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German Pages [352] Year 1999
ARBEITEN ZUR KIRCHLICHEN ZEITGESCHICHTE REIHE B: DARSTELLUNGEN · BAND 31
V&R
ARBEITEN ZUR KIRCHLICHEN ZEITGESCHICHTE Herausgegeben im Auftrag der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte von Joachim Mehlhausen und Leonore Siegele-Wenschkewitz
REIHE B: DARSTELLUNGEN Band 31 Holger Roggelin Franz Hildebrandt
GÖTTINGEN · VANDENHOECK & RUPRECHT · 1999
Franz Hildebrandt Ein lutherischer Dissenter im Kirchenkampf und Exil
von
Holger Roggelin
GÖTTINGEN · VANDENHOECK & RUPRECHT · 1999
Redaktionelle Betreuung dieses Bandes: Carsten Nicolaisen
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Roggeliti, Holger: Franz Hildebrandt: ein lutherischer Dissenter im Kirchenkampf und Exil / von Holger Roggelin. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1999 (Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte: Reihe B, Darstellungen; Bd. 31) ISBN 3-525-55731-0
© 1999 Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen
INHALT Vorbemerkung
7
1. Einleitung
9
1.1. 1.2. 1.3.
„Der Freund" Humanität und Ethik in der Kirchenkampfdiskussion - das Bekenntnis „pro hominibus" Die Erfahrung des Exils
9
13 17
2. Die frühen Jahre
21
3. Keine Zeit der Illusionen: 1933
46
4. Der erste „Illegale": 1934
66
2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5. 3.1. 3.2. 3.3. 3.4.
4.1. 4.2. 4.3. 4.4.
Kindheit in Berlin Studium Vikariat „EST" Die Freundschaft mit Dietrich Bonhoeffer
21 25 30 34 37
„Das letzte Kind der vor-Hitlerschen Kirche" Erste Überlegungen zur Opposition Nach den Synoden: „Mein Teil ist jetzt Schweigen" Von London aus: Drängen auf Entscheidung
46 50 56 62
Rückkehr nach Berlin „1934 hatte man noch seine Illusionen" Ökumenische Vermittlungstätigkeit Gemeindedienst in Dahlem
66 71 77 83
5. Klärungen und Scheidungen: 1935-1937 5.1. 5.2. 5.3. 5.4. 5.5. 5.6.
92
Der „Pyrrhussieg" - die Steglitzer Synode Die Kirchenausschüsse und ihre Folgen Die Kirchliche Hochschule Die Denkschrift von 1936 Der Theologische Ausschuß und die „Nichtarier" Sommer 1937
92 96 102 107 111 121
6. London: 1937/1938 6.1. 6.2. 6.3. 6.4. 6.5.
125
Entscheidung zur Emigration Hilfsprediger an St. Georg Ein Nachspiel „Ubersetzertätigkeit für die Bekennende Kirche" Die Herbstkrise 1938
125 128 140 142 151
7. „Das Evangelium und die Humanität" 7.1. 7.2.
Zur Literargeschichte „Unser Schweigen zu Gewalt und Barbarei" - Anlaß und Intention
157 .
157 158
6
Inhalt 7.3. 7.4. 7.5. 7.6. 7.7. 7.8.
Gliederung und Aufbau Stärke und Gefahren des humanitären „Angriffs" Die Diagnose: Der Triumph der „Abwehr" „Was hätte das Evangelium dagegen?" - zum Schriftprinzip der Studie Menschliche Gebrechlichkeit und göttliche Humanität - zwischen Barth und der Zwei-Reiche-Lehre In „göttlicher Schwachheit" der Welt den Frieden Gottes verkünden -
159 160 161 163
die Aufgabe der Kirche
168
8. D i e K r i e g s j a h r e in C a m b r i d g e 8.1. Flüchtlingshilfe und Motor der Einmischung 8.2. Deutsche Gemeinde und ökumenische Gemeinschaft 8.3. Internierung 8.4. Die Christian Fellowship in Wartime, das German Confessional Institute und der Streit um Status und Aufgabe der deutschen Pastoren 8.5. Verkündigung oder Propaganda - die deutschen religiösen Sendungen der B B C 8.6. Die Kontroverse mit Charles Raven 8.7. Christian International Service, Heirat und Kriegsende 9.
10.
„ A Transition, not a B r e a k " - der Ü b e r g a n g z u m M e t h o d i s m u s . 9.1. Von Luther zu Wesley 9.2. Kanzel und Katheder
166
173 173 188 195
199 218 234 238 248 248 256
„Ich habe mich da i m m e r herausgehalten" F r a n z H i l d e b r a n d t u n d die Bonhoeffer-Interpretation
11. N u r ein A u ß e n s e i t e r ?
262 270
Dokumente 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7
Karl Barth an Dorothy Buxton. 28. September 1938 Karl Barth an Dorothy Buxton. 10. Oktober 1938 Karl Barth: Entwurf des Vorworts zur Veröffentlichung des Vortrags „The German Church Struggle. Tribulation and Promise." 10. Oktober 1938 . . Franz Hildebrandt an Karl Barth. 19. Oktober 1938 Karl Barth an Franz Hildebrandt. 23. Oktober 1938 Franz Hildebrandt: „Ein Wort von den Juden" Franz Hildebrandt: „Ein Wort vom Frieden"
273 274 275 277 280 282 290
Bibliographie Franz Hildebrandt
297
Q u e l l e n - u n d Literaturverzeichnis
302
Abkürzungen
322
Personenregister/Biographische Angaben
324
VORBEMERKUNG
Wie das Leben und Werk Franz Hildebrandts auf vielfältige Weise mit dem seines Freundes Dietrich Bonhoeffer verwoben war, so ist auch die Idee zu dieser Arbeit im Zusammenhang meiner Beschäftigung mit Dietrich Bonhoeffer entstanden. Als 1984 die Briefe von und an Bonhoeffer aus den Jahren 1928 bis 1931 für die Neuedition innerhalb der Dietrich-BonhoefferWerke (DBW 10) vorbereitet wurden, gehörten dazu auch drei bisher unveröffentlichte Briefe, die Hildebrandt an Bonhoeffer nach N e w York gerichtet hatte 1 . Aus ihnen sprach eine enge Verbundenheit, die neugierig machte auf die weitere Geschichte dieser Freundschaft. Ein Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes ermöglichte mir ein Studienjahr in Oxford 1985/86, und damit schien ein persönlicher Kontakt zu Hildebrandt greifbar nahe. Franz Hildebrandt starb jedoch am 25. November 1985 in Edinburgh an den Folgen eines Schlaganfalls. Im Frühjahr 1986 konnte dann durch die Hilfe von Prof. Eberhard Bethge D D ein erster Kontakt mit der Witwe Nancy Hildebrandt hergestellt werden, der zu einem Besuch bei ihr führte, gemeinsam mit Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhart Staats. Bei diesem Besuch und bei einem anschließenden Forschungsaufenthalt erlebte ich eine große Offenheit und Gastfreundschaft. So konnte Franz Hildebrandts Nachlaß grob gesichtet und geordnet werden, bevor er als Leihgabe an die National Library of Scotland in Edinburgh gegeben wurde. Zunächst war eigentlich nur geplant, den Nachlaß auf Stücke, die noch für die Neuedition innerhalb der DBW von Interesse wären, durchzusehen. Der dadurch gewonnene Einblick ließ jedoch das Interesse an Hildebrandts Lebensgeschichte anwachsen und entwickelte bald eine Eigendynamik. Nach meiner Kieler Examensarbeit, die sich schwerpunktmäßig mit Hildebrandts unpubliziertem Manuskript Das Evangelium und die Humanität als Mitte und Schlüssel seiner ganz eigenen Theologie beschäftigte, verschaffte mir ein Promotionsstipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes die Möglichkeit zu weiteren Recherchen über Leben und Werk Hildebrandts. Das Forschungsprojekt über den Systematischen Theologen Franz Hildebrandt war von Anfang an im Bereich der Kirchengeschichte und nicht der Systematischen Theologie angesiedelt. So will diese Arbeit vor allem das Leben Hildebrandts darstellen, soweit es quellenmäßig erschließbar und von Deutschland aus - mit Forschungsaufenthalten in Großbritannien - recherchierbar war.
1 Vgl. DBW 10, S. 202 (5.11.1930), 217 (18.12.1930) und 229 (23.1.1931).
8
Vorbemerkung
Diese Einschränkung bedeutet vor allem, daß der Lebensabschnitt nach Kriegsende, in Edinburgh und besonders an der Drew University/USA, nur kurz geschildert wird. Dies erscheint auch sinnvoll, weil eine ausführliche Biographie dieses Lebensabschnittes derzeit von Amos Crosswell vorbereitet wird. Vielen ist für manche Hilfestellung zu danken: den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Archive in Berlin, Bielefeld, Koblenz und Darmstadt, der Nordelbischen Kirchenbibliothek und der Staats- und Universitätsbibliothek in Hamburg mit der Arbeitsstelle für deutsche Exilliteratur, sowie allen, die in Großbritannien mir manche Tür geöffnet haben, vor allem Miss Barber, der Archivarin der Lambeth Palace Library, ebenso dem Kirchlichen Außenamt (Hauptabteilung III des Kirchenamtes) der Evangelischen Kirche in Deutschland für die finanzielle Ermöglichung der Verfilmung der Korrespondenz Bell-Hildebrandt. Die Gastfreundschaft und Sachkenntnis von Dr. Colin Podmore machten die Aufenthalte in London nicht nur möglich, sondern ließen sie jedesmal zu einem Erlebnis werden. Ohne die Begleitung und Unterstützung durch Nancy Hildebrandt und ihre Kinder sowie durch Eberhard und Renate Bethge wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Ihr Vertrauen und ihre Hoffnung, daß es gelingen könne, ein angemessenes Bild des Lebens und Wirkens des nonkonformistischen Lutheraners Franz Hildebrandt im Kirchenkampf und im Exil zu zeichnen, haben mich sehr verpflichtet. Die Arbeit wurde 1995 von der Theologischen Fakultät der Kieler Christian-Albrechts-Universität als Dissertation angenommen. Ich danke Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhart Staats für die Anregung, die Begleitung während der Entstehungszeit und für sein Erstgutachten sowie Herrn Prof. Dr. Dr. Johannes Schilling für sein Zweitgutachten. Der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte und ihrem Vorsitzenden, Herrn Prof. Dr. Joachim Mehlhausen, ist für die freundliche Aufnahme der Arbeit in die Reihe der „Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte" zu danken, ebenso Frau Dr. Heidemarie Lauterer und Herrn Dr. Carsten Nicolaisen für ihre befürwortenden Gutachten. Die Vorbereitung der Arbeit für die Publikation, die eine gründliche Überarbeitung erforderte, hat ebenfalls Herr Dr. Nicolaisen mit Freundlichkeit, sanfter Hartnäckigkeit und viel eigener Mühe begleitet, gemeinsam mit Herrn Paul Streidl. Ein ganz besonderer Dank dafür! Schließlich ist allen zu danken, die es mir ermöglicht haben, daß diese Arbeit neben dem pastoralen Dienst in einer Kirchengemeinde zu Ende gebracht werden konnte: meinem Propst, den Kollegen, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern - und vor allem meiner Frau, Alexandra Mattern-Roggelin, die mir durch alle Stadien dieser Arbeit seit den Anfängen vor 14 Jahren mit Verständnis, Nachsicht und Ermunterung geholfen hat. Mölln, im November 1998
Holger Roggelin
1. EINLEITUNG 1.1. „Der Freund" Wer Spuren des Lebens und Wirkens von Franz Hildebrandt sucht, stellt zunächst fest: Als Theologe ist Hildebrandt heute nahezu vergessen. Sein theologisches Werk, soweit es veröffentlicht ist, hat in Deutschland kaum Nachwirkungen gezeigt. So wird beispielsweise die Lutherdeutung seiner Licentiaten-Arbeit ESTvon 19312, wenn sie überhaupt erwähnt wird, als „zu stark vom Idealismus geprägt" beurteilt3. Hildebrandts Anliegen, „Luther mit Hilfe Hegelscher Begriffe und Kategorien zu deuten", führe zu mancher logischen Inkonsequenz4. Auch der Studie Hildebrandts über die Theologie der Bill of Rights5, einem Ausschnitt aus der eingehender vorzustellenden Arbeit Das Evangelium und die Humanität, ist es nicht besser ergangen. Als „methodisch unbefriedigend" und „zu wenig gegen die Vorstellung gesichert, als sei eine solche Aufgabe bereits mit dem Anführen von Bibelzitaten zu erfüllen"6, wird sie beiseitegelegt. In den gängigen Literaturübersichten zur Menschenrechtsproblematik sucht man sie vergeblich? Hildebrandts Bedeutung als einer der Urväter des lutherisch-methodistischen Dialogs - der Pilgerweg seines Lebens führte From Luther to Wesley8 wird ebenso kaum beachtet9. Dazu wird allerdings nicht zuletzt seine konsequent nonkonformistische Haltung in der britischen Debatte um eine Reunion der Methodistischen Konferenz mit der Kirche von England in den sechziger Jahren beigetragen haben, die ihn Anfang 1968 zum Austritt aus der Methodistischen Konferenz bewog. Auch seine aus eigener Anschauung begründete scharfe Kritik am Verhalten der deutschen methodistischen Kirche während des Dritten Reiches wird hier zu nennen sein10.
2 Bibl. Nr. 1. - Hildebrandts Veröffentlichungen werden unten S. 297 ff. chronologisch mit den vollständigen bibliographischen Angaben aufgeführt. In den Fußnoten erhalten sie nur die fortlaufende Nummer der Bibliographie. 3
4
A . PETERS, R e a l p r ä s e n z , S. 28. EBD., S. 27
s Bibl. Nr. 38. 6
7
8
W . SCHWEITZER, Staat, S. 128. Vgl. etwa W . H U B E R / H . E . T Ö D T , M e n s c h e n r e c h t e ; E . LORENZ, M e n s c h e n r e c h t .
Bibl. Nr. 38. In DIALOG Z.B. fehlt sein Name völlig, auch unter den umfangreichen Literaturhinweisen. 10 Als Hildebrandt in einer Rezension den damaligen deutschen Methodisten-Bischof Melle we-
9
10
Einleitung
Lange geisterte er, der Systematiker, Pfarrer und Professor, als „Neutestamentler" durch die Namensregister, - Folge eines Fehlers im Register der ersten Auflagen von Eberhard Bethges Bonhoeffer-Biographie11. Zudem gab und gibt es immer wieder Verwechslungen mit dem ostpreußischen Pfarrer und späteren Präsidenten der Kirchenkanzlei der EKU Franz-Reinhold Hildebrandt, so z.B. in den Registern der „Arbeiten zur Geschichtes des Kirchenkampfes" und selbst noch in einem der neueren Bände der „Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte"12. Ein Epitheton nur ist es, das Franz Hildebrandt fast wie ein Gütezeichen begleitet und so gut wie immer seine Erwähnung einleitet: Er ist der Freund Dietrich Bonhoeffers13. Als Varianten findet man noch: ein enger Freund Bonhoeffers14 sowie manchmal den Hinweis: ... und Mitarbeiter Martin Niemöllers. Unwillkürlich entsteht der Eindruck, daß Hildebrandts eigene Leistungen und Gedanken hinter dem Glanz dieser Namen kaum deutlich werden. Er verschwindet sozusagen im Schlagschatten der großen Namen bzw. erhält nur durch sie ein wenig Licht und Interesse. Nun war die Beziehung zu Dietrich Bonhoeffer in der Tat außerordentlich eng15. So ist es kaum verwunderlich, daß die wichtigste gedruckte Quelle für Hildebrandts Biographie bis zu seiner Emigration bisher Eberhard Bethges große Bonhoeffer-Biographie geblieben ist. Wegen der engen Zusammenarbeit finden sich Schriften und Briefe Hildebrandts aus dieser Zeit in den „Gesammelten Schriften" Bonhoeffers16. In der Edition der „Dietrich Bonhoeffer Werke" ist dieser Anteil geringer geworden, da gemäß deren Konzeption die Stücke, bei denen Hildebrandt allein Verfasser ist (wie beispielsweise sein „Flugblatt zur Kirchenwahl" von 1933), nicht mehr aufgenommen wurden1? gen seiner Äußerungen auf der Life and Work-Konferenz in Oxford 1937 als „hoffnungslos nazifiziert" bezeichnete (Bibl. Nr. 81, S. 569), schrieb ihm der deutsche methodistische Bischof Sommer einen scharfen Protestbrief ( N L H , 9251/24; 1.12.1970). 11 So auch bei A. BOYENS, Kirchenkampf und Ökumene, u.ö. 12
Z.B.: VERANTWORTUNG FÜR DIE KIRCHE, Bd. 1, S. 317 und 348. Hildebrandts Beteili-
gung an den Reichsbruderratssitzungen ist durch seine eigenen Kalender bezeugt (NLH, 9251/1). Auch im ZEKHN DARMSTADT liegen Stücke zu Franz Hildebrandt und Franz-Reinhold Hildebrandt durcheinander. Verwechslungsmöglichkeiten gibt es ferner mit Walther Hildebrand (1895-1972), 1924-1948 Pfarrer in Berlin-Lichterfelde. 13 In einem Brief von E. Roth an C.H. Ratschow vom 6.6.1951 wird Hildebrandt als „alter Dahlemer" eingeführt (NLH, 9251/24; vgl. auch die Rezension von E. Roth, ThLZ 76, 1951, S. 557), dann jedoch, spätestens nach Bethges Bonhoeffer-Biographie, setzt sich die genannte Kennzeichnung in einem solchen Maße durch, daß hier auf Belege verzichtet werden kann. 14 Das geht bis „Bonhoeffers dosest ally" (A. HASTINGS, History, S. 341). 15 „Dietrich Bonhoeffer was the nearest to a brother I could ever have had", so Hildebrandt 1983 im Interview mit Mary Glazener (NLH, 9251/23). Am 18.3.1967 schrieb Hildebrandt an Bethge: „Ich habe nie wieder einen solchen Freund oder auch nur Gesprächspartner gehabt" (NLH, 9251/24). " Vgl. GS II, S. 59-61, 149-152; III, S. 248-257; VI, S. 291-293. 17 GS II, S. 59-61. Zu diesen Stücken gehören auch der Brief an M. Niemöller vom 24.10.1933 (GS VI, S. 277f.) und die 10 Thesen für die Freikirche (GS II, S. 167f.).
,Der Freund"
11
„Bonhoeffers erste wirklich enge Freundschaft", so Bethge18, wurde nach außen sichtbar und erlebbar vor allem in „theologischen Florettkämpfen" 19 , in gemeinsam verfaßten Schriften20 und gemeinsam geplanten und durchgeführten Aktionen, - bis die Emigration Hildebrandts 1937 und dann der Kriegsausbruch 1939 dem ein Ende setzten. Die Freundschaft und ihre Intensität waren auch der Hauptgrund, der Hildebrandt daran hinderte, in die nach 1945 mit Macht einsetzende Debatte um die Bonhoeffer-Interpretation einzugreifen, abgesehen davon, daß ihm deren Entwicklung in eine bestimmte Richtung überhaupt nicht behagte21. Es blieb bei biographischen Reminiszenzen: zurückhaltenden Erinnerungen an die Begegnungen im Bonhoefferschen Haus in der Wangenheimstraße22 und einer eindrücklichen Schilderung der gemeinsamen Zeit im Winter 1933 im Pfarrhaus von Forest Hill in London 23 . Vielleicht auch deshalb verschwand die Person Hildebrandt aus dem Blickwinkel des Interesses, und noch 1991 konstatierte Hans-Jürgen Abromeit: „In der Zeit bis zur Emigration Hildebrandts 1937 hat ein durchgehender gegenseitiger theologischer Austausch zwischen beiden stattgefunden, so daß der Einfluß Hildebrandts auf Bonhoeffers Denken kaum überschätzt werden kann. U m s o merkwürdiger ist es, daß bis heute - außer Bethge - niemand die Beeinflussung Bonhoeffers durch Hildebrandt namhaft gemacht hat." 2 4
Nur in einem Punkt wird Hildebrandt ausgiebig gewürdigt: Er gilt wegen der Herkunft seiner Mutter aus einer jüdischen Familie neben Bonhoeffers Schwager, dem Juristen Gerhard Leibholz, als Auslöser für eine frühe Sensibilisierung Bonhoeffers in der „Judenfrage". In dieser Stilisierung erscheint er nahezu durchgängig in den Arbeiten des Heidelberger Bonhoeffer-Dohnanyi-Projektes, wo die Freundschaft Bonhoeffers mit Hildebrandt als „zweifellos wirksame persönliche Konstellation" charakterisiert wird25. Im Zuge eines neuen Interesses an der Frage nach der Haltung der Bekennenden Kirche zur „Judenfrage" ist Hildebrandt als „Betroffener" in den Blick gekommen, so schon in der Pionierarbeit von Wolfgang Gerlach 26 , zu deren damals Aufsehen erregenden Thesen Hildebrandt selbst sich schon •S D B , S . 175. · ' J . RIEGER, Bonhoeffer, S. 23.
Vor allem: „Glaubst du, so hast du". Versuch eines Lutherischen Katechismus (Bibl. Nr. 19). Vgl. unten S. 262ff. 22 Vgl. Bibl. Nr. 52; eine frühere englische Fassung dieses Textes für eine BBC-Radiosendung vom 13.3.1960 findet sich im N L H , 9251/56. Bibl. Nr. 59. 20 21
24
H . - J . ABROMEIT, G e h e i m n i s , S. 206.
M . SMID, Protestantismus, S. 421; vgl. C . - R . MÜLLER, Kampf, S. 34 u.ö., auch schon DB, S. 325. 25
26
W . GERLACH, Z e u g e n , S. 54 u.ö.
12
Einleitung
1973 zustimmend äußerte2? Auch in Hartmut Ludwigs Studie zum „Büro Grüber" wird Hildebrandts Betroffenheit und Engagement, beispielsweise im Umfeld der Synode von Steglitz und dann in London bei der Fluchthilfe 1938/39 gewürdigt. Dabei kommt auch seine Rolle im Theologischen Ausschuß und sein „Wort von den Juden" zur Sprache28, ebenso in der Darstellung und Dokumentation von Eberhard Röhm und Jörg Thierfelder, die erstmals das Schicksal der „nichtarischen" Christen in größerem Umfang dokumentieren29. Dieses neue Interesse birgt zugleich eine große Gefahr, die dann erkennbar wird, wenn Hildebrandts Person (wieder) nur aus „rassischen" Gesichtspunkten betrachtet wird. Schon in der Zeit des Kirchenkampfes war dies wie zu zeigen sein wird - etwas, was Hildebrandt zutiefst verletzen konnte. Er wollte nicht nur als „Jugendlicher' und sonst Belasteter" 30 gelten, sondern als Theologe eigenen Rechts ernstgenommen werden. Vielleicht ist er so, unabhängig von Weggemeinschaft und Zeitzeugenschaft, besser in der angelsächsischen Welt wahrgenommen worden, wo es den britischen Neutestamentier Charles Kingsley Barrett bewog, in seinem Nachruf zu schreiben: Hildebrandt „was one of the great theologians and churchmen of this century, and more deserving of a place in a calendar of saints than most" 31 . Es war sein Charakter, sein, wie Zeitgenossen berichten, theologisch wie menschlich völlig unkorrumpierbares Wesen32, das ihn durch alle Höhen und Tiefen seines Lebens begleitete und zusammen mit seinem immensen Gedächtnis und Verständnis theologischer Klassiker - zunächst Luther und Paul Gerhardt, dann John und Charles Wesley - zu einem ebenso integren wie unbequemen Vordenker und Mahner werden ließ. Was dies für die Zeit und den Kontext nach 1945 bedeutete, kann in dieser Arbeit nur angedeutet werden. Der Schwerpunkt ihrer Darstellung liegt in den Jahren vor 1945 und Franz Hildebrandts starkem Engagement im Kirchenkampf.
27
A n H . L u d w i g , 3 0 . 1 . 1 9 7 3 ( K o p i e in S A M M L U N G B E T H G E ,
WACHTBERG).
28 H . LUDWIG, Opfer, S. 56ff., 120f. 29
E . R Ö H M / J . THIERFELDER, J u d e n - C h r i s t e n - D e u t s c h e , vor allem B d . 2/1, S. 294ff. Selbst
hier wird Hildebrandt als „Bonhoefferfreund" eingeführt! so A n M . Niemöller, 24.10.1933 (GS VI, S. 278), vgl. auch unten S. 58. 31 In: Methodist Recorder, N o . 6679, 19.12.1985, S. 8; Auszug: IBK-Rundbrief Nr. 21, M ä r z 1986, S. 8. Vgl. auch O . BECKERLEGGE, Franz Hildebrandt. 32 E . BETHGE, In memoriam Franz Hildebrandt, S. 4.
H u m a n i t ä t u n d Ethik in der Kirchenkampfdiskussion
13
1.2. Humanität und Ethik in der Kirchenkampfdiskussion das Bekenntnis „pro hominibus " Im Kirchenkampf engagierte Franz Hildebrandt sich besonders im Neubedenken des Locus, den er selbst als besonders vernachlässigt empfand, dem Verhältnis von Evangelium und Humanität. Das Ergebnis dieser Neubesinnung fand seinen Niederschlag in einem Manuskript, an dem Hildebrandt drei Jahre lang, von 1937 bis 1940, und in zwei völlig unterschiedlichen Milieus, in Deutschland und England, arbeitete. Es blieb bisher - bis auf zwei kleine Abschnitte33 - unveröffentlicht. Das Nachlaß-Exemplar dieses Manuskriptes soll daher die Grundlage einer ausführlicheren Darstellung im Kapitel 7 sein. Doch zunächst erscheint es sinnvoll, die Relevanz gerade dieses Themas in die gegenwärtige Kirchenkampf-Diskussion einzuordnen und dann Hildebrandts Biographie mit Schwerpunkt bis 1945 erstmals ausführlicher darzustellen. Die Frage nach der Humanität, genauer: „die Erkenntnis, daß es im Kirchenkampf um Gott und den Menschen ging, um das Bekenntnis zu Christus und das Bekenntnis zur Humanität"34, ist in der Kirchlichen Zeitgeschichtsforschung in letzter Zeit zu einem beherrschenden Thema geworden35. Methodisch gesehen ist nach den zeugnishaften Arbeiten der Frühphase „mit ihrem Pendelschlag zwischen Polemik und Apologetik"36, geprägt von dem hermeneutischen Schlüssel der Bekenntnistheologie und des „Mythos von Dahlem"37, heute ein „Methodenplateau" erreicht, das von „realhistorischen" Kriterien und Fragestellungen ausgeht. Von hier aus kommt es auch zu einer neuen Hochschätzung volkskirchlicher Institutionen und Traditionen als eines „objektiven Störfaktors"38. Begleitet wird dies durch Studien über Verbände sowie durch Untersuchungen auf der lokalen wie der interkonfessionellen Ebene39. Dabei besteht allerdings die Gefahr, den Kirchenkampf nur noch nach seiner objektiven „Effizienz" als Widerstand zu beurteilen (so auch die Kritik von Leonore Siegele-Wenschkewitz40) und ein „Ethos der Diesseitigkeit"41
33
Vgl. oben Anm. 5 sowie Kirche und Recht (Bibl. Nr. 54). K. NOWAK, Kirchenkampf, hier S. 595f. 35 Neben der Darstellung von K. NOWAK vgl. die Überblicke bei G. VAN NORDEN, Kooperation und Teilwiderstand; K. MEIER, Konzeptionen. 34
36
K . MEIER, K o n z e p t i o n e n , S. 65.
37
Der Begriff hier nach K. SCHOLDER, Kirchen, Bd. II, S. 345. Dies wird besonders bei K. MEIER, Kirchenkampf, deutlich; vgl. auch K. NOWAK, Protestantischer Widerstand. 39 Hier ist K. SCHOLDER, Kirchen, wegweisend. 40 L. SIEGELE-WENSCHKEWITZ, Ethik, hier S. 164. 38
41
Vgl. K . NOWAK, K i r c h e n k a m p f , S. 596.
14
Einleitung
zum Leitmotiv zu machen, was dann doch wieder dazu führt, Kirchenkampfgeschichtsschreibung unter legitimatorischen Vorzeichen zu betreiben, wobei nicht selten „Antilegenden" die Folge sind42. Besonders Eberhard Bethge hat deshalb seit einiger Zeit dafür plädiert, Bekenntnis und Widerstand als zwei klar unterschiedene und zu unterscheidende Sachverhalte anzusehen 43 , und damit sein Stufenmodell44 modifiziert. Das Entscheidende bleibt jedoch auch beim Bekenntnis, dem eigentlichen Proprium der Kirche, daß es sich nicht nur gegen die falschen Götter wendet, sondern auch die Herzen zu ihren Opfern ausrichtet45, wenn es denn nicht nur Alibi und letztendlich Duldung des Verbrechens sein will. Hier ist, so der einhellige Konsens, eindeutig ein „Zuwenig", auch bei der Bekennenden Kirche, zu konstatieren46. Die Kirche habe nicht nur gegen Eingriffe des Staates in ihre eigene Struktur protestieren, sondern auch da ihre Stimme erheben müssen, wo Rechtlosigkeit herrschte und Menschenrechte mißachtet wurden4? Dabei wird die „Judenfrage" mit „holocaustgeschärftem Verantwortungsgefühl" 48 als Prüfstein angesehen. Von daher wird auch und gerade in der Barmer Theologischen Erklärung ein „schuldhaftes Verweigerungsverhalten"49 wahrgenommen. Die Bandbreite der Deutung und Beurteilung reicht dabei von der einfachen Konstatierung des Defizits über die Forderungen nach einem fundamentalen theologischen Umdenken 50 bis hin zur These, die maßgebenden Leute der Bekennenden Kirche seien Rassisten gewesen51. Auf der Suche nach den Ursachen und möglichen Alternativen dieses Versagens hat Trutz Rendtorff konstatiert: „In der Suche nach dogmatischen Scheidungen und in der Wende gegen den neuzeitlichen Protestantismus fand die politisch-ethische Herausforderung keinen Platz; sie war nicht das Thema des herrschenden theologischen Zeitgeistes und erschien um anderer Ziele willen theologisch als unzeitgemäß." 52 In der Frontstellung gegen die Ideale von 1789, gegen die Aufklärung und Neuzeit, traf sich ein Großteil der Bekennenden Kirche fatalerweise mit dem Anspruch des Nationalsozialismus, daß „mit dem Jahr 1933 das Jahr 1789
42
Vgl. K . M E I E R , Konzeptionen; vgl. auch W . SCHWEITZER, Legenden (gegen H . Proling-
heuer). 43
E . BETHGE, Zwischen Bekenntnis, bes. S. 157
44
Vgl. etwa DB, S. 8 9 0 .
45
E . BETHGE, Zwischen Bekenntnis, S. 155.
46
Vgl. vor allem D E R S . , Status confessionis.
47
E B D . , S. 5 5 , in Aufnahme einer Unterscheidung in D . BONHOEFFERS Aufsatz: Die Kirche
v o r der Judenfrage ( D B W 12, S. 3 4 9 - 3 5 8 , hier S. 3 5 4 ) . 48
K . M E I E R , Konzeptionen, S. 6 9 .
49
EBD.
50
So vor allem E . Bethge; vgl. D E R S . , Christologisches Bekenntnis und Antijudaismus.
51
So pointiert W. SCHWEITZER (Legenden, S. 2 5 7 f . ) die Ansicht von H a n s Prolingheuer.
52
T . RENDTORFF, Christen im Widerstand, hier S. 4 8 2 .
Humanität und Ethik in der Kirchenkampfdiskussion
15
aus der Geschichte gestrichen" worden sei53. Die Theologische Erklärung von Barmen war auch „ein mehrfaches Anathema über den Liberalismus" 54 , und mit ihm verschwanden Begriffe und Themen wie Sittlichkeit und Humanität aus der theologischen Diskussion. Die Frage, inwieweit Barthsche Worttheologie und Liberalismuskritik hier eine wegweisende Rolle gespielt haben, wieweit also Barths Gegnerschaft zum theologischen Liberalismus möglicherweise indirekt politische Wirkungen hatte55, hat Friedrich Wilhelm Graf zu der These geführt, Barths Theologie habe „faktisch demokratierelativierend gewirkt" 56 . Ihm ist von Heinz Eduard Tödt leidenschaftlich widersprochen worden57, der für Barth (etwa in der Ethikvorlesung 1928/29 und 1930/31) nicht nur eine Offenheit für das „liberale neuzeitliche Freiheitserbe" festhielt, sondern auch eine „erstaunliche Konvergenz mit liberalen und sozialdemokratischen Traditionen" 58 . Die Debatte, ob Barth denn nun wirklich, um mit einem Zeitgenossen zu sprechen, „ausgesprochen jenen westlerischen Geist [vertritt], den zu bekämpfen der Hitlerstaat da ist" 59 , ging weiter60; sie wird in ganz ähnlicher Form auch um Bonhoeffers theologisch-ethischen Ansatz in seinem Vortrag „Die Kirche vor der Judenfrage" geführt61. Neuerdings hat auch Thies Gundlach in einer Untersuchung der Ethik Barths von 1928/29 betont, daß „diese Ethik selbst - und nicht nur die im Grunde nicht strittige Haltung des Schweizer Sozialdemokraten Barth - in einem bestimmten Sinne als demokratieverstärkend verstanden werden konnte" 62 . Gundlach zeigt aber auch, daß Barth von seinem Grundansatz her jeden „positiven Ethikentwurf" ver-
53 Nach einem Ausspruch von J. Goebbels (vgl. EBD., S. 478); vgl. auch K. BARTHS Diktum: „Weil die Lehre und Haltung der Deutschen Christen nichts anderes ist als ein besonders kräftiges Ergebnis der ganzen neuprotestantischen Entwicklung seit 1700, richtet sich der Protest gegen eine eingerissene und vorhandene Verderbnis der ganzen evangelischen Kirche" (Lutherfeier 1933, S. 20). 54 R. STAATS, Schleiermacher, hier S. 534. 55 Vgl. Wolfang Trillhaas: „Ich habe oft darüber nachgedacht, wie sich diese ,Verpönung' des Liberalen schicksalsvoll mit der alsbald folgenden Verfolgung des Liberalismus in der Politik zusammenfügte" (zit. bei F.W. GRAF, Götze, S. 433). 56 EBD., S. 440. 57
H . E . T Ö D T , Barth.
EBD., S. 548. 59 Knak an M. Niemöller undjacobi, 6.11.1933 (zit. nach H . LUDWIG, Entstehung, S. 295 Anm. 33). Es sollte nicht vergessen werden, daß Knak mit seiner Abneigung gegen den „westlerischen Geist" durchaus kein Außenseiter in der Bekennenden Kirche war. 60 Vgl. F.W. GRAF, Weimarer Barth; T. RENDTORFF, Krise und Kritik. H . ANZINGER betont, daß „Barths Liberalismuskritik gerade darauf zielte, mehr Demokratie zu fordern" (Soziale Demokratie, S. 99). 61 Vgl. G . RINGSHAUSEN, Zweireichelehre, und die Antwort von C . STROHM, Zweireichelehre; dazu auch M. SMID, Protestantismus, S. 417 437f. 62 T. GUNDLACH, Theologische Ethik, S. 211. 58
16
Einleitung
weigert63. Durch die „prinzipielle Relativierung allen menschlichen Ethos" 6 4 bewirke Barth gerade eine „Stärkung des religiösen Individuums" 65 . Zusammenfassend lasse sich sagen: „Verzicht auf eine theologische Legitimierung positiver politischer Optionen ist die unhintergehbare Einsicht der zuständigkeitsbegrenzten Ethik Karl Barths." 66 Damit sind freilich nicht alle Probleme gelöst, denn es ist doch nach wie vor die Frage, was für Konsequenzen aus dieser Zuständigkeitsbegrenzung erwuchsen und ob diese Ethik denn nicht auch anders als „demokratiestärkend" verstanden werden konnte. Was bedeutet es für eine christliche Ethik, wenn ihr mit apodiktischen Aussagen über den „Humanitätsgedanken" (noch 1938 in KD 1/2) jede Vermittelbarkeit mit dem neuzeitlichen Verständnis von Menschenrecht und Menschenwürde abgesprochen wird? 67 Es scheint, daß das Beziehungsgeflecht zwischen theologischen Grundhaltungen und ethisch-politischen Optionen am Anfang der dreißiger Jahre ein spannungsreicher Schwerpunkt der Kirchenkampfforschung bleiben wird 68 . Einen wichtigen Schritt voran in der Methodendiskussion führt dabei der Ansatz von Leonore Siegele-Wenschkewitz. Nach einer Ubersicht über die bisher vorgetragenen Deutungsmuster wendet sie sich gegen eine Haltung, „den Widerstand weniger von seiner gewissensmäßigen und theologischen Begründung her zu beurteilen, sondern nach den realen Widerstandschancen, nach dem Erfolg des Widerstandes zu fragen" 69 . Dagegen hält sie fest, „daß es erst der moralisch-ethische Impetus ist, der die volle historische Realität uns aufschließt und zugleich eine angemessene Rezeption des theologischen wie spirituellen Erbes derer eröffnet, für die ihr Glaube zur Widerstandskraft geworden ist" 70 . Siegele-Wenschkewitz weist darauf hin, daß Stufenmodelle sich nur schwer zeitlich genau abgrenzbaren Abschnitten, ja der historischen Wirklichkeit überhaupt zuordnen lassen. Haltung und Verhalten lägen nicht immer zusammen, „sondern für jede Person ist in der jeweiligen historischen Situation zu untersuchen, wie Auffassungen und Begründungen verbunden sind mit dem politischen und kirchenpolitischen Handeln" 71 . Als Kategorie der Deutung schlägt sie „Kompatibilität bzw. Inkompatibilität", Verträglichkeit bzw.
« E B D . , S. 215. M E B D . , S. 218. 65
E B D . , S. 219 (nach einer Aussage Martin Rades v o n 1927).
66
EBD., S. 2 2 5 . 1 9 3 8 hat das Barth aber nicht gehindert, in seinem Brief an H r o m a d k a gerade eine
„positive politische O p t i o n " , nämlich den bewaffneten Widerstand gegen das nationalsozialistische Deutschland, sehr wohl theologisch zu legitimieren (vgl. K . BARTH, Schweizer Stimme, S. 58f.). 67
Vgl. dazu die eindringlichen Anfragen von T . K O C H , Menschenwürde, S . 9 7
68
Vgl. hierzu e t w a K . TANNER, Verstaatlichung, sowie C . STROHM, Ethik.
69
L . SIEGELE-WENSCHKEWITZ, Ethik, S. 164.
7
° E B D . , S. 165F.
71
E B D . , S. 167
Die Erfahrung des Exils
17
Unverträglichkeit vor. Dies ermögliche, die Identitätssuche und Identitätsfindung von Christen und Kirchen in Bezug auf den Nationalsozialismus zu beschreiben. Selbsteinschätzung und Fremdeinschätzung ließen sich so neu und dynamisch aufeinander beziehen: „Die Kategorie der Vereinbarkeit bzw. Unvereinbarkeit des eigenen jeweiligen Standpunktes mit dem Nationalsozialismus hilft die komplexe historische Situation ohne das Auseinanderdividieren von Kirche und Politik, und das meint: Kirchliches Handeln im Kontext einer gesellschaftlichen Wirkungsgeschichte, zu erfassen."72 Dieser Ansatz erscheint plausibel. Er bewahrt davor, Menschen und Institutionen in ein starres Schema pressen zu wollen, und macht eine differenziertere Sicht möglich, auch wenn er m.E. eher auf Personen als auf Institutionen anwendbar ist. Für unser Thema, das Leben und Werk Franz Hildebrandts, bietet er in der Tat einen guten Zugang; denn „Effizienz" konnte Hildebrandt kaum beschieden sein73, da er seit 1937 der deutschen theologischen Diskussion zwangsweise entzogen war und das Exil einer der bestimmenden Faktoren für sein weitgehendes Verschwinden aus der deutschen Theologiegeschichte wurde. Außerdem hilft dieses Deutungsmuster, Hildebrandts Polemik gegen Teile der lutherischen wie der dialektischen Theologie zu verstehen, denen er gerade die Offenheit für nationalsozialistische Vorstellungen oder, anders gesagt, ihre „Kompatibilität", besonders im Bereich von Ethik und Menschenrechten, vorwirft. Es wird zu zeigen sein, daß Hildebrandts Leben und Werk, in dem schon 1931 massive Kritik an Barth zu finden ist74, und zumal seine Schrift mit dem programmatischen Titel Das Evangelium und die Humanität, hierzu Hinweise und Klärungen enthalten, denen es sich lohnt nachzugehen.
1.3. Die Erfahrung des Exils Franz Hildebrandt war 28 Jahre alt, als er im Sommer 1937 Deutschland verließ und in Großbritannien in ein ganz anderes soziales und theologisches Milieu hineinkam. In seiner Person verbinden sich also ganz existentiell Erfahrungen des Kirchenkampfes „von innen" mit Erfahrungen „von außen". Das Thema „Exil" hat in den letzten Jahren eingehende Untersuchungen erfahren75. Eine Untersuchung der Integration emigrierter Geisteswissenschaftler steht jedoch immer noch aus, und auch der Fragenkreis Theologie
72
E B D . , S. 168.
73
Vgl. auch G . BESIERS Kritik a m rein wirkungsgeschichtlich orientierten Ansatz und sein
Plädoyer für eine theologiegeschichtliche Fragestellung (Widerstand, bes. S. 2 6 0 f . ) . 74
Vgl. unten S. 3 4 .
75
Vgl. etwa für Großbritannien: G . HIRSCHFELD, Exil in Großbritannien, sowie N E U E G E -
SELLSCHAFT FÜR BILDENDE KUNST, Kunst im Exil.
18
Einleitung
bzw. Theologen und Exil ist bisher weitgehend ausgespart geblieben. Bethges Defizitanzeige76 ist nach wie vor aktuell. Im Berichtsband des Eichstätter Symposions von 1985 über „Christliches Exil und christlicher Widerstand" ist der einzig einschlägige Artikel aus dem evangelischen Bereich ausgerechnet „Dietrich Bonhoeffers Entscheidung gegen das Exil" gewidmet77 und auch in der Osnabrücker Ringvorlesung von 1983 über „Die Künste und die Wissenschaften im Exil 1933-1945" stellt Wolf-Dieter Hauschild lediglich Paul Tillich und Karl Barth vor, beim letzteren dessen besondere „Verbindung von Exil und Heimat" hervorhebend. Er erwähnt noch Karl Ludwig Schmidt, der in Basel Zuflucht fand, während Hans Ehrenberg, der literarisch produktivste unter den Refugee-Pastoren in Großbritannien, nur im Artikel über „Nicht-marxistische Philosophen im Exil" vorkommt 78 . Sicher, im Vergleich zu anderen Wisssenschaften war die Theologie sehr viel weniger von Flucht und Vertreibung betroffen 79 . Doch auch wenn es nur eine relativ kleine Zahl deutscher evangelischer Theologen war, die ins Exil getrieben wurden 80 , so hat doch gerade diese kleine Gruppe z.B. in Großbritannien Beachtliches für die Vermittlung etwa zwischen „kontinentaler" und britischer Sicht des Kirchenkampfes geleistet. Zu dieser Gruppe sind nicht nur die akademischen Lehrer der Theologie zu zählen, sondern auch die rassisch verfolgten Pastoren oder diejenigen, die z.B. als Juristen erst im Exil oder kurz zuvor Theologen geworden waren wie etwa Adolf Freudenberg, Ulrich Simon, Werner Simonson 81 . Ohne sie alle ist das Thema „Kirchenkampf und Ökumene" nicht zu denken 82 . Dessen Geschichte ist durch manche Höhen und Tiefen - und vor allem durch schwer zu vereinende Grundkonzeptionen - gekennzeichnet83. In 76
E . BETHGE, Wahl zwischen Gehen und Bleiben, bes. S. 93ff.
77
F . SCHLINGENSIEPEN, Bonhoeffers Entscheidung.
78
W.-D.
HAUSCHILD, Evangelische Theologen, bes. S. 2 6 3 F . ; A . KAMLAH, Bedeutung,
S. 3 0 3 . 79
Z u r Diskussion der Gründe dafür vgl. EBD. und W . - D . HAUSCHILD, Evangelische T h e o -
logen, S. 2 6 2 über die kirchlichen „Auffangstellungen" für gefährdete Wissenschaftler. 80
T. RENDTORFF, Wissenschaftsverständnis, S. 2 8 nennt die akademischen Theologen P. Til-
lich, O . Piper, A . de Quervain, K . L . Schmidt, F. Lieb. N a c h Informationen der Hilfsstelle für ehemalige Rasseverfolgte (Pfr. F. Majer-Leonhardt, Stuttgart) gelten als gesichert insgesamt 5 5 Fälle aus rassischen Gründen, dazu einige wenige aus politischen Gründen ( K . L . Schmidt, F. Siegmund-Schultze, P. Tillich u . a . ) . 81
Vgl. die (unvollständige) Liste bei W . GERLACH, Zeugen, S. 2 5 4 f .
82
Vgl. schon G . NIEMÖLLER, G e m e i n d e n ; A . BOYENS, Kirchenkampf und Ö k u m e n e ; von
englischer Seite etwa G . RUPP, Bishop George Bell, bes. S. 9 , 1 6 . Vgl. jetzt auch R . W E B S T E R , German „ N o n - A r y a n " Clergymen. 83
Besonders englische Autoren wenden sich gegen eine allzu von „Barmen" und Barth her ge-
prägte Darstellungsweise, wie sie sie z . B . auch in A . BOYENS, Kirchenkampf und Ö k u m e n e , vertreten sehen; vgl. etwa die Kritik bei M . D . HAMPSON, British Response, bes. S. 7 3 , 147, 166; ähnlich auch P . W . LUDLOW, International Protestant C o m m u n i t y , S. 315 f. (mit der allerdings etwas unglücklichen und obskuren Verallgemeinerung „a neo-Calvinist interpretation of history").
D i e Erfahrung des Exils
19
Großbritannien hatte stets die Anschauung geherrscht, der Kirchenkampf sei hauptsächlich ein Kampf „pro hominibus", sei „The struggle for religious freedom in Germany" 84 . Auch wenn etwa Hans Ehrenberg dagegen hielt: „Our struggle is not for religious freedom, but for the Truth" 85 , stießen die theologischen Implikationen doch weitgehend auf Unverständnis 86 . Für Trutz Rendtorff ist die theologische Emigrationsforschung ein „noch kaum behandeltes Aufgabenfeld". Als Grund vermutet er, „daß eine entsprechende Forschungsintention bisher noch keine nennenswerte Berücksichtigung gefunden hat, weil sie nicht mit der zunächst vorherrschenden Perspektive des Kirchenkampfes bzw. mit innertheologischen Frontstellungen in eins fällt"8-! Das ist eine provozierende These, die jedoch, was Franz Hildebrandts Leben und (Nicht-)Rezeption angeht, nicht unberechtigt zu sein scheint. Er, und mit ihm viele der theologischen Refugees, saßen in der Tat zwischen allen Stühlen. Viele versuchten sich als Brückenbauer - mit unterschiedlichem Erfolg. Hildebrandt selbst beurteilte seine Position zwischen allen Stühlen und quer zu allen Schulen und Fronten durchaus positiv. Er verstand sich - je länger je mehr - als lutherischer „Dissenter". In den nonkonformistischen Gegnern der britischen Staatskirche88 fand er seine Vorbilder und die beste Verwirklichung urchristlichen Kirchenverständnisses. Er sah sich in einer besonderen „apostolic succession" stehen: „Like my colleague, the Apostle Paul, I am free from all denominational ties and subject to no canonical authority." 89 Die Wurzeln dieser Identifikation reichten dabei schon weit hinter die Erfahrung des Exils zurück 90 . Wir werden sehen, ob und wie die Begegnung und Auseinandersetzung mit angelsächsischen Anschauungen diese Prägung eventuell verstärkt und ob und wie sie einen Niederschlag in Hildebrandts Denken gefunden haben. 84 S o bezeichnenderweise der Titel der besten zeitgenössischen englischen Darstellung (1938) des Deans von Chichester, A . S . DUNCAN-JONES. Hierhin gehört auch das Bild Niemöllers in der englischen Öffentlichkeit; vgl. K . ROBBINS, Niemöller. Z u m ganzen J . S . CONWAY, Attitudes, S. 150: „Indeed, the English-speaking observers wholeheartedly, if one-sidedly, saw the G e r m a n C h u r c h Straggle as one of church versus State, g o o d versus evil, ,Bekennende Kirche' versus N a z i stormtroopers and racists."
H . EHRENBERG, Autobiography, S. 138. Ehrenbergs Hinweis auf einen „Bekenntnisaufbruch im britischen Christentum selber" (zit. nach G . NIEMÖLLER, Gemeinden, S. 146) ist angesichts der Erfahrungen Ehrenbergs und der anderen Pastoren (dazu unten S. 209) erstaunlich und nur als „wishful thinking" zu verstehen. 85 86
T. RENDTORFF, Wissenschaftsverständnis, S. 28. Vgl. R . WARD, Dissenters, Sp. 883f. 8 9 S o seine Selbst-Charakterisierung im Circular Letter vom Juni 1974 (Kopie bei N . BRANDT, N o winter, Anhang). 87 88
HILDE-
9 0 Von den „10 Thesen für die Freikirche" von 1934 (Bibl. Nr. 21) bis z u m Barmen-Vortrag 1984 in Seattle ist das der (allerdings lutherisch eingefärbte) rote Faden in seinem Leben: „We looked in vain for a T h o m a s Chalmers in our country w h o would lead the Dissenters into a separate Free Church" (Bibl. Nr. 63, S. 290).
20
Einleitung
Dazu ist es jedoch notwendig, zunächst seinen Lebensweg - vor allem in den Jahren 1933-1945 - nachzuzeichnen und damit das Umfeld seiner theologischen Entscheidungen deutlich zu machen. Wie bei allen Biographien aus dem Bereich der Kirchlichen Zeitgeschichte stand dafür eine Vielzahl höchst unterschiedlicher Quellen zur Verfügung, von kirchenbehördlichen Akten im Evangelischen Zentralarchiv in Berlin über eine verrottete Kiste völlig ungeordneter Unterlagen auf der Empore einer deutschen Kirche in London bis hin zu privater Korrespondenz und zum privaten Tonbandinterview. Natürlich stellte sich dabei das Problem der „Akkuratesse von Erinnerungen"91. Hildebrandt selbst war sich dessen sehr bewußt und hat äußerst selten etwas Biographisches preisgegeben. Er lebte, besonders was die Freundschaft zu Dietrich Bonhoeffer anging, das biblische Wort aus Hiob 13,5: „Wollte Gott, ihr schwieget, so wäret ihr weise." Darauf berief er sich, als Marianne Leibholz ihn um Erinnerungen an ihren Onkel Dietrich Bonhoeffer bat, - und war dann doch bereit, wenn auch „mit tausend Bedenken", in einer Reihe von Briefen einiges aus seiner Erinnerung, aus Amtskalendern und Briefen mitzuteilen92. Vieles mußte, manchmal aus solcher „Zweitüberlieferung" heraus, rekonstruiert werden. Dabei ist Zurückhaltung geübt worden, wo schriftliche, zeitgenössische Quellen fehlen. Das hat zur Folge, daß der weniger gut dokumentierte Teil des Lebenslaufes, die Jahre vor der Emigration (in dieser Arbeit die Kapitel 1-5), nicht so umfangreich dargestellt werden konnte, wie noch zu Beginn der Recherchen erhofft. Für die britischen Jahre hingegen gab es eine gute Quellenbasis, zum einen in Hildebrandts Nachlaß selbst, zum anderen und vor allem aber durch den umfangreichen Nachlaß Bischof Beils von Chichester, der in der Lambeth Palace Library, London verwahrt wird. So werden die Jahre des Exils auch aus diesem Grund zu einem Schwerpunkt in dieser Darstellung. In diesen Jahren wird sichtbar, wie Hildebrandt Theologie für Refugees betrieb und wie er sein Leben verstand, nämlich „daß unser ganzes Leben auf dieser Welt nichts anderes als der Weg des Refugees zu seinem Refugium ist" 93 .
91
G . BESIER, Psychophysiologic, S. 102; vgl. auch K. NOWAK, Biographie und Lebenslauf;
R . STAATS, Theologenautobiographie, bes. S. 65f. 92
An
M.
Leibholz, 17.5.1978 ( N L H ,
LUNG B E T H G E , 93
9251/22;
dort auch die weiteren Briefe. Kopien in
WACHTBERG).
Bibl. Nr. 5, S. 2; zum Gebrauch des Wortes „Refugee" vgl. auch unten S. 129.
SAMM-
2. D I E F R Ü H E N J A H R E
2.1. Kindheit in Berlin Am 20. Februar 1909 wurde dem seit 1907 verheirateten Paar Edmund und Ottilie Hildebrandt in Berlin ein Sohn geboren, - es sollte ihr einziges Kind bleiben. Dieser Sohn wurde am 30. Dezember 1909 in der Auenkirche von Deutsch-Wilmersdorf, das damals noch nicht zu Berlin gehörte, vom Pfarrer und Geheimen Konsistorialrat Friedrich Kriebitz auf den Namen Wolfgang Ernst Erich Heinrich Franz getauft1. Die Paten waren der Großvater Georg Franz Hildebrandt und Emma und Maria Becker, zwei ältere unverheiratete Damen aus Naumburg, über deren Verwandtschaft oder Bekanntschaft mit der Familie sich nichts Näheres finden ließ. Der Vater, Wilhelm Edmund Hildebrandt 2 , hatte sich nach einer noch heute als grundlegend geltenden Dissertation über Friedrich Tieck, mit der er 1898 zum Dr. phil. promoviert worden war, 1905 in Berlin für Kunstgeschichte habilitiert. An der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin war er zunächst bis 1917 Privatdozent und ab 1921 „nicht beamteter außerordentlicher Professor" für Kunstgeschichte. Neben seinen Vorlesungen, vor allem zur Kunstgeschichte der Renaissance und des 18. Jahrhunderts, schrieb er mehrere Kunstbücher. Seine Militärzeit als „nichtgedienter Landsturmmann" im Ersten Weltkrieg, wo er in Süddeutschland beim Train eingesetzt war, bis man ihn glücklicherweise ins Pressearchiv des Auswärtigen Amtes versetzte, hatte fatale Folgen: Er war gesundheitlich schwer angeschlagen und konnte seine Stelle als planmäßiger (Ober-)Assistent am Kunstgeschichtlichen Seminar nicht voll ausfüllen. So bezahlte er zunächst von seinem Gehalt einen außerplanmäßigen Assistenten als Vertretung und bat 1 Vgl. den Taufschein (Ev. KONSISTORIUM BERLIN-BRANDENBURG, Personalakte Franz Hildebrandt; [im Folgenden: PA]). Die archivalischen Quellen für die Zeit vor 1927 sind außerordentlich dürftig. Unsere Darstellung folgt im wesentlichen den Unterlagen der Personalakte. Vgl. auch den Lebenslauf (Bibl. Nr. 64) sowie den Eintrag im INTERNATIONAL BIOGRAPHICAL
D I C T I O N A R Y O F C E N T R A L E U R O P E A N E M I G R É S 1 9 3 3 - 1 9 4 5 , B d . I I , S p . 5 0 8 f. 2 Großeltern väterlicherseits waren Georg Franz H . (1843 Berlin-1910 Berlin), ev., Magistratsbeamter beim Standesamt, Sohn von Karl (1806-1853) und Wilhelmine (geb. 1806) H., sowie Theone Wolkoff (1839 Berlin-1901 Berlin), ev., Tochter des Schriftstellers und Dolmetschers am preußischen Hof Theobald Wolkoff (ca. 1810 Görlitz-1843 Berlin) und der Auguste Johanna Eineke, später (seit 1858) Frau von Oppel (1814-1884). Diese Angaben und die weiteren zu Edmund H . entstammen im
wesentlichen seiner Personalakte im ARCHIV DER HUMBOLDT-UNIVERSITÄT BERLIN u n d w m >
den mir freundlicherweise von Prof. Dr. Peter Feist vermittelt; vgl. auch einen Auszug aus dem Melderegister (NLH, 9251/27).
22
Die frühen Jahre
1930, erst 58 Jahre alt, um Entbindung von seiner Stelle und Bewilligung eines Gnadenruhegehalts. Im entsprechenden Formular kreuzte er als Begründung an: „Wegen Schwäche seiner geistigen Kräfte". Er wurde sofort beurlaubt und nach Abschluß der notwendigen Untersuchungen in den Ruhestand versetzt. Sein Lehrauftrag lief jedoch weiter, bis auf eine Unterbrechung für zwei Semester 1930/31, in denen sich Edmund Hildebrandt in einem Sanatorium in Dresden-Loschwitz behandeln ließ. Er litt an schweren Depressionen und Agoraphobie, was die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und selbst einen Aufenthalt in der Stadt fast unmöglich machte. So lebte er mehr und mehr zurückgezogen in seiner Wohnung bis zu seinem Tode am 13. Januar 1939. Seine Frau Ottilie, geb. Schlesinger, betreute ihn in dieser Zeit, oft bis an den Rand ihrer Kräfte. Gegenüber Eduard Spranger, dem Philosophen und Pädagogen, der seit 1920 in Berlin lehrte und mit dem beide eine langjährige Freundschaft verband, klagte sie mehrfach ihr Leid. In einem der Briefe bat sie ihn, sich des Sohnes anzunehmen, „wenn er Ihrer bedarf" 3 . Halt gab ihr in dieser Zeit ihre Familie, die großbürgerliche jüdische Berliner Kaufmannsfamilie Schlesinger4. Ihr um zwei Jahre jüngerer Bruder, Georg Schlesinger, war noch im Kaiserreich als einer der ersten deutschen Professoren „mosaischen Glaubens" Professor an der Technischen Hochschule Berlin geworden. Er galt als ein international anerkannter Pionier auf dem Gebiete der Rationalisierung und Standardisierung im Maschinenbau5. Georg Schlesinger überlebte Verfolgung und Holocaust, weil er rechtzeitig ins Ausland flüchtete, zunächst nach Belgien, dann nach England. Von den anderen Familienmitgliedern ist nicht viel bekannt; mit großer Wahrscheinlichkeit starb Franz Hildebrandts Tante Marie Schlesinger 1944 im KZ Theresienstadt6. Vom Vater erbte Franz Hildebrandt eine starke musische Begabung. Er wurde ein exzellenter Klavierspieler. Zur Konfirmation förderten seine Eltern diese Begabung durch das - selbst für einen Professorenhaushalt sehr großzügige - Geschenk eines Blüthner-Flügels. Beide Elternteile hätten es gern gesehen, wenn Franz seine musikalische Begabung ausgebaut und etwa Dirigent geworden wäre! Den ausgeprägten Augensinn des Vaters hingegen hatte er nicht geerbt, und Edmund Hildebrandt mußte es bald aufgeben, seinem Sohn die Schönheiten der Plastik und der Malerei nahezubringen. Selbst für Naturschönheiten hatte Franz Hildebrandt kein Auge; vielleicht ist dies ein Grund dafür, daß ihm zeitlebens jede Art von Romantik suspekt
3
Ottilie Hüdebrandt an Eduard Spranger, 4 . 1 1 . 1 9 3 1 (BA KOBLENZ, N L 182/191).
4
Ihre Eltern waren der Kaufmann Emanuel Schlesinger und Laura, geb. Wolff, beide „mosaisch".
5
Z u r Person G . Schlesingers vgl. vor allem H .
E B E R T / K . HAUSEN, G e o r g
S. 1 5 - 3 3 4 ; vgl. an Wilson, 2 5 . 4 . 1 9 4 0 ( N L H , 9 2 5 1 / 2 5 ) . 6
GEDENKBUCH, S. 1318.
7
N . H I L D E B R A N D T , NO Winter, S . 121.
Schlesinger,
Kindheit in Berlin
23
blieb8. Zu Katzen allerdings entwickelte er eine intensive Zuneigung, die lebenslang anhielt9. Nach dreieinhalb Jahren Privatunterricht bei seiner Mutter, die als ausgebildete Lehrerin Privatstunden gab, konnte Franz Hildebrandt 1918 in die Quinta der Kaiser-Friedrich-Schule, eines Reformgymnasiums in Charlottenburg, eintreten. Hier in Charlottenburg wohnte die Familie seit 1914 in der Württembergallee. Die Kriegsjahre des Ersten Weltkriegs waren für Franz Hildebrandt in der Erinnerung vor allem durch die zunehmende Rationierung geprägt, deren Folge eine einseitige und unzureichende Ernährung war, im Volksmund „Rüben-Diät" genannt. Als einer der besonders unterernährten Schüler erhielt er Anteil an der „Quäker-Speisung", wodurch er mit neun Jahren zum ersten Mal in seinem Leben Reis, Kakao und Weißbrot zu Gesicht bekam 10 . Die Erlebnisse dieser Zeit und die bleibenden gesundheitlichen Schäden, die der Krieg bei seinem Vater hervorrief, ließen Franz schon seit dieser Zeit zum entschiedenen Pazifisten und zum kritischen Bewunderer der Quäker werden. In seine Schulzeit fiel ein Erlebnis, das seinen weiteren Lebensweg entscheidend prägte11: Der zwölfjährige Franz, der bei seinen Patentanten in Naumburg zu Besuch war, besuchte am 5. Oktober 1921 einen Gottesdienst in der Kirche St. Othmar. Eigentlich hatte er ins Kino gehen wollen, für das er schon seit Kindertagen und zeit seines Lebens zu begeistern war, aber ein Hinweis auf den Gottesdienst hatte sein Interesse erregt. Es war ein besonderer Gottesdienst ohne Predigt, wahrscheinlich eine Art musikalische Vesper. In diesem Gottesdienst hatte Franz Hildebrandt plötzlich das Gefühl, daß hier der Platz sei, wo er wirklich hingehöre. Er hatte nie zuvor eine Kirche betreten, den Religionsunterricht in der Schule fand er eher abstoßend; doch dieser Gottesdienst war für ihn die entscheidende Weichenstellung. Die Eltern, der Vater als ein überzeugter „Pantheist" auf den Spuren Goethes und Leonardos und die Mutter als assimilierte, nicht praktizierende Jüdin 12 , waren etwas befremdet über das erwachende Interesse ihres einzigen Kindes an Kirche und Theologie, aber sie legten ihm keine Steine in den Weg, sondern unterstützten, wenn auch in kritischer Distanz, seine Entwicklung. „Zum theologischen Studium war ich schon entschieden, ehe ich in meinem
8 Das hatte auch Auswirkungen auf seine Theologie; Nancy Hüdebrandt beschreibt, wie bei einer Schiffsreise durch Norwegens Fjorde Hildebrandt kaum die Natur wahrnahm: „On deck one day I asked if he couldn't appreciate the beauty because it was part of God's world, and he replied ,It is a fallen world'" (EBD., S. 139). 9 In Rom 1962 gait seine Aufmerksamkeit ebenso den Katzen auf dem Forum wie dem Konzil ( N . HILDEBRANDT, Rome diary, S. 59 u.ö.). 10 Interview mit Nancy Hildebrandt (NLH, 9415/2, S. 1). 11 Hildebrandt hat dieses Erlebnis mehrfach geschildert; das Folgende nach EBD., S. 3. 12 Ab 1921 ist sie offiziell „ohne Konfession", so die Eintragung von Edmund Hildebrandt in das
F o r m u l a r z u m A r i e r n a c h w e i s , 2 4 . 1 . 1 9 3 6 ( A R C H I V DER H U M B O L D T - U N I V E R S I T Ä T ,
BERLIN).
24
Die frühen Jahre
Konfirmator D. Albert Freitag-Trinitatis den ersten Führer auf diesem Weg fand", schrieb Hildebrandt später in einem Lebenslauf 13 . Freitag war, so Hildebrandts spätere Charakterisierung, „a Luther scholar; a typical colourless liberal in theology and preaching" 14 . 1933 entpuppte er sich dann als „an outright convinced Nazi" 15 . Auch wenn Freitag nach Hildebrandts Konfirmation (14. März 1924) „Freund und Berater geblieben" war und ihn „vor allem in der entschiedenen Orientierung der theologischen Arbeit an Luther wesentlich gefördert"16 hatte, so wandte sich Hildebrandt doch jetzt mehr dem anderen Charlottenburger Pfarrer Alexander Frederking zu. Dieser entwickelte sich zu seinem wichtigsten Gesprächspartner und Mentor; von ihm, so bekannte Hildebrandt, habe er mehr Theologie gelernt als von vielen Professoren1? Frederking gewann Hildebrandt als Mitglied im „Helferkreis" des Kindergottesdienstes. Hier, in der Kindergottesdienstarbeit dieser Jahre, wurde wohl die außerordentliche pädagogische Begabung Hildebrandts entdeckt und der Grund gelegt für sein späteres erfolgreiches Wirken auf katechetischem Gebiet18. Im Vorwort seiner Licentiatenarbeit gedenkt Hildebrandt „der beiden Namen, die meinen Weg seit frühester Zeit entscheidend bestimmt haben: der Pfarrer D. Albert Freitag und Alexander Frederking in Charlottenburg. Was mich ihnen über die Distanz der Generationen hinaus in Verehrung und Freundschaft verbindet, mag das Pauluswort sagen, das heute Sonntagsepistel und zugleich Vorwort der Abendmahlstexte ist" (es folgt 1 Kor 10,1 a.4). Bei der Wahl des sonntäglichen Kirchgangs nutzte Hildebrandt alle Möglichkeiten, die die Metropole Berlin bot. Häufig reiste er per Bahn und Bus kreuz und quer durch die Stadt, um im Hauptgottesdienst irgendwo einen guten Prediger zu hören und dann rechtzeitig zum Kindergottesdienst um 11.30 Uhr zurück in Charlottenburg zu sein19. Bei der Vorbereitung dieser Touren halfen ihm sein mathematisches Geschick und sein gutes Gedächtnis für Zahlen und Daten, - nicht umsonst galt in der Schule neben seiner musischen Begabung Mathematik als seine besondere Stärke. Doch auch für die Lehrer und Mitschüler zeigte sich Hildebrandt bald als künftiger Theologe: 1924 hielt er als Obersekundaner die Festrede zum Re-
Lebenslauf zum Ersten Theologischen Examen, 17. Ζ1930 (PA). So 1974 im Interview mit seinem Schüler aus Drew, Michael Ryan (NLH, 9415/4). Vgl. M. GAILUS, Kirchengemeinden. 15 Interview mit Mary Glazener (NLH, 9415/2, S. 24); vgl. auch Interview mit Michael Ryan (NLH, 9415/4): „A firm Nazi". Zu Freitag vgl. unten S. 48. 16 Lebenslauf (vgl. Anm. 13). 17 Im Interview mit Nancy Hildebrandt (NLH, 9415/2, S. 9). 18 Vgl. Frederkings Zeugnis über Hildebrandts Mitarbeit vom 2.4.1930 (PA). 19 Interview mit Nancy Hüdebrandt (NLH, 9415/2), S. 8f.; vgl. auch noch den Brief an Bonhoeffer vom 5.11.1930 (DBW 10, S. 203 f.). 13 14
Studium
25
formationstag über „Luthers Lehre" 20 . Hildebrandts eigenes Resümee seiner frühen Jahre ist auch für seine Zukunft bestimmend geblieben: „Kirchliche und wissenschaftliche Arbeit gehörten nun von Anfang an zusammen." 21
2.2. Studium Nach dem Abitur im Februar 192622 studierte Hildebrandt bis 1930 hauptsächlich an der Theologischen Fakultät der Berliner Universität. Zwei Sommersemester verbrachte er auswärts, damit alter Tradition folgend: sein erstes Semester in Tübingen, sein drittes Studiensemester 1927 in Marburg. Gerade das letztere prägte jedoch seine Abneigung gegen die dort gelehrte Theologie. Er hörte Rudolf Bultmann, seit 1921 Inhaber des neutestamentlichen Lehrstuhls, der ihm noch Jahrzehnte später als „cynic, a nihilist"23 erschien. Der Existentialismus blieb ihm zeitlebens suspekt. Eine gleiche Abneigung seit diesem Marburger Semester traf Friedrich Heiler, Professor für Vergleichende Religionsgeschichte und Religionsphilosophie, dessen gelebte evangelische Katholizität Hildebrandt die Ökumene nicht näher brachte. In Berlin studierte er vor allem bei Adolf von Harnack, der ihn „entscheidend beeinflußte"24. Schon 1925 hatten die Eltern einen Besuch ihres Sohnes bei Harnack arrangiert, von dem der gerade Sechzehnjährige ihnen begeistert brieflich berichtete: „Dann sprach er von der Lebendigkeit dieser Disziplin, die vielmehr Gegenwarts- und Zukunfts- als Vergangenheitsbedeutung habe; im Gegensatz zur politischen Geschichte, die erst mit 1789 aktuell ist, ist es die Kirchengeschichte, auch die älteste, immer. [...] Hier stand er vor mir, wie ich ihn kannte, ganz Harnack, der in mir lebte, oft wörtlich im Gespräch diese seltene, letzte, tiefe Ubereinstimmung!" Harnacks berühmte Schrift „Das Wesen des Christentums" enthalte auch, so Hildebrandt, „mein eigenes Bekenntnis" 25 . Auch wenn sich Hildebrandt später deutlich in eine andere theologische Richtung entwickelte, so behielt er doch stets eine tiefe Verehrung für Harnack. Er betonte: „My correction on Harnack's position came from Luther."26 Zu Hildebrandts Lehrern gehörte aber auch Reinhold Seeberg, seit 1898 Professor für Systematische Theologie in Berlin. Dessen Seminar war der Ort, an dem Franz Hildebrandt am 16. Dezember 1927 Dietrich Bonhoeffer traf, - es war der Vorabend von Bonhoeffers Verteidigung seiner Promoti20 21 22 23 24 25 26
Manuskript im NLH, 9251/23. Lebenslauf (vgl. Anm. 13). Reifezeugnis vom 25.2.1926 (PA). Im Interview mit Michael Ryan (NLH, 9415/4). Bibl. Nr. 64, S. 5. An die Eltern, 74.1925 (NLH, 9251/24). Interview mit Michael Ryan (NLH, 9415/4).
26
Die frühen Jahre
onsthesen27: „An diesem Freitag diskutierten wir eifrig; und seitdem haben wir nicht aufgehört zu diskutieren, zwölf lange Jahre einer ungestörten Freundschaft."28 Die erste theologische Auseinandersetzung zwischen Bonhoeffer und Hildebrandt drehte sich um Marcion, den frühchristlichen Theologen, über den Harnack 1921 seine große Monographie veröffentlicht hatte. Hildebrandt verteidigte Marcion in der Nachfolge seines Lehrers Harnack, während Bonhoeffer energisch die Beibehaltung des Alten Testaments in der Kirche verfocht, das Marcion abzuschaffen versucht hatte29. Dieses Thema sollte einer der grundlegenden Meinungsunterschiede bleiben. Hildebrandts Ablehnung von Bonhoeffers Umgang mit dem Alten Testament, etwa in der Frage des bejahenden Gebrauches der Rachepsalmen, sein Festhalten an Sätzen wie: „Jedes Verständnis etwa der Bergpredigt als nova lex, jeder Gedanke einer imitatio Christi ist unlutherisch", brachten ihm bald das Bonhoeffersche Verdikt ein, Antinomist zu sein30. Doch tat das ihrer Freundschaft keinen Abbruch, im Gegenteil, - sie blieb so stets eine „gewürzte Fehde"31 unterschiedlicher theologischer Ausrichtungen, allerdings mit einer tiefen „underlying harmony about all things that really mattered"32. Zunächst aber trennten sich ihre Wege: Bonhoeffer ging ins Auslandsvikariat nach Barcelona und dann, nach einem Jahr in Berlin, für ein Jahr an das Union Theological Seminary nach New York. In dieser Zeit legte Hildebrandt Ende November 1930 sein erstes theologisches Examen vor dem Berliner Konsistorium ab33. In einem Brief an Bonhoeffer vom 18. Dezember 1930 schrieb er sich seinen Ärger über dieses Examen, das ihm nur ein „im ganzen Gut" eintrug, von der Seele34. Dabei hatte alles verheißungsvoll begonnen: Als Examenskatechese mußte Hildebrandt Lk 18,18-27 (Der reiche Jüngling) bearbeiten. Als Text der Prüfungspredigt hatte er Mt 4,17-22 erhalten und wählte als Thema der (Bußtags-) Predigt: „Wie Jesus zu uns kommt und wie wir zu ihm kommen." 35 Die DogmatikKlausur mit dem Thema „Die römische Lehre vom Klerus (ordo) ist ihren 27
Vgl. Bibl. Nr. 52, S. 31 (vgl. DB, S. 174).
28
Bibl. Nr. 52, S. 31.
30
Rachepsalmen: an M . Leibholz ( E B D . ) ; Bergpredigt: E S T (Bibl. Nr. 1), S. 5 0 ; Antinomist:
Vgl. an M. Leibholz, 1 7 5 . 1 9 7 8 ( N L H , 9 2 5 1 / 2 2 ) . Bonhoeffer an Hildebrandt, 3 . 1 . 1 9 3 8 ( D B W 15, S. 2 3 ) . " D B , S. 174. 32
Interview mit Mary Glazener ( N L H , 9415/2, S. 2 5 ) .
33
Das ärztliche Zeugnis vom 1 4 . 7 1 9 3 0 , das im Zusammenhang mit dem Examen eingeholt
wurde, vermerkt, daß Hildebrandt bei 178 c m Körpergröße nur 57 kg wog, und beschreibt ihn als „grazil" (PA). Sein Untergewicht führte auch später noch zu gesundheitlichen Problemen. 34
D B W 10, S. 2 1 7 - 2 1 9 .
35
Hildebrandt hielt die Predigt am 16.11.1930 in der Paul-Gerhardt-Kirche in Schöneberg (vgl.
das Predigtalbum im N L H , 9 2 5 1 / 2 : das Album enthält alle Predigtdaten, -orte und -texte v o m 1 9 . 2 . 1 9 2 8 bis z u m 2 3 . 3 . 1 9 4 1 ) .
Studium
27
Grundzügen nach darzustellen und nach evangelisch-biblischen Maßstäben zu beurteilen", in der der für Hildebrandt typische Spitzensatz steht: „Für das Luthertum hängt alles daran, seinen Prinzipien treu zu bleiben und seine Kirche nicht auf das Amt, sondern auf das Wort allein zu gründen", fand noch Gnade in den Augen des Korrektors 36 . Dagegen brachte ihn die Kirchengeschichtsklausur an den Rand des Scheiterns. Das Thema „Das Wirken des Bonifatius und seine Bedeutung für die fränkische Kirche" war „eine solche Katastrophe" für ihn, daß er „9 Spalten lang in Missions-Bibelstellen flüchtete und den Rest für Spezialistenwissen erklärte"3? Der Korrektor, der als „Koptenschmidt" bekannte Kirchenhistoriker Professor Carl Schmidt 38 , schäumte: „Auf Spezialwissen kommt es durchaus nicht an, sondern im [sie!] allgemeinen Kenntnisse, die man von jedem Theologen verlangen muß", und bewertete die Klausur mit „Ungenügend", - woraus im Zeugnis durch höheres Eingreifen glücklicherweise doch noch ein „Nicht völlig genügend" wurde39. Offensichtlich wollte die Prüfungskommission ein Durchfallen des Kandidaten vermeiden. Der Verlauf des Examens war auch deshalb für Hildebrandt eine heikle Angelegenheit, weil er gleichzeitig eine Seminararbeit aus einem SeebergSeminar über das Abendmahl vom Februar 1928 umgearbeitet hatte, um damit zum Licentiaten promoviert zu werden. Das Abfassen der Arbeit wurde jedoch zu einem traumatischen Ereignis für ihn: Reinhold Seeberg hatte bei der Durchsicht eines ersten Entwurfes gemeint, „es sei zu wenig Text und zu viel Anmerkungen darin, und meinte das auch so ganz einfach und wörtlich." Hildebrandt sah dies „als glattes Verwerfungsurteil über das Ganze an und brauchte ein Jahr zur Umarbeitung." Nur der beharrlichen Unterstützung Bonhoeffers war es zu verdanken, daß er sie schließlich doch noch einreichen konnte 40 . 1964 bekannte Hildebrandt Bethge gegenüber: „Es hat Jahre gedauert, bis ich danach wieder schrieb" 41 ; ihm blieben ein lebenslanges Unvermögen zu handschriftlicher Ausarbeitung42 und ständige Skrupel über eigene Arbeiten. Der Verlauf des Theologischen Examens brachte ihn fast dazu, vom Licentiaten-Examen zurückzutreten und die Promotion wie-
3 6 Wilhelm Lütgert beurteilte sie mit „Befriedigend" (PA); vgl. auch die Promotionsthesen, unten S. 29. 3 7 An Bonhoeffer, 18.12.1930 (DBW 10, S. 218). Hildebrandts Schlußsatz in der Klausur lautete: „Wir sehen jetzt von allem ab, was an der Mission des Bonifatius Erfolg oder Mißerfolg, Politik und Geschichte, kurzum: Erscheinung ist. (Es ist klar, daß das Wissen jedes Nicht-Spezialisten hier versagen m u ß ) " . 38
Vgl. D B W 10, S. 2 0 9 , 218.
39
Alle Angaben nach PA.
40
A n M . Leibholz, 2 9 . 5 . 1 9 7 8 ( N L H , 9251/22).
41
A n Bethge, 6 . 2 . 1 9 6 4 (SAMMLUNG B E T H G E ,
WACHTBERG).
„ . . . und nur die jetzt 40jährige Gewöhnung an engzeiliges Tippen sichert mich dagegen, alles Geschriebene sofort wieder auszustreichen" (vgl. Anm. 40). 42
28
Die frühen Jahre
derum zu verschieben, und erst der beharrliche Zuspruch seiner theologischen Lehrer vermochte ihn dazu zu bewegen, durchzuhalten. So wurde er am 29. November 1930 „cum laude" Licentiat der Theologie, - „das Resultat dort war eine nette Überraschung für die Idioten im Konsistorium" schrieb er, nicht ohne Schadenfreude, Dietrich Bonhoeffer nach New York43. Uber seine theologische Entwicklung in dieser Zeit berichtete er Bonhoeffer: „Ich e n t d e c k e ü b r i g e n s m e h r u n d m e h r S y m p a t h i e n u n d Vorteile des P i e t i s m u s (wir s p r a c h e n w o h l n o c h d a v o n ) - u m d a n n die W a h r h e i t des F r e d e r k i n g s c h e n 4 4 D i k t u m s e i n z u s e h e n , d a ß sich P h i l o s o p h i e o d e r T h e o l o g i e eines M e n s c h e n a u c h u n d gerade i m G e g e n s a t z z u seinen natürlichen N e i g u n g e n ( u n d das sind bei m i r irg e n d w i e pietistische) bildet." 4 5
Gleichzeitig wünschte er sich „Für Weihnachten: Hegel, Hegel, Hegel!"46 und wandte sich dem „Problem der Vermittlung" und dem Studium des „filioque" zu47. Er tat das offensichtlich nicht nur aus dogmengeschichtlichem Interesse, sondern auch aus aktuellem Anlaß, nämlich um Kriterien gegen die Theologie der Schöpfungsordnungen zu gewinnen. Deutlich wird das drei Jahre später, wie eine These Bonhoeffers im Entwurf des „Betheler Bekenntnisses" zeigt: „Wir verwerfen die Irrlehre, daß der Heilige Geist ohne Christus in der Schöpfung und ihren Ordnungen erkennbar sei [...]. Nur weil der Heilige Geist vom Vater und vom Sohn ausgeht, ist die Mission an allen Völkern Auftrag der Kirche."48 Es ist sehr wahrscheinlich, daß Bonhoeffer hier einige der Früchte von Hildebrandts Studium des filioque hat einfließen lassen. Hildebrandt selbst betonte: „Erst das ,filioque' ermöglicht eine Beantwortung der Frage, wie die Immanenz nun endgültig zu bestimmen, d.h. wo der Geist Christi wirklich gegenwärtig ist."49 Am 26. Februar 1931 unterzog sich Hildebrandt in der Alten Aula der Berliner Universität der altehrwürdigen Sitte, seine Promotionsthesen öffentlich zu verteidigen. Opponenten waren dabei sein Konfirmator D. Freitag, Pfarrer Alexander Frederking und Gottfried Niemeier, damals noch „Barthschü« 18.12.1930 (DBW 10, S. 218). 44 Frederking war sein pfarramtlicher Mentor (vgl. oben S. 24). « An Bonhoeffer, 18.12.1930 (DBW 10, S. 204). 46 Eintragung vom 2.12.1930 im Kalender (NLH, 9251/5). 47 An Bonhoeffer (vgl. Anm. 45). Vgl. auch schon die Eintragung in Hildebrandts Kalender vom 177 1930: „Barth Filioque Dogmatik S. 21 Iff" (NLH, 9251/5). 48 Nach der „August-Fassung" (DBW 12, S. 387; vgl. C . - R . MÜLLER, Bethel, S. 100); vgl. auch Bonhoeffers Referat in Bradford: „Das Entscheidende aber ist das fehlende filioque. [...] Die D.C. wollen einen Naturgeist, einen Volksgeist in die Kirche hineinbringen, der nicht von Christus gerichtet wird, sondern sich selbst rechtfertigt" (DBW 13, S. 40). 49 EST (Bibl. Nr. 1), S. 108. Es würde sich lohnen, den Zusammenhang dieser These mit Bonhoeffers Dictum „Christus als Gemeinde existierend" zu untersuchen.
