Ordine di San Damiano nel XIII secolo, Mailand 1996, 43: „Accostare la spiritualità di Chiara o di Francesco sulla base di questi scritti considerati come entità a sé stanti sarebbe un'operazione pericolosa e addirittura fuorviante per una corretta spiegazione die rapporti tra Chiara e Francesco." 19 Vgl. Jacques DALARUN, Robert d'Arbrissel et les femmes, Annales. Economie, société, civilisation 39 (1984), 1140-1160; DERS., L'Impossible Sainteté. La vie retrouvée de Robert d'Arbrissel (v. 1045-1116), Paris 1985; DERS., Robert d'Arbrissel. Fondateur de Fontevraud, Paris 1986; deutsch: Erotik und Enthaltsamkeit. Das Kloster des Robert von Arbrissel (mit einem Vorwort von Georges DUBY), Frankfurt a.M. 1987; DERS., La
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Jahrhundert - speziell Roberts d'Arbrissel. Nun sind die Kirche, die feudale Welt und die Wälder der Bretagne um 1100 schwer zu vergleichen mit der kleinen, erwachenden Stadtrepublik Assisi nach 1200. Erstaunlicherweise übersieht Dalarun zeitlich und örtlich näher liegende Vergleichsmöglichkeiten: konkret die Art, wie Dominikus ab 1216 das Leben seiner Schwestern regelte, und vor allem, welche Forma vivendi Kardinal Hugolin von Ostia den mittelitalienischen Semireligiosen ab 1218 aufgedrängt hat.20 Franziskus erscheint im Vergleich zu ihnen keineswegs desinteressiert oder als einfallsloser, „timido piccolo borghese" (58). Anders als der aristokratische Kanoniker, der den Predigerorden gründete und seine Schwestern samt Priorin Brüdern unterstellte, oder der künftige Papst Gregor IX. in seinem Lebensmodell fur die pauperes dominae reclusae traut Franziskus Klaras Schwestern sehr viel mehr Freiheit und Selbstbestimmung zu: indem sie wie er - in krassem Gegensatz zu Hugolins kleinlichen Kontrollstrukturen - nichts als der perfectio Evangelii folgen und sich den Weg vom Dominus allein weisen lassen sollen. Die genial verdichtete Forma vivendi, in der Franziskus seinen Schwestern curam diligentem verspricht und sie zugleich als „Töchter des himmlischen Vaters, Angetraute des Heiligen Geistes" und Jüngerinnen Christi aufs engste mit seinem Herrn verbunden sieht, erweist ihre mutige Brisanz gerade ab 1218 im jahrzehntelangen Tauziehen, in dem Hugolins/Gregors IX. Ordenspolitik San Damiano vergebens zu vereinnahmen trachtete.21 Franziskus' 'Ultima Voluntas' wird Klara bis zur Bestätigung ihrer Regel nachklingen und selbst zum „unerschrockenen Widerstand" gegen Gregor IX. bestärken.22
parte del sogno. Funzionalità dei modelli femminili nell'opera di Ildeberto di Lavardin, (erscheint demnächst). 20 Vgl. zu ersteren: Luigi-Abele REDIGONDA, Domenicane, in: Dizionario degli Istituti di Perfezione, hg. v. Giancarlo ROCCA, Bd. 3, Roma 1973, 780-793. Der Historiker spricht von einer „direzione spirituale ed economica dei monasteri" durch die Brüder (785); vgl. Raymond CREYTENS, Costituzioni domenicane, ebd., 183-198, 191; zu Hugolins Konstitutionen: Text und Kurzkommentar in ZOPPETTI/BARTOLI, Chiara d'Assisi. Scritti e documenti (wie Anm. 9), 310-323; zur kurialen Schwesternpolitik bietet einen guten Überblick: ALBERZONI, La nascita di un'istituzione; und DIES., Papato e nuovi Ordini religiosi femminili, in: Il Papato Duecentesco e gli Ordini Mendicanti. Atti del X X V convegno internazionale, Assisi 13-14 febbraiol998, Spoleto 1998, 2 0 5 261. 21 Gut herausgearbeitet von Anton ROTZETTER, Klara von Assisi. Die erste franziskanische Frau, Basel/Freiburg/Wien 1993, 169-244: mit Blick auf das Ringen zwischen Klara, Agnes von Prag und Gregor IX. Einige der Quellen sind abgedruckt in ZoPPETTi/ BARTOLI, Chiara d'Assisi. Scritti e documenti (wie Anm. 9), Abschnitte 1, 6 und 7. Eingehender: Maria Pia ALBERZONI, Chiara e il papato, Milano 1995; DIES., La nascita (wie Anm. 20), 12-45. 22 Vgl. Franziskus' 'Ultima Voluntas': et custodite vos multum, ne doctrina vel Consilio alicuius ab ipsa [vita et paupertate altissimi Domini nostri Iesu Christi] in perpetuum
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4. Dalaruns Bemühen, Quellen im Vergleich der Epochen und Topoi zu lesen, übersieht zudem da und dort die Originalität einer Botschaft. Das Beispiel der Jacoba soll hier kurz angesprochen werden: Zweifellos verwenden die Biographen biblisches Kolorit - jenes der Magdalena - , um die „spezielle Liebe" des Heiligen zur römischen Witwe zu beschreiben. Die Erklärung, dieses Kolorit würde nur bemüht, um den alter Christus vorzubereiten, verkennt Details, die sich weder aus Schrift und Tradition ableiten lassen noch ins gängige Bild des Heiligen von Assisi passen: greifbare Farbspuren einer zärtlich-ganzheitlichen Freundschaft 23 . Einzig zwei Quellen - LegPer und III Cel - wagen die Geschichte der Witwe Jacoba mit ihren realen und originellen, vielleicht auch anstößigen Farben anzudeuten: daß Franziskus in Rom bei ihr „zu weilen pflegte", sie ihn mit Süßigkeiten verwöhnte, er sich nun auch sterbend noch nach ihrer Nähe und ihren Mandelkuchen sehnte, sie seinem Brief zuvorkam, worauf Franziskus sich bei ihrem Erscheinen in der Portiunkula so erholte, daß die Brüder meinten, er überlebe die Krise noch einmal. Bemerkenswert ist auch die Aussage des Briefes, sie (nicht die Brüder) solle seinen Leib nach dem Tod einwickeln. 24 Celano fugt die nächtliche Szene mit Frate Elia an, der Jacoba den toten Franziskus mit der Aufforderung in die Arme legt, quem dilexisti vivum, teneas et defunctum! (III Cel 39). Das sind konkrete Spuren einer Freundschaft, die zwei Biographen nach dem Tod (1239) der „vollendet tugendhaften Frau" - und biblisch wattiert - zu überliefern wagten. Was sich von einer Witwe gerade noch berichten ließ, wäre in Klaras Fall bei der verzwickten Cura-Frage ordenspolitisch über 1260 hinaus nicht opportun gewesen. Daß Quellen ab 1230 aus ordenspolitischen Gründen einige Episoden schwesternfeindlich zuspitzen, hat Dalaruns Studie zur Genüge belegt. Daß sie positive Erinnerungen zu Franz und Klara aus demselben Motiv verschweigen können, hat sein Urteil ex silentio zu wenig bedacht.
ullatenus recedatis, mit LegCl 14 und 2 EpAgn 17-18, wo Klara schreibt: Niemand darf die perfectio der Schwestern behindern und verlangen quod vocationi divinae contrarium videatur, etsi debeas venerari, noli tarnen eius consilium imitari, - sed pauperem Christum, virgo pauper, amplectere! 23 Vgl. Optatus VAN ASSELDONK, Affetto, amicizia, in: DF ( 2 1995), 1-23, speziell: 17-19. Die Spekulationen von DALARUN übersehen die Farben vertrauter Freundschaft und bleiben beim Ausdruck frater noster hängen. Dieser bezieht sich klar auf die Klausurfrage, soll der domina Jacoba (!) die Türen öfifhen und strebt gewiß kein „rovesciamento dei sessi" an (106-107: erneut mit Zurückschweifen bis in die monastische Landschaft des französischen 10. Jahrhunderts). 24 Kajetan ESSER, Die Opuscula des hl. Franziskus von Assisi. Neue textkritische Edition, Grottaferrata 1976, 456, gibt den Text der Actus wieder: Et porta tecum pannum cilicium in quo corpus meum involvas.
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5. Margaret Carney: nahe Beziehung von Gleichen Zeitgleich zu Dalarun untersuchte Margaret Carney die gemeinsame Geschichte Klaras und Franziskus' im Spiegel der verfugbaren Quellen.25 Ihre Erkenntnisse urteilen wesentlich vorsichtiger. Während der französische Mediävist Franziskus' Frauenbild und -beziehungen in eine reiche Tradition einordnet und vergleichend beurteilt, forscht die Amerikanerin im klaren Bewußtsein, daß beide Heiligen in einer neuartigen „Situation wirtschaftlichen, sozialen und religiösen Aufbruchs" handelten (11). Klara habe dabei „als Schülerin, Freundin und Mitarbeiterin" des Poverello dessen evangelisches Ideal mit neuen Lebensformen urbaner Frauengemeinschaften und gesunden Elementen der monastischen Tradition verbunden, um einen neuen Orden in der Kirche aufzubauen (16). Eine überaus aufmerksame Interpretation der vielfaltigen Quellenbasis schließt mit folgenden Beobachtungen: -
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Die Beziehung zwischen Franz und Klara verbindet Gleiche: Klara genießt schon vor ihrer ersten Begegnung mit dem Poverello den Ruf einer heiligmäßigen Büßerin. Beide tragen die Verantwortung für ihre jeweilige Gemeinschaft unabhängig voneinander, wenn auch ihre gemeinsame Berufung sie verbindet. Das relative Schweigen der Quellen zu den Jahren 1213-1224 hindert uns heute ernstlich, ihre gemeinsamen Bemühungen in jener Zeit näher zu bewerten. Die anfangliche evangelische Freiheit im Leben von Brüdern und Schwestern weicht allmählich dem Mühen um Disziplin, kirchliche Anerkennung und entsprechende strukturelle Anpassungen. Letztere bringen stufenweise eine physische Trennung mit sich (Klausurregeln, Mißbräuche von Seiten der Brüder). Franziskus zeigt sich bis an sein Ende überzeugt, Schwestern und Brüder hätten die gleiche Berufung. Bis zu seinem Tod steht er in Sorge darum mit Klaras Schwestern in Kommunikation. Monastische Literatur des 12. Jahrhunderts und Symbole der Troubadoure dienen dazu, die Beziehung zwischen Franz und Klara zu beschreiben: affettività plasmata da una castità evangelica. Die gemeinsame Geschichte von Franziskus und Klara läßt sich ohne deren Beziehung zu Christus nicht verstehen.
Von Dalarun unterscheidet sich die Amerikanerin in einer Reihe von Erkenntnissen. So nimmt sie etwa die Schwestern-Prophetie des Franziskus von 1207 25 Margaret CARNEY, The First Franciscan Women. Clare of Assisi and Her Form of Life; italienisch: Chiara d'Assisi. La prima donna francescana e la sua forma di vita, Rom 1994. Die Verweise beziehen sich auf die italienische Version.
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weit ernster (24-27) 26 : Diese habe Franziskus für das Suchen und die kühnen Pläne Klaras offen gemacht. Carney erkennt dann auch, daß Franziskus Klaras Konversion den gleichen Weg weist wie Bernardo da Quintavalle drei Jahre zuvor (31 ). Nach ihrer Einkleidung in Portiunkula halten die Brüder sich auffallend zurück (34-35), bis Klara über zwei Stationen nach San Damiano findet. Auch wenn die Quellen dann sehr spärlich über Klaras Beziehung zum Poverello berichten, lassen sich eine Reihe von Hinweisen auf eine intensive Verbundenheit und Kommunikation finden (36-40). Franziskus verläßt sich in einer existentiellen Lebensentscheidung auf Klaras Urteil, in dem er den Willen Gottes für sich erkennt (!), er sendet ihr Kandidatinnen, sucht und erringt mit ihr Wege zur kirchlichen Anerkennung oder sendet auch gelegentlich einen Bruder zur Heilung nach San Damiano; Klara betet mit Gebetstexten des Poverello, erfährt seine besorgten Interventionen gegen ihre ungesunde Askese und setzt seine Predigten mit Herz und Händen um (illustriert am Beispiel der Webarbeiten). Weitere Entwicklungsschritte beider Gemeinschaften sind undenkbar ohne intensiven Austausch zwischen Klara und Franziskus: Hugolins Einsatz für Frauengemeinschaften und - spätestens ab 1220 - sein Druck auf San Damiano, gegen den der Poverello Klara gewiß nicht erst mit der 'Ultima voluntas' den Rücken stärkt27; Einführung des Noviziats 1220, Erarbeitung der Regel 1221-1223. Subtil und scharfsinnig wertet Carney dann scheinbar schwesternfeindliche Regelaussagen und Biographentexte im Licht interner Probleme des Brüderordens: der Wachstumskrise ab 1220, dem Fehl verhalten einiger Brüder gegenüber Frauen, das nach disziplinarischen Normen ruft, der pastoralen Belastung mit der cura anderer Frauenklöster - und schließlich Celanos Bemühen, im neuen Franziskusbild ein stilisiertes Verhaltensmodell für die Brüder der Vierzigerjahre zu entwerfen (40-45). Treffender als Dalarun formuliert die Forscherin das Dilemma Celanos im Jahre 1247. Sie anerkennt dabei neben einer mahnend-frauenfeindlichen Botschaft auch seine mutige Art, Franziskus' Liebe und Treue zu Klaras Gemeinschaft in Erinnerung zu rufen, was Thomas (II Cel 204) mit dem Logion des unus atque idem spiritus, der fratres
26 Beurteilt DALARUN, Francesco: un passaggio (wie Anm. 1), 75, sie bloß als narrativen Kunstgriff und „ornamento leggendario", erkennt CARNEY das Insistieren Celanos auf der Vision, ohne aber ihre ordenspolitische Brisanz zur Zeit der schriftlichen Verbreitung herauszuarbeiten. Zum geschichtlichen Kontext: Nikiaus KÜSTER, Thomas von Celano und Klaras Armut in San Damiano, WiWei 59 (1996), 47-79, 54-60; DERS., Armutsprivileg und Testament (wie Anm. 6), 25-29. 27 FELD, Franziskus und seine Bewegung (wie Anm. 13), 417, der eine „Inklaustrierung Einsperrung - Klaras durch Franziskus [...] in Etappen" vertritt, wiederholt seine These kühn, ohne die versprochene „eingehendere Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Fachliteratur" zu wagen oder sich um eine überprüfbare Argumentation zu bemühen: vgl. DERS., Die Eingeschlossene von San Damiano. 800 Jahre Klara von Assisi 1193-1993, Tübingen 1993, 8, 45.
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et dominas illas pauperculas leite, unüberhörbar bekräftigt (41^4). Carneys kritische Quelleninterpretation unterstreicht mit Blick auf Franziskus' letzte Lebensjahre, was Dalarun unterschätzt: Farben der Freundschaft zwischen Franziskus und Klara, die sich in den wenigen erhaltenen Schriften widerspiegeln: „il Cantico delle creature, col suo meraviglioso gioco di simbolismo maschile e femminile" - der in San Damiano entstand, wo der kranke Poverello über das Zusammenspiel von Schwestern und Brüdern hinaus Klaras sorgende Nähe erfuhr. 28 Noch deutlicher spricht seine Verbundenheit zu den Schwestern aus dem Ermutigungslied 'Audite Poverelle', das gleichzeitig entstand, und sie dauert bis zu den letzten Tagen seines Lebens29, wie die 'Ultima voluntas' zeigt. In diesen Quellen, nicht in den asketisch zugespitzten Blütenlesen späterer Biographen, spricht „la preziosa testimonianza della profondità del legame che esisteva alla fine tra Francesco e i suoi compagni e Chiara e le sue compagne" (46-47). Daß Klara sich in einer Vision schließlich an der Brust des Poverello trinken sehen kann, erklärt auch Carney mit einem Erfahrungshintergrund, der über Franziskus' „most feminine piety"30 und die reine Spiritualität hinaus in der Realität ihrer Beziehung gründet: „un rapporto sia pubblico che personale, caratterizzato da una profonda unità interiore" (53). Carneys Interpretation sucht Quellen weniger in einen weiten Traditionskontext einzuordnen und vielmehr aus dem Lebenskontext der Verfasserin und der Verfasser zu verstehen. Sie deutet das Verhältnis Franziskus-Klara ganzheitlicher und um einiges positiver als Dalarun. Dadurch, daß sie keine verfänglichen Vergleiche mit Ordensgründern anderer Epochen zieht, keine akademischen Trennungen zwischen Spiritualität und Leben vornimmt, die Texte noch sorgfaltiger in ihrer Geschichte befragt und auch mit dem Schweigen der Quellen sensibel umgeht, kommt sie zu Einzel- und Gesamtwertungen, die durch ihre Vorsicht überzeugen. In einem Punkt täuscht Carney sich jedoch offensichtlich. Er betrifft den Konflikt zwischen dem Schwesternvisitator Philippus Longus und Franziskus 28 Zur Struktur des Liedes auf eine Schöpfung, die Franziskus im intensiven Zusammenspiel der männlichen und weiblichen Elemente besingt: Leonhard LEHMANN, Franziskus - Meister des Gebets. Kommentar zu den Gebeten des hl. Franz von Assisi, Werl 1989,250-251.
29 Engelbert GRAU, Verba exhortationis „Audite poverelle" des hl. Franziskus, Franziskanische Studien 72 (1990), 47-69; sowie: Oktavian SCHMUCKI, L'„Audite Poverelle". II canto d'esortazione di san Francesco alle Povere Dame di San Damiano, in: In spiritu et veritate. Miscellanea di studi offerti al P. Anselmo Mattioli in occasione del suo 81° anno di età, a cura di Isidoro VOLPI, Roma 1995, 621-650. Zur „perdita incolmabile" weiterer Schreiben für die Schwestern: Chiara Augusta LAINATI, Introduzione, in: Fonti Francescane. Scritti e biografie di san Francesco d'Assisi - Cronache e altre testimonianze del primo secolo francescano - Scritti e biografie di santa Chiara d'Assisi, ed. Biblioteca francescana di Milano, Padova 4 1990,2235-2240. 30 So DALARUN mit Caroline WALKER BYNUM, Feast and Holy Fast. The Religious Significance of Food to Medieval Women, Berkeley/Los Angeles/London 1987,105.
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um 1220, der auch sein Verhältnis zu Klara erschüttert haben müsse (40): Roberto Rusconi hat die historische Unmöglichkeit der Erzählung nachgewiesen und als Rückprojektion späterer politischer Probleme in die Zeit des Franziskus dargelegt.31 Carney folgend haben andere Autoren, von den beiden diesbezüglich problematischen Quellen - Thomas von Pavia und Jordan von Giano - ermutigt, kühne Spekulationen über eine ernste Krise und Entfremdung zwischen Franziskus und Klara in der Zeit um 1220 entfaltet.32 Der heutige Wissensstand über die erhaltenen Texte läßt solche Hypothesen nicht zu. Ebenso wenig werden Dalaruns Gewißheit einer „asymmetrischen Beziehung" oder idealisierte Bilder einer unzertrennlichen Freundschaft der Quellenlage gerecht.
Zusammenfassende Erkenntnisse Um Franziskus' Haltung „realen Frauen" gegenüber angesichts der Quellenlage verantwortungsvoll beurteilen zu können, sind folgende Unterscheidungen unabdingbar: 1. Authentische Äußerungen des Heiligen an oder über San Damiano sind nicht zu vermischen mit Regelaussagen und angeblichen Logien: -
über Schwesterngemeinschaften im allgemeinen oder unbestimmter Art (ordenspolitische und -disziplinare Probleme!); an oder über konkrete, namentlich bekannte Frauen; über die Frau und Frauen allgemein.
Die wenigen Zitate, die aus Schreiben des Franziskus an die Schwestern Klaras erhalten sind, unterstreichen die gemeinsame Inspiration und sprechen mit Farben des finn 'amor innere Verbundenheit von Poverello und Poverelle aus. Letztere werden als dominae meae aufs engste mit dem Dominus verbunden und erfahren bis zum Lebensende Franziskus' „liebende Sorge". Allgemein gehaltene Äußerungen in der Regel zu Schwesternklöstern verstehen sich angesichts des geltenden kirchlichen Rechts wie auch der neuen Regelungen Hugolins und schöpfen dabei aus der monastischen Tradition. Sie sind mit Blick auf Mißbräuche in der Wachstumskrise des Ordens zu sehen. Dasselbe gilt für die Vorsichtsmaßnahmen zum Umgang mit Frauen. Rückschlüsse von allgemeinen Aussagen auf Franziskus' reale 31 Roberto RUSCONI, L'espansione del francescanesimo femminile nel tredicesimo secolo, in: Movimento religiose femminile e francescanesimo nel secolo XIII. Atti del VII Convegno intemazionale, Assisi 11-13 ottobre 1979, Assisi 1980, 269, 279-284. 32 So etwa ROTZETTER, Klara von Assisi (wie Anm. 21), 160-169.
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Beziehung zu San Damiano sind unzulässig, wenn der Poverello ab 1221 als lebendes exemplum auch unweigerlich in ein Dilemma gerät. Franziskus selbst nennt in den erhaltenen Schriften keine reale Frau mit Namen. 2. Die Aufgabe späterer Biographen, einer neuen Generation Verhaltensregeln am Vorbild des Franziskus narrativ zu vermitteln wie auch ordenspolitischen Zielen ihrer eigenen Epoche zu dienen, fuhrt zu ungeschichtlichen Projektionen in die Zeit des Heiligen. Stammen die Äußerungen nicht aus den authentischen Schriften des Heiligen, sind sie also von Zeugen oder Biographen Jahre und Jahrzehnte nach seinem Tod in einen neuen Kontext hinein gesprochen, -
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verschiebt sich der Quellenwert in neue ordenspolitische Konstellationen der entsprechenden Epoche und auf die persönliche Mentalität des Zeugen; lassen sich ursprünglicher Wortlaut und Kontext meist nur schwer rekonstruieren.
3. Auch mit dem Schweigen der Quellen und der Textüberlieferung ist vorsichtig umzugehen. Daß Franziskus in den erhaltenen Schriften keine konkrete Frau mit Namen nennt, schließt intensive Beziehungen nicht aus. Thomas von Celano erweist sich etwa im Fall Jacobas als Zeuge, der eine zärtliche Freundschaft des Poverello durchscheinen läßt. Was sein Wundertraktat spät erst und nur durch biblische Kolorierung hindurch zu erzählen wagt, paßt schlecht ins geläufige Bild des Heiligen und überrascht im ganzheitlichen Ausdruck. Näheres von Franziskus' „Liebe zu Klara"33 zu berichten, ist nach 1227 aus ordenspolitischen Gründen nicht opportun gewesen.
33
So Bruder Stefan von Narni, vgl. lat. Originaltext bei Livarius Öliger, 383: adsolam beatam Ciaram videbatur affectum habere.
A F H 12 (1919),
ANTON
ROTZETTER
Franziskus und Klara Anmerkungen zu einem befremdenden Ritual des heiligen Franz (II Cel 207)
Mein Mitbruder Nikiaus Küster hat vorausgehend einige moderne Deutungsversuche zum Verhältnis zwischen Franziskus und Klara kritisch beleuchtet. Mit meiner Studie möchte ich auf seiner Grundlage einen einzelnen Text aus der zweiten Lebensbeschreibung des Thomas von Celano auslegen. In diesem Text nämlich konzentriert sich die Freundschaft der beiden Heiligen. Je nachdem, mit welchem der skizzierten Ansätze der Text gelesen wird, wird die Deutung unterschiedlich ausfallen.
1. Vorbemerkungen 1.1. Der historische Sachverhalt Um den Text des Thomas von Celano verstehen zu können, muß auf den historischen Sachverhalt verwiesen werden, den Nikiaus Küster skizziert hat. Ich wiederhole und ergänze: Zwischen Franziskus und Klara entwickelt sich ab 1209 eine gegenseitige geistige Verbundenheit, die alle Charakteristika einer guten Freundschaft aufweist. Vorher hatten sowohl Franziskus als auch Klara unabhängig voneinander den Weg der poenitentia gefunden. Zur ersten Begegnung kommt es, wenn wir der Zeugenaussage der leiblichen Schwester Klaras, Beatrice, Glauben schenken wollen, aufgrund einer Initiative des Franziskus. 1 Darauf folgen einige geheime Treffen, die schließlich - wenn wir den Endpunkt eines längeren Prozesses ins Auge fassen - zur Lebensform der „Poverelle" von San Damiano führen. Die vorhandenen Quellen zeichnen in genügender Weise auch emotionale Aspekte dieses gegenseitig verlebendigenden Verhältnisses. Diesbezügliche Mißdeutungen entstehen entweder aus einer unhistorisch anachronistischen Bewertung von Quellentexten oder gar aus einem ideologischen Vorurteil. Ein solches Vorurteil besteht zum Beispiel 1
Anton ROTZETTER, Klara von Assisi. Die erste franziskanische Frau, Freiburg 2 1994, 67-71; freilich sind sich die Quellen diesbezüglich nicht eins.
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in der Meinung, daß sich ein Gottliebender notwendig von menschlicher Liebe und entsprechenden Empfindungen entfernen müsse und daß Franziskus für eine Erwiderung der liebenden Verbundenheit Klaras unfähig geworden sei.2 Auf der anderen Seite heißt es nicht, daß die Beziehung der beiden nicht auch ihre Belastungsproben gehabt hätte. Ich persönlich vertrete die These, daß eine solche möglicherweise im Zusammenhang mit der Einbindung der Poverelle von San Damiano in den größeren monastischen Verband des „Ordens der Armen Damen vom Spoletotal", wie ihr „Gründer" Kardinal Hugolin sie nennt3, steht. Doch ist das nicht mehr als eine These, die gewisse „Überreaktionen" des heiligen Franz, wie sie in bestimmten Quellen überliefert werden, erklären will. Allerdings lassen sich diese vielleicht auch genügend plausibel interpretieren als Rückprojektionen des gestörten Verhältnisses, wie wir es fur die Vierzigerjahre des 13. Jahrhunderts zwischen den Minderbrüdern und den Schwestern von San Damiano feststellen müssen. In einigen Fällen läßt sich das sogar nachweisen, wie Nikiaus Küster mit Hinweis auf Roberto Rusconi gezeigt hat. Eine andere Belastungsprobe mag, wie ich meine, auch in der bedrohlichen Erfahrung der sexuellen Potenz, in den sogenannten „Versuchungen" liegen, die Franziskus - isoliert oder im Blick auf konkrete Frauen sei dahin gestellt! - immer wieder zu bestehen hatte.4 Diese Versuchungen sind im übrigen auch ein kräftiger Beweis gegen die von einigen angenommene Unfähigkeit zu menschlichen Liebesbezügen. Franziskus war nicht derart entrückt, daß er seine leibhafte Existenz mit all ihren Möglichkeiten nicht mehr spürte. Was aber auch immer an Belastungs- und Konfliktpotentialen aufgezeigt werden mag, es ändert nichts an der Tatsache, daß Franziskus bis zu seinem Tod Klara und ihren Schwestern emotional und spirituell verbunden bleiben wollte - eine Verbundenheit, die er sogar über seinen Tod hinaus als bleibende Verpflichtung zur Geltung brachte. Klara ihrerseits trug diese Verbundenheit über die Jahrzehnte hinweg in sich. Ihr Testament, ihre Regel, ihre Briefe, ihr Segen beweisen es auf vielfältige Weise. Vor allem ist die berühmte Traumvision zu beachten, in der Franziskus Klara seine Brust darbietet. Mit welchen Mitteln wir diese Vision auch immer deuten, mit der freudschen Analyse oder mit Hilfe des mystischen Bildmaterials, sie zeigt auf jeden Fall eine seltene Innigkeit und Intimität der Beziehung Klaras zu Franziskus. Ich selbst habe den zweiten Weg eingeschlagen und habe den Traum mit Hilfe des Bildmaterials aus der mystischen Literatur als Sterbevision5 gedeutet.
2 3 4 5
Helmut FELD, Die Eingeschlossene von San Damiano. 800 Jahre Klara von Assisi, Tübingen 1993,43 ff. ROTZETTER, Klara (wie Anm. 1), 147-169. Ebd., 167. Ebd., 311-316.
Franziskus und Klara
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1.2. Legenden Die historische Freundschaft zwischen Franziskus und Klara wurde schon früh zum Gegenstand poetischer Phantasie. Die Legenden, die über diese Freundschaft erzählt werden, bewegen sich auf einer anderen Ebene der Wahrheit. Sie verdichten die komplexe Geschichte auf eine einfache Schönheit hin: So kann und soll Freundschaft sein. Diese Texte sind in einem anderen Sinne historisch: Sie bringen in einer bestimmten Zeit die Sehnsucht der Menschen nach einer gelungenen Freundschaft zum Ausdruck. Sie haben darüber hinaus eine transhistorische Bedeutung und lassen sich mit den Mitteln tiefenpsychologischer Methoden adäquater interpretieren als mit der historisch-kritischen Methode. Ich selbst habe einen diesbezüglichen Versuch6 vorgelegt, der für viele Hilfe und Wegleitung geworden ist. Auch hier entsteht ein durchaus einheitliches Bild einer Freundschaft zweier Menschen, die sich gegenseitig zu mystischen Tiefen hinreißen. Freilich: Es ist wichtig, die beiden Ebenen des Erzählens und die ihnen zugeordneten Deutungsmethoden auseinanderzuhalten. Die tiefenpsychologische Methode bleibt innerhalb des erzählten Textes und kümmert sich nicht um die Text- und Redaktionsgeschichte. Sie erreicht also nur dann die Psyche des heiligen Franz oder der heiligen Klara, wenn der erzählte Text auch wirklich einen historischen Vorgang berichtet, und das ohne übergestülpte Lehrabsichten des Autors oder einer bestimmten Zeit. Darum wäre es wichtig, der tiefenpsychologischen Betrachtungsweise jeweils eine historisch-kritische Untersuchung vorauszuschicken, wenn es sich um Texte handelt, die ein historisches Faktum zu berichten beanspruchen.
2. Das Aschenritual Von solcher Art ist nun das befremdende Aschenritual.
2.1. Der Text „Als der heilige Vater bei S. Damiano weilte, ließ er sich auf häufiges drängendes Bitten des Vikars hin, endlich durch sein Ungestüm besiegt, dazu bewegen, seinen Töchtern das Wort Gottes zu verkünden. Die Frauen versammelten sich nach Gewohnheit, das Wort Gottes zu hören, aber nicht weniger auch, um den Vater zu Gesicht zu bekommen; dieser aber erhob die Augen zum Himmel, wo er immer sein Herz hatte, und 6
Anton ROTZETTER, Klara und Franziskus. Bilder einer Freundschaft, Freiburg/Schweiz 1994.
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begann, zu Christus zu beten. Hierauf ließ er sich Asche bringen, streute davon um sich im Kreise auf den Boden, den Rest legte er auf sein Haupt. Da die Frauen in gespannter Erwartung auf den seligen Vater sahen, wie er innerhalb des Aschenkreises schweigend verharrte, entstand in ihrem Herzen nicht geringe Verwunderung. Plötzlich richtete sich der Heilige empor und zu ihrer Verblüffung betete er den Psalm Miserere mei Deus, statt eine Predigt zu halten. Als er ihn beendet hatte, machte er sich schnell davon. Ob dieses eindrucksvollen Beispiels waren die Dienerinnen Gottes von solcher Zerknirschung erfüllt, daß sie ihrem Tränenstrom freien Lauf ließen und sich harter Selbstzüchtigung kaum enthalten konnten. Durch sein Tun lehrte er sie, sich für Asche zu halten, und daß seinem Herzen kein Gedanke an sie nahen dürfe, der nicht dieser Einschätzung angemessen wäre. Das war sein Umgang mit den heiligen Frauen. Das war sein Besuch, sehr nutzbringend für sie, jedoch erzwungen und selten. Das war sein Wille für alle Brüder: ihnen um Christi Willen, dem sie dienen, daß sie immer auf der Hut sind wie Vögel vor den gelegten Schlingen." (II Cel 207)
2.2.
Spontanreaktionen
Wie notwendig das Auseinanderhalten der historisch-kritischen und der tiefenpsychologischen Methode ist, zeigen etwa die Spontanreaktionen auf den Text, die letztlich tiefenpsychologisch begründet sind. Wer etwa als Erwachsenenbildner den Text ohne Einführung und Situierung zur Diskussion stellt, wird den heftigsten Reaktionen gegenüberstehen. Besonders Frauen sehen im Verhalten des heiligen Franz ein typisch männliches, ja machohaftes und darum letztlich unverzeihliches Verhalten, das die Gefühle der Frau mit Füßen tritt. Immer nur Abgrenzung, Zurückweisung, wo es um Nähe und Beziehung geht! So beweise das Ritual letztlich eben doch die Unfähigkeit des Mannes beziehungsweise des Franziskus, der Frau ungehemmt, ganzheitlich, vorbehaltlos zu begegnen, eine typisch männliche Liebesunfahigkeit letztlich, welche sich die Frau immer nur unterordnet, sie für die eigenen Machtinteressen mißbraucht und sie immer allein läßt oder an den Rand drängt, wo sie dem Streben des Mannes im Weg steht. Unzählige Verwundungen, die sich in der weiblichen Seele festgesetzt haben, brechen da auf. Und die analytische Tiefenpsychologie könnte diese Spontanreaktionen noch weiter vertiefen und auch bei II Cel 207 selbst heraus- beziehungsweise hineinlesen. Auch Männer werden in das Konzert der Spontanreaktionen einstimmen, bestätigend zum Teil, verneinend zum anderen Teil - und schon sind wir in den heftigsten Diskussionen über das grundsätzliche Verhältnis der Geschlechter, über die Möglichkeit und Unmöglichkeit von Freundschaft, über Gelingen und Mißlingen von heterosexuellen Beziehungen. In einer dieser Bildungsveranstaltungen, bei denen ich diesen Text zur Diskussion stellte, wagte ein Mann eine gegensätzliche Äußerung: Die Schwestern hätten den Franziskus halt auf das Podest gestellt, verehrt, bewundert, angebetet, als Guru betrachtet, dessen Wort und Weisung absolute Gel-
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tung hätte. Mit dem Aschenritual wolle Franziskus im Grunde nichts anderes sagen als dies: „Liebe Schwestern, ich bin doch nichts Besonderes, ich bin doch auch nur ein Mensch, hinfallig, laßt mich doch vom Podest heruntersteigen und euer Bruder sein, nicht euer Meister." Auch dies hat, wie leicht einzusehen ist, tiefenpsychologische Hintergründe. Auch darauf kann sich das Gespräch einlassen. Es ginge dann um die stets vorhandene Versuchung, vor allem auch der Frau gegenüber dem Mann, gewisse Persönlichkeiten durch Heiligsprechung, Hochachtung, Verehrung usw. in die Isolation zu treiben. So verstanden wäre das Ritual ein Schrei des Franziskus nach echter Beziehung und Begegnung. Es dürfte unterdessen klar geworden sein, welche Kraft von Texten ausgeht und welche Chancen in tiefenpsychologischen Betrachtungen tatsächlich liegen. Nur: Das alles bleibt innerhalb des Textes beziehungsweise innerhalb der Gesprächssituation der Leserinnen und Leser, sagt aber noch lange nichts aus über das, was mehr als 20 beziehungsweise 750 Jahre früher in San Damiano wirklich vorgefallen ist.