Studium
29
1er und Domstiftler" 5 0 , später dann Referent und theologischer Vizepräsident der Kirchenkanzlei der E K D ; Leonhardt Fendt hingegen konnte leider nicht zusagen 51 . Die „Theologischen Thesen" des Promovenden sind charakteristisch für Hildebrandts theologische Entwicklung und seinen klaren Standpunkt, der sich nicht leicht in theologiegeschichtliche Schubladen einordnen läßt. Auch in späteren Jahren wird Hildebrandt immer wieder auf die hier sichtbar gewordenen Grundhaltungen zurückkommen, und daher erscheint es sinnvoll, sie im ganzen zu zitieren: „1. Der Urtext von Jes. 7,14 (Matth. 1,23) zwingt zur amtlichen Revision seiner falschen Ubersetzung und Verwertung.52 2. Das Neue Testament kennt die Apokatastasislehre. 3. Das Luthertum ist und bleibt Konfessio der Lehre Luthers und nicht des Konkordienbuches. 4. Das Luthertum sieht kirchliche Autorität allein im Evangelium. 5. Das Luthertum hat als ,textus receptus' die Lutherbibel, als ,Kanon' das N.T. bis zum 3. Joh., als ,Einleitung' die Vorreden Luthers. 53 6. Das Luthertum weiß das Alte Testament im Neuen ,aufgehoben'. 7 Das Luthertum lehrt die Einheit von Wort und Sakrament auch für den Gottesdienst und die licentia concionandi. 8. Das Luthertum zielt mit dem Katechismusunterricht lediglich auf die Feier des ersten Abendmahls.54 9. Das Luthertum steht und fällt mit Luthers Abendmahlslehre in ihrer strengen Fassung. 10. Das Luthertum setzt in Theorie und Praxis für jedes,Symbol' ein eindeutiges Bekenntnis. 11. Das Luthertum spricht in allen Lehrstreitfragen grundsätzlich gegen Melanchthon. 12. Das Luthertum eint sich mit Hegel gegen Kierkegaard, d.h. mit,essentieller' gegen existentielle' Philosophie." 55
50
An Bonhoeffer, 23.1.1931 (DBW 10, S. 230).
51
Ebd.
Vgl. schon die Bemerkung an Bonhoeffer vom 5.11.1930 über eine Predigtreihe von Eberhard Röhricht über das Apostolikum: „Die Jungfrauengeburt erledigte er mit Joh 3,8 (als Text), so ehrlich wie das eben einem Anhänger der Sache möglich ist; immerhin hat er deutlich gesagt, woran der Glaube der Gemeinde hängt und woran nicht" (DBW 10, S. 2 0 3 ) ; vgl. auch EST (Bibl. Nr. 1), S. 80f. 52
53
Vgl. E B D . , S. 8 7
Vgl. die Kritik an der Konfirmation („als Weihe ebenso unberechtigt wie als Bekenntnishandlung"): EBD., S. 98f. 54
55
Druck: Ν LH, 9 2 5 1 / 2 7 ; vgl. die Genehmigung durch den Dekan (Bertholet) vom 18.2.1931
(EBD.).
30
Die frühen Jahre
2.3.
Vikariat
Seit Mai 1927 war es in der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union Pflicht, zwischen dem ersten und zweiten theologischen Examen eines der Predigerseminare zu besuchen56. Ansehen und Stil dieser Ausbildungseinrichtungen waren jedoch umstritten: „Unter dem ungebrochenen Diktat der Wissenschaft trieben die Seminare weithin noch einmal, was die Kandidaten bereits in größerer Freiheit und natürlich auf attraktiverem Niveau auf der Universität gelernt hatten." 57 Daher galten sie für Kandidaten wie Hildebrandt und Bonhoeffer als „Zeitverschwendung"58, wie Bonhoeffer seinem Schwager Walter Dreß in drastischer Weise gestand: „Wie können diese Bonzen von Konsistorialräten überhaupt wagen, sich anzumaßen, einen besser auszubilden in einem Predigerseminar, als wenn man sich selbst auf die akademische Laufbahn vorbereitet!" 59 Die Kirchenkampfzeit mit dem Aufbau eigener bekenntniskirchlicher Ausbildungseinrichtungen, die Bonhoeffer nach Finkenwalde und Hildebrandt an die Kirchliche Hochschule führte, lag noch in weiter Ferne. 1930 versuchte Hildebrandt noch, dieser neuen, für ihn lästigen Pflicht des Besuches eines Predigerseminars zu entgehen und verpflichtete sich - gegen den Rat des Konsistoriums60 - zunächst für ein halbes Jahr bei der von Friedrich Siegmund-Schultze61 gegründeten und geleiteten Sozialen Arbeitsgemeinschaft (SAG) im Berliner Osten. Sein Aufgabenfeld dort, das zugleich die ganze Bandbreite der Tätigkeiten der SAG deutlich werden läßt, beschrieb er am 23. Januar 1931 in einem Brief an Bonhoeffer nach New York: „Leitung eines Jungenclubs von 10-14 Jahren; Weltanschauungskurs mit jugendlichen Arbeitslosen; Studium der Sekten und Freidenker der Ostgegend; Lektüre vom Joh[annes]-Ev[an]g[e]l[iu]m und einer Kierkegaard-Schrift mit dem in der Soz. Arbeitsgemeinschaft tätigen Theologie-Studenten; Hilfe bei Sieg[mund]-Schultze in der Sprechstunde."62 Diese Arbeit prägte Hildebrandt nachhaltig:
56 Vgl. das Kirchengesetz, betreffend Vorbildung und Anstellungsfähigkeit der Geistlichen vom 5.5.1927 (vgl. dazu auch DBW 10, S. 179f.). DB, S. 482. s» Ebd. 59
2 0 . 4 . 1 9 2 8 ( R . S T A A T S / M . W Ü N S C H E , B o n h o e f f e r s A b s c h i e d , S. 190).
Von Kegel, o.D. [1930]: „Ob Sie damit gut tun, ist mir zweifelhaft. Ich hätte an Ihrer Stelle erst diese Dinge abgeleistet. Aber das müssen Sie selbst am besten wissen" (NLH, 9251/27). 61 Bei ihm hatte Hildebrandt im Sommersemester 1930 „Übungen zur Psychologie der Großstadtjugend" und im Wintersemester 1930/31 die Vorlesung „Sozialethik" besucht (Aufstellung in der PA). 62 DBW 10, S. 229-231; vgl. auch von Siegmund-Schultze, 11.11.1930 (NLH, 9251/27). Zur SAG vgl. E. RÖHM, Sterben für den Frieden, S. 59-66; S. GROTEFELD, Siegmund-Schultze, S. 73-77 60
31
Vikariat
„Ich k o m m e radikal auf den Standpunkt meiner Primanerzeit zurück, w o mir die Praxis alles und die Wissenschaft nichts schien, ohne damit von meiner Theologie etwas aufzugeben (sie war immer n o c h zehnmal konkreter als die Weisheit e x i stentiell'). A b e r die bisherigen Probleme werden d o c h sekundär vor den neuen Aufgaben, u n d abgesehen v o n der ,amtlichen Theologie' habe ich nichts, w a s mich jemals wieder an den Schreibtisch zurücklocken könnte." 6 3
Hildebrandt wurde sensibel für die Aufgaben der Kirche im Berliner Osten: „Dem ganzen Kreis muß sich auch der zugehörig fühlen, der diesen unausgesprochen kirchlichen Dienst vielleicht noch lieber in einen ausgesprochenen verwandelt sehen möchte." 64 Bei aller Faszination blieb diese grundsätzliche Anfrage an die Ausrichtung der Arbeit der SAG als „Modell für Kirche und Gesellschaft"65 bestehen. Das belegen auch Erinnerungen aus den Jahren 1959 und 1978: „Schon 1931 haben wir [d.h. Dietrich Bonhoeffer und Franz Hildebrandt] uns und ihn gefragt, warum Siegmund-Schultze im Berliner Osten nicht Farbe bekennen und Pfarrer an einer der lokalen Gemeinden werden wollte!"66 - „Seine Antwort bestand, wenn ich mich recht erinnere, eigentlich nur aus einem Achselzucken"6? Das Grundprinzip der Arbeit der SAG, das Stefan Grotefeld als „die konsequente Vermeidung einer Bindung an die verfaßte Kirche"68 beschreibt, blieb beiden Freunden fremd. Mit dem vermutlich damals entstandenen Plan des gemeinsamen „TeamPfarramtes" mit Bonhoeffer an der Lazarus-Kirche im Berliner Osten wäre die von beiden gewünschte „Verwandlung" und Verkirchlichung der sozialen Arbeit möglich geworden, als im Mai 1933 zwei Pfarrstellen zu besetzen waren, - doch die herannahende Gleichschaltung der Kirche ließ diesen Plan nicht zur Ausführung kommen. Bonhoeffer wollte sich nicht um ein Pfarramt bewerben, das seinem Freund verwehrt wäre69. Doch auch und gerade nach 1933 blieb Hildebrandt der SAG verbunden und hielt immer wieder Vorträge beim dortigen Diskussionsabend, der sich unter dem Druck des NS-Regimes in „Nachbarschaftsabend" umbenennen mußte. Belegt sind Vorträge über „Die heutige Lage der Kirche", „Verantwortung und Freiheit bei Martin Luther", „Entscheidende Fragen für die Kirche" und „Albert Schweitzer"70. 63
An Bonhoeffer, 23.1.1931 (DBW 10, S. 230). Auch Bonhoeffer hatte eine ähnliche Entwicklung durchgemacht. In Barcelona 1928 noch voll „Sehnsucht" nach der „etwas lang entbehrten Wissenschaft" (DBW 10, S. 82,102), merkte er Anfang 1930, „daß es mich nicht sehr lange bei der Wissenschaft halten wird" (DBW 10, S. 169). 64 Aus dem Lebenslauf für das Zweite Theologische Examen vom 28.6.1932 (PA). 65
S. GROTEFELD, S i e g m u n d - S c h u l t z e , S. X X .
66
A n B e t h g e , 18.8.1959 (SAMMLUNG BETHGE,
WACHTBERG).
ν A n M . Leibholz, 12.6.1978 ( N L H , 9251/22). 68
S. GROTEFELD, S i e g m u n d - S c h u l t z e , S. 162f.
69
Vgl. Hildebrandt an Bethge, 19.4.1965 (SAMMLUNG BETHGE,
70
WACHTBERG).
Nach Auskunft des Veranstaltungskalenders im „Mitteilungsblatt" der SAG (EZA Berlin, Handbibliothek 392) am 31.5.1933 über „Die heutige Lage der Kirche" (veröffentlicht in Bibl.
32
Die frühen Jahre
Nach Ablauf des halbjährigen Praktikums in der SAG versuchte der Evangelische Oberkirchenrat im März 1931 noch einmal, Hildebrandt in eines der Predigerseminare einzuweisen 71 . Dieser reagierte darauf mit einem ärztlichen Attest und erreichte damit, anstelle des Predigerseminars ein Lehrvikariat vom Konsistorium genehmigt zu bekommen 72 . So verbrachte er seine weitere Vikarszeit zunächst vom April bis zum September 1931 im Städtchen Dobrilugk 73 bei „Schloßpfarrer" Karl Schade, den er als Prüfer im Ersten Examen kennengelernt hatte. Die Stelle hatte auch einen persönlichen Vorteil: Dobrilugk liegt fast genau auf halber (Bahn-)Strecke zwischen Berlin und Dresden, wo Edmund Hildebrandt sich im Sanatorium Loschwitz zur Behandlung aufhielt. Neben dem Dienst in der Kleinstadt Dobrilugk hatte Franz Hildebrandt auch „bei der kirchlichen Versorgung der vakanten dörflichen Nachbargemeinden Friedersdorf, Rüpckersdorf und Gruhno" zu assistieren74. Schade bescheinigte ihm zum Abschluß seiner Zeit „überraschende Bibel- und Gesangbuchkenntnis" und daß er „weit mehr leistete, als von einem Vikar verlangt werden kann" 75 . Nach diesem dörflichen Sommer folgte zum 1. Oktober 1931 ein Kontrast, wie er größer kaum sein könnte: Hildebrandt ging für 18 Monate als „Stadtsynodalvikar" zu Leonhard Fendt, dem Starprediger Berlins, an die Kirche Zum Heilsbronnen, „um in persönlicher und wissenschaftlicher Fühlung mit Herrn Pfarrer D. Fendt ihn in der Gemeindearbeit seines Bezirkes zu entlasten" 76 . Seine erste Predigt dort hielt er am 11. Oktober 1931 über Eph 4,25 „Uber und gegen die Reformierten" zum 400. Todestag Zwingiis 77 Hier predigte er am 15. November 1931 „zum 100. Todestag Hegels", und Nr. 22), am 1 . 1 0 . 1 9 3 3 „Verantwortung und Freiheit bei Martin Luther", am 3 0 . 5 . 1 9 3 4 (verlegt auf den 4 . 6 . ) „Entscheidende Fragen für die Kirche", am 2 6 . 2 . 1 9 3 6 „Albert Schweitzer". Leider sind - bis auf den veröffentlichten Vortrag - keine Manuskripte erhalten. 71 EOK an Konsistorium, 17 3.1931 (PA). 72 Konsistorium an EOK, 1 0 . 4 . 1 9 3 1 (PA, vgl. auch E Z A BERLIN, 7/11211). Schon im Januar hatte Hildebrandt an Bonhoeffer über seinen „Antrag auf lebenslängliches Vikariat" geschrieben und gedroht: „Sollte man mir mehr als ein Semester Predigerseminar zudiktieren, was sich im Sommer immerhin ertragen ließe, so würde ich jedenfalls bis auf weiteres der Kirche Valet sagen" ( D B W 10, S. 230). Als Motiv dafür gab er später an: Die Seminare „were in remote, ungetable places and what happened was that people were indoctrinated so as to forget their university training and yet not allowed to get their feet into the pastoral practice" (Interview mit Nancy Hildebrandt: N L H , 9415/2, S. 10). Als Professor an der Drew University resümierte Hildebrandt: „Daß ich ausgerechnet [...] in so etwas wie einem Predigerseminar, das ich immer stolz verpönte, landen mußte, hätte Dietrich schon zu einem ironischem Lächeln bewegt" (an Bethge, 9.4.1956; SAMMLUNG BETHGE,
WACHTBERG).
73
Heute Doberlug/Kirchhain.
74
A n E O K , 2 9 . 4 . 1 9 3 2 ( E Z A BERLIN, 7/11211).
Bericht vom 9.10.1931 (PA). 76 A n EOK, 2 9 . 4 . 1 9 3 2 (EZA BERLIN, 7/11211). Eine erste fragmentarische Darstellung der Situation der Gemeinde findet sich bei J . NOSSOL, Deutsche Christen. 77 Eintragung im Predigtalbum (NLH, 9251/2). 75
Vikariat
33
hier lernte er auch H a n s Herbert K r a m m kennen. Mit ihm, der an der Kirche als Theologiestudent vor allem den „Liturgischen G e s a n g " betreute, probierte er verschiedene Gottesdienstformen aus, - einige Jahre später trafen sie sich in England wieder 7 8 . Schon bald gewann Hildebrandt „das Wohlwollen vieler Gemeindeglieder durch sein eminent seelsorgerliches Wesen" 7 9 . In Fendts abschließender Beurteilung seines Lehrvikars ist zu lesen: „Lic. Hildebrandt ist ein weit über sein Alter hinaus gereifter Theologe, Seelsorger, Prediger, Religionslehrer und Charakter. Seine Predigten sind so, daß ihm ohne weiteres jede Großstadtkanzel anvertraut werden könnte. [...] Seine saubere Theologie ist besonders erfreulich. Dabei ist er von unermüdlichem Eifer."80 Mit seinen drei Vikarsvätern erlebte Hildebrandt fast die ganze Bandbreite kirchlicher Arbeit in den zwanziger Jahren in der Großstadt Berlin, in der Kleinstadt Dobrilugk und in den dazugehörigen Dörfern; aber nicht nur das : Er berührte auch „die Möglichkeiten kommender Karrieren in seiner Nazi-geschüttelten Heimatkirche und ihren Strukturen. Der erste erfuhr wegen seiner ,internationalistischen' Tätigkeiten, gekoppelt mit der sozialen Arbeit im Berliner Osten schon im Sommer 1933 das Schicksal der Ausweisung aus Deutschland für die ganze Zeit des nationalsozialistischen Regimes ; der zweite wurde Anhänger der sich bildenden Opposition [. ..]; und der dritte blieb bei der vornehmen Mitte, die ihren Frieden mit den mehr oder weniger nazifizierten Kirchenoberen und Theologieprofessoren machten, und ließ sich vom NS-Kultusminister zum Theologieprofessor in Berlin berufen, befleckte sich nie mit den Radikalismen' der Bekennenden Kirche - und überwinterte dort bis zu neuen Amtern nach 1945"81. Für Hildebrandt beendete eine bittere Konfrontation seine Bekanntschaft mit Fendt, als dieser deutlich machte, daß seine Sympathien dem neuen Regime gehörten 8 2 - aller Wahrscheinlichkeit geschah das an jenem Abend im April 1933, als Bonhoeffer im Jacobi-Kreis seine Thesen „Die Kirche vor der Judenfrage" vortrug und Fendt daraufhin unter Protest den Kreis verließ 83 .
78 EBD., Eintragung z u m 2 5 . 6 . 1 9 3 2 („Jugendgottesdienst; 1 Thess 1,5a; Liturg. G e s a n g : K a n didat K r a m m ; C h o r : Spes Stahlberg"). Spes Stahlberg war die Tante von Bonhoeffers späterer Braut, Maria von Wedemeyer (vgl. D B W 16, S. 44 und BRAUTBRIEFE, S. 16 u.ö.).
Bericht Fendts v o m 29.4.1932 (PA). Beurteilung Fendts v o m 2710.1933 (PA). 81 E . BETHGE, Hildebrandt (unveröffentlicht), S. 3. Z u Fendts Haltung vgl. auch M . SMID, Protestantismus, S. 312-314; eine von kritischer Sympathie geprägte Schilderung Fendts findet sich bei G . D E H N , Die alte Zeit, S. 291 f. 79
80
82 83
Aussage im Interview mit Michael R y a n ( N L H , 9415/4). D B , S. 321; vgl. auch D B W 12, S. 349.
34
Die frühen Jahre 2.4.
„EST"
Die Zeit seines Praktikums in der SAG nutzte Hildebrandt auch dafür, seine Licentiatenarbeit druckfertig zu machen 84 . In ihr arbeitet er, rund 400 Jahre nach dem Marburger Religionsgespräch, Luthers £5Tals Grundlage von dessen Theologie heraus, ja erhebt gerade dieses zum „Lutherischen Prinzip", in dem der assertorische Charakter der gesamten Lutherschen Theologie beschlossen liegt. Demgegenüber nennt er als Charakteristikum der reformierten Haltung das Fragezeichen und die Skepsis und ordnet hier auch Karl Barth und seine Schüler ein: „Keine neue Lehre, sondern ein Fragezeichen hinter jeder Lehre - das ist ihre Eigenart." 85 Aus einer „letzten Unsicherheit gegenüber dem Sakrament" heraus führe die dialektische Theologie nur zu Distanz und in letzter Konsequenz zum Abbau der Theologie überhaupt 86 . Echt Lutherische Theologie hingegen betone die Gegebenheit und die Gewißheit, das „Wissen von Gott, das fortschreitet zum Sich-Wissen in Gott" (Hegel). „An die Stelle der reformierten Antithese von Gott und Mensch tritt im Luthertum die radikalere von Glaube und Unglaube, die gerade die ,Distanz'-Haltung als Sünde erscheinen läßt" 87 ; „Denn es ist der Sinn des Lutherischen Gottesbegriffs, daß Gott nicht ,an sich', in der ,bloßen Majestät' bleibt, sondern im ,Humanum' realpräsent wird, in die Erscheinung tritt." 88 Das hat Konsequenzen, wenn es um die Aufgabe des Menschen geht: Als Folge des Barthschen Hinweises auf die unüberbrückbare Distanz von Himmel und Erde sieht Hildebrandt „die alte Gefahr, gerade mit der,Distanz' von Gott zugleich die eigene Position ,auf der unteren Bühne' zu verabsolutieren" 89 . Hier zeigt sich in nuce schon der tiefe Gegensatz vorgezeichnet, der im Herbst 1938 im Briefwechsel mit Barth voll zum Ausbruch kommen wird90 und der Hildebrandt letztlich wohl auch von Bonhoeffers Position trennt. Aber Hildebrandt benennt auch die ethischen Defizite des Luthertums deutlich und macht Melanchthon für sie verantwortlich. Zustimmend zitiert er die Frauenrechtlerin Gertrud Bäumer und meint: „Man kann etwa schon das Zurückbleiben hinter England und Amerika in der sozialen und der Frauenfrage als eines der Symptome für die Schwäche, ja den schließlichen Zusammenbruch des Luthertums in seiner Ethik ansehen."
84 Vgl. oben S. 27. Zum Hintergrund und der „transzendental-psychologischen" Lutherdeutung Reinhold Seebergs vgl. O. WOLFF, Haupttypen, S. 237-317. 85 EST, S. 16. EST, S. 19, 30. 87 EST, S. 34f. 88 EST, S. 40; einige Formulierungen lassen an Bonhoeffers Diktum vom „Christus als Gemeinde existierend" denken (DBW 2, S. 126), das signifikanterweise auch die Modifikation eines Begriffes von Hegel ist (vgl. auch EST, S. 107ff.). 89 EST, S. 46. 9 ° Vgl. unten S. 151 ff.
.EST'
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Dieses „Zurückbleiben" hinter den westlichen Demokratien ausgerechnet gegen Seeberg zu behaupten, zeugte von Mut und Weitsicht; und es ist dieses „Zurückbleiben" in den Fragen der Menschenrechte, das Hildebrandt am eigenen Leibe zu spüren bekommen und das er auch und gerade der Bekennenden Kirche anlasten wird91. Dennoch bleibt Hildebrandt skeptisch gegenüber einer zu positiven Sicht bestimmter „Ordnungen". Sie seien „Formen, denen erst das Wirken der Menschen den Inhalt geben, sie dadurch heiligen oder entheiligen muß" 92 . Die Spannung zwischen eschatologischer Vorfreude und dem Bleiben im jeweiligen „Beruf", verbunden mit einem gesunden Humor den zeitlichen Dingen gegenüber, sei, so Hildebrandt, die genuin lutherische Haltung. Unverkennbar auch gegen Barth wird in der Arbeit das „Finitum capax Infiniti" betont. Doch Hildebrandt opponiert mit gleicher Vehemenz gegen den Symbolbegriff Paul Tillichs und des Berneuchener Buches (1926), die auch in der Nachfolge des „significat" stünden. Positiv gilt: „Das endlich ist der Schritt von reformierter Skepsis zu Lutherischer Philosophie: daß das initum capax infiniti und der Glaube an den fleischgewordenen Logos der Anfang aller menschlichen Erkenntnis ist." 93 In der Verteidigung der „ursprünglichen Bindung der ,Vernunft' an das ,Wort"' stellt Hildebrandt jene These auf, die drei Jahre später zu einem der radikalsten Argumente wurde, als Bonhoeffer revolutionäre Gedanken in Form einer schlichten Psalmauslegung auf Fano vortrug: Der Gegner jeden Gehorsams gegen das Wort Gottes sei nicht die Vernunft, „sondern der abstrakte Verstand, dessen Lieblingsausdruck das ,Quare' der Schlange ist: ,sollte Gott wirklich gesagt haben ...?' (Gen. 3,1)" 94 . Dagegen stünde die Lutherische Gewißheit: „Jedes ,Quare', jedes Fragezeichen schwindet vor dem Est." 9 5 In einem thetisch-polemischen Schlußkapitel faßt Hildebrandt noch einmal die Konsequenzen des EST zusammen: Es bedeute das Prinzip der „Einlinigkeit" des Glaubens (alles andere - auch die Barthsche Theologie - stelle die Wirklichkeit der Gnade in Frage), der Eindeutigkeit in der Erkenntnis Gottes (gegen alles „Symbolische") und der „Einseitigkeit" der Offenbarung
91 Vgl. etwa den entsprechenden Passus in Das Evangelium und die Humanität (dazu unten S. 158). Wer wie H . GOLLWITZER, Abendmahlsfrage, S. 277, Hildebrandt vorwirft, er würde dem Anspruch des Nationalismus Tribut leisten, indem er die Haltung Calvins als Widerspiegelung des „Gloire-Ideals des französischen Beamtentums" kennzeichne (EST, S. 32), der sollte die kritischen Äußerungen über die „Gefahren des Luthertums" (EST, S. 47) und „zur reaktionären Vergötzung des Preußentums" (EST, S. 51) nicht verschweigen. Zu Gollwitzers theologischer Kritik an Hildebrandts EST vgl. auch H . GOLLWITZER, Coena Domini, S. 99 Anm. 2. 92 93 94 95
EST, EST, EST, EST,
S. S. S. S.
54. 83. 85 (vgl. DBW 13, S. 298 und auch DBW 3, S. 96-102). 106, mit Verweis auf WA 50, S. 648.
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Die frühen Jahre
(„was immer irgendwo geschrieben steht', ist absolut zu nehmen; es läßt sich so lediglich bejahen oder verneinen") 96 . Rezensenten priesen nach Erscheinen des Buches die „scharfsinnige systematische Durchleuchtung"9^ manche äußerten aber auch Bedenken, vor allem gegen die völlig unhistorische enge Zusammenschau von Luther und Hegel und gegen die Gleichsetzung Zwingiis mit Barth 98 . Die ausführlichste Rezension schrieb Hans Joachim Iwand, damals Professor am Herder-Institut in Riga, in der Deutschen Literaturzeitung99. Neben Zustimmung zu Hildebrandts Position, „daß es sich im Glauben um eine unreflektierte, personal und geistig gegebene Wirklichkeit der Unmittelbarkeit zu Gott handelt", warnt Iwand jedoch davor, das Verhältnis lutherisch-reformiert so zuzuspitzen wie Hildebrandt, der darin durch „die polemische Abzweckung gegen die dialektische Theologie bestimmt" sei. Diese Frontstellung führe aber nur zu einer Verdunkelung der Sachlage: „Die Verkoppelung von aktueller Polemik mit geschichtlicher Besinnung birgt leicht Fehlerquellen nach beiden Richtungen." Zudem würde Hildebrandt die Gesetzesproblematik zu sehr vereinfachen, was auch Auswirkungen auf seine Anschauung der Vernunft habe. Es ist sicher richtig gesehen, daß Hildebrandt in spezifischer Weise mit den historischen Texten arbeitete. Sie waren ihm immer auch Weisung für die Gegenwart, und insofern ging er eher „unhistorisch" mit ihnen um. Doch gerade daraus schöpfte er auch seine Kraft. Es war ihm abzuspüren, daß und wie er, ohne Biblizist zu sein, ein „Leben in der Bibel" und in den Schriften Luthers führte 100 . Die Heilige Schrift und - in abgestufter Weise - die Schriften Luthers, die Choräle Paul Gerhardts und später die Schriften und Lieder der Brüder Wesley sind sein schier unerschöpflicher Vorrat an Argumenten und treffenden Zitaten gewesen. Schon im Vorwort zu £57zitierte er einen Satz Barths über Luther, der auch und gerade für seinen eigenen theologischexistentiellen (dieses Wort sei hier, trotz Hildebrandts deutlicher Abneigung dagegen, erlaubt) Ansatz gilt: „Theologische Sachlichkeit und historische Objektivität sind vielleicht Charismen, die sich gegenseitig ausschließen." 101 Hildebrandt lebte in seinen Vorträgen und Schriften wie auch in seinen Predigten dem Charisma der „theologischen Sachlichkeit" und blieb sich darin zeitlebens treu, auch wenn das immer wieder zu Auseinandersetzungen mit sogenannten „historischen Erfordernissen" führte. Sein „lutherischer Nonkonformismus" wurde schon hier sichtbar.
96
EST, S. 110-113.
97
F . W . S C H M I D T , L u t h e r a n a , S . 71.
G. HOFFMANN, ThLZ 57, 1932, S. 366-368. Zur heutigen Einschätzung vgl. oben S. 9. Jetzt in: H.J. IWAND, Glaubensgerechtigkeit, S. 272-275. 100 Vgl. g. 84 zu seiner Bestimmung des „Biblizismus". 101 EST, S. 4 Anm. 3 nach K. BARTH, Ansatz. 98
99
Die Freundschaft mit Dietrich Bonhoeffer
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Das Vorhaben, die akademische Laufbahn einzuschlagen und sich zu habilitieren, stellte Hildebrandt zurück. Zunächst geschah dies nur, weil er nicht genau wußte, wo und bei wem dies geschehen sollte102, dann jedoch machte die Entwicklung der folgenden Jahre den Gedanken einer akademischen Karriere vollends zunichte. Zu den politischen Zwängen kam „der Kirchenkampf mit der vollen Konzentration auf das biblische Evangelium, und seither hat die Beschäftigung mit der Philosophie einfach aufgehört" 103 . Die „Gegner Kierkegaards im damaligen Dänemark ausfindig zu machen und zu studieren"104, blieb ein nie ausgeführter Plan.
2.5. Die Freundschaft mit Dietrich Bonhoeffer Nachdem sich der Weg der beiden Freunde zunächst getrennt hatte, trafen sie im Sommer 1931 wieder aufeinander. Bonhoeffer war frisch aus New York zurückgekehrt, voller Erfahrungen, die ihn Barth und der dialektischen Theologie näher gebracht hatten, und mehr denn je von der kirchlich-diakonischen Verpflichtung der Theologie überzeugt 105 , und Hildebrandt lebte nun „fern der Wissenschaft und ganz in der Praxis, deren pädagogischer Zweig mein besonderes Interesse hat"106. Die Freundschaft Hildebrandts mit dem drei Jahre älteren Bonhoeffer wurde nun intensiver. Besonders lernte Hildebrandt Bonhoeffers Fähigkeit schätzen, „mit unbestechlicher Klarheit durch Menschen und Dinge hindurch" zu sehen; später bezeugte er: „Wo unsereins naiv dem Tagewerk ergeben lebte, erkannte er doch früh die Zeichen der Zeit und wußte, daß die Tage der Weimarer Republik gezählt waren"10-! Beide stritten auf theologischem wie auf politischem Gebiet ständig miteinander, doch waren sie sich in fundamentalen Uberzeugungen einig. Hildebrandt erinnerte sich: Sie hätten „nie im Ernst politisch debattiert; die Natur des Feindes, der uns konfrontierte, stand nicht in Frage, höchstens Details der Taktik, wie er abzuwehren sei"108. Schon in den Sommerferien 1931 gingen beide an ein gemeinsames Projekt. Bonhoeffers Widmung auf dem Druckexemplar seiner frisch erschienenen Habilitationsschrift „Akt und Sein", das er Hildebrandt schenkte, spricht
102 „... in Berlin sind zu viele und andernwärts zu fremde Leute" (an Bonhoeffer, 23.1.1931: DBW 10, S. 230). Außerdem hatte Hildebrandt offensichtlich vor, die Habilitationsschrift bei einem Emeritus (R. Seeberg?) einzureichen (vgl. von Bertholet, 23.71931: NLH, 9251/27). 103
A n J u l i e B r a u n - V o g e l s t e i n , 3 0 . 7 1 9 6 9 (LBI N E W Y O R K ) .
104
Ebd. Vgl. DBW 11, S. 4. An E. Spranger, 27 6.1931 (BA KOBLENZ, NL Spranger, 182/191). An M. Leibholz, 175.1978 (NLH, 9251/22). An M. Leibholz, 5.6.1978 (EBD.).
105 106 107 108
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davon in der den beiden eigenen Selbstironie: „Und daraus soll nun ein Katechismus werden!? Ihr Dietrich Bonhoeffer."109 Tatsächlich entstand dann in gemeinsamer Arbeit der Versuch eines luthenschen Katechismus mit dem Titel Glaubst du, so hast du110. Vermutlich in der ersten Augusthälfte haben die beiden Freunde in vielen gemeinsamen Sitzungen im Bonhoefferschen Hause in der Wangenheimstraße daran gearbeitet. Da leider keine handschriftlichen Entwürfe mehr vorhanden sind, sondern nur ein maschinengeschriebener Entwurf in mehreren Exemplaren mit den jeweils gleichen handschriftlichen Änderungen 111 , ist eine Quellenscheidung nahezu unmöglich. Hildebrandt erinnerte sich auch selbst, „wie wir über etwaige zukünftige Textkritiker scherzten, die immer dem einen zuschreiben werden, was der andere verfaßt hatte; in Wirklichkeit war das ganze harmonisch zusammen formuliert und verriet nichts von unseren verschiedentlichen theologischen Debatten"112. Soviel ist klar: „Anstoß und ein erheblicher Arbeitsanteil" 113 kamen von Hildebrandt, insbesondere der Luthertext114, der statt des Apostolikums die Basis für den Katechismus bildete. Dieser Text aus einer Katechismuspredigt Luthers von 1528 war eine frühe Entdeckung Hildebrandts. Schon am 14. Oktober 1928, bei einer Predigt in Glindow über Joh 9,35-38, hatte er ihn als Glaubensbekenntnis und Predigtthema genommen und gesagt: „Alle Worte, die wir hier in der Kirche reden, hören und bekennen, können uns nicht selig machen, wenn nicht ein jeder von uns weiß: das ist gerade für mich bestimmt, das hat Gott gerade für mich getan."115 Sowohl für Hildebrandt als auch für Bonhoeffer, der als Harnack-Schüler das Apostolikum für nicht angemessen hielt116, verkörperte dieses Lutherwort die spezifisch evangelische Form christlichen Glaubens; es war „eine Formulierung des Glaubensbekenntnisses, die der dogmatischen und liturgischen Beachtung gar nicht dringend genug empfohlen werden kann"11-! Es wurde fortan so etwas wie ein Erkennungszeichen der beiden Freunde, die diese Form des Bekenntnisses (und nicht das Apostolikum!) so gut wie immer als Glaubensbekenntnis in Gottesdiensten verwendeten 118 . Auch der Titel Glaubst du, so
Widmungsexemplar in der Bibliothek Hildebrandts, Edinburgh. DBW 11, S. 2 2 8 - 2 3 7 ; vgl. auch DB, S. 228ff. 111 Zwei Exemplare sind im NLH, einer im NACHLASS BONHOEFFER (vgl. dort S. 33). 112 A n M. Leibholz, 21.6.1978 (NLH, 9251/22). i" DB, S. 228. 114 WA 30/1, 94. 115 Predigtmanuskript (NLH, 9251/53). 116 Vgl. DBW 1, vor allem S. 295; vgl. auch DBW 11, S. 2 8 3 - 2 8 5 . 1,7 EST, S. 99 A n m . 364. 118 Vgl. die Erinnerungen von E. STECK, Dahlem, S. 87, sowie das Schreiben von Rieger, 27.12.1975: „Bei den Gottesdiensten [Bonhoeffers], bei denen ich zugegen war, wurde es immer statt des Apostolicums gesprochen" (NLH, 9251/24; vgl. auch DB, S. 229). 109 110
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hast du, die Paraphrase eines Luther-Satzes aus der Freiheitsschrift, stammt sicher von Hildebrandt, denn er hatte diese Formulierung schon in seiner Dissertation zitiert119. In 36 Fragen und Antworten wird in dem Katechismus der christliche Glaube dargestellt. Die erste Frage richtet sich nicht nach Gott, sondern fragt: „Was ist Evangelium?" In der Antwort zur zweiten Frage: „Wer ist evangelisch?" taucht dann der erwähnte Luthertext auf, der für die Freunde so bestimmend war. Die weiteren Fragen thematisieren das Wissen von Gott und entfalten den Glauben nach den Artikeln. Auch Fragen wie „Wo bleibt der Beweis dafür?" und „Widerspricht nicht die Schöpfung der Wissenschaft?" werden behandelt. Die Gottesbeziehung, jedes Reden über Gott wurzelt im Geheimnis Gottes120. Doch: „Gottes Ordnungen sind zerstört", und nur im Glauben können wir erkennen, „daß Gott uns gehört und wir ihm". Im Teil zum ersten Artikel stehen auch die Fragen nach den „Regeln für das leibliche Leben" und die drei Fragen, die politisch am brisantesten waren: „Aber muß man nicht im Krieg Leben zerstören?" mit der Antwort: „Eben darum weiß die Kirche nichts von einer Heiligkeit des Krieges. Hier wird mit entmenschten Mitteln der Kampf ums Dasein geführt. Die Kirche, die das Vaterunser betet, ruft Gott nur um den Frieden an."121 Diese Formulierung ging noch weit über das hinaus, was etwa Otto Dibelius, damals Generalsuperintendent der Kurmark, in seinem Manifest „Friede auf Erden" als „christlichen Pazifismus" entwickelt hatte122. Schon dies galt in der evangelischen Christenheit der Weimarer Republik als kaum mehr konsensfähig. So folgt denn bei Bonhoeffer und Hildebrandt die nur zu verständliche Frage „Ist das nicht vaterlandslos?" mit der Antwort, die auf Apg \7,2G verweist und festhält: „Darum ist völkisches Trotzen auf Fleisch und Blut Sünde wider den Geist. Der blinde Eifer, der nur sich selbst behauptet, wird im Staat gebändigt, ihn hat Gott in sein Amt eingesetzt, daß wir als Christen ihm dienen." Diese Antwort verbindet in für Hildebrandt ganz typischer Weise einen Internationalismus des Geistes (im Hegeischen Sinn) mit dem lutherischen Mandatsdenken vom Staat als „Erhaltungsordnung"123.
119
EST, S. 27 (vgl. die weiteren Nachweise in DBW 11, S. 228 Anm. 2). Vgl. dazu H.-J. ABROMEIT, Geheimnis, S. 99. 121 „nur um den Frieden" ersetzt das gestrichene: „nicht um den Sieg der Waffen"; dies ist in DBW 11, S. 232 zu ergänzen. 122 O . DIBELIUS, Friede, S. 174ff.; vgl. dazu etwa DBW 10, S. 619. 123 Zur „Erhaltungsordnung" vgl. auch Bonhoeffers Thesen vom 19.1.1932 (DBW 11, S. 237f.). Es ist nicht angängig, gerade diesen Abschnitt des Katechismus Bonhoeffer allein zuzuschreiben (so C. STROHM, Ethik, S. 37f.). Vgl. auch den Verweis Hildebrandts auf Apg 1^26 im „Wort von den Juden" (unten S. 284.). 120
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Die frühen Jahre
Schließlich folgt die Frage, an deren Beantwortung die beiden Freunde am längsten herumgefeilt haben: „Wie soll sich der Christ politisch verhalten?" In einem ersten Antwortentwurf wird nur auf einen möglichen Gewissenskonflikt abgezielt und stark die Distanzhaltung betont. Wahrscheinlich durch Bonhoeffer kam der Gedanke hinzu, daß, auch wenn der Christ am liebsten sein Gewissen vom politischen Kampf rein halten würde, ihn doch das Gebot der Liebe dränge, „auch hier in persönlicher Entscheidung den Willen Gottes zu tun". Es ist offensichtlich, daß gerade in dieser Frage die unterschiedlichen Standpunkte der beiden Freunde deutlich werden. Ging es Bonhoeffer immer darum, das „konkrete Gebot" 1 2 4 auch und gerade im täglichen und politischen Bereich zu sehen und zu befolgen, war Hildebrandt hier viel skeptischer. Wenn Bonhoeffer formulierte: „Wo immer er [der Christ] versucht, seine christliche Pflicht mit der Politik zu vereinen, erfährt er, daß er aus eigener Kraft nichts vermag", blieb Hildebrandt pessimistischer: „In jeder Entscheidung erfährt er den unversöhnlichen Zwiespalt zwischen dem Frieden Christi und dem Haß der Welt." Die weiteren Fragen und Antworten spannen den Bogen von „Hat Jesus gelebt?" bis hin zu „Was wissen wir vom ewigen Leben?" und kurzen Merksätzen über Konfirmation und Abendmahl. Hans-Jürgen Abromeit hebt zurecht die zentrale Stellung hervor, die das „Geheimnis" Gottes in diesem Katechismusentwurf hat 125 . Es begegnet in jedem der drei den Artikeln zugeordneten Hauptteile: das Geheimnis des Vaternamens, das Geheimnis des Kreuzes und das Geheimnis der Erwählung. Im Glauben kommt man weg von der Furcht und hin zu der Erkenntnis: „In der Mitte der Geschichte steht das Kreuz des Christus, der für alle gestorben ist." 126 Im Glauben gewinnt man Gewißheit, und noch einmal betonen die beiden Freunde mit Luther: „Das aber ist der christliche Glaube: wissen, was du tun sollst und was dir geschenkt ist." „Für Konfirmanden und doch nicht nur für sie bestimmt", erschien der Katechismus 1932 in der „Monatsschrift für Pastoraltheologie". Es ist anzunehmen, daß Fendt als Mitherausgeber die Veröffentlichung dieser Arbeit seines Vikars ermöglicht hat. Als ein Jahr später in der Auseinandersetzung mit der Theologie der Deutschen Christen deutlich wurde, daß ein „neues Bekenntnis" notwendig sei12^ galt der Katechismus der beiden Freunde in Kreisen der Jungreformatorischen Bewegung als Musterbeispiel eines neuzeitlichen Bekenntnisses und wurde von ihr - neben dem Altonaer Bekennt-
Vgl. besonders DBW 11, S. 327 ff., 334. 125
H . - J . A B R O M E I T , Geheimnis, S. 9 9 - 1 0 1 .
Vgl. das von Bonhoeffer gern benutzte Motto der Kirchengeschichte seines Urgroßvaters Karl August von Hase: „Der Herr der Zeit ist Gott, der Zeiten Wendepunkt Christus: Der rechte Zeitgeist ist der heilige Geist" (vgl. etwa DBW 10, S. 517). 127 Vgl. JK 1, 1933, S. 86f. 126
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nis von Anfang 1933 - als vorläufige Grundlage zur theologischen Schulung der Gemeinde empfohlen128. Kehrte Bonhoeffer auch in seiner Verantwortung als Predigerseminardirektor bald zu traditionelleren Formen zurück 129 , so gestand Hildebrandt gegenüber Eberhard Bethge noch 1960: „Ich finde übrigens unsern ersten Katechismus von 1931 doch noch immer interessanter, origineller und geschliffener als den viel traditionelleren und langweiligeren späteren Entwurf [Bonhoeffers]. " 1 3 0 Der Religionspädagoge Oskar Hammelsbeck hat die Bedeutung des Katechismus-Projektes aus religionspädagogischer Sicht hervorgehoben: Der Entwurf der beiden jungen Theologen durchbrach das orthodoxe Schema, indem er erstmals damit ernst machte, daß die „Katechumenen" die Subjekte des kirchlichen Unterrichts sind und also diejenigen, die die Fragen stellen131. Das machte die Modernität und „Unmittelbarkeit" 132 aus, die Bonhoeffer später in seinem Finkenwalder Katechismus nicht mehr errreichte. Ein Vierteljahr später, am 15. November 1931, wurde Bonhoeffer in der Berliner Matthäuskirche ordiniert. Noch am selben Tag besuchte er den Abendgottesdienst Hildebrandts mit der Predigt zum 100. Todestag Hegels in der Kirche Zum Heilsbronnen133. Später sollte Hildebrandt über die „Jugendsünden"134 eines solchen Predigttitels, wie er sie nun nannte, eher lächeln; er blieb aber dabei, trotz aller Kritik „am Erbe der großen idealistischen Tradition" nicht vorbeizugehen135. Zur .„Moderne', ob sie Barth oder Heidegger hieß"136, fand er allerdings nie einen Zugang, im ausgesprochenen und ständig disputierten Gegensatz zu Bonhoeffer, der der „gegenwärtigen Philosophie und Theologie" 137 stets aufmerksam-kritisch zugetan blieb. Nachdem Hildebrandt im Juni 1932 endlich erreichte, „mit Rücksicht auf die von ihm abgelegte Licentiatenprüfung und seine weitere praktische Betätigung bei dem Pfarrer D. Fendt" endgültig vom Besuch eines Predigerseminars befreit zu werden138, konnte er sich unverzüglich zum Zweiten Examen 128 Was ist jetzt die Aufgabe? 0 K 1, 1933, S. I M , hier S. 120); vgl. DB, S. 354 (falsche Seitenangabe) sowie P. NEU MANN, Jungreformatorische Bewegung, S. 146 (die Anm. 13 ist falsch). 129 Vgl. den Konfirmandenunterrichtsplan vom Oktober 1936 (DBW 14, S. 786-819). 130
A n Bethge, 4 . 7 1 9 6 0 (SAMMLUNG BETHGE,
WACHTBERG).
O . HAMMELSBECK, Erwägungen, S. 232. 132 Ebd. 133 Texte: Gen 3,22; Joh 17,3; Thema: „Die Erkenntnis Gottes" (Predigtalbum: N L H , 9251/2). Vgl. auch oben S. 32. 134 „Alle meine Jugendsünden kommen hier ans Licht" (an M. Leibholz, 21.6.1978: N L H , 9251/22). 1 3 5 Ebd. 131
136
A n S . u n d G . L e i b h o l z , o . D . [ O k t . 1 9 7 7 ? ] ( K o p i e in S A M M L U N G B E T H G E ,
WACHTBERG).
Vgl. DBW 10, S. 357; DBW 12, S. 153 ff. 138 Antrag Hildebrandts, 29.4.1932, und Befürwortung des Konsistoriums, 2.6.1932 ( E Z A BERLIN, 7/11211); Erlaß des EOK vom 11.6.1932 ( N L H , 9251/27). 137
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melden. Neben einer (später von Hildebrandt selbst aus der Akte für immer „entliehenen"139) Hausarbeit über „Die Abendmahlsnot in der gegenwärtigen evangelischen Christenheit und ihre Uberwindung" mußte er eine Predigt über 1 Thess 5,9—II140 und eine Katechese über die siebte Bitte des Vaterunsers anfertigen. Aufschlußreich ist die Klausur, die Hildebrandt am 1. Oktober 1932 über das aktuelle Thema „Sind politische Predigten berechtigt?" zu schreiben hatte141. Wie immer teilte er seine Antwort in drei Teile, die er mit „Der Anspruch der Bibel", „Der Anspruch der Gemeinde" und „Der Anspruch des Staates" überschrieb. Im ersten Teil würdigt er in Barths Auslegung von Römer 13 „die rein negative Haltung des Nicht-Protestierens und Nicht-Rebellierens gegenüber der vorhandenen Obrigkeit" und zieht den Schluß: „Uber die Anweisung zur loyalen Staatsbürger-Pflicht-Erfüllung hinaus gibt es im NT keine politische Predigt." Im zweiten Teil stellt er heraus, wer die Antwort des Evangeliums wirklich suche, werde „auch für seine politischen Fragen finden, was er braucht; er wird aus dem Schweigen der Bibel und der Predigt über manches, was ihn bewegt, lernen, zum ersten nach dem Reich Gottes zu trachten." „Haben nicht die ersten christlichen Gemeinden mit ihrer politischen Indifferenz eine unvergleichlich größere Wirkung auch auf politischem Gebiet gehabt als die Politiker ihrer Zeit?" Schließlich bejaht Hildebrandt den „Anspruch des Staates" darauf, daß die Kirche auch seine Sorgen zu den ihren mache und Kirche des Volkes sei. Sie könne das aber nicht anders als durch die Predigt des Wortes tun: „Nur wenn die Predigt wirklich Predigt, die Kirche wirklich Kirche ist, kann sie dem Staat geben, was des Staates ist. Das Wort muß es bringen - es gibt keine andere Macht, auf die die evangelische Christenheit sich verlassen könnte. Unsere Politik ist das Evangelium - aber wehe uns, wenn unser Evangelium die Politik ist." Manche Gedanken aus dieser Klausur wiederholte Hildebrandt einige Jahre später, etwa in der Kontroverse mit Barth im Herbst 1938 oder in den Diskussionen über die Radioandachten der BBC im Krieg. Aber er modifizierte seine Haltung der „politischen Indifferenz" auch, nicht zuletzt durch seine eigenen Erfahrungen und durch die Diskussionen mit Bonhoeffer, und in Das Evangelium und Humanität protestierte er vehement gegen das Schweigen der Bekennenden Kirche zu Gewalt und Barbarei. Am 3. und 4. Oktober 1932 fand die mündliche Prüfung statt. Im Fach „Praktische Theologie III", das Konsistorialrat D. Ernst Schubert prüfte, nahm Hildebrandt klar gegen die Deutschen Christen Stellung. Das Protokoll vermerkt: „Gegen die Reichskirche der Deutschen Christen ist zu sagen, 139
Vermerk vom 31.3.1936 (PA). Hildebrandt hielt diese Predigt am 6.8.1932 in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche und am 11.9.1932 in der Paul-Gerhardt-Kirche in Berlin-Schöneberg (Predigtalbum: Ν LH, 9251/2). 141 Handschriftlich, 8 Seiten (PA); die Klausur wurde mit „Bestanden" beurteilt. 140
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daß der Bekenntnisstand der einzelnen Kirchen dagegen hinderlich ist, der hier aufgehoben wird. Neuere [?] theolog. Richtungen sind dagegen. Nicht deutschehristlich sondern chrìstl. Gemeinde nach der C.A." 1 4 2 Anschließend erhielt der Kandidat das Zeugnis über das insgesamt mit „Recht Gut" bestandene Examen. Die Examensfeier am Abend des 4. Oktober 1932 war die Gelegenheit, bei der der Freund „Bonhoeffer" zu „Dietrich" wurde. Der Ubergang zum „Du" war in der damaligen Umgangskultur, wie Hildebrandt noch 1978 hervorhob, „noch etwas ganz besonderes" 143 und ein wichtiger Schritt, der ganz konkrete Folgen hatte. Eine davon war die Aufnahme in den Kreis der Familie des Freundes: „Es dauerte nicht lange, bis ich in der Familie zu Hause war." 144 Das Bonhoeffersche Elternhaus in der Wangenheimstraße wurde für Hildebrandt zum zweiten Zuhause. Er erlebte es als eine „Oase der Freiheit mit frischer Luft und gutem Humor" 1 4 5 . Bonhoeffer kam dagegen nie in Hildebrandts Elternhaus 146 . Daß dieses für Gäste so wenig offen stand, mag an der Krankheit Edmund Hildebrandts gelegen haben. Die Anbindung Hildebrandts an die Bonhoeffersche Großfamilie verstärkte sich im Laufe der Jahre noch: Es entwickelte sich für ihn zur festen Gewohnheit, seine freien Sonntagnachmittage zunächst in der Wangenheimstraße, seit 1935 in der Marienburger Allee, bei Schleichers oder Dohnanyis, Klaus und Emmi Bonhoeffer zu verbringen14? Bei den jüngeren Familienmitgliedern, Bonhoeffers Neffen und Nichten, war „Onkel Franz" besonders gern gesehen und beliebt 148 . Sein Klavierspiel bereicherte zusätzlich die Bonhoeffersche Hausmusikkultur. 1932 war nicht nur in politischer Hinsicht, sondern auch kirchlich ein entscheidendes Jahr. Am 31. Juli wurde der Reichstag gewählt, die kirchlichen Körperschaften am 13. November, und bei dieser Wahl erlangten die erstmals kandidierenden Deutschen Christen durchschnittlich ein Drittel der Sitze 149 . Ein Text schien den beiden Freunden am ehesten zu den Zeichen der Zeit zu passen: 2 Chr 20,12: „Wir wissen nicht, was wir tun sollen, aber unsere Augen sehen nach dir". Hierin sahen sie beides ausgedrückt: das Nichtwissen um das, was tatsächlich zu tun sei, die letzte Unsicherheit jeder „christlichen" Aussage in politischen Dingen, und zugleich die einfache Notwendigkeit des konkreten Gebotes in der christlichen Ethik.
142 EZA BERLIN, 14/1250. i« An M. Leibholz, 21.6.1978 (NLH, 9251/22). 144
A n M . Leibholz, 2 4 . 5 . 1 9 7 8 (EBD).
145
Bibl. Nr. 52, S. 32. Nach dem Interview mit Nancy Hildebrandt (NLH, 9415/2, S. 18). An M. Leibholz, 12.6.1978 (NLH, 9251/22). Vgl. Renate Bethge/Ilse Tödt, Nachwort (DBW 7, S. 234). Zur Bewertung dieser Wahl vgl. K. SCHOLDER, Kirchen, Bd. 1, S. 273.
146 147 148 149
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Die frühen Jahre
Bonhoeffer predigte über diesen Text am Sonntag Exaudi, dem 8. Mai 1932150 13 j a h r e später machte Hildebrandt diesen Text, in dem er Bonhoeffers - und doch wohl auch sein eigenes - Lebensthema sah, beim Gedenkgottesdienst für Bonhoeffer in London 1945 zur Grundlage seiner Predigt151. Bonhoeffers Bemerkung gegenüber seinem Schweizer Freund Erwin Sutz, den er in New York kennengelernt hatte, „es scheint mir gegenwärtig so, als ob man den Sakramentsbegriff hineinziehen müsse, wenn man über die Grade der Sicherheit der Verkündigung des Heils und des Gesetzes nachdenkt", und seine Gewißheit, daß er mit Barth in diesem Punkt nicht übereinstimme 152 , sind ein Widerschein der intensiven Diskussionen mit Hildebrandt und dessen Einsichten, wie sie etwa in EST dargelegt sind. Bonhoeffer mag in diesem Jahr, besonders in seinen Predigten, „etwas Grüblerisches an sich" gehabt haben 153 . Hildebrandt hat sich jedoch mehrfach an den in diesem Jahr besonders deutlichen „Vorsprung" Bonhoeffers in der Beurteilung der politischen Lage erinnert. Vor der Reichstagswahl im Juli 1932 beispielsweise fragte Bonhoeffer Hildebrandt: „Was wählst Du?" Hildebrandt erinnerte sich: „Ich hatte mich für den Christlichen Volksdienst entschieden, eine harmlose, von süddeutschen Pastoren inspirierte Partei, das geringste Übel, so schien es mir, gegenüber den unmöglichen Alternativen von den sturen Deutschnationalen und den betont antikirchlichen Sozialdemokraten. Dietrich lehnte das mit einer Handbewegung ab: ,Ich wähle Zentrum (die katholische Partei). Es kommt jetzt nur noch darauf an, die Nazis von der Macht fernzuhalten'. A m Ende stimmten beide Parteien für das fatale Ermächtigungsgesetz im März 1933, das den Nazis unbeschränkte Macht gab; aber die Sicherheit des politischen Instinktes bei Dietrich ist bedeutsam und weist auf spätere Entscheidungen hin" 154 .
Am Sonntag der Reichstagswahl vom Juli 1932 predigte Hildebrandt in der Annenkirche in Dahlem über Lk 19,42: „Wenn du doch erkenntest, was zu deinem Frieden dient; aber nun ist's vor deinen Augen verborgen." 155 Am Kirchenwahlsonntag im November wollte Hildebrandt zunächst über Gal 1,6 predigen und die Einheits-Wahlliste seiner Gemeinde am Heilsbronnen angreifen, die auch die Deutschen Christen repräsentierte und eine echte Wahl unmöglich machte. Auf dringendes Zuraten von Fendt entschloß er 150 DBW 11, S. 4 1 6 - 4 2 3 . Nach E . BETHGE (Hildebrandt, S. 4) wurde Bonhoeffer durch Hildebrandt zu dieser Predigt veranlaßt. 151 Bibl. Nr. 34, S. 13. Vgl. zur Bedeutung des Textes für Bonhoeffer vgl. a u c h H . - J . ABROMEIT, Geheimnis, S. 154 f. 152 Brief vom 175.1932 (DBW 11, S. 89); zur „Frage nach der Möglichkeit der Verkündigung des konkreten Gebotes durch die Kirche" vgl. auch EBD., S. lOOf.
D B W 11, Nachwort, S. 471. An M. Leibholz, 2 4 . 5 . 1 9 7 8 ( N L H , 9251/22). DB, S. 315 verlegt diese Unterhaltung vor die Reichstagswahl am 5 . 3 . 1 9 3 3 . 'ss An M. Leibholz, 27 6.1978 ( N L H , 9251/22). 153
Die Freundschaft mit Dietrich Bonhoeffer
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sich dann doch, lieber auf 2 Kor 13,5 zurückzugreifen und eine weniger eindeutige Predigt über „Christenheit und Christlichkeit" zu halten156. Besonders empörte Hildebrandt beim Zustandekommen der Einheitsliste die Rolle, die D. Wilhelm Philipps dabei spielte15-! Philipps, Leiter des Vereins für Berliner Stadtmission und Mitglied des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses - nach Hildebrandts eigener Meinung „eine der einflußreichsten Gestalten in der altpreußischen Kirche" 158 - hatte lange Jahre als Führer der „Positiven Union" gegen die Liberalen gekämpft. Nun aber zeigte er, wie Hildebrandt sich erinnerte, „eine merkwürdig weitgehende Bereitschaft zum Kompromiß, seitdem ihm bekannt war, daß seine kirchlichen Gegner jener Bewegung beigetreten waren, auf der nach seinen Worten die Hoffnung Deutschlands beruhte, ,wenn es noch einmal mit der blanken Waffe losgeht'; er war sogar geneigt anzunehmen, daß die ,liberalen' Pastoren jetzt auch (! !) ihre Meinung über die Auferstehung geändert hätten"159. In Das Evangelium und die Humanität dient Philipps' Verhalten für Hildebrandt als ein beschämendes Beispiel für die Gefangenschaft vieler Theologen in der Ideologie des „Volkstums" und der „schicksalsmäßigen Gegebenheiten": „Die falsche Lehre wird verziehen, wo die rechte Politik gewahrt bleibt." 160 Am eigenen Leibe erlebte Hildebrandt „die instinktive Verachtung aller .Humanitätsduselei' und das grundsätzliche Mißtrauen gegen Neuerungsbestrebungen, die aus der Richtung von 1789 kommen", und mußte zusehen, wie „der Verdacht, politisch Jinks' zu stehen, in gewissen kirchlichen Kreisen den Menschen schwerer belastet als ein handfestes Vergehen gegen das Bekenntnis der Kirche"161. Es waren derartige Erfahrungen, die in Bonhoeffer und Hildebrandt in jenem Herbst 1932 das Gefühl entstehen ließen, „theologische Obdachlose" und „Existenzen irgendwie am Rande unserer Kirche" zu sein162. In den Erfahrungen des Jahres 1932 wurde der Grund gelegt für den leidenschaftlichen Einspruch der beiden Freunde gegen jede Verhandlungs- und Vermittlungsposition mit den „gemäßigten" Deutschen Christen, mit dem die beiden ein Jahr später Martin Niemöller konfrontierten.
Vgl. N . HILDEBRANDT, NO Winter, S. 31; Predigtalbum ( N L H , 9251/2). An M. Leibholz 2Z6.1978 ( N L H , 9251/22); vgl. auch E H , S. 67a. 158 E H , ebd. 159 EBD. - Es soll jedoch nicht verschwiegen werden, daß Hildebrandt durchaus nicht wie Karl Barth alle „liberale" Theologie mit der der Deutschen Christen gleichsetzte; vielmehr erkannte er im „alten Liberalismus" das objektive Bemühen „um ein ,besseres' Verständnis des Evangeliums, und der kirchliche Instinkt ist in ihm noch nicht soweit ausgelöscht, daß nicht ein ,Rest' aus seinem Samen den Weg auf die Seite des Bekenntnisses gefunden hätte" (EH, Anm. zu S. 68). 160 EH, S. 58, vgl. auch unten S. 162. 161 EH, S. 67 i « Bonhoeffer an Sutz, 2710.1932 (DBW 11, S. 117f.). 156
157
3. Κ Ε Ι Ν Ε ZEIT D E R I L L U S I O N E N : 1933
3.1. „Das letzte Kind der vor-Hitlerschen Kirche" Nach dem Zweiten Examen eröffnete sich für Hildebrandt im Herbst 1932 kurzfristig die Aussicht, als Hilfsprediger an die deutsche Gemeinde in Rom zu wechseln1. Es ist wahrscheinlich, daß dieses Angebot von Ernst Schubert ausging, dem Pfarrer der Zwölf-Apostel-Kirche in Berlin, der Hildebrandt im Zweiten Examen geprüft hatte und zuvor bis 1927 Pfarrer der deutschen Auslandsgemeinde in Rom gewesen war. Doch der Plan zerschlug sich rasch wieder. In Hildebrandts Erinnerung war dies „vielleicht kein Zufall", - der „Zug nach dem Süden", den Hildebrandt für eine typisch deutsche Charaktereigenschaft hielt, der seine Eltern prägte und den er auch bei Dietrich Bonhoeffer durchschimmern sah, blieb ihm als Ausdruck von Romantik immer fremd und suspekt2. So blieb Hildebrandt zunächst ein weiteres halbes Jahr bei Fendt an der Kirche Zum Heilsbronnen. Dann erhielt er ein eigenes Aufgabenfeld und siedelte im März 1933 als Hilfsprediger nach Kleinmachnow bei Berlin über, beauftragt mit der alleinigen Verwaltung der Pfarrstelle3: „Ich dachte damals den Rest meiner Tage dort verbringen zu dürfen."4 Kleinmachnow war eine in den zwanziger Jahren schnell gewachsene Siedlungsgemeinde, die zwar noch zum Pfarrsprengel Stahnsdorf gehörte, aber schon auf dem Weg zur Eigenständigkeit war. Hildebrandts besondere Aufgabe war dementsprechend Gemeindeaufbau rund um das von der Berliner Synode erbaute Gemeindehaus in der Siedlung Eigenherd durch „Hausbesuche, Bibelstunden, Pflege der bestehenden Vereine und Vereinigungen, Unterricht und Gottesdienste" mit dem Ziel, „das Bewußtsein zu übermitteln, daß die Siedlungsgemeinschaft von einer größeren und höheren Gemeinschaft des Glaubens und der
Vgl. N . HILDEBRANDT, R o m e Diary, S. 92. „Dinge wie seine Verteidigung des Stierkampfs in Spanien, sein Brief (Gedicht?) an Maria über die Macht der Sonne, die Bemerkung (an Eberhard?) nach einer Romreise: ,ich habe den Katholizismus wieder von Herzen liebgewonnen' machen mir sehr zu schaffen" (an M. Leibholz, 5.6.1978: N L H , 9251/22). Z u m Angesprochenen vgl. DBW 9, S. 9, 89; DBW 10, S. 48 und das Nachwort EBD., S. 609, 633 sowie BRAUTBRIEFE, S. 42. 3 Beauftragung des Konsistoriums vom 22.2.1933 für die Zeit vom 1.3.1933 bis 31.10.1933 für „den Hilfsdienst in den Kirchengemeinden des Pfarrsprengels Stahnsdorf" (PA, auch E Z A BERLIN, 2 9 / G 382 und N L H , 9251/27). 4 Bibl. Nr. 64, S. 5. 1
2
,Das letzte K i n d der vor-Hitlerschen K i r c h e "
47
Liebe getragen sein müßte" 5 . Die Beauftragung zeigte, daß man im Konsistorium dem jungen Hilfsprediger einiges an Kompetenz und Verantwortung zutraute. Doch die gesellschafts- und kirchenpolitische Lage veränderte sich in diesen ersten Monaten der nationalsozialistischen Machtergreifung rasant. Von der Kanzel der Kleinmachnower Kirche bezog Hildebrandt am 28. Mai 1933 erstmals konkret kirchenpolitisch Stellung, als er seine Predigt über Joh 14,21-25 unter dem Leitgedanken „Kirche der Welt oder Kirche des Wortes?" dazu nutzte, um vehement für den am Vortag von den Vertretern der Landeskirchen zum Reichsbischof gewählten Friedrich von Bodelschwingh Partei zu ergreifen6. Uber Hildebrandts kirchenpolitische Aktivitäten urteilte sein Vorgesetzter, Superintendent Max Diestel: „Seine Tätigkeit fiel in die Monate kirchenpolitischen Kampfes. Es ist selbstverständlich, daß dabei seine eigene Uberzeugung bei dem Einen oder Anderen Anstoß erregen mußte. Es ist jedoch bemerkenswert, daß die Innerlichkeit seines Wesens und der tiefe Ernst seiner Haltung auch auf solche, die nicht mit ihm gehen konnten, so weit ich unterrichtet bin, einen starken Eindruck gemacht haben und von keiner Seite bestritten wurden."
In Hildebrandts Elternhaus stand man der neuen Lage mit gemischten Gefühlen gegenüber, ohne daß es darüber zu einer Aussprache kam. Vater und Sohn entfremdeten sich mehr und mehr. Am 21. März hatte Hitler den Staatsakt zur Eröffnung des Reichstages zum „Tag von Potsdam" stilisiert, einem Tag mit „illusionärem Glanz"? Wenig später verlieh das Ermächtigungsgesetz vom 24. März Hitler diktatorische Vollmachten, gleichzeitig „erreichte die öffentliche antisemitische Hetze in Deutschland ihren ersten Höhepunkt" 8 mit dem Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April. Hildebrandt reagierte darauf, indem er sich am 2. April einen Reisepaß ausstellen ließ9, - ein erster Schritt, um eine eventuell nötig werdende Emigration zu ermöglichen. In dieser Situation schrieb Edmund Hildebrandt am 5. April 1933 an die Publizistin Julie Braun-Vogelstein, eine alte Freundin der Familie: „Potsdam! herrlich! aber die Kehrseite der Medaille! Was würden die Patrioten Heinrich und Otto [Braun] dazu sagen [...]. Der Rest ist Schweigen, auch über den jungen Theologen, dessen Sie sich so freundlich erinnern, ohne ihn noch zu kennen. In diesen Tagen ist die innere Kluft, die mich von ihm trennt, ins hundertfache vergrößert. Dieser Kummer ist der letzte, den ich dem sogenannten ,lieben
5 Alle Zitate aus dem Zeugnis „Betr. Tätigkeit des Pastors Lic. Hildebrandt in Klein-Maclinow" von Diestel, 20.10.1933 ( N L H , 9251/27 und E Z A BERLIN, 29/ G 382). 6 Vgl. DB, S. 333. Text und Thema nach dem Predigtalbum ( N L H 9251/12); ein Predigtmanuskript ist nicht erhalten. 7
K . S C H O L D E R , K i r c h e n , B d . 1, S . 2 9 6 .
» EBD., S. 335. 9 Eintrag in der Identity-Card ( N L H , 10053).
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K e i n e Z e i t d e r Illusionen: 1 9 3 3 G o t t ' v e r z e i h e n w e r d e . I m Ü b r i g e n ist d e r F r a n z e i n h o c h a n s t ä n d i g e r ,
allgemein
beliebter frischer u n d intelligenter M e n s c h . " 1 0
Edmund Hildebrandts Hoffnung, daß der „schaurige Spuk" des neuen Regimes bald vorüber sein würde, erfüllte sich nicht. Immer mehr vergrub er sich darum in den folgenden Jahren in seiner Wohnung und ging kaum noch aus dem Haus. Erholung suchten er und seine Frau Jahr für Jahr in Italien, das für sie trotz des dort herrschenden Faschismus Rückzugsraum und „kultivierte Region" blieb, „denn grausame Mienen und verhärmte und verängstigte Gesichter" waren ihm unerträglich11. Erste Hinweise auf eine zu erwartende Gleichschaltung der Kirche und Warnungen, daß die neue Lage auch für Hildebrandt wegen seiner „nichtarischen Abstammung" existentielle Folgen haben würde, erreichten ihn Anfang Juni 1933 von seinem Konfirmator Albert Freitag12. Freitag hatte sich früh den Deutschen Christen angeschlossen, war 1932 „Sachberater für Religionsunterricht und Schule" geworden und nun zum „Reichspressewart" der „Reichsleitung der Glaubensbewegung Deutsche Christen" aufgestiegen. Hildebrandt reagierte sofort und stellte einen Antrag, vom Erfordernis des „kanonischen Alters" für die Ordination (Vollendung des 25. Lebensjahres) dispensiert zu werden. Seine Begründung läßt von den Bedrängnissen freilich nichts ahnen und bezieht sich nur auf Erfordernisse des Dienstes, „damit ich in der kirchlichen Versorgung der Gemeinde Klein-Machnow nicht fortgesetzt behindert bin und vor allem auch die Vertretung des geschäftsführenden Pfarrers für Stahnsdorf und Klein-Machnow in seiner bevorstehenden Urlaubszeit übernehmen kann" 13 . Das Konsistorium und der Evangelische Oberkirchenrat genehmigten im Eilverfahren „um der Gemeinde willen" diese Ausnahme. So wurde Hildebrandt, wie er es sah, als „buchstäblich ,letztes Kind' der vor-Hitlerschen Kirche" 14 am 18. Juni 1933 durch den greisen Generalsuperintendenten D. Gustav Haendler in St. Nikolai, der Kirche Paul Gerhardts, ordiniert, gemeinsam mit Reinhard Busch, Walter Hinz und Martin Rack 15 - eine Woche vor dem Rücktritt Bodelschwinghs als Reichsbischof und der Einsetzung August Jägers zum Staatskommissar 16 . Nach ihrer Ordination unterschrieben die Neuordinierten
10
Kopie als Beilage eines Briefes von J . Braun-Vogelstein, 6 . 4 . 1 9 7 0 ( N L H , 9 2 5 1 / 2 4 ) ; vgl. auch
die weitere Korrespondenz in der Julie Braun-Vogelstein-collection im LBI NEW Y O R K . 11
J . BRAUN-VOGELSTEIN, Was niemals stirbt, S. 3 8 2 , vgl. E B D . , S. 3 8 4 f .
12 Vgl. oben S. 2 4 . 13
Der Antrag datiert v o m 1 8 . 5 . 1 9 3 3 ; am 3 . 6 . leitete das Konsistorium ihn „mit warmer Befür-
wortung" weiter, und am 1 4 . 6 . 1 9 3 3 wurde er „fernmündlich" durch den E O K genehmigt (PA und E Z A BERLIN, 7/11213). 14
Lebenslauf (PA und IfZ MÜNCHEN, M A 1500).
15
Vgl. E Z A B E R L I N , 14/„Ordinations- und Vereidigungsliste", aus der auch hervorgeht, daß
tatsächlich dann Willy Süßbach a m 2 4 . 9 . 1 9 3 3 der letzte noch ordinierte „Nichtarier" war. 16
Vgl. K . SCHOLDER, Kirchen, B d . 1, S. 4 5 0 f f . ; vgl. auch D B , S. 341 f.
„ D a s letzte Kind der vor-Hitlerschen Kirche"
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nach alter Tradition das in St. Nikolai verwahrte Berliner Konkordienbuch. Sein Leben lang bewahrte sich Hildebrandt eine Photographie der Unterschrift Paul Gerhardts aus eben diesem Buch in seinem Schreibtisch auf. Das Schicksal Gerhardts war für ihn auch stets ein Ansporn zur Widerständigkeit; schon mit der Ordination war ihm klar, daß er „in der gleichgeschalteten deutschen Kirche nicht dienen konnte"1^ Darum bemühte er sich - neben den oppositionellen Aktivitäten gegen die Deutschen Christen - um eine Auslandspfarrstelle. Nach einem Gespräch mit Theodor Heckel, dem zuständigen Referenten im für die Auslandsgemeinden zuständigen Kirchenbundesamt, bewarb er sich auf dessen Empfehlung 18 offiziell über das Konsistorium um eine Stelle, wieder mit einer neutralen Begründung, „um die Gelegenheit zu haben, vor dem Eintritt in ein hiesiges Pfarramt meinen Gesichtskreis zu erweitern und gründlicher, als ich es jetzt schon sein konnte, darauf vorbereitet zu werden" 19 . Eine Sondierung der Möglichkeiten, sich auf die vakante Stelle der deutschen Gemeinde Hengelo in Holland zu bewerben, brachte jedoch keinen Erfolg 20 . Das Angebot, als Hilfsprediger nach Windhoek zu gehen, lehnte Hildebrandt aus gesundheitlichen Gründen ab21. Eine nochmalige Befürwortung durch den Berliner Generalsuperintendenten Emil Karow: „Bei seiner reichen Begabung und seiner inneren Verbundenheit mit dem Evangelium glaube ich aber, daß er einer Auslands gemeinde wertvolle Dienste leisten wird" 22 , wurde über den Evangelischen Oberkirchenrat an die Einstweilige Leitung der Deutschen Evangelischen Kirche (Kirchenkanzlei) übermittelt, die die Aufgaben des Kirchenbundesamtes übernommen hatte. Doch im Oktober teilte ihm Heckel endgültig mit, „daß sich zur Zeit leider keine Möglichkeit zu Ihrer Verwendung im Auslandspfarrdienst der Deutschen Evangelischen Kirche bietet." Hildebrandt wurde aber in das Verzeichnis der Bewerber aufgenommen 23 . Auch der Versuch Diestels, seine ökumenischen Kontakte als geschäftsführender Präsident der deutschen Vereinigung des Weltbundes für Freundschaftsarbeit der Kirchen dafür zu nutzen, in der Schweiz eine Stelle für Hildebrandt zu ermöglichen, scheiterte. Ein Schweizer Korrespondent Dr. Herold betonte zwar, Hildebrandts Schicksal, „daß er nun, als nicht-arisch 17 Bibl. Nr. 64, S. 5. is Von Heckel, 25.7 33 (NLH, 9251/27): „Wenn Coulon oder Gruhl dieses Referat behält, dann ist keine Schwierigkeit zu erwarten." 19 „Gesuch des Hilfspredigers Lic. Hildebrandt um Verwendung im Auslandsdienst" vom 28.71933 ( E Z A BERLIN, 5/„ungeordnete Unterlagen"). Vgl. auch DB, S. 352 und EZA BERLIN, 5/1670. 21 An Karow, 11.8.1933 ( E Z A BERLIN, 5/„ungeordnete Unterlagen"). 22 Vermerk Karows, 12.8.1933 (EBD.). 23 Verfügung vom 26.10.1933 (NLH, 9251/27; Konzept im E Z A BERLIN, 5/„ungeordnete Unterlagen").
50
Keine Zeit der Illusionen: 1933
,auf die Gasse gestellt werden soll', ist etwas, was wir nicht begreifen", aber auch er sah keine Möglichkeit der Hilfe24. Am 3. September feierte Hildebrandt noch das dritte Jahresfest der Gemeinde in Kleinmachnow mit einem Gottesdienst, in dem er den Gemeindeaufbau in die biblische Perspektive stellte und über Apg 16,9-15: „Der Anfang einer Gemeinde" predigte. Doch Anfang Oktober verabschiedete er sich mit einem Abendmahlsgottesdienst und einer Predigt über Phil 1,3-5; 4,19: „Die Gemeinschaft im Abendmahl" aus Kleinmachnow. Mit der Übersendung der Zeugnisse nach Ablauf der „Hilfsdienstzeit" endete fürs erste der amtliche Verkehr Hildebrandts mit den kirchlichen Behörden.
3.2. Erste Überlegungen zur Opposition Seit 1932 waren Bonhoeffer und Hildebrandt Teilnehmer eines kleinen Zirkels von Pastoren, der sich bei Gerhard Jacobi, dem Pfarrer der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, traf. Als Arbeitskreis unter dem Thema „Kirche und Amt" war er von Jacobi und Hermann Sasse gegründet worden. Dieser Kreis wurde nun zu einer der Keimzellen der kirchlichen Oppositionsbewegung 1933, und hier hielt Bonhoeffer Ende März sein Referat „Die Kirche vor der Judenfrage"25. Ein Ereignis aus diesen bewegten Tagen beeinflußte Hildebrandt nachhaltig: Am 25. April 1933 legte Eduard Spranger, der Pädagoge, Philosoph und gute Freund der Familie, sein Amt nieder, - ein einsamer Protest gegen die ersten Maßnahmen zur „Gleichschaltung" der Universitäten, gegen „Gesinnungsdruck" und „Mißachtung der Religion, der Person, des Rechtsgedankens, des Volksgedankens und der Wissenschaft"26. Unter den mehr als 180 Zuschriften (zum allergrößten Teil Sympathieerklärungen), die Spranger
24
Herold an Diestel, 2 5 . 1 0 . 1 9 3 3 , von Diestel an Hildebrandt weitergesandt, 2 7 1 0 . 1 9 3 3 ( N L H ,
9251/27). 25
Der Kreis scheint sich normalerweise immer a m letzten Dienstag im Monat getroffen zu haben,
im Sommer 1933 dann wöchentlich montags, so jedenfalls Hildebrandts Kalendereinträge ( N L H , 9251/9):
„ 2 5 . 4 . 5 - 7 [ U h r ] Arbeitsgemeinschaft Jacobi abends Dietrich B. 3 0 . 5 . 5 Arbeitsgemeinschaft Jacobi 1 3 . 6 . 4 Arbeitsgemeinschaft Jacobi 2 0 . 6 . ! Λ 5 - 7 Arbeitsgemeinschaft Jacobi 3 0 . 6 . 8 Jacobi 2 5 . 7 6 Jacobi 3 1 . 7 Vi 6 Jacobi (Kreuzzeitungsartikel) 7 8 . y2 11 Jacobi 1 4 . 8 . 'Λ 6 J a c o b i . "
26
Spranger in einem Rechenschaftsbericht v o m 3 1 . 1 0 . 1 9 3 3 , zit. bei W . EISERMANN, Wirkungs-
geschichte, S. 3 0 0 . Vgl. auch Sprangers Briefe aus dieser Zeit ( E . SPRANGER, Briefe, S. 1 5 2 - 1 5 4 ) .
Erste Überlegungen zur Opposition
51
daraufhin erhielt2^ waren auch solche der Familie Hildebrandt. Edmund Hildebrandt schrieb am 28. April 1933, er selbst fände „keine Worte, um unsere Empörung auszudrücken in der jetzt geknechteten Welt des Geistes" 28 . Franz Hildebrandt drückte in einem eigenen Schreiben vom 16. Mai die Enttäuschung der Jüngeren aus, daß Sprangers Schritt so wenig Unterstützung fand: „Mit welch wehmütigem Stolz jetzt unsere Generation immer wieder Ihren Namen hört und nennt, brauche ich Ihnen nicht erst zu versichern." 29 Auch wenn Spranger Mitte Juni, enttäuscht von der Wirkungslosigkeit und der fehlenden Solidarität seiner Kollegen, seinen Schritt wieder rückgängig machte, 30 hatte er doch ein wichtiges Zeichen gesetzt und nicht zuletzt Hildebrandts Haltung und Schritte nachhaltig gefestigt31. Im Mai 1933 kam es zur ersten Formierung der kirchenpolitischen Fronten. Die Glaubensbewegung Deutsche Christen legte eine Grundsatzerklärung zur Kirchenreform vor, in der sie eine deutsche Reichskirche mit „Führerprinzip" und „Arierparagraphen" forderte. Als Reaktion darauf bildete sich die Jungreformatorische Bewegung, die nach ihrem Selbstverständnis „keine kirchenpolitische Gruppe im üblichen Sinne", „sondern eine Protestbewegung gegen die erstarrten Formen der alten kirchenpolitichen Parteien" 32 sein wollte. Am 9. Mai trat sie mit einem „Aufruf zur Sammlung" 33 an die Öffentlichkeit, in der die Unabhängigkeit der Kirche von politischer Beeinflussung betont, zugleich aber von der Kirche ein „freudiges Ja zum neuen deutschen Staat" gefordert wurde. Als Flugblatt gedruckt, wurde dieser Aufruf in Berlin zusammen mit einem „Aufruf von Berliner Pfarrern" 34 verbreitet, der „unverkennbar schärfer und bereits ,bekenntnisbewußter'"35 formuliert war. Zu den 37 Unterzeichnern, die im wesentlichen mit den Teilnehmern des Jacobi-Kreises identisch sein dürften, zählte auch Hildebrandt, der von nun an aktiv an der Bildung der Opposition beteiligt war. Dabei vergrößerte sich der Kreis derer, die sich der Gleichschaltung der Kirche widersetzten. Nach der Absetzung der Generalsuperintendenten durch den kurz zuvor als Staatskommissar eingesetzten August Jäger waren es schon 106 Berliner Pfarrer, darunter wiederum Hildebrandt, die in einer „Erklärung von
27 28 29 30
Vgl. deren Auswertung bei W. EISERMANN, Wirkungsgeschichte, S. 300ff. BA KOBLENZ, N L 182/191. EBD.; vgl. auch A. SALOMON, Charakter, S. 251 f. W . E I S E R M A N N , W i r k u n g s g e s c h i c h t e , S. 318f.
Von 1934 bis 1937 waren Eduard Spranger und seine Frau Susanne, geb. Conrad (Trauung am 24.9.1934) sozusagen Gemeindeglieder Hildebrandts; sie wohnten in der Fabeckstraße 13 in Dahlem. Leider ist aus dieser Zeit keine Korrespondenz mehr erhalten. 32 Presseerklärung der Jungreformatorischen Bewegung (nach G . VAN NORDEN, Protestantismus, S. 246). 33 Vgl. DBW 12, S. 64-66. 34 Vgl. E B D . , S . 66f. 35 DB, S. 332. 31
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Keine Zeit der Illusionen: 1933
Großberliner Pfarrern" vom 6. Juli protestierten und „Freiheit für die evangelische Kirche" forderten36. Kurz zuvor, am Sonntag, dem 2. Juli, hatte Hildebrandt in der Dahlemer Jesus-Christus-Kirche den Bußgottesdienst mitgestaltet, der dort und an anderen Orten anstelle des von der kommissarischen preußischen Kirchenregierung angeordneten Dankgottesdienstes gehalten wurde und in dem erstmals der Widerspruch zu einer liturgischen Form fand3? Als die von Hitler kurzfristig für den 23. Juli angesetzten Kirchenwahlen bevorstanden, verfaßte Hildebrandt ein Flugblatt für die von der kirchlichen Opposition aufgestellte eigene Wahlliste. In plastischer Weise stellte er unter der Uberschrift „Jede Glaubensbewegung, die keine Schwärmerei sein will, muß sich vor dem Wort Gottes verantworten!" Behauptungen deutschchristlicher Führer und biblische Entgegnung gegenüber38. Pointiert machte er so die Diskrepanz zwischen der biblischen Botschaft und den Ansprüchen der neuen Lehre auch für Gemeindeglieder deutlich, wenn er beispielsweise dem Ausspruch des Staatskommissars Jäger: „Das Erscheinen Jesu Christi in der Weltgeschichte ist in seinem letzten Gehalt ein Aufflammen nordischer Art" den Vers aus Matthäus 1,1 entgegenhielt: „Dies ist das Buch von der Geburt Jesu Christi, der da ist ein Sohn Davids, des Sohns Abrahams", oder den triumphalen Satz: „Es ist Großes erreicht worden" mit der Bitte des Vaterunsers konfrontierte: „Darum vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern." Das Flugblatt rief jeden, der „sich vor der Bibel verantwortet", dazu auf, die Liste der Opposition zu wählen. Doch deren Chancen wurden systematisch beeinträchtigt. Die Deutschen Christen erwirkten eine einstweilige Verfügung gegen die Verwendung des Namens „Evangelische Kirche" für die oppositionelle Wahlliste, und die Gestapo ließ das gesamte Wahlmaterial der Liste beschlagnahmen. Daraufhin wagten es Bonhoeffer und Jacobi, direkt ins Geheime Staatspolizeiamt zum Inspekteur der Geheimen Staatspolizei, Rudolf Diels, zu gehen. Sie erreichten die Freigabe des Wahlmaterials, allerdings unter der Bedingung, daß der Name der Liste in „Evangelium und Kirche" abgeändert würde 39 . Am Wahlsonntag, nachdem Hitler in einer Rundfunkansprache am Vorabend überdeutlich für die Deutschen Christen Partei genommen hatte, predigte Hildebrandt in Dahlem über Joh 15,17-16,4 unter der bezeichnenden Überschrift „Die Kirche in der Verfolgung" und nahm am folgenden Sonntag in Kleinmachnow die Einführung der neuen Gemeindekörperschaften (Ge-
» DBW 12, S. 94-96. Dazu vgl. DB, S. 342; K. SCHOLDER, Kirchen, Bd. 1, S. 470. 3« GS II, S. 59-61. 39 Vgl. DB, S. 347f. Daß Hildebrandt bei dieser Aktion so unmittelbar beteiligt gewesen ist, wie in DBW 13, S. 23 Anm. 8 dargestellt wird, halte ich für nicht belegt. Es wäre für ihn auch viel zu gefährlich gewesen. 37
Erste Überlegungen zur Opposition
53
meindekirchenrat und Gemeindevertretung) vor, indem er bewußt anhand von Joh 16,5-15 über „Das Amt des Geistes" sprach. Während die Jungreformatorische Bewegung als Reaktion auf den überwältigenden Wahlerfolg der Deutschen Christen ihren Rückzug aus der Kirchenpolitik erklärte, konzentrierten Hildebrandt und Bonhoeffer in der Folgezeit ihre Aktivitäten auf zwei Dinge. Das eine war die Erlangung einer Auslandspfarrstelle - keiner der beiden wollte länger in Deutschland bleiben. Bonhoeffer fuhr Ende Juli nach London, um sich der Gemeinde dort vorzustellen, während Hildebrandt in die Niederlande reiste, um in Hengelo vorzufühlen, allerdings ohne Erfolg. Auf der Rückfahrt von Holland machte Hildebrandt am 4. August in Bethel Station, um Bonhoeffer zu treffen, der gerade aus London gekommen war und am nächsten Tag in Bethel seine erste Besprechung hatte. Im Gespräch mit Friedrich von Bodelschwingh und Georg Merz, Dozent an der Theologischen Schule, ging es um das Projekt, das später als „Betheler Bekenntnis" bekannt wurde. Das Treffen und der Austausch der beiden Freunde an jenem Tag in Bethel hat später zu der Vermutung geführt, auch Hildebrandt habe am Entwurf mitgewirkt. Diese Vermutung hat er selber aber schon 1956 zurückgewiesen 40 . Zum anderen aber wurden die beiden Freunde nicht müde, den Punkt herauszustellen, in dem sie den status confessionis gegeben sahen: „Der Arierparagraph in der Kirche." 41 Gegenüber allen Versuchen zur Zusammenarbeit mit den gemäßigten Deutschen Christen, die nun im Kreis der Jungreformatoren laut wurden, betonten Hildebrandt und Bonhoeffer immer wieder die völlige Unvereinbarkeit von christlichem Glauben und den Anschauungen der Deutschen Christen 42 . Diese würden die Kirche durch den Ausschluß der Judenchristen in ein Schisma treiben43. Doch sie machten die Erfahrung: Viele, die zuvor noch mit ihnen gegen die drohende Gleichschaltung protestiert hatten, an ihrer Spitze der Berliner Missionsdirektor Siegfried Knak „und andere drängten die Radikaleren zurück" 44 .