2.3. Historische Einordnung Was war das Aschenritual wirklich? Die Antwort auf diese Frage kann uns nur die historisch-kritische Methode geben. Sie stellt die Frage, wie weit der Bericht wirklich einem historischen Vorgang entspricht und mit welchen Tendenzen dieser weiter erzählt wird. Erst wenn der Vorgang selbst zweifelsfrei feststeht, kann eine psychoanalytische Betrachtungsweise wieder Wesentliches zum Verständnis beitragen. Zur historischen Rekonstruktion7 sind folgende Feststellungen wichtig: -
Thomas von Celano ist in dem Sinne Autor seines zweiten Werkes zur Biographie des heiligen Franz, als er vor allem ihm vorliegende Erinnerungen anderer redigiert und seinem theologischen Konzept bzw. den Interessen des Minderbrüderordens der Vierzigerjahre des 13. Jahrhunderts einoder unterordnet. Im Jahre 1244 hatte ja Crescentius von Jesi vom Generalkapitel in Genua aus aufgefordert, die noch vorhandenen Erinnerungen schriftlich festzuhalten. Viele dieser Erinnerungen sind auch außerhalb des celanesischen Werkes heute noch faßbar, so daß wir Einblick gewinnen in die Art und Weise, wie Thomas von Celano dieses Material verändert. Zum Beispiel heißt es in II Cel 195: „Einem Laienbruder, der ein Psalterium haben wollte und von ihm die Erlaubnis erbat, gab er Asche statt des Psalteriums." Hier wird eine Geschichte, die allein schon wegen des
7
Für das Folgende vor allem: Raoul MANSELLI, Il gesto come predicazione per San Francesco d'Assisi, in: Collectanea Franciscana 51 (1981), 5-16; jetzt in: DERS., Francesco e i suoi compagni, Rom 1995, 287-301.
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Aschenmotivs für die Deutung unseres Aschenrituals von Bedeutung ist, wie wir noch sehen werden, von den Interessen der Vierzigerjahre her gelesen. Denn der an Crescentius von Jesi abgelieferte Text handelte von einem Novizen, nicht aber von einem Laienbruder, der ja nach RegNB 3,8, sofern er lesen konnte, durchaus einen legitimen Anspruch auf ein Psalterium hatte. Die von Thomas erzählte Geschichte ist also so, wie sie erzählt wird, historisch falsch. Thomas „verfälscht" die Geschichte, indem er statt von einem Novizen, der noch kein Psalterium zu haben braucht, von einem Laienbruder erzählt. In der Zeit, in der Thomas lebte, bekam die Umdeutung einen klar erkennbaren Sinn: Der Anspruch der Laienbrüder wurde zurückgewiesen. Nachdem mit der Absetzung des Laien Elias als Generalminister (1239) die Kleriker im Minderbrüderorden den Sieg über die Laienbrüder davongetragen hatten, brauchte es Geschichten, die diese Entwicklung vom Ursprung her legitimierten. Ähnliches ist von vornherein auch bezüglich des Verhältnisses der Minderbrüder zu den Schwestern zu erwarten. Thomas von Celano mußte das distanzierte Verhältnis, das die Minderbrüder der Vierzigerjahre zu den Schwestern hatten, in die Person des Franziskus selbst zurückprojizieren. Diese Tendenz kann allgemein festgestellt werden, so eindeutig auch im Kommentar, mit dem Thomas das Aschenritual versieht: „Durch sein Tun lehrte er sie, sich für Asche zu halten, und daß seinem Herzen kein Gedanke an sie nahen dürfe, der nicht dieser Einschätzung angemessen wäre. Das war sein Umgang mit den heiligen Frauen. Das war sein Besuch, sehr nutzbringend für sie, jedoch erzwungen und selten. Das war sein Wille für alle Brüder: ihnen um Christi willen, dem sie dienen, so zu dienen, daß sie immer auf der Hut sind wie Vögel vor den gelegten Schlingen" (II Cel 207).
-
Dieser Kommentar spiegelt eindeutig die Einstellung der Brüder in den Vierzigerjahren, sagt aber nichts über das tatsächliche Verhältnis von Franziskus und Klara selbst aus. Gleichzeitig jedoch tritt Thomas von Celano für das Recht der Schwestern ein. Er macht sozusagen einen unmöglichen Spagat zwischen Ordensinteressen und historischen Gegebenheiten. II Cel 207 zählt zu jenen Texteinheiten, deren Herkunft bei den Schwestern von San Damiano, wahrscheinlich sogar bei Klara selbst, zu suchen ist. Dazu gehört auch II Cel 13, der Text, in dem die ekstatische Vision des Franziskus von 1205/6 berichtet wird. Demnach spricht er auf Französisch von den Schwestern, die zukünftig in San Damiano wohnen werden. Ein solcher Text muß schon deshalb historisch sein, weil er erstens den Interessen des Ordens in den Vierzigerjahren völlig zuwiderlief und zweitens durch Klara, die damals noch lebte, bestritten beziehungsweise bestätigt werden konnte. Klara hat ihn in ihrem Testament dann ja auch ausdrücklich bestätigt. Der Text stellt sozusagen das „Erstgeburtsrecht" der Schwestern dar, mehr noch die Perspektive von San Damiano, und Thomas bringt
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sie gegen die Interessen seines Ordens ins Spiel. Das beweist, daß er nicht als Geschichtsfälscher betrachtet werden darf. Das gilt nun auch fur das Aschenritual: Es muß aus der weiblichen Sicht von San Damiano interpretiert werden, schon deshalb, weil es die Schwestern waren, die es ursprünglich berichteten. Von einem Affront, den sie durch das Aschenritual erfahren haben sollen, wie es eine unhistorische Betrachtungsweise suggeriert, ist nirgendwo die Rede. Die Schwestern berichten vielmehr von ihrer Sehnsucht, Franz von Assisi in leibhafter Gestalt sehen und erleben zu wollen, und dann vom Erlebnis, das ihnen zuteil wurde und das unvergeßlich und unauslöschlich in ihr Herz eingeschrieben blieb. Beides wird situiert in die Zeit nach 1221, dem Jahr, in dem Bruder Elias der Vikar des Franziskus wurde. Wahrscheinlicher aber ist eine Zeit, die näher beim Todesdatum des Heiligen liegt. Franziskus wird, wie die Schwestern weiter berichten, von Bruder Elias gedrängt, der sich als ihr Anwalt begreift. Diese Anwaltschaft des Bruders Elias blieb bis 1238 bestehen, wie der zweite Brief Klaras an Agnes von Prag (15 f.) bestätigt, ja, sie überdauerte sogar seine Absetzung im Jahre 1239. Denn er ging danach - bis 1253! - bei den Schwestern von Cortona ein und aus und wurde deswegen 8 exkommuniziert. Daß er in II Cel 207 den Namen verliert und auch sonst eher negativ qualifiziert wird, gehört zur inzwischen negativen Gesamtbeurteilung des Ordens. Daß die Besuche des heiligen Franz in San Damiano selten geworden waren, hatte - historisch gesehen - nichts mit der, wie man behauptet, letztlich frauenfeindlichen Einstellung des Franziskus beziehungsweise seiner Unfähigkeit zu echter Freundschaft zu tun, sondern vielmehr mit der Tatsache, daß ihn sein Krankheitszustand mehr und mehr dazu zwang, Ortsveränderungen zu unterlassen. Die historische Tatsache der selten gewordenen Begegnungen zwischen Klara und Franziskus wird erst aus der Sicht der Vierzigeijahre in einen frauenfeindlichen Kontext gerückt - und dies aus dem klar erkennbaren Interesse heraus, die inzwischen fur notwendig gehaltene Abgrenzung zu den Schwestern historisch zu legitimieren. -
Wir dürfen also mit gutem Recht annehmen, daß das Aschenritual ursprünglich keine frauenfeindliche Motivation enthielt. Es ist festzuhalten, daß Franziskus die Asche auch sonst immer wieder zu rituellen Handlungen benutzt hat: Er vermischte seine Speise mit Asche (I Cel 51). In Todesnähe ließ er ein Zilizium „mit Asche bestreuen, da er ja bald Staub und Asche werden sollte" (I Cel 110). In Greccio wollte er seine Brüder belehren, daß Gottes Menschwerdung zur Erdnähe (humilitas) verpflichtet, in-
8
Thomas von Eccleston, Bericht von der Ankunft der Minderbrüder in England, Kap. 13, in: Franziskanische Quellenschriften 6, 183. - Andere Quellen, die aber gegenüber Eccleston weniger gewichtig sind, begründen die Exkommunikation mit der Beziehung, die Bruder Elias zu Friedrich II. pflegte: Fioretti 38.
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dem er sich auf den Boden setzte, seinen Teller in die Asche stellte und sagte: „Jetzt sitze ich zu Tisch wie ein Minderbruder" (II Cel 61). In einem Gleichnis ließ er einmal einen Weisen im Bußsack, das Haupt mit Asche bestreut, auftreten, um die wahre Weisheit ansichtig zu machen (II Cel 191). Die bereits früher genannte Stelle, in der Franziskus einem Laienbruder Asche statt eines Psalteriums gibt (II Cel 195), reduziert den Bericht, der an Crescentius von Jesi geschickt wurde, auf einen einzigen Satz. Der ursprüngliche Text lautet dagegen wie folgt: „Einmal saß Franziskus beim Feuer, um sich zu wärmen. Da kam der Novize (der schon früher den Franziskus diesbezüglich bedrängt hatte: AR) nochmals, um um ein Psalterium zu bitten. Franziskus sagte ihm: 'Wenn du einmal ein Psalterium hast, wirst du auch ein Brevier begehren und haben wollen; und wenn du das Brevier hast, wirst du dich wie ein großer Chef auf den Lehrstuhl setzen und deinem Bruder sagen: Bring mir das Brevier!' Und wie er das sagte, griff er mit großer Leidenschaft in die Asche und streute eine Handvoll davon auf seinen Kopf. Dabei führte er die Hand kreisend um den Kopf - so wie einer, der sich den Kopf wäscht. Und dabei sagte er: 'Ich - das Brevier! Ich - das Brevier! ' Und mehrere Male wiederholte er das Kreisen mit der Hand um seinen Kopf. Der Bruder war verblüfft und beschämt." (LP 104).
-
Wir finden hier die gleichen rituellen Elemente: die Asche, das Motiv des Kreises, der Wille, etwas eher durch einen Gestus als mit Worten zu sagen, ein Faktum, das wesentlich mit der psychischen Struktur des Franziskus9 zu tun hat: Er muß sich selbst symbolisch, rituell erleben und offenbaren, und auch seine Predigten sind immer zugleich Inszenierungen. Das einzige, womit sich dieses Aschenritual von demjenigen bei den Schwestern in San Damiano unterscheidet, ist das Faktum, daß Franziskus eigene Worte spricht. Doch was bedeuten diese Worte eigentlich? Sie sind so knapp, daß sie jede Menge Interpretationsmöglichkeiten offen lassen; und dies ist nochmals ein Kennzeichen rituellen Handelns. Das Aschenritual von San Damiano wird übrigens zusammen mit anderen Textabschnitten des Thomas von Celano mit kleinen Abweichungen nur noch von den 'Verba S. Conradi' 10 berichtet, nicht aber von anderen Quellen. Auch Bonaventura, der sich sonst doch wesentlich auf Thomas von Celano stützt, nimmt diese Perikope nicht auf. Die Gründe, die möglicherweise dahinter stehen, darzulegen, ist hier nicht der Ort, so lohnend ein diesbezügliches Nachdenken auch sein könnte.
Halten wir fest: Das Aschenritual in San Damiano ist Teil eines durchgängigen Dranges des heiligen Franz, sich rituell mit dem Symbol der Asche zu 9
Zum Ganzen vgl. Anton ROTZETTER, Poesie und Ritual als Elemente der franziskanischen Spiritualität, in: Franz von Assisi. Erinnerung und Leidenschaft, hg. v. Anton ROTZETTER, Freiburg 1989, 147-164. 10 Opuscule de Critique Historique I, Paris 1903, 391-392.
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verbinden. Es steht aber in keinem Zusammenhang mit frauenfeindlichen Motiven. Die Bestandteile dieses Rituals sind: der klassische Bußpsalm Miserere mei Deus aus dem Alten Testament, ein Psalm, der in der liturgischen und aszetischen Praxis bis in die jüngste Zeit hinein eine gewichtige Rolle spielte; das Symbol der Asche, mit dem schon im AT durchgehend Hinfälligkeit, Todesnähe und darin die Anerkennung Gottes zum Ausdruck gebracht wurde und das wie auch der Bußpsalm in die liturgische Praxis der Kirche aufgenommen wurde; schließlich der Kreis, der in der Volksfrömmigkeit und in der Magie beheimatet ist. Geometrische Figuren sind als magische Zeichen in vielen Naturvölkern vorhanden. „In der Geschlossenheit und damit auch Abgeschlossenheit liegt das Hauptcharakteristikum des magischen Kreises. Die Kreislinie bewirkt eine Trennung des Kreisinnern von der Umgebung, eine Zweiteilung des Raumes in ein 'Drinnen' und 'Draußen', wobei das 'Drinnen', der von der Kreislinie umschlossene Raum, eine eigene Macht- und Wirkungssphäre bildet, was für abergläubische Handlungen in verschiedener Weise ausgenützt wird."11
2.4. Aussagekraft und tiefenpsychologische Bedeutung des Aschenrituals Nachdem nun das Aschenritual unter seinem historischen Aspekt rekonstruiert ist, kann nach der Aussagekraft und der tiefenpsychologischen Bedeutung des Rituals gefragt werden. Folgende Elemente müssen hervorgehoben werden: -
Franziskus kommt dem Bedürfnis der Schwestern nach einer leibhaften Begegnung entgegen und „befriedigt" es auf eine Weise, die letztlich viel tiefer geht als das Wort. Er setzt ein leibhaftes Symbol, ein Ritual, das auf einer viel grundsätzlicheren Ebene Kommunikation ist. Man fühlt sich an Fioretti 35, an die legendäre Begegnung zwischen Bruder Ägidius und König Ludwig IX., erinnert, in der ein grundsätzlicher Pessimismus gegenüber den Möglichkeiten der Sprache zum Ausdruck kommt. Die beiden Heiligen tauschen kein einziges Wort miteinander aus, sondern setzen die viel größeren Möglichkeiten der Umarmung dagegen. Auf das Unverständnis der Brüder antwortet Ägidius: „Liebste Brüder, wundert euch nicht. Weder er noch ich konnten auch nur ein Wort sagen. Als wir uns umarmten, erhellte uns das Licht der göttlichen Weisheit, und es offenbarte mir sein Herz und ihm meines. Und so sahen wir durch göttliche Einwirkung in die Herzen und erkannten, was wir einander sagen wollten, viel besser und waren mehr getröstet, als wenn wir mit dem Mund gesprochen hätten. Hätten wir mit der Stimme erklären wollen, was wir in unserem Herzen fühlten, wir hätten mit
11 Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 5, hg. v. Hanns Berlin/New York 1987, 463.
BÄCHTOLD-STÄUBLI,
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der hilflosen menschlichen Sprache die verborgenen Geheimnisse Gottes nicht klar ausdrücken können. Diese Rede hätte mehr zu Mißverständnissen als zum Trost geführt. Wißt also, daß der König wunderbar getröstet wegging." 12
Auch Franziskus gibt den Schwestern mehr als mißverständliche Worte, er gibt sehr viel von sich selbst preis. Er vollzieht einen Selbstoffenbarungsgestus, in dem sich die Schwestern wie in einem Spiegel wiedererkennen können. Solche Rituale, sofern sie nicht ritualistisch, also geistentleert und oberflächlich, sondern als leibhafter Ausdruck des Inneren ganz präsent vollzogen beziehungsweise nachempfunden werden, sind Handlungen intensivster Kommunikation. Die Schwestern sind auf diese Weise in ein kommunikatives Geschehen hineingezogen worden, das man sich kaum dichter vorstellen kann. Eine Umarmung war das zwar gewiß nicht, doch ist das rituelle Handeln des Franziskus in seiner Wirkung mit einer Umarmung durchaus vergleichbar, wenn es sie nicht sogar überbietet. Die Schwestern haben Franziskus wirklich „zu Gesicht bekommen", wie es ja auch ihr Wunsch gewesen war. Dieses Gesicht des Franziskus bewahrten sie mehr als zwanzig Jahre lang als lebendige Erinnerung im Herzen. Ihr Bericht, den Thomas von Celano 1246 in seine Biographie aufnahm, läßt immer noch etwas von der Erschütterung und der existenziellen Betroffenheit erkennen, die sie damals ergriff und bleibend prägte. -
Der Offenbarungsgestus des Franziskus ist wesentlich durch die Asche bestimmt, ein allgemein menschliches und leicht verstehbares natürliches Symbol. Asche ist der anorganische Rückstand bei der Verbrennung von organischen Stoffen, das Endprodukt eines Verbrennungsprozesses, zur Erhaltung des Feuers bedeutungslos geworden, etwas, was man nicht mehr brauchen kann und wegwirft. Während der Niederschrift dieses Referates ist mir ein Seneca-Zitat begegnet: „Wir werden angezündet und erlöschen wieder: in der Zwischenzeit müssen wir etwas leiden, vorher und nachher ist tiefe Geborgenheit."13 Abgesehen von der pessimistischen Betrachtung des Lebens führt dieses Wort geradlinig zum Motiv „Asche". Es ist leicht nachvollziehbar, wenn „Asche" in der Bibel mit „Staub" eine Symboleinheit eingeht (vgl. Gen 18,27; Jes 44,20; Hiob 30,19; Sir 10,9; 40,3). Beides bedeutet letztlich Hinfälligkeit, Vergänglichkeit, Nichtigkeit, Wertlosigkeit. Staub ist, wie ebenfalls allgemein verständlich ist, soviel wie: bedeutungslos, unerwünscht, leichte Beute des Windes, der ihn verweht. Wenn Franziskus immer wieder zur Asche greift, um sich selbst und anderen die
12 Die Blümlein des Franz von Assisi. Deutsche Übersetzung von Raimondo KOCH, München 1988, 138Í; Ägidius von Assisi. Die Weisheit des Einfachen. Ausgewählt, übersetzt, kommentiert und eingeleitet von Anton ROTZETTER U. Elisabeth HUG, Zürich 1980,40 f. 13 Ohne genaue Angaben zitiert: Hamburg Ballett, Requiem, Ballett von Neumeier, o. J., 18.
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eigene Nichtigkeit und Hinfälligkeit bewußt zu machen, so zeigt sich darin ein lebenslanges Bemühen, sich vom Tod her zu verstehen und auf den Tod hin zu leben. Dies wird bestätigt durch die sogenannte Modellpredigt14, die Franziskus allen Brüdem zur kreativen Nachahmung empfahl. Es gibt für ihn keine Predigt, die nicht die Unmittelbarkeit des Todes erwähnen müßte, und keinen Ruf zur Umkehr, der nicht in der Unausweichlichkeit des Todes begründet wäre. Diese Überzeugung setzt Franziskus nun durch viele Aschenrituale auch in kommunikative Symbolhandlungen. Dieses Bedürfnis, sich vom Tod her zu begreifen, verstärkt sich begreiflicherweise umso mehr, je intensiver ihm Krankheit und Schwäche den unmittelbar bevorstehenden Tod anzeigen. Franziskus offenbart sich in San Damiano - nach 1221! - als einer, dessen Zukunftsmöglichkeiten klein geworden sind, als jemand, der weiß, daß er sich nicht mehr selbst und in eigener Kraft verwirklichen kann. Er ist bereits jetzt Staub und Asche, der „Verbrennungsvorgang" neigt sich dem Ende zu, vielleicht gibt es noch das eine oder andere glühende Teilchen in ihm, aber die Zeit ist absehbar, wo das Feuer erlischt. Bald wird er nicht mehr sein, vom Winde verweht. Für die Schwestern, die so sehr an seiner leibhaften Gestalt hängen, ist es eine Art Präventionstherapie. Sie sollen sich vielmehr jetzt schon daran gewöhnen, daß diese Gestalt bald einmal nicht mehr da sein wird. Aber indem das Ritual vollzogen wird, wird gerade diese leibhafte Gestalt in das Erinnerungsvermögen der Schwestern eingeprägt. Sie werden ihn in den inneren Welten noch sehen können, wenn er schon lange nicht mehr unter ihnen weilt. So traurig die Botschaft ist, so tröstend wirkt das Ritual über den leibhaften Tod hinaus.15 Das aber wird den Schwestern erst allmählich aufgehen. Vorläufig sind sie Zeuginnen eines „Offenbarungsgeschehens", das ihnen die Nichtigkeit des menschlichen Daseins und den bevorstehenden Tod des Franziskus anzeigt. -
Auf der Wortebene wird das Ritual einer bloß negativen beziehungsweise pessimistischen Deutungsmöglichkeit entrissen. Es gehört zu den wesentlichen Einsichten des christlichen rituellen Verhaltens, daß das Symbol durch das Wort „geheiligt" (BrKust 1,2) wird, wie Franziskus selbst im Falle der Eucharistie sagt. Beim Aschenritual übernimmt diese heiligende und gleichzeitig deutende Funktion der klassische Bußpsalm (Ps 51). Indem Franziskus diesen Psalm rezitiert, wirft er seine Nichtigkeit und seine zur Neige gehende Existenz auf Gott. Franziskus weiß, daß Gott in seinem Erbarmen, seiner Zuwendung und seiner schöpferischen Kraft so groß ist, daß er seine Nichtigkeit und seine Hinfälligkeit zu einer wahren und bleibenden Existenz fuhren kann. Gott soll gnädig sein, sein reiches Erbarmen
14 Vgl. Anton ROTZETTER, Wunderbar seid ihr geschaffen. Wie Franziskus den Tieren predigt, Freiburg i. Br. 1998, 74 ff. 15 Vgl. dazu: Paul SABATIER, Vie de S. François d'Assise, Paris 1931, 210.
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zur Geltung bringen, die Schuld abwaschen. Er soll Richter sein und ihn „entsündigen", ja sogar neu erschaffen. „Sättige mich mit Entzücken und Freude! Jubeln sollen die Glieder, die du zerschlagen hast [...] Erschaffe mir, Gott, ein reines Herz, und gib mir einen neuen, beständigen Geist! Verwirf mich nicht von deinem Angesicht, und nimm deinen heiligen Geist nicht von mir! Mach mich wieder froh mit deinem Heil; mit einem willigen Geist rüste mich aus! [...] Herr, öffne mir die Lippen, und mein Mund wird deinen Ruhm verkünden" (Ps 51,10 ff.). Das alles weist über eine Existenz hinaus, die sich durch Staub und Asche allein definieren ließe. Der Blick auf Gott läßt noch ganz andere Dimensionen und Perspektiven erstehen. Und so kristallisiert sich ein Paradox heraus: Je nichtiger der Mensch mit dem Blick auf sich selber ist, umso lebendiger wird er durch seine Verwiesenheit auf Gott. Die leibhafte Gestalt, welche die Schwestern zu Gesicht bekommen, enthält also das ganze Paradox des Christentums: die Hoheit in der Niedrigkeit, das Leben im Tod, die Auferstehung aus der Asche. -
Die beiden biblischen Bezüge, das Symbol der Asche und der Psalm 51, sind nun noch einmal eingebettet in einen Kreis von Asche, mit dem sich Franziskus umgibt. Was will Franziskus mit seinem Aschenkreis sagen? Will er sich von den Schwestern abgrenzen? Will er die Versuchung bannen, die von den Frauen, die ihm zuschauen, ausgeht? Die Schwestern haben das, wie wir mit guten Gründen annehmen dürfen, nicht so empfunden, erst die Vierzigerjahre des 13. Jahrhunderts werden aus ihren Interessen heraus einen solchen Zusammenhang herstellen. Eine andere Deutung drängt sich auf, wenn man mittelalterliche Kreisrituale näher betrachtet: Mit dem Aschenkreis grenzt Franziskus einen Raum ein, in dem sich die göttliche Auferstehungsmacht konzentriert. Keine dämonische Gewalt wird sich die Asche, die er ist, aneignen können. Es sind nicht die Schwestern, denen gegenüber er sich abgrenzen will, sondern die Heere des Dämonischen. Nach mittelalterlicher Auffassung ist die Seele gerade in den letzten Augenblicken des irdischen Lebens beziehungsweise in den Zwischenräumen zwischen dem Diesseits und dem Jenseits besonders gefährdet. Als Beweis für den Glauben, daß die Dämonen in den letzten Augenblicken des Lebens alle Kräfte mobilisieren, um den Sterbenden dem Himmel zu entreißen, ließen sich unter anderem kunsthistorische Dokumente anfuhren, etwa die Fassade von San Pietro bei Spoleto16 und als Gegenbild dazu das Giottobild 17 „Tod des heiligen Franziskus", in dem die Engel - gemäß dem Gebet In paradisum deducant angeli18 - die Seele des
16 Spoleto: Chiesa di San Pietro. 40 Tavole con didascalie, Spoleto 1989. 17 Elvio LUNGHI, Die Franziskus-Kirche in Assisi, Florenz 1996, 88. 18 A. ADAM, Te deum laudamus. Große Gebete der Kirche. Lateinisch-Deutsch, Freiburg i.Br. 1987, 200.
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Heiligen in den Himmel führen - und das bezeichnenderweise in einem kreisförmigen Schutzraum. Der Aschenkreis ist als „magische Grenze" zu begreifen, „die selbst die stärksten Mächte nicht zu überschreiten vermögen" 19 . Diese Funktion des Kreises könnte vielfach aus den Praktiken abergläubischen Verhaltens belegt werden. 20 Für die Schwestern muß der magische Kreis verstärkend gewirkt haben: Franziskus, den sie in seiner leibhaften Gestalt so sehnlichst zu sehen wünschten, erschien als jemand, der von der Asche völlig umgeben war, nur noch Asche war, aber Asche, die ganz und gar in die Auferstehungsmacht Jesu Christi eingegangen war und sich vor den dämonischen Mächten sicher wußte.
Zusammenfassung Ich hoffe, daß meine Darlegungen gezeigt haben, wie fruchtbar das richtige Zueinander der historisch-kritischen und der tiefenpsychologischen Betrachtungsweise sein kann. Auf jeden Fall wird so deutlich, daß das befremdende Aschenritual in keiner Weise eine verletzende Distanzierung zwischen Franziskus und den Schwestern darstellt. Das Gegenteil ist der Fall: Es handelt sich in Wirklichkeit um einen Höhepunkt der geistlichen Kommunikation, die zwischen Franziskus und Klara besteht, um ein Ritual, mit dem Franziskus den Schwestern alles sagt, was er noch sagen kann, um eine leibhafte Vergegenwärtigung, die in Franziskus selbst und in den Schwestern die tiefsten Emotionen hervorruft und hin- und herfließen läßt.
19 BÄCHTHOLD-STÄUBLI, Handwörterbuch (wie Anm. 11), 468.
20 Vgl. ebd.
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Agnes von Prag und Klara von Assisi - Na Frantisku und San Damiano* János Bäk septuagenario I. Am 12. November 1989 hat Papst Johannes Paul II. Agnes von Prag, die Tochter König Przemysl Ottokars I. von Böhmen, zur Ehre der Altäre erhoben. Damit schloß er ein Verfahren ab, das seit dem 14. Jahrhundert anhängig war. Bereits 1327/1328 hatten Königin Elisabeth von Böhmen, die Stadträte der Prager Neustadt sowie andere böhmische Notabein, Prälaten und Ordensobere den ersten Antrag auf Heiligsprechung gestellt, dem im Laufe des 14. Jahrhunderts weitere folgten, die jedoch allesamt aus Gründen, die bisher noch nicht eindeutig geklärt werden konnten, ohne Ergebnis blieben. Nachdem die Bemühungen im 15. Jahrhundert zum Erliegen gekommen waren, wurden sie 1679 wieder aufgenommen. Trotz intensiver Vorbereitung blieb auch diesmal der erhoffte Erfolg aus. Erst 1874 kam man mit der von Pius IX. vorgenommenen Seligsprechung dem angestrebten Ziel näher. Dennoch bedurfte es noch weiterer zwischen 1927 und 1982 unternommener Anstrengungen des Ordens der Kreuzherren mit dem Roten Stern, des Generalkapitels der Minoriten sowie der Prager Erzbischöfe Kaspar, Beran und Tomásek, bis sich Johannes Paul II., als das Ende der sozialistischen Herrschaft unmittelbar bevorstand, entschloß, die schon bald nach ihrem Tode als Heilige verehrte Prinzessin und Ordensfrau zu kanonisieren. Jede der vielen Bemühungen war mit der Suche nach den wenigen noch erhaltenen Reliquien, dem Sammeln von *
Der vorliegende Text geht auf einen ungedruckt gebliebenen Vortrag über „Chiara e Agnese. Assisi e Praga" zurück, der 1992 auf dem von der Società Internazionale di Studi Francescani in Assisi veranstalteten Convegno über „Chiara di Assisi" gehalten wurde. Er war danach Grundlage eines am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin veranstalteten Seminars über „Agnes von Prag, die Prager Franziskaner und Kreuzherren", von dem neben einer Reihe bemerkenswerter, jedoch ungedruckt gebliebener Referate, Staats- und Magisterarbeiten die Beiträge von Chr.-F. FELSKAU, Vita religiosa und paupertas der heiligen Agnes von Prag. Zu Bezügen und Besonderheiten in Leben und Legende einer späten Heiligen, Collectanea Franciscana 70 (2000), 413-484, und Andreas RÜTHER, Between International Horizon and Regional Boundary: the Bohemian Crosiers of the Red Star in Silesia, in: Jürgen SARNOWSKY, Mendicants, Military Orders and Regionalism in Medieval Europe, Aldershot 1999, 103-114, angeregt wurden. Auf sie wird für nach 1998, dem Jahr des Abschlusses des vorliegenden Textes, erschienene Literatur zu dem behandelten Thema verwiesen.
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B e w e i s e n für die Heiligkeit der Prinzessin und der Bereitstellung von Argumenten für die Notwendigkeit ihrer Heiligsprechung verbunden. Es versteht sich von selbst, daß diese Argumente nicht erst im letzten Stadium des Verfahrens, sondern auch in den vorhergehenden Stadien den Anliegen der Antragsteller und den jeweiligen historischen Umständen entsprachen und damit zu einer zeit- und interessengebundenen Stilisierung der Ordensfrau, ihres Lebens und Wirkens führten. 1 Trotz aller Bemühungen, v o n denen diejenigen der Prager Jesuiten Johannes Tanner und Georg Krüger besonders bemerkenswert sind 2 , gelang es nicht, die Quellenbasis wesentlich zu erweitern. N e b e n Annalen und Chroniken 3 , Urkunden und Privilegien 4 sind es die nach dem Tode der Prinzessin 1
Über Agnes von Prag und ihre Kanonisation: Blahoslavená Anezka Premyslovna. Sbornik jubilejni, hg. v. Anton SORM, Prag 1932; J. K. VYSKOCIL, Blahoslavená Anezka Ceská, Prag 1933; J. VOTOCKOVÁ-JOACHIMOVÁ, Anezka Premyslovna (Postavy Ceské minûlosti 2), Praha 1940; Maria FASSBINDER, Die selige Agnes von Prag. Eine königliche Klarissin, Werl 1957; J. BERAN, Blahoslavená Anezka Ceská, Rim 1974; Jaroslav NËMEC, Agnese di Praga. In appendice la prima traduzione italiana della più antica legenda latina della beata di Mauro Donnini, Assisi 1987; DERS., Agnese di Boemia. La vita, il culto, la „Legenda" (Ricerche francescane 7), Padova 1987; Sacra Congregatio pro Causis Sanctorum. Officium historicum canonisationis beatae Agnetis de Bohemia virginis ordinis s. Ciarae fundatricis monasterii S. Francisci Pragae (12111282): Positio super virtutibus ex officio concinnata, Romae 1987; J. MIKULKA, Anezka Premyslovna, Praha 1988; Jaroslav POLC, Agnes von Böhmen 1211-1282. Königstochter - Äbtissin - Heilige. Mit Beiträgen von Barbara SASSE und Ales ZELENKA (Lebensbilder zur Geschichte der Böhmischen Länder 6), München 1989 (deutsche Fassung von: J. POLC, Svetice Anezka Premyslovna, Praha 1988); Gerald JAKSCHE, Die selige Agnes von Prag, München 1989; A. SANNA, S. Agnese di Boema dell'Ordine di Santa Chiara (1211-1282). Profilo biografico a cura della Postulazione generale dei Frati Minori Conventuali, Roma 1989; P. PLTHA, Agnes of Prague. A New Bohemian Saint, Franziskanische Studien 72 (1990), 325-340; Alfonso MARINI, Agnese di Boemia. Con la collaborazione di Paola UNGARELLI (Bibliotheca Seraphico-Capuccina 38), Roma 1991; A. SKBOVÁ, Agnes von Böhmen. Eine Premyslidenprinzessin als Verfechterin einer neuen Spiritualität, in: Fürstinnen und Städterinnen. Frauen im Mittelalter, hg. v. G e r a l d BEYREUTHER, B . PÄTZOLD, E . UITZ, F r e i b u r g / B a s e l / W i e n 1 9 9 3 , 4 0 - 6 4 ; M . VAN
DE WALLE, Agnes van Bohemen een krachtige vrouw in het voetspoer van Clara van Assisi, Franciscaans Leven 77 (1994), 151-158; A. MARINI, Chiara di Assisi e Agnese di Boemia, Atti del convegno di studi, Anagni 30 gennaio 1994, Assisi 1994, 55-62. 2 3
Acta Sanctorum Martii I, Antwerpiae 1668, 509-532. Annales Stadenses auctore Alberto (Monumenta Germaniae Histórica SS XVI), hg. v. I. M . LAPPENBERG, H a n n o v e r 1 8 5 8 , 3 6 2 - 3 6 3 . V g l . a u c h : B a r t h o l o m a e u s d e PISA, D e c o n -
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formitate vitae beati Francisci ad vitam Domini Jesu (Analecta Franciscana IV), Quaracchi 1906, 357-358; Nicolaus GLASSBERGER, Chronica Ordinis Minorum Observantium (Analecta Franciscana II), Quaracchi 1937, 56-60. Vor allem: Codex diplomaticus et epistolaris Regni Bohemiae (= CDB) II, hg. v. Gus t a v FRIEDRICH, P r a g a e 1 9 1 2 ; DERS./Z. KRISTEN, C D B III, 2 , P r a g a e 1962; J. SEBÁNEK/S. BUSKOVÁ, C D B I V , 1, P r a g a e 1 9 6 2 ; DIES., C D B V , 1, P r a g a e 1974; DIES.,
CDB V, 2, Pragae 1981; DIES., CDB V, 3, Pragae 1982.
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entstandene 'Vita Agnetis' und vier nach allgemeiner Ansicht zwischen 1234 und 1253 von Klara von Assisi an sie gerichtete Briefe, auf die sich alle diejenigen stützen, die sich mit Agnes beschäftigen.5 Die Vita und die Briefe verweisen auf die hohe Abkunft der Przemyslidin, die auf alle Ehren dieser Welt verzichtete, um Braut Christi werden zu können. Sie sind aber vor allem dadurch gekennzeichnet, daß sie ihre Francescanità, ihre Nähe zu Franz, Klara und dem Franziskanertum, betonen und mit Nachdruck auf den Anteil hinweisen, den sie an der Etablierung der Klarissen in Mittel- und Ostmitteleuropa hatte. Der Verfasser der 'Vita inclite virginis sororis Agnetis ordinis Sánete Clare de Praga filie regis Bohemie Premisslii alias vero Ottakari', ein sonst nicht bekannter Franziskaner, der auf Bitten der Prager Klarissen und auf Anordnung seines Provinzials das Leben der Heiligen beschrieb, betont ihre Zugehörigkeit zum Klarissenorden und den franziskanischen Charakter ihrer Spiritualität. Die stilistischen Vorbilder des inier minores minimus ac vilissimus servorum Dei waren die Vita Klaras von Thomas von Celano und die Franziskusvita Bonaventuras. Für ihn und die sich auf seine Vita stützenden lateinischen, deutschen und tschechischen Legenden und Viten6 war Agnes von der Geburt - ihre Mutter sah die Ungeborene in einer Vision bereits im grauen Gewand einer Klarissin - bis zu ihrem Tode - an Stelle des angeblich wegen anderer Geschäfte verhinderten Prager Bischofs Tobias von Bechynë nahm der Generalminister der Franziskaner, Bonagrazia di S. Giovanni in Persiche5
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Jan K. VYSKOÒIL, Legenda blahoslavené Anezky a etyri listy sv. Kláry. Kriticky rozbov textovy i vëcny legendy a etyr listù s nejstaräim (pûvodnim) textem milánského rukopisu, Prag 1932 (= Legenda); DERS., Blahoslavená Anezka ceska. Kulturni obraz svëtice XIII. stoleti, Prag 1933. Die neueren Ausgaben und Übersetzungen der Briefe Klaras gehen auf diese Edition zurück. Im folgenden werden sie zitiert nach: Chiara d'Assisi. Scritti. Introduzione, Testo latino, Traduzione, Note e Indici (Collana Studi e Testi LIEF), hg. Ν. M. F. BECKER u.a., Vicenza 1986, der italienischen Version der 1985 als Bd. 325 der Sources Chrétien in Paris erschienenen Edition. Auf die Bedeutung der Briefe als Quelle für Leben und Spiritualität der hl. Klara verweisen u.a.: E. MENESTÒ, Sante e beate umbre tra le XIII e le XIV secolo, in: Catalogo della mostra iconografica, Foligno 1986, 62-68; Werner MALECZEK, Das „Privilegium paupertatis" Innozenz' III. und das Testament der Klara von Assisi. Überlegungen zur Frage ihrer Echtheit (Bibliotheca Seraphico-Capuccina 47), Rom 1995, 7-13. Überlieferung, Bearbeitungen und Übersetzungen: Walter W. SETON, Some New Sources for the Life of Blessed Agnes of Prag, AFH (= Archivum Franciscanum Historicum) 7 (1914), 185-197; DERS., Some New Sources for the Life of Blessed Agnes of Bohemia Including a Fourteenth Century Latin Version and a Fifteenth Century German Version of Her Life (British Society of Franciscan Studies VIII), Aberdeen 1915; K. STOSIC, Nas stari rukopis O bl. Janji iz Praha, Bogoslovska smotra 18 (1930), 226229; F. PECHUSJA, Dosud neznámy rukopis o bl. Anezce Ν Sibeniku, Casopis katolíckého duchovenstva 72 (1931), 430-432; K. RUH, Agnes von Böhmen (von Prag), in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon I (1978), 82-84 (Hinweise auf weitere Fassungen und Übersetzungen).
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to, ihre Exequien vor - eine plantula S. Clare, wie er sie in Abwandlung der bekannten Charakterisierung des Verhältnisses von Franziskus und Klara nennt.7 Was fur die Vita gilt, trifft in noch größerem Maße fur die Briefe zu. Auch wenn Klara Agnes zunächst nicht ausdrücklich als eine der Ihrigen bezeichnet, sie vielmehr mit Wendungen wie filia inter omnes alias specialis anredet, wird im Laufe der Korrespondenz immer deutlicher, daß sie sich mit ihr im Geiste der beata, sancta et pia paupertas, die sie nach dem Vorbild des Poverello zu leben bestrebt war, verbunden fühlte.8 Die Vita des Prager Minoriten und die Briefe Klaras sind in ihrer ältesten Fassung in einem aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts stammenden, in Böhmen geschriebenen und auf bisher unbekannte Weise nach Mailand gelangten Codex der Biblioteca Ambrosiana, auf den 1896 der damalige Präfekt und spätere Papst Pius XI., Achille Ratti, aufmerksam gemacht hat, überliefert.9 Während kein Anlaß besteht, an der Echtheit der zur Unterstützung des ersten Antrags auf Heiligsprechung verfaßten Vita und der ihr folgenden Mirakelsammlung zu zweifeln, sind Zweifel an der Authentizität der Briefe angebracht, die in erster Linie darauf zurückzufuhren sind, daß sie lediglich durch eine erst spät einsetzende und auf Böhmen, Bayern und Franken beschränkte handschriftliche Überlieferung auf uns gekommen sind und von der Korrespondenz, die Agnes mit Klara führte, keine Spur mehr erhalten geblieben ist. Da Klaras Briefe von einem erstaunlich hohen, alle ihre anderen Schriften an literarischer Qualität übertreffenden und im Laufe von fast zwei Jahrzehnten unverändert beibehaltenen stilistischen Niveau sind10, gehen auch Autoren, die von ihrer Authentizität überzeugt sind, von einer Bearbeitung bzw. Überarbeitung aus, von der sie jedoch nicht sagen können, von wem, zu welchen Zeiten, mit welcher Absicht und in welchem Ausmaß sie vorgenommen wurde11: Feststellungen, die die Frage nach den kirchen- und ordenspoli7 8
Vita, 102, 108, 123, 124, 125. Briefe, 122. Vgl. M. SCHLOSSER, Madre - Sorella - Sposa nella spiritualità di Santa Chiara, in: Chiara. Francescanesimo al femminile, hg. v. D. Covi/D. Dozzi, Rom 1992, 67-101. 9 A. RATTI, Un codice pragense a Milano con testo inedito della vita di S. Agnese di Praga, in: Rendiconti del Reale Istituto Lombardo di Scienze e Lettere II, 29 (1896), 392-396; Walter W. SETON, The Letters from Saint Clare to Blessed Agnes of Bohemia, AFH 17 (1924), 509-519. 10 Über die literarische Qualität der Briefe u.a.: F. RAURELL, La Lettura del 'Cantico dei cantici' al tempo di Chiara e la IV lettera ad Agnese di Praga, in: Chiara (wie Anm. 8), hg. v. Covi/Dozzi, 188-289; E. VAN DEN GOORBERGH, Ein lobwürdiger Tausch. Eine Strukturanalyse des ersten Briefes der heiligen Klara von Assisi an die heilige Agnes von Prag anhand der Tauschmetapher, Wissenschaft und Weisheit 57 (1994), 79-97. 11 Zur Echtheit, Datierung und Abfolge der Korrespondenz: Walter W. SETON, The Letters from Saint Clare (wie Anm. 9), 509-519; M. FASSBINDER, Untersuchungen über die Quellen zum Leben der hl. Klara von Assisi, Franziskanische Studien 23 (1936), 296-335; L. BARABÁS, Le lettere di santa Chiara alla beata Agnese di Praga, in: Santa
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tischen Umständen, die zur Abfassung der Vita und zur Aufzeichnung der Briefe Klaras führten, aufwerfen 12 . Wie auch immer die Antwort ausfallen mag, sie sollte nicht daran hindern, schon jetzt Überlegungen darüber anzustellen, ob die vom Verfasser der Vita seinen Mitbrüdern Bartholomäus von Pisa und Nicolaus Glassberger sowie von der 1983 in Rom vorgelegten Positio vorgenommene Charakterisierung der Przemyslidin als Franziskanerin und ihrer Prager Klostergründung als „Böhmisches Assisi" uneingeschränkt zutrifft.
II. Auf die naheliegende Frage, durch wen Agnes mit dem Franziskanertum bekannt gemacht wurde und auf wessen Vermittlung ihre Verbindung mit Klara zustande kam, geben Quellen und Literatur keine eindeutige Antwort. Man kann nur vermuten, daß sie von den schon früh aus Umbrien über die Alpen nach Norden gekommenen Minoriten über Franziskus und Klara unterrichtet worden ist.13 Mit Sicherheit kann man jedoch davon ausgehen, daß es sich bei
Chiara d'Assisi. Studi e cronaca del VII centenario 1253-1953, Assisi 1954, 123-143; J. BERAN, Listy svaté Klary blahoslavené Anezce, in: Se znamením krize, RIM 1967, 95-101; Ch. A. LAINATI, Santa Chiara d'Assisi. Cenni biografici di S. Agnese d'Assisi e lettere di S. Chiara alla b. Agnese di Praga, Assisi 2 1969; P. CICCARELLI, Contributi alle recensione degli scritti di S. Chiara, Miscellanea Franciscana 79 (1979), 347-374; Engelbert GRAU, Die Schriften der hl. Klara und die Werke ihrer Biographen, in: Movimento femminile e Francescanesimo. Atti del VII Convegno di Studi della Società Internazionale di Studi Francescani 11-13 ottobre 1979, Assisi 1980, 195-238; A. MARINI, „Ancilla Christi, Plantula Sancti Francisci". Gli scritti di Santa Chiara e la regola, in: Chiara di Assisi. Atti del 20° Convegno Internazionale di Studi Assisi, 15-16-17 ottobre 1992, Spoleto 1993, 109-150.
12 Über die Heiligenverehrung und Heiligsprechung im Franziskanerorden: R. PACIOCCO, Papato e santi canonizzati degli ordini mendicanti, in: Il papato duecentesco e gli ordini mendicanti, Atti del XXV Convegno Internazionale Assisi, 13-14 febbraio 1998, Spoleto 1998, 265-339; über erfolglos gebliebene Kanonisationsbemühungen: André VAUCHEZ, La sainteté en Occident aux derniers siècles du moyen âge d'après les procès de canonisation et les documents hagiographiques (Bibliothèque des Ecoles françaises d'Athènes et de Rome 241), Rom 1981, 61-62. 13 Nach der Vita, 106, ließ sich Agnes nach der ersten Kontaktaufnahme mit Gregor IX. von Minoriten, zu denen sie sich besonders hingezogen fühlte, über die Regel der Klarissen unterrichten. Es bleibt offen, ob sie sich an die bereits seit der Mitte der zwanziger Jahre nach Prag gekommenen Minderbrüder wandte oder Verbindung mit den Franziskanern am Mittelrhein aufnahm, wie schon Bartholomäus von Pisa (wie Anm. 3) annahm. Vgl. Thomas BERGER, Die Bettelorden in der Erzdiözese Mainz und in den Diözesen Speyer und Worms im 13. Jahrhundert, Mainz 1995. Über die Franziskaner in
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der im folgenden Jahrzehnt zustande gekommenen Beziehung zwischen den beiden Frauen keineswegs nur um eine bloß private Angelegenheit handelte. Wir haben es vielmehr mit einem Vorgang von hoher politischer Bedeutung zu tun, der von Papst Gregor IX. gefördert, wenn nicht gar angeregt wurde. Es kann dahingestellt bleiben, ob er, wie es die Vita will, damit begann, daß sich Agnes per honestos nuncios an den Papst wandte, ihn über ihr privat abgelegtes Keuschheitsgelübde unterrichtete und ihn bat, sie als geistliche Tochter unter seinen Schutz zu nehmen und damit ihren Entschluß, nicht mehr wie bisher Objekt dynastischer Heiratspolitik zu sein, unwiderruflich zu machen. 14 Es kann auch nicht mehr als eine Vermutung sein, daß die königliche Familie ihn um eine mäßigende Einflußnahme auf die „weltflüchtige" Prinzessin gebeten hat. Wir brauchen auf die Einzelheiten und Hintergründe der Heiratspolitik Ottokars I., mit denen sich Karl Wenk, Henry Simonsfeld und nach ihnen viele andere beschäftigt haben, nicht weiter einzugehen und können uns die Beantwortung der Frage, ob Kaiser Friedrich II. für sich selbst oder für seinen Sohn Heinrich VII. um die Hand der Königstochter angehalten hat, ersparen. 15 Es ist jedoch nicht daran zu zweifeln, daß Gregor IX. am 7. Juni 1230 in einem Schreiben an die aus dem staufischen Hause stammende Königin Beatrix von Kastilien, Toledo und Leon die Entschiedenheit, mit der Agnes das imperiale culmen, was immer man auch darunter verstehen mag, verschmäht habe, um als kluge Jungfrau dem himmlischen Bräutigam mit brennender Lampe entgegenzugehen, lobte16 und wahrscheinlich schon 1228 König Przemysl Ottokar I., seine Gattin Konstanze und deren Bruder, König Andreas II. von Ungarn, vor einem Bündnis mit dem Staufer, der ohne Rücksicht auf die eigene Ehre und diejenige anderer bestrebt sei, der Kirche zu schaden, gewarnt
Prag und Böhmen: J. POLYKARP, Dëjiny kláSterú sv. Otee Franti ska ν Cechách na Morave a ve Slezskü, Praha 1889; F. HYBL, Pocátky Minoritü Ν Cechách a na Morave, Cesky casopis historicky 2 (1896), 335-345; B. WILHELM/K1. MINARÍK, Dëjiny fadû Frantiskánskych ν Cechách a na Moravë, Serafinské kvëty 9 (1909-10), 11 (19111912); H. G. ROKYTA, Miszellen zu den franziskanischen Orden in den böhmischen Ländern, in: 800 Jahre Franz von Assisi, in: Franziskanische Kunst und Kultur des Mittelalters. Krems-Stein, 15. Mai-17. Oktober 1982, Wien 1982, 332-334; J. KADLEC, Die Franziskaner in den böhmischen Ländern und ihr Generalstudium in vorhussitischer Zeit, Archiv für Kirchengeschichte von Böhmen-Mähren-Schlesien 8 (1987), 84— 94; J. NËMEC, Le Origini del Francescanesimo in Boemia e Moravia, Miscellanea Franciscana 89 (1989), 238-269. 14 Vita, 105. 15 Henry SIMONSFELD, Über die späteren Heiratsprojekte Kaiser Friedrichs II., Sitzungsberichte der philosophisch-philologischen und historischen Classe der Kgl. Bayr. Akademie der Wissenschaften zu München 50, 2, München 1898, 543-548; K. WENK, Hat sich Friedrich II. um die Hand der seligen Agnes von Böhmen beworben?, AFH 15 (1922), 203-207. 16 CDBIII/l,Nr. 114, 140.
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hatte.17 Gregor IX. beabsichtigte offenbar, durch Agnes direkten Einfluß auf Ottokar auszuüben und ihn so daran zu hindern, die Spannung zwischen Papst- und Kaisertum zu seinen eigenen Gunsten zu nutzen oder sich gar auf die Seite des Kaisers zu stellen.18 Das weitere Vorgehen Gregors und seiner Nachfolger zeigt, daß Papst und Kurie die Verwandtschaft zwischen Vater und Tochter und die engen Beziehungen zwischen Agnes und ihrem seit 1231 regierenden Bruder Wenzel in wichtigen, aber auch weniger wichtigen kirchenpolitischen Angelegenheiten nutzten und den Herrschern, die - so Wenzel I. - versprachen, quod [...] vobis et sánete Romane Ecclesie semper promptior et paratior ex animo volo essere19, entsprechende Gegenleistungen erbrachten. Dabei handelte es sich nicht nur um die Übersendung von Reliquien und die Gewährung von Privilegien20, sondern auch um die bereits erwähnte, alles politische Kalkül übersteigende persönliche Zuwendung des Papstes zu der Prinzessin, die Übernahme ihrer geistlichen Leitung und die Förderung der auf ihre Initiative zurückgehenden Hospital- bzw. Klostergründungen. Als Agnes die Absicht äußerte, gemeinsam mit Gefährten, die sich wie sie selbst in den Dienst der Armen, Kranken und Schwachen gestellt hatten, Anschluß an die Brüder und Schwestern von S. Francesco und S. Damiano zu suchen, entsprach er ihrem Wunsch mit der gleichen Energie und Zielstrebigkeit, die er schon als Kardinalbischof von Ostia und päpstlicher Legat in Umbrien, der Toskana und der Lombardei gegenüber den dortigen Frauenklöstern, unter ihnen S. Damiano in Assisi, an den Tag gelegt hatte.21 Er entsandte, so die 17 CDB II, Nr. 317, 313. Ähnliche Überlegungen auch in dem am 10. April 1231 an Königin Konstanze, die Mutter der Agnes, gerichteten Schreiben des Papstes (CDB III/l, Nr. 6, 4-5). 18 V. NOVOTNY, Cechy královské za Premysla I a Václava, in: Ceské dêjiny 1/3, Praha 1928; Zdenek FIALA, Premyslovské Cesky. Cesky stát a spolecnost Ν letech 995-1300, Praha 1965; K. RJCHTER, Die böhmischen Länder im Früh- und Hochmittelalter, in: Karl BOSL, Handbuch der Geschichte der böhmischen Länder 1, Stuttgart 1967, 2 5 7 300; Friedrich PRINZ, Böhmen im mittelalterlichen Europa, München 1984. 19 CDB, III, 1, Nr. 145, 183. Über das Verhältnis zwischen Agnes, ihrem Bruder Wenzel und dessen Gattin Kunigunde: T. KRZENCK, Eine Stauferin am Prager Hof: Kunigunde von Schwaben (1202-1248), Bohemia 31 (1990), 245-260. 20 CDB III, 1, Nr. 155, 189. 21 L. ZANDER, Der Anteil des Kardinals Ugolino an der Ausbildung der drei Orden des heiligen Franz (Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance 42), Leipzig 1930; Benedikt ZÖLLIG, Die Beziehungen des Kardinals Hugolin zum hl. Franziskus und seinem I. Orden, Münster 1933; Κ. V. SELGE, Franz von Assisi und Hugolino von Ostia, in: San Francesco nella ricerca storica degli ultimi ottanta anni. Convegni del Centro di studi sulla spiritualità medievale 9, Todi 1971, 157-223; E. PÀSZTOR, San Francesco e il cardinale Ugolino nella „questione francescana", Collectanea franciscana 46 (1976), 209-239; M. BARTOLI, Gregorio IX, Chiara d'Assisi e le prime dispute all'interno del movimento francescano, Rendiconti dell'Accademia Nazionale dei Lincei. Classe di scienze morali, storiche e filosofiche 35 (1980), 97-108. Vgl. auch die in der Anm. 89 genannte Literatur.
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Vita, im Sommer 1233 fünf aus dem an der Sprachgrenze zwischen dem Deutschen und Italienischen liegenden Trentino stammende Schwestern nach Prag, die zusammen mit sieben böhmischen adligen Damen den Kern eines Konventes bilden sollten22, der noch im Herbst des gleichen Jahres mit Hilfe der Prinzessin und ihrer königlichen Verwandten am rechten Ufer der Moldau bei St. Kastulus zustande kam23. Im Sommer des folgenden Jahres, am 11. Juni 1234, nahm der damals in Spoleto weilende Papst das hospitale vel claustrum in ius et proprietatem sánete sedis ae tutelam sedis apostolice24. Einen Tag später beauftragte er den auch für Prag und Böhmen zuständigen Minister der Ordensprovinz Saxonia, Giovanni di Pian di Carpine, und Thomas, den Kustoden der böhmischen Franziskaner, damit, die Prinzessin zur Äbtissin ihres dem hl. Franziskus geweihten Klosters zu bestellen.25 Zu diesem Zeitpunkt hatte er ihrem Konvent bereits die Observanz, die er in Zukunft beobachten sollte, vorgeschrieben. Es handelte sich dabei um die Benediktinerregel und die von ihm selbst 1219 Klara und den Frauen von S. Damiano vorgeschriebene institutio monalium inclusarum sancii Damiani Assisinatis, die strikte Klausur und außergewöhnlich strenges Fasten vorschrieb.26 Am 25. Juli 1235 brachte Gregor den Gründungsvorgang mit einem auf den Text der Bestätigungsbulle 'Religiosam vitam eligentibus' zurückgreifenden Sammelprivileg rechtlich zum Abschluß. Er nahm Kloster und Hospital, denen er zuvor bereits andere Privilegien gewährt und Dispense erteilt hatte, in ius et proprietatem S. Petri und legte noch einmal ausdrücklich fest, daß in ihnen der ordo monasticus, qui 22 Vita, 107. Über das 1221 errichtete Kloster S. Maria in Trient u.a.: C. ROMERI, Le Clarisse nel territorio della minoritica provincia Veneta, Le Venezie franscane 20 (1953), 7-143; D. GOBBI, Presenza e insediamenti minoritici nel Duecento trentino, in: Minoritismo e centri veneti nel Duecento, hg. v. G. CRACCO, Trento 1983, 126-142. 23 CDB III/l, Nr. 79, 85-86; ebd., Nr. 85, 91-92. Zur Lage, die Wenzel I. genau beschreibt (CDB III, Nr. 62, 66): Josef JANÁCEK, Malé Dëjiny Prahy, Praha 1964; Emanuel POCHE (Hg.), Praha stredovëkà, Prag 1983. 24 CDB III/l, Nr. 79, 85-86. 25 CDB III/l, Nr. 80, 87. Vgl. zu Giovanni di Pian di Carpine und seiner Funktion als minister in Saxonia'. Giovanni di Pian di Carpine, Storia dei mongoli, hg. v. P. DAFFINÀ u.a., Spoleto 1989; E. MENESTÒ, Giovanni di Pian di Carpine: da compagno di Francesco a diplomatico presso i tartari, in: Giovanni di Pian di Carpine, 49-62; F. SORELLI, Per regioni diverse: fra Giovanni di Pian di Carpine, in: I Compagni di Francesco e la prima generazione minoritica, Atti del XIX Convegno internazionale Assisi, 17-19 ottobre 1991, Spoleto 1992, 261-283, die auf seine Beteiligung an der Gründung des ,Agnetenklosters" jedoch nicht eingehen. 26 CDB III/l, Nr. 79, 85-86. Ähnlich: Ebd., Nr. 118, 145. Zur Forma Hugoliana: L. ÖLIGER, De Origine regularum Ordinis S. Ciarae, AFH 5 (1912), 181-202, 4 1 3 ^ 4 7 ; Ignacio OMAECHEVARRÍA, La „Regula" y las reglas de la Orden de Santa Clara, Collectanea Franciscana 46 (1970), 93-119; I. VÁZQUEZ, La „Forma vitae" hugoliana para las Clarisas en una bula desconocida de 1245, Antonianum 52 (1977), 94-125; E. GRAU, L'Ordine di S. Chiara sotto diverse regole, Forma Sororum 15 (1978), 141-153; J. GARRIDO, La forma de vida de Santa Clara, Oflate 1979.
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secundum Deum et beati Benedirti régulant atque Institutionen monalium inclusarum sancti Damiani Assisinati in eodem loco institutus esse dinoscitur, befolgt und das Chorgebet iuxta morem Romane ecclesiae, das Psalterium hingegen secundum consuetudinem Gallicanam gebetet bzw. benutzt werden sollten.27 Agnes, quamvis delicata et iuvenis2S, war mit dem von Gregor eingeschlagenen Verfahren und den von ihm getroffenen Anordnungen nicht einverstanden, da sie offensichtlich den Vorstellungen, die sie und Klara vom franziskanischen Ordensleben und der suprema paupertas hatten, nicht entsprachen. Obwohl der Papst sich zu weitgehenden Kompromissen bereit zeigte und ihren Vorstellungen schon am 8. Mai 1235 so weit entgegengekommen war, daß er ihr und ihren Schwestern im Sinne der von ihm bereits 1230 mit der Bulle 'Quo elongati' eingeleiteten Regelung der „Armutsfrage" gestattete, besitzlos zu leben, wenn sie bereit seien, sich von dem mit ihrem Kloster verbundenen Hospital, dem sie ihren Eigenbesitz übertragen hatten, unterhalten zu lassen29, wandte sie sich im Frühjahr 1237 an den Papst mit der Bitte, ihr und ihren Schwestern die Befolgung der um einige Kapitel seiner Institutio ergänzte Formula vivendi des hl. Franz, an die sie sich damals ungeachtet der am 25. Juli 1235 getroffenen Anordnung Gregors hielten, zu gestatten. Die vom Magister ihres Prager Hospitals dem Papst überbrachte peticio, der neben einer schedula mit dem Text ihrer Regel ein Empfehlungsschreiben ihres Bruders, König Wenzels I., beigegeben war, verfehlte jedoch ihren Zweck.30 Gregor gestattete ihr zwar, fünfmal im Jahr im Chor der Klosterkirche an der Meßfeier teilzunehmen und von den strengen Fastenvorschriften seiner Institutio abzuweichen, ja er ging in seiner Konzessionsbereitschaft sogar so weit, ihr und ihren Schwestern zuzusichern, daß sie nicht gegen ihren Willen gezwungen werden könnten, Besitz anzunehmen.31 In der Sache selbst, nämlich der Bestätigung der ihm von Agnes vorgelegten „Regel", zeigte er sich jedoch zu keinem Kompromiß bereit. In der am 11. Mai 1238 ausgestellten Bulle 'Angelis gaudium' forderte er sie vielmehr unter Hinweis auf ihre Gehorsamspflicht auf, die von ihm in Übereinstimmung mit dem hl. Franz aufgestellte, von seinem Vorgänger Honorius III. bestätigte und von Klara und ihren Schwestern befolgte regula ordinis beati Damiani, deren Text er seinem Schreiben beilegte, um der Einheit des Ordens willen in Zukunft getreulich zu
27 28 29 30 31
CDB III/l, Nr. 118, 144-147. CDB III/l, Nr. 79, 86. CDB III/l, Nr. 110, 135-136; Nr. 111, 136-137; Nr. 112, 137-138. CDB III/l, Nr. 145, 182-183; Nr. 130, 164-165, vgl. auch Nr. 190, 237-238. CDB III/l, Nr. 155, 189; Nr. 189-190; Nr. 159, 193-195; Nr. 160, 195, Nr. 189, 2 3 5 237. In diesem Zusammenhang aufschlußreich: Theo ZWEERMAN, Nichtsdestoweniger. Über den dritten Brief der heiligen Klara an die heilige Agnes von Prag, Wissenschaft und Weisheit 57 (1994), 7-20.
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befolgen und sich nicht durch aliquis forte zelus, sed scientiam non Habens womit Elias von Cortona gemeint sein könnte - davon abbringen zu lassen.32 Wir wissen nicht, ob Agnes dieser diesmal bei aller Fürsorge, die fur die bisherigen politischen Schreiben charakteristisch ist, in energischem Ton vorgetragenen Aufforderung gefolgt ist, von dem Privileg des Papstes, durch das er sie von der Befolgung ihrer eigenen Regel dispensierte33, Gebrauch machte und seine Institutio für sich und ihren Konvent als verbindlich ansah. Sicher ist jedoch, daß sie, durch ein möglicherweise von dem Magister ihres Hospitals von Assisi nach Prag mitgebrachten Schreiben Klaras in ihrer Absicht bestärkt, von ihrem Vorhaben, in suprema paupertate zu leben, nicht abließ. Im Juli 1243 wandte sie sich an den eben erst inthronisierten Nachfolger Gregors, Innozenz IV., mit der Bitte, sich ihrer wie sein Vorgänger als geistlicher Tochter anzunehmen, vor allem aber sie und ihre Schwestern von der Befolgung der Benediktinerregel zu dispensieren.34 Wie Gregor IX. erteilte ihr auch Innozenz IV. Fasten- und Kleidungsdispense, bestand aber wie dieser auf der Beibehaltung der Benediktinerregel, von der er ausdrücklich sagte, daß sie in ihrem Falle zu nichts anderem verpflichte als zur Befolgung der Evangelischen Räte. Ja, er ging so weit, ihr mehr oder minder deutlich Schweigen in dieser Angelegenheit zu gebieten.35 Am 9. August 1253 entschloß sich Innozenz IV., mit der Bulle 'Solet annuere' Klara und den Frauen von S. Damiano die Befolgung der sich an der Formula Vite des hl. Franz orientierten „Klararegel" zu gestatten36 und damit auch dem Anliegen der Prager Schwestern zu entsprechen, was daraus hervorgeht, daß ihnen Alexander IV. ausdrücklich das Privileg bestätigte, das Innozenz IV. 1253 den Klarissen von S. Damiano gewährt hatte37. Als ihnen 1274 Kardinal Giovanni Gaetano Orsini, der späte-
32 CDB III/l, Nr. 190, 237-239. Der Text erreichte die Adressatin nicht. Er befindet sich heute im Archivio di Stato von Trient: Diplomata pontificia saec. XII e XIII ex archivis potissimum Tyrolensibus, hg. v. H. GRIESAR, Innsbruck 1880, 30-38. 33 CDB III/2, Nr. 203, 260-261. In diesem Zusammenhang wichtig: Gerard Pieter FREEMAN, Klarissenfasten im 13. Jahrhundert, AFH 87 (1994), 217-285. 34 Constantin VON HÖFLER, Albert von Behaim und Regesten Papst Innocenz IV., Stuttgart 1847. 35
C D B IV/1, Nr. 2 9 , 1 0 7 - 1 0 8 ; Nr. 30, 108; Nr. 3 1 , 1 1 0 - 1 1 1 . Zur B e d e u t u n g der B e n e -
diktinerregel für die Klarissen: G. SALVI, La Regola di S. Benedetto nei primordi dell'ordine di S. Chiara, Benedictina 8 (1954), 77-121; H. DE SAINTE-MARIE, Présence de la Règle Bénédictine dans la Règle de sainte Claire, AFH 82 (1989), 3-20. 36 Bullarium Franciscanum I, Romae 1759, Nr. CCXXVII, hg. v. Z. H. SBARALEA, 4 7 6 482. Vgl. u.a.: Scritti (wie Anm. 5), 132-170; MARINI/UNGARELLI, Agnese di Boemia (wie Anm. 1); MARINI, Ancilla Christi (wie Anm. 11); Maria Pia ALBERZONI, Chiara e il Papato (Aleph 3), Milano 1995; Alfonso MARINI, La „forma vitae" di San Francesco per San Damiano tra Chiara d'Assisi, Agnese di Boemia ed interventi papali, Hagiographie 4 (1997), 179-195, mit Hinweisen auf die weitere Literatur zur „Klararegel" und ihre „Übernahme" durch Agnes von Prag. 37 CDB IV, Nr. 60, 50.