40 Vgl. den Briefwechsel dazu (LKAEKvW BIELEFELD, 5,1/431,2). Zur Entstehungsgeschichte vgl. C . - R . MÜLLER, Bekenntnis, S. 18f.; C. Nicolaisen, in: DBW 12, S. 503-507; M. LICHTEN-
F E L D , M e r z , S. 3 5 2 m i t A n m . 120. 41 Vgl. Bonhoeffers gleichlautendes Flugblatt von Ende August 1933 (DBW 12, S. 408-415) sowie schon Mitte Juli sein Memorandum „The Jewish-Christian Question as Status Confessionis" (DBW 12, S. 359-361); vgl. dazu C . - R . MÜLLER, Kampf, S. 19ff. 42 Vgl. P. NEUMANN, Jungreformatorische Bewegung, S. 128. 43 Vgl. M. SMID, Protestantismus, S. 476: „Bonhoeffer selbst hat dagegen gemeinsam mit seinem Freund Franz Hildebrandt und mit seinen Studenten gerade im Sinne der Abwendung des drohenden Schismas unbeirrt Einfluß auf die kirchliche Entwicklung bis zum September 1933 zu nehmen versucht." 44 So Bonhoeffers Darstellung auf der Pfarrkonferenz in Bradford im November 1933 (DBW 13, S. 38).
54
Keine Zeit der Illusionen: 1933
Als die mehrheitlich deutschchristliche preußische Generalsynode am 5./6. September beschloß, den staatlichen „Arierparagraphen" für die Kirche zu übernehmen, so wie es zuvor schon die Berlin-Brandenburgische Provinzialsynode am 24. August beschlossen hatte, kam es am Abend des 6. September zu einer entscheidenden Nachtsitzung im Dahlemer Pfarrhaus von Martin Niemöller45. Hildebrandt notierte in seinem Kalender: „10 [Uhr] abends Niemöller klarer Sieg."46 Dieser „klare Sieg" bestand in der Ausarbeitung eines Entwurfes für ein „Wort oppositioneller Pfarrer". Die Erklärung, die an diesem Abend formuliert wurde, stellte klar und deutlich fest, daß mit dem neuen Kirchengesetz „ein Zustand, der nach dem Bekenntnis als Unrecht gelten muß, als kirchliches Recht proklamiert und das Bekenntnis verletzt" worden sei. Sie gipfelte in der Feststellung: „Wer einem solchen Bruch des Bekenntnisses seine Zustimmung gibt, schließt sich damit selbst aus der Gemeinschaft der Kirche aus."47 Dennoch - der „klare Sieg" sollte nicht von Dauer sein; denn die Erklärung wurde nicht, wie geplant, zur Grundlage eines überregionalen Bekenntnisaktes, sondern wurde, nachdem Niemöller sie Bodelschwingh zugesandt hatte, von diesem nicht weitergereicht, weil er Bedenken gegen den Schlußabsatz hatte, der das Schisma als vollzogen darstellte48. Doch die Bemühungen in Berlin um eine festere Gemeinschaft und um eine Sammlung der regionalen Pfarrerkreise gingen weiter. Am 11. September formulierte der Noßdorfer Pfarrer Günther Jacob in Anlehnung an die Erklärung vom 6./Z September ein Verpflichtungsformular, das am Nachmittag bei einer Versammlung von etwa 60 Pfarrern im Hause Jacobi angenommen wurde. Damit hatte sich der Pfarrernotbund konstituiert. Auch Hildebrandt war zugegen und wurde so zum Mitglied des Pfarrernotbundes seit der Gründungsversammlung49. Nur Niemöller, Jacobi, Bonhoeffer und er hatten alle Aktionen seit Mai mitgetragen; darum bezeichnet Jargen Glenthoj diese vier Männer mit Recht als „den eigentlichen Kernkreis"50. In diesem Kreis entstand auch der Plan, sich mit einer Protestresolution an die Nationalsynode in Wittenberg zu wenden, die am 27 September 1933 zusammentreten sollte51. Hildebrandt und Bonhoeffer - der gerade von einer
45
W . N I E M Ö L L E R , P f a r r e r n o t b u n d , S . 15 m i t A n m . 6 ( E B D . , S . 1 4 9 ) .
46
NLH, 9251/9. Leider hat Hildebrandt sonst kaum detaillierte Erinnerungen an diese entscheidende Phase (vgl. sein Schreiben vom 30.71973 an H . Ludwig; Kopie in SAMMLUNG BETHGE,
WACHTBERG).
47
D B W 12, S . 1 2 3 .
48
Vgl. J. SCHMIDT, Niemöller, S. 120.
49
Allerdings schien ihm das Aufbringen des monatlichen Beitrags Schwierigkeiten zu machen; eine Aufstellung vermerkt, Hildebrandt habe bis Dezember 1935 Beitragsschulden von 135,- RM (EZA BERLIN, 50/703). 50
J . G L E N T H 0 J , D o k u m e n t e , S. 89.
SI V g l . W . N I E M Ö L L E R , P f a r r e r n o t b u n d , S. 3 2 m i t A n m . 3 ( E B D . , S . 1 5 0 ) .
Erste Überlegungen zur Opposition
55
Tagung des Exekutivkomitees des Weltbundes für Freundschaftsarbeit der Kirchen in Sofia zurückgekommen war - lieferten am 24. September einen Vorentwurf, der deutlich machte, worum es ihnen ging. Sie nahmen dabei Gedanken auf, die Bonhoeffer schon am 9. September in Briefen an Karl Barth und offenbar auch an Hermann Sasse geäußert hatte 52 . Durch die Einführung des „Arierparagraphen" habe sich die preußische Synode in Widerspruch zum christlichen Bekenntnis gesetzt: „Hier ist die Tat des Paulus verneint und das Judenchristentum wieder aufgerichtet. Hier ist der dritte Artikel beseitigt und ein Teil der Gemeinde zu Christen zweiter Klasse gemacht. Hier ist die Ordination ohne Gründe der Schrift widerrufen und das Pfarramt zu einem Privileg geworden. Hier ist die christliche Bruderschaft aus Willkür zerstört. Hier ist für die Predigt der Apostel und unseres Herrn Jesus Christus kein Raum." 5 3
Am 26. September traf sich in Niemöllers Pfarrhaus ein kleiner Kreis. Neben dem Hausherrn, Bonhoeffer und Hildebrandt umfaßte er den anderen Dahlemer Pfarrer Friedrich (genannt Fritz) Müller, Jacobi und Walter Künneth, den Leiter der Apologetischen Zentrale. Aus dem Vorentwurf Bonhoeffers und Hildebrandts und aus anderen Entwürfen erarbeiteten sie den schließlich von 22 Unterzeichnern „im Namen von 2000 evangelischen Pfarrern" abgegebenen Aufruf „An die Nationalsynode der Deutschen Evangelischen Kirche" 54 . Der Aufruf, der als Flugblatt gedruckt wurde, war sehr viel weniger prägnant, sprach von kirchlichen „Gruppen", vermied deutlich zu sagen, daß das „Pfarramt zum Privileg geworden" sei und verzichtete auf die klare Abgrenzung des Entwurfes der beiden, in dem es geheißen hatte: „Wir können darum eine Synode, die solches beschließt, nicht als christliche Synode, und eine Kirche, die danach handelt, nicht als christliche Kirche anerkennen." 55 Im Wagen von Bonhoeffers Vater fuhren Bonhoeffer, Hildebrandt und Gertrud Staewen am folgenden Tag nach Wittenberg. Hildebrandt erlebte die Synode in der Stadtkirche gemeinsam mit Bonhoeffer und Jürgen Winterhager hinter dem Orgelprospekt auf der Empore verborgen mit. Zuvor hatten sie die Protesterklärungen auf die Sitze der Synodalen gelegt und an Wittenberger Bäume geheftet56. Als dann Joachim Hossenfelder, Mitbegründer und Reichsleiter der Glaubensbewegung Deutsche Christen und seit dem 6. September Bischof des Bistums Brandenburg, über Luthers Grab hinweg rief: „Mein Reichsbischof, ich grüße Dich!", flüsterte Hildebrandt Bonhoeffer mit 52 Vgl. D B W 12, S. 124-130. 53
EBD., S. 136; das Original trägt den Vermerk „Bonhoeffer-Hildebrandt 2 4 / 9 " . Vgl. auch
EBD., Anm. 3 und 5 zur Textgeschichte. 54
EBD., S. 141 f.
55
EBD., S. 136.
« An M. Leibholz, 4 . 7 1 9 7 8 ( N L H , 9251/22).
56
Keine Zeit der Illusionen: 1933
schwarzem Humor zu, nun glaube er an die Lehre von der „Realrotation" der Gebeine Luthers5? Der Tag blieb ihm zeitlebens „lebendig und schauerlich im Gedächtnis": „Für uns war der Tag das Ende der D.E.K.!" 58
3.3. Nach den Synoden: „Mein Teil ist jetzt Schweigen" Ging es Bonhoeffer und Hildebrandt im September 1933 vor allem darum, die Anliegen der kirchlichen Opposition auf der altpreußischen Generalsynode und der Nationalsynode zu Gehör zu bringen, so konzentrierten sich die Überlegungen der beiden Freunde im Oktober darauf, welche Folgerungen aus den neuen kirchenpolitischen Gegebenheiten zu ziehen seien. Eine der möglichen Konsequenzen für sie lag darin, von der kirchlichen Opposition den Schritt in die Freikirche zu fordern. Im Pfarrernotbund wurde Hildebrandt nun zu einem ständigen Kritiker und Warner vor einem Kompromiß mit der „Hossenfelder-Kirche" 59 . Besonders betrübte ihn in den Auseinandersetzungen und Diskussionen jener Wochen jedoch der Rat, den Barth am 11. September schriftlich an Bonhoeffer gerichtet hatte, man möge doch lieber abwarten, bis ein „Zusammenstoß an einer noch centraleren Stelle erfolgt"60. Noch in der Erinnerung schrieb Hildebrandt später: „Barths facile Gleichsetzung von Hossenfelder mit Dibelius61 und sein abwartender Kurs überzeugen mich heute so wenig wie damals."62 In der Beurteilung der „Dibelius-Kirche" lag der wohl tiefste Grund des Dissenses mit Barth. Hildebrandt konnte und wollte diese nicht auf eine Stufe mit dem bekenntniswidrigen Regiment der Deutschen Christen stellen; ebenso konnte und wollte er nicht Barths Satz folgen, das Evangelium habe weder etwas mit der Kultur noch mit der Barbarei zu tun 63 . Es gab für ihn, der „Betroffener" war, einfach keine „noch zentralere Stelle", an der nach Barth - erst der richtige Zusammenstoß erfolgen sollte, als den „Arierparagraphen". Die Versagung der Gleichberechtigung und die mangelnde
57
Nach DB, S. 374.
58
A n B e t h g e , 2 0 . 1 . 1 9 5 8 (SAMMLUNG BETHGE,
WACHTBERG).
59
Vgl. DB, S. 361 sowie J. SCHMIDT, Niemöller, S. 119ff. 60 DBW 12, S. 125-128. 61 Barth hatte an Bonhoeffer geschrieben: „Wir haben uns durch viel, sehr viel andersartiges Ärgernis auch aus der Dibeliuskirche der Vergangenheit mit Recht nicht gleich herausdrängen lassen, sondern haben in ihr selbst unseren Protest angemeldet. Dazu sind wir nun auch in der Hossenfelder-Kirche jedenfalls fürs Erste aufgerufen. Ein höchst aktives polemisches Warten wird uns auch hier später auf keinen Fall zu reuen brauchen" (EBD., S. 127). 62
63
A n B e t h g e , 1 8 . 8 . 1 9 5 9 (SAMMLUNG BETHGE,
WACHTBERG).
Vgl. K. BARTH, Fragen und Antworten, S. 11. Zu Hildebrandts Auseinandersetzung mit Barths Haltung in Das Evangelium und die Humanität vgl. unten S. 166 f.
N a c h den Synoden: „Mein Teil ist jetzt Schweigen"
57
Solidarität mit den Opfern waren für Hildebrandt die Punkte, an denen er den status confessionis gegeben sah 64 . Hildebrandt hätte es allerdings - das zeigen auch noch Aussagen aus seinen letzten Lebensjahren - für abwegig gehalten, nun für „die Fähigkeit einer Identifikation mit den von den Folgen des Arierpapragraphen Betroffenen" die „Notwendigkeit einer kirchlichen Israel-Theologie" zu fordern 65 . Nach seiner Meinung hätte die Kirche laut und öffentlich bekennen müssen: „Es ist nicht recht". Es ging ihm auch und gerade um die „bürgerliche Behandlung" - um einen Begriff aus Barths Gutachten zum „Betheler Bekenntnis" aufzunehmen 66 - der Juden und „nichtarischen" Christen. Plötzlich als „Judenchrist" zu gelten, war für ihn eine traumatische Erfahrung, - vielleicht rührte daher seine häufig vorgetragene Mahnung, mehr über die ethische Verantwortung der Kirche und über die Geltung der Menschenrechte nachzudenken als darüber, wie die „nichtarischen" Christen in einer Israel-Theologie nach R o m 9-11 unterzubringen seien6-! Im Oktober 1933 jedoch ging es vor allem darum, welche praktischen Konsequenzen aus den Beschlüssen der Generalsynode zu ziehen seien. Eine davon war die Überlegung, in eine Freikirche überzutreten. Darum gingen am 1. Oktober Hildebrandt, Bonhoeffer „und andere junge Leute" 68 , wahrscheinlich Bonhoeffers Studentenkreis, zu den Altlutheranern in deren Sonntagsgottesdienst in Berlin-Wilmersdorf, um die Möglichkeit des Übertritts zu erkunden. Aber dies erwies sich als Illusion: „Wir waren entsetzt, daß auch dort bereits die Hakenkreuzflagge auf dem Gebäude wehte. [...] Von ernsthaftem Widerstand gegen das Regime war überhaupt keine Rede. Übergang in die Freikirche wäre nur diskutabel gewesen, wenn wir ganze Gemeinden ,mitgebracht' hätten." 69 Hildebrandts Sicht von der Notwendigkeit des Schismas und der Bildung einer Freikirche70 blieb innnerhalb des Pfarrernotbundes ohne ResoVgl. den Brief an M. Niemöller, 24.10.1933 (dazu unten S. 58). Wie es E. BETHGE, Christologisches Bekenntnis, S. 118, und ein Großteil der heutigen Forscher tun. 66 „Ist die bürgerliche Behandlung, die man den Juden im heutigen Deutschland systematisch zuteil werden läßt, eine solche, zu der ,wir' nichts zu sagen haben?" (zit. nach C . - R . MÜLLER, Bekenntnis, S. 49). 67 Vgl. auch unten S. 117ff. und 285. 64
65
68
A n Bethge, 4 . 5 . 1 9 6 5 (SAMMLUNG BETHGE,
WACHTBERG).
An M. Leibholz, 4.71978 (NLH, 9251/22); vgl. auch DB, S. 374 und das Schreiben an H . Ludwig, 30.7 1973: „Es war klar, daß es in diesem Quartier keinen ernsthaften Widerstand gegen den Nazismus gab; in einem Flugblatt der Altlutheraner wurden Pazifismus, Marxismus etc. etc. als die wirklichen Feinde der Kirche bezeichnet" (Kopie in SAMMLUNG BETHGE, 69
WACHTBERG). 70 Es scheint so, als sei Bonhoeffer in dieser Zeit eher der Interdikt-Idee verhaftet, während Hildebrandt „als einziger ganz selbständig den Gedanken vertritt, wir müßten Freikirche werden", N N
(P.), R u n d b r i e f v o m 1 9 . 2 . 1 9 3 4 ( E Z A
B E R L I N , 5 0 / 4 3 7 ; Abschrift vgl. N A C H L A S S
BONHOEF-
FER, S. 152); vgl. auch E. BETHGES Kritik an Scholders mangelnder Differenzierung (Status confessionis, S. 85 Anm. 11 gegen K. SCHOLDER, Kirchen, Bd. 1, S. 611).
58
Keine Zeit der Illusionen: 1933
nanz 71 . E r sah sich mehr und mehr als Außenseiter, was deutlich wurde, als Niemöller ihn bat, doch Künneth auf dessen Artikel in der „Jungen Kirche" 7 2 zu antworten, und ihm gleichzeitig anbot, eine Aufgabe in der Geschäftsführung des Pfarrernotbundes zu übernehmen. Hildebrandt erteilte Niemöller, der im Namen des Pfarrernotbundes gerade ein Gruß- und Danktelegramm an Hitler zum Austritt aus dem Völkerbund gesandt hatte 7 3 , eine deutliche Absage, die viel von seiner Verbitterung erkennen läßt: „Leider faßte ich Sie gestern nicht mehr, um Ihnen zu sagen, daß ich Künneth in der Jungen Kirche nicht antworten werde und auch an irgendeine Art geschäftsführender Tätigkeit in der J[ungreformatorischen] B[ewegung] oder im Pfarrerbruderbund nicht ernsthaft denken kann. Nicht nur, weil ich in sehr absehbarer Zeit Bonhoeffer als Gast in sein neues Haus folgen will - sondern aus prinzipiellen Gründen. Ich kann seit langem mit der ganzen Jungen Kirche und dem ganzen Pfarrerbund nicht mit, genau so wenig oder noch weniger wie Barth es von sich sagt. Denn mir ist völlig unverständlich, wie man im gleichen Augenblick den politischen Schritt in Genf mit Freude begrüßen kann, ohne dasselbe deutliche Nein zu der Kirche zu sagen, die uns die ,Gleichberechtigung' fort und fort verwehrt und mit der man m.E. auch nach außen keine Schein-Solidarität mehr wahren darf, wenn man der Meinung ist, die Kirche Jesu Christi sei bei uns und nicht bei ihr. Es sieht so aus und es kann weder von dem normalen Gemeindeglied noch von der Gegenseite anders verstanden werden, als habe wieder einmal die Parole der ,Mitarbeit' um jeden Preis gesiegt. Die unmögliche Stellung des Bruderrats zu den Fragebogen74 und der Annahme kirchenregimentlicher Posten scheint mir das leider zu bestätigen. Aber ich mag das Lied, das ich seit Ende Juni schon immer wieder in unserem Kreise anstimme, nicht als Jugendlicher' und sonst Belasteter75 zum Schaden Ihrer Sache nochmals wiederholen und öffentlich lautwerden lassen. Was heißt auch bei uns schon ,öffentlich'? Mein Teil ist jetzt Schweigen."76 Hildebrandts einzige Perspektive für die Zukunft war das Londoner Pfarrhaus Bonhoeffers, der ein ihm im Mai angebotenes Pfarramt im Berliner Osten ausgeschlagen hatte, eben um „nicht aus der Solidarität mit den judenchristlichen Pfarrern" 7 7 herauszutreten, wie er am 24. Oktober an Barth 71
A m 2 . 1 0 . 1 9 3 3 hielt Hildebrandt nach einem Vermerk im Kalender ( N L H , 9 2 5 1 / 9 ) ein „Referat
bei Jacobi", über das sonst nichts bekannt ist. Es dürfte in etwa eine Vorform seiner „10 Thesen für die Freikirche" gewesen sein; so würde sich auch erklären, warum Hildebrandt später die Freikirchendiskussion und die Thesen (die ja nachweislich nach dem Tag von U l m im April 1934 entstanden sind) in den Herbst 1933 datiert, z . B . anBethge, 1 3 . 9 . 1 9 5 8 (SAMMLUNG BETHGE, WACHTBERG). 72
W . KÜNNETH, E c h t e Fronten (erschienen am 1 9 . 1 0 . 1 9 3 3 ) .
73
Abgedruckt u . a . bei G . VAN NORDEN, Protestantismus, S. 2 9 9 .
74
Gemeint ist der U m g a n g mit den kirchenamtlichen Fragebögen z u m „Ariernachweis".
75
D . h . als „Nichtarier".
76
A n M . Niemöller, 2 4 . 1 0 . 3 3 ( Z E K H N DARMSTADT, 6 2 / 1 0 2 0 ; GS VI, S. 2 7 7 f . ) .
77
D B W 13, S. 1 1 - 1 5 ; z u m Berliner Pfarramt vgl. D B , S. 2 7 9 und D B W 12, S. 7 0 ; vgl. auch Hil-
debrandts Schreiben an H . Ludwig, 3 0 . Ζ 1973: Bonhoeffers „eigener Gang nach L o n d o n war motiviert durch die Uberzeugung, daß er nicht ein Pfarramt fortsetzen könne, daß z u m rassischen Privileg geworden w a r " (Kopie in SAMMLUNG BETHGE, WACHTBERG).
Nach den Synoden: „Mein Teil ist jetzt Schweigen"
59
schrieb. Hildebrandt stand nun tatsächlich, wie Bonhoeffer es Barth verdeutlichte, „vor dem Nichts" 78 , und das nicht nur aufgrund der Gleichschaltungsmaßnahmen der Nationalsozialisten und der Deutschen Christen, sondern auch, weil es immer noch Menschen gab, die von einem Ausgleich mit den Deutschen Christen und dem Nationalsozialismus träumten oder glaubten, mit dem Ruf an die „Front der sachlich-theologischen Arbeit" 79 den ethischen Entscheidungen zu entkommen. Noch einmal konnte er seine Haltung öffentlich deutlich machen, als es Ende Oktober dem Kreis um Jacobi gelang, Karl Barth für einen Vortrag („Reformation als Entscheidung" am 30. Oktober in der Singakademie) und eine Diskussion um den weiteren Weg der Opposition nach Berlin zu holen. Das Treffen im Hause Jacobi zog sich über zwei Tage hin 80 . Während einige wie Künneth tatsächlich weiter um „Mitarbeit", auch unter einem deutschchristlichen Kirchenregiment, warben81, zog Barth nun eine scharfe Trennungslinie, und Hildebrandt fragte in der Diskussion: „Welches ist die praktische Konsequenz, die ich zu ziehen habe aus der Tasache, daß [Ludwig] Müller illegitimer Bischof ist und daß ich mit einem Gogarten mich nur noch in einer Kirche weiß wie mit einem Przywara? 82 Bin ich dann überhaupt noch mit ihm in der gleichen Kirche? Mir scheint, es liegen in unserem Kreise noch sehr viele Unklarheiten auch bezüglich der praktischen Entscheidungen vor. Ich denke ζ. B. an die Behandlung der Fragebögen bezügl. des Arierparagraphen." Von Niemöllers ausweichender Antwort, man wolle nicht die Fragebogen getrost ausfüllen, sondern nach einer gemeinsamen Lösung suchen, distanzierte Hildebrandt sich mit den Worten: „Aber die Kirche Christi geht die Rassenfrage nichts an." Niemöller blieb jedoch bei seiner „pragmatischen" Sicht: „Eine derartige statistische Feststellung aus apologetischen Gründen würde ich nicht ablehnen können. Damit ist kein status confessionis gegeben." Es wurde nur zu deutlich, wie Barth feststellte, daß die Fronten nicht klar waren. Während Barth jedoch darauf bestand, zunächst die Frage nach der theologischen Frontstellung zu klären, bevor es zu praktischen Konsequen78
D B W 13, S . 13.
W . KÜNNETH, Echte Fronten (zit. nach GS VI, S. 277). Ich folge dem Protokoll von Charlotte von Kirschbaum (REFORMATIONSTAG 1933, S. 71 ff.). Vgl. dazu auch die Bemerkung von Erica Küppers: „Ein nett aussehender Lic. Hildebrandt, der sein Amt bereits niedergelegt hatte, weil er vom Arierparagraphen betroffen werden würde" (EBD., S. 64). Hildebrandt nahm teil an der Morgendiskussion im kleinen Kreise (ca. 20 Teilnehmer) wie auch am ersten Teil der Nachmittagsaussprache (ca. 150 Teilnehmer), mußte dann jedoch in der Pause den Kreis verlassen, um nach Dobrilugk zu einem Vortrag zu fahren (Kalender 1933: Ν LH, 9251/9). 79
80
Vgl. REFORMATIONSTAG 1933, S. 72. EBD., S. 71 ff. auch die folgenden Zitate. Der Schriftsteller und Philosoph Erich Przywara war einer der bekanntesten Repräsentanten des römisch-katholischen Geisteslebens in Deutschland. Hildebrandt hatte ihn bei einer philosophischen Sommerakademie 1928 im schweizerischen Davos kennengelernt. 81
82
60
Keine Zeit der Illusionen: 1933
zen kommen dürfe, drängte Hildebrandt immer wieder darauf, nicht in Lehrfragen steckenzubleiben, und machte in der Diskussion deutlich, „daß er die Konsequenzen im Gegensatz zu Kiinneth dahin gezogen habe, sein Amt niederzulegen." Für Hildebrandt war durchaus entscheidend, daß Barth die Richtung hin zu einer Freien Synode vorgab83, aber er konnte nicht verstehen, warum dieser immer noch nicht den Zeitpunkt dafür gekommen sah. Hildebrandt sah den Zeitpunkt längst gekommen, der für Barth noch „in Gottes Hand" lag: „Wenn man ihnen das Amt nimmt, dann erst würde sich die Frage der Freikirche stellen. Jetzt ist sie noch nicht gestellt. Erst dann dürfen wir sie stellen." Im Grunde ist Hildebrandts Erfahrung mit Barth in diesem halben Jahr die gewesen, die Wolfgang Gerlach später zuspitzte auf den Gegensatz zwischen dem „dogmatischen" Zugang Barths, der den Protest gegen die Irrlehre der Deutschen Christen „nicht erst" beim „Arierparagraphen" einsetzen lassen wollte, und dem „ethischen" Ansatz Bonhoeffers, der den Protest „schon hier" forderte84. Kritikern, die Gerlachs These „schockiert" für „unmöglich" erklärten, hielt Hildebrandt seine Erfahrung entgegen: „Zu Barths Haltung ist mir deutlich in Erinnerung, daß er, solange er in Deutschland ansässig war, darauf bestand, ,man müsse predigen, als habe sich nichts geändert', daß er selbst in der Eidesfrage nicht zu dem klaren Nein der Bergpredigt kam; und daß er nach seinem Umzug nach Basel, beginnend mit,Rechtfertigung und Recht' der BK das Versagen in humanitären Fragen zum Vorwurf machte, an dem er selbst führend beteiligt gewesen war. [...] Bonhoeffers Haltung war von Anfang an und durchgehend davon unterschieden [...]. Also so ganz unmöglich ist Gerlachs These nicht." 85
In der für ihn ausweglosen Situation nahm Hildebrandt dankbar Bonhoeffers „amtliche" Einladung86 nach London an und setzte seine Ausreisepläne in die Tat um. Die Vorbereitungen dazu hatten schon Ende August begonnen: Am 25. August, einen Tag nach der berlin-brandenburgischen „Braunen Synode", vermerkte Hildebrandt in seinem Kalender den Entschluß, sich einen „Audio Vox Language Course English Version" anzuschaffen. Im 83 Vgl. auch seine Frage in der Nachmittagsdiskussion: „Wie steht es denn im Zusammenhang mit dieser Frage mit dem Verlesen von Gegenkundgebungen wie etwa dem Schreiben der Generalsuperintendenten oder dem Votum an die Generalsynode? Liegt das nicht im Sinn der von Barth heute Morgen erwähnten zu gründenden Synode?" (REFORMATIONSTAG 1933, S. lOOf.). Bei dem erwähnten Schreiben der Generalsuperintendenten handelt es sich u m den Protestaufruf vom 26.6.1933 gegen die Einsetzung des Staatskommissars (vgl. G . VAN NORDEN, Protestantismus, S. 81 f.); zum Votum an die Generalsynode vgl. oben S. 54. 8" Vgl. W . GERLACH, Zeugen, S. 62f. und 403ff. 85 An H. Ludwig, 30.71973 (Kopie in SAMMLUNG BETHGE, WACHTBERG). 86 Einladung und Bürgschaft vom 3.11.1933 mit den Siegeln der Deutschen Reformierten St. Pauls-Kirche und der Deutschen Evangelischen Kirche Sydenham (DBW 13, S. 18).
N a c h den Synoden: „Mein Teil ist jetzt Schweigen"
61
Oktober regelte er die polizeiliche Abmeldung und ließ sich Londoner Adressen vermitteln8? Den Weg nach Großbritannien wollte er noch für einen Besuch bei Karl Barth in Bonn benutzen 88 . Superintendent Diestel, der Hildebrandt zugesichert hatte, „an Ihrer theologischen und amtlichen Existenz heute und in Zukunft den wärmsten Anteil" zu nehmen, und der alles tun wollte, „um Ihnen die Wege zu ebnen in der Richtung, die nach Ihrer Überzeugung für Sie die gegebene ist" 89 , mußte einsehen, daß dieser Weg aus Deutschland herausführen mußte. Das letzte, was er tun konnte, war, eine amtliche Bescheinigung auszustellen, die den Zweck der Reise verschleierte: „Dem Pastor Lic. Franz Hildebrandt, der jetzt nach Ablauf seiner Amtszeit in Klein-Machnow auf Einladung eines englischen Kollegen eine Studienreise nach London antritt, wird hierdurch amtlich bescheinigt, daß gegen die Ausstellung des Ausreisesichtvermerkes keinerlei Bedenken bestehen." 90 Am 10. November 1933 bestieg Hildebrandt den Zug nach London, wo er gedachte, auf längere Zeit zu bleiben. Edmund Hildebrandts Worte zum Abschied waren: „Wenn du schon wegfahren mußt, ist es mir eine Beruhigung, daß du in westlicher, nicht in östlicher Richtung fährst." 91 Zwei Tage später billigten in einer „Volksabstimmung" 95,1 % der Wahlberechtigten den Austritt des Deutschen Reiches aus dem Völkerbund und wählten gleichzeitig eine Einheitsliste der NSDAP in den Reichstag. Zugleich machte das Berliner Konsistorium Hildebrandt indirekt klar, „daß er nicht beschäftigt werden sollte" 92 , woran auch Diestels Urteil über Hildebrandts Hilfsdienstzeit nichts ändern konnte: „Es ist außerordentlich schmerzlich, daß die neuerliche Entwicklung in unserer Kirche diesem wirklich frommen und kerndeutsch gesinnten Mann eine Tätigkeit in einer Gemeinde unmöglich macht, da er Nichtarier ist. Die Kirche verliert an ihm einen sehr wertvollen Zeugen für die evangelische Wahrheit, der er noch viele gute Dienste hätte leisten können." 93 Vgl. die Eintragungen im Kalender 1933 (NLH, 9251/9). An Barth, 8.11.1933 (KBA BASEL). Nach Auskunft von Hinrich Stoevesandt vom 22. 8.1990 hat Barth 1933 keinen Terminkalender geführt, so daß nicht feststellbar sei, ob der geplante Besuch stattgefunden hat. 89 Von Diestel, 18.10.1933 ( E Z A BERLIN, 29/G 382). 90 Bescheinigung vom 2.11.1933 (EBD.). 91 Nach Bibl. Nr. 59, S. 36. Edmund Hildebrandt spielt auf das Schicksal des Onkels Georg Schlesinger an, der damals wegen seiner Kontakte zur UdSSR unter Hochverratsverdacht inhaftiert war. 92 Vgl. das Schreiben des E O K an das Kirchliche Außenamt, 31.3.1938 ( E Z A BERLIN, 5/1312; Konzept dazu in PA). 93 Diestels Urteil über das Hilfsdienstjahr vom 20.10.1933 (PA; Durchschlag in E Z A BERLIN, 2 9 / G 382 und in N L H , 9251/27). Es ist symptomatisch für die unterschiedliche Haltung von Hildebrandts „Vikarsvätern" Fendt und Diestel, daß Fendt am 27 10.1933 Hildebrandt zwar ebenfalls ein sehr gutes Zeugnis ausstellte („alle des Lobes voll"), aber kein Wort über die gegenwärtige Lage und die Zukunftsaussichten Hildebrandts verlor (PA). 87
88
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Keine Zeit der Illusionen: 1933
Dennoch verdient festgehalten zu werden, daß es Hildebrandt selbst war, der in diesen Monaten die Initiative ergriff: Er wartete nicht ab, bis er entlassen oder aus dem Amt gedrängt werden würde94, sondern verließ es von sich aus, weil ihm von Anfang an klar war, daß er unter dem neuen Kirchenregiment nicht weitermachen konnte. Er tat nach Ablauf seines „Hilfsdienstjahres" nichts, um seinen Auftrag zu erneuern, ging auf keinerlei Korrespondenz mit dem Konsistorium ein und hat so das neue Kirchenregiment konsequent ignoriert95. Später schrieb er: „Ich fand es unmöglich, unter einem korrupten Kirchenregiment abzuwarten und ,geduldet' zu bleiben."96 3.4.
Von London aus: Drängen auf Entscheidung
Vom Pfarrhaus der deutschen Gemeinde Sydenham im Londoner Stadtteil Forest Hill aus richteten Bonhoeffer und Hildebrandt zahlreiche Anrufe, Telegramme und Briefe an Niemöller nach Berlin, rieten „zum radikalen Angriff" und warnten vor der „Flucht vor der Verantwortung"9^ während Barth noch zur gleichen Zeit die „Entstehung einer Freikirche ohne Klärung der grundsätzlichen Fragen" für ein „Landesunglück" hielt, weil „vielleicht eine neuprotestantische Hierarchie doch nur von einer anderen von etwas milderer Couleur abgelöst werden sollte."98 Barths Polemik gegen die „neuprotestantische Hierarchie" war den beiden Freunden ganz fremd; für sie kam es darauf an, daß nun „der letzte Augenblick, die Kirche zu retten", da sei, und da dürfe man „keine falsche Scham und Scheu" zeigen, die schon einmal im Juni der Opposition zum Verhängnis geworden sei99. Hildebrandt forderte - in typischer Weise - die Sprache Luthers und nicht Melanchthons zu reden, und „die Reinigung der ganzen Kirche von der ganzen Pest" mit Hilfe eines Lehrzuchtverfahrens100.
94 Die Aussage des Konsistorium-Berichtes von 1938 (vgl. Anm. 92) scheint dem zu widersprechen, sie ist aber lediglich eine Vermutung des damaligen Berichterstatters. Es gibt keinerlei aktenmäßige Quellen, die die „Verweigerung eines Pfarramtes" (M. SMID, Protestantismus, S. 457) belegen; vgl. auch Hildebrandts eigene Darstellung im Lebenslauf: „... war es endgültig klar, daß ich in der gleichgeschalteten deutschen Kirche nicht dienen konnte; ich legte mein Pfarramt nieder, ehe es zu rassischen Fragebogen kam" (IfZ MÜNCHEN, MA 1500). 95
So Hildebrandts Darstellung an M. Leibholz, 4.71978 (NLH, 9251/22).
96
A n H . L u d w i g , 3 0 . 7 1 9 7 3 ( K o p i e in SAMMLUNG B E T H G E ,
WACHTBERG).
An M. Niemöller, 15.12.1933 (GS II, S. 151); vgl. die Korrespondenz 1933/34 (GS II 149-155 sowie DBW 13, S. 44ff.) und DB, S. 389ff. 98 K. BARTH, Lutherfeier 1933, S. 5 (Vorwort, datiert 19.11.1933). 99 An M. Niemöller, 30.11.1933 (GS II, S. 149f.; DBW 13, S. 44-46. Im Gegensatz zum vom Drucksatz suggerierten Eindruck ist der Brief offensichtlich ausschließlich von Hildebrandt handschriftlich geschrieben). 100 DBW 13, S. 45; dem Kollegium sollten zumindest Hermann Sasse als Lutheraner und Karl Barth als Reformierter angehören. 97
Von London aus: Drängen auf Entscheidung
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Am 1. Dezember lasen Bonhoeffer und Hildebrandt in der Zeitung die Nachrichten über den Rücktritt aller Mitglieder des Geistlichen Ministeriums und über eingeleitete Verhandlungen zwischen dem Reichsbischof, den Landeskirchenführern und der Leitung des Pfarrernotbundes. Offenbar wollten die beiden Freunde nun, daß der Pfarrernotbund die Chance zur Ablösung der DC-Kirchenführer nutzen sollte. Dabei gab es im Führungsgremium des Pfarrernotbundes offensichtlich unterschiedliche Ansichten über die zu verfolgende Taktik, besonders zwischen Jacobi und Niemöller, da Niemöller immer noch eine „Verhärtung der Fronten" vermeiden wollte101. In dieser Situation ergriffen die beiden Londoner Partei für Jacobi und scheuten auch vor zweifelhaften Bundesgenossen nicht zurück: Sie telegraphierten an Erich Seeberg. Beide verband mit Seeberg eine menschliche Beziehung. Hildebrandt hatte bei ihm Kirchengeschichte gehört und, wie auch Bonhoeffer, bei seinem Vater Reinhold Seeberg promoviert, und Erich Seeberg hatte als Dekan Bonhoeffers Urlaubsgesuch für seine Londoner Tätigkeit „mit dem Ausdruck des Bedauerns" stattgegeben102. Kirchenpolitisch jedoch lagen Welten zwischen den beiden Freunden und Seeberg, der sich nun in einer etwas zwielichtigen Position dem Aufbau der Reichskirche zur Verfügung gestellt hatte. Dennoch sahen sie offensichtlich Einflußmöglichkeiten, wie ihr Telegramm deutlich macht: „erbitten herzlich eintreten fuer jacobi als kirchenminister da nur er als Vertrauensmann der pastoren fuer eine beruhigung und klaerung der kirchlichen läge buergt in Verehrung, bonhoeffer hildebrandt" 103 . Vier Tage später, am 4. Dezember, als sie - vermutlich durch Jacobis Vikarin Elisabeth Zinn - von der „Entzweiung" zwischen Niemöller und Jacobi im Bruderrat hörten, schickten sie ein beschwörendes Telegramm an Niemöller und forderten ultimativ die Herausstellung Jacobis „als Besonnenster" 104 . In einem weiteren Schreiben vom 15. Dezember präzisierte Hildebrandt: „Das eine können wir jedenfalls nicht verstehen, daß es in dieser Zeit ein sachliche oder persönliche Spannung zwischen Ihnen und Jacobi geben sollte, bei der die Müller, Meiser, Beyer den tertius gaudens und wir die betrübten Zuschauer spielen müßten." 105 Niemöller, dem sie damit „das Leben an einigen sehr belasteten Tagen noch mehr belastet" 106 hatten, konnte sie jedoch beruhigen. Er schrieb an Hildebrandt, es habe keine persönlichen Differenzen irgendwelcher Art zwischen ihm und Jacobi gegeben, die sachlichen Auseinandersetzungen seien Vgl. die Andeutungen bei J. SCHMIDT, Niemöller, S. 158. DBW 12, S. 118. i» DBW 13, S. 46. 104 DBW 13, S. 47. 105 EBD., S. 48f. 106 Von M. Niemöller, 2712.1933 (DBW 13, S. 59-61 - der gegenwärtige Fundort des Originals war nicht festzustellen). 101
102
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Keine Zeit der Illusionen: 1933
durch den Gang der Ereignisse überholt und die Kabinettspläne des Reichsbischofs vom Tisch. Bei der anstehenden Neuordnung habe man keineswegs vor, „Kompromisse zu schließen oder uns mit Halbheiten zu begnügen, was ja der Kirche auch nicht mehr helfen kann"10-! Neben all seiner Beschäftigung mit der Kirchenpolitik bemühte Bonhoeffer sich auch darum, Hildebrandt Englisch beizubringen und ihn in England heimisch werden zu lassen 108 . Bonhoeffers Weihnachtsgeschenk für Hildebrandt war dementsprechend eine englische Bibel. Im Pfarrhaus von Forest Hill wohnte damals auch noch Bertha Schulze als Bonhoeffers Sekretärin und Haushälterin 109 , „bis" - so erinnerte sich Hildebrandt später - „ihre ,Absichten' auf Dietrich zu ihrer Entlassung führten - sie war ein kurioses Faktotum" 110 . Bei Lawrence und Erika Whitburn, engagierten Gliedern der deutschen Gemeinde Sydenham, gab es ein traditionelles Weihnachtsdinner mit Turkey; hier wurde auch Silvester gefeiert111. Am ersten Weihnachtstag kam als weiterer Gast Bonhoeffers Student Wolf-Dieter Zimmermann in das große, unansehnliche, kalte und von Mäusen beherrschte Pfarrhaus112. Zimmermann hat sehr anschaulich den Tagesablauf beschrieben, der neben den alltäglichen Problemen des Haushalts, von denen die Bekämpfung der Mäuseplage nur eins von vielen war, von einer intensiven Mischung aus „Meditation, Diskussion und Musikreproduktion" 113 geprägt war. Immer wieder gerieten Hildebrandt und Bonhoeffer in spannungs geladene theologische Auseinandersetzungen, in denen Hildebrandt Bonhoeffer vorwarf, auf dem falschen Weg zu sein, während dieser wiederum sich gegen Hildebrandts „Positivismus" wehrte 114 . Auch Zimmermann bemerkte jedoch jene menschliche Verbundenheit der beiden Freunde, die diese Dispute über-
1°7 Ebd. 108 Beispielsweise ließ er Hildebrandt einen Weihnachtsbaum besorgen (an Bethge, 711.1957; SAMMLUNG B E T H G E , 109
WACHTBERG).
Z u ihr vgl. J . G E N T H O J , D o k u m e n t e , S . 2 6 .
An Bethge (vgl. Anm. 108). EBD., vgl. L . B . WHITBURN, Bonhoeffer, S. 65; Erika Whitburn an Nancy Hildebrandt, 10.9.1986 (NLH, 10053). 112 Ich bin sicher, daß im Brief Paula Bonhoeffers an Dietrich Bonhoeffer vom 22.12.1933 „Hildebrandt" in „Zimmermann" zu verbessern ist (DBW 13, S. 53); denn Hildebrandt ist in keinem Fall im Dezember in Berlin gewesen. 113 W . - D . ZIMMERMANN, Wochen in London, S. 62. Vgl. auch DERS., Bruder Bonhoeffer, 110 111
S . 61. 114 W . - D . ZIMMERMANN, Wochen in London, S. 62. Was Zimmermann damit allerdings genau meint, bleibt unklar, wie auch seine Klassifizierung Hildebrandts als Brunstäd-Schüler und Idealist sowie Bonhoeffers als „dialektischer Theologe" eher etwas zu schematisch erscheint. Hildebrandts Einschätzung Bonhoeffers lautete: ,„Barthianer' aber war er allerdings, wenigstens nach dem gemeinläufigen angelsächsischen Verständnis. Er hätte wohl, wie Hans Ehrenberg (einer der Refugee-Pastoren) auf die Frage eines Engländers: ,are you a Barthian?' geantwortet: ,to you, yes'" (an M. Leibholz, 12.6.1978: NLH, 9251/22).
Von London aus: Drängen auf Entscheidung
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strahlte und die „wußte, daß Meinungen nichts endgültiges sind"115. Julius Rieger, Bonhoeffers Amtsbruder an der Deutschen Lutherischen St. Georgskirche im Londoner Osten und bald sein engster Mitstreiter, erinnerte sich: „An theologischen Florettkämpfen mit Franz Hildebrandt hatte er offensichtlich ganz große Freude. Diese Dispute konnten zuweilen in großer Heiterkeit enden, wenn Hildebrandt mit einer Zusammenstellung von Bonhoeffers Lieblingsausdrücken die Debatte abschloß, die gegnerischen Argumente seien ,doktrinär, affektiert, formalistisch und ordinär'."116 Die kirchenpolitischen Ereignisse und Entwicklungen in Deutschland, vor allem die Würzburger Erklärung vom 30. Dezember, in dem die dort versammelten nicht-deutsch-christlichen Kirchenführer ultimativ eine Neubesetzung des Geistlichen Ministeriums forderten11^ riefen bei Bonhoeffer und Hildebrandt in London große Hoffnung hervor und sorgten dafür, daß sie, wie sich Hildebrandt später erinnerte, „in naiver Antizipation einer kommenden DC-Niederlage alle möglichen Reverse entworfen hatten [...], die zur Bedingung einer Beibehaltung des kirchlichen Amtes unter einem anständigen Régime von der Bande zu unterzeichnen wären. Wir rasten täglich von Manor Mount nach Forest Hill station in der Erwartung, daß die .Times' den Rücktritt von Müller berichten würde"118. Die Erklärung der ersten „Notbundsynode" in Berlin - eigentlich eine Pfarrerversammlung mit 170 Teilnehmern - die am 29. Dezember 1933 unter der Leitung von Jacobi zusammentrat119, mit ihrer Forderung nach einer „Notkirchenregierung" bestärkte Bonhoeffer und Hildebrandt in der Meinung und Hoffnung, daß „der Erfolg nicht zweifelhaft sein" würde; dennoch blieben sie skeptisch, ob die gemeinsame Front mit den nicht-deutschchristlichen Landesbischöfen halten würde. Besorgt fragte Hildebrandt Niemöller: „Die Bischöfe werden doch hoffentlich nicht etwa wieder von ihrem Ultimatum zurückgehen und umfallen?"120
115
W . - D . ZIMMERMAN, Wochen in London, S. 62.
116
J . RIEGER, B o n h o e f f e r , S. 23.
117
V g l . d a z u V E R A N T W O R T U N G F Ü R D I E K I R C H E , B d . 1, S . 1 8 3 f .
118
A n Bethge, 13.1.1981 (SAMMLUNG BETHGE,
119
Vgl. d a z u vgl. H . LUDWIG, E n t s t e h u n g , S. 2 7 5 f . m i t A n m . 4 8 ; J . SCHMIDT, NIEMÖLLER,
WACHTBERG).
162. 120 An M. Niemöller (Begleitschreiben zur Ubersendung des Durchschlags des Schreibens von Bonhoeffer an Hermann Wolfgang Beyer, 6.1.1934: DBW 13, S. 69 Anm. 1). S.
4. DER ERSTE „ILLEGALE": 1934
4.1. Rückkehr nach Berlin Hildebrandts Anfang Januar 1934 Niemöller gegenüber ausgesprochene Hoffnung: „Vielleicht hören wir bald mal wieder Näheres von Ihnen" 1 erfüllte sich schon nach wenigen Tagen: Mitte Januar bat Niemöller Hildebrandt, das Amt des Schatzmeisters des Pfarrernotbundes zu übernehmen, da der bisherige Stelleninhaber, der Kapitän zur See Martin Schulze, nicht mehr zur Verfügung stehe 2 . Nachdem Niemöller drei Nachfragen Hildebrandts - ob die Stelle einen Pastor erfordere, ob er der richtige dafür sei und ob er sofort gebraucht werde - telefonisch mit einem kategorischen Ja beantwortet hatte 3 , erreichte er, daß Hildebrandt Ende Januar nach Berlin zurückkehrte 4 . Die Aufgaben, die ihn im Dahlemer Pfarrhaus erwarteten, das zugleich als Geschäftsstelle des Pfarrernotbundes diente, waren vielfältig. Zum einen war Hildebrandt „finanzieller Hilfsarbeiter" und als solcher für das Eintreiben und Verwalten der Mitgliedsbeiträge zuständig, mit denen Hilfsleistungen des Pfarrernotbundes finanziert wurden 5 , aber darüber hinaus wurde er mehr und mehr zum Assistenten und zeitweiligen Vertreter Niemöllers. Hildebrandts Hoffnungen auf einen Erfolg des kirchlichen Widerstandes waren bei seiner Entscheidung, wieder nach Deutschland zurückzukehren, größer als die immer noch vorhandene Skepsis gegenüber Niemöller, obschon Bonhoeffer und Hildebrandt nach wie vor, so Hildebrandts eigene Einschätzung in der Rückschau, „elementare politische Voraussetzungen von N[iemöller] trennten." Die beiden Freunde „hatten ja doch nie für Hitler gestimmt, nie Hoffnungen auf das Dritte Reich gesetzt", zugleich aber auch „nie den Zusammenbruch unserer Illusionen in der Weise erlebt" wie Niemöller 6 .
1 Ebd. Vgl. schon den Hinweis im Brief vom 2 7 1 2 . 3 3 (DBW 13, S. 61). Niemöllers Brief vom Januar ist offensichtlich nicht erhalten; zum Inhalt vgl. das Interview mit Nancy Hildebrandt, S. 23 (NLH, 9415/2). 3 Ebd. 4 Ein ähnliches Angebot im Oktober 1933 hatte er ausgeschlagen (vgl. oben S. 58). 5 Die Frage nach formeller Mitgliedschaft und Beiträgen wurde anfangs großzügig behandelt, war aber später z.B. auch bei Bonhoeffer wichtig, als es um Gehaltsausgleichszahlungen ging (vgl. DBW 16, S. 187f.). ' A n M. Leibholz, 12.6.78 (NLH, 9251/22); vgl. auch unten S. 150 A n m . 157 2
Rückkehr nach Berlin
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Wie Hildebrandt in diesen Wochen dachte, wird anschaulich in seinem in Lutherdeutsch abgefaßten Brief zu Bonhoeffers 28. Geburtstag am 4. Februar 1934: „Und were noch vil tzu sagen/von gog und magog/und yhren arten (merckest du wol/das des gog arten seynd nit jdermans arten)/aber las sie treyben yhr spil/die tollen iager/ym wald und ober der heyden/es mus doch noch erfüllet werden/was geschriben stehet matth. XXIII./yhr solt euch nit/reybi/lassen nennen. Milch hab ich dir geben/unnd keyn feste speyse/das wil ich dir wol sagen/denn du vertregst nit/bedarfst wol/das man dich lere/das max nit moritz/und noch nit aller tag abend ist/mogen sie schlaffen und dosen/in Laodicea/die faulfressigen seue/ sammt yhren meysen und wurmern/wyr werden das liecht gewißlich nit unter den scheffel stellen/das ist nit schwer zu bewysen." 7 A n Bonhoeffers Geburtstag selbst hielt Hildebrandt in der Jesus-ChristusKirche seine erste Dahlemer Predigt, - anstelle Niemöllers, der kurz vorher, am 2 7 Januar suspendiert worden war 8 . Die Stimmung in der Gemeinde war gespannt. Hildebrandt erschien, wie er später schilderte, „vor einer äußerst mißtrauischen Gemeinde, die anfänglich glaubte, den angedrohten Kommissar des Reichsbischofs vor sich zu haben" 9 . Auch ein britischer Reporter war anwesend, „in der Erwartung, nun einen Mann der Gegenseite zu sehen" 1 0 . A m nächsten Morgen war in der konservativen Londoner „Morning Post" unter der Schlagzeile: „German Pastor's Challenge. Fearless Attack on H e r r Hitler. State Intervention Condemned" zu lesen: „More than 1500 Berlin Protestants this morning attended the church in Dahlem of Pastor Niemoeller, the ex-naval officer, to show their sympathy for the suspended Pastor. Half an hour before the service began there was not a seat to be had in the church. When the bells stopped ringing, the aisles were filled with standing men and women. A solitary uniformed N.S. storm trooper was a conspicuous member of the congregation. Pastor Niemoeller, however, did not appear. His substitute was a young curate whose outspoken sermon revealed that he was also a member of the Pastors' Emergency League of which Pastor Niemoeller is the leader. The curate took his text from Psalm 16:2 ,Ο my soul, thou hast said unto the Lord, Thou art my God.' 11 While he did not go so far as to instance the fallibility of the Primate (Reichsbischof Mueller) or the Prussian Premier (Goering) the preacher made it quite clear that the true Christian always acknowledges spiritual before temporal authority. The large and attentive congregation and the young preacher's fearless condemnation of state intervention in church affairs afford another indication that a conside-
7
DBW 13, S. 86f. (EBD. auch die Auflösung der zeitgeschichtlichen Anspielungen).
8
Vgl. J . S C H M I D T , N i e m ö l l e r , S. 1 8 6 f .
' Bibl. Nr. 59, S. 38. 10 DB, S. 403. 11 Nach dem Kalender 1934 Titel: „Du bist ja der Herr" (NLH, 9251/10).
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Der erste „Illegale": 1934 rabie section of the Protestant community is still by no means satisfied with the prospect of a church answerable to the Nazi government." 1 2
Auch wenn Bonhoeffers Mutter, Paula Bonhoeffer, ihrem Sohn nach London berichten konnte: „Gestern predigte Hildebrandt in der Christuskirche für den suspendierten Niemöller sehr schön" 13 , war zu erwarten, daß andere Kreise die Predigt durchaus nicht „sehr schön" fanden, sondern sie - und vor allem die Berichterstattung darüber in der „Greuelpropaganda" betreibenden britischen Presse - zum Anlaß von Repressalien nehmen könnten. Eine Reaktion ließ nicht lange auf sich warten: Eine Woche nach der Predigt Hildebrandts detonierte im Niemöllerschen Pfarrhaus eine Bombe; „eine Stunde später erscheint die Polizei, die niemand gerufen hatte" 14 . Glücklicherweise verhinderte „der Dilettantismus der Täter" 15 größere Schäden. Hildebrandt, der für den nach Elberfeld gereisten Niemöller das Haus hütete, protestierte sofort bei staatlichen und kirchlichen Behörden 16 , aber die Untersuchungen der Staatsanwaltschaft verliefen ergebnislos. Zwei Tage später erschien Hildebrandt auf dem Geheimen Staatspolizeiamt Berlin und erklärte, ihm sei am Sonntag der schon erwähnte Artikel der „Morning Post" zugegangen. An dem Bericht sei „abgesehen von der Wiedergabe des Predigttextes und der Tatsache, daß ich nach der Predigt pflichtgemäß die Suspension des Pfarrers Niemöller kurz mitgeteilt habe, [...] kein wahres Wort" 1 ? Er verwahre sich dagegen, seine „rein biblische Predigt" als „politische Agitationsrede" gegen Hitler mißverstanden zu sehen: „Ich sprach vielmehr in der bewußten Absicht, einer großenteils aus Sensationslustigen bestehenden Gemeinde zu zeigen, daß es sich hier u m die Verkündigung göttlichen Wortes und u m nichts anders handle. D e m entsprach die ganze Auslegung der Psalmstelle, deren Thema der elementare Satz des christlichen Glaubens, daß Gott der H e r r ist, war. Die Berichterstattung des englischen Blattes hat mich, wie meine Kollegen, in helle E m p ö r u n g versetzt, denn sie ist geeignet, über die betroffene Person hinaus den Pfarrernotbund in seinem rein kirchlichen Ringen politisch mißzuverstehen und zu diskreditieren und darüber hinaus das ganze Verhältnis von Kirche und Staat im Dritten Reich in ein völlig falsches Licht zu setzen."
Hildebrandt bat die Behörde, gegen diese „Vergiftung der Berichterstattung" vorzugehen und ihn „und die kirchliche Sache gegen diese Angriffe und Ver12 Zit. nach N. HILDEBRANDT, NO Winter, S. 136 (eine Abschrift des Berichtes findet sich auch im EZA BERLIN, 5/807). Der Korrespondent der hochkonservativen „Morning Post" (Auflage: 126.000), die im Oktober 1937 mit dem „Daily Telegraph" fusionierte, war Karl Robson (im Dezember 1936 ausgewiesen); vgl. dazu M. HUTTNER, Britische Presse, S. 98, 157 13 Brief vom 5.2.1934 (DBW 13, S. 93; DB, S. 421). » Bibl. Nr. 4, S. 60 (vgl. dazu J. SCHMIDT, Niemöller, S. 180f.). 15 An Karow, 10.2.1934 (Kopie im ZEKHN DARMSTADT, 35/372). 16 Ebd. 17 Dies und die folgende Zitate nach: Geheimes Staatspolizeiamt an Reichsbischof Müller, 7 3.1934 (EZA BERLIN, 1/A4/247).
Rückkehr nach Berlin
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leumdungen in Schutz zu nehmen" 18 . Dieser seltsam erscheinende Schritt Hildebrandts war für ihn auf dem Hintergrund der Geschehnisse unausweichlich: Der Bombenanschlag hatte gezeigt, daß sich die Gegner Niemöllers nicht mit seiner Suspendierung zufriedengaben. Zudem gab es viele in der Partei und in den „Behörden", die - wie Hildebrandt selbst bei der Gestapo zu Protokoll gab - nur darauf warteten, „den Pfarrern des Pfarrernotbundes staatsfeindliche Beziehungen zur Auslandspresse unterzuschieben." So waren sie dann um so leichter der „landesverräterischen Tätigkeit" zu verdächtigen und in eine Reihe mit den (sozialdemokratischen) „Prager Emigranten" 19 zu stellen. Ohne diese Schutzbehauptung hätte sich Hildebrandt nur zu leicht eine Anklage auf Grund des Heimtückegesetzes vom 21. März 1933 einhandeln können 20 . Dieses Gesetz (in Verbindung mit der Notverordnung vom 28. Februar 1933) schränkte den Spielraum jeder öffentlichen· Meinungsäußerung erheblich ein21 und veranlaßte in ähnlicher Lage auch Bonhoeffer dazu, seine Kontakte zur ausländischen Presse, namentlich zur „Times", „entrüstet zu dementieren" 22 . Eine gleiche „Richtigstellung" wie bei der Gestapo nahm Hildebrandt am 15. Januar 1934 in einem Brief an die Reichskirchenregierung vor 23 . Dort erfuhr sie allerdings, so läßt sich erschließen, eine von ihm sicher nicht beabsichtigte Instrumentalisierung. Im dortigen Geschäftsgang landete der Brief auf dem Schreibtisch von Theodor Heckel, der ab jetzt häufiger „in einer höchst unglücklichen Rolle" 24 auf der ökumenischen Bühne erscheinen sollte. Heckel, fränkischer Lutheraner, seit 1928 Referent für die auslandsdeutschen Gemeinden im Kirchenbundesamt, war trotz seiner anfänglichen Zugehörigkeit zur Jungreformatorischen Bewegung 25 im Sommer 1933 im Amt geblieben. Er hatte sein Referat als „Auslandsabteilung der Reichskirchenregierung" erhalten können und sich schließlich seit dem Herbst 1933
18 Ebd. 19 Vgl. Heckel am 8.2.1934 gegenüber den deutschen Pastoren in London: „Die Opposition muß sich im klaren darüber sein, daß sie in einer Reihe mit den Prager Emigranten steht. Beispiele für diese landesverräterische Tätigkeit werden angeführt" (DBW 13, S. 103f.). 20 Vgl. dazu DB, S. 316. 21 Dieser Sachverhalt und die damit verbundenen Strafandrohung ist m . E . (neben der „nationalen Empfindlichkeit") ein nicht unwichtiger Faktor bei der Beurteilung der massiven Abwehr der „Greuelpropaganda" von seiten kirchlicher Stellen in Deutschland; vgl. dazu K. SCHOLDER, Kirchen, Bd. 1, S. 331-335; G . VAN NORDEN, Protestantismus, S. 323f. 22 Im Januar 1934 (DB, S. 420; DBW 13, S. 69f.). 23 E 2 A BERLIN, 5/807 Gleichzeitig habe Hildebrandt Bonhoeffer in einem Brief gebeten, „to ensure that such reporting would continue, what it did" (so die Erinnerung von N . HILDEBRANDT, N o winter, S. 135). 24 K. SCHOLDER, Kirchen, Bd. 2, S. 104. 25 Er gehörte zu den Unterzeichnern des Aufrufs vom Mai 1933 (vgl. DB, S. 331 f.).
70
Der erste „Illegale": 1934
„völlig dem Reichsbischof und seiner Linie verschrieben" 26 . Gerade diese „Linie" aber war der Anlaß dafür, daß sich die Pastoren der deutschen Gemeinden in London Anfang Januar 1934 dazu entschlossen, dem Reichsbischof das Vertrauen zu versagen und damit die Frage nach dem rechtlichen Verhältnis der deutschen Gemeinden in Großbritannien zur Deutschen Evanglischen Kirche zu stellen2? Heckel, der diese kirchenpolitischen Aktivitäten als Bedrohung seiner Amtsbasis ansah 28 , reiste deswegen im Februar nach London, um einerseits die Londoner deutschen Pastoren und andererseits George Bell, den Bischof von Chichester, derzeit Vorsitzender der britischen Sektion und Präsident des Ökumenischen Rates für Praktisches Christentum, von ihren kritischen Eingaben gegen das Reichskirchenregiment in Deutschland abzubringen 29 . Der Reise der Delegation, der neben Heckel die Referenten Friedrich-Wihelm Krummacher und Dr. iur. Hans Wahl angehörten, war kein Erfolg beschieden. Die deutschen Pastoren verwahrten sich gegen die Unterstellung „landesverräterischer Tätigkeit" und vereitelten Heckeis Versuch, durch ein vorformuliertes Kommuniqué den Konflikt „gütlich" zu lösen 30 . Auch Bell ließ sich nicht überreden, sich für sechs Monate jeder Äußerung zu enthalten, sondern zeigte sich erstaunlich gut (durch Bonhoeffer) informiert und verwies auf konkrete Beispiele der Unterdrückung oppositioneller Pfarrer31. Kaum war Heckel wieder in Berlin, konnte Bell ihm erneut Berichte und Tatsachen vorlegen, und er wies darauf hin, er werde in seiner Haltung des öffentlichen Einspruchs („silence may be impossible") bestärkt werden, falls die Zwangsmaßnahmen gegen Mitglieder des Pfarrernotbundes nicht aufhörten 32 . Mit Hildebrandts Brief hatte Heckel nun, direkt nach seiner am 21. Februar 1934 erfolgten Berufung zum Leiter des neu errichteten Kirchlichen Außenamtes und zum Titularbischof, ein „eklatantes Beispiel" dafür in der Hand, wie unzutreffend doch die Berichte seien, die der Bischof der englischen Presse entnehme. Darum sandte er den Brief triumphierend als Beleg für die falsche Berichterstattung an Bell weiter 33 . Hildebrandt versicherte er: „Ich habe Grund zu der Annahme, daß der Lordbischof von Chichester Verständnis dafür haben wird, daß an diesem Beispiel die unerhörte Berichterstattung
26
K. SCHOLDER, Kirchen, Bd. 2, S. 104; eine positivere Einschätzung Heckeis vertritt R . - U .
K U N Z E , H e c k e l , S. 1 2 8 . 27 2
Vgl. DBW 13, S. 76-78, 95.
« V g l . D B W 13, S. 8 5 ; R . - U . K U N Z E , H e c k e l , S. 1 2 5 .
Zum Hintergrund vgl. DB, S. 402 ff. Vgl. die Protokolle und Erklärungen (DBW 13, S. 94-108). 31 Vgl. DB, S. 407; schon am 17 1.1934 hatte Bell einen ersten Brief an die „Times" gerichtet und darin auf die Haltlosigkeit der reichsbischöflichen Zusagen hingewiesen (vgl. EBD., S. 421). 32 Bell an Heckel, 13.2.1934 (A. BOYENS, Kirchenkampf und Ökumene, Bd. 1, S. 318f.). 33 Heckel an Bell 23.2.1934 (LPL LONDON, Bell Papers 5, 213; Konzept im E Z A BERLIN, 5/807 mit dem Vermerk: „Sofort!"); vgl. M.D. HAMPSON, Response, S. 47 29
30
1934 hatte man noch seine Illusionen"
71
der ausländischen Presse über die deutschen kirchenpolitischen Vorgänge besonders anschaulich wird, und daß er die erforderlichen Schritte tun wird." 34 Auch der Evangelische Presseverband für Deutschland sowie Hans Schönfeld, der deutsche Leiter der Forschungsabteilung des Ökumenischen Rates in Genf, erhielten am 28. Februar eine Mitteilung über den Fall, verbunden mit der Bitte, je in ihrem Bereich „in inoffizieller Form darauf hinzuweisen, wie gefährlich eine solche Berichterstattung nicht nur für einzelne Pfarrer, sondern für die innerkirchliche Auseinandersetzung in Deutschland ist" 35 . Krummacher kam Bell gegenüber am 1. März nochmals auf diesen Vorfall zurück, brachte weitere Beispiele dafür, „daß man uns unsere innerkirchliche Entwicklung seitens der ausländischen Presse außerordentlich erschwert", und erhoffte Beils Bedauern darüber, „daß Kräfte in der Welt am Werke sind, die bewußt voreingenommen die kirchliche Aufbauarbeit der DEK erschweren und mißtrauisch betrachten" 36 . Der Bischof ließ sich jedoch nicht täuschen und trug schon gut zehn Tage später, wieder in einem Brief an die „Times", neue Gravamina gegen die Reichskirche vor, mit denen er belegte, daß „die Beziehungen zwischen der Deutschen Evangelischen Kirche und den anderen Kirchen nicht völlig ungetrübt sein können" 3 ? Der Kontakt zu Bell und sein Einfluß in der Ökumene erwies sich für die Bekennende Kirche und später auch für Hildebrandt persönlich als lebenswichtiger Rückhalt.
4.2. „ 1934 hatte man noch seine Illusionen "38 Im selben Monat nahmen die Pläne einer Freien Synode für Berlin-Brandenburg konkrete Gestalt an, und am Ζ März konnte die Synode mit 440 Delegierten in Dahlem zusammentreten 39 . Ausgerechnet durch das Kirchliche Außenamt, das ihn zum Rapport nach Berlin zitiert hatte, wurde es Bonhoeffer ermöglicht, an dieser Synode teilzunehmen 40 . Hildebrandt schrieb einen Bericht für die „Junge Kirche", der auch in der Broschüre abgedruckt wurde, die die Synode dokumentiert 41 . Er hob die Absicht der Synode hervor, „aus der Not und Gefahr der Stunde Zeugnis dafür abzulegen, daß der
« Von Heckel, 21.2.1934 (EZA BERLIN, 5/807). " E Z A BERLIN, 5 / 8 0 7 * E Z A BERLIN, 5 / 8 0 8 . 37
JK 2,1934, S. 347 (Abbildungim BONHOEFFER-BILDBAND, S. 128); vgl. auch A. BOYENS, Kirchenkampf und Ökumene, Bd. 1, S. 321 f.; vgl. DB, S. 407 's An M. Leibholz, 11.71978 (NLH, 9251/22). 39 Vgl. dazu auch H . LUDWIG, Entstehung, S. 278. 40 DB, S. 425. 41 Bibl. Nr. 20; vgl. auch Bibl. Nr. 22. Der Bericht (Bibl. Nr. 20) fand sogar das Interesse der Gestapo (vgl. H . BOBERACH, Berichte, S. 60).
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Der erste „Illegale": 1934
Mund der Kirche noch nicht verstummt ist" 42 . Als Frage der „Gemeinden" vermerkte Hildebrandt, was ihn und Bonhoeffer im Winter umtrieb: „Warum habt ihr uns nicht längst zusammengerufen?", und er hielt fest: „ D i e Freie S y n o d e ist die Antwort der lebendigen Gemeinde, die eigentlich im Herbst schon auf die damaligen amtlichen Synoden hätte gegeben werden müssen. D a ß sie nun endlich in dieser klaren und geschlossenen F o r m erfolgte, gibt gerade denen unter den evangelischen Christen wieder H o f f n u n g für die Kirche, die im letzten halben Jahr mehr als einmal an ihr verzweifeln mußten." 4 3
Die Synode griff bei ihren Beratungen und Beschlüssen auf die Ergebnisse der ersten Freien Reformierten Synode zurück, die am 3./4. Januar in Barmen zusammengetreten war. Für diese Synode, die „eine neue Phase der Opposition" einleitete44, hatte Karl Barth eine „Erklärung über das rechte Verständnis der reformatorischen Bekenntnisse in der DEK der Gegenwart" verfaßt, - in der Rückschau wies Hildebrandt dankbar darauf hin, „daß das Verdienst, als erster die Parole der freien Synodenbildung ausgegeben zu haben, Karl Barth zufällt" 45 . Für Berlin war es vor allem Heinrich Vogel, Pfarrer in Dobbrikow/Mark, der dazu aufgerufen hatte, nun auch ein „lutherisches Kampfbekenntnis" vorzulegen, und er selbst verfaßte dafür eine „Evangelische Antwort auf die in der Kirche eingedrungenen Irrlehren und Gewaltmethoden". Die Berliner Synode ,,bejaht[e]" in ihrem Beschluß die beiden Ausarbeitungen als „gegenwärtige Bezeugung der uns allein verpflichtenden Wahrheit der Heiligen Schrift" 46 . Durch diese Zustimmung zum gemeinsamen Bekennen von Lutheranern und Reformierten wurde die Synode, so die Einschätzung von Hartmut Ludwig, „zu einem Markstein auf dem Weg der Entstehung" der Bekennenden Kirche4? Für Bonhoeffer war sie, wie er Bell nach seiner Rückkehr nach London schrieb, „a real progress and success" 48 ; er hoffte auf die Entwicklung hin zu einer nationalen Freien Synode und zur Bildung eigener kirchenleitender Organe nach dem Vorbild des auf der Berliner Synode eingesetzten „Provinzialbruderrates", womit die Trennung von der Reichskirche endgültig vollzogen werden könnte. Allerdings waren Hildebrandt und er in ihrer radikalen Haltung immer noch eine Minderheit, wie sich bald zeigte49. Als nämlich der Reichsbischof mit seiner „Karfreitagsbotschaft" die Politik der
« Bibl. Nr. 20, S. 39. 43 EBD., S. 40. 44 H. LUDWIG, Entstehung, S. 277 45 Bibl. Nr. 24, S. 689. 46 Bibl. Nr. 20, S. 22-25 (Barth), S. 26-33 (Vogel), S. 38 (Beschluß). 47 H. LUDWIG, Entstehung, S. 278. 4
« D B W 13, S . 112.
Vgl. auch H. LUDWIG, Entstehung, S. 177f. zur unterschiedlichen Interessenlage im Berliner Notbundkreis. 49
1934 hatte man noch seine Illusionen"
73
Reichskirche zu rechtfertigen suchte und den Schein der Friedensbereitschaft erweckte, reagierte der Bruderrat des Pfarrernotbundes mit einem eigenen „Wort an die Gemeinden", das am 5. April im Dortmunder „Bürgerhaus" formuliert und verabschiedet wurde. Hildebrandt, der dafür eigens nach Dortmund gefahren war, gehörte zu den 29 Unterzeichnern dieser Erklärung, die die reichsbischöfliche „Botschaft" Punkt für Punkt widerlegte, „die alleinige Geltung der Heiligen Schrift und die lautere Verkündigung des Evangeliums" forderte und feststellte: „Weil wir an diesem entscheidenden Punkte uns von allem geschieden wissen, was der Herr Reichsbischof und seine Freunde lehren, darum können wir nicht zusammen kommen, darum ist immer noch Krieg in der Kirche, darum kommt es zum Widerstand der Pfarrer und Presbyterien."50 Die Ernennung August Jägers, des Staatskommissars von 1933, zum „Rechtswalter" der Deutschen Evangelischen Kirche am 12. April 1934 und die beginnenden „Eingliederungen" der Landeskirchen in die Reichskirche verschärften die Situation und verstärkten den Widerstand der kirchlichen Opposition. Als Vertreter Niemöllers, der im Urlaub war51, nahm Hildebrandt am 22. April 1934 - nach dem ersten Flug seines Lebens - am „Tag von Ulm" teil. Er war schon vorher an der Vorbereitung dieses Tages beteiligt gewesen, die der am 11. April in Nürnberg gebildete „Arbeitsausschuß der Bekenntnisgemeinschaft der DEK" übernommen hatte, - ein Gremium, in dem Vertreter der Bekenntnissynoden und der süddeutschen Lutheraner die Aktivitäten der kirchlichen Opposition erstmals reichsweit zusammenfaßten und das bald als „Nürnberger Ausschuß" und dann als „Reichsbruderrat" bekannt wurde52. Die in Ulm versammelte Bekenntnisgemeinschaft der DEK bezeichnete sich erstmals „als rechtmäßige evangelische Kirche Deutschlands vor dieser Gemeinde und der ganzen Christenheit"53, und die Erklärung von Ulm wurde so zur „kirchliche [n] Gründungsurkunde der Bekennenden Kirche"54. Anläßlich der 40. Wiederkehr dieses Tages 1974 bekannte Hildebrandt in seiner Predigt im Ulmer Münster, daß die werdende Bekennende Kirche damals den entscheidenden Schritt getan habe, einen Schritt hin auf das Ziel: „Eine Kirche nicht mehr gebunden an herrschende Systeme und belastet mit der Fiktion der rechtlichen Hilfe vom Staat. Eine Kirche ohne Grenzen von
50
J K 2 , 1934, S. 3 2 9 - 3 3 1 ; vgl. K . S C H O L D E R , K i r c h e n , B d . 2 , S. 109.
51
An W. Niemöller, 8.1.1953 (2EKHN DARMSTADT, 35/459). Dennoch ist die Erklärung von Niemöller und Hildebrandt unterzeichnet. 52 Vgl. dazu C . N I C O L A I S E N , Weg nach Barmen, S. 17; V E R A N T W O R T U N G FÜR DIE K I R C H E , B d . 1, S. 2 7 4 A n m . 1; K . S C H O L D E R , K I R C H E N , B d . 2 , S. 113. 53
KJ 1933-1944, S. 65.
54
K. SCHOLDER, Kirchen, Bd. 2, S. 114.
74
D e r erste „Illegale": 1934
Sprache, Rasse und Nation. Eine Kirche vereint über alle Barrieren hinweg mit der gesamten Christenheit auf Erden." 55 Hildebrandt hob ferner hervor, daß für ihn damals der zweite Leitsatz aus der Predigt von Landesbischof Theophil Wurm, „Wir dienen unserem Volk, wenn wir anders sind als die Welt", prägend gewesen sei. Anders als Wurm, der die Formierung der kirchlichen Opposition zur Bekennenden Kirche bewußt nicht so verstanden hatte, als ob damit „eine Kirche außerhalb der Deutschen Evangelischen Kirche neu" gebildet werden sollte56, blieb für Hildebrandt nach dem in Ulm erklärten „Schisma" der Weg in die Freikirche die unausweisliche Konsequenz. Sein Leit- und Vorbild in dieser Zeit wurde Thomas Chalmers, der 1843 in Schottland den Exodus in die Freikirche gewagt hatte. Als der „Nürnberger Ausschuß" am 2. Mai 1934 zu seiner zweiten Sitzung im Berliner Michaelshospiz zusammenkam, nahm Hildebrandt wiederum als Niemöllers Bevollmächtigter teil. Der Ausschuß zog erste und für Hildebrandt überraschend deutliche Konsequenzen aus der Ulmer Erklärung, indem er beschloß, eine „Freie Deutsche Nationalsynode" mit einem theologischen, juristischen und praktischen Programm vorzubereiten 5 ? Als „Produkt der Diskussion im Berliner Pfarrernotbund" und als Versuch, das „Faktum von Ulm" nun auch umzusetzen, entstanden etwa zur selben Zeit Hildebrandts „10 Thesen für die Freikirche" 58 , denen Lic. Carl Grüneisen, Pfarrer in Berlin-Lichterfelde und ebenfalls Gründungsmitglied des Pfarrernotbunds, in zehn Leitsätzen die Position der Volkskirche gegenüberstellte. Hildebrandt nahm für seine Thesen einen Vers Theodor Storms zum Motto, der für ihn und auch für Bonhoeffer die Marschrichtung festlegte: „Der eine fragt: Was kommt danach? Der andre: Was ist Recht? Und also unterscheidet sich der Freie von dem Knecht." 59 Für Hildebrandt war der Schritt in die Freikirche ein Schritt des Glaubens, der unabhängig von Erfolg und Taktik war. Er widersprach denen, die behaupteten, der Augenblick sei 55 Bibl. Nr. 58, S. 25. Hildebrandt war als einer der wenigen 1974 noch lebenden Unterzeichner der Erklärung durch den Münsterpfarrer Schwesig eingeladen worden, der Ende der sechziger Jahre als Pfarrer der deutschen Gemeinde in Edinburgh tätig gewesen war und Hildebrandt auch nach seinem ersten Schlaganfall seelsorgerlich betreut hatte. 56 C. NICOLAISEN, Weg nach Barmen, S. 19. 57 Vgl. das Protokoll (LKAEKvW BIELEFELD, 5,1/92) sowie K. SCHOLDER, Kirchen, Bd. 2, S. 171 f. 58 Bibl. Nr. 21. Im LKAEKvW BIELEFELD befinden sich zwei Kopien, von denen die eine den Vermerk trägt: „11.10.1934" (EBD., 5,1/474,1) und die andere: „zu Ulm" (EBD., 5,1/54 in einer Zusammenstellung mit Grüneisens Leitsätzen; dort auch vier weitere Exemplare). W. NIEMÖLLER datiert die Thesen „zwischen Ulm und Barmen, vermutlich Ende April 1934" (Bekenntnispfarrer, S. 82 Anm. 6. EBD., S. 83f. auch Abdruck der Leitsätze Grüneisens). 59 Zu Herkunft und Verwendung dieses Spruches vgl. Bonhoeffer an Rößler, 20.11.1934 (DBW 13, 239 mit Anm. 13) sowie Bibl. Nr. 4, S. 15.
1934 hatte m a n noch seine Illusionen"
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noch nicht reif, und man könne sich doch auf die Gemeinde zurückziehen. Für ihn bedeutete der Rückzug auf die Gemeinde den „Verzicht auf die Kirche"; er sah darin eine leichtfertige „Patentlösung aller kirchenpolitischen Verlegenheiten", die den wirklichen Problemen auswich. Eben um am Evangelium, am Bekenntnis und am Predigtamt festhalten zu können, müsse man bereit sein, auf die Deutsche Evangelische Kirche, auf Pfarrhäuser und Kirchengebäude notfalls zu verzichten. Schließlich wandte sich Hildebrandt gegen die weitverbreitete naive Einschätzung des Nationalsozialismus als volksmissionarischer Chance und machte klar, wem der Dienst der Kirche doch eigentlich zu gelten hat: „Der Dienst der Bekennenden Kirche gilt heute nicht zuerst den Siegern, sondern den Opfern des Kirchenkampfes, die schon längst außerhalb der Kirche darauf warten." Hier klang schon etwas von dem an, was Bonhoeffer sieben Jahre später in seinem Schuldbekenntnis der Kirche ausdrückte: „Die Kirche bekennt, die willkürliche Anwendung brutaler Gewalt, das leibliche und seelische Leiden unzähliger Unschuldiger, Unterdrückung, Haß, Mord, gesehen zu haben ohne ihre Stimme für sie zu erheben, ohne Wege gefunden zu haben, ihnen zu Hilfe zu eilen. Sie ist schuldig geworden am Leben der Schwächsten und Wehrlosesten Brüder Jesu Christi." 60
Als Eberhard Bethge Hildebrandt 1958 wegen dieser Nähe zu Bonhoeffers Schuldbekenntnis um einen Kommentar zu seinen Thesen von 1934 bat, schrieb dieser: „Die Bezugnahme auf Opfer und Sieger des Naziregimes versteht sich einfach so, daß wir fanden, die Kirche schulde ihren Dienst in erster Hinsicht den Juden, KZInsassen und Verfolgten, und daß die von Grüneisen (und schlimmer von Knak) benutzten ,missionarischen' Argumente höchst akademisch waren - es lohnte sich wirklich nicht, um der vermeintlichen Bekehrung der DC und Neutralen willen in der Staatskirche zu verharren." 61
Im Unterschied zu der Sicht Hildebrandts blieben Grüneisens „Leitsätze" völlig im Rahmen der traditionellen Verhältnisbestimmung von Volk und Kirche. Sie hatten lediglich „unser Volk" und „unsere Gemeindeglieder" im Blick, bei denen es „kämpfend auszuharren" gelte62. Daß es „Opfer des Kirchenkampfes" geben könne, denen die Kirche Beistand und Solidarität schulde, kam Grüneisen hier nicht in den Sinn. Diese Grunddifferenz wurde später bei den Diskussionen auf der Steglitzer Synode im September 1935 er-
60 DBW 6, S. 130. Die EBD., Anm. 21 vertretene Meinung, „Brüder Jesu Christi" sei ein unübersehbarer „Hinweis insbesondere auf die Juden", hätte Hildebrandt sicher kontrovers mit Bethge diskutiert; seiner Meinung nach ging es um eine Solidarisierung mit allen Entrechteten und diese seien alle nach Mt 25 „Brüder Jesu Christi"! 61
A n Bethge, 13.9.1958 (SAMMLUNG BETHGE,
62
LKAEKvW BIELEFELD, 5,1/54.