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re Papst Nikolaus III., als Kardinalprotektor des Franziskanerordens den Vorschlag machte, die strikte Armut aufzugeben und sich zur Annahme von Besitz bereit zu erklären, sollen dies Agnes und ihre Schwestern mit derselben Entschiedenheit abgelehnt haben, mit der sie für die Durchsetzung ihrer Vorstellung von der wahren Armut gekämpft hatten. 38
III. Man hat, wie bereits angedeutet, die Intensität, mit der Agnes bis ins hohe Alter auf die von ihr gewählte Lebensweise bestand, auf den Willen zurückgeführt, eine discipula S. Francisci zu sein und seinem Vorbild zu folgen. Für diese Auffassung spricht vieles: die Intensität, mit der sie danach strebte, das authentische Franziskanertum kennen zu lernen, die Entschiedenheit, mit der sie ihre Prager Gründung, die nach dem Heiligen von Assisi benannt wurde, in franziskanische Bahnen lenkte und die große Vertrautheit mit Klara, die, folgt man den an sie gerichteten Briefen, so eng war, daß man die beiden als Bundesgenossen, ja als ein „subversives Paar" im Kampf um die Durchsetzung der ursprünglichen Intentionen des Poverello von Assisi bezeichnen konnte. Der Eigenart der böhmischen Prinzessin und der für sie charakteristischen Spiritualität wird man jedoch nicht gerecht, wenn man sie allein in franziskanischem Lichte sieht und vergißt, daß sie, als sie die Söhne des hl. Franz kennen lernte, erste Kontakte mit Gregor IX. aufnahm und unter den Einfluß der hl. Klara geriet, keineswegs eine Neophytin im geistlichen Leben war, sondern schon mehr als eine Etappe auf dem Wege zur Vollkommenheit zurückgelegt hatte. Das wahrscheinlich 1211 geborene jüngste Kind Ottokars I. und seiner zweiten Gattin, der Tochter König Belas III. von Ungarn, war von Schicksal, Veranlagung und Umwelt für den Weg, den es ging, bestimmt. Der weltzugewandte Lebensstil am Prager Hof, die Machtkämpfe unter den Seitenlinien der Przemysliden, die Skrupellosigkeit, mit der der Vater seine erste Gattin Adelheid von Meißen verstoßen hatte, und nicht zuletzt die Rücksichtslosigkeit, mit der er über das Schicksal seiner Töchter als Objekte dynastischer Heiratspolitik verfügte, müssen ihr, wie vielen anderen weiblichen Angehörigen ihres Standes, das Kloster- und Ordensleben als eine erstrebenswerte Idylle haben erscheinen lassen. 39 Und in der Tat: Nicht nur Agnes, sondern auch ihre Mut-
38 Vita, 109. 39 Neben der in Anm. 18 genannten Literatur über den Prager Hof im 13. Jahrhundert: Jörg K. HOENSCH, Pfemysl Otakar II. von Böhmen. Der goldene König, Graz/Wien/ Köln 1989; Jiri KUTHAN, Pfemysl Ottokar II. König, Bauherr und Mäzen. Höfische
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ter Konstanze, ihre Schwestern Anna und Blazena entwickelten als Reaktion auf die ihnen z u g e w i e s e n e Rolle eine Sensibilität, die sie zu Exponenten der religiösen B e w e g u n g e n ihrer Zeit werden ließ. Konstanze förderte den Deutschen Orden und stiftete 1232 das Zisterzienserinnenkloster Porta Coeli bei Tischnowitz, w o h i n sie sich im Alter zurückzog. 4 0 Anna, die Gattin und schon bald W i t w e Herzog Heinrichs II. v o n Schlesien, wurde als Stifterin des Breslauer Klarissenklosters und des dortigen Elisabethhospitals zur Förderin der Armutsbewegung, ja legte nach d e m Tode ihres Gatten selbst die grísea tunica an. 41 Blazena soll nach weit verbreiteter, aber längst nicht v o n allen Historikern geteilter A u f f a s s u n g nach Mailand g e k o m m e n sein, w o sie angeblich als Guglielma la B o e m a z u m Mittelpunkt eines Kreises wurde, den die Inquisition zu B e g i n n des 14. Jahrhunderts der Häresie beschuldigte, w a s dazu führte, daß die Gebeine der 1279 Verstorbenen zusammen mit denen einer ebenfalls der Ketzerei beschuldigten „Schülerin" verbrannt wurden. 4 2
Kunst im 13. Jahrhundert, Wien/Köln/Weimar 1996; K. SCHREINER, Hof (Curia) und höfische Lebensführung (Vita curialis) als Herausforderung an die christliche Theologie und Frömmigkeit, in: Höfische Literatur, Hofgesellschaft, Höfische Lebensformen um 1200 (Studia humaniora 6), hg. v. Gert KAISER/J.-D. MÜLLER, Düsseldorf 1986, 67-139. Zum Problem der „Rollenverweigerung": C. OPITZ, Vom Familienzwist zum sozialen Konflikt. Über adelige Eheschließungspraktiken im Hoch- und Spätmittelalter, in: Weiblichkeit in geschichtlicher Perspektive, hg. v. Ursula A. J. BECHER/J. RUSEN, Frankfurt 1988, 116-149; P. DINZELBACHER, Rollenverweigerung, religiöser Aufbruch und mystisches Erleben mittelalterlicher Frauen, in: Religiöse Frauenbewegung und mystische Frömmigkeit im Mittelalter, hg. v. DERS./Dieter R. BAUER, Köln/Wien 1988, 1-58; W. RÖSENER, Die höfische Frau im Hochmittelalter, in: Curialitas. Studien zu Grundfragen der höfisch-ritterlichen Kultur (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts Göttingen 100), hg. v. Josef FLECKENSTEIN, Göttingen 1990, 171-230; U. LIEBERTZ-GRÜN, Frau und Herrscher, in: Bea LUNDT (Hg.), Auf der Suche nach der Frau im Mittelalter. Fragen, Quellen, Antworten. Interdisziplinäre Beiträge, München 1991, 165-187. 40 A. JOACHIMOVÁ, Fündace Královny Konstancie a prazské statky nemeckych rytirü, Umeni 16 (1968), 495-501; B. KOPICOVÀ, Laien als Wohltäter der Zisterzienserinnen in Böhmen und Mähren im Lichte der Urkunden, Cîteaux 47 (1996), 118-120. 41 A. KNOBLICH, Herzogin Anna von Schlesien 1204-1265, Breslau 1865; E. WALTER, Franziskanische Armutsbewegung in Schlesien. War die Herzogin Anna ( t 1265), die Schwiegertochter der hl. Hedwig, eine Terziarin des Franziskanerordens?, Archiv für schlesische Kirchengeschichte 40 (1982), 207-225. 42 F. Tocco, Il processo dei Guglielmiti, Reale Accademia dei Lincei. Memorie della classe di scienze morali, storiche e filologiche 8 (1889), 3 1 3 ^ 6 0 ; G. BISCARDO, Guglielma la Boema e i Guglielmiti, Archivio storico lombardo 57 (1930), 1-67; S. E. WESSLEY, The Thirteenth-Century Guglielmites: Salvation through Women, in: Medieval Women, hg. v. Derek BAKER, Oxford 1978, 279-303; DERS., James of Milan and the Guglielmites, Collectanea Franciscana 54 (1984), 5-20; Luisa MURARO, Guglielma e Maifreda. Storia di un'eresia femministra, Milano 1985; P. M. COSTA, Guglielma la Boema. L'eretica di Chiaravalle, Milano 1986; Grado G. MERLO, Eretici e eresie medievali, Bologna 1989, 113-118; B. LUNDT, Eine vergessene Premyslidenprinzessin.
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Agnes selbst wurde schon als Kind, was für die oberen Stände nicht ungewöhnlich war, mit dem Klosterleben und der weiblichen Ordensfrömmigkeit vertraut gemacht. Man brachte sie im Alter von drei Jahren mit ihrer älteren Schwester Anna in das Zisterzienserinnenkloster Trebnitz, das 1202 als Hauskloster der schlesischen Piasten von Herzog Heinrich I. von Krakau und Schlesien gegründet und von Ordensfrauen aus Bamberg besiedelt worden war. Hier nahmen ihre Tante, die hl. Hedwig, und deren Tochter Gertrud, die zweite Äbtissin von Trebnitz, sich der beiden Prinzessinnen an.43 Der Zeit bei den Zisterzienserinnen folgte ein einjähriger Aufenthalt in dem Prämonstratenserfrauenkloster Doxan bei Leitmeritz, das auf Anregung des Olmützer, später Prager Bischofs Heinrich Zdik von Herzog Vladislav, dem späteren König von Böhmen, errichtet und von Schwestern aus Dünnwald in der Eifel in Besitz genommen worden war.44 In beiden Klöstern beschränkte sich die Ausbildung der Prinzessin nicht auf die Vermittlung der morum ac fidei rudimento und der morum informado et [...] litterarum noticia. Der von Hedwig geprägte Konvent von Trebnitz und die im Geiste Norberts von Xanten lebenden Schwestern von Doxan machten die Königstochter zweifellos nicht nur für die traditionellen Werte des Ordenslebens aufgeschlossen, sondern weckten in ihr auch den Sinn für die Nachfolge des armen und leidenden Christus. Doctor, internus spiritus sanctus cor eius unccione misericordie perunxit, wie es der Verfasser der 'Vita Agnetis' ausdrückt.45 Die in Trebnitz und Doxan herrschende Frömmigkeit vermochte sie jedoch, folgt man der Vita, nicht völlig zu überzeugen. Nach einem kurzen, aus dynastischen Gründen veranlaßten Aufenthalt am Babenberger Hof setzte Agnes in ihrer Heimatstadt die Suche nach einer ihren Vorstellungen entsprechenden geistlichen Lebensform fort. Nachts soll sie in ihren Gemächern auf Stroh geschlafen und am Tage mit bloßen Füßen von einer Kirche der Stadt zur anderen gezogen sein, um die dort lebenden Inklusen zu besuchen und sich
Neue Fragen und Forschungsergebnisse, Bohemia 31 (1990), 260-269; M. BENEDETTI, Filii Spiritus Sancti, Quaderni di storia religiosa 2 (1995), 207-224. 43 M. STUMPF, Beiträge zur Geschichte des Klosters Trebnitz, Breslau 1936; Alfred ZINKLER/Dagobert FREY/Günther GRUNDMANN, Die Klosterkirche zu Trebnitz, Breslau 1940; T. KRUSZYNSKI, Swieta Jadwiga Slaska i jij Sanktuarium w Trzebnicy, Collectanea Theologica 28 (1957), 598-705; Joseph GOTTSCHALK, St. Hedwig, Herzogin von Schlesien (Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands 2), Köln/Graz 1964; Ewald WALTER, Studien zum Leben der hl. Hedwig, Herzogin von Schlesien, Stuttgart/Aalen 1972; DERS., Der franziskanische Einfluß auf die Religiosität der heiligen Hedwig, Wissenschaft und Weisheit 40 (1977), 146-157; N. HETTWER, Die Hedwigskirche in Trebnitz, Lippstadt 1978. 44 E. BALCAREK, Das ehemalige Prämonstratenserinnenkloster Doksany, Prag 1933. Vgl. auch: Norbert BACKMUND, Monasticon Praemonstratense: Gense I, Berlin 2 1983, 3 4 7 350.
45 Vita, 102,104-106.
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deren Gebet zu empfehlen.46 Der entscheidende Anstoß für ihre Conversici ging jedoch nicht, wie man vermuten könnte und häufig lesen kann, von den Franziskanern aus. Es war mit Sicherheit das Vorbild Elisabeths von Thüringen, das Agnes, noch bevor sie Kontakt mit den Franziskanern aufnahm, dazu veranlaßte, endgültig mit der Welt zu brechen und ihre eigene vita religiosa zu beginnen. Die Nähe zu Elisabeth, auf die längst vor dem Verfasser der Vita Gregor IX. hingewiesen hatte47, ist kein Zufall. Elisabeth und Agnes waren Basen. Elisabeths Vater Andreas, der König von Ungarn, und Konstanze, ihre Mutter, waren Geschwister. Auch wenn wir nicht wissen, ob sich die beiden Kusinen je persönlich begegnet sind, kann kein Zweifel daran bestehen, daß Agnes über das aufsehenerregende Leben Elisabeths unterrichtet war. Sie war mit deren Gatten, Landgraf Ludwig IV., in Prag zusammengetroffen und hatte schon 1226 mit Konrad von Marburg, dem geistlichen Berater Ludwigs und Seelenführer Elisabeths, Bekanntschaft gemacht, als dieser in Böhmen das Kreuz predigte.48 Auch wenn wir von diesen Beziehungen nichts wüßten, das Leben Agnes' und der ersten fratres et sorores des von ihr in den ersten Jahren des dritten Jahrzehnts des 14. Jahrhunderts gegründeten Hospitals in Prag ist ein Beweis dafür, wie stark Agnes von der Entschiedenheit, mit der Elisabeth den Bruch mit der Welt vollzogen, ein streng asketisches Leben begonnen und sich den Armen und Ausgestoßenen zugewandt hatte, beeindruckt war. Wer fühlte sich nicht an sie erinnert, wenn in der Vita davon die Rede ist, daß Agnes, circa universos indigentes misericors et larga, sibi nimium parca et rigida, den Witwen, Waisen und Armen zur Hilfe kam und sich nicht nur zur ancilla Christi, sondern auch zur serva ihrer Mitschwestern machte?49 Einen weiteren Beweis für die Nähe zwischen den beiden Königstöchtern liefert die auf ihr Betreiben am rechten Ufer der Moldau zustande gekommene 46 Zur Bedeutung des Inklusentums: E. PÁSZTOR, Ideali dell'Eremitismo femminile in Europa tra i secoli XII-XV, in: Eremitismo nel Francescanesimo medievale. Atti del XVII Convegno Internazionale Assisi, 12-13-14 ottobre 1989, Assisi 1991, 131-164; Kaspar ELM, Vita regularis sine regula. Bedeutung, Rechtsstellung und Selbstverständnis des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Semireligiosentums, in: Frantisek SMAHEL, Häresie und vorzeitige Reformation im Spätmittelalter (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 39), München 1998,239-273. 47 Vita, 106; CDB III/l, Nr. 114, 141. 48 Neben der in Anm. 57 genannten Literatur: Helga S. SCHMIDTBERGER, Die Verehrung der heiligen Elisabeth in Böhmen und Mähren bis zum Ende des Mittelalters (Kulturund geistesgeschichtliche Ostmitteleuropa-Studien 4), Marburg 1992, 15-28. 49 Vita, 106, 108; A. VAUCHEZ, Charité et pauvreté chez Sainte Elisabeth de Twinge, d'après les actes des procès de canonisation, in: Etudes sur l'histoire de la pauvreté (Moyen Age - XVI siècle), hg. v. M. MOLLAT, Paris 1974, 163-173; E. PÁSZTOR, Sant' Elisabetta d'Ungheria nella religiosità femminile del secolo XIII, Annali dell'Università di Siena 5 (1984), 83-99; R. MANSELLI, Santità principesca e vita quotidiana in Elisabetta d'Ungheria: la testimonianza delle ancille, Analecta TOR 18 (1985), 23-45. Vgl. auch die in Anm. 57 genannte Literatur.
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Klosteranlage. Man hat sich angewöhnt, von ihr als dem „Böhmischen Assisi" zu reden und sie als ein aus einem Klarissen- und einem Franziskanerkonvent bestehendes doppelklosterartiges Ensemble zu bezeichnen, dem ein Hospital angeschlossen war. 50 Die genaue Analyse der vorliegenden schriftlichen Quellen und des in den letzten Jahrzehnten erhobenen archäologischen Befundes zeigt jedoch, daß der Vergleich mit Assisi zumindest für die Anfange der Gründung nicht zutrifft. Aus zwei 1256 von Alexander IV. gewährten Privilegien, die bei der Beschäftigung mit der Klostergründung der Agnes bisher so gut wie unbeachtet geblieben sind, geht nämlich hervor, daß Agnes, dum adhuc in seculo existens priusquam habitum religionis assumerei, ein Hospital gründete, in dem sie mit Gleichgesinnten ad usus infirmorum et peregrinorum seu aliorum pauperum ad idem confluencium ex summa devocione tätig war, was bedeutet, daß es sich bei Na Frantisku, wie man das Prager Ensemble nennt, anfanglich weder um ein Nebeneinander von selbständigen weiblichen und männlichen Konventen wie S. Damiano und S. Francesco noch um ein Doppelkloster im klassischen Sinne, sondern um ein bruderschaftlich organisiertes Hospital handelte, dessen fratres et sorores sich in den Dienst der Armen, Schwachen, Kranken und Heimatlosen stellten.51 Nicht nur die Funktion und Organisation, sondern auch die älteste durch Grabungen bekannt gewordene Anlage 52 , ein zweischiffiger Raum ohne Presbyterium, hatte das Hospitale S. Francisci in Prag weniger mit S. Damiano als vielmehr mit dem gleichnamigen 1228 von Elisabeth in Marburg errichteten Hospital gemeinsam 53 . Erst nach der Kontaktaufnahme mit Rom und Assisi und der ihr folgenden Errichtung eines Frauenklosters entsprechend dem Vorbild von S. Damiano nahm Na Frantisku die Gestalt an, die es, abgesehen von gewissen Modifikationen, für viele Jahrhunderte beibehalten sollte. Das Hospital, das an seinem Anfang gestanden hatte, verlegte man in die Nähe von St. Peter am Poric und später an das Ufer der Moldau bei der Karlsbrücke. Zurück blieb das claustrum für die moniales inclusae, dem ein eigener Konvent für die mit ihrer geistlichen Betreuung beauftragten Minoriten angeschlossen wurde, den Agnes deswegen eingerichtet haben mag, weil sie die schon früher in Prag bei der St. Jakobskirche ansässig gewordenen Franziskaner aus Gründen, die mit der
50 J. ALBERT, Das „Böhmische Assisi", Geist und Leben 29 (1956), 178-182. 51 CDB V, Nr. 78-79, 144-146. 52 Helena SOUKUPOVÁ, Anezky klá§ter ν Prace, Prag 1989. Einen durch eigene Beobachtungen ergänzten Überblick über den Stand der archäologischen Untersuchungen gibt: B. SASSE, Das Doppelkloster der Pfemyslidenprinzessin Agnes in Prag, in: POLC, Agnes von Böhmen (wie Anm. 1), 219-242. 53 W. MORITZ, Das Hospital der heiligen Elisabeth in seinem Verhältnis zum Hospitalwesen des frühen 13. Jahrhunderts, in: Sankt Elisabeth. Fürstin, Dienerin, Heilige. Aufsätze, Dokumentation, Katalog, Sigmaringen 1981, 101-116.
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Armutsauffassung zu tun haben könnten, fur diese Aufgabe als nicht geeignet ansah. 54 Elisabeth v o n Thüringen und A g n e s von Prag waren nicht die einzigen Frauen hochadliger Abstammung, die es im 13. Jahrhundert ablehnten, sich dem Stil, der an den Höfen ihrer Zeit herrschte, anzupassen. Sie steht nicht nur mit ihrer Schwester Anna von Schlesien und zahlreichen anderen Frauen ihrer adligen Verwandtschaft, sondern auch mit Beatrix von Kastilien, Isabella v o n Frankreich und Margarete v o n Ungarn, die sich schwere Kasteiungen auferlegten und es sich zur Aufgabe machten, den Armen, Kranken und Hungernden zu dienen, in einer Reihe. 5 5 Sie entwickelten unter dem Eindruck der Reformbewegung des 12. Jahrhunderts einen strenge Weltentsagung und rückhaltlose Hinwendung zu den Armen miteinander verbindenden Frömmigkeitsstil, der sich nicht an Christus, dem König, sondern an Christus, dem dornengekrönten und gekreuzigten Schmerzensmann, orientierte. 56 Ob Elisabeth v o n Thüringen und Anna v o n Schlesien den Übergang v o n der älteren zur neueren Frömmigkeit franziskanischen Charakters vollzogen und Franziskanerinnen oder Franziskanertertiarinnen im eigentlichen Sinne des Wortes wurden, gehört zu den Problemen, mit denen sich die Forschung lange beschäftigt hat. 57
54 Vgl. dazu u.a.: MARINI, Agnese di Boemia (wie Anm. 1), 155, und die Literatur über das Verhältnis zwischen den beiden Prager Franziskanerkonventen (Anm. 12 bzw. 13). 55 Joseph GOTTSCHALK, Der geistliche Verwandtenkreis der heiligen Hedwig - ein Band zwischen Ost und West, Königsteiner Blätter 2 (1956), 100-110; 3 (1957), 61-67; F. HERVAY, Die Geschwister der heiligen Hedwig in Ungarn, Archiv für schlesische Kirchengeschichte 40 (1982), 223-241; H. MANIKOWSKA, Zwischen Askesis und Modestia. Büß- und Armutsideale in polnischen, böhmischen und ungarischen Hofkreisen im 13. Jahrhundert, Acta Poloniae Histórica 47 (1983), 33-53; F. MACHILEK, Die Premysliden, Piasten und Arpaden und der Klarissenorden im 13. und frühen 14. Jahrhundert, in: Westmitteleuropa - Ostmitteleuropa. Vergleiche und Beziehungen. Festschrift für Ferdinand Seibt zum 65. Geburtstag (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 70), hg. v. Winfried EBERHARD u.a., München 1992, 293-306; T. KLANICZAY/G. KLANICZAY, Szent Margit legendá és stigmiá (Irodalomtôrténeti fuzetek 137), Budapest 1994, 93-116. 56 Kaspar ELM, Die Stellung der Frau im Ordenswesen, Semireligiosentum und Häresie zur Zeit der heiligen Elisabeth, in: Sankt Elisabeth. Fürstin, Dienerin, Heilige (wie Anm. 53), 7-28. Über weitere Literatur: Gertrud JARON LEWIS, Bibliographie zur deutschen Frauenmystik des Mittelalters (Bibliographien zur deutschen Literatur des Mittelalters 10), Berlin 1989; Peter DINZELBACHER, Europäische Frauenmystik des Mittelalters. Ein Überblick, in: DERS., Mittelalterliche Frauenmystik, Paderborn u.a. 1993, 16-26. 57 M. BIEHL, Die heilige Elisabeth von Thüringen als Terziarin, Franziskanische Studien 18 (1931), 280-295; Ewald WALTER, Franziskanische Armutsbewegung in Schlesien. War die Herzogin Anna ( t 1265), die Schwiegertochter der hl. Hedwig, eine Terziarin des Franziskanerordens?, Archiv für schlesische Kirchengeschichte 40 (1982), 207221. Vgl. dazu auch die Beiträge von PACIOCCO (wie Anm. 12), 326, und M. WERNER, „Mater Hassiae - Flos Ungariae - Gloria Teutoniae". Politik und Heiligenverehrung im Nachleben der hl. Elisabeth von Thüringen, in: Jürgen PETERSOHN (Hg.), Politik und
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Was Agnes angeht, können wir sowohl aus den Klara zugeschriebenen Briefen als auch aus den ein hohes Maß seelsorgerischer Einfìihlsamkeit verratenden Schreiben Gregors IX. schließen, daß sie eine Franziskanerin wurde, die es verstanden hat, die ältere, von harter Askese und rücksichtsloser Selbsterniedrigung, aber auch von der Solidarität mit den Elenden geprägte Frauenfrömmigkeit des Nordens mit der neuen, sublimeren Geistigkeit von S. Francesco und S. Damiano zu verbinden.
IV. Die Frage danach, was aus Agnes, die Klara um fast drei Jahrzehnte überlebte, wurde und in welche Richtung sich die auf sie zurückgehenden Institutionen entwickelten, ist bei der bisherigen Beschäftigung mit der Heiligen und ihrem geistlichen Leben kaum gestellt, geschweige denn zu beantworten versucht worden. Wenn sie, wie es H. Soukupová tut, damit beantwortet wird, daß „dank dem Verdienst der Premyslidenprinzessin Agnes und des böhmischen Königs Vaclav, statt Assisi Prag zu dem Zentrum geworden ist, aus dem in den dreißiger Jahren des 13. Jahrhunderts die Bestrebungen um eine ideelle Reform des Franziskanerordens hervorgingen", gibt dies zu weiteren Fragen Anlaß.58 War das „Franziskanische" der Agnes und ihrer Gefährten wirklich so bestimmend, daß von ihm eine dauernde Erneuerung des Franziskanertums ausgehen konnte? Blieben sie und die Institutionen, die auf sie zurückgingen, ihren ursprünglichen Idealen stets treu? Der Verfasser der Vita und alle diejenigen, die sich wie er mit Agnes beschäftigten, betonen, daß sie bis zu ihrem Tode im Jahre 1282 bei dem geblieben sei, wozu sie sich nach langem Suchen entschieden hatte.59 Diejenigen Ordensleute, die sie schon bald in Böhmen, Bayern und Franken als Heilige verehrten, taten das Gleiche in der Gewißheit, in ihr eine überzeugende Verkörperung des franziskanischen Ordensideals sehen zu können.60 Agnes war sich, das sollte jedoch darüber nicht vergessen werden, trotz aller Orientierung an Franz und Klara und ungeachtet der grísea tunica, die sie trug, ihres Ranges und ihrer Herkunft stets bewußt. Sie blieb auch als Franziskanerin bis zu ihrem Tode geprägt von dem Milieu, aus dem sie und die meisten ihrer Mitschwestern stammten. Die zur Nonne gewordene Prinzessin, die Heiligenverehrung im Hochmittelalter (Vorträge und Forschungen 42), Sigmaringen 1994, 449-540. 58 SOUKUPOVÁ, Anezky kláster (wie Anm. 52), 366-369. 59 Vita, 108. 60 Neben der in den Anm. 1, 5 und 6 angeführten Literatur: K. RUH, Das St. Klara-Buch, Wissenschaft und Weisheit 46 (1983), 192-206.
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sich in ihren Urkunden als discípulo sancii Francisci, gleichzeitig aber auch als soror regis Boemorum bezeichnete 61 , blieb auch im Kloster Mitglied der königlichen Familie und damit eine politische Instanz, die sich mit Rat und Tat für den Bestand der Dynastie und das Wohlergehen des Königreiches einsetzte. Auch wenn man in ihrem Kloster arm zu leben gewillt war, ja Zeiten erlebte, in denen die Schwestern ähnlich wie die übrigen Bewohner Prags infolge von Hungersnöten Mangel litten62, waren Armut und Not nie so groß, daß sie Agnes und ihren Konvent daran gehindert hätten, Kirche und Kloster mit kostbaren Kultgeräten und die Bibliothek mit Handschriften auszustatten, die zu den bedeutendsten Böhmens gehören 63 . Sie, ihre Mitschwestern und ihr Kloster blieben unter dem Schutz des sie fordernden przemyslidischen Hauses und der böhmischen Krone. Als „Ausdruck prunkvoller Hofkultur, der dem Geist des asketischen Ordens des hl. Franz und Klaras nicht mehr entsprach" 64 , trat Na Frantisku neben die Klöster und Stifte von Vysehrad, Strahov und St. Georg auf dem Hradschin, die den hohen Rang königlicher Hausklöster einnahmen 65 . Seine 1261 errichtete, in der Nachfolge der SainteChapelle zu Paris stehende, an die Grablege der Landgrafen von Thüringen in der Elisabethkirche zu Marburg erinnernde und mit zahlreichen Hinweisen auf ihre „Königsnähe" versehene Salvatorkapelle barg nicht nur die Mausoleen ihres Bruders, König Wenzels I., Kunigundes, der zweiten Gattin König Ottokars II., deren Töchter, Agnes und Margarete, und anderer Angehöriger des przemyslidischen Hauses und des böhmischen Hochadels, sondern zeitweilig auch Kleinodien des Königreiches. 66 Ihre Verehrung und die Fürbitte fur die Seelen der hohen Verstorbenen gehörten denn auch zu den wesentlichsten, wenn nicht gar den wichtigsten Aufgaben der Schwestern. Agnes und ihre Schwestern beschränkten sich jedoch nicht auf ihren Prager Konvent, und das böhmische Herrscherhaus begnügte sich nicht mit dessen Förderung. Nach seinem Vorbild gründete Agnes' Schwester, die Herzogin Anna von Schlesien, in Breslau ein Klarissenkloster,
61 CDBIV.Nr. 67, 155. 62 Vita, 110. 63 H. SOUKUPOVÁ, Iluminované rukopisy ζ klástera bl. Anezky ν Praze Na Frantisku, Casopis Národního muzea Ν Praze 153 (1984), 69-97; DIES., Relikviáre Ζ klástera bl. Anezky ν Praze na Frantisku, Památky a pnroda 13 (1988), 3 9 5 ^ 0 0 . 64 KUTHAN, Premysl Ottokar II. (wie Anm. 39), 290-291. 65 Vgl. dazu: Anna PETITOVA-BENOLIEL, L'Eglise à Prague sous la dynastie des Luxembourg 1310-1419 (Etudes et Sources Médiévales 52), Hilversum 1996. 66 H. SOUKUPOVA-BENAKOVA, Premyslovské mauzoleum Ν kláStere blahoslavené Anezky na Frantisku, Umëni 24 (1976), 193-216; DIES., Pohrby Premyslovcû Ν klástere bl. Anezky ν Praze na Frantisku, Casopis Národního muzea ν Praze 154 (1985), 14-39.
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dem bald weitere in Schlesien und Polen folgten. 67 In bewußter Anlehnung an Na Frantisku entstanden mit Hilfe Ottokars II. und Wenzels II. im Laufe des 13. Jahrhunderts in Olmütz, Znaim, Troppau, Jungfernsteinitz und Krumau Niederlassungen von Klarissen, fur die wie für das Kloster in Prag eine enge Verbindung mit den örtlichen Franziskanerkonventen charakteristisch war. Wenn man diese „Ordensblüte" als Ausdruck einer Francescanità werten will, die weitaus authentischer war als diejenige Assisis, ist dies nur möglich, wenn man Ausstattung, Anlage und Funktion, vor allem aber die Intentionen, die zur Gründung dieser Klöster führten, außer Betracht läßt. Es war nämlich keineswegs nur das Frömmigkeitsstreben der Klarissen, sondern auch die Förderung durch die Przemysliden und nach deren Aussterben der Luxemburger, die diese Blüte ermöglichte. 68 In dem Maße, in dem die Könige von Böhmen am Ende des 14., vor allem aber im 15. Jahrhundert an Macht und Bedeutung verloren, schwand denn auch der Einfluß der Klarissen auf das kulturelle und geistige Leben Prags und Böhmens. Bald setzten Stagnation und Niedergang ein. 1420 hatten die Prager Klarissen vor den Hussiten zu fliehen, erst 1638 konnten sie in ihr inzwischen in andere Hände geratenes Kloster zurückkehren. 1782 kam unter Kaiser Josef II. das Ende 69 , wurde Na Frantisku, der „für die Culturgeschichte von Prag und Böhmen so hochwichtige Denkstein, der Zerstörung preisgegeben" 70 . Was die Geschichte des von Agnes gegründeten Prager Klarissenklosters erkennen läßt, wird bei der Beschäftigung mit dem mit ihm eng verbundenen Hospital noch deutlicher. Die Lösung des nach dem Willen Gregors IX. zunächst eng mit dem claustrum verbundenen und zu seinem Unterhalt verpflichteten Hospitals, die um der suprema paupertas von Agnes betrieben und von Gregor gestattet worden war 71 , schuf die Voraussetzungen für die Entstehung eines eigenen Ordens, des Ordens der Kreuzherren mit dem Roten Stern72. Die aus Männern und Frauen gebildete und einem eigenen Magister 67 Th. PIETSCH, Zur Geschichte des Breslauer Klarenstiftes, des jetzigen Ursulinenklosters, Breslau 1937; E. MALACHOWICZ, Ksi^zçce rezydencje fundacje i mauzolea w lewobrzeznym Wroctawiu, Wroclaw 1 9 9 4 , 3 0 - 5 4 . 68 Neben der in Anm. 13 genannten Literatur: Gerard Pieter FREEMAN, Ciarissen in de derdiende eeuw. Drie studies, Utrecht 1997, 335-336, sowie: M . A. RÖTTGER/M. P. GROB, Klarissen. Geschichte und Gegenwart einer Ordensgemeinschaft (Franziskanisches Leben 1), Werl 1994, und E. WAUTER, Die Anfänge des Klarissenordens in den slawischen Ländern, Leipzig 1903. 6 9 W. W. TOMEK/J. MOCKER, Das Agnes-Kloster in Prag, Wien 1 8 9 1 , berücksichtigt anders als SOUKUPOVÁ (wie Anm. 52) auch die Spätzeit des Klosters. 70 Joseph NEUWIRTH, Geschichte der christlichen Kunst in Böhmen bis zum Aussterben der Premysliden, Prag 1888, 102. 71 CDB III/l, Nr. 79, 85-87; Nr. 103, 121-123; Nr. 105, 124-126; Nr. 182, 227-228. 72 F. JAKSCHE, Geschichte des ritterlichen Kreuzherrenordens mit dem roten Sterne, Prag 1 9 0 4 ; V . BËLOHLÀVEK/J. HRADEC, Dëjiny éeskych knzovnikû s ¿ervenou hvëzdou I, Prag 1930; V. SADLO, Kláster knzovnikû s cervenou hvezdou Ν Praze. Památky archéo-
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unterstehende Hospitalgemeinschaft, die man als seine Keimzelle ansehen darf, wurde bald darauf von Gregor IX. als Ordo canonicus nach der Augustinerregel anerkannt.73 Ein Jahr danach folgte ein weiterer Schritt auf dem Wege der Ablösung vom Franziskanertum und der Verselbständigung. Der Papst beauftragte den Provinzial der polnischen Dominikaner, gemeinsam mit dem Prior des Prager Predigerklosters die auf den Franziskaner Giovanni di Pian di Carpine zurückgehenden Statuten zu revidieren und die Visitation des Hospitals zu übernehmen.74 1252 erhielt der neue Orden auch das äußere Zeichen seiner Selbständigkeit. Bischof Nikolaus II. von Prag gab ihm auf Bitten Klaras und Veranlassung Papst Innozenz' IV. eine Stella ruba cum signo crucis als offizielles, auf Mantel und Kappe zu tragendes Ordensinsignium.75 Agnes, die von den Kreuzherren als fundatrix ordinis nostri bezeichnet und verehrt wird76, blieb auch nach der Verselbständigung des Hospitals seine Protektorin. Sie übte erheblichen Einfluß auf seine Entwicklung aus und verhalf ihm durch ihre Fürsprache bei Hof und Adel zu umfangreichem Besitz und erheblichen Einkünften.77 Sie und die königliche Dynastie veranlaßten die Stellati, so nannte man die Brüder, auch außerhalb Prags Spitäler zu gründen oder zu übernehmen. Dabei ließen sie sich nicht nur von Pietät, sondern auch von politischen Überlegungen leiten. Die Organisation eines zentral gelenkten Hospitalwesens war für die Könige von Böhmen nicht nur eine soziale Maßnahme, sondern auch Instrument ihrer Stadtgründungspolitik, d.h. ein Mittel, ihre Präsenz in den immer mehr an Bedeutung gewinnenden Städten des Königreiches zu verstärken.78 Die Ausbreitung begann 1240 mit der Übernahme logické, Skupina historická 38 (1932), 33-45; Kniha památú na sedmisetleté mlození éeskych kfizovnikû s öervenou hvëzdou 1233-1933, Praha 1933; Willy LORENZ, Die Kreuzherren mit dem roten Stern (Veröffentlichungen des Königsteiner Instituts für Kirchen- und Geistesgeschichte der Sudetenländer 2), Königstein 1964; J. SVÁTEK, Organizace reholnich institua' ν öeskych zeitlich a péce o jejich archivy, Sborník Archivních Prací 2 (1970), 520-521; F. MACHILEK, Krizovníci s ôervenou hvëzdou, Novy Zivot 32 (1980), 34-36; Κ. BERGMANN, Überblick über die Geschichte des ritterlichen Kreuzherrenordens mit dem roten Stern, Adler. Zeitschrift für Genealogie und Heraldik 13/XXVII (1983), 99-103; F. MACHILEK, Die selige Agnes von Böhmen und der Orden der Kreuzherren mit dem roten Stern, in: Von der alten zur neuen Heimat, hg. v. F. KuBIN/A. RIEBER, Bamberg 1986, 2 2 - 3 4 .