WACHTBERG).
76
Der erste „Illegale": 1934
neut deutlich. Immer wieder war der Berliner Missionsdirektor Siegfried Knak der Gegenpol zu Bonhoeffer und Hildebrandt. Auch daran erinnerte Hildebrandt 1958: „Ich entsinne mich einer anderen Debatte im gleichen Kreis zwischen Dietrich und Knak, bei der Gal. 3,28 im Mittelpunkt stand; und mir ist erinnerlich, wie ich Dietrich zuflüsterte, daß die Knaksche Fassung des Textes lauten müsse ,hier ist zwar Jude und Grieche ...' Dietrich machte dann auch gleich davon Gebrauch. Die ,Volkskirchler' deckten sich immer mit dem sogenannten ,missionarischen Anliegen'." 63
Aber Hildebrandts Hoffnung, die kirchenpolitische Opposition würde den Schritt in die Freikirche wagen, erwies sich als Illusion. Mit Martin Pertiet ist über die Debatte in der entstehenden Bekennenden Kirche zu resümieren: „Als ihr Ergebnis darf ein eindeutiges Ja zur Volkskirche im Sinne einer bekennenden Kirche und ein Nein zur Freikirche festgehalten werden." 64 Als Hildebrandt als Begleiter Niemöllers Ende Mai 1934 als Gast zur Barmer Synode fuhr, stand dieses Ergebnis freilich so noch nicht fest 65 . Die Synode und ihre „Theologische Erklärung" brachten Hildebrandt „a clear feeling of liberation" 66 . Zurückgekehrt nach Berlin, predigte er am folgenden Sonntag, dem 3. Juni 1934, in der Dahlemer St. Annenkirche ganz bewußt über „Die sichtbare Kirche" anhand von Mt 5,14b. Einen Tag später folgte dann der Entschluß zur praktischen Umsetzung der Beschlüsse der Barmer Synode, was Julius Rieger in seinem Tagebuch so festhielt: „Jacobi und Hildebrandt riefen letzten Montag bei Bonhoeffer an. Es würde seitens des Notbundes eine Schulungsleitung für Pfarrer, Vikare und Studenten gesucht. Bonhoeffer ist gefragt, ob er ein solches Amt übernehmen wolle." 67 Dieser Anruf war ein erstes Anzeichen dafür, daß auch die Ausbildung des kirchlichen Nachwuchses durch eigene Institutionen der Bekennenden Kirche erfolgen sollte, - ein erster Schritt auf dem Weg, der dann 1935 zur Entstehung des Predigerseminars der Bekennenden Kirche in Finkenwalde führte. Noch voller Optimismus schrieb Hildebrandt im Juli 1934, er sei „von der Versuchung des Kirchenaustritts geheilt und meines Lebens wieder froh, als die freien Synoden auf den Plan traten und das Faktum von Barmen, d. h. die Tatsache einer neuen Kirche vor der Welt sichtbar war" 68 . Aber diese Sicht war zu optimistisch, denn die Erklärung von Ulm blieb nur „ein erster zag-
63
An Bethge (vgl. Anm. 61).
64
M . P E R T I E T , W e s e n , S . 117
Vgl. dazu etwa K . SCHOLDER, Kirchen, Bd. 2, S. 182FF. 66 Bibl. Nr. 63, S. 288. 67 Abdruck: DBW 13, S. 150; vgl. auch Hildebrandts Eintragung in seinen Kalender vom 3.6.1934: „Bonh. anklingeln" ( N L H , 9251/10). An Schade, 21.7.1934 ( N L H , 9251/24). 65
Ökumenische Vermittlungstätigkeit
77
hafter Schritt in der Richtung auf den offenen Bruch" 69 , und statt der „Freikirche" rief die Dahlemer Bekenntnissynode im Oktober 1934 das kirchliche Notrecht aus70. Diesem Konstrukt, so notwendig es auch in der Situation gewesen sein mag, stand Hildebrandt von Anfang an skeptisch gegenüber, da es ihm nicht weit genug ging: „It did not, and still does not, carry conviction with me. We looked in vain for a Thomas Chalmers in our country who would lead the Dissenters into a separate Free Church [...]. ,The time is not yet ripe' was the answer [...] one of the most powerful weapons of the Enemy. Innumerable are the moments passed, the opportunities missed by the Resistance."71
Dieser späteren Einschätzung der Entwicklung entspricht auch die Äußerung Hildebrandts von 1978: „Der klare Bruch, den wir uns vorstellten und gewünscht hatten, kam in dieser simplen Weise nie zustande." 72 Bereits 1974 hatte er in seiner Predigt zum Jubiläum der Ulmer Erklärung betont: „Wenn der offene Bruch zustande gekommen wäre, es wäre uns gewiß keine Verfolgung erspart geblieben, aber es wäre klarere Luft und ein saubereres Haus gewesen. Wir hätten nicht mit Irrlehre und Gewalt unter demselben Dach gewohnt." 73
4.3. Ökumenische
Vermittlungstätigkeit
Schon bald nach seiner Rückkehr nach Berlin im Januar 1934 versuchte Hildebrandt, die ökumenischen Verbindungen, die Bonhoeffer und er in London aufgenommen hatten, für die sich formierende Bekennende Kirche fruchtbar zu machen. Als durch die Barmer Synode aus der kirchlichen Opposition in Deutschland die Bekennende Kirche geworden war, war für die ökumenischen Gremien eine neue Lage entstanden, die in ihren Statuten nicht vorgesehen war. Bei den Vorbereitungen zu den für Sommer 1934 geplanten ökumenischen Konferenzen auf der dänischen Insel Fano - der Weltkonferenz der Bewegung für Praktisches Christentum (Life and Work), verbunden mit einer ökumenischen Jugendkonferenz - traten diese Schwierigkeiten offen zutage. Wer konnte und sollte die Deutsche Evangelische
«» Bibl. Nr. 58, S. 20. 70 Vgl. dazu K. SCHOLDER, Kirchen, Bd. 2, S. 337f. 71 Bibl. Nr. 63, S. 290. Wenn Niemöller dagegen behauptete, der »Weg zur Freikirche" müsse als Weg „des Eigensinns und der politischen Unzufriedenheit angesehen werden" (zit. nach J. SCHMIDT, Niemöller, S. 466 Anm. 90), so wird darin der tiefgreifende Unterschied zu Hildebrandt deutlich. An M. Leibholz, 11.7.1978 (NLH, 9251/22). 73 Bibl. Nr. 58, S. 24; ähnlich schon an Bethge, 13.9.1958 (SAMMLUNG BETHGE, WACHTBERG).
78
Der erste „Illegale": 1934
Kirche repräsentieren, die Reichskirchenregierung unter dem diskreditierten Reichsbischof Müller mit dem von Theodor Heckel geleiteten Kirchlichen Außenamt oder die Bekennende Kirche, die sich unter Karl Koch, dem Präses der Bekenntnissynode und Vorsitzenden des Reichsbruderrats, in Bad Oeynhausen ein eigenes Büro eingerichtet hatte. Wichtigster Gesprächspartner und Fürsprecher der Bekennenden Kirche blieb auch in den folgenden Monaten Bischof Bell von Chichester. Nicht zuletzt trug dazu auch das herzliche Verhältnis bei, das zwischen ihm, aber auch seiner Frau Henrietta, zu Bonhoeffer und bald auch zu Hildebrandt bestand. Für Bell, der keine Kinder hatte, waren die beiden jungen deutschen Theologen einfach „my two boys" 74 . Bei den Vorbereitungen der ökumenischen Konferenzen ging Bonhoeffer soweit, im Namen der Jugenddelegierten einen Boykott derjenigen Sitzungen anzudrohen, „bei denen Vertreter der Kirchenregierung anwesend sind" 75 . Doch sein Ansinnen, die Ökumene müsse deutlich machen, „zu welcher der beiden ,Kirchen' in Deutschland" sie sich bekenne, stellte die ökumenischen Gremien vor eine ihrem Selbstverständnis nach unlösbare Aufgabe76. Bonhoeffer war zunächst entschlossen, nicht nach Fano zu reisen, um nicht an Konferenzen zusammen mit Vertretern der Reichskirchenregierung teilnehmen zu müssen. Im Laufe des Juli änderte er jedoch seine Meinung, nachdem Bell am 18. Juli Vertreter der Bekennenden Kirche „as guests and authoritative spokesmen" nach Fano eingeladen hatte. Bestärkt wurde Bonhoeffer in seiner Haltung durch ein Gespräch mit Siegmund-Schultze und durch einen Schreiben des gastgebenden dänischen Okumenikers Valdemar Ammundsen, seit 1923 Bischof von Hadersleben77 Wohl auf Veranlassung Bonhoeffers schickte Hildebrandt Jürgen Winterhager nach Bad Oeynhausen, um durch Hans Asmussen, der dort die theologische Abteilung im Präsidium der Bekenntnissynode leitete, Präses Koch von der Meinungsänderung Bonhoeffers zu unterrichten und für eine Teilnahme der Bekennenden Kirche in Fan0 zu werben78. Koch blieb jedoch zurückhaltend, da er fürchtete, die Bekennende Kirche könne sich durch ihre Teilnahme an einer internationalen Konferenz politisch kompromittieren. Als Ammundsen am 10. August 1934 persönlich nach Hamburg reiste, um mit Vertretern des Bruderrats die Frage der Beteiligung der Bekennenden Kirche noch einmal zu besprechen, nahm auch Hildebrandt an diesem Ge-
DB, S. 419; vgl. auch N. HILDEBRANDT, NO Winter, S. 23. Bonhoeffer an de Félice, 4.7 1934 (DBW 13, S. 161 f.). 7 ' Vgl. K. SCHOLDER, Kirchen, Bd. 2, S. 299f. 77 Vgl. DBW 13, S. 178. 74
75
7
' A n Asmussen, 3 0 . 7 1 9 3 4 ( L K A E K v W B I E L E F E L D , 5,1/767,1).
Ö k u m e n i s c h e Vermittlungstätigkeit
79
spräch teil79. Anschließend traf er Bonhoeffer, der direkt von England nach Dänemark reiste, in Esbjerg und begleitete ihn von dort nach Fane. Hildebrandt mußte ihm berichten, daß trotz des Gespräches mit Ammundsen kein Delegierter der Bekennenden Kirche nach Fano kommen würde, - in der Bekennenden Kirche hatte die Angst davor, als „vaterlandslose Gesellen" zu gelten, gesiegt, und Bonhoeffers Befürchtung, er habe „beim Gedanken an Fanö mehr Angst vor manchen unsrer eignen Leute als vor den Deutschen Christen" 80 , drohte sich zu bewahrheiten. Schließlich blieb Bonhoeffer in seiner Funktion als ökumenischer Jugendsekretär der einzige, der auf Fano die Anliegen der Bekennenden Kirche vertreten konnte. Auf der dänischen Insel führten die beiden Freunde intensive Gespräche, auch über den Psalm 85, dessen Vers 9 „Ach, daß ich hören sollte, was der Herr redet" Grundlage von Bonhoeffers Auslegung auf der Konferenz wurde, in der er „das Eine große ökumenische Konzil der heiligen Kirche Christi aus aller Welt" forderte, das den Christen „im Namen Christi Waffen aus der Hand nimmt und ihnen den Krieg verbietet und den Frieden Christi ausruft über die rasende Welt"81. Hier zeigte sich der Weg, den Bonhoeffer und Hildebrandt in den drei Jahren seit ihrem Katechismusentwurf vom Sommer 1931 gegangen waren: Aus dem Satz „Die Kirche, die das Vaterunser betet, ruft Gott nur um den Frieden an"82, war der drängende Aufruf zur prophetischen Rede, zur klaren Verdammung des Krieges durch die gesamte Christenheit geworden83. Schon vor Beginn der eigentlichen Konferenz reiste Hildebrandt ab, um Bonhoeffer für die Zeit der Konferenz in dessen Londoner Pfarramt zu vertreten84. Nach einer letzten Predigt in Bonhoeffers Londoner Gemeinde über Apg 28,30f mit dem programmatischen Titel „Unverboten" kehrte er Anfang September 1934 nach Berlin zurück, versehen mit der Zusage Bonhoeffers, daß dieser die Leitung des noch zu gründenden Predigerseminars für Berlin-Brandenburg übernehmen werde85.
79 Vgl. Ammundsens „Report of my interview with Dr. Koch and his friends" (J.H. SCHJ0RRING, Ökumenische Perspektiven, S. 103-106). Zu den Schwierigkeiten, denen sich deutsche Mitglieder internationaler Organisationen gegenübersahen, vgl. auch A. SALOMON, Charakter, S. 268f. 8° Bonhoeffer an Ammundsen, 8.8.1934 (DBW 13, S. 179). « DBW 13, S. 301; vgl. Bibl. Nr. 59, S. 37f., sowie an Bethge, 9.4.1956 (SAMMLUNG BETHGE, WACHTBERG). Aus diesen Gesprächen dürften auch die Übernahme der Gedanken aus fSTstammen; vgl. oben S. 35 Anm. 94. 82 DBW 11, S. 232 (vgl. dazu oben S. 39). 83 Vgl. zum ganzen Fan0-Komplex die eingehende Analyse bei M. HEIMBUCHER, Christusfriede, S. 113-166, die nach Abschluß dieser Arbeit erschien. 84 Vgl. DB, S. 441 und die Einladung/Bürgschaft Bonhoeffers vom 22.8.1934 (DBW 13, S. 19). 85 Vgl. DB, S. 474 und DBW 13, S. 204. Es muß im Frühjahr 1934 noch einen (bisher nicht aufgefundenen) regen Briefwechsel gegeben haben, „aus dem hervorgehen würde, wie wir ihn zur Übernahme des neuen Seminars gedrängt haben - er war durchaus nicht von vornherein sicher, daß er nicht lieber zu Gandhi gehen sollte"; an Bethge, 18.8.1959 (SAMMLUNG BETHGE, WACHTBERG); vgl. dazu auch Bonhoeffer an Sutz, 11.9.1934 (DBW 13, S. 204).
80
D e r e r s t e „Illegale": 1 9 3 4
Da Bonhoeffer erkrankte, kam Hildebrandt noch einmal Mitte Oktober nach England, um Bell zur Teilnahme an der Dahlemer Synode einzuladen 86 . Am 15. Oktober traf er auf diese Weise erstmals Bell persönlich und war ebenso wie Bonhoeffer überwältigt von der freundlichen Aufnahme in Chichester. Was jedoch sein Anliegen anging, so hielt es der Bischof für besser, den Schweizer Kirchenpräsidenten Alphons Koechlin zur Synode zu schicken8? Dessen Auftrag und damit die Basis aller ökumenischen „Einmischung" umschrieb er mit einem charakteristischen Telegramm: „ P r i v a t e : S u g g e s t e m p h a s i z i n g it is c o n t r a r y t o p o l i c y o f C o u n c i l t o t a k e s i d e s in i n t e r n a l c o n t r o v e r s y in a C h u r c h o r p a r t i c u l a r t h e o l o g i c a l p o s i t i o n : b u t q u i t e d i f f e r e n t issue arises, w h e n a n y Christian g r o u p p r e v e n t e d f r o m o b e y i n g Christian
con-
science. This draws sympathy of whole ecumenical m o v e m e n t . Bell."88
Obwohl Bonhoeffer gleich bei der ersten Reichsbruderratssitzung nach der Konferenz von Fane am 3. September 1934 in Würzburg darauf drang, „einen Mann mit der Bearbeitung der Angelegenheiten der Ökumene bei der Bekenntnissynode zu beauftragen" 89 , und nicht müde wurde, den „Aufbau eines ökumenischen Amtes der Bekennenden Kirche" zu fordern 90 , kam diese Arbeit nicht in Gang. So blieb Hildebrandt der wichtigste Verbindungsmann Bonhoeffers und über ihn Beils zu den Organen der Bekennenden Kirche und mußte bei den häufig auftretenden Kommunikationsproblemen vermitteln. Ein bezeichnendes Beispiel dafür ist das Hin und Her um eine geplante britische Delegation im Winter 1934/35. Bell wollte die außenpolitische Situation der Annäherung Deutschlands und Großbritanniens nutzen und hatte auch einen vermögenden Sponsor für eine kirchliche Delegation gefunden „to talk with the German Churchmen about peace and friendship"91. Während Bonhoeffer dies als eine ideale Fortsetzung der Re-
86
Z u Beils gleichzeitig laufenden diplomatischen Aktivitäten vgl. K .
SCHOLDER, Kirchen,
B d . 2, S. 3 3 3 f. 87
Die Darstellung in D B , S. 4 5 5 und auch Hildebrandts Erinnerung (Bibl. Nr. 5 9 , S. 3 8 ; Bibl.
N r . 6 3 , S. 2 9 0 ) , Bell sei nur aus Zeitgründen verhindert gewesen, ist nach d e m Bell-KoechlinBriefwechsel zu korrigieren (vgl. A . L I N D T , Briefwechsel, S. 147ff.). Bell hielt seine Teilnahme aus grundsätzlichen E r w ä g u n g e n heraus für „nicht die hilfreichste Sache" und wollte noch in R e serve bleiben. 88
Zit. nach R . C . D . JASPER, Bell, S. 2 0 2 ; vgl. auch die Übersetzung bei A . L I N D T , Briefwech-
sel, S. 163. Diese ethische, humanitäre Begründung ist charakteristisch für die Grundhaltung zumindest der englischen O k u m e n i k e r d e m Kirchenkampf gegenüber ( M . D .
HAMPSON, Re-
sponse, S. 168). D a s hatte allerdings zur Folge, „to adjudicate o n whether Reichskirche o r Confessional Church was the ,true German Evangelical Church' was not something which any ecumenical movement considered it had the authority to d o " ( E B D . , S. 164). 89
D B W 13, S. 2 0 1 ; vgl. auch D B , S. 4 5 3 .
90
Bonhoeffer an Koch, 4 . 6 . 1 9 3 5 ( D B W 14, S. 4 2 ) .
91
Bell an Bonhoeffer, 8 . 1 . 1 9 3 5 ( D B W 13, S. 2 6 8 f . ) ; vgl. dazu auch M . HEIMBUCHER, Chri-
stusfriede, S. 1 9 3 - 1 9 6 .
Ökumenische Vermittlungstätigkeit
81
solution von Fano ansah92, stieß der Vorschlag Beils bei Präses Koch auf Probleme, da dieser eine Delegation unter ganz anderen Vorzeichen wünschte, wie er Bell wissen ließ und dieser Bonhoeffer mitteilen mußte 93 . Bonhoeffer versuchte zu retten, was zu retten war, und ließ Hildebrandt in einem Brief am Vortag der Saar-Abstimmung an Koch klarstellen: „Bonhoeffer schreibt 94 mir sehr besorgt Folgendes : auf Chichesters Anerbieten, eine Delegation zur Erörterung von Friedensfragen - gemeint sind etwa die Probleme des Weltbundes von Fanö - hierher zu entsenden, hätte Ihre Antwort so gelautet, als erwarteten Sie eine Besprechung der kirchlichen Streitfragen, an die man drüben in diesem Zusammenhang nicht gedacht hatte. Chichester ist deshalb ein bischen ratlos, weil er seinen Plan in unserem Interesse für wichtig hält und allerlei Leute dafür interessiert hat. (Zum Beispiel [Joseph] Oldham.) Bonhoeffer hat ihm nun versprochen, daß er noch eine zweite Antwort von Ihnen bekommen würde, die das - vielleicht rein sprachliche - Mißverständnis aufklärt und zu dem Plan der Friedensdelegation Stellung nimmt. Da Bruder [Friedrich] Müller mir eben sagte, daß auch dazu die Stellung in Oeynhausen positiv sei, fällt es mir nicht schwer, Bonhoeffers Bitte u m eine schnelle Antwort nach Chichester an Sie weiterzugeben; falls sie, wie dieser mein Brief, nicht per Post, sondern über Cragg 95 gehen soll, könnte wohl am besten Bruder Müller sie Mittwoch von Oeynhausen hierher mitbringen." 96
Die beiden Briefe, die Koch daraufhin an Bell schickte, waren jedoch nicht dazu angetan, das „Mißverständnis" aus der Welt zu räumen 9 ! Der Besuch blieb aus, und Bonhoeffers und Hildebrandts Bemühungen um eine ökumenische Ausrichtung und damit zugleich auch internationale Absicherung der Bekennenden Kirche scheiterten darum mehrfach, nicht nur an den Schwierigkeiten der angelsächsischen Kirchen, eine Bekenntnisentscheidung zu treffen, sondern auch daran, daß die Bekennende Kirche ihr Verhältnis zu den ökumenischen Institutionen sowie zu den Auslandsgemeinden und -kirchen letztlich nicht eindeutig bestimmen konnte. Im Mai 1935 wiederholte sich der Vorgang: Wieder gab es eine höchst unklare Situation in der Frage eines Besuches von Bischof Bell in Deutschland, und Bonhoeffer mußte auf Weisung Kochs sogar nach London fliegen, um ein weiteres „Mißverständnis" zu klären98. In dieser Situation versuchte 92
Bonhoeffer an Bell, 7.1.1935 (DBW 13, S. 267L). Bell an Bonhoeffer (vgl. Anm. 90). 94 Ein Brief Bonhoeffers ist nicht erhalten, nach Hildebrandts Kalendernotizen handelte es sich auch wahrscheinlich um ein Telefonat (NLH, 9251/11). 95 Rev. R.H. Cragg war der britische Gesandtschaftspfarrer in Berlin mit Diplomatenstatus und dadurch ein wichtiger Kurier; er informierte Bischof Bell in wöchentlichen Reports (R.C.D. JASPER, Bell, S. 204). 96 DBW 13, S. 270f.; vgl. auch DB, S. 478. 97 Vgl. J. GLENTHOJ, Dokumente, S. 234f. 98 Vgl. die Briefe Beils vom 22.5.1935 an Koechlin (GS II, S. 199) und an Birger Forell (DBW 14, S. 39f.), die seine ganze Irritation über die schwankenden Wünsche der Deutschen deutlich werden lassen. 93
82
D e r erste „Illegale": 1934
Bonhoeffer noch einmal seinen Vorschlag vom September 1934 durchzubringen und die inzwischen zuständige Vorläufige Kirchenleitung zum Aufbau eines eigenen „ökumenischen Amtes der Bekennenden Kirche" zu bewegen". Einen „Reisesekretär mit kirchlichem Auftrag zur fortlaufenden gegenseitigen Information" hielt Bonhoeffer für sehr wichtig, denn der hätte weitere Kommunikationsprobleme vielleicht verhindert. Unter den „regelmäßigen Mitarbeitern für ökum. Arbeit" schlug er auch Hildebrandt vor100. Leider führte auch Bonhoeffers richtige Einschätzung - „Es scheint mir immer mehr davon abzuhängen, daß diese Arbeit richtig angefaßt wird" 101 nicht dazti, alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Statt eines eigenen „Außenamtes", in wie bescheidenem Rahmen auch immer, aber dafür mit wirklichen Kompetenzen ausgestattet, kam nur ein informeller „Ökumenischer Beirat" zustande 102 , der allerdings „eine immer unmöglicher werdende Situation heraufziehen" sah103. Bonhoeffer, desillusioniert und verärgert, schrieb seinen Aufsatz „Die Bekennende Kirche und die Ökumene" 104 , und mit dem Sekretär der Bewegung für Glaube und Kirchenverfassung (Faith and Order), Canon Leonard Hodgson, entstand eine Korrespondenz, die die unvereinbaren ekklesiologischen Vorstellungen deutlich werden ließ105. Die Sekretäre der ökumenischen Gremien in Genf entwickelten hingegen eine lebhafte Kommunikation mit dem Heckeischen Außenamt 106 . Ein Jahr später war die Errichtung eines eigenen bekenntnisgebundenen Außenamtes immer noch in weiter Ferne 10ζ während es Heckel langsam, aber stetig schaffte, sich zum unentbehrlichen „main channel for co-operation" zu machen108. Es sollte Bonhoeffer nicht mehr gelingen, dieser wohlorganisierten Behörde eine eigene permanente Vertretung der Bekennenden Kirche bei der Ökumene entgegenzusetzen und diese durch Franz Hildebrandt wahrnehmen zu lassen.109
99 Vgl. sein Memorandum (DBW 14, S. 42-44). Zur Frage eines eigenen BK-Außenamtes vgl. auch J . GLENTH0J, Dokumente, S. 154f., 3 4 5 - 3 4 7 ™ EBD., S. 226. 101 Bonhoeffer an Koch, 4 . 6 . 1 9 3 5 (DBW 14, S. 41). 102 Eine vorbereitende Sitzung fand schon am 2 0 . 5 . 1 9 3 5 statt (LKAEKvW BIELEFELD, 5,1/260,1), die offizielle „1. Sitzung" am 2 7 6 . 1 9 3 5 (Protokoll: GS I, S. 2 2 7 - 2 2 9 ; vgl. auch DBW 14, S. 47-49). 103 DB, S. 541. 104 DBW 14, S. 3 7 8 - 3 9 9 . 105 Vgl. DBW 14, S. 53 ff. '«• DB, S. 546. 107 Protokoll der Sitzung des Ökumenischen Beirates vom 2 0 . 5 . 1 9 3 6 (DBW 14, S. 160f.); vgl. auch das verschlüsselte Schreiben Kramms an „Martin" [Niemöller] vom 2 . 2 . 1 9 3 6 zum Einfluß von „Theo" [Heckel] und seiner „Firma" in London (LKAEKvW BIELEFELD, 5,1/593). 108 Vgl. unten S. 191 A n m . 96; vgl. auch DB, S. 634. 109 DB, S. 722; vgl. auch unten S. 191.
Gemeindedienst in Dahlem
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4.4. Gemeindedienst in Dahlem Im Sommer 1934 sah es zweimal fast danach aus, als könnte Hildebrandts Weg doch noch in ein reguläres Pfarramt führen. Zunächst erhielt er im Juni die Aufforderung aus Montreux in der Schweiz, sich um die im Herbst freiwerdende Auslandspfarrstelle zu bewerben, für die ihn kein Geringerer als Otto Dibelius vorgeschlagen hatte110. Doch Hildebrandt sagte ab und sorgte dafür, daß sein Studienfreund Kurt Lang die Stelle erhielt. Zum anderen feierte am 14. Juli einer seiner Vikarsväter, der Schloßpfarrer Schade in Dobrilugk, seinen 70. Geburtstag. Viele Gemeindeglieder in dieser Kleinstadt erinnerten sich noch gut an den einstigen Vikar Hildebrandt, der zur Feier erschien. Darum bat ihn Schade, doch sein Nachfolger im Pfarramt zu werden. Nach einer Woche Bedenkzeit schrieb ihm Hildebrandt in einem langen Brief, daß er konsequenterweise eine Bewerbung über das Konsistorium ablehnen müsse: Ich kann „es der Gemeinde so wenig wie mir selbst verhehlen, daß ich mein A m t nur im Dienst der Bekennenden Kirche zu führen und damit auch nur aus ihren Händen anzunehmen vermag [...]. Mich aber innerlich von dort und amtlich vom Konsistorium bestätigen zu lassen, erscheint mir dieselbe Halbheit, nämlich Trennung von Bekenntnis und Ordnung zu sein, die wir die ganze Zeit Müller und Jäger vorgeworfen haben. [...] Es kommt ja heute keiner mehr an diesem Entweder-Oder vorbei [ . . . ] " m .
Trotz dieser deutlichen Vorbehalte Hildebrandts gelang es Schade dennoch, ihn zumindest für eine Probepredigt und Katechese am 16. September einzuladen. Hildebrandt konnte der Gemeinde seinen Standpunkt jedoch nicht vermitteln. Sie hoffte weiterhin auf eine „legale" Anstellung durch das Konsistorium, holte Erkundigungen ein und versicherte ihm, „daß Herr Superintendent Bartz, der ganz auf Ihrer Seite steht, sich erkundigt hat, daß einer Bestätigung Ihrerseits nichts im Wege steht"112. Gerade nach der Synode von Dahlem jedoch, die jegliche Zusammenarbeit mit dem offiziellen Kirchenregiment abgelehnt hatte, kam für Hildebrandt eine Anstellung durch das Konsistorium nicht mehr in Frage. Daher lehnte er die Stelle Anfang November endgültig ab, zumal sich für ihn eine neue Perspektive ergeben hatte: „Ich soll hier in der Dahlemer Gemeinde, w o meine Kollegen durch kirchenpolitische Arbeit überlastet sind, weiter mitarbeiten und einen eigenen Bezirk übernehmen. Das kann ich nicht ausschlagen, nach allem, was mich von früher her und
110 111
"2
Von Dietrich von Klitzing, 9.6.1934 (NLH, 9251/27). An Schade, 21.7 1934 ( E B D . ) . Von Giesemann, 8 . 1 1 . 1 9 3 4 ( E B D . ) .
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durch die Erfahrung der Kampfgemeinschaft des letzten Jahres mit dieser Gemeinde und ihren Pastoren verbindet." 113
Damit deutete Hildebrandt bereits an, was Anfang Dezember „amtlich" wurde. Der Dahlemer Pastor Fritz Müller, der sich „durch einen bei Geistlichen seltenen Sinn für Rechtsfragen" auszeichnete114, wurde mit seinem Spezialwissen für die Bekennende Kirche zu einem wichtigen Experten und mußte daher von seiner Gemeindearbeit in Dahlem freigestellt werden. Müller sorgte für eine neue berufliche Stellung Hildebrandts ab Dezember 1934, als er im Preußischen Bruderrat beantragte: „Da in der kommenden Zeit seine [Müllers] ganze Kraft zur Bewältigung der immer größer werdenden Arbeit in der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union gebraucht wird, bittet er, für den Hilfsprediger Lic. Hildebrandt, der seine Gemeinde in Dahlem betreuen soll, um Übernahme der Kosten des Gehaltes." 115 Der Bruderrat beschloß entsprechend, und so wurde Hildebrandt Gemeindepastor in Dahlem 116 . Für ihn war dabei entscheidend, daß er „in dieser Stellung [...] allein im Dienst und Sold der Bekennenden Kirche" stand und „mit der offiziellen Landes- und Reichskirche nichts zu tun" hatte 11 ! Neben seinem neuen Aufgabenfeld arbeitete Hildebrandt weiter mit beim Aufbau der bruderrätlichen Institutionen der Bekennenden Kirche. Er blieb so etwas wie der Referent Niemöllers in der Geschäftsstelle des Pfarrernotbundes im Dahlemer Pfarrhaus118. Deshalb schlug Hildebrandt wenig später den Wunsch Bonhoeffers aus, dessen Nachfolger im Londoner Pfarramt von Forest Hill zu werden. Er war froh darüber, nun wieder in Deutschland mit Bonhoeffer zusammenarbeiten zu können und war - wie er in einem Rückblick bekannte - „noch immer ahnungslos über das, was uns im Dritten Reich bevorstand" 119 . Beide Freunde beobachteten nun den Weg, den der Kirchenkampf nach dem Rücktritt Jägers, der Rehabilitierung der süddeutschen Bischöfe und deren Empfang bei Hitler am 30. Oktober 1934 nahm, mit großer Sorge. Als nach schwierigen Verhandlungen des Reichsbruderrates mit Vetretern der „intak-
113
A n Giesemann, 1 3 . 1 1 . 1 9 3 4 ( E B D . ) ; vgl. auch an Burgwitz, 1 7 1 1 . 1 9 3 4 , und an Schade,
2711.1934 (EBD.). 114
So Hans von Soden an Hans Lietzmann, 1 6 . 1 2 . 1 9 3 4 ( K . ALAND, Glanz und Niedergang,
Nr. 8 8 8 ) . 115
Protokoll der Sitzung v o m 4 . 1 2 . 1 9 3 4 ( L K A E K v W B I E L E F E L D , 5,1/72/1).
116
A . KERSTING, Kirchenordnung, S. 56f. gibt die Vorgänge nicht zutreffend wieder, wenn er
schreibt, daß sich „die Gemeinde" im Januar für Hildebrandt „als Pastor der G e m e i n d e " entschied. Z u r Gemeinde D a h l e m vgl. auch den Bestand Z E K H N DARMSTADT, 6 2 / 1 0 2 4 . 117
Lebenslauf im IfZ MÜNCHEN, M A 1500.
118
Z u seinen leichteren Aufgaben gehörte das sog. „Kulturdezernat", d . h . die Planung der Kino-
besuche nach den Bruderratssitzungen; vgl. an M . Leibholz, 2 7 6 . 7 8 ( N L H , 9 2 5 1 / 2 2 ) . 1,9
Bibl. Nr. 59, S. 3 8 ; vgl. auch D B , S. 4 6 7 Die Gespräche darüber haben nach den Kalender-
eintragungen Hildebrandts Anfang N o v e m b e r 1934 stattgefunden ( N L H , 9 2 5 1 / 1 0 ) .
G e m e i n d e d i e n s t in D a h l e m
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ten" und der „zerstörten" Landeskirchen sich im November mit der Einsetzung der Vorläufigen Kirchenleitung eine neue Lage entwickelte, wurde Hildebrandt im Auftrage des Reichsbruderrates ins Reichsjustizministerium 120 geschickt, um mitzuteilen, daß aus Sicht des Reichsbruderrats der hannoversche Landesbischof Marahrens für das Notkirchenregiment untragbar sei121. Vermutlich zur selben Zeit schrieb Bonhoeffer nach Berlin: „Die Entwicklung des Kirchen-Kampfes sehe ich mit wachsender Besorgnis an. [...] Nichts wäre katastrophaler, als wenn jetzt auf die würdelose Kirche eine hochmütige und allzu intakte Kirche folgte. Aber es sieht ja so aus, als wäre das nicht mehr aufzuhalten." 122 Bonhoeffer gab auch die Felder an, denen das besondere Augenmerk der beiden Freunde seit langem galt: „Umsomehr müssen wir unsere Augen offenhalten und genau wissen, was wir wollen. Umsomehr müssen wir die Fragen des N.Ts, anfassen, an denen man sich die Finger verbrennt - umsomehr müssen wir wissen, daß nur eine ganz klare eindeutige unerschütterlich sachliche und fröhliche Haltung dazu helfen wird, den Kirchenkampf auch innerlich zu gewinnen." Ganz pessimistisch und doch prophetisch sprach Bonhoeffer vom „2. Kampf", der kommen werde, in dem nur der Einzelne bestehen werde und in dem klar werden würde, was Bekenntnis und Nachfolge bedeuteten. In dieser Situation entwickelte Hildebrandt eine intensive Vortragstätigkeit bei der SAG, in Hauskreisen und Gemeinden. Einer dieser Vorträge, „Vom Luthertum in der altpreußischen Union", gehalten vor einem Berliner Studentenkreis am 30. April 1935, ist erhalten, weil er in der „Jungen Kirche" abgedruckt wurde123. Hildebrandt geht hier aus von der Tatsache, daß im Kirchenkampf ohne Zweifel die Kirche der Altpreußischen Union eine Haupt- und Vorreiterrolle gespielt habe, daß aber auf der anderen Seite theologiegeschichtlich nach den Aufbrüchen der Lutherrenaissance einerseits und der Barthschen Theologie andererseits „die Epoche der Union kirchengeschichtlich am Ende ist und vermutlich nicht wiederkehren wird." So stellt Hildebrandt „drei Grenzfragen, an denen die Eigenart des Luthertums in
D o r t war Hans von Dohnanyi als persönlicher Referent des Ministers tätig (vgl. C . STROHM,
120
Ethik, S. 231 ff.). 121
N a c h K . M E I E R , Kirchenkampf, B d . 1, S. 518.
122
Ein von Martin Heimbucher entdecktes (ungezeichnetes) Fragment eines Briefes, der unzwei-
felhaft von Bonhoeffer stammt und im Kreis von Jacobi vervielfältigt und diskutiert wurde ( D B W 13, S. 1 7 6 - 1 7 8 ) . E . BETHGE, Besorgnis (dort auch Publikation des Textes) datiert ihn in den April 1934, während Heimbucher (Brief an den Verf. v o m 2 6 . 6 . 1 9 9 1 ) ihn als „Reflex auf Gespräche zwischen Hildebrandt und Bonhoeffer in der Ferienwoche v o r F a n o zwischen dem 15. und 2 3 . A u g u s t " ansieht (so auch in D B W 13, S. 176). Ich m ö c h t e ihn aufgrund verschiedener Indizien doch eher in die unmittelbare Nachbarschaft der Auseinandersetzungen u m die 1. V K L datieren. i " Bibl. Nr. 24.
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Preußen sichtbar wird und die uns unmittelbar in die Auseinandersetzung mit den Gebildeten unter ihren Verächtern hineinführen"124. Die erste „Grenzfrage" ist für ihn die Frage nach echtem Luthertum, dem „Lutherischen" (Hildebrandt legte Wert darauf, dies auch als Adjektiv groß zu schreiben!). Er sah dieses „Lutherische" vor allem in Karl Holl und seiner Theologie verkörpert, verkannte dabei aber keineswegs, daß es eine Linie von Holls Schule zu den Deutschen Christen gebe, schränkte allerdings ein: „Die ihn kannten, vermögen ihn sich nicht gut in dieser Umgebung vorzustellen." 125 Zu Holls bleibenden Erkenntnissen gehöre die Unterscheidung der Redeweise Luthers und Melanchthons, die Wiederentdeckung der Schmalkaldischen Artikel, der Wiedergewinnung einer neuen Initiative des kirchlichen Handelns von der Reformation her und vor allem eine Neubesinnung des Satzes von der zentralen Stellung des ersten Gebotes im Lutherischen Glauben: „Mit anderen Worten: es genügt nicht, daß das Bekenntnis in Geltung ist, im Vorspruch der Verfassung steht, nicht ,angetastet' wird, im Wappenschild einer Landeskirche erscheint, sondern Bekenntnisstand fordert Bekenntnisakt und Bekenntnishaltung." 126 Nur eine Kirche, die Irrlehre und Antichrist laut und deutlich anprangere, so Hildebrandt, verdiene den Namen „Lutherisch". Die zweite „Grenzfrage" betrifft das Verhältnis zu den Reformierten, und hier war Hildebrandt im Vergleich zu seiner Licentiaten-Arbeit erheblich gesprächsbereiter geworden. Als Einsichten und Prinzipien, die die Reformierten in die Erfahrungen des Kirchenkampfes eingebracht hätten und die doch ein Lutheraner „bei genauerem Zusehen direkt von Luther hätte lernen können", nennt er das Gemeindeprinzip, das seinen Ausdruck in den freien Synoden gefunden habe, die Einsicht in die Bedeutung von Verfassung und Ordnung (wenn auch bei einer „grundsätzlich kritischeren Haltung des Lutheraners gegenüber dem ,christlichen' Prädikat einer bestimmten Ordnung und Verfassung") sowie den Gedanken der Kirchenzucht. Als dennoch bleibende Differenzen zwischen Lutheranern und Reformierten, die für Hildebrandt letztlich nicht verhandelbar waren, nannte er das reformierte Ideal einer intakten Kirche (während es Bekennende Kirche für das Luthertum immer nur in der Anfechtung gebe), die Beziehung von Amt und Gemeinde und die Bedeutung der Ordination (mit Paul Gerhardt als Beispiel) und endlich die „neue Besinnung auf das Abendmahl in Lehre
EBD., S. 686. i " Vgl. dazu auch an M. Leibholz, 29.71978 ( N L H , 9251/22): „Über Holl haben wir wohl kaum gesprochen; ich würde denken, daß ich, obwohl ich nicht mehr bei ihm hören konnte, mehr von ihm hielt und lernte, als Onkel Dietrich, der wahrscheinlich die Kritik der ,Dialektiker' an ihm weithin teilte." 126 Bibl. Nr. 24, S. 688. 124
Gemeindedienst in Dahlem
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und Leben der Gemeinde [als] die eigendiche Quelle der Lutherischen Kirche in Preußen"12? Im dritten Punkt ging es Hildebrandt um „das stärkste Motiv aller Angriffe gegen das preußische Luthertum", die richtige Einstellung zu Volk und Staat. Vehement verteidigt er das Erbe Luthers gegen die Verteter einer national verstandenen Volkskirchen-Theologie und nimmt noch einmal Gedanken aus seinen Freikirchen-Thesen auf: „Es kann gegen diesen Begriff [Volkskirche] nicht oft genug gesagt werden, daß das ganze Ideal eines in seiner Gesamtheit zur ,Kirche' berufenen Volkes weder in der Bibel eine Verheißung noch in der Geschichte eine Erfüllung noch in der Gegenwart eine Bedeutung hat."128 Niemand dürfe die Kirche darauf verpflichten, das nationale Ethos zu pflegen. Das Landeskirchentum in seiner nationalen, staatsnahen Ausprägung sei einer der verhängnisvollsten Fehler des Luthertums; dabei sei es doch im Gegenteil eine genuin Lutherische Haltung, eine gewisse „Kühle" gegenüber dem Staat zu wahren. Wenn sich die preußische Kirche in dieser Weise auf ihr Lutherisches Erbe besinne, brauche sie sich dessen nicht zu schämen. Hildebrandts Apologie des preußischen Luthertums ist vor allem gegen das süddeutsche Luthertum gerichtet, das wegen der Union stets skeptisch nach Preußen schaute. Er wirft den süddeutschen Lutheranern vor, zwar stets ihren Bekenntisstand zu betonen, dabei jedoch genau das zu scheuen, was gefordert sei, nämlich aus dem Bekenntnisstand auch einen offensiven Bekenntnis^ und eine Bekenntnis/w/tong abzuleiten, die klar Stellung zum Unrecht des Staates bezieht. Hildebrandt bemühte sich, seine theologischen Überlegungen in die Praxis seiner Gemeindearbeit umzusetzen. Nach Niemöllers Vorbild gab auch Hildebrandt ab September 1936 einen „Konfirmandenunterricht für Erwachsene", „für die Glieder und Freunde der Bekenntnisgemeinde im Nordbezirk sowie für die Eltern meiner Konfirmanden". Er behandelte das Thema „Paulus und seine Gegner", und als Motiv für diese Arbeit gab er an: „Es ist mir aus der Gemeinde immer wieder versichert worden, daß heute nichts nötiger ist, als klar und deutlich durch Frage und Antwort die Dinge zur Sprache zu bringen, die uns bewegen und über die wir dauernd uns selbst und anderen Rechenschaft schuldig sind."129 Hildebrandt äußerte Verständnis für diejenigen, die „lieber die alte Art der Versammlung in den Häusern fortgesetzt hätten", aber bat sie, diesen neuen Weg mitzugehen, um auch andere anzusprechen und ein öffentliches Zeugnis abzulegen. 127
EBD., S. 691. EBD., S. 693. 129 Rundbrief „An die Gemeindeglieder der Bekennenden Kirche im Nordbezirk von Dahlem" vom 27 8.1936 (LKAEKvW BIELEFELD, 5,1/474,1); vgl. auch die hektographierten „Mitteilungen des Evangelischen Pfarramtes Dahlem" (G. GRAFF, Unterwegs, S. 46). 128
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Auch bei den vor allem von Eitel-Friedrich von Rabenau getragenen Kursen zur Schulung von ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen gehörte Hildebrandt zu den Dozenten 130 . Diese Kurse waren für die geistliche Zurüstung ganz entscheidend und machten es möglich, daß Gemeindeglieder in Fällen von Verhaftungen oder später im Kriege die Bekenntnisgemeinden selbständig leiten konnten. Den Nordbezirk der Dahlemer Kirchengemeinde, für den Fritz Müller zuständig gewesen war, betreute Hildebrandt völlig selbständig und wurde so neben Eberhard Röhricht und Martin Niemöller zu einem weiteren Pastor der großen Gemeinde Dahlem mit ihren zwei Predigtstätten, der alten Annenkirche und der Jesus-Christus-Kirche. Schon bald wurde er bekannt für seine vielen Hausbesuche. Elsie Steck, damals Gemeindehelferin in Dahlem, charakterisiert Hildebrandts Gottesdienste als „eine andere Art der Privatseelsorge"131. Seine Predigten, die, wie sie sich erinnert, „in den ersten Jahren des Kirchenkampfes immer wieder den Überlegungen und Gesprächen der Gemeinde Richtung und Ziel wiesen"132, entstanden in (gewöhnlich drei) langen ausgedehnten Spaziergängen am Samstag133 und wurden völlig frei gehalten. Hildebrandt bevorzugte die klassische Spruchpredigt über teilweise recht ausgefallene Sprüche und kurze Textfragmente, womit er eigentlich eher liberalem Brauch folgte. In Dahlem setzte er damit eine Tradition des früheren Pfarrers Johannes Eger, des Amtsvorgängers von Martin Niemöller, fort. Doch gerade durch diesen Predigtstil fand er immer wieder zu überraschender Aktualität. Vielen Zuhörern ist beispielsweise die Predigt am 13. Januar 1935 in der Dahlemer St. Annenkirche im Gedächtnis geblieben. Zur „Saarabstimmung" predigte Hildebrandt über 1 Kg 11,21b.22, wo der Edomiter Hadad auf die Frage Pharaos „Was fehlt dir bei mir, daß du in dein Land ziehen willst?" antwortet: „Nichts, aber laß mich ziehen." In der Erinnerung Elsie Stecks hielt Hildebrandt in dieser Predigt ein leidenschaftliches Plädoyer für das Selbstbestimmungsrecht der Völker (der Plural war ihm dabei sehr wichtig!)134. Fast immer verstand er es, „sowohl Luthers Gesichtspunkte - in langen auswendig vorgebrachten Zitaten - als auch die
130 EBD., S. 57f.; zum Engagement der BK auf diesem Gebiet vgl. H . LUDWIG, Entstehung, S. 287f. 131 Elsie Steck im Gespräch mit dem Verf. Es ist unwahrscheinlich, daß die Gemeinde, die seit dem Bekenntnisgottesdienst am 2. Ζ1933 das Apostolische Glaubensbekenntnis mitbetete (DB, S. 342; J. SCHMIDT, Niemöller, S. 98), auch den von Hildebrandt immerstatt des Apostolikums verwendeten Luthertext mitsprach (vgl. dazu oben S. 38).
E . STECK, D a h l e m , S. 82. 133
Zu dieser für Hildebrandt typischen Art vgl. N . HILDEBRANDT, NO Winter, S. 30. Die Lesungen waren Ps 122 und Lk 2,41-52; eine Woche später hielt Hildebrandt die Predigt im „Saar-Dank-Gottesdienst" in der Zwölf-Apostel-Kirche in Lichterfelde über Ps 106,47: „Bringe uns zusammen" (Lesung: Sir 50,18-26). Vgl. das Predigtalbum (NLH, 9251/2). 134
G e m e i n d e d i e n s t in D a h l e m
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aktuellen Fragen und Ereignisse, die persönlichsten wie die allgemeinsten, in seinen Predigten zur Sprache" 135 zu bringen. Für Hildebrandt war es darum auch eine glückliche Fügung, daß im März 1935, als nahezu 500 Pastoren verhaftet wurden, weil sie die Kanzelabkündigung des Altpreußischen Bruderrats gegen das Neuheidentum verlesen hatten, als alttestamentliche Lesung die Gefangennahme Jeremias (fer 26) vorgeschrieben war 136 . Er hatte die Erfahrung gemacht, daß gerade die altkirchlichen Schriftlesungen (über die er selber allerdings kaum predigte) eine ganz neue Dimension erhielten: „Oder könnte man [...] sich eine volks- und zeitgemäßere Verkündigung vorstellen als die bloße Verlesung der vorgeschriebenen sonntäglichen Perikopen, die uns durch den Kirchenkampf begleitet haben?" 137 Nach einer Predigt über Mk 6,18a „Es ist nicht recht" am 23. Juni 1935 in der Dahlemer Jesus-Christus-Kirche wurde ihm wegen seiner deutlichen Worte geraten, für einige Tage unterzutauchen138. Ein anderer beliebter Text war für ihn 2 Chr 18,4: „Frage doch heute des Herrn Wort." 139 Uber den Philipperbrief, den er besonders liebte, hielt er im Herbst 1935 eine ganze Predigtreihe140. Hildebrandts homiletisches Talent, seine Vorliebe für unbekannte und ungebräuchliche Texte und sein seelsorgerlicher Grundton ließen ihn zu einem beliebten und bekannten Prediger werden. Zu seinem 65. Geburtstag hob sein langjähriger Freund, der Berliner Pfarrer und spätere Präses der berlinbrandenburgischen Synode Fritz Figur, dies besonders hervor und schrieb:
135
E . STECK, D a h l e m , S. 8 2 .
136
Bibl. Nr. 9, S. 13, dort auch der Hinweis auf L k l^lOf. als Text zur Einführung Reichsbischof
Müllers a m 2 3 . 9 . 1 9 3 4 ; diese Beispiele auch in Bibl. Nr. 63, S. 287f. und in N . HILDEBRANDT, NO Winter, S. 3 1 ; vgl. auch D B , S. 4 5 4 . 137
Bibl. Nr. 24, S. 6 9 2 .
138
N a c h N . HILDEBRANDT, N o Winter, S. 136.
139
Darüber predigte er am 4 . 8 . 1 9 3 5 in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche; vgl. das Predigtal-
bum ( N L H , 9251/2). 140
Leider sind nur die Daten und Themen erhalten ( E B D . ) , aber keine Predigtmanuskripte:
1 . 9 . 1 9 3 5 , Annenkirche, Phil 1 , 1 - 1 1 : „Die Freude an der G e m e i n d e " ; 1 5 . 9 . 1 9 3 5 , Jesus-Christus-Kirche, Phil 1 , 1 2 - 2 6 : „Christus ist mein L e b e n " ; 2 9 . 9 . 1 9 3 5 , Jesus-Christus-Kirche, Phil 1 , 2 7 - 2 , 4 : „ E u c h ist gegeben"; 2 0 . 1 0 . 1 9 3 5 , Annenkirche, Phil 2 , 5 - 1 1 : „Wie Jesus Christus auch w a r " ; 3 . 1 1 . 1 9 3 5 , Annenkirche, Phil 2 , 1 2 - 1 8 : „Gottes W i r k e n " ; 17 1 1 . 1 9 3 5 , Annenkirche, Phil 3 , 1 - 1 1 : „Christus meine Gerechtigkei"; 2 4 . 1 1 . 1 9 3 5 , Annenkirche, Phil 3 , 2 0 - 2 1 : „ U n s e r Wandel ist im H i m m e l " ; 8 . 1 2 . 1 9 3 5 , Annenkirche, Phil 4 , 1 - 9 : „Freut euch - der H e r r ist n a h e " ; 2 2 . 1 2 . 1 9 3 5 , Annenkirche, Phil 4 , 1 0 - 2 3 : „Unsere Notdurft - sein Reichtum". D e r Philipperbrief spielte für Hildebrandt an den entscheidenden Punkten seines Lebens eine zentrale Rolle (vgl. oben S. 5 0 und die Anweisungen für den Gedächtnisgottesdienst: N . Hildebrandt, Circular Letter v o m 3 0 . 4 . 1 9 8 6 ) .
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Der erste „Illegale": 1934
„Immer wieder trifft man Leute, die sich seiner erinnern, obwohl es Jahrzehnte her sind, seit er in Dahlem auf der Kanzel stand."141 Zu Hildebrandts ständig wachsenden Personalgemeinde gehörte auch die Frauenrechtlerin Alice Salomon142, die Hildebrandt wahrscheinlich durch die Arbeit in Siegmund-Schultzes SAG kennengelernt hatte. In ihren autobiographischen Aufzeichnungen berichtet Alice Salomon, daß sie durch Hildebrandt in die Dahlemer Gemeinde gekommen sei: „Als die öffentlichen Säle für religiöse Zwecke gesperrt wurden, folgten meine Freunde und ich ihm nach Dahlem"143. Für sie wurde „die Dahlemer Kirche der erlösende Mittelpunkt des Lebens in Deutschland"144. Isa Gruner erinnerte sich gemeinsam mit Alice Salomon im April 1948 an die Gottesdienste „in der kleinen Dahlemer Dorfkirche, wo wir in der großen Notzeit der Bekennenden Kirche so oft zusammen Pfarrer Hildebrandt gehört hatten. Wir erinnerten uns sehr deutlich dieser Stunden, die damals so viel Kraft verliehen"145. Ein wichtiges und charakteristisches Element der Bekenntnisgemeinde Dahlem waren die vielen „Laienkreise", die sich in den Häusern versammelten und in denen auch Hildebrandt mitarbeitete. Einer dieser Hauskreise traf sich mittwochs bei Anna von Gierke „zu Besprechungen hauptsächlich kirchlicher Art", wie Elly Heuss-Knapp berichtet146. Sie selbst hielt dort im September 1934 Abende über Gleichnisse147, und Hildebrandt hat nach Auskunft seines Kalenders am 11. Juli 1934 einen Abend über Matthias Claudius gestaltet148. Bis zu 80 Menschen trafen sich hier alle 14 Tage in einer fast konspirativen Atmosphäre: „Wir hatten immer was zu essen, obwohl es nicht viel gab. Wir hielten zwar Andachten, sprachen aber mehr über Politik und darüber, wie wir besonders Betroffenen helfen konnten. Das ging immer alternierend, aber immer kamen erst tagespolitische Themen dran."149 Ein anderer Hauskreis wurde von Hildebrandt gemeinsam mit der Tochter seines Lehrers Adolf von Harnack, Dr. Elisabeth von Harnack, geleitet. Die Beziehungen zur Familie Harnack vertieften sich in diesen Jahren noch. Es 141
F. FIGUR, H i l d e b r a n d t . Z u ihr J . WIELER, E r - I n n e r u n g . 143 A . SALOMON, C h a r a k t e r , S. 290. 144 EBD., S. 2 9 4 . 142
145
BeiJ. WIELER, Er-Innerung, Anhang, S. IV. E. HEUSS-KNAPP, Bürgerin, S. 238. Auch Anna von Gierke, die 1910-1933 das Berliner Jugendheim in Finkenkrug bei Spandau leitete, stammte aus dem Professorenmilieu des Berliner Westens und war schon länger mit Bonhoeffer und Hildebrandt bekannt (vgl. DB, S. 277). 146
147
148
E . HEUSS-KNAPP, B ü r g e r i n , S. 240.
Kalender 1934 (NLH, 9251/10); es ist dort sicher nicht nur über das geistliche Liedgut, sondern auch über die ethisch-politische Grundhaltung von Claudius gesprochen worden (vgl. Hildebrandts Claudius-Darstellung in EH, S. 49 ff.). 149 Nach J. WIELER, Er-Innerung, S. 103f.; vgl. auch die Adressenliste des „Küster-Kreises" (LKAEKvW BIELEFELD, 5,1/474,1).
Gemeindedienst in Dahlem
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war der große Wunsch der Witwe Adolf von Harnacks, Amalie, daß Hildebrandt sie beerdigen sollte150, - sie starb jedoch ein halbes Jahr nach seiner Emigration am 28. Dezember 1937 Ein Thema, das sich unmittelbar aus seiner Gemeindearbeit ergab, war der Umgang mit dem Sakrament der Taufe. Zu Hildebrandts Gemeindebezirk gehörte eine von Nonnen geleitete Entbindungs- und Säuglingsklinik, das „Mariannenheim". Auch evangelische Mütter zogen diese Klinik gern den staatlichen Einrichtungen vor. Es war üblich, regelmäßig am Sonnabend die in der Woche geborenen Kinder zu taufen, und Hildebrandts Amtskalender dieser Jahre verzeichnen eine ganze Reihe dieser Tauftermine. Oft war dabei nur die Mutter anwesend. Hildebrandt versuchte, gegen diese Praxis anzugehen und verlangte die Anwesenheit von beiden Elternteilen und den Paten. Es stellte sich auch heraus, daß viele Mütter die Taufe im Mariannenheim bevorzugten, weil sie ihnen die Last einer großen Familienfeier ersparte151. Zehn Jahre später erinnerte Hans Herbert Kramm Hildebrandt an diese Zeit, als er ihm 1944 zur Geburt seines Sohnes David schrieb: „Wir haben ja übrigens beide unsere Erfahrungen mit neugeborenen Kindern, aus der Zeit, da wir sie noch in Krankenhäusern und Entbindungsstationen ,am laufenden Band' tauften, um dann im Berliner Bruderrat gegen diese kirchenzerstörende Praxis zu wettern." 152 Tatsächlich hat sich der Berliner Bruderrat mit diesem Thema und der „Frage der heutigen Taufpraxis" offensichtlich ausführlich befaßt und auch Richtlinien dazu verabschiedet, die Hildebrandts Haltung bestätigten; allerdings ist die zeitliche Einordnung und die Beteiligung Hildebrandts daran aus den erhaltenen Unterlagen nicht mehr zu klären153.
150
Erinnerung Hildebrandts im Interview mit Michael Ryan (NLH, 9415/4).
151
Vgl. N . HILDEBRANDT, NO Winter, S. 133.
152
Von Kramm, 26.9.1944 (NLH, 9251/28). „Zur Frage der heutigen Tauipraxis" (EZA BERLIN, 50/378) und „Ordnungsvorschlag zur
153
Taufe" (EBD., 50/644).
5. K L Ä R U N G E N U N D S C H E I D U N G E N : 1935-1937
5.1. Der „Pyrrhussieg" - die Steglitzer Synode Nachdem die im November 1934 aufgebrochenen Spannungen und Gegensätze um den richtigen Weg der Bekennenden Kirche und um die Geltung der Beschlüsse von Barmen und Dahlem zunächst mühsam gekittet worden waren, kamen sie im Sommer 1935 wieder zum Vorschein1. Bonhoeffers Befürchtungen vom „2. Kampf um das Christentum", der „zur völligen 2erspaltung und Zertrümmerung der sog. oppositionellen Fronten, derer, die Christen sein wollen, führen"2 würde, sollten sich nur zu schnell bewahrheiten. Am 27 Mai schickte Asmussen einen vertraulichen Rundbrief an befreundete Theologen, darunter auch Hildebrandt, in dem er ebenfalls eine „Zerspaltung" befürchtete, die „die in Barmen und Dahlem geschenkte Einheit" von konfessioneller Seite aus bedrohte. Diejenigen in der Bekennenden Kirche, die sich als Lutheraner sähen - und dazu zähle er die Adressaten seines Rundschreibens - , müßten „gerade im Namen der Kirche und des lutherischen Bekenntnisses Einspruch" gegen diese Entwicklung erheben3. Die Augsburger Reichsbekenntnissynode (4.-6. Juni 1935) schaffte es zwar noch einmal, mit bemerkenswerter Einmütigkeit ein „Wort an die Gemeinden, ihre Pfarrer und Altesten", das sich vor allem gegen die neuheidnische Religion wandte, einen Beschluß über „Vorbildung und Prüfung der Pfarrer der Bekennenden Kirche" sowie ein „Wort an die Obrigkeit" zu verabschieden4, doch blieb die Frage nach den konkreten ekklesiologischen Folgen dieser Beschlüsse offen. Ebenso wie Karl Barth beunruhigte auch Hildebrandt und Bonhoeffer zu jener Zeit die Tatsache, daß die Bekennende Kirche „für Millionen von Unrechtleidenden noch kein Herz hat. Sie hat zu den einfachsten Fragen der öffentlichen Redlichkeit noch kein Wort gefunden"5. Darum begrüßten sie die Einladung Niemöllers, als er für Samstag, den 30. Juli 1935 etwa 50 Mitglieder des Pfarrernotbundes zu einer informellen Aussprache in das Dahlemer Gemeindehaus bat. Zu dieser Einladung sah Niemöller sich dadurch veranlaßt, daß nach einer „Welle der Mutlosigkeit"
1
Vgl. dazu etwa E . KONUKIEWITZ, A s m u s s e n , S. 136.
2 D B W 13, S. 177 3
Abdruck bei E . KONUKIEWITZ, A s m u s s e n , S. 137f.
4
Vgl. dazu W . NIEMÖLLER, Augsburg, S. 7 6 - 8 0 , 81, 85ff.
5
Vgl. das Schreiben Barths an H e r m a n n Hesse v o m 3 0 . 6 . 1 9 3 5 ( H .
Barth, S. 3 4 5 - 3 5 0 ; teilweise abgedruckt auch in D B , S. 4 9 6 ) .
PROLINGHEUER, Fall
Der „Pyrrhussieg" - die Steglitzer Synode
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auch in Kreisen der Bekennenden Kirche die Überzeugung fehle, „daß genügend Kraft darauf verwendet wird, die Einheit, die der Bekennenden Kirche, wie sie im Pfarrernotbund und später in Barmen und Dahlem tatkräftig zu Tage getreten ist, lebendig zu erhalten und wirksam zu gestalten" 6 . Ein neuer Aufruf zur Sammlung sei notwendig. Bonhoeffer war eigentlich verhindert, an der Zusammenkunft teilzunehmen, denn zur selben Zeit (30./31. Juli) sollte in Finkenwalde eine Freizeit für Greifswalder Theologiestudenten stattfinden. Ein Besuch Hildebrandts am Dienstag zuvor und das Drängen der Finkenwalder Seminaristen bewogen ihn jedoch, seine für die Freizeit gepante Bibelarbeit über „Christus in den Psalmen" auf den zweiten Tag, den 31. Juli, zu verschieben und kurzfristig nach Berlin zu fahren? Ihm ging es dabei weniger darum, die Einheit im Pfarrernotbund zu erhalten, als darum, sie auch, mit Niemöllers Worten, „wirksam zu gestalten". Was Bonhoeffer wichtig war, wird in seiner Antwort auf Niemöllers Einladung deutlich: „Es wäre an der Zeit, einen Notbund im Notbund zu schaffen"; davon erhoffe er sich „eine wesentlich andere Auslegung" von Mt 22,21 („Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist") 8 . In der Diskussion am 30. Juli wurde klar, was Bonhoeffer damit meinte. Die Hoffnung auf den Staat sei trügerisch gewesen. Das, worüber die Augsburger Synode geschwiegen habe, müsse endlich gesagt werden: ein Wort zur Freiheit der Kirche, zur Lüge des § 24 im nationalsozialistischen Parteiprogramm („positives Christentum"), zur „Judenfrage" und zum Wehreid. Es war auch Hildebrandts Frage, die Bonhoeffer erneut stellte: „Warum dann nicht das Wagnis: staatsfreie Kirche?" 9 Doch dies blieb eine einsame Stimme. Als Ergebnis der Zusammenkunft entstand in den Morgenstunden des 31. Juli der Aufruf „An unsere Brüder im Amt", versehen auch mit Hildebrandts Unterschrift. In dem Aufruf wurde festgestellt, daß angesichts der Versuche, „daß die Kirchenfrage im Widerspruch zu Barmen und Dahlem gelöst werden soll", die Zeit gekommen sei, „jede harmlose Auffassung von der Lage der Kirche fahren zu lassen und sich mit [den] Gemeinden zu rüsten auf die nahende Entscheidung." Die Synoden von Barmen und Dahlem hätten „die Kirchen unter die Alleinherrschaft des Herrn Jesus Christus gerufen; Barmen so, daß ihre Verkündigung und Lehre, Dahlem so, daß ihre Gestalt Einladungsschreiben Niemöllers (zit. nach W. NIEMÖLLER, Pfarrernotbund, S. 100 f.). Kalendereintragung ( N L H , 9251/12); vgl. an M. Leibholz, 18.71978 ( N L H , 9251/22) sowie A . SCHÖNHERR, Miteinander, S. 86. 8 Bonhoeffer an Niemöller, vor dem 30.71935 (DBW 14, S. 65; leider sind d o n die Anm. 2 und 6 falsch. Die Einladung, für die Bonhoeffer dankte, bezog sich auf die Teilnahme an der Sitzung, und bei Anm. 6 dachte Bonhoeffer keineswegs „an eine neue Synode", sondern erbat sich Rederecht auf der Sitzung, von dem er dann ja auch Gebrauch machte, wie das Protokoll von Kloppenburg zeigt). 9 Nach dem Protokoll Heinz Kloppenburgs (Kopie einer Transkription bei der EvAG MÜNCHEN; vgl. auch H . PROLINGHEUER, Fall Barth, S. 216). 6 7
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K l ä r u n g e n u n d Scheidungen: 1 9 3 5 - 1 9 3 7
und Ordnung sich allein auf das eine Wort der Offenbarung Gottes gründen. Damit hätte uns jeder Gedanke an Kompromisse verwehrt sein müssen" 10 . Dennoch: auch dieses Wort beschränkte sich völlig auf die „Kirchenfrage" und schaffte mitnichten das, was sich Bonhoeffer von dem Dahlemer Treffen erhofft hatte. Der Aufruf wies wiederum die Gemeinden als den „Ort unserer Arbeit" aus und überging den Bereich des Staates, der gesellschaftlichen Ethik, mit Schweigen. Es waren offensichtlich immer noch lediglich Einzelne, die sahen, daß eben die „Kirchenfrage" immer mehr auch auf einen Widerstand gegen das nationalsozialistische System und seinen Staat hinauslief. Offen zu Tage trat dieses Problem knapp zwei Monate später auf der altpreußische Bekenntnissynode in Berlin-Steglitz. Obwohl Hildebrandt nicht zum eigentlichen Mitgliederkreis des Theologischen Ausschusses gehörte, zog ihn Martin Niemöller zwischen dem 5. und 23. September zur Ausarbeitung der Vorlage für die Synode heran, die er gemeinsam mit Heinrich Vogel verfassen sollte11. Wahrscheinlich durch Hildebrandt kam der bemerkenswerte Satz in die Vorlage zum Thema „Judentaufe", der den Blick über die Frage der Taufe hinaus auf das Liebesgebot und damit auf die ethische Grundfrage richtete: „Sowenig die Kirche dem Juden die Taufe verweigern kann, sowenig ist sie dem ungetauften Juden gegenüber von dem Liebesgebot Jesu Christi entbunden. Wir danken unser Heil allein der grundlosen Liebe Gottes, die keine Schranken kennt." 12 Dann aber zeichnete sich unmittelbar vor und auch noch auf der Synode eine fatale Zustimmung zu den am 15. September erlassenen Nürnberger Rassegesetzen ab, und das trotz der erschütternden Zusammenstellung „Zur Lage der deutschen Nichtarier", die die Zehlendorfer Fürsorgerin Marga Meusel der Synode vorlegte13. Der Absatz über das Liebesgebot verschwand völlig14. Präses Koch, so wird berichtet, wies unter Androhung seines Rücktritts Vogel an, diese Seiten bei der Vorstellung der Vorlage auf der Synode zu überblättern 15 . Die Enttäuschung darüber wurde in Vogels Worten spürbar: „Wir lassen uns dabei die größte Zurückhaltung auferlegt sein und sagen nur jenes Minimum des Notwendigen, - ach, vielleicht nicht einmal das Minimum! - das wir nicht verschweigen dürfen." 16
Text: DBW 14, S. 6 6 - 6 8 . Vgl. J. SCHMIDT, Niemöller, S. 315f. 12 Vorlage des vorbereitenden Theologischen Ausschusses (vgl. W . NIEMÖLLER, Steglitz, S. 20). Nach E. RÖHM/J. THIERFELDER, Juden-Christen-Deutsche, Bd. 2/1, S. 56f., stammen diese Sätze von Ernst Wolf. 13 W . NIEMÖLLER, Steglitz, S. 2 9 f f . ; vgl. E. RÖHM/J. THIERFELDER, J u d e n - C h r i s t e n - D e u t sche, Bd. 1, S. 3 3 7 f f . ; 2/1, S. 44F.; M . GRESCHAT, Marga Meusel. 14 Vgl. auch den Bericht Schönherrs im Brief an seine Verlobte: „Ein Abschnitt über die rassenüberwindende christliche Liebe ist völlig fortgefallen" (A. SCHÖNHERR, Miteinander, S. 102). 15 Nach dem Bericht von Vibrans und Bethge (in: D . ANDERSEN, So ist es gewesen, S. 205f.). " Nach W . NIEMÖLLER, Steglitz, S. 183. 10 11
Der „Pyrrhussieg" - die Steglitzer Synode
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In dieser Situation drohte Hildebrandt Niemöller, sein Amt im Pfarrernotbund niederzulegen und die Bekennende Kirche zu verlassen. Gleichzeitig alarmierte er telefonisch Bonhoeffer, der mit dem Finkenwalder Seminar als „pressure group" erschien1? Hildebrandt und Bonhoeffer versuchten noch während der Synode, durch Briefe an Koch den Verlauf zu beeinflussen 18 . Es gelang ihnen, die verschärfte Spiritualisierung des Abschnittes über die Taufe: „Die Taufe begründet für niemand Ansprüche gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Art. Sie gibt kein weltliches Bürgerrecht" 19 aus der überarbeiteten Vorlage streichen zu lassen mit der Begründung, „wenn die Judensache so behandelt würde, wäre Schweigen besser als reden" 20 . In der abschließenden Debatte trat noch einmal der ganze Dissens in dieser Frage zu Tage, vor allem zwischen Niemöller und Knak. Niemöller erinnerte daran, daß die Frage „daß getaufte Juden in der Kirche vollberechtigte Glieder der Gemeinde, auch mit der Fähigkeit zum Pfarramte sind", zur Gründung des Pfarrernotbundes geführt habe, und machte deutlich: „Was wir hier sagen, und was wir hier an biblischen Konsequenzen von der Taufe aussagen, reicht nicht einmal an das heran, wofür über 9000 Pfarrer im deutschen Vaterlande seit zweieinhalb Jahren ihren Kopf hingehalten haben." 21 Dadurch, daß die Synode allen Fragen des „weltlichen Bürgerrechtes" aus dem Weg ging und sich nicht zu einem mutigen Wort des Widerspruchs gegen die staatliche Judenpolitik durchringen konnte, sondern allzusehr mit den staatlichen Eingiffen in die kirchliche Selbstverwaltung (wie etwa den staatlichen „Finanzabteilungen") beschäftigt war, erschien sie Hildebrandt und Bonhoeffer als „versäumte Schicksalsstunde" und „Pyrrhussieg" 22 . Uber die Stimmung danach im Kreis der Schüler und Freunde Bonhoeffers gibt ein Brief Auskunft, den Hans Herbert Kramm, damals Vikar in London, am 28. Oktober 1935 an Winterhager schrieb: „Knak kann trotz Kenntnis des Bekenntnisses unbarmherzig eine Aktion der Kirche für verfolgte Brüder (Nichtarier) ablehnen, der Engländer wird, trotz fehlenden Bekenntnisses, dafür Verständnis haben, das doch mehr über den allgemeinen ,Humanitätsbegriff' herausgeht. In dieser Richtung müssen wir doch der BK vorhalten, daß man an ihren ,Früchten' erkennt, wie faul es um das ,Bekenntnis' steht und daß man die ,guten Werke' mancher Anglikaner sehen soll, und Gott dafür
17 Vgl. DB, S. 557f. Die Darstellung beruht auf einer Auskunft Hildebrandts vom 23.9.1957 (Notizzettel in SAMMLUNG BETHGE, WACHTBERG); vgl. jetzt auch die Berichte Schönherrs an seine Verlobte (A. SCHÖNHERR, Miteinander, S. 101-106). 18 EBD., S. 102. 19 So die Formulierung in Niemöllers Referat im Theologischen Ausschuß am 25.9.1935 (nach W. NIEMÖLLER, Steglitz, S. 234; vgl. J. SCHMIDT, Niemöller, S. 317 und zum ganzen Komplex
W. GERLACH, Z e u g e n , S. 146ff.). 20 21 22
Nach A. SCHÖNHERR, Miteinander, S. 102. Nach W . NIEMÖLLER, Steglitz, S. 302. DB, S. 559.
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Klärungen u n d Scheidungen: 1 9 3 5 - 1 9 3 7
preisen, statt unter Mißachtung des Wandels als Prüfstein der Lehre nur auf die fehlende Lehrerkenntnis der Anglikaner zu weisen."23 So blieb die Steglitzer Synode, von der sich viele weiterführende Klärungen erhofft hatten, eine Enttäuschung, weil es der Bekennenden Kirche nicht gelang, die inneren Differenzen in der Frage nach der ethischen Dimension des Bekenntnisses zu überwinden.
5.2. Die Kirchenausschüsse und ihre Folgen Wenige Wochen nach der Steglitzer Synode verschärfte sich die Lage für die Bekennende Kirche. Der seit Juli amtierende Reichskirchenminister Hanns Kerrl berief seit Oktober 1935, beginnend mit der Deutschen Evangelischen Kirche und der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union, treuhänderisch „Kirchenausschüsse", die an die Stelle der bisherigen Kirchenleitungen treten sollten. Die Frage, ob und inwieweit die Bekennende Kirche diese neuen Kirchenleitungen anerkennen und mit ihnen zusammenarbeiten könnte, stellte die Bekennende Kirche vor eine Zerreißprobe, an der sie im Frühjahr 1936 zerbrach. Viele erhofften sich von den Entscheidungen des Ministers eine wirkliche Befriedung der kirchlichen Lage, zumal es ihm gelang, mit dem pensionierten westfälischen Generalsuperintendenten Wilhelm Zoellner einen in kirchlichen Kreisen weithin geschätzten Mann als Vorsitzenden des Reichskirchenausschusses zu finden. Die sogenannten „Dahlemiten" in der Bekennenden Kirche jedoch waren unter Berufung auf das von der Dahlemer Bekenntnissynode proklamierte kirchliche Notrecht grundsätzlich nicht dazu bereit, auch nur Teile der eigenen kirchenregimentlichen Befugnisse abzugeben. Diese konsequente und theologisch wohlbegründete Verweigerungshaltung führte sie in die Isolation 24 . Nach knapp zwei Jahren voller vergeblicher Hoffnung auf eine Kirchwerdung der Opposition stand für sie nun wieder die Frage nach einem eigenen Weg und damit die Frage der Freikirche aufs neue im Raum. In dieser Situation schrieb Bonhoeffer an seine Schwester: „In der kirchlichen Entwicklung sehe ich ziemlich schwarz. Ich glaube, es werden uns jetzt viele verlassen, und scheint mir der Weg in die Freikirche einfach vorgeschrieben und notwendig." 25 Den23 Der Brief ist eine Reaktion auf Winterhagers Artikel „Artgemäßes und ökumenisches Christentum", 2 8 . 1 0 . 1 9 3 5 (LKAEKvW BIELEFELD, 5,1/592,1); vgl. auch Kramm an Bonhoeffer vom 1 6 . 1 1 . 1 9 3 5 (DBW 14, S. 99); zum Engagement Kramms und Winterhagers vgl. M . HEIMBU-
CHER, Christusfriede, S. 168 u n d 1 8 6 f .
Vgl. den Überblick bei M. GRESCHAT, Widerspruch, S. 14ff., hier S. 16. A n Susanne Dreß (nach dem 17.10.1935; DBW 14, S. 85f.); zumindest die Ansichten von Hildebrandt und Bonhoeffer widerlegen also die Erinnerung von W . SCHERFFIG, Fragen und Bedenken, S. 552f., „... daß die Alternative ,Freikirche oder Volkskirche' für uns nie ein ernsthaftes Thema gewesen ist." 24
25
Die Kirchenausschüsse und ihre Folgen
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noch kam eine Freikirche nicht zustande, allzu viele wollten in dieser „Periode der Müdigkeit und der Kompromißbereitschaft" 26 , wie Hildebrandt sie sah, kein Risiko eingehen. Die Kirchenausschüsse blieben eine kirchenpolitische Episode, da sie nicht zu dem von den Nationalsozialisten gewünschten Erfolg einer „Befriedung" der evangelischen Kirche führten. Ihre weitreichende Folge war jedoch die endgültige Spaltung der Bekennenden Kirche. Das war bis in die Gemeinden hinein spürbar. Auch die Kirchengemeinde Dahlem wurde in der Zeit der Kirchenausschüsse an den Rand einer Spaltung gebracht2? Der frühere Gemeindepfarrer Johannes Eger, inzwischen pensionierter Generalsuperintendent in Magdeburg, Vorsitzender des altpreußischen Landeskirchenausschusses und prominentes Mitglied des Reichskirchenausschusses, erhielt Kanzelverbot in seiner alten Gemeinde 28 . Der den Ausschüssen zuneigende Pfarrer Eberhard Röhricht verstärkte die Spannungen in Dahlem, wobei vor allem die von seiner Frau geleitete Frauenhilfe im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen stand 29 . Die Trennlinie ging quer durch alle Gruppen und Kreise der Gemeinde. Eine Folge war auch, daß die übrigen Vertreter des Pfarramts, Fritz Müller, Niemöller und Hildebrandt, nach den Sommerferien 1936 einen eigenen Kindergottesdienst für den „Mittel- und Nordbezirk" einrichteten30. Nach Niemöllers Verhaftung und Hildebrandts Emigration verstärkten sich die Spannungen noch. Zwar übernahm unter Zustimmung aller Walter Dreß Hildebrandts Stelle als Hilfsprediger für Müller31. Nachdem Niemöller 1938 ins Konzentrationslager verbracht wurde, ließ sich Dreß jedoch als Niemöllers Vertreter im Pfarramt durch die Kirchenbehörde „legalisieren", wohingegen die Bekenntnisgemeinde Helmut Gollwitzer anstellte32. Die Predigten Hildebrandts bekamen in diesen Jahren einen zunehmend kämpferischen Ton. Pfingsten 1936 predigte er gezielt über Haggai 1,2: „Die Zeit ist da." 33 Immer wieder beklagte er die Unentschiedenheit derjenigen, die sich auf den Standpunkt stellten, daß die Zeit noch nicht reif sei. Im Rückblick schrieb er: „Wie oft haben Dietrich und ich uns darüber unterhalten! [...] Aber es glaubt einem ja niemand, daß die Kirchengeschichte von
Bibl. Nr. 4, S. 36. Dabei blieb es nicht nur bei kirchenpolitischen Differenzen unter den Dahlemer Pfarrern, wie G. SCHÄBERLE-KOENIGS, Dahlem, S. 34f., meint. 27
28
Vgl. Z E K H N DARMSTADT, 3 5 / 3 7 3 .
29
Vgl. Z E K H N DARMSTADT, 62/1064.
30
Hektographiertes Rundschreiben v o m 10.10.36 ( Z E K H N DARMSTADT, 62/1024).
Vgl. die Unterlagen im Z E K H N DARMSTADT, 62/1024. Nach der Erinnerung von Elsie Steck (im Gespräch mit dem Verf.) wollte Hildebrandt selbst, daß Dreß sein Nachfolger wurde. 32 Vgl. G. GRAFF, Gemeinde, S. 81-84, DBW 15, S. 274 mit Anm. 5 und die ausführliche Darstellung bei G. SCHÄBERLE-KOENIGS, Dahlem, S. 45ff. 33 Am Pfingstmontag, 1.6.1936, in der Annenkirche Dahlem (Predigtalbum, Ν LH, 9251/2). 31
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tausend verpaßten Gelegenheiten wimmelt und daß das Zögern der Opposition nur den Feind immer fester im Sattel macht." 34 Andere Texte, die Hildebrandt unter aktuellen Gesichtspunkten wählte, waren Eph 4,26: „Zürnet, und sündiget nicht"35, Hebr 10,38: „Wir sind nicht von denen, die da weichen"36, seit Oktober 1934 die „Losung des kirchlichen Widerstandes"37, oder zum Abschluß des Jahres 1936 in der Silvesternacht den Vers aus der Geschichte von Sodom und Gomorrha: „Errette deine Seele und sieh nicht hinter dich" (Gen 19,17)38. Der Kindergottesdienst wuchs Hildebrandt in seiner Dahlemer Zeit besonders ans Herz. In Gemeindekreisen ging sein Bonmot um: „Zwischen vier und acht Jahren ist der Mensch manchmal ein vorzüglicher Theologe; später läßt das oft nach."39 Hier und im Konfirmandenunterricht erwies sich Hildebrandt als experimentierfreudig. Seine theologische Haltung, daß die Konfirmation kein Gelöbnis sei40, setzte er auch liturgisch um, wie sich Elsie Steck erinnert: „Die herkömmliche Form, insbesondere das Gelübde, war ihm allzu fragwürdig geworden, und so ließ er seine Konfirmanden vortreten und mit ihrem ersten Abendmahl zugleich ihren Konfirmationsspruch empfangen. Das Gelübde fiel weg." 41
Die einzige Predigt Hildebrandts aus dieser Zeit, von der eine gedruckte Nachschrift existiert, ist eine Konfirmationspredigt in der St. Annenkirche am Sonntag Judica, dem 14. März 193742. Vom Text 1 Petr 1,25 aus: „Des Herrn Wort bleibt in Ewigkeit. Das ist aber das Wort, welches unter euch verkündigt ist", wies Hildebrandt auf das Entscheidende und Bleibende hin: „Wer in diese Kirche will, wer sich mit seinem Gang zum ersten Abendmahl zu ihr bekennen will, der kann nur nach diesem einen fragen und nur auf dieses eine sehen: die aufgeschlagene Bibel und das ausgeteilte Sakrament." Sein Ziel im Konfirmandenunterricht war es, die Konfirmanden dahin zu bringen, selbst zu sehen und zu erkennen, was in der Heiligen Schrift steht. Diese Verantwortung könne ihnen keiner, auch nicht Kirche und Pastor, abnehmen: „Ihr seid gefragt und Ihr seid dem Wort gegenübergestellt." Dies gelte besonders in der gegenwärtigen Zeit und ihrem Kampf um die Wahrheit:
34
A n B e t h g e , 7 1 0 . 1 9 6 8 (SAMMLUNG B E T H G E , W A C H T B E R G ) .
" Am 18.10.1936 in der Jesus-Christus-Kirche Dahlem (Predigtalbum, Ν LH, 9251/2). 36 Am 2710.1936 in Zepernick (vgl. EBD.) 37
K . S C H O L D E R , K i r c h e n , B d . 2 , S. 3 3 0 .
38
In der Annenkirche Dahlem.
39
H . S C H A E D E R , D a h l e m , S. 7 9 .
40
Vgl. schon die Promotionsthesen (oben S. 29).
41
E . S T E C K , D a h l e m , S. 8 7
42
Bibl. Nr. 3; ein Exemplar im LKAEKvW BIELEFELD, 5,1/396.
Die Kirchenausschüsse und ihre Folgen
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„Darum erlebt ihr es - es ist nicht zufällig - daß die Kirche, in deren Reihen ihr eintreten wollt, in einem Kampf um ihr Leben steht, bei dem es um nichts anderes geht, als daß allein das Evangelium lauter und rein, unverfälscht und unverkürzt, die Kanzeln und die Altäre beherrsche. [...] Wir sehen uns gegenüber eine andere Religion in unserm Volk, die des Menschen Herrlichkeit, die Kräfte von Fleisch und Blut, auf ihren Schild erhebt."
Die Kirche stelle der herrschenden Ideologie eine andere Wahrheit entgegen, die nur eine Antwort kenne: „Des Herrn Wort bleibt in Ewigkeit." Dieses Wort den Konfirmanden in Kirche und Unterricht nahezubringen, war sein Anliegen. Hildebrandt spitzte die Frage nach der individuellen Glaubensentscheidung noch weiter zu; das Wort „hat Euch ganz persönlich getroffen und erreicht, denn ihr seid ja getauft.", und er forderte die Konfirmanden zum persönlichen Bekenntnis auf: „Jetzt ist die Frage: wollt ihr mit diesem Wort Ernst machen, wollt ihr euer Leben mit ihm in Einklang bringen, wollt ihr darauf euer Vertrauen setzen im Leben und im Sterben - dann fangt ihr an zu glauben!" Hildebrandt verwies auf das von ihm verwendete Glaubensbekenntnis Luthers und auf die Tatsache, daß die Konfirmanden - was damals unüblich war - sich ihre Sprüche selbst ausgesucht hätten. Beides wertete er als Beleg dafür, daß ihr ganz persönliches Leben, ihr ganz persönlicher Glaube gefragt und gefordert seien. In für Hildebrandt charakteristischer Weise endete die Predigt mit einem Hinweis auf Luther, auf seine Vergewisserung wider alle Anfechtung: „Ich bin getauft" und „Das ist mein Leib", sowie mit einer Liedstrophe, in diesem Fall von Matthias Claudius: „Der Mensch lebt und bestehet/nur eine kleine Zeit und alle Welt vergehet/mit ihrer Herrlichkeit; es ist nur einer ewig/und an allen Enden/und wir in seinen Händen." Hildebrandts Dahlemer Gemeinde war durch die Stärkung der Eigenverantwortlichkeit der Gemeindeglieder tatsächlich in gewisser Weise „auf dem Weg zur mündigen Gemeinde" 43 . Andererseits aber führten nicht zuletzt die ungelösten Fragen des Kirchenkampfes - wieweit sollte der Widerstand gehen, welches war der richtige Weg? - und die damit verbundenen Spannungen, die bis in die Gemeinde und bis ins Persönliche hinein spürbar waren, dazu, daß manche sich von der Kirche abwandten. Daneben kam es zu einer überraschend großen Konversionsbewegung zur römisch-katholischen Kirche 44 . Ein Fall mag hier für viele stehen: Am 19. November 1935 sandte Elisabeth Krautzberger ihre Mitgliedskarte der Bekennenden Kirche an Niemöller zurück und erklärte gleichzeitig in einem vierseitigen Brief ih-
43
G . GRAFF, Gemeinde.
Vgl. auch E . HEUSS-KNAPP, Bürgerin, S. 241: „ D i e meisten verstehen den Streit nicht und gehen gar nicht. Aber viele Übertritte gibt es auch . . . " . Auch sie selbst bekannte angesichts des „weltanschaulichen Durcheinander[s]": „ D i e katholische Kirche geht mir immer mehr a u f " (EBD., S. 238). 44
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Klärungen und Scheidungen: 1935-1937
ren Entschluß, zur katholischen Kirche überzutreten. Sie suche eine sichtbare Kirche, und sie tue diesen Schritt auch, „weil uns diese Welt von Gott als Aufgabe gestellt ist, weil wir verantwortlich sind für jede Seele, die hier wehrlos zugrundegeht. Wir im Protestantismus überlassen so leicht, wenn auch nicht ohne unsere Hilflosigkeit schmerzlich zu empfinden, Menschen ihrem Schicksal. Wir betonen mit Recht, das Seelenheil sei wichtiger als dieses irdische Leben, vergessen aber darüber, daß über der Verzweiflung dieses irdischen Kampfes mancher irre wird. [...] Die reine Lehre bleibt dann ohne Frucht" 4 5 .
Niemöller übergab den Brief Hildebrandt, in dessen Bezirk Frau Krautzberger wohnte. Dieser schrieb ihr ausführlich, auch weil er glaubte, „für manche Ihrer Zweifel an der evangelischen Kirche aus eigenster Erfahrung Verständnis zu haben." Dennoch sei dies eigentlich nur ein Anlaß, „nun umso energischer von der Quelle her evangelisch zu werden. Denn ist damit, daß in der gegenwärtigen Gestalt der evangelischen Kirche sehr vieles unbiblisch und unreformatorisch ist - ich schließe die Gestalt der Bekennenden Kirche völlig mit ein - wirklich schon gesagt, daß alle diese Dinge auch nur in etwa in der katholischen Kirche in Ordnung wären?" 46 Man könne die wahre Kirche nicht anders suchen und finden als da, wo die Sätze der Bekenntnisverpflichtung, der „roten Karte" der Bekennenden Kirche, von der alleinigen Autorität von Evangelium und Bekenntnis gelten. - Ob dieser Brief allerdings Wirkung gezeigt hat, ist nicht mehr zu klären. Aus Hildebrandts Kalendereintragungen wird nur deutlich, daß er sich noch mehrmals mit Frau Krautzberger zu persönlichen Gesprächen getroffen hat4-! In dieser Zeit, im Herbst und Winter 1935/36, traf sich Hildebrandt nahezu jede Woche am Montagabend oder dienstags mit Bonhoeffer, wenn dieser aus Finkenwalde anreiste, um Vorlesung und Seminar an der Berliner Universität zu halten48. Das Thema, in welcher Form die Bekenntnisverpflichtung eine konkrete Gestalt bekommen könnte, dürfte bei ihren Gesprächen eine große Rolle gespielt haben. Für Hildebrandt stellte sich die Lage so dar: „Man lebt eigentlich bereits in freikirchlichen Formen, scheut aber die Konsequenzen und beharrt bei der Forderung der staatlichen ,Rechtshilfe'." 49 Er selbst warb in immer neuen Anläufen darum, die nötigen Konsequenzen zu ziehen. Ein Zeugnis dafür ist ein Thesenpapier, das er Ende Dezember 1935 dem Berliner Bruderrat unterbreitete - unter dem Eindruck der anhaltenden Diskussionen um die rechte Kirchenleitung und der
45
L K A E K v W BIELEFELD, 5,1/474,2.
46
An E. Krautzberger, 26.11.1935 (EBD.). A m 1712.1935 sowie am 9.1. und 171.1936 ( N L H , 9251/11 und 12) EBD.; vgl. auch DBW 14, S. 1045. Bibl. Nr. 25, S. 227
47 48 49
Die Kirchenausschüsse und ihre Folgen
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Anfang Januar bevorstehenden Entscheidung des Reichsbruderrates über die Anerkennung der Kirchenausschüsse 50 . Unter dem Titel: „Was ein Gemeindepastor sich vom heutigen Bruderrat wünscht" listete Hildebrandt in sieben Thesen die seiner Meinung nach wichtigsten Aufgaben des Berliner Bruderrats auf51. An erster Stelle steht das Anliegen, eine klare Scheidung von den Kirchenausschüssen zu suchen und durchzuhalten. Der Kampf dürfe auch „nicht mehr länger auf das juristische Gleis verschoben" werden. „Bildung und Weg" der bisherigen Vorläufigen Kirchenleitung (unter Einschluß derjenigen, die jetzt mit den Kirchenausschüssen zusammenarbeiteten) sei nun als falsch erwiesen; die Bitte um „Rechtshilfe", die Illusion, man könne sich beim Staat Hilfe gegen das unrechtmäßige Kirchenregiment der Deutschen Christen holen, habe sich erledigt. Man müsse sich auf eine Aufhebung der Kirchenverträge und die Trennung von Staat und Kirche einstellen, und in dieser Situation gelte es, darauf „mit klaren, praktischen Weisungen" vorbereitet zu sein: „Es ist nicht biblisch, das Gesetz des Handelns immer nur vom Gegner bestimmen zu lassen." Uber den augenblicklichen kirchenpolitischen Fragen möge der Bruderrat nicht vergessen, daß „seit der Steglitzer Synode die Themen ,§ 24' [des Parteiprogramms der NSDAP], ,Rasse' ,Schule' noch immer ihrer Bearbeitung harren und die Gemeinden noch immer nicht darüber beruhigt sind." Hildebrandt forderte klare und einheitliche Worte dazu, frei „von überhäuften Bibelzitaten, Archaismen und Geheimworten." Es waren im Grunde immer noch dieselben Gravamina, wie sie Bonhoeffer und Hildebrandt auch beim Treffen am 30. Juli 1935 vorgebracht hatten52. Schließlich sei noch darauf zu achten, daß nicht bei den Gemeinden der Eindruck entstehe, die nötigen Auseinandersetzungen seien nur „ein Spiel persönlicher Differenzen". Wenige Tage später, am 3. Januar 1936, erklärte der Reichsbruderrat die Vorläufige Kirchenleitung in einer Mehrheitsentscheidung „für nicht mehr arbeitsfähig", und auf der vierten (und letzten) Reichsbekenntnissynode in Bad Oeynhausen im Februar 1936 kam es zum offenen Bruch. Die bruderrätlich bestimmten Kreise bildeten am 12. März die (2.) Vorläufige Leitung unter Pfarrer Müller (-Dahlem). Auch wenn dies zunächst eine Schwächung der kirchenpolitischen Position der Bekennenden Kirche bedeutete, so wurde es doch jetzt zumindest teilweise möglich, auch die von Hildebrandt und Bonhoeffer mehrfach angemahnten Fragen („§ 24, Rasse, Schule") anzugehen, wie es dann in der Denkschrift vom Mai 1936 geschah.
50 51 52
Vgl. dazu K. MEIER, Kirchenkampf, Bd. 2, S. 94ff. Abschrift im 2EKHN DARMSTADT, 62/1028. Vgl. oben S. 93.
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Klärungen und Scheidungen: 1935-1937
5.3. Die Kirchliche Hochschule Eines der größten Probleme der Bekennenden Kirche war die Sorge um die Ausbildung der jungen Theologen und zunehmend auch Theologinnen, die sich ihr zugehörig wußten. Mehr und mehr Fakultäten wurden im Sinne der Nationalsozialisten und der sie stützenden Deutschen Christen umgestaltet. Regte sich auch vereinzelt der Widerstand 53 , so fühlten sich doch viele Studenten alleingelassen. Der altpreußische Bruderrat hatte jedoch schon in seiner ersten kirchenleitenden Entscheidung die Verantwortung für die Ausbildung übernommen und am 4. Juli 1934 die Einrichtung je eines Prüfungsamtes und eines Predigerseminars im Westen und Osten Deutschlands beschlossen 54 . Ende Oktober 1934 konnte Martin Albertz, nach seiner Amtsenthebung als Superintendent in Berlin-Spandau nun Leiter des Berlin-Brandenburgischen Prüfungsamtes, vermelden: „Seit Bekanntwerden der Beschlüsse des altpreußischen Bruderrates und der Dahlemer Botschaft vom 20. Oktober beginnen unsere jungen Brüder in stürmischem Umfange nach unseren Prüfungen zu fragen." 55 Der Anspruch, „gemeinsam mit den Mitgliedern der theologischen Fakultät, welche sich zur Bekennenden Kirche halten, die Verantwortung für eine geordnete Ausbildung der Kandidaten und Hilfsprediger" 56 tragen zu wollen, barg jedoch einige Probleme in sich: Man besetzte zunächst die Prüfungskommission paritätisch mit Professoren und Pfarrern der Bekennenden Kirche, wobei die Professoren zwar das Unrechtsregime des Reichsbischofs ablehnten, aber durchaus nicht alle die Bekenntnisentscheidungen von Barmen und Dahlem mittragen wollten und konnten. Hinzu kam noch die Weigerung mancher Professoren, in einer Prüfungskommission mit dem als Pazifist und Staatsfeind geächteten Günther Dehn zusammenzuarbeiten. Hildebrandt, der 1934 offenbar eine Art Vertreter Bonhoeffers in dessen Berliner Studentenkreis geworden war, schrieb daraufhin im Dezember 1934 an Asmussen: „ A m Dienstag erfuhr ich auf d e m preußischen Bruderrat, daß Sie sich der N o t unserer Kandidaten inzwischen angenommen haben, die mir schon die ganze Zeit erheblich zu schaffen macht. Ich sehe natürlich ein, daß die Zusammensetzung des Prüfungsamtes Sache der provinzialen Bruderrates und nicht der Examinanden selbst ist. Ich verstehe auch, daß man die Prüfungskommission, u m sie juristisch möglichst den verfassungsmäßigen Bestimmungen entsprechen zu lassen, nicht ohne Fakultätsmitglieder bilden will. Aber was mir ernsthafte Leute unter den Vi53
Vgl.
dazu
G. HAENDLER,
Reichsbischof;
E. DINKLER/E. DINKLER-VON SCHUBERT,
Theologie und Kirche. 54
Vgl. H . LUDWIG, Entstehung, S. 283.
55 Zit. nach EBD., S. 285. 56 Verordnung zur Ausführung der Beschlüsse der Dahlemer Bekenntnissynode, 30.10.1934 (KJ 1933-1944, S. 84).
Die Kirchliche Hochschule
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karen dauernd aus Gesprächen mit den Berliner Professoren an Äußerungen über Barmen und die Bekenntniskirche berichten, ist schlechterdings so horrend, daß man darüber nicht einfach zur Tagesordnung übergehen und frisch-fröhlich drauflos prüfen kann."
Er regte dann eine Ausprache mit Vertretern beider Seiten an: „Wenn es zu dieser Besprechung nicht käme oder ihr Ergebnis nicht so wäre, daß wenigstens die begründeten gewissens- und bekenntnismäßigen Bedenken unserer Kandidaten dadurch beseitigt wären, dann sollten wir uns wirklich überlegen, ob es nicht besser wäre, auf den Schein des Rechts an diesem Punkt zu verzichten und die Fakultät fahren zu lassen, als daß wir die Leute, auf die es ankommt, zu Gunsten der Mitläufer zu opfern. Vom Fall Dehn schweige ich dabei noch ganz. Aber was hier geschieht, ist ein bitter deutliches S y m p t o m dafür, wohin wir mit der Marahrens-Kirche geraten." 5 7
Auch an diesem Punkt wird deutlich, wie kritisch Hildebrandt von vornherein dem Versuch gegenüberstand, mit der im November 1934 gebildeten Vorläufigen Kirchenleitung unter dem Vorsitz des hannoverschen Bischofs Marahrens zu einem gemeinsamen Kirchenregiment der Bekennenden Kirche zu kommen 58 . Am 18. Januar 1935 forderten in einer Entschließung 28 Vikare und Kandidaten das Verbleiben von Dehn in der Prüfungskommission 59 . Die Professoren und Verantwortlichen trafen sich am 30. Januar, doch erst im Februar brachte Hildebrandt zusammen mit Winterhager eine Aussprache auch der Studenten mit Asmussen zustande60. Gleichzeitig erschwerte ein Erlaß des Preußischen Ministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 28. Februar 1935 die Zusammenarbeit mit den Professoren, da er den Fakultäten jede Stellungnahme im Kirchenstreit untersagte und unbedingte Loyalität zum nationalsozialistischen Staat einforderte. Die „Anforderung zur Mitarbeit seitens frei gebildeter kirchlicher Vereinigungen" bedurfte nun einer besonderen ministeriellen Genehmigung61. Auf Drängen von Martin Albertz trat Dehn dann tatsächlich aus der Prüfungskommission aus, korrigierte aber weiterhin anonym Examensarbeiten 62 . Lietzmann hingegen schied wenig später dennoch ebenfalls aus, weil 57 An Asmussen mit Abschrift an Wilhelm Niesei, 15.12.1934 (LKAEKvW BIELEFELD, 5,1/72/1); vgl. dazu auch Hans Lietzmann an Hans von Soden, 15.12.1934: „Sie könnten uns auch zur Beseitigung von Dehn aus der Prüfungskommission helfen" (K. ALAND, Glanz und Niedergang, Nr. 887), und von Sodens Antwort, „daß sich die Bekennende Kirche nicht mit D. belasten dürfe" (EBD. Nr. 888). s» Vgl. oben S. 85. 59 E Z A BERLIN, 50/644. 60 Am 18.2.1935 (Kalender; Ν LH, 9251/11). 61
D O K U M E N T E ZUR K I R C H E N P O L I T I K DES D R I T T E N R E I C H E S , B d . 2 , S . 2 7 1 ; vgl. a u c h
G . BESIER, Geschichte, S. 2 5 2 . 62
Vgl. G. DEHN, Die alte Zeit, S. 311.
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Klärungen und Scheidungen: 1 9 3 5 - 1 9 3 7
der altpreußische Bruderrat von den Professoren doch noch eine Bekenntnisverpflichtung verlangte, was Lietzmann als einen verhängnisvollen Schritt ansah, „der geeignet ist, die kirchlichen Gegensätze in unserem Vaterlande weiter zu verschärfen" 63 . Die auf der Reichsbekenntnissynode von Augsburg Anfang Juni 1935 gefaßten Beschlüsse zur „Vorbildung und Prüfung der Pfarrer der Bekennenden Kirche" führten zu weiteren, weitreichenden Konsequenzen, da sich die Bekennende Kirche nun verpflichtete, „für Ersatz solcher Vorlesungen und Übungen Sorge zu tragen, deren Besuch den Studenten um des Gewissens willen nicht zugemutet werden kann" 64 . Nicht ohne Widerspruch von Seiten der akademischen Theologie beschloß der altpreußische Bruderrat am 14. August die Gründung der „Hochschule für reformatorische Theologie" 65 . Am 21. August tagte der Hochschulausschuß, und einen Tag später konnte Niemöller Asmussen berichten: „Ferner soll Hildebrandt-Dahlem gebeten werden, ein zweistündiges Kolleg über die Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts zu lesen." 66 So wurde Hildebrandt Dozent für „Kirchengeschichte der Gegenwart" an der sich gründenden Kirchlichen Hochschule Berlin, die - kaum eröffnet gleich in die Illegalität ausweichen mußte 6 ? Nachdem sogar die gottesdienstliche Eröffnung einem Verbot zum Opfer fiel und damit erstmals seit Beginn des Kirchenkampfes die Türen der Dahlemer Kirche auf behördliche Anordnung verschlossen bleiben mußten, versammelten sich Dozenten und Studenten am 25. November 1935 im Notkirchensaal der Spandauer Bekenntnis gemeinde. Hier erhielten die Dozenten Hans Asmussen, Martin Albertz, Franz Hildebrandt, Joseph Chambón, Edo Osterloh, Wilhelm Niesei und Heinrich Vogel in einem Gottesdienst die Urkunde ihrer „Einweisung in das Kirchliche Lehramt" überreicht, damit jedem kund sei, „daß diese unsere Brüder nicht in eigener Wahl ihren Dienst verrichten, sondern ordentlich von der Gemeinde dazu berufen sind" 68 . Eine Studentin erinnerte sich: „Dieser Gottesdienst ist mir unvergeßlich, denn damals begann ich zu ahnen, daß wir bereit sein müßten, eine Katakombenkirche zu werden." 69
63 Lietzmann an Albertz, Oktober 1935 (K. ALAND, Glanz und Niedergang, Nr. 931). Zu diesem Vorgang vgl. auch die Korrespondenz mit von Soden (EBD. , Nr. 921 f.) sowie dessen Brief an Präses Koch vom 14.71935 (E.DINKLER/DINKLER-VON SCHUBERT, Theologie und Kirche,
S. 163-169). 64 Vgl. W. NIEMÖLLER, Augsburg, S. 82; vgl. auch G.BESIER, Gründung; J. THIERFELDER, Ersatzveranstaltungen. 65 Vgl. das Protokoll (W. NIEMÖLLER, Steglitz, S. 85).
«• Z E K H N D A R M S T A D T , 6 2 / 1 0 5 6 . 67 68 69
Vgl. G. BESIER, Gründung, S. 162. Hildebrandts Urkunde im NLH, 9251/27 A. GROSCH, Vergangenheit, S. 31.
Die Kirchliche Hochschule
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Hildebrandt las im Rahmen seines Lehrauftrages im Wintersemester 1935/36 über ein Thema, das ihn seit seiner Studienzeit begleitete: „Hauptfragen der Theologie des deutschen Idealismus"70, und machte damit auch deutlich, daß er eher in die systematische denn in die kirchengeschichtliche Abteilung gehörte. Aus Gründen, die sich nicht klären ließen, gab es im Sommersemester 1936 keine Lehrveranstaltung von Hildebrandt. Er nahm auch nicht an der Fahrt der Dozentenschaft Mitte April 1936 nach Driebergen in Holland teil, wo es zu einer erregten Diskussion über „Evangelium und Gesetz" kam, vor allem zwischen Hans Asmussen und Karl Barth71. Neben dem regulären Vorlesungsbetrieb der Hochschule organisierten die Dozenten eine weitere „Ersatzveranstaltung" für einen größeren studentischen Teilnehmerkreis, den „Theologischen Kursus" vom 1. bis zum 30. September 1936, zu dem der Bruderrat der altpreußischen Bekennenden Kirche einlud. Gestaltet wurde er hauptsächlich von der Dozentenschaft der Kirchlichen Hochschule, und Hildebrandt hielt dort „Katechetische Übungen." Ursprünglich gedacht für „Studenten, die kurz vor dem Examen stehen und die noch nicht die Ausbildungsmöglichkeiten der Bekennenden Kirche wahrnehmen konnten", öffnete man den Kurs unter dem Eindruck der „Zerstörung der staatlichen Fakultäten", und da „Irrlehre und kirchliche Unentschiedenheit immer mehr um sich greifen", auch für jüngere Semester72. Uber 120 Studierende folgten der Einladung zu dem Kurs, der am 1. September mit einem Gottesdienst in der Dahlemer Jesus-Christus-Kirche eröffnet wurde73. In diesem Sommerkurs wurde Wert darauf gelegt, Lehre und gemeinsames Leben zu verbinden. Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden bei Gemeindegliedern in Dahlem und den Nachbargemeinden untergebracht. „Offene Abende" und die Möglichkeit, an Niemöllers „Bekenntnisabenden" am Montag teilnehmen zu können, gehörten ebenso zum Kurs wie ein Ausflug in Vogels Landgemeinde Dobbrikow im Spreewald. Die erhaltenen Photographien dieses Ereignisses zeigen die Dozentenschaft in gelöster Atmosphäre74.
70
Vgl. das Faksimile des Vorlesungsverzeichnissses bei E. RÖHM/J. THIERFELDER, Kreuz und Hakenkreuz, S. 64f. Ein Vorlesungsmanuskript Hildebrandts ist nicht erhalten. 71 Vgl. dazu E. BUSCH, Lebenslauf, S. 258; G. BESIER, Auseinandersetzung, S. 133ff. 72 Vgl. die hektographierte Einladung und Vorlesungsübersicht (LKAEKvW BIELEFELD, 5,1/474,1). 73 Die Zahl nach Asmussen an Barth, 5.9.1936 (G. BESIER, Gründung, S. 163). Nach der Einladung war als Prediger beim Eröffnungsgottesdienst Heinrich Vogel vorgesehen, aber Hildebrandts Kalender verzeichnet: „8 1/2 Eröffnungsgottesdienst 1 Tim 1,12: Der Dank und das Amt" (NLH, 9251/12). 74
Vgl. die A b b i l d u n g e n bei G . BESIER, K i r c h e , S. 463. D a s F o t o bei E . R Ö H M / J . THIERFEL-
DER, Juden-Christen-Deutsche, Bd. 2/1, S. 295, das Hildebrandt mit Albertz zeigt, dürfte von diesem Ausflug stammen.
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Ebenfalls zum Beiprogramm des Sommerkurses gehörte, daß Hildebrandt am 26. September 26 Personen zur Hausmusik 75 einlud, und am 29. September gab es einen Offenen Abend mit den Studenten in seiner Wohnung in der Misdroyer Straße 49a. Diese Offenen Abende waren für Studierende wie Lehrende ein wertvoller Ort des freimütigen Gesprächs. In einer sehr persönlichen Erinnerung hat Wolfgang Lehmann die Atmosphäre dieser Abende festgehalten: „Was hast Du [ = Hans Asmussen] Dir in Deiner Berliner Zeit von Friedrich Smend über Bachs Werk berichten lassen, seitdem Du ihn 1935 in ,Fränzchen' Hildebrandts Wohnung bei einem offenen Abend vor uns Studenten fragtest, ob er aus Bachs Musik nachweisen könne, daß dieser ein lutherischer Dogmatiker sei - und Smend mit einem uneingeschränkten Ja antwortete." 76 Mit Friedrich Smend, dem Bach-Experten, verband Hildebrandt damals viel. Smend schätzte an Hildebrandt den „vortrefflichen Prediger" und sein „phänomenales Zitatengedächtnis" 77 Neben der Lehrtätigkeit in Berlin gehörte die Teilnahme als Prüfer bei den Examina der Bekennenden Kirche zu Hildebrandts Aufgaben; neben den Berliner Examina prüfte er (vertretungsweise?) auch in Breslau und Oldenburg 78 . Für das Wintersemester 1936/37, in dem die Lehrveranstaltungen der Kirchlichen Hochschule aus Verschleierungsgründen „Arbeitsgemeinschaften" genannt werden mußten, war geplant: „Lehrbildung und Lehrzucht (Amtliche Theologie)" sowie „Katechetische Übungen" 79 . Die immer stärker werdenden staatlichen Repressionen wie der Erlaß vom 17. November 1936, der Studenten, die Hochschulen und Ersatzveranstaltungen der Bekennenden Kirche besuchten, die Relegation androhte und der im Laufe des ersten Halbjahres 1937 auch zu Disziplinarverfahren führte 80 , sowie der Himmler-Erlaß vom 29. August 1937 mit seinem Verbot aller Ausbildungseinrichtungen der Bekennenden Kirche schränkten die Arbeit immer mehr ein, - aber da gehörte Hildebrandt schon nicht mehr zu den Dozenten. Nach dem Krieg erinnerte sich die wiedererstandene Berliner Kirchliche Hochschule an ihren emigrierten „Gründungsvater" Hildebrandt und verlieh ihm als Dank und Anerkennung ihren allerersten Ehrendoktortitel81.
75
Zur Bedeutung der Musikabende für die Bekennende Kirche vgl. A . PANGRITZ, Polyphonie.
76
W . L E H M A N N , A s m u s s e n , S. 379.
77
Von Walter Schmithals, 25.8.1979 ( N L H , 9251/24). Eintragungen im Kalender ( N L H , 9251/12).
78 79
Vgl. das Vorlesungsverzeichnis ( Z E K H N DARMSTADT, 62/1056 u n d E Z A B E R L I N , 50/413).
80
D O K U M E N T E ZUR K I R C H E N P O L I T I K
DES D R I T T E N R E I C H E S , B d . 3, S. 2 7 6 ; vgl. auch
J . THIERFELDER, Ersatzveranstaltungen; H . LUDWIG, Theologiestudium. 81 Vgl. den Bericht in: KidZ 15, I960, S. 419 sowie die Urkunde ( N L H , 9317/2). D a Hildebrandt nach seiner Emigration für sich entschieden hatte, nie wieder nach Berlin zu kommen, wurde ihm die Urkunde zugeschickt.
Die Denkschrift von 1936
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5.4. Die Denkschrift von 1936 Im Frühjahr 1936 entstand in den Kreisen um die (zweite) Vorläufige Kirchenleitung der Gedanke, öffentlich Einspruch gegen die immer stärker werdende Politik der „Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens" und der damit verbundenen Einschränkung der kirchlichen Freiheit einzulegen und dabei auch schärfer als bisher das Unrecht des Staates beim Namen zu nennen 82 . Dabei wollte man sich zum einen mit einer Denkschrift direkt an Hitler, zum anderen aber zugleich auch an die Gemeinden wenden. In langen Sitzungen und Beratungen von Anfang April bis zur Ubergabe an die Reichskanzlei am 6. Juni 1936 entstand das „Wort an den Staat". Das Zustandekommen dieser Denkschrift war für Hildebrandt wie eine Befreiung, denn ihr Protest gegen die „Entchristlichung des deutschen Volkes" schloß erstmals den Protest gegen Konzentrationslager und den „Antisemitismus, der zum Judenhaß verpflichtet", ein 83 . Später sah Hildebrandt die Denkschrift als den entscheidenden Schritt der Bekennenden Kirche in Richtung auf ein Eintreten für Menschlichkeit und Menschenrechte, in Richtung auf die Erfüllung des biblischen Gebotes: „Tue deinen Mund auf für die Stummen" (Spr 31,8) 84 . Die Genese der Denkschrift ist kompliziert. Nachdem am 22. April der Vorläufigen Leitung ein zweiter Entwurf des Wortes an den Staat vorgelegt worden war, beschloß man, auch den Reichsbruderrat hinzuzuziehen. Am 30. April tagte die Vorläufige Leitung gemeinsam mit dem Rat der DEK, dem geschäftsführenden Organ des Reichsbruderrates85. Auf dieser Sitzung, an der er als „ständiger Vertreter" Niemöllers teilnahm, wurde Hildebrandt mit Hans Asmussen zum „Berichterstatter" für die Einleitung („Teil A") und den Abschnitt V (der die „unbedingte Gültigkeit" der göttlichen Gebote gegen die „völkische Nützlichkeitsmoral" setzte und vor der „irrigen und gefährlichen Überspitzung des Führergedankens" warnte) bestellt und war damit verantwortlich für diese Abschnitte in der dritten und vierten Fassung, die nach Martin Greschat wegen ihrer klaren und kompromißlosen Rede „den Höhepunkt des politischen Engagements der entschiedenen Richtung der Bekennenden Kirche" bilden86. Nach einer ernsten Krise wegen juristischer Bedenken, die auf der Sitzung am 5. Mai geäußert wurden, bildete man eine Redaktionskommission, die neben Asmussen und Hildebrandt aus dem
82
Vgl. den Überblick bei M . GRESCHAT, Widerspruch, S. 15ff.; D E R S . / R . W O H L R A B , „Laßt
euch nicht vergiften", S. 4 9 4 . 83
Vgl. M . GRESCHAT, Widerspruch, S. 114.
84
Vgl. unten S. 2 8 3 (auch Bibl. Nr. 6 3 , S. 7 ) ; vgl. auch D B , S. 5 5 9 .
85
Vgl. das Protokoll ( E Z A BERLIN, 5 0 / 3 5 ) .
86
M . GRESCHAT, Widerspruch, S. 76.
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Klärungen u n d Scheidungen: 1935-1937
hannoverschen reformierten Pfarrer Friedrich Middendorf^ Johannes Schlingensiepen, Pfarrer in Barmen, und dem Württemberger Gotthilf Weber bestand. Diese Kommission faßte am 6. Mai die vorliegende Einzelarbeiten zu einer neuen, fünften Fassung zusammen, die stärker theologisch strukturiert wurde und politisch gefährliche Formulierungen vermied. Für Hildebrandts Abschnitt V bedeutete dies, daß die Kritik an der „Nützlichkeitsmoral" verschwand und die Kritik am Führerbegriff unter das erste Gebot gestellt und darauf bezogen wurde8? Doch auch diese Fassung erfuhr noch einmal eine erhebliche Umformung 88 . Parallel zur Arbeit an der Denkschrift wurde ein „Wort an die Gemeinden" geplant, das als „Pfingsttrost" am 31. Mai als Kanzelabkündigung verlesen werden sollte. Bei der gemeinsamen Sitzung von Rat der DEK und Vorläufiger Leitung am 14. Mai wurde beschlossen, Heinz Kloppenburg und Middendorff dafür um Entwürfe zu bitten. Hildebrandt, der an der Sitzung teilnahm89, beschloß offensichtlich spontan, gemeinsam mit Bonhoeffer einen eigenen Entwurf dafür vorzulegen, der im Nachlaß Kloppenburgs erhalten blieb und von Martin Greschat und Rainer Wohlrab wiederentdeckt wurde. Nach Hildebrandts Kalender kann dieser Entwurf nur am 20. Mai entstanden sein, als Bonhoeffer zur Sitzung des Ökumenischen Beirats der VKL aus Finkenwalde nach Berlin kam, so daß der Entwurf noch dem am 21. Mai tagenden „Redaktionsausschuß" vorgelegt werden konnte, wo ihn offenbar Kloppenburg an sich nahm 90 . Die Gedanken Bonhoeffers und Hildebrandts fanden dann allerdings keinen Eingang mehr in das offizielle Pfingstwort. Hildebrandt und Bonhoeffer versuchten in ihrem Entwurf, die sowohl bei der Schlußredaktion der Denkschrift als auch bei den Entwürfen für das „Wort an die Gemeinden" spürbare „Konzentration auf den eigenen Raum und die eigenen kirchlichen Probleme" 91 zu durchbrechen. Das Wort92 betonte die Einheit von Glauben, Denken und Handeln. Es ging aus vom Vgl. E B D . , S . 9 0 . Nach EBD., S. 49 und 51 sowie den Kalendereinträgen ( N L H , 9251/12). Zu einer Bewertung von Asmussens Anteil vgl. E. KONUKIEWITZ, Asmussen, S. 162. Hildebrandts genauer Anteil an der Formulierung ist schwer abzuschätzen, da mir keine handschriftliche Fassungen vorlagen. O b man aber tatsächlich von einer „maßgeblichen Beteiligung" Hildebrandts sprechen kann (E. BETHGE, Nachruf; ähnlich D B , S. 604), erscheint mir nach den von Greschat vorgelegten Dokumenten lediglich für die Vorentwürfe zu gelten. 87
88
89 Protokoll ( E Z A BERLIN, 50/35); vgl. auch M . GRESCHAT/R.WOHLRAB, „Laßt euch nicht vergiften", S. 500; auch im Kalender ( N L H , 9251/12). 90 Gegen M . GRESCHAT/R.WOHLRAB, „Laßt euch nicht vergiften", S. 502 Anm. 51 und DBW 14, S. 156 Anm. 2, die den Abend des 14.5.1936 als Entstehungsdatum annehmen. Vgl. im Kalender unter dem 20.5.1936: „evtl. mittfags] Maas/Dietrich hier" ( N L H , 9251/12) und das Protokoll des Beirats (DBW 14, S. 160f.). 91 M. GRESCHAT/R.WOHLRAB, „Laßt euch nicht vergiften", S. 501. 92 Abdruck: DBW 14, S. 156-158.
Die Denkschrift von 1936
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Zustand der öffentlichen Meinung, vom beruflichen Leben und den persönlichen Beziehungen, also den ersten drei klassischen lutherischen „Mandaten" 93 . Erst dann ging es auf die Gefährdung der Kirche ein. In drei Abschnitten nennt das Wort das „Netz der Lüge", „Unrecht und Willkür" und den „Haß, der Völker Rassen und Klassen zerreißt" beim Namen 94 . Den Gemeindegliedern wird aufgetragen, sich nicht mitreißen zu lassen: „Haltet euch zu der Gemeinde Christi, in der eine neue Gerechtigkeit gilt. Der heilige Geist vertritt alle Gequälten und Stummen, die keine Hilfe haben. Gott der Herr hört ihr Schreien und wird ihnen Recht verschaffen." 95 Wie bei Hildebrandts „10 Thesen für die Freikirche" von 1934 ging es in erster Linie um die Opfer, um „alle, die heute in ihrem Gewissen verwirrt und verzagt, von Menschen verhaßt und verleumdet, vom Bösen erschreckt und bedrängt nach ihm [dem Tröster] rufen" 96 . Dieses Anliegen führte sowohl Hildebrandt wie Bonhoeffer schon bald dazu, Schuldbekenntnisse der Kirche zu formulieren: Hildebrandt tat dies in Das Evangelium und die Humanität und Bonhoeffer spätestens in seinem Schuldbekenntnis anhand der 10 Gebote in der Ethik97. Im Pfingstwort wird deutlich, wo bei aller theologischen Verschiedenheit der beiden Freunde doch eine tiefe Gemeinsamkeit lag, die sie wiederum zu Außenseitern in der Bekennenden Kirche werden ließ: Es war ihre fest verwurzelte, anspruchsvolle Ekklesiologie, die Bonhoeffer zur gleichen Zeit seine Überlegungen „Zur Frage nach der Kirchengemeinschaft" 98 schreiben ließ, die durch ihren Spitzensatz „Wer sich wissentlich von der Bekennenden Kirche in Deutschland trennt, trennt sich vom Heil" für Aufsehen und Widerspruch sorgten 99 . Für Bonhoeffer und Hildebrandt war aber ebenso wie die exklusive Zusammenschau von Kirche und Heil deren inklusive Bedeutung wichtig, nämlich „zu fliehen zum offenbaren Heil Gottes in der wahren Kirche", um die Gemeinden „ihres Heils gewisser werden zu lassen"100. Die Kirche, die Gemeinde Christi war für beide im Pfingstwort der Ort, wo „eine neue Gerechtigkeit gilt", ein Ort „des Wortes, des Sakramentes, des Gebetes und der Gemeinschaft", in dem „kein fremdes Gesetz" bindet. Das war für beide eine unhinterfragbare Gegebenheit101, weshalb sie weniger um
93 Diesen für Bonhoeffer (vgl. etwa seinen Brief an Bethge vom 23.1.1944; DBW 8, S. 290 f.) und Hildebrandt wesentlichen Ansatzpunkt übersehen M.GRESCHAT/R.WOHLRAB („Laßt euch nicht vergiften", S. 503ff.). * Vgl. EBD., S. 507f. 95 EBD., S. 508 (vgl. auch DBW 14, S. 157). 96 Ebd., S. 507f. (vgl. auch DBW 14, S. 157). 97 Vgl. dazu oben S. 75 und DBW 6, S. 129-132. 98 DBW 14, S. 655-680 (vgl. auch DB, S. 587ff.). 99 DBW 14, S. 676. ™ EBD., S. 679f. 101 Vgl. etwa die Ausführungen in EH, S. 120 (vgl. unten S. 168f.).
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Rechte und Bestand der Kirche besorgt waren als die meisten anderen. Umso mehr schmerzte es sie, daß auch die Bekennende Kirche in weiten Teilen nicht wagte, danach zu leben, sondern in der Diskussion um staatliche „Rechtshilfe" und Finanzen und in der Suche nach Kompromissen steckenblieb. An dem Tag, als Wilhelm Jannasch, der seines Amtes enthobene Lübecker Hauptpastor, der als Mitarbeiter der Vorläufigen Leitung einen wesentlichen Anteil am Zustandekommen der Denkschrift hatte, das für Hitler bestimmte Exemplar der Denkschrift in der Reichskanzlei abgab, saß Hildebrandt bereits im Zug, der ihn in die Schweiz brachte. Bei Kurt Lang, dem Freund aus Studientagen, der nach seiner Ausweisung aus Deutschland eine Zuflucht und Arbeitsstätte als Pfarrer in seinem Geburtsort Montreux gefunden hatte, wollte er ruhige Ferientage verbringen. Doch auch in der Abgeschiedenheit der Berge gab es Gespräche und Begegnungen: In Genf erlebte Hildebrandt die Calvin-Jubiläumsfeiern mit einer Predigt Barths, wovon eine Karte an Niemöller zeugt 102 , und am 20./21. Juni traf er Karl Barth selbst in Basel 103 , um ihm von der jüngsten Entwicklung in Deutschland zu berichten. Auf der Rückfahrt besuchte Hildebrandt Gerhard und Sabine Leibholz in Göttingen und fuhr anschließend für ein paar Tage (27 bis 30. Juni) in das Bonhoeffersche Ferienhaus nach Friedrichsbrunn im Harz. Nach der Rückkehr nach Berlin im Juli erlebte er dort mit, wie das Erscheinen von Auszügen aus der Denkschrift in der amerikanischen und Schweizer Presse zu Turbulenzen und Verdächtigungen führte, die sich sehr bald (fälschlicherweise) auf die Person des Justitiars Friedrich Weißler konzentrierten, dem man vorwarf, die Veröffentlichung ermöglicht zu haben, - ein Vorwurf, der ihm Verhaftung, Konzentrationslager und Tod einbrachte. Vermutlich auf diese Vorgänge bezieht sich Bonhoeffer, als er am 21. Juli Bethge um Diskretion bat: „Die Sache, von der ich Dir nach dem gestrigen Telefongespräch erzählte mit Hildebrandt, gibst D u natürlich zweckmäßigerweise besonders in ihrem letzten unerfreulichen Teil nicht weiter. Das könnte nur erschwerend sein. Mehr habe ich bisher auch nicht gehört." 1 0 4
Ebenfalls im Juli beschloß die Vorläufige Leitung, über das Verhältnis zum Reichskirchenausschuß ein „Wort an Zoellner" entwerfen zu lassen und lud
102
Die Karte selbst ist z. Zt. nicht nachweisbar, sie wird aber erwähnt im Schreiben von W. Nie-
möller, 14.11.1961, und an W. Niemöller, 8 . 1 2 . 1 9 6 1 ( L K A E K v W B I E L E F E L D , 5 , 1 / 3 9 6 ) .
Vgl. die Terminvereinbarung in den Schreiben an Barth, 9.71936 und 11. 71936 (KBA BASEL). 104 DBW 14, S. 189. Der Hinweis könnte sich aber auch auf Problem bei der Unterbringung von „nichtarischen" Theologen im Ausland beziehen, vgl. auch Hildebrandts Kalender zum 17 Ζ 1936: ,,Mitt[ags] Dietrich (Heckel, Golzen)", oder auf die Spannungen im Dahlemer Pfarramt um Röhricht. Als Bethge Hildebrandt 1958 um Aufklärung bat, hatte dieser keine Erinnerung mehr daran (von Bethge, 8.1.1958; an Bethge, 13.1.1958; SAMMLUNG BETHGE, WACHT103
BERG).
Der Theologische Ausschuß und die „Nichtarier"
111
dazu neben Jacobi und Niesei auch Hildebrandt ein105. Verabschiedet worden ist dieses Wort dann aber offensichtlich nicht mehr.
5.5. Der Theologische Ausschuß und die „Nichtarier" Als sich bereits im August 1933 vom „Arierparagraphen" betroffene Christen in einer, wie man heute sagen würde, Selbsthilfegruppe zusammenschlössen, war allein schon die Existenz dieses „Reichsverbandes christlichdeutscher Staatsbürger nichtarischer oder nicht rein arischer Abstammung" für Hildebrandt „ein unsympathisches Zeichen der Kapitulation vor den Nazis"106, zumal dessen Satzung vom 23. August 1933 bestimmte: „Der Erwerb der Mitgliedschaft kann von allen über 18 Jahren alten männlichen und weiblichen Reichsangehörigen nicht arischer oder nicht rein arischer Abstammung beantragt werden', die einer christlichen Religionsgemeinschaft angehören und auf dem Boden des nationalen Deutschlands stehen."K7
Hildebrandt sah mit der Gründung eines solchen Verbandes eine implizite Zustimmung zur nationalsozialistischen Rasseterminologie gegeben. Aus dieser grundsätzlichen Ablehnung heraus wurde er auch nie Mitglied, anders als etwa Carl-Gunther Schweitzer, der bis 1932 die Apologetische Centrale in Spandau geleitet hatte und 1934 als Superintendent der Wustermark abgesetzt wurde 108 . Diese Haltung hinderte Hildebrandt aber nicht daran, sich in vielfältiger Weise an den Aktivitäten der Vereinigung zu beteiligen, zu deren Zielsetzung u.a. „Rechtsberatung", „Stellenvermittlung", „Klärung der Jugendfragen" und „Sorge für neue Lebensmöglichkeiten unserer Mitglieder und ihrer Kinder" gehörten 109 . So vermerkt Hildebrandts Kalender die Gestaltung einer Weihnachtsfeier am 16. Dezember 1935 mit einer Ansprache über Joh 1,4a sowie einen Vortrag am 12. Februar 1936, dessen Thema wir leider nicht kennen 110 . Ein halbes Jahr später wurden alle Verbände „nichtarischer" Christen zwangsweise in den „Paulusbund" überführt, der sich auf kulturelle und berufsbildende Angebote zu beschränken hatte, und im Februar 1937 schließlich mußten die nach den Nürnberger Rassegesetzen als 105
P r o t o k o l l d e r 110. ( = 1 1 1 . ) S i t z u n g d e r V K L , 8 . 7 1 9 3 6 ( E Z A B E R L I N , 5 0 / 3 5 ) .
106
An M. Leibholz, 4.71978 (NLH, 9251/22). 107 Satzung des Reichsverbandes christlich-deutscher Staatsbürger nichtarischer oder nicht rein arischer Abstammung (Hervorhebung vom Verf.), Kopie in der Hamburger Forschungsstelle für Zeitgeschichte, Akte Paulusbund (ich danke Frau Prof. Dr. Ursula Büttner für die Ermöglichung der Einsicht). - Zum Reichsverband vgl. den Überblick bei E. RÖHM/J. THIERFELDER, Juden-Christen-Deutsche, Bd. 1, S. 270-275; Bd. 2/II, S. 228ff.; W. COHN, Common Fate, S. 327-366. 108 Vgl. E. RÖHM/J. THIERFELDER, Juden-Christen-Deutsche, Bd. 2/II, S. 212ff. 109
1,0
V g l . E . R Ö H M / J . T H I E R F E L D E R , J u d e n - C h r i s t e n - D e u t s c h e , B d . 1, S. 2 7 2 .
Weihnachtsfeier: 16.12.1935, Emserstr. 11/12; 12.2.1936 Vortrag, Uhlandstr. 40/41 (NLH, 9251/11 und 12).
112
Klärungen und Scheidungen: 1935-1937
„Voll- und Dreivierteljuden" klassifizierten Menschen den Verband verlassen, der dadurch zu einer Interessengemeinschaft der „Mischlinge" wurde und den Namen „Vereinigung 1937" verordnet bekam, bis auch diese am 10. August 1939 aufgelöst wurde111. Für Bonhoeffers Seminaristen in Finkenwalde war Hildebrandt gleichsam eine Verkörperung der „Nichtarierfrage". Gerhard Vibrans, einer der Teilnehmer des ersten Kurses in Finkenwalde und Vetter Eberhard Bethges, beschrieb in einem Brief an seine „Freundes- und Vetternrunde", wie er über Hildebrandt in einen heftigen Streit mit einer Frau geriet, „die sich erregte, daß ein Jude auf einer christlichen Kanzel stehe"112. Hildebrandt wie auch die anderen „nichtarischen" Christen, die als Gäste nach Finkenwalde kamen, erschienen ihm als „gehetzte Menschen, deren Ehre niedergetrampelt wird, mit denen man schon aus humanitären Gründen (vom Christentum will ich gar nichts sagen) herzliches Mitleid haben muß"113. In diesem Brief wird auch deutlich, wie informiert das Seminar über die Situation in der Flüchtlingshilfe war und daher wußte, wie schwierig die Aussichten deutscher RefugeePfarrer im Ausland waren114. Zur gleichen Zeit verschärften sich die Probleme in Hildebrandts familiärem Umfeld. Edmund Hildebrandts Situation an der Berliner Universität wurde immer schwieriger115, und der Bruder der Mutter, Georg Schlesinger, war schon 1933 wegen „Spionage" für sieben Monate inhaftiert und zur
111 Vgl. W . C O H N , Common fate; E . R Ö H M / J . T H I E R F E L D E R , Juden-Christen-Deutsche, Bd. 2/II, S. 243ff. Die nicht ganz unproblematische Situation zwischen „Mischlingen" und „Volljuden" brachte sogar Bell in Schwierigkeiten (vgl. LPL L O N D O N , Bell Papers, 29; A . N E H L S / A. WINKLER-NEHLS, Bells Nachlaß, S. 112); vgl. dazu auch W. GERLACH, Zeugen, S. 202. 112 G. Vibrans, Rundbrief vom 12.9.1935, in: D. ANDERSEN, So ist es gewesen, S. 191; vgl. auch E. BETHGE, Zwischen Bekenntnis, S. 151 f. Die bei C . - R . MÜLLER, Kampf, S. 170 Anm. 104 zitierte Stelle aus demselben Brief von Vibrans: „Der andere ist ein Pastor Hildebrandt. Ich wollte ihn gerne mit unserem Opel-Luxuscabriolet abholen, um ihm den ersten Eindruck von Finkenwalde zu ersparen. Dort am Denkmal hat man dem großen Kaiser ein Tuch vor die Nase gebunden, ein großes rotes, das mit leuchtendweißen Lettern die Aufschrift trägt: Juden betreten den Ort auf eigene Gefahr'. Leider kam er schon einen Zug zu früh. Bruder Bonhoeffer meinte aber, das sei er schon gewöhnt. Er war aber wirklich ein gehetztes Tier. Nirgends kann er länger als 3 bis 4 Wochen bleiben, keine Gemeinde die ihn behält. Wo soll er hin? Nun überlegt er, ob er deutscher Pfarrer in London werden kann", bezieht sich, wie Vibrans selbst wenige Sätze später schreibt („Übrigens ist der Pfarrer nicht Hildebrandt, sondern ein Gordon"), auf Ernst Gordon, der im Juli 1935 „angesichts der ängstlichen Haltung des dortigen Präses" seinen Hilfsdienst in der Zentrale der (BK-)Kirchenprovinz Grenzmark aufgeben mußte; vgl. die Korrespondenz dazu zwischen dem Rat der A P U und Albertz (EZA BERLIN, 50/454) und Gordons eigene Schilderung (E. GORDON, And I will walk at liberty, S. 58ff.). Zu Gordons weiterem Schicksal vgl. unten S. 205. Hildebrandt dagegen hatte in Dahlem eine Gemeinde gefunden, die ihn trug, und damit eine (relativ) „sichere kirchliche Existenz" (gegen C . - R . MÜLLER, Kampf, S. 170). 113
D . ANDERSEN, SO ist es g e w e s e n , S. 191.
114
Ebd. Vgl. Interview mit dem IMPERIAL
115
W A R M U S E U M , LONDON.
D e r Theologische Ausschuß u n d die „Nichtarier"
113
Emigration, zunächst nach Zürich, dann nach Brüssel, gezwungen worden" 6 . Es schmerzte Hildebrandt sehr, daß er erleben mußte, wie auch in der Bekennenden Kirche rassische Kriterien benutzt wurden. Vibrans bekannte eine „instinktmäßige Abneigung" gegen die „nichtarischen" Besucher in Finkenwalde: „Ich fühle eine Mauer, über die ich dauernd springen muß und die doch immer wieder da ist."117 Selbst Karl Immer, prominentes Mitglied des Reichsbruderrates, sprach bei allem Verständnis zu Hildebrandts Verbitterung von den „nichtarischen" Christen immer nur als „Brüdern aus Israel"118, und Präses Koch erklärte gar unmittelbar vor der Synode von Steglitz, „er glaube, daß die Judenmission nach Römer 9-11 keine Verheißung habe"119. Hildebrandt hielt lebenslang dagegen: „Was hat das Geheimnis der Erwählung in Rom. 11,25 mit ,Rasse', Anti- oder Philo-Semitismus, Zionismus und uns ,Mischlingen' überhaupt zu tun?" 120 Die Befürchtung, daß die Bekennende Kirche hier eine „Befangenheit in der Sprache des Gegners"121 zeige, prägte seine persönliche Haltung und seine theologische Arbeit in dieser Frage. Dies wurde besonders deutlich in den Überlegungen zu einer geplanten Denkschrift und Synodalerklärung zur Judenfrage. Die Synode in Steglitz hatte, wohl doch in der Einsicht, daß sie in ihrer theologischen Erklärung nur „das Minimum des Minimums" gesagt hatte122, einstimmig beschlossen: „ D i e derzeitige A r t d e r öffentlichen B e h a n d l u n g d e r J u d e n f r a g e ist w e i t h i n v e r b u n d e n m i t einer B e s t r e i t u n g des E v a n g e l i u m s u n d d e r christlichen Kirche. A n g e s i c h t s d e r d a d u r c h u n s e r e n G e m e i n d e n d r o h e n d e n V e r w i r r u n g wolle d e r R e i c h s b r u d e r r a t baldigst f ü r eine n a c h Schrift u n d B e k e n n t n i s r i c h t u n g w e i s e n d e A n t w o r t auf die einzelnen d a m i t gestellten F r a g e n sorgen." 1 2 3
Wie dieser Beschluß ausgeführt wurde, läßt sich nicht mehr mit Sicherheit klären. Vermutlich sollte die „Theologische Abteilung beim Präses der Bekenntnissynode", zu der sowohl Hildebrandt als auch Bonhoeffer gehör-
116
Vgl. H . E B E R T / K . HAUSEN, G e o r g Schlesinger; INTERNATIONAL BIOGRAPHICAL
DIC-
TIONARY, Part 2, Sp. 1034f. (Art. „Schlesinger, Georg"). 117 Vgl. Anm. 112. Zugleich betonte Vibrans jedoch: „Aber heute wird man Philosemit, weil man das himmelschreiende Unrecht sieht, das hier geschieht" (EBD., S. 192). 118
A n B e t h g e , 10.5.1984 (SAMMLUNG BETHGE,
WACHTBERG).
119
Auf der Bruderratssitzung vom 23.9.1935 (W. NIEMÖLLER, Steglitz, S. 133). 120 An Bethge (vgl. Anm. 118). Ι» EH, S. 125; vgl auch EBD., S. 63. >22 Vgl. oben S. 94; vgl. auch Niemöllers Aussage: „Das ist mir jetzt an dieser Debatte das Schlimmste, daß wir jetzt zeitweise wieder den Eindruck gehabt haben: ,Nun ist ja alles wunderschön, mehr läßt sich nicht sagen.' Wir werden mehr sagen müssen, und es wird so werden, wie Staemmler sagt, daß uns der Mund erst dann aufgetan wird, wenn wir haben leiden müssen" ( W . NIEMÖLLER, Steglitz, S. 308).
12' Vierter Beschluß (W. NIEMÖLLER, Steglitz, S. 311, 373F.).
114
Klärungen u n d Scheidungen: 1935-1937
ten 124 , einen ersten Entwurf ausarbeiten. Über Bonhoeffer wurde das Predigerseminar in Finkenwalde in die Überlegungen einbezogen. So berichtete Albrecht Schönherr, einer der Seminaristen, die Bonhoeffer nach Steglitz begleitet hatten, schon am 28. September seiner Braut Hilde Enterlein: „Das Seminar ist wegen seines guten theologischen Rufes damit beauftragt worden, ein Gutachten über die Judenfrage auszuarbeiten." 125 Am selben Tage hielt Bonhoeffer aus diesem Anlaß in Finkenwalde eine Auslegung zu Römer 9-11, die sich in einer Nachschrift Bethges erhalten hat126. Schönherr selbst und Joachim Kanitz sollten dabei „die Ehefragen bedenken, also etwa die Möglichkeit, ob die Kirche bei eventuellen Gesetzen vielleicht in ihrer Mitte selbständig trauen sollte" 12 ! Offenbar nicht nur er fand diese Aufgabe „sehr, sehr schwer" 128 , denn zwei Wochen später schrieb Vibrans, daß Bonhoeffer nun allein die Ausarbeitung dieses Gutachtens übernommen habe 129 . Im selben Brief wird von einem Gerücht berichtet, das Bonhoeffers Eintreten für die „Nichtarier" zu ergründen versuchte: „In England wurde er einmal plötzlich von einem Nicht-Arier gefragt, ob das wahr sei, was man in Berlin als verbürgt erzähle: er setze sich für die Nicht-Arier so ein, weil er mit der Schwester des jüdischen Pfarrers Hildebrandt in Berlin verlobt sei. Er konnte aber beruhigt werden, denn besagter H . hat überhaupt keine Schwester!"1*»
O b das Bonhoeffersche Gutachten tatsächlich zustande gekommen ist, wissen wir nicht. Es ist auf jeden Fall im Zusammenhang mit dem Auftrag des Theologischen Ausschusses zu sehen und dürfte damit nur sehr indirekt in die Vorgeschichte der Denkschrift von 1936 hineingehören 131 . Auf seiner Sitzung vom 8./9. Oktober 1935, an der Hildebrandt als Vertreter Niemöllers teilnahm 132 , nahm der Reichsbruderrat von der Steglitzer Botschaft Kenntnis und beschloß, „sie allen Kirchenregierungen und Landesbruderräten zur weiteren Veranlassung zuzuleiten" 133 . Fast ein halbes Jahr lang scheint die Arbeit jedoch nicht vorangekommen zu sein. Auf der 124 Nach dem Protokoll der Sitzung vom 19.71935 (bei W. NIEMÖLLER, Evangelische Kirche, S. 36). 125 A. SCHÖNHERR, Miteinander, S. 104; vgl. ähnlich Bethge in einem der Rundbriefe von G. Vibrans: „Das Seminar soll zur - wer weiß wann stattfindenden - Reichssynode ein Gutachten zur Judenfrage ausarbeiten" (bei D. ANDERSEN, SO ist es gewesen, S. 209; vgl. C . - R . MÜLLER, Kampf, S. 170). 126 DBW 14, S. 875-878. 127
A . SCHÖNHERR, Miteinander, S. 107
128
Ebd.
129
D . ANDERSEN, SO ist es g e w e s e n , S. 217; vgl. C . - R . MÜLLER, K a m p f , S. 171.
131 132
Ebd. Gegen C.-R. MÜLLER, Kampf, S. 171. Vgl. das Protokoll ( E Z A BERLIN, 5 0 / 3 5 ) ; vgl. a u c h VERANTWORTUNG FÜR DIE KIRCHE,
Bd. 2, S. 40. 133 W. NIEMÖLLER, Evangelische Kirche, S. 385.
Der Theologische Ausschuß und die „Nichtarier"
115
Reichsbekenntnissynode in Bad Oeynhausen im Februar 1936 wurde das Thema nicht weiter behandelt, da die Auseinandersetzungen um die kirchenregimentlichen Befugnisse und den Reichskirchenausschuß im Vordergrund standen. Erst im April 1936, so ist in Hildebrandts Kalender vermerkt, hat es dann Gespräche mit dem selbst vom „Arierparagraphen" betroffenen Bochumer Pfarrer Hans Ehrenberg und Albertz gegeben, vermutlich im Zusammenhang mit der kurz darauf stattfindenden Komiteesitzung des Weltbundes für Freundschaftsarbeit der Kirchen134. Für den 2. Juli 1936 ist als Thema der Sitzung der Vorläufigen Kirchenleitung notiert: „Chamby, Nichtarier Heidelberg Texte". In Heidelberg kümmerte sich Stadtpfarrer Hermann Maas in besonderer Weise um die „Nichtarier"135. Im Herbst 1936 berief die Vorläufige Kirchenleitung einen eigenen „Ausschuß zum Studium der Judenfrage", dessen Geschichte, die leider nur lückenhaft dokumentiert ist, erstmals von Hartmut Ludwig erforscht wurde136. Geleitet von Jannasch sollte er „auf Grund des biblischen und geschichtlichen Materials eine Denkschrift und eine Synodalerklärung" erarbeiten13? Dem Gremium gehörten vermutlich als ständige Mitglieder Jannasch, Hildebrandt, Albertz, Maas, Pfarrer Alfred Hartmann aus Herne/Westfalen, der Pfarrer an der Thomaskirche in Berlin-Kreuzberg Willy Oelsner sowie Wilhelm Schümer aus Frankfurt am Main an. Der Ausschuß vergab eine Reihe von Aufträgen zu Studien, Thesen und Gutachten. Sie behandelten das Thema in seiner ganzen Bandbreite von der Vererbungs- und Rassenfrage (Denkschrift der Biologin Professor Elisabeth Schiemann138) über kirchengeschichtliche Studien, wie die des Bonner Kirchenhistorikers Heinrich Hermelink über „Luther und die Juden", bis hin zu den brennenden exegetisch-systematischen Fragen. Hierzu erarbeiteten Hildebrandt und Oelsner eine Thesenreihe über „Israels Erwählung nach der Schrift"139, in der sie streng zwischen dem Volk Israel, das „als Volk" keine Zukunft mehr habe, und dem „einzelnen Gläubigen aus Israel" unterschieden und mahnten: „Bei der H e r a n z i e h u n g biblischer Aussagen ü b e r Israel z u r S t ü t z u n g innerzeitlicher Ideologien, in welchem Sinne i m m e r das geschehen m a g , ist daran z u erinn e r n , d a ß die Schrift u n t e r Volk Israel im AT[,] J u d e n im N T usw. i m m e r die Kult-
134
Am 16./1Z4.1936 (NLH, 9251/12).
135
Vgl. E . MARGGRAF, Kirche.
156
H . LUDWIG, Opfer, S. 56ff; das folgende im wesentlichen nach dieser Darstellung unter Heranziehung der Quellen im EZA BERLIN. 137 So Wilhelm Jannasch an Heinrich Hermelink, 25.11.1936 (EZA BERLIN, 50/327b). 138 Elisabeth Schiemann (geb. 1881) war Botanikerin und Genetikerin am Kaiser-Wilhelm-Institut für Kulturpflanzen. Am 8.1.1937 wurde ihre Denkschrift an alle Ausschußmitglieder iibersandt (EZA BERLIN, 50/110/1). 139
E Z A BERLIN, 5/110/1 (offensichtlich eine Abschrift).
116
Klärungen und Scheidungen: 1935-1937
gemeinde versteht. Abgrenzung Israels von der semitischen Umwelt nach rassischen Gesichtspunkten ist ihr fremd." 1 4 0
Damit aber gerieten sie in eine Auseinandersetzung mit Hermann Maas141, der in seiner Thesenreihe „Das Volk und die Völker" eine ganz eigene philosemitische Sicht vertrat. Er wies darauf hin, daß „die Judenfrage für Christen nicht zuerst eine Frage der Politik" sei, sondern „die Frage des Glaubens, das Geheimnis der Weltgeschichte", und konnte sagen: „Die zionistische Bewegung ist eine endzeitliche Bewegung im christlichen Sinne."142 Darauf und auf die Leitsätze des Pfarrers der französisch-reformierten Gemeinde Offenbach Wilhelm Boudriot unter dem Titel „Die Judenfrage in der Verkündigung und Lehre der christlichen Kirche" reagierte Hildebrandt mit einem eigenen Memorandum zur „Judenfrage"143. Hier führte er aus, was er schon früher angedeutet hatte, daß nämlich die „Judenfrage" die Testfrage für die Ethik der Bekennenden Kirche sei, denn: „Das Hakenkreuz ist die Fahne des Antisemitismus." Zwar habe die Bekennende Kirche dem „Arierparagraphen" in der Kirche widerstanden, aber sie dürfe nicht „die Brüderschaft auf den kirchlichen Raum beschränken und ihre Glieder im bürgerlichen Leben sich selbst überlassen"144. Ganz singulär aber ist Hildebrandts Forderung eines Schuldbekenntnisses145, das wiederum an das von Bonhoeffer wenig später in dessen E t h i k erinnert: „Das erste Wort, das die Kirche zu sprechen hat, ist das Bekenntnis ihrer Schuld": Sie hat geschwiegen, wo sie hätte reden sollen, selbst dann noch, als die Sprache der Ereignisse mehr als deutlich und der Augenblick mehr als reif war. Sie hat es geschehen lassen, daß viele in und außer ihren Reihen Unrecht litten und hatten keinen Tröster. Sie hat aber auch den Anschein erweckt, als fordere ihr Gehorsam gegen die Obrigkeit das freudige Ja zu der Behandlung der Judenfrage 146 . Sie hat sich mit den pfarramtlichen Abstammungsnachweisen in den Dienst der Rassegesetze
140 141 142
Ebd. D a z u vgl. E . MARGGRAF, Kirche. E Z A BERLIN,
50/378
(vgl.
E. R Ö H M / J . THIERFELDER,
Juden-Christen-Deutsche,
B d . 2/1, S. 292). 143 Fassung A , abgedruckt bei E . R Ö H M / J . THIERFELDER, Juden-Christen-Deutsche, B d . 2/1, S. 419-428, a u f g e n o m m e n u n d überarbeitet in E H , S. 112-127; dokumentiert unten S. 282 ff. 144 E H , S. 123; vgl. d a z u die D i s k u s s i o n auf der Steglitzer S y n o d e über die bürgerlichen Folgen der Taufe (vgl. oben S. 94 f. und H . LUDWIG, Opfer, S. 45). 145 Vgl. aber den Punkt 16 von M a a s : „ D a s heißt darum drittens [erstens: Abkehr v o m H o c h m u t ; zweitens: Abkehr von allem blinden Haß, Vf.] Buße tun u m all unserer Schuld und Versäumnisse willen an dem Israel nach dem Fleisch. Buße tun für alle Grausamkeit und Verfolgung und Buße tun über unterlassenem christlichem Bekenntnis und über dem Ärgernis christlichen Wandels" ( E Z A
BERLIN, 50/378). 146
Anspielung auf den Aufruf der Jungreformatorischen Bewegung vom Mai 1933 (vgl. G . VAN
N O R D E N , Protestantismus, S. 246).
D e r Theologische A u s s c h u ß u n d die „Nichtarier"
117
stellen u n d z u m M i ß b r a u c h d e s T a u f s c h e i n e s verleiten l a s s e n 1 4 ? Sie hat e n d l i c h d u r c h u n b e d a c h t e u n d u n v e r a n t w o r t l i c h e Ä u ß e r u n g e n die V e r w i r r u n g d e r G e w i s s e n m i t v e r s c h u l d e t (siehe K ü n n e t h 1 4 8 , Schlatter 1 4 9 u s w . , v o n Kittel 1 5 0 u n d A h n l i c h e n g a n z z u s c h w e i g e n ; die P r a x i s d e r I n n e r e n M i s s i o n m i t E i n s c h l u ß v o n B e t h e l 1 5 1 ; d a s V e r s a g e n der S t e g l i t z e r S y n o d e i m A u g e n b l i c k d e r N ü r n b e r g e r G e s e t z g e b u n g ; u n d viele a n d e r e B e i s p i e l e ) . 1 5 2
Gefordert sei eine „Abkehr von der falschen Lehre, die weithin bis in die Bekennenden Gemeinden" verbreitet sei. Zu den Irrlehren zählte Hildebrandt die Theologie der „Schöpfungsordnungen" 153 , aber, dezidiert gegen Maas gerichtet, auch, „wenn völkische Bewegungen wie Antisemitismus und Zionismus als Zeichen der Heils- und Endgeschichte gedeutet werden." Allein die Kirche sei nach dem Neuen Testament das Volk Gottes. Eine theologische Behandlung der „Nichtarier" lediglich nach Römer 9-11 zeige eine tiefe Befangenheit in den Gedanken des Gegners 154 . Das Erbe Abrahams sei an die Kirche übergegangen, und „mit der heiligen Taufe hat die Kirche ihre Antwort auf die Judenfrage gegeben" 155 . Damit vertrat Hildebrandt in zugespitzter Form die Substitutions- und Integrationstheorie156. Er kannte keine spezifisch christliche Haltung zu Israel, abgesehen von der Judenmission. Ihr früherer häufiger Mißbrauch hebe ihren rechten Gebrauch nicht auf, der ja auf Christi Befehl hin geschehe15? Die Mission an Israel aber, wie die Mission an allen Menschen, könne die Kirche nur erfüllen, wenn sie auch das Gebot der Nächstenliebe an allen Menschen ausrichte und gegen eine Behandlung von Menschen als „Untermenschen" protestiere158. Besonders aber habe die Sorge der Kirche ihren eigenen „nichtarischen" Gliedern zu gelten. Das Wort der seelsorgerlichen Tröstung sei 147
Dieser Satz in A am Rand hsl. mit „ ! " versehen.
148
W. KÜNNETH,
D i e K i r c h e u n d die J u d e n f r a g e (in: E . R Ö H M / J . T H I E R F E L D E R ,
Juden-
Christen-Deutsche, Bd. 1, S. 369-371, vgl. dazu EBD., S. 155f.). 149 A . SCHLATTER, Wird der Jude über uns siegen? (vgl. dazu W. GERLACH, Zeugen, S. 165 f.). 150 G . K I T T E L , Die Judenfrage (dazu vgl. L . SIEGELE-WENSCHKEWITZ, Neutestamentliche Wissenschaft, S. 85ff.). 151 Vgl. dazu J . - C . KAISER, Innere Mission. 152 E H , S. 123. In Fassung A lautete der Klammerteil: „Schweigen zum 1. und 74.1933, nur leise Einzelversuche hinter den Kulissen. Versagen der Steglitzer Synode 1935. Praxis der Inneren Mission. Erster Aufruf der Jungreformatorischen Bewegung vom Mai 1933. Statistisches zum ,Sippenamt' in der Kirche. Unmögliche Einzelsätze bei Künneth, Schlatter usw. (Material von Frau Prof. Schiemann)". Z u m Komplex ,„Sippenamt' in der Kirche" vgl. E. RÖHM/J. THIERFELDER, Juden-Christen-Deutsche, Bd. 2/II, S. 337ff. E H , S. 124. E H , S. 125, vgl. auch EBD., S. 63. 155 E H , S. 127 156 Vgl. das Schema bei B. KLAPPERT, Weg und Wende, S. 93. >57 E H , S. 127 158 Ebd. 153 154
118
Klärungen und Scheidungen: 1 9 3 5 - 1 9 3 7
schlechterdings das Minimum und führe durch die unabdingbare Mißachtung etwa der staatlichen Ehegesetzgebung 159 schon ganz von selbst zur „Erinnerung an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten vor Gott" (Barmen V) 160 . Mit dieser Meinung stand Hildebrandt zwischen fast allen Fronten, da er die hüben wie drüben vertretene theologische Deutung der Rassenfrage nicht mitmachen wollte und stattdessen auf die ethische Verantwortung der Kirche hinwies. Maas wiederum antwortete mit „Randbemerkungen" unter der Uberschrift „Die Bekennende Kirche und die Judenfrage". Darin kritisierte er Hildebrandts Ansatz, „daß die Judenfrage der Kirche nur die Verpflichtung auflege, wie der Barmherzige Samariter zu handeln - und daß damit und damit allein die Haltung der Kirche den unter der Judenfrage Leidenden gegenüber bestimmt sei." Das sei eine „zu schwache" Antwort der Kirche161. Vielmehr müsse man das Problem grundsätzlich theologisch angehen: „Jude sein ist etwas so Eigenes und Einmaliges, ein Begriff, der in kein Schema paßt. Er ist von Gott gegeben, ein der Welt preisgegebenes Gottesschicksal." 162 Aus dieser Gegebenheit heraus müsse die Kirche nicht nur an die aus dem Judentum Getauften ein Trostwort richten: „Die Kirche hat nicht ein schützender Zaun zu sein um die Synagoge, aber sie muß wohl ein schützender Zaun sein um das ganze leibliche Israel, weil diesem Israel, nicht aber der Synagoge, in Gottes Wort für die Endzeit noch das Heil zugesprochen ist." 163 Und noch einmal mahnte Maas eine Unterstützung der zionistischen Bewegung durch die Kirche an. Das einzige erhaltene Protokoll einer Sitzung des Ausschusses stammt vom 22. Februar 193Z Auf dieser Sitzung lagen dem Ausschuß die Äußerungen von Hildebrandt und Maas vor sowie eine Stellungnahme von Erich Foerster, einem der führenden liberal-protestantischen Theologen der zwanziger Jahre, der jetzt am Frankfurter Predigerseminar der Bekennenden Kirche lehrte164. Foerster wandte sich wie Hildebrandt gegen die Ansicht, daß Israel eine „doppelte Fortsetzung" in der Kirche und in der Synagoge gefun-
159 Dies ist deutlich gegen eine indirekte Zustimmung zu dem Nürnberger des deutschen Blutes und der deutsche Ehre" geschrieben, wie sie auch in den v o n S. KNAK, vertreten wurde, der noch 1936 geäußert hatte, die Kirche Frage zu tun, ob christliche Deutsche und christliche Juden untereinander dern überläßt das dem Staat" (Wort der Mission, S. 38).
Gesetz „Zum Schutz Kreisen der BK, etwa „habe nichts mit der heiraten sollen, son-
EH, S. 128. So sein späteres Vorwort (nach E. RÖHM/J. THIERFELDER, J u d e n - C h r i s t e n - D e u t s c h e , Bd. 2/1, S. 302). 162 E Z A BERLIN, 5/110/1. 163 Ebd. 164 Vgl. dazu E. RÖHM/J. THIERFELDER, Juden-Christen-Deutsche, Bd. 2/1, S. 2 9 8 f . und A n m . 531, S. 391. 160 161
Der Theologische Ausschuß und die „Nichtarier"
119
den habe, und forderte einen differenzierten Umgang, dessen Grundlage jedoch die Liebe sein sollte, „deren Spitzenleistung das Zeugnis ist" 165 . Die Diskussion um die Vorlagen machte den Ausschußmitgliedern deutlich, „daß die theologischen Ansichten zu diesen Fragen sehr verschieden sind" 166 . Das Ergebnis ließ dementsprechend die Aussichten für eine einheitliche Stellungnahme recht düster aussehen. Dennoch erklärte sich Jannasch bereit, die verschiedenen Stellungnahmen „durchzuarbeiten und sie zu einem neuen Gutachten zusammenzufügen." Jannasch ist vermutlich auch der Verfasser eines kurzen, ungezeichneten Resümees der Auseinandersetzung: „Wir sind in Gefahr, daß wir am Nächstliegenden vorbeigehen, daß wir in theologischen Auseinandersetzungen stecken bleiben und nicht dazu kommen, zu der Übertretung der Gebote in unserer Mitte ein Wort der Kirche zu sagen." Die Kirche könne nicht warten, bis die zwischen Hildebrandt und Maas strittigen Fragen entschieden seien. Der Verfasser gab aber zu erkennen, daß er selbst eher den Ansichten Hildebrandts zuneigte. Dessen Ansatz sei mitnichten der der „bloßen Humanität": „Jesus sieht in der rein menschlichen Hilfe Gottes Gebot." Den Ausführungen von Maas gegenüber gebe es grundsätzliche Bedenken, vor allem wegen seiner Haltung dem Zionismus gegenüber. Zu verlangen, daß die Kirche den Zionismus predige, sei „ganz unmöglich"167. Ob noch eine Annäherung, eine Ausarbeitung einer gemeinsamen Stellungnahme oder überhaupt eine weitere Diskussion stattfanden, liegt im dunkeln. Hildebrandts Kalender vermerkt unter dem 14. März 1937: „16 S[eiten?] an Maas", also offenbar die Absendung einer weiteren Überarbeitung 168 . Doch durch die Verhaftungswelle gegen Mitglieder der Bekennenden Kirche im Frühsommer 1937 kam die Arbeit des Ausschusses zum Erliegen. Über die Stimmung danach gibt ein Brief des „nichtarischen" badischen Pfarrers Ernst Lehmann Auskunft. Er bat um eine „notwendige und sehr sorgfältig durchzuführende Neuorganisation des zur Verhandlung des christlichen Nicht-Arier-Problems berufenen Gremiums" und gab eine Beobachtung weiter, die er auch in seiner Mitarbeit im „Paulusbund" gemacht habe. Die meisten der „nichtarischen" Geistlichen hätten sich einen „Leidensstandpunkt" zu eigen gemacht, der sich verhängnisvoll auswirke: „Durch diese Zumutung käme die Kirche dann von vornherein dem Staat gegenüber in eine von vorne herein gebrochene Stellung, ecclesia fugiens statt ecclesia militans. Als typische Hauptvertreter dieser Einstellung habe ich Superintendent Schweitzer und den auch sonst unglücklichen Ehrenberg erlebt. Auf Hildebrandt
Nach EBD., S. 299f. E Z A BERLIN, 50/68; vgl. das Faksimile bei E . RÖHM/J. THIERFELDER, Juden-ChristenDeutsche, Bd. 2/1, S. 290. 167 E Z A BERLIN, 50/110. N>8 N L H , 9251/13. 165
166
120
Klärungen und Scheidungen: 1935-1937
trifft diese Charakterisierung wohl nicht zu; der ist aber, wie ich höre, außerhalb Deutschlands und scheidet daher aus."169 Als Hildebrandt sein „Memorandum" dann im Exil als „Wort von den Juden", als drittes hypothetische Wort für die kirchliche Praxis (neben dem „Wort vom Recht" und dem „Wort vom Frieden") in sein Manuskript Das Evangelium und die Humanität einfügte, konnte bzw. mußte er es erweitern durch zwei enttäuschende Beipiele kirchlicher Praxis, die er in seiner Zeit als Flüchtlingsseelsorger bei Julius Rieger in London erlebte. Es ist ein doppelter Briefwechsel mit dem hannoverschen Landesbischof Marahrens, in dem er zunächst dem Bischof die furchtbare Situation der Flüchtlinge in London schilderte und eine landeskirchliche Kollekte zugunsten der „Nichtarier" anregte 170 , worauf er von Marahrens eine ausweichende und nichtssagende Antwort erhielt. Eine Woche später mußte er dem Bischof den Fall des „nichtarischen" Pfarramtskandidaten Otto Schwannecke vorhalten, der nicht ordiniert werden sollte und vor der Emigration stand: „Wozu hat es dann diese 5 Jahre Kampf und N o t in der Kirche des Evangeliums und des Bekenntnisses unserer Väter gegeben?" 1 7 1 Hildebrandts theologische Haltung zur „Judenfrage" war einerseits ganz geprägt von traditionellen Aussagen über die Erwählung und Verwerfung Israels. Er behandelte die Juden „nur" als Mitmenschen; machte aber zugleich andererseits klar, daß ein Angriff auf die Würde eines (Jedes!) Menschen ein Angriff auf die Heilige Schrift und auf Christus selbst sei: „ D a s ist die unmittelbare und eigentliche Mitleidenschaft der Kirche in dem Kampf um das Judentum." 1 7 2 Auch später noch blieb Hildebrandt bei dieser grundsätzlichen Haltung. Er hielt diesen ethischen Ansatz für weitaus angemessener als alle Versuche einer neuen Israel-Theologie auf der Grundlage von R o m 9-11. N o c h auf dem Barmen-Kongreß in Seattle 1984 etwa war er wenig angetan von der
1" Lehmann an N . N . , 25.9.1937 (Abschrift Z E K H N DARMSTADT, 35/145, Orthographie hier verbessert; der dort vermerkte „Kommentar des Abschreibers Wolfgang Gerlach" verwechselt Vater und Sohn, Ernst und Kurt Lehmann. Zu beiden vgl. E. RÖHM/J. THIERFELDER, JudenChristen-Deutsche, Bd. 1, S. 243 ff.). 170 E H , S. 128a, 19.10.1938, Antwort von Marahrens, 22.10.1938 (EBD.; vgl. auch W. GERLACH, Zeugen, S. 229f.). 171 E H , S. 128b, 27.10.1938. Zur Haltung der hannoverschen Landeskirche zu Antisemitismus und Judenverfolgung vgl. G . LINDEMANN, Christen jüdischer Herkunft; vgl. dazu auch unten S. 176 f. 172 E H , S. 123. E. BUSCH, Juden und Christen, S. 48 meint zu einer solchen Haltung: „Das ist für eine christliche Erkenntnis von den Juden zuwenig gesagt"; andere wie z.B. KLAPPERT, Weg und Wende, können darin sogar Antijudaismus erkennen (vgl. auch den rheinischen Synodalbeschluß von 1980; in: EvTh 40, 1980, S. 257ff.), während andererseits z.B. K. MEIER, Kirche und Judentum, S. 55, Anm. 121 auch die ethisch-humanitäre Ansicht für theologisch legitim hält.
Sommer 1937
121
„jüdisch-christlichen Theologie", die dort von einigen Teilnehmern vertreten wurde, - er hielt eine solche Theologie nach wie vor schlicht für „Unsinn" 173 .
y 6. Sommer 1937 Im Laufe des ersten Halbjahres 1937 wurde die Lage für die Bekennende Kirche immer schwieriger. Am 12. Februar war der Reichskirchenausschuß zurückgetreten. Drei Tage später hatte Hitler mit seiner Ankündigung von Kirchenwahlen neue Hoffnungen geweckt, die sich jedoch bald als trügerisch erwiesen. Statt dessen bekamen die Gemeinden, Pfarrer und Institutionen der Bekennenden Kirche „in einem immer enger gezogenen Netz von detaillierten Verordnung und Verboten" 174 eine neue Seite nationalsozialistischer Kirchenpolitik zu spüren, die nichts anderes als die „Abschnürung" aller Wirkungsmöglichkeiten bedeutete175. Ein Symptom dieser unsicheren Lage war, daß sich Hildebrandt nun immer öfter mit Hans von Dohnanyi traf, um Nachrichten auszutauschen. Hildebrandt war Dohnanyis Berliner Verbindungsmann zu Niemöller, dem er Informationen weitergab, die Dohnanyi als Referent des Reichsjustizministers zugänglich waren. Damit sollte Niemöller gewarnt werden. Umgekehrt übermittelte Hildebrandt Dohnanyi Informationen aus den Leitungsgremien der Bekennenden Kirche176. Als im Mai die offizielle Delegation der Bekennenden Kirche an der Teilnahme der „Life And Work"-Konferenz in Oxford gehindert wurde, indem ihr die Pässe entzogen wurden, sollte zumindest auf der inoffiziellen Ebene eine Beteiligung an der Konferenz ermöglicht werden. So entstand zunächst der Plan, Hildebrandt als inoffiziellen Vertreter der Bekennenden Kirche nach England zu entsenden, bis deutlich wurde, daß Siegmund-Schultze diese Aufgabe übernehmen würde177 Am 8. Juni kam Rieger 178 , der Pfarrer der Deutschen Lutherischen St. Georgskirche in London, nach Berlin, um vor allem die immer noch ungeklärte Frage der ökumenischen Repräsentanz der Bekennenden Kirche zu verhandeln. Seine Kalender-Transkriptionen179 lassen 173
A n Bethge, 1 0 . 5 . 1 9 8 4 (SAMMLUNG B E T H G E , W A C H T B E R G ) . B e t h g e s eigene F o r d e r u n g e n
einer Revision der christlichen Rede von Israel oder der rheinische Synodenbeschluß wurden (leider oder wohlweislich ?) nie Thema seiner Korrespondenz mit Hildebrandt. 174 17
D B , S. 652.
5 EBD.
176
Vgl. C . STROHM, Ethik, S. 2 5 4 mit A n m . 87 u n d S. 2 5 9 .