73 74 75 76 77 78
CDBIII/1, Nr. 160, 195-198. CDBIII/1, Nr. 184,231. CDB IV, Nr. 245, 4 2 2 ^ 2 5 ; V, Nr. 81, 149. CDB V, Nr. 178,285. CDB IV, Nr. 288, 481^482; Nr. 291-292,486-^87. Adolf ZYCHA, Über den Ursprung der Städte in Böhmen und die Städtepolitik der Premysliden, Prag 1914; F. KAVKA, Die Städte Böhmens und Mährens zur Zeit des Premysliden-Staats, in: Die Städte Mitteleuropas im 12. und 13. Jahrhundert, Linz 1960, 146-152; J. KEJR, Die Anfange der Stadtverfassung und des Stadtrechts in den Böhmischen Ländern, in: Die deutsche Ostsiedlung des Mittelalters als Problem der europäischen Geschichte (Vorträge und Forschungen 18), hg. v. Walter SCHLESINGER,
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des schon im 12. Jahrhundert gegründeten Stiftes St. Hippolyt auf dem Pöltenberg bei Brünn.79 Vier Jahre später übertrug König Wenzel auf Bitten seiner Schwester den Prager Brüdern das bei der St. Jakobskirche in Mies gelegene Hospital, das bis dahin der Benediktinerabtei Kladrau unterstanden hatte. Ende der vierziger Jahre übernahmen sie ein Spital in Brüx, das von König Wenzel dotiert worden war. 1257, wenige Jahre nach dem Erwerb Österreichs, übertrug Ottokar ihnen in Wien das 1255 gegründete Allerheiligenhospital. 1271 bestätigte er die Inkorporation eines älteren Spitals in Eger. Sein Nachfolger Wenzel II. nahm 1288 ihr Hospital in Klattau und 1313 dasjenige in Leitmeritz unter den königlichen Schutz. Johann von Luxemburg tat das gleiche 1337 bzw. 1338 fur die Spitäler in Außig und Kurim. Karl IV. setzte diese Politik fort und half den Brüdern beim Erwerb von Niederlassungen in Budweis (1351), Pisek (1351), Schüttenhofen (1352) und Zittau (1352). Wie in Böhmen erlebte der Orden auch in Schlesien einen schnellen Aufschwung80. Ausgangspunkt war das 1242 von der Witwe Herzog Heinrichs II. von Schlesien, der Przemyslidin Anna, und ihren Söhnen Heinrich und Wladislaus bei der Breslauer Matthiaskirche gegründete Elisabethhospital. Den dortigen Fratres Cruciferi Stellati, von denen die Stifter verlangten, quod secundum ordinem et habitum fratrum eorum, qui hospitali sancii Francisci Pragensi deserviunt lebten81, gelang es, schon wenige Jahrzehnte später in Kreuzburg (1253), Bunzlau (1266) und Hohensalza (1268) Hospitäler zu übernehmen bzw. zu gründen, denen noch im 13. Jahrhundert weitere in Münsterberg (1282), Schweidnitz (1283), Liegnitz (1288), ja sogar in Polen und der Ukraine folgten. Auch wenn das Breslauer Hospital und die von ihm gegründeten Häuser ihre Eigenständigkeit gegenüber dem Prager Mutterhaus und dessen Dependancen betonten, fühlten sie sich bis ins 14. Jahrhundert dazu verpflichtet, ihre ursprünglichen Aufgaben zu erfüllen und entsprechend den aus dem 13. JahrSigmaringen 1975, 439-470; J. ZEMLICKA, Das 13. Jahrhundert in der tschechischen Geschichte, Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte (1983), 123-135. 79 CDB IV, Nr. 55, 139-140. Vgl. auch Nr. 94, 186. 80 Beiträge zur Geschichte des Ordens der Kreuziger mit dem rothen Steme in Schlesien und des Hospitals der heiligen Elisabeth des Hauses des heiligen Mathias, in: Uebersicht der Arbeiten und Veränderungen der schlesischen Gesellschaft fiir Vaterländische Kultur im Jahre 1838, Breslau 1839, 145-164; P. PFOTENHAUER, Die Kreuzherren mit dem roten Stern in Schlesien, Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 14 (1878), 52-78; Ρ. DITTRICH, Beiträge zur Geschichte des Fürstentums Breslau II: Die Kreuzherren im Fürstentum Breslau, ebd., 45 (1911), 201-250; E. v. KLEIST, Das Matthiasstift des Ordens der Kreuzherren mit dem roten Stem, in: Festschrift des Kgl. St. Mathiasgymnasiums zur Jahrhundertfeier 1811—1911; K. EISTERT, Beiträge zur Geschichte des Ordens der Kreuzherren mit dem roten Stern vom Breslauer Mathiasstift, in: 300 Jahre Mathiasgymnasium zu Breslau 1638-1938. Eine Erinnerungsschrift, Breslau 1938. 81 CDB V, Nr. 9, 44-45, Nr. 140, 225-226.
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hundert stammenden Konstitutionen, die den Geist des von Agnes gestifteten Hospitals bewahrten, zu leben.82 Dennoch setzten bereits am Ende des 14. Jahrhunderts sowohl in Böhmen als auch in Schlesien Stagnation und Niedergang ein. Sie hatten ihren Grund in mangelnder Unterstützung durch die Herrscher, in der Kommunalisierung des Hospitalwesens und in dem damit zusammenhängenden Bestreben der Brüder, den Charakter ihres Ordens zu ändern. Aus der ursprünglichen Laiengemeinschaft wurde ein Klerikerorden, der nach den Rückschlägen infolge der Hussitenkriege und der Reformation in den Dienst der Gegenreformation trat. 1561 stellten die böhmischen Kreuzherren mit ihrem Großmeister Anton Brus nach einer 140 Jahre dauernden Sedisvakanz wieder einen Erzbischof von Prag und begründeten damit die bis 1668 dauernde Tradition, nach der dieses hohe Amt mit postulierten Meistern des Kreuzherrenordens besetzt wurde, was nicht unerheblich zur Verstärkung der Klerikalisierung des Ordens beitrug. Aber damit nicht genug: Die Stellati mit dem Stern von Bethlehem auf ihrem Gewand, an deren Anfang die Verehrung des im Stall geborenen Jesuskindes und eine an Greccio gemahnende Krippenfrömmigkeit gestanden hatte, beriefen sich seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert nicht mehr auf die arm gewordene Agnes als ihre Gründerin und begnügten sich auch nicht mehr damit, ein Klerikerorden zu sein. Sie behaupteten vielmehr, ihr Orden sei ein ritterlicher Orden mit einer bis in das Bethlehem der Kreuzfahrerzeit, ja bis in die Frühzeit der Kirche von Jerusalem zurückreichenden Geschichte.83 Das neue Selbstverständnis führte zur Annahme eines neuen Ordenstitels, zur Anpassung der Bezeichnung der Ordensämter an diejenigen der Ritterorden und zum Verzicht auf das bisherige Ordenskleid. 1650 erhielt der Orden von der Kurie die offizielle Bestätigung als Ordo militaris und sein Summus magister mit Zustimmung von Kaiser und König Sitz und Stimme im böhmischen Landtag. Durch diese Rangerhöhung beflügelt, errichtete der „Ritterliche Orden der Kreuzherren mit dem Roten Stern" in Prag, Breslau und Wien Kloster- und Kirchenbauten, die seinem neuen Status entsprachen.84 Bei ihnen handelt es sich um Meisterwerke der Barockarchitektur, die durch Lage und Schönheit die ihnen entgegengebrachte Bewunderung verdienen. Von dem, was Agnes und die auf sie zurückgehenden Stellati in ihren Anfängen sein wollten, nämlich eine Gemeinschaft in Armut lebender Brüder und Schwestern mit einem Hospital in usus infirmorum et peregrino-
Si Der Verfasser beabsichtigt, anderswo ausführlicher auf die Kreuzherren mit dem Roten Stern und ihre Konstitutionen einzugehen. Vorläufig sei auf die in den Anm. 72 und 80 genannte Literatur hingewiesen. 83 Státní ústfední archiv ν Praze, Scrinium 61, Karton 68: Compendiosa Sacri et Militaris Ordinis Crucigerorum cum Rubea Stella dictorum ab origine ad moderna usque tempora ex variis manuscriptis vetustis et historiéis excerpta; ebd., Scrinium 15, Karton 35: Dissertatio de ortu et progressu Sacri Ordinis Crucigerorum cum Rubea Stella. 84 Vgl. u.a.: Karl M. SWOBODA (Hg.), Barock in Böhmen, München 1964.
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rum seu aliorum ad idem confluencium*5, war und ist hingegen bei ihrem Anblick kaum noch etwas zu spüren.
V. Agnes von Prag ist ohne die Nähe zum Franziskanertum, die sie schon bald nach ihrem Entschluß, die Welt zu verlassen, gesucht hatte, und den Einfluß, den Papst Gregor IX. und Klara von Assisi auf sie ausgeübt haben, nicht zu verstehen. Sie war aber dennoch keineswegs nur eine Kreatur des Papstes oder lediglich eine Pflanze der Heiligen aus Assisi. Sie widerstand dem Papst, als es um die Verwirklichung ihres an den ursprünglichen Intentionen des Poverello orientierten Ordensideals ging, spiritu tarnen fortis et fervidiτ86 und unterschied sich von Klara, wenn auch nicht durch die Konsequenz ihres Wollens und Handelns, dann doch durch ihre Herkunft, ihr bisheriges Leben und die Art ihres Wirkens. Agnes, die Königstochter war und bereits eine lange geistige Entwicklung durchgemacht hatte, als sie Franziskanerin wurde, hatte anders als Klara, die in der bürgerlichen Welt Assisis aufgewachsen und als junges Mädchen von heute auf morgen von der Armutsbewegung des Duecento mitgerissen worden war87, geistige Wurzeln, die weiter zurückreichten, nämlich bis in das 12. Jahrhundert, in die Zeit der Apostolischen Wanderprediger, der Vallumbrosaner, Kamaldulenser und Kartäuser, der Reformorden der Zisterzienser und Prämonstratenser und - nicht zu vergessen - einer sich rückhaltlos in den Dienst Gottes und der Nächsten stellenden Frauenfrömmigkeit88. Ihre mit Hilfe von König und Hochadel zustande gekommene Gründung, deren Mittelpunkt sie auch dann noch blieb, als sie auf den Titel einer Äbtissin verzichtete, um Schwester unter Schwestern zu sein, hatte einen anderen Charakter und stand in anderen und älteren Traditionen als S. Francesco und S. Damiano. Sie gehört zu den Stiftungen der Piasten in Breslau und Gnesen, der Habsburger in Königsfelden, den königlichen Klarissenklöstern in Spanien und dem von Isabella von Frankreich und ihrem Bruder Ludwig dem Heiligen gegründeten Kloster in Longchamp, in denen sich Prinzessinnen und
85 C D B III/l, Nr. 130, 164-165. 86 Vita, 100. 87 Neben Anton ROTZETTER, Klara von Assisi. Die erste franziskanische Frau, Freiburg/ Basel/Wien 1993, und M . BARTOLI, Chiara d'Assisi (Bibliotheca Seraphico-Capuccina 37), R o m 1989, u.a.: J. G. BOUGEROL, Il reclutamento sociale delle ciarisse di Assisi, in: Les Ordres Mendiants et la ville en Italie centrale, Mélanges de l'École française de R o m e 89 (1977), 629-632. 88 Neben der in den A n m . genannten Literatur u.a.: Robert FOLZ, Les saintes reines du moyen-âge en Occident (Subsidia hagiographica 76), Brüssel 1992.
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Hochadlige zwar in den Dienst des arm gewordenen Gottessohnes stellten, aber dennoch einen Lebensstil hatten, der nicht unerheblich von denen ihrer Mitschwestern südlich der Alpen abwich. Dieses Phänomen ist weniger erstaunlich, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Es erklärt sich nicht nur aus dem Gewicht einer bis in das Frühmittelalter, ja bis in die Spätantike zurückgehenden Tradition und aus der Anpassungsfähigkeit an bestehende gesellschaftliche Verhältnisse, die die Franziskaner wie alle anderen Orden im Laufe ihrer Geschichte an den Tag legten, sondern hat ebenso sehr auch mit der Entstehung des weiblichen Zweiges der Franziskaner, den man frühestens seit Urban IV. als Klarissenorden bezeichnen kann, zu tun. Er stand, wie wir inzwischen wissen, nicht am Ende einer zielgerichteten und geradlinig verlaufenden Entwicklung, sondern ist das Ergebnis einer Konsolidierung höchst unterschiedlicher Frauengemeinschaften, die besonders von Gregor IX. mit Energie und Zielstrebigkeit betrieben wurde.89 Na Frantisku in Prag, Königsfelden im Aargau und Longchamp bei Paris sind Hinweise darauf 90 , welche große Vielfalt und welch erstaunlicher Spannungsreichtum trotz aller Bestrebungen zur Vereinheitlichung im Klarissentum erhalten blieben oder - anders formuliert - wie wenig ältere Formen und Funktionen des Religiosentums durch neue Tendenzen und Bewegungen, mögen diese auch noch so überzeugend und von so nachhaltiger Wirkung wie die der Franziskaner gewesen sein, überflüssig gemacht werden konnten.
89 II movimento religioso femminile in Umbria nei secoli XIII-XIV. Atti del Convegno internazionale di studio, Città di Castello, 2 7 - 2 8 - 2 9 ottobre 1982, Florenz 1984; C. GENNARO, Il francescanesimo femminile nel XIII secolo, Rivista di storia e letteratura religiosa 25 (1989), 270-280; Chiara de Assisi. Atti del XX convegno internazionale Assisi, 15-17 ottobre 1992, Spoleto 1993; L. PELLEGRINI, Le „pauperes dominae" nel contesto dei movimenti religiosi femminili italiani del secolo XIII, in: Chiara e il secondo ordine. Il fenomeno francescano femminile nel Salento, Convegno di Studi, Nardo 12-13 Novembre 1993, Lecce 1997, 210-230; M. P. ALBERZONI, Papato e nuovi Ordini religiosi femminili, in: Il Papato duecentesco e gli ordini mendicanti. Atti del XXV Convegno internazionale, Assisi, 13-14 febbraio 1997, Spoleto 1998, 207-261, mit ausführlicher Bibliographie. 90 G. BONER, Die Gründung des Klosters Königsfelden, Zeitschrift für Schweizer Kirc h e n g e s c h i c h t e 4 7 ( 1 9 5 3 ) , 1 - 2 4 , 8 1 - 1 1 2 , 1 8 1 - 2 0 9 ; DERS., D i e K ö n i g s f e l d e r K l o s t e r -
ordnung der Königin Agnes von Ungarn, Schaffhauser Beiträge zur vaterländischen Geschichte 48 (1971), 59-89; A. GARREAU, Bienheureuse Isabelle de France, soeur de saint Louis, Paris 1965; Gertrud MLYNARCZYK, Ein Franziskanerinnenkloster im 15. Jahrhundert. Edition und Analyse von Besitzinventaren aus der Abtei Longchamp (Pariser Historische Studien 23), Bonn 1987, 34-54.
KLAUS KRÜGER
Repräsentation und Sinnstiftung Zum Franziskusbild im Medium der frühen Tafelmalerei*
„Ich hätte wohl schweigen und mich all meiner Worte über den Seligen von Assisi enthalten können, wenn es mir möglich wäre, euch statt dessen in die herrliche Kirche zu Assisi zu fuhren, an deren Wänden Giotto das Leben des Franziskus abgemalt hat. Denn diese Bilder zeigen nicht nur die Taten und Begebenheiten seines Lebens, sondern sie sind auch gleichsam ein begeistertes Lied, aus dem Geiste des Seligen geboren. Die überaus kühne und inbrünstige Kunst des Giotto ist im Grunde kaum etwas anderes als ein gewaltiger Widerhall der Stimme jenes großen Sängers und Predigers." Mit solchen Worten voll hochgestimmter Empfindung preist Hermann Hesse in seiner 1904 verfaßten Lebensgeschichte des heiligen Franziskus den Niederschlag, den dessen Frömmigkeit und Gottesliebe in einer unvergleichlichen Blüte der Kunst gefunden habe. So sei es auch geschehen, „daß die zarte und selige Gottesbotschaft, welche in des Franziskus Gestalt zur Erde kam, nicht mit seinem Tode erlosch. Er hatte aus vollen Händen einen guten Samen über die Erde hingestreut, und die Saat ging auf und wuchs und erblühte - hier in eines Malers, dort in eines Dichters oder Bildners oder Weisen Seele."' Die Vorstellung von einer aus dem Geist religiöser Erneuerung erwachsenen Blüte der Kunst, wie sie Hermann Hesse hier beschwört, der Gedanke von einem „Born der Erneuerung" und einem regelrechten „Frühling"2, welcher die Künste wie mit frischem Leben erfüllt habe und in seiner klarsten Manifestation in den berühmten Wandgemälden von San Francesco in Assisi vor Augen stehe, bezieht sich bemerkenswerterweise nicht nur auf die neuartigen Themen und Inhalte dieser Bilder, auf die besagten „Taten und Begebenheiten" des Heiligen, sondern vielmehr und mit explizitem Nachdruck auf den Anblick ihrer Form, also auf jene neuartige Anschauungskraft und ausdrucksstarke Lebensnähe, die seit je den Ruhm von Giottos Malerei begründete und in der Hesse nichts anderes als den poetisch verdichteten „Widerhall" einer *
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Für die Drucklegung des vorliegenden Beitrags wurde die Vortragsfassung von 1998 weitestgehend unverändert beibehalten und in den Anmerkungen lediglich um Literaturhinweise mit den nötigsten Angaben und Belegstellen ergänzt. Vgl. auch den Hinweis in Anm. 13. Hermann HESSE, Franz von Assisi, Frankfurt a.M. 1988, 69 f. (zuerst erschienen in: Die Dichtung, Bd. XIII, hg. v. Paul REMER, Berlin/Leipzig 1904). Ebd., 12 und 69.
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neuen Religiosität erblickt: „[...] der weltberühmte Giotto, der erste große Malermeister der neueren Zeiten, ist recht eigentlich durch seine Dankbarkeit und starke Liebe zu Franziskus und durch dessen Geist zu solcher Tiefe und seelenvollen Glut der Darstellung getrieben worden, wie wir in seinen wundervollen Werken finden"3. Wie auf Giotto und seine Zeitgenossen habe der Heilige dann auch „noch lange nach seinem Tode eine solche sanfte und tiefe Macht auf die Gemüter" ausgeübt, „daß er der Liebling aller Künstler ward. Diesen schien sein Leben so voll von Poesie [...], daß Hunderte von Malern und Bildnern seine Gestalt und Szenen aus seinem Leben abgebildet haben."4 Hesses Verständnis von einer „franziskanischen Kunst", die er als den formgewordenen und im Grunde zeitlosen Ausdruck einer christlich bestimmten Humanität ansieht und am Ende identifíkatorisch auch für sein eigenes Literaten- und Künstlertum in Anspruch nimmt, steht keineswegs vereinzelt.5 Diego Rivera etwa, der aus dem Selbstverständnis eines revolutionären Avantgardisten in seinem Heimatland Mexiko eine neue, gesellschaftliche Funktion der Kunst durch einen „antibürgerlichen", breiten Schichten der Bevölkerung zugänglichen Realismus zu begründen sucht, erkennt in Giotto nachgerade einen „Propagandisten des Geistes der christlichen Nächstenliebe, die Waffe der franziskanischen Mönche gegen die feudale Unterdrückung seiner Zeit" und erhebt ihn zum leuchtenden Vorbild für seine eigene, neue, dem Volk seiner Heimat zugeeignete Monumentalmalerei. Deren kraftvoll-emphatischer Stil mit groß entworfenen und plastisch durchgeformten Figurenkompositionen speist sich unmittelbar aus Riveras Kenntnis der italienischen Wandmalerei, und er wird von ihm seit den 1920er Jahren in zahlreichen öffentlichen Gebäuden des Landes regelrecht als eine überregional verbindliche Sprachform etabliert, die in wirkungsmächtigen Episoden die Geschichte der Arbeiterschaft und näherhin das Leben und den Selbstbefreiungskampf des mexikanischen Volkes vor Augen stellt.6 Wie verschieden die ideologischen Zielvorstellungen und das ethischästhetische Weltbild eines Hermann Hesse und eines Diego Rivera auch sein mögen, so stehen doch beide in den Prämissen ihrer Kunstauffassung und in der Einschätzung des „franziskanischen Erbes" fraglos in der Tradition des 19. Jahrhunderts und des von der Kulturgeschichte hegelscher Prägung vorgege3 4 5
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Ebd., 69. Ebd., 72. Vgl. Hans HEGENER, Der Typus des Franz von Assisi in bildender Kunst und Literatur, Franziskanische Studien 60 (1978), 186-201 (dort 197 ff. zu Rainer Maria Rilke, Carl Zuckmayer, Reinhold Schneider u.a.). Diego RIVERA, The Revolutionary Spirit of Modern Art, Modern Quarterly: A Journal of Radical Opinion 6, 3 (1932), 51-57, hier: 57. Dt. Übers, in: Kunsttheorie im 20. Jahrhundert. Künstlerschriften, Kunstkritik, Kunstphilosophie, Manifeste, Statements, I n t e r v i e w s , h g . v . C h a r l e s HARRISON u. P a u l WOOD, Stuttgart 2 0 0 3 , B d . I, 5 0 3 - 5 0 6 ,
hier: 506.
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benen Modells, das morphologische System der Kunst als einen sichtbaren Ausdruck fur den geistigen, politischen oder ökonomischen Zustand einer Zeit zu deuten.7 Vor allem die Romantik mit ihrer retrospektiven Öffnung auf christliche Wertvorstellungen und ihrem utopischen Verständnis einer „Individuum" und „Volk" umspannenden „Gemeinschaftskultur" des Mittelalters gab hier maßgebliche Impulse. Wenn in den Schriften eines Joseph Görres (1826) und Frédéric Ozanam (1852), eines Karl von Hase (1856), Ernest Renan (1884) und anderer mehr den Mendikantenbewegungen des 13. Jahrhunderts nachgespürt und die Gestalt des heiligen Franziskus dabei als Leitstern einer neuen Religiosität wiederentdeckt wird, so wird damit immer zugleich die Perspektive auf sein ganzes Jahrhundert als einem Schauplatz des allgemeinen literarischen und künstlerischen Erwachens eröffnet. 8 Bereits Johann David Passavant spricht 1820 vor diesem Hintergrund von Giotto als dem genuinen „Stifter eines großartigen religiös-strengen Styles" und versteht die sinnliche Anschauungskraft und Naturnähe seiner Kunst als den sichtbaren Niederschlag eines neuen, humanen und gefühlsbetonten Christentums.9 Daß sich im künstlerischen Wirklichkeitssinn der Giotto-Zeit das Aufblühen einer neuen Religiosität manifestiere, der strahlende Ausdruck einer in der geistlichen Erneuerung begründeten Freisetzung des Menschen aus überkommenen Bindungen, entwickelte sich in der Folge zu einer einschlägigen Vorstellung. Namentlich durch Henry Thodes großes Werk über 'Franz von Assisi und die Anfänge der Kunst der Renaissance in Italien' (1885) erhielt sie den Prägestempel eines fachlich kanonisierten Wissens. Die von Thode so nachdrücklich vorgetragene Auffassung, daß die mit Giotto einsetzende Kunstentwicklung der Renaissance ihre eigentliche Wurzel in der durch Franz von Assisi begründeten „Gefiihlsherrschaft einer subjektiven Religionsanschauung" besitze, in einer umfassenden „Bewegung der Humanität", deren tieferer histori7
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Vgl. dazu Ernst H. GOMBRICH, Die Krise der Kulturgeschichte, in: DERS., Die Krise der Kulturgeschichte. Gedanken zum Wertproblem in den Geisteswissenschaften, München 1991, 35-90 (zuerst engl. 1969). Zum Ganzen: Stanislao DA CAMPAGNOLA, Le origini francescane come problema storiografico, Perugia 1979; Wolfgang ALTGELD, Deutsche Romantik und Geschichte Italiens im Mittelalter, in: Italia e Germania. Immagini, modelli, miti fra due popoli nell'Ottocento: il Medioevo. Das Mittelalter. Ansichten, Stereotypen und Mythen zweier Völker im neunzehnten Jahrhundert: Deutschland und Italien, hg. v. Reinhard ELZE U. Pierangelo SCHIERA, Bologna/Berlin 1 9 8 8 , 1 9 3 - 2 2 0 ; San Francesco e il francescanesimo nella letteratura italiana del Novecento, hg. v. Silvio PASQUAZI, Rom 1983. Johann David PASSAVANT, Ansichten über die bildenden Künste und Darstellung des Ganges derselben in Toscana [...], Heidelberg/Speyer 1820, 37ff. Vgl. dazu Enrica Yvonne DILK, Il medievalismo religioso-patriottico nazareno: la controversia sulla nuova arte tedesca, in: Italia e Germania. Immagini, modelli, miti fra due popoli nell'Ottocento: il Medioevo. Das Mittelalter. Ansichten, Stereotypen und Mythen zweier Völker im neunzehnten Jahrhundert: Deutschland und Italien, hg. v. Reinhard ELZE u. Pierangelo SCHIERA, Bologna/Berlin 1988, 221-242.
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scher Sinn die „Befreiung des Individuums" g e w e s e n sei, wurde zu einer weithin als gemeingültig vorausgesetzten Sichtweise, die noch über Generationen hin kunstgeschichtliche Untersuchungen mit geradezu axiomatischer Geltungskraft bestimmte. 1 0 Die „Ressourcen der Repräsentation", so formulierte es noch jüngst (1995) Charles Harrison in einem durchaus fundierten Handbuch zur Kunst des italienischen Trecento, hätten sich seinerzeit im Dienst der historischen Aufgabe gewandelt, „eine revidierte Auffassung v o m Menschen zu artikulieren und solcherart das Selbstverständnis der franziskanischen B e w e g u n g zu verbreiten" 11 . Sieht man einmal ab von der grundsätzlichen historiographischen Problematik, die „franziskanische B e w e g u n g " auf ein unverwechselbares Substrat v o n religiösen Erfahrungsweisen, v o n sozialen Lebensformen usw. - festzulegen, so wirft doch das Erklärungsmodell auch aus Sicht der Kunstgeschichte weitreichende Fragen auf, Fragen nach der Genese und den Wirkungsweisen bildlicher Medien und generell nach ihren Bedingungen von Repräsentation und Sinnstiftung, in weiter gefaßter Perspektive also Fragen nach der historischen Semantik v o n Bildern. 1 2 Inwieweit kann man davon ausgehen, daß im
10 Henry THODE, Franz von Assisi und die Anfänge der Kunst der Renaissance in Italien, Berlin 1885, zitiert nach der 4. Aufl., Wien 1934, 14 u. 81. Vgl. ebd., 448: „Giotto [...] war es vorbehalten, die neue sinnliche Religionsauffassung der Franziskanerdichter und -prediger in Kunstwerke umzusetzen." Zur Wirkung Thodes siehe S. DA CAMPAGNOLA (wie Anm. 8), 158 ff.; DERS., Francesco d'Assisi negli studi storici dell'ultimo secolo, in: Francesco d'Assisi nell'ottavo centenario della nascita, Mailand 1982, 13-33; Kaspar ELM, Von Joseph Görres bis Walter Götz: Franziskus in der deutschen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, in: L'immagine di Francesco nella storiografia dall'umanesimo all'Ottocento, Assisi 1983, 343-383, hier: 358 ff.; San Francesco e il francescanesimo nella letteratura italiana del Novecento, hg. v. Silvio PASQUAZI, Rom 1983. Zur Problematik der zugrunde liegenden Assoziation von Franziskus mit 'Renaissance' und 'Realismus' bereits Johan HUIZINGA, Das Problem der Renaissance - Renaissance und Realismus, Tübingen 1953 (zuerst 1920 bzw. 1929). 11 Charles HARRISON, Giotto and the 'rise of painting', in: Siena, Florence and Padua: Art, Society and Religion 1280-1400, Vol. I: Interpretative Essays, hg. v. Diana NORMAN, New Haven/London 1995, 73-95, hier: 88 („to articulate a revised conception of the human [...] to propagandize the self-image of the Franciscan movement"; ebd. 89 f.: „Giotto as a 'Franciscan' painter"). Ähnliche Sichtweisen etwa bei Salvatore SETTIS, Ikonographie der italienischen Kunst 1100-1500: eine Linie, in: Italienische Kunst. Eine neue Sicht auf ihre Geschichte, Berlin 1987, 9-105, hier: 53 f.; oder bei Timothy VERDÓN, Christianity, the Renaissance, and the Study of History. Environments of Experience and Imagination, in: Christianity and the Renaissance. Image and Religious Imagination in the Quattrocento, hg. v. Timothy VERDÓN U. John HENDERSON, Syracuse/New York 1990, 1-37, hier: 12 ff. 12 Vgl. die weiterführende Erörterung bei Klaus KRÜGER, Selbstdarstellung im Konflikt. Zur Repräsentation der Bettelorden im Medium der Kunst, in: Die Repräsentation der Gruppen. Texte - Bilder - Objekte, hg. v. Otto Gerhard OEXLE U. Andrea VON HÜLSENESCH, Göttingen 1998,127-186.
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13. Jahrhundert religiöse Ansprüche und Wertvorstellungen tatsächlich als konkreter Anschauungsgehalt in der bildenden Kunst der Zeit aufgingen, dergestalt daß sie nicht nur thematische Aussagen und ikonographische Programme der Darstellungen, sondern auch deren Stil und visuelle Grammatik, die Spezifik ihrer bildlichen „Sprachform" also prägten oder umprägten? Und ist in diesem Zusammenhang die Hervorbringung neuer Darstellungsformen wie auch neuartiger Bildmedien auf die Erscheinung und das Auftreten des Ordensstifters selbst und die so oft beschworene Dimension seiner novitas zurückzuführen, oder ist sie vielmehr ein Index für jene Neuartigkeit, die in der Aufgabe seiner Repräsentation lag? Und schließlich: Ist der durch die Darstellung im Bild erwirkte Eindruck von Präsenz und Authentizität das Resultat eines neuen „Realismus" bildlicher Darstellung oder vielmehr einer neuen Qualität der Freisetzung des Betrachters vor dem Bild? Anders gefragt: Welche Rolle eigentlich wächst dem Bild hier für jenes Widerspiel zu, das sich im Betrachter zwischen der Festlegung und der Freisetzung seiner Einbildungskraft vollzieht? 13
Blicken wir, um diesen Fragen nachzugehen, auf die frühesten Darstellungen des Heiligen, wie sie sich auf den in der Ordensprovinz Tuscia (Toskana) verbreiteten Bildtafeln des Duecento finden. Als umfangreiche Serie von Bildern nahezu gestaltgleichen Aussehens, deren frühestes Exemplar, nur in einem Reproduktionsstich überliefert, bis ins Jahr der Kanonisation des Heiligen selbst (1228) zurückzuführen scheint und deren Produktion dann das ganze 13 Die nachfolgenden Ausführungen rekurrieren im wesentlichen auf meine 1992 publizierte Untersuchung zum Thema: Klaus KRÜGER, Der frühe Bildkult des Franziskus in Italien. Gestalt- und Funktionswandel des Tafelbildes im 13. und 14. Jahrhundert, Berlin 1992, mit ausführlichen Belegen und weiterführender Argumentation sowie mit einem Katalog sämtlicher Franziskustafeln des 13. Jahrhunderts. Vgl. ferner die wichtige Studie von Chiara FRUGONI, Francesco e l'invenzione delle stimmate. Una storia per parole e immagini fino a Bonaventura e Giotto, Turin 1993. Darüber hinaus zu einzelnen Aspekten der Franziskusikonographie: Benvenuto BUGHETTI, Vita e miracoli di San Francesco nelle tavole istoriate dei secoli XIII e XIV, Archivum Franciscanum Historicum 19 (1926), 636-732; Gerhard B. LADNER, Das älteste Bild des Hl. Franziskus von Assisi. Ein Beitrag zur mittelalterlichen Porträtikonographie, in: Festschrift Percy Emst Schramm, Wiesbaden 1964, Bd. 1, 449-460; Henk VAN OS, The Earliest Altarpieces of St. Francis, in: Francesco d'Assisi nella storia, secoli XIII-XIV (Atti del I convegno di studi per l'VIII centenario della nascita di S. Francesco, Roma 1981), Rom 1983, 333-338; Dieter BLUME, Wandmalerei als Ordenspropaganda. Bildprogramme im Chorbereich franziskanischer Konvente Italiens bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts, Worms 1983; Chiara FRUGONI, Francesco, un'altra storia, Genua 1988; Roña GOFFEN, Spirituality in Conflict. Saint Francis and Giotto's Bardi Chapel, Pennsylvania/London 1988.
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Jahrhundert über fortdauern sollte, prägten sie einen neuartigen, wirkungsvollen Typus des gemalten Kultbildes aus, an dessen Norm rasch auch die anderen kirchlichen Gemeinschaften und Institutionen des Duecento anknüpfen sollten (Abb. 1-4). Bemerkenswert an diesen Tafeln ist nicht nur der serielle Charakter ihrer Produktion sowie ihr zahlenmäßiger Umfang, der allein durch Christus- und Marienbilder überboten wird. Bemerkenswert ist vor allem auch die innovative Bildgestalt selbst, deren Giebelformat mit der Kombination von groß aufragender Mittelfigur und flankierenden Szenen in der Tafelmalerei ohne Vorläufer ist.14 Die neuartige Erscheinungsgestalt der Tafeln integriert zwei grundsätzlich verschiedene Bildgattungen in einer geschlossenen Objektform: das ganzfigurige Bildnis des Heiligen, seine imago, und einen Zyklus kleinformatiger Historienbilder seiner Legende. Zielt die imago als intendiertes Bildnis des Heiligen auf den Eindruck von dessen Präsenz, so bietet die Erzählung oder historia ein chronologisches Porträt seines Werdegangs und Wirkens. Beide Bildgattungen, imago und historia, entstammen unterschiedlichen Traditionen und sind unterschiedlichen Funktionszusammenhängen verpflichtet. Die imago wurde als Kultbild Gegenstand der religiösen Verehrung, und die kirchliche Kultpraxis wies ihr im Mittelalter vorrangig eine Verwendung als Gnaden-, Prozessions- oder Altarbild zu. Die historia hingegen besitzt ihren angestammten Ort in der epischen bzw. biographischen Bilderzählung szenischer Zyklen an den Kirchenschiffswänden oder in liturgischen Handschriften. Sie diente der Memorierung geschichtlicher Taten, sei es im Sinne des liturgischen Gedenkens oder der legendarischen Vergegenwärtigung. Auf den Franziskustafeln verbanden sich also „das Kultbild als Symbol der Präsenz und die Bilderzählung als Symbol der Geschichte" 15 zu einer neuen Funktionsform mit komplexen Bildabsichten. Um diese zu verstehen, ist zunächst der gattungs- und funktionsgeschichtliche Entstehungskontext näher zu beleuchten. Dabei ergibt sich, daß die besondere Erscheinungsgestalt der Tafeln - also ihr breit gelagertes Format mit dem charakteristischen Giebelabschluß - auf einen anderen, ehemals weit verbreiteten Typus des Kultbildes weist, der wie die Franziskustafeln dem Altar verbunden war und ebenfalls nach oben hin mit einem Giebel abschloß. Es war der Marienschrein, der eine Skulptur der thronenden Muttergottes in einem Gehäuse mit gemalten Szenenflügeln barg (Abb. 5). Verbreitet war dieser Typus des plastischen Kultbildes seit dem 12. Jahrhundert insbesondere bei den alten Traditionsorden und dem Weltklerus.