Interview mit Mary Glazener (NLH, 9415/2, S. 43). Vgl. dazu S. GROTEFELD, SiegmundSchultze, S. 187f. Hildebrandt war sowieso als „Visitor" für Oxford vorgesehen; vgl. schon M. Niemöllers Aktennotiz vom 20.2.1937 (bei W. NIEMÖLLER, Evangelische Kirche, S. 333), die Liste E Z A BERLIN, 50/551; E. Heinsheimer an Bell, 10.5.1937 ( L P L LONDON, Bell Papers 2), sowie A. BOYENS, Kirchenkampf und Ökumene, Bd. 1, S. 150. 177
178
Zu ihm vgl. unten S. 128.
179
N L RIEGER,
BERLIN.
122
Klärungen und Scheidungen: 1935-1937
etwas von der Spannung jener Tage deutlich werden. Hildebrandt traf Rieger mehrfach, u.a. direkt nach Nieseis und Jacobis Verhaftung am 15. Juni, gemeinsam mit Bonhoeffer im „Stadtkrug". Auch Rieger wurde offensichtlich beschattet, schien nicht mehr sicher und reiste überstürzt mit dem Flugzeug ab. Kurz daraufdrang die Gestapo in die Sitzung des Reichsbruderrates in der Friedrichwerderschen Kirche ein und verhaftete mehrere Mitglieder. Bewußt wählte Hildebrandt daraufhin bei einer Einsegnung von Vikarinnen am 24. Juni in der Dahlemer Jesus-Christus-Kirche „lauter Segenswünsche [...] mit dem Anfang:,Fürchte Dich nicht'" 180 . Die Erinnerung an diese letzte Abendmahlsfeier in Dahlem wurde, nicht zuletzt wegen dieser Segenswünsche, wenig später Martin Niemöller ein starker Trost im Gefängnis 181 . Zwei Tage später wurde Edmund Hildebrandt - zu diesem Zeitpunkt relativ unerwartet - die Lehrbefugnis entzogen 182 . Die Verhaftung Niemöllers am 1. Juli 1937, die auch Hildebrandt im Niemöllerschen Pfarrhaus einen achtstündigen Hausarrest einbrachte183, bestärkte ihn darin, endgültig aus Deutschland fortzugehen. Er tauchte zunächst unter, fuhr nach Oeynhausen und darauf nach Naumburg zu seinen Patentanten. Dort besuchte er noch einmal St. Othmar, die „Kirche, in der sich vor 16 Jahren mein Weg entschied" 184 . Alles war nun für die Emigration vorbereitet, doch am Sonntag, dem 18. Juli 185 , dem Tag seiner geplanten Abreise, wurde Hildebrandt nach einer Vertretung für Niemöller in der Sakristei der Jesus-Christus-Kirche wegen „Kollektenvergehens" festgenommen. Gepredigt hatte er in diesem Gottesdienst über Apg 4,1-31. Die Predigt hatte mit den Worten begonnen: „Hier wird uns nun die erste Verhaftung, das erste Redeverbot, die erste Gefangennahme berichtet. [...] Mit der Hand aber, die an die Diener Christi gelegt wird, wird zugleich auch an Christus die Hand gelegt. Damit ist die Sache Christi angetastet", - und sie schloß mit der Bitte um die Waffe, die der Kirche allein gegeben ist, nämlich „mit aller Freudigkeit zu reden dein Wort und das Bekenntnis: Es ist in keinem anderen Heil!" 1 8 6 Mit diesen Worten endete die Predigttätigkeit Hildebrandts in Deutschland.
M . Niemöller an Else Niemöller, 2. Ζ1937 ( M . NIEMÖLLER, Briefe aus Moabit, S. 21). Ebd. 182 N o c h am 20.5.1937 war ihm die Weiterführung der Lehrtätigkeit trotz seines Alters (er war jetzt 65 Jahre alt) bis z u m Sommersemester 1938 genehmigt worden, was der Institutsdirektor Wilhelm Pinder am 20.1.1937 befürwortet hatte (nach Angaben der Personalakte; ARCHIV DER HUMBOLDT-UNIVERSITÄT, BERLIN). 180 181
i " Vgl. D B , S. 655. 184 A n Christa-Maria Blech, 6.71937 (IM BESITZ C . - M . FRIEDRICH, GRATTERSDORF). 185 Die Darstellung bei J . BENTLEY, Niemöller S. 167 Hildebrandt sei im Z u s a m m e n h a n g mit den Protesten a m 8 . 8 . 1 9 3 7 verhaftet worden, ist inkorrekt. 186 J)ie Predigt gehört zu einer Predigtreihe über die A p g , die am 2 . 5 . 1 9 3 7 begann (Nachschriften im Z E K H N DARMSTADT, 35/459).
123
S o m m e r 1937
Die offizielle Begründung seiner Festnahme berief sich auf einen Runderlaß des Reichsinnen- und des Reichskirchenministers vom 9. Juni 1937, der festlegte, „daß die Aufstellung von Kollektenplänen durch einzelne kirchliche Gruppen und die Durchführung anderer als der in den amtlichen Kollektenplänen vorgesehehen Kirchenkollekten" ungesetzlich sei und künftig strafrechtlich verfolgt würde18'! Die „unrechtmäßigen" Kollekten würden eingezogen. Nach dem Verbot der Bekanntgabe von Kirchenaustritten im Gottesdienst vom Februar 1937 war dieser „Kollektenerlaß" eine weitere Maßnahme zur Schwächung der Bekennenden Kirche, die fatale Folgen, etwa für die Ausbildung und Versorgung der „illegalen" jungen Pastoren, haben konnte. Der altpreußische Bruderrat sah darin den Kern der Verkündigung bedroht und stellte fest, „daß dieser Eingriff in das gottesdienstliche Leben der Kirche mit der Verfassung der Kirche und dem Wesen der Kirche, vor allem auch mit dem Wesen des evangelischen Gottesdienstes, unvereinbar ist" 188 . Er gab dem staatlichen Druck nicht nach und ordnete an: „Die Pfarrer und Gemeinden der Bek. Kirche sind daher nach wie vor gehalten, die Kollekten nach dem Plan der Bek. Kirche in ihren Gottesdiensten einzusammeln." 189 Eine Änderung der Einsammelpraxis und das Niederlegen der eingesammelten Gaben auf dem Altar nach dem Brauch der Kirche von England sollten, wie Hildebrandt später schrieb, „deutlich machen, was die Gestapo stahl." 190 Damit war eine Kollision mit staatlichen Organen vorprogrammiert; der „Kollektenerlaß" wurde ein probates Mittel bei dem seit Mitte Mai laufenden „konzentrierten Angriff, den die Staatspolizei auf die Leitung der Bekennenden Kirche eröffnete" 191 , und der in kurzer Zeit zu einer hohen Zahl von Inhaftierungen führte 192 . Wie geplant die Verhaftungen waren, kann man auch daran sehen, daß der „Fall Hildebrandt" nur ein Teil der „Strafsache gegen Pfarrer Albertz und andere" 193 war; auch Helmut Gollwitzer wurde desselben Vergehens unter der gleichen Tagebuchnummer angeklagt194.
187 Gesetzblatt der D E K , Ausgabe B , Nr. 11, 2 3 . 6 . 1 9 3 7 ; vgl. J.BECKMANN, Wort Gottes, S. 185. 188 „Anweisung des Bruderrates in der Kollektenfrage, die der Gemeinde im Gottesdienst bekannt gegeben werden soll", 24.6.1937 ( E Z A BERLIN, 50/378). 189 Erklärung des altpreußischen Bruderrates, 176.1937 ( E Z A BERLIN, 50/378). 190
A n Bethge, 15.4.1970 (SAMMLUNG BETHGE,
191
W. NIEMÖLLER, K a m p f u n d Zeugnis, S. 399. Vgl. die Fürbittliste der Gemeinde Dahlem vom 3.71937 ( G . GRAFF, Gemeinde, S. 86).
192 193
Vgl.
die Einstellungsverfügung
des
WACHTBERG).
Generalstaatsanwalts
vom
2.6.1938
(EZA
BERLIN,
7/13115). 194 Vgl. die „Sammelnachweisung über Geistliche, gegen die ein Strafverfahren wegen Veranstaltung nicht genehmigter Kollekten, wegen Bekanntgabe von Kirchenaustritten und wegen ähnlicher Zuwiderhandlungen gegen die Anordungen der staatlichen Behörden eingeleitet worden ist (Erlaß vom 14.10.1937 - E . 0 . 1 2 4 4 3 / 3 7 ) " ( E Z A BERLIN, 7/13115).
124
K l ä r u n g e n u n d S c h e i d u n g e n : 1935-1937
Glücklicherweise war Hildebrandt zwei Tage vor seiner Festnahme noch nach Finkenwalde gefahren, um von Bonhoeffer Abschied zu nehmen. „Unexpectedly busy"195, hatte er seinen Paß bei seinen Eltern liegen lassen, wo er der Konfiszierung entging. Nur durch diesen Umstand wurde die Emigration, wenn auch später als geplant, doch noch möglich.
195
Interview mit Mary Glazener (NLH, 9415/2).
6. L O N D O N : 1937/1938
6.1. Entscheidung zur Emigration Hildebrandts Entscheidung, alles für eine Emigration Notwendige vorzubereiten, war nach langem Zögern im Sommer 1937 gefallen. Bei Riegers Besuch in Berlin im Juni wurden erste Abmachungen dazu getroffen1. Noch nach der Verhaftung Niemöllers, als sich zeigte, daß auch Hildebrandt selbst mehr und mehr in Gefahr geriet, war er sich seiner Entscheidung nicht sicher. Dazu trug auch bei, daß er sich mit Christa-Maria Blech „heimlich verlobt" hatte. Er hatte die Tochter des früh verstorbenen Pfarrers in Schmargendorf 1935 in der Kirchengemeinde Grunewald und im Dahlemer Jugendkreis, der von Elisabeth von Harnack geleitet wurde, kennengelernt. Nach ihrer Konfirmation im März 1936 durch ihren Onkel Gerhard Jacobi wurde die Freundschaft mit Hildebrandt enger, und Christa-Maria Blech hatte zunächst auch vor, Hildebrandt nach England zu folgen. Aber im November 1938 ging die Beziehung endgültig auseinander. Noch am Ζ Juli 1937 hatte Hildebrandt an Christa-Maria Blech geschrieben: „Ich kann mir mein künftiges Dasein bei keinem der beiden Wege, zwischen denen ich wählen muß, vernünftig und erträglich vorstellen. Wenn das ganze aber nur ein Katzenjammer sein sollte, müßte man doppelt vorsichtig und zurückhaltend in der Entscheidung sein. Dietrich und die Seinen hatten schon recht, mir erst eine Atemund Besinnungspause zu verordnen, und ich werde auch nicht gehen, ehe ich den Platz ausgefüllt sehe." 2
„Abgekämpfheit und Müdigkeit" 3 und die Befürchtung, „daß ich mir über ein Weglaufen ständig Vorwürfe machen müßte" 4 , trieben ihn um. Intensives Bibelstudium, das ihn zu einem neuen Verständnis von Jer 39,18 und Mt 10,14f. brachte, gaben ihm jedoch schließlich die Gewißheit, „daß nicht bedingungslos die Austreibung zu erwarten ist, sondern daß sehr wohl der Jünger Christi die Auswanderung von sich aus beschließen und mit diesem 1 An M. Glazener, 28.5.1978: „My going to London had been arranged direcdy with Julius Rieger earlier that summer when he was in Berlin" ( N L H , 9251/22). 2 An C.-M. Blech, 771937 (IM BESITZ VON C . - M . FRIEDRICH, GRATTERSDORF). Die persönlichen Informationen nach einem Gespräch zwischen C.-M. Friedrich und dem Verf. am 11.5.1990. 3 An C.-M. Blech, 12.71937 (IM BESITZ VON C . - M . FRIEDRICH, GRATTERSDORF). 4 An C.-M. Blech, 8.71937 (EBD.).
126
London: 1937/1938
Schritt einer abtrünnigen Stadt das letzte Z e u g n i s des E v a n g e l i u m s geben k a n n .
-
D i e B i n d u n g d e s H i r t e n a n die H e r d e b e d e u t e t n i c h t die B i n d u n g an ein L a n d ; d a ß d a s , V o l k s t u m u n s e r S c h i c k s a l ' s e i , s t e h t n i c h t g e s c h r i e b e n u n d gilt f ü r d i e K i r c h e nicht (vgl. Jer. 2 7 ) " 5 .
Das Bewußtsein, ein „Entronnener" zu sein, hat sein theologisches Denken tief geprägt. Zunächst jedoch war der Plan der Emigration durch Hildebrandts Verhaftung am 18. Juli und die folgende Inhaftierung gefährdet. Nach kurzer Zeit im Gestapo-Gewahrsam kam Hildebrandt in reguläre Untersuchungshaft nach Plötzensee. Die Untersuchungshaft war eine schwere Zeit für ihn, wie er seinen Angehörigen schrieb: „Ich wollte Euch natürlich nicht noch mehr Unruhe machen als Ihr ohnehin habt, aber es wäre ja wunderlich, wenn man nach diesen drei Wochen noch die gleiche Frische hätte wie vorher - wo ich ja zudem mehr als urlaubsreif war, aber das Ärgste ist die dauernde Ungewißheit, daß noch immer kein Zeitpunkt absehbar ist, auf den man sich einstellen könnte."6 Er litt besonders unter der Isolierung: „Schön wäre es, wenn einer der Kollegen, am liebsten Jacobi, kommen dürfte; ich weiß, was es für Jannasch wert war, als ich ihm vor zwei Monaten in dem Zimmer, in dem wir eben saßen7, besuchte!" Tröstende Stellen aus Bibel und Gesangbuch hielten ihn aufrecht, außerdem die Gewißheit, daß er in Walter Dreß einen zuverlässigen Vertreter gefunden hatte. Auch ein „Konzept zum Arbeiten"8 gab ihm Mut: der erste Entwurf der Studie über Das Evangelium und Humanität9 entstand in der Zelle. „Ich hoffe, dank dem Manuskript wird die nächste Woche leichter werden als die letzte war, und mich dem Ziele näherbringen. Mehr als vier Wochen könnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen."10 Doch nach fast genau vier Wochen kam Hildebrandt, auch dank des Einsatzes Hans von Dohnanyis, wieder frei11. Er erhielt, gemäß dem Antrag des Generalstaatsanwalts beim Landgericht Berlin, einen Strafbefehl „wegen Vergehens gegen das Sammlungsgesetz"12 über 400 Reichsmark; die Strafe 5
E H , S. 119. Z u r Problematik vgl. das lange Z ö g e r n anderer ( z . B . C . G . Schweitzers), mit der
Auswanderung zu warten, bis ein R u f an sie ergangen sei (vgl. E . R Ö H M / J . THIERFELDER, J u den-Christen-Deutsche, B d . 2 / I I , S. 2 2 3 f.). 6
A n die Eltern und C . - M . Blech, 7 8 . 1 9 3 7 (IM BESITZ VON C . - M . FRIEDRICH, G R A T T E R S -
DORF). 7
D e r Brief wurde unmittelbar nach einer Sprecherlaubnis geschrieben.
8
Vgl. A n m . 6.
9
Vgl. unten S. 157 ff.
10
Vgl. A n m . 6.
11
Vgl. DB, S. 6 5 7 N a c h den Interviews mit M a r y Glazener ( N L H , 9 4 1 5 / 2 , S. 4 3 ) und mit d e m
IMPERIAL W A R MUSEUM, LONDON (S. 3 f.) war Hildebrandt über das erstaunliche Desinteresse der Behörden an seiner Person verwundert. E r führte dies neben d e m Eingreifen Dohnanyis und der Bonhoefferfamilie darauf zurück, daß er nie eine offizielle kirchliche Stelle innegehabt habe ( E B D . und vgl. N . HILDEBRANDT, NO Winter, S. 118). 12
So die Eintragung im Ausbürgerungsantrag der Gestapo v o m 2 9 . 7 1 9 4 2 unter der Rubrik „Vor-
127
Entscheidung zur Emigration
sei „durch die Untersuchungshaft v. 22. Z-12.8.1937 verbüßt"13. Die letzten Tage in Berlin verbrachte Hildebrandt zur Sicherheit nicht in seiner eigenen Wohnung oder der seiner Eltern, sondern in der Marienburger Allee bei Bonhoeffers14. Da sein Paß noch bei seinen Eltern lag, konnte er sich ganz legal beim Gericht und beim Kreiswehrersatzamt abmelden. Als Grund gab er an, gemeinsam mit den Eltern einen Urlaub in der Schweiz verbringen zu wollen. Am 17 August 1937 verließ er Berlin, das er bis an sein Lebensende nicht wieder betrat. In seinem Kalender notierte er ein Wort des Dirigenten Hans von Bülow, das er sich zu eigen machte: „Abzuraten ist mir nicht. Das, was ich nach reifer Überlegung zu tun beschlossen, geschieht, und wenn der beschließende Kopf beim Rennen an die Mauer der Gemeinheit, Perfidie und Verstocktheit der Leute das empfindlichste Loch davontragen sollte."15 Nach einem kurzen Aufenthalt in Zürich, verbunden mit einem Besuch bei Siegmund-Schultze16, bat er Barth am 25. August 1937 um einen Besuchstermin: „Seit einer Woche habe ich Plötzensee (das Berliner Gefängnis) mit dem Vierwaldstättersee vertauscht, der mir erheblich besser gefällt. [...] Die Anderen haben ja fast alle keinen Paß mehr, und mein Weg geht von hier aus auch nicht mehr zurück, sondern nach London." 17 Man verabredete einen Besuch auf dem „Bergli", dem Ferienhaus der Familie Pestalozzi, das diese häufig Barth zur Verfügung stellten, am 4. September. Hier besprachen Barth und Hildebrandt dessen persönliche Situation wie auch die Lage in Berlin18. Wie Hildebrandt später mitteilte, schüttelte Barth jedoch „den Kopf über meine Auswanderung; und gab dann zu, es hänge wohl mit dem Arierparagraphen zusammen"19. Zwei Tage später flog Hildebrandt per Flugzeug weiter nach London. Aus dem geplanten Aufenthalt von einem Monat bei Rieger an der St. Georgskirche wurden jedoch eineinhalb Jahre. strafen und schwebende Verfahren wegen politischer Straftaten" (PolA BONN, Inland II A/B, 268. Ausbürgerungsliste, Paket 230/1.). 13 Eintragung in der „Sammelnachweisung" (vgl. oben S. 123 Anm. 194). Helmut Gollwitzer erhielt die gleiche Strafe, blieb allerdings eine Woche länger in Untersuchungshaft (vgl. EBD.). Während „Albertz und andere" Rechtsmittel einlegen, bis das Verfahren „durch Beschluß des Amtsgerichts Berlin vom 13. Mai 1938 auf Grund des Gesetzes über die Gewährung von Straffreiheit vom 30. April 1938 eingestellt" wurde - die Aussage bei W. NIEMÖLLER; Kampf, S. 413, das Verfahren „wurde auf unbestimmte Zeit verschoben", ist offensichtlich nicht zutreffend - , wurde der Strafbefehl für Hildebrandt durch Beschluß des Amtsgerichts Berlin NW 40, Alt-Moabit, am 10.9.1937 rechtskräftig (Sammelnachweisung EBD.). Wahrscheinlich hat Hildebrandt auf einen Widerspruch verzichtet, um seine Emigration nicht zu gefährden. 14
A n B e t h g e , 2 3 . 1 2 . 1 9 5 7 (SAMMLUNG BETHGE, WACHTBERG).
15
„An Bote und Bock, 30.1.1859" (Kalender 1937; Ν LH, 9251/13). Bei dieser Gelegenheit vertraute Siegmund-Schultze Hildebrandt an, „daß er aus Berlin fliehen mußte, wo Heckel die Gestapo auf ihn gehetzt hatte oder zu hetzen drohte" (Hildebrandt an Stratenwerth, 4.9.1957: NLH, 9251/22). 16
17
KBA
18
Vgl. E. BUSCH, Karl Barths Lebenslauf, S. 308.
19
A n H . L u d w i g , 3 0 . 7 1 9 7 3 (Kopie in SAMMLUNG BETHGE,
BASEL. WACHTBERG).
128
L o n d o n : 1937/1938
6.2. Hilfsprediger an St. Georg Hildebrandts Gastgeber in London, Julius Rieger 20 , war seit 1929 Pfarrer der deutschen Lutherischen St. Georgskirche im Londoner Osten. Anfangs noch von der „nationalen Erhebung" begeistert und wie nahezu alle deutschen Pfarrer in Großbritannien Parteigenosse 21 , durchlebte er in seiner Bekanntschaft mit Bonhoeffer eine Art Bekehrungserlebnis. Zunächst schien es so, als habe die Reichskirchenregierung in Rieger den richtigen Mann für ihren „Sonderauftrag für ökumenische Arbeit" gefunden, d.h. für die Beobachtung und Beeinflussung der britischen kirchlichen Öffentlichkeit von London aus, nachdem Bonhoeffer, der anfangs dafür vorgesehen war, deutlich gemacht hatte, daß er sein Londoner Pfarramt keinesfalls als „Beauftragter einer deutsch-christlichen Kirche" wahrnehmen würde 22 . Ende November 1933 erhielt Rieger von der Reichskirchenregierung den offiziellen, aber vertraulichen „Sonderauftrag", der ihn unter anderem zur regelmäßigen Berichterstattung über die Reaktion englischer Kirchen und Zeitungen auf die Vorgänge in Deutschland verpflichtete 23 . In einem dieser Berichte lieferte er dem Kirchlichen Außenamt jene Informationen, die Bonhoeffer Anfang 1934 in eine mißliche Lage brachten 24 . Als Bonhoeffer dann nach Berlin zur Berichterstattung gerufen wurde und Rieger davon erfuhr, verbat Rieger sich in einem Brief an Heckel vom 28. Februar 1934 jedoch diesen Umgang mit seinen Informationen und stellte seine Berichtstätigkeit anschließend nahezu ein25. Seit den Auseinandersetzungen der Londoner Gemeinden mit der Reichskirche und dem Kirchlichen Außenamt unter Heckel im Jahre 1934 war Rieger ein Verfechter der von Bonhoeffer propagierten harten Linie und der von ihm vorgeschlagenen Aktionen, die im November 1934 im Loslösungsbeschluß der Londoner Kirchenvorstände von der Reichskirche gipfelten 26 . Nach Bonhoeffers Rückkehr nach Deutschland 1935 war Rieger der einzige der Londoner Pastoren, der der bruderrätlichen Position verbunden blieb und damit als „Dahlemit" galt; für Hildebrandt war Rieger sogar bis zur Ankunft der Refugee-Pastoren „einziger Vertreter der Bekennen-
20 Vgl. auch Bibl. Nr. 48. Nach Beils Unterlagen waren 1939 alle außer Hans Diehl Parteigenossen (Bell an Eidem, 1.11.1939; LPL LONDON, Bell Papers 29/11). 22 Bonhoeffer an Siegmund-Schultze, 6.11.1933 (DBW 13, S. 22); vgl. dazu auch DBW 12, S. 1 4 5 - 1 4 7 und DBW 13, S. 14ff. 23 Reichskirchenregierung an Rieger, 28.11.1934 ( E Z A BERLIN, 5/804). 24 Vgl. DB, S. 4 2 0 - 4 2 2 . Was Bethge dort diskret „unaufgeklärte Weise" nennt, sind eben diese Berichte. Vgl. Riegers Akte „Sonderauftrag" (TH LONDON, TH/8662/39) und die Gegenüberlieferung (EZA BERLIN, 5/136); vgl. auch G. NIEMÖLLER, Gemeinden, S. 134f. 25 Vgl. DB, S. 4 2 2 f . und EZA BERLIN, 5/136. 26 Dazu vgl. DBW 13, S. 97ff. und 214ff. sowie DB, S. 3 7 8 - 4 6 7 21
129
Hilfsprediger an St. G e o r g
den Kirche in England" 2 ? Rieger verschaffte auch dem Finkenwalder Seminaristen und Bruderhausmitglied Wolfgang Büsing eine vorübergehende Stellung als Vikar, als dieser nach den Nürnberger Gesetzen seine „nichtarische" Braut nicht heiraten durfte und deshalb emigrieren mußte 28 . Für die englische kirchliche Öffentlichkeit entwickelte sich Rieger, wie Bischof Bell nach Kriegsbeginn festhielt, zur „principal source of all information to the churches in this country about the church struggle" 29 . Rieger ernannte Hildebrandt kurzerhand zu seinem Hilfsprediger und ließ ihn auch später vom Kirchenvorstand zu seinem ständigen Vertreter bestimmen 30 . Dabei bewegte sich Rieger, rechtlich gesehen, auf unsicherem Boden: Hildebrandt konnte sich nur auf einen Auftrag der Vorläufigen Leitung der Bekennenden Kirche berufen. Deren Autorität war unter den deutschen Pastoren Londons umstritten, was sich auch auf Hildebrandts Stellung unter den deutschen Pastoren in London nachteilig auswirkte. Hildebrandt war nun nicht nur selbst ein „Refugee" 31 , sondern sollte sich in London auch im Auftrag der Vorläufigen Leitung um die „Seelsorge an deutschsprachigen Judenchristen" kümmern 32 . Er war von Anfang an in die Fürsorgetätigkeit Riegers eingebunden, der auf privater Basis „Mittwochssprechstunden" in der Sakristei der St. Georgskirche für die immer zahlreicher werdenden Flüchtlinge eingerichtet hatte: „ D a s g a n z e E l e n d d e r E m i g r a t i o n k a m z u s a m m e n in d e n M e n s c h e n , die sich d o r t drängten: Juden
und
Christen,
Kirchliche u n d Unkirchliche,
,Normale'
und
, C r a n k s ' 3 3 ; w e r v o n d e n C o m m i t t e e s i m Stich g e l a s s e n w a r u n d nicht m e h r a u s u n d ein w u ß t e , f a n d a m E n d e i m m e r s e i n e n W e g n a c h 5 5 A l i e Street, A l d g a t e , E . l . [ . . . ]
Bibl. Nr. 48, S. 182. Vgl. DB, S. 613. Die Verhandlungen dazu führte Hildebrandt mit Rieger am 29.7 1936: „4 c.t. Rieger bei Telschow; Vikar für Rieger: Büsing?" (Kalender 1936; N L H , 9251/12). Büsings Heirat fand dann erst im April 1938 in L o n d o n statt, anschließend erhielt Büsing einen Auftrag als Reisesekretär des „Church of England Committee for Non-Aryan Christians"; vgl. Büsing an Siegmund-Schultze, 17 5.1938 ( E Z A BERLIN, 51/H He 3.1). Vgl. dazu auch unten S. 184. 27 28
Memo von Bell, 19.10.1939 ( L P L LONDON, Bell Papers 29/11). Sitzung vom 5.5.1938 (TH LONDON, TH/8662/10). 31 In dieser Arbeit wird durchgängig der Begriff „Refugee" für die aus Deutschland geflüchteten Menschen gebraucht. Dies entspricht Hildebrandts eigenem Gebrauch und beherzigt, was S. LEIBHOLZ-BONHOEFFER, Vergangen, S. 123, schreibt: „Wir lehnten die Hitlerische Bezeichnung .Emigranten' ab, weil sie einen diskriminierenden Unterton hat. Die Engländer und wir selbst nannten uns ,refugees'" (vgl. dazu auch Bertolt Brechts Gedicht „Uber die Bezeichnung Emigranten"; EBD., S. 124). 29
30
32 An Baron von Schröder, 22.4.1938 (NACHLASS BONHOEFFER, S. 163). Die V K L bzw. ihr Okumenereferent betonte dagegen, Hildebrandt sei nach England geschickt worden, „um dort seine ökumenischen Kenntnisse zu bereichern und die für die Vorläufige Leitung so wichtigen ökumenischen Beziehungen zu pflegen" (Böhm an Rieger, 24.5.1938; E Z A BERLIN,
50/550, 264). 33 Vgl. S. LEIBHOLZ-BONHOEFFER, Vergangen, S. 182: „Hier würde man vielleicht sagen, überspannte Neurotiker, verstiegene, schrullige Leute".
130
London: 1937/1938
Die Sprechstunde endete für den Pastor mit einer Flut von Briefen, Telefonanrufen, Gängen und Versuchen in tausend verschiedenen Richtungen, um den Heimatlosen Boden unter den Füßen zu verschaffen."34 Zumeist waren die Hilfesuchenden christliche „Nichtarier", denn diese Personengruppe fiel durch alle Maschen des Netzwerkes der inzwischen entstandenen jüdischen Hilfsorganisationen und fand auch sonst kaum Unterstützung. Eine eigene christliche Flüchtlingsarbeit steckte zu dieser Zeit noch in den Kinderschuhen und war völlig unzureichend, - seit Bonhoeffers „Bettelbriefen" 35 hatte sich hier wenig geändert 36 . 1936 hatte K r a m m die ganze Ausweglosigkeit der Situation der christlichen „Nichtarier" beschrieben, als er ein Auslandsvikariat an der Marienkirche machte: „Dennoch ist man traurig, daß auch die B.K. ethisch so wenig tut. [...] Wenn christliche Nichtarier unsere Brüder (biblisch) sind, denen wir helfen müssen, und sie bei uns einfach nicht mehr leben können, da sie keine Stelle kriegen, und sie hierher kommen, so ist ihre Situation die: die Deutschen sagen: Ihr seid keine Deutschen, die Juden: Ihr seid keine Juden, und von uns [den deutschen Pastoren] erwartet ,man', daß wir ,natürlich' Juden und Emigranten nicht helfen. Wir haben auch kein Geld. Nach den üblichen Prinzipien könnten wir nur sagen: Mach Selbstmord!37 Da das nicht geht als Christ, wir selbst nicht helfen können, müßten wir sie zu fremden Hilfskomitees schicken. Das ist aber,Greuelpropaganda', wenn sie diesen von ihrer Not erzählen. Daran sieht man, daß es keinen Kompromiß zwischen beiden Anschauungen gibt. Daß aber die B.K. das nicht schon in voller Öffentlichkeit gesagt und ultimativ gefordert hat, sondern andererseits August [Marahrens] usw. nur Jawort-Reklamen' zu bestimmten Gelegenheiten machen, hat doch hier so erschüttert, daß man die B.K. auch nicht mehr ernst nimmt, wenn das nicht anders wird, jedenfalls in diesen Fragen." 38 Auch eineinhalb Jahre später hatte sich noch nicht viel geändert. N a c h zwei Monaten Erfahrung mit der Flüchtlingsbetreuung, die St. Georg den hämischen Beinamen „Judenkirche" 3 9 eintrug, schrieb Hildebrandt im November 1937 verbittert an Jacobi, als dieser ihn um Hilfe bei der Emigration einer Bekannten (Frau von Damnitz) bat: „Wenn man das ganze Kapitel sich an einem solchen Fall wieder einmal konkret vergegenwärtigt und die Situation der Betroffenen hier noch ganz anders als daheim kennenlernt, dann wird einem bei allem schuldigen Respekt vor Kollekten und Kirchenaustritten die ganze BK, die dafür doch nie ein Wort gefunden hat40,
34
Bibl. Nr. 4 8 , S. 3 3 0 . Ein Teil der „Flut von Briefen" ist im A D B K LONDON, 3 4 9 - 3 5 3 , erhalten,
ein weiterer Teil im Archiv der St. Georgs-Kirche ( T H LONDON, T H / 8 6 6 2 / 4 5 und 4 6 ) . 35
Vgl. D B , S. 3 8 4 f . und die Korrespondenz mit Baron von Schröder ( D B W 13, S. 274f. u . ö . ) .
36
Vgl. unten S. 173 ff.
37
Vgl. auch an Marahrens (vgl. oben S. 120); W . GERLACH, Zeugen, S. 2 2 7
38
„London 1936" (hektographierter Bericht; L K A E K v W BIELEFELD, 5 , 1 / 5 9 3 ) .
39
Vgl. E . B E T H G E / U . WEINGÄRTNER, St. Paul/St. G e o r g S. 2 0 .
40
Hildebrandt spielt offensichtlich auf das „Wort an die Gemeinden" der 5. altpreußischen Be-
Hilfsprediger an St. Georg
131
fragwürdig und egal. Das Gerede über meinen Weggang [ . . . ] sorgt bei mir ohnehin dafür, daß auch die menschliche Distanz immer größer und größer wird; es ist schwer, ohne Bitterkeit zurückzudenken." 4 1
Als Krummacher und Wahl im Auftrag des Kirchlichen Außenamts vom 27 September bis 2. Oktober 1937 in London waren 42 und „mehrfach eingehende Besprechungen" mit Rieger führten, mahnte dieser eine „geistliche Weisung" in der Frage der Flüchtlingsseelsorge und Flüchtlingsfürsorge an. Hildebrandt nahm an diesen Gesprächen nicht teil, weil er im Hintergrund bleiben mußte, um Riegers Position nicht weiter zu schwächen. Rieger wünschte sich aus den Erfahrungen heraus, die er und Hildebrandt in der Flüchtlingsfürsorge gemacht hatten, daß das Kirchliche Außenamt den Diffamierungen entgegentrete und deutlich mache, „daß sich die Gemeinden und die Geistlichen der seelsorgerlichen Verantwortung für derartige Persönlichkeiten nicht entziehen können" 4 3 . Krummacher jedoch verwies in seiner Antwort lediglich auf die grundsätzlich „weite Grenzziehung der deutschen kirchlichen Auslandsgemeinden"; „zur Sache" konnte er nur warnend erklären, „daß wir auch in der Kirche niemals die politische Seite dieses Problems ausschalten können; insbesondere könne der Geistliche sehr leicht gegen seinen Willen zu anderen Zwecken mißbraucht werden" 4 4 . Auch dieser Umgang mit den Problemen der Refugees in London ist ein Beleg für die Haltung des Kirchlichen Außenamtes, die Gerhard Niemöller
kenntnissynode vom 21.-27 8.1937 in Lippstadt an, die wegen der gegen die BK gerichteten staatlichen Maßnahmen (Vermögensverwaltung, Kollektenfrage, Verbot der Bekanntgabe von Kirchenaustritten) zusammengetreten war und in ihrem Wort diese, die Kirche betreffenden Maßnahmen des Staates, anprangerte (vgl. K J 1933-1944, S. 199f.; J . BECKMANN, Wort Gottes, S. 185f. und E. Bethge bei D . ANDERSEN, So ist es gewesen, S. 310f.). 41 An Jacobi, 8.11.1937 (ADBK LONDON, 352). Vgl. ähnlich unten S. 283 Anm. 5. 42 Anlaß ihres Besuches waren Bemühungen Heckeis im Anschluß an die Sitzung des Fortsetzungsausschusses von „Faith and Order" („Vierzehner-Ausschuß") am 19.8.1937, sich und seinem Amt ökumenischen Einfluß zu sichern, sowie die Frage des Besuches einer Delegation von „Life and Work" in Deutschland; vgl. A. BOYENS, Kirchenkampf und Ökumene, S. 179f. und Dok. 51 (EBD., S. 372) sowie A. LINDT, Briefwechsel, S. 305-307 43
Vermerk K m m m a c h e r s , 1 1 . 1 0 . 1 9 3 7 ( E Z A B E R L I N , 5/1311). D e r A u s d r u c k „derartige Per-
sönlichkeiten" ist wohl kaum von Rieger gebraucht worden. 44 EBD.; vgl. ähnlich Heckeis Bescheid an Grüber, als dieser das Kirchliche Außenamt um Unterstützung seiner Auswanderungshilfe bat: „Auf der anderen Seite könne die Frage nicht mehr individuell behandelt werden, sondern müsse grundsätzlich zwischen dem Reich und den auswärtigen Staaten auf eine gewisse Form gebracht werden. Hierüber zu befinden sei nicht meine Angelegenheit"; Aktennotiz, 6.8.1938 (EZA BERLIN, 5/141, auch bei A. BOYENS, Kirchenkampf und Ökumene, Bd. 2, S. 47). Die Erinnerung Grübers, Heckel habe dann die Auslandspfarrer angewiesen, „denjenigen Menschen, die durch die Nürnberger Gesetze die Staatsbürgerschaft verloren hatten, keine Hilfe zu gewähren. Erst recht sei es verboten, Juden zu taufen" (H. GRÜBER, Erinnerungen, S. 125), ließ sich nicht belegen, - man sollte sie auch nicht wie C . - R . MÜLLER, Diakonische Hilfe, S. 295, als Tatsache tradieren. De facto hat aber die Haltung des Außenamtes jede Hilfe erschwert und behindert.
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L o n d o n : 1937/1938
zutreffend so beschrieben hat: „Gegenüber dem sehr konkreten Reden von Volkstum usw. kamen die wirklichen theologischen Probleme niemals richtig zur Sprache. Man konnte zwar eine mehr oder weniger biblische Theologie vertreten, aber das kam in der Praxis nicht zur Auswirkung." 4 5 Ahnlich wie der Centraiausschuß der Inneren Mission konnte sich auch das Kirchliche Außenamt, gefangen im „vorauseilenden Gehorsam" gegenüber den politischen Stellen, nicht zu einem deutlichen Wort, geschweige denn zu einer Tat durchringen. Auch für die Beteiligten des Kirchlichen Außenamtes gilt, was Jochen-Christoph Kaiser für das Verhalten der führenden Männer der Diakonie bilanziert hat, daß sie sich „in fast systematisch zu nennender Weise jeder eindeutigen Festlegung entzogen und Seelsorge wie Fürsorge einzelnen überließen" 46 . Einen neuen Höhepunkt erreichte die Auseinandersetzung drei Wochen später im Zusammenhang mit den Feierlichkeiten zum 175jährigen Jubiläum der St. Georgskirche. Das Kirchliche Außenamt hatte gehofft, dieses Datum zu einer Bereinigung des Verhältnisses und zu einer neuen Anbindung der Londoner Gemeinden nutzen zu können. Rieger jedoch plante das genaue Gegenteil. Er lud offensichtlich zunächst Bonhoeffer ein, die Predigt im Festgottesdienst zu halten, und als dieser absagen mußte, erhielt Präses Koch die Einladung4-! Bei der mit den Jubiläumsfeierlichkeiten verbundenen „theologischen Arbeitstagung" der deutschen Pfarrer in Großbritannien hielt Hildebrandt einen Vortrag über „Das Verhältnis von Theologie und Kirche" 48 . Das Kirchliche Außenamt, das wünschte, die „Gemeinschaftsarbeit in England wieder in die Bahnen einer geordneten Pfarrkonferenz hineinzulenken", und als ersten Schritt dazu „die Mitwirkung eines Vertreters des Kirchlichen Außenamtes durch einen Vortrag" vorgeschlagen hatte 49 , wurde bewußt nicht informiert. Als dann noch über die Festlichkeiten 50 im Gemeindeboten zu lesen war, daß durch sie „die Verbundenheit der hiesigen Gemeinden mit ihren Brüdern in der Bekennenden Kirche einmütig zum Ausdruck kam" 5 1 , leitete das Außenamt, das den Vorgang als „ein provozierendes kirchenpolitisches Unternehmen" ansah 52 , Gegenmaßnahmen ein. Zuerst wurde ein fest zugeG . NIEMÖLLER, Gemeinden, S. 137 (Hervorhebung im Original). J.-C. KAISER, Sozialer Protestantismus, S. 709. 47 Vgl. den Brief von Bonhoeffer an Rieger und Hildebrandt (vor dem 24.10.1937; DBW 14, S. 300). Gegen die Anm. 6 dort ist festzuhalten, daß der Jesus-Sirach-Text mit Sicherheit nicht von Rieger ins Spiel gebracht worden ist, sondern Bonhoeffers eigene Entwicklung zum Widerstand belegt. 45 46
N u r Einladung erhalten ( T H LONDON, T H / 8 6 6 2 / 4 3 ) . ' Vermerk Krummachers, 11.10.1937 ( E Z A BERLIN, 5/1311). 50 Vgl. das gedruckte P r o g r a m m ( T H LONDON, T H / 8 6 6 2 / 4 4 u n d L K A E K v W BIELEFELD,
48 4
5,1/773/1; dort auch Abschrift der Predigt Kochs vom 24.10.1937). 51
Gemeindebote v o m 6.11.1937 (Ausschnitt im E Z A BERLIN, 5/1311).
Krummacher an Schönberger, 23.11.1937 ( E Z A BERLIN, 5/1311, Entwurf). Wie sehr das Kirchliche Außenamt sich den politischen Stellen anbiederte, wird im Schreiben Krummachers an 52
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sagter Zuschuß für die Erneuerung der Orgel der St. Georgskirche gesperrt. Heckeis Begründung lautete, man könne nicht hinnehmen, „daß das Kirchliche Außenamt lediglich als eine Finanzstelle gewertet wird"; durch die mangelhafte amtliche Unterrichtung untergrabe Rieger die „gesamtkirchliche und geistlich fundierte Arbeit" des Außenamtes 5 3 . Rieger beklagte sich daraufhin bei Präses Koch über diese „besondere Weihnachtsfreude" und machte deutlich: „Was die von Heckel beanspruchte ,geistliche Leitung' angeht, so hat sich an dem 1934 gefaßten Beschluß der Londoner Gemeinden, die Beziehungen ruhen zu lassen, für uns umso weniger geändert, als wir nach wie vor über die deutsche Kirchenlage vom Außenamt nichts, über die ökumenischen Dinge höchst Einseitiges, (um nichts schärferes zu sagen) erfahren und jetzt zu Weihnachten als ,Gruß der Heimatkirche' neben einer völlig nichtssagenden Neujahrsansprache des ,Außenbischofs' ausgerechnet einen Vortrag von Walther Frank 54 über ,Historie und Leben' bekommen. So etwas müssen wir, von den persönlichen schweren Bedenken gegen H[eckel] ganz abgesehen, natürlich als Kirchenleitung ablehnen und werden uns darum strikt weigern, die Zahlung versprochener Gelder von Gemeindeberichten an das Außenamt abhängig machen zu lassen." 55 Hildebrandt steuerte „zur Erheiterung" einen seiner Briefe im Luther-Stil bei: „Das sollt yhm wol recht seyn / dem schalck und buben / das er aller muller und kerrle bischof heyssen wolt / schweyget und luget / vor aller wellt / um unser arme / verfolgt / gefangen / bruder / und rufet fride / fride / da doch keyn fride ist / womit er klerlich zeuget / das er warlich unter des teuffels propheten gehöret [ . . . ] / Gebe Gott / wyr haben bald eyn eygen ausen ampt / eh der jungist tag kumpt / denn es rasen itzt fast toll / die hellsehen fursten." 56 Im Januar 1938 wurde d e m Außenamt Hildebrandts Anwesenheit in L o n d o n denunziert 5 ^ woraufhin Krummacher Erkundigungen zur Person Hilde-
Legationsrat von Twardowski vom Auswärtigen A m t vom 8.11.1937 deutlich, in dem er im voraus den Eindruck korrigieren möchte, „als ob sämtliche dt. Auslandsgemeinden in England kirchenpolitisch einseitig gebunden wären", und den Bericht des Gemeindeboten als „kirchenpolitische Stimmungsmache" denunziert (EBD.). Erst auf dieses vorauseilende Dementi hin forderte das Auswärtige Amt an 26.3.1938 einen Bericht der deutschen Botschaft London und des Landesgruppenleiters Kariowa an ( E Z A BERLIN, 5/1312). Zu den im Krieg noch viel weitergehenden GestapoHilfsdiensten des Außenamts vgl. auch A. BOYENS, Kirchenkampf und Ökumene, Bd. 2, S. 47 f. u.ö. 53 Heckel an Rieger, 15.12.1937 ( E Z A BERLIN, 5/1311 ; Abschriften des gesamten Vorgangs in LKAEKvW BIELEFELD, 5,1/773,1); vgl. auch G . NIEMÖLLER, Gemeinden, S. 142. 54 Frank war seit April 1936 Präsident des neuerrichteten „Reichsinstituts für Geschichte des Neuen Deutschlands". 55 Rieger an Koch, 22.12.1937 (TH LONDON, TH/8662/43); vgl. auch G . NIEMÖLLER, Gemeinden, S. 141. Es ist nicht ganz klar, ob Rieger diesen Brief abgesandt hat, denn am 29.12.1937 schrieb er einen Brief ganz ähnlichen Inhalts an Koch (LKAEKvW BIELEFELD, 5,1/773,1). 56
L K A E K v W BIELEFELD, 5,1/262,1 ( A b s c h r i f t ) .
57
V e r m e r k K r u m m a c h e r s , 2 0 . 1 . 1 9 3 8 ( E Z A BERLIN, 5/1312).
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London: 1937/1938
brandts beim Berliner Konsistorium einholte 58 . Die Antwort des Konsistoriums auf diese Anfrage läßt durchaus das Bemühen spüren, Hildebrandt ein gutes Zeugnis auszustellen59. Neben der Feststellung, er sei „nicht-arisch (zu wieviel Teilen ließ sich nicht feststellen)" wurde hervorgehoben, er habe sich „vorzüglich bewährt" 60 . Das Kirchliche Außenamt wurde daran erinnert, daß es Hildebrandt bereits einmal in die Liste der Bewerber um eine Auslandspfarrstelle aufgenommen hatte61. Uber die Zeit nach Ablauf der „Weisungszeit" hieß es weiter: „Als ihm am 1 8 . 1 1 . 1 9 3 3 nach Ablauf des Hilfsdienstjahres von uns das Zeugnis über die 2. theol. Prüfung zugestellt wurde, sind die im Anschreiben sonst üblichen Worte ,Wir begrüßen Sie als künftigen Diener am Wort' durch die H a n d des die Vfg [Verfügung] abschließend zeichnenden H [ e r r n ] Bischof D . Karow abgeändert worden in: ,Wir sprechen Ihnen den herzlichen W u n s c h aus, daß der H e r r der Kirche Ihnen Wollen und Vollbringen segnen möge zur Ehre seines N a m e n s . ' Schon hieraus mußte Hildebrandt erkennen, daß er nicht beschäftigt werden sollte, was ihm vermutlich auch mündlich ausdrücklich gesagt worden sein wird. (So ist jedenfalls im Falle G o r d o n 6 2 verfahren worden.) Wir möchten annehmen, daß die mündliche Eröffnung durch H . Bischof D . Karow erfolgte. Hildebrandt hat daraufhin bei der ,Bekenntniskirche' ein Wirkungsfeld gesucht und auch gefunden, bis er vor nicht allzu langer Zeit nach L o n d o n gegangen ist. Näheres darüber wissen wir nicht."
Gleichzeitig mußte das Konsistorium auch gegenüber dem Reichskirchenministerium zur Person Hildebrandts Stellung nehmen. Auf einer Liste, mit der interessierte Kreise, vermutlich aus der Partei oder den Deutschen Christen, dem Ministerium mitgeteilt hatten, daß einige „im Amt befindliche Geistliche nichtarisch oder nichtarisch versippt" seien, und zwar sechs „Volljuden", 28 „Jüdischer Abstammung" und 15 „Jüdisch versippt", stand unter Nummer 20 bei „Jüdischer Abstammung": ,,Hildebrand[t] Lic. Εν. Pfr. in Berlin-Schmargendorf." 63 Das Konsistorium zögerte die Antwort trotz mehrerer Erinnerungen ein Dreivierteljahr heraus und bemühte sich abzuwiegeln. Das Antwortschreiben von Konsistorialrat Walter Siebert liest sich wie ein Musterbeispiel behördlicher Diplomatie und läßt zwischen den Zeilen die Abneigung gegen den Auftrag des Erlasses zur Nachprüfung erkennen. Es begründet die Verzögerung mit dem Hinweis darauf, daß „ohne ahnengeschichtliche und sippenkundliche Unterlagen der Grad der Abstammung nicht ermittelt werden kann." Zu Hildebrandt ist zu lesen: „Lic. 58 Vgl. die Antwort des Konsistoriums (PA, Entwurf), die der EOK am 31.3.1938 an das Kirchliche Außenamt weiterleitete (EZA BERLIN, 5/1312). 59 Das wird besonders in den handschriftlichen Ergänzungen des Konzeptes deutlich (PA). 60 Der Bericht zitiert dazu aus den Zeugnissen von Diestel und Fendt (vgl. oben S. 33 und 61). 61 Vgl. dazu oben S. 49. 62 Ernst (Ernest) Gordon (vgl. auch dessen eigene Schilderung: E. GORDON, Liberty, S. 47). 63
Reichskirchenministerium an E O K , 2 9 . 7 1 9 3 7 ( E Z A B E R L I N , 7 / 1 9 5 2 ) .
Hilfsprediger an St. Georg
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Hildebrand[t] ist nicht Pfarrer, sondern Hilfsgeistlicher. Er befindet sich nicht mehr in Deutschland, sondern in England, ist also nicht ein im Amt befindlicher Geistlicher." 64 Im Kirchlichen Außenamt nahm der Referent den Bericht des Konsistoriums zur Person Hildebrandts, der ihm auf dem Dienstweg über den Evangelischen Oberkirchenrat ausgerechnet durch Hildebrandts Konfirmator D. Freitag übermittelt wurde, zur Kenntnis. Zudem teilte ein Londoner Amtsbruder - es war der Pfarrer der Christuskirche, Fritz Wehrhan, der im November 1934 geäußert hatte, „niemals mehr mit Bischof Heckel zu verhandeln" 65 - dem Außenamt mit: „Die Anwesenheit von Bruder Hildebrand[t] hier in London scheint doch einige Schwierigkeiten veranlassen zu wollen, und ich fürchte, daß ein Zwiespalt in unsere Gemeinden hineinkommen kann, der bisher nicht bestanden hat, und der von verheerender "Wirkung sein könnte." 66 Als Ergebnis der Denunziation wurde Rieger, der am 13. Mai 1938 im Kirchlichen Außenamt vorsprach, um die Orgelbeihilfe einzufordern, neben dem Verlauf der Jubiläumsfeierlichkeiten der „Fall Hildebrandt" als ein weiterer Vorgang vorgehalten, für den das Außenamt „unmöglich Deckung [...] übernehmen" könne 6 ? Das Außenamt bezog sich dabei rechtlich auf „mangelnde amtliche Unterrichtung", nicht auf die Vorgänge selbst. Das Grundübel der Argumentation des Außenamtes liegt darin, so scheint es, daß es einerseits von Rieger verlangte, das Kirchliche Außenamt nicht nur als Finanzstelle zu behandeln 68 , andererseits aber offensichtlich aus taktisch-kirchenpolitischen Gründen nicht bereit war, die erwünschte Wegweisung, etwa in der „Nichtarier"-Frage, zu geben. Hildebrandt mußte so erleben, daß seine „Person der Anlaß einer dauernden Hetze gegen Rieger" wurde, wogegen er sich in einem Brief vom 22. April 1938 an den Bankier Baron Bruno von Schröder, den ehrwürdigen Vorsitzenden des Gemeindeverbandes, zur Wehr setzte 69 . Zur selben Zeit wurde in Hull dem der Bekennenden Kirche zuneigenden Pastor Fridtjof Carstensen, der dort Seemannspastor geworden war, um einer Verfolgung in Deutschland zu entgehen, von nationalsozialistisch gesonnenen Gemeindegliedern sogar ein Sittlichkeitsverbrechen angelastet, um ihn aus dem
64
Konsistorium an E O K , 3 1 . 5 . 1 9 3 8 ( E Z A BERLIN, 7 / 1 9 5 2 ) .
65
D B W 13, S. 2 4 7 sowie Wehrhan an Rößler, 2 1 . 1 1 . 1 9 3 4 ( T H LONDON, T H / 8 6 6 2 / 4 0 ) .
Wehrhahn an Kirchliches Außenamt, 274.1938 (EZA BERLIN, 5/1312). « Vermerk, 16.5.1938 (EZA BERLIN, 5/1312). 66
Ω Heckel an Rieger, 1 5 . 1 2 . 1 9 3 7 ( E Z A BERLIN, 5/1311). 69
TH
LONDON, T H / 8 6 6 2 / 3 6 4 (vgl. NACHLASS BONHOEFFER, S. 163; Abschrift im N L
RIEGER, BERLIN). Vgl. auch Schröders Antwort (ADBK LONDON, 160), in der er um „Friede und Harmonie zwischen den Pfarrern" bittet.
136
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Amt zu treiben70. In diesem Zusammenhang bekam Rieger zu hören, er sei als nächster „dran", „dieser unmögliche Mensch, der einen Emigranten bei sich wohnen hat"71. Zunächst konnte sich Rieger erfolgreich gegen die Denunziation wehren, indem er das „Komitee für Deutsche Ev. Stadt- und Seemannsmission" für den 25. April 1938 zusammenrief, ihm offiziell mitteilte, daß „der Pastor Lic. theol. Franz Hildebrandt aus Berlin, der von der Leitung der Bekennenden Kirche offiziell mit einem kirchlichen Auftrag versehen ist", bei ihm wohne, und das Komitee bat, ihm das Vertrauen auszusprechen72. Das Komitee stellte jedoch seinen Antrag zurück und beschloß: „Sein Anlaß wird den beteiligten Pastoren zur Erledigung überwiesen."73 Der eine der beiden beteiligten Pastoren, Wehrhan, nahm diesen Beschluß zum Anlaß, zwei Tage später mit dem oben erwähnten Schreiben nun das Kirchliche Außenamt um Unterstützung gegen Rieger und Hildebrandt anzurufen74, und wagte doch zugleich, Rieger zu versichern: „Ich habe niemals die Absicht gehabt, Ihnen auf Grund der Anwesenheit von Bruder Hildebrandft] Schaden zuzufügen, geschweige denn etwas dazu getan zu haben. Uberhaupt ist mir nicht klar, auf welche Weise und bei wem ich Ihnen auf Grund der Anwesenheit von Bruder Hildebrand[t] hätte Schaden zufügen sollen!" Die der NSDAP verbundenen Londoner Pastoren wurden nicht müde, dem Außenamt klar zu machen, „Pfarrer Dr. Rieger lasse in seinem Verhalten in der Angelegenheit die von einem deutschen Auslandspfarrer gebotene Rücksicht auf die öffentliche Lage in England durchaus vermissen". Sie sahen das öffentliche Engagement von Rieger und Hildebrandt für die „Nichtarier" und für die Bekennende Kirche als ein „Hineintragen des Kirchenstreites" in die Londoner Verhältnisse an, was es um jeden Preis zu vermeiden gelte75. Vermutlich hielten diese Pastoren es für eine patriotische Pflicht, den Refugees jede Form von Fürsorge zu verweigern. Der Ortsgruppenleiter der NSDAP London, Kariowa, beschrieb Rieger dem Kirchlichen Außenamt gegenüber als „Fanatiker", der nur daraufwarte, „zum Märtyrer gemacht zu werden"76. Anlaß seines Berichtes war ein Auf70
Vgl. die umfangreiche Korrespondenz dazu (ADBK LONDON, 299; teilweise auch in den
A k t e n d e s G e n e r a l k o m i t e e s , z . Z t . SAMMLUNG FREESE, BREMEN). 71 Vermerk Riegers zur Sitzung am 25.4.1938 (TH LONDON, TH/8662/364). Die Äußerung hatte Wehrhan am 6.1.1938 gegenüber Carstensen gemacht, so die Bestätigung Carstensens in ei-
n e m Brief an Rieger, 2 5 . 4 . 1 9 3 8 ( N L RIEGER, BERLIN). 72
73
EBD.
P r o t o k o l l d e r K o m i t e e - S i t z u n g v o m 2 5 . 4 . 1 9 3 8 (SAMMLUNG FREESE, BREMEN). ES f o l g t e n
Briefe Riegers an Wehrhan, 26.4.1938, und Wehrhan an Rieger, 11.5.1938 (NL RIEGER, BERLIN). 74
W e h r h a n an Kirchliches A u ß e n a m t , 2 7 4 . 1 9 3 8 ( E Z A BERLIN, 5/1312).
75
Vermerk Krummachers über eine Unterredung mit Wehrhan und Garcke, 19.5.1938 (EZA
BERLIN, 5/1312). 76
Bericht Kariowas, 14.71938 (EZA BERLIN, 5/1312).
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tritt Riegers und Hildebrandts in der methodistischen Westminster Central Hall am 8. Mai 1938, über den der „Methodist Recorder" berichtete: „On Sunday Dr. Julius Rieger (Berlin) and the Rev. Franz Hildebrand[t] (a colleague of Dr Niemöller) spoke to a deeply interested audience, and afterwards many Westminster students and other friends signed an affectionate message which Mr. Hart is sending to Dr Niemöller's wife." 77 Das Kirchliche Außenamt konnte jedoch gegen Rieger direkt kaum etwas unternehmen, weil dieser standhaft blieb und auch durch seinen Kirchenvorstand gedeckt wurde. Als Heckel Mitte Mai 1938 in einem Gespräch in Berlin Rieger drohte, sagte dieser nach Hildebrandts Erinnerung ihm ins Gesicht, daß er kein Bischof, sondern ein Agent der NS-Weltanschauung sei78. Schließlich wurde Rieger - vermutlich durch Initiative des Kirchlichen Außenamtes - über die Seemannsmission, die einen Teil seines Gehalts trug, unter Druck gesetzt. Nach einer Unterredung „in freundschaftlicher Weise"79 in Den Haag, bei der Rieger versichern mußte, daß sich Hildebrandt „in der Arbeit der Seemannsmission in London niemals betätigt" habe und „mit Sicherheit [...] zu Beginn des Winter-Term ein Amt in der englischen Kirche übernimmt und damit das Haus von Dr. Rieger verläßt"80, teilte ihm Konteradmiral von Restorff, der Vorsitzende des Zweckverbandes der Deutschen Evangelischen Seemannsmission, folgende Wünsche mit: „ l . ) D i e Lage in L o n d o n würde sicherlich schnell entspannt werden, wenn Herr Lic. Hildebrandt noch bevor er seine wissenschaftlichen Aufgaben in England übernimmt, bei einer befreundeten Familie in L o n d o n ein gastfreies Quartier finden oder Ihr H a u s verlassen würde. 2.) Wir möchten auch empfehlen, Herrn Lic. Hildebrandt in den nächsten Wochen nicht mit der Predigt-Vertretung in Ihrer Gemeinde zu beauftragen. Die Spannung, die gerade dadurch in gewissen Kreisen entstanden ist, ist durchaus noch nicht gelöst." 8 1
Nachdem Rieger zunächst nicht reagierte, wurde die Seemannsmission deutlicher und benannte auch den Hintergrund: Der Geschäftsführer des Berliner Komitees, D. Gerhard Füllkrug, befürchtete nämlich einen „Vorstoß" gegen Rieger von Seiten der NSDAP und des Reichskirchenministeriums bei der bevorstehenden Neubewilligung der staatlichen Zuschüsse für 77 78
„Methodist Recorder", 12.5.1938 (Ausschnitt im EZA BERLIN, 5/1312). Vgl. Vermerk Krummachers über das Gespräch Heckeis mit Rieger am 16.5.1938 in Berlin
(EZA
B E R L I N , 5/1312), H i l d e b r a n d t a n S t r a t e n w e r t h , 4 . 9 . 1 9 5 7 ( N L H , 9 2 5 1 / 2 2 ) , a u c h
an
Bethge, 5. 7 1974 (SAMMLUNG BETHGE, WACHTBERG), sowie im Interview mit Mary Glazener: „Heckel threatened Rieger, who just told him that he was a Nazi-Agent - Heckel was reduced to shambles and nothing happened" (NLH, 9415/2, S. 46). 79 „Besprechung im Hotel Terminus in den Haag am Montag, den 11. Juli 1938 Abends" (Protokoll E Z A B E R L I N , 5 / 1 3 1 2 ; a u c h A D W B E R L I N , S M I 9 7 B d . 4 ) .
s» Ebd. 81
Von Restorff an Rieger, 30.71938 (ADW BERLIN, S M I 97 B d . 4).
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L o n d o n : 1937/1938
die Seemannsmission: „Hier bestehen Gefahren, Momente, die Sie wohl noch nicht übersehen, die aber uns mit größter Sorge erfüllen." Die Seemannsmission wolle bei der anstehenden Sitzung „mit reinem Gewissen, auf Grund Ihres Berichtes sagen können, daß der Anstoß aus dem Wege geräumt ist" 82 . Rieger verlangte im Gegenzug, die „Anklagepunkte" gegen Hildebrandt mitgeteilt zu bekommen, und schloß: „Angenommen, ich würde Ihre restlichen Anfragen (etwa, wer auf der Kanzel der deutschen Georgskirche gepredigt hat, predigt oder predigen wird) zu Ihrer vollen Zufriedenheit ,klar' beantworten und ,der Anstoß wäre somit aus dem Weg geräumt', würden Sie dann, lieber Herr Doktor Füllkrug, oder die anderen Herren der SeemannsTwziMOH, oder ich selbst wirklich ein Recht haben, uns unseres reinen Gewissens zu rühmen, von dem Sie schreiben?" 83
Sichtlich getroffen vermerkte Füllkrug erbost am Rande des Schreibens von Rieger: „Ein reines Gewissen haben wir jetzt insofern, als wir versucht haben, Sie gütlich zu veranlassen, daß Herr P. Hildebrandt Ihr Haus verläßt u. sich in der englischen Kirche ein Amt zu suchen [sie!]. Dieser Versuch ist gescheitert u. P. Rieger muß die Konsequenzen tragen." 84 Auch hier hatte die - ja nicht unbegründete - Sorge um das Wohlwollen der staatlichen Stellen jede Unterstützung Riegers und Hildebrandts verhindert. Auch der Verweis Riegers auf Hildebrandts Auftrag durch die Vorläufige Leitung wurde ignoriert und der Bekennenden Kirche jede kirchenregimentliche Tätigkeit abgesprochen: „Die Seem[anns]M[ission] geht diese vorläufige Leitung gar nichts an!" 8 5 Rieger hatte sich auch an die Vorläufige Kirchenleitung mit der Bitte um Hilfe gewandt, woraufhin deren Okumenebeauftragter Hans Böhm ihm zusicherte: „Den Fall Hildebrandt habe ich mit dem entsprechenden Material an Pastor [Fritz] Müller weitergegeben, der sich Herrn Präsident Krenzlin kaufen will, der ja in der Leitung der Seemannsmission sitzt" 86 . Ob dieser Vorstoß Böhms allerdings irgendeinen Erfolg hatte, ließ sich nicht mehr zu ermitteln. Das Verhalten der Seemannsmission in diesem Fall zeigt besonders deutlich, wie sich die Arbeit der verschiedenen Zweige der Inneren Mission in' diesen Jahren „zwischen vorsorgender Anpassung und verhaltenem Widerspruch an pragmatischen Kriterien orientierte"8? Das galt auch, wenn die Füllkrag an Rieger, 25.10.1938 (EBD.). Rieger an Füllkrug, 31.10.1938 ( E B D . ; Hervorhebung von Rieger). 84 Ebd. « Ebd. 86 B ö h m an Rieger, 18.10.1938 ( E Z A BERLIN, 50/550). - Krenzlin, „Oberlandeskulturamtspräsident i . R . " , war seit 1934 Mitglied des Rechtsausschusses des altpreußischen Bruderrates, gleichzeitig aber auch stellvertretender Vorsitzender des Berliner „Komitees für Deutsche Evangelische Seemannsmission e.V. (Deutsche Evangelische Seemannshülfe)". 82
83
87
J . - C . KAISER, Sozialer Protestantismus, S. 456.
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„pragmatischen Kriterien" wie in diesem Fall (wo die Vorhaltungen aus Parteikreisen finanzielle Einbußen befürchten ließen) ein Handeln nach ethischen und bekenntisverpflichteten Kriterien geradezu unmöglich machten und die Seemannsmission zum Komplizen nationalsozialistischer Rassendiskriminierung werden ließen. Besonders eifrig und weitgehend in der Unterstützung der Partei, dazu ein Hauptagitator der „gewissen Kreise", von denen im Brief der Seemannsmission an Rieger die Rede ist, war der Pastor der Hamburger Lutherischen Kirche in London-Dalston, Gustav Schönberger. Als „Frontkämpfer" des Ersten Weltkrieges sah er in der NSDAP eine Bewegung, „die nicht Partei sein wollte, die ein Programm brachte, das eine sittliche und religiöse Grundlage hatte", und für sich selbst sah er „die Notwendigkeit um der Kirche Christi willen und um der Volksgemeinschaft willen, in die uns Gott gestellt hat", in der Partei mitzuarbeiten88. Neben seiner Tätigkeit als „Kulturwart" der Londoner Gruppe der NSDAP, in der seine Gemeinde eine eigene „Zelle" bildete89, versuchte er immer wieder, die Londoner Kirchengemeinden im Sinne der NSDAP zu beeinflussen, nachdem er zunächst ganz auf seiten Bonhoeffers gegen die Reichskirche gestanden hatte90. Er veranlaßte das englische Generalkomitee der Seemannsmission zu einer „Reihe von politischen Zuwahlen" und verlangte in Berlin das gleiche auch von den anderen Seemannsmissionen im Ausland91. Als Schönberger 1947 im Rahmen der „Entnazifizierung" vor einem Spruchkammerverfahren stand, hat Hildebrandt in einer Niederschrift92 die ihn betreffenden Vorfälle festgehalten: Den Schwestern des Deutschen Hospitals, die in St. Georg einen von Hildebrandt gehaltenen Gottesdienst besuchten, hielt Schönberger vor, sie seien bei einem Juden zum Abendmahl gewesen. Nachdem er Hildebrandt nach einem Vortrag über die Lage des Kirchenkampfes androhte: „Das müßte ich eigentlich melden", kam es am Heiligen Abend 1937 zu einer erregten Auseinandersetzung im Deutschen Hospital, als Hildebrandt sich weigerte, Schönberger als einem Spitzel die Hand zu geben, und ihm sein Ordinationsgelöbnis vorhielt, worauf dieser sich auf seinen Partei-Eid als Amtswalter berief. Seinem eigenen Kirchenvorstand wollte Schönberger im Juli 1939 noch eine neue Verfassung mit „Führerprinzip" aufdrücken93. Am 24. August 1939 verließ er, wohlinformiert über den bevorstehenden Kriegsbeginn und vermutlich schon seit Februar mit einer Stelle in der Wehrmachtsseelsorge ausgestattet, 88 Schönberger an Baronin und Baron von Schröder, 31.12.1933 (ADBK LONDON, 396); vgl. auch DB, S. 386f. (dort anonymisiert). 89 Vgl. Bonhoeffer an Winterhager, wohl 25.4.1934 (DBW 13, S. 147). 90 Vgl. DB, S. 387, 468. 91
V e r m e r k H e c k e i s , 2 2 . 2 . 1 9 3 9 ( E Z A BERLIN, 5/141).
92
Niederschrift vom 12.8.1947 (NLH, 9251/24). Weiteres Material, u. a. eine Verteidigungsschrift Schönbergers, findet sich im NL RIEGER, BERLIN. 93
V g l . F E S T S C H R I F T : H A M B U R G E R L U T H E R I S C H E K I R C H E , S. 41.
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London: 1937/1938
seine Londoner Wirkungsstätte 94 , nicht ohne zuvor noch Geheimmaterial aus der deutschen Botschaft in seinem Haus zu vernichten. Seit der Ausweisung des NSDAP-Ortsgruppenleiters Kariowa im Mai 1939 war Schönberger, so stellte Hildebrandt 1947 abschließend fest, „faktisch der leitende Mann in der Londoner Ortsgruppe der NSDAP und hat dem Ruf und Ansehen des deutschen Pfarramtes in der englischen Öffentlichkeit ungeheuer geschadet" 95 . In der Tat haben nicht nur Schönberger, sondern auch ein beträchtlicher Teil der deutschen Pfarrer in England ihre nationalen Gefühle höher gestellt als ihre Verpflichtung zur Solidarität mit den Refugees. Diese schmerzliche Erfahrung mußte auch Hildebrandt machen.
6.3. Ein Nachspiel Wie wenig die während der Zeit des „Dritten Reiches" im Kirchlichen Außenamt verantwortlichen Personen später die Problematik ihres damaligen Handelns erkannten, zeigte sich, als 1957 in der dritten Auflage von „Die Religion in Geschichte und Gegenwart" der von Gerhard Stratenwerth verfaßte Artikel „Auslandsgemeinden" erschien. Darin war unter anderem zu lesen: „Die Leitung des ,Kirchlichen Amtes für auswärtige Angelegenheiten bei der Deutschen Ev. Kirche (Kirchliches Außenamt)' versuchte die A[uslandsgemeinden] den in Deutschland geforderten Entscheidungen fern zu halten, um Konflikte mit der NSDAP und der Auslandsorganisation zu vermeiden, ohne andererseits die Deutschen Christen zu fördern. Wo aber in einer Afuslandsgemeinde] die Bindung an das Evangelium stärker war als die Bindung an das Deutschtum, entstanden notwendig Konflikte mit dem heimatlichen Außenamt (Aufnahme christlicher Emigranten!)." 9 6
Diese eigentlich sehr zurückhaltende Schilderung provozierte den erbitterten Protest der Betroffenen. Krummacher, nach Kriegsdienst, sowjetischer Gefangenschaft und einer prominenten Rolle im „Nationalkomitee Freies Deutschland" inzwischen pommerscher Bischof, verwahrte sich am 21. Juni 1957 in einem Brief an den zuständigen Herausgeber, Heinz-Horst Schrey, dagegen, der Neutralität geziehen zu werden. Besonders die Darstellung des Themas „Emigranten" sei ein „empörender Punkt einer sachlich unzutreffenden Berichterstattung in einem wissenschaftlichen Werk" 9 ? Stratenwerth, damals Vizepräsident des Kirchlichen Außenamtes, ließ daraufhin eine Do-
94
E B D . , vgl. auch d e n V e r m e r k H e c k e i s , 2 2 . 2 . 1 9 3 9 ( E Z A B E R L I N , 5/141, 2 5 3 ) . D e m V e r -
merk ist anzumerken, daß Schönberger mit seiner Parteinähe selbst für Heckel offenbar zu weit ging. 95 Vgl. oben Anm. 92. 96 G. STRATENWERTH, Auslandsgemeinden, Sp. 766. 97 Ν LH, 9251/24; Abschrift.
Ein Nachspiel
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kumentation anfertigen, die weitgehend auf die Aktenstücke aus Riegers Londoner Gemeindearchiven zurückgriff98, und hielt dagegen: „Ich vermag mir das Schreiben von Bischof Krummacher nur so verständlich zu machen, daß in seiner Erinnerung die Auseinandersetzungen mit der Partei, dem Auswärtigen Amt und auch der Gestapo, die Erinnerung an die Konzessionen - oft vielleicht sehr schmerzliche Konzessionen - , die gemacht werden mußten, u m die gewählte Linie durchzuhalten, verblaßt oder verschwunden sind" 99 .
Beschämendstes Beispiel für diese Konzessionen sei der Umgang mit dem Problem der Emigranten. Stratenwerth stellte fest, daß das Kirchliche Außenamt konsequent vermieden habe, sich dieses Themas anzunehmen. Man habe sich in keiner Weise bekennend festgelegt, „stattdessen wird an der Fiktion festgehalten, es handele sich nur um ,Gruppen', denen gegenüber die Auslandspfarrer und -gemeinden, unbeschadet ihrer persönlichen Stellungnahme, die ausdrücklich freigegeben wird, Zurückhaltung üben sollen."100 Heckel als ehemaliger Leiter des Außenamtes hingegen wählte den publizistischen Weg, um eine „notwendige Korrektur am Geschichtsbild der evang. Auslandsdiaspora" anzubringen101. Nach einigen gelehrten Anmerkungen zur mangelnden geschichtlichen Basis des Stratenwerth-Artikels, „der eines der großartigsten aber auch schicksalsschwersten Kapitel der evang. Kirche und Kirchengeschichte behandelt"102, kritisierte Heckel die Darstellung der Jahre 1933 bis 1945, die er schlichtweg als „bizarr"103 bezeichnete. Er beteuerte sodann, „Gleichschaltungsversuche, die von der Auslandsorganisation [der NSDAP] kamen, energisch abgewehrt" zu haben, und betonte das Bemühen des Außenamtes um „Vertiefung der theologischen, predigtmäßigen und katechetischen Arbeit". In Bezug auf die Emigranten fragte er: „Woher sollte denn das Kirchliche Außenamt hier eine Kontrolle haben, wer kam und wer nicht kam? Wo ist denn ein Verbot des Kirchlichen Außenamtes in dieser Frage ergangen?"104 Diese Fragen waren nun allerdings durchaus nicht so rhetorisch, wie Heckel wohl meinte. Es gab damals schließlich noch Personen, die sich sehr wohl an restriktive Maßnahmen des Außenamtes erinnerten, auch wenn Heckel geradezu als Alibi anführte, „in Kairo z.B. wurde mit meinem Wissen eine Jüdin getauft"105.
98
Nach Stratenwerths eigener Aussage in seinem Schreiben an Schrey, 1.10.1957 (ZEKHN
DARMSTADT 3 5 / 4 7 ; A b s c h r i f t ) . 99
EBD., S. 11. Ι » EBD., S. 7 101
T. HECKEL, Korrektur.
102
EBD., S. 25. EBD., S. 24.
103 104
EBD., S. 25.
105
Ebd.
142
London: 1937/1938
Als einer der noch lebenden Zeugen wurde Hildebrandt von Stratenwerth um eine Stellungnahme gebeten106. Er attestierte Stratenwerth, in seinem Artikel bezüglich der Rolle Heckeis eher noch „zu zahm und zu schweigsam"107 gewesen zu sein: „An dem Faktum, daß Heckeis Außenamt Rieger und seiner Gemeinde meinethalber die Hölle heiß zu machen versuchte, kann nicht der leiseste Zweifel bestehen. [...] Heckel erklärte ihm [Rieger] in der Jebensstraße im Mai 1938: ,Ihr Fall ist der größte Skandal in den Auslandsgemeinden'." 108 Das Außenamt habe mitnichten, wie Krummacher behauptete, „einen einzigen Kampf gegen den Reichsbischof und gegen die deutsch-christliche Überfremdung der Kirche"109 geführt; „diese ganze Gruppe hat doch noch immer erst an ihr geliebtes ,Volkstum' und dann an das Evangelium gedacht. To hell with the whole crowd!" Was Hildebrandt an der Haltung Heckeis (und anderer) so verbitterte, war, daß dieser „theologisch so gut orientiert und charakterlich so miserabel war" 110 : „Einen überzeugten Nazi kann man ja zur Not verstehen; aber das Kaliber von Hyperintellektuellen, die es besser wissen mußten und den Nazismus respektabel machten, um ihre Carriere zu machen oder zu retten - genau wie Papen auf dem politischen Gebiet - ist tausendmal schlimmer und muß mit allen Kräften denunziert werden."111
Gerade derartige Erfahrungen der Unbußfertigkeit, wie er sie an der Person Heckeis erlebte, waren es, die Hildebrandt nach dem Ende des Krieges immer wieder vor einer Rückkehr nach Deutschland zurückschrecken ließen112.
6.4. „ Übersetzertätigkeit für die Bekennende Kirche " „Schreibe doch mal was über deine Pläne", bat Bonhoeffer Hildebrandt im Oktober 1937113. In der Folgezeit wurde nicht zuletzt wegen der ständigen Angriffe gegen Rieger die Aufgabe immer dringlicher, für Hildebrandt einen gesicherten Posten zu finden. Der Versuch, ein Amt in Großbritannien zu 106
Von Stratenwerth, 26.71957 ( N L H , 9251/24). An Stratenwerth, 4.9.1957 ( N L H , 9251/22). 108 EBD., vgl. auch G. NIEMÖLLER, Gemeinden, S. 134. Niemöllers Aufsatz diente nicht zuletzt dem Ziel der offiziösen Widerlegung der Behauptungen Krummachers und Heckeis. 109 So Krummacher in seinem Brief an Schrey, 21.6.1957 (NLH, 9251/24; Abschrift). 107
110
m
A n Bethge, 1.5.1958 (SAMMLUNG BETHGE,
WACHTBERG).
An Bethge, 5.71974 (EBD.); vgl. auch im Interview mit Mary Glazener: „These people I hate, because they knew and made the regime respectable" (NLH, 9415/2, S. 46). 112 Vgl. an Bethge, 17 2.1958: „Mit der Kirche, in der solche Leute ungeschoren in Amt und Würden bleiben, kann man ja doch nichts mehr zu tun haben" (SAMMLUNG BETHGE, WACHTBERG). 113 DBW 14, S. 300.
,Übersetzertätigkeit für die Bekennende Kirche"
143
erhalten, gestaltete sich jedoch mehr als schwierig. Im Mai 1938 versuchte Otto Dibelius mit einem sehr wohlwollenden Empfehlungsschreiben, Hildebrandt den Weg zu einer englische Dozentur zu bahnen. Er wies darauf hin, wie wertvoll der Dienst eines jungen Theologen sein könnte, „den die deutsche theologische Wissenschaft ganz zu den Ihren rechnet und der in England äußere und innnere Freiheit hätte, den Beitrag der deutschen Theologie für die ökumenische Arbeit zu leisten. [...] Wäre der Umschwung 1933 nicht gekommen, würde er heute an einer deutschen theologischen Fakultät als Dozent oder als Professor wirken, und zwar sicherlich mit größtem Erfolg." 114 Dibelius verwies dann darauf, daß aufgrund der Verhältnisse „die Kenntnis englischer theologischer Literatur in Deutschland außerordentlich zurückgehen wird", weshalb eine Ubersetzertätigkeit nötiger denn je sein und eine Vorlesungstätigkeit von der Bekennenden Kirche dankbar begrüßt würde: „Unter allen Theologen, die in den letzten Jahren Deutschland verlassen haben, wird keiner von so viel Vertrauen und Liebe getragen wie Lic. Hildebrandt." 115 Bischof Bell ließ, angeregt durch eine Bitte Riegers116, eine englische Ubersetzung dieser Empfehlung unter seinem eigenen Namen verbreiten117 und verschaffte Hildebrandt ein Stipendium von £ 50. Beils Bemühungen, ihn als „lecturer in Lutheran theology" in Cambridge unterzubringen, war jedoch kein Erfolg beschieden118. Gleichzeitig versuchte Böhm von Berlin aus über Nathaniel Micklem, den kongregationalistischen Principal des Mansfield College in Oxford, Hildebrandt dort eine Stelle zu vermitteln unter Hinweis darauf, daß er in London „von den Parteikreisen ebenso wie zum Teil von seinen deutschen Amtsbrüdern auf das Stärkste angefochten" werde: „Pastor Rieger hat sich seiner angenommen und hält ihn mühsam über Wasser."119 Aber selbst solche Empfehlungen waren für das englische Universitätssystem, das für Fremde noch sehr schwer zugänglich war, so gut wie wertlos. Die Entstehungsgeschichte dieses Schreibens (TH LONDON, TH/8662/43) ist ungeklärt. Ebd. 116 Rieger an Bell, 28.2.1938 ( L P L LONDON, Bell Papers 9). In diesem Brief regte Rieger auch an, Hildebrandt zum „Repräsentanten" der BK bei der Ökumene zu machen. 117 „Pastor Hildebrandt", Exemplar mit Korrekturen in den Buxton Papers (LPL LONDON, MS 114
115
2654); weitere Exemplare: L P L
L O N D O N , Bell P a p e r s 9 ; B O D L E I A N
LIBRARY OXFORD,
MS
SPSL 500/3; E 2 A BERLIN, 51/H He 3.1. 118
V g l . Bell an W . A . A d a m s , 12.1.1938, u n d die f o l g e n d e K o r r e s p o n d e n z ( B O D L E I A N L I B R A R Y
OXFORD, M s S P S L 500/3). 119 Böhm an Micklem, 24.5.1938 ( E Z A BERLIN, 50/550); vgl. auch Micklems Antwort vom 22.1.1938: „I am not forgetful of our friend named after the great Pope & have written a number of letters" ( E Z A BERLIN, 50/550). Micklem bemühte sich zur selben Zeit (erfolglos) um eine Einladung für Dehn nach Oxford (BODLEIAN LIBRARY OXFORD, MS SPSL 357; 11.3.1938), sowie (erfolgreich) um ein Stipendium für Kramm. Zu Micklems Engagement im Kirchenkampf vgl. auch seine Autobiographie ( N . MICKLEM, The Box, S. 105-113).
144
L o n d o n : 1937/1938
Englischen Hilfsagenturen wie dem „Academic Asssistance Council" (1936 in die „Society for the Protection of Science and Learning", „SPSL" umgewandelt) gelang es nur ganz selten, Geisteswissenschaftler in englische Dozenturen zu vermitteln 120 , was sich eindrücklich schon einige Jahre vorher im Falle des Theologen Otto Piper gezeigt hatte121. Auch bei Hildebrandt sah sich die SPSL außerstande zu helfen, da die Mittel bei 2000 Antragstellern gerade noch für „emergency possibilities" ausreichten. Man empfahl Hildebrandt stattdessen, als „assistant pastor" zu arbeiten und erst später zur Forschung zurückzukehren 122 . Für Hildebrandts Onkel Georg Schlesinger hingegen gelang es der SPSL relativ leicht, eine Anstellung in einer Forschungseinrichtung in Großbritannien zu finden, da es genug industrielle Sponsoren für „the outstanding living authority in machine tool research" gab123. Zunächst also beschränkte sich Hildebrandts angestrebte theologische Ubersetzungstätigkeit für die Bekennende Kirche auf das Ubersetzen und Verbreiten von Dokumenten zum Kirchenkampf. Micklem hatte im April 1937 nach einem Vorschlag des schwedischen Gesandtschaftspfarrers in Berlin, Birger Forell, die Bekennende Kirche in Deutschland besucht. In Berlin hatte er an der Kirchlichen Hochschule Vorträge gehalten und an einer „illegalen" Ordination teilgenommen 124 . Bei seiner Rückreise nach England hatte er eine erstaunlich umfangreiche Sammlung an Druckschriften nationalsozialistischer Weltanschauung und zum Kirchenkampf im Gepäck 125 . Dazu brachte er auch die Idee mit, ein „ecumenical bureau of information" einzurichten, um die britische öffentliche Meinung umfassend zu informieren 126 . Dem Erzbischof von Canterbury legte er seine Uberzeugung dar, „that which will help them most will be the largest measure of recognition which we can give to them [...] chief safeguard against even severer persecution is English public opinion" 12 ? Doch eben diese „public opinion" verlor im gleichen Monat, als Hildebrandt Deutschland verließ, ihren Hauptinformanten aus Berlin. Am 20. August 1937 wurde dann auch Norman Ebbutt, seit 1926 Berliner Chefkor120 VGL ρ CARSTEN, E m i g r a n t e n , S. 142f. 121
Vgl. seine Akte bei der „Society for the Protection and Learning" (BODLEIAN LIBRARY OXFORD, MS SPSL 357). An weiteren Theologen sind dort Akten über Karl Barth (12.11.1934: „he would prefer to stay"), Günther Dehn (ihn ließ die SPSL nach Kriegsende sogar durch das UK Search Bureau aufspüren), Arnold Ehrhardt, Heinrich Hermelink, Hans Joachim Iwand und Herbert Neufeld erhalten. 122
A d a m s a n Bell, 2 6 . 7 1 9 3 8 ( B O D L E I A N LIBRARY O X F O R D , M s S P S L 5 0 0 / 3 ) .