14 Vgl. Hellmut HAGER, Die Anfänge des italienischen Altarbildes. Untersuchungen zur Entstehungsgeschichte des toskanischen Hochaltarretabels, München 1992, bes. 88 ff. Hans BELTING, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990, 423 ff. 15 BELTING ( w i e A N M . 1 4 ) , 2 0 .
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Die Franziskusbilder lehnten sich in ihrer giebelformigen Gestalt und in der generellen Disposition von Mittelfigur und flankierenden Szenen offenkundig an diesen hochverehrten Typus an. Doch verzichteten sie auf die Erscheinungsweise einer dreidimensionalen Skulptur und boten sich statt dessen im alternativen Medium der flach gemalten Ikone mit Goldgrund dar. In Konsequenz verzichteten sie auch auf die beweglichen Flügel und bildeten vielmehr einen neuartigen Zusammenschluß von Szenenbahnen und Heiligenfigur in einer integrierten Objektform aus. Für diese in der westlichen Tafelmalerei neuartige Erscheinungsform einer monumentalen Bildnisikone stand wiederum ein anderes Paradigma Pate, nämlich das östliche Ikonenformular von Heiligenfigur und umlaufend dargestellten Szenen, wie es seit langem bereits in Byzanz verbreitet war (Abb. 6).16 Allerdings waren diese Ikonen in Byzanz ausschließlich von hochrechteckigem Format und wiesen zudem bedeutend geringere Maße auf als die neuen Franziskusbilder. Darüber hinaus besaßen sie niemals wie diese die Funktion von Altarbildern. Indem die Franziskustafeln diesen östlichen Vorbildern gegenüber die Größenmaße, das breitgedehnte Format und den oberen Giebelabschluß von der Tradition der westlichen, gehäuseförmig großen Altarschreine entlehnten und zum prägenden Standard des eigenen Aussehens machten, übersetzten sie gewissermaßen die byzantinische Ikone in eine Erscheinungsform, die ihrer neuen, westlichen Funktion als Altarbild entsprach und dennoch die Anschauungswirkung der östlichen Bildform darin bewahrte und sichtbar bekundete. Das neue franziskanische Kultbild bietet sich vor diesem Hintergrund als eine Mischform dar, die in sich die westlichen Funktionsansprüche eines Altarbildes mit der Erscheinungswirkung einer byzantinischen Ikone vereint. Welche besonderen Umstände begründeten die Genese dieser ungewöhnlichen Bildform, und welche Darstellungsabsichten und weiter reichenden Motivationen bzw. Sinngebungsabsichten waren damit verbunden? Der Hinweis auf rigoristische Tendenzen der Reformorden wie etwa der Zisterzienser, in deren Tradition die Franziskaner stehen und denen plastische Bildwerke seit je als abzulehnende Idole galten, reicht als Erklärung für die historische Besonderheit der Tafeln und ihre spezifische Form kaum aus. Ihre Entstehung erscheint vielmehr aufs engste verknüpft mit der hagiographisch bestimmten Bedeutung
16 Vgl. dazu und zum weiteren Zusammenhang der Byzanzrezeption in der italienischen Tafelmalerei des 13. Jahrhunderts: James STUBBLEBINE, Byzantine Influence in the Thirteenth-Century Italian Panel Painting, Dumberton Oaks Papers 20 (1966), 84-101; Otto DEMUS, Byzantine Art and the West, New York 1970; Hans BELTING, Die Reaktion der Kunst des 13. Jahrhunderts auf den Import von Reliquien und Ikonen, in: II medio oriente e l'occidente nell'arte del XIII secolo (Atti del XXIV Congresso Internazionale di Storia dell'Arte, Bologna 1979), hg. v. Hans BELTING, Bologna 1982, 35-53.
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des Heiligen selbst und mit den spezifischen Gegebenheiten seines Kultes, dessen Verbreitung sie fördern sollten. Es liegt auf der Hand, daß dabei die novitas miraculi seiner Stigmatisation, die ihn zu einem Ebenbild Christi erhöhte, eine zentrale Rolle spielte. André Vauchez und andere haben gezeigt, daß die Christoformität dem Heiligen auf der einen Seite ein Charisma von unvergleichlicher Wirkung schuf, auf der anderen aber zugleich auch vielfachen Zweifel, Unglauben und den Vorwurf der Blasphemie erzeugte.17 Indem die Gestalt des Heiligen in solcher Weise in den Mittelpunkt heftig geführter Kontroversen um die Auslegung seiner heilsgeschichtlichen Bedeutung geriet, wurde - wenn man so will - seine historische Wirklichkeit nach und nach durch Bilder überlagert, die man sich von seiner „Wirklichkeit" entwarf und die sich - im Ferment zunehmend mythischer Überhöhung - zum Ausdruck je unterschiedlicher gesellschaftlicher Optionen und religiöser Wertvorstellungen verdichteten. Es ist dieser mentalitätsgeschichtlich wirksame Zusammenhang, in dem nun auch den faktischen, gemalten Bildern eine neuartige Bedeutung zuwuchs. Die Bildtafeln mit der Darstellung des Heiligen empfingen seinen Kult in ebensolchem Maß, wie sie die vielfachen Anfeindungen der Gegner auf sich zogen. Es ist daher bezeichnend, daß die Legendenberichte, die von der Wunderwirksamkeit der Franziskusbilder künden, immer wieder die Stigmata in den Blickpunkt rücken. Wenn Bonaventura etwa von einem Geistlichen berichtet, der einst in Betrachtung eines gemalten Franziskusbildes heftige Bedenken an der Authentizität der Wundmale hegte und umgehend durch ein Wunder eines besseren belehrt wurde, so illustriert dieser Bericht nichts anderes als den besonderen Zeugniswert, der den Darstellungen des Heiligen gerade in Hinblick auf seine Christoformität beigemessen wurde: „An den heiligen Wundmalen ist daher jeder Zweifel ausgeschlossen," wie Bonaventura lakonisch konstatiert (vgl. Abb. 7). 18 So machte die im Bildnis (imago) beanspruchte Wahrheit von Präsenz und authentischer Vergegenwärtigung die Darstellungen des Heiligen nachgerade zu Beweisbildern seiner Stigmata. Die konkrete Relevanz dieses Zusammenhangs läßt sich nirgends deutlicher ablesen als an den zahlreichen Berichten über die heftige Kritik, ja handgreifliche Attacken und mutwillige Verletzungen, denen die Franziskusbilder von Anbeginn immer wieder ausgesetzt waren. Ein Zeugnis des späten 13. Jahrhunderts weiß von einem Dominikaner zu berichten, der „alle Wundmale von der Bilddarstellung des Franziskus tilgte" (stigmata omnia de pictura beati Francisci delevit), woraufhin sie in wunder-
17 André VAUCHEZ, Les stigmates de saint François et leur détracteur dans les derniers siècles du moyen âge, Mélanges d'Archéologie et d'Histoire 80 (1968), 595-625. 18 Bonaventura, Legenda Maior S. Francisci, Analecta Franciscana 10 (1926) (Miracula I, 6; vgl. ebd. 1,4).
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barer Weise blutend wieder auftraten.19 In Genua mußte der Bischof der Stadt in den 1250er Jahren gegen empörte Widersacher der Minoriten vorgehen, „die böswillig die heiligen Stigmata auf dem Bild des Hl. Franziskus zerstörten" (qui de immagine sancii Francisci malitiose deleverant [sancta Stigmata])20. Die betreffenden Belege ließen sich vermehren. Noch im fortgeschrittenen Trecento (1368) begehrt ein Silvestrinermönch aus Foligno, dem deshalb der Prozeß gemacht wird, gegen die Bilder des Heiligen mit der Begründung auf, daß Franziskus in Wirklichkeit niemals Wundmale besessen habe, sondern die Bettelbrüder ihn einfach nur mit Stigmata auf den Bildern hätten darstellen lassen (nunquam beatus Francisscus habuit stigmata, sed fratres Minores faciunt eum depingi cum stigmatibus).21 In Reaktion auf diese Angriffe ergehen im Verlauf des 13. Jahrhunderts wiederholt päpstliche Aufforderungen, den Bilddarstellungen des Ordensstifters und der Zeugniskraft der auf ihnen zu sehenden Wundmale alle Ehrerbietung zu erweisen. Allein Alexander IV. geht in den Jahren zwischen 1255 und 1259 in nicht weniger als vier Bullen und päpstlichen Sendschreiben mit aller Schärfe gegen die Widersacher der Bilddarstellungen und all diejenigen vor, die die Wundmale darauf abgekratzt hatten. Er selbst habe noch leibhaftig und mit eigenen Augen die Stigmata des ehrwürdigen Heiligen gesehen (oculis corporels vidisse stigmata beati Francisci), so erklärt er 1257 in Rom, den nicht in solcher Weise Begünstigten stünden immerhin jedoch die Bilder vor Augen.22 Der hohe Demonstrationswert, den die Bilder als Dokumente für das authentische Aussehen des Heiligen und insbesondere für die behauptete Faktizität seiner Stigmata gewannen, läßt sich in seiner ganzen Tragweite ermessen, wenn man bedenkt, daß seine Körperreliquie - und damit das einzige „wahrhafte" Zeugnis seiner Wundmale - außerhalb seines Grabes in Assisi nicht verfugbar und auch dort durch massive Vermauerung im Fundament der Kirche jedem Zugang unmittelbarer Verehrung entzogen war. So konnte der Bildniskraft der gemalten Darstellung mehr und mehr der Anspruch einer Aura zuwachsen, der sonst allein von der Reliquie ausging. An dieser Stelle wird deutlich, welche Rolle der innovativen Bildgestalt der Tafeln und insbesondere ihrer engen Anlehnung an den östlichen Ikonentyp zukam. Indem die Franziskaner im Gegenzug zu den in der westlichen Kirche verbreiteten plastischen Kultbildern die neue Seherfahrung der byzantinischen Ikone zur Grundlage ihres neuen Kultbildtypus machten, übernah-
19 Dazu Julian GARDNER, The Louvre Stigmatization and the Problem of the Narrative Altarpiece, Zeitschrift fur Kunstgeschichte 45 (1982), 217-247, hier: 222. 20 Chronica XXIV Generalium, in: Analecta Franciscana 3 (1897), 279. 21 Luigi ÖLIGER, Acta Inquisitoris Fr. Angeli de Assisio, contra stigmata S. Francisci negantem [...], Archivum Franciscanum Historicum 24 (1931), 63-90, hier: 71. 22 Chronica Fratris Nicolai Glassberger, in: Analecta Franciscana 2 (1887), 74 f.
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men sie nicht nur das Tafelbild als neue „Objektform", sondern bemächtigten sich auch des dem Heiligen in der byzantinischen Bildertheologie zugemessenen, spezifischen Status von „Realität" im Bilde. Dieses Bildverständnis gründete in der Auffassung, daß die Ikone die „wahre" Erscheinung des Heiligen in Gestalt und Ausdruck präsent halte und hierdurch auch seine heilbringende Realität und Gnadenkraft vertrete und aktuell entfalte, kraft Abbildlichkeit (similitude) also virtuelle Gegenwart verkörpere.23 Durch ihre Erscheinungsqualität als monumentalisierte östliche Ikonen gewannen die Franziskustafeln somit eine neuartige Anschauungsmächtigkeit und eine neue Wirkung auf den Betrachter. Sie erhielten die Fähigkeit zur „personalen" Vertretung des Heiligen und konnten faktisch zu Alternativen von dessen Reliquien werden; wie vormals die Reliquie durch Teilung, so ließ sich jetzt das Bild durch Kopie vervielfachen und verbreiten. Bei alledem versteht sich, daß die Kriterien von Ähnlichkeit (,similitude) nicht nach einem modernen Verständnis lebensechter Porträttreue zu bemessen sind. Vielmehr konnte fur die Darstellung der Gesichtszüge ohne weiteres auf ein bereits im benediktinischen Mönchtum geläufiges Bildnisschema mit den idealtypischen Charakteristika eines in Askese geheiligten Mannes mit abgehärmter, hagerer Physiognomie und Bart rekurriert werden.24 Indessen weisen den Heiligen sein Habit aus brauner Kutte mit gegürtetem Strick und Kapuze, der Verzicht auf Schuhwerk und nicht zuletzt das Evangelienbuch, das er als Beglaubigung fur dessen regelgerechte Befolgung in der Hand hält, unmißverständlich als Repräsentanten seines neuen Ordens aus, auf dessen Ansehen wiederum seine heiligmäßige Erscheinung stärkend und bekräftigend zurückstrahlte. * *
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Macht man sich klar, in welchem Maß die Bilder des Heiligen immer wieder zum Gegenstand heftiger Streitfalle wurden und dabei tief in die Auseinandersetzungen und Polemiken um seine Person gerieten, so wird man zugleich ermessen können, welche Zeugniskraft ihnen nicht nur in Bezug auf das äußere Aussehen, sondern auch in Hinblick auf die eigentlichen Inhalte jener „neuartigen Heiligkeit" (novitas sanctitatis) zufiel, die fur den Ordensstifter so heftig proklamiert wurde. Die Kontroverse um die Auslegung seines heiligmäßigen Lebenswandels (forma vitae), die die Franziskaner sowohl in Auseinandersetzung mit dem Weltklerus und den rivalisierenden Ordensgemein23 Vgl. neben BELTING (wie Anm. 14), 170 ff. (mit Literatur) bes. Gerhart B. LADNER, The Concept of the Image in the Greek Fathers and the Byzantine Iconoclastic Controversy, Dumbarton Oaks Papers 7 (1953), 1-34; Ernst KITZINGER, The Cult of Images in the Age Before Iconoclasm, Dumbarton Oaks Papers 8 (1954), 83-151. 24
V g l . LADNER ( w i e A n m . 13).
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Schäften als auch nach innen, im Widerstreit verschiedener Fraktionen und Gruppierungen führten, ist bekanntlich eines der faszinierendsten Kapitel in der Kirchen- und Geistesgeschichte des 13. Jahrhunderts, und der Niederschlag, den dieser Prozeß so nachhaltig in den verschiedenen Entwicklungsschritten der Franzikuslegende gefunden hat, braucht an diesem Ort nicht näher erläutert zu werden. Bot die 'Vita prima' des Thomas von Celano, die 1229 päpstlich approbiert wurde und im Sinne eines für die Kanonisation und ihre rasche Propagierung verfaßten Lebensberichtes letztlich an Typus und Aufgabe der herkömmlichen Heiligenvita anschloß, noch die unbestrittene Geltung einer verbindlichen Standarddarstellung, so kursierte bereits um die Jahrhundertmitte, kaum 25 Jahre nach dem Tod des Heiligen, eine Vielzahl unterschiedlicher, in ihrer inhaltlichen Akzentsetzung zum Teil erheblich voneinander abweichender Textfassungen, die sich je zu übertreffen suchten in ihrem Anspruch, das „wahre" Bild des Heiligen, seiner Person und seines Wirkens, zu übermitteln. Man berief sich bald auf Augenzeugenschaft und auf das Zeugnis ursprünglicher Gefährten, bald auch auf jenseitige Formen „authentischer" Beglaubigung und stellte doch zuletzt die Darstellung des Heiligen stets in den Dienst von eigenem Anspruch, eigener Legitimation und eigener religiöser Botschaft. Erst mit der 1263 verfaßten 'Legenda Maior' Bonaventuras zeichnet sich dann das durchgreifende Bemühen ab, dieser Tendenz von Seiten der Ordensleitung Einhalt zu gebieten und die wuchernde Vielfalt biographischer Entwürfe durch den kanonischen Geltungsanspruch einer verbindlichen Fassung zurückzudrängen.25 Die Verbreitung szenischer Bildzyklen auf den Franziskustafeln und ihr fortschreitender inhaltlicher Wandel stehen zu dieser historischen Entwicklung in bemerkenswerter Analogie. Die frühesten, noch vor der Jahrhundertmitte entstandenen Tafeln in San Miniato al Tedesco (1228) (Abb. 1), Pescia (1235) (Abb. 2) und Pisa (ca. 1240) (Abb. 3) führen in ihren Szenendarstellungen noch ausnahmslos und in stereotyper Wiederholung Wunderepisoden des Ordensgründers auf, wobei die an Kranken, Blinden und Lahmen geschehenen Heilungswunder dominieren. Die darin zum Ausdruck gelangende Heiligkeitskonzeption ist noch nicht darauf gerichtet, die Tugenden und Verdienste in vita herauszustellen, sondern legt im Hinblick auf die erst jüngst erfolgte Kanonisation (1228) den ganzen Nachdruck auf die thaumaturgische Wirkkraft des Heiligen. In ihrer Ikonographie folgen diese frühen Szenendarstellungen nicht selten bereits vorgegebenen und in der mittelalterlichen Bildtradition verbreiteten Mustern. Die einzige, wichtige Ausnahme bilden diesbezüglich die beiden Darstellungen der miracula in vita, „Vogelpredigt" und „Stigmatisation", die von Anbeginn als zentraler Bestandteil in der Franziskus-Ikonographie vertreten 25 Stanislao DA CAMPAGNOLA, Francesco d'Assisi nei suoi scritti e nelle sue biografie dei secoli XIII-XIV, Assisi 1981.
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sind. Im Sinne eines zusammengehörigen Szenenpaares prägen sie bereits früh eine genuine, der hagiographischen Topik gänzlich enthobene Charakteristik des Heiligen aus. Dokumentiert die „Stigmatisation" in aller Deutlichkeit seine Christoformität, so bietet ihn die „Vogelpredigt" als den Prototypen eines apostolischen, aus der Kraft des verbum simplex schöpfenden Predigers dar, dessen von allen Kreaturen empfangene Botschaft ihren Verkünder als charismatisch und christusunmittelbar ausweist. Mit diesem Bildpaar, das von der christologischen Geist- und Leidenserfulltheit des Heiligen zeugt, wurde zugleich seine Revitalisierung von Apostolat und Passion bekundet, die unter dem Begriff der ecclesiae primitivae forma zum Anspruch und Programm der ganzen franziskanischen Bewegung wurde. Die besondere Bedeutung, die das Szenenpaar in der Ikonographie des Heiligen besaß, macht im übrigen nicht zuletzt der Umstand deutlich, daß es nicht nur auf den Tafelbildern, sondern ebenso rasch auch im Bereich der Handschriftenillustrationen und der monumentalen Freskenzyklen Verbreitung fand. Aufs Ganze gesehen läßt sich sagen, daß sich in der frühesten Entwicklung der Franziskusikonographie, auf den Tafeln in San Miniato, Pescia und Pisa, weniger eine Sinngabe von Verdiensten im Leben (opera pietatis in vita), sondern vielmehr das Manifestwerden der jenseitigen Gnade und Wirksamkeit Gottes (Deo auctore) in den Wundern des Heiligen verdichtet. Die Szenendarstellungen bleiben dabei auf eine strenge Gleichförmigkeit stereotyper Bildmuster festgelegt, die kaum Abweichungen und Variationen zuläßt. Erst in den Jahren um die Jahrhundertmitte verzeichnen die Bildtafeln dann einen durchgreifenden Wandel ihrer inhaltlichen Aussagen. An die Stelle der Wunder tritt jetzt die biographische Schilderung des Lebensvollzugs als zentrales Thema der Szenenauswahl. Die Tafeln in Pistoia (Abb. 4) und in S. Croce in Florenz (Abb. 8), beide im gleichen Zeitraum um 1250-55 entstanden, sind dafür ein anschaulicher Beleg. Folgt die Pistoia-Tafel (Abb. 4) ihren Vorgängern noch im Kanon der vier Wunderszenen, so erweitert sie diese doch erstmals um einen chronologisch konzipierten Vita-Zyklus, der mit der „Regelapprobation", der „Stigmatisation" und einer Predigtszene wichtige Stationen im Wirken des Heiligen als Ordensmann auffuhrt und mit der Darstellung seiner Exequien schließt. Die Heiligkeit seiner Person steht hier als diejenige seiner Lehre und Regel zur Anschauung und offenbart damit eine spezifische, auf die Ambitionen des Ordens ausgerichtete Kennzeichnung, die mit den Wunderszenen so nicht zu erzielen war. Vollends zur linearen Darstellung der Biographie in nicht weniger als 20 Episoden ist die Szenenfolge auf der Barditafel umgebildet (Abb. 8). Der Musterkanon der Wunder am assisianischen Grab, der auf den frühen Tafeln stets ausführlich auf mehreren Szenen zur Darstellung gelangte, ist hier zu einem bloßen Stenogramm der Ereignisse auf einem Bild vereint.
1
Ehem. S a n Miniato al Tedesco, S a n Francesco, Hl. Franziskus mit S z e n e n seiner Legende, Reproduktionsstich bei Boverio ( 1 6 3 2 )
2
Bonaventura Berlinghieri, Hl. Franziskus mit S z e n e n seiner Legende (1 235), Pescia, S a n Francesco
3
Pisa, M u s e o Nazionale di S a n Matteo, Hl. Franziskus mit Szenen seiner Legende
4
Pistoia, M u s e o Civico, Hi. Franziskus mit S z e n e n seiner Legende
5
Aquila, M u s e o Nazionale d'Abruzzo, Altarschrein
6
Sinaikloster, Hl. Katharina von Alexandria mit S z e n e n ihrer L e g e n d e
7
Orte, M u s e o Diocesano, W u n d e r vor einem Bild d e s Hl. Franziskus, Ausschnitt aus A b b . 15
8
Florenz, S. C r o c e , Bardikapelle, Hl. Franziskus mit Szenen seiner Legende
¡as^m^m^ a Β 4 :
:
10 Florenz, S. C r o c e , Regelapprobation, Ausschnitt aus A b b . 8
12 Florenz, S. Croce, Stigmatisation des Hl. Franziskus, Ausschnitt aus Abb. 8
13 Florenz, S. Croce, Wunder am Schrein des Hl. Franziskus, Ausschnitt aus Abb. 8
14 Florenz, S. C r o c e , Engel mit himmlischer Botschaft, Ausschnitt aus A b b . 8
15 Orte, M u s e o Diocesano, Hl. Franziskus mit Szenen seiner Legende
16 Siena, Pinacoteca Nazionale, Hl. Franziskus mit Szenen seiner Legende
1 7 Giotto, Stigmatisation d e s Hl. Franziskus, Paris, Louvre
18 Giotto, Traum Innozenz' III., Ausschnitt aus Abb. 1 7
19 Giotto, Regelapprobation, Ausschnitt aus Abb. 1 7
20 Giotto, Vogelpredigt, Ausschnitt aus Abb. 1 7
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Die mit diesem ikonographischen Wandel einhergehende Tendenz zur Variabilität der Formate und ihrer Maßzahlen läßt erkennen, daß sich gleichzeitig mit dem inhaltlichen Konzeptwandel auch der bis dahin eingebürgerte Standard einer serienhaften Gestalterscheinung der Tafeln allmählich veränderte. Entspricht noch das Format der Pala in Pistoia fast bis auf den Zentimeter genau den Vorgängern in Pescia und Pisa, so weist bereits die Barditafel in Florenz fur diesselben Bestandteile von Heiligenimago und Szenen einen neuen formalen Aufbau mit gelängtem Bildformat und erheblich erweiterten Maßen auf. 26 Sie folgt damit der neuen Aufgabe, den überlieferten Bildtyp mit einem ausladenden, im Vergleich zu allen anderen Tafeln abundanten Zyklus zu versehen. Es verdient ein besonderes Augenmerk, daß im Zuge dieser Entwicklung mit den Wunderszenen auch ein fester ikonographischer Kanon verdrängt und schließlich vollends eliminiert wurde. Die um die Jahrhundertmitte neu entstehenden Bildlegenden bewegen sich zunächst jenseits einer autorisierten Ikonographie und weisen demzufolge auch untereinander kaum weitreichende Entsprechungen auf. Das bedeutendste Beispiel für diese disparate Situation und zugleich fur die Ambition, die man nun verstärkt auf die Arbeit an hagiographischen Entwürfen und Modellprägungen für eine neue Bildbiographie des Heiligen verwendete, bietet die bereits genannte Franziskustafel in der Minoritenkirche S. Croce in Florenz (Abb. 8). Entstanden in den Jahren um 1250-55, gilt sie heute zu Recht als eines der bedeutendsten Zeugnisse aus der Frühzeit der italienischen Tafelmalerei. 27 Der Aufbau der Bildlegende erstreckt sich in klarer Dreiteilung von der Jugend (links) über den apostolischen Lebensvollzug (unten) bis zum posthumen Wirken des Heiligen (rechts). Die linke Bildsequenz, die den Werdegang des jugendlichen Heiligen in sechs Szenen schildert, entwirft ein Bild von Franziskus als besonderem Schutzbefohlenen der kirchlichen Autorität. Auf die Befreiung des von seinem Vater gefesselten Franziskus durch seine Mutter (1. Szene) und auf die anschließende Lossagung des jungen Heiligen von seinem Vater (2. Szene) folgen die Wahl des Ordenshabits, die Hörung des Aussendungsevangeliums (Lk 10, 7 ff.), die Regelapprobation und schließlich die kirchliche Weihnachtsfeier in Greccio (3.-6. Szene) (Abb. 9 und 10). Die Szenen thematisieren hier das monastische Ideal der Entäußerung von allem Weltlichen (fuga mundi) und führen mit der Lossagung vom leiblichen Vater zugleich das Bekenntnis zum himmlischen Vater und die geistliche Adoption durch die neue „Familie" der Kirche vor. So stellen sie einerseits die göttliche
26 Bardi-Tafel: H 2,34 m gegenüber Pescia-Tafel: H. 1,60 m, Pisa-Tafel: H. 1,63 m, Pistoia-Tafel: H 1,69 m. 27 Eine ausführliche Analyse der Tafel und ihrer Ikonographie bei Chiara FRUGONI, Francesco, un'altra storia, Genua 1988; GOFFEN (wie Anm. 13); KRÜGER (wie Ajim. 13), 1 1 9 ff.
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Berufung des Franziskus heraus, der schon als Kind prädestiniert erscheint (mit Nimbus), dokumentieren aber andererseits auch die Autorität der Kirche und ihren Anteil an der Entfaltung und Lenkung seiner Heiligkeit. Die nachfolgenden acht Szenen der unteren Zone entwerfen ein Bild vom apostolischen Wirken des Ordensstifters in seinen vielfaltigen asketischen und karitativen Aspekten. Dabei figurieren links mit der Predigt vor dem Sultan und vor den Vögeln zwei thematisch verwandte und formal in enger Analogie gestaltete Episoden. Sie präsentieren Franziskus augenfällig mit der Verkündungskraft Christi und bekräftigen zugleich - mit Blick auf das umstrittene Predigtrecht der Laienmönche - das apostolische Selbstverständnis seines Ordens (Abb. 11). Auch die anderen Szenen dieser Bildzone zeigen den Heiligen in bemerkenswert deutlicher Assoziation zu Christus, sei es, daß in seiner Fürsorge fur Schafe und Lämmer auf das Motiv des Guten Hirten angespielt wird, sei es, daß wiederholt Bildformulare der Christuspassion zitiert werden, so in der „Selbstkasteiung" des Heiligen die Geißelung, in der „Pflege der Leprösen" die Fußwaschung und schließlich in der „Stigmatisation" - ohnedies die Christoformität thematisierend - das Gebet am Ölberg (Abb. 12). Nicht zuletzt schlägt auch die unterste Szene rechts mit der „Predigt in Arles", während der Franziskus einem Mitbruder in einer himmlischen Offenbarung sub specie des Gekreuzigten {secundum crucis figurant) erschien, erneut das Thema der Christusanverwandlung des Heiligen an. Die rechte, abschließende Szenensequenz stellt sodann in aller Knappheit das posthume Wirken des Heiligen in seinen Wundern (miracula) vor Augen und hebt dabei in verschiedenen Episoden den Zustrom der Scharen von Geistlichen, Pilgern und Flagellanten zu seinem Grab in Assisi hervor, gleichsam als Zeugnis für die überregionale Ausstrahlung seines Kultes (Abb. 13). Darüber hinaus klingt im Szenenbild der „Errettung Schiffbrüchiger" (drittletzte Szene), die als christomimetisches Wunder auf die Beruhigung des Meeres (Mt 8,23 ff.) verweist, noch einmal der Christusvergleich an. In der Zusammenschau von umlaufender Bildlegende (historia) und der Ganzfigur {imago) des Heiligen tritt an dieser Stelle der zuvor angesprochene Sinn der integrierten Bildanlage deutlich zutage. Der Augenschein der Christoformität, den die Ganzfigur mit den ostentativ vorgewiesenen Stigmata inszeniert, wird von den Szenen gleichsam „dokumentarisch" belegt, und umgekehrt wird die Wahrheit ihrer Erzählung durch das Bildnis und seinen Anspruch auf Authentizität beglaubigt. Auf die Bekräftigung dieses Anspruchs zielt schließlich auch die Darstellung in dem mittleren Giebelfeld der Tafel (Abb. 14). Zwei Engel weisen dort auf eine aus dem Himmelssegment herabgereichte Botschaft, als deren Mittler und Verkünder sie figurieren: „Hört auf diesen, der die Grundsätze des Lebens darbietet" {Hunc exaudite perhibentem dogmata vitae). Der Text bekräftigt als himmlische Verlautba-
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rung die Gottesgesandtschaft des Ordensstifters und die heilsgeschichtliche Bedeutung seiner Mission und proklamiert zugleich die Nachfolge eines Lebens, welches die Szenen als Modell vor Augen stellen. Angesichts dieser, wie man heute sagen würde, Betrachteranweisung im Bild verdienen schließlich auch die kleinen, in kollektiver Verehrung auf die Heiligenfigur ausgerichteten Mönchsbüsten, die sich auf den Kreuzungsstellen des Zierbandes befinden (und ehemals gleicherweise auf dem äußeren, in späterer Zeit beschnittenen Rahmenverlauf zu sehen waren), besondere Beachtung. Sie dienen der Überhöhung des Heiligen und veranschaulichen sein besonderes Charisma. In der manifesten Befolgung des göttlichen, in der Schriftrolle ausgesprochenen Gebotes bieten sie sich dem außerbildlichen Betrachterkreis der vor der Tafel versammelten Konventsmitglieder von S. Croce als Modell zur eigenen Verehrung und Nachfolge des Heiligen dar. Es ist, wenn man so will, eine durch die imitatio Francisci vermittelte imitado Christi, auf die das hagiographische Modell des Franciscas alter Christus hier perspektiviert ist. Aufs Ganze gesehen läßt sich sagen, daß die Auslegung der Christusgleichheit auf der Franziskustafel in S. Croce eine Zuspitzung und Kühnheit erlangt, wie sie sonst in der Ikonographie des Heiligen während des ganzen Jahrhunderts nicht mehr begegnet. Der Legitimationsdruck, unter dem nicht nur der Kult des neuen Heiligen stand, sondern auch der junge Orden selbst, der jenseits und gegen die kirchliche Hierarchie begonnen hatte, wird daran überaus deutlich. Nicht zuletzt fallt von hier auch generell ein besonderes Licht auf die neuartige Rolle, die den gemalten Bildern im 13. Jahrhundert für die Aufgabe kollektiver Repräsentation und namentlich für die Begründung eigener Autorität zukam. * * *
Die Produktion der Szenentafeln des Franziskus hielt das ganze Jahrhundert über bis zum Ausgang des Duecento an. Die Tafeln in Orte (ca. 1282) (Abb. 15) und in Siena (ca. 1285-90) (Abb. 16) sind die spätesten erhaltenen Beispiele einer langen Serie, deren Entstehung - wie gesehen - bis in die Zeit der Kanonisation des Heiligen zurückreicht. Mit dem Beginn des Trecento jedoch verliert der ehemals so innovative Bildtyp offenbar zunehmend seine Bedeutung für den Franziskuskult. Verschiedene Umstände und Zusammenhänge sind zur historischen Erklärung dieses Sachverhalts in Betracht zu ziehen. Dabei ist zunächst die Frage nach der ursprünglichen Funktion der Tafeln zu stellen. Ist ihr konkreter Verwendungszweck auch nicht zweifelsfrei zu bestimmen, so spricht doch vieles dafür, daß sie ehemals als Festbilder des Heiligen dienten, die während seiner Festoktav am Hochaltar der Ordenskirchen angebracht wurden und dort den
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bildlichen Fokus für die liturgische Feier und die Chorlesung der Legende bildeten. Es handelte sich also um nicht-stationäre, nur für befristete Zeit auf den Altar gestellte Bildwerke. Als sich im Verlauf des späteren Duecento die neue Funktionsform des stationären Altarretabels entwickelte, es also üblich wurde, den Hochaltar mit einem dauerhaft installierten Polyptychon auszustatten, wurde die Verwendung derartiger Festikonen offenbar zunehmend obsolet. Gleichzeitig gewann in fortschreitendem Maß das Medium monumentaler Freskenzyklen als Bilderschmuck der Bettelordenskirchen an Bedeutung, so daß die Bildlegende des Heiligen immer häufiger als Zyklus großer Wandbilder in den Chorkapellen zur Darstellung kam.28 So verloren auch aus diesem Grund die Bildtafeln mit den kleinformatigen Szenendarstellungen immer mehr an Bedeutung. Doch kommen andere Gründe hinzu. Sie haben weniger mit äußeren Bedingungen, als vielmehr mit der immanenten Entwicklung und dem zunehmenden Funktionswandel der Tafeln selbst zu tun. Mit dem seit der Jahrhundertmitte einsetzenden Prozeß ihrer konzeptuellen Veränderung zu Programmbildern, die mit hagiographischen und kirchenideologischen Aussagen befrachtet wurden, wurde auch der ursprünglich dominante Funktionsaspekt der Tafeln, nämlich das Erlebnis von authentischer Gegenwart und von Realpräsenz des Heiligen zu übermitteln, zunehmend durch diskursive, programmatisch-inhaltliche Bildabsichten überlagert. Bereits die Barditafel läßt diese Funktionsverschiebung deutlich erkennen. Sie tritt ebenso auf der späteren Tafel in Siena (ca. 1285-90) hervor (Abb. 16). Dort wird der überlieferte Bildaufbau mit der szenenflankierten Heiligenfigur um ein zusätzliches Darstellungselement bereichert, indem das Giebelsegment die Gestalt des segnenden Salvatore mit einer begleitenden Schar von Engeln aufführt. Damit wird der von Bonaventura und später auch von Matteo d'Aquasparta entwickelte Gedanke veranschaulicht, demzufolge der Aufstieg des Franziskus zur Christoformität mit dem Chor der himmlischen Engel assoziiert und deren hierarchische Stufenfolge als Bild seiner mystischen Vervollkommnung gedeutet wird. So führt Matteo d'Aquasparta aus, daß Franziskus als Engel non identitate naturae, sed conformitate gratiae in der Welt gelebt habe.29 In Analogie zu solchen Konzeptionen zielt auch die Darstellung des Giebelsegmentes der Sieneser Tafel auf den neuen Bildsinn einer endzeitlichen Überhöhung und Verherrlichung des Heiligen. Am deutlichsten treten schließlich die veränderten Ansprüche, die man im Ausgang des Jahrhunderts an das Franziskusbild stellte, im Fall von Giottos berühmter Louvre-Pala hervor, die ca. 1300-1310 für San Francesco in Pisa 28 V g l . dazu BLUME ( w i e Anm. 13).