123
Vgl. seine A k t e (BODLEIAN LIBRARY O X F O R D , M S S P S L 2 4 6 / 2 ) .
124
Vgl. Ν . MICKLEM, The Box, S. 105-107; A.-K. FINKE, Barth in Großbritannien, S. 159f. Die Sammlung, die in den folgenden Jahren noch ausgebaut wurde, befindet sich heute in der
125
BODLEIAN LIBRARY
OXFORD.
126
Vgl. M . D . HAMPSON, R e s p o n s e , S. 199.
127
Micklem an Lang, 174.1937 (LPL LONDON, Lang Papers 320).
.Übersetzertätigkeit für die Bekennende Kirche"
145
respondent der Londoner „Times", auf Betreiben der nationalsozialistischen Führung aus Deutschland ausgewiesen 128 . Seine Ausweisung beunruhigte vor allem die an Deutschland interessierten britischen Kirchenkreise tief, denn Ebbutt hatte durch seine exzellenten Artikel über den Kirchenkampf dafür gesorgt, daß die „Times" zu einer unverzichtbaren Informationsquelle für die Ökumene geworden war. Wahrscheinlich daraufhin begannen Rieger 129 und Hildebrandt damit, regelmäßig eine Art Informationsbulletin über den Stand des Kirchenkampfes herauszugeben 130 , das den Beziehern, einer kleinen Zahl führender englischer Okumeniker, die wichtigsten Dokumente und Stellungnahmen der Bekennenden Kirche, aber auch staatliche Verordnungen zur Kirchenfrage etc. in Ubersetzung zugänglich machte 131 . Auch wenn es stimmt, daß die Bekennende Kirche auf dem Feld der Öffentlichkeitsarbeit sonst beklagenswert wenig Engagement zeigte 132 und bisweilen durch peinliche Distanzierungen auffiel133, so ist dieser Informationsdienst nur umso höher einzuschätzen. Wenigstens zu einem kleinen Teil konnte Riegers und Hildebrandts Initiative den Ausfall der Berichte aus Berlin ausgleichen, denn die „Times" wurde in ihrer Deutschland-Berichterstattung nun sehr zurückhaltend, „curiously reserved", wie Bischof Bell im N o vember 1937 sorgenvoll notierte, während Propagandaminister Goebbels befriedigt in sein Tagebuch schrieb: „Die ,Times' sind jetzt erträglich." 134
Vgl. dazu M. HUTTNER, Britische Presse, S. 205ff. 129 Yg[ a b e r schon Joseph Oldhams Dankesschreiben an Rieger vom 11.6.1937 für die Ubersendung des Offenen Briefes von O . Dibelius an Minister Kerrl (TH LONDON, TH/8662/43; weitere frühe Ubersetzungen Riegers EBD., TH 8662/42). 128
130 Vgl. J . RIEGER, Bonhoeffer, S. 35. Dazu gehörte auch eine umfangreiche Sammlung von englischen Presseberichten über den Kirchenkampf, die von Hildebrandt angelegt und später von Rieger an W. Niemöller verkauft wurde (LKAEKvW BIELEFELD, 5,1/652 u. 653). 131 Reste dieser Übersetzungen finden sich noch im Archiv der St. Georg-Kirche ( T H LONDON, T H / 8 6 6 2 / 4 2 ) ; ebenso ein Dankesbrief Micklems vom 6.8.1937 für „papers and news". Vgl. auch die mehrfachen Eintragungen in Hildebrandts Kalender (NLH, 9251/13) wie „G-Rede an Micklem" (1710.1937) oder „Kanzelabkündigungen v. 29/8 u. 5/9 an Micklem" (2710.1937) sowie die Übersetzung aus der „Basler Nationalzeitung" vom 10.11.1937 (LPL LONDON, Bell Papers 9). 132 M . D . HAMPSON, Response, S. 199f: „It is most unfortunate that Confessing Christians in Germany, preoccupied with their own troubles, did not make more effort to influence the British opinion." Hampson unterschlägt bei dieser Kritik allerdings, daß zu den „own troubles" etwa der gewaltsame Tod von Friedrich Weißler am 19.2.1937 gehörte, den die (vermeintliche) Weitergabe des Denkschrift-Textes an die ausländische Presse ins Konzentrationslager gebracht hatte (vgl. M . GRESCHAT, Widerspruch, S. 148f.). 133 Vgl. etwa den Protestbrief der VKL (gez. Böhm) vom 5.1.1938 an Samuel McCrea Cavert gegen den Auftritt Max Brauers bei einer vom Federal Council veranstalteten Demonstration für die verfolgte Christenheit in Deutschland: „Es wäre zu bedauern, wenn die wünschenswerte Hilfe für die geflüchteten Christen durch die Beteiligung von unkirchlichen politischen Emigranten in ein falsches Licht geraten würde" ( L P L LONDON, Bell Papers 27; vgl. auch E Z A BERLIN, 50/550). 134 Bell an Duchess of Atholl, 10.11.1937 ( L P L LONDON, Bell Papers 9); Goebbels' Eintragung vom 13.11.1937 nach M . HUTTNER, Britische Presse, S. 223.
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Nur eine traditionelle Art der Beeinflussung britischer „public opinion" blieb: Leserbriefe an den Herausgeber der „Times", die - verfaßt oder unterschrieben von führenden Kirchenleuten - das Augenmerk der Öffentlichkeit auf wichtige Aspekte nationalsozialistischer Politik lenkten und Widerspruch formulierten135. Die nötigen Hintergrundinformationen dafür lieferten Hildebrandt und Rieger mit ihren Memoranden. Außerdem schufen sie damit nach dem Rückzug der Bekennenden Kirche aus den ökumenischen Organisationen wenigstens eine gewisse Gegenöffentlichkeit gegen die Aktivitäten der Reichskirche und ihres rührigen Außenamtes unter Heckel136. Gestützt auf die Dokumente, die ihm Hildebrandt und Rieger zukommen ließen, und auf ihre Aussagen, bemühte Bell sich immer wieder um Verständnis und Unterstützung für die Bekennende Kirche in der englischen Öffentlichkeit. So berichtete er Sir Charles Robertson, dem Vizekanzler der Universität Birmingham, von einer Unterredung mit Rieger und Hildebrandt und schilderte ihm ihren Eindruck nach Ebbutts Ausweisung: „They were much perturbed about the lessening attraction and thought the battle was lost in England." 137 Auch an den Chefredakteur der „Times", Geoffrey Dawson, schrieb Bell und wollte ihn dazu bewegen, einen Artikel über die kirchliche Situation in Deutschland „by a correspondent" (wobei er sich selbst oder Rieger/Hildebrandt im Auge hatte) zu veröffentlichen, was dieser jedoch ablehnte138. Durch diese Art Öffentlichkeitsarbeit lernte Hildebrandt auch Dorothy Frances Buxton kennen. Quäkerin und Frau des einflußreichen Juristen und Politikers Charles Roden Buxton, wurde sie durch mehrere Besuche in Deutschland und eine Anzahl von engagierten Briefen an die „Times" so etwas wie eine, wenn auch umstrittene, Anwältin der Bekennnenden Kirche in der englischen Öffentlichkeit139. Neben ihren Briefen und Eingaben verfaßte 135 Dieses wichtige Element britischer Pressekultur vernachlässigt M . HUTTNER, Britische Presse, leider fast völlig. 156 Die ökumenische Arbeit der BK lag zu dieser Zeit mehr als im argen; ein bezeichnendes Schlaglicht darauf wirft ein Aktenstück im EZA BERLIN, 50/550: A m 13.5.1938 hatte William Temple, Erzbischof von York und Präsident der „Faith And Order"-Konferenz in Edinburgh 1937 in einem handgeschriebenen Brief seine Sympathie mit der BK bekundet und nach Reaktionen auf die Tagung des Vierzehner-Ausschusses in Utrecht gefragt, - unterzeichnet hatte er mit seinem traditionellen Titel „William E b o r " (Eboracum = lat. York). A m 14.6. antwortete Böhm dem „Mr. William Ebor, York" offenbar in völliger Unkenntnis seines Korrespondenzpartners mit einem förmlichen und nicht sehr ausagekräftigen Schreiben, dem B ö h m zuguterletzt auch noch sein „an den Herrn Erzbischof von York gerichtetes Schreiben zur Kenntnisnahme" beigab. Darum verwundert es nicht, daß Temple „im Gegensatz zu Bell nie in ein näheres Verhältnis zur Bekennenden Kirche gekommen" ist (DB, S. 724). Hildebrandt jedenfalls wurde er ein stets zuverlässiger Freund.
Bell an Robertson, 22.10.1937 ( L P L LONDON, Bell Papers 9). Bell an Dawson, 23.10.1937 und D a w s o n an Bell, 25.10.1937 (EBD.). 139 Vgl. K . ROBBINS, Church and Politics. Hildebrandt traf Mrs. Buxton mindestens am 29.9., 17 11. und 17 12.1937 (nach Kalender: Ν L H , 9251/13). 137
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sie im Juli 1937 eine Kleinschrift „The Church Struggle in Germany", die regen Absatz fand. Für die bald notwendige zweite Auflage verarbeitete sie auch Material, das ihr von Rieger/Hildebrandt zugänglich gemacht wurde140. Sie ging mit großer emotionaler Energie daran, ein Netzwerk an Kontakten und Informationen zu knüpfen und schreckte dabei auch vor undiplomatischen Aktionen nicht zurück. Immer wieder suchte sie prominente Unterstützer, z.B. unter den Bischöfen der Kirche von England. Als sie im Dezember 1937 einen Brief an die „Times" konzipiert hatte, wandten sich mehrere der Bischöfe, die sie um Unterzeichnung gebeten hatte, an Bell um Rat dazu. Bell, der ihr sonst sehr wohl gesonnen war, meinte dem Bischof von Liverpool gegenüber. „I'm afraid she is so unnerved by her passionate emotions that she really may do harm." 141 Beide blieben jedoch trotz mancherlei Meinungsverschiedenheiten eng verbunden. Aber nicht die gesamte kirchliche Öffentlichkeit Englands sah die Lage in Deutschland als bedrohlich an. Der Dean of St. Paul's, W.R. Matthews, beispielsweise reiste im Sommer 1937 durch Deutschland, vertrat ein Jahr später die englischsprachige Welt bei der akademischen Gedächtnisfeier Rudolf Ottos und schrieb nach seiner Rückkehr: „At the time I could find no evidence of religious persecution, and nobody complained to me about it." 142 Allan John Macdonald, Pfarrer von St. Dunstan-in-the-West in der Londoner City und einflußreicher „Experte" für die Beziehungen der Kirche von England mit der Deutschen Evangelischen Kirche143, wurde sogar Vizepräsident einer betont nazifreundlichen „Anglo-German Brotherhood" und beteiligte sich an einem Symposium zum Thema „Why I believe in Hitler" 144 .
140 Ihre umfangreiche Materialsammlung ist heute verstreut, ein Teil findet sich im L P L LONDON, Ms 2653. 141 Bell an Bischof von Liverpool, 16.12.1937 ( L P L LONDON, Bell Papers 9). Der Brief erschien - allerdings mit erheblich weniger prominenten Unterschriften als von Mrs. Buxton erhofft - in der „Times" am 20.12.1937 142 Matthews an Buxton, 8.12.1937 (zit. nach K. ROBBINS, Church and Politics, S. 429); vgl. auch Matthews' Autobiographie (W.R. MATTHEWS, Memories, S. 217-224). Einige Zeit später war Matthews allerdings auch einer der ersten, die den jüdisch-christlichen Dialog in Großbritannien in Gang brachten (vgl. EBD., S. 373-375 und A. WILKINSON, Dissent, S. 161). i « Vgl. R . C . D . JASPER, Headlam, S. 292. 144 Vgl. A. WILKINSON, Dissent, S. 158f. Seine deutschen Gesprächspartner waren vor allem Baron Friedrich von der Ropp, der nach der (wohl zutreffenden) Einschätzung Siegmund-Schultzes von der Gestapo einen Auftrag „zur Bekämpfung des Einflusses der Bekennenden Kirche" in England hatte ( E Z A BERLIN, 51/M VI a; 13.5.1937; zu ihm vgl. jetzt auch A. SCHÖNHERR, Miteinander, S. 118 f.) sowie Baroness Α. von der Goltz, eine in britischen Adelskreisen verkehrende Cousine Krummachers. Zur Rolle der beiden vgl. vor allem M . D . HAMPSON, Response, S. 115 f., 201. Bei Kriegsausbruch verwandelte sich Macdonald in einen Kriegstheologen par excellence, der jeden Hauch von Deutschfreundlichkeit scharf angriff und „Gebete und noch mehr Gebete für den Sieg" forderte (A. WILKINSON, Dissent, S. 239, 345 Anm. 14).
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Selbst ein so engagierter Kirchenmann wie Corder Catchpool, „der damals bedeutendste Deutschlandfreund unter den englischen Quäkern" 1 4 5 , schrieb einen Artikel über den Kirchenkampf in „Reconciliation", der Zeitschrift des Versöhnungsbundes, in dem er an der Bekennenden Kirche nur „Theologengezänk" wahrnahm und „Neutralität" forderte. - Als Hildebrandt diesen Artikel durch Mrs. Buxton zugespielt bekam, reagierte er mit einem persönlichen Schreiben an Catchpool, in dem er versuchte, ihn davon zu überzeugen, daß eine solche Haltung in Wahrheit „den Verfolgten in den Rücken fällt und die Verfolger von neuem stärkt" 146 . Hildebrandts eigene Rückschau auf den Kirchenkampf findet sich in dem Artikel „Die deutsche evangelische Kirche in den Jahren 1935 bis 1937" für das von Siegmund-Schultze herausgegebene Ökumenische Jahrbuch. Der Plan zu diesem Artikel ging vermutlich schon auf Hildebrandts Besuch bei Siegmund-Schultze in Zürich im August 1937 zurück; eine schriftliche Zusage Hildebrandts datiert vom 22. November 1937W. Der Artikel, der auf Anraten der Vorläufigen Kirchenleitung anonym erschien, beginnt mit der Einsetzung der Kirchenausschüsse, für Hildebrandt der Versuch, „über die in Barmen 1934 gezogenen Grenzen hinweg die beiden Gegner als G r u p pen' in einer bloßen Restauration der alten Kirche paritätisch" zu vereinigen148. In der Folge sei der längst vorhandene, oft verdeckte Bruch der Bekennenden Kirche offensichtlich geworden. Hildebrandt sah wie Bonhoeffer die Frage nach den Grenzen der Kirchengemeinschaft als das Entscheidende an. Aber ebenso wichtig war, daß die Bekennende Kirche faktisch weiter als Kirche gehandelt hatte, wie sich in der Gründung der Kirchlichen Hochschulen und in der Durchführung von Ordinationen gezeigt habe. Hildebrandt machte offen die „Erweiterung des kirchlichen Horizonts" durch die ökumenischen Beziehungen dafür verantwortlich, daß die Bekennende Kirche auch endlich und zunehmend ein Wort aus „Verantwortung für das Schicksal des eigenen Volkes" gefunden habe, so etwa im Protest gegen die „Entkonfessionalisierung" vom März 1935 oder in der Denkschrift an Hitler von 1936: „Die Kirche des Evangeliums, die zu unendlich Vielem bisher geschwiegen hat, weiß sich gebunden, die Dinge nunmehr beim Namen zu nennen." 149
>« A . S . HALLE, Quäker, S. 3. 146
A n Buxton, 3.12.1937 ( L P L
L O N D O N , M S 2 6 5 3 , A b s c h r i f t in S A M M L U N G
NIEMÖLLER,
HERDECKE, 58). Der Artikel von Catchpool auch im LKAEKvW BIELEFELD, 5,1/262,1. 147 An Siegmund-Schultze, 22.11.1937 ( E Z A BERLIN, 51/P IIb 3.1). Das Typoscript ( N L H , 10053) hat den Titel „Die Deutsche Evangelische Kirche seit 1935". »» Bibl. Nr. 25, S. 225. 149 EBD., S. 230.
.Übersetzertätigkeit für die Bekennende Kirche"
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Es sei nun klar geworden, daß die Ideologie des NS-Staates „mit ihrem Totalitätsanspruch das Christentum in seiner Substanz angreift." Alles andere sei Illusion und deshalb „die Verlagerung des Schwergewichtes auf den Kampf um die Legalität ein unverzeihlicher sachlicher und taktischer Fehler"150 gewesen. Die Entwicklung des Jahres 1937 habe erst Hitlers Ankündigung einer Kirchenwahl und dann die schärfste Verfolgung gebracht, - und nun (Ende November 1937) seien über 120 Bekenntnispfarrer und Gemeindeglieder verhaftet und die Erschöpfung der physischen, psychischen und auch finanziellen Kräfte groß. Doch es gebe auch Hoffnung darauf, schloß Hildebrandt, daß auch diesmal die captivitas babylonica der Anfang einer Reformation an Haupt und Gliedern werde und daß das Gebet, auch in der Ökumene, nicht verstumme, damit die lautere Predigt des Evangeliums erhalten bliebe. Der Aufsatz und seine offene Analyse der kirchlichen Lage brachten dem Herausgeber viele Probleme, wie Siegmund-Schultze Hildebrandt im Herbst 1939 schrieb. So durfte das Buch in Deutschland nicht ausgeliefert und auch nicht im Buchhandel verkauft werden. Außerdem mußte Siegmund-Schultze als Herausgeber dem Verleger für den so entstandenen finanziellen Schaden einstehen. Doch diese Konsequenzen hatte er aus Solidarität mit der Bekennenden Kirche bewußt in Kauf genommen: „Ich habe speziell damit gerechnet, daß die Mitteilungen, die Sie und ich über die Kirchenzustände in Deutschland gemacht haben, eine solche Folge haben würden." 151 Ob Hildebrandt auch der Verfasser eines anonymen Uberblicksartikels über den Kirchenkampf in Deutschland ist, der Anfang 1938 im angesehenen britischen „Hibbert Journal" erschien152, muß offen bleiben. Es spricht einiges dafür, so etwa die Betonung des Aufbruchs: „There has begun to live in our midst a piece of primitive Christianity", des Gebetes als der wichtigsten Hilfe von außen, aber auch eine ganz eigene, ethisch geprägte und deutliche Aufzählung dessen, was die Bekennende Kirche als ihre wichtigste Aufgabe ansehe: „an umambigous attitude to the Aryan question, to the persecution of the Jews, to the continous breaking of the law in Germany, to the Statesanctioned perpetration of atrocities in the concentration-camps" 153 . - Dies ging weit über das hinaus, was die Bekennende Kirche in Deutschland selbst zu diesem Zeitpunkt zu sagen wagte. Als eine weitere wichtige Hilfe der Ökumene erwähnte der Autor die Möglichkeit, Studenten der Bekennenden Kirche aus Deutschland zu unterstützen und herauszuholen, die Bereitstel'5° EBD., S. 232. 151 Von Siegmund-Schultze (ohne Datum, nach dem 3.9.1939; EZA BERLIN, 51/P IIb 5); der Brief ist eine Antwort auf den Brief Hildebrandts vom 22.4.1939 (EZA BERLIN, 51/L IIa 3). 152 A Confessional Pastor, The Church Struggle in Germany. In: Hibbert Journal Ì7,1938, S. 1-13. Es könnte auch sein, daß dies der Artikel von Jannasch ist, den Hildebrandt im Brief an SiegmundSchultze vom 29.9.1938 erwähnt (EZA BERLIN, 51/P IIb 3.1). 153 Hibbert-Journal, S. 12. Die Aufzählung entspricht fast genau der in EH, S. 3.
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London: 1937/1938
lung von Erholungsmöglichkeiten für erschöpfte Pastoren und die Hilfe bei der Herausgabe theologischer Literatur. Das wohl wichtigste literarische Produkt aus Hildebrandts Zeit bei Rieger war seine Schrift Martin Niemöller und sein Bekenntnis154. Sie erschien anonym zunächst in Zollikon in der Schweiz, herausgegeben vom Schweizerischen Hilfswerk der Bekennenden Kirche. In Deutschland landete die Schrift sehr schnell auf der „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums" und wurde zusätzlich noch vom Reichsführer SS Heinrich Himmler verboten155. Daraufhin zirkulierte ein Auszug 1939 unter dem Titel: „Dieser war auch mit dem Jesus von Nazareth" in einer Auflage von 60 000 Exemplaren durch Deutschland156, ebenso eine deutsche Ausgabe, die in den Niederlanden gedruckt wurde. Die Schrift, volkstümlich mit vielen Anekdoten geschrieben, stellte stark den Patrioten und ehemaligen Offizier heraus, der aber auch den Willen Jesu Christi als „Tagesbefehl" befolge15·! So hob Hildebrandt hervor: „Niemöller weiß es, daß seine Pflicht und Verantwortung gerade auch gegenüber dem deutschen Volk ihm keine andere Wahl läßt, als mit dem Evangelium auf die Straße, unter die Leute und ins tägliche Leben hineinzugehen und die Geister zur Rechten und zur Linken, die wahren und die falschen Propheten unzweideutig beim Namen zu nennen." 158 Sein gefürchtetes scharfes „Nein" sei nichts anderes als die Kehrseite des „Ja zu dem einem Herrn und seinem Evangelium"159. Die Broschüre zeigt, daß Hildebrandt eine sehr persönliche Anschauung von Niemöllers Lebensumständen und Arbeitsstil hatte, so in der Beschreibung von Niemöllers Charakter („explosives Temperament"), in der liebevollen Schilderung der Niemöllerschen Familie160 und der Art, wie Niemöller Seelsorge betrieb:
154
Das Typoskript (NLH, 10053) trägt den Titel: „Der Eifer um dein Haus. Martin Niemöllers Bekenntnis" (Ps 69,10; Joh 2,17) sowie den Vermerk „1. Jahrestag 1. Ί. 38" (vgl. an Bell, 4. 8.1938; LPL L O N D O N , Bell Papers 10). Zu Übersetzungen vgl. Bibl. Nr. 4. 155
156
V g l . L I S T E DES U N E R W Ü N S C H T E N S C H R I F T T U M S , S. 103.
Exemplare im LKAEKvW B I E L E F E L D und IfZ M Ü N C H E N . Vgl. auch W. N I E M Ö L L E R , Evangelische Kirche, S. 290, 308. 157 Bibl. Nr. 4, S. 16. Vgl auch Hildebrandts offene Worte über Niemöllers politische Einstellung: Das Programm der NSDAP „einer völkischen Erneuerung ist im Grunde auch das seine, mit Einschluß der leidenschaftlichen Ablehnung dessen, was Individualismus, Parlamentarismus, Pazifismus, Marxismus und Judentum heißt" (EBD., S. 9), und seine Haltung 1933: „Noch weiß sich Niemöller gegenüber den zweifelhaften Charakteren und Methoden der ,Deutschen Christen' als der bessere Nationalsozialist, als der treuere Diener der Kirche und des Staates" (EBD., S. 12). Eine ähnliche Charakterisierung Niemöllers findet sich im Schreiben Bonhoeffers an Sutz vom 28.4.1934 (DBW 13, S. 128). 158 E B D . , S. 27 •5' E B D . , S. 36. M EBD., S. 59ff., bes. S. 61.
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„Wie der Pastor sich selbst und sein Haus mit Psalmen und Gesangbuchversen aufrichtet, so schreibt und sagt er sie auch den vielen, die hilflos und ratlos seine Sprechstunde aufsuchen. [...] Es sind verblüffend einfache Mittel, die er entdeckt hat und mit denen er für sich und seine Gemeinde den Haushalt und den Kampf zu bestreiten sucht: Bibel, Katechismus, Gesangbuch." 161
Die Broschüre war nicht so sehr eine an Daten und Fakten orientierte Biographie Niemöllers; vielmehr versuchte Hildebrandt, der nichtdeutschen Öffentlichkeit ein wirklichkeitsnahes, von täglicher Begegnung geprägtes Bild des Menschen Martin Niemöller zu geben, der für viele, gerade im Ausland, zum Widerstandssymbol schlechthin geworden war.
6.5. Die Herbstkrise 1938 Im März 1938 kam Karl Barth aus Basel nach Großbritannien, um seine Gifford Lectures über den „politischen Gottesdienst" in Aberdeen zu halten, aber auch um den theologischen Ehrendoktor der Universität Oxford in Empfang zu nehmen162. In Oxford hielt er am 4. März in Lady Margaret Hall „The Philipp Maurice Deneke Lecture" unter dem Titel: „Trouble and Promise in the Struggle of the Church in Germany." 163 Zwei Wochen später, am 20. März, predigte er auf Einladung Riegers in St. Georg in London und traf die deutschen Pastoren, - allerdings nicht Hildebrandt, denn der war nach Italien gereist, um dort seine Eltern wiederzusehen164. Mrs. Buxton, die in London Barths Gastgeberin war, gab schon bald eine englische Ausgabe der Oxforder Vorlesung heraus, wobei als offizieller Herausgeber eine gewisse „Kulturkampf Association" erschien165. Die Nachfrage und der Wunsch nach einer besseren englischen Ubersetzung machten bald eine Neuauflage nötig, die unter dem Titel „The German Church Struggle. Tribulation and Promise" vorbereitet wurde. Für diese Neuauflage bat Mrs. Buxton Barth um ein kurzes, aktuelles Vorwort. Inzwischen hatte nämlich Arthur Cayley Headlam, Bischof von Gloucester, einflußreichster britischer Vertreter bei der Bewegung für Glaube und Kirchenverfassung (Faith and Order) und Vorsitzender des Council on Foreign Relations der Kirche von England166, Deutschland einen von der NSDAP be161 162
EBD., S. 30.
Vgl. E. BUSCH, Karl Barths Lebenslauf, S. 300; A.-K. FINKE, Barth in Großbritannien, S. 149-151 und 153. 163 Vgl. Manuskript des Vortrags (LPL LONDON, MS 2654). Der Vortrag basiert auf dem Berner Vortrag „Not und Verheißung im deutschen Kirchenkampf" (23.1.1938). 164 Vgl. Rieger an Barth, 7.2.1938 und 173.1938 (KBA Basel). 165 Diese Organisation, zu deren Schirmherren auch der Bischof von Chichester gehörte, ist auch heute noch „somewhat shrouded in mystery" (Κ. ROBBINS, Church and Politics, S. 427). 166 Vgl. dazu J. FENWICK/S. PATTEN, Lambeth Palace.
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stens arrangierten Besuch abgestattet und anschließend in einem Brief an die „Times" schlichtweg jede Verfolgung der Kirche in Deutschland abgestritten16? Headlam war eigentlich ein typischer Vertreter der konservativen britischen Elite, aber sein Ideal einer Nationalkirche und sein rigider Antibolschewismus hatten ihn empfänglich für die Propaganda des „Dritten Reiches" werden lassen168. Sein - neben Bell - entschiedenster Gegner, Bischof Hensley Henson von Durham, urteilte, Headlam „to the surprise and regret of his friends came forward as the pertinacious apologist of the Nazi Government in its treatment of the German Churches, and the singularity ungenerous critic of its victims"169. Die Methoden des nationalsozialistischen Staates hielt Headlam zwar für falsch und „unwise", er konnte in ihnen aber keinerlei Anzeichen für religiöse Verfolgung entdecken170. Die Juden waren für ihn „responsible [...] for the violence of the Russian Communists" 171 , und Niemöller saß seiner Meinung nach zu Recht im Gefängnis, weil er gegen politische Anstandsregeln und gegen „police instruction" verstoßen habe. Die Theologie der Deutschen Christen schließlich sei „much more in harmony with the teaching of the Church of England than that of the Confessional Church, which has been influenced by Calvinism and the teaching of Karl Barth"172. Headlams Haß auf Barth ging so weit, daß er in seinem vertraulichen Bericht an den Erzbischof von Canterbury schrieb: „I am bound to say that I think Hitler conferred a great benefit upon Germany in getting Karl Barth out of the country. Personally I look upon his theology as intolerable."173 Headlams Veröffentlichungen lösten eine Flut von Protestbriefen aus, von Bischof Bell über Dorothy Buxton bis hin zu einem verzweifelten Schreiben Böhms 174 . Daraufhin verstieg sich der Bischof von Gloucester zu einem weiteren Leserbrief an die „Times", den der britische Kirchenhistoriker Owen Chadwick als „the most lamentable letter ever written by an Anglican bishop to a newspaper" charakterisiert hat175. Der Leserbriefteil der „Times" wurde zum öffentlichen Austragungsort der Kontroversen innerhalb der Kirche von
167
„The Times", 14.7.1938.
168 V g l . R . C . D . J A S P E R , H e a d l a m , S . 2 9 0 , v g l . a u c h A . B O Y E N S , K i r c h e n k a m p f u n d
Öku-
mene, Bd. 1, S. 123 ff. 169 Zit. nach A . WILKINSON, Dissent, S. 146; vgl. auch M . D . HAMPSON, Response, S. 289. 170 Headlam an Lang, 24.1.1938 ( L P L LONDON, Lang Papers 320). 171 Zit. nach A . WILKINSON, Dissent, S. 148. 172 Headlam, The German Church. In: Guardian, 2.9.1938. Wie willkommen dieser Artikel war, zeigt sich u. a. darin, daß auch E. Seeberg sich einen Sonderdruck besorgte (BA KOBLENZ, N L 248, 95). Anfang 1939 erschien eine offiziöse deutsche Ubersetzung mit einem Vorwort von Georg Wobbermin. Vgl. A . WILKINSON, Dissent, S. 149f. 173 Bericht Headlam an Lang, 11.238 ( L P L LONDON, Lang Papers 320). 174 Α. BOYENS, Kirchenkampf und Ökumene, Bd. 1, S. 125. 175 O . CHADWICK, Henson S. 267; vgl. zum Vorgang auch M . D . HAMPSON, Response, S. 280 f.
Die Herbstkrise 1938
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England über die Bewertung der Situation in Deutschland im allgemeinen und der Bekennenden Kirche im besonderen176. Mrs. Buxton hatte Barth ausdrücklich gebeten, auf die Äußerungen Headlams einzugehen, und Barth tat das ausführlich, auch in der Absicht, „mir Alles das, was mich in den letzten Wochen bewegt hat, nun gleich auch noch vom Herzen zu reden"177 So setzte er sich in dem auf den 10. Oktober 1938 datierten Vorwort nicht nur mit dem Bischof von Gloucester auseinander, sondern nahm auch vehement Stellung gegen das Münchner Abkommen und dessen Unterstützung durch die Kirche von England: „Soll es auch das heißen, daß in Zukunft ganz Großbritannien sich hinsichtlich des deutschen Kirchenkampfes auf den Standpunkt des Bischofs von Gloucester und seiner deutschen Gewährsmänner und Freunde stellen und also schweigen und zustimmen wird, wenn die Unterdrückung des Wortes Gottes in Deutschland in immer raffinierteren Formen weiter und weiter geht?"
Er schloß mit dem Satz: „Es ist höchste Zeit, zu erwachen, sich die Augen zu reiben und aus den Träumen, die Einige oder Viele dort zu träumen scheinen, in die Wirklichkeit zurückzukehren. Hannibal ante portas!" Diese Sätze bekamen die britischen Leser allerdings nicht zu Gesicht, denn Mrs. Buxton entschied sich, „aus Raummangel" zu kürzen. In Barths Sammlung „Eine Schweizer Stimme", die nach dem Krieg erschien, ist zwar ein Absatz mehr als in der englischen Veröffentlichung zu lesen, aber die scharfe Kritik am Münchner Abkommen fehlt auch dort178. Mrs. Buxton übergab das Vorwort und die begleitenden Briefe Barths an Hildebrandt179; dieser teilte Barth am 19. Oktober 1938 sogleich seinen „totalen Dissensus" zu dessen Äußerungen mit180. In diesem Brief formulierte Hildebrandt die Fragen, die damals gerade auch Karl Barths Freunde und Schüler bewegten: „Aber wen trifft denn der neue Krieg? Und wer darf denn mit dieser Alternative auch nur spielen?" Nicht weniger dringend waren die theologischen Anfragen: „Haben Sie uns nicht gelehrt, den politischen Protest und die Predigt des Evangeliums auseinanderzuhalten? Haben Sie uns nicht gelehrt, daß die Kirche jederzeit und ausschließlich mit den Waffen der geistlichen Ritterschaft zu kämpfen habe?" Der Anlaß zu den kritischen Fragen Hildebrandts war ganz eindeutig Barths Vorwort, nicht aber, wie später manchmal vermutet wurde, Barths Brief an Hromadka. Es ist sogar ziemlich
176
Vgl. dazu auch M. HUTTNER, Britische Presse, S. 288f. 177 Barth an Buxton, 10.10.1938 (ΤΗ LONDON, TH/8662/43). Diese und die im folgenden erwähnten Dokumente sind dokumentiert unten S. 273 ff. 178 K. BARTH, German Church Struggle. Hier endet das Vorwort mit „als zu dem Vordringen des neuen Islam zu schweigen oder gar Ja zu sagen". Vgl. auch die Fassung in DERS., Eine Schweizer Stimme, S. 62. 179 So gelangten sie in die Akten der St. Georgskirche (TH LONDON, TH/8662/43). 180 Vollständiger Abdruck vgl. unten S. 277 ff.
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unwahrscheinlich, daß Hildebrandt diesen Brief zu diesem Zeitpunkt schon kannte181. Hildebrandt war von Barths Äußerungen auch deswegen so betroffen, weil sich mit dem Münchner Abkommen für ihn die Hoffnung auf Frieden erfüllt hatte, - war seine Befürchtung doch gewesen, wie er am 29. September an Siegmund-Schultze schrieb: „Ob wir nun doch noch einmal vor dem Krieg bewahrt bleiben?" 182 Als nach der Münchner Konferenz der britische Premierminister Chamberlain den vermeintlichen „Frieden für unsere Zeit" verkündete, feierte die St. Georgs gemeinde den Gottesdienst am folgenden Sonntag, dem 2. Oktober, als Dankgottesdienst. Uber 100 Gemeindeglieder, Alteingesessene ebenso wie Refugees und „Reichsdeutsche", unterzeichneten im Anschluß eine Dankadresse an Chamberlain, die ganz sicher von Hildebrandt mitverfaßt wurde. Darin dankte die Gemeinde dem Premierminister „in herzlicher Verbundenheit" für alles, was er „in diesen schicksalshaften Wochen für die Erhaltung des Friedens getan" habe. Wie es der Kirche überall aufgetragen sei, den Frieden zu verkündigen, so setze die Gemeinde „alle Kräfte daran, durch das Bekenntnis des Namens Christi der Sache des Friedens zwischen unseren beiden Ländern zu dienen, und sie trägt mit ihrer Fürbitte auch Ihre staatsmännische Arbeit, die auf dieses gleiche Ziel gerichtet ist" 183 . Barth antwortete Hildebrandt auf seinen Brief vom 19. Oktober umgehend und warf ihm vor, „daß Ihre Theologie an einer gewissen Verwilderung leidet, die wahrscheinlich auch auf die von Ihnen besuchten Seminare zurückzuführen ist." Mit einigen „disjunktiven Leitsätzen" wandte sich Barth gegen den Frieden um jeden Preis, „mit dem uns nun Gott gestraft hat", gegen die „profane und kurzsichtige Antithese: Friede oder Krieg" und benannte mit aller Deutlichkeit den von ihm vermuteten Grund für Hildebrandts „Verwilderung" : „Lieber Herr Pfarrer, Sie werden noch einmal an mich denken und mir zugeben, daß man mit Ihrer braven Unterscheidung der zwei Reiche nicht weiter k o m m t oder eben nur dahin, wohin Deutschland nach vierhundert Jahren lutherischer Unterweisung nun gekommen ist. Ich denke, es gibt wenig Dinge, an denen der Teufel so viel Spaß hat, als an dieser Unterscheidung und an den sauberen Handschuhen, deren mancher Theologe sich auf Grund dieser Unterscheidung erfreuen zu dürfen glaubt." 1 8 4
181
Gegen K. SCHOLDER, Demokratie, S. 240.
182
E Z A B E R L I N , 5 1 / P IIb 3.1.
Minute Book, St. Georg, S. 72 (TH LONDON, TH/8662/10); Auszug in DB, S. 709. Das „Acknowledgment" aus 10 Downing Street vom 11.10.1938 findet sich heute im NL RIEGER, BERLIN. Daß deutsche Refugees auch anders als dankbar auf das Münchner Abkommen reagierten, zeigt das Beispiel von Ulrich Simon, der an diesem Sonntag in der Kathedrale von Lincoln einer Predigt des Deans über „God's wonderful providence" zuhörte: „I ran out of my stall and feeling sick to the point of convulsion I gazed at the great west facade of the cathedral. [...] I saw in it the empty gesture of false prophecy" (U. SIMON, Sitting in judgment, S. 63). 183
184
Von Barth, 23.10.1938 ( N L RIEGER,
BERLIN).
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Damit unterwarf Barth auch Hildebrandt seiner grundsätzlichen Kritik am Luthertum und stellte ihn in eine Reihe mit den Theologen, die an der „Eigengesetzlichkeit" des politischen Lebens festhielten. Eine genauere Untersuchung der theologischen Position Hildebrandts wird jedoch zeigen, daß er gerade so nun nicht einzuordnen ist. Zwar führte Hildebrandt - wie Asmussen in seiner Kritik an Barths „Rechtfertigung und Recht" 185 - Niemöller als Kronzeugen dafür an, daß man „weniger politisch als kirchlich" reden müsse, und er kritisierte auch „die bewußte Anmerkung in Rechtfertigung und Recht' über die Grenzverteidigung der außerdeutschen Länder" 186 . Dies tat er aber nicht, wie Asmussen, aus nationaler Rücksichtnahme, sondern weil für ihn bei Barth „die ungewöhnliche Exegese der biblischen Stellen über Staat und Kirche so traurig in der gewöhnlichen Akzeptierung der traditionellen Stellung zu Eid und Krieg endet." Hildebrandt hatte deshalb durchaus nicht teil an der „ gewaltige [n] Angstpsychose" und der „Enthüllung eines letzten Mangels an sachlicher und theologischer Urteilsfähigkeit"187, die nach Ernst Wolf zu diesem Zeitpunkt die Bekennende Kirche befallen hatte. Hildebrandt entwickelte vielmehr zielstrebig sein eigenes Konzept von der ethischen und politischen Verantwortung der Kirche. Dabei erhielt er Unterstützung auch durch Bonhoeffer, wie er sich später erinnerte: „Dietrich schrieb mir, er habe an Barth geschrieben, daß ,Du (Franz) wahrhaftig auch überlegt hättest', was Barth mir zu sagen hatte und was Barth über die private Korrespondenz hinaus zirkulieren ließ. München heute zu verteidigen, ist ja nicht so ganz einfach, obwohl, soviel ich weiß, die genuine deutsche Volksstimmung damals sehr für Chamberlain und nicht für Hitler war, der den Krieg gewollt hatte. Andererseits wird Barth Dietrichs Brief nicht begrüßt und nicht aufgehoben haben." 1 8 8
Das scheint in der Tat so zu sein, denn der erwähnte Brief Bonhoeffers ist bis heute nicht nachweisbar. So muß auch offen bleiben, ob Bonhoeffer tatsächlich über eine Verteidigung seines Freundes gegen Barths Attacke selbst inhaltlich Stellung bezogen hat. Für Barth jedenfalls stand sein Urteil fest, und noch ein Jahr später schrieb er an Bischof Bell, er hoffe nur, daß Hildebrandt
Dazu vgl. M . ROHKRÄMER, Barth, S. 530f. Gemeint ist der Passus : „Ist es gerade heute auch christlich sinnvoll und recht, unsere Grenzen zu sichern, und wenn der Staat in der Schweiz dies tut, so ist nicht abzusehen, inwiefern die Kirche in der Schweiz sich nicht in aller Bestimmtheit hinter ihn stellen sollte." In einer Anmerkung wird diese Aussage auch auf die „Kirche in der Tschechoslowakei, in Holland, Dänemark, Skandinavien, Frankreich und vor allem England" ausgeweitet ( K . BARTH, Rechtfertigung und Recht, S. 42). 185 186
Wolf an Barth, 4.11.1938; zit. nach M . ROHKRÄMER, Barth, S. 533. „Miscellanea zum zweiten Band der Gesammelten Schriften", 18.8.1959 (in SAMMLUNG BETHGE, WACHTBERG), ebenso an Emmi Bonhoeffer, 2. Ζ 1984 (EBD.) sowie in den handschriftlichen Notizen zu DB ( N L H , 9251/24). 187 188
156
L o n d o n : 1937/1938
inzwischen dazugelernt habe, nachdem er zuvor dieser „Krankheit" der Zwei-Reiche-Lehre heftig verfallen sei189. Doch traf das zu? Ein Beispiel für Hildebrandts eigenen Ansatz bietet seine erste Vorlesung in Cambridge, die er im Herbst 1938 hielt. Er wählte als für ihn charakteristisches Thema „The Interpretation of Luther at the present Time"190 und eröffnete seinen Zuhörern die Aktualität: „The issues discussed in this particular field give us the key to understand the principal controversies in which the German theology is engaged at present."191 Nach einer Darstellung der Erlanger Theologie (Althaus, Eiert, Sasse) stellte Hildebrandt dann fest: „Now it has been very easy for the Nazi Church policy to make convenient use of this theory [= Eigengesetzlichkeit und Schöpfungsordnungen]". Stattdessen solle man seiner Meinung nach zuallererst „rebuild the Lutheran Church on the original model of the reformer" und zweitens sich den Problemen zuwenden, „which the Reformation has left for us and which on the other hand the New Testament, especially the Sermon of the Mount, bids us to solve". Es seien dies „most urgent questions of our times", die die Kirche nur schwer habe wahrnehmen wollen und zu denen sie nicht das von ihr erwartete Wort gesagt habe: „The plight of the Jews, the rights of man, the issue of war and peace in Germany to-day."192 Gerade auf dem Feld der Sozialethik müsse man den Mut haben, über Luther hinauszudenken. Wie Hildebrandts eigener theologisch-ethischer Ansatz aussieht, wird nirgendwo so deutlich wie in dem Manuskript, das er zur selben Zeit immer wieder überarbeitete: Das Evangelium und die Humanität.
189
„I hope that Hildebrandt, Niemöller's former assistant has learned, since he is in England, to take another line. Before, he also was hardly sickening in this hospital" (Barth an Bell, 8.12.1939. In: A. CHANDLER, Brethren in adversity, S. 155-157, hier S. 156). Der Zusammenhang dieser Aussage sind die Gerüchte um Niemöllers freiwillige Meldung zum Kriegsdienst, die Hildebrandt für „impossible" hielt, während Barth die Nachrichten für zutreffend erklärte, sie mit Niemöllers nationaler und theologischer Einstellung begründete und zugleich heftig kritisierte. Bibl. Nr. 29. 191 EBD., S. 135. 192 EBD., S. 140, 142. Die Nähe zur Bonhoefferschen Hinwendung zur Bergpredigt (vgl. dazu D B W 13, S . 1 2 9 , 1 7 1 u n d D B W 4 , S. 9 9 ff.) ist o f f e n k u n d i g .
7. „DAS EVANGELIUM U N D D I E HUMANITÄT" 7.1. Zur Literargeschichte Am 3. Januar 1938 schrieb Bonhoeffer an Hildebrandt: „Herzlichen Dank für Deinen Brief. Zustimmung und Kritik zu meinem Buch hat mich in gleicher Weise gefreut. [...] Daß Du Antinomist1 nur nicht noch zuguterletzt ein Gesetz der Humanität aufstellst! Ich bin sehr begierig auf Deine Arbeit und begleite sie mit der umgekehrten Zustimmung und Kritik, wie Du die meine."2 Dies ist der erste Beleg für Hildebrandts wiederaufgenommene Arbeit am Manuskript von Das Evangelium und die Humanität. „In einem deutschen Gefängnis begonnen3 und in einem englischen internment camp abgeschlossen"4, also im Sommer 1940, hat Hildebrandt insgesamt drei Jahre an dieser Schrift gearbeitet. Erste Entwürfe über den „Angriff" (S. 4-9), die „Abwehr" (S. 41-44/66-68) und den „Ausgleich" (S. 69-71/83-100) sowie über den ethischen Ansatz (S. 101-121) wurden durch historische (S. 10-40/45-65) und kontroverstheologische (S. 72-82) Zusätze und Neubearbeitungen erweitert. Hinzu kamen die hypothetischen Worte der kirchlichen Praxis: „Ein Wort von den Juden", „Ein Wort vom Frieden" und „Ein Wort vom Recht"5. Zu dem fertigen Manuskript konnte Bonhoeffer sich nicht mehr äußern. Hildebrandt wurde mit einer ins Englische übertragenen Fassung 1941 in Cambridge zum Doktor der Philosophie (Ph. D.) promoviert6. Der Druck dieser englischen Fassung scheiterte jedoch an „sprachlichen, sachlichen und technischen Schwierigkeiten"·! Aber auch für die deutsche Fassung fand sich nach dem Kriege kein Verleger. Anfragen bei Herbert Renner vom WichernVerlag und beim Chr. Kaiser Verlag blieben erfolglos, ebenso ein Vermitt1 Anspielung auf die erste und grundlegende kontroverse Diskussion Hildebrandts mit Bonhoeffer über Marcion (vgl. oben S. 26). 2 D B W 15, S. 22f. Hildebrandts Brief mit seiner Reaktion auf Bonhoeffers „Nachfolge" ist offensichtlich verloren gegangen. Wie sehr auch Bonhoeffer an der Gesetzesthematik interessiert war, zeigt seine Frage in der Finkenwalder Disputation „Wie predigen wir das Gesetz": „Ob die Kirche einfach einzutreten hat für das Humanuni?" (vgl. DB, S. 641 und D B W 14, S. 785 mit Anm. 13).
5 Vgl. oben S. 126. E H , S. 3; zur Internierung vgl. unten S. 195ff. 5 Näheres zum Aufbau vgl. unten S. 159f.; unsere Seitenzählung folgt der abschließenden handschriftlichen Zählung Hildebrandts. 4
6
Vgl. unten S. 235.
7
E H , Nachwort, S. I.
158
„ D a s Evangelium und die H u m a n i t ä t "
lungsversuch, den Erich Roth, der Hildebrandt in Cambridge nach dem Krieg begegnet war, über Carl Heinz Ratschow, damals Professor für Systematik in Münster, in Gütersloh unternahm; Hildebrandt wurde dabei als „alter Dahlemer" empfohlen8. Auch ein Versuch, über Helmut Thielicke, damals Systematischer Theologe in Hamburg, doch noch einmal eine Publikation zu erreichen, mißlang9. Lediglich zwei kleine Ausschnitte erschienen in Festschriften für Martin Niemöller und Gerhard Leibholz10. Ein vollständiges Manuskriptexemplar fand schließlich 1975 seinen Platz in der „Sammelstelle für gesamtkirchliches Schrifttum" im damaligen Archiv der EKD, jetzt Evangelisches Zentralarchiv in Berlin11.
7.2. „ Unser Schweigen zu Gewalt und Barbarei" - Anlaß und Intention Anlaß und Intention der Studie stellte Hildebrandt in der Einleitung sowie in einem vermutlich 1950 hinzugefügten handschriftlichen Nachwort dar. Die Arbeit entstand nach seinen Worten in einer Zeit des Epochenwechsels, in der die Humanität überwunden wurde „und mit ihr das Verständnis des Evangeliums, das von der Aufklärung eingeleitet und bestimmt war" 12 . Die „definitive Absage an die Humanität auf allen Gebieten" ging nach Hildebrandts Einschätzung einher mit einer betonten Hinwendung zum „Völkischen", und er fügte als kritische Beobachtung hinzu: „Selbst Anhänger der dialektischen Theologie sind in dieses Urteil einzuschließen; auch und gerade das ,existenzielle' Denken hat bei der Uberwindung der Humanität und der Unterbauung des neuen Nationalismus wesentliche Dienste geleistet".13 „Auch für die Bekennende Kirche gilt die Diskussion [...] vorerst für abgeschlossen", mit der Folge: „Die Kirche schweigt zur Verfolgung der Juden, zu den Greueln der Konzentrationslager, zur drohenden Kriegsgefahr, zur Verkehrung des Rechts und der Wahrheit." Nur an einzelnen Punkten (hier nennt Hildebrandt die Denkschrift von 1936 und die Liturgie für den Gebetsgottesdienst angesichts der drohenden Kriegsgefahr vom September 1938, die zu Umkehr und Buße aufrief und den
8 Von Renner, 9 . 1 . 1 9 5 0 ; Roth an Ratschow, 6 . 6 . 1 9 5 1 ; Ratschow an Hildebrandt, 6 . 6 . und 21.6.1951 ( N L H , 9251/68). 9 Hildebrandt hatte Thielicke bei dessen Gastsemester an der Drew University kennen- und schätzen gelernt. Thielicke teilte Hildebrandt am 15.11.1956 mit, er halte das Manuskript für „schwer zu veröffentlichen", da es „den Lauf der Diskussion wie nach dem Krieg" widerspiegele und damit schon veraltet sei ( N L H , 9317/10).
>° Bibl. Nr. 38 und 54. 11 Von Hermann Delfs, 2 9 . 8 . 1 9 7 5 ( N L H , 9251/68). - Unserer Untersuchung liegt eine Kopie des Manuskripts ( N L H , 9251/37) zugrunde. 12 13
E H , S. 1. E H , S. 2.
Gliederung und Aufbau
159
Verfassern den Vorwurf des „Landes- und Volksverrats" einbrachte14, sowie „zaghafte Anfänge zu eigener ökumenischer Arbeit") und „im Zeugnis und Beispiel Einzelner" wie Niemöller, dem bayerischen Pfarrer Karl Steinbauer und dem im KZ Buchenwald ermordeten Paul Schneider werde sichtbar, „daß das Evangelium nicht einfach neutral zur Humanität steht und daß die ,Menschlichkeit' nicht ein bloßes und ebenso häretisches Gegenstück zum Nationalismus ist"15. Im Nachwort wurde Hildebrandt noch deutlicher. Hier formulierte er eine Kritik an der Barmer Theologischen Erklärung von 1934, wie sie bei anderen erst viel später zu finden ist: ,„Natürliche Theologie' einerseits und frühkirchliche ,Schwärmerei' andererseits sind wirklich nicht, wie wir einst in Barmen nur allzusehr geneigt waren zu glauben, die wichtigsten Gegner, mit denen wir zu kämpfen haben. Das Blut deines Bruders schreit [...]: darum ging es damals, und darum geht es heute mit neuer Dringlichkeit."16 Eine „Revision" sei nötig, um die Kontrapunktik von Evangelium und Humanität wiederzufinden, eine Wiederentdeckung vergessener biblischer Texte sowie das „Eingeständnis, daß die ,Menschlichkeit' in die kirchliche Botschaft hineingehört, daß das Evangelium selbst es ist, das unser Schweigen zu Gewalt und Barbarei Lügen straft"1? Grundlegend für ihn ist dabei die Unterscheidung zwischen einem „theologischen Humanismus", den Hildebrandt ablehnt, und der „praktische[n] Humanität". Das Nachwort schließt: „Das Erbe der evangelischen Humanität ist teuer; es ist durch den letzten Krieg nur noch teurer geworden. ... Einer der Besten, der es uns mit dem Opfer seines Lebens zu hüten gelehrt [hat], ist der Freund und Bruder [Bonhoeffer], dem diese Arbeit gewidmet ist."18
7.3. Gliederung und Aufbau Die Studie ist klar und in für Hildebrandt typischer Weise gegliedert: Ein erster, historischer Teil stellt unter dem Titel „Das humanitäre Verständnis des Evangeliums" zunächst den humanitären „Angriff" dar. Dann schildert Hildebrandt die „Abwehr" der Kirche von Luther und den Bekenntnisschriften über Matthias Claudius, Friedrich Julius Stahl, Ernst Moritz Arndt bis hin zu 14
Vgl. dazu KJ 1933-1944, S. 256f. und E. KONUKIEWITZ, Asmussen, S. 200ff. EH, S. 3. 16 EH, Nachwort, S. III. Der Bezug auf Gen 4 findet sich schon in Marga Meusels Denkschrift „Zur Lage der deutschen Nichtarier" von 1935 (vgl. W. NIEMÖLLER, Steglitz, S. 44 und DB, S. 557f.) 17 EH, S. 3. 18 EH, Nachwort, S. III; vgl. auch Hildebrandts Schreiben an Herbert Jehle über Bonhoeffers Tod, 5.6.1945: „What his loss at this moment means for the cause of Christ and Peace, I need not 15
t e l l y o u " ( N A C H L A S S B O N H O E F F E R , S . 116).
160
,Das Evangelium und die Humanität"
Paul Althaus und Emanuel Hirsch. Auch die Möglichkeiten des „Ausgleichs" werden diskutiert, - mit Emil Brunner, der römisch-katholischen Tradition, dem Anglikanismus und der Oxfordgruppenbewegung. Im zweiten, systematischen Teil unter der Uberschrift „Das evangelische Verständnis der Humanität" wird das biblische Zeugnis untersucht: zunächst der „locus de humanitate", das „salomonische Element" (gemeint ist die Weisheitstradition im Alten Testament) und die „samaritischen Texte" (das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter19 sowie verwandte Texte im Neuen Testament); dann entwikkelt Hildebrandt seinen eigenen ethischen Ansatz. In den Abschnitten „die Menschheit Christi", „die Schwachheit des Fleisches" und „die Niedrigkeit der Kirche". Den Abschluß bilden als Beispiele möglicher kirchlicher Praxis drei Entwürfe über die Stellung der Kirche zu den Juden, zum Frieden und zum Recht. Wie schon bei Hildebrandts Licentiaten-Arbeit ist die strenge Dreiteilung in Hegelscher Tradition konsequent durchgeführt, was mitunter etwas gewollt wirkt20. Es ist für diese Untersuchung daher zweckmäßiger, nicht am Aufbau Hildebrandts entlangzugehen, sondern einige thematische Querschnitte vorzunehmen.
7.4. Stärke und Gefahren des humanitären „Angriffs" Diejenigen, die das Recht der Humanität verfochten, sind nach Hildebrandt diejenigen Christen, die den Kampf „wider jede Anwendung von Gewalt und Gewissenszwang" 21 für ihre Christenpflicht hielten. Vom Standpunkt der offiziellen Kirche her „samt und sonders Außenseiter", einfach argumentierend und oft mit schlechter Theologie behaftet, liege doch gerade in ihrem einfältigen Gehorsam 22 ihre prophetische und protestantische Mission 23 . Immer wieder ist für Hildebrandt der humanitäre Protest in der Kirchengeschichte laut geworden, und er beschreibt die Traditionslinie von den Artikeln der schwäbischen Bauern über die klassischen Friedenskirchen (die Mennoniten und die Quäker, für Hildebrandt wie für „tausende von leidenden Menschen, die sich von den Kirchen enttäuscht und verlassen sehen, der Ingebriff des guten Samariters" 24 ) und die Erklärungen der Menschenrechte bis hin zu Tolstoi, Zola, Gandhi und Albert Schweitzer. Hildebrandt betont die Stärken ih19 Das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter ist für Hildebrandt wie für Bonhoeffer der zentrale Begründungstext für ethisches Handeln der Kirche; vgl. Bonhoeffers Beispiel in seinem Vortrag „Vergegenwärtigung neutestamentlicher Texte" (DBW 14, S. 399-422, hier S. 421) 2 0 Vgl. schon die kritische Rezension zu £57"von G . HOFFMANN, S. 367! 21 E H , S. 4 nach einer Formulierung der „Roten Karte" der BK; vgl. die Abbildung E. RÖHM/ J . THIERFELDER, Kreuz und Hakenkreuz, S. 51. 22 E H , S. 5 in Aufnahme eines Gedankens aus Bonhoeffers „Nachfolge" (DBW 4, S. 67). 23 E H , S. 6. » E H , S. 21.
Die Diagnose: Der Triumph der „Abwehr"
161
rer Argumentation, die er in der kritischen Funktion und im praktischen Bereich sieht. Allerdings gebe es auch die Gefahr einer „Häresie des Systems", wenn aus dem praktischen Protest ein theologisches System abgeleitet wird. Dies habe sich besonders „in den Tragödien des religiösen Sozialismus" gezeigt. Dennoch bleibe das Anliegen im Kern richtig: „Wo nicht der Eifer um die Gerechtigkeit, der Zorn gegen Gewalt und Gewissenszwang brennt, da ist immer schon etwas von dem Feuer der Liebe Christi erstickt." Die Tatsache einer guten und „richtigen" Theologie helfe da wenig: „Und wieder scheint es, daß zu Zeiten die besseren Theologen die schlechteren Christen gewesen sind - ein Resultat, das in jeder Weise eine schwere Anfechtung für die Kirche bedeutet." 25 Sein eigenes Anliegen sei, auf die biblische Ausgangsstellung zurückzukehren, „um das Gespräch über Evangelium und Humanität zwischen der Kirche und ihren Kritikern fruchtbar wiederaufzunehmen" 26 . Mit Bezug auf die drei Artikel des Glaubensbekenntnissses benennt Hildebrandt allerdings folgende Grenzpunkte dieses Gespräches, „wo der humanitäre Gedanke in die humanistische Häresie umschlägt": „Es ist die Tendenz zur Naturalisierung im ersten Artikel, der Versuch, Gewissen und Vernunft an die Stelle der Offenbarung zu setzen und dem Menschen das ,inner light' angeboren sein zu lassen; es ist die Tendenz zur Legalisierung im zweiten Artikel, die mit dem Faktum christlicher' Gesetzgebung notwendig verbundene Gefahr, das ganze Evangelium als moralisches Gesetz zu fassen; es ist endlich die Tendenz zur Politisierung im dritten Artikel, die Meinung, mit,äußerlichen Gebärden' (Luc. 7,20) das Reich Gottes auf Erden aufrichten zu können, das doch allein ,durch den heiligen Geist im Glauben' zu uns k o m m t . " 2 7
7.5. Die Diagnose: Der Triumph der „Abwehr" Den reformierten Ansprüchen entgegen stellt Hildebrandt die Traditionslinie der kirchlich-theologischen Abwehr des humanitären Protestes. Bemüht, die Häresie und den „Mißbrauch des christlichen Namens" 28 zu verhindern, habe sich diese Front seit Luthers Zeiten immer mehr verfestigt. Claudius kämpfte gegen die Revolution und pries die Wohltat der staatlichen Ordnung 29 , Stahl brachte „Unterthanenloyalität" und „Protestantismus als politisches Prinzip" zusammen 30 , schließlich deutete Arndt „in popularisierter und ungleich vergröberter Form" die deutsche Geschichte „ganz im Stil deuteronomistischer Geschichtsschreibung" - nur ohne Sünde - unter der PräEH, EH, 27 EH, 2» EH, 29 EH, 30 EH, 25
S. S. S. S. S. S.
8. 12. 29 (in Bibl. Nr. 38, S. 285). 41b. 51 f. 52-56.
162
,Das E v a n g e l i u m u n d die H u m a n i t ä t "
misse „Gott mit uns" 31 . Für Hildebrandt ist damit „das pastorale ,mit Gott und Gewissen' zum patriotischen ,mit Gott für König und Vaterland' geworden"«. Sei mit Claudius noch ein Gespräch in Sicht, mit Stahl noch eine Debatte möglich gewesen, - Arndt und seiner Haltung gegenüber gebe es nur ein hartes unerbittliches Nein 33 , und Hildebrandt stellt die Frage: „Aber wo ist die Kirche, die dieses Nein gesprochen hätte?" 34 Die Kirche habe dieses Nein nicht gesagt; stattdessen sei die „Abwehr" des Humanitätsgedankens mit aller Kraft weitergegangen und habe sich zu einer Ideologie der „Wirklichkeit" entwickelt, die die Kirche aufgrund des „biblischen Realismus" in Wort und Tat zu respektieren habe. Diese Ideologie, so Hildebrandt, sei nun aber selbst Häresie, „von der hl. Schrift unvergleichlich weiter entfernt als die humanitäre"35. Die Kirche sei gefangen in der babylonischen Gefangenschaft der „Wirklichkeit" und schweige: „Die falsche Lehre wird verziehen, wo die rechte Politik gewahrt bleibt."36 Diese Haltung habe 1933 nur allzu leicht zum „freudigen Ja" geführt, und die gläubige Bejahung des Staates, die zentrale religiöse Bedeutung des „deutschen Schicksals"3^ führe zur äußersten Scheidung von Evangelium und Humanität, „zu einem Ende, das buchstäblich ein Ende mit Schrecken ist und, um die mildeste Form anzunehmen, in der Emigration der Opfer seinen Ausdruck gefunden hat" 38 . Zu diesem Ende hätten nicht nur die Erlanger „Pseudolutheraner" mit dem „Ansbacher Ratschlag" von 1934 beigetragen, den Hildebrandt als „Hymnus auf die Hitlerregierung" 39 charakterisierte. Doch selbst die Bekennende Kirche verrate eine tiefe Befangenheit in den Gedankengängen ihrer Gegner und sei von elementarer Unsicherheit geprägt. Die einfachste biblische Reaktion: „Es ist nicht recht!" sei ausgeblieben, aus Angst, der „Humanitätsduselei" bezichtigt zu werden40. Hier sieht Hildebrandt auch Gefahren der Dialektischen Theologie: Ihre Kulturkritik und ihr Kampf gegen den Idealismus gleich welcher Art hätten mit dazu geführt, daß das Evangelium als vom Humanismus und der Barbarei gleich weit entfernt angesehen werde41. Bei Gogarten könne man sehen, E H , S. 56f. E H , S. 49. 33 E H , S. 58. Arndt wurde von den verschiedensten Gruppierungen von den Nationalsozialisten bis zum „Nationalkomitee Freies Deutschland" als Identifikations- und Integrationsfigur benutzt (vgl. R. STAATS Ernst Moritz Arndt, bes. S. 73F.). 34 E H , S. 58. 35 E H , S. 65. 36 E H , S. 58; vgl. auch oben S. 45 das Beispiel Philipps. 37 E H , S. 61. 38 E H , S. 62. 39 E H , S. 61. Ein ähnliches Urteil bei K . SCHOLDER, Kirchen, Bd. 2, S. 209f. 4 0 E H , S. 61. 41 E H , S. 2 gegen Barths Ausage von 1923: „Schleiermachers Bangemachen vor der ,Barbarei' 31
32
,Was hätte das Evangelium dagegen?"
163
daß es eine Linie gebe, die „von der ,Dialektik' über die ,Wirklichkeit' zur Reaktion" führe, und Barths „britischer Apostel" Sir Edwyn Hoskyns etwa zeige in seinen Predigten eine Vorliebe für die „Sprache der,Tatsachen'" und ein auffälliges Bestreben, „die ,einfachen' Parolen der Humanität zu komplizieren und sie mit Hilfe der ,Wirklichkeit' außer Kraft zu setzen" 42 . Eine „Theologie der schicksalsmäßigen Gegebenheiten" aber lasse sich mühelos zur Legitimierung jeder vitalen, animalischen und bestialischen Gewalt gebrauchen 43 und leiste Schützenhilfe bei einem Rückzug auf dem Gebiete der Humanität, „der naturwissenschaftlich nur dem Schritt von Kopernikus zurück zu Ptolemäus vergleichbar ist und vor dem sich die Kirche schon um dieser Parallele willen gar nicht deutlich genug warnen lassen kann" 44 . In der Kirche würden aber im Gegenteil „nunmehr nach dem Vorgang Karl Barths eben Aufklärung und Liberalismus als die Väter der Irrlehre für die Sünden ihrer Kinder und Enkel heimgesucht und damit die Skylla einer Synthese mit den Ideen von 1789 der Charybdis einer ,Offenbarung' von 1933 durchaus und bewußt gleichgestellt"45. Hildebrandt machte sich die angelsächsische und amerikanische Kritik zu eigen, die der Bekennenden Kirche ihre Distanz zur Humanität als Inkonsequenz und letztlich als Rechtfertigung aller Antihumanität vorwarf 46 . Eine Gleichstellung von Humanität und Barbarei dürfe keinesfalls das letzte Wort der Kirche sein4?
7.6. „Was hätte das Evangelium dagegen?" - zum Scbnftpnnzip der Studie Auf der Suche nach einem angemessenen evangelischen Verständnis der Humanität wandte sich Hildebrandt an die Instanz, „der sich auch die lutheri-
ist als unwesentlich und unsachlich abzulehnen, weil das Evangelium mit der .Barbarei' so viel oder so wenig zu tun hat wie mit der Kultur" (K. BARTH, Fragen und Antworten, S. 11). 42 EH, S. 64; vgl. auch A. WILKINSON, Dissent, S. 204f.: „Hoskyns [...] remained blind to the evils of Nazism. Indeed his authoritarian tone, his schadenfreude, his loathing of liberalism, his refusal to identify Christianity with social democracy and his patrician Toryism seem to have made him sympathetic to a movement which promised strong government and a crusade against ,wetness'." Vgl. EBD. auch den Hinweis auf Hoskyns' Einsatz für Gerhard Kittel. In Frankes Darstellung wird diese problematische Seite der Theologie Hoskyns' nur indirekt deutlich (A.-K. FRANKE, Barth in Großbritannien, S. 130 mit Anm. 169). 43 EH, S. 67; vgl. schon Bibl. Nr. 1, S. 111: „Der laute Schrei nach ,der Wirklichkeit' verrät höchstens den Abstand vom Ziel". 44 EH, S. 86. 45 EH, S. 68. 46 EBD. mit Anm. (vgl. dazu oben S. 56). 47 EH, S. 68. Damit steht Hildebrandt den liberalen Kritikern Barths nahe; vgl. etwa Hermann Mulerts Rezension zu Barths „Theologische Existenz heute!" mit seinem „Nein" zu Barths Relativierung von Freiheit und Recht (bei G. VAN NORDEN, Protestantismus, S. 289).
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,Das Evangelium u n d die Humanität"
sehen Bekenntnisschriften in ihrem Vorwort unterwerfen"48, an die Heilige Schrift. Im Nachdenken über den von ihm so genannten „locus de humanitate" entwickelte er ein Schriftprinzip, das ausgehend von Luthers „urgere Christum contra scripturam"49 den Gedanken des „Fortschritts" geltend machte, mit dem die „scheinbare Untreue gegen den biblischen Text in Wahrheit die stärkere Treue" sein könne. Dabei gehe es immer nur um ein quantitatives, kein qualitatives Mehr. Vom Zentrum zur Peripherie des Glaubens hin werde das Wort ausgelegt, „d.h. ausgebreitet und in seinem Herrschaftsbereich erweitert"50. Die Grundfrage sei dann nicht mehr: Wo steht das geschrieben? sondern: Was hätte das Evangelium dagegen? Pointiert führt Hildebrandt die Sklavenfrage als Beispiel dafür an, „den entscheidenden Schritt auch über die christliche Vergangenheit zu tun", und mit hörbar aktuellen Untertönen stellt er die Frage: „Warum sollte es denn verboten sein, dem, der ,in Christo', im ,Raum der Kirche' mein Bruder ist, nun auch im ,Raum der Welt' seine Gleichberechtigung zu geben?"51 Die Aufklärung habe hier „entscheidend neue und schlechthin unverlierbare Erkenntnisse" gebracht, gerade auch in der Ethik52. Es bestehe für die Kirche keine Notwendigkeit zum Widerspruch, solange diese Erkenntnisse nicht zur Quelle einer neuer Offenbarung oder zur Norm einer neuen theologischen Methode gemacht würden, vielmehr müsse man an ihnen prüfen, was der Heilige Schrift gemäß sein könnte. Diesem Anliegen diente auch Hildebrandts Untersuchung der Theologie der Bill of Rights53, und deshalb geht die beispielsweise von Wolfgang Schweitzer geäußerte Kritik54 an Hildebrandts Intention vorbei: Es war nicht seine Absicht, die Aufgabe einer Theologie der Menschenrechte mit dem Anführen von Bibelzitaten für gelöst zu erklären; er versuchte vielmehr, erst einmal Analogien herzustellen, humanitäre Anliegen und die Bibel in ein Gespräch zu bringen. Dabei stützte er sich im Alten Testament besonders auf die weisheitliche Tradition, die die Brücke zwischen dem „Christlichen" und dem „Menschlichen" bilde. Sie sei „eine beständige Erinnerung daran, daß der Mensch zwar nicht seinen Gott von der Vernunft, wohl aber seine Vernunft von Gott bekommen hat und daß er sie nicht ungestraft mißachtet"55. Historisch gesehen bilde sie die Brücke zwischen Judentum und Hellenismus, und gegen EH, Nachwort, S. I. EH, S. 84. 5° EH, S. 85. 51 EH, S. 86, vgl. auch EBD., S. 110a: „Was hätte das Evangelium dagegen, wenn ein Staat die Todesstrafe abschafft?" 52 EH, S. 86. 5' Bibl. Nr. 38 (in EH, S. 2 4 - 2 9 ) ; vgl. auch oben A n m . 10. 54 Vgl. oben S. 9 A n m . 6. 55 EH, S. 89. 48 49
,Was hätte das Evangelium dagegen?"
165
„die heutige Theologie", die alle Spuren des Hellenismus beseitigen möchte „es soll mit der Verwandtschaft zum Griechentum sofort auch jede Beziehung zu dem auf ihr gründenden Modernismus von Renaissance, Aufklärung und französischer Revolution eliminiert werden"56 - hält Hildebrandt daran fest, daß diese Verbindung sinnvoll gewesen sei und bleibe5? Das salomonische Element dürfe allerdings nicht hypostasiert werden zu einem „immanenten ,Vermögen'" - das führe nur zu einem „traurigen Moralismus" 58 , - aber es sei auch unaufgebbar als eine stete Mahnung an ein Minimum von Humanität. Im Neuen Testament fasse sich die evangelische Humanität zusammen im Begriff des „Samaritischen". Dies sei kein Bindeglied mehr zum Außerbiblischen, sondern „zentrales Element des Evangeliums" selbst. In einer Auslegung der Geschichte vom Barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37) faßt Hildebrandt seine Aussagen zusammen: Gott sei ein Liebhaber des Lebens, jeder Mensch habe vor ihm seinen Wert. Daraus leitet er die Konsequenz ab: „Das Recht, einen Menschen für einen oder mehrere andere sterben zu lassen, steht keiner Instanz zu." 59 Was den Samariter und den, dem er hilft, verbinde, „ist das Tun der Barmherzigkeit und die Erkenntnis, dieser Barmherzigkeit - als Subjekt oder Objekt - zu bedürfen" 60 . Es ist die Einsicht, „daß wir sterbliche Menschen sind, daß die Zeit des gemeinsamen auf-dem-WegeSeins begrenzt ist." Der tiefere Grund für die Einsicht, dieser Barmherzigkeit zu bedürfen, und damit für die christologische Deutung der Samaritergeschichte sei der, daß „alle vom Menschen geübte Barmherzigkeit auf die von Christus empfangene zurückgeht, weil es das Ebenbild des Herrn selber ist, das im Angesicht des Nächsten reflektiert wird, weil beidemal Christus als das Opfer und als der Samariter aller Welt der Nächste ist"61. Gegen eine falsche Vorstellung von der Vergöttlichung des Menschen (Theopoiesis) setzte Hildebrandt die Erkenntnis des russischen Religionsphilosophen Nikolaj Berdjajew, daß der Nächste da recht gesehen werde, wo er als Sterbender behandelt werde62. Hildebrandt setzte die Mahnung hinzu, daß das finitum capax infiniti nur von der Menschwerdung Christi, v o m infinitum capax finiti
her recht verstanden werde63. Nur eine feste christologische Verankerung be-
56
EH, S. 87 EH, S. 87, 89; vgl. auch Bibl. Nr. 8, S. 36: „I am tempted to go with you at least as far as to listen to the Cambridge school before swallowing that unattractive rabbinic picture of our Lord to which Bultmann wants to reduce us." 58 EH, S. 88. Hildebrandt nennt hier auch („freilich in sehr sublimierter Form") Karl Holl (EH, S. 88a). 59 EH, S. 97 60 EH, S. 99. « Ebd. « EH, S. 99a. « EH, S. 101. 57
166
,Das Evangelium und die Humanität"
wahre einerseits vor den Abgründen des „artgemäßen" Christus, der ja „nicht mehr der wirklich Menschgewordene" sei64, auf der einen Seite vor der gnostischen Aufhebung des Unterschiedes zwischen Christus und Adam, „wenn aus der Stellvertretung die Gleichschaltung zwischen Christus und dem Nächsten gemacht wird, wenn der Leib Christi die Menschheit schlechthin und nicht mehr die Gemeinde ist, wenn mit einem Wort die Humanität anthropozentrisch statt christozentrisch verstanden wird"65. Das finitum capax infiniti sei schlechthin unübertragbar66. Der Mensch brauche das Gesetz als „Stütze, die die Schwachheit des Fleisches braucht und die eben um der ,Humanität' willen nicht zerstört werden darf. Ohne die Barmherzigkeit dieser Ordnung ginge die Welt zugrunde"6-! 7 7. Menschliche Gebrechlichkeit zwischen Barth und der
und göttliche Humanität Zwei-Reiche-Lehre
In der festen christologischen Verankerung aller christlichen Humanität traf sich Hildebrandt mit Bonhoeffer68, aber auch mit Barth. Von letzterem jedoch setzte er sich auch deutlich ab. Sah Barth die Bruderliebe als „Evangelium", da „im Bruder die Existenz Christi gleichnishaft begegnet"69, betonte Hildebrandt ihren Charakter als „Gebot", weil sonst die „allgemeine Bruderschaft, wie sie schon zwischen Kain und Abel besteht," verflüchtigt und die Sünde Kains wie die Gnade Christi verdunkelt würden: „Es muß nach dem klaren und einfachen Wortlaut des N.T. dabei bleiben, daß Christus mich an meinen ,Nächsten' weist - und nicht umgekehrt."70 Von daher äußert Hildebrandt auch starke Bedenken gegen Barths damals gerade erschienene Schrift „Rechtfertigung und Recht". Hildebrandt hielt sie für „eine überaus interessante, aber in jeder Hinsicht gewaltsame Wendung gegen die eigene Vergangenheit"71. Es werde expressis verbis die Kirche politisiert und der Staat sakralisiert72. Leider war Hildebrandt aufgrund seiner theologischen Vorbehalte nicht in der Lage, Barths Abwendung von seiner eigenen „DistanzHaltung" zur Politik zu würdigen, die Barth zu einer Bejahung der Demokratie führte: „Es ist nicht wahr, daß man als Christ ebenso ernstlich die Pö-
" EH, S. 102. 65 EH, S. 105. 66 Vgl. hier auch Bonhoeffers Kritik an Zinzendorf und „den Folgen des finitum capax infiniti" (DBW 14, S. 210). 67 EH, S. 106. 68 Vgl. die mehrfachen Bezugnahmen auf Bonhoeffers „Nachfolge" (z.B. EH, S. 100). 69
E H , S. 9 5 n a c h K . B A R T H , K D 1 / 2 , S. 4 5 9 .
70
EH, S. 95. EH, S. 107 Ebd.
71 72
Menschliche Gebrechlichkeit und göttliche Humanität
167
belherrschaft oder die Diktatur bejahen, wollen, erstreben kann wie die Demokratie." 73 Wegen der falschen theologischen Begründung, so Hildebrandt, sei dies jedoch nur der Fall von einem Extrem ins andere. So müßten die Humanität und das Evangelium zu kurz kommen 74 . Für Hildebrandt stand Barth damit durchaus nicht in der Kontinuität der Barmer Erklärung75. Aus ihr leitete Hildebrandt selbst vielmehr ein neues Durchdenken der lutherischen Lehre von Gesetz und Evangelium und von den „Zwei Reichen" ab. Gegenüber Barth machte er deutlich, daß alles menschliche Handeln „zugleich den Stempel der menschlichen Gebrechlichkeit und der göttlichen Humanität" trage76; gegenüber allen „Pseudolutheranern" hielt er fest, daß das Gesetz „kein ,Volks-Nomos', keine rassepolitisch gefärbte ,Schöpfungsordnung'" sei, sondern „in dieser argen Welt ein Rest von Humanität". Das Festhalten an einer modifizierten Zwei-Reiche-Lehre war und blieb Hildebrandts unumstößliche theologische Grundüberzeugung. Noch 1984 betonte er auf der Barmen-Konferenz in Seattle: „The ,temporal' kingdom, so far from giving carte blanche to the ,Eigengesetzlichkeit' of nation and race, is intended to safeguard the use of reason, justice and humanity in the service of Christ." 77 Von Theokratie und Eigengesetzlichkeit gleichweit entfernt, erhalte das „secular life", so Hildebrandt 1938, eine neue „sanctity and sanctification" 78 . Hier nahm er Gedanken des französischen Philosophen Jaques Maritain auf, um zu einer Neubewertung des Naturrechts zu gelangen. Maritain spielte in der angelsächsichen Diskussion eine große Rolle; in Deutschland erschien sein Werk jedoch erst 1950. Hildebrandt würdigte Maritains Ansatz, warf ihm allerdings vor, Humanismus nur als eine „Möglichkeit" zu sehen und damit in das alte katholische Schema von Mandata und Consilia zurückzufallen79. Die Aufgabe der lex naturalis, „zwischeneingekommen um der Sünde willen", sei es, den alten Adam in den Schranken zu halten, für Vernunft und Gerechtigkeit in der Welt zu sorgen und das Verlangen nach dem
Zit. nachM. ROHKRÄMER, Barth, S. 540. EH, S. 101; zur Reaktion Bonhoeffers auf „Rechtfertigung und Recht" vgl. neben E. BETHGE, Zwischen Bekenntnis, S. 149f. auchj. RIEGER, Bonhoeffer, S. 41 f. („tiefe Enttäuschung"); vgl. ebenso R. NIEBUHR in einer Rezension (Theol. 38, 1939, S. 216-218). 75 Anders die Beurteilung Barths bei E. BETHGE, Zwischen Bekenntnis, S. 150. 7* EH, S. 108. 77 Bibl. Nr. 63, S. 300. 78 EH, S. 76 mit der Nähe zu Gedanken Bonhoeffers in „Widerstand und Ergebung" (z.B. DBW 8, S. 241-244). 79 EH, S. 74 ff. Maritains Werk „Humanisme intégral" erschien 1935. Hildebrandt benutzte offensichtlich die englische Ausgabe: „True Humanism", London 1937: Vgl. schon in der LutherVorlesung: „So indeed the question of a ,true humanism' is before us" (Bibl. Nr. 29, S. 137). Vgl. auch Bonhoeffers Anmerkung zur Maritain-Rezeption in den USA: „Vorliebe für katholisierende Humanitätsbegriffe" (DBW 15, S. 234). 73 74
168
,Das Evangelium und die Humanität"
Erlöser und seiner Herrschaft zu wecken80. Zwar gebe es keine spezifisch christliche Regierungsform81, aber eine gegenseitige Kontrolle von Regierenden und Regierten und eine Begrenzung des Staates durch die Menschenrechte hielt Hildebrandt für unabdingbar. Mit dem Sündenfall sei eben nicht die Herrschaft der nackten Gewalt unvermeidlich geworden und die Gestaltung des Lebens irrationalen Mächten unterworfen, wie es die „Fiktion" in „pseudolutherischen Kreisen" wolle. Vernunft und Freiheit seien vielmehr notwendige Komponenten einer Ordnung, die um der Schwachheit des Fleisches willen die Gemeinschaft erhalte82. 7.8. In „göttlicher Schwachheit" der Welt den Frieden Gottes verkünden die Aufgabe der Kirche Die Antwort auf die Frage nach einer angemessenen Gestalt des Evangeliums auf dieser Erde sah Hildebrandt in der Kirche gegeben. Dabei war „Kirche" für ihn stets die „ecclesia invisibilis", die Gemeinschaft der Glaubenden. Seine Ekklesiologie setzte an bei der „Niedrigkeit der Kirche" als der „Synthese von der Menschheit Christi und der Schwachheit des Fleisches"83. Doch gerade in ihrer Niedrigkeit falle es der Kirche zu, die Ordnung zu verkörpern, die wirklich der Menschheit Christi gemäß sei. Ihre Gerechtigkeit sei die des neuen Himmels und der neuen Erde. In der Welt stehend, gehöre sie ihr doch nicht an84. In der Kirche, so Hildebrandt, werde die Realität der Auferstehung erfahrbar, sie könne aber stets nur als Fremdkörper in der Welt leben und müsse in der Pilgrimschaft verharren. Das bedeute nun aber gerade nicht Quietismus und Weltflucht, sondern Verkündigung des Evangeliums sowie „Erinnerung an Gottes Gebot und Gerechtigkeit" (Barmen V) 85 . In seinem hypothetischen kirchlichen „Wort vom Recht"86 entwickelte Hildebrandt in Anlehnung an die zehn Gebote einen Grundrechtskatalog, ein „Minimum an Toleranz", das die Kirche von jedem Staat, der ein solcher sein wolle, einzufordern habe. Gegen alle Einengung des Rechtes auf einen par-
so EH, S. 106. «ι EH, S. 109. 82 EH, S. 112, vgl. Bibl. Nr. 54, S. 502f. Vgl. auch Hildebrandts Aussage in einer Radioansprache vom 30.8.1941: „Yet, it makes a difference even to earthly justice and government, if the chair is left vacant for the word of God, if His law is obeyed, if His judgment is accepted instead of our own; for the rights of man can only be guarded where the rights of God are recognized" (Bibl. Nr. 28, S. 391). ss EH, S. 113. 84 EBD. (vgl. Bibl. Nr. 63, S. 298 f.). Vgl. auch Hildebrandts Argumente gegen Raven (unten S. 236). ss EH, S. 117 Χ- EH, S. 136-140 ( = Bibl. Nr. 54, S. 499-505).
In „göttlicher Schwachheit" der Welt den Frieden Gottes verkünden
169
tikularen Volksnomos setzte Hildebrandt den universalen Charakter der biblischen Botschaft mit dem für ihn grundlegenden Satz aus Apg 17: „Gott hat von einem Blute aller Menschen Geschlechter gemacht." 87 Dieses Minimum an Toleranz umfasse „das Recht der unbeschränkten Glaubensfreiheit" und „das Recht der Eidesfreiheit" ebenso wie etwa „den Schutz der persönlichen Ehre" und den „Schutz der Rechtspflege" 88 . Die Kirche habe keine weltlichen Mittel, um ihre Forderungen auch durchzusetzen; ein „letztes Abstand-Nehmen von aller Revolution" für die Kirche offenbare erneut ihr „Außenseitertum in der Welt". Ihre genuinen Aufgaben blieben das Amt des Wächters, der das prophetische „Es ist nicht recht" zu sagen habe, und das Amt des Trösters in Fürbitte, Predigt und Fürsorge für die, „die die unschuldigen Opfer der Rechtlosigkeit geworden sind" 89 . „Distanz" bzw. „speaker of the opposition" sei die angemessenste Haltung der Kirche im politischen Leben 90 : „So beginnt die Humanität, die die Kirche inmitten von Gewalt und Unrecht an allen Opfern der Zeit übt, mit dem Zeugnis ihres eigenen Mit-Leidens. Sie hat nicht jenes bloße ,Mitleid' von oben her, sondern sie ist mit ihrer ganzen Existenz als Fremd-Körper schon dorthin gestellt, wo man auf sie wartet:,haltet euch herunter zu den Niedrigen' (Rom. 12,16). Weil und wenn sie ihrem Herrn Jesus Christus treu ist, gehört sie von Hause aus und von Rechts wegen an die Seite der Minderheit, der Ausgestoßenen und Unterlegenen." 91
Hildebrandt kritisierte das Schweigen der Bekennenden Kirche für die Opfer des Terrors : „Die Kirche hat gewußt, was in den Kasernen der SA und SS, in den Kellern der Polizei und in den Konzentrationslagern möglich und wirklich ist, und sie hat in Predigt und Gebet dazu geschwiegen; die Opfer des Terrors, für die es keinen Richter, Anwalt und Seelsorger gibt, waren und sind mit ihren Angehörigen und Hinterbliebenen so auch von der Gemeinde verlassen, zu deren getauften und gläubigen Gliedern viele von ihnen zählen."
Stattdessen habe die Kirche viel zu sehr auf sich geschaut und die „überflüssige Kraftvergeudung" begangen, sich auf die Rechtshilfe des Staates zu versteifen, um ihre traditionellen Rechte zu verteidigen92. Besonders deutlich wird die eigentliche Aufgabe der Kirche für Hildebrandt am Problemkreis „Krieg und Frieden". Hier habe die Kirche bisher jedoch lediglich ihre grundsätzliche Distanz zum Pazifismus betont. Auch die 87
E H , S. 138 (vgl. oben S. 39).
88
E H , S. 139 ( = Bibl. N r . 5 4 , S. 5 0 4 f . ) ; vgl. ähnlich Bonhoeffers Schuldbekenntnis ( D B W 6,
S. 129ff.). 89
E H , S. 139.
90
E H , S. 116.
91
E H , S. 120; vgl. auch M . GRESCHAT/R. WOHLRAB, „ L a ß t euch nicht vergiften", S. 5 0 4 .
« E H , S. 137 ( = Bibl. N r . 54, S. 501).
170
Das Evangelium und die Humanität"
Bekennende Kirche habe viel zu häufig ihre nationale Zuverlässigkeit beteuert und ihre Arbeit als Stärkung der „geistigen und seelischen Wehrbereitschaft" gesehen93. Der herkömmliche Standpunkt bedürfe dringend einer Revision. Hildebrandt entwarf als Modell dafür ein kirchliches „Wort vom Frieden" 94 . Es machte deutlich, wie sehr sich Hildebrandt seit dem Katechismus von 193195 immer mehr zu einem entschiedenen Pazifisten entwickelt hatte: ,,a) Es gibt keinen heiligen Krieg [...]. Christus hat in seinem Reich das Schwert abgeschafft: es gibt keinen Kreuzzug, der sich auf ihn berufen dürfte, keine Waffe, die in seinem Namen geweiht und gebraucht werden könnte. b) Es gibt keinen gerechten Krieg [...]. Uns läßt das Beispiel vergangener Zeiten im Stich [...]. Die Kirche hat keine Vollmacht und keinen Befehl, in einer solchen Lage den Richter zu spielen, zu unbedingtem Kriegsgehorsam aufzurufen oder gar dem Zweifelnden in einer ungewissen Sache Mut zu machen. c) Es gibt keinen notwendigen Krieg [...]. d) Es gibt keinen nationalen Krieg [...]. Die Kategorie des Feindes ist darum weder im menschlichen noch im biblischen Sinn auf den Krieg anwendbar." 96
Die Kirche habe alle anderslautenden Illusionen zu zerstören; sie dürfe den Krieg nicht predigen: „Sie muß es von sich weisen, im Namen Christi das Böse gutzuheißen (Jes. 5,20), Kriegswerkzeuge zu weihen oder für den Sieg der Waffen zu bitten oder zu danken." 97 Vielmehr müsse sie angesichts der Gefahr eines Krieges verkündigen, „daß das sicherste Mittel zu seiner Verhütung die einmütige Weigerung aller Glaubenden und Getauften bildet, widereinander das Schwert zu ergreifen" 98 . Sei ein Krieg nicht zu verhindern, so sei das „nicht Schicksal, sondern Schuld - Schuld, an der wir alle Teil haben." Im Angesicht des Krieges sei „keine Haltung mehr möglich, die nicht unter dem Gericht Gottes stünde"; die einzige Möglichkeit, „den Protest, der in Worten zu spät kam, mit der Tat zum Ausdruck zu bringen", sei der Sanitätsdienst 99 . Das offene Bekenntnis der Schuld, die Abkehr von aller Thron- und Altar-Politik und neue Arbeit für den Frieden seien jetzt die Aufgaben für „das Heer Jesu Christi in allen Nationen, dessen Waffe das Wort und dessen Sieg der Glaube ist"100. In einem „Zusatz" aktualisierte Hildebrandt nach Beginn des Krieges im September 1939 seinen Entwurf vom Jahr zuvor. Er blieb bei seiner konseEH, S. 130. Vollständig unten S. 290 ff. 95 Bibl. Nr. 19 (vgl. oben S. 38 ff.). 96 EH, S. 131. 97 EH, S. 133; vgl. auch Bibl. Nr. 19, S. 232: „Die Kirche, die das Vaterunser betet, ruft Gott nur um den Frieden [im Entwurf: ,nicht um den Sieg der Waffen'!] an." 98 EH, S. 133. 99 EH, S. 133f.; vgl. ähnlich Bonhoeffer 1932 in seinem Vortrag „Christus und der Friede" (DBW 12, S. 234) 100 EH, S. 134a. 95 94
In „göttlicher Schwachheit" der Welt den Frieden Gottes verkünden
171
quent pazifistischen Haltung und wandte sich gegen jede Kreuzzugspropaganda, wie sie vereinzelt in Großbritannien laut wurde: „Die gleichzeitige Wendung und die gleichlautenden Argumente der deutschen und englischen Theologen zugunsten des Militarismus sind der beste Beweis, daß der Kriegsstandpunkt für die Kirche unhaltbar ist." 101 Die Kirche dürfe aber nur eine Haltung predigen, wie sie auch im Entwurf der Bekennenden Kirche für den Gebetsgottesdienst 1938 erkennbar gewesen sei: „Tut Buße und glaubt an das Evangelium." 102 Hildebrandts pazifistische Haltung war für die Bekennende Kirche sehr radikal. Es gab nur verschwindend wenige, die diese Uberzeugung teilten. Sie war unter den Bedingungen des Kriegsrechts lebensgefährlich, wie der Fall Hermann Stöhr zeigte103. Begegnungen mit englischen Pazifisten, wo dieser Gedanke eine viel stärkere Tradition hatte als in Deutschland, haben sicherlich Hildebrandts Grundhaltung noch verstärkt104. Hildebrandts grundsätzliches Eintreten dafür, daß sich die Kirche auf ihre eigentlichen Aufgaben besinnen und beschränken sollte, ließ ihn auch in der Frage des Widerstandsrechts gegen ein ungerechtes Regime zu „Vorsicht und Zurückhaltung" mahnen. Er sah in dieser Frage die Verantwortung bei den Richtern als Hütern der Verfassung und dem Heer als Schützer der Bürger 105 . In dem nach zehn Jahren hinzugefügten „Nachwort" jedoch betonte er: „Eine Frage wie die des Widerstandsrechts bedarf erneuter Uberlegung im Lichte der Ereignisse des 20. Juli 1944." Er gab zu: „Tempo und Ausmaß der Barbarei, der wir seit 1933 zustrebten, haben die ärgsten Befürchtungen übertroffen und lassen alle Warnungen, die vor 10 Jahren ausgesprochen wurden, schwächlich und farblos erscheinen." 106 Als später das „Wort vom Recht" in der Festschrift für Gerhard Leibholz erschien, war es Hildebrandt wichtig, in einer Anmerkung auch Bonhoeffers schon 1933 erhobene Forderung, „dem Rad selbst in die Speichen zu fallen"10^ als „entscheidendes ,Postskript'" zu bejahen108. Es gebe eben doch, so räumte er nun ein, Situationen, wo „unmittelbar politisches Handeln der Kirche" 109 erforderlich sei.
'4 EBD., S. 83. 3'5 EBD., S. 113.
Die Kontroverse mit Charles Raven
237
science, school and university, history and theology" vor der Kapitulation bewahrt hätten. Kirche und Theologie seien vielmehr aufgerufen, neue Kriterien der Rechtgläubigkeit zu finden: „Why is it, that you and I - in spite of everything!, are still,within the body' while, let us say, Theodor Heckel in Berlin, calling himself a Lutheran Bishop, is not (and I do hope they will not mistake him for one when he turns up the next time at the World Council of Churches!)?" 316 Gegen Ravens Kriterium einer ernsthaften Wahrheitssuche, das Hildebrandt als „anthropocentric point of orientation" abtat, setzte er „the obedience to the Word of Truth"31? Allein die Orientierung an der Bibel und ihren Kriterien sei der einzig geeignete Prüfstein. Abschließend stellte Hildebrandt seine Kontroverse mit Raven in den historischen Rahmen der Kontroverse zwischen Luther und Erasmus über die Willensfreiheit und erinnerte an Luthers Sterbewort von der Begrenztheit aller menschlichen Erkenntnis, darin um Ravens Verständnis werbend. Ravens Biograph Dillistone faßt den Kern des Konfliktes zusammen: „Charles had his conception of unity: the summing up of the total cosmic process in Christ. Hildebrandt had his: the reference of all things to the one criterion of judgment, God's revelation in Christ. Charles had his trinity: the one creative process, the emergence of the perfect personality, the continuing energy of the Spirit. Hildebrandt had his: Propter Christum, per fidem, sola gratia. The two men found their bond of union in the God-Man, the living Christ. Their interpretations of the way in which G o d was related to man and the world through Christ were still radically different." 318
Das Ergebnis der literarischen Auseinandersetzung war folgenschwer und in gewisser Weise tragisch. Raven, dessen Frau kurz vor der Publikation von „This is the Message" gestorben war, war tief getroffen von Hildebrandts Reaktion. Er sah sich als „Pelagian, Nestorian etc. etc." verkannt und verketzert. Hildebrandts Bemühen, einen informellen Ton zu treffen und doch gleichzeitig die Differenz durch Uberzeichnung klarer zu machen, empfand Raven als Taktlosigkeit. Ihre Freundschaft kam zu einem abrupten Ende, was Hildebrandts (möglicher) Karriere in Cambridge schwer schadete. Hildebrandt selbst schrieb später an Raven: „[When I] felt the pain which I had caused you, I knew that I had made my first mistake, and that ,confessions' of this kind, however laudable in the German situation, were really not wanted here [...]. That one could ever act as a bridge-builder, that another point of view but that of the Cambridge tradition could even find a hearing in the university, was a hope, which I have once had, but have buried long since." 319
316 317 318 319
EBD., S. 114. EBD., S. 118. F. DILLISTONE, Raven, S. 310. An Raven, Π. 12.1948 ( Ν L H ; 9251/68; zit. bei F. DILLISTONE, Raven, S. 312). Vgl. auch
238
Die Kriegsjahre in Cambridge
Als Mensch und Person erfuhr Hildebrandt zwar freundliche Aufnahme in Cambridge, aber zugleich auch das völlige Unverständnis gegenüber seiner Art, Theologie zu treiben: „It is that sheer non-recognition of the continental position, as symbolised in the non-recognition of our degrees, which I have found so humiliating and depressing." 320 Auch wenn Raven dies bestritt, so bedeutete es doch für Hildebrandt, keine berufliche Perspektive in der britischen akademischen Welt zu bekommen. Er erlebte am eigenen Leibe exemplarisch das, was die britische Reaktion auf den Kirchenkampf überhaupt kennzeichnete: Man schätzte den tapferen und aufrechten Widerstand (als solchen nahm ihn die britische Öffentlichkeit jedenfalls wahr) von Einzelnen gegen ein totalitäres Regime, hatte Respekt für ihr theologisches Denken, aber war bis auf wenige, meist freikirchlich geprägte, Ausnahmen nicht zu einer wirklichen Auseinandersetzung mit den theologischen Fragen bereit321. Hildebrandt aber war es langsam leid, nur als „Experte" für die deutsche Kirche und ihren Widerstand gegen Hitler angesehen zu werden. Er suchte ein neues Wirkungsfeld, eine theologische und geistliche Heimat. Es wurde ihm zunehmend deutlich, daß dies nicht das anglikanisch geprägte, akademische Cambridge sein werde.
8.7. Christian International Service, Heirat und Kriegsende Eine der Früchte der damals noch ungetrübten Freundschaft mit Raven war 1943 die Gründung des „Christian International Service"322, „der dem Wiederaufbau im Nachkriegsdeutschland durch die Ausbildung britischer freiwilliger Helfer dienen sollte" 323 . Dieses Thema, der Einsatz der Kirche für den Wiederaufbau nach dem Krieg, zog sich wie ein roter Faden durch die Diskussionen der britischen Kirchen über die Ziele des Krieges. Im Januar 1941 hatte eine Konferenz in Malvern über „Christianity and Social Order" die Verpflichtungen der Kirche hinsichtlich der Aufgaben des Wiederaufbaus in Deutschland nach dem Krieg erörtert. Im selben Jahr hatte Paton nicht nur seine Broschüre „The Church and the new order in Europe" veröffentlicht 324 , sondern auch „plans for a centre for training workers for post-war Ger-
N . HILDEBRANDT, NO winter, S. 13f.: Franz „was the victim, as were so many refugees, of our ,old school tie', our insularity, our career structure, and above all, so far as theologians and pastors were concerned, our denominations and our theology - or lack of it [...]. He simply fell between all stools." 320 An Raven, 31.12.1948 (NLH, 9251/68). 321 Vgl. dazu M.D. HAMPSON, Response, und J.S. CONWAY, Attitude; exemplarisch für die Rezeption Barths Α.-Κ. FINKE, Barth in Großbritannien, besonders S. 172ff. 322 Vgl. R.C.D. JASPER, Bell, S. 288; F. MÜLLER, History, S. 144ff. 323 Bibl. Nr. 13. 324 Vgl. dazu DBW 16, S. 536ff.
Christian International Service, Heirat und Kriegsende
239
many" vorgetragen. Im Oktober 1941 wurden diese Pläne in der „Cloister Group" diskutiert. Diese Gruppe von führenden Kirchenmännern, Anglikanern, Methodisten und Presbyterianern, hatte sich im Frühjahr 1940 zusammengefunden und wollte Pazifisten und Nicht-Pazifisten an einen Tisch bringen, um eine gemeinsame Plattform zur Diskussion der Kriegsziele zu bieten325. Ihren Namen hatte sie nach ihrer ersten Tagungsstätte, dem Haus von Thompson Elliott, Canon of Westminster Abbey, in 4 Little Cloister, unmittelbar neben der Abtei. Die 16 bis 20 Mitglieder wollten so etwas wie eine „Bekennende Kirche" sein, „translated into an English, non-Lutheran form". Als ihre „Basis" verabschiedeten sie die Punkte: ,,a) judgment and our neglect of God's will; b) the lordship of Christ and our pledge of a new loyalty; c) a united fellowship, which would persist under all divisions."326 „Christian fellowship" wurde zum Zeichen und zum Thema dieser ziemlich geheimen Gruppe, die nach außen hin nie in Erscheinung trat. Zum Treffen am 9. und 10. Mai 1941 in Cambridge wurde erstmals auch Hildebrandt eingeladen. Auch wenn er seine Rolle in der Gruppe nur als „foreign curiosity"327 einstufte, brachte er doch wichtige Aspekte in die Debatten ein. Ein „Produkt" der Arbeit dieser Gruppe war der von Temple herausgegebene Band „Is Christ divided?", zu dem auch Hildebrandt einen Beitrag über „Fellowship among Christians: German and British Christians" beisteuerte328. Immer wieder ging es hier um die Frage, wie man Deutschland nach dem Krieg helfen könne, eine stabile Demokratie aufzubauen. Gegen die etwas naive Umerziehungs-Mentalität setzte Hildebrandt seine eigenen Erfahrungen: „ F r a n z H i l d e b r a n d t t h o u g h t t h a t relief a n d r e c o n s t r u c t i o n w o r k m i g h t have t o b e s o m e w h a t o n t h e lines of w h a t Friends 3 2 9 a t t e m p t e d last t i m e [d. h . n a c h d e m E r sten Weltkrieg]. H e d r e w a t t e n t i o n t o t h e d a n g e r of repetition of Versailles. H e p o i n t e d o u t also t h a t it w a s a m i s t a k e t o imagine t h a t m a n y of t h e refugees in this c o u n t r y w o u l d r e t u r n t o G e r m a n y after t h e war." 3 3 0
325 Vgl. Patons ähnlich arbeitende „Peace Aims Group" (dazu LPL LONDON, Temple Papers, 57), deren Charakteristikum war, „firmly tied to practical schemes and to people with power and influence in church and state" (E. JACKSON, Red Tape, S. 266). 326 Protokoll der 2. Sitzung am 11.6.1940 (LPL LONDON, Bell Papers 26). 327 So im Interview mit Michael Ryan (NLH, 9415/4). 328 Bibl. Nr. 30. 329 D.h. die Society of Friends, Quäker. 330 Protokoll der Sitzung der Cloister Group (LPL LONDON, Bell Papers 26). Das Problem der Mitwirkung der Refugees an solchen Programmen bestand überall (vgl. G. NIEMÖLLER, Stuttgarter Erklärung, S. 262). Aus der Gruppe der Refugee-Pastoren versuchte Gordon als Experte für die BK, sozusagen als kirchlicher Liaison-Offizier, mit den britischen Truppen nach Deutschland zu kommen. Trotz starker bischöflicher Unterstützung scheiterte der Plan an der „Non-Fraternisation Order"; vgl. Bischof of Southwark an Bell, 13.4.1945 (LPL LONDON, Bell Papers 39).
240
Die Kriegsjahre in Cambridge
Auf Vorschlag Ravens bat die Gruppe Bell und Hildebrandt, in Zusammenarbeit mit der „Fellowship" ein Konzept für die Arbeit mit Freiwilligen auszuarbeiten. Nach einem erfolgreichen Anfang mit Sprachkursen für Interessierte am „Reconstruction Work" in Cambridge konnten Raven und Hildebrandt vom 14. bis 26. September 1942 in London eine erste „Vacation School" anbieten, noch unter der Schirmherrschaft der „International Fellowship of Reconciliation". Es gab Kurse von Raven über „A Ministry of Reconciliation. The Church in Britain and the Una Sancta", von Rieger und Hildebrandt über „The Situation of the Church on the Continent"; Schweitzer behandelte „Christianity and the Nazi,Weltanschauung'" und Leibholz das Thema „Christianity and International Relations". Die englischen Referenten stellten „Modern German Literature" (Dr. A. Gillies, Hull), „German Education in the 19th and 20 th Centuries" (Prof. Victor Murray, Hull) sowie „Impressions of the Third Reich" (Olive Wyon, Cambridge 331 ) vor. Der Tag begann und endete mit einer Andacht, die abwechselnd von Hildebrandt und Raven gestaltet wurde 332 . Der Erfolg dieses Seminars führte zu Überlegungen zu einem „follow-up", und so organisierte sich die Gruppe der Interessierten und der Dozenten als „Christian International Service" (CIS) 3 3 3 . Zum Vorsitzenden wurde Raven und zum Sekretär Hildebrandt bestimmt. Uber Bischof Bell gelang es ihm, den CIS dem Britischen Kirchenrat, der sich an Pfingsten 1942 gegründet hatte, anzugliedern334. Die „vacation school" hatte aber auch noch eine ganz anderes, privates „follow up" für Hildebrandt: Zu Wyons Vortrag am 24. September erschien auch eine junge Engländerin, die Wyon aus Cambridge kannte, eine Sozialarbeiterin, die eigentlich in den Dienst der China-Mission treten wollte, sich dann aber doch für die Arbeit des CIS zu interessieren begann: Nancy Hope Wright. Geboren 1919, stammte sie aus einer Familie mit starker nonkonformistischer Tradition und wuchs in der presbyterianischen Kirche auf. Zunächst in London, dann aufgrund des Krieges in Cambridge hatte sie Soziologie studiert, bevor sie als Sozialarbeiterin in Ost-London arbeitete 335 , wo sie vor allem polnische Juden zu betreuen hatte. Eher zufällig kam sie an jenem Abend mit Hildebrandt ins Gespräch, und am 1. April 1943 verlobten sie sich. Am Jahrestag ihrer ersten Begegnung im September 1943 wurden
331 Zu Wyons wichtiger Rolle in der Geschichte der Deutschen Gemeinde Cambridge vgl. Bibl. Nr. 62, S. 9. 332 Vgl. das Programm der „Vacation School" (LPL LONDON, Bell Papers 39). 333 Protokoll der Cloister Group vom 29./30.9.1942 (EBD. 26). Vgl. auch das „Statement of aims" (EBD. 54/1). 334 Vgl. Ravens Bericht auf der Sitzung der Cloister Group 19./20.4.1944 (EBD. 26). Ende 1944 ging der CIS im professionelleren „Committee for Christian Reconstruction" in Europe auf. 335 Vgl. ihren Lebenslauf (IfZ MÜNCHEN, MA 1500).
Christian International Service, Heirat und Kriegsende
241
beide in der Kapelle von Christ's College von W.T. Elmslie336 getraut. Eigentlich hätte die Trauung in Finchley, der Heimat von Nancy Hildebrandt, stattfinden sollen, aber kurz vorher wurde bei Hildebrandt eine Operation nötig, die ihn fast bewegungsunfähig machte. Eine Metallplatte, die ihm nach einem Beinbruch infolge eines Fahrradunfalls mit 16 Jahren eingesetzt worden war, war in Bewegung geraten und mußte entfernt werden. Darum mußte er in Cambridge mit einem Gipsbein heiraten33-! Die Heirat war auch ein Zeichen für Hildebrandts zunehmende Bereitschaft, auf Dauer in Großbritannien zu bleiben: „Germany seems the longer the less likely to me."338 Sechs Jahre ständiger Vortragstätigkeit über die deutschen Verhältnisse („reporting on the German topic")339 hatten ihm dieses Thema mehr und mehr verleidet. Daher schlug er auch das Angebot der britischen Bibelgesellschaft aus, nach dem Krieg deren Vertreter für Deutschland zu werden340. Er sah nämlich den Gedanken der Gesellschaft zur Bibelverbreitung in Deutschland als Teil der britischen Umerziehungsmaßnahmen als unpassend an: „You can't throw bombs and then throw Bibles"341, und er spürte: „The Continent is not the field on which I could be used". Aus diesem Empfinden heraus legte er in diesem Zusammenhang auch den Posten des Sekretärs des CIS nieder342. Nachdem im Herbst 1943 klar geworden war, daß es keine akademische Anstellung in Cambridge für Hildebrandt geben würde343, sah er seine Zukunft nun im Bereich des „Home Work" für die britische Bibelgesellschaft. Seine Idee eines „Bible College" wurde zwar nicht verwirklicht, aber die Bibelgesellschaft konnte ihm eine Stellung als Regionalsekretär verschaffen, verantwortlich für „Cambridgeshire and Huntingdonshire and the Public Schools and Colleges of England and Wales". Im Dienst der Bibelgesellschaft bereiste Hildebrandt nun die Internatsschulen und die Umgebung von Cambridge, leicht belächelt von seinen britischen akademischen Freunden344. In London hielt er eine der Bible House Lectures zum Thema „The Bible in the
336
Elmslie war Generalsekretär der Presbyterian Church of England und Sekretär der „Christian Fellowship in War-Time". Er fiel am 9.2.1945 einem deutschen V2-Angriff zum Opfer. 337 Vgl. N . HILDEBRANDT, NO winter, S. 7f. Die Metallplatte war vermutlich auch der Grund für den von W.-D. ZIMMERMANN bemerkten „etwas unbeholfenen Gang" Hildebrandts (Bruder Bonhoeffer, S. 29). 338 An Bell, 9.12.1943 (LPL LONDON, Bell Papers 39/11). 339
A n Bell, 2 8 . 1 0 . 1 9 4 3 ( E B D . ) .
340
Vgl. EBD. und an Bell, 28.12.1943 (EBD.).
341
V g l . N . H I L D E B R A N D T , N O w i n t e r , S. 14.
342
Ebd. An Raven, 31.12.1948: „You let me know that the door was definitely closed to me and that I should not base my plans on any hopes for Cambridge" (NLH, 9251/68). 344 Vgl. EBD. die bittere Erinnerung: „I did not know then how intolerable, from the spiritual point of view, the existence of a Bible Society agent would be." 343
242
Die Kriegsjahre in Cambridge
Churches of Germany" 345 . In diesem Vortrag faßte er noch einmal seine Erfahrung aus all den Jahren „talking on the German topic" in einer für ihn charakteristischen Zuspitzung zusammen: „The longer one talks about this topic, the more one realizes that experience cannot be passed on, and that it ultimately helps very little to know that people are going through sensational adventures in other lands. What can be done and what is helpful is to know that these people in the suffering Churches are drawing on the same source which is available to us here. You cannot transplant their faith, but you can transplant the Word which has created their faith, the message which has produced it. That is the all-important thing: not to tell the tale of Pastor Niemöller and his fellow-sufferers, greatly though it matters, but to point to the Word in whose service they stand." 346
Hildebrandts Hoffnung: „May the world be at peace and in freedom when the year is over!", geschrieben im Geburtstagsbrief für Bell am 4. Februar I944347 erfüllte sich nicht; im Gegenteil: Nach dem Scheitern des Attentats auf Hitler vom 20. Juli 1944 waren die engsten Freunde der beiden in höchster Gefahr. Am 27 Juli wandte sich Bell darum an Außenminister Eden mit der Bitte, einen „Channel of communication" über Schweden für die Gefährdeten in Deutschland zu eröffnen, was dieser mit der berüchtigten Randnotiz: „I see no reason whatsoever to encourage this pestilent priest" quittierte 348 . Hildebrandt, der sich die verzweifelte Lage, gerade auch Bonhoeffers, nur zu gut ausmalen konnte, unternahm beim Bischof, von dessen Brief an Eden er noch nichts wußte, einen Vorstoß: „What will happen to Niemoeller, Bonhoeffer and the others when the SS see that the war is lost? Will anyone think of them and save them from an outside country at the last moment?" 3 4 9 Offenbar traf dies exakt Bells eigene Gedanken und bewog ihn, noch am selben Tag ein weiteres Mal an Eden zu schreiben und ihn um eine Art Fluchthilfe zu bitten 350 . Edens Antwort vom 1Z August 1944 konnte kaum schärfer ausfallen: „Apart from the practical difficulties, I cannot admit that we have obligation to help those concerned in the recent plot who had their
3« Bibl. Nr. 9. 346
E B D . , S. 12.
347
L P L LONDON, Bell Papers 39/11.
348
Vgl L . KETTENACKER, Krieg, S. 199, auch schon D E R S . , Haltung, S. 70, hier irrtümlich
auf den 8. Juli datiert; richtig dagegen (28. Juli 1944) bei R . C . D . JASPER, Bell, S. 2 8 1 ; E . B E T H G E / R . C . D . JASPER, A n der Schwelle, S. 157f. (deutsche Ubersetzung des Briefes). Bell bezieht sich auf seine 1942 über Schweden geknüpften Kontakte, die ebenfalls nicht die Unterstützung der britischen Regierung gefunden hatten; vgl. u . a . D B , S. 850ff., 1003f. Edens ablehnende A n t w o r t v o m 8 . 8 . 1 9 4 4 bei E . B E T H G E / R . C . D . JASPER, A n der Schwelle, S. 164f. (deutsche Ü b e r setzung). 345
A n Bell, 3 . 8 . 1 9 4 4 ( L P L LONDON, Bell Papers 39/11).
55° Bell an Eden, 3 . 8 . 1 9 4 4 (vgl. R . C . D . JASPER, Bell, S. 281).
Christian International Service, Heirat und Kriegsende
243
own reasons for acting as they did and were certainly not moved primarily by a desire to help our case." 351 Somit unterblieb auch jede öffentliche positive Stellungnahme der britischen Regierung zum mißglückten Putsch, und Bell, „this pestilent priest", hatte nach dem plötzlichen Tode Temples im Oktober 1944 den Preis für sein furchtloses Eintreten für das „andere Deutschland" zu zahlen: Obwohl er zu den qualifiziertesten Kandidaten für die Nachfolge als Erzbischof von Canterbury zählte, war klar, daß vor allem seine Reden und sein politisches Engagement zugunsten des „anderen Deutschland" jede Chance zunichte gemacht hatten 352 . Dennoch: die Niederlage Deutschlands und damit das Ende des Krieges war unaufhaltsam, und eine der Fragen, die sich den englischen Kirchen bei der zu erwartenden deutschen Kapitulation stellte, war, wie sie den V i c tory in] E[urope] Day liturgisch gestalten sollten 353 . Auf jeden Fall wollten die Gemeinden in Cambridge das Ende des Krieges wieder gemeinsam begehen, und das Jahresprogramm 1945 der deutschen Gemeinde bestimmte schon im voraus : „Am ersten Tag nach der offiziellen Bekantmachung, daß der Krieg in Europa beendet ist, findet, wie am 3. September 1939, ein deutsch-englischer Gottesdienst um 3 Uhr nachmittags in Holy Trinity Church statt." 354 Nach der deutschen Kapitulation im Mai 1945 besorgten sich Hildebrandt und Howard Cruse, Max Warrens Nachfolger als Pfarrer von Holy Trinity 355 , ein Formular für den „Service of Thanksgiving for Victory and Prayer for Peace among all Nations" und arbeiteten es in charakteristischer Weise um. Alle Passagen, die nationalistisch und militaristisch verstanden werden konnten, verschwanden. So dankten sie nicht für „the victory granted to the Allied Nations", sondern für „the deliverance from tyranny and oppression" 356 . Aus dem Dank „for all who have answered the call to service, for our sailors, soldiers and airmen, for all who have laboured to defend our homes" wurde der Dank „for all signs of tolerance and understanding in time of war, for all words of courage and compassion, for all acts of kindness between friend and foe", und Hildebrandt und Cruse dankten auch „for our unbroken fellowship in the Church of Christ, for the witness of our brethren under the cross, for all who have become martyrs of the "1 Eden an Bell, 1 7 8 . 1 9 4 4 (zit. nach L . KETTENACKER, Haltung, S. 70 A n m . 9 4 ) . 352
Vgl. zu diesem Komplex vor allem R . C . D . JASPER, Bell, S. 2 8 4 f .
353
Die Temple Papers ( L P L LONDON, Temple Papers 5 5 ) enthalten die A k t e n des Erzbischofs
betreffend die Einsetzung einer entsprechenden Kommission (vgl. auch A . WILKINSON, Dissent, S. 304ff.). 3M
Ν LH, 9251/54.
355
1942 war Warren z u m Generalsekretär der Church Missionary Society ernannt worden. H o -
ward Cruse wurde später Provost von Sheffield und Suffraganbischof von Knaresborough. 356
Ν LH, 9251/54.
244
Die Kriegsjahre in Cambridge
faith." Jede Andeutung von Triumph, Opfergang und Kreuzzugsmentalität, die in dem ursprünglichen Formular an einigen Stellen zu Tage trat, wurde gestrichen. In der Zeit nach Kriegsende war die Hauptaufgabe der deutschen Pastoren zunächst einmal das Sammeln von Informationen über das Schicksal der Menschen, die in Deutschland geblieben waren. Freudenbergs Telegramm aus Genf vom 30. Mai 1945, das die Nachricht von Bonhoeffers Hinrichtung enthielt, löste einen Schock aus 35 ? Während Rieger nach Oxford fuhr, um Leibholzens beizustehen, gab Hildebrandt die Nachricht und alles, was er zu dieser Zeit über die Vorgeschichte und das Schicksal weiterer Familienangehöriger wußte, an andere Freunde weiter, auch an Herbert Jehle in den USA: „Dietrich Bonhoeffer is dead. [...] It ist too aweful to put this down in cold blood [...] what his loss at this moment means for the cause of Christ and Peace, I need not tell you. With us here all is well. We live in comfort and safety; but it is all so unreal." 358 Dreißig Jahre später versuchte Hildebrandt seine damaligen Gefühle in einem Brief an Bonhoeffers Nichte Marianne Leibholz zu beschreiben. Immer noch fehlten ihm eigene Worte, und so lieh er sich die Worte ihres gemeinsamen Lehrers: „Was seinerzeit Harnack beim Tode Holls sagte: ,Mit ihm ist ein Teil meines eigenen Lebens zu Grabe getragen', das gilt in erhöhtem Maß von mir." 359 Am 27 Juli 1945 feierten Deutsche und Engländer in der Londoner Holy Trinity Kirche am Kingsway einen Gedächtnisgottesdienst für Bonhoeffer, bei dem Bischof Bell und Hildebrandt die Ansprachen hielten. In dieser Ansprache zeichnete Hildebrandt das persönlichste Bild seines Freundes anhand von 2 Chr 20,12. Er beschrieb Bonhoeffers Entwicklung: „Seine Vertiefung in das ethische Problem war keine selbstgefällige Freude an der Problematik dialektischer Theologie. Das Suchen mußte ans Ziel führen, das Fragen verlangt Antwort." 360 Bonhoeffers Weg in den Widerstand, ins Gefängnis und ins Martyrium „können ihm nichts anderes gewesen sein als ein neues höheres Stadium der Nachfolge". Das „Geheimnis der Person Dietrich Bonhoeffers" wie auch sein Vermächtnis liege in der „Wendung von der quälenden Frage in die getroste Nachfolge Christi": „Man kann es an der Entwicklung seines Stils verfolgen, wie von den ersten abstrakten Untersuchungen bis zu den letzten Seiten der,Nachfolge' alles immer unbeschwerter und einfältiger wird." 361
357
Abbildung bei J . RIEGER, Bonhoeffer, S. 66.
358
A n Jehle, 5.6.1945 (NACHLASS BONHOEFFER, S. 116).
359
An M. Leibholz, 175.1978 (NLH, 9251/22). Bibl. Nr. 34, S. 14.
360
·Ι E B D . , S . 15.
3Ί
Christian International Service, Heirat und Kriegsende
245
Die Apostrophie des kindlichen, frommen Vertrauens bei Bonhoeffer sollte eigentlich Hildebrandts letztes Wort zu Bonhoeffers Theologie bleiben362. Vielleicht deshalb reagierte er später so allergisch auf alle Versuche, Bonhoeffers Leben und Werk zu analysieren. Hildebrandts Ansprache war eine Abschiedsrede, - nie wieder hat er so direkt über seinen Freund gesprochen. Sabine Leibholz dankte ihm anschließend: „Keiner hätte es ja so schön machen können." 363 Für ihren Mann hatte der Tod Bonhoeffers die Freundschaft zu Hildebrandt „noch kostbarer gemacht, als sie vorher schon war"364. Erst durch die Übertragung dieses Gottesdienstes durch die BBC erhielten die Berliner Verwandten und Freunde Bonhoeffers „die ersten gewissen Nachrichten von Dietrichs Tod"365, und die deutschen Kirchenvertreter, versammelt zur Synode in Spandau, erlebten dankbar und fast verwundert das Zeichen der Verbundenheit, das in dem deutsch-englischen Gottesdienst sichtbar wurde366. Auch jetzt noch erwies sich die BBC als bestes Mittel zur Uberwindung der Grenzen und zur ökumenischen Verständigung, zumal solange die Verkehrs- und Nachrichtenwege in Deutschland weitgehend zerstört waren. Am 17. Februar 1946 übertrug die BBC einen lutherischen Gottesdienst aus St. Georg aus Anlaß des 400. Todestages Martin Luthers 36 ! Hildebrandt hielt in diesem Gottesdienst die Predigt über Joh 9,8-9 und verwendete darin eine englische Ubersetzung von Bonhoeffers Gedicht „Wer bin ich?"368 Dies dürfte das erste Mal gewesen sein, daß ein Text Bonhoeffers in der englischen Öffentlichkeit bekannt wurde. Die ersten Nachrichten, die von dem befreiten Martin Niemöller zu hören waren, riefen auch bei den Refugee-Pastoren sehr gemischte Gefühle hervor, was nicht zuletzt an der alliierten Berichterstattung lag, die ihren bisherigen „Helden" aufgrund seiner Äußerungen nach seiner Entlassung nun demontierte. Daraufhin stellte Bell fest: „When a hero ceases to be a hero, he becomes a problem." 369 Niemöller hatte nicht nur die schon früher aufgetauchten Gerüchte über seine freiwillige Meldung zum Wehrdienst, die Hilde-
362 Hildebrandt zitierte den Schlußsatz aus Bonhoeffers „Akt und Sein" (DBW 2, S. 161) und bezog ihn auf Bonhoeffer: „Was er einst über die Hoffnung des Christen schrieb, ging ihm in Erfüllung" (Bibl. Nr. 34, S. 16). 363 Von S. Leibholz, o.D. (nach dem 2771945; NLH, 9251/24). 3M
365
Von G . Leibholz, 2 8 . 7 1 9 4 5 (EBD.).
E. BETHGE, Zitz, S. 224 (der Ort des Gottesdienstes ist hier zu korrigieren). 366 Vgl. Böhms Begrüßung bei der Spandauer Synode (EBD., S. 226) und Wurms Brief an Bell vom 7 8.1945. Vgl. auch G. ALTMANNSPERGER, Rundfunk, S. 124f. 367 Vgl. die Unterlagen dazu in NLH, 9251/68. 368 DBW 8, S. 513 f. 369 LPL LONDON, Bell Papers 10.
246
Die Kriegsjahre in Cambridge
brandt immer für „impossible" gehalten hatte 370 , bestätigt; er äußerte sich auch in kritischer Weise gegen die Weimarer Verfassung und betonte, sein Kampf gegen Hitler sei kein politischer Widerstand gewesen371. In einem kurzen Artikel im Juli-Bulletin der „Fellowship" 372 versuchte Hildebrandt daraufhin, etwas Licht in die verworrene Nachrichtenlage zu bringen. Natürlich habe er gehofft, daß die Geschichte von Niemöllers freiwilliger Meldung zum Kriegsdienst unwahr sei. Dennoch sei sie wohl authentisch. Er sprach jedoch den Engländern die Berechtigung ab, Niemöllers Haltung zu kritisieren: „The only legitimate criticism of Niemöller's action could be made by a pacifist, and I have fiercely argued with him from that point of view." Hildebrandt erinnerte sich auch, daß Niemöller noch 1935/36 davon überzeugt war, daß im Falle eines Krieges niemand für Hitler in den Krieg ziehen würde und er jedenfalls seine Söhne nicht gehen lassen würde; - er vermutete, daß Niemöller seine Ansicht in den zwei Jahren Einzelhaft geändert habe, und wies darauf hin, daß man den Eindruck der nationalsozialistischen Propaganda auf Menschen mit einer so großen Vaterlandsliebe wie Niemöller nicht unterschätzen dürfe373. Am 28. September 1945 berichtete Niemöller Hildebrandt brieflich über die Jahre seit 1937; sein Bericht war wohl auch als Antwort auf die Kampagne der „ausgesprochen gehässigen Artikel" gegen ihn gedacht374. Hildebrandt sorgte dafür, daß Auszüge dieses Briefes mit den Teilen, die Niemöllers Schicksal während der Kriegsjahre betrafen, in Abschriften in Großbritannien verbreitet wurden. Niemöllers kritische Schilderungen der ersten Nachkriegserfahrungen mit der Kirche in Deutschland behielt er jedoch für sich, wohl wissend, welche erneute Verwirrung die Veröffentlichung mit sich bringen würde: sowohl seine Klage, „die alten Neutralen haben in Wirklichkeit das Heft in der Hand und weichen nicht von ihren Plätzen" als auch Niemöllers Äußerung, daß Dibelius, der keinen Wert auf Niemöllers Rückkehr nach Berlin lege, sich zum Bischof gemacht habe und „natürlich nach dem Führerprinzip" regiere375. Mit diesen Bemerkungen trug Niemöller sicher dazu bei, daß sich Hildebrandts Gedanken über seine Zukunft immer mehr von Deutschland ab wandten. Hildebrandts Seelsorgebereich hatte sich in dieser Zeit weit über Cambridge und über den Kreis der ursprünglichen deutschen Gemeinde hinaus ausgedehnt. Uberall in East Anglia waren Lager für deutsche Kriegsgefangene eingerichtet worden. Zunächst war der Zugang zu diesen Lagern so-
370 371 372 373 374 375
Vgl. oben S. 156 Anm. 189. Vgl. die Zusammenfassung bei J . BENTLEY, Niemöller, S. 160f. Bibl. Nr. 33. EBD., S. 4. ZEKHN DARMSTADT, 62/2442a; mehrfach zitiert bei J . BENTLEY, Niemöller, S. 172ff. Ebd.
Christian International Service, Heirat und Kriegsende
247
wohl für die deutschen Pastoren wie für britische Kirchenvertreter aufgrund der „Non-Fraternisation"-Politik sehr schwierig; später jedoch fand die Arbeit breite Unterstützung durch staatliche Stellen. Im Norton Camp bei Mansfield in Nottinghampshire konnte sogar ein theologisches Seminar eingerichtet und damit eine Idee des schwedischen Pastors Birger Forell, der seit 1944 in der Kriegsgefangenenbetreuung tätig war, in die Tat umgesetzt werden. Hier im Norton Camp hielt Hildebrandt im Sommersemester 1947 eine insgesamt zehnstündige Gastvorlesung über „Das Erbe Luthers in Deutschland und England."376 Die Arbeit in den weit verstreut liegenden Lagern wurde so intensiv, daß Hildebrandt nach dem Ende seines Dienstauftrages für die Bibelgesellschaft im Sommer 1946 sogar überlegt hatte, hauptamtlich in der Kriegsgefangenenfürsorge tätig zu werden377 Doch sein Weg ging in eine andere Richtung.
™ Vgl. K . LOSCHER, S t u d i u m , S. 123. 377
A n B e t h g e , 2 7 3 . 1 9 4 6 (SAMMLUNG BETHGE,
WACHTBERG).
9. „ A T R A N S I T I O N , N O T A B R E A K " DER ÜBERGANG ZUM METHODISMUS
9.1. Von Luther zu Wesley Hildebrandts Buch Melanchthon: Alien or Ally?1, das 1946 erschien und auf Vorlesungen aus dem Frühjahr 1944 basierte, markiert einen inneren Wendepunkt. Hildebrandt versuchte sich noch einmal als „bridge-builder" zwischen der kontinentalen reformatonschen und der britischen humanistischen Tradition und wollte dabei für seine englischen Leser die Verbindungen und Unterschiede zwischen Luther und Melanchthon, zwischen Reformation und Humanismus aufzeigen. Im Vorwort zeichnete er ein Bild seiner selbst und seines theologischen Weges : „The traveller w h o has left the Third Reich behind and walks for the first time through King's or Clare towards the University Library cannot help feeling both drunk at the taste of freedom and overwhelmed by the unbroken unity of medieval tradition and modern life; and sick as he is of dictatorship in politics and in theology, of ,secular despair' and of ,Christian realism', he longs more than ever for ,true humanism', and he turns to Melanchthon." 2
Auch wenn Melanchthon für mannigfache „concessions" (nämlich an „tradition, reason, law, power, and opposition") verantwortlich sei, habe er jedoch gerade damit einen konstitutiven Beitrag zur Fortentwicklung der reformatorischen Theologie geleistet. Es sei töricht, ganz auf Melanchthon und seine Rolle verzichten zu wollen, wie es die „purist tendency ofmodern Protestant theology" versuche. Es gelte, das Gute zu bewahren, auch gegen das Risiko eines „Anathema from Basle or similar authoritative quarters" 3 : „It is essential to know that there is room in the one Church for both" 4 . Schaue man zurück auf die theologische Entwicklung in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert mit ihrem Versuch, Aufklärung und Idealismus zu überwinden, so bleibe dagegen festzuhalten: „With all our radicalism we have come so fatally near to barbarism that only another world war could open our eyes to the value in the tradition of those other nineteen centuries on which our Western civilization is built; n o w that the founda-
1 2 5 4
Bibl. Nr. Ebd., S. EBD., S. EBD., S.
10. IX. XI. 198.
Von Luther zu Wesley
249
tions are threatened we feel that we must defend them or perish. [...] Let us be honest and realize that we cannot jump over our own shadow, [...] we cannot have the sixteenth century without the eighteenth and nineteenth just as we cannot cultivate Bach and Reger while shutting our ears to Beethoven. However violently we may dislike and resent it, we are children both of the reformers and of the humanists; their combined influence has shaped our modern thinking more than anything else." 5
Das Zitat zeigt, worum es Hildebrandt eigentlich ging: Nicht so sehr um eine historische Einordnung Melanchthons, sondern um eine systematische Klärung dessen, was Luthertum bedeutete; darum, ob die „Konzessionen", für die er Melanchthon verantwortlich machte, auch heute von der Kirche noch zu machen seien. Im Grunde ist das Buch nichts weniger als eine Klärung von Hildebrandts eigener Herkunft und Theologie in Gestalt einer kritischen Auseinandersetzung, - sowohl mit der „Lutherrenaissance" der Holl-Schule, für die Melanchthon stets nur als „dunkle Folie für das Leuchtbild Luthers" galt - als einer, der Luthers Erkenntnisse „verdarb" 6 - , als auch mit Barths „dialektischer Theologie" und ihrem Purismus, in dem Melanchthon völlig aus dem Blick geraten war. Hildebrandt fragte am Beispiel Melanchthons nach Luthers Erbe, - und dies war die Frage, mit der wenig später (im Februar 1946) Ernst Wolf in scharfen Worten Luther von der Lutherrenaissance und ihren politischen Auswirkungen schied und die er mit der Feststellung beantwortetete: „Das Erbe wurde zum Raub." 7 Diese Auseinandersetzung spielte auch in Hildebrandts Melanchthon eine große Rolle. Melanchthon habe mit seinen mannigfachen „concessions" Luthers Theologie an entscheidenden Punkten erweitert, aber auch vorangebracht 8 . Damit setzte sich Hildebrandt mit Holls Forderung einer „Ergänzung Luthers" auseinander und sah sie, z . B . auf dem Gebiet der Ethik, durch Melanchthon vorgezeichnet 9 . Festzuhalten bleibe jedoch als „lutherische" Grenze: das „Bündnis" müsse stets auf dem „Bekenntnis" aufbauen, und im Zweifelsfall habe das Bekenntnis Vorrang. Doch genau daran hätten sich gerade die selbsternannten Hüter Luthers nicht gehalten: „In accepting the National-Socialism as an expression of the Schöpfungsordnung, many .Lutheran' professors prostituted theology; in cooperating ,externally' with the Kerrl administration Zoellner experienced the great tragedy - so strangely si-
Xf. Vgl. dazu auch M . GRESCHAT, Philipp Melanchthon, S. 322. 7 E . WOLF, Luthers Erbe?, S. 68. 8 Vgl. etwa Bibl. Nr. 10, S. 65: „Melanchthon was far less critical about the secualar arm - be it in loyalty, or in resistance. He was, after all, the better politician." 9 Dazu vgl. J . WALLMANN, Karl Holl, S. 32F.; vgl. ähnlich bei Hildebrandt schon Bibl. Nr. 29, S. 140 (dazu vgl. oben S. 156). 5
6
EBD., S.
250
Der Übergang zum Methodismus
milar to that of Melanchthon - of ending a life devoted to the freedom of the church by handing it over to permanent state slavery."10 Hildebrandt stellte sich im Lichte seiner Erfahrungen im Kirchenkampf in der Frage der Adiaphora und des „status confessionis" durchaus auf die Seite der kompromißlosen „Gnesiolutheraner" gegen die „Phlippisten": „What time and pain did it cost the Church in Germany to realize that the Gospel was at stake when the conflict was about such trifles as collections, notices, flags, etc."11 Dennoch dürfe man Melanchthon nicht für alle Fehlentwicklungen des Luthertums verantwortlich machen, denn in den grundlegenden Fragen habe er stets am Bekenntnis festgehalten, ja sei im Kampf gegen die Häresie geradezu als „Fundamentalist" aufgetreten. Einzig in der Frage der Adiaphora, der „schweifenden Sachen", sei er zum Nachgeben bereit gewesen; allerdings habe er die Eigendynamik dieser Frage weit unterschätzt. Das Rätsel liege in Melanchthons „disharmony between the confessions and the concessions", doch das sei schließlich das Schicksal „of all of us who, through no choice of their own, are children both of Reformation and Humanism" 12 . Die Aufgabe nicht nur der lutherischen Kirche sei es, stets neu im Lichte der Bibel die Balance zwischen Luther und Melanchthon, Reformation und Humanismus zu suchen und auf die Fragen der Gegenwart anzuwenden. Hildebrandts Arbeit lief auf eine Ehrenrettung eines Lutherbildes vor der Engführung auf den „jungen Luther" hinaus; ihm ging es um den „ganzen Luther" mit Einschluß dessen, was an positiven Impulsen durch Melanchthon und die weitere Entwicklung hinzukam. Von ihrer Absicht her ist sie vielleicht am ehesten mit Walter von Loewenichs „Luther und der Neuprotestantismus" zu vergleichen. Hildebrandt wie Loewenich halten den Weg, der von Luther zum neuzeitlichen Wahrheitsbewußtsein führt, für eine gute und das Erbe Luthers fortscheibende Entwicklung13. Wie in Das Evangelium und die Humanität ging es Hildebrandt in Melanchthon um eine neue, der Zeit angemessene Deutung des lutherischen Erbes, und Melanchthon war ihm Kronzeuge für Chancen wie für Gefahren einer „Vermittlungstheologie" überhaupt. Hildebrandt unternahm diese Aufgabe mit dem für ihn typischen unhistorischen Ansatz. Er gab freimütig zu: „The theme ist entirely doctrinal and not historical", denn „the historical point oif view", so rechtfertigte er dies Vorgehen mit einem Zitat des Schriftstellers C.S Lewis, „never asks whether it is true"14. Das macht es dem Leser, der etwas über Melanchthon erfahren will, jedoch eher schwer, die Denkbewegungen Hildebrandts nachzuvollzie1» Bibl. Nr. 10, S. 63. » EBD., S. 88. 12 Ebd., S. 98. 13 W. VON LOEWENICH, Luther und der Neuprotestantismus, S. 385. » Bibl. Nr. 10, S. Xllf.
Von Luther zu Wesley
251
hen15. Hinzu kommt eine für britische Leser vollkommen ungewohnte Fülle von Fußnoten und (teils lateinischen) Zitaten. Das Buch rief darum sehr gemischte Reaktionen hervor. Dem methodistischen Rezensenten Gordon Rupp erschien es „exciting" und „a landmark in the reeducation of the English as to the meaning and content of the message of the German Reformation" 16 . Hingegen warf der Anglikaner J . O . Cobham in einer sehr kritischen Rezension Hildebrandt vor, schon die Grundfrage „alien or ally?" sei für britische Leser falsch gestellt, und konstatierte, aus dem Buch spreche eher der Prediger Hildebrandt als der wissenschaftliche Theologe. Außerdem schreibe er an den Bedürfnissen und Interessen seiner Leserschaft vorbei, die nicht in den Denktraditionen und Kontroversen des Kontinents aufgewachsen sei. Hildebrandts Bemühen, die „modern applications" miteinzubeziehen, wurde als fehlgeschlagener Versuch kritisiert, populär sein zu wollen. Hildebrandt sei, so lautete Cobhams Schlußurteil, einer jener „continental theologians", deren Zustrom unter dem Druck des Nazi-Regimes zwar das englische kirchliche Leben bereichert habe, aber: „They have forced us to reconsider our controversies in continental terms. They have forced us to attempt to understand their controversies. In doing this they argue from presuppositions which are by no means always our presuppositions." 17 Dennoch wurde Melanchthon dasjenige Buch Hildebrandts, dem die tiefste Nachwirkung in England beschieden war, - es steht bis heute in Oxford auf Literaturlisten zum Thema Reformation. Melanchthon war für Hildebrandt aber eigentlich nur eine Zwischenstation auf seiner gedanklichen Reise, die ihn von seiner Herkunft in der deutschen akademischen Theologie in sein neues britisches Umfeld führte. In den Zitaten und in den Ausführungen, z.B. über die Auseinandersetzung Wesleys mit den Herrnhutern18, deutete sich schon an, daß Wesley allmählich den Platz in Hildebrandts Theologie einnehmen sollte, der bisher von Luther besetzt gewesen war. Hildebrandts Theologie befand sich in dieser Zeit im Umbruch. Hinzu kam das Dilemma seiner äußeren Situation: Nach Kriegsende ging die Zahl der Glieder der deutschen Gemeinde in Cambridge stark zurück. Viele der Alteren kehrten zurück nach Deutschland, die Jüngeren blieben zwar meist in Großbritannien, aber wuchsen hinein in die englische Gesellschaft und 15 Vgl. auch P. Fraenkel in: P. FRAENKEL/M. GRESCHAT, Melanchthonstudium, S. 31 f. sowie W. HAMMER, Melanchthonforschung, Nr.193529. 16 G . RUPP, S. 281 f. In den sechziger Jahren kam es zu einem Bruch zwischen R u p p und Hildebrandt wegen der Frage der methodistisch-anglikanischen Unionsverhandlungen (vgl. unten Anm. 58). 17
J . O . C O B H A M , M e l a n c h t h o n 3 2 ; vgl. a u c h M . G r e s c h a t in: P. F R A E N K E L / M .
Melanchthonstudium, S. 180. 18 Bibl. Nr. 10, S. 37f., 46-49.
GRESCHAT,
252
D e r Übergang zum Methodismus
fanden ihren Weg in die englischen Kirchen. In dieser Situation gab es für Hildebrandt eigentlich nur drei Möglichkeiten 19 : die Rückkehr nach Deutschland („which I knew was not for me"), die Arbeit in einer „English speaking Lutheran Church" 2 0 oder aber den Übertritt in eine englische Freikirche. Der Ubergang in die Kirche von England schied für Hildebrandt von vornherein wegen ihrer Forderung nach bischöflicher Nach-Ordination aus, - schließlich war es ihm im Kirchenkampf von Anfang an um die Anerkennung seines Amtes und seiner Ordination gegangen21. Persönliche Bekanntschaften und theologische Überlegungen führten ihn in dieser Zeit zu einer Kontaktaufnahme mit der methodistischen Kirche 22 . Wie Hildebrandt Bethge 1959 mitteilte, war er am 9. April 1945 „zu einem Besuch bei Maltby, dem ,Vater' des englischen Methodismus, um Klarheit über meinen bevorstehenden Schritt zu bekommen." Er hielt es später für eine besondere Fügung, daß dieses Gespräch an dem Tag stattfand, an dem Bonhoeffer in Flossenbürg hingerichtet wurde 23 . A m 19. Juli besuchte Hildebrandt die jährliche Konferenz der britischen methodistischen Kirche in Nottingham und wurde, noch als Vertreter „der Deutschen Bekennenden Kirche", mit großer Herzlichkeit empfangen. In seinem Grußwort sprach Hildebrandt als „Schüler Luthers" von seiner „in vielen Jahren gewonnenen Zuneigung zu der von John und Charles Wesley gegründeten Kirche" und davon, daß die Bekennende Kirche das Gebet und das Verständnis anderer gerade jetzt noch mehr als je brauche 24 .
So Hildebrandts eigene Einschätzung im Interview mit Michael Ryan (NLH, 9415/4). Das war das Ideal, das u.a. Kramm anstrebte, der bewußt Lutheraner blieb und schon am 711.1939 an Hildebrandt geschrieben hatte: „Wollen wir unsere Arbeit nur aus Sprachgründen motivieren mit dem Ziel, in engl. Kirchen überzuleiten, auf eigene Gemeinden etc. zu verzichten und die Leute, sobald sie es können, ihre eigenen Wege gehen zu lassen und ihnen zur Erbauung einmal hier und da einen Gottesdienst mit deutschen Chorälen halten? Oder haben wir den Mut, sie - abgesehen von der Sprache - im Luthertum zu halten?" (NLH, 9251/27). Kramm entschied sich (anders als Hildebrandt) fürs letztere, indem er ganz konsequent auf lutherische Gottesdienste in englischer Sprache hinarbeitete und die Unterstützung des Lutherischen Weltbundes suchte, - womit er den schärfsten Nachkriegskonflikt zwischen einem Teil der Gemeinden, die sich als lutherische Synode konstituierten, den restlichen Gemeinden und dem Kirchlichen Außenamt auslöste. Am 7 10.1968 bekannte Hildebrandt gegenüber Bethge, „daß ich so gut wie ganz zu Kramms Ansicht bekehrt bin und wünschte, ich hätte die letzten 20 Jahre der Propagierung des Luthertums in England gewidmet, statt den nutzlosen Ausflug in den von Wesley völlig abgekehrten Methodismus 19
20
z u u n t e r n e h m e n " ( S A M M L U N G B E T H G E , W A C H T B E R G ; v g l . a u c h B i b l . N r . 6 2 , S . 16). 21 Diesen für Hildebrandt entscheidenden theologischen Aspekt unterschätzt R . WEBSTER, German „Non-Aryan" Clergymen, S. 92, wenn er vermutet, Hildebrandts Ablehnung eines Amtes in der Kirche von England sei „one consequence of these frustrations" (seit der Erfahrungen in Cambridge und der Internierung). 22 Vgl. schon die Korrespondenz mit Edwin Finch und W. Harold Beales (NLH, 9415/13). 23
A n B e t h g e , 1 8 . 8 . 1 9 5 9 (SAMMLUNG B E T H G E ,
24
Vgl. den Bericht im „Methodist Recorder" vom 26.71945 (Übersetzung: ZEKHN DARM-
STADT, 3 5 / 2 0 4 ) .
WACHTBERG).
Von Luther zu Wesley
253
Im Jahr darauf, im Juli 1946, wurde er von der Konferenz als Mitglied akzeptiert und trat so in den Dienst der methodistischen Kirche, - unter Anerkennung seiner Ordination und Anrechnung seiner Dienstjahre in Deutschland. Seine persönliche „Apologie" hat Hildebrandt in From Luther to Wesley15 niedergeschrieben. Dieses Buch war für ihn „ein Ubergang, kein Bruch; eine Ubersetzung von einer Sprache in die andere" 26 . Seine Grundlage war ungebrochen die gleiche geblieben: „The battle then and now is indeed for the ,perfect, full and present salvation through Christ' against all,dialectics' in theology, but unspoiled by the flavour of Pietism; and this battle can only be won by the united forces of Luther and Wesley."27 Im britischen Methodismus sah Hildebrandt Luthers Ideal der Kirche derer, die mit Ernst Christen sein wollen, das lebenslang auch sein eigenes Ideal war, verwirklicht28. Nancy Hildebrandt erinnerte sich, daß für Franz Hildebrandt die ideale Kirche folgende Dinge umfassen sollte: Lutherische Lehre und Bekenntnis, Lieder von Charles Wesley, anglikanische Liturgie und ein kongregationalistisches Kirchenregiment. Wenigstens die ersten drei Punkte konnte Hildebrandt im britischen Methodismus wiederfinden 29 . Manche wünschten zwar die Rückkehr Hildebrandts nach Deutschland, er selbst aber hatte sie schon früh ausgeschlossen 30 . In den Debatten um die Mitarbeit der Refugee-Pastoren an der „reconstruction" in Deutschland war dies deutlich geworden, und schon Pfingsten 1942 hatte Hildebrandt in einer Radioandacht bekannt: „Es kann einem manchmal Angst werden vor der ersten Wiederbegegnung mit den alten Freunden, wenn dieser Krieg endlich vorbei sein wird: werden wir uns noch verstehen oder werden wir getrennte Sprachen reden?" 31 25 Bibl. Nr. 11. Bibl. Nr. 64, S. 7; so auch an M. Niemöller, 6.9.1947 (ZEKHN DARMSTADT, 62/2442a); vgl. Bibl. Nr. 11, Vorwort; vgl. auch die Rezension von E. ROTH. 27 Bibl. Nr. 11, S. 109; vgl. an Beales, 10.6.1946 (NLH, 9251/25): „One can more easily carry Luther into Methodism than Wesley into Lutheranism, and translation in the deeper sense of the word seems to be the thing to which one is called by the very fact of the refugee-existence" (Hervorhebung im Original). 28 Der Verbreitung des Erbes Luthers in Großbritannien diente die englische Übersetzung eines der Lieblingsbücher Hildebrandts, der Luther-Andachten von Karl Witte (vgl. dazu auch DBW 4, S. 318), die mit tatkräftiger Unterstützung Hildebrandts 1950 unter dem Titel „Day by Day we magnify Thee" erschienen. Hildebrandt hatte das Buch „täglich in dem Interniertenlager auf der Isle of Man im Sommer 1940 gebraucht" und benutzte es später in Drew als Textbuch für LutherSeminare (an M. Niemöller, 19.6.1975; Z E K H N DARMSTADT, 62/2442a; vgl. auch an BBC, 19.2.1944: BBC READING, Contributor's File: Hildebrandt). 29 Vgl. Ν . HILDEBRANDT, NO Winter, S. 28, vgl. auch EBD., S. 60: „After all, he had become a Methodist in order to sing Charles Wesley's hymns." 26
30
Vgl. das Interview mit dem IMPERIAL WAR MUSEUM, LONDON, S. 3 0 : „ M y crowd like
myself had finished with Germany"; vgl. ähnlich andere Refugee-Pastoren bei G. NIEMÖLLER, Stuttgarter Erklärung, S. 262. 31 BBC-Ansprache am Pfingstsonntag, 24.5.1942 (NLH, 9251/54).
254
Der Übergang zum Methodismus
An diesen Vorbehalten änderten viele Briefe und Bitten der Freunde, besonders auch Bethges, nichts. Ihm legte Hildebrandt am 2. September 1945 in einem englisch geschriebenen Brief am ausführlichsten seine Gründe dar. Zum einen sei er Großbritannien in dreifacher Hinsicht persönlich verpflichtet: durch seine Frau, seinen kleinen Sohn David und durch seinen Antrag auf Einbürgerung, den er in gar keinem Fall rückgängig machen würde. Aber selbst abgesehen davon trenne ihn so vieles von Deutschland: In emotionaler Hinsicht würde er eine Rückkehr in das zerstörte Berlin kaum aushalten können, und auf der politischen Ebene würde er ständig eine Neuauflage der „Althaus-Hirsch theology on a larger scale" zu befürchten haben. Ständig würde er den Deutschen beweisen müssen, daß er ein „guter Deutscher", und den Engländern, daß er ein „guter Deutscher" sei. Schließlich sei noch die theologische Isolation zu bedenken, die er schon in den Jahren des Kirchenkampfes zu spüren bekommen habe. Die Erklärung von Barmen könne er nach wie vor unterschreiben, aber nichts wünsche er sich weniger, als nun in eine Auseinandersetzung zwischen Barthscher „Barmen-Orthodoxie" und den „Neutralen" eintreten zu müssen: „I think it is time to move on to new visions, as Dietrich worked for in the ,Nachfolge'." Andererseits könne er sich auch nicht vorstellen, in einer Fakultät oder Kirche mit „Heckel, Fendt, Erich Seeberg etc." zusammenzuarbeiten: „If I have to be an outsider all my life (as it seems likely), I think ,Continental' in England than an ,Anglo-Saxon' in Germany; the is more tolerant, and a m o n g all the heretics and modernists in Biblicism is just sufficiently orthodox and probably more needed
I had rather be a atmosphere here this country my than at h o m e . " 3 2
Die deutschen Gemeinden in England boten Hildebrandt jedoch keine Perspektive; seine damalige Tätigkeit war für ihn mehr eine Verlegenheitslösung, und er hatte nach acht Jahren wenig Interesse mehr daran, ständig über den Kirchenkampf Vorträge zu halten. D a schließlich keine Aussicht auf eine dauerhafte Beschäftigung „in a University, College or the Ecumenical Movement" bestand, war Hildebrandt entschlossen, sich eine geistliche Aufgabe zu suchen, die seinem Ordinationsgelöbnis entsprach. Dies aber war für ihn nur in der methodistischen Kirche möglich. Denn an den anderen Denominationen störte ihn deren „Gesetzlichkeit", so bei den Anglikanern deren „Bischofsfimmel" und bei den (der Missouri-Synode in den USA verbundenen) britischen Lutheranern „das nicht-mit-andern-Zusammenarbeiten". Für den Methodismus dagegen sprach, daß man hier „wenigstens noch Lutheranhänger sein und die richtigen Lieder zu den Predigten singen" könne; „Luther ,auf Englisch' geht eben (das ist die crux) nur in der Form von Charles Wesley" 33 .
Ν LH, 9251/24. « An Bethge, 29.9.1951 (NLH, 9317/10). 32
Von Luther zu Wesley
255
Allerdings hoffte Hildebrandt, in Großbritannien zunächst noch weiter Dienste etwa für Niemöller und das Kirchliche Außenamt gegenüber der Ökumene tun zu können, - „this was at least one of the motives which made me leave in 1937" 34 . Darum schrieb er an Niemöller, der 1945 zum Leiter des Kirchlichen Außenamtes bestellt worden war, er solle „überlegen, wann und wo etwa ein Stück Arbeit für das Außenamt sein möchte, das ich Ihnen von hier aus abnehmen könnte. Es wäre so schön, mit der alten Freundschaft auch die Arbeitsgemeinschaft wenigstens stückweise wieder aufnehmen zu können" 35 . Doch außer zur Nutzung der Gastfreundschaft im Hildebrandtschen Haus in Cambridge führten diese vorsichtigen Fühlungnahmen zu keiner erneuten Anbindung an die deutsche Kirche. Nur sehr gelegentlich reiste Hildebrandt in den folgenden Jahren nach Deutschland. 1950 besuchte er mit einer Gruppe seiner Gemeinde den Kölner Pastor und späteren Superintendenten Werner Müller, der Lagerpfarrer im Kriegsgefangenenlager Trumpington bei Cambridge gewesen war, und predigte auf dem Kirchentag in Essen. Als Hildebrandt 1951 nach Edinburgh umzog, näherte er sich durch die Bekanntschaft mit Dietrich Ritsehl, dem Pfarrer der deutschen Gemeinde und späteren Dogmatik-Professor, wieder der deutschen Theologie. Doch Hildebrandt geriet theologisch wie menschlich mehrfach mit Ritsehl aneinander, und diese Erfahrungen und das, was er in diesen Jahren über die Entwicklungen in Kirche und Universität aus Deutschland hörte, ließen ihn an Rieger schreiben: „Es verlangt mich je länger je weniger nach der deutschen theologischen Umgebung." 36 Zu Martin Niemöller und seiner Familie hingegen blieb ein herzlicher Kontakt mit einzelnen Besuchen in England und Deutschland bestehen. Mit Wilhelm Niemöller korrespondierte Hildebrandt über den Kirchenkampf, wobei es Niemöller jedoch nur selten gelang, Hildebrandt konkrete Informationen zu entlocken3? Trotz dieser freundschaftlichen Bindungen besuchte Hildebrandt Deutschland sehr ungern. Mehrere Urlaubsreisen führten ihn allerdings nach Osterreich, das für ihn frei war von derartigen „emotional problems" 38 .
34
A n Bethge, 2 . 9 . 1 9 4 5 ( N L H , 9 2 5 1 / 2 4 ) .
35
A n M . Niemöller, 1 4 . 6 . 1 9 4 8 ( Z E K H N DARMSTADT, 6 2 / 2 4 4 2 a ) . Hildebrandt hatte auch
eine Tätigkeit bei der Studienabteilung des Weltkirchenrates in Genf e r w o g e n ; vgl. an Bethge, 2 . 9 . 1 9 4 5 ( N L H , 9 2 5 1 / 2 4 ) sowie den Briefwechsel mit M . Niemöller 1946 ( Z E K H N D A R M STADT, 6 2 / 2 4 4 2 a ) . 36
Wohl Juni 1953 ( T H LONDON, T H / 8 6 6 2 / 5 2 ) .
37
Die Sammlung W. Niemöllers ist aufgeteilt zwischen Z E K H N DARMSTADT und L K A E K v W
BIELEFELD. 38
N . HILDEBRANDT, N o Winter, S. 126.
256
Der Übergang zum Methodismus
Selbst als Hildebrandt sich 1969/70 beruflich, gesundheitlich und finanziell in großen Schwierigkeiten befand und die Berliner Freunde in dieser Situation versuchten, ihm eine Pfarrstelle oder Gastdozentur in Berlin zu verschaffen, kam dies für ihn „definitiv nicht in Frage, auch nicht temporär oder gast-weise"39. Der Schmerz über seine deutsche Vergangenheit, über das Land, das er geliebt hatte, doch in dem er abgelehnt und aus dem er vertrieben worden war, saß zu tief.
9.2. Kanzel und Katheder „Mir hat die Rückkehr in das normale Pfarramt nach so vielen Jahren peripherischer Tätigkeit doch auch sehr gut getan." 40 Dieser Satz deutet an, was Hildebrandt entscheidend dazu bewegte, 1946 ein methodistisches Pfarramt in der Gemeinde Romsey Town, Cambridge, zu übernehmen, obwohl er zugleich zugab, „ein bißchen verletzt über zerschlagene akademische Chancen in England" zu sein41. Für dieses Pfarramt ging er nach wenigen Jahren in Cambridge 1951 für zwei Jahre als „Superintendent" an die Kirche am Nicholson Square nach Edinburgh. Die schottische Hauptstadt wurde und blieb sein Hauptwohnort bis an sein Lebensende, - auch als er 1953 als Dozent an die amerikanische Drew University in Madison, New Jersey, berufen wurde, zunächst für eine Gastprofessur und ab 1958 mit seiner inzwischen fünfköpfigen Familie - David wurde 1944 geboren, Ruth 1949, Esther 1955 - als „the Philadelphia Professor of Christian Theology". Hildebrandt war auch in den U.S.A. weit lieber Pastor und Prediger als Dozent; auch hier bewahrheitete sich die Beobachtung seines britischen Freundes A. Kingsley Lloyd: „Without a congregation to care Franz felt unfulfilled." 42 Die geistliche Bildung seiner Studenten war ihm ein Herzensanliegen. So führte er für Drew ganz neue Formen wie den täglichen „evensong", Retreats und „offene Abende" ein. Spätere Schreiben von Studenten betonten immer wieder Hildebrandts besondere pastorale Gabe und Kompetenz: er sei unter den Dozenten „the only pastor" gewesen. Wann immer es nötig war, sei er dagewesen, mit Trost, mit seiner Hilfe und seinem Gebet 43 . Auch außerhalb der Universität wirkte Hildebrandt in einer Ge-
39
A n B e t h g e , 15.4.1970 (SAMMLUNG BETHGE,
40
An M. NIEMÖLLER, 6.9.1947 (ZEKHN DARMSTADT, 62/2442a).
41
A n Bethge, 2 . 5 . 1 9 4 6 (SAMMLUNG BETHGE,
42
A. Kingsley Lloyd, Franz Hildebrandt [Nachruf] (NLH, 10053).
WACHTBERG).
WACHTBERG).
« D o n T h o m p s o n , 8.3.1977; T h . W . Ogletree, 2.3.1986 (EBD.).
Kanzel und Katheder
257
meinde: von 1956 bis 1960 war er Pastor der Green Village Methodist Church 44 . Drew in den fünfziger Jahren war nach Einschätzung Nancy Hildebrandts „a hot-bed of Existentialism", - eine schwierige Situation für Hildebrandt, zumal man in ihm als Theologen deutscher Herkunft zunächst einen Schüler Bultmanns vermutete. Doch Hildebrandt war seit seinem Marburger Sommersemester 1927 von tiefer Abneigung gegen Bultmann erfüllt und war zudem keiner der amerikanischen theologischen Schulen zwischen Fundamentalismus und Modernismus zuzurechnen 45 . Den deutschen Gastdozenten in Drew begegnete er unterschiedlich: Paul Tillich (der Hildebrandt mehr als Mensch denn als Theologe nahestand) und Helmut Thielicke waren gern gesehene Gäste, Gerhard Ebeling und Ernst Fuchs ließen ihn gleichgültig, als jedoch Friedrich Gogarten zu einer Vorlesungsreihe eingeladen wurde, vermied Hildebrandt bewußt jeden Kontakt 46 . „Christianity according to the Wesleys" 47 blieb sein theologisches Thema, ebenso die Theologie der Choräle, nur daß es jetzt statt der Lieder Luthers und Paul Gerhardts die der Brüder Wesley waren 48 . Ab 1959 arbeitete Hildebrandt gemeinsam mit Oliver Beckerlegge an der kritischen Edition der Lieder von John und Charles Wesley, eine Lebensarbeit, die erst kurz vor seinem Tode publiziert wurde. Dabei war es ihm ein besonderes Anliegen, die biblischen Anspielungen in den Liedern deutlich zu machen und zu belegen, - wozu wohl niemand so gut wie er in der Lage war, denn dank seines immensen Gedächtnisses bezog er noch die entlegensten Stellen auf den Vers genau49. Als das Buch 1984 endlich erschien, schrieb ein Rezensent: „Seidom can so much head and so much heart have been combined within the covers of one book." 5 0 Hildebrandts Theologie in Drew, so hieß es bei seinem Abschied, war geprägt von seinem besonderen „concern for ministry": „Franz Hildebrandt belongs, happily enough for his students, to that group in Christian scholarship who believe committedly in preachable theology." Theologie zu treiben, bedeute für ihn vor allem Ausbildung zur Predigt51. 44
Vgl. die Gemeindeberichte ( N L H 1 0 0 5 3 ) .
45
N . H I L D E B R A N D T , NO winter, S. 6 3 f . ; im N L H , 9 2 5 1 / 6 8 finden sich Vortragsnotizen für
den 1 0 . 1 . 1 9 5 6 , in denen sich Hildebrandt kritisch mit der Bultmannschen Entmythologisierung auseinandersetzt und ein W o r t von Bonhoeffer zitiert: „The m y t h is the matter." 46
Vgl. E B D . , S. 9 2 und an Bethge, 3 0 . 1 . 1 9 6 2 (SAMMLUNG BETHGE, WACHTBERG).
47
Bibl. Nr. 13.
48
Bibl. Nr. 12 und 14.
49
Bibl. Nr. 18. Z u r Einordnung in die Wirkungs- und Forschungsgeschichte der Brüder Wesley
vgl. T. BERGER, Theologie in H y m n e n , S. 104. 50
E . HAUTON, Rezension in: T h e Journal of the H y m n Society of Great Britain and Ireland,
S. 189 (Ausschnitt im N L H , 9 2 5 1 / 6 8 ) . 51
Donald M . V O R P : F r a n z Hildebrandt. In: T h e D r e w University Magazine, Spring 1968,
S. T S 1 f. ( N L H , 10053).
258
Der Übergang zum Methodismus
Hildebrandts Studien zu Luthers Abendmahlslehre fanden ihre Fortsetzung in seinem umfangreichsten "Werk: I offered Chnst. A Study of the Protestant Answer to the Mass52. Der aktuelle Anlaß für diese Arbeit, deren Hauptanteil nach Forschungsaufenthalten in Dublin und Löwen während eines „sabbaticals" 1960/61 entstand, war die Vorbereitung und Verarbeitung seiner Tätigkeit als „Observer" für das „World Methodist Council" bei der ersten Sitzungsperiode des Zweiten Vatikanischen Konzils 196253. Das Buch wurde die wohl letzte große Zusammenfassung des reformatorischen Einspruches gegen die römische Messe und ihre Theologie, eine konsequente Vergewisserung des neutestamentlichen „hapax", der Einmaligkeit des Kreuzesopfers Christi54 aus den Schriften und Liedern55 der Klassiker Luther, Paul Gerhardt und Wesley. Gänzlich unberührt vom Geist der Ökumene und ihrer Suche nach dem Gemeinsamen betonte Hildebrandt die Grunddifferenz und erklärte, daß nach wie vor das Neue Testament selbst einer Einigung in der Lehre vom Meßopfer entgegenstehe: „An insuperable gulf divides the two interpretations of the divine intention in the Last Supper."56 „Theologische Opposition gegen den ökumenischen Strom" war Hildebrandts Hauptanliegen in dieser Zeit, zumal für ihn die damaligen britischen Vorschläge für eine „reunion" zwischen Anglikanern und Methodisten auf eine Forderung nach Reordination und Mißachtung seines Predigtamtes hinausliefen5^ Hildebrandt zog es vor, im „englischen Kirchenkampf", wie er diese Auseinandersetzung nannte, „lieber isoliert als untreu" 58 zu sein: „Man wird allmählich ökumenisch kühler und kühler und kirchlich konservativer."59 52
Bibl. Nr.Κ Vgl. die Schilderung dieses Ereignisses aus der Sicht seiner Frau: N . HILDEBRANDT, Rome Diary. 54 Vgl. an Bethge, 18.3.1967: „Und Hapax stand über dem Altar in Finkenwalde? Das ist genau 53
das T h e m a meines (Anti-)Meßbuches" (SAMMLUNG BETHGE, WACHTBERG). 55
Allein der Lieder-Index umfaßt drei Seiten. Bibl. Nr. 17, S. 204. Wie bei allen seinen Büchern hatte Hildebrandt auch bei diesem nicht sehr viel Glück mit dem Verlag; N . HILDEBRANDT schrieb später: „Burial in a churchyard would have done the job as well as the Epworth Press did it" (No Winter, S. 112; vgl. auch die Korrespondenz mit dem Verlag: N L H , 9251/68). Aber nicht nur die Verlagsprobleme, sondern auch die theologische Außenseiterposition von Autor und Inhalt erschwerten die Verbreitung. 57 Vgl. Bibl. Nr. 16 und 51. 58 An Bethge, 18.3.1967 (NLH, 9251/24), in Übernahme einer Formulierung aus DB, S. 682. Die Kennzeichnung der Auseinandersetzungen als „Kirchenkampf" und bewußte Parallelisierungen zur Situation der dreißiger Jahre muß für englische Ohren schockierend gewesen sein, - Hildebrandts Haltung führte dann auch zu heftigen Reaktionen, so etwa Rupps Verwahrung gegen „seine einseitige und verzerrte Darstellung der Lage" (G. RUPP, Kirchenkampf). Rupps Artikel ist die Antwort auf Bibl. Nr. 55. Von Rupp, dem er einst verbunden gewesen war, sprach Hildebrandt schon 1964 sehr kritisch; vgl. an Bethge, 16.7 1964, ebenso 15.4.1965 (SAMMLUNG 56
BETHGE, 59
WACHTBERG).
An Bethge, 16.71964 (EBD.).
Kanzel u n d Katheder
259
Hier, wie auch bei dem später anstehenden Konflikt in Drew, war es Hildebrandts Erfahrung aus den Anfängen des deutschen Kirchenkampfes, die ihn gegen jede Verhandlungs- und Vermittlungsposition allergisch werden ließ: „A clear break right from the start would have been both more honest and more successful."60 Dennoch erfüllten sich auch jetzt die Hoffnungen, die Hildebrandt und andere mit dem oppositionellen „National Liaison Committee" verknüpften, nicht. Doch auch der Unionsplan scheiterte, ausgerechnet am hochkirchlichen Flügel der Anglikaner, der geschlossen dagegen stimmte, um eine erhoffte Annäherung der Kirche von England an Rom nicht zu gefährden. In Drew führte im Herbst 1967 die willkürliche Amtsenthebung des Dekans Charles Ranson aus undurchsichtigen Gründen zum Eklat, - mehr als die Hälfte der Professoren der Fakultät, unter ihnen Hildebrandt, verließen die Universität61. Nach seinem Weggang aus Drew suchte Hildebrandt sich eine Wirkungsstätte in Edinburgh, denn Schottland war seine „adoptierte Heimat geworden und geblieben." Hildebrandt fand diese Wirkungsmöglichkeit als eine Art „Hilfsprediger" in Slateford-Longstone, einer Gemeinde der reformierten Church of Scotland. Er selbst sah diese Krise als Chance, noch einmal neu als Geistlicher anzufangen: „Mein Bedarf an akademischer Tätigkeit ist durch die 14 V2 Jahre in Drew mehr als gedeckt, und ich sehne mich nicht nach dem Katheder zurück." 62 Schon beim Konzil in Rom hatte Hildebrandt sich der deutschen Sprachgruppe angeschlossen und täglich mit den deutschen lutherischen Beobachtern zusammengesessen; er urteilte über sich selbst, daß er „an einigen Stellen radikaler Lutherisch denke als die Lutheraner!" 63 Er schrieb: „Es hat sich im Grunde an meiner theologischen Haltung nichts geändert", und auch jetzt sei er „noch immer zu lutherisch, um Calvinist werden zu können"64. Er sei „nahe daran, öffentlich Buße zu tun für meine Verirrung in den Methodismus" 65 , aber da es auf den britischen Inseln für Hildebrandt kein Luthertum gab, in das er hätte zurückkehren können, war die gastliche Aufnahme in der schottischen Gemeinde die einzige Gelegenheit zu Predigt und Seelsorge, die ihm stets mehr bedeuteten als Schreibtisch und Hörsaal. Nachdem die methodistische Konferenz ihm keine Erlaubnis erteilt hatte, in
60
Aus einer Aufzeichnung für seine Kinder, 1.2.1981 (zit. nach N . HILDEBRANDT, NO Winter,
S. 1 1 8 ) . 61 Vgl. EBD., S. 117f. und Circular Letter 1968 (EBD., Anhang) sowie das Material im NLH, 9251/12 und die zahlreichen Briefe Hildebrandts an seine Frau aus dieser Zeit (NLH, 9985/1). 62
A n Julie Braun-Vogelstein, 2 5 . 4 . 1 9 6 9 (LBI NEW YORK).
63
A n B e t h g e , 13.2.1963 (SAMMLUNG BETHGE,
WACHTBERG).