29 Matthäus von Aquasparta, Sermones de s. Francisco [...], hg. v. G. GAL, Quaracchi 1962, 2 f.; vgl. Bonaventura, Legenda maior, Prologus I, zum Aufstieg des Heiligen als vir hierarchicus in evangelischer Vollkommenheit (evangelicae perfectionis).
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entstand (Abb. 17). Steht die Tafel mit ihrem Giebelabschluß und der Kombination von Vitaszenen und einem Hauptbild mit der Ganzfigur des Heiligen fraglos in der Abkunft von dem alten Bildtyp, so wird dessen Konzeption und innerer Aufbau doch einer durchgreifenden Veränderung und Neuformulierung unterzogen. Der Szenenzyklus wird auf die knappe Auswahl von nurmehr drei Episoden reduziert und zugleich an den Bildort der Predella versetzt. Dabei wird nicht mehr der Anspruch auf eine biographisch erzählende Sequenz erhoben. Vielmehr handelt es sich um isolierte, fur sich stehende Programmbilder von spezifischer kirchen- und ordenspolitischer Relevanz. Der „Traum Innozenz' III.", in dem der Papst den Heiligen die einstürzende Lateranbasilika mit seinen eigenen Schultern stützen sieht (Abb. 18), verweist auf nichts anderes als auf die durch den Ordensstifter und seine Brüdergemeinschaft ins Werk gesetzte Restaurierung bzw. Reform der römischen Kirche als Institution. Die „Regelapprobation" (Abb. 19) dokumentiert die Verankerung der franziskanischen forma vitae in der Unfehlbarkeit des päpstlichen Glaubens- und Lehrbewußtseins und entzieht sie damit jeder Anfeindung und Kritik von Gegnern der Gemeinschaft. Die „Vogelpredigt" (Abb. 20) schließlich verweist auf die dem Orden durch päpstliche Privilegien zugesicherte Unbeschränktheit der öffentlichen Predigtausübung, die gerade in jenen Jahren um 1300 erneut im Mittelpunkt heftiger Kontroversen mit dem Weltklerus stand. Die gravierendste Veränderung, die die Louvre-Pala gegenüber dem überlieferten Bildtyp aufweist, besteht in der Umwandlung der stehenden Heiligenfigur {imago) zu einem Szenenbild (historia) der Stigmatisation. Allerdings wächst der Darstellung nicht im eigentlichen Sinn ein narrativer Gehalt zu. Vielmehr fungiert sie gleichsam als ein „kommentiertes Bildnis" des Heiligen, das ihn im Zustand seiner christoformen Überhöhung zeigt, ähnlich wie auch die monumentalen Tafelkreuze Christus im Zustand seiner Kreuzigung darbieten. Was mit dieser Veränderung erzielt wurde, war zunächst eine darstellerische Klärung des Franziskusbildes. Die frühen Szenentafeln boten den Heiligen noch ganz in der seit alters fur Heiligenbildnisse überlieferten Darstellungsform dar, nämlich als stehende Ganzfigur mit einem Buch und einer im Gebetsgestus vorgewiesenen Hand. Indem man im Fall des Franziskus als Kennzeichnung seiner besonderen Erwähltheit die Stigmata hinzufugte, befrachtete man die Handhaltung des Heiligen mit einer eigentümlichen Ambivalenz, insofern sie sich sowohl als herkömmlicher Betgestus als auch in neuem Sinn als ostentatives Vorweisen des Wundmals auffassen ließ. Bereits auf der Barditafel wurde aufgrund der ikonographisch motivierten Variation der Handhaltung zu einem den außerbildlichen Betrachtern zugeigneten Segensgestus der Aspekt des Vorweisens verunklärt, und auf dem Sieneser Bild, auf dem beide Hände Kreuz und Buch halten, tritt im Interesse einer deutlichen
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Signalisierung der Stigmata zusätzlich die Seitenwunde hinzu. Die LouvrePala zielt gegenüber diesen Darstellungen durch ihren neuen Bildentwurf auf ikonographische Klarheit und auf eine neue, dezidierte Aussage, indem sie den Heiligen im genauen Moment seiner Entrückung und der leiblichen Einprägung der Wundmale darbietet und diese damit zum eigentlichen Thema der Darstellung erhebt. Den konkreten Hintergrund fìir diese grundlegende Neugestaltung bildet, wie es scheint, die seinerzeit neu auflebende Diskussion über die wahre Natur der Stigmatisation und über die Frage, inwieweit sie als mystische Entrückung der Seele zugleich auch ein physisch den Körper transformierendes Erlebnis sein konnte. Damit stand letztlich nichts anderes als die Frage nach der körperlichen, faktischen Realität der Stigmata und ihrer Bedeutung als wunderbar geschehene Einprägungen in den Leib des Heiligen zur Diskussion. Die Franziskaner erarbeiteten dabei in eben jenen Jahren um 1300 in zahlreichen Traktaten eine Argumentation, mittels derer sie zu beweisen suchten, daß die Stigmatisation des Franziskus als realer Vorgang nicht eine natürliche Verwandlung infolge autosuggestiver Imagination (vehemens imaginatio), sondern ein allein durch die höhere Kraft Gottes, also faktisch und doch zugleich extern erwirktes Wunder gewesen sei. Die grundlegende, prädisponierende Bedeutung einer affektreichen, inneren Angleichung an den Kruzifixus wurde hierdurch nicht in Abrede gestellt, doch erst als Konformität non tantum in spiritu et anima, sed etiam in corpore war der singuläre Rang des an Franziskus geschehenen Wunders verbürgt: Stigmata sunt signa singulariter et mirabiliter et expresse repraesentativa Passionis Christi.30 Die mit solchen Argumenten geführte Diskussion läßt sich nur verstehen vor dem Hintergrund der damals immer häufiger werdenden Berichte über mystische Erlebnisse, über Erfahrungen der Gottesschau und der seelischen Entrückung bis hin zu neuen Fällen von Stigmatisationen, wie sie sich vor allem im Kontext der Frauenmystik zutrugen.31 Damit drohte der außergewöhnliche und einzigartige Rang, den man der Heiligkeit des Franziskus beizumessen pflegte, zunehmend zu schwinden. Dieser Zusammenhang erklärt den besonderen Nachdruck, mit dem man auf franziskanischer Seite darum bemüht war, am Wunder des Ordensstifters seine singuläre Natur herauszustreichen und argumentativ neu zu begründen.
30 E. LONGPRÉ, Fr. Rogen Marston et anonymi Doctoris O.F.M. questiones ineditae de B. Francisci stigmatibus, Antonianum 7 (1932), 239-244, hier: 243 f. (ca. 1285). 31 Dazu v.a. André VAUCHEZ, La sainteté en Occident aux derniers siècles du moyen âge d'après les procès de canonisation et les documents hagiographiques, Rom 1981, 514ff.; sowie Klaus KRÜGER, Bildandacht und Bergeinsamkeit. Der Eremit als Rollenspiel in der städtischen Gesellschaft, in: Malerei und Stadtkultur in der Dantezeit. Die Argumentation der Bilder, hg. v. Hans BELTING u. Dieter BLUME, München 1989, 187200.
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Es ist somit kein Zufall, wenn zeitgleich zu dieser Diskussion auch die Ablösung des alten, seit dem frühen Duecento eingebürgerten Bildformulars durch einen neuen Bildentwurf erfolgte. Mit ihm sucht man die Einprägung der Wundmale, durch die Franziskus mit Christus leibhaftig und wirklich gekreuzigt worden war, unwiderleglich als reales Geschehen zu dokumentieren. * * *
Betrachtet man, nach allem, den Entwicklungsgang der frühen Franziskusdarstellungen, so wird man zu einem differenzierteren Urteil gelangen, als es sich in der von Henry Thode begründeten und seither vielfach wiederholten Auffassung ausspricht, „daß [nämlich] die ersten eigentlichen Porträts der neueren Malerei Bildnisse des Mannes von Assisi" seien und daß allererst „seine mächtige Persönlichkeit den Impuls gab zu den Versuchen, eine Aufgabe zu lösen, in welcher der eigentliche Charakter, die Vorbedingung einer neuen Kunstrichtung bereits angesprochen ist" 32 . Vielmehr erweist sich, daß der neue Anschauungsgehalt von Abbildhaftigkeit (similitudo) ursächlich nicht eigentlich das Produkt einer „Subjektivierung" des religiösen Verhältnisses zum Heiligen war, sondern ein visuelles Argument zur Beglaubigung der Stigmata und gerade im Fall der frühen, den Bildtyp erst begründenden Bildtafeln mit ihrem starken Akzent auf der Wunderwirksamkeit des Heiligen ein Medium der kultischen Teilhabe an seiner heilbringenden, aber durchaus numinosentrückten Wirklichkeit. Erst in den Folgeschritten der Entwicklung ging mit einer zunehmenden Veränderung des Bildentwurfs auch ein Wandel im Realitätsverständnis der Darstellung einher, mündend schließlich in Giottos Neukonzeption. Der Eindruck, den die Bildwirklichkeit nunmehr im Betrachter hervorrief, verlagerte sich vom numinosen Erlebnis der Realpräsenz des Heiligen, wie sie sich einst durch blutende Stigmata und andere Bildwunder so wirksam und spektakulär bekräftigen ließ, hin zur Wahrnehmung eines bildlich illustrierten und durch die Darstellung fiktiv vor Augen gestellten Geschehens. So war die Bildabsicht nicht mehr, wie einst, darauf gerichtet, eine der Reliquie vergleichbare Wirkung zu erzielen. Vielmehr tritt hier erstmals das neue, zukunftsweisende Vermögen des Bildes hervor, die Erfahrung von Präsenz und Tatsächlichkeit aus ihrer Bindung an die stoffliche Objektwirklichkeit und tangible Materialität des Bildes zu lösen und kraft einer neuen Fiktionalität zu erwirken.
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THODE ( w i e A n m . 1 0 ) , 8 5 f.
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A bbildungsnachweise: Abb. 1 : Z[accaria] Boverio, Annalium seu sacrarum historiarum ordinis minorum s. Francisci qui Capucini nuncupantur, Lugduni 1632, 907f.; Abb. 2: Pistoia, Foto M. Tronci; Abb. 3: Pisa, Soprintendenza B.A.A.A.S.; Abb. 4: Pistoia, Foto M. Amendola; Abb. 5, 7, 15: Rom, Bibliotheca Hertziana, Foto Hutzel; Abb. 6: Reproduktion: Sotiriou; Abb. 8-14: Florenz, Soprintendenza B.A.S.; Abb. 16: Siena, Soprintendenza B.A.S.; Abb. 17-20: Paris, Documentation photographique de la Réunion des musées nationaux.
WOLFGANG
SCHENKLUHN
Die Doppelkirche San Francesco in Assisi Stand und Perspektiven der deutschsprachigen Forschung
I. Die Kirche San Francesco in Assisi (Abb. 1) ist im Jahre 1997 aus traurigem Anlaß in die Schlagzeilen geraten. Am 26. September erschütterten zwei Erdstöße die Region Umbrien, wobei der zweite gegen die Mittagszeit zwei Gewölbekappen der Oberkirche hat einstürzen lassen. Darüber hinaus wurden auch die Hauptfassade und der Giebel des südlichen Querhauses beschädigt. Das Unglück kostete vier Menschen das Leben, die sich nach dem ersten Beben in der Nacht in der Basilika aufhielten, um die Schäden zu inspizieren. Glücklicherweise war die Kirche zu diesem Zeitpunkt fur das allgemeine Publikum bereits gesperrt. Für gewöhnlich hätten sich sonst wohl einige hundert Menschen in der Oberkirche aufgehalten 1 . In der Weltpresse wurde das Unglück mit Bestürzung aufgenommen, vor allem aber wurde der Verlust der mit den Gewölbekappen in Verbindung stehenden Deckengemälde beklagt: so eine Giotto zugeschriebene Darstellung des Kirchenlehrers Hieronymus unmittelbar vor der inneren Fassadenwand und eine von Cimabue stammende Malerei des Evangelisten Matthäus in der Vierung. Zur Architektur hingegen wurde wenig angemerkt. Die Experten stritten sich darüber, ob durch falsche Sicherungsmaßnahmen in den fünfziger Jahren der Denkmalpflege eventuell eine Mitschuld an der Katastrophe zu geben sei. Damals sind wohl die Sparren auf den Eichenholzfetten entfernt und die direkt aufliegende Steinschicht zum Teil erneuert worden, was in den Augen einiger den Bau unflexibler gemacht habe. Damit sind wir bereits mitten im Thema. Das Unglück vom Spätsommer 1997 macht im Hinblick auf San Francesco nämlich zweierlei deutlich: zum einen, daß für das öffentliche Interesse in erster Linie die Ausmalung zählt, und zum anderen, daß die Architektur eine Sache der Fachleute ist, die sich über so manche Besonderheiten des Baus nicht einig sind. 2 Die Diskrepanz
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Eine ausführliche Chronik der Ereignisse in Assisi und der umliegenden Region findet sich in der Zeitschrift „Bell'Italia" 16 (1997), 129ff., mit zahlreichen Abbildungen. Der steinerne Dachstuhl von San Francesco ist übrigens alt, und die Konstruktion eines unmittelbar aufliegenden Daches bestand wohl von Anfang an. Die Bögen sollen nach Beda KLEINSCHMIDT, Die Basilika San Francesco in Assisi, Bd. I, Geschichte der Kir-
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Wolfgang Schenkluhn
zwischen Kunst und Architektur bestätigen auch die Bibliographien, in denen die Titel zur Malerei in Assisi bei weitem überwiegen.3 Deshalb sind auch die Stationen architekturkritischer Auseinandersetzung mit der Doppelkirche schnell aufgezählt. Sie beginnen im deutschsprachigen Raum mit Henry Thode 1885 und erreichen mit Beda Kleinschmidt 1915 einen ersten, noch in vielem gültigen Höhepunkt.4 Über die vorstellungsprägende Arbeit von Wolfgang Krönig 1938 fuhren sie erst in den fünfziger und sechziger Jahren weiter mit den Studien von Wolfgang Schöne, Renate Wagner-Rieger und Edgar Hertlein.5 In Italien sind es Adolfo Venturi, Igino Supino und Ugo Tarchi, die vor dem Zweiten Weltkrieg die maßgeblichen Beiträge geliefert haben.6 Daß in Assisi, besonders ab 1957, die deutschsprachige Forschung ein offenes Betätigungsfeld fand und somit wissenschaftlich in den Vordergrund treten konnte, lag und liegt nicht zuletzt an Pater Gerhard Ruf, der die Kirche und das Fotoarchiv für jeden ernsthaften Wissenschaftler aus Deutschland weit geöffnet und selbst baugeschichtlich relevante Beobachtungen veröffentlicht hat.7 Ich denke, daß ein solcher Hinweis in einem Überblick über den Forschungsstand nicht fehlen sollte. Selbstverständlich wurden auch im Rahmen historischer und kunsthistorischer Betrachtungen viele Überlegungen angestellt und Erkenntnisse zur Kirche hervorgebracht8, allerdings bleiben spezielle bauliche und baugeschichtliche Untersuchungen weiterhin vereinzelt. Neben der verdienstvollen Vermessung der Kirche durch Giuseppe Rocchi und
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che, Architektur und Skulptur, Kunstgewerbe, Berlin 1915, 74f., Anm. 1, 1451 erneuert worden sein. Den Zustand des Dachstuhls zu Beginn unseres Jahrhunderts zeigt eine Zeichnung bei ebd., 76. Vgl. die Bibliographie von Pietro SCARPELLINI in dem von ihm herausgegebenen Band: Fra' Ludovico da Pietralunga. Descrizione della Basilica di S. Francesco e di altre Santuari di Assisi, Treviso 1982, 491-520. Henry THODE, Franz von Assisi und die Anfange der Kunst der Renaissance in Italien, Berlin 1885, und KLEINSCHMIDT ( w i e A n m . 2).
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Wolfgang KRÖNIG, Hallenkirchen in Mittelitalien, Jahrbuch der Bibliotheca Hertziana II (1938), 36-46; Wolfgang SCHÖNE, Studien zur Oberkirche von Assisi, in: Festschrift Kurt Bauch, München 1957, 50-116; Renate WAGNER-RIEGER, Zur Typologie italienischer Bettelordenskirchen, Römische Historische Mitteilungen, Heft 2 (1957/58), Rom 1959, 276-284; Edgar HERTLEIN, Die Basilika San Francesco in Assisi. Gestalt - Bedeutung - Herkunft (Pocket Library of Studies in Art XVI), Florenz 1964. Adolfo VENTURI, La Basilica di Assisi, Rom 1908; Igino Β. SUPINO, La Basilica di San Francesco in Assisi, Bologna 1924; Ugo TARCHI, L'arte medievale nell'Umbria e nella Sabina IV, Mailand 1940. Gerhard RUF, Das Grab des hl. Franziskus. Die Fresken der Unterkirche von Assisi, Freiburg 1981, 13-26, 66-68. Verwiesen sei etwa auf Hans BELTING, Die Oberkirche von San Francesco in Assisi. Ihre Dekoration als Aufgabe und die Genese einer neuen Wandmalerei, Berlin 1977, 17-29.
Die Doppelkirche San Francesco in Assisi
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den Arbeiten von Antonio Cadei sind aus jüngster Zeit vielleicht meine eigenen baugeschichtlichen Beobachtungen zu nennen. 9
II. In der Forschungsliteratur zu San Francesco in Assisi sind die verschiedensten Fragestellungen behandelt worden, so daß man nicht von einem homogenen Erkenntnisinteresse sprechen kann. Dennoch stand in unserem Jahrhundert vor allem die Frage nach der Einheitlichkeit, dem Ursprungskonzept und der Genese des Baus im Vordergrund der Untersuchungen. Dabei kann man in der deutschsprachigen Forschung grundsätzlich zwei Herangehensweisen unterscheiden. Die eine nähert sich dem Bauwerk unter stilistischen Prämissen, die andere gibt dem typologischen Gesichtspunkt den Vorrang. Der stilistischen Betrachtungsweise stellt sich mit der Frage nach dem Wandel, der Entwicklung und der Herkunft von Einzelformen und -motiven von San Francesco primär die Frage nach den Ausfuhrenden, also dem oder den Architekten, wohingegen die typologische Methode die Wahl der Bauform zu bestimmen und zu erklären versucht, wobei die Frage nach den Bauverantwortlichen, den Auftraggebern von San Francesco in Assisi in das Blickfeld rückt. Freilich sind beide Methoden, wie man so schön sagt, zwei Seiten einer Medaille, doch ist forschungsgeschichtlich die stilistische Methode die ältere, die Frage nach dem Typus und seiner Prägung wurde erst nach den grundlegenden Arbeiten von Hans Sedlmayr und Günter Bandmann genauer untersucht. 10 Der stilistische Blick hat stets den Abstand zwischen Ober- und Unterkirche in Assisi betont, um die Unzusammengehörigkeit beider Räume hervorzuheben. Der eine sei romanisch geprägt, der andere gotisch, ja sei eine der frühesten Zeugnisse gotischer Architektur auf italienischem Boden überhaupt (Abb. 2 u. 3). Das führte zu getrennten Ableitungen der beiden Räume aus regional-umbrischen und überregional-französischen Zusammenhängen. Dementsprechend fragte man nach lokalen und zugereisten Architekten. Von daher
9
Guiseppe ROCCHI, La Basilica di San Francesco ad Assisi. Interpretazione e Rilievo, Florenz 1982; Antonio CADEI, Assisi, S. Francesco: l'architettura e la prima fase della decorazione, in: Roma anno 1300. Atti della IV settimana di studi di storia dell'arte medievale dell'Università di Roma „La Sapienza" (19-24 maggio 1980), hg. v. Angiola Maria ROMANINI, Roma 1983, 141-174; DIES., Studi sulla basilica di S. Francesco ad Assisi: architettura (seconda parte), Arte medievale 3 (1989), 117-136; Wolfgang SCHENKLUHN, San Francesco in Assisi: Ecclesia specialis. Die Vision Papst Gregors IX. von einer Erneuerung der Kirche, Darmstadt 1991 (ital. Mailand 1994). 10 Hans SEDLMAYR, Die Entstehung der Kathedrale, Zürich 1950; Günter BANDMANN, Mittelalterliche Architektur als Bedeutungsträger, Berlin 1951.
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war auch die Einheitlichkeit der Konzeption in Frage gestellt, und schon früh gab es die Meinung, die Unterkirche allein sei der Urplan des Gebäudes gewesen.11 Beda Kleinschmidt, der einen Blick für das Gesamtkonzept hatte, sich aber den stilistischen Differenzen nicht verschloß, unterschied folgerichtig Plan und Ausführung.12 Während die Unterkirche ein einheimischer Lokalmeister ausgeführt habe, kam an der Oberkirche ein mit südwestfranzösischer Architektur vertrauter Architekt zum Zuge. Für den Entwurf verantwortlich hingegen sei Elias von Cortona gewesen, der „intellektuelle Meister des Werkes"13, der 1228 im Namen des Papstes das Baugrundstück übernahm und ab 1232 Generalminister des Ordens war. Die Bauzeit setzte Kleinschmidt bis zum Ende des Generalats von Elias, also bis 1239 an. Nach den Forschungen Kleinschmidts fokussierte sich der Blick zunehmend auf die Frage der Herleitung der Oberkirche und hierbei unversehens auf das einschiffige Langhaus des Oberbaus. Dabei erlangte der Vergleich von San Francesco mit der Bischofskirche St. Maurice in Angers als direktes Vorbild durch Wolfgang Krönig den Status einer Lehrmeinung, konkretisierte doch das Exempel den Hinweis von Kleinschmidt auf Südwestfrankreich.14 Ohne hier auf die entscheidenden Strukturunterschiede einzugehen, die schon Edgar Heitlern ausführlich dargelegt hat15, verlor man damit die Frage nach dem Bautypus von Assisi gänzlich aus den Augen. Vor allem geriet die Frage nach Funktion und Auftrag der Kirche aus dem Blick. Bedenkt man, daß die Unterkirche das Grab des hl. Franziskus beherbergt und die Oberkirche im Grundriß weitgehend prädisponiert, hatte sich im Erkenntnisinteresse der Kunstgeschichte die Wertigkeit der Räume gleichsam verkehrt. Der Unterbau verschwand aus der Betrachtung und wurde, von Renate Wagner-Rieger etwa, als einschiffiger Kreuzbau gesondert untersucht.16 Erst Edgar Hertlein versuchte die Aspekte wieder zusammenzufuhren und setzte sich ernsthaft mit dem Doppelkirchentypus auseinander.17 Er definierte San Francesco als eine Verbindung des einschiffigen Kreuzbaus mit dem Typus der Doppelkirche und stellte die These auf, in Assisi seien zwei auf unterschiedliche Doppelkirchenkonzepte zurückgehende Pläne wirksam geworden. Bei Baubeginn 1228 sei man von doppelgeschossigen Martyriumsbauten nach Art der frühchristlichen Kirche im dalmatinischen Salona ausgegangen und 11 Karl FREY, Scritte da Giorgio Vasari. Mit kritischem Apparat, Bd. 1, München 1911, 540. 12
KLEINSCHMIDT ( w i e A n m . 2 ) , 9 4 f f .
13
KLEINSCHMIDT ( w i e A n m . 2 ) , 1 0 8 .
14
KRÖNIG ( w i e A n m . 5 ) , 4 1 f f .
15
HERTLEIN ( w i e A n m . 5 ) , 7 1 - 9 9 .
16 WAGNER-RIEGER (wie Anm. 5), passim und DIES., Einschiffige Benediktinerkirchen des Mittelalters in Italien, in: Festschrift Edoardo Arslan, Mailand 1966, 237-248. 17 HERTLEIN (wie Anm. 5), 143-157.
Die Doppelkirche San Francesco in Assisi
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hätte die Idee dieser Bauten, den Grabraum im Untergeschoß, den Altarraum im Obergeschoß zu installieren, aufgegriffen und auf den Grundriß eines einschiffigen Kreuzbaus übertragen. Nach einer Bauunterbrechung, die Hertlein von 1239 bis circa 1247 andauern läßt, hätte man die Oberkirche nach dem Vorbild der Pariser Hofkirche Ludwigs IX., der Ste. Chapelle, weitergebaut. Dazu mußte die Unterkirche um ein Joch verlängert werden. 1253, als der Papst auf der Rückreise aus seinem Lyoneser Exil auch San Francesco in Assisi einer Weihe unterzog, soll der Bau weitgehend fertig gewesen sein. Die Ausrichtung an der Hochgotik der Île-de-France, die ganz nebenbei das Vorbild aus Westfrankreich eliminierte, schreibt Hertlein dem Einfluß der französischen Kräfte in der Ordensleitung jener Zeit zu. Die Untersuchungen Edgar Hertleins gaben auf vielerlei Fragen eine Antwort. Mit der These zweier Doppelkirchenpläne integrierte er die stilistischen Unterschiede am Bau plausibel und öffnete mit dem Verweis auf frühchristliche Vorbilder für die Unterkirche und auf die französische Hochgotik für die Oberkirche der historischen und funktionalen Deutung des Baus die Tür. Die Wahl einer Doppelkirche wird aus dem Wunsch nach funktionaler Trennung von Grabkirche und Mönchskirche verständlich, ihre besondere Gestalt aus der spezifischen Entwicklung des Ordens und der Situation des Papsttums im zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts erklärt. Allerdings enthalten die Deutungen von Hertlein einige baugeschichtlich zu beweisende Prämissen. Erstens, die der horizontalen Errichtung der Kirche; zweitens, die einer längeren Bauunterbrechung; drittens, die der Streckung der Unterkirche durch Anbau eines weiteren Langhausjoches; sowie viertens, die einer einheitlichen Ausführung des oberen Kirchenraums. Von der Richtigkeit dieser Annahmen hängt sowohl die typologische Bestimmung und Ableitung als auch die funktional-historische Interpretation der Kirche durch Edgar Hertlein ab. Für die baugeschichtliche Problematik greife ich hier nur ein Beispiel heraus, das allerdings zentral ist und zeigt, wie die stilistische Sichtweise den Sachverhalt am Bau verstellen kann. Es handelt sich um die Errichtung des Glockenturms auf der Südseite der Kirche, in der Ecke zwischen Lang- und Querhaus. Für Hertlein gehört der Turm stilgeschichtlich vor die Oberkirche, da sein Erscheinungsbild romanisch ist (vgl. Abb. 1). Er datiert ihn deshalb in den ersten Bauabschnitt, in die Zeit zwischen 1228 und 1239, als man die Unterkirche errichtete, und stellt die Vermutung auf, daß er beim Weiterbau nach 1247 gute technische Dienste beim Hochtransport der Baumaterialien für die Oberkirche geleistet habe. Nun sind aber die Baubefunde, die gegen eine ursprüngliche Planung oder eine Errichtung des Campanile mit der Unterkirche sprechen, zahlreich und vor Ort leicht nachprüfbar. 18 Erstens sitzt der Turm so dicht vor einem der halbrunden Strebepfeiler, daß keine Hand mehr 18 SCHENKLUHN ( w i e A n m . 9), 8 8 - 9 0 .
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dazwischen paßt, und zweitens ist die Steinoberfläche des Strebepfeilers geglättet und auf Sicht gearbeitet, die Turmrückseite hingegen nicht (Abb. 4). Drittens wurde ein Gesims, das zwischen Ober- und Unterkirche die Wand und die Torrioni genannten Strebepfeiler umläuft, wieder abgeschlagen, um den Turm so dicht wie möglich heranzustellen. Viertens wurde für den Treppenaufgang zum Turm eine Tür nachträglich in die Wand des Südquerhauses gesetzt und das erste Langhausfenster der Unterkirche geschlossen. Und fünftens schließlich überschneidet der Turm die beiden ersten Fenster der Oberkirche, die entsprechend wenig zusätzliches Licht in den Raum bringen können, was man sicherlich anders ausgeführt hätte, wäre der Turm schon vor der Oberkirchenwand dagewesen. Man merkt an diesem Beispiel, was das Fehlen einer gründlichen Bauuntersuchung für jede baugeschichtliche Folgerung bedeutet.19 Die systematische Untersuchung von San Francesco, und sei es nur durch gründliche Beobachtung und Sichtung des Bestandes, ist von kaum einem Forscher wirklich unternommen worden. Eine Ausnahme macht Beda Kleinschmidt, dessen Buch man dies auf den ersten Blick nicht ansieht. Sein Name findet sich im Innern des Portalstrebepfeilers, der die kleine Cupola zur Piazza trägt. Wer dort hinabsteigt, hat schon ein ausgeprägtes baugeschichtliches Interesse gehabt.20 Der Turm vor der Wand von Ober- und Unterkirche deutet die Zusammengehörigkeit von oberem und unterem Kirchenraum in Plan und Ausführung schon an. Sie wird auch greifbar am Chor, wo Torrioni mit Wendeltreppen Ober- und Unterkirchenapsis verbinden und die Kirche bis auf die Gewölbe der Oberkirche hinauf erschließen. Die von der Kreuzgangsplattform aus zugängliche nördliche Treppenspindel führt im Uhrzeigersinn hinauf, die in der südlichen, die keinen erkennbaren Außenzugang hat, hinab. Von beiden gehen breite Gänge zur Unterkirchenapsis und zur Querhauswand der Oberkirche ab. Die unteren führten einst in Höhe des Gewölbes in die Unterkirchenapsis, wo sich ein Bühneneinbau befunden haben muß. Die oberen Gänge öffnen sich mit aufwendig profilierten Portalen, die heute hinter dem Chorgestühl verborgen liegen. Ihre Ähnlichkeit mit dem Haupteingangsportal zur Oberkirche ist unverkennbar und ein weiterer Hinweis auf die konzeptionelle Einheitlichkeit der Anlage.
19 Das jüngste Beispiel dafür liefert die Arbeit von Jürgen WIENER, Die Bauskulptur von San Francesco in Assisi (Franziskanische Forschungen, 37), Werl 1991, 105-108, wo die Campanile-Problematik ohne Rücksicht auf Befunde mit rein stilistischen Mitteln völlig unzureichend behandelt wird. Dabei ist die Frage einer späteren Aufstockung des Turms um ein weiteres Geschoß für dessen Stellung im Verhältnis zum Kirchenkörper unerheblich. 20 Der Zufallsfund seiner Signatur hat mich erst auf die Stelle in seinem Buch aufmerksam gemacht, wo er von der Suche nach einem alten Zugang zur Unterkirche am Fuß der Cupola erzählt (KLEINSCHMIDT, wie Anm. 2,113).
Die Doppelkirche San Francesco in Assisi
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Die Existenz zweier Doppelkirchenpläne läßt sich baubefundlich nicht verifizieren. Es gab nur einen Plan, der allerdings während der Ausführung modifiziert worden ist. Vereinfacht verlief der Vorgang wohl wie folgt 21 : Oberund Unterkirche wurden vom Chor ausgehend errichtet, bei ansteigendem Gelände zur Fassade hin und von Anfang an als doppelgeschossiger Bau. Zunächst wurde das Ziel eines drei Joche tiefen Langhauses mit vorgelegtem Narthex, der den Zugang zur Unter- und Oberkirche vermittelte, verfolgt. Während der Bauzeit wurde die Oberkirche, nicht die Unterkirche, über diesen Narthex hinaus verlängert und die heutige Fassade, zusammen mit dem sie seitlich stützenden Strebepfeiler, gegründet. Vier Joche im oberen Raum sollten achsial über dem unteren stehen. Doch wurde in die Fassadentiefe während der Ausführung ein kleines Tonnenjoch gesetzt, was zur Verschiebung und Unregelmäßigkeit der Jochfolge im Oberkirchenraum, zur Zurücksetzung der Wanddienstbündel im Verhältnis zur Unterkirche führte. Auf diese Stellung der Wandvorlagen der Oberkirche sind die Torrioni am Langhaus ausgerichtet. Sie sind also erst nach der Modifikation aufgeführt worden, ob sie von Anfang an geplant waren, läßt sich kaum mehr feststellen. Als letztes entstand der Campanile auf der Südseite der Kirche. Das ist, kurz gefaßt, die relative Chronologie, wie sie sich aus einer eingehenden Bauuntersuchung ergibt. Diese Vorgänge lassen sich geschichtlich mit zwei Glockenlieferungen von 1239 und 1243 verknüpfen. Zwei Orte bieten sich für die Aufhängung der Glocken an: einmal der einst begehbare Fassadenstrebepfeiler mit der Cupola und zum anderen der Campanile selbst. 22 Beide Orte setzen die Verlängerung der Oberkirche, d.h. die Gründung der neuen Fassade bereits voraus, wobei im Falle des Campaniles auch die Oberkirche bereits in der heutigen Form bestanden haben muß. Kein anderes Datum aus den überlieferten Quellen läßt sich enger an den Kirchenbau binden, womit die Frage seiner Fertigstellung nicht berührt wird. Immerhin ergibt sich mit der Zeitspanne von 1239/43 ein terminus ante quem für die Ausführung des ersten Plans und seiner entscheidenden Modifikation.
III. Die baugeschichtlichen Befunde tangieren auch die typologische Problematik. Einem aufmerksamen Betrachter wird ohnehin nicht entgangen sein, daß die Grundrißbestimmung von San Francesco als einschiffiger Kreuzbau nicht
21 SCHENKLUHN ( w i e Anm. 9), 1 1 9 - 1 2 4 .
22 Einen weiteren Anbringungsort ins Spiel zu bringen, wäre reine Hypothese. Dazu gibt es weder einen baugeschichtlichen noch einen quellenmäßigen Befund.
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korrekt ist, da sich Quer- und Langhaus nicht wirklich kreuzen. Charakteristisch ist die T-Form, bei der das Querhaus mit der Hauptapsis das Langhaus abschließt. Schon Renate Wagner-Rieger ist aufgefallen, daß dies, bei der ungewöhnlichen Westung der Kirche, an den frühchristlichen Kirchenbau erinnert.23 Tatsächlich stellt das hohe, blockhafte Querhaus von San Francesco einen Rückgriff auf den traditionellen, von Alt-St. Peter in Rom ausgehenden Memorialbau Süditaliens dar, ähnlich wie Montecassino, Bari oder Trani.24 Das Übereinander zweier Kirchenräume geht hingegen auf die lange Tradition der geistlichen Herrscherkapelle zurück, vor allem auf die Form bischöflicher Privatkapellen, wie sie sich zwischen 1170-1230 im französischen Kronland ausgebildet hat. Die Ste. Chapelle stellt als königliche Adaption gleichsam den Höhepunkt der Gattung dar. Daß dieser Typus nicht die Gesamtkonzeption in Assisi bestimmt, macht allein die Tatsache deutlich, daß keine dieser französischen Kapellen ein Querhaus besitzt. San Francesco ist also, typologisch gesehen, nicht eine Synthese aus einem allgemeinen Doppelkirchentypus und dem einschiffigen Kreuzbau, sondern ein Zusammenspiel aus der geistlichen (bischöflichen) Herrscherkapelle und dem Memorialbau römisch-süditalienischer Provenienz. Schon die äußere Erscheinung des Bauwerks verleiht dem in der Vierung der Unterkirche bestatteten Heiligen einen apostolischen Rang, und die Anleihen an die bischöfliche Privatkapelle französischer Herkunft machen deutlich, daß es sich nicht um eine Ordenskirche handelt, sondern um den Bau des obersten Bischofs der Christenheit, des pontifex maximus. Erst nach dieser Klärung kann eine plausible historische Deutung von San Francesco erfolgen.25 Sie steht im Zusammenhang mit der Heiligsprechung des Franziskus im Rahmen kirchenpolitischer Auseinandersetzungen zwischen Papst Gregor IX. und Kaiser Friedrich II. Dabei erweist sich im Lichte der Quellen und geschichtlichen Vorgänge der Papst als Bauherr und Auftraggeber der Kirche.26 Außerhalb der Stadt und in gebührender Distanz zur Portiuncula der Minoritengemeinschaft ließ er auf einem ihm gehörenden Grundstück die Kirche erbauen, zu der er höchstpersönlich den Grundstein legte. In einer einzigartigen Anstrengung initiierte er 1227/28 die Heiligsprechung, die Grabeskirche und die Abfassung der Vita. Drei Maßnahmen für ein Ziel: die Ap-
23
WAGNER-RIEGER ( w i e A n m . 5 ) , 2 8 3 .
24 Siehe dazu ausführlich: SCHENKLUHN (wie Anm. 9), 132 ff. 25 Irene HUECK hat in ihrer Rezension (Kunstchronik 45 [1992], 296 ff.) dieses vom Befund über die relative Chronologie und die typologische Ableitung fuhrende Vorgehen nicht verstanden. Die hieran anknüpfende konkrete historische Einbindung der Kirche ist keine Verengung des Blickwinkels, sondern eine Präzisierung des historischen Kontextes des Baus. 26
SCHENKLUHN ( w i e A n m . 9 ) , 1 7 3 f f .
2
Assisi, S a n Francesco, Unterkirche, Ansicht durch das Langhaus zum C h o r
3 Assisi, San Francesco, Oberkirche, Innenansicht
4 Assisi, San Francesco, Rückseite des Campanile (links im Bild), vor dem Torrione mit übermauertem Gesims, das Oberkirche von Unterkirche
5 Cortona, San Francesco, Innenansicht
6
Assisi, S a n Francesco, Ansicht d e s Konvents zu Beginn d e s 18. Jahrhunderts (Stich von V. Coronelli)
Die Doppelkirche San Francesco in Assisi
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probation, Darstellung und Verbreitung des Franziskuskultes.27 Die Gestalt dieses Heiligen, der durch das unerhörte Ereignis der Stigmatisation eine exzeptionelle himmlische Legitimation besaß, war für die Kirche, wie es bei Thomas von Celano heißt, „ein herrlicher Schatz [...] (gegen) all das Leid und die hereinbrechende Bedrängnis"28, die der Stauferkaiser über das Papsttum brachte. Die Hervorhebung des Auftraggebers infolge der Zeitstellung und spezifischen Ausprägung der Architektur von San Francesco rührt natürlich an der Person des Elias von Cortona als „intellektueller Meister des Werkes", insbesondere da man ihn neuerdings wieder stärker in der Rolle des spiritus rector der Anlage sehen will.29 Daß Elias als Kustos der Kirche und Generalminister des Ordens ab 1232 in den Bau von San Francesco involviert war, steht außer Frage. Doch bedeutet das nicht, daß er in dieser Angelegenheit Bauherr oder Architekt war und der Kirche seinen Stempel aufdrücken konnte; die Formen sprechen dagegen. Die Kirche verweist auf den Papst. Das zeigt auch die Betrachtung eines Baus, der in engem Zusammenhang mit Elias steht und mit San Francesco in Assisi, trotz gegenteiliger Behauptungen30, nichts zu tun hat: die Franziskanerkirche in Cortona31. San Francesco in Cortona ist ein nur mäßig großer, von einem offenen Dachstuhl überdeckter Saalraum, in dessen Längswänden schlanke Maßwerkfenster sitzen, unter denen sich, von Altareinbauten des 17. Jahrhunderts verdeckt, vermauerte Wandnischen befinden (Abb. 5). Die Chorwand öffnet sich mit zur Mitte hin gestaffelten Spitzbögen zu drei flach schließenden Kapellen, die die Saalbreite einnehmen und im Gegensatz zum Hauptraum gewölbt sind. Die Kapellenfenster sind weitgehend vermauert und von Altareinbauten verstellt. Die Tradition will, daß sich unter dieser Kirche eine zweite befinden soll, die im 18. Jahrhundert zugeschüttet worden ist. Allerdings deutet am Äußeren nichts darauf hin. Im Gegenteil: Die substruktionsartige Höhe, auf der sich die Kirche befindet, scheint eher auf eine Tieferlegung der heute an der Südseite der Kirche vorbeiführenden Straße zurückzugehen. Das Mauerwerk im Sockelbereich des Baus wirkt wie vorgeblendet und ist in den Lagen auch nicht regelmäßig ausgeführt. Allein ein kleines Portal in der Fassade 27 Wolfgang SCHENKLUHN, Zum Verhältnis von Heiligsprechung und Kirchenbau im 13. Jahrhundert, in: Hagiographie und Kunst. Der Heiligenkult in Schrift, Bild und Architektur, hg. V. G. KERSCHER, Berlin 1993, 301-315. 28 Thomas von Celano, Leben und Wunder des heiligen Franziskus von Assisi (Franziskanische Quellenschriften Bd. 5), Werl 4 1988, 198. 29 Helmut FELD, Franziskus von Assisi und seine Bewegung, Darmstadt 1994, S. 353 ff. 3 0 KLEINSCHMIDT (wie Anm. 2 ) , 1 1 0 , Anm. 4 glaubt die „Doppelkirche" von Cortona sei durch San Francesco in Assisi angeregt worden. 31 Antonio CADEI, La chiesa di San Francesco a Cortona, Storia della Città 9 (1978), 1623; Angelo TAFI, Immagine di Cortona, Guida storico-artistica della città e ditorni, Cortona 1989, 228-244.
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seitlich des Treppenaufgangs gibt einen Hinweis auf einen unteren Raum. Vermutlich handelt es sich aber nur um eine kleine Krypta, die als Begräbnisstätte diente.32 Vielleicht ergeben die Wiederherstellungsarbeiten an der Kirche, die aber seit geraumer Zeit ins Stocken geraten sind, irgendwann mehr Aufschluß darüber. Abgesehen von dieser ungeklärten Frage, liegt die bedeutende Neuerung von San Francesco in Cortona in der direkten Verbindung von Saalraum und flachschließender Kapellenreihe. Hier entstand ein neuer Typus, der von den Konventionen herkömmlichen Ordenskirchenbaus abweicht. So ist etwa bei Zisterzienserkirchen die Zuordnung von jeweils einer Chorkapelle zu einem Schiff im Langhaus kanonisch. Der Hauptchor öffnet sich in Höhe und Breite zum Mittelschiff, die inneren Nebenkapellen öffnen sich zu den Seitenschiffen und die äußeren, gleich in welcher Zahl, zu den Querarmen. Auch bei Wegfall des Querhauses bleibt das im Zusammenhang mit mehrschiffigen Langhäusern so. Wo einschiffige Langhäuser verwendet werden, was die seltene Ausnahme darstellt, ist immer ein Querhaus vorhanden, so daß bei mehreren Chorkapellen die Regel nicht durchbrochen wird. Durch die direkte Verbindung dreier Kapellen mit einem rechteckigen Saalraum entsteht auf der Chorseite durch die dreifache Bogenöffnung ein einheitliches Motiv, das den Raumeindruck prägt. Als Chorwandmotiv steht es dem in die Kirche Eintretenden gegenüber und wird zur Schauseite, zur Rückwand der sich davor vollziehenden liturgischen Handlungen. In San Francesco in Cortona handelt es sich um einen „Dreikapellentypus", der vom bekannten bernhardinischen Chorschema der Zisterzienser entscheidend abweicht. Architektonisch ist der „Dreikapellentypus" eine Innovation, entstanden zwischen 1245 und 1253, als in Cortona der als Parteigänger des exkommunizierten Kaiser Friedrich II. abgesetzte, dann aus dem Orden ausgeschlossene Elias gleichsam zurückgezogen lebte. 1253 wurde er, nachdem er kurz vor seinem Tode Reue gezeigt hatte, in der gerade fertiggestellten Franziskanerkirche bestattet.33 War sie sein Werk? San Francesco in Cortona, das zu einem der Grundtypen franziskanischer Ordenskirchen avancierte, unterscheidet sich deutlich von der „päpstlichen" Kirche in Assisi und könnte das Werk dieses trotz aller Anfechtungen stets um den Orden bemühten Mannes gewesen sein.
32 Der Maler Luca Signorelli soll hier 1523 seine letzte Ruhestätte gefunden haben, siehe: Tafi (wieAnm. 31), 231. 33 Das Grab des Elias von Cortona befindet sich inmitten der Hauptchorkapelle, wo sein Grabstein lange umgedreht lag.
Die Doppelkirche San Francesco in Assisi
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IV. Perspektiven der Forschung fur San Francesco in Assisi ergeben sich in vielerlei Hinsicht. Wünschenswert wäre vor allem eine genauere Bauaufnahme der Kirche, die über die Handvermessung Giuseppe Rocchis hinausfuhrt und auch das Mauerwerk maßgerechter aufnimmt. Im Bereich der unter Dach liegenden Partien der Torrioni auf der Nordseite ist mir schon immer ein auf den Stein aufgemaltes Fugennetz aufgefallen, das etwa die Ansicht der Kirche von Coronelli prägt, dort allerdings die Wände34 (Abb. 6). Hier sollten die Befunde gesichert und näher eingeordnet werden. Ohne größeren Aufwand ließe sich die genaue Lage der Schwelle des Oberkirchenportals, heute teilweise im Boden versteckt, feststellen, um die ursprüngliche Zugangsweise noch besser rekonstruieren zu können. Auch im Bereich des Unterkirchenzugangs ist noch so manche Studie vonnöten, um die Bauabfolge klarer zu sehen. Ohne Grabungen dürfte man hier aber allein wohl kaum weiterkommen. Fast unbekannt zu nennen ist die ursprüngliche Situation auf der Nordostseite der Kirche, vor dem Anbau des tonnengewölbten Queijochs mit der Antonius- und Katharinenkapelle. Vermutlich gab es hier, vorbei an der Kirche, einen Zugang zum Kloster. Merkwürdig und ungeklärt ist in diesem Zusammenhang der kleine, schmale Raum im nordöstlichen Strebepfeiler der Kirche. Voller Geheimnisse steckt auch noch die Chorpartie der Anlage. Die Frage, ob die Wendeltreppen in den Apsistorrioni einst nur Unterkirche, Oberkirche, Laufgang und Dach verbanden, wird durch einen auf Höhe der Kreuzgangsplattform liegenden vermauerten Turmschlitz aufgeworfen.35 Ging hier auf der Nordseite die Apsistreppe noch weiter nach unten? Betrachtet man den Kupferstich eines legendenhaften Besuchs des Papstes Nikolaus V. am Grab des Heiligen vom Anfang des 17. Jahrhunderts, so zeigt das phantastische Bild mit dem stehenden Franziskus im Hintergrund eine Wendeltreppe, die den Zugang in einen geräumigen Grabraum bildet.36 Allerdings ist die ursprüngliche Situation seit der Wiederauffindung des Heiligen im 19. Jahrhundert und dem Bau der Krypta in Form einer „dritten Kirche" unter dem Chorbereich empfindlich gestört. Daß dieser Bereich vielleicht doch ganz anders aussah, deutet der Fund eines polygonalen Brunnens innerhalb eines großen Kreisfundamentes unmittelbar hinter der Hauptapsis an, der im Zuge der Beseitigung der Erdbebenschäden erst jüngst zum Vorschein kam. Dabei wurden auch Reste älterer 34 Das Blatt zeigt die Kirche zu Beginn des 18. Jahrhunderts, geht aber auf eine ältere Vorlage zurück; siehe: Alberto GROHMANN, Assisi (Le Città nella storia d'Italia), Rom/Bari 1989, Kat. Nr. 36. 35 Die Vermauening des Turmschlitzes liegt in Höhe des Treppenabsatzes am nördlichen Ausgang zur Kreuzgangsplattform und ist gut zu sehen auf einer Aufnahme bei: SCHENKLUHN ( w i e A n m . 9 ) , 2 9 , A b b . 3 9 . 36
KLEINSCHMIDT ( w i e A n m . 2 ) , 6 4 , A b b . 4 4 .
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Mauerpartien an der Südwestecke des Chors feststellbar, die es notwendig machen, die Nahtstelle zwischen Kirche und Kloster in Zukunft neu zu überdenken. Es wird die Frage sein, in welcher Weise die deutschsprachige Forschung in Zukunft daran partizipieren kann. Wird ein Nachfolger von Pater Gerhard Ruf kommen, der ebenso bau- und kunstinteressiert, so selbstlos die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterstützt? Forschung braucht auch eine Kontinuität, die immer wieder hergestellt werden muß. Vor allem sollte sie sich in Zukunft stärker verzahnen und Geschichte, Architektur, Skulptur, Malerei und Glasmalerei von San Francesco im Kontext sehen, wie es einst, wenn auch auf andere Weise, Beda Kleinschmidt tat.37
Abbildungsnachweise: Abb. 1 : Assisi, San Francesco, Ansicht von Südosten über die Piazza superiore (Aufnahme: Archivio Fotografico Sacro Convento, Assisi); Abb. 2: Assisi, San Francesco, Unterkirche, Ansicht durch das Langhaus zum Chor (Aufnahme: Archivio Fotografico Sacro Convento, Assisi); Abb. 3: Assisi, San Francesco, Oberkirche, Innenansicht (Aufnahme: Archivio Fotografico Sacro Convento, Assisi); Abb. 4: Assisi, San Francesco, Rückseite des Campanile (links im Bild), vor dem Torrione mit übermauertem Gesims, das Oberkirche von Unterkirche trennt (Aufnahme: Archivio Fotografico Sacro Convento, Assisi); Abb. 5: Cortona, San Francesco, Innenansicht (Foto Bazzechi, Florenz); Abb. 6: Assisi, San Francesco, Ansicht des Konvents zu Beginn des 18. Jahrhunderts (Stich von V. Coronelli) (Aufnahme: Archivio Fotografico Sacro Convento, Assisi).
37 Geschichtlich mangelt es an einer neueren historisch-kritischen Arbeit über Papst Gregor IX. Zur Bauskulptur siehe: WIENER (wie Anm. 19), der allerdings den wenig überzeugenden Versuch unternimmt, anhand der Kapitellplastik eine Baugeschichte für San Francesco zu schreiben. Häufig werden dabei diskutierbare Kapitellanalysen in apodiktische Aussagen zur Baugeschichte verwandelt. Hervorragend aufgearbeitet wurde in letzter Zeit die Glasmalerei durch Frank MARTIN, Die Apsisverglasung der Oberkirche von S. Francesco. Ihre Entstehung und Stellung innerhalb der Oberkirchenausstattung, Worms 1993, und DERS./Gerhard RUF, Die Glasmalereien von San Francesco in Assisi. Entstehung und Entwicklung einer Gattung in Italien, Regensburg 1997. Vorliegender Aufsatz spiegelt den Stand meiner Überlegungen von 1998. In einen weiteren Kontext gestellt findet sich San Francesco in Assisi in meinem Überblickswerk: Die Architektur der Bettelorden. Die Baukunst der Dominikaner und Franziskaner in Europa, Darmstadt 2000, 37-43.
Register: Historische Personen
Adelheid von Meißen 237 Aegidius (Bruder) 60, 221 Agnes von Prag 17, 55, 89, 189, 219, 227235, 237, 239-246, 248 f. Alanus de Insulis 150 Alexander IV. (Papst) 99, 236, 241, 259 Ambrosius 157 Andreas II. von Ungarn 232, 240 Angelo Clareno 190 Angelus (Bruder) 7-9, 93 Anna von Schlesien 238 f., 242,244, 247 Anselm von Canterbury 129, 135-137, 139 Antonius von Padua 192 Augustinus 78, 129, 157 Autiers, Guilhem und Peire 151 Bartholomaeus von Pisa 231 Beatrice von Assisi 213 Beatrix von Kastilien 232, 242 Beda Venerabiiis 28 Bela III. von Ungarn 237 Bernhard von Clairvaux 44, 157 Bernhard von Quintavalle 97, 192 f., 209 Blazena von Böhmen 238 Bonagrazia di S. Giovanni 229 Bonaventura 2, 5-8, 11, 59, 97-105, 183, 189, 191, 220, 229, 258, 261, 266 Bonus Johannes von Arezzo 92 Brus, Anton 248 Caesarius von Speyer 77, 184 Cimabue 271 Crescentius von Jesi 2, 9 f., 217 f., 220 Dante 49 141, 168, 202,206 Dominikus Eberhard von Bethune 150 Elias von Cortona (von Assisi) 2f., 55, 93, 97, 165, 171, 179, 183-194,207, 218f„ 236, 274, 279f. Elisabeth von Böhmen 227 Elisabeth von Thüringen 240-242 Ermentrudis von Brügge 109 Favarone di Ofïreduccio 201
Fournier, Jacques 151, 159 Friedrich II. (Kaiser) 67, 168, 188f„ 232, 278, 280 Gerhard von Borgo San Donnino 101 Gertrud von Trebnitz 239 Giotto 251-253, 266, 271 Giovanni di Pian di Carpine 234, 246 Glassberger, Nicolaus 231 Goethe 49 Gregor der Große (Papst) 78, 157 Gregor IX. (Papst; Kardinal Hugolino von Ostia) 2f., 5, 57f„ 79, 161, 163-182, 185-188, 191, 206, 209, 214, 231-237, 240, 243, 245f., 249f„ 278 Gregor von Neapel 180 Guido II. von Assisi 76, 91, 175 Guilhem Raimon 157 Haymo von Faversham 192 Hedwig von Schlesien 239 Heinrich I. von Krakau und Schlesien 239 Heinrich II. von Schlesien 238 Heinrich VI. (Kaiser) 67 Heinrich VII. (Kaiser) 232 Heinrich Zdik 239 Hildert von Lavardin 204 Homer 49, 50,51 Honorius III. (Papst) 57, 168 f., 171, 176, 180f„ 185, 235 Hugolino von Ostia: siehe Gregor IX. Ignatius von Loyola 62 f. Innozenz III. (Papst) 46, 52, 56, 59, 166, 168 f., 172, 174-176, 182, 195, 198, 200, 267 Innozenz IV. (Papst) 236, 246 Irenaeus 136 Isaac von Stella 39 Isabella von Frankreich 242, 249 Jacoba von Settesoli 62, 207, 212 Jakob von Vitry 204 Johann von Luxemburg 247 Johannes a Capeila 180 Johannes Parenti 185, 192
284 Johannes von Matha 136 Johannes von Perugia (Anonymus von Perugia) 11,97, 102, 105 Johannes von St. Paul 176, 182 Jordanus von Giano 169, 185, 187, 189, 191, 194,211 Julitta von Florenz 145 Karl IV. (Kaiser) 247 Klara von Assisi 17f„ 55, 62, 89f„ 95, 109, 173, 189, 195-215, 218f„ 225, 229-231, 235-237, 243, 246, 249 Konrad von Marburg 240 Konstanze von Böhmen 232, 238, 240 Kunigunde von Böhmen 244 Leo (Bruder) 2, 6 - 9 , 12, 68, 93, 192, 194 Leonhard (Bruder) 68 Lepzet 155 Ludwig IV. von Thüringen 240 Ludwig IX., der Heilige, von Frankreich 221,249, 275 Lukardis von Trier 155 f. Luther, Martin 115 Margarete von Ungarn 242 Matthaeus von Aquasparta 266 Matthaeus von Narni 180 Militia de Monte-Meato 145 Moneta von Cremona 157 f. Nazarius 152 Nicola Rosselli 166 Nikolaus II. von Prag 246 Nikolaus III. (Papst; Kardinal Giovanni Gaetano Orsini) 236 f. Nikolaus V. (Papst) 281 Norbert von Xanten 239
Register: Historische Personen
Pacificus (Bruder) 65-67, 147, 160 Petrus Abaelard 204 Petrus Catanii 185 Petrus Johannis Olivi 106 Petrus Vallium Sarnaii 150 Philippus Longus 180, 204, 210 Pica 146 Pietro di Bernardone 83, 146 Platon 49 Pons de St. Michel 157 Raimund von Peñafort 167 Rainer Sacconi 145 Riccardo von Orvieto 145 Robert Grosseteste 189 Robert von Arbrissel 206 Rufinus (Bruder) 7 - 9 Salimbene von Parma 183, 187 Seneca 222 Shakespeare 49 Simone Puciarelli 186 Stephan von Narni 203 Thomas (Custos) 234 Thomas von Aquin 137, 153, 157-159 Thomas von Celano 2, 5-10, 13, 46, 5 3 55, 57, 59-61, 63, 65-67, 83, 10f„ 105, 147, 169f., 183, 189-193, 199f., 203, 209, 213, 217f„ 220, 222, 229, 261,279 Thomas von Eccleston 183,186f. Thomas von Pavia 211 Tobias von Bechynë 229 Ubertin von Casale 12 Urban IV. (Papst) 250 Valentinus 158
Odo von Cheriton 52 f. Orígenes 155 Orsini, Giovanni Gaetano: siehe Nikolaus III. Otto IV. (Kaiser) 168 Ottokar I. von Böhmen 227, 232f., 237 Ottokar II. von Böhmen 244f., 247
Wenzel I. von Böhmen 233, 235, 239, 243 f., 247 Wenzel II. von Böhmen 245, 247 Wilhelm von Saint Thierry 43 Wilhelmine von Böhmen 238
Abkürzungen Die folgenden Abkürzungen franziskanischer Quellen wurden im Text nicht aufgelöst.
Franziskus 1 BrGl 2 BrGl BrKl BrKust BrOrd ErklVat Erm GebKr GrTug OffPass RegB RegNB LobGott SalBMV Sonn Test
Brief an die Gläubigen I Brief an die Gläubigen II Brief an die Kleriker Brief an die Kustoden I und II Brief an den gesamten Orden Erklärung zum Vaterunser Ermahnungen Gebet vor dem Kreuzbild in San Damiano Gruß an die Tugenden Offizium vom Leiden des Herrn Regula bullata (bullierte Regel) Regula non bullata (nicht bullierte Regel) Lobpreis Gottes für Bruder Leo Salutatio Beatae Mariae Virginis (Gruß an die selige Jungfrau Maria) Sonnengesang Testament
Klara LegCl RegCL TestCl EpAgn
Legenden der heiligen Klara Regel der heiligen Klara Testament der heiligen Klara Briefe Klaras an Agnes von Prag
Andere AnPer 3 Soc LegMaior LegPer I—III Cel ProCan
Anonymus Perusinus Legenda trium sociorum Legenda maior Bonaventuras Legenda Perusina Thomas von Celano, Leben und Wunder des heiligen Franziskus von Assisi Heiligsprechungsbulle
Autorinnen und Autoren
Giulia Barone, Prof. Dr., Professorin für mittelalterliche Institutionengeschichte an der Universität Rom »La Sapienza«. Dieter R. Bauer, Akademiereferent, Leiter des Referats Geschichte an der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Franz Xaver Bischof, Prof. Dr. theol., Professor am Seminar für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Kaspar Elm, Prof. Dr. phil., Professor em. fur Mittelalterliche Geschichte an der Freien Universität Berlin. Helmut Feld, Prof. Dr. phil. Dr. theol., Honorarprofessor für Historische Theologie an der Universität des Saarlandes, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut fur europäische Geschichte in Mainz. David Ethelbert Flood OFM, Dr., St. Bona, USA. Ulrich Köpf, Prof. Dr. theol., Professor fur Kirchengeschichte an der EvangelischTheologischen Fakultät an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen und Leiter des Instituts für Spätmittelalter und Reformation. Klaus Krüger, Prof. Dr. phil., Professor für Kunstgeschichte der Frühen Neuzeit mit Schwerpunkt Italien an der Freien Universität Berlin. Nikiaus Küster OFMCap, Dr. theol., Lehrbeauftragter für Kirchengeschichte an der Universität Luzern. Leonhard Lehmann OFMCap, Prof. Dr., Dozent am Seraphicum, Pontifica Facoltà Teologica S. Bonaventura, Rom und am Pontificio Ateneo Antonianum, Istituto Francescano di Spiritualità. Daniela Müller, Prof. Dr. theol., Professorin für Mittelalterliche Kirchengeschichte und Dogmengeschichte an der Katholisch-Theologischen Universität Utrecht. Anton Rotzetter OFMCap, Dr. theol., Lehrbeauftragter für Theologie der Spiritualität an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Münster. Wolfgang Schenkluhn, Prof. Dr. phil., Professor für Kunstgeschichte des Mittelalters, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Oktavian Schmucki OFMCap, Dr., langjähriges Mitglied des Historischen Instituts des Kapuziner in Rom, Luzern. Theo Zweerman OFM, Prof. Dr. phil., Professor für Spiritualität an der Universität Utrecht und Dozent für franziskanische Spiritualität und Theologie an der Katholisch-Theologischen Universität Utrecht.
Beihefte zum Archiv fü- Kulturgeschichte In V e r b i n d u n g m i t Karl A c h a m , Günther Binding, E g o n Boshof, W o l f g a n g B r ü c k n e r , Kurt Düwell, Gustav Adolf Lehm a n n , Michael Schilling herausgegeben von Helmut Neuhaus - Eine Auswahl Bd. 50: H e l m u t Feld: F r a u e n d e s Mittelalters. Zwanzig geistige Profile. 2000. X, 472 S. Gb. m. SU. € 34,50/SFr 62,ISBN 3-412-05800-9 Bd. 51 : A n s e l m F r e m m e r : V e n e z i a n i s c h e Buchkultur. B ü c h e r , B u c h h ä n d l e r u n d Leser in der F r ü h r e n a i s s a n c e . 2001. X, 452 S. 11 s/w-Abb. Gb. € 50,00/SFr 89,00 ISBN 3-412-09301-7 Bd. 52: A n d r e a Esmyol: Geliebte oder Ehefrau? Konkubinen im frühen Mittelalter. 2002. IX, 315 S. Gb. € 29,90/SFr 52,50 ISBN 3-412-11901-6 Bd. 53: Axel Bayer: Spaltung der Christenheit. Das s o g e n a n n t e Morgenländ i s c h e S c h i s m a v o n 1054. 2. unveränd. Auflage 2004. VII, 274 S. Gb. € 34,90/SFr 60,40 ISBN 3-412-14204-2 Bd. 54: Dieter R. Bauer, Helm u t Feld, Ulrich Köpf (Hg.): F r a n z i s k u s v o n Assisi. Das Bild d e s Helligen a u s neuer Sicht. 2005. X, 287 S. 26 s/w-Abb. auf 20 Taf. Gb. Ca. € 29,90/SFr 50,20 ISBN 3-412-09403-X
Bd. 55: Florian Steger, Peter Jankrift (Hg.) Gesundheit - Krankheit. Kulturtransfer m e d i z i n i s c h e n W i s s e n s v o n der Spätantike bis in die Frühe Neuzelt. 2004. VI, 267 S. 3 s/w-Abb. auf 4 Taf. Gb. € 34,90/SFr 60,40 ISBN 3-412-13803-7 Bd. 56: Mathis Leibetseder: Die Kavalierstour. Adelige E r z i e h u n g s r e i s e n i m 1 7. u n d 1 8. J a h r h u n d e r t . 2004. 258 S. 8 s/w-Abb. auf 8 Taf. Gb. € 34,90/SFr 60,40 ISBN 3-412-14003-1 Bd. 57: Carolin Wirtz: K d n und V e n e d i g . Wirtschaftliche u n d kulturelle B e z i e h u n g e n i m 15. u n d 1 6. J a h r h u n d e r t . 2005. Ca. 416 S. Gb. Ca. € 44,90/SFr 74,ISBN 3-412-18503-5 Bd. 58: Pavlina Rychterová: Die O f f e n b a r u n g e n d e r h e i l i g e n Birgitta v o n Schweden. Eine U n t e r s u c h u n g zur a l t t s c h e c h i s c h e n Übersetz u n g d e s T h o m a s v o n Stítné ( u m 1 3 3 0 - u m 1 409). 2004. IX, 290 S. Gb. € 39,90/ SFr 69,40 ISBN 3-41 2-11304-2 Bd. 59: Katharina Fietze: Im G e f o l g e D i a n a s . Frauen u n d h ö f i s c h e J a g d i m Mittelalter (1 2 0 0 - 1 500). 2005. X, 1 76 S. mit 1 6 s/w-Abb. 1 6 färb. Abb. auf 1 6 Taf. Gb. € 29,90/SFr 52,20 ISBN 3-412-13204-7 Bd. 60: Dirk Jäckel: Der H e r r s c h e r a l s Löwe. U r s p r u n g u n d G e b r a u c h ein e s polltischen S y m b o l s Im Früh- u n d Hochmittelalter. 2005. Ca. 352 S. Ca. 25 s/w-Abb. auf 1 6 Taf. Gb. Ca. € 44,90/ SFr 77,00 ISBN 3-412-21005-6
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unserem
Archiv für Kulturgeschichte
Zeitschriften-Programm
A r c h i v fix Kulturgeschichte In Verbindung mit Karl A c h a m , Günther Binding, E g o n Boshof, Wolfgang Brückner, Kurt Düwell, Michael Schilling u n d Gustav Adolf L e h m a n n herausgegeben von
BÖMI-AUVFIRLAGKIH-N WEFM/VR WTL!N
Helmut N e u h a u s
Entsprechend einer weiten Auslegung des Begriffs »Kulturgeschichte« ist das Spektrum der Aufsätze breit gefächert.
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Prinzipiell können alle Epochen und Kulturräume vertreten sein, die Themen reichen von der Geschichte im engeren Sin-
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ne bis zur Philosophie und Soziologie. Ein historischer Aspekt ist allerdings immer vorhanden. Natürlich liegt ein Schwerpunkt auf der deutschen Geschichte, wobei die Großepochen vom Mittelalter bis zur Gegenwart möglichst gleichmäßig berücksichtigt werden. Erscheinungsweise: zweimal jährlich Einzelheft: € 44,90/SFr 7 7 , Jahrgang: € 8 2 , - / S F r 1 3 5 ISSN 0003-9233
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engestalten. Kaiserinnen, Ordensfrauen, Mystikerinnen und Heilige
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haben zur religiösen Tradition, zur Philosophie und zur mittelalterlichen Literatur Bedeutendes beigetragen. Zwanzig herausragende Frauen werden in diesem Buch porträtiert. D e n zeitlichen Bogen spannt Helmut Feld von Kaiserin Adelheid (10. J h . ) bis J e a n n e de Jussie (16. Jh.). Sein besonderes Augenmerk richtet er auf die religiöse Erfahrungswelt der Frauen: Worin bestanden ihre religiösen Vorstellungen, ihre visionären Erlebnisse? W i e konnten sie ihre geistige Erfahrungswelt literarisch und existentiell bewältigen? Welche Rolle spielte der mittelalterliche Mythos der Jungfräulichkeit, der mit J e a n n e d A r c einen absoluten Höhepunkt erlebte? - Bei aller Unterschiedlichkeit der L e b e n s w e g e verbindet alle Frauen eine besondere Form der religiösen Welterfahrung, die man als »meditative T h e o logie« bezeichnen kann. Das geistige Niveau und die Tiefe ihres Denkens stand der gleichzeitigen Schul- und Klostertheologie in nichts nach. Nicht selten aber lag diese Art religiöser Welterfahrung quer zur offiziellen L e h r e der Kirche.
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